Politische Ideengeschichte – Ein Gewebe politischer Diskurse 9783486711233, 9783486584714

Der Autor behandelt einen neuen Ansatz: Er untersucht, in welchem Maße die Texte in diachronen und synchronen Diskursen

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Politische Ideengeschichte – Ein Gewebe politischer Diskurse
 9783486711233, 9783486584714

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y j 150 Jahre Wissen für die Zukunft

Oldenbourg Verlag

Lehr- und Handbücher der Politikwissenschaft Herausgegeben von Dr. Arno Mohr Lieferbare Titel: Barrios • Stefes, Einführung in die Comparative Politics Bellers • Kipke, Einführung in die Politikwissenschaft, 4. Auflage Benz, Der moderne Staat Bierling, Die Außenpolitik deT Bundesrepublik Deutschland, 2. A. Deichmann, Lehrbuch Politikdidaktik Detjen, Politische Bildung Gabriel • Holtmann, Handbuch Politisches System der Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage Jäger-Haas • Welz, Reg/erungssystem der USA, 3. Auflage Kempf Chinas Außenpolitik Krumm • Noetzel, Das Regierungssystem Großbritanniens Lehmkuhl, Theorien Internationaler Politik, 3. Auflage Lemke, Internationale Beziehungen, 2. Auflage Lenz • Ruchlak, Kleines Politik-Lexikon Llanque, Politische Ideengeschichte Maier· Rattinger, Methoden der sozialwissenschaftlichen Datenanalyse Naßmacher, Politikwissenschaft, 5. Auflage Pilz • Ortwein, Das politische System Deutschlands, 3. Auflage

Reese-Schäfer, Politisches Denken heute, 2. Auflage Reese-Schäfer, Politische Ideengeschichte Reese-Schäfer, Politische Theorie heute Reese-Schäfer, Politische Theorie der Gegenwart in fünfzehn Modellen Riescher • Ruß • Haas (Hrg.), Zweite Kammern, 2. Auflage Rupp, Politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage Schmid, Verbände Schubert • Bandelow (Hrg.), Lehrbuch der Politikfeldanalyse Schumann, Repräsentative Umfrage, 4. Auflage iommel, Das politische System der EU, 3. Auflage Wagschal, Statistik für Politikwissenschaftler, 2. Auflage von Westphalen (Hrg.), Deutsches Regierungssystem Wilhelm, Außenpolitik Xuewu Gu, Theorien deT internationalen Beziehungen · Einführung

Politische Ideengeschichte Ein Gewebe politischer Diskurse von

Marcus Llarique

Oldenbourg Verlag München Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2008 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, [email protected] Herstellung: Anna Grosser Coverentwurf: Kochan & Partner, München Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza ISBN 978-3-486-58471-4

Vorwort Eine über zehn Jahre währende Forschung zum Gewebe politischer Diskurse kommt hier zum Abschluss. Sie begann mit Überlegungen, den diskursiven Ansatz der Cambridge School mit der begriffsgeschichtlichen Forschung zu verbinden, die besonders in der deutschen Ideengeschichte zur Blüte kam und führte zu einer Art Äquidistanz zu beiden Forschungsansätzen. Die Leitidee, wonach trotz der schöpferischen Autonomie der Autoren alle Texte im Lichte eines aus diachronen wie synchronen Diskursen bestehenden Rezeptionskontinuums zu lesen sind, muss sich, wie alle methodischen Überlegungen, am ideengeschichtlichen Material bewähren. Erleichtert wurde die Arbeit durch die finanzielle Unterstützung der Spohnholz-Stiftung und die Wohltaten eines Heisenberg-Stipendiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Kein wissenschaftliches Werk ist heute ohne ein funktionierendes Umfeld von Universitäten und Bibliotheken denkbar. Mir war es vergönnt, Quellen und Literatur zur Ideengeschichte an inspirierenden Orten wissenschaftlicher Forschung zu erschließen: an der Columbia University und der Butler Library, an der London School of Economics and Political Science und der British Library und am nachhaltigsten an der Berliner Humboldt-Universität und der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Allen Einrichtungen und Kollegen an diesen Institutionen sei gedankt. In zahllosen Seminaren konnte ich die Praxis diskursiver Einbettung und die Verknüpfung von Ideengeschichte und Theoriebildung erproben: Forschung ging in Lehre über und oft waren die Fragen seitens der Studierenden die anregendsten für die weitere Forschung. Allen Studierenden sei gedankt, den Weg des Denkens geduldig mitgegangen zu sein. Besonders genannt seien die Teilnehmer der Seminare zum Begriff des Politischen, zur politischen Rhetorik, zu Hegel, zum Republikanismus und zum Tugendbegriff sowie die Hörer meiner Vorlesungen zur politischen Ideengeschichte und zur Idee der Verfassung. Die Arbeit an diesem Buch begleitete mich im Hintergrund durch Promotion und Habilitation und erfüllte mich besonders in den zurückliegenden Jahren. Ich danke für alle Anregungen wie für allen Widerspruch, die ich in dieser Zeit in vielen Gesprächen erfuhr, darunter besonders mit folgenden Personen: Harald Bluhm, Matthias Bohlender, Hauke Brunkhorst, Hubertus Buchstein, Janet Coleman, Mathias Eichhorn, Jon Elster, Manfred Gangl, Hans Grünberger, Karsten Fischer, Brandon Llanque, Gerlinde Llanque, Sandro Mezzadra, Christoph Möllers, Christoph Müller, Herfried Münkler, Kari Palonen, Gerard Raulet, Christoph Schönberger, Quentin Skinner, Alfons Söllner, Tine Stein und Siegfried Weichlein. Felix Wassermann las einen Teil des Manuskripts, Hans Grünberger und Gerlinde Llanque haben das ganze Manuskript gelesen und seine Fertigstellung unermüdlich und zugleich kritisch begleitet. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Das Buch ist meinen Kindern Brandon, Morgane und Roxane gewidmet.

Inhaltsverzeichnis Vorwort Inhaltsverzeichnis Einleitung: Ideengeschichte als Gewebe politischer Diskurse

V VII 1

Politische Ideengeschichte als Archiv und Arsenal

1

Der Gegenstand der politischen Ideengeschichte: Diskurse, Autoren und Texte

3

Die Grammatik politischer Diskurse: Problembewusstsein und Rezeption

6

Die Ideengeschichte des Westens

9

Hinweise zum Gebrauch

10

I.

Antike: Die Entdeckung des Politischen

13

1.

Das griechische Gesprächsfeld

15

Die Geschichtsschreibung (Herodot, Thukydides)

19

Der Prozess des Sokrates und seine Folgen: Xenophon, Piaton

25

Aristoteles

34

2.

Idee und Begriff des Politischen

42

Wort und Begriff „politisch"

42

Staat und Republik

48

Ökonomie und Gesellschaft

53

Der Begriff der Politik im 20. Jahrhundert und die moderne Politikwissenschaft... 57 3.

Das römische Gesprächsfeld

59

Die römische Republik auf ihrem Höhepunkt (Polybios)

63

Krise und Ende der römischen Republik (Cicero, Sallust)

68

Der politische Diskurs in Prinzipat und Kaiserzeit

75

II.

Mittelalter: Die Christianisierung der Politik

81

1.

Die Kirchenväter und die Latinisierung des Christentums

83

2.

Politik und Religion: der Grenzbereich der politischen Theorie

94

Das vielfache Verhältnis von Politik und Religion

94

Die Zivilreligion

97

Toleranz und Laizismus

98

Politische Theologie und politische Religion

100

VIII 3.

4.

Inhaltsverzeichnis Die Kirche und das Reich

103

Die Kirche als politische Institution in der Spätantike

104

Innerkirchliche Reformbewegung

106

Thomas von Aquin und die Aristoteles-Rezeption des Mittelalters

110

Der Kampf zwischen weltlichem und geistlichen Primat 1280-1317

115

Von der spirituellen Heilsordnung zur säkularen Friedensordnung

120

Der Armutsstreit und William von Ockham

122

Stadtstaat und Bürgerhumanismus

127

Marsilius von Padua

127

Stadtstaat, Korporationentheorie und Bürgerhumanismus

131

Konziliarismus und die Anfange der politischen Versammlungsrepräsentation.... 136 Die lutherische Reformation und ihr Politikverständnis

139

III.

Die Wiederentdeckung des Politischen in der Frühen Neuzeit

147

1.

Der Humanismus zwischen Fürstenspiegel und Utopie

149

2.

Vom oberitalienischen Republikanismus zum Machiavellismus

153

Florenz und die altrömische Republik (Machiavelli)

155

Moral und Mischverfassung

158

Die Diktatur als freiheitliche Einrichtung

162

Republikanische Institutionentheorie

165

Der christliche Staat: Calvin

168

Die Bartholomäus-Nacht: Monarchomachen, Tyrannenmord

3.

und Volkssouveränität

172

Die Politiques und Jean Bodin

181

Machiavelli-Rezeption, Neo-Tacitismus und Staatsräson

189

Das Naturrecht und der souveräne Staat

197

Naturrecht und Völkerrecht

198

Souveränität und Mischverfassung

205

Naturrecht, Kontraktualismus und Republikanismus: Hobbes, Harrington, Spinoza

207

Der Republikanismus

218

Die Idee des Eigentums und John Locke

222

IV.

Die Entdeckung der Gesellschaft und die Revolution

235

1.

Gesellschaft als Öffentlichkeit und als Ort der Produktion von Werten

238

Mandeville und die Schottische Aufklärung

241

Die Französische Aufklärung: Montesquieu

249

Jean-Jacques Rousseau

254

Inhaltsverzeichnis 2.

Die Atlantische Revolution und die Geburt der repräsentativen Demokratie

IX 260

Die Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien und die Verfassung der USA. 261 Die Federalist Papers

269

Der Ausbruch der französischen Revolution und das Problem der Repräsentation

272

Das Recht auf Revolution: Edmund Burke und Thomas Paine

282

3.

Die Radikalisierung der Französischen Revolution Die Revolution denken: Kant und die deutsche Revolutionsdebatte

287 293

4.

Die Idee des Friedens und des Krieges

302

Das Wesen des Krieges und seine Gerechtigkeit

304

Der Krieg als Ordnungsmodell

307

Die völkerrechtliche Staatenordnung

310

Die politische Friedensidee

314

Das Gleichgewicht der Staaten

320

Der Völkerkrieg

324

V.

Das Zeitalter der Demokratie

329

1.

Hegel und der moderne Staat

333

Individuum und Staat, moderne oder antike Freiheit

339

Gewaltenteilung, rechtsprechende Gewalt und der Rechtsstaat

341

Das Volk der Volkssouveränität und die Nation

345

Staat, Beamtentum und Eliten

349

Parlament und Repräsentation

354

Demokratie und Repräsentation: Tocqueville und John Stuart Mill

357

Tocquevilles politische Soziologie

357

Repräsentation in demokratischer Umgebung: John Stuart Mill

365

Der Bonapartismus-Schock

367

Mills Regierungstheorie und die Wahlrechtsfrage

370

2.

3.

4.

Demokratie ohne Repräsentation: der europäische Sozialismus und Karl Marx... 374 Marx, Lorenz von Stein und der Gesellschaftsbegriff

377

Bonapatismus, Marx und Anarchismus

381

Marx oder Lassalle

383

Klassenbegriff und sozialistische Parteipolitik

386

Die politische Theorie der Massendemokratie

390

Das Volk im Zeitalter des Imperialismus

390

Massen- und Elitensoziologie

392

Herrschaftssoziologie: Max Weber

398

X 5.

Inhaltsverzeichnis Demokratie und Diktatur

406

Die demokratisierte Welt und das Problem der Öffentlichkeit

406

Die Alternative zur parlamentarischen Demokratie:

6.

7.

Bolschewismus und Räteidee

410

Die Weimarer Republik: Demokratie oder Liberalismus

415

Demokratie oder Diktatur?

424

Die ökonomische Theorie des Politischen und der Realismus

434

Die Idee der Menschenrechte

442

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

442

Die Ideengeschichte der Menschenrechte

445

Ausblick

461

Schlussbetrachtung

465

Literaturanhang Literatur der politischen Ideengeschichte

471 471

Forschungsliteratur zur politischen Ideengeschichte

484

Personen- und Sachregister

531

Einleitung: Ideengeschichte als Gewebe politischer Diskurse „Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit, Leicht beieinander wohnen die Gedanken, Doch hart im Räume stoßen sich die Sachen" (Wallensteins Tod, II 2) Unter „Politische Ideengeschichte" verstehen wir zum einen die Bezeichnung für das Kontinuum politischer Theorien, die in einem Kulturkreis über die Jahrhunderte hinweg erarbeitet und tradiert wurden, und zum anderen die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit diesem Kontinuum beschäftigt. Die Disziplin archiviert das Kontinuum und zugleich bereitet sie es als Arsenal für die weitere Theoriebildung vor. Ideengeschichte und Theoriebildung lassen sich daher nicht eindeutig voneinander trennen. Politische Ideengeschichte

als Archiv und Arsenal

Die politische Ideengeschichte als Disziplin ist immer auch interdisziplinäre Forschung und hat sich stets mit Gewinn von ideengeschichtlichen Subdisziplinen anderer Wissenschaften anregen lassen (Mohr 1995). Die Philosophie hat ihre Philosophiegeschichte auch als Geschichte ihrer Ideen (Lovejoy 1936, der Mitbegründer des Journal of the History of Ideas) oder als ihre Problemgeschichte (Windelband 1907) thematisiert. Zur Geschichtswissenschaft zählt seit langem ein ideengeschichtlicher Zweig, der sich mit politischen Ideen beschäftigt (Meinecke 1907; 1924). Auch die Rechtswissenschaft hat eine bedeutende ideengeschichtliche Seitenlinie ausgebildet (seit Gierke 1880). Die Soziologie untersucht das ideengeschichtliche Material mit Bezug auf seine Aussagekraft für die Gesellschaftsstruktur und ihre Entwicklung (Luhmann 1980). Schließlich verfügt die Politische Wissenschaft selbst über eine lange Tradition ideengeschichtlicher Forschung, die spätestens mit Robert von Mohl 1858 beginnt (Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften). Die zur Ideengeschichte angrenzenden Disziplinen untersuchen oft dieselben Texte, aber aus je unterschiedlicher Perspektive. Die politische Perspektive rückt die Frage der Institutionen ins Zentrum. Normen mögen gut oder gerecht genannt werden, politisch interessant wird es, wenn diese Normen in Handlungen überfuhrt werden und Orte, Räume, Regime geschaffen werden sollen, in welchen sich dieses Handeln abspielt und koordiniert wird. Das Eigentum oder der Vertrag mögen ökonomische bzw. juristische Institutionen sein; wenn sie aber Verfahren darstellen, mit welchen Vorstellungen über Grund und Grenzen individueller oder gesellschaftlicher Selbstorganisation verbunden sind, entbehren sie nicht der politischen Perspektive. Der Markt ist zunächst eine ökonomische Institution, Gerechtigkeit eine philosophische Norm; doch wenn der Markt zum Paradigma von Ordnung erhoben und auf andere Lebensbereiche übertragen wird oder wenn Gerechtigkeitsvorstellungen in Verfahrens-

2

Einleitung: Ideengeschichte als Gewebe politischer Diskurse

Ordnungen übersetzt werden, die Verantwortung und Verfugung für Ressourcen regeln, dann wird ohne die politische Perspektive kein Gesamtbild entstehen können. Im Zentrum steht die Institution der Institutionen, das heißt jener Ort, der über die Abgrenzung von Institutionen, über ihre Gestalt wie Legitimität befindet. Eine solche Institution der Institutionen war lange Zeit der „Staat"; man konnte sich das aber in Form von demokratischen „Assoziationen" auch dezentral vorstellen, man kann es sich sogar „Öffentlichkeit" medial wenden und sich damit bis zu einem gewissen Grade anonym und sogar virtuell vorstellen. Der Deutungskampf besteht immer darin, zwischen der stadtstaatlichen Bürgergemeinde auf der einen Seite und der globalisierten Menschheit auf der anderen Seite des Spektrums, von der bürgerschaftlichen Genossenschaft bis zur Non-governmental organization abzustecken, wie die Institutionen in ihrem Binnen- und Wechselverhältnis gestaltet sind und vor allem: wer in Konflikten den Vorzug genießt und wer das letzte Wort hierüber hat. So gehören auch Autoren, die meist der Ökonomie, Soziologie oder Philosophie zugezählt werden, zu den bedeutendsten Beitragenden in politischen Diskursen, weil sie sich dieser Gesamtperspektive bewusst waren und sie in ihre Teilbereichsforschung einzubeziehen versuchten. Innerhalb der Politikwissenschaft nimmt die Ideengeschichte einen größeren Anteil an der Theoriebildung ein als in den anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Politische Ideengeschichte ist also weitaus mehr als nur eine Doktrinengeschichte der Disziplin oder Sachwalterin ihrer Tradition. Sie ist zugleich Archiv und Arsenal des politischen Denkens. Als Archiv tradiert sie die Bestände politischen Denkens der letzten 2400 Jahre, als Arsenal stellt sie einen Fundus an Argumenten, Ideen und Modellen der Politik zur Verfugung. Bereits der Zuschnitt des Archivs prägt seine Funktion als Arsenal: kein Leser ist imstande, all die unzähligen Rollen, Bände, Pamphlete, Aufsätze und Manuskripte zu studieren, nur um zu klären, was Politik ist, wer sie betreibt und wodurch sich das Politische von anderen Bereichen menschlicher Aktivität unterscheidet; er ist auf die Vorarbeit der politischen Ideengeschichte angewiesen. Keine Interpretation eines Autors, keine Darstellung des politischen Denkens einer Zeit und keine Ideengenese kann die gesamte Fülle des Textmaterials zur Kenntnis nehmen. Das Archiv ordnet das Material in Fächer, die den Zugriff für den Fragesteller erleichtern, aber auch seine Selektion vorbestimmen, Wege der Interpretationen und Traditionen der Begriffsverwendung vorgeben und nicht zuletzt: Pfade der methodischen Verarbeitung des Materials weisen. Will der Leser z.B. in Erfahrung bringen, wie sich die Idee der Demokratie von ihren Anfangen bis zur Gegenwart entwickelt hat, wird sein Erwartungshorizont bereits durch die Archivierung beeinflusst: denn im Archiv entscheidet sich, welche Texte und welche Autoren in diese Tradition gehören. Manche Autoren fallen der Vergessenheit anheim, weil sie in entfernte Nischen des Archivs verbannt sind, mit Etiketten versehen, die eine erneute Lektüre überflüssig erscheinen lassen. Im Arsenal sind die Texte, die für das Thema als relevant gelten, nach bestimmten Maßstäben geordnet: etwa nach Demokratiegegnern und -Befürwortern und innerhalb der letzteren Gruppe wiederum nach Anhängern der direkten und indirekten Demokratie. Diese Vorselektion prägt dann das weitere politische Denken. Die Arsenalfunktion der Ideengeschichte ermöglicht es, in immer neuen Anläufen die Zuordnungskriterien des Archivs zu untersuchen und neue Wege einzuschlagen oder zu alten zurückzukehren. Rezeption bedeutet Adaption. Jede Rezeption ist ein Vorgang der Anpassung auf die Bedürfnisse des Rezipienten. Das ideengeschichtliche Archiv hat auch die korrigierende Funktion, die Plausibilität von Adaptionen aus dem ideengeschichtlichen Arsenal zu

Einleitung: Ideengeschichte als Gewebe politischer Diskurse

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überprüfen. Es ist jedoch seinerseits nicht unbeeinflusst von erfolgreichen Auslegungstraditionen, da diese den Standort einer politischen Idee im Archiv, ihre Etikettierung und Zusammenstellung mit anderen Ideen bedingen. So gesehen ist die Ideengeschichte ein Teil des Deutungskampfes der Gegenwart: mit Blick auf die Vergangenheit zu ergründen, was die Gegenwart prägt und was die Zukunft bringen mag. Daher ist sie - jedenfalls als Teil der Politikwissenschaft - kein historisches Fach rankeanischer Prägung, in welchem jede Zeit für sich selbst betrachtet werden müsse. Die politikwissenschaftliche Ideengeschichte verfolgt die Fäden politischen Denkens, welche in der Gegenwart wirksam sind, zurück bis auf ihre Ursprünge, betrachtet das Kontinuum samt seiner Brüche; oft ist der Befund eines unterbrochenen Kontinuums, einer abgebrochenen Tradition für das Verständnis der Gegenwart ebenso aufschlussreich wie der Nachweis der anhaltenden Rezeption einer in ihren Ursprüngen lange zurückreichenden Idee. Die Diskussion ältester Sinnschichten hat stets dazu beigetragen, die aktuelle Bedeutung politischer Ideen zu reflektieren, und zwar selbst dann, wenn man die Geltung von ältesten Deutungsmustern und Ideen für moderne Verhältnisse zurückweist: auch in diesem Falle lässt sich das Profil „moderner" Geltungsbedingungen aus der Distanz zu älteren Sinnschichten konturieren (Llanque 2006a). Die Ideengeschichte ist also ein Teil der politischen Theoriebildung ihrer Zeit (Arsenalfunktion) und erhebt zugleich den Anspruch, die von ihr vorgestellten ideengeschichtlichen Materialien angemessen weiterzugeben (Archiv). Der Gegenstand der politischen Ideengeschichte: Diskurse, Autoren und Texte „Ideengeschichte" wird hier verstanden im Sinne von „Ideengenese". Ihr Gegenstand ist die Entstehung und Entwicklung von politischen Ideen, worunter Muster, Schemata, Figuren, Bilder, Modelle, nicht zuletzt Begriffe fallen, in denen sich das allgemeine politische Denken bewegt. Als Geschichte des politischen Denkens müsste eine solche Ideengeschichte alle menschlichen Artefakte erfassen, die politisch relevante Ideen spiegeln (ideengeschichtliche Archäologie). Dazu gehören Gesetzestexte, insbesondere Verfassungstexte ebenso wie Bilderprogramme an öffentlichen Plätzen, aber auch literarische Texte und ihre öffentliche Diskussion. Die Rechtssprache wie die Bildersprache sind Teil oder wenigstens Ausdruck der politischen Sprache, das Recht ist zunächst nur kristallisierter politischer Gestaltungswille. In diesem Sinne wäre die politische Ideengeschichte eine umfassende Geschichte menschlichen Intellekts, wo immer er sich mit Fragen gesellschaftlicher Gestaltung beschäftigt. Die vorliegende Darstellung kann von diesem Umfang nur einen kleinen Ausschnitt präsentieren: Romane zur Sklavenbefreiung (Gustave de Beaumont), die Verfassungen der Kirche und ihrer religiösen Orden, Lorenzettis Fresken und das Titelkupfer von Hobbes' Leviathan sind einige wenige Beispiele, die wenigstens eine Ahnung vermitteln sollen, wie sich politisches Denken in anderen Medien als in Texten vermittelt. Es sind aber die Texte, die hier im Mittelpunkt stehen: Texte, welche die Bedingungen der Möglichkeit politischen Denkens reflektieren und das Verhältnis von Normen und Institutionen thematisieren (ideengeschichtliche Genealogie). Der Schwerpunkt liegt demnach auf politischer Theorie; die politische Philosophie mit ihrer weitaus grundsätzlicheren Hinterfragung der Stellung des Menschen in der Welt und im Ablauf der Geschichte bildet dagegen den intellektuellen Hintergrund politischer Theoriebildung. Die Wissenschaften vom Menschen als einem sozialen Wesen, das seine eigene Existenz fortlaufend selbst auslegt und diese Selbstauslegung in kulturellen Artefakten festhält, hat es mit einem sehr wandelbaren Gegenstand zu tun. Daher ordnete John Stuart Mill in seiner

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Einleitung: Ideengeschichte als Gewebe politischer Diskurse

Logik den „moral sciences" eine von den Naturwissenschaften verschiedene Vorgehensweise zu. Der Ausdruck Moralwissenschaften wurde in der deutschen Übertragung mit Geisteswissenschaften übersetzt (Mill 1997, 19), was Mills Grundüberlegungen einen etwas ätherischen Charakter verlieh, der einer Dichotomie von Materie-Geist Vorschub leistete. „Moral" meint bei Mill - dem lateinischen Wort mores folgend - soviel wie Sitten und Gebräuche und die auf ihr Verständnis einwirkenden intellektuellen Prozesse der Auslegung. Dazu gehören schließlich auch alle durch Institutionen kanalisierten Verhaltensweisen, die unterhalb der Ebene von Verfassungstexten und der Verteilung politischen Einflusses das Verhalten der Menschen „regieren" (Foucault 2004). Hinzu kommen wissenschaftstheoretische Hintergründe, die sich beispielsweise in der Annahme einer Analogisierbarkeit von Körper und Staat niederschlagen oder im Einfluss von Texten, die in bestimmten Epochen als autoritativ angesehen wurden (wie die Bibel oder die Werke von Aristoteles). In einem verwandten Sinne sprach Friedrich Nietzsche wenige Jahrzehnte später von der „Genealogie der Moral": Das Bewerten von Verhalten ist keine dem Verhalten äußerliche Tätigkeit, sondern ihm inhärent. Selbst wenn man von „Interessen" spricht, etwa dem Staatsinteresse, der Staatsräson, dem Gemeinwohl oder dem unterstellten „wohlverstandenen Eigeninteresse" des Individuums, in der Hoffnung, damit einer stärker objektivierbaren Sichtweise zu folgen, spielen die „Ideen" hinein. Interessen unterliegen einem permanenten Auslegungsprozess, der durch Ideen vermittelt wird, die ihrerseits relativ selbständigen Bahnen der Diskussion folgen. Max Weber hat diesen Zusammenhang folgendermaßen definiert: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ,Weltbilder', welche durch ,Ideen' geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichenstellen die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte" {Wirtschaftsethik der Weltreligionen, Religionssoziologie 252). Die in den Diskursen einer Zeit erörterten Ideen müssen nicht immer diejenigen sein, die das politische Verhalten dieser Zeit tatsächlich bestimmen. Das politische Denken wird nicht von einem ständigen theoretischen Reflexionsprozess bezüglich seiner eigenen Bedingungen der Möglichkeit begleitet, es würde wohl dadurch nur zum Erliegen kommen (das war Nietzsches Befürchtung). Umgekehrt kann sich aber die theoretische Reflexion von seiner Umgebung politischen Denkens lösen: Mag das politische Denken in sozialen und kulturellen Mustern und Schemata eingebettet sein, ihre theoretische Reflexion kann sich dieses Zusammenhangs bewusst werden und in relativer Selbständigkeit hiervon operieren. Gerade die Einbettung des eigenen theoretischen Standpunkts in längerfristige Kontinuitäten des politischen Denkens ermöglichen die Distanz zur eigenen Gegenwart und so auch ihre Kritik. Das Verhältnis von Interessen und Ideen wurde sehr unterschiedlich thematisiert. Man kann zunächst behaupten, dass „Ideen" gedankliche Konstruktionen sind, beeinflusst von anderen Ideen und wiederum auf andere Ideen einwirkend. In der geistesgeschichtlichen Ideengeschichte spielen die Interessen dann keine oder nur eine nachgeordnete Rolle. Arthur Lovejoy hat diesen Ansatz für die Ideengeschichte der Philosophie verfolgt. Für die politische Ideengeschichte erweist sich ein solcher Ansatz als wenig geeignet. Diesem Ansatz diametral entgegengesetzt ist die Ideologiekritik, die in der Nachfolge von Karl Marx diskutiert wurde. Ideen sind hier nachrangige Reflexe sozialer Wirklichkeit, Autoren als ihre Träger sind Repräsentanten der gesellschaftsgeschichtlichen Stufe, auf der sie sich bewegen. Das Sein bestimmt das Denken, weshalb sich die wissenschaftliche Erörterung auf die Wirklichkeit und die Bestimmungen des Seins konzentrieren muss. Diese Position kann ihre politisch-pole-

Einleitung: Ideengeschichte als Gewebe politischer Diskurse

5

mische Stoßrichtung gegen das Selbstverständnis des Bürgertums in der Mitte des 19. Jahrhunderts, das für sich beanspruchte, die Avantgarde der menschlichen Entwicklung zu repräsentieren, nicht verhehlen. Am elaboriertesten hat Karl Mannheim (1964) diesen Ansatz als Methode erforscht und ihn von klassenkämpferischen Untertönen befreit. Wird die Vielfalt möglicher Relationen von theoretisch erörterten Ideen und handlungsbestimmenden Interessen anerkannt, gewinnt die sprachliche Vermittlung von Ideen eine neue Relevanz. Die Begriffsgeschichte etwa entstand in Fühlung mit der Sozialgeschichte und untersuchte Parallelen zwischen der Ideengenese und sozialgeschichtlichen Strukturentwicklungen (Koselleck 2006). Eine Variante hierzu stellt Niklas Luhmanns Modell des Verhältnisses von Gesellschaftsstruktur und Semantik dar (1980ff), wobei aber die Ideen nicht nur Reflexe der Gesellschaftsentwicklung sind, sie entwickeln auch eine eigene Entwicklungsdynamik, eine Art „Ideenevolution" sui generis. Luhmann muss aufgrund der Intensität seiner Beschäftigung zu den herausragenden Vertretern der Ideengeschichte gezählt werden, was die systemtheoretische Schule nur selten zur Kenntnis nimmt (eine Ausnahme ist Brunkhorst 2000). Ist die Sprache das unentrinnbare Gehäuse politischer Theoriebildung? Sind die Grenzen des Handelns politischer Akteure durch die Grenzen ihrer Sprache markiert? Die Cambridge School (paradigmatisch Pocock 1957; methodische Reflexion: Pocock 1971b und 1985a; fortentwickelt von Skinner 1978. Die Methodendebatte zu Skinner bei Tully 1988) definiert die Identität von Diskursen anhand ihrer Sprache. Erst wenn sich eine politische Theorie ein dauerhaftes Vokabular zulegt, wird sie als Theorie überhaupt erkennbar (Skinner 1989a, 8). Die Konzentration auf die Sprache geht auf das Wirken Ludwig Wittgensteins (der in Cambridge lehrte) und den von ihm angestoßenen „linguistic turn" der Philosophie zurück, den die Cambridge-School auf die politische Ideengeschichte übertragen hat (Pocock 1971a; Skinner 1978; Pagden 1987; Viroli 1992). Die intellektuelle Matrix einer Epoche bildet die Hintergrundstruktur der politischen Theorie ihrer Zeit (Skinner 1978, Bd. 1, X). Die Grenzen der Methode der Cambridge School liegen darin, dass sie sich mit synchronen Kontroversen, aber weniger mit diachronen Kontinuitäten der theoretischen Verarbeitung einzelner Themen beschäftigt. Sie kann auch nicht erklären, wie es Autoren gelingt, mehreren politischen Sprachen anzugehören oder wie sie sich aus einer Sprache herausarbeiten und dazu beitragen, neue zu begründen. Die Identität von Diskursen anhand sprachlicher Merkmale zu definieren mutet der Sprache eine zu starke explikative Kraft zu. Wäre die Sprache mit den Handlungen der Sprechenden identisch, so wäre Semantik unmittelbar in Verhalten zu übersetzen. Für den Bereich des politischen Denkens mag das eine gewisse Plausibilität haben. Doch gerade die einflussreichsten Autoren der Ideengeschichte pflegen einen hochreflexiven Umgang mit der Sprache und neigen nicht ohne Grund zur Bildung von Neologismen. Sie kombinieren Argumente aus unterschiedlichen politischen Sprachen. Karl Marx etwa greift auf unterschiedlichste Traditionen zurück, auf den Deutsche Idealismus wie auf die englische Nationalökonomie, auf den französischen Sozialismus ebenso wie auf die deutschen Junghegelianer, aber nicht: Kant (was später der ethische Sozialismus zu ergänzen versuchte) und nicht auf den englischen Utilitarismus samt dessen Überlegungen zur Theorie politischer Institutionen. Autoren wie Marx können nicht einfach einer politischen Sprache zugeordnet werden, sie können nicht einmal der politischen Sprache zugeordnet werden, die sich als deren Erbe ausgibt: es war nicht nur Selbstironie, die aus Marx sprach, als er bemerkte, er selbst sei kein Marxist.

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Einleitung: Ideengeschichte als Gewebe politischer Diskurse

Die Grammatik politischer Diskurse: Problembewusstsein und Rezeption Genese und Geltung politischer Ideen sind nicht ausschließlich von der Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen abhängig. Die politische Theoriebildung folgt einer Art „diskursive Grammatik." Von einer „Grammatik" der Diskurse ist hier die Rede, um zu verdeutlichen, dass es sich nicht um eine „Logik" handelt. Einflüsse und Rezeptionen sind nicht mit Kategorien der Kausalität zu erschließen, Texte keine quantifizierbaren Informationsbündel. Worthäufigkeiten indizieren kein argumentatives Gewicht, Wortidentitäten keine Bedeutungsgleichheit. Wie in der Grammatik folgt die Theoriebildung Regeln, die aber eher mit den Regeln der Sprache als mit sozialen Gesetzmäßigkeiten zu tun haben. Die soziale Herkunft eines Autoren bedeutet noch keine endgültige Determination des Textsinns und schon gar nicht eine eindeutige Zuordnung zu einem bestimmten Diskurs. Die Sprachzugehörigkeit sowie die Semantik geben erste Aufschlüsse, aber auch sie bieten nur Indizien. Nicht jeder, der „Staat" sagt, ist Etatist und nicht jeder, der auf „Staatlichkeit" verzichten will ist deswegen ein Liberaler. Politische Theorien können mit offensichtlichen Fehlern behaftet sein, was ihre anhaltende Rezeption nicht zwingend ausschließt, wogegen die Verbreitung offenkundiger Plattitüden, die von sich behauptet, „wahr" zu sein, und auch keinen Widerspruch erfahrt, noch keine nennenswerte Resonanz verheißen muss. Die politische Theoriebildung nimmt Verknüpfungen von Ideen vor, die sozialgeschichtlich undenkbar wären: utopische Überlegungen werden mit realistischen verknüpft, Überlegungen aus vergangenen Diskursen zum Verständnis zeitgenössischen politischen Denkens aufgenommen. Der Vorgang der ideellen Sinndeutung überspringt Brüche der sozialen und politischen Entwicklung. Rezeptionen können auf Texte zurückgreifen, die für ganz andere gesellschaftlichen Strukturen bestimmt waren und im Vorgang der Rezeption die Aussagen dieser Texte anpassen und so ihren Sinn wandeln. Ein Motor der Rezeptionsvorgänge ist das „Problembewusstsein" des Rezipienten. Er wendet sich nicht zweckfrei oder interesselos Diskursen zu, sondern weil ihn bestimmte Probleme beschäftigen, die er mit Blick auf die Ideengeschichte lösen möchte. Spektakuläre Änderungen oder sich zuspitzende Entwicklungen evozieren ein Problembewusstsein dafür, dass die traditionell zum Verständnis der eigenen Zeit gebräuchlichen Begriffe Leistungsgrenzen haben, wenn es gilt, neue Phänomene zu erfassen und zu verarbeiten. Die Herrschaft des Volkes in der athenischen Demokratie war nicht nur die Lösung alter Probleme der Machtasymmetrie, sie erzeugte neue Probleme, die neue politische Theorien anregten. Faschismus und Nationalsozialismus waren Phänomene, die nicht ohne weiteres mit dem Bestand politischer Begriffe erfasst werden konnten, der die verschiedenen Diskurse dieser Zeit prägte. Daher schlugen Theoretiker neue Wege ein oder hielten in der Ideengeschichte nach alternativen Denkwegen Ausschau, die geeigneter schienen, diese Phänomene auf den Begriff zu bringen. Daher ändert sich ach die Bedeutung eines politischen Theorems mit dem Problembewusstsein, das zu seiner Rezeption führte. Der „Kommunismus" Piatons reagierte auf andere Probleme als der von Thomas Morus oder Karl Marx, was sich erst im Kontext der übrigen politischen Theorie zeigt. Die Probleme stellen zugleich den Bezug der Theorie zur Praxis her. Politische Theorie operiert nicht in Diskursen verstanden als Denkwelten, die von der sie umgebenden sozialen Wirklichkeit völlig abgelöst sind. Die bedeutendsten Autoren der politischen Ideengeschichte haben sich mit den letzten Fragen menschlicher Existenz und zugleich mit Fragen der politischen Theorie im Sinne des Verhältnisses von Normen und Institutionen beschäftigt. Gerade die politische Theorie war immer mit Fragen ihrer praktischen Umsetzung konfrontiert;

Einleitung: Ideengeschichte als Gewebe politischer Diskurse

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oft genug waren Theoretiker zunächst Praktiker, die aus den Problemen politischer Praxis heraus die Orientierung ihres Handelns an theoretischer Arbeit suchten. Selbst diejenigen Autoren, die utopische politische Ordnungen in „Staatsromanen" entwickelten, bleiben erkennbar geprägt durch die praktischen Probleme ihrer eigenen Gegenwart. Woher kommt das Eigentum und wie soll es verteilt werden, was sind die Wurzeln der Herrschaft und wer soll diese ausüben? Solche Fragen sind nicht „theoretisch" in dem Sinne, dass sie mit Praxis nur mittelbar zu tun hätten: sie sind gedankliche Abstraktionen praktischer Probleme, die oft genug aus der unmittelbaren Erfahrung des Autoren stammen. Die Grammatik nicht nur der politischen Ideengeschichte, sondern aller Geistesgeschichte ist diskursiv. Diskurse sind keine voneinander abgeschottete Denkwelten, die nebeneinander existieren, ohne voneinander Notiz zu nehmen oder zu interagieren. Diskurse sind Verweisungszusammenhänge von Texten, vor deren Hintergrund das Verständnis eines Textes erschlossen werden muss. Die naheliegendste Form eines solchen Verweisungszusammenhanges ist die Autorschaft des Textes, was im Allgemeinen „das Werk" eines Autors genannt wird. Welche Texte stünden einander näher als die desselben Autors? Nun sind aber die bedeutendsten Theoretiker keine Autisten, sondern lassen sich von anderen Texten anregen, reagieren auf sie, wollen auf die weitere Textproduktion einwirken. Sie wachsen in Diskursen auf, werden geschult, denken in bestimmten Sprachen, werden in Diskussionen verstrickt, auf die zu reagieren von ihnen erwartet wird, erkennen Alternativen und Konkurrenzen und wollen schließlich in Deutungskämpfen intervenieren. Zeitgenössische Kritiken veranlassen Anti-Kritiken, unliebsame Rezeptionen verursachen ein erneutes Überdenken der eigenen Position, was zu neuen Publikationen führt. Das Werk eines Autors erwächst also aus Diskursen, die ihm Traditionen von Fragestellungen vermitteln und Traditionen an Denkbahnen an die Hand geben, in welchen nach Antworten gesucht werden kann. Der Autor greift schließlich gezielt auf andere Diskurse zurück, manchmal aus sehr entlegenen Teilen der Ideengeschichte, gewinnt neue Anregungen, neue Begriffe und theoretische Ansätze. Der Autor selbst steht demnach bereits in diskursiven Zusammenhängen der Auslegung seiner eigenen Zugehörigkeit und seine Selbstauslegung muss nicht das letzte Wort sein, wenn man an die Brüche und Entwicklungen im Werk der bedeutendsten Autoren denkt, die trotz ihrer unzweifelhaften intellektuellen Fähigkeiten selten mit dem ersten verfassten Text bereits die Antwort vorstellen, der sie bis zum Lebensende treu bleiben. Einmal veröffentlichte Texte entwickeln schließlich eine Eigendynamik der Wahrnehmung, die der Autor nicht immer zu steuern vermag. Zum Verständnis eines Textes tritt daher zur Frage seiner Urheberschaft und der auf ihn einwirkenden Einflüsse die Wahrnehmung des Textes durch seine Rezipienten hinzu: die des Autoren selbst, die seiner Zeitgenossen und die Rezeption in den verschiedenen Bahnen der Auslegungsgeschichte. Das Verständnis der ideengeschichtlichen Position eines Textes verlangt daher eine mehrfache Perspektive, die berücksichtigt, dass Texte im Lichte unterschiedlicher Diskurse unterschiedliche Auslegungen zulassen. Grundsätzlich kann man hierbei zeitgenössische synchrone Diskurse von sich über Epochen hinweg erstreckenden diachronen Diskursen unterscheiden. Das Werk Adam Smiths der archivarischen Tradition folgend gehört zum Diskurs des Liberalismus und zum Diskurs der politischen Ökonomie (diachron), andererseits aber auch zur schottischen Aufklärung und etwas umfassender zum englischsprachigen Diskurs des 18. Jahrhunderts (synchron). Dies bedeutet, dass der gleiche Text von sehr unterschiedlichen Interpreten im Kontext sehr unter-

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schiedlicher anderer Texte gelesen und gedeutet wird. „Adam Smith" ist dann nicht mehr nur die Bezeichnung eines Autoren und seiner persönlichen Intentionen, sondern Chiffre für ein ganzes Bündel an Überlegungen, die innerhalb eines Diskurses ihre Bedeutung erlangen. Ideengeschichte ist daher ein Gewebe von Diskursen, dessen Fäden aus andauernder und sehr unterschiedlicher Rezeption gesponnen werden. Selbst die einflussreichsten Autoren mit den meist rezipierten Texten sind aus sich heraus nicht imstande, Diskurse zu bilden; sie können nur Beiträge dazu liefern, und zwar stets vermittelt durch die Rezeption anderer Autoren. Mit jeder Rezeption freilich ändert sich der Sinn des rezipierten Textes: er wird mit unterschiedlichen Fragen gesucht, mit unterschiedlichen Erwartungen und begrifflichen Instrumenten gelesen und schließlich mit anderen Texten in Verbindung gebracht, die aus sehr unterschiedlichen Diskursen stammen können. Das führt dann zur Produktion neuer Texte, in welchen sich Bausteine, Theoreme und Begriffe des rezipierten Textes wiederfinden, wobei aber die semantische Oberfläche nichts über die begriffliche Nähe aussagen muss. Die zunächst trivial anmutende Feststellung, dass einzelne Texte und ganze Werke im Kontext der sie umgebenden Diskurse stehen, führt in ihrer letzten Konsequenz zu einem Perspektivenwechsel der Wahrnehmung von Texten: zur Urheberschaft von Texten gesellt sich ihre Rezeption. Dies erhellt auch ein zentrales Problem der Ideengeschichte im Besonderen wie der Geistesgeschichte im Allgemeinen: das Problem der Kausalität. Wir sind es gewohnt, vom Einfluss eines Autors auf einen anderen Autor zu sprechen, von der Wirkung, die er entfaltete. Wie aber müssen wir uns diese Kausalität vorstellen? Die Frage der Abhängigkeit eines Autors von anderen ist meist eine Frage des Kausalitätsverhältnisses zwischen Texten. Wie lässt sich das Verhältnis von einem Text zu einem anderen erfassen? Die Fragerichtung muss umgekehrt werden: sie lautet nicht, welcher Einfluss von einem früheren auf einen späteren Text ausgeübt wurde, sondern wie ein späterer Text einen früheren rezipiert. Rezeption ist gleichsam die umgekehrte Kausalitätsrichtung. Die Bedeutung eines Autors ist diachron betrachtet das Ergebnis seiner Rezeption und findet daher angesichts unterschiedlicher Rezeptionsrichtungen auch eine unterschiedliche Antwort: von der Gleichgültigkeit bis zum Spektrum positiver, untereinander aber sehr verschiedenartiger Anknüpfungsmöglichkeiten. Rezeption ist erstens eine Auswahl aus dem Textbestand eines Autors, zweitens deren Adaption, denn die Rezeption erfolgt ihrerseits durch Fragen aus Problemen der Zeit des Rezipienten und drittens ist Rezeption schließlich die Verknüpfung von Texten unterschiedlicher Autoren. Rezeptionen erfolgen nicht zwangsläufig. Innerhalb synchroner Diskurse bieten sich meist mehrfache Alternativen der Anknüpfung. Bereits zu Beginn des 4. vorchristlichen Jahrhunderts konnte ein Autor bei den Sophisten anknüpfen oder bei Sokrates und seinen Schülern; danach bilden Piatonismus und Aristotelismus alternative Rezeptionsmöglichkeiten. In immer größerer Tiefenstaffelung reicherte sich das Archiv über die Jahrhunderte an, das Text neben Text stellte; als Arsenal aber werden mit Bedacht manche Texte näher zueinander gestellt als andere, bis eine ideengeschichtliche Generalrevision vorgeschlagen wird, welche die Zuordnungen abändert. In der Doppelperspektive synchroner wie diachroner Rezeptionen nehmen daher die Möglichkeiten an diskursiven Kontexten zu, in welchen der Autor seinen Text stellen möchte und sein Text von Rezipienten gestellt wird. Diskurse sind daher keine meta-personalen Kontinuitäten, in denen sich „Ideen" gleichsam von alleine entwickeln. Sie sind aber trans-personal, das heißt, sie umfassen die Theoriearbeit verschiedener durch Rezeption und Kontroverse miteinander verknüpfter Texte. Dies bewirkt eine Varianzbreite der Interpretationen, die sich im Laufe der Ideengeschichte potentiell ständig erhöht, auch wenn

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aktuell die Debatten außerstande sind, alle möglichen Anknüpfungspunkte zu integrieren. An eine Tradition anknüpfen heißt immer auch, sich einer anderen Tradition zu verweigern. Die Frage nach den Referenzautoren schließt die Frage ein, welche nicht-rezipierten Autoren zur Verfugung gestanden hätten. Ein anderer trivialer Umstand gebietet die Beschäftigung mit Diskursen an Stelle einzelner Autoren oder Werke: Kein Beitrag zur politischen Theorie ist bislang als letzte Antwort auf eine ganze Diskurse beschäftigende Frage anerkannt worden. Es gibt keinen Newton und keinen Einstein der politischen Theorie. Talcott Parsons sprach davon, dass man auf den Schultern von Riesen steht: wobei die Betonung auf dem Plural liegen muss. Aristoteles folgt Piaton, Hegel folgt Kant, Max Weber folgt John Stuart Mill und keinem gelingt es, einen Vollbegriff politischen Denkens zu bieten, eine Analyse aller relevanten Aspekte. Will man etwas über die Theorie des Krieges und des Friedens wissen, kann man auf keinen einzelnen Autoren allein verweisen, man muss die Debatten hierzu berücksichtigen, die erst insgesamt einen Einblick in die Komplexität des Themas und die Vielfalt der Lösungsmodelle bieten. Auch in historischer Sicht kann kein einzelner Autor reklamieren, allein Repräsentant des politischen Denkens seiner Zeit zu sein. Die Beschäftigung mit Diskursen an Stelle einzelner Autoren bietet daher auch inhaltlich mehr: Diskurse sind reicher an Wissen, reicher an Modellen, reicher an Anregungsmöglichkeiten als die Werke einzelner Autoren. Denn neben die Konkurrenz von „Klassikern" treten auch noch die vielen zwischenzeitlich vergessenen Texte, die aber in einzelnen Diskursen ihre Bedeutung haben. Die Ideengeschichte als Kontinuum bietet daher für die politische Theoriearbeit ein gewaltiges Erbe, einen schier unerschöpflichen Reichtum an Begriffen und Argumenten, der immer wieder neu aufgenommen und verarbeitet wird, was im besten Falle neue Denkwege eröffnet und so künftiger Rezeption neues Material bietet, um zur anhaltenden, offenkundig nicht abzuschließender Aufgabe beizutragen, die politische Selbstauslegung des Menschen in seiner Zeit zu orientieren. Dieses Kontinuum ist nicht linear, sondern gleicht einem Gewebe, das aus Fäden unterschiedlicher Stärke besteht, die in unterschiedlichen Abständen dichtere und losere Knotenpunkte aufweisen, bestehend aus einzelnen Texten. An diesen Knotenpunkten werden verschiedene Fäden aus älteren Schichten aufgegriffen, miteinander verknüpft und bieten so in neuer Gestalt Anknüpfungspunkte weiterer Verarbeitung. Diese Fäden sind Rezeptionsvorgänge, die ihrerseits Traditionen aufweisen, Diskurse genannt, in welchen das Verständnis politischer Begriffe zu einem mehr oder weniger dichten System geordnet werden. Ideengeschichte hat keine von der rezeptiven Aneignung zu unterscheidende Existenz: setzt die Rezeption aus, erlischt das Kontinuum. Die Struktur dieses Kontinuums zu bestimmen ist die Aufgabe der politischen Ideengeschichte als wissenschaftliche Disziplin. Sie ist nie nur Beobachterin, sie ist ein Teil dieses Rezeptionsvorgangs. Die Ideengeschichte des Westens Vorliegende Ideengeschichte ist eine politische Ideengeschichte des westlichen Kulturkreises in der Zeit von der griechischen Klassik bis zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948. Auch wenn gelegentlich von Schiffskaperungen vor der Küste Indonesiens, von arabischen Textgelehrten, von Indianerhäuptlingen Nordamerikas, von Indios Mittelamerikas und versklavten Bewohnern Afrikas die Rede ist, so ist das hier geschilderte Gewebe politischer Diskurse das des Westens. In einer Zeit, die als ihr eigentliches Merkmal die „Globalisierung" thematisiert, liegt der Gedanke nahe, politische Ideengeschichte müsse die Ideengeschichte aller auf diesem Globus vorfindbaren politischen Theorien und ihrer Geschichte

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sein. Begreift man Ideengeschichte als Gewebe von Diskursen, so kommt man statt dessen zu dem Schluss, dass kein globales Gewebe politischer Diskurse vor dem Ende des 2. Weltkrieges existierte und auch dann sich nur unter den höchst problematischen Bedingungen der Hegemonie des westlichen Ideenkreises entfaltete. Bis dahin muss man von verschiedenen solchen Geweben ausgehen, die nur wenige und oft nur sehr dünne Fäden untereinander ausbildeten. Es gibt eine politische Ideengeschichte der afrikanischen (Hensbroek 1999), der islamisch-arabischen (Black 2001), der indischen (Mehta 1992), der japanischen (Sims 2001) und der chinesischen Kultur (Hsiao 1979; Ames 1994) wie es eine Ideengeschichte des Westens gibt; es gibt aber für den hier behandelten Zeitraum kein weltumspannendes, alle Kulturen in sich vereinigendes Gewebe, das sehr viel mehr wäre als die Summe dieser regionalen Gewebe. Der Westen hat immer wieder Texte und Ideen aus dem chinesischen und dem arabischen Raum verarbeitet, aber auf eine Weise, die sehr charakteristisch fur den Westen ist und weniger für die dieser Rezeption zugrunde liegenden Ideen. Max Weber sprach in Politik als Beruf davon, dass Machiavellis machtpolitischer Ansatz bezüglich seiner berüchtigten „Amoralität" harmlos wirkt im Vergleich zu dem älteren indischen Text Arthasastra von Kautaliya (Mehta 1992, 80-102). Die Kenntnis dieser Texte anzunehmen ist also nicht abwegig; aber wie stark wurden sie rezipiert und mit welchen Folgen? Machiavelli dagegen ist in allen Diskursen der Ideengeschichte des Westens präsent, auch wenn er hierzu in die verschiedenen Nationalsprachen übersetzt werden musste und seine Begriffe einer Adaption unterlagen. Umgekehrt haben besonders im 20. Jahrhundert beispielsweise die chinesische und die arabische Kultur westliche politische Ideen rezipiert, ohne dass dies ihrer Kultur immer zum Vorteil gereicht hätte. Vor allem war ihre Rezeption nicht immer freiwillig. Diese jeweils kulturell geprägten Gewebe sind einander femer als etwa die Ideengeschichte der USA im Vergleich zu jener Frankreichs. Dies ist keine normative Annahme, sondern ein ideengeschichtlicher Befund, der sich ändern mag. Noch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 war sicherlich alles andere als „universell": sie brachte eine zutiefst westlich geprägte Idee zum Ausdruck, formuliert in einer Begrifflichkeit, deren ideengeschichtliche Wurzeln fast ausschließlich westlichen Ursprungs sind. Immerhin zwang der Universalitätsanspruch dieser Idee und die dadurch ausgelöste Kontroverse dazu, ihre kulturelle Besonderheit zu erkennen. In diesem Vorgang spiegelt sich erneut die für ideengeschichtliche Prozesse nicht verwunderliche, ihre Entwicklung vorantreibende Interaktion von Text und Rezeption. Hinweise zum Gebrauch Der Aufbau dieser Darstellung vermengt auf ungewohnte Weise diachrone und synchrone Diskurse und erwartet die Einnahme beider Perspektiven. Zwar bleibt die Chronologie in der Abfolge synchroner Diskurse beibehalten, sie wird aber unterbrochen durch die diachronen Ideendebatten, in welchen vor- und zurückverwiesen wird. Was den Lesefluss erschweren mag, erfolgt in didaktischer Absicht. Es ist unmöglich, die politische Ideengeschichte als eine Geschichte des Verlaufs politischer Denkbewegungen in chronologischer Reihenfolge abzuschreiten. Im Gewebe politischer Diskurse greifen diachrone und synchrone Debatten ineinander. Die ideengeschichtliche Bedeutung von Texten erschließt sich durch die Kenntnis ihrer Position als Knotenpunkt diachroner wie synchronen Auseinandersetzungen. Die Bedeutung politischer Gedanken wie die Verwendung politischer Begriffe gewinnen ihre

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Prägnanz erst durch die Kenntnis des weiteren Verlaufs der Entwicklung und des späteren Einflusses sowie durch das Wissen um die alternativen Denkwege. Wissenschaftliche Forschung bietet entweder einen Überblick oder einen intensiven Einblick. Im ersten Falle gewinnt man rasch ein Gefühl für Entwicklungen, Vergleichsmöglichkeiten, Analogien und Abhängigkeiten; der Preis ist jedoch, auf tiefere Einblicke vorerst verzichten zu müssen. Lässt der Überblick einiges an Intensität und Varianz der Diskussionsmöglichkeit einzelner Texte vermissen, so kann der intensive Einblick in einzelne Aspekte daran kranken, keinen ausreichenden Abstand zum Gegenstand zu haben und dem Eindruck zu erliegen, es mit ganz singulären Phänomene zu tun zu haben. Der Überblick ist daher der erste Schritt zur Erfassung der politischen Ideengeschichte als Kontinuum und bereitet die vertiefende Beschäftigung vor. Für Gesamtdarstellungen zur politischen Ideengeschichte sei auf die Arbeiten von Sabine (1973), Maier/Rausch/Denzer (2001) oder Strauss/Cropsey (1972) verwiesen, die nach Autoren angeordnet sind, auf Ory (1987) oder auf die fünfbändige Forschungssammlung bei Fetscher/Münkler (1985-1993), die nach Autoren und synchronen Diskursen gliedern und auch außereuropäische Diskurse behandeln. Das interessanteste Handbuch zu zentralen Werken der Geschichte der politischen Theorie ist Chatelet/Duhamel/Pisier 2001. Stärker diachrone und synchrone Fäden verbindende Arbeiten konzentrieren sich auf einzelne Epochen wie Skinner für die Frühneuzeit (1978), Coleman für das Kontinuum von der Antike bis zur Renaissance (2000) oder Beyme für das „Zeitalter der Ideologie" nach 1789 (2002). Das gilt auch für Sammelwerke wie die von Burns herausgegebenen Bände für die Zeit vom frühen Mittelalter zur Neuzeit (Burns 1988 und 1991). Für diachrone Diskurse sind die begriffsgeschichtlichen Sammelwerke von unschätzbarem Wert, wobei die Schwerpunkte immer etwas anders liegen: in den „Geschichtlichen Grundbegriffen" (Brunner/Conze/Koselleck 1972ff.) sind es zentrale Begriffe der historisch-politischen Sprache, im „Historischen Wörterbuch zur Philosophie" werden auch zentrale Begriffe der politischen Philosophie behandelt. Als methodische Alternative zu den beiden letztgenannten ist das Handbuch von Reichardt/Schmitt (1985ff.) von Interesse. Zur besseren Übersicht sind Werke der politischen Ideengeschichte im Text kursiv angegeben, lateinische Ziffern verweisen in der Regel auf Buchnummern, arabische auf Kapitelnummern. Werke aus der Forschungsliteratur werden in Klammern mit dem Nachnamen des Autors und dem Erscheinungsjahr zitiert; die Ziffer nach dem Komma meint die Seitenzahl. Das kombinierte Personen- und Begriffsindex hilft bei der gezielten Suche nach Themen unterhalb der diskursiven Ebene. Im Text sind Absätze mit hauptsächlich diachronem Bezug zur besseren Orientierung grau schattiert. Den einzelnen Abschnitten gehen Grafiken voran, die in einer stark schematischen Darstellungsweise einen ersten Überblick geben wollen. Die großen diachronen Stränge sind vertikal wiedergegeben, synchrone Diskurse horizontal. Wer einen ersten Eindruck vom gesamten Kontinuum der politischen Ideengeschichte gewinnen möchte, sei auf den ersten diachronen Abschnitt zu „Idee und Begriff des Politischen" verwiesen.

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Archaische Literatur Homer llias; Odyssee

1 Das griechische Gesprächsfeld

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Der Ausgangspunkt der politischen Ideengeschichte liegt in Griechenland und nicht in den älteren Kulturen des babylonischen und ägyptischen Reiches oder den Kulturschichten, die das Alte Testament beschreibt. Politisches Denken war zwar vor den Griechen bekannt, nicht jedoch dessen Reflexion. Man kann beispielsweise das Alte Testament als Verfassung des Volkes Israel verstehen und das darin zum Vorschein gelangende politische Denken rekonstruieren und interpretieren (Herrmann 1988) oder man interpretiert die Genesis als politische Philosophie (Sicker 2002), man findet darin aber keine politische Theorie. Erst das griechische politische Denken wies den Weg zur politischen Selbstreflexion und zugleich blieb es als Anknüpfungspunkt weiterer Theoriearbeit beispiellos einflussreich auf die Kultur des Westens. Eine solche Selbstreflexion des politischen Denkens finden wir an keiner Stelle des Alten Testaments. Der Einfluss des Alten Testaments auf die Entwicklung des politischen Denkens setzt erst spät ein als Folge von spezifischen Rezeptionsprozessen.

1. Das griechische Gesprächsfeld Die ältesten griechischen Textzeugnisse politischen Denkens, allen voran die Homer zugeschriebene Ilias und Odyssee (8. vorchristl. Jahrhundert) sowie Hesiods Schriften (7. Jahrhundert), waren für die gesamte griechische Kultur Bezugspunkt der erst in der Klassik des 5. Jahrhunderts einsetzenden Reflexion, was das Politische sei. Bereits Mythos und älteste Dichtung des griechischen Kulturkreises kannten gedankenreiche Überlegungen zu sozialen Problemen (Lesky 1993; Fränkel 1960; 1993). Homer entwickelte in der Ilias (II 204) eine der ältesten und wirksamsten archaischen politischen Vorstellungen (u.a. zitiert bei Aristoteles Metaphysik Buch Lambda a. Ε., Bekker 1076a): die Vorzüge einheitlicher Herrschaft und damit die Legitimität fürstlicher Regierung. Die archaische Zeit maß das Handeln des Einzelnen nach den Werten der feudalen Kriegerkaste. „Immer Bester zu sein und überlegen zu sein den andern" hieß es bei Homer (Ilias VI 208, XI 783). Dies war ein „heroischer Code", der mit Eintritt in das Zeitalter der Polis zum Tugendklischee wurde und seinen institutionellen Platz auch im sportlichen Wettkampf fand, beispielsweise in den panhellenischen Spielen (Davies 1983, 140-141). Die homerischen Epen Ilias und Odyssee waren Bezugspunkt topischer Argumentation für den gesamten griechischen Sprachraum und formten ein hellenisches Kulturverständnis, das sich durch die expansive Kolonialbewegung über den gesamten Mittelmeerraum ausbreitete. Umschlagplätze für Ideen innerhalb der griechischen Zivilisation waren kultische Einrichtungen, allen voran Delphi mit seinem Orakel (Meier 1983, 73-76), das selbst von räumlich ferneren und zeitlich jüngeren Zivilisationen (Rom) aus dem Westen wie dem Mittleren Osten befragt wurde. Zweimal versuchte das Persische Reich vergeblich, die kleine Halbinsel auf der anderen Seite der Ägäis zu unterwerfen. Aus den kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem übermächtig scheinenden persischen Großreich im 5. Jahrhundert erwuchs ein exklusives Selbstbewusstsein der Griechen, das sich nicht zuletzt aus der Beobachtung eines anderen Verständnisses von Politik speiste. Sie grenzten ihre Lebensart, die auf politische Selbstbestimmung ausgerichtet war, scharf von den Herrschaftsformen ab, die man bei den „Barbaren", also den nicht Griechisch sprechenden Völkern ringsumher beobachtete, allen voran den Völkern des Persischen Großkönigs. Die bei den Persern praktizierte Unterwerfung der Untertanen unter die unhinterfragte Alleinherrschaft war das Kontrastbild zum griechischen Politikverständnis. Noch Aristoteles definierte kategorisch, das Leben der Freien sei demje-

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nigen des Despoten vorzuziehen (Politik 1325a24). Despotie war gleichgesetzt mit A-Politie, also dem Verzicht auf Politik überhaupt. Vor den Perserkriegen brachten die bedeutendsten kulturellen Leistungen nicht das griechische Mutterland, sondern die Kolonien in Sizilien, Unteritalien und dem griechischen Teil Kleinasiens (Ionien) hervor. Hieron, nach dem Xenophon ein Jahrhundert später eine Abhandlung benannte, war der vielleicht berühmteste Alleinherrscher Siziliens, der an seinem sog. Musenhof zu Syrakus 478-467 (also kurz vor Anbruch des klassischen Zeitalters in Athen) die Künste, besonders die Lyrik, zu einem frühen Höhepunkt führte. Sizilien war auch der Ausgangspunkt einer der wichtigsten Wandlungen der Struktur des Gesprächsfeldes, der Rhetorik. Die Perserkriege konnten nur siegreich bewältigt werden, weil die Hellenen auf Sizilien dem karthagischen Angriff aus dem Westen standhielten und so dem griechischen Mutterland die Möglichkeit gaben, sich auf die persische Invasion aus dem Osten zu konzentrieren. Aus Ionien in Kleinasien stammten die ersten bedeutenden Beiträge zur Philosophie (Heraklit). Auch das kolonialisierte Unteritalien brachte mit der dort beheimateten Schule der Pythagoreer bedeutende Leistungen hervor, die beispielsweise auf die sokratische Philosophie einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausübten. Was aber Athen auszeichnete war die Demokratie, „Athen" wurde ideengeschichtlich oft mit „Demokratie" gleichgesetzt. Das ursprüngliche Königtum (Theseus) wurde im 7. vorchristlichen Jahrhundert durch das Archontat jährlicher wechselnder Amtsträger ersetzt. Im 6. Jahrhundert folgten von den Reformen Solons bis zu denen des Kleisthenes sukzessive Erweiterungen der politischen Rechte der Bürgerschaft und ihres Einflusses auf Regierung und Rechtsprechung (Aristoteles, Staat der Athener 29, 29). Die Demokratie stand auf der Grundlage der Isonomie, der politischen Gleichheit der Bürger, welche die institutionelle Herrschaft des Volkes durch das Volk etablierte. Die Zugehörigkeit zu lokalen und sozialen Verbänden wurde in der Phylenverfassung mit ihren künstlichen Grenzziehungen aufgehoben und so eine nach dem Muster der Mitgliedschaft geschaffene Verbindlichkeitsstruktur errichtet. Die demokratische Ideologie in Athen datierte die Ursprünge der Demokratie immer weiter hinter Kleisthenes, Solon, Drakon und schließlich Theseus bis in das mythische Zeitalter zurück (Ruschenbusch 1958). Im 4. Jahrhundert war diese Rückprojektion abgeschlossen: Isokrates meinte in einer seiner Reden (Panatenaikos), mit der Übergabe der Macht von Theseus auf die Versammlung des Volkes habe man eine nicht-anarchische Freiheit gewählt, nämlich diejenige Verfassung, „die nach allgemeinem Urteil nicht nur die unparteiischste und gerechteste, sondern auch die allen zuträglichste und für die, die darin leben, angenehmste ist. Sie richteten nämlich eine Demokratie ein, aber nicht eine, in der planlos umherregiert wird, in der man Freiheit mit Zügellosigkeit und die Möglichkeit, zu tun, was man will, mit Glücklichkeit verwechselt, sondern eine, die gegen solche Auswüchse ankämpft und sich der Prinzipien der Aristokratie bedient" (Isokrates, Panathenaikos 129-131. Ferner Hellena 32-36. Die „gute alte Verfassung" auch in Areopagita 20). Demokratie meinte Volksherrschaft, in welcher das Volk nicht nur die Legitimität der Herrschaft durch Wahlen verleiht, sondern die Herrschaftsausübung in eigene Hände nimmt, und zwar in gesetzgeberischer wie richtender Hinsicht. In der athenischen Volksversammlung (ecclesia) wie in den Volksgerichten (helaiaia) übte das Volk in seiner Gesamtheit zentrale politische Kompetenzen selbst aus (Hansen 1991, 125-260 und 178-224). Gleichheit sollte institutionell durch den raschen Wechsel der Amtsinhaber, durch das Los als Entscheidungsverfahren und eine Kompetenzaufteilung der politischen Herrschaftsausübung gewährleistet

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werden. Die Volksversammlung wurde bei aller Letztentscheidung dadurch moderiert, dass sie keine Entscheidung ohne Vorberatung im Rat der Fünfhundert fällen durfte. Der Rat war keine ständige Institution und übte daher auch keine Vorherrschaft durch Elitenbildung, daran hinderten ihn das Losverfahren und die tägliche Rotation. Mit der Vorberatung der Beratungen in der Vollversammlung in kleinerem Kreis des Rates, oft auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit, kam ein erhebliches Maß an Rationalität in den politischen Willensbildungsprozess, welcher der Volksversammlung gelegentlich (aber ideengeschichtlich geradezu sprichwörtlich) fehlte und dort durch Emotionen ersetzt wurde. Die athenische Demokratie war bemüht, jegliche Macht einzelner Personen zu verhindern, die das Gewicht der Volksversammlung hätte schmälern können. Die Loswahl war ein Ausdruck hierfür, der berühmteste aber das Scherbengericht (Ostrakismos: Aristoteles, Staat der Athener 22,1 und 41,2), mit welchem die Athener ohne Angabe von Gründen eine Person aus der Bürgerschaft verbannen konnten, wenn sie ihnen zu gefahrlich erschien. Das 5. Jahrhundert zeigte die Leistungsfähigkeit der Demokratie: von den Siegen in den Persischen Befreiungskriegen bis zum Perikleischen Zeitalter mit seiner Blüte in Kunst und Wissenschaft (443-429). Athen wurde das Zentrum der hellenischen Kultur als Folge seiner Hegemonialstellung im Attisch-Delischen Seebund, welcher in den Perserkriegen gegründet und nach Ende des Konflikts beibehalten wurde. Die Tributzahlungen der Bundesgenossen in die Kriegskasse brachten gewaltige Mittel nach Athen, der führenden See- und Handelsmacht und die mit Abstand bevölkerungsstärkste Stadt jener Zeit. Im demokratischen Athen um 430 v.Chr. sollen 42000 Politen, 70000 Metöken, d.h. nicht stimmberechtigte Freie und über 100.000 Sklaven gelebt haben (Tarkiainen 1966, 40-42; Finley 1973b, 35-37). Athen wurde als Halt und Stütze Griechenlands gefeiert (Pindar fr. 76), als sein geistiger Mittelpunkt (Thukydides II 41), gar als Inbegriff alles Griechischen gesehen (Grabepigramm, zitiert bei Lesky 1993, 148). Athen, das waren die Athener: die Männer waren die Polis (Thukydides VII 77, 7; Ehrenberg 1965, 108). Diese Aussage erinnerte nicht nur daran, dass Frauen kein Bürgerrecht besaßen, sondern dass nicht Institutionen oder Familien zählten, sondern der Einzelne. Die politische Ordnung war personal gedacht, man sprach auch in den völkerrechtlichen Verträgen von den Athenern, den Spartanern und nicht von einem athenischen oder einem spartanischen Staat. Die Polis war kultischer und lebensweltlicher Bezugspunkt des Menschen, sie besaß ihre eigenen Münzen und Kalender und ihre eigenen Hausgötter, deren Missachtung eine Art von Hochverrat darstellte (dies war ein Anklagepunkt im Prozess gegen Sokrates). Die Polis war nicht nur der Lebensraum, sie war zugleich Schicksalsraum des Einzelnen. Die Verzahnung von politischem Leben und persönlicher Existenz zeigt sich auch am Beispiel von Personen, die für andere als politische Leistungen berühmt wurden. Der Tragödiendichter Aischylos kämpfte in der Schlacht von Marathon gegen die Perser. Herodot (484-424/414) war an dem Erhebungsversuch seines Onkels Panyassis, einem epischen Dichter, gegen den Tyrannen von Halikarnassos, Lygdamis, um 461 beteiligt und musste nach Samos fliehen. Aischylos' Kollege Sophokles war 443/442 Schatzmeister des Attischen Seebundes und wurde 441/440 zum Strategen gewählt, d.h. zu einem der militärischen Anführer zusammen mit weiteren neun, darunter Perikles. Sophokles erachtete diese Wahl als Anerkennung fur seine Dichtung, insbesondere für seine kurz zuvor aufgeführte Antigone (Hypothesis). Der größte Konkurrent des Aristophanes im Komödienwettbewerb, Eupolis, fiel 411 in der Seeschlacht am Hellespont. Der Athener Thukydides (460-404) nahm als Stratege des Jahres 424 am Peleponnesischen Krieg gegen Sparta teil, in dem die athenische Hegemonie im Attisch-

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delischen Seebund gebrochen wurde. Thukydides' Erfolglosigkeit führte zur 20jährigen Verbannung. Piaton hob hervor, dass Sokrates (470-399) bei aller Vorliebe für theoretische Reflexion an drei Feldzügen teilnahm und sich darin ebenso auszeichnete wie in den von ihm bekleideten politischen Ämtern, als Ratsherr (Prytane) rettete er die unglücklichen Strategen aus der Arginusen-Schlacht vor dem Zorn des Volkes. Erst die Akademisierung im 4. Jahrhundert entzog die Intellektuellen der politischen Praxis. In der akademisch organisierten Wissenschaft kam es zu dauerhafter Reflexionsanstrengung, verbunden mit der Sammlung, Archivierung und Analyse von Informationen, also der Generierung und Tradierung von Wissen. Dies hing auch mit der zunehmenden Wanderschaft von Intellektuellen zusammen, die als Gäste ohnehin keine Gelegenheit hatten, sich an der Politik ihres Wohnortes zu beteiligen. Aristoteles lebte als Beisasse (Metöke) in Athen, also frei, aber nicht stimmberechtigt. Schließlich konnte die politische Reflexion den Intellektuellen seiner Heimat entfremden, wie der Fall Piatons zeigte. Die Kultur war zunächst durch orale Überlieferung geprägt, erkennbar an der rhapsodischen Darbietung des Epos. So bevorzugte noch die wissenschaftliche Textproduktion der klassischen Zeit eine dialogische Textstruktur in Gestalt von Lehrgesprächen oder von Symposien. Die historischen Schriften des Herodot lassen den Gebrauch als Vortragsmanuskript erkennen. Die in Sizilien ihren Ausgang nehmende Rhetorik reflektierte die soziale und politische Bedeutung der mündlichen Kommunikation, die mit der Demokratie verbunden war. Hier ging es nicht mehr um das kultivierte Gespräch unter Freunden, das ja auch oft genug ergebnislos, aber geistig anregend verlief, sondern um konkrete Entscheidungsberatungen: zunächst vor Gericht und dann in der Volksversammlung. Auch die politische Philosophie neigte zur Form des Gesprächs als bevorzugtem Ausdrucksmittel. Am berühmtesten waren die sokratischen Dialoge, in welchen Piaton das Vorbild seines Meisters Sokrates, der selber nie einen Text verfasste, aufgriff: das Gespräch von Bürger zu Bürger war in Piatons Dialogen das Muster der philosophischen Argumentation: im Gefängnis, beim privaten Gastmahl, beim Spaziergang am Bach vor den Toren der Stadt. Noch Aristoteles bevorzugte in den Schriften des 4. Jahrhunderts (die alle verloren sind) den Dialog. Wir kennen nur die für die nichtöffentliche Lehre verfassten (esoterischen) Schriften. Das Wort Politik erinnert noch heute semantisch an die griechische Herkunft des politischen Denkens; es ist auf die Polis bezogen, auf den Stadtstaat (siehe den diachronen Diskurs zur Idee des Politischen). Die politische Welt der Griechen war geprägt durch die Vielzahl unabhängiger, sich selbst regierender Stadtstaaten, den Poleis. Der Kontext urbaner Selbstregierung und das Erlebnis der Perserkriege forderte im Zeitraum von etwa 100 Jahren eine vorher ungekannte Dichte an Schriften, die sich mit politischen Fragen beschäftigten: die tragische Dichtung eines Aischylos, Sophokles und Euripides und die Geschichtsschreibung, angefangen mit Herodot und Thukydides, stellten beispielsweise den Kontrast von persischer „Despotie" und athenischer „Freiheitsidee" heraus. In der Zeit der Klassik setzte auch das demokratische Denken ein (Meier 1983; Farrar 1988). Freiheit (eleutheria) wurde nach dem endgültigen Sieg gegen die Perser semantisch aufgewertet (Raaflaub 1985, 71-106), beginnend mit dem Tragödiendichter Sophokles (Raaflaub 1985, 191), und zum doppelten Kennzeichen des griechischen Politikverständnisses: als Signum der Selbstregierung und als Ziel des Unabhängigkeitskampfes gegen Persien. Die Selbstbestimmung im Innern, also die Kompetenz zur Verfassungsgebung, war Autonomie (Raaflaub 1985, 189-207). Der Gegenbegriff zur politischen Freiheit im Innern war die Tyrannis (Raaflaub 1985, 108-124; Boesche 1996), obwohl dieser Ausdruck zuvor durchaus

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populär sein konnte, da oft das einfache Volk im Kampf gegen die soziale Macht der Geschlechterverbände einzelne Personen mit besonderen Machtkompetenzen ausstattete (Berve 1967). Die Freiheit wurde schließlich im Peleponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta zur Leitmaxime des athenischen Selbstverständnisses, der Athens führender Politiker Perikles im Epitaphios, einer bei Thukydides verarbeiteten Rede aus dem Jahr 430, programmatisch Ausdruck verlieh. Die Geschichtsschreibung

(Herodot,

Thukydides)

Mit dem Unabhängigkeitskampf der Griechen gegen das persische Reich endet das Geschichtswerk von Herodot. Herodot (484-424/414) begründete mit den Historien (Histories apodeixis) die Textgattung der Geschichtsschreibung, wofür er bereits in der Antike den Ehrentitel „Vater" der Geschichtsschreibung zugesprochen bekam. Nachdem sein eigenes politisches Wirken in seiner Heimatstadt Halikarnassos gescheitert war ging er nach Athen, wo er mit Perikles befreundet war; ferner war er Mitbegründer der Kolonie Thurioi (Ehrenberg 1979). Er bereiste große Teile Europas und Vorderasiens von Ägypten bis Persien und trug dabei die unterschiedlichsten Stimmen zu ähnlichen Sachverhalten zusammen. Dabei diskutierte er völkervergleichend und quellenkritisch die Überlieferung. Herodot wollte den Hintergrund der Persischen Kriege nachzeichnen, um die Leistung der Griechen im Kontrast zu dem gewaltigen Gegner stärker hervortreten zu lassen. Dabei ließ er sich als Ethnograph und als Geschichtenerzähler häufig auf weitschweifige Exkurse und Erzählungen ein, die das Publikum sicherlich erfreuten. Eine dieser Geschichten erzählt, wie der persische Großkönig Dareios einmal die Größe seines Reiches demonstrieren wollte, indem er zeigte, wie stark die Sitten seiner westlichen Untertanen von denen im äußersten Osten abwichen. So versammelte er einige der seinem Herrschaftsbereich zugehörigen kleinasiatischen Griechen und forderte sie auf, die Leichen ihrer Väter zu verspeisen, was diese natürlich entsetzt ablehnten, da sie ihre Väter zu beerdigen pflegten. Dann versammelte Dareios die indischen Kalatier und forderte sie auf, ihre verstorbenen Väter zu beerdigen, wogegen diese verzweifelt protestierten, waren sie es doch gewohnt, ihre toten Väter rituell zu essen. Herodot kommentiert diese Geschichte mit den Worten, Pindar habe recht gehabt, als er sagte, der Nomos („Sitte") sei aller Dinge Herr {Historien III 38). Nicht nur der Nomos trennte die hellenischen von dem persischen und allen anderen Kulturkreisen, sondern auch das Politikverständnis. In seinem Otanes-Dialog stellte Herodot eine Debatte nach (Historien III 80-83), in welcher der Großkönig wiederum Repräsentanten unterschiedlicher Kulturen danach befragte, welche Form der Politik bevorzugenswert sei. In dieser Debatte wurden erstmals die Regierungsformen danach gegliedert, ob einer, wenige oder viele die Regierungsgewalt ausüben (Bleicken 1979; Ostwald 2000, 17-20), eine die gesamte griechische Theoriebildung prägende Anordnung (Romilly 1959). Der Grieche Otanes schildert in Herodots Dialog die freiheitliche Selbstregierung als die erstrebenswerteste. Er plädiert gegen die Alleinherrschaft und will weder Herr noch Diener sein (83). Das von ihm favorisierte System bezeichnet er als Isonomie, als Gleichheit vor dem Gesetz. Die Magistrate werden ausgewählt, sie sind für ihre Entscheidungen verantwortlich, die politische Willensbildung erfolgt öffentlich. Ob die Vielen (plethos) hier als Mehrheit zu begreifen sind (Meier 1983, 287) oder wie Otanes' Kontrahent Megabyzos einwendet, als Masse, die mangels Disziplin und Kenntnis zur Regierungsausübung unfähig ist und sich zu allem auch noch selbst überschätzt (Hybris), ist eine Kontroverse, welche die Demokratietheorie bis heute begleitet.

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Ein anderes Ergebnis der Perserkriege war die Herausbildung einer dualistischen Machtstruktur auf der griechischen Halbinsel zwischen Sparta und Athen. Zwei politische Systeme innerhalb des gleichen Kulturkreises, die stärker entgegengesetzt sind, kann man sich kaum vorstellen. Die Gründungserzählungen beider politischen Ordnungen wurzeln in der archaischen Zeit und sind mythisch verklärt. Die Brücke von der archaischen zur stadtstaatlichen Geschichte schlagen ideengeschichtlich die Sieben Weisen, Gestalten der archaischen Legendenbildung, von denen nur die letzte, Solon, historisch fassbar wird. Viele von ihnen hatten sich durch politische Leistungen hervorgetan, meist in Gestalt von Verfassungsgebungen. Hierzu zählte die mythische Gestalt des Lykurgos, des Verfassungsgebers Spartas. Sparta hatte unter dem Eindruck des Aufstandes der Heloten, des in sklavischer Abhängigkeit gehaltenen Urvolks auf der Peleponnes, eine straff militärisch ausgerichtete Ordnung begründet, die der Legende nach auf Lykurg zurückgeht (Thommen 1996). Das Ziel der gesamten sozialen Ordnung bestand in der Hervorbringung einer Kriegerkaste, die jederzeit einsatzbereit und Aufträge bis zum Opfertod durchzuführen gewillt war. Zwei Könige standen an der Spitze, deren Handlungsfreiheit durch den Rat der Ältesten (Geronten) und das Wächteramt der Ephoren begrenzt wurde (Luther 2004; Welwei 2004). Über Plutarchs Biographie des Lykurg wirkte die spartanische Verfassung bis weit in die Neuzeit hinein (Rawson 1969): Das Ephorenamt übernahmen beispielsweise Calvin, Rousseau und Fichte auf der Suche nach Hütern der Verfassung außerhalb der Exekutive, insofern als institutionelle Alternative zu Gerichten. Die spartanische Gesamtverfassung galt als Ideal einer politischen Ordnung, welche Gesetzesherrschaft an Stelle von Herrscherwillkür etablierte und dabei von ungewöhnlich langer Dauer war. Diese Dauer war der Nachweis der Möglichkeit freiheitlicher Selbstbestimmung ohne jeden Anflug von Anarchie, die gefiirchtete Kehrseite der Freiheit. Anarchie wurde in der Ideengeschichte häufig mit der athenischen Demokratie in Verbindung gebracht (Roberts 1994), weshalb Sparta die ideengeschichtliche Alternative zu Athen blieb. In der Französischen Revolution stand Athen für den weltoffenen Freihandel verbunden mit Dekadenz, wogegen Sparta als Modell einer autarken Ordnung galt, verbunden mit äußerster Disziplin (Vidal-Naquet 1993). Der letzte der Sieben Weisen, der Athener Solon (c. 630-c. 560), war zugleich die erste greifbare Gestalt Athens, die Politik reflektierte. Die Athener - erschöpft von einem langjährigen sozialer Konflikt, den die Institution der Schuldknechtschaft verursacht hatte und der gelegentlich bürgerkriegsartige Ausmaße annahm - beauftragten Solon mit der Neuordnung ihres politischen Systems. Aristoteles skizzierte Solons Leistung mit den Worten, er habe Athen eine „politeia geschaffen und erließ andere Gesetze" (Staat der Athener 7, 1). Politeia kann hier mit Verfassung übersetzt werden im Sinne eines Systems von Einzelnormen, das eine politische Ordnung begründen und auf Dauer stellen soll (Ryffel 1949). Herodot erzählte, Solon habe sich nach vollendetem Verfassungswerk außer Landes begeben, damit ihn die Athener nicht seine Autorität zu Änderungen missbrauchen konnten. Schwerwiegende Eide sollten die Bürger wenigstens zehn Jahre an die Verfassung binden (Historien I 29). Solons Reflexionen zeigen, wie sich der Ort der Rechtlichkeit von dem Walten göttlichen Zuspruchs zur menschlichen Ordnung gesatzten Rechts verschiebt. Ein Menschenalter zuvor hatte Hesiod in seinen Werke und Tagen mit einem Hymnus auf Zeus als Hüter des Rechts begonnen. Solon nun übertrug die Lobrede des guten und glücklichen Resultats, das gedeiht, wo Recht waltet, auf die Wohlgeordnetheit (eunomia) der Ordnung. Die gute Ordnung regelt menschliches Verhalten und ermöglicht den inneren Frieden, das „Gefüge" „fesselt" den Gesetzesbre-

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eher, bekämpft das Unrecht, unterdrückt Hochmut und Streit (Solon 3, 26: Fränkel 1993, 255). Um Eunomia herzustellen, bedarf es der Gewalt, wie Solon hervorhebt; sie ist aber rechtmäßige Gewalt, weil er beauftragt sei, sie zu gebrauchen. Damit war ausgesagt, dass die politische Ordnung das Ergebnis auch gewaltsamer Satzung ist, die Eingriffe in die Interessen Einzelner bedeuten kann (so die Enteignung der Gläubiger der Schuldknechte), oft sogar muss. Solon unterscheid die physische Gewalt von gesetzlich organisiertem Zwang der Gemeinschaft. Er rechtfertigte sein Handeln durch den Willen der Bürger und nicht damit, hergebrachtes Recht (Sitten der Väter oder göttliche Gebote) wieder herstellen zu wollen. Vielen Menschen, die vor dem Vollzug der Schuldknechtschaft flohen, ermöglichte Solon die Rückkehr. Er tat dies seiner eigenen Aussage nach nicht als Anwalt oder Parteiführer der Armen oder der Reichen, sondern um des Gesamtwohls der Stadt willen: „[Ich] Schrieb weiter Satzung beiden aus, Hoch und Gering | gleichmäßig, jedem angepasst gerades Recht" (24). Die Konzentration der Geldmittel des Attisch-Delischen Seebundes in Athen führte zu einem permanenten Zuzug intellektueller Ressourcen. Athen brachte aber auch selbst Künstler ersten Ranges hervor und war als geistiges Zentrum der hellenischen Kultur im 5. Jahrhundert anerkannt. Tragödie und Komödie blühten, ihre Themen waren hochpolitisch. Die Eigentümlichkeit dieser Vorstellungen bestand darin, dass sich praktisch die gesamte Bürgerschaft einer Polis im Theater versammelte. Darbietungen im Theater gehörten nicht der Privatspähre an, sondern dem öffentlichen Raum des gemeinsamen Kultes. Das Theater war im Übergang von einer oralen zu einer schriftlichen Kultur ein wesentlicher Faktor bei der Herstellung politischer Öffentlichkeit (Meier 1988). Die künstlerische Herangehensweise ermöglichte die tragische oder komische Distanz zum Stoff. Schon die ältesten Dramen (492 Phrynichos, Einnahme von Milet und 476 Phoinissai) behandelten das unmittelbare Zeitgeschehen und konnten so selbst zum Politikum werden. Im Falle von Aischylos' Perser, die früheste uns erhaltene Tragödie, ist der junge Perikles Choregos (Finanzier und politischer Verantwortlicher). Aischylos erwies sich hierdurch als Parteimarin der perserfreundlichen Familie des Perikles, der Alkmäoniden, und verstrickte sich in deren Auseinandersetzung mit Themistokles, dem führenden Persergegner, den das Scherbengericht im Jahr nach der Aufführung in die Verbannung verurteilte. Tragödien standen nicht nur im Kontext von machtpolitischen Kämpfen, sie waren auch Medium der politischen Reflexion. Man kann in der Ores tie des Aischylos (458 v. Chr. aufgeführt) den reflexiven Ausgangspunkt politischen Denkens überhaupt sehen: Politik zeigte sich als Form der Konfliktlösung, dazu imstande, den Bannspruch ewiger Blutrache durch die Übertragung des Vergeltungsrechts auf die politische Gemeinschaft aufzuheben und damit den Frieden zu gewährleisten. Das Politische der neuartigen Verfassung Athens lag demnach in der Aneignung von Entscheidungen, die früher der gentilen Blutgerichtsbarkeit in Eigenjustiz oblagen. Zu der Übertragung dieser Kompetenzen und Verhaltensweisen bedarf es des „Könnensbewusstseins", Politik ist Emanzipation von den tradierten Verbindlichkeitsbezügen (Meier 1983). Die Tragödien orientierten sich noch an „mythischem" Stoff und an historischen Begebenheiten. In den Komödien konnten die Autoren darüber hinaus in freiester Form politische Themen aufgreifen und verarbeiten. Die Griechen konnten und wollten über Politik lachen, und zwar auch auf Kosten der politischen Führung. Das zeigt den spielerischen wie zugleich experimentellen Umgang mit politischen Problemen, der bereits in den Tragödien deutlich wurde, wobei der agonale Charakter griechischer Ausei-

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nandersetzung, d.h. der Geist des Wettbewerbs und die Suche nach dem ewigen Nachruhm, hinzukamen. Im Jahr 426 versammelten sich zu den Großen Dionysien, einem der wichtigsten Feste Athens, die Bundesgenossen des Attischen Seebundes. Als Abgeordnete nahmen sie neben den höchsten athenischen Amtsträgern in der ersten Reihe Ehrenplätze ein und sahen die Komödie Die Babylonier von dem jungen Autoren Aristophanes, der auch zugleich Regie führte (Ehrenberg 1968; 1973). Wie seinerzeit üblich, wurden diese Stücke zu solchen Festen das erste und auch einzige Mal aufgeführt. Im riesigen Theater war der Großteil der Bürgerschaft versammelt. In diesem Stück bestand der Chor aus Bundesgenossen, die wie Mühlsklaven auftraten und ihr Wehlied am Mühlrad sangen, wie sehr sie von Babylon unterdrückt wurden und unter dessen Herrschaft zu leiden hatten. Die Analogie zur Gegenwart war unverkennbar: Athen war der Herr und die Mühlsklaven waren die Bündner des Attischen Seebundes. Der wichtigste athenische Politiker in der ersten Reihe des Publikums war Kleon, der im Voqahr den Beschluss der Volkversammlung der athenischen Bürger veranlasst hatte, mit äußerster Härte den Bundesgenossen Mytilene zu bestrafen, der den Bund verlassen wollte. Erst am folgenden Tag konnte sich die gemäßigte Partei in Athen durchsetzen und erwirkte die Aufhebung des von Kleons initiierten Beschlusses. Ein Schiff stach in See, um den Boten mit dem Vernichtungsbefehl des Vortages einzuholen. Sie hatten Glück, denn die Winde waren dem neuen Boten günstig und er konnte das Unglück, das sonst Mytilene ereilt hätte, verhindern. Gleichwohl hatte der Vorgang natürlich die übrigen Bündner erschüttert. In einer solch gespannten Atmosphäre brandmarkte Aristophanes die Herrschsucht Athens und stellte mit seiner Komödie Kleon bloß, der darauf mit einer Klage gegen den Dichter antwortete (Lind 1990; Ehrenberg 1968, 31). In einer anderen Komödie, den Acharnern, persiflierte Aristophanes während des Peleponnesischen Krieges die Friedenssehnsucht der Athener, indem er die groteske Möglichkeit eines Separatfriedens eines einzelnen attischen Bauern namens Diakopolis mit den Spartanern auf die Bühne brachte. Dieser Bauer war wie die übrigen hinter die Lange Mauer geflohen, die den Hafen von Piräus mit Athen verband, um sich vor den Raubzügen der Spartaner zu schützen. Der Strategie von Perikles folgend, wichen die Athener einer Landschlacht mit den Spartanern aus, die ihnen zu Fuß überlegen waren und suchten die Kriegsentscheidung zur See. So lange mussten die Anwohner sich in die Kargheit und Not der Belagerung fügen. Die Idee eines Separatfriedens mochte bei vielen Zuschauern an innigste Wünsche und Sehnsüchte appellieren. In einem dritten Stück schilderte Aristophanes die Störanfälligkeit der athenischen Volksversammlung, die auf dem Pnyx abgehalten wurde: „der ärgerliche, gallsüchtige, schwer zu behandelnde kleine alte Mann, Demos aus Pnyx" {Ritter 41). Die Korruption der politischen Verhandlungsführer kam hier ebenso zur Sprache wie die Launenhaftigkeit des Bürgergerichts. Alle Stücke waren garniert mit Zoten und dreisten Anzüglichkeiten und verbanden wie später bei Shakespeare die Ernsthaftigkeit des Sujets mit vitaler Lebensnähe. Aristophanes war sich der moralischen Wirkung seiner Stücke bewusst. Er hob die reinigende Wirkung des Spottes für die moralische Verfassung einer Polis hervor (Wespen 1043), betonte, dass auch die Komödie wisse, was Recht ist (Acharner 500) und erteilte der Bürgerschaft schließlich sogar politische Ratschläge (Frösche Parabase). Überschäumende Phantasie, ins Mark gehender Spott, Kritik am lebensecht geschilderten Detail sowie Karikatur der Wirklichkeit: die Komödie repräsentierte die griechische Fähigkeit, auf höchstem künstlerischen wie sprachlichen Niveau mit politischen Themen umzugehen, die von existentieller Bedeutung

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für die Zuschauer waren. Die Zuschauer waren kein unbeteiligtes Publikum, sondern folgten als Bürger dem Geschehen auf der Bühne, in welchem sie sich vielseitig gespiegelt wieder erkannten. Anders als Herodot konzentrierte sich Thukydides (460-404) mit seiner Geschichte des Peleponnesischen Krieges auf ein einziges historisches Ereignis (Lepin 1999; Ottmann 2001,1/1, S. 135-156). Seine Geschichte des Krieges wurde um 404 zuletzt überarbeitet. Er verzichtete darin auf jegliche kulturgeschichtliche Erbauung, die sich sonst bei Herodot fand. Thukydides war Analytiker und wurde zum Referenzautor des politischen Machtrealismus, der über Thomas Hobbes, seinem Übersetzer ins Englische (Vgl. Johnson 1993), bis in die heutige Theorie der Internationalen Beziehungen reicht. Ziel der Geschichtsschreibung war es in Thukydides' Augen, aus dem historisch Gewesenen das Zukünftige erkennbar zu machen, da sich das politische Geschehen angesichts der menschlichen Natur gleich oder ähnlich wiederholen werde (122). Bestimmte Begriffe wie „Archäologie" und „Pathologie" sind seit Thukydides Bestandteil der politischen Begrifflichkeit. Unter Archäologie (I 2-19) verstand Thukydides die Beschreibung der Strukturbedingungen, die zum Krieg zwischen Athen und Sparta sowie deren Verbündeten führte. Er unterschied dabei zwischen dem Anlass bzw. Vorwand des Krieges und seinen tatsächlichen Ursachen (I 23). Anlass des Krieges waren die Vorwürfe der Korinther an die Adresse Athens, eine ihrer Kolonialstädte belagert zu haben, während die Athener die Spartaner bezichtigten, diese Stadt dazu gebracht zu haben, aus dem Attischen Seebund auszuscheiden. Wollte man den Anlass isoliert ergründen, so könnte man den Einzelfall nach rechtlichen oder moralischen Gesichtspunkten entscheiden, würde aber nicht verstehen können, wie ein vergleichsweise zweitrangiges Ereignis einen so umfassenden und intensiv geführten Krieg verursachen konnte. Die wechselseitige Rechtsverletzung, so zeigt Thukydides, wurde von den Parteien geradezu in Kauf genommen, da man den großen Krieg zwischen dem athenischen und dem spartanischen Bund als unausweichlich kommen sah. Nicht die offiziellen Verträge nämlich banden die Politik wirksam an den Frieden, so wenig wie deren Verletzung zum tatsächlichen Kriegsausbruch fuhren musste. Die eigentliche Ursache war das von Athen verletzte Machtgleichgewicht, als es in einem lokalen Konflikt im Vorhof des spartanischen Einflussbereichs intervenierte, dessen ungünstigen Auswirkungen Sparta zuvorkommen wollte und den Krieg eröffnete. Pathologie nannte Thukydides den Verfall der Zivilität in Bürgerkriegssituationen (III 82-83). Anhand des Bürgerkriegs in Kerkyra demonstrierte er, wie die Kontrahenten die Gemeinsamkeit der Sprache verlieren: die Bedeutung der Worte „Frieden" oder „Gerechtigkeit" werden nicht mehr geteilt, was die Verrohung der Verhaltensweisen weiter steigert. In seiner ausführlichen Schilderung des Umgangs Athens mit der Insel Mytilene, einem um Neutralität nachsuchenden Bundesgenossen, stellte Thukydides die Struktur des machtpolitischen Handlungszwangs in den Mittelpunkt, und zwar ohne moralische Bewertung (III 2650). Thukydides komprimierte die Beratungen in Hinblick auf Athens Umgang mit Mytilne auf den rhetorischen Zweikampf der beiden Politiker Kleon und Diodotus. Der bereits genannte Kleon, selbst ein vermögender Handwerker, stilisierte sich zum sozialen Repräsentanten des Volkes und verlangte ein hartes Strafgericht, um im 5. Kriegsjahr ein abschreckendes Zeichen für die unbeteiligten Bündner auszusenden und jeden weiteren Abfallsversuch mit Hilfe einer verheerenden Machtdemonstration im Keim zu ersticken. Diodotos kritisierte dagegen Kleon dafür, die politische Beratung mit einem Strafverfahren mit Bedacht zu verwechseln. Wäre es ein juridisches Verfahren, so läge der Fall klar und wäre

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eindeutig gegen Mytilene zu entscheiden; die politische Beratung hatte demgegenüber alle Überlegungen einzubeziehen. Milde ist hier keine Verletzung des Rechts, sondern Ausdruck der Klugheit im Umgang mit Bündnispartnern. Kleon sah sich als Vertreter des einfacheren, aber stimmberechtigten Volkes, Diodotos wollte der in der Aristokratie gespeicherten Klugheit Gehör verschaffen. Thukydides konnte in Ermangelung von Protokollen kaum den Anspruch erheben, den Wortlaut wiederzugeben; er wollte eher dazu einladen, die Gedankengänge nachzuvollziehen, welche konkurrierende Wortführer unterschiedlicher politischer Richtungen im Modus der öffentlichen Beratung austragen. Es ging nicht in erster Linie um eine lebendige Darstellungsweise, sondern um das hautnahe Einlassen auf die Beratung inmitten bestimmter institutioneller Rahmenbedingungen wie Öffentlichkeit und Gleichrangigkeit der Hörer. Die Rede diente der Orientierung darüber, was durch Beratung zur verbindlichen Entscheidung gemacht werden sollte, ihrerseits die Voraussetzung gemeinsamen Handelns. Thukydides ließ in der Gefallenenrede des Perikles (Epitaphios) den damals führenden Politiker Athens das athenische Selbstbewusstsein programmatisch zum Ausdruck bringen, wonach die Auseinandersetzung des Peleponnesischen Krieges auch eine bezüglich des Politikverständnisses sei: anders als bei den Spartanern sei für die Athener die Diskussion politischer Fragen eine zentrale Bedingung, um Entscheidungen als richtige anzuerkennen (II 40). Perikles war auch das Musterbeispiel des Demagogen, der für die Demokratie typischen Akteursfigur, die kraft ihrer Rede auf das Volk einwirkt. Der Demagoge war der dem Volk Vorangehende, der „Volksführer." Oft selbst dem einfachen Volke entstammend wie Kleon, zeichnete er sich geradezu sprichwörtlich durch nichtadlige Herkunft, schlechte Sitten und grobe Wortwahl aus (Davies 1983, 124-126; Finley 1962), Perikles war hier die Ausnahme. Ungeachtet ihrer politisch gefärbten Polemik waren Demagogen die Former des politischen Willens des Volkes in seiner Vollversammlung und gaben der vielköpfigen aber ungestalteten Menge eine Stimme. Sie verlegten den politischen Prozess in den Feuerofen der politischen Versammlung, ihres Willens, aber auch ihrer Stimmung. Sie waren „eine Art halb berufsmäßiger Politikerschicht" (Tarkiainen 1966, 240-242), d.h. ein neuer Typus an Spezialisten, die Wissen um die Leitung einer Verwaltung, die Kenntnis der Gesetze, aber auch besondere Fähigkeiten wie vor allem die Redegewalt in Macht umzuwandeln verstehen. Die Demagogie gehört zu den in der Ideengeschichte immer wieder hervorgehobenen Begleiterscheinungen der Demokratie und trug erheblich zur schlechten Reputation der Demokratieidee bis ins 20. Jahrhundert hinein bei (Roberts 1994). Aber ungeachtet der schlechten Reputation besaß der Zusammenhang von öffentlicher Rede und deliberativer Selbstverständigung eine erstaunliche Kontinuität als Merkmal der Demokratie. An Perikles anknüpfend trug Abraham Lincoln zu Ehren der Toten von Gettysburg ähnliche Überlegungen in ähnlicher Absicht vor (Gettysburg Address 1863). Die Rede rückte die Meinung in den Mittelpunkt der politischen Willensbildung. Bereits die rhetorische Theorie der Antike und namentlich diejenige von Aristoteles kann als Versuch angesehen werden, mit deskriptiven Mitteln die Vor- und Nachteile dieses Mediums zu beleuchten (Yunis 1996). Da sich alle Bürger in der antiken Demokratie vor Gericht selbst verteidigen mussten, wuchs das Interesse an einem schulmäßigen Unterricht in Rhetorik weit über den politischen Bereich hinaus. Als Folge dessen erlebte die intellektuelle Bewegimg der Sophistik große Verbreitung. Sie war es, gegen die sich die politische Philosophie Piatons wandte.

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Der Prozess des Sokrates und seine Folgen: Xenophon, Piaton Wenige Personen haben die Ideengeschichte so intensiv geprägt wie Sokrates von Athen. Ohne je ein einziges Werk verfasst zu haben, wirkte er alleine durch den mündlichen Vortrag. Piaton, Xenophon und Aristoteles wurden durch persönliches Vorbild oder in mittelbarer Schülerschaft von Sokrates geprägt. Selbst wo sie opponierten war sein Einfluss überdeutlich. Die politische Philosophie als eigene Reflexionsstufe ist eine Reaktion auf die Demokratie als Herrschaftstypus (Farrar 1993), veranlasst durch das Todesurteil, das ein Volksgericht der athenischen Demokratie gegen Sokrates im Jahre 399 aussprach. Es handelte sich um einen politischen Prozess. Formell wurde Sokrates der Asebie, der Gottlosigkeit angeklagt: er habe die athenischen Götter missachtet und eigene an deren Stelle gesetzt. Der politische Hintergrund jedoch bestand darin, dass Sokrates als geistiger Vater einer ganzen Reihe von aristokratischen Demokratiegegnern verdächtig war und die wieder erstarkte Demokratie mit ihren Gegnern und deren Hintermännern abrechnen wollte (Vlastos 1983). Nach dem Urteil blieb Sokrates der Weg der Flucht offen, den er aber mit Bedacht ablehnte. Er nahm im Gefängnis den Schierlingsbecher, starb im Kreise seiner Schüler und Freunde und behaftete so die Demokratie mit einem Makel, den seine Schüler nicht verwinden sollten. Wie konnte es kommen, dass die Demokratie ihren - in den Augen seiner Schüler - besten Bürger verurteilte? Bevor man die großen Ausnahmegestalten des griechischen politischen Diskurses, Piaton und Aristoteles, näher betrachtet, ist die Kenntnis eines eher durchschnittlichen Repräsentanten wie Xenophon erhellend für die damals übliche Art und Weise theoretischer Reflexion. Selbst ein Schüler des Sokrates und Verfasser des vielleicht objektivsten der erhaltenen Portraits (Memorabilia; vgl. Pangle 1994), galt Xenophon (etwa 431-350) viele Jahrhunderte lang als Autor der scharfen Polemik auf die athenische Verfassung (Pseudo-Xenophon, Verfassung der Athener) und galt daher als Demokratiekritiker (Anderson 1974; Higgins 1977; Nadon 2001). Er verbrachte das Ende seines Lebens auf spartanischem Gebiet. Seine Lobpreisung des Spartanerkönigs Agesilaos war eine ethisch-politische Skizze der Tugend, die exemplarisch argumentierte und weniger als Lehrschrift angelegt war. Xenophon war am Leistungsvermögen des Politikers interessiert (Wood 1964). Er analysierte auch die Verfassung der Spartaner (Lipka 2002), wobei er die Funktionalität in den Vordergrund stellte und sie mit anderen Verfassungen verglich. Als Freund des Agesilaos hatte Xenophon Zugang zu allen nötigen Informationen, wo andere aus der Literatur schöpfen mussten. Darstellung und Wertung sind deutlich getrennt, seine Kritik am Verlust des Ideals der lykurgischen Idee war ungeschminkt. Trotz des sokratischen Einflusses war Xenophon überwiegend praktisch interessiert: er war Soldat, Verfasser eines Art Bestsellers seiner kriegerischen Erfahrungen (Anabasis) und Historiker Griechenlands im Anschluss an Thukydides (Hellenika). Einzelprobleme der Haushaltsführung oder der Pferdezucht, zur Reitkunst, Kavallerieführung und Ressourcenökonomie behandelte er unprätentiös, seine Werke stellten die politische Wirklichkeit und die menschlichen Handlungen (pragmata) in den Mittelpunkt. Die Kyru Paideia (Erziehung des Kyros) nutzte den biographischen Stoff zur Beantwortung der Frage, ob persönliche Vollkommenheit ihren Ursprung in Herkunft, Anlage oder Erziehung habe. In Hieron (Über die Tyrannis) vertrat Xenophon die Ansicht, auch die gewählten Magistrate in der Demokratie gewährleisteten noch keine inhaltlich gute Politik, weshalb es nur darauf ankomme, ob die Herrschenden gut beraten würden, nicht darauf, wie sie zur Macht gekommen seien (Hofmann 1977, 12).

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Xenophon hat jahrhundertelang einen zu Piaton und Aristoteles ebenbürtigen Platz in der politischen Philosophie eingenommen, bevor er nahezu in Vergessenheit geriet; erst im 20. Jahrhundert entdeckte ihn Leo Strauss wieder (Strauss 1939 und 1963; Sancisi-Weerdenburg 1990; Nadon 2001), mit der Behauptung, Xenophon habe auf Machiavelli einen größeren Einfluss ausgeübt als Piaton, Aristoteles und Cicero zusammen (Strauss 1963, 35); immerhin gab die von Euphrosynus Bonuinus in Florenz 1516 veranstaltete Gesamtausgabe von Xenophons Schriften der Rezeption einen Schub und die Kyru Paideia bedeutete für die mittelalterliche Fürstenspiegelliteratur eine Art Initialzündung (Berges 1938). Das Interesse an der Monarchie teilte Xenophon mit vielen Schülern des Sokrates, darunter seinem bedeutendsten: Piaton. Als die „Tyrannei der Dreißig" 404 die Macht in Athen übernahmen, verweigerte sich Sokrates ihnen. Einer der Dreißig, Kritias, war ein naher Verwandter von Piaton. Piatons (428/427-348/347) familiäre Zugehörigkeit zur demokratiefeindlichen Aristokratie prägte früh seine Distanz zur Demokratie. Sein Leben wurde entscheidend geprägt durch die Bekanntschaft mit Sokrates, die etwa 407 erfolgte. Statt in die athenische Politik einzugreifen, wie das für einen jungen Mann seiner Generation üblich gewesen wäre, distanzierte sich Piaton zusehends von der Tagespolitik und entfremdete sich seiner Heimatstadt vollends, als sie Sokrates 399 zum Tode verurteilte. Auf drei Reisen nach Sizilien (388/387, 367/366 und 361/360) versuchte Piaton, seine Vorstellungen von Politik über den Einfluss auf dortige Despoten zu realisieren. Piaton befreundete sich mit Dion, dem Schwager des Tyrannen von Syrakus Dionysios I., und empfahl ihm, an Stelle der ursprünglich erwogenen Demokratie lieber eine Mischverfassung nach spartanischem und kretischem Vorbild einzuführen. Piatons Wirken hing entscheidend von der Unterstützung des gerade an der Macht befindlichen Mitglieds der Herrscherfamilie ab und scheiterte - er fiel in Ungnade und wurde in die Sklaverei verkauft (Plutarch Dion 4, 5) und musste von einem Bekannten frei gekauft werden. Diese Erfahrung münzte Piaton erst spät in ein Argument für die Demokratie um. Er konzentrierte sich in der von ihm begründete Akademie (385, vielleicht auch erst später) auf die Erziehung, darin dem Vorbild von Sokrates folgend. Piaton errichtete Sokrates ein ideengeschichtliches Denkmal, indem er ihn zur Hauptfigur seiner Schriften machte. Diese waren allesamt in der Form von Dialogen konzipiert, in welchen meist Sokrates der Wortführer war und Piatons eigene Position vortrug. Die Datierung der Werke Piatons basiert auf systematischen wie philologischen Überlegungen. Zunächst stand die Dokumentierung der mündlichen Lehre des verehrten Sokrates im Mittelpunkt, dann aber formulierte Plato immer schlüssiger seine eigene Philosophie. Zwischen dem Tode des Sokrates 399 und der 1. Sizilischen Reise Piatons entstanden vermutlich Protagoras, Apologie und Kriton, da dort der Prozess des Sokrates im Mittelpunkt steht, ferner Gorgias und Thrasymachos bzw. Buch 1 der Politeia. Zwischen der 1. und der 2. Sizilischen Reise werden u.a. das Symposion, Phaidon, Phaidros, Theaitet und Politeia angesiedelt. Zwischen der 2. und 3. Sizilischen Reise liegen Sophistes und Politikos und nach der 3. Sizilischen Reise entstanden Timaios, die Nomoi und der 7. Brief. In dem Dialog mit dem berühmten, nach Athen zugewanderten Sophisten Protagoras von Abdera zeigte sich Piaton verwundert darüber {Protagoras 12: 322a-323c), warum in Athen die politische Fähigkeit allen Bürgern zuerkannt wurde, wo doch nur die wenigsten von ihnen tatsächlich politische Fachleute waren. Protagoras hingegen vertrat die Meinung, in der Politik gebühre allen Menschen zu gleichen Teilen das Recht, an der politischen Beratung mit Wort und Stimme teil zu nehmen. Protagoras begründete dies in Piatons Dialog mit dem Mythos, Göttervater Zeus habe auf Frage des Hermes, wie die Talente unter den Menschen

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zu verteilen seien, geantwortet, die Künste nur an wenige, das politische Vermögen aber möglichst gleich zu verteilen. Protagoras wollte damit nicht sagen, die politischen Fähigkeiten seien gleich verteilt, sondern dass sie von allen erworben werden könnten, und zwar mittels Unterricht und Erfahrung. Der historische Protagoras stellte den philosophischen Lehrsatz auf, der Mensch sei das Maß aller Dinge, wobei „Dinge" (chremata) neben den Sachen auch dasjenige meinte, was „gilt" einschließlich des Geldes, d.h. er sah in Normen nur konventionelle Festlegungen von Menschen über Menschen. Dieser Satz wurde seit jeher mit einer demokratischen Einstellung in Verbindung gebracht (Farrar 1988, 44-98). Protagoras war mit Perikles befreundet und von diesem mit der Ausarbeitung einer Verfassung für die Neugründung von Thurioi beauftragt worden (wohin Herodot übersiedelte). Protagoras' Entwurf sah den Schulzwang vor, die staatliche Bezahlung der Lehrer, eine gemäßigte demokratische Regierungsweise, basierend auf mittelgroßem Grundbesitz der Bürger. In Protagoras' Sicht diente auch das Strafrecht zur Erziehung der Bürger: der Täter wird nicht allein wegen des begangenen Unrechts bestraft, denn die Tat wird durch die Strafe nur selten tatsächlich ungeschehen gemacht werden können, sondern um der künftigen Vermeidung ähnlicher Straftaten willen. Die Strafe soll nicht nur abschrecken, sie soll die Bürger über Recht und Unrecht belehren (Piaton, Protagoras 324af.). Protagoras war damit der Vordenker der Immanenz des Rechts, dessen Dignität nicht göttlichen oder anderen normativen Ursprungs ist, sondern mit der Rechtsquelle zusammenfällt. Ähnliches findet sich bei Antiphon: alles Polisrecht ist Menschenwerk, beruht auf Vereinbarung und Meinung und unterliegt daher unterschiedlicher Kritik (Antiphon, Fragment Β 44). Die von Protagoras und anderen Sophisten ins Zentrum gerückte Meinung des Volkes war das Ziel der Kritik Piatons, jene Meinung, die Sokrates das Leben kostete. Noch in seinen spätesten Arbeiten stellte Piaton Protagoras' Theorie vom menschlichen Maßstab den göttlichen Maßstab entgegen, dessen Erkenntnis nur dem Theoretiker vorbehalten bleibt (Nomoi 716c). Nur die Philosophie hat laut Piaton die Wahrheit zum Erkenntnisziel, nicht die Politik, und muss notfalls auch in Opposition zur politischen Sprachpraxis treten. Damit wollte Piaton einen Trennstrich zwischen seinem Verständnis von Philosophie und der Rhetorik ziehen. Rhetoriklehrer waren der erwähnte Protagoras und Gorgias von Leontinoi, der aus Sizilien die Rhetoriklehre erst nach Athen brachte. In dem nach Gorgias benannten Dialog Piatons vertrat der mittlerweile greise Rhetoriklehrer die Auffassung, wonach die Rhetorik imstande sei, Mitbürger zu allen Verhaltensweisen zu überreden. Der platonische Sokrates wandte hiergegen ein, dass die Rhetorik als Kunst der Überredung doch vorher ein Wissen von den Gegenständen haben müsse, welches sie aber selber gar nicht hervorbringe, da sie ja nur den Schein des Wissens vermittelt. In Wahrheit aber verkaufe der Rhetor nur den Anschein als Wahrheit und betrüge daher das Volk. Piaton übertrug seine Kritik an der Rhetorik auf die Politik des Perikles: in seinem Verständnis von Politik zeige sich das Prinzip, nicht das Volk belehren zu wollen, sondern es überreden zu wollen, bestimmte Meinungen zu haben. Darin glaubte Piaton einen Reflex auf die Lehren der Sophisten und der Rhetorik erkennen zu können. Die Kritik an der Rhetorik des 5. Jahrhunderts in Piatons Dialogen zielte immer auch auf die Rhetorik zu Lebzeiten Piatons, die mit seiner Akademie konkurrierte, so vor allem in der um 390 von Isokrates (436-338) gegründeten Rhetorik-Schule in Athen. Isokrates war kein wandernder Sophist wie Protagoras oder Gorgias, von dem er unterrichtet wurde, sondern ein athenischer Bürger, der die Rhetorik als eine Art Schulung in der Befähigung zur politischen Partizipation verstand (Bringmann 1971; Orth 2003). Er distanzierte sich von den älteren So-

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phisten und ihren Schülern, die überwiegend für Gerichtsprozesse rhetorische Praxis lehrten (Gegen die Sophisten; Anidosis 45-50). Rhetorik war für Isokrates ein Erziehungsprogramm und ging damit weit über die technische Beherrschung der Rede hinaus, eine Einstellung, für die ihn Piaton in einem späten Dialog sogar lobte (Phaidros 96aff.). Piatons Abwendung von der politischen Praxis wurde von Isokrates scharf kritisiert, wie er auch Piatons Anspruch auf die Ergründung absoluter Wahrheit für falsch erachtete: die Begrenztheit des Menschen mache den Erwerb absoluten Wissens unmöglich, es verbleibe als Aufgabe aber die Erörterung richtiger Meinungen (Helena 5; Antidosis 184 und 271). Entscheidend war daher die geeignete Beratung, die auf den Augenblick (kairos) abgestimmt sein muss, auf den sie einwirken will. Es bedarf daher einer umfassenden Bildung, um auf alle Fragen sofort und fundiert eingehen zu können. Die rhetorische Praxis übe man am besten durch Stehgreifreden. In seinen publizierten Schulreden verband Isokrates den Typus der Lobrede mit der Beratungsrede und kam immer wieder auf politische Themen zu sprechen: Seine Busiris beschäftigte sich u.a. mit Polykrates, der in den 390er Jahren eine fiktive Anklageschrift gegen den bereits hingerichteten Sokrates veröffentlichte und darin indirekt die Sokratesschüler um Piaton angriff. Im Panegyrikos (gegen 380) entwarf Isokrates ein panhellenisches Politikprogramm. Schließlich plädierte Isokrates für eine Mischung aus Demokratie und Aristokratie, indem er die Wiedereinführung des unabhängigen Gerichtshofs, der Areopag aus vordemokratischer Zeit, vorschlug (Areopagita 37-46; Bringmann 1961) und so die radikale Volksherrschaft mäßigen wollte. Hielt Isokrates die Meinung für unersetzbaren Bestandteil der politischen Willensbildung, so versuchte Piaton ihr diesen Platz streitig zu machen. Das Volk in den Händen von Demagogen zu belassen, heißt sie dem bloßen Schein der Wahrheit zu überlassen; das Volk wird zu Wachs in den Händen der Redner. Nötig ist statt dessen eine philosophische Erörterung der Sprache, um hinter ihren manipulativen Gebrauch zu einem Wissen von den Dingen zu kommen. Oft dient die Benennung der Dinge bloß der Verschleierung der tatsächlichen Machtverhältnisse, wie Piaton am Begriff der Demokratie kritisierte: „Es nennt sie aber der eine Volksherrschaft, der andere anders, wie es jedem beliebt, in Wahrheit ist es aber die Herrschaft der Besseren mit dem guten Willen des Volkes. Denn Könige haben wir ja immer, nur bald erbliche, bald gewählte, das meiste hängt aber ab in der Stadt von dem Volke, welches Ämter und Gewalt denen gibt, die ihm jedesmal dünken die Besten zu sein" (Menexenos 238 b-239a). Die Bedeutung von Demokratie ist demnach kontingent. Sie wirkt auf die jungen Menschen konformistisch. Überall wo Menschen in dichter Masse in Versammlungen oder Gerichtshöfen beieinander sitzen, wird ein junger Mann geneigt sein, die Anschauungen der Mehrheit als eigene zu übernehmen (Politeia 492b-c). Weil politisches Wissen von niemandem leicht und von der Menge erst recht nicht erworben werden kann, wird man die Ausübung der politischen Kompetenzen denjenigen überlassen müssen, die hierzu die Fähigkeiten besitzen. Eines der Leitbilder Piatons war das Staatsschiff, worin der Steuermann nicht nur mit den Widrigkeiten der Umgebung, sondern auch mit der Uneinigkeit der Mannschaft zu kämpfen hat (Politeia 488a-489c). Es mag zwar sein, dass die Eigner des Schiffes, in der Demokratie also die Bürgerschaft, das Ziel des Schiffes festlegen können: aber den Kurs sollte der eigentliche Fachmann, der Steuermann festlegen. Die Frage ist: gibt es ein Wissen von der Politik und wer kann es wie erwerben? Dazu bedarf es eines langen Prozesses der Erziehung und Auslese. Erziehung ist ein zentraler Aspekt griechischen Denkens (Jaeger 1934-1947), aber nirgendwo ist seine Rolle so zentral wie bei Piaton. Der platonische Idealstaat ist in vielerlei Hinsicht nichts anderes als eine gewaltige

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Erziehungsanstalt, um die Fähigsten für die Philosophenherrschaft vorzubereiten. Die Suche nach dem wissenden Alleinherrscher, welcher in die Unruhe und Anarchie der Vielherrschaft Einheit, Ruhe und geordnete Ausrichtung bringt, war Piatons Anliegen. In zahlreichen Schriften und verschiedenen systematischen Anläufen hat Piaton die Ansicht bekämpft, wonach das gleiche Bürgerrecht und mit ihr die Demokratie die natürliche Form der politischen Ordnung seien. Die gewichtigste war die Politeia (Schuster 1995; Höffe 2005), zugleich eines der Hauptwerke der politischen Theoriearbeit. Karl Popper beschwerte sich, dass Politeia im Englischen mit „Republic" übersetzt wird und dadurch den Anschein einer liberal-individualistischen Tradition erhält (Popper 1945, Bd. 1, 76). Im Deutschen wird die Politeia mit „Staat" übersetzt. Beide Übersetzungen missachten, dass „Politeia" soviel wie „Verfassung" heißt. Die gleichen Übertragungen (Schleiermacher, Susemihl) die im Titel vom Staat sprechen, übersetzen im Text den Begriff mit Verfassung und benutzen meist „Staat", wo Piaton von „polis" spricht. Piaton modelliert nicht Institutionen unabhängig vom Menschen, sondern beschreibt zunächst die menschliche Seelenverfassung, die er zum Ausgangspunkt jeder Institutionenlehre nimmt. Er weiß, wie stark eine sich entwickelnde Seele auch durch Institutionen beeinflusst wird. Aber um das einschätzen zu können, meint Piaton, zunächst einmal einen vollwertigen Begriff vom Idealzustand der Seele darbieten zu müssen. Der hierzu verwendete Begriff, welcher alle politische Philosophie und Ethik des Abendlandes eröffnete, ist die Gerechtigkeit. Nun kursieren jedoch verschiedene Begriffe von Gerechtigkeit. Dies ist das Thema des ersten Buches der Politeia, welches vermutlich zu den früheren Werken zählt und als für sich abgeschlossen gilt (abweichend Kahn 1993). „Gerechtigkeit" lautet auch der Untertitel des Gesamtwerks in manchen Handschriften (Schütrumpf 2005, 29). Zunächst spricht der alte Kephalos die tradierte Auffassung aus, wonach das Gerechte im engen Zusammenhang mit der Religion stehe (330dff). Thrasymachos jedoch präferiert die modern anmutende Vorstellung, wonach das Gerechte das dem Stärkeren Nützliche ist (338c), wobei er die Stärkeren mit den Regierenden gleichsetzt, in der Tyrannis also der Tyrann, in der Demokratie das Volk. Was diesen als nützlich erscheint, gilt als gesetzmäßig und gerecht (Politeia 338e und f). Thrasymachos ist kein bloßer Zyniker, seine Auffassung eine Art verallgemeinernde Beschreibung tatsächlicher Verhältnisse. Eine zynische Auffassung von der Gerechtigkeit als Mittel der Herrschaft der Stärkeren vertritt erst Kallikles im Gorgias (482c ff.: zur Differenz zwischen Kallikles und Thrasymachos: Höffe 2005a, 5-6). Das Nutzen-Argument ist der griechischen Debatte spätestens seit Thukydides' Melier-Dialog vertraut (Peleponnesischer Krieg V 89). Die Nutzen-Betrachtung hatte Piaton verschiedentlich beschäftigt, so im Menon (87dff.: Gerechtigkeit nutzt sowohl den anderen wie einem selbst) und im Gorgias (468c481b: Ungerechtigkeit schadet letztlich dem Ungerechten am meisten) und wirkte in der ersten platonischen Definition des Gerechten in der Politeia nach, wo die Gerechtigkeit als ein Ziel beschrieben wird, das um seiner selbst wie um seiner Folgen willen verfolgt werden soll (Politeia II 358a). Piaton hielt dieses Argument nicht für falsch, aber für kurzschlüssig: um den Nutzen des Stärkeren einschätzen zu können, müsse man wissen, worin der Nutzen eigentlich besteht. Piaton selber ließ Lug und Trug als politische Mittel der Beherrschung zu (Politeia 414 und 459), da die Tugend des Herrschers den Missbrauch verhindere (Politeia 505). Erst mit Buch 2 beginnt das Gespräch, das zu Piatons Modell eines Idealstaats führt. Glaukon greift die Antwort des Thrasymachos erneut auf und gibt zu bedenken, dass die Frage nach dem Nutzen nicht so leicht zu beantworten sei, da doch bereits der Anschein der Ge-

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rechtigkeit nützlich sei, so bei Verschwörungen, zum Stiften von politischen Gruppierungen und zum Überreden von Volksversammlungen (Politeia 365d): alles in allem also das in Athen zu beobachtende Geschäft des Meinungskampfes. Erst mit der Frage, was denn unabhängig von Ruf und Schein der Gerechtigkeit das Gerechte sei, gibt der platonische Sokrates der Argumentation die entscheidende Wendung: An der Polis als dem gleichsam vergrößerten Abbild des Menschen wolle er makroskopisch den Begriff der Gerechtigkeit erörtern. Es folgt eine bemerkenswerte Deskription der Entstehung der Polis und ihrer sozialen und politischen Strukturen: Bedürfnisse wie Versorgung und Sicherheit geben der Entstehung, dem Aufbau und Erhalt einer politischen Gemeinschaft die Richtung vor. So ist beispielsweise das Prinzip der Arbeitsteilung sehr klar analysiert (370e ff.) gemäß der Verschiedenheit der Eignungen und Fertigkeiten. Dieser Deskription liegt jedoch ein normativer Bewertungsmaßstab zugrunde, der es Piaton erlaubt, aus der Beschreibung der Funktionen einer Polis zugleich deren Strukturprinzip und Ziel zu erschließen. Die Stadt wird analog der menschlichen Natur als Physis begriffen, welche gesund und somit perfekt, oder aber krank und unvollkommen sein kann. Nur die gerechte Polis ist gesund (372e), wohingegen in der „aufgeschwemmten" Stadt mehr Menschen leben als notwendig (der Haufen, das Volk: 373b) und wo die Bedürfnisse mehr als üppig und damit sinnverkehrt befriedigt werden. Das Paradigma der platonischen Argumentation war die Medizin der hippokratischen Tradition und ihre Denkmethode (Phaidros 270b-c; vgl. Jaeger 1944, 11): so, wie es zur Analyse der Krankheit einzelner Körperteile einer Vorstellung vom Ganzen des Körpers bedarf, verhält es sich auch bei der Seele und beim sozialen Körper (Edelstein 1935, 1318). Das wissen wir nicht nur durch die zahlreichen Lobsprüche in den Dialogen, sondern vor allem durch die Analogie der politischen Theorie in der Politeia. Politeia meint im platonischen Sinne nicht nur die politische Verfassung eines Stadtstaates, sondern auch die psychisch-physikalische Verfassung, ihre seelisch-moralische Konstitution. Die Tätigkeit des Gesetzgebers gleicht jener des Diagnostikers und Therapeuten welcher nur vor dem Hintergrund eines Ideals an Gesundheit die jeweilige Krankheit eines bestimmten Körpers behandeln kann. Auch wenn der Idealzustand tatsächlich unerreicht bleibt, behält er als Modell seinen Sinn. Die Frage der Verhaltensethik, wie sie im ersten Buch behandelt wurde, wandelt sich zur Untersuchung der ethischen Verfassung des einzelnen Menschen als Gefüge seiner Seelenteile und wird schließlich um die Aufgabenstellung der politischen Verfassung erweitert, die der Seelenverfassung adäquat sein soll. Das organologische Paradigma prägte bereits Solon, der den Wandel der Verfassungen mit einem Krankheitsbild verglich und von der „Krise" sprach. Dies war auch ein medizinischer Ausdruck zur Bezeichnung des entscheidenden Höhepunkts des KrankheitsVerlaufs. Solon fragte nach rhythmischen Regelmäßigkeiten in der Abfolge von Erscheinungen. Hier fügte sich dann auch die Suche nach den „passenden" Heilmitteln (Solon fr. 14, 6 und 19, 9) wie etwa der „Diät" einer Verfassung nahtlos ein, nach dem Vorbild der medizinischen Lehrschrift des Diokles von Karystos (Jaeger 1938 und 1944, 14). Die griechische Medizin beruhte auf dem Physis-Gedanken der ionischen Naturphilosophie, der die personalen Vorstellungen aus der Naturtheologie verdrängte, welche die natürlichen Phänomene als Wirkungen personal gedachter Ursachen göttlichen Bestrebens auffassten. Die Medizin fußte auf der Beobachtung regelmäßiger Erscheinungen. Ob und wie man die Medizin auf die Politik überträgt, war bereits in der Antike ein umstrittener Teil der Theoriebildung. Aristoteles beispielsweise untermauerte seine spätere Piatonkritik methodisch mit dem Hinweis auf die falsche Analogiebildung von Politik und Medizin. Aristoteles' eigene Rezeption des medizi-

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nischen Paradigmas übertrug den Gedanken der Autarkie im Sinne vitaler Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Körperfunktionen auf die Politik. Hippokrates unterschied in der Medizin nach den Meinungen von Laien und von Fachleuten (im Schlußwort seines Nomos: vgl. Jaeger, Paideia II 20). Piaton verwies die Laien aus dem Kreis der Experten, wie in der Medizin so auch im Bereich der Politik. Der Umstand, dass in Demokratien alle Laien zugleich Richter und Experten darüber waren, wer als Experte und Richter fungieren sollte, war in Piatons Augen ein Beweis ihres Strukturmangels. Die Gerechtigkeit nun ist laut Piaton nicht im äußeren Aufbau der Stadt zu finden. Die gerechte Ordnung ist an der von ihr bewirkten Einheit und Harmonie erkennbar (Politeia IV 17), am Zwist und Streit erkennt man das Gegenteil hierzu, also die Ungerechtigkeit (IV 18 und 19). Den Zusammenhang politischer und seelischer Verfassung hatte Piaton immer wieder hervorgehoben (Politeia 544 d und e). Demnach sind es die Charaktere der Menschen, die eine politische Verfassung tragen, weshalb auch die Haupttätigkeit der Politik in der Erziehung und Formung des menschlichen Charakter bestehen soll, während umgekehrt der Verfall der Idealverfassung dadurch verursacht wird, dass Faktoren die Seele beeinflussen, die sich nicht am Prinzip der Gerechtigkeit orientieren. Die Erziehung hat es mit dem fundamentalen Mangel des Menschen zu tun, nur die Schatten der Wirklichkeit zu erkennen, die Schatten aber für die Wirklichkeit zu halten. Piaton verwendete für diese Annahme das Bild von der Höhle: die meinenden Menschen sind an Ketten befestigt und schließen von den Schattenbildern, welche an die Wand der Höhle geworfen werden, auf die Wirklichkeit; die Menschen sind zur Diskussion der Schattenbilder auf bloßes Wahrnehmen (aisthesis) und Meinen (doxa) angewiesen (Sprute 1962). Der Philosoph hingehen weiß sich von den Ketten zu befreien und sucht nach der Lichtquelle (der Idee des Guten), um die Wahrheit selbst zu erkennen. Das hierzu erforderliche intellektuelle Vermögen, episteme (Wissen) und Weisheit (sophia) als Umgang mit Wahrheit und Ideen, kann erst in einem jahrzehntelangen Bildungsprozess erworben werden. Der Idealstaat hat im wesentlichen die Ausbildung des menschlichen Vernunftvermögens zum Ziel, um die Bedürfnisse vernunftgemäß zu befriedigen. Wie soll die Idealverfassung der politischen Ordnung beschaffen sein? Piaton kann sich nur auf wenige historische bzw. politische Vorbilder berufen. Zwar hat er immer wieder eine klare Affinität zur spartanischen und zur kretischen Verfassung zu erkennen gegeben und präferierte unter den gegebenen athenischen Umständen die Monarchie. Aber was er in der Politeia auf die energische Nachfrage seiner Zuhörer zum besten gab, musste diesen geradezu abenteuerlich erscheinen, wich es doch erheblich von den bekannten Modellen ab. Nach dem Gesagten darf es nicht überraschen, wenn der institutionelle Aufbau der Polis sich nach dem Hauptbedürfnis orientiert: der Erziehung. Piatons Idealstaat ist eine durchkomponierte Erziehungsanstalt, nur dass hier nicht wie in Sparta die kriegerische Tüchtigkeit als Ziel der Erziehung definiert wird, sondern Erziehung die Harmonie und damit den Frieden in der Stadt sicherstellen soll. Das Ziel ist die Auslese der Herrschenden, die Piaton Wächter nennt im Unterschied zum Nährstand, dem die überwiegende Zahl der Bevölkerung zugehört. Ihre Aufgabe besteht in der Verteidigung der Polis. Sie verfügen über keinerlei Privateigentum und werden dazu erzogen, ihre persönlichen Fähigkeiten in den Dienst am Gemeinwohl zu stellen und nur darin ihr Glück zu erblicken. Die Erziehung zum Herrscheramt erfolgt durch eine umfassende körperliche, musische und intellektuelle Auslese aus der Gesamtpopulation unter Einschluss der Frauen. Piaton verlangte die Gleichheit der Erziehung von Frau und Mann (V 3-6). Bedenkt man, wie jede auf die Physis der politischen Faktoren abstellende Argumentation von Aristoteles

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bis in die Moderne hinein wie selbstverständlich aus der unterschiedlichen physischen Beschaffenheit der Geschlechter den Schluss auf ihre politische Ungleichheit zog, so wird man erahnen können, wie provokant Piatons Forderung wirken musste. Gleichheit bedeutete aber nicht einen Zuwachs an persönlicher Freiheit der Frau (Buchan 1999). Bereits bei der geschlechtlichen Fortpflanzung will Piaton nichts dem Zufall überlassen und durch ein System der Eugenik verbunden mit einem Täuschungsverfahren die Paare bestimmen, von welchen man sich den besten Nachwuchs erhoffen darf (414d-415d). Generell erachtete Piaton Lug und Trug als angemessene Mittel der Beherrschung (414 und 459), sofern sie nur von denjenigen verwendet werden, die von ihrer Anlage her zur Herrschaft bestimmt sind, da diese solche Mittel laut Piaton nicht missbrauchen werden. Der Gleichheit der Erziehung der Geschlechter schließt sich die zweite Forderung nach einer Frauen- und Kindergemeinschaft an (V 7-16). Als drittes fordert Piaton die Herrschaft der Philosophen (V 17 bis VI 14), die aus den Wächtern hervorgehen. Sie sind die eigentlichen Könige, die nur aufgrund einer fast 50 Jahre dauernden philosophischen Zusatzqualifikation an die Spitze der Polis treten dürfen. Die Qualität der Herrschenden qualifiziert wiederum die Verfassung der Polis, es gibt so viele politische Verfassungen wie es Gestalten der Seele gibt (Politeia 445d; Ferrari 2005 wertet diese Analogie als rein metaphorisch), nämlich fünf: die eine gute Verfassung, die zwei Varianten kennt: Königtum oder Aristokratie, je nachdem, ob sich ein einziger oder mehrere hervorragende Herrscher finden, und vier schlechte (445d), nämlich in absteigender Güte die Timokratie, worin die verdienstvollen herrschen, sodann die oligarchische, die demokratische und schließlich die tyrannische (544c). Auch die schlechten Verfassungen haben mit der Seelenverfassung der Herrschenden zu tun (Frede 2005). Piaton beschreibt den Verfall der Verfassung als einen Niedergang der moralischen Fähigkeit zu gerechter Regierung. Herrschen wenigstens die Wächter, handelt es sich um eine Timokratie (Piatons Beispiele sind Sparta und Kreta). Die Wächter aber treten mangels der angemessenen Führung in einen Wettbewerb untereinander und neigen dazu, die Regierungskompetenz in bloße Machtpositionen umzuformen. Die Wächterherrschaft ist immer eine Regierung der Wenigen und wandelt sich in eine Oligarchie, wenn ihre Zielsetzung nicht mehr das Gemeinwohl der Polis ist. Die Verschärfung der Standesunterschiede fuhrt zu Ständekämpfen, die mit der Herrschaft des gemeinen Volkes endet, der Demokratie. Für Piaton beruht die Demokratie auf einem Seelenzustand, in welchem als gleich angesehen wird, was nach Tugend und Verdienst ungleich ist {Politeia 558c); dies ist für Piaton der krankhafte Endzustand am Ende der Entwicklungsgeschichte der Seele. Er führt zur Anarchie, die wiederum den Wunsch nach einer starken persönlichen Herrschaft schürt und so die Demokratie in der Tyrannis münden lässt. Unter Umgehung einer differenzierenden Argumentation zwischen sozialen, ökonomischen und politischen Sachebenen plädierte Piaton in der Politeia schematisch für Einheit und Harmonie. Die Freundschaft ist Ausdruck des besten Übereinkommens der Menschen. Alle sozialen Hindernisse für eine solche allgemeine Freundschaft der Bürger des Idealstaates müssen ausgeräumt werden. Dazu zählen auch verwandtschaftliche Identifikationen, weshalb Piaton mit der Kinder- und Weibergemeinschaft verhindern will, dass sich Eltern und Kinder aufgrund ihrer familiären Sonderbeziehungen zu sehr von der Gemeinschaft absondern; es sollen sich alle Bürger als Verwandte ansehen. Auch Differenzwahrnehmungen bezüglich der politischen Stellung zwischen Regierenden und Regierten sollen wegfallen. Nur im Idealstaat werde, so Piaton, das allgemeine Volk von seinen Philosophenherrschern als Erhalter und Gehilfen und die Herrscher vom Volk als den Lohngebern und Ernährern sprechen (Po-

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liteia V 11: 463b). Andererseits erkannte Piaton die Gefahrdung der inneren Einheit durch die Ungleichverteilung des Eigentums in Arm und Reich (Politeia IV 2). Die institutionelle Konsequenz liegt für Piaton in der Schaffung des Gemeineigentums. Die Institution des Gemeineigentums ist die vielleicht berühmteste, oft als „kommunistisch" bezeichnete Forderung Piatons. Die vollständige Gütergemeinschaft soll verhindern, dass Differenzen in der Eigentumsverteilung die politische Einheit bedrohen. Eigentum sät Zwietracht und Neid und grenzt die Bürger voneinander ab, statt dass sie sich als Teil einer Gemeinschaft begreifen. Piatons politische Philosophie unterscheidet sich erheblich von seinem politisch-theoretischen Spätwerk im Politikos und den Nomoi. Die in der Politeia vernachlässigte, um nicht zu sagen: missachtete, Regierungslehre kommt hier zur Sprache, da Piaton inzwischen davon ausgeht, dass der Idealstaat ebenso wenig realisiert, wie ein idealer Herrscher gefunden werden kann. Piaton äußert sich grundsätzlich gegen die Schriftlichkeit von Texten: sie stellen etwas als lebend dar und sind wie Bildnisse, aber will man sie näher befragen, so schweigen sie (Phaidros 275d-e). Dieser Einwand gilt auch für schriftlich verfasste Gesetze: der ideale Herrscher, der Philosophenkönig, sollte nicht durch die schriftliche Fixierung seiner Erlasse als Gesetze festgelegt werden. Piaton verlangte bereits vom Philosophenherrscher den Verzicht auf übermäßige Gesetzgebung wegen der Rechtshändel, welche die Auslegung von schriftlich fixierten Gesetzen auslösen (Politeia 435b-e und 426e-427b). Im Politikos folgerte Piaton konsequent, dass der Herrscher nicht an schriftliche Gesetze gebunden sei, da diese durch ihre Wort- und Zeitgebundenheit in die Irre führen können und sogar gelegentlich dem Gemeinwohl im Wege seien (293-298). In den Nomoi kam Piaton aber zu einer Neubewertung geschriebener Gesetze (715). Ist nämlich der gewünschte ideale Herrschers nicht verfügbar, gewinnen die Gesetze eine eigenständige Bedeutung, ist die Gesetzesherrschaft doch das relativ beste, was eine politische Ordnung bieten kann (Politikos 292-303). Vor diesem Hintergrund lassen sich die denkbaren Regierungsformen auch neu bewerten: wenn die Gesetze geachtet werden, ist die Monarchie im Sinne einer Alleinherrschaft das beste, denn sie kommt dem Ideal am nächsten. Ihr folgen die Aristokratie und dann die Demokratie, verstanden als Mehrheitsregierung. Werden die Gesetze aber nicht respektiert, so kehrt sich die Reihenfolge um. Jetzt ist die — weiterhin Demokratie genannte - Mehrheitsherrschaft die relativ beste Regierungsform, da hier die geringste Möglichkeit zum Missbrauch der Regierungsgewalt im Sinne eines eigennützigen Willkürregimes besteht. Die Minderheitsherrschaft (nun Oligarchie genannt) folgt nach und am schlechtesten ist die Tyrannis des Gesetze missachtenden Alleinherrschers, da sie am gefahrlichsten ist. Auffallig ist die Stellung der Demokratie als Angelpunkt in der von Königtum zur Tyrannis reichenden Stufenlehre. Vermutlich fließen hier Piatons in Sizilien gemachte Erfahrungen ein. In den Nomoi (Lisi 2001; Scolnicov/Brisson 2003; Bobonich 2004) diskutierte Piaton die Gesetzesherrschaft anhand der Frage, wie die Verfassung einer neu zu gründenden Stadt auszusehen habe. Das Ziel der Erziehung ließ er fallen und damit auch die Maßnahmen zur Schaffung des für den Idealstaat nötigen Bürgers, darunter die Frauen- und Kindergemeinschaft; Besitz war nun teilweise möglich, die Unterschichten besaßen Rechte, die Frauen aber waren vom Waffendienst ausgeschlossen. Die in der Politeia entwickelte Auffassung (V: 463c-d, 473d; VI: 488a-489d), dass von der häuslichen keine genuin politische Gewalt unterschieden werden kann, vertrat Piaton allerdings auch im Spätwerk (Politikos 258e-259c; 291a-303b; Nomoi III: 680e-681d; 690a-; IV: 713e-715a). Mit der Frage einzelner Gesetze thematisierte Piaton zugleich ihre diversen Gegenstände, darunter auch die Außenpolitik: die Wächter des Idealstaates hatten im wesentlichen defen-

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sive Aufgaben; in den Nomoi erörterte Piaton, wie man eine Bürgerschaft auf den Krieg mit gesetzlichen Maßnahmen vorbereiten kann (625e). Innovativ ist die Einrichtung der nächtlichen Versammlung (Nomoi 960d ff.), in welcher die „Hüter der Gesetze" im Verborgenen beraten, was später den Regierten in anderen, leichter verträglichen Worten mitgeteilt wird. Jedes von Amts wegen dort agierende Mitglied ernennt jeweils einen jüngeren Bürger, der in diesen Versammlungen sein Handwerk und zugleich die nötige Perspektivenerweiterung erlernt, um später zu den amtlichen Gesetzgebern ernannt zu werden. Vergleicht man die Erziehung der Wächter bzw. der Philosophenherrscher in den Politeia und die der Hüter in den Nomoi, fällt auf, dass an die Stelle der jahrzehntelangen Ausbildung der Wächter zu Philosophen hier die jahrzehntelange Zugehörigkeit zu dieser Versammlung tritt (Hentschke 1971, 285). Zu diesen nächtlichen Versammlungen werden noch Bürger hinzu gebeten, die sich im Ausland aufhielten und von fremden Verfassungen zu berichten verstehen. Hier zeigt sich das neue Interesse Piatons an der Komparatistik, die er nun für die Verfassungserhaltung bedeutsam einschätzt (Morrow 1960). Piaton ging jedoch nicht der Frage nach, ob die „objektive" Gerechtigkeit nicht sogar despotisch wirken kann, wenn sie von den Adressaten ihrer Urteilssprüche gar nicht verstanden oder anerkannt wird. Piatons Kritik an der Demokratie hat seiner politischen Philosophie bis in die Gegenwart hinein Resonanz verschafft. Wo die Auffassung vertreten wird, dass auch die schönste Verklärung der Gleichheit nichts hilft, wenn die Ungebildeten zur Herrschaft legitimiert sind und dadurch eine gute Politik verhindern, bleibt Piaton aktuell (Strauss, 1959 36-38). Weniger rezeptionswillig zeigte sich die Ideengeschichte in Hinblick auf Piatons institutionelle Alternatiworschläge: Thomas Morus' Utopia war ein Gedankenexperiment, der wissenschaftliche Sozialismus hielt Piaton für naiv. Aristoteles Bereits Isokrates unterzog die Politeia Piatons einer fundierten Kritik (Busiris; Eucken 1983, 183-195). Er meinte, Piaton ahme die Ständeordnung der ägyptischen Verfassung nach. Wie in Sparta könne eine solche Ordnung aber auch Ungerechtigkeit hervorbringen; im Gegensatz zum ägyptischen Vorbild habe Piaton zudem vergessen, ein Äquivalent für die dort wirksame, kultisch eingeübte Moral anzugeben. Aber überhaupt die Frage der Gerechtigkeit systematisch zur Beurteilung politischer Ordnungen gestellt zu haben, machte Piatons Leistung aus; er bezog damit eine normative Überlegung in die politische Theorie ein. Piaton ging allerdings von einer einzigen Gerechtigkeit aus: gerecht ist, wenn jeder das seine leistet. Sie ist die oberste Tugend, weil sie erst allen anderen Tugenden ihren Platz anweist. Piaton unterschied nicht die Gerechtigkeit im Handeln des Einzelmenschen von der Gerechtigkeit im inneren Aufbau einer menschlichen Gemeinschaft. Das diskutiere erst Aristoteles ausführlich. Aristoteles (384-322) aus Stageiros (daher auch Stagirit genannt) auf der Halbinsel Chalkidike trat nach dem Tode des Vaters 367 in die Platonische Akademie zu Athen ein, die er mit Piatons Tod 348 wieder verließ, um auf Einladung des Tyrannen Hermias auf Assos eine eigene Schule zu begründen. Die schon bei Piaton zu beobachtende Abhängigkeit des philosophischen Beraters vom Herrscher zeigte sich mit Hermias' Tod: Aristoteles wandte sich zunächst nach Lesbos und übernahm schließlich 343 die Erziehung des Makedonenkronprinzen Alexander in Pella. Aristoteles konnte sich unter makedonischem Schutz in Athen niederlassen, das nach der Schlacht von Chaironeia 338 seine politische Unabhängigkeit an

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Makedonien verloren hatte. Aristoteles gründete 335 in Athen eine eigene Schule, das Lykeion, auch nach der Wandelhalle als Peripatos rubriziert. Mit dem Tode Alexanders musste Aristoteles Athen 323 verlassen und starb 322 in der Heimatstadt seiner Mutter, Chalkis auf Euböa. Aristoteles schlug einen ganz anderen methodischen Weg ein als Piaton (Keyt 1991; Yack 1993; Bames 1994; Miller 1995; Davis 1996; Höffe 2001). An Stelle der deduktiven Suche nach dem absoluten Begriff der Gerechtigkeit, von dem dann alle übrigen Daseinsbereiche, darunter Ethik und der Sozialbereich abgeleitet werden, begann Aristoteles mit der Beobachtung des tatsächlichen sozialen Verhaltens der Menschen, um hieraus mit verallgemeinernden und sorgsam abwägenden Überlegungen auf die in der Praxis wirksamen normativen Maßstäbe zu schließen. Während es Piaton um die Erkenntnis der Wahrheit ging, die auch nur eine Wahrheit sein kann, behauptete Aristoteles, dass es Wissensbereiche gäbe, die ihrer Eigenart nach nicht auf Erkenntnis, sondern auf Handeln gründen und ohne die Sicherheit des Wissens auskommen müssen. Er zählte Politik ebenso wie Ethik und Rhetorik zu den praktischen Wissenschaften, welchen er die theoretischen Wissenschaften wie die Metaphysik, Logik und Analytik, gegenüberstellte. Wahre Aussagen kann es nur in Gestalt von argumentativen Schlüssen aus unzweifelhaften Prämissen geben, was vor allem in Mathematik und Geometrie vorgefunden wurde. Solche unzweifelhaften Prämissen existieren laut Aristoteles nicht in der Politik. Politische Fragen lassen sich nicht mit letzter Gewissheit behandeln, bei ihnen muss man sich mit dem Wahrscheinlichen zufrieden geben. Wer dennoch nach absoluten Werten Ausschau hält, wie etwa Piaton mit der Idee des Guten und Gerechten, der betreibt Aristoteles zufolge eher Philosophie als Wissenschaft und gründet alle Schlussfolgerungen für die politischen Institutionen auf philosophische Vorerwägungen. Da kein politisches Wissen im strengen Sinne existiert, kann es auch keine Sachverständigen geben, die für sich alleine die Fähigkeit zur Politik reklamieren könnten. Aristoteles Ansatz war demnach mit dem von Isokrates verwandt, mit dem er konkurrierte. Ethische und politische Schriften sind bei Aristoteles miteinander verzahnt. Die Nikomachische Ethik verweist an ihrem Ende auf die Politik als dem Ort, wo ethische Überlegungen im Gebiet der Politik behandelt werden. Politikwissenschaft steht dem wissenschaftlichen Rang nach unterhalb der theoretischen Wissenschaften, „denn der Mensch ist nicht das Beste, was es im Kosmos gibt" (Nikomachische Ethik 1141a20ff; vgl. Spahn 1985, 403). Für den Menschen wertet die Politik als wichtigste Disziplin, da alleine die Polis der für den Menschen angemessene Lebensraum sei. Mit der Rhetorik lieferte Aristoteles eine Theorie politischer Kommunikation in der Demokratie. Die politisch zu beratende Handlung weise in die Zukunft, und über Zukünftiges gäbe es keine Gewissheit, sagte er trocken. Daher lasse sich die Beweisführung auch nicht von der Situation des Beweisfuhrens trennen: in einem schwierigen Gemenge von Überreden und Überzeugen zielt die politische Beratung nicht auf eine letzte Wahrheit, sondern auf die Bündelung des Verhaltens und ihre Koordinierung zu einem gemeinsamen Handeln. Hier wirkt nicht allein der Logos, die emotionale Situation wie die Autorität des Redners müssen in Rechnung gestellt werden. Aristoteles nahm die Vielfalt politischer Phänomene ernst und wollte sie - anders als Piaton - nicht in spekulativ gewonnene theoretischen Formen einpassen. Die Sammlung und Anordnung verfugbarer Informationen gehörte daher zu den Merkmalen der aristotelischen Denkschule. Er veranlasste die Sammlung der verfügbaren Verfassungen griechischer und anderer politischer Systeme, seine Schüler sollen über hundert zusammengetragen haben und Aristoteles selbst gilt als der Autor der einzigen überlieferten Schrift aus dieser Sammlung,

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dem Staat der Athener (zwischen 328 und 325 geschrieben: ed. Chambers, 83). Die Sammlungen politischer Verfassungen zeigen die komparatistische Vorgehensweise. Auch die Politik behandelt die griechischen Stadtstaaten vergleichend mit der kretischen, phönizischen und vermutlich auch persischen Verfassung. Die Politik diskutiert philosophische Grundüberlegungen und verarbeitet zugleich umfangreiche empirische Forschung, was sich in den zahllosen Passagen zu den Meinungen anderer Autoren niederschlägt. Am intensivsten setzte sich Aristoteles mit der Lehre Piatons auseinander. Die Datierung der aristotelischen Schriften steht grundsätzlich vor der Schwierigkeit, dass sie Konvolute seiner Vorlesungsmanuskripte sind, die in ihrer uns überlieferten Form erst zweihundert Jahre später zusammengestellt wurden. Da wir über keine externen Informationen bezüglich der Abfassungszeit verfugen, ist die Forschung auf interne Angaben verwiesen, beispielsweise auf historische Angaben von Aristoteles. Historische Angaben in den Manuskripten sind aber von zwiespältiger Beweiskraft: wenn Aristoteles die Vorlesungen nicht nur einmal hielt, sondern wiederholte, so ist davon auszugehen, dass er seine Manuskripte permanent ergänzte. Andere chronologische Überlegungen beziehen sich auf die inhaltliche Nähe und Ferne zu den Meinungen seines Lehrers Piaton, die auf jüngere oder ältere Bearbeitungszeiten schließen lassen. Auch dies fuhrt zu keinem kohärenten Bild. Aristoteles' Politik gilt als das Gründungswerk der Politikwissenschaft: sie verlieh der Disziplin ihren Namen und wirkte in Hinblick auf die Methode vorbildlich. Die uns erhaltene Fassung der Politik beruht auf der Vorlesungstätigkeit von Aristoteles und gehört damit zu den sog. esoterischen Schriften, d.h. solchen, die für den Lehrbetrieb und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Ihrem Charakter entsprechend ist das Werk nicht aus einem Guss geschrieben. Es wurde offenbar nicht von letzter Hand bearbeitet, sondern von den Schülern redigiert und zusammengestellt. In Büchern unterteilt verhandelt Aristoteles verschiedenste Bereiche der Politik, von allgemeinen anthropologischen Prämissen über spezielle Fragen der Regierungslehre bis zu einzelnen Politikfeldern, etwa der Erziehungspolitik und schließlich auch Fragen des Idealstaates. Die einzelnen Bücher der Politik stellen also kein einheitliches Ganzes dar (Steinmetz 1973). Die Bücher VII und VIII über die beste politische Ordnung mit ihren Aussagen zum Königtum widersprechen den allgemeinen Aussagen und der Anlage der Argumentation in den übrigen Büchern. Auffallig ist auch ihre verhältnismäßig isolierte Stellung im Gesamtkonvolut: die meisten Bezüge zu den Büchern VII und VIII sind in Buch II zu finden. Umgekehrt setzen die Bücher IV-VI und zum Teil auch Buch III die Kenntnis der Verfassungen griechischer Poleis, der kretischen sowie spartanischen politischen Ordnung voraus. Es ist daher nicht abwegig, anzunehmen, dass die Frage nach der besten politischen Ordnung zu den frühen Werken zählt, die unter dem unmittelbaren Eindruck der Philosophie Piatons stand. Später machte sich aber Aristoteles' methodischer Wandel hin zur empirischen Beobachtung bemerkbar. Zeigen also die Bücher II, VII und VIII einerseits und die Bücher IV-VI andererseits erkennbare interne Zusammenhänge und lassen sich die älteren, an Piaton orientierten Bücher II, VII und VIII von solchen Büchern trennen, die in einer von Piaton unabhängigen Perspektive verfasst sind (IV-VI), so verbleibt das Problem der Zuordnung der Bücher I und III, die zugleich diejenigen Textmengen sind, die in der Ideengeschichte am stärksten nachwirkten. Buch 1 enthält wesentliche Definitionen, darunter zur politischen Natur des Menschen, der als „zoon politikon" definiert wird: das politische Lebewesen. Die politische Ordnung wird mit einem Organismus verglichen, er geht den Teilen voraus und weist den Teilen ihren Platz

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zu (eine logische Entscheidung, die später Hegel seiner Rechtsphilosophie zugrunde legen wird). Zu diesen Teilen gehören soziale Beziehungen zwischen Mann und Frau, zwischen den Eltern und ihren Kindern und zwischen dem Hausvorstand und den Haushaltsmitgliedern, darunter den Sklaven. Diese drei Relationen bestehen in einem Haushalt (oikos), mehrere oikoi bilden Siedlungen, die wiederum eine polis bilden. Buch 2 erörtert die Forschungssituation in der politischen Theorie, am umfangreichsten wird Piatons Beitrag diskutiert, vor allem die Politeia und die Nomoi. Ferner werden existierende Verfassungen des gesamten besiedelten Mittelmeerraums behandelt. Buch 3 stellt die systematische Frage nach dem Verhältnis von Bürger und Polis. Bürger sind nur diejenigen Bewohner der Stadt, die alle politischen Rechte besitzen, zu welchen Aristoteles das Recht zur Besetzung politischer Ämter in gesetzgeberischer und richtender Funktion zählt. In der Hauptsache geht Aristoteles also von demokratischen Verhältnissen aus. Er legt ein sechsteiliges Verfassungsschema vor, in dem die Verteilung der Herrschaft in quantitativer (einer, einige, alle) und qualitativer (eigenes oder allgemeines Interesse) Hinsicht analysiert wird, so dass man auf sechs Varianten kommt: Tyrannis, Oligarchie und Demokratie als die dem Eigeninteresse zugewandten und Monarchie, Aristokratie und Politie als die dem Allgemeininteresse verpflichteten Verfassungsformen. Aristoteles hat hierbei auf eine ältere Tradition zurückgegriffen (Herodot) und sie systematisiert. Innerhalb dieses SechserSchemas konzentriert sich Aristoteles auf die zu seiner Zeit häufigste Verfassung, die zwischen Oligarchie und Politie changiert. Stabilität und Moderation sieht Aristoteles durch die soziale Zusammensetzung der Bürgerschaft gewährleistet, wobei er den mittleren sozialen Schichten ein besonderes Gewicht zuspricht. In Buch 4 werden unter Zugrundelegung des Sechser-Schemas Fragen behandelt wie: was ist die absolut und was die relativ zu den Eigenschaften der jeweiligen Bevölkerung beste Verfassung und: wie sind sie zu verwirklichen? Im Mittelpunkt stehen wiederum Demokratie und Oligarchie. Buch 5 diskutiert die Gründe des Niedergangs und die Mittel zur Erhaltung bestehender Verfassungen, insbesondere die Revolution und das Problem des Machterhalts in der Tyrannis. Buch 6 wirkt wie eine Detailstudie zum vierten Buch, insofern hier wie in einem Handbuch unterschiedliche Behörden erörtert werden. Die beiden letzten Bücher 7 und 8 bilden eine Einheit, ihr Thema ist die vollkommene Polis, das Glück des Einzelnen in ihr und sein Verhältnis zum Glück des Ganzen. Vor allem werden Fragen der politischen Erziehung diskutiert, von der Unterweisung in politischen Fragen bis zum Musikunterricht und ihre Effekte auf die moralische Verfassung des Gemeinwesens. Aristoteles schilderte das Politische als eine besondere Form menschlicher Organisation und Kooperation: nämlich als Regierung unter Freien und Gleichen. Zur Regierung gibt es Alternativen, die eher mit Herrschaft zu tun haben: 1) nach außen die despotische Herrschaft, die für viele Barbaren, also Nichtgriechen typisch ist (der Sklave wird dem Barbaren gleichgestellt, Politik I 2: 1252b9): so besonders im Perserreich, wo der Großkönig seine Untertanen regiert wie ein Eigentümer mit seinem Besitz umgeht. Mit dieser Herrschaft vergleichbar im Sinne einer unpolitischen Regierung ist 2) die Herrschaft des Vaters über die Kinder, über die Hausgegenstände (zu denen wie in der gesamten Antike auch die Sklaven zählen) und die Herrschaft zwischen den Ehegatten. Diese drei sub-politischen Herrschaftsformen sind untereinander verschieden und äußern sich auch gänzlich anders, aber sie alle sind nicht politisch, insofern sich hier nicht Freie und Gleiche begegnen und in der Regierung abwechseln. Aristoteles' Kritik der platonischen Theorie war so zentral, dass es nicht überzeugen kann, wenn man Piaton und Aristoteles in eins setzt (so aber Leo Strauss 1977). Im Punkt der Ein-

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heitsbildung als Voraussetzung politischer Ordnung widersprach Aristoteles Piatons Auffassung, wonach die politische Ordnung in einem größtmöglichen Maße eine Einheit sein solle {Politik 1261al5). Einheit macht für Aristoteles nur in einem logischen Gebrauch Sinn, als einer Form von Kausalität. Das politische Gemeinwesen ist seinem Wesen nach eine zahlenmäßige Vielheit (Bien 1985, 12-33). Die politische Forderung nach Einheit macht daher in Aristoteles' Augen eher in der Ordnung eines Haushaltes als in der Politik Sinn. Die Einheitsforderung gefährdet sogar die Politik: mit fortschreitendem Eins-Werden gleicht sie sich dem Haushalt an und damit auch der dem Haushalt (oikos) eigentümlichen, der despotischen Regierungsweise {Politik 1261al7ff.; vgl. Schütrumpf-Kommentar zu Politik II, 157-159). Das, was Piaton als das Ziel der Gesetzgebung deklarierte, war für Aristoteles das Gegenstück zur Politik (Spahn 1980), denn Haushalt und Staatlichkeit müssen aufeinander abgestimmt, aber nicht identisch gemacht werden. Aristoteles warf demnach Piaton einen Kategorienfehler vor, wenn dieser den Aspekt der Einheit, der für Belange des Oikos relevant ist, auf die Ebene der Politik übertrug. Wenn Aristoteles aus Homer {Ilias II 204) zitierte, „Vielherrschaft ist nicht gut; nur einer sei Herrscher", diente ihm das nur als Beispiel für den Vorrang der Einheit im Sinne von Ursache und Prinzip {Metaphysik 1076a). Ähnlich verhält es sich mit dem Bedeutungsgehalt von „arche" als Ausdruck für Herrschaft: es meint zunächst als Prinzip nur dasjenige „nach dessen Entscheidung sich das Bewegte bewegt und das Sichverändernde verändert, wie etwa die Behörden in den Städten, die Dynastien, Königs- und Tyrannenherrschaften ,Herrschaften' (archein) genannt werden" {Metaphysik Buch Delta 1013a). Für Aristoteles bedeutete die Forderung nach Einheit in der Politik etwas anderes als in der Ökonomie. Ein Ergebnis der aristotelischen Politik ist die Abgrenzung der politischen von anderen Sphären {Politik 1255bl7ff; Bien 1985, 273-275 und 303-313). Die Differenzierung der Bevölkerung nach Freien und Gleichen einerseits, die in einem politischen Verhältnis miteinander verkehren, und Frauen, Kindern und Sklaven (Garnsey 1996) andererseits bezeichnet er als eine Unterscheidung von „Natur" aus. Der Mensch ist, wie Aristoteles in seiner berühmten Grundformulierung sagt, ein von Natur aus auf die Polis angelegtes Lebewesen, ein zoon politikon {Politik I 2: 1253a2-3; 1278bl9; vgl. Nikomachische Ethik I 5: 1097b 12). Die Polis selber ist eine Gemeinschaft, und zwar die am meisten ausgereifte (zu den vielfachen Bezügen von Gemeinschaft bei Aristoteles vgl. Yack 1993). Diese enorme Fokussierung auf die Politik stellt eine Abgrenzung zu Piaton dar, welcher gegenüber der politischen Lebensweise die theoretische als die vollkommenste postuliert hatte (bios theoretikos: Piaton, Theaitetos 172c-176b). Entsprechend bezeichnete Aristoteles auch die politische Wissenschaft als die im Felde des Ethischen ranghöchste Disziplin, da sie alle anderen (Ökonomie, Ethik und technische Disziplinen) in sich einschließt {Nikomachische Ethik 1094a26-b7). Meint „Natur" eine ontologische, anthropologische {Politik ed. Schütrumpf Buch I 290 mit Verweis auf Politik 1279a20, 1287b36 und 1255bl2ff.) oder eine kategoriale Unterscheidung? Natur (physis) in der aristotelischen Verwendung des Begriffs bezeichnet das allen Lebewesen innewohnende Entwicklungsgesetz, das Telos oder Ziel seines Lebens. Die Natur ist die Gestalt, die ein Lebewesen bei seiner Vollendung erreichen kann (1252b32-34). Er kann dieses Ziel verfehlen und trägt es als Anlage doch in sich. An Stelle der platonischen Frauen- und Gütergemeinschaft, die Aristoteles aus Gründen der Unpraktikabilität ablehnte {Politik Kap II 3: 1261bl6ff), hebt er die Bedeutung der Freundschaft hervor: „Wo es nämlich zwischen Regierenden und Regiertem nichts Gemeinsames

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gibt, da gibt es keine Freundschaft und keine Gemeinschaft" (Nikomachische Ethik 1161a31). In der Tyrannis fehlt jegliche Freundschaft. Aber es gibt verschiedene Formen der Freundschaft. Die Freundschaft in politicis kann mit der persönlichen Freundschaft in Konflikt treten (Politik 1261b6ff). Sie hat eher etwas mit „Eintracht" zu tun und den „Parteienstreit" als Widerpart {Politik, ed. Schütrumpf 16 mit Anm. 185, mit Verweis auf Nikomachische Ethik 1155a24; vgl. Politik ed. Gigon 73 und 279 und Bien, 94-97). In der Frage der Gütergemeinschaft habe Piaton zwar ein zentrales Problem richtig erkannt, aber in einer falschen Richtung lösen wollen. Will man wie in Piatons Gemeinschaftsdenken die sozialen Differenzen einebnen, so fallen nämlich auch die damit verbundenen besonderen Leistungen weg: wenn alle Menschen sich innerhalb der Polis einander als Freunde und Verwandte begegnen sollen, so wird sich ganz einfach die Sonderbeziehung von Freundschaft und Verwandtschaft abschleifen und kein besonderes Nah- und Sorgeverhältnis mehr ausdrücken. Politische Einheit ist für Aristoteles kein Zustand, der durch die einmalige Festschreibung der Strukturen gesichert werden kann, sondern das Ziel praktischer Tätigkeit, die erst aus der Vielheit eine in der Praxis wirksame Einheit machen muss. Der Hebel hierzu ist die Erziehung (Lord 1982; Curren 2000): „Man muss vielmehr durch Erziehung die zahlenmäßige Vielheit, die ein Staat j a ist (...) zu einer Gemeinschaft und Einheit zusammenschließen" (Politik 1263b30ff). An die Stelle von Einheit als dem Zielbegriff Piatons setzte Aristoteles die „Autarkie", also die Unabhängigkeit und Selbstversorgung (Politik 1253al und 1261bl0). Formal und etwas unbestimmt spricht er auch von Gemeininteresse oder Gemeinwohl (Politik III 6: 1279al8ff.). Der Mensch lebt aber nicht nur um der Befriedigung seiner natürlichen Bedürfnisse (Nahrung, Sicherheit, Fortpflanzung) willen in der Polis, sondern auch um des guten bzw. des normativ vollkommenen Lebens willen (Politik 1252b29f.; 1257b41-1258al, 1281alf.). Nur in der politischen Gemeinschaft bzw. der Bürgergesellschaft, der koinonia politike, kann der Mensch seine sozialen Anlagen voll entwickeln. Das gute Leben und das Gemeinwohl werden durch Handlungen der Bürger bewirkt. Aristoteles unterscheidet zwischen Handeln und Herstellen, die unvollkommenen Übersetzungen der aristotelischen Kategorien „praxis" und „poiesis". Beim Handeln ist das Handeln selbst das Ziel, beim Herstellen ist das Produkt der Herstellung das Ziel. Politik und Ethik beschäftigen sich nicht hauptsächlich mit Produktion bzw. Herstellung von Dingen wie beispielsweise beim Handwerker. Der Schuhmacher stellt mit seinen Werkzeugen Schuhe her; um dieser Schuhe willen sind diese Instrumente geschaffen worden und ergeben unabhängig hiervon keinen Sinn. Praxis dagegen meint eine Form des Handelns, die um ihrer selbst willen vorgenommen wird (Arendt 1989). Diese Unterscheidung von Praxis und Poiesis grenzt allerdings nicht Gegenstandsbereiche voneinander ab, sondern intellektuelle Vermögen, welchen nicht notwendig Tätigkeitsfelder korrespondieren. Politik ist nicht immer nur Handeln und nie Handwerk (Miller 1995, 12-13). Politik und beispielsweise Hausbau (Nikomachische Ethik VI 8j kennen sowohl praktische wie poetologische Aspekte: Der Hausbau verfolgt ein Ziel außerhalb seiner selbst, weshalb diese Art der Tätigkeit grundsätzlich zur Herstellung und nicht zum Handeln zählt. Es gibt Übergänge, etwa in Hinblick auf die leitende hervorbringende Tätigkeit: hier vergleicht Aristoteles den Architekten mit dem Handwerker (.Metaphysik 981a und b; vgl. Dirlmeier-Kommentar zur Nikomachischen Ethik 457). Letzterer verrichtet etwas, dessen Sinn und Zusammenhang er innerhalb seiner eigentlichen Tätigkeit nicht durchschaut und auch nicht durchschauen muss, um Erfolg zu haben. Dennoch kann sie eine mit Vernunft verbundene Tätigkeit sein. Allein

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der Architekt hat den Überblick und muss mit Einsicht und Klugheit (phronesis) in den Gesamtzusammenhang tätig werden. Die hervorbringende Tätigkeit kann bis in die Ebene des Künstlerischen reichen, denn selbst der Poet - ein Begriff, der eben dieser Poiesis entlehnt ist - bringt etwas hervor, denn er will bestimmte Gefühle und Eindrücke mit seinem Werk hervorrufen. Aristoteles vergleicht nun den Gesetzgeber mit dem Praktiker und denjenigen, der die Beschlüsse zu Einzelgesetzen (psephismata) zustande bringt, mit dem Handwerker, also mit dem Hervorbringenden. Der Gesetzesbeschluss wird hier als das Ziel der Tätigkeit gesehen, wohingegen die allgemeine Gesetzgebung die Möglichkeit des Handelns selbst zum Gegenstand hat. Andererseits gehört für Aristoteles die Abstimmung zum politischen „Handeln" (Nikomachische Ethik VI 8). Polemisch gilt als „Politiker" deqenige, welcher Gesetzesbeschlüsse durch die Herstellung von Mehrheiten zustande bringt, der eigentlich Planende dagegen, der den Generalplan des politischen Agierens erstellt, heißt „Nomothetike" (Dirlmeier-Kommentar zur Nikomachischen Ethik 457). Die Nikomachische Ethik beschäftigt sich mit Fragen der Ethik, d.h. hier der moralischen Verbindlichkeit und der Verhältnisse zwischen Menschen. Diese Fragen lassen sich in den Augen von Aristoteles nicht von der Frage der moralischen Bindungen innerhalb der politischen Lebenswelt trennen. Ein wichtiger Überschneidungspunkt betrifft die Tugend: ist die Tugend des besten Menschen identisch mit der Tugend des besten Bürgers, lautete eine für Aristoteles typische Fragestellung (Politik III 4), die Piaton so nicht vorgenommen hätte. Die Tugend des Menschen ist laut Aristoteles Gegenstand des Interesses der Gesetzgebung, um ein Gegengewicht zum Laster innerhalb der Bürgerschaft zu schaffen {Politik 1309a321310a38), wohingegen die Tugend als Bürgerkompetenz den Menschen überhaupt erst in die Lage versetzt, sich politisch zu verhalten; ihr Inhalt richtet sich nach dem jeweiligen Regierungssystem. Die Tugend des besten Bürgers muss mit den Anforderungen der Verfassung abgestimmt sein, unter welcher er lebt, jeder Verfassung kennt daher einen Typus des besten Bürgers, während es nur eine ethische Tugend des besten Menschen geben kann. Ferner müssen auch nicht alle Bürger zugleich die besten Menschen sein, um die Verfassung am Leben zu erhalten. Schließlich erfordert jede Verfassung verschiedene Leistungen des Bürgers je nach seinem Platz innerhalb der politischen Ordnung. Daraus folgt, dass die Politik zwar ethisch gesehen der mindere Lebensraum ist, aber dafür der weitaus komplexere Fall, weil sich hier die Frage nach der Tugend in Relation zu den institutionellen Bedingungen des politischen Verhaltens steht. Aristoteles war kein Anhänger der Demokratie, die er als eigennützige Mehrheitsherrschaft definierte. Er misstraute der Versammlungsdemokratie. Aber Aristoteles tendierte deswegen nicht einseitig zu einer Herrschaft der Sachverständigen, wie es Piaton tat. In seinem stark rezipierten Summierungsprinzip breitet Aristoteles den Gedanken aus {Politik III 11; IV 14), wonach die Entscheidung der Mehrheit der einfachen Bürger derjenigen der Experten überlegen sein kann, weil sich in der Vielzahl der versammelten Bürger ihre Tugenden und Fertigkeiten ergänzen können und so in der Summe die Tugend und Fertigkeit selbst des besten unter ihnen erheblich übersteigt (Braun 1973). Eine moderate demokratische Partizipation ist aber auch dann zu empfehlen, wenn die geringe Tugendhaftigkeit der einfachen Bürger zwar die Güte der Politik nicht zu heben vermag, aber wenigstens das Problem ihrer Entfremdung von der politischen Ordnung vermeidet, das auftritt, wenn man die Bürger von allen Regierungsfunktionen ausschließt {Politik III 10: 1281a40 ff.). Diese Überlegungen werden als Plädoyer für eine gemäßigte Form der Demokratie gewertet (Bates 2003, 122-153). Andererseits beschäftigt sich die Politik auch mit der Frage nach dem besten politischen Regime und

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findet es im Königtum. Damit war keine Variante der platonischen Philosophenherrschaft gemeint, sondern eine pragmatische Stellungnahme für ein politisches System, welches seiner Ansicht nach unter bestimmten Umständen seine Vorteile haben kann. Hier wirkte sicherlich die Erfahrung mit dem makedonischen Königtum im Vergleich zur zersplitterten griechischen Stadtstaatenwelt nach. In Zeiten neu emporkommender Tyrannis wurde dies als eine Abwendung von der gemäßigten Demokratie diskutiert (Kelsen 1933). Es ist eher die soziale Zusammensetzung der Bürgerschaft, die in der Demokratie die Gewähr für ein gemäßigtes Regime bietet. Hier kommt Aristoteles' Mesotes-Ideal zum Tragen (Politik 1296b37ff), welches bereits in der Nikomachischen Ethik als das Mittlere zwischen den Extremen definiert wird. Die Wertschätzung des Mittleren bzw. des Gemäßigten ist ein spätestens seit Euripides Hiketiden (237) auffindbares Prinzip in der politischen Kultur der Griechen (Spahn 1977, 7-14) und wurde oft auf soziale Verhältnisse übertragen (Thukydides VIII 97); selbst der späte Piaton erkannte seine Bedeutung an (Nomoi 806d-e; 738b). Kein Autor wurde in der politischen Ideengeschichte über zweieinhalb Jahrtausende hinweg so intensiv rezipiert wie Aristoteles; die politische Ideengeschichte ist in vielerlei Hinsicht ein nicht endender Kommentar zu Aristoteles. Besonders im Mittelalter nahm Aristoteles eine beherrschende Stellung ein (Grabmann 1941; Steenbergh 1955), wobei sich eine eher republikanische bei Marsilius von Padua von der ontologischen Rezeption bei Thomas von Aquin unterscheidet (Wieland 1990; Flüeler 1992). Ungeachtet der aquinatischen Einverleibung der aristotelischen Schriften in einen lateinisch-christlichen Aristotelismus löste die Aristoteles-Rezeption eine Art „Revolution" aus (Ulimann 1975, 269), weil sie den wissenschaftlichen Blick auf die internen Prozesse von Politik und Sozialität ungeachtet ihrer wertenden Einbettung in transzendente Bezüge eröffnete. Das aristotelische Text-Korpus bot jedoch Anknüpfungspunkte für ganz unterschiedliche Rezeptionen. Wer an Ethik und Anthropologie interessiert war und weniger an politischinstitutionellen Überlegungen, wandte sich dem Autor des ersten und fünften Buches der Nikomachischen Ethik und des ersten Buches der Politik zu: das Ziel der Politik war dann die Tugend im Sinne moralischer Exzellenz, wie dies Aristoteles in der Nikomachische Ethik betonte (1102a7-25). Eine solche ethische Imprägnierung der Politik wird noch heute von Vertretern einer Wertethik als repräsentatives Attribut der aristotelischen Argumentation herausgestellt (Sandel 1996, 317-319; Tessitore 2002). Verbunden mit dem stereotypen Hinweis auf die „politische" Regierung zwischen Freien und Gleichen marginalisiert diese Perspektive alle institutionellen Probleme der Politik oder Fragen zu bloß machttechnischer und insoweit nachrangigen Bereichen. Eine stärker an politischen Prozessen interessierte Rezeption betonte dagegen Aristoteles' Unterscheidung zwischen der Tugend des Menschen und der Tugend des Bürgers. Diese Tradition beschäftigte sich wie - im Falle des Republikanismus - eher mit dem Zusammenhang von moralischer Disposition und institutioneller Verfasstheit eines Gemeinwesens und seiner Bürgerschaft und verwendete daher überwiegend Material aus den Büchern 3-5 der Politik. „Aristoteles" bedeutete also in unterschiedlichen Rezeptionssträngen etwas sehr Verschiedenes. Mit Aristoteles' Schüler Alexander von Makedonien begann der Hellenismus und mit ihm das Zeitalter der Epigonen in Politik und Wissenschaft. Die Lehren von Piaton und Aristoteles wurden in den jeweiligen Philosophieschulen verwaltet, das heißt gesammelt und kommentiert. Aber Idee und Begriff des Politischen waren nun erstmals intensiv und syste-

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matisch begründet, dabei von Piaton und Aristoteles zu zwei sehr unterschiedlichen Ansätzen verarbeitet worden, was der weiteren Rezeption ein Spannungsverhältnis darbot, das sich für die weitere Theoriebildung als äußerst forderlich erweisen sollte.

2. Idee und Begriff des Politischen Wenn hier von „politischem Denken" und „politischer Theorie" gesprochen wird, so bezeichnet der Ausdruck „politisch" zunächst in einem sehr weiten Sinne die Konzentration von Ressourcen (materieller wie personeller Art) einer Gemeinschaft (gleich wie intensiv sie sein mag), um gemeinsames Handeln zu ermöglichen und zu koordinieren. Jede politische Ordnung definiert sich in den Parametern von Verfügung über diese Ressourcen und Verantwortung für die Folgen ihres Einsatzes. Das Ausmaß der Verfügung reicht von einer minimalen Interventionsfahigkeit in die nach eigenen Gesetzen ablaufenden gesellschaftlichen Vorgänge bis zur totalen Verfügung über Leib und Leben. Mögliche Referenzen für die Verantwortung reichen von „Gott" bis zum „Volk", was zu sehr unterschiedlichen Schlüssen darüber führt, wer als legitimer Regierungsinhaber gelten sowie wer welche Mittel zur Verfolgung welcher Ziele auf welche Weise anwenden darf. Angesichts dieser Spannbreite des Begriffs des Politischen wäre es sehr verwunderlich, wenn in der Ideengeschichte die hierfür angewandten Bezeichnungen eine semantische Identität aufweisen würden. Die Wortgeschichte ist so gewunden wie das politische Denken selbst (Sellin 1978; Sternberger 1978 und 1982). Wort und Begriff „politisch " Das Wort „Politik" findet sich in den meisten Nationalsprachen. Seine griechische Sprachwurzel legt den Gedanken nahe, durch die Erschließung des Politikbegriffs der Griechen einen Begriff des Politischen entwickeln zu können, der über den griechischen Diskurs hinaus Gültigkeit besitzt. Christian Meier definiert den Begriff des Politischen mit Bezug auf das Könnens-Bewusstsein, gesellschaftliche Probleme auf eigenmächtige, aber institutionell organisierte Weise zu lösen, und zwar ohne Zuhilfenahme metaphysischer oder transzendenter Vorannahmen (Meier 1983). Hannah Arendt behauptet, dass alleine aus der griechischen Wortwurzel Aufschluss über den Begriff der Politik zu finden ist: „Die griechische Polis wird solange am Grunde unserer Existenz (...) weiter da sein, als wir das Wort ,Politik' im Munde führen" (Arendt 1989a, 241). Politik ist ihrer Auffassung nach nur in Konstellationen vorhanden, in welchen es um die Selbstorganisation von Freien und Gleichen geht. Wo nur Zwang herrscht, fehlt es an Politik. Arendt folgert aus dem bei Herodot wiedergegebenen Otanes-Dialog sowie aus Aristoteles' Schriften, dass das griechische Politikverständnis Macht, Staatlichkeit oder Herrschaft lediglich als prä-politische Eigenschaften ansieht (Arendt, Vita activa 34). Die Nähe des Terminus „politisch" zum griechischen Vorbild der Polis ist jedoch in doppelter Hinsicht problematisch: 1) Der wissenschaftliche Sprachgebrauch zur Analyse „politischer" Strukturen in der antiken Welt könnte aufgrund dieser Vokabel ganz falsche Erwartungen wecken (Cartledge 2000, 11-22), da mit ihr ganz unterschiedliche Vorstellungen von politischer Ordnung transportiert werden können. Die Geschichte der althistorischen Terminologie und ihrer Übersetzungen von „polis" in die Fachsprache gibt darüber

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genügend Aufschluss (Gawantka 1985). Die griechische Amts- sowie Literatursprache sprach nicht von „Politikern", sondern von „Rhetoren" als Ausdruck für diejenigen, die regelmäßig in der Politik aktiv waren (ähnliches ist auch für die römische Antike zu beobachten: Wooten 2001). „Polites" hingegen bleibt dem herausragenden „Staatsmann" vorbehalten (Hansen 1989a). Ferner stellt sich die Frage, ob 2) der soziale Lebensraum griechischer Stadtstaaten soweit generalisiert werden kann, dass daraus für die politische Theorie verbindliche Aussagen für alle Lebenswelten gefolgert werden können. Muss nicht eine unreflektierte Orientierung an der Polis aufgrund des grundsätzlichen Abstandes zu heutigen Lebens- und Sprachformen abgelehnt werden (Riedel 1975, 20)? Der griechische Sprachgebrauch selbst ist uneinheitlich und ambivalent. Der philologische Befund des Sprachgebrauchs von „polis" und „politeia" in den antiken Texten führt zu keinem kohärenten Begriff des Politischen (Sakellariou 1989; optimistischer ist Hüttinger 2004). Schon die Untersuchung der Verwendungsweise von polis allein bei Aristoteles führt zu einer verwirrenden Ansammlung von Verwendungen und bietet keine zentrale oder auch nur eindeutige Definition (Sakellariou 1989, 213-281). In synchronen Diskursen wechselten die Ausdrücke für politische Ordnung: Neben der „polis" finden wir „Republik" bzw. „res publica", „commonwealth", „Staat" und jüngst „politisches System." „Polis" ist die Sprachwurzel für „Politiker" ebenso wie für „Polizist", was ganz unterschiedliche Vorstellungen indiziert, wer wie in der politischen Ordnung tätig ist: von der Regierungsebene bis zu Vollzugsorganen. Zu beachten ist auch, in welchen Gegenüberstellungen diese Begriffe gebraucht wurden: „public" bzw. „öffentlich" hat in der Gegenüberstellung zu „privat" einen spezifischen Sinn, wie auch der „Staat" in Gegenüberstellung zur „Gesellschaft" eine besondere Bedeutung annimmt. Wortkombinationen wie „Politische Ökonomie" oder „bürgerliche Gesellschaft" sind weitere Varianten. Die politische Begriffsbildung ist nicht für alle Zeiten etymologisch angekettet. Man kann aber auch nicht einfach sagen, dass jede Zeit ihren eigenen Politikbegriff habe, denn der Politikbegriff ist das Ergebnis eines Zusammenspiels von Rezeption und theoretischer Bearbeitung. Der „Weg der Wörter" (Sternberger 1978, 19-84) indiziert den Wandel des Politikverständnisses. Der Begriff des Politischen nimmt seinen Ausgang im griechischen Diskurs und ist in ständiger Auseinandersetzung mit ihm geblieben. Schon die griechische Begrifflichkeit ist nicht einheitlich und gibt daher auch keine klare Vorgabe, wie der Begriff des Politischen zu verstehen sei, selbst wenn die Orientierung des Rezipienten am antiken Vorbild erkennbar ist. Zum einen konkurrieren mindestens zwei verschiedene begriffliche Traditionen miteinander, nämlich die aristotelische mit der platonischen, zum anderen ist auch die aristotelische Vorlage nicht einheitlich rezipiert worden. Schließlich tritt noch eine sich bald verselbständigende römische Begriffsrezeption hinzu. Die Antike bot mit den Lehren von Piaton und Aristoteles zwei oft geradezu konträre Zugänge zum Politikverständnis. Piaton steht für die Idee der Politik als Steuerung, Aristoteles stärker für die Idee der Selbstregierung. Für Piaton gibt es ein Wissen von Politik und die Wissenden erheben einen legitimen Anspruch auf das Steuer, und zwar auch zum Wohl der von ihnen Gelenkten. Das typischerweise in diesem Politik-Strang zur Veranschaulichung benutzte Bild ist das vom politischen Gemeinwesen als Schiff (Peil 1983, 700-869). Die Schiffsmetapher wurde bereits vor Piaton benutzt (Alkaios, Fragment 46; Theognis, Theognidea II: 667-682), auch von Aristoteles verwendet (Politik III 4) und ist noch in

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unserer Gegenwart in Gebrauch (Quaritsch, 1979; Meichsner, 1983; Miller 2003). In diesem Bild steht das Schiff für die politische Ordnung. Der Steuermann ist das Sinnbild des fachlich kompetenten Politikers, der besser nicht auf die Wünsche und Phantasien der Besatzung hören sollte, wenn es um das Schicksal des Schiffes geht. Nötig ist eine politische Arbeitsteilung, eine gleichrangige Besetzung der Ämter erscheint dagegen sachwidrig. Piaton hat sich am intensivsten des Schiffsgleichnisses bedient (Politeia 488a-489c). Anhand der Dilemmata, in denen sich der Steuermann befindet, macht Piaton deutlich, dass die Demokratie, deren ausschlaggebende Institution, die Volksversammlung in Gestalt des Kapitäns metaphorisiert wird, von allerlei Interessen, Vorstellungen und Meinungen bestürmt wird, während der einzige, der ein Wissen über die Führung eines Schiffes hat, nämlich der Steuermann, nicht befragt, sondern zum Ausführungsorgan degradiert wird. Das Volk sei einem starken Kapitän gleich, welcher aber taub ist (Politeia 469e; 488a; 601b). Piatons Verwendung der Schiffsmetapher ist eindeutig anti-demokratisch gewendet. Besonders Kritiker der Demokratie verwendeten dieses Bild des Schiffes, um die vermeintlich rein sachlichen Erfordernisse der Schiffssteuerung den arbiträren und partikularen Bedürfnissen der Passagiere, den Demokraten gegenüberzustellen. Das Staatsschiff ächzt unter der Last seiner ignoranten Passagiere, welche ohne Kenntnis der Steuermannskunst sich dennoch anmaßen, das Ruder an sich zu reißen. Aber auch demokratiefreundlichere Autoren bedienen sich der Metapher, um die Schwierigkeiten einer kontinuierlichen und gemeinwohlorientierten Politik zu demonstrieren und damit das Volk daran zu erinnern, dass das Gesetz nicht identisch ist mit dem aktuellen Willen der Volksmehrheit. Demosthenes vergleicht das Volk mit denjenigen, die auf Schiffen an Seekrankheit leiden (zitiert bei Aristoteles, Rhetorik III 4, 2). Politik kann aber auch mit der Vorstellung verbunden sein, dass sie einen Raum eröffnet, in welchem Menschen als Gleichrangige interagieren können. Hier wird der aristotelische Begriff der politischen Gemeinschaft (koinonia politike) bedeutsam, der die Gemeinschaft von freien und gleichen Bürgern meint, die durch gemeinsame Teilhabe an etwas vereint sind (Schütrumpf-Kommentierung, Aristoteles, Politik I 172). Im Mittelpunkt stehen die Bürger. Politik ist die Voraussetzung dafür, dass sich Menschen ungeachtet ihrer sozialen Herkunft oder Zugehörigkeit in einem eigens gebildeten „öffentlichen" und nicht „privaten" Raum ebenbürtig begegnen und miteinander kommunizieren können. „Politeia" ist dann nicht nur die Sammelbezeichnung für die jeweiligen Grundstrukturen einzelner politischer Ordnungen, sondern zugleich der herausragende Ausdruck für eine Gesetzesherrschaft, unter welcher alle freien Bürger über sich selbst entscheiden. Piaton und Aristoteles boten also Anknüpfungspunkte für sehr unterschiedliche Politikbegriffe. Ihre Autorität als Referenzen der Theoriebildung war exzeptionell, allerdings wurden die Rezeptionswege sehr unterschiedlich durch die Umstände der Überlieferung ihrer Texte geprägt. Die von Piaton gegründete Schule im Hain des Heros Akademos (und hiernach „Akademie" genannt) unterrichtete Philosophie in einem als Lebensgemeinschaft verstandenen Verhältnis von Lehrer und Schülern. Die Akademie hielt sich bis zum Verbot im Jahre 529 durch Kaiser Justinian. Die platonische Ethik und politische Philosophie wurden hier ebenso gelehrt wie Ontologie und Theologie. Insbesondere die politischen Schriften wie die Politeia und die Nomoi gingen dem lateinischen Abendland zunächst verloren, der einzige vollständig erhaltene Dialog war der Timaios mit seiner Thematisierung der Theologie. Aber die Augustinus-Rezeption Piatons vermittelte Eindrücke und vor allem die Vorstellung, dass die platonische Philosophie grundsätzlich mit dem Christentum

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vereinbar sei. In feudalen Gesellschaftssystemen lag es nahe, in Piatons idealisierter Ständegesellschaft die eigene Sozialtheorie wieder zuerkennen, so wie Piatons normativer Fluchtpunkt der Gerechtigkeit durch Augustinus christlich umgedeutet werden konnte. Piatons Ideenlehre gab seinem Begriff des Politischen eine ontologisch verwurzelte Stellung innerhalb eines holistischen, das heißt umfassenden Denksystems, das der Politik ihren Platz in einer von ihr unabhängigen Welt zuwies. Diese Tendenz wurde durch die eigentümliche Rezeptionsgeschichte Piatons noch verstärkt, die über die arabisch-jüdische Gelehrsamkeit des 10.-13. Jahrhunderts verlief. Die Theorie vom Philosophenkönigtum war besonders fur die jüdisch-arabische Tradition von Interesse, wo die Diskussion der platonischen politischen Werke zunächst am intensivsten war. Sie konnte ohne weiteres den Philosophenkönig als frühen Ausdruck des Propheten ihrer jeweiligen Theologie (hier Moses, dort Mohammed) verstehen. Der Prophet war zugleich Gesetzgeber und Herrscher. Al-Farabis (etwa 870-950) Rezeption des Philosophenkönigtums steht im Zusammenhang einer Legitimationstheorie des Kalifats (R. Walzer 1969, 451-457; O'Meara 2003, 185196). Ibn-Rushd, lateinisch Averroes genannt (1126-1198), verfasste einen Kommentar zur platonischen Politeia, der im frühen 13. Jahrhundert durch Samuel ben Judah aus Marseille aus dem Arabischen ins Hebräische übersetzte wurde. Seine Übersetzung wurde wiederum ins lateinische übertragen und eröffnete einen weiteren Zugang zu Piaton im abendländischen Mittelalter. Der arabischen Kultur lag die Politik des Aristoteles nicht vor. Man wusste von ihrer Existenz und vermutlich waren Versionen des Buches I und II bekannt (Black 2001, 58). Ibn-Rushd schloss aus dem Schlusskapitel der Nikomachischen Ethik auf die Existenz der Politik und versuchte sich an einer ergänzenden Auslegung. Dies ist besonders bemerkenswert, weil er in seinem Kommentar zu Piatons Politeia (Black 2001, 119-121) die Differenz beider politischen Philosophen klar herausarbeitete. Als diskursive Formation bildet der Islam eine zum lateinischen Abendland völlig eigenständige politische Sprache aus (Rosenthal 1958; Black 2001). Über Byzanz gelangte schließlich der komplette Piaton nach Europa. Als der florentinischbyzantinische Kulturaustausch die griechischen Schriften Piatons wieder zugänglich machte (namentlich Manuel Chrysoloras, 1415 gest.), setzte sofort eine intensive Übersetzungstätigkeit ein, in deren Mittelpunkt Marsilio Ficino (1433-1499) stand, der Herausgeber der ersten vollständigen Übersetzung der Platonischen Werke (etwa 1482 erschienen). Sie stellte den Ausgangspunkt der weiteren Rezeption dar, die allerdings ihren Schwerpunkt nicht in politischen Fragen an Piaton hatte. Die Übersetzung der Politeia legte bereits in den späten 1430er Jahren Pier Candido Decembrio vor, dessen Vater bei Chrysoloras u.a. auch in Konstantinopel studiert hatte. Der Versuch, diesen Dialog durch ausgiebige Glossen und Zwischentitel einen systematischen Charakter zu verleihen, war eine Reaktion auf die weit verbreitete Kritik an Piaton, die ihm eine mangelnde Systematik vorwarf und seine Ethik für wertlos hielt (Hankins 2004, 38). Damit war meist die Frauen- und Kindergemeinschaft sowie die Eigentumslosigkeit gemeint. Diese Kritik war das Ergebnis der bereits zuvor stattgefundenen Rezeption von Aristoteles, der diese sachlichen Vorwürfe gegen Piatons Politeia bereits in der Politik formuliert hatte. Keine Rezeption erfolgte intensiver und über so große zeitliche Räume hinweg wie die der Schriften von Aristoteles, wobei kein politischer Text der Ideengeschichte eine vergleichbar nachhaltige Rezeption vorweisen kann wie die aristotelische Politik. Der „Aristotelismus" als Ausdruck eines Rezeptions-Kontinuums, das von der Spätantike über das Mittel-

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alter bis in die Neuzeit reicht und ständige Neurezeptionen noch im 20. und 21. Jahrhundert aufweist, darf aber nicht als inhaltlich einheitliche Theoriegrundlage missverstanden werden. Es gab und gibt verschiedene Möglichkeiten, am Begriff des Politischen bei Aristoteles anzuknüpfen. Ein klassischer Topos war zunächst Aristoteles' Theorem vom „zoon politikon", Ausgangspunkt für anthropologische Überlegungen bezüglich der Disposition des Menschen als Lebewesen zur Politik. Dagegen bot der Begriff der „politeia" eher einen Zugang zu Aristoteles als Komparatisten und einer deskriptiven Analyse des Aufbaus und der Funktionsweise politischer Ordnungen. Aristoteles' Unterscheidung von despotischer Herrschaft und politischer Regierung legte nahe, nur die Verhältnisse zwischen Freien und Gleichen politisch zu nennen. Auf der anderen Seite gab seine begriffliche Differenzierung nach „polis" und „oikos" den Anstoß, auf eine nicht von Aristoteles intendierte Weise den Haushalt (oikos) des Fürsten als Kern der politischen Ordnung anzusetzen, was mit der allmählichen Verlagerung des Fokus von der Person des Fürsten auf den Staat die Begrifflichkeit der Politischen Ökonomie nach sich zog. Man hat bezüglich der im Hochmittelalter einsetzenden Rezeption der politischen Werke von Aristoteles von der „Aristotelian revolution" gesprochen (Ullmann 1975b, 269), ein komplexer philologischer und rezeptionsgeschichtlicher Vorgang (Grabmann 1941; Steenbergh 1955, 18-20, 62-64; Copleston 1976, 150-152; Flüeler 1992; Fortin 1996). Vordem 12. Jahrhundert lagen zu Aristoteles im wesentlichen nur die Kommentare des Boethius vor, die aber wegen ihres Versuchs einer harmonisierenden Vermittlung mit der platonischen Philosophie verfälschend wirkten und zudem die Politik aussparten. Voraussetzung der Neurezeption war vor allem die Latinisierung der politischen Werke. Den Anfang machte die Übertragung der Nikomachischen Ethik durch Robert Grosseteste (etwa 12401247), die auch einen ersten Eindruck von Aristoteles' politikwissenschaftlicher Arbeit vermittelte, behandelte er doch dort Fragen gesetzgeberischer Gerechtigkeit, gab einen Einblick in seine Verfassungslehre (VIII 12) und verwies an ihrem Ende auf den systematischen Zusammenhang mit der Politik. „Civilis" war die von Grosseteste gewählte Übersetzung für „politikos". Schließlich übertrug Wilhelm von Moerbeke (etwa 1215-1286), ein Flame aus der Nähe von Gent, der 60jährig Erzbischof von Korinth wurde, auf Anregung von Thomas von Aquin die aristotelische Politik ins Lateinische. Im ersten Anlauf übersetzte er nur zwei Bücher der Politik und überdies fehlerhaft (Sternberger 1978 II 2223): viele Begriffe und Passagen wurden einfach nur in lateinische Schriftzeichen überführt (beispielsweise der Ausdruck „dike" für Gerechtigkeit). Die revidierte Fassung war dann vollständig und wesentlich verbessert worden (Grabmann 1941,43-59). Von Moerbekes Übersetzung gingen kaum zu unterschätzende Einflüsse auf die politische Semantik der Hochscholastik aus. Moerbeke übersetzte als erster „politikos" mit „politicus" sowie „zoon politikon" mit „civile animal homo", worin ihm Albertus Magnus und auch Thomas von Aquin folgten. Letzterer erweiterte aber in De Regimine principum ( I I ) die Formel zu „animal sociale et politicum", was nicht zwingend eine begriffliche Differenz zwischen civile und politicum anzeigen muss (so aber Sellin 1978, 803). Die Moerbeke-Übertragung initiierte sogleich eine umfangreiche Kommentartätigkeit (Flüeler 1992), angefangen mit Albertus Magnus und sodann vor allem Thomas von Aquin. Die politische Theorie erhielt eine verhältnismäßig selbständige Position innerhalb der scholastischen Gesamtkonzeption. Für die Scholastiker bot Aristoteles die Möglichkeit, Politik systematisch zu strukturieren. Nach Albertus Magnus gliedert sich die „politica" in „politica consiliativa", die danach fragt, was nach den gültigen Gesetzen möglich ist, und „politi-

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ca activa", die in die Tat umsetzt, was durch Überlegung gefunden wurde. Die „civitas" ist Bürgergemeinde, die als „communicatio politica" alle umfasst. Generell zielt die Politik auf das gemeine Wohl (Politicorum libri VIII, S. 8). Piatons vereinheitlichende Vorgehensweise suchte für alle Konstellationen nach dem einen Paradigma des Politischen und fand es in dem Philosophenkönig. Diese Vereinheitlichung war der Hauptkritikpunkt von Aristoteles. Piatons Ansatz erfasst laut Aristoteles nicht die wesentlichen Unterschiede zwischen den Arten des Herrschens, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen trennte Piaton nicht zwischen der Regierung und der Herrschaft im Haus: er habe die politische Ordnung nach dem Muster eines großen Haushaltes geformt. Zum anderen kritisiert ihn Aristoteles dafür, nicht genügend zwischen königlicher und „politischer" Regierungsweise zu unterscheiden (Politik I 1: 1252al6; Aristoteles spielt besonders auf Piatons Politikos an), bei letzterer wechseln sich nämlich die Regierenden und die Regierten ab. Moerbeke übersetzte die Textstelle zur Unterscheidung von politischer und despotischer Herrschaft mit dem Begriffspaar „politicum et regale." Die scholastischen Kommentare hatten aber Mühe, diesen Unterschied zu verstehen. Von Peter von Auvergne über Aegidius Romanus bis zu Ptolemäus von Lucca rangen sie um ein angemessenes Verständnis des Unterschiedes zwischen „regaler" und „politischer" Regierungsweise (Rubinstein 1987, 42-45). Der erste in einer Reihe scholastischer Kommentatoren war Albertus Magnus, der die politische Regierungsweise als eine von der vorrangig königlichen Regierung abgeleitete Regierungsgewalt auslegte, die temporär und bezüglich der Kompetenzen eingeschränkt sei (Politicorum libri VIII, 8 d; vgl. Sternberger 1978 II 27). Auch Thomas von Aquin hatte in seinen letzten Lebensjahres an einem Kommentar zur Politik gearbeitet, der aber nur bis zu Buch III, Kapitel 3 (1280a6) reichte (Auszüge bei: Nederman/Forhan 1993, 97-148) und von Peter von Auvergne beendet wurde (Flasch 1986, 339). Man darf vermuten, dass von Dante bis zu Ptolemäus lieber auf Thomas von Aquins AristotelesKommentar der Politik als auf das Original zurückgegriffen wurde (Kusch 1958, XXI). Thomas erklärte sich den Unterschied zwischen beiden Herrschaftsweisen so, dass der König uneingeschränkt regiert, der politisch Regierende dagegen überwiegend nach Gesetzen und Vorschriften, die seinen Ermessensspielraum einschränken. Die politische Regierungsweise ordnet Aquin im Sinne einer Gesetzesherrschaft den „leges civitates" zu (Sententia libri Politicorum 72-73; vgl. Sternberger 1978 I 47-49), was dann Aegidius Romanus noch einmal präzisierend hervorhebt (De regimine principum II 1, 14). Ptolemäus von Lucca konkretisiert dies schließlich in seiner Fortsetzung von Aquins De regimine principum (etwa 1302) und hebt hervor, dass „civitates" Republiken sind wie man sie aus Italien kennt (Aquinas, De regimine principum IV 1, ed. J. Mathis, S. 66; vgl. Rubinstein 1987, 44-45). Diese Applizierung auf das Vorbild der oberitalienischen Stadtstaaten verhilft Ptolemäus wiederum zu einem erweiterten Verständnis für Aristoteles' Unterscheidung. Er ordnet die zeitgenössischen Ämter des Consuls und der Rektoren der politischen Regierungsweise zu (IV 8, ed. Mathis S. 76) und behandelt auch das Wahlamt (IV 1, S. 86). Die aristotelische Rezeption blieb demnach gegenüber der platonischen wenigstens im Bereich des Politischen dominant. Albertus Magnus und Thomas von Aquin bezeichneten ihren Ansatz des Politikverständnisses, geschärft durch ihre Rezeption des Aristoteles, als „scientia" (Thomas im Prolog seines Kommentars zur Politik: Sententia libri Politicorum 69). Die scholastische Theorie mit ihrem Disputationsstil und der Differenzierung nach

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Ober- und Untersätzen stellte sich selbst der spekulativen Theologie entgegen, wo sie den Einfluss Piatons vermutete. Andererseits integrierte die scholastische „scientia civilis" die Politik in den damaligen Kanon der Wissenschaften. Das mittelalterliche Universitätsstudiums trennte die sieben artes liberales (Rhetorik, Grammatik, Musik, Astronomie, Arithmetik, Geometrie und Dialektik) von den eigentlichen Hauptfachern Philosophie, Theologie, Jurisprudenz sowie Medizin. Die Philosophie war geteilt in Logik, Ethik und Physik, die „Politica" gehörte zur Ethik. Thomas bezeichnete die Politik als Prinzipalwissenschaft aller praktischen Wissenschaften, doch diese sind den theoretischen Wissenschaften, allen voran der Theologie und ihrer Perspektive auf die Ethik nachgeordnet. Das Wissenschaftsideal wandelte sich freilich. Hatte die Scholastik Aristoteles in den Mittelpunkt gestellt, entdeckten Humanismus und Renaissance andere Schichten der Antike fur sich und damit auch neue Anknüpfungspunkte ihres Politikverständnisses. Die Latinisierung der griechischen Autoren in der Scholastik konnte nicht die sprachliche Tiefenschärfe des klassischen Lateins aufweisen, die nun erst wieder gewonnen wurde. Leonardo Bruni (etwa 1369-1444) übertrug 1438 die Politik neu ins Lateinische (Aristotelis Politicorum libri VIII interprete Leonardo Aretini; die Versionen Moerbekes und Brunis sind dem Kommentar von Albertus Magnus beigegeben: Opera Omnia, ed. Borgnet, Bd. VIII). Er sah das scholastische Latein Moerbekes als sprachliche Verunstaltung an. Selbst ein Schüler von Chrysoloras trug er sich mit der Absicht, alle platonischen Dialoge neu zu übersetzen, was aber nach sieben Dialogen ins Stocken geriet (darunter keiner der politischen Dialoge). Er hatte bereits die Ökonomie und die Nikomachische Ethik von Aristoteles übersetzt, als er die Politik in Angriff nahm, was er als Höhepunkt seiner Übersetzungstätigkeit verstand. Mittlerweile hatte man vor allem die Werke Ciceros wiederentdeckt und neue Einblicke in die sprachlichen Möglichkeiten des „klassischen" Latein erhalten. Rom war als Vorbild in historischer wie politischer Hinsicht für die Stadtstaaten - wie Brunis Heimatstadt Florenz - immer stärker in den Vordergrund gerückt. Bruni verfasste 1410 die Historiarum Florentini Populum libri XII und wollte sich damit in die Tradition der antiken Geschichtsschreiber stellen. Politik erhielt im Selbstverständnis von Autoren wie Bruni, der selbst jahrelang in fuhrenden Ämtern in Florenz tätig war, einen zentralen Stellenwert. Im „vivere politiche" erhielt dieses Selbstverständnis eines der Politik der Heimatstadt gewidmeten Lebens seinen semantischen Ausdruck. Matteo Palmieri (1406-1475) verbreitete diese Ansicht in seiner Arbeit De vita civile (1435-1440). „Vita civile" ist ein Aspekt der vita activa, welche die Erfüllung des eigenen Lebens im Handeln für andere sucht, während das Gegenstück hierzu, die vita contemplativa, rein theoretischen Interessen folgt. Innerhalb des florentinischen Diskurses bedeutete dieses aktive Leben vor allem ein Leben in Freiheit, worunter die Unabhängigkeit der politischen Ordnung vor Fremdeinflüssen und das nach Gesetzen geordnete Leben im Innern gemeint war, wie es auch Machiavelli in seiner Florentine Istorie (III 5) als „vero vivere libera e civile" hervorhob.

Staat und Republik Machiavelli hat schließlich das „vivere politiche" nicht nur auf Freistaaten wie die florentinische Republik bezogen, sondern als Regierungsart auch auf Königreiche erweitert, die gesetzesförmig regiert werden; er bezeichnet das Königreich Frankreich als die zeitgenössisch am meisten nach Gesetzen regierte Ordnung (Discorsi I 58). Die Güte einer politischen Ordnung ist nicht alleine durch die Festlegung der Verfassungsstruktur sicherzustel-

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len, sondern hängt von den Notwendigkeiten des Verhaltens und den äußeren Umständen ab (Discorsi I 28). Damit will Machiavelli sagen, dass das Lob Roms gegenüber dem in der Literatur so oft getadelten Athen ungerecht ist, nimmt er doch an, dass es in Rom zu vergleichbaren Ereignissen gekommen wäre wie in Athen, wenn vergleichbare Umstände ähnliche Zwistigkeiten im Innern verursacht hätten. Die Semantik ist bei Machiavelli nicht immer eindeutig, „civile" und „politiche" wechseln noch ab. Für die Bezeichnung der politischen Ordnung ungeachtet ihres inneren Aufbaus oder ihrer normativen Wertschätzung kommt mittlerweile ein neues Wort auf, dass Machiavelli ausgiebig verwendet: „stato". In seinem Principe verwendet er gleich im ersten Satz den Ausdruck „stato" als allgemeinste Bezeichnung für alle Regierungsformen und verwendet ihn in dieser kurzen Arbeit insgesamt 113 mal (Hexter 1957b, 117). Im Vorwort zum ersten Buch der Discorsi stellt Machiavelli die verschiedenen von ihm behandelten Aspekte zusammen: „ordinäre le repubbliche", „mantenere gli stati", „govemare i regni" , „ordinäre la milizia", „amministrare la guerra", „giudicare i sudditi" und „accrescere l'imperio." „Stato" steht hier also im Zusammenhang mit der Erhaltung und Bewahrung der politischen Ordnung. Der Ausdruck „stato" ist nicht von Machiavelli erfunden worden, sondern entstand innerhalb der Rezeption des römischen Rechts, seiner Geschichtsschreibung und politischen Literatur. Der römische Ursprung des Wortes „status" als semantischer Bezugspunkt für politische Ordnung ist unabweisbar, hat aber unterschiedliche Quellen. Hierzu gehörte die kaiserliche Kodifizierung aus dem 6. Jahrhundert, das Corpus Iuris Civilis (Fuhrmann 1996, 309-330). Sie hatte eine ganz eigenständige Rezeption, die besonders durch Juristen des kanonischen wie des weltlichen Rechts (die Legisten) erfolgte. Die wichtigste Referenzstelle war dem Institutionen-Teil des Corpus entnommen und lautet „publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat" (Institutionen 1,1,4; vgl. Digesten 1,1,1,2), was mit „öffentliches Recht ist das, was sich auf die Ordnung des römischen Staatswesens bezieht" übersetzt wird {Corpus Iuris Civilis ed. Behrends I S. 2; zur Verbreitung: Post 1964, 241-309). Ob eine schlüssige begriffliche Kette zwischen dem status-Begriff und dem modernen Staatsbegriff besteht, ist umstritten (dafür: Riedel 1975, 19-20; dagegen: Mager 1968). Die Spannbreite der Bedeutungen von „status" reicht über den heute vertrauten Staatsbegriff weit hinaus (Harding 1994) und kommt dem der Verfassung nahe. Auch Thomas von Aquin verwendete den Ausdruck „status" als Bezeichnung für die verschiedenen aristotelischen Verfassungen (status paucorum, status optimatum, status popularis usf.), worin Bruni folgte. Im 15. Jahrhundert benutzte der florentinische Diskurs den Ausdruck „stato" bereits umfangreich (Rubinstein 2004, 152-153), Machiavelli hat das Wort also zunächst nur aufgegriffen (Hauser 1967). Machiavelli löste sich aber sowohl von der juristischen wie von der latinisierten aristotelischen Tradition bezüglich dessen, was er als „ragionare dello stato" bzw. „studio all'arte dello stato" bezeichnete (Briefe an Vettori vom 9. April und 10. Dezember 1513: Opere 1131 und 1160). Sein wichtigster Briefpartner, Francesco Vettori, berief sich in seinem Brief vom 20. August 1513 u.a. auf Aristoteles, um gegen Machiavellis Idealisierung der römischen Republik zu argumentieren. Vettori benutzte Aristoteles wie die meisten Renaissance-Autoren im Sinne eines Autoritätsbeweises. Hierauf erwiderte Machiavelli am 26. August, dass er Aristoteles' Föderalismus-Theorie gar nicht kenne und daher für die konkrete Streitfrage bezüglich des Vorbildes der zeitgenössischen Schweiz für die Funk-

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tionsweise von Konföderationen nicht einzuschätzen wisse (zu diesem Disput Najemy 1993, 164-167). Dieser Brief diente der Forschung oft als Beleg für Machiavellis Unkenntnis der aristotelischen Schriften. Machiavelli berief sich auf Aristoteles nur sehr wenig und auffalligerweise nur in Hinblick auf Probleme der Tyrannis, weshalb bereits gemutmaßt wurde, er kenne nur den entsprechenden Auszug zur Tyrannis aus der Politik (Sternberger 1980, 66). Andererseits wissen wir, dass Machiavellis Vater Bernardo Werke von Aristoteles sein Eigen nannte (Viroli 2000, 16). Entscheidend ist jedoch, dass Machiavelli die Meinung von Aristoteles nicht für verbindlich erachtete, sondern nach anderen Begründungsstrategien suchte, die er dann in den Kategorien von Notwendigkeit, äußeren Umständen des Handelns, Tugend und der Gelegenheit bzw. dem Glück der sich bietenden Chance fand (siehe synchroner Diskurs „Florenz und die altrömische Republik"). So wurde Machiavelli der Ausgangspunkt eines neuen Verständnisses von Politik als Wissenschaft. Weder die Form der Regierung noch ethische Grundüberlegungen sichern einen Zugang zum Verständnis der Politik. Eigene Kategorien müssen die Politik erschließen, für die dann antike Schriftsteller nur noch in selektiver Rezeption herangezogen werden. Die gesamte Machiavelli-Rezeption des 16. und 17. Jahrhunderts schwankt, ob Machiavellis Neuansatz den Niedergang der Politik, ihre Amoralität und Entnormativierung bedeutet, oder aber ob Machiavelli nur einen realistischen Zugang suchte, um der Freiheit im Gewände zeitgenössischer Verhältnisse neue Räume zu schaffen. Die von Machiavelli geschätzte Klugheit konnte in diesem Zusammenhang zum Schimpfwort einer Politik der Verschlagenheit, List und der Intrige werden. Die Vorstellung von Politik als Steuerung nimmt die Perspektive der an der Staatsspitze tätigen Akteure ein. Ihr Leitbegriff wird bald die „Staatsräson". Die typische Handlungskonstellation, in welcher die Staatsräson zur Geltung kommt, ist der Notstand: bestimmte Handlungsmaximen sind zum Überleben des politischen Systems zwingend erforderlich, gleichgültig, welche moralischen oder ethischen Prinzipien sie verletzen. Die Unterscheidung zwischen den gewöhnlichen, regelkonformen und den außergewöhnlichen Situationen oder Notständen ist ein sehr alter Topos, mit dem bereits die griechische Tragödie umging. Sophokles lässt eine Figur sagen: ,Aber Gewalt nötigt mich, dies zu tun" {Elektro 256), was Aristoteles als Beispiel für die Gewalt der Notwendigkeit zitiert (Metaphysik 1015a). Der Notstand diktiert die Exklusion der üblichen moralischen Bewertung: Akteure sind in einem tragischen Dilemma gefangen und gewissermaßen entschuldigt. Die Staatsräsontheorie erhebt diesen Notstand zum Fokus für die Klärung dessen, was politisches Handeln ist und welchen Regeln Politiker gehorchen müssen. Im Notstand greifen die gesatzten Normen nicht, weshalb bestimmte politische Akteure den Anspruch erheben, für diesen Bereich alleine verantwortlich zu sein. Außerlegale Aktionen werden so allmählich zum Kennzeichen der Tätigkeit im staatlichen Entscheidungszentrum erhoben, ein bereits im Mittelalter einsetzender Vorgang (Post 1961; Wilks 1964, 217-219). Doch erst in der Frühneuzeit wird aus den vereinzelten Reflexionen zum Notstand der Diskurs der Staatsräson (Meinecke 1924; Münkler 1987; Stolleis 1990) und gibt dem Strukturwandel des politischen Systems zur modernen Staatlichkeit seinen signifikanten Ausdruck (Luhmann 1989). Staatsräson ist hier Ausdruck einer spezifischen Form politischer Rationalität. Die Handlungsrationalität einer Staatsräson, die auch zu Lüge und Verrat greift, ist nur die spektakuläre Seite einer Theorie, welche grundsätzlich einen sachlichen, der Politik angemessenen Zugriff verlangt. Die Staatsräson löst insofern den Republikanismus der Frühneuzeit ab (Viroli 1992).

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Machiavelli hat in seinem Schriften nicht von Staatsräson gesprochen, brieflich jedoch geäußert, er beschäftige sich nicht mit den Künsten des Gewerbes, sondern mit „regionäre dello stato" (Brief Machiavellis vom 9. April 1513, Opere S. 1100). Erst Giovanni Botero erhebt diesen Ausdruck zum festen Terminus in seinem Deila Ragion di Stato von 1589. Die weitere Entwicklung der folgenden 100 Jahre steht ganz im Zeichen der MachiavelliRezeption (Anglo 2005). Die Wertmaßstäbe des Politischen liegen in der Machtauseinandersetzung selbst: sie haben mit Effizienz und Erfolg zu tun. Die republikanische Tugend muss sich um das politische Kalkül erweitern, wie die Macht errungen und vor allem: wie sie erhalten werden kann. Machiavelli weist moralische, insbesondere christliche Normen als Beurteilungskriterien für politisches Handeln zurück. Die Religion wird statt dessen in den Dienst der Politik gestellt. Klugheit bedeutet im Republikanismus vernünftiges Abwägen. Dieser Begriff unterliegt seit Machiavellis unverblümter Darlegung der Machtpraxis, besonders aber seit der Machiavelli-Rezeption im 16. Jahrhundert einem erheblichen Bedeutungswandel und meint nun so viel wie Schlauheit, List oder Tücke (Hennis 1968, 12-14). Machiavellis Principe wird als technische Gebrauchsanweisung zur moralisch ungezügelten Machterhaltung bar jeder normativen Rechtfertigung gelesen. Der konfessionelle Bürgerkrieg in Frankreich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wirkt auf Zeitgenossen wie eine Illustration dessen, was Machiavelli beschrieben hatte. Seine Bücher wurden umfangreich übersetzt und rezipiert und unter dem Etikett des Machiavellismus zum Synonym einer a-moralischen, zynischen Machtanmaßung politischer Akteure. Eine Versachlichung der machiavellistischen Theorie bewirkt erst ihre Vertiefung im Staatsräson-Diskurs, insbesondere im NeoStoizismus (Abel 1978). Die christlichen Abwehrversuche eines solchen Klugheitsverständnisses im Sinne von purer Verschlagenheit waren heftig, konzentrierten sich aber wieder auf das Feld des Ethischen (Sellin 1978, 816). Sie konnten nicht verhindern, dass der Staat sich immer stärker als ein sich vom personalen Herrscher ablösender abstrakter Begriff etabliert (Skinner 1978, Bd. 1, IX-X und 353). Mit Michael Stolleis kann man sagen, dass im Begriff der Staatsräson „erstmals die für die Neuzeit grundlegende Verselbständigung des politischen Systems zutage" tritt (Stolleis 1995, 14). Mittlerweile war „Republik" bereits der gängige Ausdruck für die politische Ordnung ungeachtet ihrer inneren Verfasstheit. Der herausragende Autor des 16. Jahrhunderts, Jean Bodin (Les six livres de la Republique 1576), hat am eindringlichsten auf die Verselbständigung der politischen Ordnung von ihren normativen Zielen und ihrem Regierungsaufbau reagiert und hierbei auch die neue Vokabel alternierend mit dem Ausdruck „republique" verwendet: „estat". Bodin verarbeitete dabei die immer sichtbarer werdende Versachlichung der politischen Ordnung in dem Sinne, dass ihr Inhalt auch ohne Bezug auf die Person des Fürsten oder die Bürgerschaft und deren Tugenden analysiert werden konnte. Ausgangs des Mittelalters etablierte sich die Staatlichkeit in Gestalt von Verwaltungskräften, die räumlich und hierarchisch um den Hof des Fürsten konzentriert waren. Einige Könige bauten arbeitsteilige Verwaltungsapparate auf. Charles Loyseau (1566-1627), einer der großen Vordenker des französischen monarchischen Staates, berichtet, Ausdrücke wie „Consellier estat" oder „Secretaires d'estat" seien von den Spaniern gelegentlich der Friedensverhandlungen von 1559 übernommen worden (Cinq livres du Droit des Offices 1610, ed. 1666, 6). Nicht mehr die Treuepflicht gegenüber dem Fürsten prägt dieses Personal,

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sondern eine zunehmend verinnerlichte Sorge um den Staat. Es gab zwar lange noch eine monarchistische Gegenbewegung, die wie Jacques Benigne Bossuet (1627-1704) den Staat mit der Person des Königs identifiziert (Politique tiree VI 1, 1: „tout l'etat est dans la personne du prince"). Doch die Emanzipation des Staatsbegriffs von der Person des Königs war nicht mehr aufzuhalten. Aus der Regelmäßigkeit und der Organisiertheit des Handelns für den König wird die Tätigkeit für das jeweilige politische System. Die staatliche Verwaltung Frankreichs beschäftigte am Ende des 15. Jahrhunderts bereits mehr als 80000 Beamte (Bourde 1971, 732). Aus der Überlegung zu Grund und Ausmaß des pouvoir royal erwächst die Idee des Staates als Sammeltheorem fur eine ausschließlich der Staatsspitze zustehende Kompetenzdichte, deren zentraler Ausdruck der besonders von Bodin geprägte Begriff der Souveränität ist: Inbegriff des politischen Steuerungsanspruchs und Merkmal des modernen Staates (Dennert 1964; Quaritsch 1970). Die Versachlichung der politischen Ordnung hatte auch Auswirkungen auf die disziplinäre Beschäftigung mit dem Staat. Die neuzeitliche „Statistik" meint zunächst „Staatsbeschreibung" (Rassem/Stagl 1994), das heißt die Sammlung aller Informationen über den Zustand (status) der politischen Ordnung (Bleek 2001, 77-79; Rassem/Stagl 1994). Man muss erst über die rein sachlichen Kenntnisse der eigenen politischen Ordnung verfügen, um sie lenken zu können. Mit diesem Problembewusstsein interessieren sich Autoren für andere Textschichten aus der antiken politischen Theorie wie beispielsweise Autoren des Republikanismus (Cicero, De Legibus III 8: est senatori necessarium, nosse rempublicam; Aristoteles Rhetorik I, 4 und Xenophon Memorabilia III 6). Statistik, Kameralistik und Verwaltungswissenschaft wenden sich an die Staatsbediensteten und Beamten. Ihre tagtägliche Entscheidungsroutine erfordert zuverlässige Informationen über die quantitative Beschaffenheit der politischen Ordnung, die nach Vorgaben der politischen Führung verwaltet werden soll: Informationen über die Größe der Population, das Steueraufkommen, die Kosten des Staatshaushaltes, Handel und Verkehr. Der genuine Ausdruck der Verwaltung war zunächst „policey" im Sinne der Sorge für das allgemeine Wohl im Innern (Maier 1980). Ressourcenverwaltung, Militärtheorie, Demographie und nicht zuletzt politische Ökonomie gehören zu den Wissensbeständen, die der Politiker wie ein Steuermann kennen muss. In der deutschen Kameralistik des 18. Jahrhunderts (Brückner 1977) kommt auch die Metapher der Staatsmaschine zum Tragen, in welcher die Politik wie eine Technik die Apparatur am Laufen halten muss (Stollberg-Rilinger 1986, 89-101). Berater absoluter Herrscher wollen mit einer solchen Semantik die fürstliche Politik von den rein dynastischen Zielen befreien und sie zwingen, die Faktizität der Staatlichkeit zur Kenntnis nehmen. Auch hier ist also ein „aufklärerisches" Bemühen sichtbar, welches das Wohl des Volkes mit den Interessen des Fürsten verknüpft. Das Ergebnis ist die Wohlfahrtspolitik des patriarchalischen Fürstenstaates: alles für das Volk, nichts durch das Volk. Das leitet zur Verwaltungslehre des 19. Jahrhunderts über, die sich von der Regierungslehre trennt. „Republik" konnte aber auch in einem qualitativen Sinne die Gesetzesherrschaft einer über sich selbst entscheidenden Gemeinschaft bezeichnen. Der Hauptbezugspunkt eines qualitativen Verständnisses von Republik war Cicero (Suerbaum 1977, 1-70). Die Definition der „res publica" (I 25) in De re publica war durch ihre Überlieferung bei Augustinus (De Civitate Dei II 21; XIX 21) bekannt. Hier wird die Republik mit dem Volk gleichgesetzt und die Sache der politischen Ordnung mit der Sache des Volkes identifiziert. Ähnliches gilt

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für Ciceros vollständig überlieferte De Officiis (z.B. I 57). Die später unter dem Namen „Republikanismus" zusammengefassten Diskurse (Pagden 1987; Phillipson/Skinner 1993; Gelderen/Skinner 2002) entfalten sich in den mittelalterlichen Städten, deren errungene politische Unabhängigkeit das Interesse an dem antiken Vorbild neu entfacht. Vergleichbare soziale Strukturen legen eine analoge Übertragung antiker stadtstaatlicher Politikbegriffe auf die eigene Lebenswelt nahe, weshalb die Schriften von Aristoteles und Cicero nun - in oft idealisierender Weise - zur Definition einer Selbstregierung der Bürgerschaft herangezogen werden. Die Kompetenz zur Selbstregierung sollte durch die Lektüre antiker Texte vermittelt werden. Der Republikanismus folgte einer Rationalität, welche am tugendhaften Bürger ansetzt. Die Tugendhaftigkeit war das Bindeglied zwischen den Varianten individuellen Verhaltens und den Erfordernissen des Gemeinwohls. Im 17. Jahrhundert stellte James Harrington (1611-1677) Machiavelli wieder in einen Diskurs mit den antiken Autoren, da es ihm um die Ermöglichung von Freiheit und Gesetzesherrschaft gegangen sei; hier ist dann Klugheit ein anderer Ausdruck für Politik. Der Versuch der Etablierung einer englischen Republik wirkte hier als Katalysator der Beschäftigung mit politischer Theorie. Harrington wollte in Oceana (1656) mit Hilfe Machiavellis zu einer Renovation der „ancient prudence" ansetzen, die er der „modern prudence" von Thomas Hobbes entgegensetzte, der nicht Freiheit, sondern Ordnung in den Mittelpunkt stellte. Für Hobbes (1588-1679) und seinen Leviathan (1651) war der Bürgerkrieg die entscheidende Erfahrung; um diesen zu vermeiden, musste die Politik als Wissenschaft auf den Stand der Wissenschaft seiner Zeit gebracht werden, das hieß für ihn: Politik nach dem Vorbild von Mechanik und Geometrie etablieren, weshalb Machiavelli ebenso wenig wie Aristoteles oder Cicero Referenzen seiner Theorie sein konnten. Hobbes ahnte nicht, wie sehr die Paduanische Variante der Aristoteles-Rezeption das stärker deskriptiv-empirisches Theorieverständnis Galileo Galileis prägte. Auf dem Kontinent machte Hermann Coming (1606-1681) Anstalten, bestimmte Einseitigkeiten bei Hobbes durch eine Verknüpfung des aristotelischen mit dem machiavellistischen Politikverständnis zu beseitigen. Er übersetzte sowohl Machiavelli wie die aristotelische Politik neu ins Lateinische und kommentierte beide Werke in Hinblick auf ihre Synthese. Ökonomie und Gesellschaft Die Versachlichung des Umgangs mit Fragen der politischen Ordnung erreichte in der Politischen Ökonomie ihren ersten Höhepunkt und eröffnete einen völlig neuen Zweig des Politischen. Semantisch knüpft der Begriff der Ökonomie an den aristotelischen Begriff des „oikos" an (Politik I 3-4), des Haushaltsverbandes. Die Führung des Haushaltes ist laut Aristoteles „oikonomia", wobei zum Haus nicht nur die Familie, sondern auch Werkstättenbetriebe und die dort tätigen Sklaven (hier als Werkzeuge verstanden) zählen. Die Erwerbskunst (Chrematistik) zählt in diesem Sinne auch zur Ökonomie, obschon ihr Aristoteles später noch eigenständige Überlegungen widmet. Der Begriff der Ökonomie umfasst also den Haushalt wie denjenigen Bereich, der zur Betriebswirtschaft gerechnet werden kann und die Politische Ökonomie als Ausdruck einer im 17. Jahrhundert einsetzenden Disziplin umfasst dann den politischen Aspekt der Ökonomie, nämlich die Nationalökonomie oder die Volkswirtschaftslehre.

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Mit der Wandlung der Sozialstruktur zur Feudalgesellschaft und der Zentrierung der Politik im Fürstenstaat wurde der Oikos zum Paradigma der politischen Ordnung. Das monarchische Gepräge des Hellenismus, das Kaisertum von Rom und Byzanz orientierten sich am Haushalt, in dessen Mittelpunkt der Herrscher stand (Brunner 1956). Dazu zählte die fürstlich organisierte Herrschaftsgewalt, verkörpert im dynastischen Familienverband und in der Haus- und HofVerwaltung, die sich um ihn herum gruppierte. Diese Formation setzte sich im fränkischen Königtum im Frühmittelalter fort (Fried 1982). Die Erbfolge definierte, wer einen legitimen Anspruch auf die politische Führung erheben konnte. Aber auch die christliche Rezeption griff den Oikos-Gedanken auf, um bestimmte Sozialhierarchien zu legitimieren (Meyer 1998, 160-188), namentlich Augustinus: die ethische Forderung nach der Gleichheit und die Aufwertung von Sklaven und Knechten führte nicht zur politischen Forderung nach Gleichberechtigung, denn die gerechte Liebe und Sorge trat beim christlichen Hausvater an die Stelle der Herrschaft. Im Klosterverband schließlich zeigt sich dann eine völlig neue Möglichkeit, das Haus als Lebensgemeinschaft zu verstehen, wobei die sachliche Organisation der Hausgemeinschaft und ihre Verwaltung ein hohes Maß an Rationalität erreicht (Meyer 1998, 277-317). Im Republikanismus wurde Wirtschaft immer als Gegenstand der Politik gedacht und ihr untergeordnet. Eine Selbstregulierung der gesellschaftlichen Kräfte etwa in Gestalt des Marktes oder in den Bezügen, die man heute Zivilgesellschaft nennt, ist in diese Tradition schwer zu integrieren. Mit der Verselbständigung gesellschaftlicher Kooperation und Kommunikation durch Handel und Verkehr spaltete sich die „Gesellschaft" als Inbegriff sozialen Verhaltens - meist „civil society" genannt - von der politischen Gemeinschaft wieder ab. Werke der „politischen Ökonomie", angefangen mit William Pettys Politicall Arithmetick aus dem Jahr 1676 (Müller 1932) und gipfelnd in Adam Smiths Wealth of Nations (1776), haben oft über die im engeren Sinne ökonomischen Fragen hinausgewiesen und die Wirtschaft in eine Gesellschaftstheorie der „civil society" eingebettet. Sie umfasst alle Aspekte zivilisatorisch bedingten Umgangs der Menschen, ob ökonomisch oder modisch, religiös oder ethisch bedingt und verbindet so Zivilisationstheorie mit Moralphilosophie. Menschliches Verhalten kann aus dieser Sicht nur zu einem kleinen Teil politisch gesteuert werden. Die Politik ist eingebettet in ein gesellschaftlich bedingtes Umfeld. Ob dies bei den Schottischen Aufklärern, zu denen Adam Smith zählt, die Zivilisation ist oder bei Montesquieu etwas präziser mceurs heißt (die französische Übertragung von mores): die faktisch wirksamen Normen des menschlichen Verhaltens haben ihre Quellen vielfach außerhalb der Politik, letztere reagiert oft nur auf gesellschaftliche Vorgaben. Was an politischer Steuerung verbleibt wird jetzt als „Regierung" (government) bezeichnet und so verengt. Der Prozess der Versachlichung der Politik geht damit im 18. Jahrhundert über die Regierungslehre und die politische Institutionenlehre hinaus. Semantisch zeigt sich dies anhand des Wortes „Gesellschaft", und zwar in den nationalsprachigen Folgebegriffen zum lateinischen Ausdruck „societas". Die Römer hatten „societas civilis" als Übersetzung der aristotelischen koinonia politike gebraucht; andererseits benutzte Cicero die societas immer auch als Ausdruck für die weit über eine jeweilige politische Ordnung (res publica) hinausweisende Gemeinschaft der Menschen als „societas hominum" (De ofßciis 117). Die Rezeption der ciceronianischen Verwendung eröffnet im neuzeitlichen Naturrecht den Gedanken der Menschengesellschaft und schließlich der Völkergemeinschaft als societas, deren inne-

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res Normengefüge von den politischen Ordnungen getrennt ist oder sogar unabhängig von ihnen buchstabiert werden muss (so bei Hugo Grotius, De Iure Belli ac pacem 1625 Prolegomena; II 20, 20: „menschliche Gesellschaft"). Die „sociabilitas" als Sinn oder Neigung zur Vergesellschaftung, von der besonders Samuel Pufendorf spricht, reicht daher über den Staat hinaus. Der Begriff schließt in sich die altbekannte Idee ein, dass der Mensch als eine Art Mängelwesen auf den Schutz der Gemeinschaft angewiesen ist (imbecillitas), aus der Not aber eine Tugend macht und mit Hilfe der sociabilitas als Geselligkeit zur Errichtung unterschiedlichster Formen der Kooperationen imstande ist (Pufendorf, De jure naturae Lund 1672 II 1, 8 und De Officio 1673 I 3, 7). „Bürgerliche Gesellschaft" im Deutschen ist nur mehr rudimentär eine Übertragung der klassischen Büürgergesellschaft (koinonia politike). Die „politische" Komponente des Bürgers muss mit Hilfe eines Zusatzes ausgedrückt werden, so vor allem im 19. Jahrhundert im Begriff des „Staatsbürgers" (Weinacht 1969; Haltern 1985; Stolleis 1990d; komparatistisch: Gosewinkel 1998). Regierung und damit politische Steuerung ist hier ein Äußeres, da Politik mangels politischer Revolution hauptsächlich mit der dynastischen Fürstenpolitik gleichgesetzt werden muss, in welche der „Bürger" als Staatsbürger erst noch hineinwachsen muss. Stärker auf Selbstregierung setzende Autoren griffen wieder auf Aristoteles' Politik zurück. Georg Schlosser, des jungen Goethe Vorbild seiner Darmstädter Zeit, gab 1798 seine Übersetzung ins Deutsche heraus (Aristoteles. Politik und Fragmente der Oeconomie). Ihm folgte Christian Garve, der in seinem umfangreichen Kommentar daran erinnerte, dass die Polis nicht nur eine Ansammlung von Gebäuden, Gewerbe und Magistrat war, sondern „eine unabhängige bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Regierungsverfassung" {Die Politik des Aristoteles 1799 II 17-18). Generell wirkte die Französische Revolution wie ein Katalysator bei der Wiederaneignung antiker Theorien der Selbstregierung. Jean Francois Champagne meinte in seiner Übersetzung von 1797 enthusiastisch, erst die politische Theorie von Montesquieu bis Rousseau und die Erfahrung der Französischen Revolution habe die Übertragung von Aristoteles ermöglicht. Vorbereitet durch die Aufklärung fiel die Neurezeption auf fruchtbaren Boden und wurde sogleich in die junge Idee des Verfassungsstaates integriert und so auf eine neue Ebene gehoben. Die meisten amerikanischen und französischen Theoretiker dieser Zeit waren davon überzeugt, dass beispielsweise die parlamentarische Repräsentation, die in der Antike noch unbekannt war, das Herzstück der neuen politischen Ordnungen sei (siehe synchroner Abschnitt „Die Atlantische Revolution"). Diese Entwicklung blieb dem deutschen Sprachraum zunächst versagt, wo die Enthusiasten der Revolution wie Hegel andere gedankliche Wege einschlugen. Hegels Rezeption der Schottischen Aufklärung, die er als Beschreibung der modernen Gesellschaft akzeptierte, aber mit normativen Ansprüchen verknüpfen wollte (Riedel 1969a; 1975), bringt eine Wende auch im semantischen Sinne. Sein Ausdruck für den Gesamtkomplex menschlicher Interaktion ist „Sittlichkeit", auf deren objektiver Stufe die „bürgerliche Gesellschaft" vom „Staat" unterschieden ist. Die bürgerliche Gesellschaft regelt sich teilweise selbst, kann aber ihre inneren Widersprüche nicht überwinden: der freiheitlichen Vorstellung des Individuums stehen die gesellschaftlichen Zwänge gegenüber, ferner bringt die Gesellschaft Armut hervor, die sie weder zu beseitigen noch zu integrieren versteht. Daher bedarf es des - vom Fürstenstaat abstrahierten - Staates. Der Staat nimmt eine der Gesellschaft normativ überlegene Position ein, er ist nicht ihr Teil, sondern steht über ihr.

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Im 19. Jahrhundert setzte die deutsche Tradition durchgängig „Politik" mit „Staat" gleich, was schon an den weiteren Aristoteles-Übertragungen und Diskussionen erkennbar wird: In der Übersetzung der aristotelischen Politik durch Susemihl wird im allerersten Satz das Wort „Staat" für das im Original befindliche polis bzw. koinia politike verwendet:, Alles, was Staat heißt, ist ersichtlich eine Art von Gemeinschaft, und jede Gemeinschaft bildet sich und besteht zu dem Zweck, irgendein Gut zu erlangen" (vgl. Sternberger 1978 I 29). Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu Georg Jellinek war es ganz selbstverständlich, den Begriff des Staates auf die gesamte politische Literatur zu übertragen und so auch Aristoteles' Politik als eine Lehre vom Staat zu bezeichnen (.Allgemeine Staatslehre 49-50): .„Politisch' heißt ,staatlich'; im Begriff des Politischen hat man bereits den Begriff des Staates gedacht" {Allgemeine Staatslehre 180). Im Begriff der Realpolitik, den Ludwig von Rochau Mitte des 19. Jahrhunderts prägte (Grundsätze der Realpolitik (1853/1859) 1972; vgl. Faber 1966; Wehler 1972 und Doli 2005), wird der Staatsräsongedanke zur Ideologie. Diese semantische Innovation dokumentiert die Abkehr des Liberalismus von seinen idealistischen Wurzeln aus der Zeit des Vormärz. Die Enttäuschung über die gescheiterte Nationalstaatswerdung Deutschlands unter liberaler Führung 1848 brachte den einstigen Liberalen Rochau zu der Ansicht, dass der stärkste Idealismus nicht den harten Fakten der Realia, der Tatsachen der politischen und sozialen Verhältnisse standhält. Diese Tatsachen in die theoretischen Bemühungen mit einzubeziehen war nicht neu, nun aber werden sie nicht mehr nur als materielles Beiwerk eines von Normen und Idealen dominierten Politikverständnisses verstanden, sondern als Gegenstück hierzu. Der Sammelbegriff für alle die Handlungsfähigkeit des Staates betreffenden Ressourcen und Kompetenzen ist „Macht", besonders in außenpolitischer Hinsicht. Vor dem Hintergrund der deutschen Nationalstaatsbewegung stellte 1864 Heinrich von Treitschke (1834-1896) die Überlegung zur Staatengleichheit in Frage: nicht alle deutschen Staaten seien dazu imstande, den Nationalstaat zu begründen, denn das Wesen des Staates sei „zum ersten Macht, zum zweiten Macht und zum dritten nochmals Macht" (Treitschke, Bundesstaat und Einheitsstaat 152). Mit dieser oft zitierten Passage will Treitschke die Irrelevanz der deutschen Kleinstaaterei und die Sonderstellung Preußens hervorheben: alle normativen Ideen eines Deutschland sind leer ohne die Akzeptanz einer politischen Führungsmacht, sie zu realisieren. Im Laufe der Jahre und mit dem Erfolg der Reichsgründung gewinnt die realistische Analyse einen heroischen Gestus, wie er in Frankreich und Großbritannien im Zuge der dortigen Imperialismus-Bewegung zu beobachten war. In seinen viel besuchten Berliner Vorlesungen zur Politik in den 1890er Jahren formulierte Treitschke sein Credo zur politische Ethik (Politik 1897/1898 I 91): „Der Staat ist Macht. Denn das ist die Wahrheit, und wer nicht männlich genug ist, dieser Wahrheit ins Gesicht zu sehen, der soll seine Hände lassen von der Politik." Der Inbegriff des Realpolitikers ist im deutschen Diskurs Otto von Bismarck (Pflanze 1958), der selber freilich nur rudimentär von Realpolitik sprach, moralische Entrüstungen aus dem Bereich politischer Beurteilung von Sachlagen verwies (in einer Glosse Bismarcks zu einer Akte, zitiert bei Franz 1917, 25) und von der Politik als der Kunst des Möglichen sprach (Werke VII 222 und IX 399). Über Max Weber gelangte dann die realistische Machtanalyse in die Theorie der Internationalen Beziehungen, deren Schule des „politischen Realismus" (Smith 1986; Williams 2005) von Hans J. Morgenthau (Frei 1994) wissenschaftlich begründet wurde. In seinem

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Buch Politics among Nations (1948) gelten moralische Interventionen in die Politik als systemfremd. Die Gesetzmäßigkeiten der Interaktion zwischen politischen Akteuren, die mit Staaten identifiziert werden, müssen ohne jeden Verweis auf Ideologien erschlossen werden. Eine solche Perspektive ist nützlich, wenn die Akteure Regierungen sind, die kein moralisches Band verbindet. In der Zeit des Kalten Krieges nach 1945 hatte der Realismus daher seine Hochkonjunktur. Unbeeindruckt von dieser mächtigen Strömung realistischen politischen Denkens hatte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Variante des Politikverständnis entwickelt, in welcher der Fokus zwar auf der Gesellschaft lag, sie aber als Faktor der Regierungslehre thematisiert wurde. Diese nannte Tocqueville die „neue Wissenschaft von der Politik" (Democratic en Amerique I 1835, Einleitung), erforderlich zum Verständnis der neue Welt, die er auf seiner Amerikareise erlebt hatte: die demokratisierte Gesellschaft. Diese stellt neue Anforderungen an den Begriff des Politischen, den man weder mit Hilfe der antiken Tradition noch mit den Kategorien der Staatsräson erfassen kann. Die Teilung der Legislative in unterschiedliche Kammern war beispielsweise der Antike unbekannt (I 1, 6: S. 96). Bezüglich der Staatsräson verweist Tocqueville darauf, dass der wichtigste Aspekt der Politik auf der Ebene unterhalb der staatlichen Regierung liegt: in der sozialen Kooperation der Bürger und deren Auswirkungen auf den politischen Prozess. Zu den Axiomen dieser neuen Politikwissenschaft zählt, dass die schädlichen Wirkungen einzelner Faktoren des politischen Prozesses, namentlich der Presse, durch ihre Vielfalt neutralisiert werden können (I 2, 3: 211). Damit greift Tocqueville eine Argumentationsfigur auf, die James Madison in den Federalist-Papers bereits am Beispiel der politischen Parteien diskutiert hatte (Federalists No. 10): Der Gefahr von Faktionsbildungen begegnet man mit ihrer Vervielfältigung. Tocqueville geht sogar soweit, als Quelle der politischen Fertigkeiten der amerikanischen Bürger nicht die Buchgelehrsamkeit, sondern die Praxis selbst anzusehen (I 2, 9: 352). Die wichtigste Einsicht dieser neuen Politikwissenschaft liegt darin, dass man überzeugt ist, gemeinsame Ziele gemeinsam verfolgen zu müssen, hierzu vielfach eigeninitiativ Assoziationen zu gründen und diese Einstellung auf möglichst viele Aspekte des Lebens zu übertragen (II 2, 5: 124). Die Übermacht des Staatsräson-Denkens führte jedoch dazu, dass Tocqueville erst nach dem 2. Weltkrieg wiederentdeckt wurde. Der Begriff der Politik im 20. Jahrhundert und die moderne

Politikwissenschaft

In Zeiten schwerer Orientierungskrisen wie während der Bürgerkriege zwischen 1560 und 1660 oder nach dem Ersten Weltkrieg gehören Definitionskämpfe um den Begriff des Politischen zum diskursiven Geschehen. Das 20. Jahrhundert und mitten darin der deutsche politische Diskurs zeigen auffällig viele Versuche, dem Begriff des Politischen auf die Spur zu kommen. Dies geschah unter dem Eindruck der Krise des bis dahin geltenden Leitbegriff des „Staates". Bereits Max Weber sprach vom Staatsbegriff als einem „diffusdiskreten" Begriff, dessen Ambiguitäten es stets mit zu berücksichtigen gilt, wenn man ihn wissenschaftlich gebraucht. Der Staatsbegriff ist laut Weber eine Synthese „zu bestimmten Erkenntniszwecken" und zugleich eine Abstraktionsleistung von „unklaren Synthesen, welche in den Köpfen" der Akteure vorgehen, worin das oft nicht mitreflektierte Politikverständnis zur Geltung kommt. Als wissenschaftlicher Terminus läuft die „als gelten sollend oder geltend geglaubte praktische Idee" mit dem zu „Erkenntniszwecken" gebildeten „Idealtypus" nebeneinander her, wobei beide Vorstellungen permanent ineinander überge-

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hen (Die , Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis 1904, Wissenschaftslehre 200-201). Webers eigene Lösung, die er in dem Vortrag Politik als Beruf von 1919 skizzierte, resultierte aus der Beobachtung des Sprachgebrauchs seiner Zeit, eine aristotelische Vorgehensweise: der Sprachgebrauch verrät Weber, dass in der Rede von der Politik eines Betriebsleiters, deijenigen eines Behördenleiters wie in der Rede von der Politik einer klugen Ehefrau im Umgang mit ihrem Gatten Politik im weitesten Sinne Macht und Lenkung meint. Da der Staat das politische Gebilde der Moderne ist, bezieht Weber den Begriff der Politik auf das Ringen um Einfluss auf die Lenkung des Staates: Politik heißt Streben nach Machtanteil oder Beeinflussung der Machtverteilung, im internationalen wie im innenpolitischen Bereich, wobei Machtstreben Mittel zum Zweck sein kann oder Selbstzweck im Sinne des Genusses von Macht und ihrer unmittelbaren sozialen Vorteile, beispielsweise als „Prestige" (Politik als Beruf 1919: Politische Schriften 505-507). Die Klärung des Politikbegriffs wurde in dem Augenblick besonders dringlich, da die Grenzen der Politik im Verhältnis zum Bereich des Individuums wie zu dem sozialer Kooperation neu gezogen wurden. Gerade jung etablierte Demokratien, in welchen der Zusammenhang von Verantwortung und Verfügungskompetenzen geklärt werden musste, sind anfällig für Überanstrengungen der Begriffe. Ein besonders markantes Beispiel ist der Disput zwischen den Staatsrechtslehrern Carl Schmitt und Hermann Heller, deren unterschiedliche Auffassungen 1928 im Rahmen der Veröffentlichung einer Vortragsreihe Probleme der Demokratie deutlich sichtbar wurden. Die Staatslehre hatte ihren Kernbegriff verloren: sie musste aufgrund der Demokratisierung der politischen Ordnung das Verhältnis von Staat und Gesellschaft neu bestimmen. „Staat" indizierte nicht mehr einfach Kaisertum, Armee und überparteiliches Beamtentum und „Gesellschaft" nicht mehr die politischen Parteien gesellschaftlicher Interessengruppen. Carl Schmitt übertrug die Definitionslast vom Staat auf den Begriff des Politischen, der dem des Staates seiner Ansicht nach vorangeht. In der Studie Der Begriff des Politischen von 1927 wird Politik als Konflikt um substantielle Fragen definiert, wobei alle Konflikte politisch sein können, von der Ästhetik bis zur Religion, sofern sie mit jener Intensität geführt werden, die eine Unterscheidung von Freund und Feind erlaubt. Dabei meint Feind immer auch, dass der Konflikt so ernsthaft geführt wird, dass die Möglichkeit seiner Vernichtung nicht ausgeschlossen ist. „Erst im wirklichen Kampf zeigt sich die äußerste Konsequenz der politischen Gruppierung von Freund und Feind" (1928, 6-7). Als Unterscheidung von Freund und Feind festgelegt erhält die politische Ordnung nach Maßgabe der Intensität eines bis auf Leben und Tod zugespitzt gedachten Konfliktes eine Dramatik, die alle parlamentarische Suche nach Kompromissen, budgetpolitische Finanzierungsfragen und das Schmieden von Koalitionen sekundär bis tertiär erscheinen lässt. Hermann Heller hat in seinem Aufsatz Politische Demokratie und soziale Homogenität (1928) in direkter Erwiderung auf Schmitt die Politik als Aufgabe der Organisation politischer Einheit definiert und damit wieder die genannten Aspekte integriert. Die politische Einheit muss zwar im Angriffsfall notfalls auch mit der „physischen Vernichtung des Angreifers" antworten, aber ihr geht die innerstaatliche Einheitsbildung voraus. Politik ist dementsprechend der „dynamische Prozess des Werdens und Sichbehauptens des Staates als Einheit in der Vielfalt seiner Glieder", oder wie Heller pointiert sagt: „Politik kommt von polis, nicht von polemos" (Schriften II 425).

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Nach den ideologischen Kämpfen, die auch nach dem 2. Weltkrieg anhielten, versuchte die Politikwissenschaft, die sich in den westlichen Demokratien in einem starken Nahverhältnis zum bestehenden System entwickelte, den Deutungskämpfen um den Begriff des Politischen zu entkommen und etablierte einen rein heuristischen Politikbegriff, wie er die Begriffstrias von policy, politics und polity kennzeichnet (Rohe 1994, 67): Politik kann die politische Ordnung und ihre normative Verfassung meinen, dann sprechen wir von polity; Politik behandelt aber auch konkrete Entscheidungsprozesse, in diesem Fall ist der Ausdruck politics angebracht. Schließlich behandelt Politik die Frage des Inhalts dieser Entscheidungen, also die einzelnen Politikfelder, was die Politikwissenschaft als policy bezeichnet. Politik ist somit die Verwirklichung von Politik als policy mit Hilfe von Politik als politics auf der Grundlage von Politik im Sinne von polity. Sieht man aber näher hin, steht und fallt der Sinn von politics und policy mit der Klarheit der polity. Soweit wir den Typus der westlichen Demokratie als stabilen Hintergrund politischer Vorgänge annehmen dürfen, so lange sind Deutungskämpfe über die elementaren politischen Strukturen nicht weiter erforderlich. Wird polity aber wieder fraglich, so verschwinden alle Selbstverständlichkeiten, mit denen policy und politics operieren und müssen wieder im Lichte alternativer polity-Modelle verstanden werden. Hier hilft es auch nicht, die klassischen umstrittenen Begriffe, wie den des Staates, zu rein semantischen Rudimenten verlorener Einheitsphantasien zu deklarieren (Luhmann 2000, 189-227). Die Deutungskämpfe um den Begriff des Politischen sind mit dem Siegeszug der modernen Demokratie nicht erledigt, Politik fallt nicht mit demokratischer Politik zusammen. Das hat nicht nur mit der anhaltenden Existenz nicht-demokratischer Regime zu tun, sondern auch damit, dass selbst innerhalb von Demokratien nicht alle Vorgänge und Institutionen nach dem Muster der Demokratie verstanden werden können, sondern auch in der demokratischen Regierungsweise Elemente nicht-demokratischer Herrschaft wirksam werden: von der naturrechtlichen Wertsphäre, die sich der Majoritätsentscheidung entzieht bis zur Bürokratie.

3. Das römische Gesprächsfeld „Rom" ist eine vielgestaltige politische Idee, Inbegriff eines Konglomerats an politischen Vorstellungen, dem man sich gleichsam archäologisch nähern muss. Foucaults Idee einer Archäologie der Ideen könnte hier vielversprechend zur Anwendung kommen (Foucault 1973). Sinnschicht um Sinnschicht lagern übereinander und erzeugen an der Oberfläche ihrer Wirkungen neue Zusammenhänge und Deutungsmuster. Rom ist 1) der Inbegriff imperialer Herrschaft, worunter höchste verwaltungstechnische und militärische Effizienz verstanden wurde. Wer sich erfolgreich in diese Tradition stellen konnte, der sog bereits aus dem Worte „Rom" Legitimität: die Kaiser deutscher Nation, Napoleon und viele kleinere Geister der modernen Zeit versuchten in die Fußstapfen des imperialen Rom zu treten, um mit Hilfe semantischer Anleihen Autorität für sich abzuzweigen. Zugleich ist Rom 2) das Zentrum der katholischen Christenheit und war dies nach dem Schisma von Byzanz und bis zur Reformation unangefochten, wenigstens in Hinblick auf Westeuropa. Das verlieh Rom als Metapher eine politisch-theologische Qualität, eine Heiligkeit, die sich auf ihre weltlichen Repräsentanten übertrug. Beide genannten Sinnschichten haben mit dem Rom der Kaiserzeit zu tun und wirkten besonders auf das Mittelalter ein (Schneider 1925; Schramm 1929; Folz 1969). Noch vor der Kaiserzeit am Ende des 1. vorchristlichen Jahr-

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hunderte stand Rom 3) für die römische Republik und damit für ein Prinzip politischer Organisation, das auf Selbstregierung durch Konstitution magistratischer Macht beruhte. Mit der Entstehung des Republikanismus in der Frühneuzeit ist diese dritte, zugleich die älteste politische Romidee wiederentdeckt worden. Ausgiebige Rezeptionen der römischen Verfassung begleiteten und prägten die beiden bedeutenden konstitutionellen Demokratiegründungen zu Beginn der Moderne, die USA und Frankreich. Dominiert der griechische Diskurs semantisch die politische Theoriesprache, so der römische Diskurs die Semantik politischer Institutionen. Worte wie Senat, Kollegialität, Magistrat, Zensur, Veto, Diktatur gehören zum politischen Sprachschatz wie zur offiziellen Verfassungssprache vieler Länder, die wenigstens im romanisch geprägten Teil des Westens auch den Begriff der Verfassung dem römischen Vorbild entnehmen. Keine Verfassung war so oft und umfassend Gegenstand der Rezeption wie die römische und zugleich war keine so schwer zu durchschauen. Sie war ein historisch gewachsenes Geflecht von festgelegten und unausgesprochenen Normen; sie war nicht das Werk eines Verfassungsgebers, sondern die Summe normativer Reaktionen auf konkrete Probleme (Burck 1962; Meyer 1961; Adcock 1967; Bleicken, 1981) und somit ein über Jahrhunderte anhaltendes gesetzgeberisches Experiment. Seiner Legende nach war Rom eine Gründung des Bruderpaares Romulus und Remus im 8. vorchristlichen Jahrhundert. Es folgte eine Reihe von Königen, die wenigstens dem Mythos zufolge ohne den eigenen Vorteil zu suchen herrschten. Erst der letzte König Tarquinus Superbus provozierte aufgrund seines Übermutes den Sturz durch den seinerseits legendenumrankten Lucius Junius Brutus am Ende des 6. Jahrhunderts. Brutus gründete die Republik als Antwort auf die zur Tyrannis pervertierte Königsherrschaft. Rolle und Macht der Könige übernahm der personal und zeitlich geteilte Magistrat, an seiner Spitze die zwei jährlich zu wählenden Konsuln. Sie konnten nur durch gegenseitige Abstimmung erfolgreich regieren, da jeder Konsul über ein Interzessionsrecht gegenüber Maßnahmen des Kollegen verfügte. Kollegialität und Annuität waren die zwei entscheidenden Grundideen des römischen Politikverständnisses. Die Doppelspitze ist aus der lykurgischen Verfassung Spartas vertraut, wo aber nicht jährlich gewählt wurde. Die Annuität konnte dagegen auf das athenische Vorbild zurückgreifen. In einer festgelegten Laufbahn (cursus honorum) wurden Bürger in die Ämter gewählt und erklommen so eine Hierarchie, an deren Spitze das Konsulat stand. Familien, deren Sprosse zu Konsuln gewählt worden waren, gehörten zum Adel (nobiles). Im Laufe der Jahrhunderte wechselten sich nur einige wenige Adelsfamilien im Konsulat ab. Die mächtigsten Familien wie die Valerier oder Fabier stellten im Laufe der Jahrhunderte jeweils 45 Konsuln (Syme 1992, 24; die Angaben variieren). Diese Zahl wurde nur von der weit verzweigten Familie der Cornelier übertroffen; gleichwohl war eine gewisse Rotation der Macht zwischen den Familien erkennbar und keine Person erreichte eine Spitzenposition ohne die Unterstützung der Familie. Geschlechterverbände wie beispielsweise die Fabier konnten eine beträchtliche Personenstärke aufweisen (Livius nennt 306 Patrizier, zu denen ein noch weitaus größeres Gefolge gehört: II 48-50) und waren so selbstbewusst, dass sie Feinden Roms den Krieg erklärten (Meyer 1961, 31-33). „Familie" bedeutete in Rom weniger Blutsverwandtschaft als ein Beziehungsgeflecht, das auch durch Adoption hergestellt werden konnte (Syme 1992, 24-31) und das geprägt war von der gentilischen Konkurrenz um Ämter, Einfluss und Ruhm. Ehe und Adoption (auch Er-

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wachsener) waren Mittel der Geschlechterpolitik, um politisch nützliche Verbindungen und Bündnisse zu schaffen. Das war zum Beispiel der Fall, als Gaius Julius Caesar seine Tochter mit einem seiner Triumviratspartner, Pompeius, verheiratete. Zum ideellen Erbe einer solchen Familie zählte die über Generationen hinweg angesammelte Gefolgschaft, d.h. Treueund Loyalitätsbindungen, die sie mit anderen römischen Familien oder mit nicht-römischen Städten pflegten. Gleichwohl ging die Würde des Magistrats nominell der Loyalität zum Geschlechterverband vor. Q. Fabius Maximus, Konsul des Jahres 213 v. Chr., verlangte von seinem Vater vom Pferd zu steigen als er ihm begegnete, und zwar als Zeichen seiner „Pietät" gegenüber der res publica, die schwerer wog als jene gegenüber der Familie (Gellius II 2, 13; Mommsen Staatsrecht I, 372-374; Meyer 1961, 241-243). Vorbild war stets der erste in der Reihe der Konsuln, Brutus, der im Amt seine Söhne wegen Hochverrats hatte hinrichten lassen. Die römische Republik war sorgsam darauf bedacht, nicht ohne Not eine Einzelperson in den Vordergrund treten zu lassen. Ausnahmen hiervon waren neben den bekannten Triumphzügen erfolgreicher Feldherrn nur Notsituationen, wenn die Amtsgewalt ohne Kollegialität (sine collega) oder wie im Falle der Diktatur für einen kürzeren Zeitraum mit Bedacht ohne Kollegen ausgeübt wurde. Der gewünschte Regelfall war der Zwang zur Konsultation: die Kollegialität der Amtsträger erzwang die Beratung, ansonsten hätte das Veto des anderen jede Amtshandlung zunichte gemacht. Die politische Beratung hatte ihren institutionellen Ort im Senat, der Versammlung der amtierenden und früheren Amtsinhaber. Der Senat hatte formell keinerlei Kompetenzen und konnte auch nur durch den amtierenden Magistrat zusammengerufen werden. Aber kein Konsul traf Entscheidungen von Gewicht ohne vorherige Konsultation des Senates, d.h. der im Senat versammelten Autorität der in Amtsgeschäften erfahrenen „Väter." Das Consilium war der Schwerpunkt politischer Kommunikation. Die Anciennität prägte den Ablauf der Reden, es begann der ranghöchste und erfahrenste der Magistrate. Im Prinzip der Anciennität wurde der unterstellte Erfahrungsschatz langjährig geübter Magistrate privilegiert. Die Festlegung bestimmter Mindesteintrittsalter betonte noch einmal den Stellenwert der Erfahrung. Wenn die Ämterlaufbahn dem Akteur die nötige Erfahrung vermitteln sollte, die zur Ausübung der höchsten Amtskompetenzen nötig war, so war der Geschlechterverband, aus dem die Kandidaten hervorgingen, der Hüter des in Generationen gewonnenen Erfahrungsschatzes. In Gedächtnisreden zu Ehren einer hochrangiger Persönlichkeiten priesen Verwandte die Taten und die Vorbildlichkeit des oder der Verstorbenen: das Exemplum. Diese Reden hielten die Leistungen des geehrten Toten fest und wurden im Familienarchiv verwahrt bzw. im Haus an entsprechender Stätte aufbewahrt. Der griechische Historiker Polybios berichtete mit dem feinen Gespür des Gastes für die Eigenart einer fremden politischen Kultur ausführlich von einem solchen Leichenzug, in welchem anlässlich des Todes eines Familienmitglieds die Geschichte der gesamten Familie erzählt wurde (Polybios VI 53, 1-54, 1). Diese Familienarchive waren für Historiker aus späterer Zeit wie Livius eine - freilich nicht immer zuverlässige - Quelle zur frühen Geschichte Roms (Cicero, Brutus 62). Nur wenige solcher Gedächtnisreden wurden publiziert, so die von Fabius Maximus gehaltene Gedächtnisrede, die er als Vorlage für seinen Sohn veröffentlichte (Plutarch, Fabius Maximus c. 24; lobend erwähnt bei Cato Maior, De Senectute I 2). Im wesentlichen wurde die Kunst der Politik mündlich und durch Vorbild tradiert, sie war eine eifersüchtig vor dem Zugriff des einfachen Volkes, der Plebs, gehütete Machtressource, die noch zwei weitere Pfeiler kannte: das Recht und die Religion. Die Konsuln erfüllten auch

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sakrale Aufgaben, die während bestimmter kollektiver politischer Aktionen wie den Wahlen prozedurale Macht verliehen: Sie konnten mit der Behauptung, plötzlich ungünstiges Vogelflugverhalten beobachtet zu haben, missliebige Wahlresultate durch schroffen Abbruch des Wahlgangs verhindern. Auch der Pontifex Maximus, der höchste Priester der Republik, wurde von der Bürgerschaft gewählt, der vielleicht berühmteste Amtsinhaber war kein geringerer als Gaius Julius Caesar. Zum Amt der Priesterkollegien gehörte auch die Archivierung der Staatsgeschäfte, die Annalistik, die nur sehr spärlich die gröbsten Daten zur Verfugung stellte. Die enge Verwebung des politischen Geschehens mit dem Sakralen sicherte die Autorität der traditionalen Herrschaftspraxis der Geschlechter. Denn die Fähigkeiten und Kenntnisse zur Amtsausübung konnten nicht einfach durch Lektüre oder Ausbildung erworben werden, sondern wurden als Spezialwissen in den Familien tradiert. Da das Rechtswissen in den Adelsfamilien gesammelt und gepflegt wurde, half es, ihre Macht zusätzlich zu sichern. Sie hüteten dieses Wissen, so dass die schriftliche Fixierung des Rechts im Zwölftafelgesetz durch die Plebs abgetrotzt werden musste. Die Rechtspflege war privat organisiert und wurde vom „Anwalt" ausgeübt, der großen Innovation der politischen Kultur Roms. Noch die berühmten Rechtsgelehrten, deren Rechtsgutachten die Grundlage der Textsammlung des Corpus Iuris Civilis in der Spätantike bildeten, waren weder Wissenschaftler noch Philosophen, sondern gehörten zur forensischen Praxis. Der Anwalt als „Sachwalter" (Fuhrmann 1990) war ein besonderer Typus des politischen Akteurs: Er vertrat „Klienten", die ihm zum Dank politische Unterstützung „schuldeten". Die Übernahme von Rechtsfallen durch Anwälte war oft auch der Beginn einer politischen Karriere. Einer der bekanntesten Anwälte des alten Rom, Marcus Tullius Cicero, besuchte keine Rechtsschule oder Universität, sondern lebte mehrere Jahre im Hause von Q. Mucius Scaevola Augur (nicht der gleichnamige Sohn seines Vetters, der den Beinamen „pontifex maximus" trug), einer der berühmtesten Rechtsberater seiner Zeit. Zu Scaevola Augur kamen täglich Klienten, die Rechtsgutachten oder Rechtsbeistand erbaten. Seine Autorität beruhte auf keiner öffentlichen Funktion oder Ernennung, sondern auf seinem Ruf. „Denn zweifellos ist das Haus eines Rechtsgelehrten (iuris consulti) ein Orakel für das ganze Land. Davon legt die Haustüre und die Vorhalle unseres Quintus Mucius [Scaevola Augur] Zeugnis ab; sie wird trotz seiner angegriffenen Gesundheit und seinem vorgerückten Alter täglich von einer übergroßen Zahl von Bürgern aufgesucht und strahlt im Glänze hochgestellter Männer" (Cicero, De Oratore I 200). Die Klientel demonstrierte ihre Dankbarkeit durch entsprechendes Wahlverhalten bei den Beamtenwahlen und verschaffte dem Anwalt dadurch eine politisch wichtige Ressource. Politische Beratung in Athen war eine Sache der Öffentlichkeit in der Vollversammlung. Die Versammlung der Bürgerschaft in Rom, die in drei verschiedenen Formen abgehalten wurde, spielte für die politische Kommunikation keine große Rolle. Dort wurden nicht Argumente ausgetauscht, sondern Abstimmungen durchgeführt. Die jährlichen Wahlen (Prinzip der Annuität) garantierten zwar die ständige Partizipation des populus, des Volkes, das aber ansonsten nur durch seine Amtsinhaber agieren konnte. Die Bürgerschaftsversammlungen waren streng strukturiert, und zwar nach traditionellen Sozialmustern (Stände) oder nach dem Vorbild der Heeresorganisation. Ihnen fehlten Gesetzesintitiative und Versammlungsrecht: sie wurden vom Magistrat einberufen und wieder aufgelöst und konnten letztlich nur darüber abstimmen, was zuvor der Magistrat für abstimmungsfahig erklärt hatte. Das Volk verfügte zunächst über keine Stimme außerhalb des Magistrats. Es blieb der Plebs nur die Abstimmung mit den Füßen in Gestalt der seditio plebis, des Bürgerstreiks in Gestalt des

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Auszugs aus der Stadt (meist auf den heiligen Hügel Aventin). Dieses Druckmittel zwang die Nobilität oft zu Verfassungsänderungen. Die Plebs erkämpfte den Zugang von Plebejern zum Konsulat und schuf mit dem Volkstribunat eine Einrichtung, dessen revolutionäre Strahlkraft bis zur Französischen Revolution und später reichte. Ausschließlich Plebejern vorbehalten gab das Volkstribunat der Plebs ein permanentes Vetorecht bezüglich der Entscheidungen des herkömmlichen Magistrats. Die Tribunen waren sakrosankt, also dem Zugriff der übrigen Magistrate entzogen. Da sie auch über das Recht zur Gesetzesinitiative verfügten und die plebejische Volksversammlung rascher zu Beschlüssen gelangte als die alte Heeresversammlung, wurden sie zu wichtigen Parallelgesetzgebern, wie es besonders die Gracchen demonstrierten. Sulla beschnitt ihre Kompetenzen, Pompeius stellte sie im 1. vorchristlichen Jahrhundert wieder her. Die römische Republik auf ihrem Höhepunkt

(Polybios)

Rom konsolidierte seine Vormachtstellung in Italien durch zahllose Kriege im 5. und 4. Jahrhundert, um sodann auch ältere und kulturell weit überlegene Mächte außerhalb Italiens wie Karthago in den Punischen Kriegen und Griechenland in den Makedonischen Kriegen zu bezwingen. Zu Beginn des 2. Jahrhunderts v. Chr. dominierte Rom die Welt des Mittelmeers, das von den Römern nun stolz „mare nostrum" genannt wurde. Die Schlacht von Pydna 168 v. Chr. und die militärische Überwindung Griechenlands wurde von Zeitgenossen wie Polybios und Cato als Epochenmarke verstanden. Die Römer gelangten zur Höhe ihrer politischen Leistungsfähigkeit ohne eigene Literatur. Es waren nicht Römer, sondern Italiker, die zuerst die Schriftsprache prägten: Livius Andronicus, Terenz, Plautus, Ennius (Klingner 1965, 37). Erst die Sorge um die Fremdwahrnehmung Roms im mittelmeerischen Raum initiierte am Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. das erste römische Geschichtswerk, das Fabius Pictor auf griechisch schrieb, um fur die Sache Roms zu werben (Beck/Walter 2001, S. 55-136; Flach 1998). Nach der Niederlage der Römer gegen Hannibal bei Cannae leitete Fabius Pictor eine Gesandtschaft zum Heiligtum des Apoll zu Delphi, die bei der Gottheit in der verzweifelten Situation um Rat suchen sollte und auf dieser Reise dürfte der Römer erlebt haben, wie wenig die griechische Kulturwelt den Römern gewogen war (Büchner 1962, 62-69). Rom war nun eine Großmacht. Was aber machte es so mächtig? Diese Frage zu klären motivierte den Griechen Polybios (200-118 v. Chr.) zur Abfassung seiner Römischen Geschichte (Kagan 1965; Ottmann 2002, II/l, 52-79). Polybios, aus Megapolis in Arkadien stammend, hatte sich zuvor mit verschiedensten Genres der politischen Schriftstellerei befasst, so mit der Politikerbiographie und der Kritik anderer Biographien (gegen die PyrrhosBiographie des Timaios). Polybios war zudem Geograph, Militärtheoretiker (Taktika) sowie Militärhistoriker (Geschichte des Numantischen Krieges) und nicht zuletzt selber politisch tätig gewesen, und zwar im Achaischen Bund. Er war 169/8 dessen Reiterführer im Makedonischen Krieg und kam als Teil einer Gesandtschaft des Bundes 168 nach Rom, wo er als politische Geisel zwecks Implementierung des Friedensvertrages in Rom interniert wurde. Trotz römischer Erlaubnis zur Rückkehr nach Megapolis blieb Polybios 152 in Rom, wo er bei den Scipionen Gastfreundschaft genoss. Er begleitete vermutlich 151/150 Scipio Aemilianus auf dem Spanischen Feldzug. In 146 ist noch eine Reise an die Küste Portugals bekannt. Vor 150 schrieb er die ersten drei oder vier Bücher seiner Historien, Buch 16 ist etwa auf 147/146 zu datieren, d.h. während des Dritten Punischen Krieges, den er in Begleitung des Scipio Aemilianus erlebte und auf dem er zum Augenzeugen der Zerstörung Karthagos wurde.

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Im Scipionen-Kreis (Straßburger 1966) versammelten sich Schriftsteller wie Polybios und Cicero stilisierte sie später während der Krise der Republik zum Inbegriff der römischen Politiker. Folgt man vom Palatin kommend der Via San Sebastiano stadtauswärts, gelangt man an Villen vorbei zum Grab der Scipionen. Es liegt noch ein ganzes Stück vor der Porta San Sebastiano an der Aurelischen Stadtmauer, von der die Via Appia ausgeht. Das Grab ist äußerlich unauffällig und beherbergt mit den Scipionen doch ein gutes Stück altrömischer Tradition. In diesem sollen sich auch die Überreste des Dichters Ennius befunden haben, der Dichter der Annalen, der von römischen Autoren gerne zitiert wurde und eine Stellung einnahm, die der Homers bei den Griechen ähnelte. Ennius fasste die Autorität des aus praktischer Übung hervorgehenden Erfahrungsschatzes ganzer Politikergenerationen in Worte: „Moribus antiquis res stat Romana virisque", die überlieferten Sitten und Männer von dieser Art errichteten Rom (Cicero, De re publica V 1). Polybios repräsentierte nicht die athenisch-philosophische Variante des griechischen Geistes, sondern das militärisch-historische Erbe in xenophontischer Tradition. Für Polybios war historisches Wissen die wichtigste Richtschnur fur politisches Handeln, die Politik galt ihm als vornehmster Gegenstand historischen Forschens (Historien I 1,5; VI 2,3). Nicht von ungefähr widmete sich Polybios beispielsweise ausfuhrlich der militärischen Verfassung Roms. Die Historien sind nur zu einem knappen Drittel überliefert und hiervon hat im wesentlichen nur das (fast vollständig erhaltene) sechste Buch ideengeschichtliche Geltung. Im Mittelpunkt steht die römische Zivil- und Militärverfassung. Zunächst behandelte Polybios allgemein das Thema der Verfassung, und zwar nach theoretischen Gesichtspunkten (VI 218); dann erörterte er die Heeresverfassung der Römer, die er mit größter Aufmerksamkeit und der Liebe des Fachmanns zum Detail schilderte (VI 19-42); anschließend verglich er die römische mit anderen Verfassungen, die vorher wegen ihrer Perfektion gerühmt worden waren, darunter die spartanische und die kretische und skizzierte vergleichend ihre Vor- und Nachteile (VI 43-57). Abschließend kam er wieder auf die Schilderung der historischen Ereignisse zurück und setzte den Bericht mit Hannibals Feldzug nach dem Sieg von Cannae fort (VI 58). In dieser ersten umfassenden Analyse des römischen politischen Systems griff Polybios auf die griechische Regierungslehre zurück, passte sie aber den römischen Gegebenheiten an und formte sie zur Mischverfassungstheorie um. Hierzu konnte Polybios auf eine offenkundig umfangreiche hellenistische Diskussion zurückgreifen (Aalders 1968, 85); ideengeschichtlich ist die Mischverfassungstheorie aber mit Polybios wie mit keinem zweiten Theoretiker verbunden (Nippel 1980; Bose 1989). Aristoteles ging bei den meisten politischen Systemen Griechenlands von der Mischung von Demokratie und Oligarchie aus {Politik V: 1301b), andere Mischformen ließ er unberücksichtigt. Erst im Spätwerk Piatons wurde die spartanische politische Ordnung als Mischung monarchischer, aristokratischer und demokratischer Elemente bezeichnet (Nomoi III: 691d-692a; Aalders 1968, 38-49), und stellte gerade die Mischung als besonderen Vorzug heraus. Die hippokratische Lehre von der richtigen Mischung der Körpersäfte als Voraussetzung von Gesundheit trug hier zur Plausibilität der Mischverfassungslehre bei (Nippel 1980, 21). Polybios variierte nun Aristoteles' Sechsfelderschema der Verfassungslehre, in welcher quantitative Partizipation und qualitativer Charakter der Regierungsausübung kombiniert waren. Er ordnete die Demokratie nicht der nur am Eigenwohl interessierten Regierung aller zu, sondern setzte sie an die Stelle, die bei Aristoteles der Politie vorbehalten war. Der Demokratie steht nun die Ochlokratie gegenüber, die Herrschaft des Pöbels (Welwei 1966). Sparta

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war auch für Polybios das Vorbild einer ideal gemischten Verfassung (Historien VI 3, 8). Maßstab des Ideals war aber kein philosophischer wie bei Piaton, sondern die Stabilität der Ordnung. Eigenwohlregierte Herrschaftstypen verstand Polybios als „entartet" im Sinne einer Degenerationserscheinung. Die Degeneration gehörte fur ihn zu einem gleichsam natürlichen Prozess der Verfassungsentwicklung, dem alle politischen Systeme folgen, wonach auf Entstehung, Wachstum und Blüte unweigerlich der moralische Niedergang folgt (Historien VI 9, 12). Daraus folgt ein zyklisches Modell des Verfassungswandels. Um den zunächst unvermeidlich erscheinenden Niedergang einer Verfassung aufzuhalten, empfiehlt Polybios die Mischung der unterschiedlichen Regierungsformen. Er zählte die römische Verfassung zu den besten, weil sie aufgrund ihrer Mischverfassungsstruktur den mit den Punischen Kriegen erreichten Zenith sehr lange aufrecht erhalten konnte (Aalders 1968, 85106; Graeber 1968). Die römische Verfassung vermischte nämlich erfolgreich monarchische Elemente in Gestalt der Konsuln, mit aristokratischen (Senat) und demokratischen Faktoren (Volk). Das erfüllte neben der machtaufteilenden auch eine machterhaltende Funktion, da die einzelnen Machtelemente auf die Kooperation mit anderen Teilen angewiesen waren und so - gleichsam wie in einem Wettbewerb stehend - ein hohes Leistungsniveau zu halten vermochten (VI 18, 1-8). Die Mischverfassungstheorie wurde über Polybios hinaus fortentwickelt. Bei Cicero war sie nicht nur eine institutionentheoretische Überlegung zur Vermischung unterschiedlicher Regierungstypen, sondern eine Theorie der Verbindung und gegenseitigen Hemmung unterschiedlicher sozialer Trägergruppen, deren latenter Konflikt durch die Mischverfassung befriedet werden sollte. Cicero verband die Mischverfassung mit speziellen politischen Leistungsvermögen, die ungleich in der Bürgerschaft verteilt waren, durch die Mischung zusammenwirkten und auch nur auf diese Weise die Republik erhielten. Die Amtsträger sorgten sich um das Gemeinwohl (cura), die Senatoren berieten die nötigen Handlungen (consilium) und das Volk sicherte die Freiheit (libertas), indem es darüber wachte, dass kein Magistrat seine Kompetenzen überschritt. Mit dem römischen Kaiserreich verlor das Mischverfassungsmodell seine Anwendungsmöglichkeit, in der Diskussion der Beteiligung der verschiedenen sozialen Schichten während der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts kam es aber wieder zu Ehren und wurde als ein eigener Regierungstyp wiederentdeckt (Nippel 1980, 18). Mit der formalen Gleichheit der Bürger und ihrer gleichberechtigten Partizipation, die seit den Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts die politische Theorie beherrschte, verlor die Mischverfassungstheorie wieder die Aufgabe der Koordination der verschiedenen sozialen Kräfte einer politischen Ordnung (Wember 1977, 232). Es blieb nur die institutionelle Ebene übrig, wo die speziellere Idee der Gewaltenteilung als neuere Theorie der Machtteilung die Mischverfassung ablöste (Riklin 1987, 2006). Nach Polybios ermöglichte die römische Regierungsweise im Kriege einen hohen Grad der Kooperation, im Frieden führte sie zur gegenseitigen Beaufsichtigung, was eine Degeneration der einzelnen Teile aufhielt. Im Vergleich der Verfassungen zueinander und zumal im Vergleich der römischen mit der griechischen politischen Kultur hob Polybios hervor, dass die Gottesfurcht die römischen Eide und damit die Amtsführung ihrer Beamten weitestgehend korruptionsresistent erhält (VII 56, 6-15). Daher warnte er abschließend davor, dass die römische Verfassung unaufhaltsam dem Niedergang zusteuerte, sobald die Elite aufgrund der nachlassenden außenpolitischen Bedrängnis und wegen ihres anwachsenden Reichtums für eine luxuriöse Lebensweise empfanglich wurde (VI 57).

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Zur luxuriösen Lebensweise gehörte auch die Nachahmung der griechischen Kultur in den römischen Bildungsschichten. Die Aufgeschlossenheit der Scipionen gegenüber der griechischen Kultur war nicht selbstverständlich. Der scipionischen Griechenfreundschaft stand eine griechenfeindliche Fraktion gegenüber, die vom älteren Cato angeführt wurde. Marcus Porcius Cato (234-149), war in vielerlei Hinsicht einer der repräsentativsten Politiker des altrepublikanischen Rom (Kienast 1979). In Lebensweise und Wertordnung traditionell orientiert, widmete er sich der Bekämpfung fremder, zumal griechischer Sitten, weil er sie als Gefahr für die römische moralische Verfassung ansah, auf der das politische System ruhte. Sein Bestreben galt der Wiederbefestigung der res publica, die er nicht als Tummelplatz ehrgeiziger Politiker verstanden wissen wollte. Die Taten der Einzelnen mussten in seinen Augen der Förderung des Gesamtwohls dienen. Bei der Einhaltung dieses Maßstabs zeigte sich Cato innovativ, auf ihn ging der Bau der ersten öffentlichen Basilika zurück, der Basilica Porcia. Die altrepublikanische Fraktion erwirkte im Jahre 161 die förmliche Ausweisung der griechischen Rhetoren und Philosophen aus Rom, welcher Polybios nur durch Intervention seiner Gastgeber entgehen konnte. Als die politisch und militärisch zur Bedeutungslosigkeit herabgesunkenen Athener im Jahre 155 eine offizielle politische Gesandtschaft nach Rom zusammenstellten, wählten sie mit Bedacht drei Philosophen und nicht Politiker als Repräsentanten aus: Karneades als Haupt der Akademie, Diogenes (240-152 v. Chr., nicht zu verwechseln mit dem Kyniker, der wegen seiner Lehre der Luxusverweigerung berühmt war) vertrat die Stoa und Kritolaos war Aristoteliker. Während die platonische Akademie und der aristotelische Peripatos im wesentlichen die Lehren ihrer Schulgründer verwalteten, besaß alleine die Stoa theoretische Innovativkraft. Diese Philosophieschule, benannt nach der Stoa poikile in Athen, war von Zenon von Kition (etwa 335-263) begründet worden, Chrysippos von Soli (etwa 280-206) der wichtigste Fortsetzer (Schofield 1991; Scholz 1998). Von ihrem gewaltigen Werk (Chrysippos werden über 700 Bücher zugeschrieben) sind nur Fragmente erhalten. Die Stoa war eine Reaktion auf die zahlreichen Bürger- und Bruderkriege der griechischen Stadtstaaten. Sie konzentrierte sich auf den Menschen als Vernunftwesen unabhängig von seiner sozialen und politischen Zugehörigkeit. Mit der Ausbreitung des Hellenismus - des kontinentalen griechischen Hegemonialbereichs von Europa bis zum heutigen Afghanistan, den Alexander der Große begründete - wurde ohnehin die primär stadtstaatlich orientierte Politik zugunsten einer imperialen Orientierung politischen Handelns ersetzt. Zugleich war angesichts der zahlreichen politischen und sozialen Differenzen innerhalb dieses hellenistischen Imperiums letztlich nur die Kultur das einigende Band. Die Brücke zwischen dem griechischen und römischen Zweig der Stoa bildete Panaitios aus Rhodos (etwa 189-109). Panaitios war mit Polybios in Rom gewesen und verkehrte auch im Scipionenkreis. Cicero nahm in Athen Unterricht bei Poseidonios, dem Schüler des Panaitios, dessen Werk in Ciceros Schriften seine Spuren hinterließ (Steinmetz 1967; Lefevre 2001). Während diese griechische Philosophengesandtschaft in Rom weilte, stellte der Stoiker Karneades (214/213-129/128 v. Chr.) die Kunst seiner argumentativen Fertigkeit dadurch unter Beweis, dass er vor römischen Publikum an zwei Tagen über die Gerechtigkeit im Verhältnis zur Politik sprach. Am ersten Tag wies er den Vorrang der Gerechtigkeit nach, am zweiten aber den Vorrang der Machtpolitik, und dies in beiden Fällen mit solcher Überzeugungskraft, dass die Römer zutiefst beeindruckt waren. Unter den Zuhörern des Karneades befanden sich Marcus Cato und Quintus Mucius Scaevola, der spätere Augur, die energisch gegen diese intellektuellen Übungen protestierten, die ihnen angesichts der Ernsthaftigkeit

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der Themen wie frivole Spielereien vorkamen und die Ausweisung der griechischen Philosophen veranlassten. Cato trug den ehrenden Beinamen Censorius in Anerkennung seiner Verdienste als Zensor. Die beiden auf fünf Jahre gewählte Zensoren bearbeitete die Bürgerlisten (den Zensus) und ordneten die Wahlklassen nach dem Einkommen. Damit bestimmten sie auch die Zugehörigkeit zum Ritterstand, d.h. zu jenem Stand, dessen Angehörige sich kraft ihres Einkommens als Kavallerist ausrüsten konnten. Vor allem aber prüften sie die Würdigkeit der Mitglieder des Senates, wie sie generell moralische Verfehlungen der Bürger bestrafen konnten. Dieses Amt reflektierte das Ideal der altrömischen politische Kultur, die im selbstgenügsamen und seinen Lebensunterhalt selbständig erwirtschaftenden Bauer die sozio-moralische Grundlage der Republik sah. Der Bürger als Bauer war in diesem Bild zum aufopferungsvollen Dienst am Gemeinwohl bereit, um hernach wieder an den Pflug zurückzukehren (Cincinnatus). Der Bauer bildete auch den Kern der römischen Legion: da alle Bürger für ihre Waffen selbst aufkommen mussten, war eine Verzahnung von sozialer und militärischer Stellung nahe liegend. Der Bauer bildete das Rückgrat sowohl des Heeres wie der Volksversammlung und übte auch eine mäßigende Wirkung auf die politische Willensbildung aus. Die agrarisch-rurale Grundlage der römischen Bürgerschaft änderte sich unversehens mit Marius' großer Heeresreform (104). Marius rettete in äußerster Not die Republik militärisch, indem er die soziale Herkunft des Heeres nicht mehr traditionell auf die Bauern mit Bürgerstatus beschränkte und so ein Massenheer aufstellen konnte. Mit der Aufnahme in das Heer war das Bürgerrecht verbunden. Damit schuf er aber auch eine völlig neue Form des politischen Klientelismus: den Veteranen, der nach abgeschlossenem Feldzug nicht wieder auf den Bauernhof zurückkehrte, sondern in der Stadt blieb. Schon die von den beiden Gracchen (133-121) unterstützten Ackergesetze wollten das Problem der Versorgung insbesondere des städtischen Proletariats, das sich nun mit Marius' Heeresreform erheblich verschärfte, mit öffentlichem Land lösen. Das Proletariat wuchs in die Hunderttausende und formte eine frei flottierende Menge mit leicht käuflicher Stimme, die nun das Publikum der politischen Agitation und Propaganda bildete. Im Triumvirat, dem informellen Machtbündnis von Pompeius, Caesar und Crassus nach 60 v. Chr. vereinten sich private Mittel und militärischer Klientelismus zur Beherrschung der Republik. Aus dem magistratisch definierten Gemeinwohl wurde ein Oligopol der Macht, das mittels seiner Anhänger das politische Geschehen in Rom beherrschte. Gewaltige Geldmittel wurden zur systematischen Wahlbestechung aufgebracht, Kandidaten aufgeboten, die letztlich Befehlsempfanger der Triumvirn waren und so die magistratische Ordnung sukzessive aufgehoben. Zur privaten Konferenz von Lucca im Jahr 56 v. Chr. versammelten sich nach Berichten Plutarchs und Appians (Christ 1984, 309) um Caesar und Pompeius an die 200 Senatoren und 120 Liktoren (Amtshelfer amtierender Magistrate), eine für damalige Verhältnisse ungeheure Zahl und damit eine mächtige Demonstration der Klientel innerhalb der Bürgerschaft. Gaius Julius Caesar entstammte einer der ältesten Familien Roms, suchte aber nicht in der Nobilität seine Anhänger, sondern warb beim Volk um Gefolgschaft, darin der Tradition des mittlerweile verstorbenen Marius folgend, mit dem er verwandt war. Nach seinem Konsulat erbeutete er in seiner prokonsularischen Zeit in Gallien ein gewaltiges Vermögen, das er in eine umfangreiche Bautätigkeit auf dem Marsfeld und dem Forum (Forum Julianum) inves-

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tierte und darüber hinaus sponsorte er zahlreiche Massenfestivitäten, alles Maßnahmen im Kampf um die Gunst der Menge (Wiseman 1994, 406-407). Die Gunst der Senatspartei und der Nobilität versuchte Caesar mit der Niederschrift (52/51) seiner Geschichte des Gallischen Krieges zu gewinnen, so wie er später mit seinen Kommentaren zum Bürgerkrieg die schwankenden Familien auf seine Seite ziehen wollte. Die Krise der Republik mündete in den Bürgerkrieg und in die Diktatur Caesars auf Lebenszeit. Dem Vorbild Caesars folgte das Prinzipat des Augustus, der durch Ämterhäufung auf Lebenszeit das Ende der Republik herbeiführte. Dies war dann der Beginn des Kaisertums. Caesar war daher nicht nur eine Gestalt der Geschichte, sondern wurde selbst zur politischen Idee (Gundolf 1925). War seine Diktatur die nötige Überwindung einer korrupten Oligarchie der Geschlechterverbände und die Begründung des modernen Staates, wie Theodor Mommsen im 19. Jahrhundert meinte, oder war er ein Menetekel der Demokratie, die stets zur Alleinherrschaft neigte, wenn sie aus sich heraus ihre Probleme nicht zu lösen verstand, so wie Napoleon Bonaparte auch die Französische Revolution beendete (Canfora 2004)? Die Verlagerung politischer Macht außerhalb der institutionellen Bahnen der Republik bekämpfte insbesondere Cicero, der im Laufe dieses Kampfes noch einmal die Verfassung der alten Republik reflektierte und auch idealisierte. Krise und Ende der römischen Republik (Cicero, Sallust) Marcus Tullius Cicero (106-43) war der wichtigste politische Theoretiker Roms (Wood 1988; Fuhrmann 1990; Ottmann 2002 2/1, 77-129), aber er war auch immer selbst ein politischer Akteur; was ihn nicht nur zum typischen Repräsentanten dieser zutiefst praktisch denkenden Zivilisation macht, sondern auch die Interpretation seiner Theorie erschwert, da seine Publikationen immer aus strategischen Motiven erfolgte. Wenn Cicero die römische Republik beschrieb, so nicht aus dem Blickwinkel des Historikers, der über frühere Zeiten berichtet, sondern weil er bestimmte Koalitionen schmieden wollte. Der aus Arpinum Zugezogene erlernte mit jungen Jahren im Haus von Quintus Mucius Scaevola Augur die forensische Anwaltstätigkeit (Fuhrmann 1990, 22-24) und durchlief die klassische Ämterlaufbahn, die er mit dem Erreichen des Konsulats im Jahr 63 krönte. In Sallusts Augen blieb Cicero trotz seiner hervorragenden Fähigkeiten als Politiker und Redner der dauerhafte Erfolg versagt, weil er keiner der alten Familien zugehörte und daher nicht über genügend Gefolgschaft verfügte (Sallust, De coniuratione 23). Cicero konnte kein Ansehen durch familiäre Zugehörigkeit erben, sondern musste durch eigene Leistungen Ansehen erlangen. Als Neumitglied des Patriziats war er ein „homo novus" (Plutarch, Cato maior c. 1). Er versuchte diesen Mangel an traditionaler Unterstützung ideologisch zu kompensieren durch seine Beschreibung, ja Verherrlichung des altrepublikanischen Roms. Damit opponierte er zunächst gegen das Politikverständnis der Triumvirn, bekämpfte allen voran Caesar (Strasburger 1990), aber er wechselte auch die Fronten, unterstützte am Ende sogar Caesar öffentlich, was seiner Reputation erheblich schadete, und zwar unter Zeitgenossen wie seinem Bild in der Ideengeschichte. Gleichsam in Vorwegnahme der späteren Revolte gegen Caesar, dessen permanente Diktatur das republikanische Regierungsprinzip der Rotation außer Kraft setzte, widmete Cicero verschiedene seiner Schriften (Brutus, Orator, De natura deorum, De Finibus) dem späteren Caesar-Mörder Marcus Junius Brutus (85-42 v. Chr.). Brutus war über seine Mutter Servilia mit Cato Uticensis (ihrem Halbbruder) verwandt. Des Uticensis Urgroßvater Cato Censorius wurde von Cicero und dann von Brutus verherrlicht (Cato). Auf diesen ideologisch motivier-

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ten Erinnerungsappell an die Ideale der Republik antwortete Caesar mit einer kleinen Schrift namens Anticato. Brutus begleitete Cato auf seine Mission nach Zypern (58-56), kämpfte auf Seiten des Pompeius gegen Caesar im Bürgerkrieg, wurde später aber von ihm begnadigt und sogar in Caesars Freundeskreis aufgenommen, bevor er ihn ermordete. Im November 42 gab er sich nach erfolglosem Kampf gegen die Caesar-Erben selbst den Tod. Er stand in engem Kontakt mit Cicero, dem er wiederum seine eigene Schrift De Virtute gewidmet hatte. Diese altrömische „Tugend" wurde um so mehr literarisch beschworen als ihre handlungsbestimmende Kraft nachließ. Sinnbild der moralischen Krise der Republik war Clodius Pulcher. Aus altem Adel stammend verursachte er einen Skandal, als er im Jahr 62, um seiner Geliebten nahe zu sein, sich in Frauenkleider gehüllt auf das Fest der „Bona Dea" schlich, das nach alter Tradition den Frauen vorbehalten war. Das Fest hatte im Stadthaus Caesars stattgefunden, der zu diesem Zeitpunkt Pontifex Maximus war. Clodius wurde entdeckt und vor Gericht gebracht, das ihn aber nach massiver Richterbestechung mit Hilfe von Crassus freisprach. Da Clodius auch politische Ambitionen zeigte, vermutlich in konzertierter Aktion mit Caesar, klagte Cicero ihn im März 59 an. Drei Stunden nach Ciceros Angriffen ließ sich Clodius von einem Plebejer adoptieren und verkündete seine Kandidatur zum Volkstribunat, in das er im Dezember des gleichen Jahres gewählt wurde. Damit hatte auch schon ohne den Bürgerkrieg eine anarchische Zeit in Rom begonnen (Wiseman 1994). Schon in Ciceros Amtszeit als Konsul im Vorjahr 63 war es zur Verschwörung des Catilina gekommen. Cicero hatte sie niedergeschlagen und die Hinrichtung Catilinas ohne Prozess veranlasst. Diesen Umstand nutzte Clodius Pulcher nun und initiierte ein Gesetz gegen prozesslose Hinrichtungen, was gegen Cicero gerichtet war und ihn ins Exil trieb. Neue politische Konstellationen ermöglichten zwar seine Rückkehr, aber Cicero musste einsehen, dass er keine selbständige Politik mehr betreiben konnte, sondern sich mit der Tatsache des Triumvirats abfinden musste. Daher zog sich Cicero stärker aus dem politischen Leben zurück und schrieb De Oratore (55) begann De re publica (54, beendet 52) sowie De legibus (begonnen 52, posthum veröffentlicht) aus einer gewissen Distanz zum Tagesgeschehen. Anhänger der alten Republik wie Brutus konnten keine Antwort geben auf die Frage, welche Caesar mit der dauerhaften Diktatur beantwortete: Wie konnte das in die Hunderttausende gehende Stadtproletariat in die altrepublikanische Magistratsverfassung integriert werden? Auch die berühmten Ackergesetze der Gracchen waren letztlich nichts anderes als der Versuch gewesen, diese Bevölkerungsströme zu kanalisieren. Alle Pläne waren an der Nobilität gescheitert. Erst Caesar nahm sich erfolgreich des sozialen Problems an und verringerte die Zahl der Proletarier von 320.000 auf 150.000 (Heuss 2003, 212; vgl. Will 1991; Malkin/Rubinsohn, 1995). Das modern gesprochen „polizeiliche" Ordnungsproblem hatte angesichts der ursprünglich für eine agrarisch geprägte Bürgerschaft errichteten Republik eine verfassungspolitische Dimension größten Ausmaßes (Nippel 1988). Das Problem wurde schließlich akut, als die Politik unterhalb der magistratischen Ordnung auf der Straße ausgetragen wurde und die Plebs in Banden organisiert durch Gewalttätigkeit die politische Willensbildung verfälschte. Die magistratische Ordnung versagte zusehends, die alten Formen der republikanischen politischen Willensbildung waren zur Fassade geworden. Das Hinauszögern der Konsulatswahlen bis in den Juli 53 hinein war ein sicheres Anzeichen hierfür; nur die Volkstribunen konnten gewählt werden. Nun setzte der Wahlkampf um das Konsulat des Jahres 52 ein. Der Wahlkampf glich immer stärker offenen Straßenschlachten der konkurrierenden Gruppen (Nippel 1988, 108 und 128-135; Lintott 1968, 74-87 zu den „gangs"). Die Senatspartei rea-

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gierte auf die Straßenbanden des Clodius mit der Bildung eigener Schlägertrupps unter der Führung von Milo dem „Condottiere" des Senates, der den Kampf mit Clodius, dem „Agitator" der Triumvirn aufnahm (Büchner 1982, 16). Zufälligerweise begegneten sich auf der Via Appia Milo und Clodius am 18. Januar 52 und im Handgemenge erschlugen Milos Begleiter Clodius. Nun eskalierten die Kämpfe: Clodius' Anhänger bahrten seinen Leichnam in der Kurie auf, wo die Tribunen (unter ihnen C. Sallustius, der spätere Historiker der Catilinarischen Verschwörung) die Totenreden hielten. Die aufgebrachte Menge entfachte einen Scheiterhaufen, Kurie und Basilica Porcia gingen in Flammen auf und der Senat beauftragte einen jeweils auf fünf Tage gewählten Interrex sowie die Volkstribunen und den Proconsul Pompeius mit der „Sorge um die Republik", der alten Formel für die Ausnahmegewalt. Diese Sondervollmachten erlaubten es Pompeius, eine eigene Truppe aufzustellen und so die Lage zu stabilisieren. Zugleich verteidigte Cicero Milo vor Gericht, der des Mordes an Clodius angeklagt war, verlor aber den Prozess angesichts der wütenden Menge. Pompeius wurde schließlich zum Alleinkonsul (Consul sine collega) gewählt. Während Caesar in Gallien aufgehalten war, weil er den Aufstand des Vercingetorix niederschlagen musste, führte Pompeius in Rom die Prozesse gegen Caesars Anhänger, um die Senatsseite zu stärken. So in die Enge getrieben entfachte Caesar den Bürgerkrieg. Cicero überlebte Caesars Tod, mit dem er nichts zu tun hatte, wurde aber im Zuge der Verfolgung der Caesarmörder seinerseits ermordet. Nach Caesars Tod beendete Cicero De officiis (44), eine Arbeit, die in Mittelalter und Neuzeit neben Aristoteles den vielleicht größten Einfluss eines Einzelwerks ausübte. Cicero wurde als wichtigste Referenz der republikanischen Theorie rezipiert. In der nur fragmentarisch überlieferten Schrift De re publica (man kannte nur längere Zitaten bei Augustinus bis 1820 unter der Abschrift eines Psalmenkommentars des Augustinus das Palimpsest großer Teile der Schrift Ciceros entdeckt wurde) definierte Cicero das politische Gemeinwesen als res publica {De re publica I 39; vgl. Dyck 1990). Für Cicero bildete die rechtliche und moralische Übereinstimmung der Bürger die Grundlage der politischen Gemeinschaft {De re publica 115, 39). Die res publica galt als Stätte persönlicher Bewährung in öffentlicher Sorge um das Gemeinwohl. Die Definition der res publica beruhte auf ihrer Identifikation mit dem populus. Was aber war der populus? Wir übertragen den Begriff traditionell mit unserem Wort „Volk". Dadurch kann jedoch die damit zum Ausdruck gebrachte politische Problemkonstellation, auf welche Cicero reagierte, aus dem Blick geraten. Seine politischen Arbeiten entstanden vor dem tagespolitischen Hintergrund. Er wollte das Stadtproletariat in die Bürgerschaft integrieren, aber es so wenig wie nötig an der Politik partizipieren lassen. Cicero löste das Problem begrifflich, indem er die Menge bzw. Masse (multitudo) aus dem Sinnbezirk des Volksbegriffs „populus" aussonderte. Darauf weist der consensus iuris (Rechtskonsens) als Merkmal des populus hin, eine in der Latinität zuvor unbekannte Vorstellung (Büchner 1964,218). In Situationen der Discordia (Zwietracht) bzw. der Seditio (Aufstand) mussten laut Cicero die Stimmen gewogen, nicht gezählt werden {De re publica VI 1), das heißt, er bevorzugte eine Abstimmung nach Ständen vor der nach Köpfen. Cicero konnte freilich nicht die Existenz der plebs urbana leugnen und verlangte daher allen politischen Akteuren die Fähigkeit ab, in Kenntnis der Seelenlage des Volkes zu handeln {De re publica V 2). Das schloss freilich eine Partizipation oder eine eigene Repräsentation, wie sie das Amt des Tribunen, aus, denn das Tribunat war immer mehr zur Plattform fur Agitation geworden, zu einem populären Instrument der anti-senatorischen Politik, wie sie im vorherigen Jahrhundert die von

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Cicero scharf verurteilten Gracchen und wie es Ciceros persönlicher Feind, Clodius Pulcher, verkörperten. Cicero nahm nur in seinen zahlreichen Reden explizit Stellung zur Tagespolitik; in den Schriften bezog er einen generellen Standpunkt. De oratore wie De re publica und De legibus waren als fiktive Gespräche zwischen bedeutenden Persönlichkeiten aus dem 2. Jahrhundert konzipiert, darunter die Scipionen, Scaevola oder der berühmte Redner Crassus. Cicero wollte mit diesen Protagonisten an die republikanische Verfassung erinnern, die er weiterhin als die beste erachtete. Dies zeigte sich auch an den Politikern, die sie hervorgebracht hatte, allen voran die Scipionen. Sie verkörperten, was Ciceros theoretisches Hauptanliegen war: den Vorrang der Praxis vor der Theorie. Ein nur der Spekulation zugewandter Philosoph war weniger bedeutsam für die Politik als ein Praktiker, selbst wenn er neben der sapientia auch die prudentia behandelte. So war Cicero bei aller Rezeption der griechischen Stoa immer um die römische Perspektive des politischen Akteurs bemüht. Gleichwohl hob Cicero immer hervor, dass er die Philosophie nicht um ihrer selbst willen, sondern um der Fähigkeit zur Ausübung praktischer (und das heißt hier immer auch: politischer) Aufgaben willen erlernte (Bringmann 1971, 230-233). Diese Grundhaltung wirkte sich auch auf Ciceros Verständnis der Rhetorik aus. Der in der Politik Handelnde ist der Redner. Der Redner leiht der Vernunft das Wort und setzt sie im sprechenden Handeln in die Tat um. Die Rhetorik darf laut Cicero nicht von der Philosophie getrennt werden, „ratio" und „oratio" gehören zusammen (De inventione 1, 1,2; De Officiis I 50; De Oratore 3, 56-58). Der gute Redner ist zugleich Philosoph in dem Sinne, dass er in der sapientia bewandert ist: im Wissen um die politischen Fragen und im Wissen um die Tugend. Der gute Redner weiß nicht nur viel, er ist auch im ethischen Sinne gut, und zwar sowohl als Mensch wie als Bürger (Orator 21, 70-72). Die Angemessenheit seines Handelns (das Decorum) ist vom Kontext abhängig: für die politische Praxis ist neben der sapientia vor allem prudentia nötig, der ciceronianische Inbegriff politischen Urteilsvermögens (De Officiis I 43, 153). Ob prudentia bei Cicero nur die griechische phronesis übersetzt oder aufgrund des Einflusses stoischen Denkens den Inhalt änderte, ist umstritten (Kahn 1985, 201; Seigel 1968, 20). Die Fähigkeit zur praktischen Überzeugung von der Richtigkeit des Urteils ist jedenfalls im Bereich der Politik entscheidend (De Officiis I 43, 153). Für die Politik wie für alle Praxis lassen sich allgemeine Prinzipien und Regeln nur annäherungsweise bestimmen: die konkrete Situation, auf welche die Urteilskraft reagieren muss, ist zu komplex, um durch eine abstrakte und generalisierende Theorie erfasst zu werden. Auch die De Officiis sind - entgegen ihrer traditionellen philosophiegeschichtlichen Einordnung als Ausdruck stoischer Ethik - zunächst und zumeist Abhandlungen zu politischen Problemen (Wood 1988, 176-205). In dieser Pflichtenlehre gab Cicero einen Gesamtentwurf der Stellung des Römers in der Gesellschaft und entwarf ein kohärentes Bild von Obligationennetzen, in welche der Mensch gestellt ist: Von der Familie bis zur Freundschaft, von der politischen Loyalität bis zur Teilhabe an der Bürgerschaft, von der Zugehörigkeit zu einem Volk bis zu den Pflichten gegenüber Menschen ungeachtet ihres politischen Status. Diese vielfachen Pflichtenverhältnisse konnten sich überschneiden und miteinander in Konflikt geraten. Ethik meinte bei Cicero die charakterliche Disposition einzelner Menschen unter Einbeziehung der sozialen Bezüge, die sie zum Handeln veranlassten. Zwar kann das Unrechttun auch charakterliche Gründe haben (Cicero nannte nicht ohne politischen Hintersinn Caesars Machtstreben), doch korrespondiert diesem Handeln ein Unrechtdulden, so dass schon aus diesen Gründen nicht einem einzelnen Akteur die Folgen des Handelns zugeordnet werden

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können, wie mächtig und genial er auch zu sein scheint. Die Komplexität der auf das Individuum zukommenden ethischen Ansprüche ordnete Cicero nach den verschiedenen „Rollen" (persona), in denen der Mensch jeweils das Schickliche (decorum) ergründen muss: als rein physisches Lebewesen, als Vernunftwesen, in den jeweiligen sozialen Bezügen und schließlich in Hinblick auf die politischen Verantwortungen. Die Konkurrenz von Pflichten, die man einerseits gegenüber Freunden und andererseits gegenüber der Republik hatte (vgl. Steinmetz 1967, 67-70) war angesichts der Klientelverhältnisse und der politischen Absprachen unter den Geschlechterverbänden ein zentrales Thema, das Cicero bereits im Laelius de amicitiae behandelte (Bringmann 1971, 206-228). Freundschaft war bei Cicero die Quelle möglicher Loyalitätskonflikte zwischen politischen und privaten Verpflichtungen (Heldmann 1976). Zu den Pflichten gehörten aber auch die Pflichten gegen den Feind im Krieg, die Cicero im Anschluss an die Stoa aus naturrechtlichen Erwägungen ableitete, die er aber auch unter politischen Gesichtspunkten für erforderlich erachtete: Kriege werden mit Friedensverträgen und Bündnissen beendet; solche gegenseitigen Verpflichtungen setzen Verlässlichkeit (fides) voraus, ein auch unabhängig von Cicero zentraler Begriff der römischen politischen Kultur (generell mit „Treue" übersetzt: Heinze 1938, 25-57). Sie ist nicht nur im Bereich der völkerrechtlichen Beziehungen, sondern im gesamten öffentlichen wie auch im privaten Raum eine Art soziales Kapital, das Kooperationsmöglichkeiten eröffnet oder verschließt, je nachdem, ob man sich als treuer Bündnispartner erweist oder nicht. Das Vertrauen in die eigene Verlässlichkeit zu erhalten eröffnet also langfristig größere Vorteile als dessen Verletzung, um aus einer Lage kurzfristige Vorteile zu ziehen. Cicero ging von einer Rangfolge der Pflichten aus. Nicht das Glück des Einzelnen steht an oberster Stelle - Cicero wies alle hedonistischen Lebensfuhrungsmaximen zurück - sondern die Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft der Bürger (I 57), und zwar auch im Vergleich zur Familie, dem zentralen politischen Akteursverbund Roms. Cicero entwickelte ein später immer wieder aufgegriffenes Gemeinwohldenken, das dazu anleiten sollte, über den unmittelbaren Vorteil des Individuums wie der Gemeinschaft hinaus das langfristig günstige und in einer Gesamtschau zuträgliche Verhalten zu suchen. Gemeinwohldenken ist bei Cicero nicht gleichzusetzen mit Patriotismus, warnte er doch vor der Hypertrophie einer nur das eigene politische Interesse verfolgenden Handlungsweise. Der Bruch eines eingegangenen Friedensvertrages, das Ignorieren bestehender Loyalitätsrücksichten mag unmittelbar vorteilhaft wirken, wird sich aber, wie Cicero an immer neuen Konstellationen zu beweisen versuchte, in der längerfristigen Perspektive als ungerecht und zugleich nachteilig herausstellen. Ciceros Wirkung auf die politische Ideengeschichte ist an Intensität nur derjenigen von Aristoteles vergleichbar (Llanque 2007a). Während aber Aristoteles neu entdeckt werden musste, prägte Cicero über die Rhetorik-Ausbildung das europäische Abendland über die Jahrhunderte hinweg fast kontinuierlich und die Rezeption seiner Schriften bereitete auch die aristotelische Revolution im politischen Denken vor (Coleman 2000, II 57). Cicero war zudem bis 1800 die herausragende Referenz fur das republikanische Denken. Es macht einen Unterschied aus, ob der erfahrene Politiker im Senat zu seinesgleichen spricht oder vor der ungebildeten Volksmenge der plebs urbana. In dem erwähnten Prozess gegen Milo, dessen Verteidigung Cicero übernahm, wünschte Cato eine Verteidigungsstrategie, wonach Milo als lobenswerter Tyrannenmörder dargestellt werden sollte (Büchner 1982, 17). Der Druck der Massen war enorm und Cicero verlor den Prozess mit 13 gegen 38 Stimmen, obwohl Cato der Richter war und Ciceros Schwager, L. Domitius Ahenobarbus,

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den Vorsitz führte (MacKendrick 1995, 363). Angesichts der wütenden Menge hatte Cicero seine Überzeugungskraft verloren. Noch Quintilian konnte die tatsächlich gehaltene, heute verlorene Rede lesen. Sie wich erheblich von der später von Cicero redigierten und publizierten Rede Pro Milone ab, die als meisterlich, nur eben nicht authentisch gilt. Milo kommentierte später ironisch, hätte Cicero diese Rede tatsächlich gehalten, so wäre er sicherlich freigesprochen worden (nach Dio 40, 54, 3). Einer der Volkstribune, der die Totenrede auf Clodius hielt, war Sallust (Gaius Sallustius Crispius, 86-35/34), nach Livius der meistrezipierte Historiker Roms. Aus dem Sabinerland stammend und der Klientel des Marcus Crassus zugehörig, setzte Sallusts politische Karriere mit der Quästur ein. Er war Parteigänger und Soldat Caesars (Pöschl 1970; Ottmann 2002, II/l, 145-155), den er als Volkstribun unterstützte. Er hielt in seiner Amtszeit tägliche condones ab, Bürgerversammlungen, zu welchen nur Magistrate und Tribune aufrufen durften. Der Zensor Appius Claudius schloss ihn 50 aus dem Senat aus, offiziell wegen Ehebruchs, inoffiziell sicherlich wegen seiner Anhängerschaft Caesars (Cassius Dio 40, 63, 4). In diese Zeit fällt sein erstes Sendschreiben an Caesar (Lehmann 1980). Sallust wurde 49 Truppenkommandeur Caesars in Illyrien und scheiterte bei der Niederschlagung einer Meuterei in Kampanien; im Afrikafeldzug agierte er jedoch mitunter kriegsentscheidend. Nach der Rehabilitierung durch Caesar wurde Sallust 46 Prätor und Statthalter der neu geschaffenen Provinz Africa. Sein hieraus entspringender Reichtum floss in die sallustianschen Gärten und eine Villa in Tibur. Der Tod Caesars beendete auch seine Laufbahn und so zog er sich schließlich aus der Politik zurück und widmete sich historischen Studien. Sallust eröffnete eine Riege an römischen Historikern, die bis Tacitus reichte und politisches Denken als Reflexion historischer Vorgänge und ihrer Bewertung verarbeitete (Wiedemann 2000). Keine Schrift verbindet sich so sehr mit dem Name Sallust wie die kurze und prägnante Schilderung der Catilinarischen Verschwörung, die vor 40 v. Chr. entstand (Christ 1994 datiert sie auf das Jahr 42, Syme nennt das Jahr 41). Vielleicht reagierte Sallust auf die posthum veröffentlichte Schrift Ciceros De consiliis suis, in welcher er von seiner Tätigkeit als Konsul im Jahr 63 und die Ereignisse der Verschwörung Catilinas berichtete. Daneben schrieb er über den Jugurthinischen Krieg, zugleich eine Darstellung der Leistungen von Marius. Sallust stellte diese Verschwörung aus dem Jahr 63 (Nippel 1988, 94-106) in einen größeren Kontext der Entwicklung der römischen Republik, die er als Verfall der Sitten dechiffrierte, für den Catilinas Erhebung nur ein Symptom war. Catilina habe sich als junger Mann, wie so viele seines Alters, mit Begeisterung der Politik zugewandt, aber erleben müssen, dass sich der Tugendkanon gewandelt hatte: wo vorher Anstand, Beherrschung und Tüchtigkeit regierten, herrschten nun Freizügigkeit, Bestechlichkeit und Habgier (Catilina 4). Nur dieser allmähliche Sinneswandel der Bürgerschaft ermöglichte auch Verschwörungen wie die des Catilina. Das eigentliche Thema Sallusts war also der Niedergang der Tugend der Bürgerschaft selbst. Wäre die Bürgerschaft noch in der moralischen Verfassung zur Zeit der Punischen Kriege gewesen, so hätte Catilina keinerlei Chancen gehabt, so nahe an sein Ziel zu gelangen und die Republik so sehr in Gefahr zu bringen, wie er es tat. Um dies zu erklären, skizzierte Sallust die Entwicklung der römischen Verfassung, worunter er weniger den Wandel der Institutionen verstand als die innere Verfassung ihrer Akteure, ihre Tugend. Es war der Fall Karthagos, welcher Sallust zufolge den unaufhaltsamen Niedergang Roms verursacht habe (Catilina 8). Die Vernichtung des großen Rivalen im Mittelmeer sei der Höhepunkt von Roms Imperium und zugleich auch der Zenith von Roms innerer Verfassung ge-

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wesen, eine bemerkenswerte Auffassung, hatte Rom doch seinen Herrschaftsbereich im Vergleich zur Situation nach dem 3. Punischen Krieg mittlerweile erheblich ausgeweitet: Nicht die äußere, sondern die innere Verfassung machte nach Sallust die eigentliche Größe Roms aus, weshalb die innere Verschwörung ein stärkerer Indikator des Niedergangs war als die äußeren Grenzen der Machtentfaltung oder eine militärische Niederlage. Erst mit dem Wegfall Karthagos als latenter Feind und der relativen Friedenszeit, die Muße und Reichtum brachte, schlug der Sieg zur Last um (Catilina 10). Sallust spielte auf die berühmte Kontroverse zwischen dem alten Cato Censorius und Nascia an (Geizer 1931): Cato forderte in seinen Reden ständig auch die völlige Zerstörung Karthagos, während Publius Cornelius Scipio Nascia Corculum, der Konsul von 155, davor warnte, den Konkurrenten gänzlich auszuschalten (Plutarch Cato maior 24; Polybios Historien 6, 18). Die Erwähnung dieses Vorfalls ist deswegen aufschlussreich, weil sowohl Cato wie Nascia die Tugend als Kern der republikanischen Ordnung auffassten: Cato wollte die Tugend durch Gesetze gegen den Luxus aufrechterhalten, während Nascia auf die tugendfördernde Wirkung einer von außen erzwungenen Spannkraft der Bürgerschaft setzte. Sallust vertrat die Meinung, der Wegfall des äußeren Gegners hätte die Erschlaffung der Virtus zur Folge gehabt, was den Niedergang der Sitten verursachte. Werte wurden zur Zeit von Catilina nach ihrem Nutzen eingeschätzt und die Habgier untergrub die Verlässlichkeit und Rechtschaffenheit wie eine Pest. Catilina als das Haupt der Verschwörung zeigte alle Tatkraft, Initiative, Durchsetzungsvermögen und bewahrte Standhaftigkeit in aussichtsloser Situation, bewies also Eigenschaften, die in früheren Zeiten lobenswerte Taten bewirkt hätten. Aber der Ehrgeiz und die Leichtigkeit, mit welcher er inmitten der erschlafften Bürgerschaft Anhänger finden konnte, führte zur Verschwörung. Wie Sallust an anderer Stelle bündig erklärte {Historische Fragmente 1, 11-12: Proömium) gefährdete das Streben nach Alleinherrschaft zwar die politische Ordnung, war aber nur die Folge des Sittenverfalls. Gerettet wurde die Republik durch das Wirken von Cicero, dem mit dem consultum ultimum die alleinige Amtsherrschaft und Richterstellung übertragen wurde. Sallust war aber nur wenig an Cicero interessiert. Er widmete ihm keine biographische und charakterliche Skizze. Dies fallt um so mehr auf, als er sie - neben Catilina - für zwei andere Akteure vorlegte: für Cato und für Caesar. Ausfuhrlich schilderte er die Senatssitzung zur Frage der Bestrafung Catilinas (Catilina c. 50-53). Der für das Folgejahre gewählte Konsul forderte den Tod der gefangenen Verschwörer, worauf Caesar für eine mildere Strafe (Exil und Vermögensentzug) plädierte. Hiergegen nun hielt Cato eine Gegenrede, die bei Sallust gleichfalls ausfuhrlich geschildert wurde. Anschließend betonte Sallust die herausragenden Persönlichkeiten, die Caesar und Cato jeder für sich waren und verglich beider Charakter (Catilina 5354). In der Gegenüberstellung dieser beiden Personen skizzierte Sallust auf komprimierte Weise die wichtigsten Akteurstypen der untergehenden republikanischen Ordnung. Cato wie Caesar seien von gleicher Tatkraft gewesen, aber von unterschiedlicher Art. Marcus Porcius Cato der jüngere (95-46), Urenkel des Cato Censorius, auch Uticensis genannt nach dem Ort, wo er sich nach dem verlorenen Krieg gegen Caesar selbst den Tod gab, schilderte Sallust als einen strengen und selbst seinen höchsten moralischen Anforderungen entsprechenden Politiker, der nicht nach Reichtum strebte, sondern durch seine Mäßigung Anerkennung fand: Cato wollte lieber gut sein als scheinen (Catilina 54). Auch Caesar wollte gut scheinen, sein Mitleid war Programm (dementia Caesaris), seine Freigiebigkeit Tugend. Cato zielte auf die Zustimmung der Patrizier, er wollte die Anerkennung der Ersten der Republik; Caesar dagegen setzte auf die große Menge, der er durch Freigiebigkeit imponierte.

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Sallust verstand unter Tugend nicht den persönlichen Charakter der Akteure; er stellte auch nicht die Laster Catilinas in Abrede, der sich als Parteigänger Sullas bei der Ermordung der Marianer als besonders grausam herausgestellte hatte; Tugend wurde bei Sallust zu einem Ausdruck für die moralische Gesamtverfassung der Bürgerschaft. Mit der Konzentration auf die moralische Verfassung der Bürger, ihre Tugend und die Auswirkungen von Furcht als Hintergrund politischer Vorgänge legte Sallust Fäden aus, die in der Ideengeschichte später weiter gesponnen werden sollte (Münkler 1991; Wood 1995, 175-189). Der politische Diskurs in Prinzipat und Kaiserzeit Cicero entfaltete das Szenario der klassischen republikanischen Zeit vor dem Hintergrund ihrer nachlassenden Plausibilität, Sallust schrieb im Übergang zum Prinzipat, dem Ergebnis des Bürgerkriegs zwischen den Caesarerben, darunter Augustus, und den Caesarmördern. In der Augusteischen Zeit war man sich immer deutlicher bewusst, dass sich die Republik überlebt hatte. Augustus nutzte die durch den Bürgerkrieg verursachte übergroße Friedenssehnsucht dazu aus, die Ämter in seiner Person zu vereinen, nannte sich aber nur Princeps, also Erster unter rangmäßig Gleichen. Das Prinzipat brachte den Frieden, der um den Preis der politischen Freiheit erkauft war. Gleichwohl legte der Princeps Augustus noch großen Wert auf die Erzählung der Kontinuität von den Anfangen Roms bis zu seiner Herrschaft, die den Zeitgenossen nach all den Qualen der inneren Auseinandersetzung tatsächlich wie ein goldenes Zeitalter vorkam. Vergil erdichtete diese Kontinuität, Livius erzählte sorgfaltig die Geschichte Roms, Horaz erinnerte an die altrömische Virtus im politischen und ethischen Verhalten. Wo Geschichte zuvor intellektuelles Instrument zur Tradierung politischen Wissens und zur Schärfung politischer Urteilskraft am Beispiel vergangener Handlungskonstellationen war, wurde sie nun zur gelehrsamen Literatur für ein Publikum, dem alle politischen Ambitionen zusehends abhanden gekommen waren. Titus Livius (59 v. - 17 n.Chr.) zeichnete in der ersten Konsolidierungszeit der augusteischen Herrschaft ein anschauliches Bild der vielfaltigen verfassungspolitischen Kämpfe aus der Frühzeit der Republik. Zentrales Thema seiner Römische Geschichte war die Errichtung und Erhaltung der inneren Eintracht, ein nach den blutigen Jahren der Bürgerkriege sehr aktuelles Thema. Die Schilderung der frühen Republik hielt Livius als Spiegel des Sittenverfalls seiner eigenen Zeit vor: Die ältere Zeit kannte Missgunst gegenüber fremdem Ruhm wenig (II 40 a. E.), der Dienst an der öffentlichen Sache war Bewegrund der persönlichen Tugend gewesen, wohingegen der Eigennutz und Ruhmsucht gegenwärtig dominierten. Livius schilderte ausführlich die Umstände, unter welchen das 12-Tafel-Gesetz zustande kam und beklagte den ungeheuren Wust an Gesetzen, der sich zu seiner Zeit auftürmte (III 334). Ein von Dionysios von Halikarnassos ausführlich geschilderter Krieg gegen die Hemiker war Livius kaum der Erwähnung wert. Außenpolitik spielte für ihn anfanglich eine eher untergeordnete Rolle. Aus dieser Zeit berichtete er statt dessen von der Verteilung des Landes, welches in eben diesem Krieg erobert worden war und erörterte die politischen Erschütterungen, die jede weitere Landverteilungspolitik für die römischen Verfassung mit sich brachte (II 41). Erst mit den Punischen Kriegen wandte Livius seine Aufmerksamkeit den äußeren Konflikten zu. Livius fehlte der Blick für Strukturen, der Polybios eigen war. Wo Sallust in verdichtender Verknappung mit wenigen Strichen zeichnete, malte Livius flächig. Wirkungsgeschichtlich übte Livius aber einen erheblichen Einfluss aus, wenn man nur daran denkt,

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dass Machiavellis Discorsi vom Aufbau her ein systematisierender Kommentar zu Livius waren. Nach der augusteischen Friedenszeit folgten erneute Wirren und Bürgerkriege. Die hohle Phrase der römischen Ämterordnung wurde immer sichtbarer, die dynastische Erbfolge nur durch Emporkömmlinge unterbrochen, die von ihren Truppen zu Kaisern ausgerufen wurden. Aus dem Prinzipat wurde das Kaisertum, dessen Willkürregime einen Kontrast zur Gesetzesherrschaft der Republik bildete. Dieser Willkür schutzlos ausgeliefert zu sein, prägte das politische Denken des 1. Jahrhunderts nach Christus. Lucius Annaeus Seneca der jüngere (4 v. -65 n. Chr.) gehörte zu den ethisch einflussreichsten Autoren der lateinischen Literatur. Er war der Sohn eines bekannten römischen Rhetors und Politikers, der mit seinen unvollständig erhaltenen Controversiae anhand konkreter Rechtsfälle in die gelehrte und forensische Beredsamkeit eingeführt hatte. Der Sohn wurde Prätor und Konsul und trat auch rhetorisch hervor. Seneca fiel aber in der Kaiserzeit von Claudius einer Intrige zum Opfer, die zu seiner Verbannung führte. Zurückgekehrt auf Betreiben von Neros Mutter Agrippina wurde er Erzieher und Berater ihres Sohnes. In dieser Position kam ihm de facto das Regierungsgeschäft des Weltreichs zu (etwa 54-59). Mit dem Durchbruch der Geltungssucht Neros musste Seneca sich 62 von den politischen Aufgaben zurückziehen und verübte schließlich auf Geheiß seines ehemaligen Schülers Selbstmord: wie Tacitus berichtet, galt er als Mitwisser der Verschwörung des Piso (Tacitus, Annales 15, 60-64). Die Wirkung Senecas beruhte auf seinem literarischen wie ethischen Werk. Er schrieb bis in die Neuzeit gespielte Tragödien, die eigentlich eher als Lesedramen verfasst waren. Ungeheure Grausamkeiten schildernd schien Seneca bestrebt, die Öffentlichkeit zu warnen und zugleich zu wappnen. Was unter der Alleinherrschaft verblieb war die Möglichkeit der inneren Seelenruhe und des ethischen Gleichmuts, um bei allen äußeren Fährnissen selber unkorrumpiert zu bleiben. Arbeiten wie über die Milde (De dementia) skizzierten hintergründig die politische Struktur der Alleinherrschaft (Griffin 1976, 129-171 und 2000; Ottmann 2002, II/l, 242-257; Fuhrmann 1963). Ethik war die Kunst der inneren Bewältigung der Politik. Daher kann man nicht im engeren Sinne von politischen Schriften sprechen (Seneca 1995). Selbst noch in der Selbsttötung wollte Seneca so weit als möglich Herr des eigenen Schicksals bleiben. Ethik bedeutete ihm Lebensführung im Umgang mit einer unvorhersehbar gewordenen politischen Umwelt, auf die grundsätzlich einzuwirken kaum Hoffnung bestand trotz aller Nähe zur Macht. Es verblieb nur die Möglichkeit, ungeachtet der Politik den persönlichen moralischen Kern zu sichern. Mit diesem Wechsel von der politischen zur persönlichen Moral einher gingen auch semantische Wandlungen. So verwendete Seneca den Ausdruck officium im Sinne einer Beschäftigung mit philosophischen Studien (De brevitate vitae 14). In De Tranquillitate Animi beschrieb Seneca den Dialogpartner Serenus wie einen Ratsuchenden, der als Patient zu ihm, dem Philosophen kommt. Dieser Serenus hatte seiner stoischen Lektüre die Verpflichtung zu einem aktiven Leben im Sinne der Förderung der Freunde entnommen, sich aber aufgrund der dabei erfahrenen Widerstände wieder mehr der eigenen Seelenruhe gewidmet. Gleichwohl regte ihn das Vorbild der Helden, dem er in seiner Lektüre immer wieder begegnete, dazu an, auf das Forum hinauszugehen und in der Öffentlichkeit zu reden (1, 12; vgl. Griffin 1976, 315-366). Seneca widmete sich diesem Problem als jemand, der wusste, dass der Weg in die Öffentlichkeit sinnlos geworden war, und alles Streben nach einer aktiven Rolle in der Politik nur zur unbefriedigenden und verstörenden Beunruhigung der Seele führte. Politik war ein individuell-ethischer Störfaktor

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geworden. Freiheit galt Seneca als das Ziel, zu dem man sich durch Disziplinierung der Leidenschaften durchringen muss. Aber Freiheit definierte er als Gleichgültigkeit gegen dem Schicksal, die erst das höchste Gut ermöglicht: Ruhe und Erhabenheit der Seele (Vom glückseligen Leben 5). Senecas Lob der vita contemplativa gefiel einem Erasmus von Rotterdam, für Machiavelli war es belanglos. Der Einfluss der Stoa kam bei Seneca durch. Verarbeitete Cicero, der noch der „mittleren Stoa" angehörte, das griechische Vorbild zu einer Theorie der politischen Praxis, war die jüngere Stoa (zu der Seneca, Epiktet und der römische Philosophenkaiser Marc Aurel gerechnet werden) schon ohne alle politische Ambition. Ihr Ziel der Seelenruhe konnte idealiter nur durch das Fernhalten von aller Politik erreicht werden. Ob es Seneca, der im Amt ungeheure Reichtümer anhäufte, gelang, die postulierte Seelenruhe und Unabhängigkeit vom irdischen Schicksal zu finden, ist unklar, da sein Reichtum als Zeichen seiner Käuflichkeit gelten konnte. Etwa eine Generation später beschäftigte sich Publius Cornelius Tacitus (etwa 55-120) mit der unmittelbar an seine Gegenwart heranreichenden Vergangenheit und formulierte wie Livius mit der Schilderung vergangenen politischen Denkens seine eigenen Überzeugungen, auch wenn er aussagte, er wolle leidenschaftslos über historische Ereignisse schreiben (sein „sine ira et studio" gibt einer gesamten Textgattung ihr Motto). Tacitus hatte das Glück, in der Regierungszeit Trajans schriftstellerisch tätig werden zu können. Die Redefreiheit war wieder bis zu einem gewissen Grade hergestellt, der innere Friede gewährleistet und in einer glücklichen Abfolge begabter Kaiser der sog. Adoptivzeit erstrahlte Rom in neuem Glänze. Weiterhin hielt Rom an der wenigstens formell der republikanischen Tradition verpflichteten Magistrats-Fassade fest. Tacitus durchlief den cursus honorum und war Quästor, dann unter Domitian Ädil (oder Volkstribun), 88 Prätor und hernach vermutlich Provinzstatthalter, schließlich Konsul des Jahres 97. Aber was waren diese äußerlichen Formen noch wert, wenn doch die politische Herrschaft konzentriert in der Hand eines Kaisers lag? Welche Bedeutung blieb den zentralen Werten der römischen politischen Kultur (Fontana 1993)? Tacitus begann seine Annalen, welche die Zeit seit des Augustus Tod behandeln, mit einem Rückblick auf die Republikgründung und durcheilte in nur drei Sätzen die Geschichte bis zu dem Zeitpunkt, da die politische und militärische Gewalt auf Augustus überging {Annalen I I ) . Diese dürren Worte glichen einem Protest. Tacitus trat nach dem Tode Domitians zuerst mit der Schrift Agricola schriftstellerisch hervor. Darin beschrieb er das Leben seines Verwandten Agricola in apologetischer Absicht. Dessen Kooperation mit dem vorherigen, tyrannischen Kaiser Domitian machte ihn unter den nachfolgenden Adoptivkaisern zunächst indiskutabel. Tacitus fasste diese Zeit epigrammatisch so zusammen: wie die alte Zeit ein Höchstmaß an Freiheit kannte, lebten die Zeitgenossen 15 Jahre in äußerster Knechtschaft (Agricola 2, 3). Doch auch unter schlechten Kaisern lebten bedeutende Menschen: ihre Tugendhaftigkeit hätte sich anders gezeigt, wenn sie unter freien Umständen hätten agieren können, während nun Loyalität und Zurückhaltung verbunden mit Beharrlichkeit und Tatkraft dem Gemeinwohl nützlicher wären als Unnachgiebigkeit und Aufsehen erregende Todesursachen, gemeint war der heroische Freitod (42, 4). Aber die Unfreiheit war nicht nur dem Wirken tyrannischer Kaiser geschuldet: der Verfall der Sitten trug entscheidend dazu bei. Damit griff Tacitus das Thema von Sallust auf. Die Kritik am sozio-moralischen Verfall der römischen Gesellschaft übte Tacitus indirekt. Die berühmte ethnographische Studie Germania schilderte die Sitten der rechtsrheinischen Volksstämme, die unter Augustus der römischen Militärexpansion einen erheblichen Dämp-

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fer versetzt hatten (Arminius). Nicht Luxus und Verfeinerung der Lebensumstände, sondern Einfachheit und Gesittetheit seien die wahren moralischen Bedingungen politischer Freiheit, folgerte Tacitus. In den historischen Schriften schließlich schilderte Tacitus ausführlich, wie es zum Verlust der Freiheit und der allmählichen Eingewöhnung in das Leben in Unfreiheit kam. Wegen der Machtkonzentration können trotz formeller Gleichrangigkeit mit den Machthabern politische Abhängigkeiten entstehen, die bis zur faktischen Knechtschaft reichen. Dabei kommen laut Tacitus mehrere Aspekte zusammen: Die Konzentration politischer Macht bei einer Person spaltet die Bürgerschaft in jene, die - am republikanischen Grundsatz festhaltend - eine solche Machtfülle für tyrannisch erachten, und solche, die im Vertrauen auf das Gönnertum des Princeps, also aus eigennützigen Motiven, in seine Hände spielen. Wie durch Denunziationen des gesetzestreuen Teils der politischen Klasse Emporkömmlinge die Zuneigung des Kaisers erringen und dadurch die Verfassung der Freiheit stürzen helfen, gehört zu seinen besten Analysen (Annalen I 74: 103-105). Der Princeps höhlte republikanische Gesetze aus und instrumentalisierte sie zu seinen Gunsten, indem er sie gegen ihre ursprünglichen Intentionen auslegte. Das wichtigste Beispiel hierfür war das Gesetz gegen Majestätsbeleidigung. Es zielte in republikanischer Zeit gegen Hochverrat und wurde nun auf den Schutz der persönlichen Ehre des Princeps übertragen, beispielsweise bei Beleidigungen. Wie Tacitus sagt, stellte das republikanische Gesetz Taten unter Strafe, seine kaiserliche Anwendung aber bestrafte Worte und öffnete damit der Denunziation Tür und Tor (I 72: 101). Die altrömische Fassade blieb erhalten: Beamte der kaiserlichen Bürokratie stellten sich Statuen der tyrannenstürzenden Altrömer wie Brutus, Cato oder Cassius in ihren Hof, leiteten aus diesen Vorbildern aber keine Maximen für ihr eigenes Handelns ab (Plinius Ep. II 17, 3, zitiert bei Syme 1969, 193). Im Dialog über die Rhetorik befasste sich Tacitus eigens mit dem Niedergang der Rede als politischer Praxis. Anhand des gewandelten Stellenwerts der Rhetorik demonstrierte Tacitus, wie zentrale Bestandteile des republikanischen politischen Systems in der Caesarenzeit irrelevant geworden. Dieser Vorgang war bereits bei Marcus Fabius Quintilian (etwa 35-96) zu beobachten, der erste besoldete Rhetoriklehrer. Er lehrte am Hofe Domitians seit 68. Sein Hauptwerk waren die 12 Bücher über die Redekunst Institutio oratoria. Zu diesem Zeitpunkt war die lebendige Rednerpraxis auf die Gerichtsrede beschränkt. Die beratende, politische Rede spielte im Kaisertum keine praktische Rolle mehr, sie diente lediglich Unterweisungszwecken. Tacitus versuchte daher kurze Zeit nach Quintilian zu ergründen, warum sich die Rednerkunst unter den Kaisern im Niedergang befand. Zwar beschäftigten sich immer mehr Gelehrte mit der Rhetorik und es kursierten auch immer mehr Lehrschriften hierüber, aber in der Praxis sei die Zierde der Rede an die Stelle ihrer Vitalität getreten. Die catonische Maxime „rem tene, verba sequentur", konzentriere dich auf die Sache, die Worte werden schon folgen, verlor ihren Sinn. Das hatte nach Tacitus damit zu tun, dass keine großen politischen Fragen in der Öffentlichkeit mehr entschieden wurden. Rhetorik machte nur Sinn unter freiheitlichen Bedingungen und wird laut Tacitus zu schalem Pomp des gespreizten Ornaments in politisch kraftloser Deliberation, wo den Reden keine Taten mehr folgen und daher die Taten keine echten Reden mehr provozieren. Dieser Analyse stimmte selbst Quintilian (in einer verloren gegangenen Schrift) zu. Tacitus idealisierte Oratoren wie Brutus, die noch frei und zur Sache sprechen konnten, und hob sie von Rednern, Anwälten oder Ratgebern der Kaiserzeit ab, die nur geschickt den Vorteil suchten. Tacitus fügte seinen historischen Schilderungen präzise sozialpsychologische Beobachtungen des Verhaltens der Bürger bei, eine „anatomy of tyranny" (Walker 1952, 233). Bissig be-

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merkte er, wie die Bürger zu sehr mit der privaten Vorteilssuche beschäftigt waren, um noch Zeit fur das Allgemeinwohl aufzubringen (Historien I 19; Annalen I 15). Die politische Macht der Alleinherrscher beruhte nicht nur auf der Gewalt der Prätorianer, ihrer Leibgarde; sie wurde durch das diesem Machtanspruch entgegenkommende Untertanenverhalten der Menschen ermöglicht, die willfahrig den Launen des Tyrannen gehorchten, ihnen vorauseilend Folge leisteten und darin einen Wettkampf an Unterwürfigkeit mit den Konkurrenten in der Gunst des Herrschers veranstalteten (Boesche 1996, Kap. 3: Tacitus. Tyranny as Politics of Pretense, 85-109). Tacitus zählte zu dieser Untertanenmoral die Speichelleckerei (foedissima adulatio) und Schmeichelei der subalternen Akteure (adulatio), das knechtische Verhalten (servitium; Pöschl/Klinz 1972) flankiert von der Willfährigkeit (obsequium; Vielberg 1987, 77-133). Die Tugend kehrte sich ins Private. Virtutes unter den Bedingungen der Tyrannis waren Mütter, die ihre fliehenden Söhne begleiten, standhafte Schwiegersöhne, treue Sklaven, die auch unter der Folter nichts verrieten, vorbildlich mutiges Sterben. Die einzige verbleibende politische Tugend unter der Tyrannis war die Furchtlosigkeit (Heinz 1975, 3 und 20). Noch bis weit in das Prinzipat hinein opponierten Anhänger der Republik gegen die Alleinherrschaft. Tacitus schilderte mit kaum gebremster Emphase die Beisetzung der greisen Junia, der Schwester des Caesarmörders Marcus Junius Brutus, Frau des Caesarmörders Cinna und Nichte des jüngeren Cato. Nach altem Ritual erfolgte das Beisetzungszeremoniell einschließlich des Vorantragens der Ahnenbilder. Im Falle der Junia war dies eine lange Prozession von Namen, die durch ihre Taten untrennbar mit der Republik in Verbindung standen und auch jedem bekannt waren. „Aber über allen strahlten Cassius und Brutus gerade deshalb, weil ihre Bildnisse nicht zu sehen waren" {Annalen III 76: 287). Tacitus skizzierte hier die Taktik, Empörung in der Öffentlichkeit durch gezieltes Schweigen wie durch Nichterwähnung offenkundiger Tatsachen auszudrücken. Schließlich wurde es laut Tacitus immer schwieriger, die moralische Korruption auch nur angemessen zu beschreiben (Boesche 1996, 102-104), da sich ihr eine Korruption der Sprache hinzugesellte, ein bereits von Thukydides im Korkyra-Dialog diskutiertes Thema. Tiberius gebrauchte altertümliche Worte zur Verkleidung seiner tyrannischen Grausamkeit (Annalen IV 19); Gier kleidete sich in die Sprache effizienter Ökonomie (Historien I 36). Ähnliches galt auch für Außenpolitik: Im Agricola ließ Tacitus den Anführer der (von Agricola besiegten) Briten sagen, dass ihnen das römische Imperium mit friedlichen Worten entgegenkomme, aber in Wahrheit mit seinen Taten diese Worten Lügen strafte und in der Sache nichts als Raub beginge, nur dass „Raub" sich „Regierung" nannte (Agricola 30). Mit diesen Beobachtungen wurde Tacitus zur ideengeschichtlichen Referenz fur Theoretiker im Zeitalter absoluter Alleinherrscher in der Frühneuzeit, so im Neo-Taciteismus am Ende des 16. Jahrhunderts (Melor 1995) und in der Neuzeit (Ranum 1980). Tacitus' Wirkung entfaltete sich vor allem in einer Zeit, die ihrerseits republikanisches politisches Denken zur Vergangenheit zählte und sich mit fürstlich-willkürlicher Herrschaftsausübung konfrontiert sah. Der Taciteismus des ausgehenden 16. Jahrhunderts edierte nicht nur die Schriften von Tacitus (Lipsius), sondern zog aus ihnen wie aus denen Senecas und dem Machiavellismus praktische Anweisungen zum Überleben unter Fremdherrschaft und kombinierte so auf eigentümliche Art und Weise die Perspektive des Machthabers mit derjenigen des Machterleidenden. Die Entdeckung des Politischen in der Antike eröffnete eine solche Breite von Problemkonstellationen und deren zeitgenössische theoretische Reflexion stellte so viele Begriffe und Theoreme für die weitere Rezeption bereit, dass über fast zwei Jahrtausende hinweg die

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antike Literatur der wichtigste Bezug des westlichen politischen Denkens blieb. Die Rezeptionen und Neuinterpretationen der Schriften von Piaton und Aristoteles durchzogen die weiteren Diskurse und blieben bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Piaton von Karl Popper und anderen der Vorwurf des Totalitarismus gemacht wurde und Aristoteles als Theoretiker bürgerschaftlicher Politik wiederentdeckt wurde, relevant. Cicero blieb durch die Adaption der Kirchenväter im christianisierten Mittelalter präsent und bot dem stadtrepublikanischen Politikverständnis einen wichtigen Anknüpfungspunkt. Tacitus schließlich wurde wieder interessant, als die politischen Rahmenbedingungen auf absehbare Zeit von Willkürherrschaften geprägt waren, auf die der Einzelne keinen oder nur geringen Einfluss ausüben konnte. Diachron betrachtet bildeten sich drei große Stränge, die - teilweise unabhängig voneinander, teilweise einander überschneidend - die politische Theoriebildung prägten: die historische Forschung mit einer stark pragmatisch orientierten Perspektive auf die Politik, die philosophische Forschung mit Schwerpunkten in Begriffsbildung und ethischer Grundierung und schließlich die rhetorische Tradition mit ihrer praktischen Orientierung an den Erfordernissen der handlungsvorbereitenden Deliberation, in die alle politische Theorie einfließt. Autoren wie Piaton, Aristoteles, Cicero oder Tacitus können mindestens zwei der genannten Stränge zugeordnet werden.

II. Mittelalter: Die Christianisierung der Politik

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II Mittelalter: Die Christianisierung der Politik

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Aus ideengeschichtlicher Sicht sind die Grenzen des Mittelalters fließend. Die Spätantike war römisch geprägt, wandelte sich im Zuge der Christianisierung, die ihrerseits die politische Theorie im Naturrecht der Frühneuzeit beeinflusste: vom 1. bis zum 17. Jahrhundert lassen sich die Diskurse nicht scharf voneinander trennen (O'Donovan 1999); verschiedenste Diskurse wurden miteinander verknüpft, neue Fäden gesponnen. Römisches Erbe, Christentum, lateinisches Abendland, der Aufbau nationaler Territorialstaaten, die Anfänge der Konfessionalisierung, die Wiederentdeckung des antiken politischen Erbes in stadtstaatlicher Kultur: so könnte man in groben Zügen die Hauptmerkmale dieser Zeit zusammenfassen. Das auffalligste Merkmal des Mittelalters war ohne Zweifel die Verknüpfung von Politik und christlicher Religion. Die Autorität offenbarter Schriften schaffte einen neuen Bezugspunkt politischen Denkens, wobei sich der Westen angesichts des niedergehenden römischen Reichs im Schatten anhaltender kaiserlicher Machtstellung vom Osten ganz unterschiedlich entwickelte (Markus 1988). Die christlich geprägte Theoriearbeit war dabei anfangs nur nachrangig an politischen Überlegungen interessiert. Dies hatte auch mit der Vielgestaltigkeit des Verhältnisses von Christentum und Politik zu tun. Max Weber zählte vier Formen auf (Wirtschaft und Gesellschaft 359-360): die Verabscheuung der heidnischen Politik, die völlige Indifferenz verbunden mit politischer Passivität, das Fernhalten von aller Politik als Inbegriff der menschlichen Sünde und schließlich die positive Wertung der Obrigkeit als Mittel im Kampf gegen menschliche Sündhaftigkeit. Die beiden letzten Punkte hatten mit der zentralen christlichen Kategorie der Sünde zu tun (Stürner 1987), die ersten beiden mit dem Verhältnis zum Römischen Reich als dem Inbegriff der politischen Weltmacht, welcher die Christen seit der Konfrontation zwischen Jesus von Nazareth und Pontius Pilatus ein anderes Königreich entgegenstellten.

1. Die Kirchenväter und die Latinisierung des Christentums Die Christianisierung der Politik im Mittelalter ist nicht gleichzusetzen mit der Umsetzung der sozialen Lehren Jesu im ethischen Bereich, die verschlungenen Wegen der Auslegung folgte (Troeltsch 1994). In Schüben näherten sich Christentum und Politik an, ohne je dem ständigen Konflikt zwischen der Institutionalisierung der Christenheit in Gestalt der Kirche (samt der damit drohenden Verweltlichung) und dem gesteigerten Bedürfnis nach Spiritualität und Weitabgewandtheit entfliehen zu können. Die Dynamik des Konflikts wurde von der permanenten Neuaneignung der ursprünglichen Soziallehren genährt: bereits die Auslegung der Lehren Jesu durch Paulus im 1. Jahrhundert stand in diesem Konflikt; die gregorianischen Reformen des Papsttums im Frühmittelalter, die Bettelorden im 13. Jahrhundert und noch die reformatorischen Bewegungen im frühen 16. Jahrhundert setzten jeweils mit einer frischen Neulektüre der autoritativen Texte ein. Eines der intellektuellen Beiprodukte dieses Konflikts war die Reflexion des methodischen Rüstzeugs der Textarbeit, die hermeneutische Auslegung, welche die Gotteserfahrung in der Textlektüre zu einer rationalen Auseinandersetzung mit der göttlichen Botschaft wandelte. Die wissenschaftliche (theologische) Auslegung stand dabei einer schwärmerischen Literalauslegung der offenbarten Schriften entgegen, die ihrerseits das geoffenbarte Wort als missionarische Aufforderung zur politischen Revolution interpretierte. Die Auslegung der offenbarten Schriften schuf über die Jahrhunderte einen eigenen Corpus, über den die Schriftgelehrsamkeit verfügte und zur Theologie verdichtete, Die Theologie neigte allerdings zur

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Dogmatisierung. An die Stelle der Unmittelbarkeit des spirituellen Erlebnisses schoben sich Auslegungsinstanzen der Tradition (katholische Kirche), aber auch autoritative Interpreten (Luther), die ihrerseits zu weiterer Dogmatisierung beitrugen: aus Propheten wurden Kirchenbegründer, während die fundamentalistischen Triebkräfte der Literalauslegung sich nicht durch die Kategorien gebildeten Intellekts zähmen lassen wollten - bis heute und auch außerhalb des Christentums. Die theologische Auseinandersetzung war so auch ein Faktor bei der Zivilisierung religiös motivierter politischer Energien. Die zugrunde gelegten Texte waren nicht einheitlich: Das Alte Testament bot ganz anderer Möglichkeiten politischer Analogiebildung als das Neue Testament. Die Zugehörigkeit zu den autoritativen Schriften wurde durch Kanonisierung geregelt, ferner bedeutete bereits die Übersetzung ins Lateinische eine Interpretation, wie noch zu zeigen sein wird. Schließlich lag die Lehre Jesu nicht authentisch aus seinem Munde vor, sondern nur durch die Interpretation der Augenzeugen. Alle weitere Aneignung stand so im Geflecht sozialer Beziehungen der Interpreten. Wie Max Weber es allgemein für die Religionssoziologie formulierte: „Es ist eben das, was eine religiöse Bewegung als Ideal erstrebte und das, was ihr Einfluss auf die Lebensführung ihrer Anhänger faktisch bewirkte, scharf zu scheiden" (Protestantische Ethik, Religionssoziologie 29). Fragen etwa, ob es überhaupt im Sinne des Glaubensgründers lag, eine Religion zu begründen, konnten die Kirchengründung nicht verhindern. Die noch zu Lebzeiten der Jünger und persönlichen Bekannten des Nazareners erwartete Wiederkehr ihres Messias blieb aus. Wenn in den Evangelien überhaupt ein politischer Machtanspruch formuliert wurde, wie das Matthäuswort von der Macht über Himmel und auf Erden ausgelegt worden ist (Matthäus 22, 18; Ehrhardt II 3), so lief dies nun ins Leere. Wie sollte man sich hienieden einrichten, in dieser - nach Maßstäben der Lehre ihres Messias - gering zu schätzenden Welt, wo doch sein persönliches Beispiel der Tod und die Hoffnung auf ein anderes Leben war? Es ist das prinzipielle Dilemma des Denkens des Undenkbaren, des Lebens im Wertlosen. Jesu Wertschätzung der sozial Unterprivilegierten und die revolutionäre Überlegung, Sozialität auf Liebe zu gründen, waren Ansätze zu einer Ethik, dokumentiert alleine durch das Vorbild des Stifters, nicht durch Gesetz und Regel, wie es das Alte Testament mit seinen in Stein gehauenen Geboten tat, die bis in die Details die Lebensführung reglementieren und dadurch zu Ordnung und Identifikation beitrugen. Das Christentum befand sich daher bereits von seinem Ursprung her in einem schwer auflösbaren Widerspruch zwischen der unmittelbaren Parousie-Erwartung (und damit verbunden einer tiefen Skepsis gegenüber dem irdischen Dasein) einerseits, und einer zunehmend ins Bewusstsein tretenden Notwendigkeit, sich aufgrund der ausbleibenden Endzeit in dieser eigentlich verachteten Welt dauerhaft einrichten zu müssen. Die Frage war, von welcher Art eine Institution sein müsse, die in der sozialen Welt stehen und zugleich die Pforte zur Transzendenz öffnen kann. Der intellektuelle Einfallsreichtum zur Bewältigung dieser theoretischen Frage bestimmte das politische Denken des Mittelalters. Den christlichen Maximen, wie sie die Evangelien überlieferten, mussten allmählich Anleitungen zum Leben in dieser Welt abgerungen werden. Die erste wichtige Leistung erbrachte Paulus (nach 60 n. Chr. gest.), der die ursprüngliche Mission unter den Juden der Altgemeinde in Jerusalem zur Heidenmission unter Griechen und Römern ausweitete. Die Konfrontation des Christentums mit der griechischen und römischen Lebenswelt brachte freilich neue Probleme mit sich. Die Liebes- und Seelenlehre des Nazareners war missverständlich. Bedeutete die mit der Aufwertung der Seele verbundene Abwertung des Körpers, dass auch der sexuelle Genuss bedeutungslos war und damit: freigestellt wurde? In der Hafenstadt

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Korinth wurde die im antiken Kontext ohnehin freizügiger praktizierte, auch professionell organisierte Erotik anders verstanden als in Jerusalem. Paulus versuchte solche und viele andere Probleme in seinen Gemeindebriefen zu lösen, in denen er nach und nach eine eigene Theologie des Christentums entwickelte. Paulus war durch seine griechische Bildung hierzu nicht unvorbereitet. In der hellenistischen Zeit hatte sich zusehends das Politikverständnis aus dem Zentrum der philosophischen Besinnung gelöst. Dies war zu erkennen an der Distanzierung von der politischen Betätigung, die insbesondere Kyniker und Epikureer als Vorbedingung des persönlichen Glücks lehrten. Selbst die Stoiker konzentrierten sich auf einen ethischen Tugendbegriff, der sich immer weniger mit politischer Theorie beschäftigte (Scholz 1998). Der Kyniker Diogenes von Sinope nannte im 4. vorchristlichen Jahrhundert die weltumspannende Kosmopolis als seine Heimat (berichtet von Diogenes Laertios VI 63). Was zu diesem Zeitpunkt ein Aufsehen erregender Bruch mit der antiken Tradition war, erhielt mit dem hellenistischen Reich und sodann dessen Ablösung durch das römische Imperium weitestgehend Plausibilität: die Möglichkeiten zur Identifikation waren für Griechen nicht mehr durch politische Partizipation gegeben. Damit einher ging die Vergeistigung in der Theorie der sozialen Verhältnisse: an die Stelle der positiven Satzung trat die weltumspannende Vernunft, deren Quelle unklar blieb. Zenon (etwa 335-263), der Schulgründer der Stoa, übernahm die aristotelische Definition der auf die Polis bezogenen Natur des Menschen, übertrug sie aber auf die Kosmopolis: Gehorsam ist dem allmächtigen Weltengesetz geschuldet (Scholz 1998, 345346). Vernunft, Welt und Gott sind hier miteinander verquickt. Am Ende dieses Prozesses der Vergeistigung kann die Politik schließlich ohne weiteres mit dem Königtum identifiziert werden. Paulus stand in der Tradition einer bestimmten griechischen Entwicklung in der Philosophie (Blumenfeld 2001, 36-277), die ohne weiteres die politische Herrschaft religiös verklärte, zugleich aber diese Herrschaft an philosophischen Maßstäben maß, an erste Stelle an der Gerechtigkeit. Wenn daher Paulus eine neuartige Freiheitslehre im Namen des Gekreuzigten vorlegte, stieß die metaphysische Transzendierung irdischer Kategorien im Sinne ihrer Vergeistigung auf Entgegenkommen in der griechischen Philosophie. Im Mittelpunkt standen die Gemeinde und Vorüberlegungen zur Kirche (Blumenfeld 2001, 302-414). In Paulus' Gemeindemodell fanden die Mitglieder ihren Platz je nach den von Gott verteilten Gaben (charismata: 1 Korinther 12; Römer 12, 3-8): die einen als Apostel, andere als Priester und die meisten als Gläubige. Sie alle standen in einem Verhältnis grundsätzlicher Gleichheit als Gläubige vor Christus zueinander. Weltliche Herrschaft wurde hier nicht berücksichtigt. Liebe und Gnade bestimmten das Gemeindeleben. Die Gemeinde war nach dem Vorbild Christi geformt, und zwar unter der metaphorischen Anleihe an das Bild des Körpers. Der Körper war natürlich nicht physisch: dieser wurde ja geopfert und konnte nur in rituellen Zeremonien wie dem Abendmahl restituiert werden. Die Gemeinde wurde vom Geist regiert, zugänglich durch den Glauben an Christus. Politische und weltliche Herrschaft wurden in diesem Modell der vergänglichen, begrenzten Welt zugerechnet und galten als nachrangig und vordergründig, wohingegen die Gemeinde das Leben vor dem ewigen Leben im Geiste Christi eröffnete. Die wenigen Stellen, an denen sich Paulus zur weltlichen Herrschaft äußerte, haben durch ihre spätere Rezeption eine Aufmerksamkeit gefunden, die ihr aus paulinischer Sicht sicherlich nicht zukam. Dazu zählte die Bemerkung im Römerbrief 13, 1-7 (etwa 56 oder 55 verfasst) zur Gehorsamspflicht gegenüber der Obrigkeit. Sie stand vielleicht in einem gänzlich

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profanen Kontext, da es in Rom zu Steuerunruhen gekommen war (Tacitus Annales XIII 5051; Sueton Nero 10,1) oder wollte nur die Übereinstimmung zwischen Paulus und der (ihm persönlich fremden) römischen Gemeinde in Hinblick auf die Anforderungen zu öffentlicher Loyalität zum Ausdruck bringen. Der Staat war noch sehr fern (Wilckens 1989, 41). Unterstellt man Paulus eine umfassende Lehre zur Staatlichkeit, fällt jedenfalls die Nichterwähnung kritischerer Stellen in den Evangelien wie Markus 12, 17 oder Apostelgeschichte 5, 29 auf (Schräge 1971, S. 50-62). Theologen nutzten den ermahnenden Charakter dieser RömerStelle, um sich von der theoretischen Last zu befreien, hierauf eine Staatstheorie errichten zu müssen; das politisch-institutionelle Vakuum blieb fur das protestantische Politikverständnis noch in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts zentral (Überblick Käsemann 1959) und hatte meist ernüchternde Wirkungen auf die Widerstandsfähigkeit der Kirche gegen tyrannische, aber nominell legitime politische Ordnungen. Andererseits war auch die auf eigenem institutionellen Grund stehende katholische Kirche nicht immer imstande, ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden: Politik blieb ein Fremdkörper. Paulus sollte erst in der Patristik, bei Augustinus, im Kirchenbegriff des Mittelalters und dann vor allem in der Reformation zum zentralen Bezugspunkt der Theologie werden. Seine Rolle in der Spätantike war zunächst nur marginal (Dassmann 1973). Erst der Lyoner Bischof Irenaeus zitierte Paulus (etwa 180), um die gnostischen Häretiker davon zu überzeugen, dass die irdische Obrigkeit nicht zwangsläufig dämonisch sei (Adversus Haereses V 24, 1-3). Tertullian polemisierte noch gegen Paulus als Apostel der Häretiker {Adversus Marcionem III 5,4, geschrieben etwa 211). Die erste Verbindung zwischen Christentum und Rom erfolgte nicht über Paulus. In gegenseitiger Annäherung von Römischem Reich und Christentum veränderten beide ihren Charakter und formten im Ergebnis die christliche Latinität bzw. das Lateinische Mittelalter (Young 2000). Die Verbindung von Rom und Christentum war dabei weder denknotwendig noch erfolgte sie problemlos (Klein 1971; 1993). Zunächst führte die (Paulus noch wenig bekannte) Christenverfolgung zur Konfrontation mit den Behörden. Die Verhörprotokolle von Christenprozessen in den Märtyrerakten aus dem 1. Jahrhundert zeigten neben der Hilflosigkeit der verhörenden Beamten die fundamentale apolitische Haltung der Verhörten und ihre Neigung zum Martyrium, so in dem Prozess gegen die Märtyrer von Sicilii (Klein 1993, 91-95). Trotz aller Strafandrohungen verweigerten die Christen die Anerkennung der göttlichen Majestät des römischen Kaisers und machten sich damit des Hochverrats schuldig. Schon das Lippenbekenntnis hätte den Verhörenden ausgereicht, um die Sache auf sich beruhen zu lassen. Die tiefe Überzeugung der Christen jedoch, dass ihr persönliches Heil von der Ablehnung jeden Bekenntnisses zu den Autoritäten dieser Welt abhing und das Versprechen auf die jenseitige Welt, in der Christus sein wahres Königtum entfalten werde, gab ihnen die moralische Kraft, der diesseitigen Welt selbst unter unaussprechlichen Qualen mit Freuden zu entsagen. Das Martyrium kann eine politische Potenz des Widerstands sein, die nur schwer theoretisch zu erklären ist (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 357-359; Coleman 1995 Kap. 3). Als Ausdruck der Idee einer ethischen Purifizierung auf dem Wege des gewollten Opferganges verstand beispielsweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts Georges Sorel das Martyrium als eine Form der Gewalt (Über die Gewalt, Kap. 6; Barth 1959, 101-102). Das Martyrium durchzieht die Geschichte des Christentums und ermöglichte beispielsweise den hartnäckigen Widerstand Einzelner gegen den Nationalsozialismus. Auf dem Martyrium lässt sich allerdings weder eine soziale noch eine politische Praxis begründen, die von Dauer ist.

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Die weitere Auseinandersetzung Roms mit dem Christentum verlief in zwei ganz unterschiedlichen Diskursen, geprägt durch die jeweils unterschiedliche Nähe und Ferne zum Kaiserhof in Konstantinopel. 391 wurde das Christentum zur offiziellen Religion des Kaiserreichs erklärt und alle anderen Kulte als heidnisch verboten. Damit gelangte ein Prozess zum Abschluss, der 312 mit der Anerkennung des Christentums durch Constantin den Großen nach seinem Sieg über den Gegenkaiser Maxentius begonnen hatte. Mit Constantin setzte eine Form christlich motivierter politischer Theologie ein, in deren Zentrum der Hoftheologe Constantins stand, Eusebios von Cäsarea (ca. 263-339). Eusebios war Berater und Biograph Constantins. Zum 30jährigen Regierungsjubiläums im Jahre 335 verfasste er eine Rede, in welcher er den Monotheismus mit der monarchischen Idee gleichsetzte (Lob Constantins 12, 2-4). Der Kaiser bildete darin mit seiner irdischen Herrschaft die himmlische Herrschaft Gottes nach (Lob Constantins 1,6-2,5). Das neue Rom galt als Erfüllung des göttlichen Heilsplanes, eine zur Ruhe gebrachte Eschatologie, eine Lösung der TranszendenzVerheißung in dieser Welt durch deren Vergöttlichung in Gestalt des Kaisers. Die christlicher Legitimationsstrategie und die dadurch ermöglichte Integration der Kirche in den Herrschaftsapparat der weltlichen Herrschaft wird „Cäsaropapismus" genannt. Das Christentum stand zwar nun dauerhaft unter dem Schutz des Römischen Reiches, musste aber einen Legitimationstransfer leisten, da es als Staatsreligion den Kaiser in die Kirche einzubeziehen hatte. Dazu zählten das Zeremoniell der Krönung und die Integration der kirchlichen Behörden in den politischen Apparat. Dieses spezifische Amalgam prägte das byzantinische politische Denken. Die enge Verbundenheit der Kirche mit der griechischen Philosophie und der Cäsaropapismus beförderten hier ein eher spekulatives als politisches Selbstverständnis der Kirche. Die politische Ideengeschichte von Byzanz (Fögen 1993, 41-85; Canning 1996, 3-15) verlief nach sehr eigenen Gesetzmäßigkeiten, ihr Einfluss auf Europa war nur sehr vermittelt, wo der Zerfall des weströmischen Reiches und die Völkerwanderung eine wie in Byzanz mögliche Kontinuität nicht erlaubte. Das kulturelle Gefalle zwischen Ost und West war so hoch, dass der Westen Byzanz eher als Stätte der Wunder oder auch als Sündenpfuhl rezipierte. Berichte westlicher Gesandte sprachen noch im 10. Jahrhundert von den Wunderbarkeiten, die am byzantinischen Hofe zu sehen seien und gegen deren Reize man sich zu wappnen habe, um ihnen nicht zu erliegen (Rentschier 1981). Die Abgrenzung des Wesens von Ostrom blieb ein Dauerthema (Fischer 1957), aber das Charisma der Romidee blieb bestehen (Fuhrmann 1993). Dem anhaltenden Einfluss der östliche Kaiser durch die Konzile auf die Gesamtkirche setzte der Westen die Idee eines Primats des römischen Bischofs, d.h. das Papsttum, entgegen. Das war angesichts der entvölkerten Stadt Rom und des mangelnden Herrschaftsapparates ein kühner Anspruch, der erst mit der Übertragung der römischen Reichsidee auf die fränkischen Könige zur greifbaren Realität werden konnte. Anders als der griechisch geprägte Osten war im Westen das Lateinische herrschend und damit auch das römische Schrifttum, das philologisch und begrifflich die westliche christliche Theologie prägte und von der griechischen Theologie des Ostens mit ihren stärker spekulativen Zügen trennte (Dannenbauer 1959/1962; Brown 1996). Im Westen erfolgte die christliche Apotheose des römischen Reichs in den Schriften des lateinisch schreibenden Theologen Tertullian aus Karthago (etwa 155-220). Er bettete das römische Reich in eine christliche Heilsgeschichte ein (Ehrhardt II 138-158). Rom war darin das letzte der im Buch Daniel beschriebenen fünf Weltreiche (Ad Nationes II 17, 18-19, etwa 197). Der Gedanke des Katechons, des Aufhalters der heilsgeschichtlichen Fortentwicklung aus Paulus' zweitem Thessa-

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loniker-Brief (2, 6-7), übertrug Tertullian auf Rom. Origines (etwa 185-254), der mit seiner Theorie des vierfachen Schriftbeweises wesentlich zur Ausbildung der Hermeneutik beitrug, entwickelte die Zukunftsvision eines christlichen römischen Reiches (Contra Celsum VIII 69-70, etwa 248). Aber erst die weitere Patristik und Augustinus an ihrer Spitze sicherten die Amalgamierung christlicher Ideale und römischer Begriffe auf der Grundlage der römischen Literatur und begründeten so das „Lateinische Mittelalter" (Curtius 1993). Das intellektuelle Erbe der römischen Kultur, insbesondere das Werk Ciceros, wurde im Westen zur geistigen Vorbereitung gelehrten Christentums. Dabei war die Integration des alten römischen - und somit heidnischen - Schrifttums in die christliche Lehre keineswegs selbstverständlich. Zahlreiche, oft orientalisch situierte christliche Richtungen waren bestrebt, das römische Erbe abzuschütteln. Die westliche Patristik verband im Ergebnis das eschatologische Potential des Frühchristentums mit den ethischen Anforderungen, die nicht zuletzt die römisch sozialisierte Oberschicht von einer Leitkultur erwartet haben dürfte. Bereits Laktanz (260 geb.) verarbeitete fast das gesamte ihm zugängliche Werk Ciceros. Hieronymus (um 330/340-419/420), der die Bibel ins Lateinische übertrug, erzählte in einem berühmten Brief sein Damaskuserlebnis: er habe im Traum den Vorwurf vernommen, er sei Ciceronianer, nicht Christ, was ihn veranlasste, hinfort der weltlichen Literatur abzuschwören. Die mit dem römischen Schrifttum erworbenen Fähigkeiten wurden der Theologie dienstbar gemacht. Ambrosius von Mailand (339-397), Sohn des römischen Präfekten aus Trier und von vornehmster Herkunft, schrieb nach 386 die De officiis Ministrorum, eine Reaktion auf den Streit um den Viktoria-Altar: Quintus Aurelius Symmachus, altgläubiger Stadtpräfekt 383384, hatte um die Wiederaufstellung des Victoria-Altars in der Kurie gebeten, weil er die altrömischen Werte und das vorchristliche Erbe des Patriotismus neu beleben wollte (Fuhrmann 1996, 59-80). Ihm antwortete Prudentius' christliche Gegenpolemik {Contra Symmachum). Die Aufgabe bestand demnach für die Kirchenväter darin, das römische Erbe mit dem christlichen Lehre und Ethik zu amalgamieren. Ambrosius verstand es, den altrömischen Tugendkatalog in christliche Weltvorstellungen zu inkorporieren (De viris illustribus). De officiis Ministrorum übernahm Ciceros Argumentationsweise und ersetzte dessen Exempla aus der antiken Geschichte durch Beispiele aus dem Alten Testament, das neue Ziel aller Sittlichkeit war nun das ewige Leben und nicht mehr die vita activa. In ihrer Orientierung an der Transzendenz erweise sich die Überlegenheit der christlichen vor der philosophischen Ethik. Da die christlichen Quellen älter seien als die griechischen und mit der Berücksichtigung der Pflichten vor Gott die christliche Pflichtenlehre einen umfassenderen Inhalt habe als die römische, postulierte Ambrosius auch der Vorrang des Christentums und die Rechtfertigung, aus ihrer Sicht die römische Ethik zu interpretieren und sich einzuverleiben (Schneider 1954; Gigon 1966; Klein 1971). Wenn beispielsweise Cicero die „bona fides" als Voraussetzung der Gerechtigkeit diskutierte (De officiis I 7, 23), interpretierte Ambrosius dies als Glauben in Gott (De officiis Ministrorum I 29, 142). Damit geriet das römische Herzstück der Tugendlehre mit ihrer stark politischen Ausrichtung immer mehr aus dem Blick (Skinner 1978, 191-93). Vor allem wirkte Ambrosius als Lehrer auf Augustinus (354-430), den einflussreichsten politischen Theoretiker des Christentums und bis heute Gegenstand kontroverser Interpretationen (Forschungsüberblick bei Thomas Smith 2005). In Nordafrika als Sohn eines Heiden und einer Christin zur Welt gekommen (Peter Brown 1982) durchlief Augustinus zunächst die ehrgeizige Karriere eines Rhetoren. Cicero, neben Quintilian der wichtigste lateinische Theo-

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retiker der Rhetorik, war sein Vorbild. Nicht die praktisch-politischen Teile von Ciceros Werks prägten ihn, sie waren zu Augustinus' Zeit bereits aus dem Lehrplan verschwunden (Fuhrmann 1996, 94); sondern der Hortensius, ein Loblied auf das philosophische Leben, das Cicero am Ende seines Lebens in tiefer Depression schrieb. Die Kirche zeigte zu diesem Zeitpunkt nach einer 200jährigen Politik des Anschmiegens an das Römische Reich Auflösungserscheinungen. Als Augustinus 395 Bischof von Hippo in Nordafrika wurde, hatte er eine vielfache Frontstellung zu vergegenwärtigen: Zum einen erhob eine stärker der griechischen Philosophie verpflichtete Auslegung des Christentums Einwände gegen die starre Jenseitsausrichtung, sofern sie auf Kosten ethischer und sittlicher Maßstäbe für das Verhalten in dieser Welt erfolgte (pelagianischer Streit). Zugleich beobachtete Augustinus mit Sorge das Vordringen östlicher Christentums-Auslegungen, in deren Zentrum die Anachoretenbewegung mit ihrer mystischen Weitabgewandtheit der Eremiten stand. Im 4. Jahrhundert erhielt ihre Verehrung einen zusätzlichen Schub durch Athanasius' Biographie des Eremiten Antoninus. Diese Antoninus-Vita wurde von Eragrius von Antiochia ins Lateinische übersetzt und wirkte so auch im Westteil, wo sich Augustinus mit ihr auseinandersetzte (Vom Gottesstaat VIII 6). Aus dieser Bewegung erwuchs die soziale Organisation der Weitabgewandtheit, das Mönchtum, eines der markantesten Merkmale des Mittelalters. Augustinus trug selbst mit Klostergründungen dazu bei, den Drang zur Weltabwendung zu kanalisieren und sozial einzubinden. Sein Augenmerk galt auch dem Purismus der Donatisten, die alle Sünder aus der Kirche verbannen wollten. Augustinus bekämpfte diese Bewegung und erbat schließlich auch die Hilfe der römischen Behörden, die den Donatismus gewalttätig bekämpfen halfen (Augustinus' Predigten und Briefe zum DonatistenStreit: Political Writings 2001, 128-203). Diese politische Aktivität ließ sein eigentlich distanziertes Verhältnis zur Obrigkeit in einem Zwielicht erscheinen (Dodaro 2005). Schließlich galt es für Augustinus das Verhältnis der nicht-christlichen Römer zur Kirche zu stabilisieren, denn bei weitem nicht alle Römer waren Christen. Viele bewahrten ihre alte Religion im kollektiven Gedächtnis und sogar den Kultus, wie der Streit um den VictoriaAltar gezeigt hatte. Augustinus war als Schüler des Ambrosius in Mailand dieser Konflikt vertraut. Ferner standen die Christen in einem prekären Verhältnis zur weltlichen Herrschaft. Denn die ethischen und politischen Gebote eines Bürgers des römischen Reiches waren nicht deckungsgleich mit den Geboten Christi. Dieser schwelende Konflikt steigerte sich zur regelrechten Krise als im Zuge der Völkerwanderung am 14. 8. 410 die Westgoten unter ihrem König Alarich Rom stürmten und plünderten. Dieses Ereignis übte eine ungeheure Wirkung aus. Die Völkerwanderung zwang zahlreiche heidnische Römer ins Exil nach Nordafrika, die den Vorwurf mitbrachten, das Christentum sei mit seiner Transzendenzsehnsucht für den Verfall des Imperiums und seiner Wehrkraft verantwortlich: erst die Christianisierung habe zur politischen Ohnmacht der weltlichen Herrschaft geführt. Wie sollte das Christentum auch den Widerstand gegen die Barbaren der Völkerwanderung unterstützen können, war es doch eine Religion der Liebe und des Opfers und nicht der aktiven Politik und der Rechtfertigung kollektiver Gewalt. Nur vor diesem Hintergrund der innerchristlichen und der christlichrömischen Auseinandersetzung ist das komplexe, in sich keineswegs widerspruchsfreie Gedankengebäude Augustinus zu verstehen. Der Vorwurf einer Art moralischer Unterminierung des Reichs war nicht neu. Schon Origines hatte mit diesem Vorwurf zu kämpfen (Contra Celsum VIII 73) und antwortete mit Hinweis auf die Vorbildlichkeit der christlichen Untertanen, insbesondere ihre friedensstiftenden Leistungen (unter Hinweis auf Lukas 1, 79; 2, 11 und Matthäus 5, 9). Augustinus versuchte

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zunächst in einer Predigt die Plünderung Roms unter dem Gesichtspunkt des versprochenen himmlischen Glücks und der Nachrangigkeit irdischen Glücks zu marginalisieren (Political Writings 205-214). Auch sein politisch-theoretisches Hauptwerk Vom Gottesstaat (De Civitate Dei) konzipierte Augustinus 412 als Reaktion auf die Plünderung Roms. Zahlreiche ethische Überlegungen darin nahmen auf dieses Ereignis Bezug. Hierzu gehörten die Selbstmorde zahlreicher Römerinnen, die auf diese Weise der Schändung zuvorkommen und dem altrömischen, bereits bei Livius {Historien I, 57-60) gefeierten Vorbild der Lucretia nacheifern wollten. Augustinus lehnte als Christ den Selbstmord ab und so auch den der Lucretia {Gottesstaat I 16-28). Der Gottesstaat „civitas Dei" nahm den lateinischen Begriff „civitas" auf, mit dem für gewöhnlich der griechische Begriff der Polis übersetzt wurde, und gab ihm eine neue, eschatologische Wendung. Es-chaton heißt „das Letzte" und Eschatologie meint die Lehre von den letzten Dingen. Es handelte sich um die Jenseits-Vorstellung, vor deren Hintergrund Dasein und Wert der Welt hienieden eingeschätzt werden. Dieser Transzendenzbezug denkt die Ewigkeit und relativiert daher das irdische Dasein, welches als vergänglich, als „nur" historisch begriffen wird. Geschichte im Sinne von Geschichtsschreibung war Augustinus natürlich bekannt. Wenige Jahre vor dem Beginn der Arbeit am Gottesstaat legte Ammianus Marcellinus seine Rerum gestarum als letzter römischer Historiker vor. Orosius verfasste (auf Veranlassung von Augustinus) als einer der ersten christlichen Historiker die Sieben Geschichtsbücher gegen die Heiden. Augustinus ließ im Unterschied zu diesen eher im klassischen Stil gehaltenen Geschichtswerken die Entwicklung der Welt auf einen jenseitigen Punkt zulaufen: das Jüngste Gericht (Markus 1970, 1-21). Die Geschichte war bei Augustinus ein Prozess zwischen zwei zentralen Ereignissen: dem Sündenfall und dem Jüngsten Gericht. Alle Zeit dazwischen ist Zwischenzeit, Übergangszeit. Augustinus bediente sich des Bildes des Pilgers, der auf dieser sichtbaren Welt wandert, aber seine Normen aus einer unsichtbaren, oder besser: noch nicht sichtbaren Welt, dem himmlischem Reich, bezieht. In einem übertragenen Sinne können wir stets von einem wirksamen Aspekt an politischer Eschatologie sprechen, wo die Prozesshafltigkeit der weltlichen Geschichte auf einen Fluchtpunkt hin konzipiert wird. Insofern sind auch im Geschichtsbild des wissenschaftlichen Sozialismus, insbesondere in bestimmten Phasen der Theorieentwicklung von Karl Marx Züge einer politischen Eschatologie erkennbar (Löwith 1949). Vielleicht ist die historische Erwartung der Stillstellung aller Konflikte auf dem Wege der Demokratisierung aller Völker eine andere säkularisierte Form von politischer Eschatologie. Es greift allerdings zu kurz, aus der Wirkungsgeschichte der Eschatologie auf Augustinus selbst zurückzuschliessen und sein Politikverständnis von vornherein als Verfehlung des Politischen zu bezeichnen (Sternberger 1978, I, 309-380). Synchron betrachtet bestand seine Aufgabe darin, in einer Krisen- und Übergangszeit die römischen und christlichen Ansprüche zu vermitteln. Den Ausdruck „civitas Dei" entnahm Augustinus den Psalmen (z. B. Gottesstaat II 21 mit Zitat aus den Psalmen 87, 3; vgl. Praefatio; X 7; XI 1). Herkömmlich wird die civitas Dei nach dem Vorbild des Apokalypsenkommentars des Donatisten Tyconius der civitas diaboli entgegengestellt. Augustinus folgte aber keinem manichäischen Dualismus, der von einem Kampf zwischen Gut und Böse in der Welt ausging. Er verdammte auch nicht das irdische Dasein vollends, sondern differenzierte die gegenwärtige Welt nach zwei Ebenen der Wirksamkeit, der civitas Dei und der civitas terrena, die sich in allen weltlichen Dingen zeigen können. Das himmlische Reich ragt schon jetzt in die sichtbare Welt, in das irdische Reich hinein. Aber es kann nicht mit menschlichen Fähigkeiten erkannt werden: Auch die Ausle-

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gung des Alten und Neuen Testaments reicht nicht aus und die menschliche Vernunft ist endlich. Gott gibt den Menschen aber spezifische Fähigkeiten, die Zeichen aus der himmlischen Welt zu erfahren und zu deuten. Dazu zählt der Glaube: nur aus dem Glauben wird die Zugehörigkeit zum himmlischen Reich erfahrbar (XIX 4). Auch die Liebe und der freie Wille ermöglichen dies. Das irdische Leben war für Augustinus kein Wert an sich, sondern eine permanente Gefahrenquelle: Krankheit, Hunger und Krieg bedrohten den leiblichen Bestand des Menschen und machten eine Regelung der irdischen Lebensverhältnisse erforderlich. Zur civitas terrena zählte er neben der weltlichen Macht auch die Kirchengewalt. Anders als im späteren Mittelalter setzte Augustinus die civitas Dei nicht mit der Institution der Kirche gleich oder stufte alle irdische Macht als nachrangig ein. Die irdische Ordnung war Übergang, aber nicht ohne heilsgeschichtliche Bedeutung: sie sei Reaktion und Resultat der Mängel und Schlechtigkeit des Menschen nach dem Sündenfall. Jene Triebe und Bedürfhisse, die zum Verlassen des Paradieses der ersten Menschen geführten hatten und die Menschheit mit dem Makel und dem Unvermögen der Erbsünde belegten, machten eine irdische Gewalt hienieden erforderlich. Das Erbübel der Leibfesselung steigerte Augustinus zur Erbsünde der ganzen Menschheit (De diversis quaestionibus ad Simplicianum, Patrologia latina, Bd. 40, 125, geschrieben etwa 396). Adams Ursünde sei repräsentativ und damit auf die ganze Menschheit ausgeweitet, was auch die Kinder einbezog (Baus/Ewig 1985, 180). Alle Herrschaft und Unterordnung entstanden als Folge der Erbsünde (Gottesstaat XIX 15; vgl. Gregor der Große Moralia 21-32; Stürner 1987, 67-84). Im Kampf zwischen Kain und Abel war der beständige Kampf im Menschen zwischen Geist und Fleisch symbolisiert (XV 5). Es sei die selbstverschuldete Unfähigkeit des Menschen und die Trennung von Geist und Fleisch, die eine Zwangsordnung zur Bewältigung des Fleisches erforderte. In der augustinischen Erbsündenlehre kann man, von ihrer theologisch-christlichen Last befreit, eine Kritik am rationalistischen Optimismus antiker Schriftsteller erblicken und damit einen Ansatz zum politischen Realismus (Niebuhr 1954, 119-146; Loriaux 1992), der sich gegen ein idealistisches Politikverständnis richtete: der Mensch ist seiner Natur nach defizient, auch wenn er im Geiste eine ideale politische Ordnung zu ersinnen imstande ist. Andererseits ist die strikte (und ganz ungriechische) Trennung von Leib und Seele nicht die einzige Möglichkeit eines solchen Realismus. Die monastische Wurzel der augustinischen Leibfeindlichkeit ist unübersehbar. Die Herabminderung des Körpers hatte erhebliche Auswirkungen auf die christliche Morallehre, gegen die Friedrich Nietzsche - vorerst vergeblich Dionysos zum Gegenzeugen aufrief. Für die politische Ideengeschichte ist die Legitimation der politischen Gewalt als Zwangsanstalt entscheidend geworden. Die Vorstellung von politischer Ordnung als Ergebnis des Sündenfalls beherrschte das politische Denken bis weit über das Mittelalter hinaus (Stürner 1987). Augustinus war bestrebt, aus der Transzendenz nicht auf Asozialität zu schließen. Selbst die Heiligen führen ein geselliges Leben und so auch der Mensch (Gottesstaat XIX, 5). Soziale Verhältnisse waren Augustinus daher kein Widerspruch zur civitas Dei. Der Mensch sei von Natur ein animal sociale, aber deswegen noch lange kein animal politice. Für Augustinus gab es eine natürliche Ordnung dieser irdischen Welt nach dem Schema, dass diejenigen bestimmten, welche die Sorge um die Nächsten tragen (XIX 14). Die Eltern befehlen über die Kinder, der Mann über die Ehefrau, die Herren über die Knechte und so fort auch im politischen Bereich. In einer Fehlinterpretation von Aristoteles verglich Augustinus (XIX 16) die fürsorgliche Machtausübung des Herrschers mit der Rolle des Hausvaters, unterschied also

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despotische und politische Herrschaft nicht mehr voneinander. Augustinus' Verständnis der Herrschaft hob er von der heidnischen ab, in welcher Ruhm und Ehrgeiz dominieren; sie beruhe vielmehr auf Nächstenliebe. Augustinus hatte die praktizierte Nächstenliebe der Christengemeinden vor Augen, ihre soziale Solidarität, die nicht mit antiken Vorbildern, auch nicht mittels des Freundschaftsideals zu verstehen war (Schneider 1954,1 511-512). Augustinus' patriarchalisches Grundmuster zur Einrichtung sozialer und politischer Verhältnisse dominierte das mittelalterliche politische Denken und bildete auch noch den Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für die lutherische Soziallehre. Bis in die christliche Rechtfertigung des Wohlfahrtsstaates im 19. Jahrhundert zeigte sich die wenigstens vermittelte Rezeption von Augustinus' Präferenz für das Oikos-Modell an Stelle des Polis-Modells. Mit dem zum Ideal erhobenen, christlich gewendeten Oikos-Modell rechtfertigte Augustinus auch das Vorhandensein von Sklaven und Knechten in christlichen Haushalten: solange sich die Hausherren sozial um die ihnen Anvertrauten kümmern, bleibt die politische Ungleichheit zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern nachrangig (Gottesstaat XIX 16). Der Hausherr leide unter Umständen sogar unter der irdischen Last der Herrschaft (dominandi), während der Sklave, der nur gehorchen muss, davon befreit sei. Erst im himmlischen Haushalt werden Befehle nicht mehr erforderlich sein. Nicht die Lust zu herrschen, sondern fürsorgliches Erbarmen dränge die Regierenden zur Regierung über die Regierten. In diesem Sinne diene auch der Herr seinen Dienern, insofern es die Nächstenliebe gebiete, Sorge zu tragen und sich um die Nächsten zu kümmern. Laut Augustinus muss eine „geordnete Eintracht der Zusammenwohnenden im Befehlen und Gehorchen" angestrebt werden (XIX 14: S. 557). Die altrömischen Tugenden waren nach Augustinus in Wahrheit schöne Laster (Gottesstaat XIX 25). Augustinus wollte jedoch nicht generell auf den Begriff der Tugend verzichten, wohingegen Luther nach den spätscholastischen Vorarbeiten ganz ohne sie auszukommen trachtete (Flasch 1994, 187). Viele römische Tugenden erschienen Augustinus vorbildlich und konnten vom irdischen auf das himmlische Vaterland übertragen werden (V 17-19). Doch es plage den Tugendhaften im hiesigen Leben die babylonische Verwirrung, die sich im Meinungsstreit und dem andauernden Zweifel der Akademiker und Philosophen niederschlage. Erst der Gottesstaat werde diese Zweifel zur Ruhe bringen können (XIX 18). Im Laufe der Zeit wendete sich Augustinus zusehends vom Römischen Reich als dem Garanten der erstrebenswerten Ordnung ab. Ob die skeptische Entfremdung mit persönlichen Erlebnissen, dem faktischen Niedergang des Imperiums oder primär mit theologischen Entwicklungen in Zusammenhang stand, ist unklar (Brown 1982; Markus 1970, 154). Der weltlichen Herrschaft bürdete Augustinus bald nur noch eine Aufgabe auf: wenigstens Unordnung zu vermeiden. Augustinus hatte ohnehin die politische Ordnungsidee des römischen Imperiums verurteilt, dem er sowohl Gerechtigkeitsorientierung wie Friedensidee absprach: alle Begriffe von Gerechtigkeit und Frieden ohne den Bezug zu Gott müssten defizient bleiben: „Remota itaque iustitia quid sunt regna nisi magna latrocinia?" (Gottesstaat IV 4), lautete das Donnerwort: was sind Regierungen ohne Gerechtigkeit außer große Räuberbanden? Daher bedürfe es der Gerechtigkeit als eines externen moralischen Anspruchs, der folgerichtig auch nicht der konkreten politischen Ordnung zu entnehmen ist. Damit widersprach Augustinus an diesem Punkt Cicero, der die moralische Übereinstimmung, auf dem bei ihm die Gemeinschaft basierte, als ihre normative Grundlage angesehen hatte. Eine Forschungsfrage war immer, ob die hier von Augustinus gewählte grammatische Konstruktion konditional oder kausal ist: sind oder wären Regierungen ohne Gerechtigkeit Räuberbanden? Augustinus kehrte die Kritik von Celsus, die Kirche sei eine Räuberbande (überliefert bei Origines,

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Contra Celsum 5, 40; 7, 70) gegen den Staat (Ehrhardt 1959, II 40). Er sprach dem Reich die (heilsgeschichtlich interpretierte) Gerechtigkeit (Gottesstaat XIX 21) ab. Augustinus lehnte das römische Reich auch deshalb ab, weil es wie alle Reiche oft nur die Ungerechtigkeit vergrößere (Gottesstaat XV). Der Frieden werde eher durch eine Vielzahl von Völkern gewährleistet, vergleichbar der Vielzahl von Häusern in einer Stadt (IV 15). Gleichwohl hob Augustinus das römische Imperium als vorbildlich von den Gerechtigkeitsvorstellungen anderer Völker ab, nicht zuletzt wegen der Christianisierung durch römische Kaiser, die wie Constantin und Theodosius von ihm als wahre sittliche Herrscher gepriesen wurden. Nur wenn die civitas terrena nicht mehr den wahren Gott verehrt und ihre bloß irdische Selbsterhaltung als oberstes Ziel verfolgt, wandelt sie sich zur civitas diaboli. Setzt die weltliche Ordnung aber ihre Macht zur Sicherung der civitas Dei ein, wird der Staat nach göttlicher Art und nicht nach Menschenart regiert und insoweit Gehorsam und Demut an Stelle von Selbstliebe und Stolz Kennzeichen des politischen Verhaltens sind, erweist sich der Staat als gerechtfertigt (XV 15-18). Die höchsten Güter vermittelt allerdings einzig die civitas Dei: nur in ihr ist das ewige Leben, der ganze Frieden und der Verkehr mit dem höchsten Wesen, d.h. mit Gott möglich. Umgekehrt ist auch die Kirche ein Teil der irdischen Welt und insofern fehlerbehaftet, wie die vielfachen Verfehlungen von kirchlichen Amtsträgern oder das sektiererische Unwesen von Kirchenabspaltern und Kirchengründern bewiesen. Augustinus' Vermittlungsversuch zwischen römischer Ordnung und christlicher Erwartung zeigte sich schließlich auch in seinem Kriegsbegriff Er lehnte die antike Akzeptanz des Krieges als einer gleichsam selbstverständlichen Begleiterscheinung des politischen Verkehrs der Völker ab. In Anlehnung an Cicero (De republica III 23; Reibstein 1957, 125) verlangte er besondere Gründe für die Kriegseröffnung. Augustinus bestand auf Vertragstreue und akzeptierte nur die Selbsterhaltung als von vornherein unbestreitbare Berechtigung der Waffengewalt. Dies war also kein Plädoyer fur einen allgemeinen Gewaltverzicht. Gewalt kollidiert nicht zwingend mit den Geboten des Evangeliums: Augustinus erklärte, die Gebote richteten sich an die Gesinnung, nicht an das äußerliche Verhalten, ferner seien äußere Kämpfe als Spiegel innerer Kämpfe zu deuten (Reibstein 1957, 128-132). Diese Theorie erhob die Kirche später zur Maxime (Decretum Gratianum II 23 causa, bei Reibstein 1957, 129-131); sie erlaubte es Bischöfen, Gewalt anzuwenden, wenn sie nur aus aufrichtigen Motiven und mit moralischem Ernst verübt wurde. Die Idee des vollkommenen Friedens war Augustinus zufolge kein Verhaltensgebot christlicher Ethik, sondern nur dort zu erwarten, wo die Vernunft nicht mehr die Sünde besiegen muss, also erst in Gott. Generell galt Augustinus die Beschäftigung mit politischen Fragen nicht als Sünde, so lange sie nicht um der persönlichen Bereicherung willen erfolgte (Reibstein 1957, 135). Nach Augustinus ist der menschliche Willen sündenbelastet und nicht frei. Die Idee des freien Willens sei aus dem Wunsch, ja der Sehnsucht des Menschen geboren, leben zu können ohne die Furcht vor Gottes Wille (Jonas 1930). Diese Freiheit sei aber eine Freiheit ohne Gott und fiktiv: der Mensch wolle sich an Gottes Stelle setzen (De libera arbitrio 1 4 , 1 0 und III 24, 71). Aber vor dem Hintergrund des Kampfes gegen den Manichäismus und dessen Auffassung von dem vorherbestimmten Kampf des Bösen mit dem Guten in der Welt (vor 395), wollte Augustinus gegen die orientalische Vorstellung des Fatalismus ein Stück antiken Geistes retten, in dem er die Freiheit des Willens bis zu einem gewissen Grade behauptete. „Nichts ist diesbezüglich im Vermögen des Willens als der Wille selbst" (De libero arbitrio I 12, 26). Es bleibt dem Menschen die Möglichkeit, sich für das Gute und damit für

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Gott zu entscheiden. Ob dieser Wille sich verwirklicht, ob er gut bzw. gerechtfertigt werden kann, ist eine Frage, die vom menschlichen Verstandesvermögen nur unvollständig erfasst werden kann und endgültig erst im jüngsten Gericht entschieden wird (Flasch 1994, 107). Die Freiheit ist also von vornherein von der göttlichen Gnade bestimmt, ein Gedanke der die menschliche Freiheit als Ursprungskategorie aufhebt. Im späteren Kontext des Pelagianischen Streites schränkte Augustinus die Freiheit des Willens weiter ein. Pelagius hatte in seinem Brief an Demetriades (um 414) die sehr griechische Vorstellung vertreten, wonach die Freiheit ein zentrales Element des Glaubens sei: Gott habe gewollt, dass der Mensch aus freien Stücken gerecht sei. Der freie Wille sei Zurechnung gerechter Bewertung, der Mensch daher nicht von vornherein als Fehlender und als Mängelwesen begriffen (Baus/Ewig 1985, 176). Für Pelagius stellte der menschliche Wille ein wichtiges Vermittlungsstück bei der Erfüllung von Gottes Willen dar. Dies erschien Augustinus eine zu starke Einschränkung der göttlichen Allgewalt zu sein und dem menschlichen Willen eine zu große Kompetenz zu verleihen. Die Erbsünde habe dem Menschen ein für alle Mal die Möglichkeit genommen, sich aus freier Wahl für das Gute zu entscheiden. Vielmehr sei es nunmehr wesentlich die göttliche Gnade und damit die für den Menschen letztlich unvorhersehbare Vorbestimmung göttlicher Allmacht, die das Heil gewähre. Gottes Gerechtigkeit war nun eine Art verborgene Billigkeit, welche für Menschen unerforschlich ist und daher auch nicht Gegenstand der Erkenntnis sein kann (De diversis quaestionibus ad Simplicianum, Patrologia latina, Bd. 40, 120). Der freie Wille blieb semantisch vorhanden, sank aber zur Bedeutungslosigkeit herab (Ilting 1983, 167-168). Der Fokus der augustinischen Lehre lag auf der Rechtfertigung, sie war primär eine Legitimationstheorie. Wie die Institutionen, welche sie rechtfertige, aufgebaut waren, schien von nachrangiger Bedeutung zu sein. In diese institutionentheoretische Lücke rückte der Gedanke der Kirche als Organisation des Heils ein.

2. Politik und Religion: der Grenzbereich der politischen Theorie Es liegt nahe, im Mittelalter einen starken Einfluss der Gottesidee, der religiösen Praxis, der kirchlichen Institution sowie der Theologie auf politisches Denken und politische Theoriebildung zu erwarten. Das heißt aber nicht, es hätte vorher oder nachher keinen solchen Einfluss gegeben. Das Thema des Verhältnisses von Religion und Politik begleitete die Ideengeschichte von der antiken Polisreligion bis zur Frage, ob die Geltungskraft der Menschenrechte nicht ihren christlichen Wurzeln zu verdanken ist. Andererseits machte auch die theoretische Erfassung von totalen Herrschaftsregimen wie Faschismus oder Nationalsozialismus Anleihen bei der Religion als Denkfigur. Religion und Politik finden sich sowohl in den Ursprüngen des Toleranzgedankens wie in der Theorie der Zivilreligion. In der Theorie der „politischen Theologie" schließlich verschmelzen politisches und religiöses Denken zu einem Amalgam. Das vielfache Verhältnis von Politik und Religion Das begriffliche Verhältnis von Politik und Religion betrifft zunächst die Komplementarität politischen Denkens und bestimmter Glaubensrichtungen. Hier kann man etwa das spezifische Verhältnis von demokratischer Idee und christlichem Glauben bei den Purita-

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nern des 17. Jahrhunderts untersuchen (Meenken 1996) oder generell vom arabischen, katholischen, protestantischen politischen Denken sprechen. Zum anderen ist Religion selbst Gegenstand der Politik bzw. wird politisch: Primär religiös motivierte Akteure beschränken sich nicht allein auf Gebet und Predigt, sondern greifen zu politischen Mitteln und suchen das Heil mit politischen Instrumenten zu erreichen oder gar: zu erzwingen. Diese Art der Politik kann sich als Theokratie sogar zu einem (meist unterschätzten) Fall der Regierungslehre verdichten. Umgekehrt können primär politisch motivierte Akteure die Religion selbst als politisches Instrument erkennen und gebrauchen, um Herrschaft und Einfluss zu stützen (Faber 1987). Die enge Verzahnung der politischen und der religiös-kultischen Sphäre gehörte zu den charakteristischen Eigenarten der griechischen Polis wie der römischen Republik. Das römische Kaiserreich kannte bereits den Gedanken der Vergöttlichung des Kaisers, der von christlichen Theoretikern dann aufgegriffen und verarbeitet wurde, was wiederum Folgen für die Weltvorstellung des Christentums hatte. Bis in das 19. Jahrhundert hinein hielt sich das Ansinnen, die monarchische Spitze als Gottesgnadentum zu legitimieren. Ein Transfer von der antiken zur christlichen Semantik fand statt: die „ecclesia" der athenischen Volksversammlung wurde im Christentum der generelle Kirchenbegriff, das „sacramentum" war eigentlich der römische Fahneneid. Das Vorbild des obersten Priesters in der römischen Republik, des „pontifex maximus" als eines Wahlamtes beeinflusste die christliche Variante des Papsttums. Ferner war es für die Klärung des Selbstverständnisses der christlichen Kirche bedeutsam, dass die antike Theoriebildung ein distanziertes Verhältnis zur Religion entwickeln und das Verhältnis von Politik und Religion mit gehörig reflexivem Abstand zum Kultus thematisieren konnte. Hierzu gehörte die Differenzierung der Theologie nach ihrem mythischen, ihrem politischen und ihrem philosophischen Gehalt. Diese Dreiteilung geht auf Panaitios (185-109), dem führenden Kopf der mittleren Stoa zurück. Sie wurde von Quintus Mucius Scaevola (Pontifex) aufgegriffen und bildete durch ihre Zusammenfassung bei Marcus Terentius Varro (116-27) die Grundlage der späteren Rezeption durch Tertullian und vor allem Augustinus. Augustinus überlieferte die von Marcus Varro gemachten Angaben zu den drei Möglichkeiten der Theologie (Dihle 1996) als Lehre von den Göttern (Vom Gottesstaat VI 5), wobei die mythische (genus fabulare) von der physikalischen (genus naturale) und der politischen (genus civile) Lehre zu unterscheiden sei. Die erste Theologie sei besonders „für das Theater" geeignet, die zweite „für die Welt", die dritte „für die Stadt" (Augustinus VI 5: S. 294). Die mythische Variante errichten die Dichter, für die physikalische sind die Philosophen verantwortlich und die bürgerliche Vorstellung entsteht in der politischen Gemeinde. Erstere ist anthropomorph und daher falsch: sie weist den Göttern alles Schlechte und Niedrige zu und ist nur ein Spiegel des Menschen. Die zweite ist unbrauchbar, denn sie wird zum Auslegungsproblem im intellektuellen Wettkampf von Philosophen, was zum Streit und der Gründung neuer Sekten führt. Nur die dritte, die politische, hält Varro für unentbehrlich. Die Politik organisiert die Vereinigung der Bürgerschaft im Kultus, der zugleich lehrt, was öffentlich Beachtung finden und verehrt werden soll. Als „Zivilreligion" wird dann die politische Theorie der Neuzeit diesen Grundgedanken neu aufgreifen. Augustinus referiert Varro nur, um das römische Theologieverständnis gänzlich zu verwerfen und setzt, wie gezeigt, an seine Stelle das Christentum nicht nur als neuen Inhalt des Glaubens, sondern als wahren Glauben schlechthin.

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In der christlich geprägten Ideengeschichte der westlichen Kultur begleitet das Thema der Religion hintergründig das weitere politische Denken. Gegen die Antikenrezeption und die ersten Tendenzen einer philologischen Relativierung der Offenbarungsschriften verschärfte die Reformation die Frage nach dem Rangverhältnis von religiösen und politischen Normen. Wie später noch ausführlicher gezeigt wird, entwickelte die katholische Kirche eine anstaltliche Binnenorganisation, deren Rationalität der modernen Staatlichkeit von der Gerichtsbarkeit bis zur Amtshierarchie Vorbild wurde. Zugleich entstanden weltkirchliche Interessen, die den Eindruck einer Art „Heilsverwaltung" und Budgetierung des Gnadenschatzes erweckten. Bereits die Bettelorden propagierten dagegen ein weitabgewandtes und stärker spirituelles Glaubensverständnis, gefolgt von der Reformation. Ihre Grundidee des Laienpriestertums war die Alternative zur kirchlichen Amtshierarchie, woraus ein neues Modell entwickelt werden konnte, in welchem sozialen und politischen Verhältnis die Gläubigen als Bürger einer Heilsgemeinde zueinander stehen mussten. Je mehr jedoch die offenbarten Schriften als unmittelbare Anweisungen zur Lebensführung und sozialen Organisation verstanden wurden, desto großer wurde die Gefahr des Konfliktes. Passiv war dies eine Frage des Widerstandes von Individuen und Minderheiten in Umwelten, die ihren religiösen Überzeugungen feindlich gegenüber standen, aktiv war es eine Frage der Gesellschaftsgestaltung, die Heilsvorstellungen in dieser Welt umzusetzen, wobei man sich hierzu genuin politischer Mittel bediente. Die Gemeinde als auf sich selbst gestellte Heilsordnung war aufgerufen, alle sozialen Verhältnisse selbst zu regeln. Daraus konnte ein starkes Verantwortungsbewusstsein für die Mitbürger entstehen, das freilich auch durch Disziplinierungsmaßnahmen polizeistaatliche Züge annehmen konnte. Erziehung und Wohlfahrt waren nun Aufgaben der Gemeinden, die besonders in den Gebieten calvinistischer Konfession die Idee politischer Selbstregierung propagierten. Als Mittel der Heilsbringung wurde auch vor der Gewalt nicht zurückgeschreckt. Martin Luther beispielsweise war entsetzt, beobachten zu müssen, wie sehr Thomas Müntzer (etwa 1488-1525) bereit war, die friedliche Ordnung mit kriegerischen Mitteln umzuwandeln, um ein aus den offenbarten Schriften extrahiertes Ordnungsmodell zu verwirklichen (Nitschke 1995; Quilisch 1999). In seiner Bundespredigt vor der 3. Bundesversammlung der aufrührerischen Bauern am 24. Juli 1523 rechtfertigte Müntzer den gewalttätigen Aufstand mit einer Interpretation des Alten Testaments. In der Nachfolge der Propheten verstand er die Bauern als eschatologische Avantgarde, die das Fürstenregime überwinden musste, um Gottes Reich errichten zu können und deren Gewaltanwendung daher gottgewollt sei. Müntzers unbedingter Gestaltungswille und die Nachrangigkeit, die er den unmittelbaren Konsequenzen dieser Mission beimaß, konnte Ernst Bloch ausgangs des Ersten Weltkrieges als Analogie zur Revolutionsidee deuten, deren historische Mission in der Emanzipation des Menschen bestünde (Thomas Müntzer als Theologe der Revolution 1921). Die Rolle des Propheten als Interpreten war überall dort eine hilfreiche Vorstellung, wo sich die Überzeugung festigte, die gegenwärtige weltliche Ordnung sei grundsätzlich zu überwinden, aber aus sich heraus nicht reformfähig, weshalb es einzelner Rufer und Mahner bedurfte, die aus dieser Ordnung heraustraten und das Volk an seine ursprüngliche Mission erinnerten. Das Volk in Bewegung sollte sich nicht aus der Gegenwart existierender Ordnung, sondern aus seinem Auftrag heraus verstehen, wobei sich besonders die Bundesidee als alternatives Ordnungskonzept zum weltlichen Regime anbot (Walzer 1965;

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1990). Umgekehrt veranlassten diese Ereignisse Luther dazu, alles selbsternannten Prophetentum von vornherein zu verdammen und in der existierenden weltlichen Ordnung wenigstens hilfsweise schon eine göttlich legitimierte Friedensordnung zu erkennen, derer der als Sünder begriffene Mensch bedurfte. Die konfessionellen Bürgerkriege des 16. Jahrhunderts waren Initialereignisse, die zur Anerkennung der Eigenart und des Vorrangs politischer Rationalität als Voraussetzung des Friedens führten. Alttestamentarische Vorbilder wurden zu Modellen der politischen Theorie. Ob stets die Gläubigkeit die Bevorzugung biblischer Modelle verursachte, war immer schwerer zu erkennen (Grotius, De iure belli ac pacis III 20, 1625). Die in England und Schottland diskutierte Bundesidee als göttlich gebotene Selbstorganisation wurde beispielsweise von Thomas Hobbes im Leviathan in ein Modell des Gesellschaftsvertrages umformuliert, dessen Basis nicht mehr der geteilte Glaube, sondern die Furcht vor dem physischen Tod war. Hobbes entschied die Analogie von weltlicher und göttlicher Gewalt zugunsten der politischen Ordnung, wenngleich das nicht bedeutet, er könnte nicht bezüglich seines Naturrechtsbegriff von theologischen Hintergrundannahmen beeinflusst worden sein (Martinich 1992). James Harrington diskutierte institutionelle Fragen der Versammlung und Beratung anhand antiker wie biblischer Vorbilder, namentlich der Versammlung von Theologen im Sanhedrin (The Prerogative of Popular Government Works ed. Toland, 318-329). Religion wurde schließlich immer stärker als politisches Mittel und aus der Perspektive politischer Rationalität diskutiert. Das wichtigste Beispiel ist die Idee der Zivilreligion. Die Zivilreligion Schon die Frage nach den Nutzen der Religion für die Politik zu stellen legt den Gedanken nahe, dass man selbst nicht mehr an die Götter glaubt, weshalb Autoren wie Thomas Hobbes, die die kirchliche Gewalt der staatlichen Ordnung unterstellen wollten, des Atheismus verdächtigt wurden. Andererseits wurden sogar die Religionsstifter immer wieder verdächtigt, primär politische Ziele verfolgt zu haben (Überblick bei Assmann 2003). Dies ist ein zentrales Motiv der Religionskritik von Spinoza bis zu Karl Marx und führte zu der Vorstellung, die Religion sei zwar der Seufzer der bedrängten Kreatur, aber zugleich „Opium des Volkes" (Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie MEW I 378), da sie ein illusorisches Glück an die Stelle der Ergreifung des „wirklichen Glücks" setzte, nämlich der politischen Selbstbefreiung. Hier liegt der Akzent dann auf der Befreiung von der Religion als Voraussetzung für die Befreiung der Menschheit. Ein anderer Akzent innerhalb der Ideengeschichte liegt darauf, die politische Nützlichkeit der Religion für die Stabilisierung von Herrschaft ebenso wie für den Machterhalt der Herrschenden konstruktiv in die politische Theorie zu integrieren. Machiavelli hat sich in den Discorsi ausführlich dazu geäußert ( I I I , siehe synchroner Diskurs „Florenz"). Dort erkannte er in der mythischen Gestalt des römischen Königs Numa Pompilius den Religionsstifter, dem es um die Stabilität der politischen Ordnung, weniger um den Willen der Götter ging. Machiavelli war bei weitem nicht der einzige, der auf dieses Vorbild zurückgriff (Silk 2004). In der Sache hatte bereits Polybios die bedeutende Rolle der politischen Religion für die Funktionsfähigkeit Roms hervorgehoben (Historien VI 56, 6-12). An Machiavelli schloss wiederum James Harrington an und gab dem Hobbes'sehen Modell eine

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republikanische (an Venedig angelehnte) Auslegung (Oceana, First preliminary), wenn er private Religionsausübung und die Nationalreligion voneinander unterschied; letztere zu reglementieren sei die Regierung befugt, da sie vom Volk gewählt wurde (Goldie 1987). Rousseau hat in seinem Modell der „Zivilreligion" den varronischen Gedanken der politischen Religion wieder aufgegriffen und einen zentralen Stellenwert in seiner Theorie der Republik gegeben (Contrat Social IV 8). Die Religion sah er als eine Bedrohung des Allgemeinwillens, wenn ihre kirchliche Organisation vom Staat separiert wird; in dieser Problemwahrnehmung folgte er Hobbes' Sichtweise. Rousseau forderte, dass jeder, der predigt, es gäbe kein Heil außerhalb der unabhängigen Kirche „aus dem Staat veqagt werden" müsse. Anders als Hobbes rechtfertigte Rousseau das nicht mit der Stabilität der politischen Ordnung, sondern mit dem öffentlichen Nutzen. Aus dem Blickwinkel der Stabilität der politischen Ordnung wollte Rousseau solche Staatsreligionen nicht gelten lassen, welche eine gottersetzende Verehrung des Vaterlandes und seiner Gesetze fordern, da sie die Menschen betrügen und leichtgläubig machen würden. Eine solche Auffassung von Religion erhebt einen Anspruch auf Ausschließlichkeit, wodurch laut Rousseau die Religion selber „tyrannisch" wird und das Volk zur Annahme verleitet, ein heiliges Werk zu verrichten, indem man jeden Leugner seiner Götter tötet. Rousseau lehnte also die Sakralisierung der politischen Ordnung durchweg ab. Die politische Ordnung darf sich seiner Ansicht nach nur insofern um die Religion kümmern, als deren Dogmen Einfluss auf die Moral der Bürger nehmen. Die letzten Glaubensinhalte sollen nicht Regellingsbestand sein. Rousseau sah in der Religion aber auch einen Nutzen, da sie den bürgerschaftlichen Habitus einüben helfe. Sie sei ein Mittel zur Einwirkimg auf die moralische Verfassung der Bürger in Hinblick auf ihr Pflichtenbewusstsein gegenüber der Gemeinschaft. Erforderlich sei daher eine Zivilreligion im Sinne eines „bürgerlichen Glaubensbekenntnisses", d.h. ein den Bedürfhissen der politischen Gemeinschaft angepasstes Bekenntnis (Kersting 2002, 189-201). Sein Inhalt wird von der Bürgerschaft festgelegt, und zwar nicht als religiöses Dogma, sondern um den Sinn für die Gemeinschaft zu festigen. Die Bürgerschaft kann niemanden zu einem positiven Glauben zwingen, aber jeden ausbürgern, der sich weigert, ein solches Glaubensbekenntnis abzulegen. Die Zivilreligion übernimmt also eine doppelte Funktion: Zum einen stellt sie der politischen Ordnung moralische Ressourcen zur Verfügung, zum anderen zivilisiert sie die Religion, d.h. sie kontrolliert die aller Religion innewohnenden überschießenden Energien, welche die politische Ordnung zu sprengen drohen. Ähnlich wie Machiavelli wünschte Rousseau eine Transformation des Christentums von einer Erlösungsreligion zurück zur Staatsreligion, die er nach römischem Vorbild konzipierte (Touchefeu 1999). Toleranz und Laizismus Heil und Herrschaft zusammenzudenken setzt immer voraus, dass es nur ein Heil und nur eine Herrschaft gibt: Voraussetzungen, die nie gegeben waren und meist nur künstlich und von kurzer Dauer hergestellt werden konnten. Der einfachere Weg bestand darin, dass die politische Ordnung sich mit der Frage des Heils ins Benehmen setzte. Eine Variante hierzu ist die „Toleranz" als politische Idee (Forst 2003). Sie ist ein Mittel zur Neutralisierung der religiösen Frage durch die Betonung der gegenseitigen Abgrenzung. Ist die Herrschaft mehr oder weniger unangefochten und zugleich imperial und so verschiedene Religionen

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umfassend, nimmt die Toleranz den Charakter gnädiger Duldung an. Die Toleranz wird dort zum Politikum, wo eine bestimmte Religion mit der Herrschaft verknüpft ist. Als in England die anglikanische Kirche errichtete wurde und seit Elizabeth I. den Katholizismus nicht nur als konfessionelle Konkurrenz, sondern als politische Bedrohung wahrnahm, stellte sich sogleich die Frage, welchen politischen Status die nicht-anglikanischen Religionen haben sollten, eine Frage, die noch heute die persönliche Konfession des Prime Minister eine politisch prekäre Angelegenheit sein lässt. Im 17. Jahrhundert drohte aufgrund des dynastischen Erbrecht die Nachfolge eines katholischen Königs, was mit dem Staatskirchentum zu kollidieren drohte und verhindert wurde. Zahlreiche Gesetze versuchten, die politische Loyalität der Bürger zum Land durch das Bekenntnis zur Landeskirche sicherzustellen. In „test acts" wurde die politische Amtsfähigkeit mit der Zugehörigkeit zur Landeskirche verbunden. Dahinter stand die Befürchtung, dass mit dem Katholizismus die politische Loyalität nicht dem eigenen Land allein galt und die Anerkennung des katholischen Glaubens gleichsam die Exklave einer fremden politischen Gewalt zuließ (Campbell 1986, 50). Vor diesem Hintergrund ist Lockes Toleranztheorie einzuordnen (Schmidinger 2002; Forst 2003). John Locke hat sich für religiöse Toleranz ausgesprochen (Brief über Toleranz 1685/1686). Das Thema war seit den Gärungen religiöser Bewegungen, besonders seit der Reformation virulent und wurde von Autoren wie Wycliff, Sebastian Franck, Vitoria, Las Casas und Bodin sowie aus Lockes eigener Epoche von Hobbes, Pufendorf und Spinoza behandelt, die oft auch aus persönlichen Gründen für die Frage religiöser Minderheiten sensibilisiert waren (Nederman/Laursen 1996). Lockes Theorie sah vor, dass erstens politische Gemeinwesen eine Landeskirche haben sollen und deren Regeln aufstellen dürfen und zweitens, dass alle Religionsausübung untersagt werden kann, die politische Verschwörung fremder Mächte unterstützt. Locke führte dieses Argument am Beispiel eines Muslims aus, welcher mit seinem Bekenntnis zum Islam auch die Untertänigkeit gegenüber politischen Befehlen des muslimischen religiösen Oberhauptes in Istanbul verbinde. Diese damals offenkundig irrelevante Fallbildung richtete sich erkennbar gegen den Katholizismus, dem tatsächlich Verschwörungspläne vorgeworfen wurden (Popish Plot 1678). Für Nonkonformisten wie den Dissenters beispielsweise, die sich der Testierpflicht nicht unterwerfen wollten, verlangte Locke Toleranz. Hier drohe die aus religiösem Eifer gespeiste politische Fraktionierung nicht aus der Sekte selbst, sondern werde erst durch die Intoleranz der politischen Gemeinschaft ihr gegenüber verursacht. Im Falle von Atheisten jedoch sah Locke keine Tolerierung vor. Atheisten seien aufgrund der Gottesleugnung nicht eidfähig und damit unfähig, bindende Versprechen abzugeben {Brief über Toleranz, ed. Ebbinghaus 1957, 91-101; Forst 2003, 276-311). Daher wurden sowohl Atheisten wie Papisten ausgeschlossen: erstere leugnen die Existenz Gottes und letztere konnten ihr Gewissen nachträglich reinigen lassen, wenn sie falsch schworen. Im Ergebnis gefährdeten beide Personengruppen die öffentliche Sittlichkeit und damit die Grundlage der gegenseitigen Versprechensfähigkeit, auf welcher jeder Gesellschaftsvertrag beruhte. Wer Gott leugnet, stellt die wertrationale Grundlage einer politischen und sozialen Gemeinschaft in Frage. Er muss aber deswegen nicht zum wahren Glauben bekehrt, sondern nur von der politischen Partizipation ausgeschlossen werden. Hier berühren sich die Vorstellungen von Locke und Hobbes, der die Verbannung dieser Person aus der politischen Gemeinschaft verlangte {Leviathan 14; Appendix ad Leviathan, opera latina III, 549; vgl. Prodi 1997, 376-381), obwohl doch der auch in Kirchenfragen souveräne Levia-

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than abweichende Religionen leichter tolerieren kann als bürgerschaftliche Verbindungen wie sie selbstregierende Gemeinden darstellen (Tuck 1993. 334-335). Locke wollte zwischen dem von ihm grundsätzlich eingeräumten individuellen Recht auf Anerkennung des freien Gewissens und dem Anspruch der politischen Gemeinschaft auf die Sicherung des Friedens vermitteln. In Hinblick auf die ethische Forderung nach Toleranz fiel Locke jedoch erheblich hinter zeitgenössische Einlassungen zurück. Zu diesem Zeitpunkt war Toleranz bereits fester Bestandteil der Politik, wenn man an den Act of Toleration in Maryland 1649 denkt, an ein ähnliches Gesetz in Rhode Island aus dem Jahr 1663 sowie an Pennsylvania (1682) mit dem Vordenker William Penn und seiner Schrift Proclamation on Religious Liberty von 1655. Pierre Bayle (1647-1706) forderte Toleranz aufgrund der intellektuellen Skepsis, überhaupt absolute Wahrheiten erkennen zu können (Forst 2003, 312-351). Für Baruch Spinoza (1632-1677) spielte die Toleranz in religiösen Fragen eine systematisch zentrale Rolle, Religionsfreiheit bezeichnet er als erste Freiheit des Individuums (Theologischpolitischer Traktat 1670, 20). Spinoza prägte auch in Übernahme der Semantik von Josephus Flavius den Ausdruck „Theokratie" (Tractatus politicus VII §25; Tractatus Theologico-Politicus 17), worunter er die politische Ordnung der „Hebräer" verstand, da dort der Herrscher durch Gott ausgewählt wurde - durch den Mund seiner Propheten. Eine andere Möglichkeit des Umgangs der Politik mit der Religion ist der Laizismus, d.h. die strikte Trennung von Staat und Religion (Gauchet, 1998) oder aber die Ersetzung der Religionen durch eine mit dem aufklärerischen Geist der modernen Staatlichkeit leichter vereinbare Religiosität, zu der auch die Wissenschaft als möglicher Sakralbezug gehören kann. Allerdings tendiert der Rationalismus als Denkweise der Wissenschaftlichkeit dazu, selbst Formen der Verehrung auszubilden, wenn er sich als Religionssubstitut begreift, wie das Beispiel von Auguste Comte und besonders seinen Schülern zeigt (Chabert 2004). Politische Theologie und politische Religion Der komplexeste Fall des Verhältnisses von Politik und Religion liegt vor, wenn Politik und Religion als nicht voneinander trennbar angesehen werden und man von „politischer Religion" oder „politischer Theologie" spricht (Brokhoff/Fohrmann 2003; Filoramo 2005; Adam 2006). Angesprochen ist zunächst der Umstand begrifflicher Wechselbeziehungen zwischen Politik und Religion, zumal mit Bezug auf die zahllosen Analogien zwischen religiöser und politischer Argumentation. Analogien entstehen häufig durch den Transfer von Begriffen. Bestimmte politische Verhaltensweisen werden mit Begriffen religiöser Herkunft analysiert: politische Führer werden als mit „charismatischen" Gnadengaben versehene Akteure dargestellt (Max Weber), sie können „Sendungsbewusstsein" haben und sich daher unbeeindruckt zeigen von Konsens- und Majoritätserfordernissen; schließlich können endzeitliche (eschatologische) Perspektiven dem politischen Denken eine langfristige Sinndimension verleihen, die politischem Agieren eine spezifische Legitimität zur Verfügung stellt (Karl Löwith) oder religiöse Akteure greifen politische Begriffe metaphorisch auf (Christi „Königtum). Die Frage ist aber immer, ob der Transfer von Begriffen von religiösen Kontexten in die Sphäre der Politik ihre religiöse Färbung beibehält oder es sich um bloße Strukturanalogien handelt, die nicht auf substantielle Wechselbeziehungen zwischen Politik und Religion verweisen.

2 Politik u n d Religion: der Grenzbereich der politischen Theorie

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Dieser gleitende Übergang von der Analogie zum substantiellen Transfer macht Carl Schmitts Überlegungen zur „politischen Theologie" weiterhin diskutabel, weil hier die Verquickung von religiöser und politischer Sphäre thematisiert wird. Der Ausdruck „politische Theologie" geht mittlerweile weit über die Theorie Schmitts hinaus (Scott/Cavanaugh 2004), aber Schmitt bleibt weiterhin ein zentraler Anknüpfungspunkt der Diskussion. Seiner Argumentation liegt zunächst eine semantische Beobachtung zugrunde, wonach alle „prägnanten Begriffe" der Staatslehre in der Moderne „säkularisierte" theologische Begriffe seien {Politische Theologie 1934, 49): beispielsweise sei an die Stelle „Gottes" als Ausgangspunkt aller legitimen Normen das „Volk" getreten. Zunächst muss dies noch nichts über den Inhalt der Argumentation aussagen. In säkularisierten, das heißt entweihten Kirchenhäusern beispielsweise ist der Heilige Geist auch nach Ansicht von Gläubigen nicht mehr anwesend. Zwar erinnert ein Gebäude schon wegen seiner Genese nicht zufallig an seinen religiösen Ursprung, aber das bedeutet nichts mehr für seinen gegenwärtigen Stellenwert etwa als Versammlungsort einer Gemeinde oder eines Vereins. So könnte man sagen, dass die Entlehnung politischer Kernbegriffe aus der Theologie noch nichts Zwingendes über ihren Inhalt aussagt. Schmitt vermutet aber hinter der Analogie der Begriffe auch eine Verwandtschaft in der Sache. Die mit der politischen Theologie verbundene Frage lautet, ob politische Herrschaft nur mit weltlichem Frieden und ihrer Ordnung zu tun hat oder aber das „Heil" sucht und somit Ziele, die letztlich nur außerhalb dieser Welt erkennbar und erreichbar sind. In der Politischen Theologie werden daher im Extremfall Heil und Herrschaft zusammengeführt (Assmann 2000,29-30). Für Schmitt verrät die Analogie der semantischen Oberfläche etwas über den systematischen Stellenwert staatsrechtlicher Begriffe, die Form lässt sich nicht vom Inhalt trennen. Vergleichbare Formen indizieren bei allem Gestaltwandel substantielle Ähnlichkeiten. Daher nimmt der Formbegriff eine so zentrale Stellung in seiner Staatslehre ein, die er von formlosen Denksystemen unterscheidet, wozu Schmitt die Ökonomie, Ideologien und nicht zuletzt den Liberalismus zählt. Schmitts Begriffstheorie opponiert im synchronen Diskurs Weimars den Formbegriff Hans Kelsens und seiner Schule der „Reinen Rechtslehre". Auch Kelsen thematisierte begriffliche Analogien zwischen Staatsrecht und Theologie (Gott und Staat, in: Logos 1922/23, S. 261-284), er unterstellte jedoch dem Begriffswandel einen zivilisatorischen Fortschritt, denn dem Staat kommt laut Kelsen in der Moderne nicht mehr die Offenbarungsautorität zu, welche Gott zugerechnet wurde. In dieser Ausgangskonstellation der Thematisierung „politischer Theologie" zeigt sich bereits, wie schwer die begriffliche Analogie von der inhaltlichen getrennt werden kann. Ähnliches gilt für das Begriffspaar von „Politik und Religion". Insoweit der politischen Wirklichkeit Phänomene eignen, die nicht rationalisierbar sind, sondern die Wirksamkeit einer transzendenten Ebene indizieren, liegt es nahe, von „religiösen" Komponenten dieser Herrschaftsweise zu sprechen. Irrationale Herrschaftssysteme wie der Nationalsozialismus haben daher nicht zufallig das Problembewusstsein hierfür geschärft. Ist Politik Religionsersatz, wenn der Nationalsozialismus die von Theologie und kirchlicher Anstaltsautorität mühsam disziplinierten irrationalen Kräfte entfesselt, um sie politischer Herrschaft dienstbar zu machen? Eine der schulemachenden Ansätze zur Beantwortung dieser Frage begründete der frühere Assistent von Kelsen, Eric Voegelin (1901-1985). In der Abhandlung Die Politischen Religionen von 1938 untersuchte Voegelin die Nähe von religiösen und politischen Phänomenen. Er nahm an, dass die „politische Gemein-

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schaft" nie nur „profan", sondern immer auch ein Bereich religiöser Ordnung ist, weshalb religiöse Symbole in der Politik zahlreiche Anwendung finden. Voegelins (knapper) Theorieentwurf stellte die symbolischen Vermittlungen von „menschlich-politischem Bereich" und dem „Bereich des Göttlichen" in den Mittelpunkt. Er unterscheidet Symbolgruppen (u.a. Hierarchie, Apokalypse, Ekklesia: d.h. Kirche) und verfolgt ihre diachronen Linien, so dass am Ende der Symbolismus der Reichsapokalypse in Marxens Geschichtsphilosophie ebenso fortlebt wie im italienischen Faschismus und der Glaube an die Auflösung der weltkirchlichen Institutionen zur Bildung von Orden zum Zwecke eines vollkommenen Lebens führte sowohl zu den brüderlichen Assoziationen des Kommunismus wie zu den Bünden und Eliten im Faschismus und Nationalsozialismus. Eine Staatslehre, die diesen Aspekt nicht berücksichtigt, sei an einer entscheidenden Stelle blind und könne daher das Phänomen des Faschismus nicht verstehen, sie kann nicht einmal die richtigen Fragen stellen, um es verständlich zu machen. Die „ekstatische" Sehnsucht, wie sie in der Suche nach neuen Formen einer „unio mystica" zum Vorschein kommt, sei nicht mit einer immanentistischen Institutionentheorie zu erfassen. Die Nähe von Religion und Politik tritt hier anders als bei Erlösungsreligionen - nicht als Suche nach einem transzendenten Heil in Erscheinung, sondern als eine innerweltliche Religiosität, eine Überlegung, in welcher Voegelin die Webersche Theorie der innerweltlichen Askese umforme. Voegelin war nicht der Einzige, der in dieser Zeit zur Erklärung dieses Phänomens mit dem Begriff „politische Religion" operierte. Raymond Aron (1905-1983) lebte einige Jahre in Deutschland und arbeitete gleichfalls zwecks Erfassung des Nationalsozialismus mit Ausdrücken wie „religion temporelle" oder „religions politiques" (Schriften 178; 207). Franz Borkenau (1900-1957) verwendete den Ausdruck, um die Mentalität des Nationalsozialismus zu beschreiben (The Totalitarian Enemy 1940, Kap. 5); er gab ihm aber auch eine abwertende Wendung, wenn er von der „satanic attitude" sprach (140-141): sie hole die niedrigsten wie die höchsten Eigenschaften im Menschen hervor, mache ihn zur größten Barbarei imstande wie zur größten Opferbereitschaft. Die Anwendung des Schemas von „gut und böse" im normativen Umgang mit politischen Religionen lag nahe, wurde aber beispielsweise von Voegelin nicht angewandt, der um eine analytische Fragestellung bemüht war. Für Borkenau durfte der Krieg, der zwischen der freiheitlichen Demokratie und den totalitären politischen Religionen ausgebrochen war, nur mit einem vollständigen Sieg enden. Angesichts des von Eisenhower als „Kreuzzug" deklarierten Kampfes gegen das „Dritte Reich" kam das Schema von „gut und böse" erneut zur Anwendung, was sich dann im Kalten Krieg fortsetzte; es gehört zu den einfachsten, deswegen aber nicht minder wirksamen Versatzstücken religiöser Politikmittel. Auf der anderen Seite war sich Karl Löwith (1896-1973) in seiner 1949 veröffentlichten Studie über das Verhältnis von Weltgeschichte und Heilsgeschehen (Meaning in History. The Theological Implications of the Philosophy of History 203), darüber im klaren, dass auch die Vorstellung von Politik als Hinarbeiten auf eine bessere Welt, auf eine Welt von Menschlichkeit und Menschenrechten, als geschichtsphilosophische Motivation ihre religiöse, weil eschatologische Denkstruktur (im Gegensatz zum zyklischen Geschichtsbild der Antike) nicht leugnen kann.

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3. Die Kirche und das Reich Im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter erlosch das intellektuelle Erbe der Antike allmählich. Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass im gleichen Jahr 529, da Kaiser Justinian die Platonische Akademie zu Athen schloss, Benedikt von Nursia seine Ordensregel erließ. Als die Araber 634 Ägypten eroberten und der Papyrus in Europa immer seltener wurde, verwendeten Mönche in den Klöstern für die Kopie der ihnen wichtig erscheinenden Schriften beschriebene Pergamentrollen klassischer Texte, deren Text sie auskratzten, um Platz für anderes zu schaffen (Flasch 1986, 150). So wurde z.B. ein Psalmenkommentar des Augustinus auf einem Palimpsest von Ciceros De re publica abgeschrieben, d.h. Ciceros Text wurde ausradiert. Das zeigte die neue Hierarchie der textlichen Prioritäten an. Politik stand im frühen Mittelalter nicht im Mittelpunkt der Theoriearbeit. Die Gründe fur diesen Prioritätenwechsel lagen im Verfall der weströmischen Zivilisation und in der Völkerwanderung. Am Ende des 6. Jahrhunderts sammelte sich zwar bei Boethius (etwa 480-524) und Cassiodor (vor 487-etwa 580) noch einmal das Erbe der Antike. Beide erfüllten zunächst das antike Ideal der Personalunion von praktisch-politischer Betätigung und theoretischer Reflexion. Doch der erste fiel einer Intrige Theoderichs zum Opfer und der andere nahm Zuflucht zur monastischen Kultur, in welcher er wenigstens das kulturelle Erbe der Antike bewahren wollte (Kloster Vivarium), ein zunächst vergeblicher Versuch. Gregor der Große, der beherrschende Papst des 6. Jahrhunderts, wandte sich von der Antike genauso ab wie Gregor von Tours, der erste bedeutende Historiker der Zeit nach der Spätantike, der ironisch das kulturelle Erbe der Antike verschmähte. Antike Gelehrsamkeit diente nur der Vertiefung der Kenntnis der offenbarten Schriften. Erst die Missionstätigkeit irischer und englischer Mönche verbreitete wieder allmählich das antike Erbe über Europa, sie errichteten wieder einen „schmalen Steg" zur Antike (Fuhrmann 1996, 359). Freilich gelangten die politischen und politisch-philosophischen Teile des antiken Erbes nicht über diesen Steg. Enzyklopädisch arbeitende Kompilatoren wie Isidor von Sevilla in seinen Etymologiae (vor 636) behandelten zwar alle Themen und so auch die Jurisprudenz und die politische Theorie, aber mit großer innerer Distanz (Buch V; vgl. Fuhrmann 1996, 98). Kommentierungen zu antiken Werken stellten diese in ein gänzlich anderes Licht. Die Arbeiten Ciceros und Quintilians zur Rhetorik wurden zunächst nur in der Kompilation des Marcianus Capeila um 400 studiert (Flasch 1986, 140; Fuhrmann 1996, 95). Das Studium von Aristoteles erfolgte zunächst meist in der Überlieferung der Kommentare des Boethius. Dieser hatte jedoch, bezeichnend genug, mit der Kommentierung der logischen und sprachtheoretischen Schriften begonnen. Sein politisch motivierter früher Tod beendete das gewaltige Werk vorzeitig und verhinderte so die Kommentierung der politischen Arbeiten, weshalb Aristoteles bis zur Wiederentdeckung der ethischen und politologischen Schriften im Hochmittelalter vor allem als Logiker galt (Flasch 1986, 48). Das Somnium Scipionis, das Schlusskapitel von Ciceros De re publica, wurde in der spätantiken Kommentierung durch Macrobius im gesamten Mittelalter rezipiert, allerdings in einer spekulativ-philosophischen Deutung (Hüttig 1990). Boethius deutete diesen Scipio-Traum dahingehend dass die Ausrichtung auf den Kosmos die Bedeutung staatsmännischer Leistungen relativiere, denn vom Kosmos aus betrachtet nimmt die Erde nur einen Punkt ein, und das Römische Reich reichte nie über den Kaukasus hinaus (Trost der Philosophie II 7). Daran erkennt man die Wandlung des Verständnisses von Texten. Cicero ließ an besagter Stelle Scipio die Ahnen fragen, ob er denn nicht gleich durch den Freitod in diese Sphären vordringen könne, von denen aus das

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irdische Geschehen sich so klein ausmache. Die Vorlage antwortete deutlich: die Staatsmänner sind mit der Sorge um die irdische Gemeinschaft beauftragt. Sich mittels Selbstmord von dieser Aufgabe wegzustehlen verwehrt die Zugehörigkeit zur Riege der großen Politiker. Antike Aufrufe zur vita activa wie diese wandelten sich unter der Feder der Kommentatoren zu Trostschriften, an die Stelle der Republik setzte Boethius die transzendent-kosmologische Perspektive. Die Kanonisierung des antiken Bildungsgutes in den sog. artes liberales (Boethius legte das Quadrivium fest) stellte eine weitere Wegscheide dar, die den Niedergang des politischen Denkens antiker Prägung beschleunigte. Mit Cassiodor waren die artes liberales zu einer Art Propädeutikum für die theologische Hermeneutik geworden (Flasch 1986, 139-143). Unter dem Einfluss der Kompilation des Martianus Capeila fiel die politische Theorie aus dem Kanon heraus (Fuhrmann 1996, 94-96). Das antike politische Erbe war disziplinär stillgestellt. Die Kirche als politische Institution in der Spätantike „Kirche" ist eine Übertragung des Wortes ecclesia, das seinen griechischen Ursprung als Versammlung des mit politischen Rechten versehenen Volkes in die Idee einer Bürgerschaft der Christen hinübertrug, welche nun allerdings nicht mehr politisch definiert war. In der Zeit der Auflösung des weströmischen Reiches und der Völkerwanderung entstand in Rom mit dem Papst an der Spitze der Gemeinde eine neuartige Ordnungsidee. Während der oströmische Kaiser sich der religiösen Legitimation bediente und diese zugleich verformte, sahen sich die Stadt Rom und ihr Bischof mit einer gegenläufigen Entwicklung konfrontiert: dem Niedergang der weltlichen Macht und der Frage, wie mit dem durch die Völkerwanderung geschaffenen Vakuum umgegangen werden solle. Als Constantinopel offiziell zur Reichshauptstadt erklärt wurde, nannte es das Konzil von Chalkedon 451 „Neues Rom" und postulierte damit seine Nachfolgeschaft zum alten Rom, dessen entvölkerte Trümmer im Westen weit weg lagen und keine bedeutende Rolle mehr spielte. Dieser Vorgang, aus der Sicht der Reichskirche nur konsequent, provozierte eine Unabhängigkeitsreaktion der Stadt Rom, an deren Ende die Erfindung des Papsttums als einer politischen Größe stand (Canning 1996, 16-42). Ihr wichtigster Begründer war Papst Leo I. (440-461). Vertraut mit der Gedankenwelt des römischen Rechts verfolgte seine Argumentation nicht spirituelle Wege wie in der byzantinischen Kirche. Die westliche Kirche verknüpfte die Romidee mit der offenbarten Schrift und reklamierte dadurch göttliche Legitimität für einen politischen Körper, den sie beherrschte: die Stadt Rom und ihr Volk. Die christlichen Römer wurden zu den wahren Römern stilisiert: geadelt durch das moralische Vorbild der Märtyrer und im Bewusstsein, durch das Neue Gesetz des Evangeliums der wahren Gerechtigkeit teilhaftig zu sein (Schneider 1954,1 320). Das römische Volk wurde wieder als Stadtvolk von Rom gesehen, das in der Anfangszeit auch den römischen Bischof wählte. So wurde die plebs Romana zur plebs Dei und an die Stelle von Romulus und Remus traten die Apostel Petrus und Paulus, die das eigentliche, das christliche Rom gegründet hatten. Damit einher ging das Versprechen einer Pax Christiana als Erbe der Pax Romana (Klingner 1965, 614-644; Schatz 2000). Die Voraussetzung dieser Interpretation war die Latinisierung. Am Ende des 4. Jahrhunderts erhielt Hieronymus von Papst Damasius den Auftrag, die lateinische Fassung des Neuen Testaments zu revidieren. Von 382 bis 420 übersetzte er die gesamte Bibel (Vulgata), die spätestens im 9. Jahrhundert den Rang einer verbindlichen Ausgabe im Westens hatte und

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bis zur Reformation beibehielt. Die Übersetzung war zugleich eine Übertragung: religiös konnotierte Stellen der Bibel erhielten mit ihrer Latinisierung eine der römischen Rechtssprache entnommene legislative Bedeutung. Dies war keine Verfälschung des Originals. Besonders das Alte Testament ist an vielen Stellen nichts weniger als ein Gesetzesdokument. Aber die christliche Spiritualität des Neuen Testaments erhielt so eine rechtliche Erdung, was für die weitere Entwicklung der Kirche zu einer juristischen Institution entscheidend wurde (Ullmann 1975a, 20-21). Papst Leo I. legte die Bibel wie ein rechtliches Gründungsdokument aus. Die Vulgata weist zum Beispiel 520 Referenzen auf „regnum", 70 zu „regnum dei" und 30 zu „regnum caelorum" auf (Suerbaum 1977, 288-289). Es begann eine erstaunlich einfallsreiche Auslegungspraxis der heiligen Schrift, um daraus Anweisungen für und Rechtfertigungen von gegenwärtigen Institutionen abzuleiten. Das Matthäus-Wort vom Binden und Lösen wurde zur Binde- und Lösegewalt (potestas ligandi et solvendi), das Johannes· Wort vom Weiden der Lämmer (Johannes 21, 17) als Aufforderung zur Rechtsprechung interpretiert (Petrus Damiani). Die Herrenwörter Jesu (Matthäus 16, 18; Johannes 21, 15-17) waren aus Leos Sicht nicht metaphorisch, sondern legislativ auszulegen. Nachdem Papst Zosismus schon 420 die Souveränität des Papstes erklärt hatte, was bedeutete, dass seine Urteile nicht weiter judiziabel waren (papa a neminem judicatur), vervollständigte Leo I. in Reaktion auf das Konzil von Chalkedon die Doktrin von der Stellung des Papstes und seiner Macht: er bezeichnet sich als Inhaber der plenitudo potestatis (Ullmann 1975a, 24-30). Die Lehre von der plenitudo potestatis lebte immer dann wieder auf, wenn der Papst in Konflikt mit der weltlichen Macht geriet, so noch in der Auseinandersetzung von Papst Innozenz IV. mit Friedrich II. um seine Vorrangstellung, die er im Konzil von 1245 unter Rückgriff auf die leonidische Lehre behauptete. Ein aufschlussreicher Fall der Politisierung einer unpolitisch intendierten Bibelstelle im Interesse der Anstaltskirche war die Erfindung der Zwei-Schwerter-Lehre durch Papst Gelasius I. am Ende des 5. Jahrhundert. Nach Lukas 22, 38 sagen die Jünger zu Jesus: Herr, hier sind zwei Schwerter und Jesus sagt: es ist genug (satis est!). Gemeint ist: man verfügt über Waffen, um sich der Verhaftung zu entziehen, doch der Nazarener weist dies zurück. In einem Brief an den Kaiser Ostroms deutete der Papst die Stelle dahingehend, Gott habe hier metaphorisch der Welt zwei Schwerter gegeben: „imperium" und „sacerdotium". Die ZweiSchwerter-Theorie bediente sich des römischen Begriffspaares von „auctoritas" und „potestas" (ep. Gel. I, 12, 2-3), eine semantische Anleihe am römisch-verfassungsrechtlichen Sprachgebrauch beispielsweise in den Res Gestae des Augustus (c. 34), die nun als Differenz von geweihter auctoritas der Bischöfe und fürstlicher potestas interpretiert wurde. Die gelasianische auctoritas meinte Wissen und Charisma, die potestas erzwingbare Macht (Ullmann 1981,251). Was als Waffe im legitimatorischen Unabhängigkeitskampf Roms mit dem Ostreich geschmiedet worden war, wurde zu einer Kategorie im Deutungskampf mit dem im Entstehen begriffenen neuen Reich des Westens, das die Franken errichteten. Strittig war nun, ob die Schwerter der Kirche gegeben worden waren und diese das weltliche Schwert an das Reich weitergereicht hatte oder, wie es das Reich sah, die Schwerter von beiden aus jeweils eigenem Recht gehalten wurden (Borst 1966). Die Zwei-Schwerter-Lehre brachte nicht nur die Unvereinbarkeit weltlicher Macht und kirchlicher Autorität sinnhaft zum Ausdruck, sondern formulierte auch den Primat der Kirche über alle weltlichen Instanzen: Der kirchlichen Gewalt kam demnach deswegen ein höheres Gewicht zu, weil sie beim jüngsten Gericht auch über die Könige Rechenschaft ablegen werde.

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Das fränkische Reich kam der römischen Kirche zunächst sehr gelegen. Die fränkischen Hausmeier hatten den legitimen Königen die Herrschaft aus den Händen genommen, Pippin nahm in der Mitte des 8. Jahrhunderts den merowingischen Thronerben in Gewahrsam und suchte nach einer neuen Quelle der Legitimierung. Zu diesem Zeitpunkt hatte die römische Kirche bereits die Theorie des Königtums von Gottes Gnaden ausgearbeitet und auf die christianisierten Merowinger übertragen. Das Volk der Franken wurde liturgisch mit dem Volke Israel identifiziert (King 1988, 136-137; Canning 1996, 18), der König als „minister Dei"definiert (unter Bezug auf Johannes 3, 27). Pippin wurde 751 als erster von einem päpstlichen Vertreter zum König gesalbt; der Akt des Haareschneidens hob die magische Kraft des nach dem fränkischen Herkommen rechtmäßigen Herrschers auf, der in einem Kloster verschwand. Als Gegenleistung bezwang Pippin in Italien die Langobarden und begründete mit seiner Pippinischen Schenkung den Kirchenstaat. Karl der Große wurde schließlich 800 in Rom zum Kaiser gekrönt. Die Zusammenarbeit mit der Kirche erwies sich für ihn beim Aufbau von Verwaltung und Jurisdiktion als nützlich. Für die Westkirche brachte diese Beziehung die Unabhängigkeit von der Ostkirche, welcher sie nun einen Gegenkaiser mit Geltung für die westliche Hemisphäre entgegenstellte (Noble 1984). Innerkirchliche

Reformbewegung

Die Sakralisierung des fränkischen Königs und seine Integration in die Heilsgeschichte provozierte eine bis zur Reformation und darüber hinaus anhaltende Virulenz der Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Politik. Die Synoden von Worms und Paris 829 verliehen dem Königsamt göttliches Charisma. Der gesalbte König war kein Priester, aber dem Laienstand gehörte er auch nicht an. Die Salbung schuf eine außergewöhnliche Legitimation, nützlich im Kampf gegen lokale Loyalitäten. Die Nichtzugehörigkeit des Königs zum Laios warf aber die Frage seines Verhältnisses zur Geistlichkeit auf (Schramm 1929, 7-8, 117-118): verfügte er über Kompetenzen in Fragen der Besetzung kirchlicher Ämter? Wer durfte die Bischöfe in den einzelnen Territorien und Königtümern bestimmen und einsetzen (Investiturstreit)? Das Schutzbedürfnis der lokalen Kirche bedingte ein Anschmiegen an die lokalen Fürsten. Zahllose Kirchenämter wurden oft von fürstlichen Familienmitgliedern besetzt. Es war gerade die lokale Kirche, die auf der Suche nach dem Schutz vor dem Zugriff der territorialen Fürsten an der Stärkung der Königsgewalt interessiert war. Die römische Kurie reagierte mit einer Reihe von Fälschungen (Konstantinische Schenkung im 8. und die PseudoIsidorischen Dekretalen im 9. Jahrhundert), die belegen sollten, dass das Papsttum auch als weltliche Macht unabhängig vom Königtum der Franken sei. Immer stärker trat die Kirche als Kurie auch anstaltlich in Erscheinung, d.h. als päpstliche Verwaltung. Die Reflexion ihres institutionellen Charakters schlug sich im Begriffswandel des Ausdrucks „corpus Christi" nieder. Die „Kurie" als Inbegriff der administrativ organisierten Kirche entlehnte ihren Begriff dem römischen Ausdruck curia, dem Tagungsgebäude des Senates, war aber strukturell vom Kaiserreich geprägt. Die Nachahmung des römischen Kaisertums in Hinblick auf die Behördenorganisation machte die Kurie zur modernsten politischen Organisation ihrer Zeit. Darin wurde sie zum Vorbild für die Ausbildung des modernen Territorialstaates. Die institutionelle Struktur der Kirche verdichtete sich erheblich durch das kanonische Rechtswerk, dem Kern der päpstlichen Revolution des 11. und 12. Jahrhunderts (Berman 1991, 193-195, 327-370). Die Sammlung des Kirchenrechts war ein Prozess allmählicher Kodifizierung nach dem Vorbild des Römischen Rechts, beginnend mit dem Decretum Gratiani (1141-1150). Prägend für diesen Prozess waren die so genannten Juris-

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tenpäpste, allen voran Alexander III. (1159-1181), der zuvor Rechtslehrer in Bologna, und Innozenz III. (1198-1216), dessen Lehrer der berühmteste und wirkungsmächtigste Kanonist seiner Zeit war, der Glossator Huguccio aus Pisa (1140-1210). Die kirchliche Rechtssammlung Compilatio Tertia erfasste systematisch, was die alten Sammlungen in mittlerweile undurchsichtig gewordener Anordnung aus verschiedensten Quellen (Bibel, Kirchenväter und canones aus vielen Jahrhunderten) kompiliert hatten, vereinheitlichte die Vorschriften und legte die Verfahren fest, wie neue Normen entstehen, ausgelegt und angewandt werden sollten. Mit der Schaffung der dazugehörigen Gerichtsbarkeit sowie der Festlegung der intellektuellen Voraussetzungen der Rechtsanwender war ein Rationalitätsschub verbunden, der die zentrale Verwaltung der weitverzweigten westlichen Christenheit ermöglichte und sie zu einem verhältnismäßig einheitlichen Handeln befähigte. Das Bedürfnis nach innerkurialer Organisation trug hierzu ebenso bei wie der Wunsch nach einer Sicherung des hierarchischen Machtanspruches des Papsttums gegenüber der Eigenmacht der Bischöfe. Erste Anzeichen waren das Wahldekret von 1059, das die Papstwahl von den üblich gewordenen kaiserlichen Einflüssen befreite. Weil keine weltliche Herrschaft die personale Unterstützung des Klerus entbehren konnte, wirkte sich die kirchliche Verwaltungs- und Herrschaftspraxis auf die weltliche Herrschaft unmittelbar aus (Strayer 1975, 13). Der Vorsprung der päpstlichen Kanzlei vor der weltlichen bestand noch lange Zeit und wurde erst in England zur Zeit Heinrichs II. und in Frankreich allmählich aufgeholt. Im 13. Jahrhundert war dann fast jede europäische Regierung mit einer eigenen Kanzlei ausgestattet (Strayer 1975,31). Auch in der begrifflichen Selbstbeschreibung setzte sich die Institutionalisierung durch. Paulus hatte den Gedanken des „Leibes Christi", von welchem im Abendmahl die Rede ist, auf die Gemeinde übertragen, um ihre Dauerhaftigkeit über die Naherwartung des Jenseits hinaus sicher zu stellen (z.B. 1 Korinther 12, 12 und 27; 6, 15; vgl. Soiron 1951). Vorbild dieser organologischen Sozialauffassung war die bei Livius überlieferte Fabel des Menenius Agrippa (Geschichte II 32-33; Nestle 1948; 502-516; Struve 1978, 24-35), die Paulus bekannt gewesen sein dürfte und nun im corpus Christi-Gedanken wiederauflebte (Struve 1978, 87-97; Lee 2006). Der Ausdruck „corpus mysticum" sakralisierte diesen Körper zusätzlich. Die karolingische Theologie bezog ihn noch ausschließlich auf die geweihte Hostie. Im Hochmittelalter meinte er die zeitlich-räumliche Unbeschränktheit der Anwesenheit Christi und die geistig-beseelte Vermittlung seines Heils auf die Gemeinde, die sich in seinem Namen versammelte. Das Symbol wurde Mittel zur Repräsentation überirdischen Daseins (Hofmann 1990, 118-147). Jetzt zeigte die Kirche Herrschaftssymbole auch außerhalb der Liturgie, zum Beispiel im päpstlichen Banner (Ullmann 1960, 450). Solche politischen Symbole waren im Mittelalter eine oft wirkungsvollere und zugleich ideologisch mit größerer Verbreitung verbundene Sprache als die lateinische Kanzleisprache (Stollberg-Rilinger 2001; Althoff 1997; 2003). Der Begriff „corpus mysticum" wurde im 12. Jahrhundert sukzessive auf die Kirche als Anstalt übertragen (Kantorowicz 1990, 206-208). Strittig war das Verhältnis der gemeindeorientierten Sakralisierung zur Monopolisierungstendenz des Heils beim Papsttum, da bis zur Anmaßung der alleinigen Stellvertretung Gottes auf Erden in Person des Papstes durch Innozenz III. (1198-1215) alle Bischöfe einen untereinander gleichrangigen Bezug zu Gott einnahmen. Auch das sacrum imperium der weltlichen Reichsgewalt wurde in das corpus Christi einbezogen (wohl zuerst unter Friedrich I. 1157: Kantorowicz 1990, 209). Unter dem Einfluss des kanonistischen Rechts wurde das corpus mysticum zur persona mystica umdefiniert

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(Kantorowicz 1990, 212-213; Gierke III, 518 Anm. 7), was die körperschaftliche Abstraktion ermöglichte und damit ein Denken in organisatorischen Hierarchien und Personenverbänden. Nicht ohne Grund wurde in dieser Zeit häufig die Frage gestellt, was heilsamer sei: die Kirche durch Theologen oder durch Juristen regieren zu lassen (Grabmann 1940). Die Juridifizierung stabilisierte zwar die Institution der Kurie, jedoch auf Kosten ihrer spirituellen Ausrichtung. Alternativen zur Anstaltskirche fanden ihre Legitimation in der Liebesund Transzendenzlehre, ein mächtiges Potential für die fundamentale Kritik an Einrichtungen innerweltlicher Ordnung. Mannigfache Auflehnungsbewegungen innerhalb der Kirche wie die gelegentlich radikalen Bewegungen des Mönchtums, die Bettelorden und schließlich die Reformation zeigten das anhaltende Problembewusstsein bezüglich einer zu starken Verweltlichung der Kirche. Wesentliche Impulse der Erneuerung des Christentums gingen von der monastischen Bewegung aus und banden dort wiederum religiöse Energien: von den Benediktinern bis zum Augustiner Martin Luther und seiner Kritik der Welt- und Finanzpolitik der Römischen Kirche fehlte es dem Christentum nie an Bemühungen, die (aus politischer Perspektive) unausweichliche Vermischung geistlicher Überzeugung und innerweltlicher Macht zu revidieren zugunsten der Erneuerung des Primates des Geistlichen. Der aus vornehmer Familie stammende Benedikt von Nursia (etwa 480-547) verließ aus Ekel am Luxusleben die Stadt und suchte im Klosterleben Zuflucht, das später durch ihn eine Wiederbelebung erfuhr. Das Mönchtum stand von jeher in einem Spannungsverhältnis zur irdisch organisierten Gesellschaft (Prinz 1976). In seinen Forderungen nach Genügsamkeit und politischer Enthaltsamkeit erkennt man Erneuerungsversuche des „authentischen" Vorbildes im Leben Jesu. Sofern sich diese Revitalisierungsversuche in Gestalt des Eremitentums in vollendeter Selbstbezüglichkeit erfüllten, gingen von ihnen keine politische Innovation oder Herausforderung aus. Anders verhielt es sich mit der Organisation des gemeinsamen Lebens inmitten der weitabgewandten Klostermauern. Solch gottgefälliges Leben erfolgte nach strengen Regeln und sollte vor allem Askese ermöglichen. Aus der Organisation der christlichen Orden bezog auch die Weltkirche neue Impulse (Dinzelbacher/Hoog). Die Mission der irischen Mönche oder die Standhaftigkeit mancher Augustiner beispielsweise im Heiligen Land, wo sie selbst nach Abzug aller christlichen Heere verblieben, zeigt die moralische Beharrungskraft, aus der immer wieder ein politisches Fanal der Selbsterneuerung irdischer Ordnung aus dem Geiste erwachsen konnte. Das Vorbild von Augustinus, der bereits 395 eine Regel für die nordafrikanischen Gemeinschaften Hippo und Thagaste festlegte, war das Ideal der christlichen Urgemeinde, das er der Apostelgeschichte (4, 31-35) entnommen hatte. Um 500 wurde das Dormitorium eingeführt, womit die vita communis die Überhand über die weitabgewandte individuelle Verschließung gewann. Die Klöster waren ein gemeinsamer Lebensraum, von der Außenwelt abschirmt und geschützt. Auf der anderen Seite waren sie Horte der Gelehrsamkeit schon aufgrund der Bibliotheken, sie waren Auffangort überzähliger Adelsmitglieder und Ausbildungsstätte von Intellektuellen. Seit Pachomius (frühes 4. Jahrhundert) wurde der unbedingte Gehorsam gegenüber dem Abt abverlangt, dem zu gehorchen Gott zu gehorchen hieß (in Analogie zu Lukas 10, 10). Aber daraus erwuchs keine krypto-monarchische Struktur, denn auch das jüngste Mitglied des Klosters hatte ein Appellationsrecht und es wurde im Streitfall die Hinzuziehung des Rats der erfahrensten Klosterbrüder erwartet. Benedikt von Nursia führte die Abtswahl durch die Mönche des jeweiligen Klosters ein und stellte die Kirchendisziplin wieder her (Holzherr 1980). Die etwa 540 verfasste Handreichung Benedikts, später Regula Benedicti genannt, war zunächst für das Kloster Monte Cas-

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sino konzipiert. Nach der Zerstörung des Klosters 577 kam die Regel u.a. zu den Britischen Inseln, von wo aus sie sich durch die angelsächsische Missionsbewegung über ganz Europa verbreitete. Sie wurde in der vereinheitlichten Fassung durch Abt Benedikt von Aniane 816 im Karolingischen Reich zur bindenden Klosterregel. Die Regel legte unter Rückgriff auf Augustinus und eine ältere Klosterregel (Regula Magistri) ausführlich das Klosterleben fest. Benedikt kontrastierte das Amt des Abtes mit dem Tyrannen (Kap. 27 und 65; vgl. Steidle 1986, 192-205). Der Abt regiert monarchische: zwar war ihm ein Rat anderer Klosterbrüder beigestellt (Kap. 3), und selbst der jüngste der Brüder sollte bei den Beratungen gehört werden, doch der Klostervorsteher entschied, mit Hilfe der Mutter aller Tugenden, der Klugheit (Kap. 64). Die Abtswahl konstituierte inmitten feudaler Dynastien eine neue Praxis der Selbstregierung. In den Bestimmungen zur Abtswahl (Kap. 64; Vogüe 1961, 348-367), besonders natürlich in Fällen ihres Scheiterns bzw. ihrer Störung finden wir die ersten Überlegungen zur Wahl in korporativen Selbstorganisationen. Entgegen der früheren Praxis schloss Benedikt den Vorgänger bei der Ernennung des neuen Abtes aus; er wurde im Idealfall einmütig von der gesamten Klostergemeinde oder von der relativen Mehrheit gewählt; es bestanden keine Altersbeschränkungen. Große Aufmerksamkeit wurde der Würdigkeit des Abtes gewidmet. Im Falle ihres Fehlens sollten nur der Diözesanbischof oder die Äbte aus der Nachbarschaft des Klosters über ein Absetzungsrecht verfügen. Diese Kompetenzen vereinte das Papsttum später auf sich. Vom benediktinischen Seitenarm des im Jahre 910 gegründeten Kloster von Cluny ging eine allgemeine Reformbewegung der westlichen Kirche aus, die auch das Papsttum revitalisierte: die der Cluneazenser (Brackmann 1958; Blumenthal 2001). Angesichts des weltlichen Renovatio-Gedankens, in welchem die karolingische und schließlich die ottonische Herrschaft unmittelbar an das römische Imperium anschließen wollten, war Abt Odilo von Cluny in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts darauf bedacht, die Freiheit der Kirche durch ihre Unterstellung unter den Papst zu sichern. In Hildebrand, dem späteren Papst Gregor VII., fand diese Reformbewegung ihre herausragende Führungspersönlichkeit, die den Kaiser wieder zum Laios zählte (Berman 1991, 152-153). Die cluneazensische Revitalisierung der Kirche war allerdings nicht überall von Dauer. Dante ließ im Epochengedicht des ausgehenden Mittelalters den hl. Benedikt bittere Klage über den erneuten Verfall seines Ordens sprechen (Divina Comedia, Paradiso, 22. Gesang). Aber an gleicher Stelle stimmte Dante, der bei den Dominikanern von S. Maria Novella zu Florenz Unterricht erhalten hatte, auch einen Hymnus auf die Heiligen Dominikus und Franz von Assisi als Ordensstifter an. Mit den in rascher Folge gegründeten (1210 und 1216) Orden der Franziskaner und Dominikaner verließen die Eremiten ihre Abgeschiedenheit und gingen in die Städte, um dort das Wort Gottes zu predigen und immer stärker in den sozialen Mechanismus der Welt zu intervenieren (Miethke 1981; Brucker 1990, 239-242). Dies leitete eine neue Phase der monastischen Bewegung ein, die mit den besten spirituellen Hoffnungen verbunden war. Die Bettelorden waren eine Reaktion auf die nachlassende Askese der bestehenden Orden. Nach Auffassung Machiavellis hatte ihre Gründung die Kirche vor dem Untergang bewahrt (Discorsi III 1). Die Dominikaner übernahmen das Reglement der Benediktiner, achteten aber auf eine strengere Observanz, zu welchen besonders das Gebot der Armut zählte. Das spirituelle Leben sollte durch Verzicht auf alle korrumpierenden Einflüsse wie beispielsweise die Erbschaften bei anderen Klöstern und die von den Erblassern und ihren Familien gestellten Wünsche sichergestellt werden. Die Bettelorden waren überregionale, ja internationale Or-

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ganisationen, die mit den örtlichen Bischöfen konkurrierten und als intellektuelle und nicht zuletzt auch ökonomische Institutionen erheblichen Einfluss gewannen. Die Binnenverfassung der Orden gehörte zu den eigentlichen Innovationen im politischen Denken des Mittelalters. Sie nahmen Elemente des modernen Konstitutionalismus vorweg. Die Verfassung der Dominikaner war nach dem Vorbild der Premonstratienser unterteilt nach Regeln des Alltags und Regeln für die Regierung des Ordens. Provinzialkapiteln wählten das Generalkapitel, das seinerseits wiederum von den lokalen Prioren gewählt wurde, zusammen mit jeweils zwei gewählten Vertretern jedes Konventes. Diesen Aufbau demokratisch zu nennen (Galbraith 1925, 138) ist irreführend, die Demokratie war kein Ziel des Ordens. Ihm ging es primär um einen effektiven Aufbau der Hierarchie. Die demokratisch anmutenden Formen reflektierten den strukturellen Aspekt der Gleichheit der Ordensmitglieder. Herausgerissen aus ihren sozialen und politischen Bezügen waren die Brüder in eine artifizielle Lebenswelt gestellt, in welcher sie sich als Gleiche begegnen konnten und Hierarchien aus sich selbst heraus hervorbringen mussten. Das Ziel war nicht Selbstregierung in Hinblick auf die Partizipation jedes Mitglieds als Individuum, sondern die Handlungsfähigkeit des Ordens im Ganzen. Die individuelle Komponente der modernen Demokratie, die heute unweigerlich ihrem Begriff anhaftet, fehlte. Die ideengeschichtliche Wirksamkeit verlief eher entlang dem konstitutionellen als dem demokratischen Faden. Änderungen der Ordensverfassung und generell die Gesetzgebung waren erst gültig, nachdem sie dreimal hintereinander das Generalkapitel, die höchste legislative Autorität des Ordens, passiert hatten. Das Generalkapitel versammelte sich jährlich (bis 1370, dann alle zwei bis drei Jahre bis 1561 und danach alle drei Jahre). Es gab die Möglichkeit eines außerordentlichen Generalkapitels mit der Befugnis sofortiger Gesetzgebung ohne die Sukzessionsregel (nur 1228 und 1236 einberufen in den kritischen Jahren der Gründungszeit). Das reflektierte ein hohes Maß an institutionellem Problembewusstsein für die Bestandserhaltung (Tunmore 1941; Carstens 1992, 23-29). Thomas von Aquin und die Aristoteles-Rezeption

des Mittelalters

Die reformerische Kraft ging von den jungen Bettelorden auch deswegen aus, weil sie einem Bildungsideal nacheiferten, das sie zu intellektuellen Quellen ersten Ranges machte. Franziskaner wie Dominikaner waren besonders an den neu gegründeten Universitäten stark vertreten und dominierten die Spätscholastik, wenn man auch noch die Augustiner-Eremiten, gleichfalls eine Neugründung, hinzurechnet. In der Scholastik wurde die Philosophie zum Zwecke einer systematischen Theologie rezipiert. Abelard verwendete als erster den Begriff der Theologie im modernen Sinne als „systematische Analyse der Beweise für eine göttliche Offenbarung" (Berman 1991, 216). Einer ihrer herausragenden Gelehrten war der Dominikaner Thomas von Aquin (1224/5-1274), der bedeutendste Systematiker seiner Zeit. Zu seinen Leistungen zählten die extensive Verarbeitung des aristotelischen politischen und ethischen Werks und ihre Integration in ein christliches Gesamtbild, in welchem eine rationale Argumentation überwog. Südlich von Rom geboren studierte Thomas in der Abtei Monte Cassino und an den Universitäten Neapel (1239), Paris (1245) und Köln (1248). In Köln assistierte er Albertus Magnus (-1193-1282), einem der bedeutendsten Summisten unter den Scholastikern, die auf allen Gebieten des damaligen Wissens tätig waren und bevorzugt Aristoteles kommentieren. 1244 trat Thomas in den Dominikanerorden ein. An der Universität Paris begann seine glänzende Laufbahn als Theologe. Zwischenzeitlich war er für die Kurie tätig (1259-1268) und refor-

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mierte die Ordensausbildung. Schon 1286, wenige Jahre nach seinem Tod in der Nähe von Rom, wurden alle Dominikaner bei Strafe der Exkommunikation auf die Lehre des Aquinaten verpflichtet. Thomas war auch der erste Theologe, der heilig gesprochen wurde (1337). Das hatte kirchenpolitische Gründe im Kampf der Lehrmeinungen und der konkurrierenden Orden: die Dominikaner galten im Gegensatz zu den Franziskanern dem Papst gegenüber als weitaus loyaler. Thomas von Aquins Aristoteles-Rezeption war nicht singulär (siehe diachroner Diskurs „Idee und Begriff des Politischen"), fand in ihm aber ihren Höhepunkt. 1253 hatte die Pariser Universität die Studien aller bekannten Schriften des Aristoteles als verbindlichen Lehrstoff der Artistenfakultät vorgeschrieben. Dies löste scholastische Kontroversen äußerster Spitzfindigkeit darüber aus, ob auch die heidnisch einzustufenden Lehren von und zu Aristoteles gelehrt und verteidigt werden dürften. Der Averroismus, der scholastischen Rezeption der Kommentierung von Aristoteles durch den arabischen Gelehrten Ibn-Rushd aus dem 12. Jahrhundert, der Averroes genannt wurde, betonte die Diskrepanz von Wissen und Glauben und bezweifelte die Vernünftigkeit des Glaubens. Hiergegen richtete sich Thomas' Integration des aristotelischen Werks in das Gesamtgebäude einer theologisch motivierten Ontologie (Flasch 1987, 356-358). Unter Einwirkung von Thomas wurde 1277 an der Pariser Universität das förmliche Verbot des Averroismus ausgesprochen. Obwohl Thomas einer aristokratischen Familie entstammte, die in die Kämpfe der Hohenstaufen um Italien so stark verstrickt war, dass einige in diesen Kämpfen umkamen, bleibt dieser biographische Hintergrund in seinen Schriften ohne erkennbaren Nachhall. Selbst Vorkommnisse wie die Wiedergewinnung des Heiligen Landes im Kreuzzug schlugen sich darin nicht nieder. Kein politischer Theoretiker des Mittelalters lässt sich so schwer mit dem politischen Geschehen seiner Zeit in Verbindung bringen. Auch die Schriften, die ausdrücklich politische Fragen erörterten wie De Regimine und die Antwort an Brabant lassen nicht erkennen, dass sich Thomas' mit den Verhältnissen auf Zypern oder in Flandern sonderlich beschäftigt hätte. Generell blieben Ereignisse der Zeit in seinem Werk fast ausnahmslos unerwähnt (Finnis 1998, 2-3). Gleichwohl gehörte Thomas zu den Autoren, die in der Folgezeit auch in politischen Argumentationen am häufigsten zitiert wurden (Gilby 1958). Indem Thomas an die Stelle des Charismas der offenbarten Schriften die rationale Anstrengung ihrer Auslegung stellte, eröffnete er neue Möglichkeiten der Verknüpfung von Philosophie und Theologie. Thomas übernahm hierzu von Aristoteles den teleologischen Naturbegriff: das Wesen einer Sache erschließt sich aus dem Ziel, auf das es angelegt ist, und zwar selbst dann, wenn es dieses Ziel nicht verwirklicht. In seiner komplexen Ontologie erhielt nun jeder intellektuelle Beitrag seinen Ort zugewiesen: widersprechende Meinungen deutete er als teilrichtige Auffassungen partikularer Aspekte, erst der Blick auf das Ganze ermöglichte seiner Ansicht nach eine Synthese, die allen Teilen ihren Platz anweist. Innerhalb dieser Seinsordnung kommt auch der soziale Lebensbereich zu seinem eigenen Recht. Die Einordnung aller Lebensbereiche des Menschen in eine übergreifende Seinsordnung bedingte die Nachrangigkeit und Abgeleitetheit politischer Fragen. Regierung oder Gesetz waren in Thomas' Sicht keine vorwiegend politischen Begriffe: „Regierung" kann die Regierung Gottes über die Welt bedeuten oder die Regierung der Menschen untereinander, so wie das „Gesetz" das des Alten und Neuen Testaments sein kann oder das positive Gesetz zwischen den Menschen (Mikat 1984). Entscheidend war die systematische Gesamtanlage, die er als eine gestufte Normenhierarchie deutete. Das ewige Gesetz (lex aetema) liege in dem von Gott konzipierten Schöpfungsplan und sei nicht vollständig vom Menschen erkennbar.

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Zumindest die lex divina, die die Zugehörigkeit des Menschen zu seiner übernatürlichen Bestimmung regelte, sei offenbar. Gleichwohl habe der Mensch über die lex naturalis vernünftigen Anteil an dieser ewigen Ordnung, vermittelt durch die Vernunft, die ihrerseits ein Teil dieses Schöpfungs- wie Heilsplanes sei, so dass deren Resultate nicht außerhalb der Kirche stünden, auch nicht dogmatisch vermittelt seien, sondern durch Reflexion auf das Wesen des Menschen als Teil des Naturrechts erkannt werden könnten. Der lex naturalis ist wiederum die lex humana, das positive, von Menschen geschaffene Recht untergeordnet. Das gewaltige Werk von Thomas war primär theologisch interessiert. Im seinem Hauptwerk, der Summa Theologica (etwa 1267-1273,),1 standen Kernfragen des Seelenheils, der Trinität sowie der Gottesvorstellung im Mittelpunkt, daneben diskutierte er auch Sozialethik und Naturrecht ausführlich. Neben das argumentative Gewicht der Kirchenväter stellte Thomas Aristoteles, den er stets als den „Philosophen" apostrophierte. Hinzu kam der „Rechtsgelehrte", womit das Corpus iuris civilis gemeint war. In diesen beiden Quellen war die Rationalität seiner Argumentation vorgebildet. Wie alle scholastischen Texte lieferte Thomas akribische Beweisführungen am Text autoritativer Schriften, die für den modernen Rezipienten ermüdend zu lesen sind. Politisch relevante Problemkomplexe finden sich bei Aquin viele: zur inneren Eintracht der Gemeinschaft (II-II 37), zum Krieg (II-II 40) und zum Aufruhr (II-II 42). Thomas äußerte sich ausgiebig zu Problemen der Gesetzgebung (I-II 90-114). Er erachtete die Mischregierung als die beste Regierungsform (I-II 105, 1; vgl. Blythe 1986). Nicht nur ein Monarch ist als Gesetzgeber denkbar, sondern auch die aristotelische Vielheit der Bürgerschaft, wenn sie die hierzu erforderliche Tugend mitbringt, um die Arbeit der Gesetzgebung zu verrichten. Tugend meint hier sowohl die nötige Kompetenz in Fragen der Gesetzgebung wie den hierzu erforderlichen Gerechtigkeitssinn (I-II 90, 3). Da die Tugend der Akteure ein entscheidendes Abgrenzungskriterium war, widmete Thomas ihr in der Summa viel Platz, mit immenser Wirkung auf die künftige Ethik. Er stellte diejenigen Tugenden in den Mittelpunkt, die der Gesetzgebung nahestehen: die Fähigkeit zur Beratung (II-II 52), die Gerechtigkeit (II-II 5762) im allgemeinen sowie in besonderen Kontexten von Mord, Diebstahl und Raub, ferner die Rechtsfindung vor Gericht, insbesondere bei ungerechten Anklagen und der Umgang mit Zeugenschaft (II-II 64-71). Ausführlich behandelte Thomas die Klugheit (II-II 47-51). Bereits die Übersetzung des phronesis-Begriffs mit dem lateinischen Begriff der prudentia durch Roberts von Grosseteste Edition von Aristoteles hatte die Perspektive zusehends auf den Bereich einer subjektiven Tugendlehre eingeengt (Sternberger 1978, I 256-265. Zu Grosseteste vgl. Southern 1986). Auch setzte Thomas die Bekanntheit und Unwandelbarkeit des Inhalts des Gemeinwohls voraus, was seine grundsätzliche Perspektive der Heils- und Weltgeschehen umfassenden Ordnungsvorstellung, nahe legte. In solch einer statischen Ordnungsvorstellung blieb für die Klugheit antiker Fason nur wenig Spielraum, blieb aber präsent (Pieper 1996). Die Ermittlung des Gemeinwohls gelinge mit Hilfe des richtigen Ratschlags und der Klugheit des heili-

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Die Datierung dieses tausende von Seiten umfassenden Werkes ist schwer. Die für Klugheitsthematik relevanten Passagen im 2. Teil des 2. Hauptteils dürften 1270/71 abgefaßt sein: Torrell 1995, 164; Chenu 1982. Die Summa wird nach ihren drei Teilen zitiert: den drei Hauptteilen Prima, Secunda und Tertia, wobei die Secunda wiederum in einen ersten (I-II oder auch Ia-IIae für Prima Secundae) und zweiten Teil (II-II) gegliedert ist. Jeder dieser Teile besteht aus Untersuchungen (quaestiones), die in dialektischer Weise mit einer These beginnen, gefolgt von befürwortenden und widersprechenden Argumenten. Sie werden durch Thomas' eigene Diskussion des Meinungsstandes samt eigener Meinung beschlossen.

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gen Geist (Summa Theologiae II, II, qu 50, art. 2: Gemeinwohl, und II, II, 52, 2 ad 3: Heiliger Geist). Deliberativer Institutionen bedürfe es hierzu nicht. Ansatzpunkt der Kritik an Thomas war seiner Integration der aristotelischen Philosophie. Die franziskanischen Theologen ebenso wie die Augustiner bemängelten, der Philosophie sei zu viel Raum gegeben, es war sogar von Häresie die Rede. Diese Klagen verstummten erst mit der 1337 auffällig rasch vorgenommenen Heiligsprechung des Aquinaten. Aber in der Sache war der Konflikt nicht ausgestanden, stellte sich doch die grundsätzliche Frage, ob die christlich-theologische Rationalität nicht Vorrang vor der philosophischen genieße. Credo ut intelligam, intellego ut credam lautete ein von Augustinus übernommener Leitsatz der Scholastik: der Intellekt ist dem Glauben dienstbar, darf aber nicht erhoffen, als erkennendes Vermögen den Inhalt des Glaubens vollständig und ohne Gottes Hilfe, zumal seiner Gnade, durchschreiten zu können. Thomas dagegen war davon überzeugt, dass nicht Ursachen oder Inhalt des göttlichen Willens, aber doch die von ihm ausgehenden Prinzipien erkennbar sind; sie prägen als ewiges Naturrecht alle Rechtsformen. Dazu zählt die lex humana als Inbegriff des menschlichen Gesetzes, die von Regierungen zur Regelung konkreter Lebensverhältnisse in positives Recht umgesetzt wird bzw. werden soll. Philosophisch stand Thomas damit zwischen der averroistischen Zuspitzung des Aristotelismus, die aus der Perspektive der Erkenntnistheorie Glauben und Wissen streng unterschied und einer Sicht, die alles Wissen um die Welt als göttliche Schöpfung aus dem Nichts begreifen und daher unberücksichtigt lassen wollte. Auf der anderen Seite sah Thomas die weltliche Ordnung nicht im augustinischen Sinne als von vornherein mit dem untilgbaren Makel der Erbsünde belastet und deswegen wertlos an, sondern erkundete ihren als relativ eigenständigen und vernünftig erkennbar eingestuften Daseinsbereich. Die politische Ordnung wurde ihrem Prinzip nach als Natureinrichtung gesehen, aber sie entstehe nicht naturnotwendig, sondern vermittelt durch menschliche Überlegung und Gestaltung (Politicorum seu de rebus civilibus Liber I, Sectio 1). Damit erhielt die Idee des Naturrechts einen neuartigen Status in der politischen Begriffsarbeit (Friedrich 1967, 22-43). Thomas unternahm eine vorsichtige Moderierung der augustinischen Sündenlehre. Anders als Augustinus übte bei Thomas der Mensch bereits im Stand der Unschuld Herrschaft über Menschen aus, und zwar zwischen Freien und Gleichen im Sinne politischer Herrschaft wie bei Aristoteles: wem es obliegt zu regieren, der kann auch Herr über Freie genannt werden (Summa I 96, 4). Der Mensch ist in einer von Gott gesetzten Seinsordnung befangen, aber er bleibt aktiver Gesetzgeber seiner Lebenswelt, die er seiner Natur gemäß einzurichten hat, eine Aufgabe, die er auch verfehlen kann. In Übernahme des aristotelischen Axioms von der natürlichen Zugehörigkeit des Menschen zur Polis definierte Thomas den Mensch von Natur aus als gesellig und folgerte daraus, dass der Mensch sich organisieren muss, denn ohne eine Art von Regierung ist gesellschaftliches Leben unmöglich (was Thomas erneut durch Verweis auf Aristoteles Politik erklärte). Da nun die menschliche Natur und ihre Bedürfnisse in die göttliche Seinsordnung eingebettet und nicht einfach nur das fatale Resultat der Erbsünde sind, hat sie einen normativ anspruchsvollen Platz. Die Natur bestimmt den Menschen zur Geselligkeit, bestimmt aber auch die Regierungsweise: sie muss auf das Gemeinwohl bezogen sein und demjenigen das Amt der Regierung verleihen, der von Natur aus dazu imstande ist, es auszuüben, das heißt demjenigen, der die anderen an Wissen und Gerechtigkeitssinn überragt (Summa I 96, 4). Ökonomische Herrschaft über Hausgesinde und Unfreie wertete er dagegen als Sündenfolge. Die Differenz von Oikos und Polis brachte Thomas auf diese Weise mit der Genesis in Übereinstimmung. Gleichwohl war die griechische Lebenswelt der

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Polis nicht Hintergrund seines Begriffs des Politischen. John Finnis machte darauf aufmerksam, dass Civitas als Übertragung von Polis bei Thomas eher den Sinn von allgemeinster sozialer Gemeinschaft haben konnte (Finnis 1998, 245-247), der Begriff der „koinonia" universal gehandhabt und damit entkontextualisiert wurde (Quillet 1988, 526-527). Thomas schrieb 1265-1266 in Rom, als er im Kloster Santa Sabina lehrte, an seinem bekanntesten politischen Werk, dem De regimine principum ad regem Cypri. Es gehört zur Textgattung der Fürstenspiegel, die Widmung an den „König von Zypern" galt vermutlich Heinrich III. aus dem Hause Lusignan (Reibstein 1972, I 135-136). Die Forschung rechnet nur die ersten beiden Bücher Thomas zu. Vermutlich unterbrach Thomas die Arbeit mit dem Tode des Adressaten 1267, sie wurde von Ptolomäus von Lucca (siehe unten) etwa 1302 vollendet (Dondaine 1979, 423-424). Thomas begründete zunächst die Herrschaftsbedürftigkeit des Menschen wie in der Summa Theologiae nicht aus der Erbsünde heraus, sondern als natürliche Anforderung von in Gemeinschaft lebenden Menschen ( I I ) . Der Alleinherrschaft gebührt der Vorzug, wie Thomas unter Verweis auf die Jeremias-Stelle betonte (12, 10), in welcher davon die Rede ist, dass viele Hirten schädlich seien. Die gerecht ausgeübte Herrschaft gilt ihm als die beste, die tyrannische Herrschaft ist ihr Gegenstück. Diese schlechteste Form der Herrschaft entsteht seiner Ansicht nach meistens als Reaktion auf eine schlechte Gruppenherrschaft. Seine Warnung vor den Gefahren des städtischen Lebens (II, 7 und 8) fügte sich hier gut ein. Interessanterweise untersuchte Thomas auch die Bedingung der Möglichkeit einer solchen besten Herrschaft. Hierbei rekurrierte er nicht alleine auf Charakter oder Erziehung des Monarchen, ergänzt um die im Himmelreich versprochene Seligkeit (I 9), sondern behauptete zusätzlich, dass bereits das Eigeninteresse jeden Einzelherrscher davon überzeugen müsste, eine gerechte Herrschaftspraxis auszuüben (I 10). Denn eine gute Regierung vergrößert auch die Herrschaft und erweitert damit die Handlungsfähigkeit des Fürsten. Wie überall bei Thomas sind normative und deskriptive Argumente miteinander verschlungen. Was sein soll, weil es göttlich verheißen und offenbart wurde, muss sich in der tatsächlichen Ordnung der Welt auch niederschlagen. Mängel oder Abweichungen vom Ideal waren ihm nicht Ausdruck eines Fehlers dieser Betrachtungsweise, sondern entschlüsseln der beschränkten Fassungskraft des Verstandes weitere, letztlich sinnvolle Nuancen des Heilsplanes oder sie erweisen sich in der weiteren Abfolge der Ereignisse fur den Abweichenden als verhängnisvoll. Sein und Sollen flössen bei Thomas gedanklich zusammen in der Abstraktion des „Gemeinwohls": das Interesse des Einzelnen wie das der Gemeinschaft, das Interesse der Gemeinschaft ebenso wie das der Gattung (De regimine principum I 15). Daher kann und soll das Handeln der Herrscher auf das Gemeinwohl ausgerichtet sein. Alle Akteure sind in diese Ordnung eingebunden und von ihr abhängig: das ermöglicht erst ihre Bewertung. Allerdings tragen Akteure sehr unterschiedlich zum Ablauf und zum Erhalt dieser Ordnung bei. „Im Menschen wird die Einheit durch die Natur bewirkt, die Einheit der Gesellschaft aber, die Friede heißt, muss erst durch die Bemühungen des Führers bewirkt werden" (115: ed. Matz 58). Mit der Sterblichkeit des Menschen nahm Thomas die Unerreichbarkeit einer statischen Dauer menschlicher Gemeinschaft an. Die Möglichkeit des Wandels rechtfertigt das Wirken des Herrschers, der um der Erhaltung der Gemeinschaft willen eben diese Veränderungen zu berücksichtigen und entsprechend Vorsorge zu leisten hat (De regimine principum I 15 a E). Das zweite Buch hatte die Mittel und Maßnahmen zum Gegenstand, die der Herrscher ergreifen muss, um den Wandel des Gemeinwohls in Regierungspolitik umzusetzen. Dazu

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zählen organisatorisch-technische Fragen der Gründung einer politischen Gemeinschaft (II 1 4). Thomas beschäftigte sich eingehend mit dem Problem des Umgangs mit einer ungerechten Gewaltherrschaft (I 6). Er überantwortete die Frage nach der Deutung und Lösung von Konflikten der Auslegung von Politik, die wiederum Teil der nur theologisch entschlüsselbaren Seinsordnung war. Thomas ging noch nicht von einem Deutungskonflikt zwischen weltlicher und geistlicher Macht aus. Dieses Problem wurde jedoch ausgangs des 13. Jahrhunderts akut und verlangte neue Zugänge zum Verständnis von Politik. Der Kampf zwischen weltlichem und geistlichen Primat

1280-1317

In den wenigen Jahren zwischen 1280 und 1317 wurden in rascher Folge politische Traktate geschrieben, die das Aufeinanderprallen von Weltmonarchie bzw. Königtum einerseits und dem universalen Machtanspruch des Papstes andererseits reflektierten. Diese Arbeiten sind nur vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Deutungskämpfe zu verstehen. Dabei müssen verschiedene Ebenen voneinander getrennt werden: 1) die allgemeine Frage des Verhältnisses von Kaiser und Papst, die wiederum ihren Niederschlag in den 2) Verfassungskämpfen und Kriegen in Oberitalien fand, wo das Papsttum nicht nur spirituelle, sondern auch weltliche Herrschaft ausübte; schließlich noch 3) die Ebene im Kampf des französischen Königtums um weltliche und legitimatorische Autonomie in seinem Herrschaftsbereich gegen den Interventionsanspruch des Papstes, ein Kampf, der im Streit zwischen König Philipp IV. dem Schönen und Papst Bonifaz VIII. eskalierte und schließlich zum Schisma führte. In der Gestalt Benedikt Caetanis (etwa 1235-1303), 1294 zum Papst Bonifaz' VIII. gewählt, spiegelte sich der Wandel des päpstlichen Selbstverständnisses. Bonifaz hatte kanonisches Recht studiert und war in der kirchlichen Hierarchie groß geworden, wo er sich vom Kanoniker zum Notar, Legaten und schließlich zum Kardinal hinaufgearbeitet hatte. Er stand den Bettelorden gedanklich fern, unterstützte aber deren Privilegien gegenüber den Weltgeistlichen (insbesondere im Streit an der Pariser Universität). Entscheidend war ihm der Gesichtspunkt der Autorität des Heiligen Stuhles, einzige Instanz aller Privilegierungen und Exemptionen zu sein. Als Papst trat er als Herausgeber des Liber Sextus hervor, der abschließenden Dekretalensammlung, die er vor allen Dingen aus Gründen der Vereinheitlichung der Administration und Jurisdiktion anstrebte; er war mit den Feinheiten der anstaltlichen Probleme der Kirche bestens vertraut. Gegen Bonifaz VIII. päpstlichen Machtanspruch nahm der französische König Philipp IV. (der Schöne, 1268-1314) den Kampf um seine Autonomie auf, in dem er auch nicht vor der Anwendung physischer Gewalt gegen den Papst zurückschreckte. Auf Philipps Anordnung hin wurde Bonifaz in Agnagni gefangen genommen, das Papsttums nach Avignon überfuhrt und der berühmte Prozess gegen den Templer-Orden abgehalten: alles gezielte Maßnahmen zur Binnenkonsolidierung des Königreichs und zur Behauptung der Autonomie nach außen. Während das Deutsche Reich mit seiner sakralen Überhöhung zum „sacrum imperium" (Dempf 1954) zu kämpfen hatte und sich dort geistliche Amtsträger als selbständige Fürsten etablieren konnten, weil die Reichsidee die deutschen Könige in Richtung Italien ablenkte, setzte sich in Frankreich die Orientierung an der königlichen Macht durch: das französische Königtum emanzipierte sich von dem Reich-Kirche-Dualismus und von beider SuprematAnspruch, es wurde zum eigenständigen und letztentscheidenden Ordnungsmodell, das die Ordnungsmodelle von „Reich" und „universaler Kirche" als unbotmäßige Konkurrenz abschüttelte.

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Die Politik Philipps folgte den Bahnen neuer politische Denkwege, die bereits Mitte des 13. Jahrhundert die Machtstellung des französischen Königtums erörtertet hatten. Der dem königlichen Hof fernstehende Burgunder Legist Jean de Blanot führte 1256 den Nachweis, der König sei in seinem Reich Alleinherrscher (nach der Formel „rex est imperator in regno suo": Quaritsch 1970, 79-83) und der französische Jurist Philippe de Beaumanoir verwendete den Begriff der communis utilitas, um das Fehderecht des Hochadels gegen den König einzuschränken, wenn das Gesamtwohl Frankreichs berührt war. Diese Argumente griff dann später Jean Bodin zum rechtshistorischen Nachweis der Souveränität des französischen Königs wieder auf. Philipp der Schöne setzte diese Linie fort; an Stelle des Feudalverhältnisses trat eine Art Königszentrismus. Es gelang ihm unter Umgehung des traditionellen Verständnisses des Vasallenverhältnisses, Heere zusammenzustellen, für die er nicht Gefolgschaft, sondern finanzielle Beiträge verlangte. Die neuartigen finanziellen Erfordernisse zogen eine stärkere haushaltspolitische Durchdringung des Landes nach sich, was an der Monopolisierung der Münze und ihrer geldpolitischen Handhabung sichtbar wurde. Zum Konflikt mit dem Papst kam es daher nicht zufällig wegen finanz- und steuerpolitischer Maßnahmen. Philipp forderte den Kirchenzehnt für seine politischen Unternehmungen; das was nicht ungewöhnlich, aber gegen die Gewohnheit zog er ihn ohne die Zustimmung der Provinzialsynoden ein. Der hiergegen gerichtete Appell des französischen Klerus an den Papst löste den Kampf aus. Der König stoppte eine der ergiebigsten Einkommensquellen des Papsttums, indem er Edelmetallausfuhren aus Frankreich verbot, gefolgt von einem Waffen- und Pferdeembargo. Bonifaz VIII. reagierte hierauf mit der Bulle Clericis Laicos vom 24. Februar 1296, gefolgt von der weitaus schärferen Bulle Ineffabilis amor vom 20. September des gleichen Jahres. Nun entbrannte ein Kampf um die öffentliche Meinung des französischen Publikums im allgemeinen und der verschiedenen Reichsversammlungen im besonderen. Der König agierte mit Mitteln wie der schlichten NichtVeröffentlichung und Unterdrückung päpstlicher Mahnschreiben und Bullen oder publizierte sie in entschärften, also gefälschten Fassungen. Die Universität Paris stellte Gutachten zur Verfügung bezüglich der kirchenpolitischen Maßnahmen des Königs. Auch die Treuesten der Treuen des Papsttums, die Dominikaner, die in Paris im Konvent von St. Jacques (dessen Räume als Tagungsstätte später den revolutionären Jakobinern den Namen lieh) beheimatet waren, mussten ein Dokument unterzeichnen, in dem die königliche Berufung auf die Entscheidung eines Konzils gegen den Papst gebilligt wurde, machtpolitisch gesehen eine Maßnahme zum Zeitgewinn. 132 Patres kamen der Aufforderung nach, während auf franziskanischer Seite bedeutende Gestalten wie Duns Scotus dem König die Gefolgschaft verweigerten und daraufhin Frankreich verlassen mussten (Bleienstein 1969, 13). In diesem Kampf konnte der König auf die neuartigen Einrichtungen juristischer Schulen und Fakultäten in Montpellier, Toulouse und schließlich in Orleans zurückgreifen, die ihm eine neue Form der Rekrutierung von Ratgebern und Ministerialen erlaubte: im weltlichen Recht ausgebildete Legisten. Aus der Rezeption des römischen Rechts und einer neuartigen Lektüre der aristotelischen Politik leiteten sie immanentes Verständnis der politischen Ordnung ab. Diese legistisch ausgebildeten Ministerialen bezogen ihr Selbstverständnis zusehends aus der politischen Ordnung, der sie dienten. Ein typischer Vertreter dieser Gruppe war der königliche Kanzler Pierre Flöte, der später in der Sporenschlacht von Courtrai am 8. Juli 1302 fiel. Auf der großen Ständeversammlung in Paris im Frühjahr 1302, die gegen das Papsttum einberufen worden war, hielt Flöte am 12.4. eine bemerkenswerte Rede. Unter

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Verzicht auf scholastische Argumente der juristischen oder theologischen Denkschule appellierte seine Rede an den französischen Patriotismus. Das französische Königtum sei aus eigener Kraft erwachsen, der Barbaren Hand entrissen und außer Gott nur dem Fleiß und der Tugend der Vorväter zu verdanken (Scholz 1903, 355-363). Pierre Dubois, ein Ständevertreter auf der gleichen Ständeversammlung, verfasste in dieser Zeit die Denkschrift Deliberate super agendi, worin er die Unabhängigkeit des französischen Königtums von anderen weltlichen und geistlichen Mächten u.a. mit dem klassisch juristischen Argument der Veijährung früherer Ansprüche zurückwies (Scholz 1903, 386-387). Würde der Papst das Argument der Verjährung nicht akzeptieren, so könnte der Kaiser die Konstantinische Schenkung widerrufen. Dubois wurde etwas später mit der Arbeit De recuperationae Terrae Sanctae (1306) bekannt. Bei ihm machte sich bereits dieser neue Ton des Patriotismus breit. Die publizistische Polemik in Frankreich verbündete sich mit innerrömischen Parteien, die ein Interesse an der Bekämpfung des Papstes hatten. Römische Adelsgeschlechter waren in einem fortwährenden Kampf um die Besetzung einträglicher und einflussreicher kurialer Positionen einschließlich des Stuhles Petri verstrickt. Bonifaz entstammte der Familie der Caetani, die mit den Colonna konkurrierten. Er hatte amtierende Kardinäle aus dieser Familie suspendiert und zerstörte in zwei regelrechten Kreuzzügen deren Machtstellung (Schleifung des Colonna-Stammsitzes Palestrina), bis diese nach zweckloser Unterwerfung schließlich 1299 in die Illegalität flohen. Im französischen Asyl schürten die Colonna den Konflikt zusätzlich. Ein erheblicher Teil des Kardinalskollegiums opponierte mittlerweile gegen Bonifaz' Machtanspruch (Scholz 1903, 190-206). Dieser kam in der Bulle Unam Sanctam von 1302 (dt. in: Dante Alighieri, Monorchia, ed. Imbach/Flüeler, 347-355) am klarsten zum Ausdruck. Darin wurde die Kirche mit dem corpus mysticum identifiziert, ein Leib, dessen Haupt Christus und dessen sichtbarer Stellvertreter der Papst sei. Die Partei des Papstes wurde durch eine Vielzahl von Traktaten gestützt, die häufig den Titel De ecclesiastica potestate trugen und damit die Eigenständigkeit der Kirche als politischen Verband hervorhoben (Miethke 1993, 361). Der Co-Autor der Bulle Unam Sanctam war Aegidius Romanus (1243-1316), der mit der Arbeit Ecclesiastica sive de summi pontificis potestate den meist rezipierten dieser Traktate schrieb. Aegidius gehörte zu den schillerndsten Publizisten dieser an politischen Schriftstellern reichen Zeit. Aegidius studierte in Paris u.a. bei Thomas von Aquin. Mit päpstlicher Intervention zum Magister ernannt lehrte er als erster Augustiner-Eremit in Paris (1285-1291). 1287 verpflichtete sein Orden alle den Augustiner-Eremiten zugehörigen theologischen Lehrer und Studenten auf Aegidius' Schriften. 1292-1295 war Aegidius Generalprior und Leiter seines Ordens. Bevor er auf der Seite des Papstes in den publizistischen Kampf eingriff, war er 1280 durch die Arbeit De Regimine Principum bekannt geworden, die er für seinen Schüler, den französischen Kronprinzen und späteren König Philipp den Schönen verfasst hatte, eine der am meisten verbreiteten Schriften dieser Zeit (Scholz 1903, 43-44). Sie stand in der Tradition der Fürstenspiegel, dabei bemerkenswert systematisch aufgebaut. In drei Teilen wurden alle Facetten der königlichen Regierung abgehandelt, beginnend mit der Selbstdisziplin des Königs (Tugenden, Leidenschaften, Gewohnheiten), übergehend zur Regierung im dynastischen Hofstaat, dem „Haushalt" (Ehe, Kinder, Haushalt im engeren Sinne, d.h. Umgang mit den Dienern) und schließlich die Regierung des Königreichs betreffend (die politische Herrschaft, die Regierung im Frieden und in Kriegszeiten). John Trevisa (etwa 1342-1402) übersetzte De Regimine Principum ins Englische, vermutlich um die dortige Adelspartei gegen die Stellung des Königs zu unterstützen (Fowler/Biggs

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1997). Er gebrauchte den englischen Schlüsselbegriff „government" (in seinem mittelenglischen Vorläufer), der wesentlich stärker auf die Regierungspraxis ausgelegt war als das Schrifttum zum abstrakteren Gedanken des Imperiums. Aegidius selbst knüpfte an die thomistische Lehre an und gab wie diese der weltlichen Ordnung ein relativ eigenständiges Verfügungs- und Ordnungsrecht über die Dinge, beurteilt nach ihrem jeweiligen Endzweck. Als Aegidius aber etwa 1296 an die römische Kurie berufen wurde, wechselte er die Fronten und kehrte wieder zur augustinischen Lehre zurück, um den Anspruch der weltlichen Ordnung in die Schranken zu weisen (Bleienstein 1969, 25-26). Aegidius bestätigte zunächst gutachterlich die Rechtmäßigkeit der Wahl von Bonifaz' nach der Absetzung seines Vorgängers, des sog. Engelspapstes Coelestin V. (De renuntiatione papae 1297). Dieser war vor Amtsantritt Eremit gewesen, wurde als Heiliger in das Papstamt gewählt, war jedoch wenig überraschend den Aufgaben der Verwaltung der Kirche nicht gewachsen und dankte nach Beratung u.a. mit seinem Nachfolger Benedikt Caetani in einem bis dahin beispiellosen Vorgang ab. In seiner berühmten Verteidigungsschrift des Papsttums, De ecclesiastica sive de summi pontificis potestate aus dem Jahr 1302 verteidigte Aegidius den weltlichen Primat des Papstes. Manche der Argumente aus der Bulle Unam Sanctam von Bonifaz VII. waren unmittelbar De ecclesiastica potestate entnommen (Miethke 1993, 371-373). Der Kern der Bulle Unam Sanctam teilte die Hauptaussage von Aegidius: alle Angelegenheiten der Kirche obliegen der Kompetenz des Papstes, wobei „Kirche" hier umfassend gedacht war (De ecclesiastica potestate III 9). Der päpstliche Machtanspruch wurde mit der Lehre von Augustinus begründet. Dessen Sentenz, politische Gemeinschaften ohne Gerechtigkeit seien nichts als Räuberbanden (De Civitate Dei IV 4), verband Aegidius mit der Überlegung, dass Gerechtigkeit nur von der Kirche zugesprochen werde. Auch die vermittelnde thomistische Argumentation, wonach zwischen göttlichem und menschlichem Recht das Naturrecht eine legitimierende Funktion einnehme, wies Aegidius eindeutig zugunsten des göttlichen Rechts zurück, das ausschließlich durch die Kirche vermittelt sei. Daher wurde Aegidius auch vom Dominikaner Johann von Quidort (1255/1260-1306) in dessen De regia potestate et papali scharf kritisiert, die schon von der Anlage her ein Gegenstück zu Aegidius' De ecclesiatica potestate war. Quidort versuchte zentrale Argumente von Aegidius zu widerlegen: betreffend das Richteramt des Papstes (Arg. 10-14), das Verhältnis der temporalia zu den spiritualia (Arg. 17, 18, 20), die allein gesetzgebende Gewalt des Papstes (Arg. 24), die iustitia Christi als Prinzip der Staaten (Arg. 27) und die päpstliche Macht über weltliche Güter (Arg. 36, vgl. Bleienstein 1969,15-16). Mit Johann Quidort wurde klar, dass die Kirche zu einem Fall weltlicher Herrschaft geworden war. Das heißt nicht, dass er für das Kaisertum Position bezog. Unter Hinweis auf die Existenz zweier Kaiser im Osten (Byzanz) und Westen könne von einem universalistischen Machtanspruch keine Rede mehr sein, er sei nicht nur begrifflich verfehlt, sondern zugleich eine Gefährdung des Gleichgewichts und des Friedens (De regia potestate et papali III; hierzu Bielefeld 1987). Insbesondere könne keine Oberherrschaft des Kaisers über Frankreich angenommen werden, da weder die kuriale noch die kaiserliche Translationslehre (der Herrschaftsübergang von Rom auf das Reich) auf Grundlagen fußten, die Frankreich einbezogen. Umgekehrt müsse davon ausgegangen werden, dass bei der Translation der Kaiserwürde Papst und stadtrömisches Volk mitwirkten. Die Herkunft weltlicher Macht aus der Zustimmung des Volkes trat also bei Johann Quidort in den Vordergrund, ohne dass man bereits von einer stringenten Theorie der Volkssouverä-

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nität sprechen könnte (Bleienstein 1969, 33 gegen Heydte 1952, 351-352; Dempf 1954, 426; Kurz 1965, 67). Quidort kombinierte Aristoteles' und Thomas' Idee des von Natur aus sozialen Wesens des Menschen mit dem Gedanken vernünftiger Gestaltbarkeit menschlicher Verhältnisse als eines Rechts- bzw. Vertragsverhältnisses, den er der römischen Lehre entnahm, und zwar unter Verwendung von Cicero {De interventione I, c. 2: Bleienstein 32). Der Ausdruck „regnum ecclesiasticum" thematisierte die Kirche als Gegenstand der Regierungslehre und wurde im 13. Jahrhundert zum stehenden Begriff (Alexander von Roes, Johannes von Viterbo u.a.; vgl. Scholz 1903, 160-161). Der alte kirchenrechtliche Terminus „plenitudo potestas" indizierte bei Quidort eher eine organisatorische als eine spirituelle Angelegenheit, oder wie es Lucas de Penna in seinem Kommentar zum Kanonischen Recht in der Mitte des 14. Jahrhunderts formulierte: „Somit ist die Kirche mit einer politischen Aggregation von Menschen zu vergleichen, und der Papst gleicht in seiner Machtfülle einem König in seinem Reich" (zitiert nach Kantorowicz 1990, 214). Indem Quidort Kaiser wie Papst als weltliche Herrscher diskutierte, nahm er ihnen ihre sakrale Position und hob zugleich das französische Königtum auf Augenhöhe zu ihnen. Aegidius' Papstverteidigung stand dagegen in erklärter Feindschaft zu den französischen Juristen und ihrer nicht-theologischen Argumentation. Diese setzten die irdische Grundordnung des Königtums mit seiner Rechtsordnung gleich, welcher sowohl Geistliche wie Laien als derselben Gemeinschaft zugehörig unterworfen sind. Dies war ein Argumentationsmuster aus dem Manifest Antequam essent clerici, das Scholz aus stilistischen Gründen Flöte zuschreibt. Wer sich der Rechtsordnung widersetzt, begeht nicht nur Hochverrat, sondern verletzt das Naturrecht (ius naturale) (Scholz 1903, 359-363). Die Einheit des populus christianus war durchbrochen; sie kam in diesen Beweisfuhrungen weder symbolisch noch realiter durch Kaiser und Papsttum gemeinsam zustande, sondern separat voneinander. Daraus leitete sich dann auch der Herrschaftsanspruch des Königs „in seinem Reich" ab, den weder Aristokraten noch geistliche Fürsten mit Hinweis auf andere Normenordnungen in Frage stellen durften. In einem Wortwechsel Flotes mit Bonifaz bestand der Papst auf seine höhere Gewalt, woraufhin Flöte entgegnete: „Vostra (potestas) est verbalis, nostra autem est realis", die Macht des Papstes sei die des Wortes, seine eigene hingegen sei real (überliefert bei Walsingham 1863, 85, zitiert nach McGrade 1974, 207). Ein anderer Ministeriale des französischen Königs war Wilhelm von Nogaret (1260/12701313), er war Professor der Rechte in Montpellier gewesen, bevor er 1294 in den Dienst des Königs trat und von 1307 bis 1313 Chef der Kanzlei war. In seiner Schrift Disputatio inter clericum et militem verstrickt er einen Geistlichen und einen Krieger in eine Disputation über den Vorrang der weltlichen Macht (Gagner 1960, 170-172; Scholz, 1903, 345-347). Der Geistliche antwortet auf die Frage nach dem Recht (Scire vellem quid vocatis ius) mit Hinweis auf die Kirchenväter und die Statuten der römischen Päpste, was der Krieger nicht gelten lässt: in Übernahme des zivilrechtlichen Begriffs des dominium behauptet dieser, dass niemand über Dinge Recht sprechen könne, über die er keine Herrschaft inne hat (Nullus enim potest de iis statuere, super quae constat ipsum dominium non habere). Die Rechtsprechung der Geistlichkeit weist er zurück, da diese alle Fälle unter dem Gesichtspunkt der Sünde (ratione peccatum) erörtern würde und so nur die Rechtsprechung verdoppelt, was Rechtsunsicherheit verursacht. Die Loyalität der Ministerialen zu ihrem König führte zu schweren inneren Konflikten, denn sie blieben um ihr Seelenheil besorgte Christen. Wilhelm Nogaret verhaftete Bonifaz in Agnagni kurz bevor dieser die Exkommunikation des französischen Königs aussprechen

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konnte. Bonifaz konnte sich befreien, starb aber kurz darauf. Nach seinem Tode bemühte sich Nogaret in Jahre währenden Verhandlungen mit den Folgepäpsten um eine Freistellung von aller geistlichen Verfolgung seiner Taten. Die Sorge, die Glückseligkeit als Christ zu verwirken, konnte nicht so leicht abgeschüttelt werden. Die Niederlage des Papstes brachte Aegidius wieder auf die Seite des französischen Königs. Bereits beim Templer-Prozess auf dem Konzil von Vienne 1311/1312 zeigte sich Aegidius wieder im Einvernehmen mit Philipp. Die ungewöhnlich häufigen Frontwechsel und der offenkundige Opportunismus der politischen Aussagen fiel bereits Zeitgenossen wie Dante auf, der Aegidius' inkonsequente Aristoteles-Rezeption bemängelte: er erkenne die Autonomie der politischen Sphäre an, binde sie aber an den Papst zurück, so dass der weltlichen Macht nur noch eine administrative Kompetenz zugestanden werde (Flasch 1986, 457-458). Dante gehörte bereits einer anderen diskursiven Formation an, die im Frieden auf Erden Funktion und Rechtfertigung weltlicher Macht erblickte. Von der spirituellen Heilsordnung zur säkularen Friedensordnung In die Zeit des Kampfes um den politischen Primat fiel auch die Fortsetzung und Vollendung von Thomas von Aquins De regimine principum durch Ptolemäus von Lucca 1302-1305 (von II Kap. 5 bis zu den Büchern III und IV, ed. Blythe 1997). Im 4. Buch wurden Ereignisse, aus dem Jahr 1298 erwähnt, zwischen dem Abbruch der Abhandlung des Aquinaten und ihrer Fortsetzung durch Ptolemäus waren also mindestens 24 Jahre vergangen. Obwohl Ptolomäus (1236 bis vermutlich 1327) dem gleichen Orden angehörte, Beichtvater und Vertrauter von Thomas war und im hohen Alter als Bischof von Torcello neunzigjährig starb, spiegelte sich in seiner Bearbeitung der Wandel des politischen Denkens. Ptolemäus widmete sich stärker den authentischen aristotelischen Fragestellungen und löste den griechischen Politik-Begriff ein Stück weit von der christlichen Umdeutung (Sternberger 1978, I 58-71; Flasch 1986, 304-305; Struve 1978, 149-177.). Das 2. Buch endete mit Fragen des Haushalts und des Münzwesens. Das 3. und 4. Buch jedoch wiederholten Themen des ersten und kamen zu Aussagen, die von Thomas' Überlegungen abrückten. Ptolomäus unterschied königliche von politischer Herrschaft (dominium regale vel despoticum und dominium politicum): der Kaiser (dominium imperiale) ist kein Erbmonarch (daher eher politicum), aber er sei oberster Gerichtsherr und könne aus eigener Kompetenz Gesetze erlassen und Steuern erheben (insofern regale) (IV 1-3). Diese Unterscheidung rezipierte im 15. Jahrhundert John Fortescue und leitete damit die Wende des englischen politischen Denkens zum Konstitutionalismus ein (Friedrich 1967, 30-34). Das Interesse an den tatsächlichen politischen Systemen der Antike war bei Ptolemäus weitaus spürbarer als bei Thomas (Davis 1984a), er referierte ständig aus der Geschichte der römischen Republik. Unter dem Rubrum der Regierenden tauchten neben Fürsten auch gewählte Amtsträger auf. Die stadtstaatliche Politik war ihm als Prior von S. Maria Novella in Florenz seit 1301 vertraut. Er verstand Aristoteles' bevorzugte Verfassungsform der politeia (bei Ptolemäus „Politia") als Gesetzesherrschaft einer Vielheit, d.h. einer in sich vielfach gegliederten Bürgerschaft. Ptolemäus stellte das Regierungssystem auch in einen Zusammenhang mit den klimatischen Bedingungen (IV 7). Für einen größeren Realismus sprach ferner die im vierten Buch abschließend erörterte Frage nach der Bedeutung des Heeres für Bestand und innere Verfassung einer politischen Ordnung. Immer klarer trat die Realität des Stadtstaates als Hintergrund der Diskussion politischer Herrschaft hervor, wo Thomas noch deutlich fürstliche Herrschaftsformen vor Augen gehabt hatte.

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Während Ptolemäus in Florenz war, verbannte die Stadt ihren größten Dichter: Dante Alighieri (1265-1321). Der ganz Italien beherrschende Konflikt zwischen den um Unabhängigkeit vom Kaiser bemühten Guelfen und den kaisertreuen Ghibellinen brachte oft bürgerkriegsähnliche Zustände mit sich, die zu Dantes Exil führten. Die erste populäre Verfassung des Primo Popolo verlor ihre demokratischen Züge, als mit den Ordinamenti di Giustizia von 1293 die Zunftverfassung eingerichtet wurde. Mittlerweile hatten die Guelfen das Regiment erobert, entzweiten sich aber wieder untereinander. Dante diente seiner Vaterstadt als Soldat und kämpfte 1291 in der Schlacht von Campaldino gegen die Aretiner. Seit 1295 zählte er zum Magistrat, war Botschafter und schließlich 1300 Mitglied der Signoria. Er war in den Machtkampf verstrickt und wurde im Januar 1302 zusammen mit drei anderen Politikern in Florenz verurteilt. Am 10. März erfolgte das Todesurteil, das ihn ins Exil zwang. Im Exil erkundete Dante Möglichkeiten, die Konflikte zwischen den einzelnen Teilen Italiens zu befrieden und sah einen Ansatz hierzu in der Sprache. Eine Hochsprache sollte die Einigung Italiens schaffen, wozu die Politik offensichtlich außerstande war {De vulgari eloquentia um 1304/1305). Die Neigung der italienischen Gemeinwesen zum Bürgerkrieg war seiner Ansicht nach schließlich nur durch Anlehnung an das Kaisertum als Friedensmacht zu überwinden. Dante verfocht wie kaum ein anderer Autor den Machtanspruch des Kaisertums in Italien. Dazu reaktivierte er die alte Translationstheorie, wonach eine Kontinuität der römischen Herrschaft zur kaiserlichen Herrschaft vorlag. Dante idealisierte Friedrich II., den letzten bedeutenden Hohenstaufer, der 1250 gestorben war, in seinem zwischen 1304 und 1307 geschriebenen Convivio zu dem von ihm ersehnten Weltmonarchen; Friedrich sei der letzte Kaiser der Römer gewesen (Convivio IV 3, 6). Auch Heinrich VII. wurde von Dante als möglicher imperialer Friedensbringer gefeiert. Der Kaiser hatte für Dante die Aufgabe eines „Gebieters über Gebieter" (Convivio IV 4, 7), also einer obersten Instanz über allen Fürsten, um den Frieden und das Glück der Menschen zu wahren. Kriege würden nur verschwinden, wenn ein einziger über die Welt herrscht und über allen Besitz verfügt (Convivio IV 4, 4). Die kaiserlichen Kompetenzen erstreckten sich laut Dante auf alle menschlichen Handlungen (operazione) und sollten die Gerechtigkeit verwirklichen, weshalb er seine Gesetzgebung, Inbegriff der kaiserlichen Autorität, als „geschriebene Vernunft" (ragione scritta) bezeichnete, die aber auch diesem Kriterium genügen musste. Die zwischen 1308 und 1317 entstandene De Monarchia war grundsätzlicher angelegt als der Convivio. Die Monarcha stellte drei Grundfragen: Ist die Monarchie für die Welt grundsätzlich notwendig? Kann das römische Volk von Rechts wegen das Amt des Monarchen in Anspruch nehmen? Ist die Autorität des Monarchen unmittelbar von Gott oder vom Papst abhängig? Menschheitskultur und Weltfriede waren ihm alleine unter einer politischen Ordnung der Weltmonarchie eines Kaisers möglich (I 5). Gegenüber zeitgenössischen deutschen Rechtfertigungsschriften für den Machtanspruch des Kaisers war Dantes Argumentation schlüssiger. Engelbert von Admont trug in seinem Traktat Uber de ortu, processu et fine Romani Imperii (1312/1313) summarisch zusammen, was sich für die Beweisführung zugunsten des Kaisers finden ließ: von der Fabel vom Löwen in der Tierwelt bis zum Vorbild der militärischen Organisation, die auch nach klaren Hierarchien erfolgen muss; schließlich verlieh er dem Kaisertum göttliche Sanktion als Schutz- und Schirmherrschaft des Christentums (ed. Nederman/Izbicki 2000; vgl. Ubl 2000). Dante wollte hingegen den Primatanspruch des Kaisers lieber auf eigene Füße stellen. Bemerkenswert ist sein Versuch, der Theologie bereits methodisch den Zugriff auf politische Fragen abzuschneiden. Politik definierte er als Gegenstand der durch menschliche Handlungen hervorgebrachten Dinge, welche nicht

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mittels spekulativer Erkenntnis erschlossen wird, „da alles Politische unserer Macht unterliegt (et omne politicum nostrae potestati subiaceat)." Daher kann es nicht um Spekulation (im Sinne theologischer Betrachtung) gehen, sondern nur um Tätigkeit {Monorchia I 2, 6). Zusehends näherte sich Dante damit innerweltlichen Kriterien, wonach Politik sich selbst zu genügen hat. Das war eine deutliche Absage an transzendente Bezüge. Zwar fehlte es auch in der Monarchia nicht an zahlreichen Erörterungen biblisch-theologischer Art, doch hatten sie weniger den Charakter der autoritären Beweisführung und dienten eher als Exemplum zur Demonstration der politischen Einsichten. Die Monarchie mündete folgerichtig in einer strikten Trennung von kirchlicher und weltlicher Macht mit eindeutigem Übergewicht der weltlichen Macht in weltlichen Belangen. Dante verband mit der Alleinherrschaft die Vorstellung einer Wahlherrschaft, die als Monarchie oder als Konsulat eingerichtet werden kann (.Monarchia I 12, 12). Den Monarchen bezeichnete er als minister omnium, als Diener aller. Dies verrät Dantes Antikenzuwendung und seinen Anschluss an Aristoteles' Politik: im Gegensatz zum Tyrannen ist der wahre Monarch um der Bürger bzw. um des Volkes willen da und etabliert Gesetzesherrschaft, in welcher sich die Gesetze nicht nach den Bedürfnissen des Herrschenden richten, sondern dieser nach dem Gesetz lebt (I 12, 11). Dante gab vor, auch dort der aristotelischen Argumentation zu folgen, wo die größere Tugend den größeren Herrschaftsanspruch verleihen soll: eine bei Aristoteles nur randständig vorkommende Behauptung, die thomistisch klang. Entscheidend war die Folge, die Dante aus dieser Definition zog: da das römische Volk unzweifelhaft das adligste Volk der Menschheit war (II 3, 2), beruhte seine Herrschaft über die Welt auf Recht und Natur zugleich (II 6, 7). Das berührte die Translationsthese der Übertragung der römischen auf die kaiserliche Gewalt. Dem historischen Argument fugte Dante prinzipielle Merkmale hinzu: Vernunft und Freiheit. Alleine die Freiheit versetze die Menschheit in den Zustand des größten Glücks. Die Weltmonarchie kann sich auf das universale Prinzip des sich entfaltenden Vernunftvermögens berufen, welche eine alle Menschen umschließende Eigenschaft darstellt (I 3, 7). Da der Weltmonarch per definitionem nicht um seinen eigenen Machterwerb kämpft, sondern seinen Primatanspruch mit der Schaffung einer Friedensordnung verbindet, findet die Freiheit innerhalb einer Monarchie auch die größte Entfaltung (I 12, 1). Die Existenz des menschlichen Vernunftvermögens zeige die Existenz einer durch sie verbundenen Menschheitsgattung, welche aber zur Entfaltung der in ihr angelegten Potentiale der Vielfalt bedarf (I 3). Mit dem überraschenden Tode des Kaisers in Siena verlor Dantes Weltmonarchie ihr aktuelles Substrat. Die Monarchia wurde von der Kurie offiziell bekämpft, zunächst öffentlich verbrannt (1329) und viele Jahre später im Zuge der Gegenreformation schließlich auf den Index Auctorum et Librorum prohibitorum gesetzt. Die Monarchia fand auch bemerkenswerte Gegner wie etwa Guido Vernani von Rimini mit seiner Streitschrift Tractatus de reprobatione Monarchiae compositae α Dante. Vernani hatte sich zuvor einen Namen als Kommentator der Bulle Unam Sanctam gemacht und war zudem als Kommentator der aristotelischen Politik bekannt geworden. Der Armutsstreit und William von Ockham Nach Philipps Sieg zog er das Papsttums an seinen Machtbereich heran und besetzte es mit Franzosen. Der Umzug der Kurie nach Avignon und ihre dortige „babylonische Gefangenschaft" (1309-1377) machte dies für alle Welt erkennbar. Diese Umstände forcierten die Frontstellung geistlich inspirierter Intellektueller gegen das Papsttum. Auslegungsfragen der

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christlichen Doktrin mussten in einer solchen Situation politische Sprengkraft erhalten. Dies war der Fall im Armutsstreit, vor dessen Hintergrund William von Ockham seine politische Theorie entwickelte. Dante erlebte die ersten Auseinandersetzungen in seiner Florentiner Jugendzeit anhand des Wirkens zweier bedeutender Theologen, des Thomas-Schülers Remigio dei Girolami und des Franziskaners Petrus Johannis Olivi. Petrus Olivi lehrte das Studium generale in Santa Croce, wo ihn Dante vermutlich kennen gelernt haben dürfte. Olivis franziskanische Position leitete aus Matthäus 10, 9 die Armutsforderung ab und folgerte daraus, dass die geistliche Macht auch nur geistlich bestehen solle: die Einmischung der Kirche auf weltliche Dinge müsse sich auf Fragen begangener Sünden konzentrieren. Die geistliche Macht sei dem Range nach gerade deswegen höher, weil sie sich von allen weltlichen Dingen fernhalte (Quodlibet, Venedig 1509). Wenn die Franziskaner davon ausgingen, dass die Nähe zu Christus mit der Nachahmung seines Lebens in völliger Armut gegeben sei, konnte das umgekehrt auch so ausgelegt werden, dass der Papst, Eigentümer gewaltiger Ländereien, in erstaunlicher Ferne zu Jesu Vorbild lebe, so jedenfalls resümierte Johannes von Paris die franziskanische Meinung und legte damit den politischen Sprengstoff des Armutsstreits offen (De potestate regia etpapali, 1305). Im Christentum war die Vorstellung weit verbreitet, dass die Eigentumslosigkeit bzw. die Armut das eigentliche Ideal der Lebensführung darstellt. Der Mensch galt als Pilger im Übergang vom irdischen zum himmlischen Dasein, weshalb das Eigentum nur Tand schien, das die Seele des Menschen am irdischen Dasein festhält. Reichtum sollte charitativen Dingen dienen, also der tätigen Nächstenliebe nützen und wurde in der Doktrin auch nur unter diesem Vorbehalt respektiert. Empfänger charitativer Zuwendungen waren freilich oft Klöster und Orden, die als Wohlfahrtseinrichtungen funktionierten. Die Entgegennahme solcher Zuwendungen oder auch Erbschaften begründete kein individuelles Eigentum, sondern kollektives Vermögen, über das Klöster und Orden in hochorganisierter Selbstregierung gemeinschaftlich verfugten. Darüber hinaus schufen sie in komplexen Arbeitsvorgängen selbst Gemeineigentum: Sie erwirtschafteten große Erträge, die wiederum den Reichtum des Gemeineigentums vermehrten (Treiber/Steinert 1980). Der Begriff der Arbeit, der von der Antike bis zum Rittertum der feudalen Gesellschaft einen nur pejorativen Wert hatte, war bereits in der Regel des Hl. Benedikt geadelt worden, und zwar in der sprichwörtlichen Formel von „ora et labora"; Arbeit sollte in der Ethik des Mönchtums das sündige Fleisch disziplinieren und wohltätiges Mittel der Askese sein (Troeltsch 1994, 349). Doch die Arbeit umfasste neben der Pflege von Menschen und der Buchproduktion in den Skriptorien auch Land- und Weinanbau. Klöster bildeten so mitunter Oasen der christlichen Sozialität verbunden mit ökonomischer Effizienz. Spenden, Erbschaften und ökonomische Transaktionen verstrickten die Klöster in irdische Belange, was Ideen strengerer Observanz der Armutsdoktrin als Reaktion auf die Korruption der Christen durch die Welt provozierte. Schon der Erwerb von Grundeigentum zur Errichtung von Klöstern schien problematisch. Zunächst behalf man sich mit juristischspitzfindigen Fiktionen des Eigentums der Kirche als ganzer, welche nur die Nutzung des Eigentums dem Orden dauerhaft überließ. Ab einem gewissen Zeitpunkt konnte diese Lösung angesichts ihrer Schwächen in Detail und Ausführung nicht mehr überzeugen (Baron 1938; Lambert 1961; Coleman 1988). Der Armutsstreit war daher zunächst dominiert von der rein praktischen Frage des Eigentums des Ordens. Franziskaner und Dominikaner entwickelten hierzu unterschiedliche Konzeptionen (Coleman 2000, II 121-124). Die Franziskaner

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konstruierten eine Lösung, worin der Papst der eigentliche Eigentümer der weltlichen Dinge des Ordens sei und die Brüder nur die Nutzer der Dinge. Die Dominikaner dagegen konnten im Anschluss an Thomas wesentlich flexibler mit dem Eigentum umgehen. Thomas sprach ja allen Dingen ihren relativen Nutzen zu und so auch dem Eigentum (Summa IIa Ilae 66, 1-2). Inmitten des Streits warf daher Johannes von Paris den Franziskanern einen gewissen AntiPapalismus vor, denn die Programmatik der Armut konnte sich politisch gegen das Papsttum wenden, sobald sie als generelles Merkmal der Weitabgewandtheit der Geistlichkeit behauptet wurde. Papst Johannes XXII. Position im Armutsstreit war nicht nur dogmatisch inspiriert, sondern zusätzlich machtpolitisch motiviert. Der franziskanische Ordensgeneral, Michael von Cesena, folgte ihm zunächst im Kampf gegen besonders eigenwillige Franziskaner, die in der Fraktion der Spiritualen teilweise fanatisch das Armutsgebot zum Credo erhoben und daraus praktische Konsequenzen für ihre Lebensführung zogen. Einige Spirituale wurden der Inquisition und vier von ihnen am 7.5.1318 in Marseille dem Feuer übergeben. Der Kampf wurde mit existentieller Intensität geführt. Als der Papst aber nicht nur die praktischen Fragen kritisierte, sondern auch dogmatisch die Auffassung vom Eigentumsverzicht Christi als Häresie brandmarken wollte, widersetzte sich Michael von Cesena. Er wurde 1327 nach Avignon zitiert und floh im Jahr darauf nach Pisa, um sich in den Dienst Kaiser Ludwig des Bayern zu stellen. Einer seiner Begleiter war William von Ockham. William von Ockham war von allen Scholastikern am meisten geneigt gewesen, politische Fragestellungen von theologischen zu trennen. Er stand am Ende der Scholastik, die mit der Generation Thomas von Aquins ihren Höhepunkt bereits erreicht und überschritten hatte. Thomas und Bonaventura starben 1274, Albertus Magnus vermutlich 1280, Boethius von Dacien sowie Siger von Brabant 1284. Die spezifisch metaphysische Scholastikergeneration gelangte mit dem Tode von Duns Scotus 1308 an ihr Ende und es folgte die Zeit von Logikern wie Wilhelm von Ockham (etwa 1285-1347/49). In England geboren wurde Ockham in Oxford ausgebildet (zur Biographie: Miethke 1969; Leppin 2003). Zu diesem Zeitpunkt gehörte er bereits dem Franziskaner-Orden an. Ein theologischer Streit mit Lutterell zwang ihn zur Reise nach Avignon, wo seine Lehren geprüft werden sollten, denn Ockhams Stellungnahme zur Erkenntnistheorie war dem Häresieverdacht ausgesetzt. In Avignon machte er die Bekanntschaft von Michael von Cesena und begleitete ihn auf seiner Flucht, die nach einigen Wirren 1328 schließlich am Hofe Ludwig des Bayern in München endete. Die Flucht zum deutschen König markierte den Bruch in Ockhams schriftstellerischer Tätigkeit. Der intellektuelle Scharfsinn und die Belesenheit eines zuvor durch nichts als philosophische Erörterungen hervorgetretenen Autors wandten sich nun Themen von politischer Bedeutung zu. Zunächst schrieb er eine ganze Reihe an Pamphleten gegen die päpstliche Politik sowie zur Verteidigung des theologischen Standpunktes der Franziskaner um Cesena im Armutsstreit, sodann zu Fragen des Verhältnisses von Reich und Papsttum und schließlich auch zu rein rechtlichen und politischen Fragen. München war unter Ludwig dem Bayern das Zentrum im publizistischen Kampf gegen den päpstlichen Primat. Das Ergebnis dieses Kampfes war nicht die Trennung von Staat und Kirche, aber die Abgrenzung ihrer Kompetenzbereiche. Dies bereitete den Weg, das Politische von der Zumutung einer vorrangig theologischen Bewertung zu entlasten. Ockham als Theologe trug hierzu entscheidend bei. In der Nachfolge von Duns Scotus betrachtete er Gott mit den Mitteln der Vernunft für unerforschlich und zog aus theologischen Gründen einen klaren Trennungsstrich zwischen Wissen und Glauben. Das entlastete die vernünftige Willensan-

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strengung von der Aufgabe der Gotteserkenntnis, an welcher sie gemessen worden war. Dieser Denkweg erlaubte es, die Schöpfung mit Mitteln der Vernunft und ohne das ihr zuvor inhärente Spannungsverhältnis von Gott und Welt bzw. Natur zu betrachten. Die Logik Ockhams steckte den Rahmen seines politischen Denkens ab. Er begründete den Nominalismus bzw. Konzeptualismus (Spade 1999): im Gegensatz zum Begriffsrealismus Thomas von Aquins, der den Universalien, d.h. den Gattungsbegriffen, eine eigene Existenz zugestand, ging Ockham davon aus, dass die Begriffe nur sprachliche Zeichen sind. Die systematische Anordnung der Begriffe hat keine Aussagekraft für den von ihnen angezeigten Gegenstand. Dem Nominalismus entsprach eine intellektuelle Position, die den Autoritätsbeweis anzweifelte. Die offizielle kirchliche Auslegung der offenbarten Schriften hatte für Ockham keine Gültigkeit per se und auch keinen Vorrang vor anderen Auslegungen (Breviloquium V, 3-4). Dies relativierte auch die Lehren des Aquinaten. Alle Auslegungen müssen sich am Text beweisen und dazu logisch sein, d.h. gewissen Denkgesetzen gehorchen. Gott hat den Menschen Anlagen gegeben, aus denen heraus er auch nach dem Sündenfall Wissen, Glauben, aber auch Herrschaft zu organisieren hat. Der Sündenfall blieb also auch bei Ockham das zentrale Ereignis in der Menschheitsgeschichte. Die Herrschaftsbedürftigkeit des Menschen war ihm Merkmal dessen verderbten Natur. Aus dem Urzustand herausgerissen, bedarf der Mensch mangels göttlicher Regelung eigener Normgebung, um sich einzurichten. Hierzu zählen das Recht und die rechtliche Regelung von Gütern. Mit diesem Ansatz löste Ockham das Problem des Armutsstreits. Sein Opus nonaginta dierum (in 90 Tagen geschrieben) reagierte auf den Armutsstreit und die Position Johannes XXII. Johannes hatte nicht zu unrecht hervorgehoben, dass im Falle von Konsumeigentum nicht mehr zwischen Nutzung und Eigentum im rechtlichen Sinne unterschieden werden kann, wie die Franziskaner bislang versuchten, das Armutsgebot für erfüllt zu erachten, indem sie nämlich nur den Nutzen für sich reklamierten, nicht das Eigentum. Johannes wandte ein, wer Nahrungsmittel verzehrt, verändert die frühere Eigentümerposition. Die franziskanische Position war einfach unrealistisch. Um die Position der Franziskaner zu retten, leitete Ockham die inhaltliche Bewertung des Eigentums nicht mehr vom menschlichen Urzustand im Paradies ab. Eigentum als rechtliche Regelung der Verfügungsgewalt über Naturgüter und damit der Ausschluss anderer hiervon sei ein Merkmal des gefallenen Menschen. Auch das Neue Testament kenne die Trennung von Eigentum und Besitz (mit Verweis auf Matthäus 8, 20; 19, 21). Es verbleiben aber Restbestände des Urzustands: so ist es im Notfall erlaubt, Güter zu verbrauchen, ohne dass damit das Eigentumsrecht verletzt wird. Nicht das abstrakte Wesen des Eigentumsbegriffs, sondern seine vielfaltigen Kontexte in menschlicher Regelung werden nun entscheidend. Aus der Vielfalt der möglichen Relationen wollte er auf seinen Inhalt schließen. An Ockhams Eigentumsdiskussion zeigte sich seine nominalistische Begriffsarbeit, die er auch er anhand des Gerechtigkeitsbegriffes demonstrierte (Miethke 1969, 458-478). Nützlichkeit beispielsweise erhielt nun einen zentralen Stellenwert: so ist das Kaisertum auch durch seine Nützlichkeit für die Untertanen legitimiert (Breviloquium IV 12-13). Hierin sehen Autoren besonders aus dem englischen Sprachraum einen flexiblen Pragmatismus am Werk (Blythe 1992, 165-171). Ockham unterschied das positive Recht vom Naturrecht. Selbst der Papst sei Teil der positiven Rechtsordnung, die nicht das Naturrecht verletzen darf; seine plenitudo potestatis umfasse nicht naturrechtliche Bestimmungen (De imperatorum et pontificum potestate, ed. Offler 1997, 10, 2, 12-15). Zum Naturrecht zählen Rechte des Menschen als Mensch ungeachtet seiner Kirchenzugehörigkeit, die Sphäre der tempora-

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lia, also der irdischen Ordnung, und schließlich das Kirchenrecht, über das der Papst nicht ausschließlich entscheiden kann, sondern seinerseits an Regeln gebunden ist. Ockham veröffentlichte eine Reihe von Schriften zu innerweltlichen Angelegenheiten, beginnend mit der Frage, ob die englische Steuerpolitik Edwards III., die die Kirche für außenpolitische Zwecke belastete, rechtmäßig war (Whether a ruler can accept the property of churches for his own needs, ed. Nederman/Forhan 1993). Edward war zu diesem Zeitpunkt mit Ludwig dem Bayern verbündet. Eine ähnlich hochpolitische Einzelfrage begutachtete Ockham beim Problem der Eheschließung von Ludwigs des Bayern Sohn, Ludwig von Brandenburg, mit Margaretha Maultasch (Leppin 2003, 263-7). Diese energische Frau hatte ihren ersten Mann Johann Heinrich von Luxemburg - dem Gerücht nach wegen mangelnder Potenz - hinausgeworfen und wollte das Bündnis mit König Ludwig in Form einer Ehe mit seinem Sohn vertiefen. Ohne päpstliche Einwilligung blieb diese Ehe aber illegitim. Abgesehen von der ungewöhnlichen Persönlichkeit dieser Dame verfugte sie auch über riesigen Besitz in Italien und hätte die rein machtpolitische Stellung des Papstes als Herrn des Kirchenstaates im labilen Gleichgewicht Oberitaliens empfindlich stören können. Die Angelegenheit betraf daher den Papst nicht nur als Hüter der Sakramente, sondern als Territorialfürsten. In dieser prekären Lage verfasste Ockham ein Gutachten, um die Rechtsposition des Königs zu unterstützen. Macht ist von Menschenhand, postulierte Ockham, ganz gleich ob christlich oder heidnisch (Breviloquium de principatu tyrannico III 13, ed. Scholz S. 113).2 Die Macht geht vom Volke aus (Dialogus I 6,8). So wie der Mensch von Natur aus (das heißt vor dem Sündenfall) auf den Gebrauch der Dinge angelegt ist, so ist er von Natur aus frei. Unabhängig von päpstlicher Anerkennung existiert nach Ockham die Möglichkeit einer Begründung der Herrschaft durch das Volk, denn jedes freie Volk kann sich selbst ein Oberhaupt geben {Breviloquium IV 10). Vom Volk wird die Herrschaft auf den Fürsten übertragen. Herrschaft wird also durch menschliches Gesetz und nicht durch spirituelle Gnade begründet, nur die Herrschaft Mose über das Volk Israel sei von eindeutig göttlicher Herkunft gewesen. Diese Herrschaftsposition kann auch der Papst nicht ohne Grund antasten (Breviloquium II 3). Insofern attestierte Ockham selbst dem heidnischen weltlichen Herrscher ein eigenes Anrecht auf seine Herrschaft. Ist aber der philosophische Zusammenhang zwischen dem Nominalismus und Voluntarismus ein ausreichender Beweis für die Annahme, Ockham sei Vertreter des politischen Individualismus gewesen und damit ein unzeitgemäß „moderner" Denker (Villey 1968; McGrade 1980)? Man hat aus der Singularität, die Ockham den einzelnen Begriffen zusprach, auf eine Theorie des Individuums als Grundlage seines politischen Denkens geschlossen (Coleman 1991; 2000, II 172-175). Das ist insofern irreführend, als Voluntarismus und Individualismus in der politischen Theorie den einzelnen Subjektwillen meinen, wogegen Ockham vom Volk als Kollektiv sprach. Es ging Ockham zunächst nur um legitimatorische, nicht um politischorganisatorische Begründungen. Für die Legitimität der weltlichen Herrschaft reichte der einmalige Akt der Herrschaftsübertragung durch das Volk aus. Politischer Individualismus ist das keineswegs, denn die Menschen haben keine Wahl und die Übertragung muss auch nicht erneuert werden. Es kommt überhaupt nicht auf die Rechtsposition des Individuums

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Das Breviloquium wird seit Scholz 1903 Ockham zugesprochen aufgrund der Ähnlichkeiten mit Dialogus III, 1, so erneut Offler, in: Ockham, Opera Politica IV, 1997, 88.

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inmitten dieses Volkes an, wie er auch die Möglichkeit einer Fraktionierung des Volkes in mehrere Lager nicht bedachte. Das Volk kann Ockhams Auffassung nach Herrschaftsübertragungen ohne Grund nicht rückgängig machen (Breviloquium IV 113). Das Recht zur Herrschaftsübertragung der Reichsgewalt fallt an das römische Volk nur dann zurück, wenn der Fürst der Häresie verdächtig ist oder Straftaten begeht (Breviloquium VI 2). Ockham war bestrebt, die Macht des Papstes nach innerweltlichen Maßstäben zu definieren und so die Kompetenzbereiche von Kaiser und Kirche abzugrenzen. Für ihn zählte der Papst zum römischen Volk, und nur das römische Volk verfugte über das Einsetzungsrecht zum Kaisertum, dieses richtete sich also nach weltlichem und nicht nach göttlichem Recht. Auch wenn dem Papst im Falle des Häresieverdachts gegen den Kaiser naturgemäß die Untersuchung des Falles zukäme, so nur innerhalb des weltlichen Rechts: eine Absetzung des Kaisers aus Gründen der Häresie könne der Papst nicht aus eigenem Recht aussprechen, sondern nur der römische Senat. Das Bemühen, den Zugriff des Papstes auf die weltliche Macht von vornherein auszuschalten, begleitete Ockhams Anliegen, die Möglichkeit gerechter weltlicher Herrschaft zu erkunden, die er unabhängig von den offenbarten Schriften begründen wollte. Ockham ging davon aus, dass es leichter sei, Herrschaft zu zerstören als sie zu begründen, weshalb der eingesetzten Herrschaft ein normativer Wert zukomme, solange sie für das Volk von Nutzen ist, etwa durch die Sicherstellung der Ordnung. Dieser Wertung unterliegt auch das Papsttum, das von Christus nicht um des Papstes Wohl, sondern um das Wohl der Gläubigen willen eingesetzt wurde (Breviloquium II 5). Diese Argumente beruhten auf der Logik weltlicher Herrschaft und bedurften keiner göttlichen Inspiration. Nicht im Individualismus, sondern in der Akzeptanz politologischer Argumentation lag Ockhams Beitrag. Ockhams Weg hierzu war ein scholastischer und nicht der einzige zeitgenössisch mögliche: Die Theorie individueller Rechte ist eher im Paralleldiskurs der stadtrechtlichen Legisten zu suchen (Tierney 1988; 1989; 1997, 93-203; Brett 1997), von denen noch die Rede sein wird; sein Münchener Mitstreiter Marsilius von Padua vertrat eine radikalere Position, die weit über Ockhams Auffassung hinausging. Das änderte aber nichts daran, dass die Rezeption Ockhams ihn bereits im ersten Jahrhundert nach seinem Wirken so verstand, als sei bei ihm ein interner Zusammenhang von Nominalismus und Individualismus gegeben (Offler 1990, 348).

4. Stadtstaat und Bürgerhumanismus Die Scholastik und die universalpolitische Diskussion zwischen Reich und Papsttum waren nicht die einzigen Ebenen, auf welchen sich das mittelalterliche politische Denken bewegte; das französische Königtum hatte mit den im weltlichen Recht ausgebildeten Ministerialen eine bemerkenswerte alternative Akteursgruppe hervorgebracht, Dante war Bürger eines oberitalienischen Stadtstaates. Im politische Selbstbewusstsein der Urbanen Lebenswelt gedieh eine neue Art politischer Theorie. Dazu zählte bereits der Paduaner Marsilius. Marsilius von Padua Neben Ockham gehörte auch Marsilius von Padua (etwa 1290-1342/1343) zu den Beratern Ludwigs des Bayern. Er entstammte dem Paduanischen Patriziergeschlecht der Mainardini. Sein Vater Bonmatheo war ebenso wie sein Onkel Corrado Notar und stand im kommunalen Dienst. Darüber hinaus waren sie als Gesandte der Stadt bei dem Friedensschluss mit Vene-

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dig 1304 politisch aktiv. Sein Bruder Giovanni war 1295 Richter. Marsilius ging zum Studium an die Universität Paris, wurde 1312 Magister Artium und war kurzzeitig ihr Rektor. Er setzte sein Studium mit der Medizin fort. Wohl seine familiären Verbindungen sicherten ihm zwischenzeitlich kirchliche Pfründen in Padua, aber er schlug eine politische Karriere ein. Marsilius vertrat die Partei der Ghibellinen und optierte für die Stärkung des Reichs als imperialer Ordnungsmacht gegenüber kirchlichen Machtansprüchen. Um 1320 war Marsilius wieder in Paris, wo er den Defensor Pads verfasste, der nach seinen eigenen Angaben am 24. Juni 1324 beendet wurde. Er publizierte anonym, war aber nach der rasch einsetzenden Rezeption und wegen der Enthüllung seiner Autorschaft 1326 gezwungen, Paris zu verlassen. Wie Ockham verschlug es Marsilius an den Münchener Hof König Ludwigs, wo er zum königlichen Beraterstab zählte (Miethke 1998). Er begleitete den König auf dessen Italienzug und zog mit ihm in Rom am 7. Januar 1328 ein. Die kaiserliche Politik scheiterte dort aber und Marsilius kehrte 1330 mit Ludwig nach München zurück, wo er dann bis zum Ende seines Lebens blieb. Man kann die publizistische Tätigkeit von Intellektuellen wie Wilhelm Ockham oder Marsilius von Padua nicht als einen koordinierten think tank des Königs verstehen, als eine „Hofakademie" (Bosl 1960). Es handelte sich eher um eine zueinander durchaus in Konkurrenz und nicht in Absprache stehende Gruppe von Intellektuellen, die verschiedene Interessen und verschiedene politische Ausrichtungen hatten (Offer 1954, 193 gegen Bosl). Das Verhältnis Marsilius' zu Ockham ist inhaltlich unklar. Wie Ockham versuchte Marsilius, der Heirat von Ludwigs Sohn mit Margarete Maultasch gutachterlich den Weg zu ebnen. In De iure imperatoris in causa matrimonialibus argumentierte Marsilius, dass der Kaiser über Recht und Kompetenz zur Nichtigerklärung der Ehe verfüge, eine bislang dem Papst vorbehaltene Befugnis. Er verteidigte die Politik des Kaisers in De translatione Romani Imperii gegen italienisch-kuriale Anfeindungen aus einer gleichlautenden Schrift Landulfs von Colonna. Marsilius stand in Kontakt mit dem bereits erwähnten Ministerialien Wilhelm von Nogaret (Lagarde 1932; anders Scholz 1936, 97), was bei Ockham nicht einmal in Betracht gezogen wurde. Marsilius' Ausgangspunkt seiner politischen Theorie war aristotelisch (Struve 1978, 257287; Sternberger 1985, 97-98 zu Paraphrasen aus Aristoteles; Vasoli 1979). Bei Dante wurde der Aristoteles-Einfluss erst allmählich spürbar, bei Marsilius war er bereits dominierend. Marsilius' Studien in Paris machen es plausibel, seine Aristoteles-Lektüre in den Kontext des zu dieser Zeit entbrannten universitären Streits um den Averroismus zu stellen (Gilson 1955, 526-527 sieht in Marsilius geradezu den Prototyp des politischen Averroismus). Er hatte jedenfalls in Paris die Kommentierungen zu Aristoteles' Politik studieren können, wobei ihn wohl besonders die Fortsetzung des Thomas-Kommentars durch Peter von Auvergne (Commentary 2001) in Hinblick auf die Auffassung zur multitudo geprägt haben mochte (Zur Einordnung von Peters Kommentar vgl. Flüeler 1992,1 86-131; Blythe 1992, Kap. 5). Marsilius folgte der Politik des Aristoteles insbesondere in Hinblick auf dessen Lehre von den Ursachen der Zwietracht innerhalb politischer Ordnungen (I 1, 3). Er betonte aber, dass Aristoteles einen gegenwärtig wirksamen Störfaktor nicht gekannt hatte: die Kirche (I 19), die in der Bulle Unam Sanctam von Bonifaz VIII. ihren weltlichen Machtanspruch manifestiert hatte (Marsilius hielt dieses Dokument für so entscheidend, dass er es noch einmal in seinem Werk abdruckt: II 20, 8). Die dort aufgestellte Behauptung, alle menschlichen Kreaturen unterstünden der zwingenden Rechtsprechung des römischen Papstes, was zu glauben sogar notwendig für das ewige Heil sei, zählte Marsilius zu den gefahrlichsten Einmi-

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schungen des Papstes in die friedensstiftende Wirkung des Kaisers. Er verglich den Papst mit einer „verderblichen Pest", die wegen „der Fäulnis ihrer verderbten Wurzel" bekämpft werden sollte (I 19, 13). Marsilius formte das Ideal der Kirche statt dessen nach dem Vorbild der Ur-Kirche, die nach der franziskanischen Auffassung von Armut und Vergeistigung geprägt war (Coleman 1983; Spiers 1977). Im Kontrast hierzu wertete er das Amtsverständnis von Bonifaz VII. als Perversion der Kirche. Um den päpstlichen Anspruch auf den weltlichen Primat zurückzuweisen, wollte Marsilius in den Kapiteln vor dieser vernichtenden Anklage gegen das Papsttum die Selbständigkeit der politischen Regierung gegenüber der Sphäre und dem Normenbereich der Geistlichkeit beweisen. Wie stark das jeweilige Erkenntnisinteresse die Aristoteles-Rezeption prägen kann, beweist die nur wenige Jahre nach Thomas erfolgte, aber ganz anders orientierte Auslegung bei Marsilius (Wieland 1990). Wie Thomas von Aquin in seinem De Regimine Principum und dessen Fortsetzer Ptolemäus von Lucca setzte Marsilius bei Aristoteles' Definition der Natur des Menschen als politischem Wesen an. Die Aristoteles-Lektüre eines Autors, der gewohnt war, in Kategorien bürgerschaftlicher Legitimität des Stadtstaates zu denken (Ulimann 1975a, 159-161), musste anders ausfallen als bei theologisch vorgebildeten Autoren (Stürner 1979 zum Vergleich von Salisbury, Aquin und Marsilius), die weltliche Fragen von einer geistlichen Warte aus betrachteten. Bereits der Titel seines theoretischen Hauptwerkes, des Defensor Pads, war eine Reminiszenz an den Schwur der podesti von Padua, den Frieden der Stadt zu verteidigen (Gewirth 1951, 25) und an den Titel des Volkskapitäns von Florenz, der zu dieser Zeit den Titel Defensor artium artificium et Conservator pacis trug (Kusch 1958, XXIV). Das Ziel politischen Handelns war somit innerweltlich bestimmt: es bestand in der Verfolgung und Sicherung des innerweltlichen Friedens, nicht den Seelenfriedens. Diese republikanische Ordnung war patrizisch und korporatistisch verfasst, aber sie war vor allem magistratisch konstituiert. Marsilius trennte die Gesetzgebung von der Regierung: die Regierenden sollen ihr Handeln nach dem Gesetz ausrichten ( I I I , 4). Generell sei jede gewählte Regierung der nicht-gewählten überlegen: in der Erbmonarchie kann die Nachfolge versiegen, bei der Wahl aber folgt immer eine nachwachsende Generation, weshalb die Wahl die bessere, weil dauerhaftere politische Ordnung darstelle (Defensor Pacis I 9, 7). Mit der Bevorzugung der Wahl vor dem Erbrecht hatte Marsilius den Stand der scholastischen Aristoteles-Kommentare verlassen. Peter von Auvergne beispielsweise bevorzugte die Erbfolge, weil ihm die multitudo nicht klug genug für die Gesetzgebung zu sein schien und sie seiner Auffassung nach eifriger dem Gesetz Gehorsam leisten werde, wenn der gesetzgeberische Arm ihrer Verfügung entzogen sei (Commentary 2001, 233 u.ö.). An die Stelle der ontologischen Seinsordnung als Antwort auf die Frage nach Herkunft und Legitimität des Gesetzesinhaltes trat der Gesetzgeber. Denn für Marsilius war selbst die wahre Erkenntnis des Gerechten und Nützlichen nur dann bindendes Gesetz, wenn sie als Vorschrift formuliert wurde (I 10, 5). Dies war eine Definition des positiven Rechts, nach welcher Gesetze erst als Ergebnis von Gesetzgebung Recht werden können (Gagner 1960, 121-123: Marsilius' legistischer Positivismus). Auch eine lex imperfecta, insbesondere ein unvernünftiges Gesetz, bleibt gültig, sofern es preceptum coactivum bei sich führt, d.h. so viel wie prozedural korrekt zustande kam (Defensor Pacis I 10, 5; vgl. besonders Miethke 1987, 58-59). Marsilius nahm den aristotelischen Gesetzesbegriff auf (Struve 1980), Ausgangspunkt seiner innerweltlich gewendeten politischen Theorie. Mit Aristoteles war von der zwingenden Kraft des Gesetzes die Rede (Defensor Pacis I 10, 4), was in der thomasiani-

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sehen Auslegung (Summa l-II q90a. 3 ad secundum), aber auch in der des Aegidius Romanus (De regimine prineipum III, 2) als zwingende Kraft der Vernunft selbst galt: die potencia coactiva. Das Vernunftvermögen war Marsilius zu wenig; er verlangte eine institutionelle Verortung, d.h. eine Aussage zur potestas coactiva (Defensor Pads I 10, 4). Was für die thomistische Auslegung den Startpunkt für die ontologische Gesamtkonstruktion einer Hierarchie der Gesetzesebenen vom göttlichen Gesetz bis zum partikular gültigen menschlichen Normenbefehl bedeutet hatte, wendete Marsilius politisch (Defensor Pads I 10, 4; I 12, 1. Vgl. Struve 1980): nicht Vernunft als solche, sondern politische Vernunft kennzeichnete den Gesetzesbegriff. Dem Volk gebührt die Gesetzgebungskraft, es ist die Quelle des Gesetzes (Defensor pads III 6: legislatorem humanuni solum civium). Das Volk wird in verschiedener Gestalt tätig: als Gesamtheit ebenso wie in seinem „valentior pars." Valentior pars wird in der deutschen Standardübersetzung von Kunzmann mit „Mehrheit" wiedergeben, was Kusch kritisch vermerkt (Defensor pads, ed. Kusch 1147: „der bedeutsamere Teil"; ähnlich Gewirth 1951, 182-184; zuletzt Gewirth 2001). In englischsprachigen Übertragungen ist vom „prevailing part" die Rede (Sabine 1973, 295). Marsilius meinte mit dem „besseren" nicht einfach den ständisch höherrangigen Teil der Bevölkerung (Sartori 1992, 144), sondern den mit der Fähigkeit zur Gesetzgebung. Alan Gewirth betont, dass Marsilius den valentior multitudo in einen Gegensatz zur quantitativ geringfügigen Menge (paueos quosdam) stellte (Defensor Pads I, 12, 5, 6 und 8; I, 13, 3 und 5: vgl. Gewirth 1979, 37, gegen Quillet 1970b, 95 gerichtet). Im Anschluss an Aristoteles' Summierungstheorie (I 13, 4; vgl. I 12, 5 und II 17, 14), die der Menge eine größere Urteilskraft als den Spezialisten zuspricht (Politik III 11), folgerte Marsilius, dass nur der Erlass des Gesetzes durch die Gesamtheit (universitas) oder wenigstens ihrem gewichtigeren Teil (valenciorem partem) seine Legitimität gewährleistet (Defensor Pads I 12, 3 und 5; ähnlich I 13, 2 und 4 sowie I, 15, 6). Marsilius bemühte sich um den Nachweis, dass auch die ungebildete Menge über einen beachtlichen Anteil an politischer Urteilskraft verfügt: sie habe keine Muße für geistige Arbeit und es fehle daher die Gelehrsamkeit, doch habe sie Verständnis für die Fragen des praktischen Handelns und ein Urteil hierüber (Defensor Pads I 13, 4: Kielmansegg 1977, 61). Diese Menge werde nicht eigeninitiativ gute Gesetzesvorschläge machen können, aber sie werde nach Marsilius Einschätzung - besser als die Gebildeten und deren Sonderinteressen - Mängel von Gesetzesvorschlägen erkennen können (I 13,7). Allerdings differenzierte Marsilius - erneut in der aristotelischen Tradition stehend, sodann aber besonders Cicero De Offidis folgend - den vulgus bzw. die plebs von der Bürgerschaft, dem populus. Die Demokratie definierte er in ausdrücklichem Anschluss an Aristoteles als Entartung der Politie: in der Politie herrscht die Bürgerschaft (civis), dort aber die Plebs (multitudo, vulgus: I 8, 2). Marsilius plädierte daher für eine Mischung von Gebildeten und ungebildeter Menge in der gesetzgebenden Versammlung: eine seinerzeit ganz außergewöhnliche Überlegung. William von Ockham beispielsweise wies das Argument zurück: wie können diejenigen, die vereinzelt verderbt sind, in der Menge weniger verderbt sein (Dialogus I 25)? Bei Ockham bezeichnete der „valentior pars" sicherlich nicht die Mehrheit, er war eher bestrebt, die Unabhängigkeit der eigenen Urteilskraft vor quantifizierenden Argumenten wie solchen einer Mehrheitsentscheidung zu schützen (Dialogus III 1 2, 27; vgl. Wilks 1964, 108-109). Marsilius zählt somit nicht zu den Vorläufern der modernen Volkssouveränitätslehre, obwohl er lange als Vorreiter der Demokratietheorie gehandelt worden war (Scholz 1907), wenn man

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das Volk nur dann als demokratisch begriffen ansieht, wenn es nicht weiter differenziert wird. Hasso Hofmann hat darauf hingewiesen, dass es sich bei Marsilius' Konstruktion nicht um einen Vorgriff auf das moderne Verständnis der Demokratie handelt, weil hier nicht den Mitgliedern des politischen Verbandes als Individuen, sondern als Zugehörige der verschiedenen sozialen Ordnungen der Stadt Rechte zugesprochen werden (Hofmann 1990, 196198). Die korporativen Einflüsse vor dem Hintergrund städtischer Organisationsmodelle sind unübersehbar (Lewis 1963; Wilks 1972), aber ihr Einfluss beruhte auf ihrer Selbstorganisation. Die Herkunft des Autors aus dem städtischen Kontext von Padua war somit für das magistratische Regierungsverständnis und die innerweltliche Aufgabenstellung der Politik bedeutsam (Nederman 1995, auf den Arbeiten von Rubinstein 1965 und Gewirth 1951,1 23-25 fußend). Marsilius richtete seine Theorie jedoch ausdrücklich gegen oligarchische Herrschaftsallüren (113, 5). Oligarchie meinte nicht ständische Vormacht, sondern, der Anlage seines Buches gemäß, den Stand der Priester und seinen auf Ausbildungsstand und Gelehrsamkeit begründeten Vormachtsanspruch. Die von Marsilius vorgenommene Aufwertung der normativen wie institutionellen Stellung des populus war eine Reaktion auf die kirchlichen Versuche, die Bedeutung des Laios für die christliche Gesellschaftsordnung herunterzuspielen. Benedikt VIII. hatte den Laios als Feind der Kirche bezeichnet. Marsilius argumentierte dagegen, schon der Begriff der Kirche sei in der Bibel ein Ausdruck für die Gesamtheit der Christenheit und nicht nur für den Klerus (II 2, 3). Er steigerte diese Argumentation noch mit einer Laizierung der politischen Ordnung (Iserlohn 1985a): Hierarchie erklärte Marsilius ausschließlich als das Ergebnis menschlicher Satzung und nicht der Erbsünde (119, 8 und II 15,6). Marsilius' Aristoteles-Rezeption knüpfte insgesamt nicht an die Idee einer vernunftbegabten Ausrichtung des Menschen auf die Politik an, mit Hinweis auf die Sprachbegabung des Menschen; er stellte vielmehr die natürliche Bedürftigkeit des Menschen in den Mittelpunkt: das sufficientia vivere (Defensor Pacis I 4, 3). Marsilius ging von der biologischen Existenz des Menschen aus, der von Natur aus schwach ist und von Geburt an zum Überleben auf andere Menschen angewiesen ist, auf das Zusammenleben mit anderen. Die zum Überleben nötigen Fertigkeiten sind auf Kooperation angelegt, können also nur in Gemeinschaft mit anderen Menschen erworben und kultiviert werden. Daraus resultiert das natürliche Bestreben des Menschen, sich mit anderen Menschen zu einem gesellschaftlichen Verband zusammenzuschließen {Defensor Pacis I 4, 3 ed. Kusch S. 13). Damit war die thomasianische Argumentationsstrategie, den Menschen teleologisch in eine Güterordnung einzubetten, abgewiesen (Gewirth 1961, 135-136; Miethke 1987, 56-57) und Marsilius hatte die Rangfolge von geistlicher und weltlicher Gewalt umgekehrt; zugleich verallgemeinerte er die spezifisch stadtrepublikanische Praxis der Gesetzgebung und des Vorrangs des Gesetzes vor dem politischen Willen einzelner Organe zu einer politischen Theorie. Stadtstaat, Korporationentheorie

und

Bürgerhumanismus

Marsilius' Heimatstadt Padua war kein Einzelfall in Europa. Bereits im 11. Jahrhundert setzte eine Bewegung politischer Selbstorganisation europäischer Städte ein, die sich nicht nur nach außen in dokumentierten „Freiheiten" von territorialen Fürstentümern lösten oder gegen kirchliche Einflüsse zur Wehr setzten, sondern sich zugleich Satzungen und Verfassungen gaben, auf welche die Stadtbürgerschaft (meist) jährliche Eide leisteten und so zu Schwurge-

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meinschaften wurden (coniurationes: vgl. Ebel 1958; Black 1984, 44-64). 3 Die Stadt als politischer und sozialer Lebensraum wurde nicht mehr wie in der literarischen Vorstellung der Stadt in der Gattung der laudes urbium, des Städtelobs, etwa die Idee des himmlischen Jerusalems prägend (Kugler 1986) gesehen. Aus dieser gesamteuropäischen Perspektive wirkte Marsilius von Padua wie ein Theoretiker des korporatistischen Stadtstaates (Black 1984, 86-95), der ja nicht nur aus der Bürgerschaft, sondern aus zahllosen, oft ökonomisch motivierten Korporationen (Gilden, Zünften) im Sinne von sozialen Selbstorganisationskörpern bestand. In den Gilden und Kaufmannschaften sedimentierten sich Praxen der zivilen Selbstorganisation, die Auswirkungen auf die städtische Selbstregierung hatten und eine Mentalität ausbildete, aus welcher eine politische Denkungsart eigener Art folgte. In der deutschen ideengeschichtlichen Forschung in der Tradition Gierkes wurde sie „Genossenschaft" genannt (Gierke, Genossenschaftsrecht, 18681913) und fugte sich mit anderen Urbanen Eigentümlichkeiten zu einer „urban ideology" (Black 1984, 66-74). Hauptschauplatz der Auseinandersetzung zwischen dem Reich und den Stadtstaaten war Oberitalien. Kaiser Friedrich I. Barbarossa intervenierte militärisch gegen die Emanzipationsbestrebungen dortiger Städtebünde. Er zerstörte 1162 Mailand und setzte dort 1169 die podesta-Verfassung ein. Podestä war ein von außen kommender, anfänglich vom Kaiser eingesetzter höchster Regierungsbeamte. Diese Erfahrung mag die politische Theorie der Städter motiviert haben, die politische Praxis des Stadtstaates auf den theoretischen Begriff zu bringen. Neben Marsilius sind hier vor allem die Legisten zu nennen, die dem Römischen Recht die Argumente und Begriffe entlehnten, um dem Stadtstaat einen theoretischen Rahmen zu geben. In Italien nämlich fanden die Legisten anders als in Frankreich nicht im Königtum den weltlichen Anknüpfungspunkt ihres politischen Denkens, sondern in den Städten. Der Ausgang legistischen Denkens waren die südfranzösischen Universitäten, wo das Römische Recht in einem systematischen Ansatz gelehrt wurde. Die eher kasuistisch angeordneten Rechtssätze des Corpus Iuris Civilis wurden dort nach stärker abstrahierenden Gesichtspunkten (Materien, Prinzipien, Hierarchien) systematisiert. Diese intellektuelle Beschäftigung stellte eine Alternative zur scholastischen Methode dar und gab auch der politischen Theorie neue Schubkraft (Gilmore 1941). Von dort wirkte sie durch Gelehrte wie Cynus de Pistoia auf Italien. Cynus war der Lehrer des Bartolus von Sassoferrato (1314-1357), welcher sein Wissen an Baldus di Ubaldis (1327-1400) weitergab und darüber hinaus ganze Generationen von Rechtslehrern prägte. Bartolus lehrte Rechtswissenschaft an der Universität Bologna, später in Pisa (1339-1343) und Perugia (1343 bis zu seinem Tode). Aus den Glossatoren, so genannt nach ihrer Tätigkeit, den positiven Rechtssätzen des Römischen wie des Kanonischen Kodex interpretierende und applizierende Randanmerkungen anzufügen, wurden Legisten, d.h. Juristen, die sich am Römischen Recht orientierten - im Unterschied (und bald auch im Gegensatz) zu den Kanonisten. Bartolus' politische Tätigkeit erreichte ihren Höhepunkt in der Teilnahme an der Ge3 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien genannt: 1056 Genueser Gewohnheiten; 1057 Mailänder Kommune; 1066 Freiheitsurkunde für London; 1074 Aufstand gegen den Erzbischof von Köln; 1075 Communi in Cambrai beschworen; 1077 Freiheiten für Mainz; 1080 Heinrich IV., gewährt Lucca und Pisa Freiheitsurkunden; 1084 in Pisa wird ein Konsul mit festgelegten Amtszeit gewählt; 1106 Köln erhält eine unabhängige Stadtregierung und ein Stadtrecht; 1127 Freiheitsurkunde für Saint-Omer; 1129 erfolgloser Aufstand gegen Erzbischof von Magedeburg; 1129 London erhält das Recht zur Wahl eines eigenen Sheriffs; 1142 Freiheitsurkunde für Pisa; 1161 Pisaner Constituta legis et usus; 1188 Magdeburger Stadtrecht kodifiziert; 1216 Mailänder Buch der Gewohnheiten.

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sandtschaft zu Kaiser Karl IV. in Pisa. Seine herausragende Leistung beruhte auf der Übertragung politischer Argumente aus dem Corpus Iuris Civilis, die bis dahin alleine auf Königreiche und Fürstentümer angewandt wurden, auf die soziale Lebenswelt der Städte. Dies gelang ihm aufgrund der dem Römischen Recht entnommenen Korporationstheorie (Canning 1980; 1996, 172-174). War die Rechtsnatur sozialer Organisationen unterhalb der tradierten Formen von Reich, Kirche oder Fürstentum dadurch zu erfassen, dass man sie in Relation stellt zu höheren Rechtsinstanzen, oder waren sie selbst Quellen des Rechts? Solche substaatlichen und subkirchlichen Gebilde gab es zahlreich: Universitäten, Kaufmannschaften, Zünfte, Städte. In Gebrauch waren unterschiedliche Organisationsformen wie communitas, collegium, corpus oder societas, ihre Gattungsbezeichnung lautete universitas. Das Kanonische Recht diskutierte das Korporationenrecht beispielsweise anhand der Abgrenzungsfrage der Kompetenzen zwischen einem örtlichen Prälaten und dem eigentlich übergeordneten Erzbischof. Die in päpstlichen Dekretalen angeordnete Lösung legte fest, dass Korporationen zu ihrer Entstehung der Zustimmung höherer Instanzen bedurften. Es ging also um die Kompetenzabgrenzung, die traditionell mit Hilfe des Hierarchie-Gedankens gelöst wurde. Auch die Städte wurden als solche universitas verstanden. Legisten wie Bartolus und Baldus befreiten nun die Korporationslehre von ihren kanonistischen Wurzeln und gaben den Städten eine juristisch-organisatorische Gestalt mit dem Ziel, ihre autonome Gesetzgebungskompetenz zu definieren, die weder von Seiten des Reichs noch der Kirche einer höheren Zustimmung bedurfte. Die bereits im kanonistischen Korporationsrecht vorfindbaren Überlegungen zur Entstehung von Korporationen durch den Willensakt ihrer Mitglieder oder zur Bestellung von Organen wie einem rector oder syndicus zur Ermöglichung einer gemeinsamen Handlungsfähigkeit übertrugen die Legisten auf die Städte und gaben ihnen so das Gepräge der voluntaristischen Selbstorganisation. Zu den Übernahmen zählte auch der Gedanke, dass es sich bei solchen Korporationen um „personae repraesentatae" (oder auch personae fictae, heute juristische Person" genannt) handelte. Darunter verstand man Zusammenschlüsse, die nach außen wie einheitliche personae behandelt wurden, aber nur durch natürliche Personen handlungsfähig waren, die im Namen der in solchen Korporationen zusammengeschlossenen Mitglieder handelten. Solche fiktiven Personen repräsentieren also keine von den Mitgliedern getrennte Substanz, sondern deren Interessen (Walther 1990, 118-119). Für die politische Tendenz der Legisten war Bartolus' Insistenz charakteristisch, nur einem freien Stadtvolk („populus liber") die Autonomie zuzusprechen (Bartolus ad C. 2.3.28, secunda lectura n. 5: In duodecim libros Codicis commentaria, Basel 1562, 141: zitiert bei Walther 1990, 135). Damit opponierte er gegen die in Oberitalien verbreiteten Signorie-Verfassungen, in welchen Einzelpersonen die Alleinherrschaft erwarben oder sie von der erschöpften Bürgerschaft nach blutigen innerstädtischen Kämpfen errangen, so in Lucca, Mailand, Ferrara oder Verona (nicht zu verwechseln mit der Signoria genannten Ratskörperschaft in weiterhin konstitutionell republikanischen regierten Städten wie Florenz). Bartolus polemisierte gegen diesen Verfassungstyp, den er Tyrannis nannte {De tyranno) und dem er die freiheitliche Stadtrepublik in seiner Schrift De regimine civitatis gegenüberstellte. Der allgemein gewünschten Unabhängigkeit nach außen musste eine innere Freiheit korrespondieren, sonst sprach Bartolus einer Stadt nicht das Merkmal der Freiheit zu. Innerhalb des von Aristoteles übernommenen (von Aegidius Romanus verbreiteten) Schemas der guten und schlechten Regierungsformen seien nur das regimen ad populum (Politie) und das re-

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gimen senatorum (Aristokratie) mit der Stadt vereinbar: zur ersteren zählte Bartolus seine Heimstadt Perugia, zur letzteren Florenz und Venedig {De regimine civitatis ed. Quaglioni, 163-165). Baldus di Ubaldis entwickelte diese Theorie fort und definierte, dass nur eine Bürgerschaft, die sich selbst regiert, „Republik" genannt werden kann (Baldus, Consilia 2, 369; Canning 1987, 242). Neben die Legisten trat die nach Hans Baron „Bürgerhumanisten" genannte Gruppe von Autoren (Baron 1966). Baron sah das Aufkommen des Bürgerhumanismus im Zusammenhang mit der Wende von der „vita contemplativa" zur „vita activa". Die vita activa pries das praktische Leben, darin vor allen Dingen die Politik als ihren wichtigsten Teil und rief zur Teilnahme daran auf. Mit diesem Wandel änderte sich auch die Funktion der Antikenrezeption. Was zuvor als Reservoir der vita contemplativa diente, wurde nun nach Vorbildern für die vita activa abgesucht. Die Wende datierte Baron in das Jahr 1399. Giangeleazzo Visconti, tyrannischer Alleinherrscher Mailands, offerierte Pisa und Siena die Mitgliedschaft in seinem Bündnis, nicht zuletzt um Florenz einzukreisen. Die Florentiner antworteten mit der Entsendung einer Botschaft an die Nachbarn, worin sie diese von einer Zustimmung zu Viscontis Offerte abzuhalten versuchten, indem sie das Lob der Freiheit vortrugen. Dies und die Aufforderung an die eigenen Florentiner Mitbürger, sich für ihre Freiheit notfalls zu opfern, beförderte laut Baron den Bürgerhumanismus und sein Freiheitsverständnis, das eine neuartige Antikenrezeption erlaubte (Baron 1966, 94-133). Ein typischer Vertreter der Bürgerhumanisten war Leonardo Bruni (etwa 1370-1444), Kanzler von Florenz von 1427 bis zu seinem Tod. Sein Loblied auf Florenz Laudatio Florentinae Urbis war eine patriotische Elegie. Er beschäftigte sich aber auch mit praktischen Fragen der Politik, so der Kriegführung {De Militia). Der Baron-These wurde vielfach widersprochen (Hankins 1995; 2000), da die neu einsetzende Pamphletistik und Geschichtsschreibung um 1400 auch als Fortentwicklung umfassenderer geistesgeschichtlicher Traditionen gedeutet werden kann (Ferguson 1958; Seigel 1966). Zu diesen Traditionen zählte die Rhetorik. Die Rhetorik-Ausbildung gehörte zur mittelalterlichen Grundausbildung an den Universitäten wie im städtischen Unterricht und ermöglichte den Übergang von der Scholastik zur Renaissance (Kristeller 1956; Skinner 1987; I 102-105). Schon zuvor vermittelte die Textgattung der ars dictaminis die Rhetoriklehren von Aristoteles und Cicero, was nicht nur den Transport stilistischer Sprachmerkmale, sondern auch von politischen Inhalten bedeutete (Skinner 1978 171-74). Rhetoriklehrer Dantes war Brunetto Latini (ca. 1220-1294) (Dante Göttliche Komödie, Hölle, 15. Gesang). Er galt als der am meisten gebildete Florentiner seiner Zeit, war Notar und Politiker sowie Inhaber hoher Staatsämter. Als Anhänger der guelfischen Partei ging er 1260 ins Exil, lebte bis 1266 in Frankreich, wo er Livres dou Trisor in französischer Sprache schrieb (etwa 1265), eine bemerkenswerte Kompilation politischer Lehrmeinungen und eigener Überzeugungen (Auszug bei Nederman/Forhan, 1993, 71-96). Es handelte sich um die erste für Laien geschriebene Enzyklopädie (Goetz 1942; Christel Meier 1988), die in ethischen Fragen auf Aristoteles fußte, in politischen aber auf Cicero. Giovanni Villani, ein jüngerer Zeitgenosse Latinis, bemerkte in seinen Cronica (an denen er bis zu seinem Tode 1348 arbeitete), Latini habe die Florentiner Rhetorik gelehrt und ihnen gezeigt, wie man gut redet und so die Republik nach den Lehren der Politik regiert: „e farli scorti in bene parlare, e in sapere guidare e reggere la nostra reppublica secondo la politica" (1823, Bd. 3, S. 22). Latini hatte auch Ciceros De Interventione übersetzt, kommentiert und ausdrücklich als politische Disziplin gedeutet. Während Latinis Rolle für Dante bei der Vermittlung des antiken Erbes in

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der Humanismus-Forschung unbestritten ist, gewann Latinis Bedeutung für die politische Theorie erst in jüngerer Zeit größere Aufmerksamkeit (Skinner 1978 I, 41-43 „The Rhetorical Defense of liberty"; Davis 1984b; Viroli 1992). Von Latini ging ein erheblicher Schub für die Ausbildung eines auf die Lebenswelt der Republik ausgerichteten Humanismus aus, der zum Republikanismus wurde. Zwischen Dantes Verehrung des Kaisertums und den ihm nachfolgenden Generationen stand das erwachenden politische Bewusstsein der Stadtrepublikaner. Wer die Kreidekartons von Botticelli zur Illustrierung von Dantes Divina comedia betrachtet, kann die verhältnismäßig große Darstellung Satans beim Übergang Dantes und Vergils vom Fegefeuer zur Hölle studieren. Satan hält zwei Erzverräter in seinen Klauen: Judas und den Caesarmörder Brutus. Dantes Kritik an Marcus Junius Brutus stand im Zeichen seiner Kaisertumsverehrung, aber seine Bewertung war den Bürgerhumanisten des 15. Jahrhunderts unverständlich, für die Gestalten wie Brutus als Märtyrer der Freiheit im Kampf gegen die Tyrannis galten (Baron 1966, 48-55; Pocock 1975, 52-54.). Dante blieb intellektuelles Vorbild, seine politische Theorie geriet dagegen in Vergessenheit. Leonardo Bruni, ferner Cristoforo Landino und noch Donato Giannotti im Gespräch mit Michelangelo beruhigten sich mit der Überlegung, Dante habe weder den historischen Caesar loben noch den historischen Brutus verdammen wollen, sondern habe beide Gestalten als Symbole benutzt und die Verderber des Imperiums in seiner eigenen Zeit anklagen wollen. Immerhin hatte Dante Cato besonders für den Rang gelobt, den er der Freiheit für das eigene Leben beimaß (Dante, Monarchia II 5, 17, aus Cicero Officiis 131, 112 zitierend). Das schützte Dante aber nicht mehr vor dem Vorwurf Machiavellis, er habe alle Urteilskraft, Klugheit und Gelehrsamkeit verlassen, als er sich so abfallig zu Brutus äußerte (Baron 1966, 51-52 zitiert aus Machiavellis Dialogo interno). Die Humanisten bevorzugten die Rhetorik vor der Logik, weil sie gegen die Scholastik den ganzen Menschen in der Fülle seiner Anlagen und Leidenschaften erfassen wollten und die Erfahrung gegenüber den logischen Abstraktionen privilegierten (Cassirer 1999, 17-143; Seigel 1968, S. 178-180, 218-219, 226-228). Dies gehörte zum Programm der Wiederentdeckung des Menschen. Jetzt wurde auch wieder der Zusammenhang von Rhetorik und scientia civilis klar (Skinner 1993; Kennedy 1999, 2-3). Rhetorik wurde wieder als politische Disziplin zur Vorbereitung auf politische Praxis gelehrt. In dieser Sicht hatte das Vorbild Ciceros, der nicht nur Theoretiker, sondern vor allem aktiver Politiker in den höchsten Ämtern war, einen höheren Stellenwert als das des Aristoteles. Diese Cicero-Rezeption war am Politiker Cicero mehr als am Stilisten interessiert. Aus der stadtstaatlichen Perspektive erwuchs ein spezielles Interesse an Ciceros Rhetorik, die wichtige Aspekte tätiger Selbstregierung vermittelte und so auch die neuartige politische Aristoteles-Rezeption vorbereitete (Post 1964, 494-561; Nederman 1991; Coleman 2000, II 50-52). Eine andere Form der Rhetorik findet sich in den Bildprogrammen der Stadtstaaten (Jenkins 2005). Dazu zählt die Ausmalung der Sala dei Notari im Rathaus zu Perugia (nach 1280) und vor allem Ambrogio Lorenzettis Fresken in der Sala della Pace in Siena (gemalt etwa 13371340). Lorenzetti (etwa 1290-1348; Frugoni 1988) stellte auf drei Fresken die gute Regierung sowie ihre Wirkungen auf Stadt und Land der schlechten Regierung gegenüber. Die gute Regierung sichert den inneren Frieden und damit auch den Wohlstand der Bürger, wohingegen die Tyrannis zu Unfreiheit und Niedergang führt. Zumal die Allegorie der Buon Governo formulierte ein komplexes politisches Programm der normativen und institutionellen Regierungslehre. Je nachdem, worin man das Zentrum des Bildes sieht, kann man es als politische Philosophie des Friedens (Hofmann 1997) lesen, als kondensiertes republikani-

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sches Programm, beeinflusst von Cicero und Brunetto Latini (Skinner 1989b) oder aber als zeitgenössische Umsetzung des gesetzgeberischen Programms Sienas (1337-1339), in welchem die bestehenden Gesetze systematisiert wurden (Kempers 1989). Zu diesem Zweck waren zahlreiche Rechtsgelehrte vor allem aus Bologna nach Siena gekommen, die nicht nur das legistische Erbe mitgebrachten hatten, sondern auch die Kenntnis ähnlicher Bildprogramme, so das der Bologneser Miniaturmaler, die kurz vor 1338 eine regelrechte Ikonographie zu päpstlichen und kaiserlichen Gesetzbüchern entworfen hatten, darunter ein ausführliches Tugendbildprogramm von Giovanni Andrea. Die neue Übersetzung der aristotelischen Politik ins Lateinische durch Leonardo Bruni erleichterte eine republikanische Aristoteles-Interpretation. Ähnlich wie bei Marsilius wurde nun ein neues, von der stadtstaatlichen Lebenswelt gespeistes Verständnis - nun des Originaltextes - erkennbar, das sich erheblich von der Übertragung durch Moerbeke unterschied. Die humanistische Auslegungspraxis löste sich von der scholastischen Kommentartradition. Das praktische Interesse an der Antike weckte darüber hinaus Aufmerksamkeit für antike Textgattungen, die bislang im Schatten von Philosophie, Jurisprudenz und Theologie gestanden hatten, darunter besonders die Geschichtsschreibung. Diese neuerwachten Interessen an der politischen Praxis leiteten zum Diskurs Oberitaliens in der Frühneuzeit über. Konziliarismus und die Anfinge der politischen

Versammlungsrepräsentation

Politische Ideen werden nachgefragt, wenn tradierte Kategorien und Institutionen nicht mehr problemlos funktionieren. Als es im abendländischen Schisma (1378-1417) zur Wahl zweier Päpste kam, die jeweils geistliche wie weltliche Anhängerschaften hinter sich versammelten, war eine bewährte Grundlage des mittelalterlichen Ordnungsdenkens zerbrochen. Zu Papst Urban VI. wurde der Gegenpapst Clemens VII. gewählt, hinter dem die französische Macht stand und der seinen Amtssitz in Avignon beließ, während der andere nach Rom zurückkehrte. Als zu diesen Päpsten weitere Nachfolger gewählt wurden, drohte das Schisma eine dauerhafte Konstellation zu werden. Daher vereinigten sich die jeweiligen Kardinalskollegien und beriefen das Konzil zu Pisa ein (1409), und zwar aus eigener Machtvollkommenheit. Solche Konzile waren Großversammlungen der gelehrten Christenheit. Das Konzil von Konstanz (1414-1418), der größte Kongress des Mittelalters, zählte 3 Patriarchen, 29 Kardinäle, 33 Erzbischöfe, 150 Bischöfe, über 100 Äbte, 300 Doktoren und 18.000 sonstige Kleriker, Ritter oder Stadtvertreter (Hefele 1869, 91 Anm. 1). Darunter waren auch fuhrende Humanisten ihrer Zeit, die in dieser Zeit in den nahe gelegenen Klöstern nach antiken Handschriften suchten und auch fündig wurden. Die meisten Konziliaristen waren keine Gegner der Institution des Papsttums; sie waren in dieser unsicheren Situation um die Kirche als Ganzes besorgt. Es musste ein Weg gefunden werden, um festzustellen, wer der rechtmäßige Papst sei. Den wenigsten ging es um eine dauerhafte Etablierung des Konzils als dominierender Institution. Das Schisma wurde zunächst durch die Wahl Martins V. zum Papst durch das Konstanzer Konzil gelöst. Das erneute Schisma von 1438 wurde durch das lange Basler Konzil, das (an verschiedenen Orten) in den Jahren 1431-1447 immer wieder zusammenkam, pragmatisch überwunden. Prozedurale Fragen der Selbstorganisation traten in den Konzilen in den Vordergrund: wer vertritt wen und mit welcher Stimmacht, wie wird abgestimmt, d.h. wie gelangt das Konzil als Organ zu einer einheitlichen, nach außen wirkenden Willensbildung? Viele Probleme des späteren Parlamentarismus tauchten hier institutionell schon auf (Jedin 1963). Der Konziliarismus war daher nicht nur eine kirchenpolitische Bewegung, er bezeichnete auch eine For-

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mation politischen Denkens, die sich mit der Klärung dieser Grundlagenprobleme beschäftigt (Black 1970; 1976; Walther 1976). Zur Einberufung eines Konzils bedurfte es eigentlich des Papstes, der auch dort jeweils den Vorsitz führte. Aus welcher Legitimation heraus durfte das Konzil sich das erlauben? Hierzu war offensichtlich eine vom Papst unabhängige Stelle nötig. Der Konzilsgedanke zur Klärung der Frage, ob nicht ein Häretiker zum Papst gewählt worden war, wurde schon früher als politisches Instrument im Kampf des Kaisers gegen das Papsttum erörtert (Tierney 1968). Michael von Cesena hatte Ludwig den Bayern dazu aufgefordert, ein Konzil einzuberufen, um die Irrlehren des Papstes der Christenheit mitzuteilen. Aber erst 1334 wurde mit dem Kardinal Napoleon Orsini aus Rom ein solcher Konzilsplan von Ludwig ernstlich diskutiert (Miethke 1969, 86-87). Marsilius von Paduas im Kampf gegen die Kirche entwickelten Überlegungen konnten als Theorie der Gesetzgebung auch im innerkirchlichen Kampf zwischen Papst und Konzil zur Anwendung gelangen. Nicht zufällig stützten die Konziliaristen den Vorrang der vom Konzil beschlossenen Gesetzes vor den Erlassen des Papstes auf Marsilius (Sigmund 1962; Quillet 1970b). Wilhelm Durandus (gest. ca. 1330) entwickelte eine kirchengeschichtlich orientierte Konzilstheorie. Sie fußte auf der ursprünglichen Egalität der Bischöfe als der eigentlichen Grundstruktur der Kirchenorganisation. In dieser war der Papst als Bischof von Rom nur primus inter pares. Immerhin waren wesentliche Rechte des Papstes durch frühere Konzile zugestanden worden, das Papsttum entwickelte sich also historisch fort und war nicht mit der Kirche identisch. Ein wichtiger realpolitischer Hintergrund war die Frage der Verfugung der Bischöfe über die Klöster ihrer Diözese, welche durch die Befürwortung einer den Bischöfen übergeordneten Position des Papstes sich größere Unabhängigkeit von den lokalen Kirchenfürsten versprachen. Durandus sprach nun den wirkmächtigen Grundsatz aus, dass Entscheidungen von einer Mehrzahl leichter gefunden werden können als durch einzelne, was an Marsilius erinnert. Ein zweiter Theoriestrang wurde durch Konrad von Gelnhausen (1320-1390) gelegt. Dieser Kirchenrechtler der Universität Bologna und spätere Theologe der Pariser Universität wählte eine korporative Lösung, indem er die alte Theorie vom corpus mysticum nach römischrechtlicher Körperschaftslehre auslegte, in welcher die Körperschaft auch bei Ausfall ihrer hierarchischen Spitze fortbesteht. Als Jurist nahm er den Umstand, dass nach Kanonischem Recht Konzile von Päpsten einberufen werden müssen, sehr ernst. Er berief sich daher auf das höhere Recht, das bei Versagen des positiven Rechts greift, in diesem Fall auf das Recht des Notstandes und des bedrohten Gemeinwohls. Angesichts der Bedeutung des Papsttums für die Gesamtkirche kann sich letztere auf das höhere Recht berufen und durch Konzile eine Lösung herbeiführen, wenn die Besetzung des Stuhles Petri unklar ist. Hierzu bediente sich Konrad eines Rechtsprinzips, das seit Papst Bonifaz VIII. Eingang in das Kanonische Recht gefunden hatte, die „quod omnes tangit"-Regel: was alle berührt, muss auch von allen behandelt werden. Das Römische Recht bot eine Fülle an Rechtsprinzipien und Maximen, die Kompilatoren aus dem Kontext rissen und auf ganz andere Kontexte übertrugen. Hinsichtlich der Reprä-

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sentationstheorie wurde die Maxime „quod omnes tangit ab omnibus debet approbari" {Corpus iuris civilis 5, 59, 5, 2) bedeutsam, wenn auch in unterschiedlichen Fassungen.4 Im Corpus stellte sie eine Regel im Bereich des Erbrechts dar. Erste Verwendungsweisen finden sich bereits im 13. Jahrhundert. Danach wurde sie zu einem festen Bestandteil des Kanonischen Rechts (Wolf 1989; Brundage 1995, 106-108). Dekontextualisiert wurde diese Maxime zu einem wichtigen Anknüpfungspunkt der Repräsentationsidee. Die in dieser Maxime erwähnten omnes sind weder jedermann noch alle, sondern nur die qualitativ Betroffenen. „Alle" ist demnach keine attributlose Quantität, sondern die Bezeichnung jener, deren Stimme Gewicht hat, demokratische Implikationen lagen nicht vor. Wie diese Formel zu einem politischen Prinzip erster Ordnung im Deutungskampf werden konnte und ob sich hieran der moderne Demokratiegedanke erprobte, stellt eine in der Forschung immer wieder diskutierte Frage dar (Congar 1980; Marongiu 1980), von den älteren Forschungen Otto von Gierkes (Genossenschaftsrecht, II 466-475, 633-635) bis zu jüngeren, eher begriffslogisch und gesellschaftstheoretisch inspirierten Überlegungen Niklas Luhmanns (1993). Auf solchen Vorarbeiten fußten die Konzilslehren von Repräsentation (also Personalisierung der transpersonalen Körperschaft) und Konsenstheorie (Willensbildung und Identität). In Konstanz waren es Johann Gerson, Pierre d'Ailly und Franciscus Zabarella, in Basel Johannes von Ragusa, Johannes von Segovia und schließlich Nikolaus von Kues (latinisiert: Cusanus), die solche Theorien erarbeiteten. Das Konzil als Möglichkeit der spirituellen Einheit der Christianitas zu verstehen und ihm deswegen eine korporative Form zu geben, wie sie Nikolaus von Kues (1401-1464; vgl. Sigmund 1963; Winkler 2001) erwog, sahen nur wenige. Für das 1431 nach Basel einberufene Konzil verfasste Kues die Schrift De auctoritate presidendi in consilio, worin er ausführte, dass die päpstlichen Repräsentanten nur Privilegien in Hinblick auf den Vorsitz und die Verhandlungsführung hätten, nicht hingegen in Fragen der Abstimmung. In der Concordantia catholica (ed. Sigmund 1991) schließlich entwarf Kues in drei Bänden eine umfangreiche Föderaltheologie, deren Resultat im dritten Band der Vorrang des Konzils vor dem Papst war. Kues ging darin von der Gleichsetzung der Freiheit als ein in Gott begründetes Prinzip und zugleich als Recht der Natur aus, so dass alle Menschen gleich an Macht und Freiheit ausstattet sind. Daraus folgerte er die rechtliche Notwendigkeit der Volksherrschaft (De concordantia catholica 1433, II 14). In einer später sehr einflussreichen Konsensus-Theorie nahm er frühere, am Kanonischen Recht orientierte Überlegungen auf, welche die Kirche als Korporation verstanden und eine entsprechende Repräsentation forderten, die der Papst nicht für sich alleine beanspruchen konnte. Man kann einschränkend sagen, dass die Konsens-Theorie theologisch fundiert war, und zwar nach Maßgabe des Paradigmas der Trinität und der Bedeutung des heiligen Geistes darin als einem Harmonie und Übereinstimmung stiftenden Medium. Damit folgte Kues jedenfalls einer bereits etablierten konziliaristischen Theorie und fasste sie zusammen. Gerade für den dritten Band scheint die Lektüre des Marsilius von Padua besonders einflussreich gewesen zu sein und es tauchen häufige Verweise auf Aristoteles auf (Sigmund 1962, 395-402). Mit dem Wandel der Kräfteverhältnisse änderte sich die Sicht auf das Konzil als Idee. An Stelle der körperschaftlichen Vielheit schob sich am Ende des Basler Konziliarismus wieder 4

Konrad von Gelnhausen, Epistola concordiae, hg. von F. Bliemetzrieder, Wien 1909, S. 121: „quod omnes tangit, ab omnibus vel vice omnium tracetur." Bei Bonifaz hieß es „Quod omnes tangit debet ab omnibus approbari" mit Bezug auf 5, 59, 5,2.

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die Einheit in den Vordergrund (Antonio, Rosellis Monorchia, etwa 1442; Johannes de Turrecremata, Summa de ecclesia 1449). Mit der anhaltenden Schismagefahr wechselte auch Kues 1437 die Seiten und vertrat nun eine gemäßigte Suprematstellung des Papstes. Hinfort war er an vorderster Stelle für die Kurie politisch tätig. Bevor die Türken 1453 Konstantinopel eroberten, bemühte sich Kues als Gesandter des Papstes darum, eine Union der byzantinischen Kirche mit Rom vorzubereiten. Kues wurde Kardinal und unternahm Reformanstrengungen innerhalb der Kirche in den ihm anvertrauten Bezirken Brixen und später Orvieto, die freilich allesamt scheiterten. Kues war Freund und Protege von Enea Silvio Piccolomini (1404-1463), einer der bemerkenswertesten Gestalten dieser Übergangszeit. Piccolomini war Konziliarist und für Päpste wie für Kaiser Friedrich III. tätig. In De ortu et auctoritate imperii Romani von 1446 entwickelte er noch einmal die Idee der Universalmonarchie, die er ungewöhnlicherweise mit Argumenten Ciceros rechtfertigte, also mit Mitteln, die aus dem Bürgerhumanismus vertraut waren (Nederman 1993). Auf dem Reichstag in Frankfurt 1453 betonte Pius II. die griechischen Wurzeln der europäischen Bildung, über die alle Latinisierung von Autoren wie Aristoteles nicht hinwegtäuschen könne und woraus die abendländische Verpflichtung gegenüber der griechischen Kultur folgte, die sich nun gleichsam auf der Flucht befand (Fuhrmann 1999, 23). 1458 wurde er zum Papst Pius II. gewählt. Schon die nächste Bewährungsprobe, die Reformation, war nicht mehr durch ein Konzil zu schlichten. An die Stelle der die Gesamtkirche vertretenden Konzile traten nationale Konzile. Frankreich hatte nationale Konzile unter der Führung des sich vom Papst emanzipierenden Königs schon lange vor dem abendländischen Schisma etabliert (Gallikanismus). Französische Konzile versuchten auch die Hugenottenkriege des 16. Jahrhunderts und die Frage des Verhältnisses der Reformierten zu den Katholiken zu lösen. Die politische Idee des Konziliarismus wirkte auf nationalem Grund weiter, und zwar in Hinblick auf die Fortentwicklung der Idee der Repräsentation und der Versammlungsinstitution als Alternative zur hierarchischen Entscheidungsorganisation der Monarchie bzw. der Kurie. Die lutherische Reformation und ihr

Politikverständnis

Die Reformation war ein weiterer Revitalisierungsversuch der Kirche, der aber zu ihrer endgültigen Spaltung führte. Die Vordenker der Reformation waren keine politischen Theoretiker von Rang, weder Luther noch Melanchthon, Calvin oder Zwingli beabsichtigten primär einen Wandel des Politikverständnisses. Bereits die Folgegenerationen der Reformatoren versuchte in der politischen Theorie nachzuholen, was die protestantischen Patristen versäumten hatten; ihre Ergebnisse widersprachen teilweise den Intentionen der Gründerväter. Martin Luther (1483-1546) unternahm den energischen Versuch, dem christlichen Normenprogramm zu neuer Vitalität und Aufrichtigkeit zu verhelfen. Die lutherische Reformation begann als moralisch unduldsame Kritik an der Ablasspraxis; die theologische Rechtfertigung dieser Kritik in den 95 Thesen von 1517 war aber grundstürzend und Luther war entschlossen genug, die Konsequenzen seines Ansatzes bis hin zur Delegitimation des Papsttums und der Zurückweisung der Auslegungstradition zu Ende zu denken. Die politischen und sozialen Konsequenzen waren für Luther eher nachrangig, seine Lösung der Vereinigung von kirchlicher und politischer Autorität in der Hand des Landesfürsten war als Notbehelf gedacht. Luther sah nicht voraus, dass diese Vereinigung die politische Macht intensivierte: die Aufsicht über das Wohl der Seelen durch das Kirchenregiment mit dem Fürsten als Oberhaupt vermehrte dessen Einfluss beträchtlich, der nun bis in die Organisation der

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Details der Lebenswelt hinein reichte. Nur die innere Unabhängigkeit des Predigers gewährleistete die einzig verbleibende Instanz zur Beaufsichtigung des Fürsten. Im Glauben an die göttliche Übermacht und auf der Grundlage der Schriftauslegung wollte Luther die Offenbarung wieder unmittelbar zugänglich machen. „Contra modernos" lautete seine Kampfansage aus der frühen Zeit: gemeint war damit vor allem der Aristoteles der Scholastiker (Oberman 1986, 167-171). Luther bemängelte, dass zu viele christliche Lehrsätze mit Hilfe aristotelischer Kategorien vermittelt und entschärft worden waren. Die Idee, den Wortsinn der offenbarten Schrift neu zu entschlüsseln, war ohne die philologischen Leistungen des Humanismus undenkbar. Der Humanismus als Sprachwissenschaft ermöglichte erst die Reformation. Die Kenntnis und Lehre der Sprache, in welchen die offenbarten Schriften verfasst waren, erschlossen neue Zugänge. Als Johannes Reuchlin De rudimentis Hebraicis 1506 veröffentlichte, war ein Grundstein gelegt, das Alte Testament neu zu lesen. Das Buch wurde von der römischen Kirche als Infragestellung der Autorität der kanonisierten lateinischen Vulgata angesehen, Reuchlin der Häresie bezichtigt. Im Appellationsprozess vor dem Papst wurde er allerdings von diesem Vorwurf freigesprochen. Das war 1516. Ein Jahr später begann die Reformation durch Luther und seinem Mitstreiter Melanchthon, einem Großneffen Reuchlins. Der Text der Schrift war die einzige von den Reformatoren akzeptierte Autorität. Erasmus von Rotterdam publizierte 1516 die erste griechische Druckfassung des Neuen Testaments, das Ergebnis langjähriger philologischer Arbeit an der Rekonstruktion des griechischen Originals, die humanistische Vorleistung für die Reformation. Noch in der bittersten Polemik gegen Erasmus war Luther bereit, die großen philologischen Verdienste von Erasmus für die Reformation zu würdigen (WA 18, 786, 38-40). Diese Polemik entbrannte an der Frage der Willensfreiheit. Bereits 1517 nahm Erasmus für den freien Willen Stellung und wehrte sich 1523 publizistisch gegen die daraufhin erhobenen Vorwürfe des Pelagianismus. Im August 1524 ging seine Schrift über den freien Willen in den Druck {De libero arbitrio), die sich nun konstruktiv mit Luther auseinandersetzte. Luther antwortete im Dezember 1525 (De servo arbitrio), Erasmus erwiderte mit den Hyperaspistes des Desiderius Erasmus gegen den ,Unfreien Willen' Martin Luthers im Februar 1526, gefolgt von einem zweiten Buch im September 1527. Damit war das Tischtuch zerschnitten (Obermann 1986, 226-232). Für Luther schien nun klar zu sein, dass Erasmus den weltlichen Dingen einen größeren Rang zusprach als den göttlichen. Er hatte aber bei aller Konsequenz seines um die Gnade Gottes rankenden Denkens eine wesentliche Einschränkung gemacht. In der Assertio von 1520, der Gegenschrift zur päpstlichen Bannbulle Exsurge Domine, hatte Luther noch gemeint, „der freie Wille nach der Sünde ist ein bloßes Wort, und wenn der Mensch tut, was in ihm ist, sündigt er schwer" (WA 7, 142, 22). Diese Schrift hatte Erasmus für seine Kritik an Luther zugrunde gelegt. Luther räumte in De servo arbitrio wenigstens in den niederen Angelegenheiten, vor allem Fragen des sozialen Lebens (in rebus inferioribus: WA 18, 672, 811) die Wahlfreiheit des Menschen ein. Doch in Heilsfragen sollte es nicht auf die Intention des menschlichen Handelns ankommen noch auf die Bewertung seiner Handlungen. Das empfand Luther sogar als Entlastung. Würde nämlich der freie Wille Grund des Heils sein, so müsste sich der Mensch beständig aufs Ungewisse abmühen (WA 18, 783) und es würde ihm doch nicht gelingen. Durch die Kraft des freien Willens werde niemand gerettet (ebda.), es sei die Gnade Gottes, die das Heil verleiht. Erasmus bezweifelte, wie man von der Einsinnigkeit der Schrift ausgehen könne, wenn selbst die führenden Reformatoren (mit Blick auf Zwingli) sich nicht über eine verbindliche

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Interpretation einigen konnten und ob daraus nicht der Schluss zu größerer Mäßigung des Urteils zu ziehen sei. Er suchte in der Unbescholtenheit seines intellektuellen Urteils die Befreiung von der Vormundschaft aller Dogmen, ob sie nun römisch-altkirchlichen oder lutherischen Ursprungs waren. Auf dem kritischen Potential seines scharfen Verstandes beharrend, verteidigte er daher den freien Willen gegen jeglichen Dogmatismus. Erasmus sympathisierte mit dem Reformbegehren Luthers, befürchtete aber, dass die Reform in eine anarchische Revolution münden würde, der gegenüber das Festhalten an der Tradition bei nur punktueller Reform die bessere Strategie sei. Er machte Luther den Ausbruch und die verheerenden Ausmaße der Bauernkriege 1525 zum Vorwurf. Luther hätte besser bedenken sollen, welche Folgen sein öffentliches Tun zeitigte und was es hieß, auf seiner Meinung zu insistieren. Dies war tatsächlich ein Luther schwer zusetzendes Problem: er hatte die Christen von der geistigen Unterdrückung durch die Kirche befreit, aber der Umgang mit dieser Freiheit war oft unverantwortlich, was dann Luther Schwärmerei nannte, darunter das Wirken Thomas Müntzers (etwa 1489-1525). Dieser hatte die „Freiheit des Christenmenschen" (so Luthers entscheidende Arbeit De libertate Christiana 1520) politisch als Emanzipationsthese gewendet und sich im Bauernkrieg bis zur persönlichen Selbstaufopferung auf die Seite der im Feudalismus unterdrückten Stände, insbesondere des Bauerntums, gestellt. Ihre Befreiung machte er zu seinem geistigen Auftrag, weshalb er zum Feldprediger des Bauernheeres wurde (Quilisch 1999). In dieser Situation sah sich Luther gedrängt, an verschiedenen Fronten gleichzeitig zu argumentieren: die Theokratie der alten Kirche galt es abzuschütteln und die Selbstherrlichkeit und Eigenmächtigkeit der einzelnen Sektengründungen und ihrer politischen Ordnungen in die Schranken zu weisen. Luthers Gegenschrift Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern (1525) rief geradezu zur Vernichtung des Bauernheeres auf und rechtfertigte die Strafaktionen der Fürsten (Greschat 1965). Luthers Distanzierungsschrift gehörte zu den Abhandlungen, die ihn zeitgenössisch und ideengeschichtlich am meisten in Misskredit brachten. Die Vorgänge im Umfeld des Bauernkrieges wie im Falle der Täufer befestigten Luthers Überzeugung: Die Menschen bedürfen der Obrigkeit (Wolf 1972). Sie verhalten sich von alleine nicht entsprechend dem Evangelium, selbst wenn sie getauft sind und Christen heißen. Die Predigt des Christentums und die Wiederentdeckung der evangelischen Freiheit führen demnach aus sich heraus noch nicht zum Aufbau einer wahrhaft christlichen Gemeinde. Obrigkeit war zunächst ein weit gefasster Begriff, der die politische Herrschaft umschloss. „Gott hat im weltlichen Regiment Heilande verordnet, als da sind weltliche Obrigkeit im Regiment, Vater und Mutter im Hause, Ärzte in der Krankheit, Juristen im rechten Handeln" (WA 52, 158; Gerstenkorn 1956, 364). „Zur linken Hand" Gottes erhielten Haus und Obrigkeit in Luthers Auslegung eine Funktion, welche die Obrigkeit in den „Vaterstand" erhob und die Gläubigen unter die Gehorsamsforderung des 4. Gebotes stellte (Gerstenkorn 1956, 89-91 und Anm. 426). Das geistliche Regiment sollte sich um das Heil sorgen, das weltliche Regiment um den Frieden (WA 9, 251). Diese Zwei-Regimenten-Lehre ist das theoretische Zentrum seines politischen Denkens, kaum eine Theorie zu nennen, musste sie doch aus seinem Denken konturenhaft herausgeschält werden und wurde nicht ohne Grund als „Irrgarten" bezeichnet. Das hatte damit zu tun, dass diese Theorie wie so häufig in der Geschichte des politischen Denkens einer „polemischen Situation" (Iserlohn 1985b, 227) geschuldet war und daher nur aus dieser Perspektive, nicht aus einer systematischen verständlich wurde.

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Die Neuaneignung der Bibel ungeachtet der katholischen Auslegungstradition fand in sehr unterschiedlichen politischen Kontexten statt, wenn man Ulrich Zwingli (1484-1531) und Luther vergleicht. Erasmus Edition des Neuen Testaments bedeutete für Zwingli (damals noch in Glarus) eine Art Erweckungserlebnis. Vieles verband den Schweizer Reformator mit dem Wittenberger. Auf ähnlich gelagerte Probleme wie das der in ihren Augen sektiererischen Täufer, antworteten beide mit der Rechtfertigung ihrer gewaltsamen Unterdrückung. Zwingli, der später seinen Vornamen in Huldrych verwandelte, fand die Zustimmung und Unterstützung einer bereits vor der Reformation politisch organisierten Gemeinde. Die Zürcher Disputation gewann Zwingli, weil er sich auf eine konzise Textinterpretation stützen konnte, seine katholischen Widersacher dagegen nur auf die Auslegungstradition, deren schlagende Autorität durch die Anerkennung der Gemeinde gebrochen war. Luther hatte im wesentlichen den Kurfürsten von Sachsen zu überzeugen, beide maßten sich nicht an, die jeweiligen politischen Ordnungen ändern zu wollen. Aber Zwingli und Luther unterschieden sich erheblich in der Frage der Auslegungsmethode der Bibel, eine Kontroverse, die im Abendmahls-Streit kulminierte und die Einheit der reformierten Bewegung sprengte. Für Luther wie für Zwingli war der Zugang des Christen zum Text ohne die anstaltliche Heilsverwaltung eröffnet, was Luther die „christliche Freiheit" nannte. Luther glaubte, das babylonische Exil des christlichen Glaubens im Gehäuse der Heilsverwaltung in der katholischen Kirche überwinden zu müssen. „Der Christ, soweit er wirklich Christ ist, ist frei von allen Gesetzen, ist keinem Gesetz unterworfen, weder innen noch außen" (WA 40, I 260). Ihn regiert Christus selbst, „mit dem bloßen Wort" (WA 12, 330). Daher erübrigte sich die eigenständige weltliche Ordnung. „Wenn alle Welt recht Christen [...] wären, so wäre kein Fürst, König, Herr, Schwert noch Recht not oder nütze" (WA 11, 249-250). Hier klang erneut die christliche Weitabgewandtheit an. Luthers Lehre von der weltlichen Obrigkeit war ausdrücklich eine Notstandstheorie. Erst die Sündhaftigkeit des Menschen begründete die Notwendigkeit der Obrigkeit und die Sündhaftigkeit zu bekämpfen, wenigstens zu kontrollieren war die Aufgabe der Obrigkeit im Heilsplan. Gott soll die Obrigkeit „wider den Teufel gestiftet" haben (WA 31, II 591). Politik war hier nur ein Mittel, das wegen der korrumpierten Seele nötig wird (WA 42, 79-81), eine Aussage, mit der Luther an die Scholastik anschloss, insbesondere an den von Luther ausführlich studierten Ockham (Iserlohn 1985b 226), ohne deswegen ähnliche ausführliche Überlegungen zur politischen Ordnung anzustellen. Luther folgerte nämlich kein aktives Widerstandsrecht, sondern alleine den passiven Gehorsam. Gehorsam wäre sogar einer türkischen Obrigkeit gegenüber zu bewahren (WA 30, II, 195, bei Iserlohn 1985b, 228; vgl. Heckel 1972). Anders als im späteren Calvinismus blieb die Kirche wie die Obrigkeit durch die Zwei-Regimenten-Lehre in einer Sonderstellung gegenüber dem Laios. Aber die Einbeziehung der Obrigkeit in den Heilsplan ermöglichte es Luther, positive Forderungen an das Verhalten der Obrigkeit zu stellen, auch wenn er keine Angaben darüber machte, wie im Falle des Zuwiderhandelns diese Forderungen institutionell durchzusetzen wären. Die politische Verbindlichkeit durch Zugehörigkeit zur gemeinsamen Konfession machte Probleme der Mitgliedschaft nachrangig. Luther prägte die protestantische unpolitische Variante der Zweikörperlehre des Königs: Die „person ist wol ein Christ, aber das ampt odder Furstenthumb gehet sein Christentum nicht an" (WA 32, 440). Die Obrigkeit soll Werkzeug erbarmender Liebe sein, was als Keim des modernen Sozialstaates gewertet werden kann. Als Obrigkeit ist sie allerdings Amt und an dieses Amt gebunden (Unruh 1975). Das protestantische Amtsethos hatte hier seine Wurzeln. Zwar ist das Predigeramt (minsteri-

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um summum) für Luther der Inbegriff des Amtes (Römer 15, 16), aber als allgemeines Priestertum aller Christen überträgt sich der Gedanke auf alle Gemeindemitglieder: alle Christen sind gleich und nur dem Amt nach voneinander unterschieden (An den christlichen Adel, Werke VI 407), einer Stelle bei Paulus folgend (1 Korinther 12, 12; vgl. Aarts 1972). Daran konnte die politische Ethik und Fürstentheorie im Protestantismus weiter anschließen, freilich immer nur in Form der Gewissensermahnung, wie die Obrigkeit sich zu verhalten habe, nicht in Gestalt von Modellen zur politischen Kontrolle ihres Verhaltens. Die augustinische Variante des Fürstenspiegels blieb im Luthertum lange lebendig. Welche Konsequenzen hatte diese Freiheit für die soziale und politische Ordnung? Ohne dies intendiert zu haben, ohne es auch recht zu verstehen, war Luthers theologischer Kampf um den unverstellten Zugang zu Gott eingebettet in eine politische Großwetterlage Europas, die durch ein Patt zwischen den deutschen Fürsten und dem papsttreuen Kaiser gekennzeichnet. Dieses machtpolitische Patt erlaubte erst Luthers Wirken. Denn nur so blieben die angedrohten Sanktionen gegen Luthers Schutzherrn, Kurfürst Friedrich den Weisen von Sachsen, unausgeführt und Luther konnte in Wittenberg eine neue Theologie begründen. Luther selbst nahm auf politische Umstände wenig Rücksicht. Die politischen Rahmenbedingungen des Wirkens der Reformatoren waren nicht unerheblich für ihr Selbstverständnis: Zwingli hatte die Bürgerschaft im Rat Zürichs und das Volk als Gemeinde im Zürcher Grossmünster hinter sich, Luther musste nur den Kurfürsten überzeugen. Die „protestierenden" Fürsten, welche die lutherische Theologie für verbindlich erachteten, waren dagegen in einer prekären politischen Situation, die sie durch ein Bündnis aller reformierenden Gemeinden stabilisieren wollten. Landgraf Philipp von Hessen bemühte sich um den Aufbau einer protestantischen Front gegen den politischen Katholizismus, d.h. im wesentlichen gegen das Haus Habsburg. Eine solche Einheitsfront bedurfte einer gemeinsamen Glaubensgrundlage. Doch verschiedene Reformatoren interpretierten die offenbarten Schriften unterschiedlich, und zwar selbst in so zentralen Fragen wie der Interpretation der Abendmahlslehre. Der literalen Auslegung Luthers widersprachen die oberdeutschen Reformatoren. Daher lud Philipp 1529 die führenden protestantischen Intellektuellen zum „Marburger Religionsgespräch" ein, doch nur vier durften diskutieren: Luther und Melanchthon für die Wittenberger und Zwingli und Oekolampad für die süddeutsche Seite. Diese vier waren zunächst zu Vieraugengesprächen aufgefordert (Luther und Oekolampad sowie Zwingli und Melanchthon). Vorher verfasste Schriften zur Strukturierung des Gesprächs und der Festlegung der Gesprächsgegenstände wurden abgestimmt, Disputationen eröffnet. Der Gastgeber als Laie und zugleich als politischer Interessent griff ein ums andere Mal in den Streit mäßigend ein und man zog sich verschiedentlich zu Gesprächen im kleineren Kreis zurück. Luther weigerte sich, dem Abendmahl eine humanistische, rational nachvollziehbare und jeglichem Wunderglauben abgewandte Interpretation zu geben. Um der Literalauslegung willen grenzte er sich vom Humanismus ab, dessen Vorarbeiten überhaupt erst Luthers Ansatz ermöglicht hatten. Ihm schien die Einsetzungsformel „dies ist mein Leib" eindeutig und nicht weiter diskutabel, ja, gelegentlich schien ihm ihre Diskussion bereits eine gefahrliche Infragestellung der Autorität des Textes zu sein. Seine Lehre von der Realpräsenz war dabei weniger weit von der katholischen Auslegung entfernt als Luther selbst lieb war, wie er im Streit mit Karlstadt 1525 deutlich gemacht hatte, aber er sah sich vom Text „gefangen" und erachtete das Wort für höher als den auslegenden Geist des Interpreten oder die „Erzhure und Teufelsbraut", die Vernunft (WA 18, 164). Im Marburger Abendmahlsstreit betonte Luther, wenn der Herrgott geschrieben hätte, er solle Mist in sein Maul nehmen, so würde er dies tun

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in der sicheren Gewissheit, dies wäre seinem Heil förderlich. Luthers ethische Größe war ein politisches Problem, das erst nach seinem Tod überwunden werden konnte. Das Projekt der protestantischen Sammlung scheiterte so auch an Luthers unnachgiebiger Haltung (Oberman 1986, 245-259). Die Zwinglianer hatten eine in diesem Punkt grundsätzlich andere Einstellung. Wortsinn und Bedeutung der Schrift seien zu unterscheiden, figurative, metaphorische, tropische Wendungen zu deuten. Zwingli erachtete die Abendmahls-Formel als Symbol. Damit war aber nicht nur das Zeichen als Emblem gemeint, sondern das Zeichen, in dessen Gegenwart sich die Gemeinde versammelt. Diese Gemeinde war für Zwingli ein politischer wie ein heilsgeschichtlicher Ort, der zugleich nach Gottes Wort leben sollte und den es mit Waffengewalt zu verteidigen galt. Zwingli als früherer Feldprediger sah seinen Glauben als Fahneneid an (Iserlohn 1985b, 258), was nicht nur figurativ gemeint war, bedenkt man, dass er wenige Zeit nach dem Marburger Religionsstreit in der Schlacht von Kappeln 1531 gefangen genommen und getötet wurde. Wie so häufig standen die Epigonen vor dem Problem, das autoritative Lehrgebäude des Meisters zu operationalisieren. Zwei Richtungen gingen von Luther aus: die protestantische Orthodoxie, die wesentlich in der Theologie verharrte (Georg Calixt und Andreas Oslander), und das protestantische Naturrecht, das Philipp Melanchthon (1497-1560) begründete. Melanchthon war eine weitaus weniger beeindruckende Persönlichkeit als Luther, zwar Konflikte scheuend, aber zu Kompromissen bereit. Gleichwohl bewahrte Melanchthon mit der Ausarbeitung der Confessio Augustana 1530 die politische Einheit des Luthertums und bewirkte den Augsburger Religionsfrieden von 1555, der dem Reich einen Bürgerkrieg ersparte. Luther wie Melanchthon konnten bei Augustinus eine Vorbereitung des Naturrechts erblicken, aber für Melanchthon war die Rezeption des Humanismus nachhaltiger. Neben das Luther beherrschende „sola fide" schätzte Melanchthon auch die intellektuelle Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Ob hierbei Erasmus auf Melanchthon einwirkte, ist unklar. Erasmus' Projekt der „Philosophia Christiana" war sicherlich für Melanchthon verlockend (Kisch 1960, 121123). Hinzu trat der Aristotelismus, der auf Luther keinerlei Eindruck machte, Melanchthon aber inspirierte. Melanchthon unterschied im zweiten Buch seiner Philosophiae moralis epitomes libri duo von 1546 zwischen zwei species der Gerechtigkeit: universalis und particularis. Die ,lex naturae' betrachtete er als ein der menschlichen Natur eingepflanztes Wissen vom göttlichen Gesetz und die ,iustitia universalis' als den Gehorsam gegen Gott (Schneider 1967, 120-121). Damit gelang es ihm, wesentliche Aspekte des Humanismus im Luthertum zu integrieren. Von Melanchthon ging die reformatorische Naturrechtslehre aus, die von Johann Oldendorp über Reinking zu Pufendorf und Cocceji reicht, aber auch zu Leibniz. Im protestantischen Naturrecht wurde ein Stück der politischen Sprengkraft der Reformation neutralisiert. Aber in Verbindung mit anderen Strömungen des politischen Denkens, darunter der Neuaneignung antiker Texte und der Revitalisierung des städtischen Raumes als politischer Ordnung, konnte das reformatorische Gedankengut, oft gegen die Intentionen der Reformatoren selbst, zu einer Revolution der politischen Theorie führen. Das zeigte sich besonders bei Jean Calvin, von dem im nächsten Abschnitt die Rede sein wird. Erst die mit den blutigen, konfessionell bedingten Bürgerkriegen einhergehende Erschöpfung gab einem Politikverständnis wieder Überzeugungskraft, das seine Kategorien ungeachtet religiöser Motive formulierte und beendete die Epoche, die so maßgeblich im Zeichen der Christianisierung gestanden hatte.

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Die Christianisierung der Politik hatte mit der spätantiken Amalgamierung von christlicher Ethik und Heilsbotschaft mit der römischen Rechtskultur und ihrer Begrifflichkeit eingesetzt. War die Religion auch in der Antike ein Thema der Politik gewesen, so rückte sie mit der Christianisierung weitaus stärker in den Vordergrund und hat seitdem trotz aller Schwankungen nicht an Bedeutung verloren. Die Frage ist dabei weniger, welchen Glaubensinhalt die Religion hat, sondern wie sie imstande ist, die für eine politische Ordnung bedeutsame Verbindlichkeit ihrer Bürger zu gewährleisten oder wenigstens zu unterstützen. Anders als im oströmischen und dann byzantinischen Reich, wo sich die Religion der Politik unterordnete, blieb im Westen das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Religion stärker prägend: Die weltliche Politik bewahrte ebenso eine Distanz zum Glauben wie die Kirche zu den weltlichen Bedürfnissen der Gläubigen. Trotz der christlichen Prägung des politischen Denkens war das antike Erbe in der politischen Theoriebildung in drei großen Strängen gegenwärtig: im Piatonismus, im Aristotelismus und in der römischen politischen Kultur. Der Aristotelismus errang im 13. Jahrhundert die Hegemonie über die platonische Lehre, wenigstens im politisch-institutionellen Bereich. Die römische Kultur hatte aber weiterhin in den Praktiken von Recht und Rhetorik Bestand, wobei sie im Kontext der sich neu formierenden stadtstaatlichen Lebenswelt eine andere Rezeption fand als auf der Ebene von Reich und Kirche. Die Parallelität dieser Diskurse ermöglichte eine Konstellation, in welcher die scholastische Diskussion und die stadtrepublikanische Diskussion gleichzeitig statt fanden, sich wechselseitig aber nur wenig beeinflussten und sehr unterschiedliche Politikverständnisse entwickelt.

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Der Begriff „Frühneuzeit" (early modern times) bezeichnet die Übergangsepoche vom Mittelalter zur Neuzeit. In dieser Epoche keimten neue Modelle politischen Denkens, die erst in der Moderne vollständig zur Entfaltung kamen; gleichzeitig blieb das Mittelalter weiterhin spürbar. Die aus der Scholastik vertraute Argumentationsform der Disputation prägte bis zur spanische Spätscholastik ausgangs des 16. Jahrhunderts die Diskussion, bevor sie allmählich vom Naturrecht eines Grotius, Hobbes und Pufendorf zugunsten einer strenger systematischen Gliederung der Argumentation abgelöst wurde. Inhaltlich wirkte eine theologische Grundierung des Naturrechts in der politischen Theoriebildung jedoch noch bis in das 17. Jahrhundert nach und bestimmte auch die ersten Überlegungen zu Kontraktualismus und Völkerrecht. Zugleich verarbeiteten Thomas Morus und Machiavelli die von ihnen rezipierten antiken Traditionen zu neuen Fäden politischen Denkens.

1. Der Humanismus zwischen Fürstenspiegel und Utopie Innerhalb weniger Jahre wurden Werke geschrieben, die ganz unterschiedliche Stränge politischen Denkens repräsentierten: 1513 Machiavellis Principe und 1516 Morus' Utopia sowie Erasmus' Institutio principis christiani (zu dieser Koinzidenz: Ritter 1948, 220-221 und Hexter 1973). Sie einte die Ausgangsbeobachtung, dass politische und moralische Vorstellungen nicht mehr ohne weiteres übereinstimmen (Schmitt/Copenhaver 1992, 269-284). Das Verhältnis von Moral bzw. Ethik und Politik, das im Mittelalter mit der Christianisierung des politischen Denkens gelöst schien, bedurfte neuer Klärung. Alle drei standen in einem engen Verhältnis zum Humanismus bzw. zur Renaissance, welche sich durch die Neuaneignung antiker Texte auszeichneten und die philologische Textkritik hervorbrachte. Während autoritative Texte von der Bibel bis zum Corpus Iuris Civilis, von aristotelischen bis zu ciceronianischen Texten für die mittelalterliche Beweisführung eine exzeptionelle Bedeutung besessen hatten, wandelte die wissenschaftliche Textkritik die Argumentation der politischen Theorie beträchtlich. Die philologische Methode beeinflusste unmittelbar den politischen Deutungskampf. Sie erlaubte eine Neurezeption von Aristoteles und gab der Reformation die intellektuellen Mittel an die Hand. Erasmus von Rotterdam (1466-1536) edierte 1516 die erste griechische Druckfassung des Neuen Testaments. Sie war keineswegs fehlerfrei - dazu waren seine Vorlagen zu mangelhaft, manche Teile lagen ihm gar nicht im griechischen Original vor; aber sie basierte auf der textkritischen Methode und hatte einen starken Einfluss auf die gesamte reformatorische Bewegung. Zugleich setzte sich die Beherrschung der griechischen Sprache als Voraussetzung für die Lektüre des verbindlichen Normenprogramms im Christentum durch und beförderte damit auch das Interesse am übrigen griechischen Literaturkanon (Bentley 1983). Erasmus war weit von der Formulierung einer eigenen politischen Theorie entfernt (so aber Koerber 1967); er suchte einen friedlichen Mittelweg zwischen den konfessionellen Fronten (Tracy 1978). Seine Institutio principis christiani (1516) operierte als Fürstenspiegel in den Bahnen einer der kontinuierlichsten Textgattungen des Mittelalters (Stammen 1999; Mühleisen 1990; 1997). Die Fürstenspiegel definieren Grund und Maß fürstlicher Herrschaftspraxis (Berges 1983). Sie reichen von Xenophons Kyropedeia bis zu Augustinus' Gottesstaat (V 24-26), in welchen herausragende Herrschergestalten als Vorbild anderer Fürsten lobend diskutiert wer-

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den; Augustinus beispielsweise schilderte die Kaiser Constantin und Theodosius geradezu panegyrisch. Die aristotelischen Fürstenspiegel (Thomas von Aquin, Aegidius Romanus) übertrugen Argumente der aristotelischen Schriften auf Monarchien. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts erlebte diese Gattung noch einmal eine Blüte, aber in veränderter Gestalt: von Giovano Pontano De principe (1455 entstanden, 1490 erschienen) bis zu Francesco Patrizi De regno et regis institutione (1518), da nun weniger Vorbilder als vielmehr Fragen der Herrschaft selbst diskutiert wurden. Machiavellis Principe schließlich erinnert nur noch formal an diese Textgattung. Der in den Fürstenspiegeln tradierte moralische Wertekanon, ergänzt um den Gedanken, dass unmoralisches Verhalten nicht nur abzulehnen, sondern oft auch unnütz oder langfristig zwecklos sei, wird bei Machiavelli gänzlich verlassen oder sogar ins Gegenteil verkehrt. Die Gattung der Fürstenspiegel hatte immer auch etwas mit der Nähe des Autors zu seinem Gegenstand zu tun. Pontano schrieb für den Sohn des Königs von Neapel. Thomas Elyot (1490-C.1546) widmete sein The Boke named Gouvernour (erschienen 1531) König Heinrich VIII., was ihm eine Stellung als Gesandter am Hof Karls V. zu Regensburg einbrachte. Dennoch war der Fürstenspiegel bei Elyot bereits ein etwas anders gelagerter Fall. Während Erasmus mit seinem gelehrten und eleganten Latein auf das gesamteuropäische, philosophisch gebildete Publikum nicht nur an den Fürstenhöfen zielte, schrieb Elyot auf Englisch und wollte die soziale und politische Elite Englands beeinflussen. Zu den Umgangsformen, die dem Aufenthalt am Hofe gemäß sind, kommen die körperliche und geistige Ausbildung in antikem Wissen, aber auch in den schönen Künsten. Elyot hat mit seinem Buch das Ideal des englischen Gentleman geprägt. Thomas Morus (1477-1535) markierte vielleicht den Gipfel des politischen Humanismus in Nordeuropa (Skinner 1987). Er stand in enger persönlicher Beziehung zu Erasmus (Hexter 1973, 57-64) und führte mit anderen Humanisten wie Guillaume Bude oder Ulrich von Hutten einen intensiven Briefwechsel. Morus wurde juristisch ausgebildet, liebäugelte aber mit dem Priestertum und erprobte einige Jahre das Leben der Franziskaner. Er entschied sich aber für die Ehe und wurde nach einer Karriere im Dienste des Königs schließlich 1529 Lordkanzler Heinrich VIII. Morus übersetzte den in dieser Zeit beliebten Lukian und schrieb in der Einleitung hierzu, Literatur solle zugleich ergötzen und belehren (Complete Works Bd. III, Part 1, S. 3). Vorbild war sicherlich Erasmus' Lob der Torheit, 1509 während seines Aufenthaltes in England geschrieben, als Erasmus auch bei Morus wohnte. Ein Jahr nach der Utopia (1516), seinem politisches Hauptwerk, begann die Reformation mit Luthers 95 Thesen. Morus bekämpfte in der Responsio ad Lutherum (1526) die in seinen Augen häretische Theologie des Wittenbergers. Er weigerte sich ungeachtet der humanistischen Wurzeln der Reformation hartnäckig, den alten Glauben zu leugnen und die Verstaatlichung der Kirche durch den englischen König zu billigen, ebenso wie dessen Nutzung der Reformation zur Stärkung seiner eigenen Herrschaftsposition als Oberhaupt der englischen Kirche, und erduldete lieber Prozess und Hinrichtung. Morus' Utopia gibt einer ganzen Textgattung ihren Namen, der utopischen politischen Theorie (Manuel/Manuel 1979; Morus' Stellung darin: Davis 1981). Er verfasste sie während seines Aufenthaltes in den spanischen Niederlanden, ihr Druckort war Löwen. Nachdem bis 1520 weitere lateinische Fassungen in Basel, Paris und Wien gedruckt wurden, kam es erst 1524 zu einer deutschen, später zu einer italienischen (1548), französischen (1550) und schließlich englischen Fassung (1551) (Allen, 1957, 153; Hexter 1952). Utopia meint das

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„Nirgendwo", ein geographisch nicht genau zu ermittelnder Ort; dies verrät schon den spielerischen Zug, den auch andere humanistische Werke dieser Zeit zeigten. Erasmus schrieb Ulrich von Hutten, seines Wissens habe Morus den 2. Teil aus einem Vergnügen heraus geschrieben, den ersten als Gelegenheit zur Stellungnahme genutzt (zitiert bei Hexter 1952, 29). Die Utopia spielt mit der Fiktion: der Autor erzählt von einem Bericht eines Besuchers von Utopia, dem fernen Inselstaat und schreibt jemandem, der diesem Bericht gleichfalls gelauscht hatte, mit der Bitte um Überprüfung der Richtigkeit der Wiedergabe. Der Schilderung des Gesprächs mit dem Besucher folgt im zweiten Teil der Wiedergabe von dessen Erlebnisbericht. Der Besucher heißt Raphael Hythlodaeus, was soviel wie Experte des Nonsens meint; der Name des Inselstaates, Utopia, ist komponiert aus dem griechischen Präfix der Verneinung und dem Begriff für den Ort, der aber in der rhetorischen Tradition auch Gemeinplatz bedeuten kann. Zugleich ist U-Topia dem Eu-Topia verwandt, was dann soviel wie guter oder glücklicher Ort heißen würde. Der erste Teil der Utopia behandelt zunächst das Problem, wie Fürsten am besten beraten werden, eine aus der Gattung der Fürstenspiegel bekannte Fragestellung (Hexter 1952, 99102). Das Gespräch geht in eine Diskussion der sozio-ökonomischen Struktur der englischen Gesellschaft über, der Anlass hierzu: das Phänomen des Diebstahls (Kreyssig 1988). Als grundsätzliche Lösung schlägt Raphael Hythlodaeus die allgemeine Vergesellschaftung des Eigentums vor. Da die anderen Gesprächsteilnehmer diesen Gedanken für absurd erklären, berichtet Raphael vom Inselstaat Utopia, wo das Gemeineigentum die Grundlage der Gesellschaftsstruktur sein soll (siehe auch Abschnitt „Die Idee des Eigentums"). Die Gemeineigentums-Konzeption war Morus wie der gesamten Frühneuzeit durch Piaton selbstverständlich geläufig (Saage 1989, 9-45); selbst die Utopier sind mit Piatons Werk vertraut. Bereits in einem früheren Werk verteidigte Morus Piatons Frauen- und Kindergemeinschaft. Die gesellschaftlichen und moralischen Auswirkungen des Privateigentums waren zudem aus dem Armutsstreit bekannt (zu Morus' theologischen Hintergründen vgl. Hexter 1952, S. 48-50, Baker-Smith 1995, 37-52). Die Fransziskaner hatten jedoch zu Morus' Zeiten keine gute Reputation mehr, sie galten als erfolgreich organisierte Bettler. Man darf nicht vergessen, dass die Einrichtung der anglikanischen Staatskirche unter Heinrich VIII. die Nationalisierung der Klöstergüter nach sich zog. Auch die andere platonische Prämisse einer idealen Sozialordnung, die Autarkie, scheint in Utopia verwirklicht: die Unabhängigkeit in politischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht ist vorhanden. Ferner ist die innere Stabilität durch erhebliche Einschränkungen der persönlichen Freiheiten erreicht. Wenn Morus die außenpolitische Doktrin der Utopier behandelt, verlässt er jedoch gänzlich die platonische Vorlage. Die Utopier stehen dem Krieg abweisend gegenüber, sind aber bereit, ihn mit aller Konsequenz zu fuhren, wenn dies nötig ist; sie beauftragen Söldner zur Kriegführung und bevorzugen hierfür einen besonders harten und grausam verfahrenden Stamm, die Zapoleten (Morus hat die Schweizer Reisläufer im Sinn). Ferner werden Kopfpreise zur Ermordung feindlicher Politiker ausgelobt. Morus, der wohl kaum Anhänger dieser Praktiken war, scheint eher ihre Möglichkeit schildern zu wollen. Er lässt die Frage durchblicken, ob es überhaupt wünschenswert sei, die politische Ordnung Utopias zu übernehmen, wenn er auch Teilaspekte für vorbildhaft erachtet. Will man also die politische Theorie von Thomas Morus ergründen, so ist die Utopia als Referenz hierfür nur mit großer Vorsicht heranzuziehen. Statt dessen muss sein Gesamtwerk im Kontext seines politischen Wirkens betrachtet werden, darin dem Vorbild Ciceros eher als dem Piatons verpflichtet (Wegemer 1996, 109-127).

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Im Vordergrund der Utopia steht die sozialpolitische Planbarkeit gesellschaftlicher Strukturen. Die Idee des Gemeineigentums wird nicht als historisch-gesellschaftlich gewachsene Eigentümlichkeit der Utopier geschildert, sondern als bewusster Eingriff der Machthaber Utopias in die Gesellschaft ihres Volkes. Es geht also zunächst um die Frage der rationalen Verfasstheit einer Gesellschaft und ihre Voraussetzungen. Die Utopier haben Kenntnis der europäischen und mediterranen Kultur. Dem Bericht zufolge strandete ein Schiff mit Ägyptern und Griechen an Bord vor vielen Jahrhunderten in Utopia. Man erwies sich als lernfähig, die besten Überlegungen dieser beiden Kulturen aufzunehmen, zu verarbeiten und umzusetzen. Das ist es, was laut Morus die Überlegenheit der Ordnung Utopias gegenüber dem Abendland seiner eigenen Zeit ausmacht. Zwar sind Gelehrte, Schrifttum und Scharfsinn in beiden Kulturen, derjenigen der Utopier wie der Europäer, ausreichend vorhanden, aber nur die Utopier hätten die richtigen Schlüsse daraus gezogen, und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Es sind also die Lernfähigkeit und Konsequenz der Umsetzung, welche die eigentlich „utopische" Eigenschaft kennzeichnen. In der Vision einer durch gelehrte oder gar wissenschaftliche Anleitung zu ihrer Wohlfahrt wie auch zum Glück angeleiteten Gesellschaft prägt Morus eine Idee, die über die übliche Beratung der Mächtigen hinausreicht und den Intellektuellen an die Stelle des Fürsten stellt. Diese Idee hat später Francis Bacon aufgegriffen und komplettiert durch eine (sogar ins Religiöse gewendete) Vorstellung von den Mitgliedern von „Salomos Haus", dem Zentrum der in Bacons Utopie beschriebenen politischen Ordnung von New Atlantis (1627 nach Bacons Tod veröffentlicht) (zur komplexen Rezeptionsgeschichte von Morus' Utopia: Kreyssig 1988; Davis 1981). Utopien als literarische Fiktionen ermöglichen die Konstruktion von politischen Gemeinschaften, die zwar nicht empirisch erfahrbar, aber doch wenigstens „denkbar" sind. Sie sind zugleich Reflexe auf die politische Wirklichkeit des Autoren und seines Publikums, die sie sowohl analysieren wie kritisieren. Da es in der Sache um Idealstaaten geht (abgesehen von den späteren Beispielen negativer Utopien, meist des 20. Jahrhunderts), sie aber nicht modellartig, sondern plastisch-praktisch beschrieben werden, erreichen sie ein sehr viel breiteres Publikum und wollen dies auch. Das Mittel des verfremdenden Blicks auf die eigene Wirklichkeit erlaubt es, ihre Strukturen ungeschönt und ohne Rücksicht auf die semantischen und argumentativen Konventionen der Zeit bloßzustellen. Hierzu würde das Mittel der Einführung eines fremden Beobachters als vermeintlichem Autor des Buches genügen, wie später Montesquieu in der Aufklärung mit seinen Persischen Briefen. Der verfremdende Blick ist auch möglich durch die nicht-fiktive Darstellung eines realen Vorbildes aus Vergangenheit oder Gegenwart, wie etwa Livius' Schilderung der frühen römischen Republik als Kontrast zur augusteischen Gesellschaft oder Tacitus' Germania als Kontrast zur römischen Kaiserzeit. Die Utopie kritisiert die Wirklichkeit statt dessen durch Erschaffung eines Idealbildes, das der Realität kontrastierend gegenübergestellt wird. Nicht zufällig schlug Morus in seiner Utopia den Bogen zu Piatons Politeia. Piaton hatte thematisierte, dass die vielleicht gedanklich konsequenten Überlegungen auf seine Zuhörer unglaubwürdig wirken mussten. Dazu zählte auch Piatons Idee des Gemeineigentums, das Morus als Kernelement der Staats- und Gesellschaftsstruktur der Utopia aufgriff. Morus' Werk gab der Gattung der Utopie ihre Bezeichnung (Saage 1991; Waschkuhn 2003). Das Spektrum ist aber sehr weit gespannt. Der politische Systementwurf von James Harringtons Oceana (1656) griff den fiktionalen Charakter der Utopie durch verfremdende Namenswahl auf und bot auch eine Variante der Gemeineigentumskonzeption. Aber die

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Utopie als Ausdruck politischer Visionen konnte auch immer mehr in das Reich bloßer Spekulation übergehen. Christliche Utopien versuchten, das Ideal christlichen Lebens in eine wenigstens gedanklich kohärente Sozialordnung zu gießen (Johann Valentin Andrae, Christianopolis 1619; Tommaso Campanella, Der Sonnenstaat 1623). Dem standen Utopien gegenüber, in welchen wissenschaftlich ausgebildete Experten die Gesellschaft leiteten (Francis Bacon, New Atlantis 1627). Die Gattung erfuhr nach einer ständig wachsenden Zahl solcher konstruktiv gemeinter Entwürfe eine Wende mit dem Aufkommen der so genannten „negativen" Utopien, die wieder stärker bestehende politische Ordnungen kritisierten, indem sie einzelne ihrer Aspekte oder Entwicklungstendenzen aufgriffen und ins Extrem fortdachten (Jewgeni Iwanowitsch Samjatin, Wir 1921; Aldous Huxley, Brave New World 1932; George Orwell, 1984 1949; zu Orwell siehe Abschnitt „Idee der Menschenrechte"). Utopien wurden so zu gesellschaftskritischen Warnungen, die als narrative Literatur mit Romanfiguren und Spannungsbögen in der Handlung geeignet waren, ein weitaus größeres Publikum zu erreichen als die politische Theorie.

2. Vom oberitalienischen Republikanismus zum Machiavellismus Neben der Philologie gab die Geschichtsschreibung dem Gesprächsfeld der Frühneuzeit entscheidende Anregungen. Die pragmatische Geschichtsschreibung wurde am intensivsten in Italien betrieben, wo sie den einzelnen Städten durch den Bericht ihrer kollektiven Handlungen zusätzliche Identität verlieh (Berman 1991, 622), die sich deutlich von den territorialen und kurialen Ordnungsmustern unterschied. Villanis bereits erwähnte Cronica aus dem 14. Jahrhundert zeichnete sich durch ein Interesse an sozialen und ökonomischen Fragen der Stadtgeschichte einschließlich quantitativer Fakten aus. Bruni plante eine komplette Geschichte von Florenz, von ihren Gründungstagen bis in seine Zeit (er kam nur bis in das Jahr 1402). Für dieses Werk erhielt der gebürtige Aretiner das Ehrenbürgerrecht der Stadt Florenz. Die Tradition der florentinischen Historiographie reichte bis in das 16. Jahrhundert. Auf den Spuren der pragmatischen Geschichtsschreibung wandelte auch Machiavellis Geschichte von Florenz, ein Auftragswerk, das er im Mai 1525 Papst Clemens VII. vorlegte (gedruckt 1532; vgl. Gilbert 1984, 236-240). Machiavellis Darstellung historischer Ereignisse stellt eine Auswahl dar, die als historisches Material illustriert, was er an allgemeinen Überlegungen in den Einleitungen zu den einzelnen Büchern formulierte: das Faktionsproblem in Republiken (III 1 und VII 1) oder Probleme der Konspiration gegen Tyrannen (VIII 1). Berühmt ist die Darstellung des Ciompi-Aufstandes (V 9-18). Eine Variante zur pragmatischen ist die humanistische Geschichtsschreibung, so Bernardo Rucellais Geschichte des französischen Einfalls nach Italien 1494 (gedruckt erschienen 1724: De Bello Italico Commentarius\ Gilbert 1984, 203-218). Auch Francesco Guicciardini hat nach seiner eigenen Storie fiorentine mit der lokalen Gegenstandswahl der Geschichtsschreibung gebrochen und eine „Italienische Geschichte" begonnen, deren Deutungshorizont über die einzelnen Kommunen hinausreichte. Die auf einzelne Republiken bezogene chronologische Geschichte blieb aber aktuell, wie bei Paolo Paruta (1540-1598), der um 1579 seine Historia Vinetiana schrieb, eine Auftragsarbeit für den venezianischen Magistrat zur Fortsetzung von Pietro Bembos Rerum Venetarum historia libri XII. Im Unterschied zu Bruni und zu Machiavelli behandelte Paruta nur die Jahre 1513-1553 und damit einen wesentlich kürzeren Ausschnitt.

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Das Interesse an der politischen Geschichte spiegelt die allgemeine Politisierung der Zeitgenossen. Der in der eigenen Geschichte aufgesuchte Schatz an konkreter politischer Erfahrung bezieht sich auf Akteure und erst in zweiter Linie auf Strukturen. Letztere (im Sinne des Verständnisses moderner Sozial- oder Kulturgeschichte) sind nur dann erheblich, wenn sie für das Verständnis politischer Handlungen interessant sind. Die Geschichte ist also geronnene Erfahrung, aus welcher ein Reservoir an Maßstäben für politisches Handeln geschöpft werden kann und die Geschichtsschreibung setzt generelle Annahmen und konkrete Ereignisse in Beziehung zueinander, was das Urteilsvermögen schult. Die von Cicero als Lehrmeisterin des Lebens und als lebendige Erinnerung gepriesene „Historia magistra vitae" (De Oratore II 36) stellt dieses Reservoir an Informationen und meinungsbildenden Faktoren zur Verfügung, das der Politiker kennen muss. Da in der Republik potentiell jeder Bürger Amtsträger sein kann, empfiehlt sich die Lektüre der Geschichte als beste Vorbereitung. Damit änderte sich auch das verbindliche zeitliche Kontinuum. Setzte Villani noch ganz im Muster mittelalterlicher Chroniken bei der Genesis ein, so wird für die Geschichtsschreibung des 15. Jahrhunderts der „chronologische" Zusammenhang mit den offenbarten Schriften schließlich uninteressant; sie konzentriert sich auf innerstädtische Wirren und Außenpolitik und nimmt ganz Italien als Schauplatz historischer Ereignisse mit Wirkung für alle seine politischen Gebilde in den Blick. Geschichtsschreibung ist nun Prognostik, politische Nutzanwendung und Systematisierungsversuch des politischen Wissens auf der Grundlage der historisch aufbereiteten Erfahrung (Landfester 1972, 152-164). Das Rekurrieren auf menschliche Handlungen als den tragenden Faktoren der Veränderung weist den Heilsplan Gottes oder das Einwirken des göttlichen Willens in den Ablauf der Geschichte als irrelevant zurück: Machiavelli lehnte übernatürliche Erklärungen für historische Abläufe grundsätzlich ab (Principe 12), Guicciardini erklärte zumindest, göttliches Wirken, wenn es denn vorläge, sei für das menschliche Fassungsvermögen unzugänglich und müsse daher aus der Argumentation herausfallen. Die komplexe politische Situation des 16. Jahrhunderts zu erfassen war eine eigene Herausforderung. Fünf ganz unterschiedlich verfasste politische Ordnungen dominierten Italien. Im Süden gehörte hierzu das Königreich Neapel, ein großes, sehr reiches Territorium, das sich antiker griechischer Einflüsse rühmte. Nach dem Thronantritt Karl VIII. von Frankreich aus dem Hause Anjou wollte dieser seinen dynastisch wohlbegründeten Anspruch auf Neapel mit einem Feldzug durchzusetzen. Hierzu sicherte sich Karl durch einen Vertrag mit England ab und verbündete sich mit dem Herzog von Mailand, Ludovico Sforza, genannt il Moro (1480-1508), einem der berühmtesten Despoten seiner Zeit: gebildet, humanistisch interessiert und wie die Epoche insgesamt kunstsinnig. Er war der vierte Sohn des Francesco I. Sforza, ein professioneller Heerführer (Condottiere), der die dynastisch gesehen legitimen Visconti verdrängte und sich selbst als Herzog einsetzte. Damit wurde er für Machiavelli zum Inbegriff des erfolgreichen Machtpolitikers, der ungeachtet seiner Herkunft die Herrschaft zu ergreifen und auf Dauer zu stellen verstand, wenigstens 50 Jahre lange bis er verhaftet wurde und nach acht Jahren Kerkerhaft starb. Machtmenschen wie er, Krieger und Despoten zugleich machten ihre Höfe zu Zentren der Gelehrsamkeit und der Kulturproduktion. Im Jahre 1494 eroberte Karl von Anjou Neapel. Damit endete eine Epoche des politischen Gleichgewichts in Italien. Die folgenden Hegemonialkriege versetzen Italien jahrzehntelang in Unruhe. Zur Befreiung von den französischen Besatzern verbündete sich der Papst schließlich mit dem habsburgischen Spanien.

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Die Renaissance-Päpste der Borgia, der Medici oder Julius II. de la Rovere waren streitlustige und machtbewusste Territorialfursten, die den Kirchenstaat wie weltliche Herrscher und nicht wie Heilige regierten und sich in ihrer Handlungsfreiheit wenig von christlichen Moralvorstellungen einengen ließen. Einige Päpste heirateten sogar und versorgten ihre Kinder und Verwandten mit Pfründen und Posten im weit verzweigten Kirchenstaat. Kunstsinnig wie Julius II., der Mäzen des jungen Michelangelo, den er zu aller Überraschung beauftragte, die Fresken in der Sixtinischen Kapelle zu malen, und zugleich militärisch aktiv, so dass oft genug lieber Kanonen als Glocken gegossen wurden. Im Norden finden wir mit Venedig die eigentümlichste politische Ordnung ihrer Zeit vor. Diese „Biberrepublik," wie sie Goethe in seiner Italienischen Reise nannte, war in vielem dem Orient näher als dem europäischen Festland, das nur durch etwas Wasser von ihr getrennt lag. Der mit Beuteschätzen aus Byzanz vollgestopfte Markus-Dom zeugt hiervon ebenso wie die Expansion im Mittelmeer und der Fernhandel. Venedig war eine jahrhundertealte Republik und widerlegte zum Entzücken vieler Republikaner das traditionelle Vorurteil, wonach bürgerschaftliche Selbstregierung zur Anarchie neigt und nur von kurzer Dauer ist. Im Mittelpunkt der politischen Theoriearbeit steht aber Florenz (Rubinstein 1968; Trexler 1980; Brucker 1990; Skinner 1993). Die Freiheit zählte zum Programm der Stadt, immer in der Selbstbehauptungsgeste gegenüber den umliegenden Territorien, dem Papsttum sowie dem Kaiser. Geprägt von sehr reichen Familien wie den Strozzi oder den Medici setzte sich unter den letzteren eine durch republikanisch verbrämte Oligarchie durch, die mit der Vertreibung der Medici 1494 unterbrochen wurde. Ihr folgte die kurzzeitige Priesterherrschaft Savonarolas 1494-1498, die mit Verbrennung des Predigers endete. Die wiedererrichtete Republik blieb instabil. Da die Florentiner unter Soderini das Bündnis mit den Franzosen aufrechterhielten, wurden sie in den Sog der französischen Niederlage gezogen. Soderini ging 1512 ins Exil, die Patrizier ergriffen die Macht und die Medici kehrten zurück, was auch zu Machiavellis Ämterverlust führte. Die Republik wurde in Florenz 1527 kurzzeitig erneuert und schließlich von den Medici endgültig überwunden. Florenz und die altrömische Republik

(Machiavelli)

Die Schriften Machiavellis gehören zu den bemerkenswertesten Knotenpunkten (Einführungen: Skinner 1985; Kersting 1988; Spezialliteratur: Münkler 1982; Mansfield 1996) der politischen Ideengeschichte. Der Bürgerhumanismus und die Neubelebung der Idee der bürgerschaftlichen Selbstregierung kommen bei Machiavelli auf eigentümliche Weise zur Geltung. Machiavellis berühmt-berüchtigter Machtrealismus wurde nicht von ihm erfunden, sondern war Element des zeitgenössischen politischen Denkens und Handelns. Zu den Aspekten, die er dem Gesprächsfeld hinzufugte, zählte seine Unterwerfung der Ethik unter die Politik und die Berücksichtigung des Glücks: unerklärliche Zufälle und so genannte Launen des Schicksals, Machiavellis Zentralkategorie der „Fortuna" (Dören 1922; Jörg Fichte 1996). Machiavelli lebte von 1469 bis 1527, geboren und gestorben in Florenz. Er trat 1498 in die Dienste der wiedererrichteten Republik als ein Beamter der zweiten Reihe: zunächst war er Sekretär der 2. Kanzlei (Inneres) und später zusätzlich als Sekretär des Rates der Zehn tätig (Außenpolitik und Verteidigung). Im Hintergrund wirkend übte er einen gewissen Einfluss auf die Amtsführung Piero Soderinis, des Gonfaloniere auf Lebenszeit aus. Lange vor der Abfassung seiner Hauptwerke hatte ihn die Anfertigung von Gesandtschaftsberichten in politischer Analytik und Prognostik geübt. Reisen brachten ihn in Kontakt mit einer Fülle

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von schillernden Persönlichkeiten seiner Zeit, wie etwa Cesare Borgia. Die 1512 zurückgekehrten Medici verhafteten zahlreiche Republikaner, darunter Machiavelli, der erst mit der Amnestie des zum Papst Clemens VII. gewählten Giovanni Medici entlassen wurde, aber in die Verbannung musste. Nach dem kurzzeitigen Sturz der Medici wies der Große Rat 1527 Machiavellis Bewerbung auf einen Sekretärsposten zurück. In einem Brief vom 10. Dezember 1513 an den Freund Francesco Vettori schilderte Machiavelli die Umstände seines Daseins im Exil und den Tagesablauf, an den Abenden beschäftigte er sich mit schriftstellerischen Arbeit, darunter dem Principe (Najemy 1993, 215-240). Verewigt ist damit das Bild des aus der Stadt verbannten Autoren, der voller Zynismus, Sarkasmus und einer Spur Selbstmitleid eines der einflussreichsten Werke der politischen Ideengeschichte schrieb. Doch schon zwei Jahre später finden wir Machiavelli im Gespräch mit anderen Florentiner Politikern, Autoren und Humanisten wieder, in dem Kreis, der sich regelmäßig in den Orti Oricellari traf, den Gärten des Palazzo Rucellai. Gastgeber ist Cosimo Rucellai, der Bruder des bereits erwähnten Historikers Bernardo Rucellai. Dieser Kreis diskutierte Verfassungsfragen. Die Regierungswirren stellte alle Florentiner vor die Stabilitätsfrage und damit verbunden vor die Frage nach dem politischen Ordnungsvorbild: venezianische oder altrömische Republik? Erst jüngst hatte man das populäre Regime des Predigers Savonarola erleben müssen, der aus den Florentinern ein gottgefälliges Volk hatte machen wollen und dabei ganz die machtpolitische Konstellation in Italien vergaß (Erlanger 1988). Ein größerer Kontrast zwischen dem Politikverständnis von Savonarola und demjenigen Machiavellis lässt sich schwerlich denken (Fuhr 1985). Die Tugenderneuerungspolitik von Savonarola war für Machiavelli ein warnendes Beispiel, wie eine durch Tugendzumutung überforderte Bürgerschaft in die Arme der Medici getrieben wurde (Colish 1999). Ist die Bürgerschaft schon in einem gewissen Stadium der Korruption, hilft die waffenlose Predigt des moralischen Anstandes nicht und wirkt sogar kontraproduktiv (Principe 6). In diesem politischen Klima verfasste Machiavelli die Discorsi, die er Cosimo Rucellai und Zanobi Buondelmonte, einem weiteren regelmäßigen Besucher der Orti Oricellari, widmete (Baron 1956; Hexter 1957a). Machiavelli unterbrach die Arbeit an den Discorsi, um den Principe vom Juli bis Dezember 1513 zu schreiben (das 26. Kapitel hat Machiavelli zwischen September 1515 und September 1516 geschrieben, veröffentlicht wurde der Principe 1532). Danach setzte er die Arbeit an den Discorsi fort (ab Buch I, 18; vgl. Politische Schriften, ed. Münkler 451) und schloss sie spätestens 1519 ab (1531 veröffentlicht). Ob systematische Gründe oder politische Ereignisse die Unterbrechung veranlassten ist unklar (Buck 1985, 58-60; Sasso II 197-276). Auch wenn die jüngere Forschung kleinere Texte Machiavellis wie die Arte della Guerra stärker in den Vordergrund stellt (Colish 1998), verbleibt das Problem des Verhältnisses zwischen Principe und Discorsi im Mittelpunkt der Diskussion (Baron 1988b). Zunächst an die Gattung der Fürstenspiegel erinnernd (vgl. die Anspielung Kapitel XV) ist der Principe eine Problemstudie über Erwerb und Erhalt von Macht. Machiavelli grenzt seinen Gegenstand konzise ein, indem er „Principati" (also Fürstentümer bzw. Alleinherrschaften) von Republiken unterscheidet (Sasso II 351-490). Alle politischen Kämpfe enden entweder in Alleinherrschaft, Republik oder Anarchie (Principe 9). Die im Principe diskutierten Machtmittel und Motive des Handelns gelten nur für Alleinherrschaften, die sich wiederum in ererbte und neu begründete unterteilen. Ererbte Alleinherrschaften sind machtpolitisch unproblematisch, es bedarf nur geringer Anstrengung, um die Macht zu erhalten. Machiavelli interessiert sich für die neubegründeten Alleinherrschaften, sie zu erringen be-

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stehen vier Wege: durch Verdienst (virtü), durch Glück (fortuna), durch Verbrechen oder durch die Gunst der Mitbürger. Die Kapitel 2-11 des Principe beschäftigen sich mit neubegründeten Alleinherrschaften, die Kapitel 12-14 speziell mit der virtü und die Kapitel 13-23 mit den erforderlichen Verhaltensweisen, um die Macht zu erhalten. Das Schlusskapitel 26 fordert leidenschaftlich dazu auf, Italien als politische Einheit zu begründen, und zwar mit Hilfe einer überragenden Herrscherpersönlichkeit, die er aber nicht benennt. In der Widmung des Principe nennt Machiavelli die drei Quellen seines Wissens: das Vorbild großer Persönlichkeiten, seine eigene Erfahrung und das Studium der antiken (überwiegend römischen) Schriftsteller (Sullivan 1996; Coby 1999). Er löst sich von christlichen Verhaltensmustern, theologischen Vergewisserungen und ethischen Verhaltensappellen und sucht statt dessen nach der Eigenständigkeit des Politischen und seinen Gesetzmäßigkeiten. Das ermöglicht es ihm, ungetrübt von ethischen Traditionen als Zentrum des politischen Geschehens die Macht und den Machterhalt zu entdecken: „Mantenere lo stato" lautet die Zauberformel (Principe 15; 18; 19; Discorsi, Vorwort zu Buch I). Ohne Referenzen anzugeben, aber mit klarem Bezug zu ethischen Kernschriften von Seneca und Cicero, diskutiert Machiavelli Verhaltensweisen wie Grausamkeit und Furcht. Seneca verwarf die Grausamkeit als eine typisch tyrannische Verhaltensweise {De dementia I 26), Machiavelli erklärt sie für unvermeidlich; Cicero wollte politische Herrschaft eher auf Wertschätzung und nicht auf Furcht (heute würde man sagen: Abschreckung) begründet sehen {De Officiis II 7 und 8), Machiavelli hält die Furcht aber für einen sehr zuverlässigen Faktor. Naturrechtliche Zentraltheoreme wie die Goldene Regel kehrt Machiavelli um (Geerken 1988). Schließlich erhält auch ein Zentralbegriff der antiken Ethik, die Tugend, eine neue Bedeutung. Virtü ist bei Machiavelli kein ethisch-moralischer Begriff mehr, wie er in der platonischen Tradition unter dem Stichwort der Kardinaltugenden behandelt wurde. Noch Francesco Patrizis De institutione Reipublicae (1494 geschrieben, 1518 ins Französische übersetzt, gedruckt Paris 1575) geht vom Paradigma der Kardinaltugenden aus (Skinner 1978 I 182-183). Für Machiavelli hingegen ist Tugend die Tüchtigkeit und Fertigkeit der handelnden Personen, in günstigen Situationen Handlungsoptionen zu erspähen (occasione) und im Einklang mit institutionellen Strukturen die nötigen (necessita) Verhaltensweisen ungeachtet persönlicher Neigungen und Vorlieben vorzunehmen. Das beste Beispiel ist ihm die Kriegführung. Machiavelli hatte beobachtet, dass der Betrug überall als schändlich angesehen wird, im Krieg aber als lobenswert und rühmlich {Discorsi III 40). Mit dieser Doppelmoral brach er nachhaltig. Cesare Borgia diente Machiavelli als Vorbild eines tatkräftigen und erfolgreichen Politikers {Principe 7). Mehrere offizielle Missionen führten Machiavelli ins Feldlager Cesare Borgias, von wo aus er zahlreiche Berichte nach Florenz sandte. In die Zeit seiner zweiten Mission von Oktober 1502 bis Januar 1503 fiel die heimtückische Ermordung der rebellischen Hauptleute Borgias in Sinigaglia, die Machiavelli in einem Bericht schildert {Descrizione del modo tenuto). Borgia lud sie unter einem Vorwand zu sich und konnte sie so alle auf einmal töten. Sinigaglia wurde dadurch zum Topos für die rücksichtslose Ausnutzung eines temporären Vorteils. Während seiner zweiten Mission beschaffte sich Machiavelli eine neue lateinische Übersetzung des Plutarch aus Venedig. Darin fand er die Darstellung des spartanischen Feldherrn Lysander, der sein Handeln mit der politischen Maxime „wo das Löwenfell nicht zureicht, muss man den Fuchspelz anziehen" rechtfertigte {Große Griechen und Römer 1955, III 14). Diesen anekdotisch bei Erasmus {Adagiorum Collectanea LXXXI 1500) und auch bei Cicero erwähnten {De Officiis 113; vgl. Stolleis 1990b) Spruch wandte Machiavelli auf

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Borgia an und formte nach dessen Vorbild das 18. Kapitel des Principe, worin er postulierte, dass ein Fürst gezwungen sei, sich zugleich wie ein Löwe und wie ein Fuchs zu verhalten, denn eines von beiden reicht nicht zu: der Löwe verfängt sich in den Schlingen des Fuchses, der Fuchs unterliegt größerer Stärke. Auch den antiken Begriff der Klugheit formte Machiavelli um. Zur Klugheit des Alleinherrschers gehört bei ihm die Einsicht, selbst ein Ehrenwort nicht einzuhalten, wenn es Nachteile bringt und Versprechen zu widerrufen, wenn die ursprünglichen Gründe, sie einzugehen, fortgefallen sind. Denn alle Menschen sind schlecht und verhalten sich wortbrüchig, wenn sie Gelegenheit dazu bekommen. Der neu zur Macht gekommene Alleinherrscher kann sich kein ethisch fur gut angesehenes Verhalten leisten, will er seine Herrschaft behaupten (per mantenere lo stato). Er muss gegen die Treue (fede), Fürsorge (carita), Menschlichkeit (umanitä) und die Religion verstoßen und seine Gesinnung muss imstande sein, sich dem Glück (fortuna) und dem Wandel der Umstände (variazoni delle cose) anzupassen. Daher gilt es, nur so weit gut zu sein, wie es möglich ist und bereit zu sein, sich anders zu verhalten, sobald es nötig wird (necessitato). Die Kalkulation des Glücks ist ein wesentlicher Bestandteil politischer Handlungsrationalität bei Machiavelli (Knauer 1990; Diesner, 1993). Damit verleiht er der zeitgenössischen Mentalität ihren politischen Ausdruck (Pitkin 1984), und zwar in einer bis zur elisabethanischen Zeit reichenden Debatte (Ferruci 2004). Da sich freilich der Zufall nicht vorhersehen lässt, man vielmehr immer mit ihm rechnen muss, gilt es, auf die sich durch Zufälle einstellenden Handlungsmöglichkeiten mit Entschlossenheit zu reagieren. Das ist die „occasione," die als verlockendes Weib vorgestellt wird: Sie nähert sich mit wallendem Haar, ist sie aber vorbeigegangen und will man nach ihr packen, entdeckt man, dass ihr Hinterkopf kahl ist, weshalb der verspätete Griff ins Leere geht. Machiavellis Fortuna weicht erheblich vom antiken Vorbild ab (Cicero De officiis I 115-121; II 18-20). In der griechischen Rhetorik seit Isokrates spielte der Augenblick (kairos) eine zentrale Rolle, welche der Redner beherrschen muss: das hier und jetzt sich plötzlich wandelnder Situationen. Machiavellis Fortuna gehört jedoch nicht der deliberativen Verständigung kollegialer Politiker an, sondern dem Entscheidungskalkül des virtuosen Machtpolitikers. Moral und Mischverfassung Nicht die Trennung von Politik und Ethik schlechthin, sondern von einer bestimmten Ethik ist Machiavellis Leistung; die Rolle der Moral in der Politik ist ein zentrales Thema Machiavellis. Moral ist nicht gleichgültig, aber sie kann nicht die Maßstäbe für die Politik setzen, was bereits viele antike Autoren abgelehnt hatten. Machiavelli wollte lediglich die antike politische Theorie von dem christlichen Deckmantel ihrer Moralisierung befreien. Die Tugend ist also im Falle eines durch Gewalt an die Macht gelangten Alleinherrschers wie Cesare Borgia eine Frage der Entschlossenheit. Dies gilt aber ebenso für Republiken, wo sich das Hauptproblem des „mantenere lo stato" auch stellt (Discorsi Buch I, Vorwort; vgl. „mantenere una civilitä" I 11 und „mantenere uno stato libero" I 18). Auch die Republik muss die Freiheit notfalls mit unethischen Mitteln verteidigen können, dafür warb Machiavelli und deshalb kritisierte er den Gonfaloniere Soderini, der es aus zu großer Treue zum Gesetz versäumte hatte, die günstige Gelegenheit zur Vernichtung der Feinde der Republik auszunutzen. Der Preis war Machiavelli zufolge hoch: die ungenutzte occasione führte zum Untergang der Republik (Discorsi III 2 und 30; Sabia 2001). Gerade die Sicherung der Freiheit bedarf der Entschlossenheit, Rücksichtslosigkeit darf für ein neu begründete Republik

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kein Fremdwort sein, weil sie sich in einer ähnlichen Situation befindet wie ein Alleinherrscher, der neu an die Macht gekommen ist. Machiavelli gab jedoch der Moral in einer Republik einen anderen Stellenwert als in Alleinherrschaften. Die Virtuosität des Alleinherrschers wird in der Republik durch die Tugend der Bürgerschaft ersetzt, der Grundgedanke aller politischen Theorien, die man in der Ideengeschichte „republikanisch" nennt (Pocock 1975; Llanque 2003). Freiheit nach außen (Verteidigungsfähigkeit) wie die Freiheit nach innen werden von ihr gewährleistet; Tugend bezeichnet den Zustand der Bürgerschaft, in dem sie sich zu diesen Leistungen imstande erweist, „Korruption" das Gegenteil hierzu. Der Begriff der „Korruption" ist in vielerlei Hinsicht die säkulare Variante dessen, was in der mittelalterlichen Theorie als Erbsünde und Folge des Sündenfalls beschrieben wurde, nun aber eher als Dekadenz, als Verfall der Tugendhaftigkeit gedeutet. Welche Verfassung die erforderliche Tüchtigkeit hervorzubringen vermag, hängt nicht alleine von der Form der Verfassung und den von ihr begründeten Institutionen ab, sondern von den Gesamtumständen und der inneren Verfassung der Bürger. Daher warnt Machiavelli vor einer theoretisch überzeugenden, praktisch aber erfolglosen Einfuhrung der Republik, wenn die hierzu korrespondierenden Tugenden in der Bürgerschaft fehlen. Machiavelli bevorzugt im Falle der Sittenverderbnis der Bürgerschaft eher eine straffe Exekutive in Gestalt der Monarchie als das Festhalten an der Selbstregierung, wenn sie zur Anarchie führt (Discorsi I 18). Nichts erscheint Machiavelli unwahrscheinlicher und voraussetzungsreicher als die Schaffung einer stabilen und zugleich Freiheit verbürgenden Verfassung. Alle Verfassungsgebung muss davon ausgehen, dass Menschen „schlecht sind und dass sie stets ihren bösen Neigungen folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben" (Discorsi I 3). Überlässt man es den Menschen selber, sich eine Ordnung durch freie Wahl zu geben, so gerät alles in Unordnung. Daher muss die Verfassungsgebung in der Hand weniger, am besten einer einzelnen Person liegen. Bei der Erörterung einzelner Verfassungsgeber diskutiert Machiavelli ausführlich Gestalten wie Lykurg oder Romulus und lobt sie überschwänglich. Mit der Festlegung auf eine einzelne Person im Prozess der Verfassungsgebung ist allerdings noch nichts darüber ausgesagt, welche Art von Regierung diese Verfassung etablieren soll. Machiavelli weist das aristotelische Erbe der Verfassungsdiskussion mit ihrer Gegenüberstellung dreier vorbildlicher und dreier verderbter Verfassungen zurück (Discorsi I 2). Die guten (Monarchie, Aristokratie und Demokratie) gehen von bestimmten Tugenden ihrer Bürger aus, die bereits vorhanden sein muss, damit diese Verfassungen überhaupt erst etabliert werden können. Geht die Tugend verloren, lässt sie sich Machiavelli zufolge auch nicht mehr ohne weiteres revitalisieren. Daher können Verfassungen trotz aller Durchdachtheit der Institutionenordnung eine nur geringe Lebensdauer haben. Die Abgrenzung von Vitalität erhaltenden Parteikämpfen zum selbstzerstörerischen Bürgerkrieg ist für Machiavelli von zentraler Bedeutung. Mit der Vorstellung einer aktiven Bürgerschaft sind Schwierigkeiten verbunden, die in der republikanischen Theorie unter dem Rubrum der „Parteiungen" oder der „Faktionsbildung" thematisiert werden (Beyme 1978). Sie berühren die Frage, ob und in welcher Weise es zulässig ist, dass sich innerhalb der Bürgerschaft Teilgesellschaften mit einem eigenen politischen Willen bilden dürfen oder gar sollen. Innere Eintracht (concordia) heißt die alte Losung aus dem republikanischen Programm, das in allen oberitalienischen Stadtstaaten wirkt und das zugleich die Voraussetzung der außenpolitischen Unabhängigkeit ist.

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Eintrachtsparolen bewertet Machiavelli eingangs des 7. Buches seiner Florentinischen Geschichte als „Selbstbetrug". Machiavelli will die Eintracht nicht künstlich durch Stillstellung des inneren Konflikts herbeifuhren, sondern durch Prozesse mit stabilisierenden wie revitalisierenden Effekten. Machiavelli vertritt ein dynamisches Modell der Mischverfassung und kritisiert deshalb folgerichtig Venedig als Beispiel für statische Mischverfassungen, obwohl die venezianische ebenso wie die spartanische Verfassung aufgrund der geringen Veränderlichkeit ihrer Strukturen einen sehr guten Ruf genoss. Die beste Verfassung soll und kann den politischen Konflikt nicht ausschließen; sie soll ihn konstruktiv kanalisieren. Tugend bzw. Tüchtigkeit (virtü) entsteht durch gute Beispiele bzw. Vorbilder, gute Beispiele entstehen durch gute Erziehung, gute Erziehung durch gute Gesetze und gute Gesetze schließlich durch Parteikämpfe (Discorsi 14). In seiner Geschichte von Florenz unterscheidet Machiavelli zwischen dem römischen und dem florentinischen Vorbild als zwei Paradigmen des Faktionalismus. Die Römer fochten ihre Kämpfe zwischen Volk und Adel mit Worten aus, die Florentiner mit Schwertern. Die Konflikte in Rom endeten mit einem Gesetz, dem von allen Streitparteien zugestimmt wurde und sie so zunächst einmal befriedete, daran zu erkennen, dass sich alle Beteiligten an die Gesetze hielten. In Florenz enden Konflikte hingegen mit Tod oder Verbannung. Der Streit in Rom war daher insgesamt integrativ; das Volk wollte den Adel nicht von der politischen Führung ausschließen, sondern daran beteiligen, wohingegen in Florenz die Parteien einander auszuschließen trachteten (Geschichte von Florenz III, Politische Schriften 299). Machiavelli geht von der andauernden Existenz von Auseinandersetzungen (er spricht ausdrücklich sogar von „divisioni") innerhalb der Bürgerschaft aus, es gilt, zwischen freiheitsfordernden und freiheitshindernden Faktionsbildungen zu unterscheiden. Grundsätzlich definiert Machiavelli, dass diejenigen Parteiungen der Republik schaden, die zur Bildung von Sekten und Parteiungen führen (sette e partigiani). Machiavelli unterscheidet die Parteibildung danach, ob sie der Bürgerschaft zu- oder abträglich ist. Als Ausgangspunkt aller innerbürgerschaftlichen Feindschaften sieht Machiavelli das Auftreten herausragender Persönlichkeiten, hinter welchen sich Gefolgschaften bilden. Das Ansehen solcher gefolgschaftsbegründenden Persönlichkeiten beruht sich auf öffentlichen oder auf privaten Leistungen: „Öffentlich erwirbt man es, wenn man eine Schlacht gewinnt, eine Festung erobert, eine Gesandtschaft mit Tätigkeit und Klugheit ausführt, die Republik weise und glücklich berät." Der private Ansehenserwerb steht hierzu in einem scharfen Kontrast: er wird durch Privatmittel erworben, die es erlauben, Gefälligkeiten zu erweisen, Bürger vor der Obrigkeit zu schützen oder unverdient in Ämter zu bringen. Schlechte Faktionsbildung besteht also in der Förderung eigennütziger Motive; vergolten wird diese Leistung durch Gefolgschaft. Gleichwohl kann die Anhängerschaft einer öffentlich agierenden Person zum Gedeihen der Republik beitragen. Zwar kann es auch zwischen Anhängern öffentlicher Persönlichkeiten zu offenen Feindschaften kommen, wie Machiavelli einräumt, aber diese haben eine gemeinwohlfordernde Wirkung: „Dieser Hass muss nützen, da sie, um die Oberhand zu gewinnen, genötigt sind, ihre Anstrengungen auf die Erhöhung der Republik zu wenden und sich genau gegenseitig zu beobachten, damit die Schranken der bürgerlichen Gleichheit nicht überschritten werden" (Politische Schriften 331). Die vitalisierende Wirkung von Parteikämpfen machte Machiavelli zum Anhänger der Mischverfassung, aber aus anderen Gründen als sie jene gaben, welche die venezianische Republik als Inbegriff der Mischverfassung priesen. Machiavelli betont wie alle Autoren die Einzigartigkeit Venedigs (Discorsi I 34; Geschichte von Florenz II 28), folgert daraus aber,

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dass gerade dieser Umstand die Übertragung ihrer Institutionen auf andere politische Systeme verbiete (Sasso III 3-46). Das Vorbild Machiavellis ist Rom. Der Rückgriff auf das altrepublikanische Rom versetzt ihn in die Lage, einen Gegenentwurf zu Venedig vorzulegen (Pocock 1975,186), und zwar als Variante des Mischverfassungsmodells. Ob er die römische Verfassung über Polybios theoretisch erfassen lernte (Sasso 1965, 219-231; I 67-118), ist umstritten, wobei man als Bindeglied eine Beziehung zwischen Claude de Seyssel und Machiavelli erwägt (Cervelli 1974, 221-287 im Anschluss an Hexter 1956). Nicht zu unterschätzen ist die Rezeption von Sallust (Osmond 1993). In Machiavellis Analyse ergibt sich die römische Mischverfassung aus dem politischen Prozess selbst. Die Uneinigkeit der Machtfaktoren innerhalb Roms und die äußeren Umstände der permanenten Auseinandersetzung Roms mit seinen Nachbarn brachte die von Machiavelli als „vollkommen" bezeichnete Verfassung Roms hervor (Discorsi I 2). Weil die römische Republik das Ergebnis eines permanenten Verfassungskampfes war, hielt es die moralischen Kräfte der Bürgerschaft am Leben. Auch der Militärdienst hält die Tugend wach, was für die Miliz als Inbegriff der Bürgerarmee spricht. Machiavelli meinte, dass nur ein aus Bürgern an Stelle von Söldnern bestehende Armee die innere Freiheit garantiert, denn ein Heer von Söldnern ermöglicht ein Gewaltregime nach innen: ohne Verwurzelung in der Bürgerschaft wird es leicht zum Instrument der Regierung (Discorsi II 20). Nach Machiavelli ist das Bürgerheer aber auch militärisch überlegen, da für den kriegerischen Erfolg die Moral der Truppe entscheidender sei als die zur Verfügung stehenden Geldmittel (Discorsi II 10). Das zwingt ihn allerdings, die Überlegenheit der Infanterie gegenüber der (kostspieligeren) Artillerie zu behaupten (Discorsi II 17). Machiavelli unterschätzte hier die Fortentwicklung des modernen Staates. Die finanziell immer aufwendigere Kriegführung, u.a. in Hinblick auf stehende Heere und besonders die Artillerie, war die Grundlage der Überlegenheit der territorialen Staaten gegenüber den republikanischen Stadtstaaten, da sie größere Geldmitteln konzentrieren konnten. Neben die rein militärische Frage der Miliz tritt vor allem ihre tugendfordernde Wirkung: die militärische Pflicht erzieht zur Tugend, ein Motiv, dass bis in die Schottische Aufklärung (Ferguson) und vor allem bis zu den Gründern der amerikanischen Republik (2. Amendment der Verfassung) reichte. Die Bevorzugung der Miliz ist für die republikanische Argumentation vor und nach Machiavelli ganz typisch (Bayley 1961, 178-240; Metzger 1999). Der Gehorsam gegenüber den Gesetzen der Republik erfolgt nicht nur aus individueller Überzeugung, sondern auch aus Habitus. Hier spricht Machiavelli der Religion eine herausragende Rolle zu und begründet den Gedanken der politisch instrumentalisierten Religion (Beiner 1999; siehe diachroner Abschnitt „Politik und Religion"). Nützlichkeit ist Machiavellis Maßstab zur Bewertung von Religion und Rom war für ihn das Vorbild eines politisch produktiven Umgangs mit der Religion. Für Machiavelli ist Romulus der Begründer Roms, aber erst die Religionspolitik seines Nachfolgers Numa Pompilius bewirkte die nachhaltige Befestigung der politischen Ordnung, durch die er eine Klammer zwischen Bürgerschaft und Magistrat schuf. Im 11. Kapitel des ersten Buches der Discorsi schildert Machiavelli, wie Numa auf der Suche nach einem friedlichen Mittel zur Erziehung zum bürgerlichen Gehorsam in der Religion die unentbehrlichste Stütze der Zivilisation erkannte. Romulus begründete zwar die Institutionenordnung, doch nicht nur gute Gesetze sind für die Nachhaltigkeit einer politischen Ordnung erforderlich, sondern auch die hierzu korrespondierenden Sitten. Die römische Tradition der Sakralisierung von Abstrakta wie beispielsweise der Fides, deren Tempel auf die Stiftung durch Numa zurückgeht, der Gerechtigkeit oder des Friedens, ver-

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III Die Wiederentdeckung des Politischen in der Frühen Neuzeit

leiht republikanischen Werten bei der Bürgerschaft eine Weihe, die den Gehorsam erleichtert. Die Religion stiftet einen Plausibilitätshorizont, der die Überzeugungskraft ursprünglich rein politisch intendierter Maßnahmen verstärkt: „Denn es gibt viel Gutes, das zwar von einem klugen Mann erkannt wird, aber doch keine so in die Augen springenden Gründe in sich hat, um andere von seiner Richtigkeit überzeugen zu können. Kluge Männer nehmen daher zur Gottheit ihre Zuflucht, um dieser Schwierigkeit Herr zu werden" (Discorsi I I I ) . Das gleichwohl innerlich distanzierte Verhältnis Machiavellis zur Religion hängt mit seiner Verurteilung des Papsttums zusammen. Das Beispiel der Kurie habe zur Verrohung der Sitten und zum Verlust der Religion geführt; zugleich habe die Politik der Kirche Italien in ständiger Zersplitterung gehalten (Discorsi I 12). Machiavelli befürwortete daher eine Florentiner Außenpolitik, die sich von der Kurie emanzipierte; er schilderte in seiner Geschichte von Florenz den Konflikt zwischen Florenz und Papst Gregor XI. (zu Avignon), der die Stadt mit dem Interdikt belegte und gegen den die mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattete Beamten der „Acht", Gegner der guelfischen Fraktion, den Kampf aufnahmen. Sie erfüllten ihren Auftrag so gut, dass sie Jahr um Jahr wiedergewählt und die „Heiligen" genannt wurden, „obgleich sie das päpstliche Interdikt wenig geachtet, die Kirchen ihrer Güter beraubt, den Klerus zum Messelesen genötigt hatten. Um so viel höher schlugen jene Bürger das Wohl des Vaterlandes an als ihr Seelenheil" (Geschichte von Florenz 147-148; vgl. die Diskussion bei Arendt Über die Revolution 46-47). Auffällig ist allerdings, dass Machiavellis Beispiele für die gute Wirkung eines politischen Gebrauchs der Religion sich letztlich von Herrschaftsmitteln wie Täuschung oder Missbrauch des Glaubens nicht unterscheiden lassen. Statt zu erwähnen, wie die mittels Religion für sakrosankt erklärten Tribunen ihre Position den Konsuln faktisch ebenbürtig machten und dadurch den Ausgleich im ständischen Konflikt auf institutioneller Ebene herbeiführen halfen, erwähnt Machiavelli lieber Beispiele patrizischer Verwendung der Religion, um die Plebs gegen die tribunizische Politik einzustimmen (Discorsi I 13-15). Die Diktatur als freiheitliche

Einrichtung

Machiavelli plädierte für die Diktatur als freiheitssichernde Einrichtung. Jede Republik sollte sie aus freien Stücken als grundsätzliche Möglichkeit vorsehen und nicht erst dann einführen, wenn die äußeren Umstände keine andere Wahl mehr lassen. Machiavelli definierte Diktatur als Beschlussfassung ohne Beratung, Vollzug ohne Einrede (Discorsi I 3334). Im äußeren wie im inneren Notstand wird die beratende und exekutive Funktion auf eine Person vereint und dies auf Zeit. Ihr Ziel ist die Verteidigung der bestehenden politischen Ordnung. Die Unterwerfung der Bürgerschaft unter das Diktat erfolgt freiwillig zum Schutze der Freiheit. Die Diktatur ist das letzte Mittel zur Verteidigung der Freiheit unter dem Gesetz. Sie suspendiert das Gesetz um der Schaffung eines Zustandes willen, in dem das Gesetz wieder sinnvoll greifen kann. Wie in der römischen Republik will Machiavelli die Amtszeit des Diktators nur auf die kurze Dauer von sechs Monaten begrenzen. Ihm soll keine Gesetzgebungsgewalt zustehen, so dass die Kompetenzen von Senat und Volk nicht berührt werden. Kompetenzen werden suspendiert, nicht durch die Diktatur ersetzt. Machiavelli wusste allerdings um die Gefahren einer auch nur temporären Konzentration der Machtmittel in einer Hand. Seiner Ansicht nach war aber nicht die Kompetenzfülle als solche gefährlich, sondern erst Einschränkungen der Verfassung aus Furcht und Not heraus. Sieht nämlich die Verfassung keine Institution für den Umgang mit extremen Gefah-

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rensituationen vor, wird man die Verfassung brechen müssen, um solche Situationen zu überstehen. Was in bester Absicht und mit größter Zustimmung erfolgen mag bleibt ein Verfassungsbruch, der die Autorität der Verfassung erschüttert und die Disziplin der Bürgerschaft untergräbt, der Verfassung Gehorsam zu leisten. Die Verletzung der Verfassung unter dem Vorwand des Erhalts der Republik kann sich dann schließlich gegen die Republik wenden (Discorsi I 34). Nur wenn in Freiheit und ohne äußerlichen Druck eine Institution wie die Diktatur eingerichtet wird, kann sie ihre nützliche Wirkung entfalten. Wie alle Ämter steht auch die Diktatur in einer Wechselbeziehung zur moralischen Verfassung der Bürgerschaft. Die Diktatur ist laut Machiavelli unproblematisch, wenn sie im Umfeld einer tugendhaften Bürgerschaft ausgeübt wird (Discorsi I 34). Der republikanische Diktator stand allerdings auch nicht an der Spitze eines bürokratisch-militärischen Apparates, wie er für den modernen Staat kennzeichnend ist. Machiavellis Analyse der Diktatur als freiheitlicher Institution hat maßgeblich die republikanische politische Sprache geprägt, namentlich bei Algernon Sidney, James Harrington und Rousseau, die allesamt die magistratische Struktur der Diktatur ins Zentrum stellten (Fink 1962). Sidney etwa betonte, dass der Diktator gewählt wird und seine Wirkung von der Tugend der Bürgerschaft abhängt (Discourses Concerning Government II 13; II 28). Diese Argumentation richtete sich ausgangs des 17. Jahrhunderts gegen Robert Filmer, der laut Sidney die absolute Monarchie als moderne Variante der Diktatur reformulieren wollte (Patriarchia). Sidney wie zuvor James Harrington standen unter dem Eindruck von Oliver Cromwells Republik, die von ihren Gegnern als Diktatur im Sinne von Willkürregime bezeichnet worden war. Harrington bemühte sich daher, diesem Urteil entgegenzuwirken. Er nannte die Diktatur ein Gift, dessen Wirkung wie in der Medizin von der Dosierung und der Konstitution des erkrankten Körpers abhängt (Oceana 1656, 19. Ordnung). Die Diktaturkompetenzen ruhen in seinem Modell nicht in der Hand einer Person, sondern in der sog. „Junta", ein militärischer Rat, der im Falle der Krise der Republik durch Zuwahl um neun Mitglieder der Legislative erweitert wird. Vorbild für den Gedanken einer diktatorischen Amtsmacht in den Händen eines Gremiums war fur Harrington der Rat der Zehn aus der venezianischen Verfassung. Dessen Prinzip der Einstimmigkeit, das Machiavelli erwähnt hatte, nennt Harrington allerdings nicht. Vor allem übernahm Harrington nicht das Merkmal der ständigen Einrichtung dieser im venezianischen Kontext so berüchtigten Institution, sondern verlangte einen besonderen, auf nur drei Monate beschränkten Auftrag. Harringtons Gremium, dessen Erlasse mit „Dictator Oceanae" signiert werden, darf Gesetze erlassen, deren Geltung von vornherein auf ein Jahr begrenzt ist und die vor Ablauf dieser Frist durch Senat und Volk wieder aufgehoben werden können. Ihre Fortgeltung über das Jahr hinaus bedarf wiederum der Bestätigung durch Senat und Volk. Auch Rousseau folgte ein Jahrhundert später der republikanischen Argumentation und definierte die Diktatur als Suspension der legislativen Autorität (Contrat Social IV 6). Die Diktatur hat eine eigentümliche Ideengeschichte (Neumann 1986b). Sie ist geprägt durch die altrömische Institution der Diktatur, die Machiavelli durch Livius vertraut war (.Römische Geschichte II 18, 8; II 30, 4-6; VI 38-40). Der Diktator wurde für eine bestimmte Zeit zur Erledigung einer konkreten Aufgabe gewählt, welche die Konzentration der Kompetenzen zur Voraussetzung hatte, meist Kriege und innere Unruhen. Das Merkmal der begrenzten Dauer wurde noch eingangs des 19. Jahrhunderts als entscheidend ange-

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sehen, die Vorstellung einer „dictatura perpetua" hielt Friedrich Schlegel für widersinnig {Republikanismus 1796), die Diktatur sei ein transitorischer Begriff. Noch das liberale Staats-Lexikon diskutierte im Vormärz die Diktatur vor dem Hintergrund der Republik (Schulze-Bodmer, Dictator, Diktatur 395-396). Etwa 1800 setzte jedoch ein rapider Bedeutungswandel ein (Hofmann 1986). Die Berufung auf die Republik als Verständnisfolie der Diktatur wurde im 19. Jahrhundert immer seltener und der Übergang der römischen Republik zum Kaisertum in Gestalt der Diktatur auf Lebenszeit von Gaius Julius Caesar zur wichtigsten Referenz des modernen Diktaturbegriffs. Caesars Diktatur war die institutionelle Antwort auf anhaltende, strukturbedingte Unruhen. Sie bekam mit Napoleon Bonaparte, der zum Konsul auf Lebenszeit ernannt wurde und auf diese Weise die Revolution für beendet erklärte, den Charakter der Ordnungsgarantie gegenüber revolutionärer Gärung. Den Vergleich mit Caesar legte Napoleons Bruder Lucien in einer Broschüre nahe (Paralelle entre Cesar, Cromwell et Bonaparte 1800, bei Groh 1972, 735). Die französische Julirevolution und schließlich die europäischen Revolutionen des Jahres 1848 riefen die Diktatur als Instrument zur Niederschlagung der revolutionären Kräfte erneut wach, so dass in den polemischen Auseinandersetzungen der Tagespolitik die Diktatur zur Bezeichnung der Reaktion wurde. In Spanien äußerte Donoso Cortes (1809-1853), ein katholischer Politiker mit gegenrevolutionärer Zielsetzung, dass nicht Freiheit oder Diktatur das gegenwärtige Gegensatzpaar seien, vielmehr die Diktatur in ganz Europa unvermeidbar werde und nur noch die Wahl bliebe, wer sie ausübt: die Straße („Diktatur der Empörung," „Diktatur von unten") oder die Regierung {Rede vom 4.1.1849, ed. Maier 208). In einer Gegenbewegung hierzu wurde der Diktatur der Reaktion eine Diktatur des revolutionären Fortschritts entgegengesetzt. Bereits Lorenz von Stein bezog 1850 aus dem revolutionären Sprachgebrauch den Ausdruck „Diktatur der reinen Demokratie" {Geschichte der sozialen Bewegung I 131, 402, 452, 332). Karl Marx schließlich prägte die Formel „Diktatur des Proletariats," ohne ihr je eine institutionelle Gestalt zu verleihen. Der maßgebliche Unterschied zur Reaktion bestand darin, dass hier stets von einem Kollektiv als Träger der Diktatur die Rede war, hinter deren Gewalt sozialhistorische Kräfte standen. Die Formel kam immer dann zur Anwendung, wenn hervorgehoben wurde, dass auch die Emanzipationsbewegung des Proletariats wenigstens phasenweise eine politische Gewaltherrschaft sein kann. Sie wurde von Marx gegen den zu stark reformerisch und pazifistisch anmutenden Flügel der Sozialdemokratie gerichtet. Erst Lenin hat die Formel zum Bannerspruch erhoben und die Partei als Avantgarde einer professionell vorbereiteten Revolution definiert. Während der Weimarer Republik konkurrierten anfangs die Vorstellung einer nach bolschewistischem Modell agierenden Diktatur des Proletariats und die liberale Idee einer Nationalversammlung miteinander. Vor diesem Hintergrund legte Carl Schmitt 1921 die bis dahin umfangreichste ideengeschichtliche Arbeit über die Diktatur vor {Die Diktatur). Für ihn bedeutete Diktatur entweder der Willen, die verfassungsmäßige Ordnung zu erhalten (kommissarische) oder sie überhaupt erst begründen und in Kraft setzen zu wollen (souveräne Diktatur). Schmitt wollte nachweisen, dass Diktatur und Demokratie nicht gegensätzliche, sondern komplementäre Begriffe sind. Das liberale Freiheitsverständnis war dagegen in Schmitts Augen ganz unpolitisch, stand also nicht nur im Gegensatz zur Diktatur sondern zur Politik überhaupt. Die demokratische Revolution definierte Schmitt als

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souveräne Diktatur und setzte sie der Diktatur des Proletariats entgegen. Schmitt zog für seine Beweisführung Machiavelli heran, im Hintergrund wirkte jedoch Donoso Cortes. Mit der Durchsetzung autoritärer, schließlich totalitärer Regime erhielt der Begriff der Diktatur im politischen Denken die Bedeutung eines antiliberalen, von verfassungsstaatlichen Begrenzungen vollständig losgelösten Willkürregimes. Zum Ende der Zwischenkriegsperiode erschienen weitere Diktaturstudien, die auf diese begriffliche Entwicklung eingingen. Der britische Historiker Alfred Cobban nannte Regime wie das faschistische Italien oder das Dritte Reich „totalitäre Diktaturen" und kritisierte 1939 Schmitts Ansatz {Dictatorship in History and Theory 335-346), und zwar aus ähnlichen Gründen wie kurz zuvor Carl Joachim Friedrich in den USA: Schmitts zu diesem Zeitpunkt bekannte Unterstützung des Dritten Reichs nährte die Vermutung, seine begriffliche Unterscheidung habe von Anfang an den Übergang von einer anfanglich kommissarischen zu einer souveränen und damit von einer verfassungsmäßigen zu einer verfassungsrevolutionären Ausnahmegewalt erleichtern wollen (Constitutional Government and Politics 1937, 208-223). Cobban wie Friedrich wollten den modernen Diktaturen die Legitimität entziehen, die ihnen die republikanische Diktaturidee verleihen könnte. Für sie alle war Machiavelli die entscheidende Referenz. Während Machiavelli innerhalb des florentinischen Diskurses eine Außenseiterrolle spielte, von Bekannten und Freunden wie Vettori und Guicciardini dafür kritisiert, unbedacht das römische Exempel auf ihre Gegenwart übertragen zu wollen, ist seine diachrone Bedeutung kaum zu unterschätzen.

Republikanische

Institutionentheorie

In Harringtons Umformung des Begriffs der Diktatur, deren Wirken nicht mehr von der Tugend ihres Inhabers abhängt, sondern vom institutionellen Arrangement bestimmt wird, zeigte sich eine Wandlung der republikanischen Argumentation, der in Machiavellis Zeit von Francesco Guicciardini eingeleitet wurde. Guicciardini und Harrington verlegten den Ort der Tugend in die Institutionen, wo Akteure gezwungen werden, sich so zu verhalten, wie es das Gemeinwohl verlangt. Hinzu kommt, dass diese Autoren eher auf die spezifische Leistungsfähigkeit einer Elite und weniger der Bürgerschaft im ganzen vertrauen. In dieser Sicht schaffen Institutionen erst Bedingungen tugendhaften Verhaltens. Francesco Guicciardini (1483-1540) entstammte einer der florentinischen Familien, die zur Klientel der Medici gehörten (Moulakis 1998; Cadoni 2000; Reinhard 2004). Er begann früh die Ämterlaufbahn und legte bereits als junger Mann eine Storie Florentine vor, die bis in die unmittelbare Gegenwart des Autors reichte. Trotz des Stolzes auf seine florentinische Herkunft begründete Guicciardini seine eigentliche Karriere erst in den Diensten Leo X. und Clemens VII., der Medici-Päpste. Guicciardini war päpstlicher Gesandter in Modena um 1525, wurde 1527 päpstlicher Generalissimus und im Kampf Clemens' VII. mit den Habsburgern als Kriegskommissar nach Florenz entsandt, das abtrünnig zu werden drohte. Er musste vor dessen populären Regime nach Rom fliehen, nachdem die päpstliche Autorität 1527 durch den Sacco di Roma kurzzeitig verloren gegangen war. Bis zu seinem Tode schrieb Guicciardini an seiner Geschichte Italiens, in welcher er u.a. als einer der ersten Theoretiker den Gedanken der Mächtebalance als Merkmal internationaler Stabilität formulierte (das Verhältnis der Staaten sei im „modo bilanciata", im ausgeglichen Zustand (Storia d'Italia, 1561 gedruckt, Einleitung; Friedrich 1953, 95; Fenske 1975). Die Verfassung der

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III Die Wiederentdeckung des Politischen in der Frühen Neuzeit

Vaterstadt analysierte er im Dialogo dell Reggimento di Firenze, woran er bis 1526 schrieb (Reinhardt 2004, 188). Die Ricordi stellen eine Sammlung von Aphorismen zur Politik dar. Guicciardini und Machiavelli waren in tiefer und zugleich kritischer Freundschaft verbunden und verkörperten doch zwei Pole florentinischen politischen Denkens (Gilbert 1984). Guicciardinis Considerazioni zu den Discorsi Machiavellis diskutieren die zentralen Unterschiede in ihren politischen Theorien; er schrieb sie, als die Discorsi für den Druck vorbereitet wurden (ed. James V. Atkinson/David Sices, DeKalb/Il. 2002; Philipps 1977, 81-92). In der Considerazione zu Discorsi I 3 lehnte er Machiavellis Ansicht ab, man müsse die Menschen so behandeln, als wären sie notwendig schlecht. Statt dessen meint Guicciardini, dass die Menschen zum Guten angelegt, oft aber zu schwach sind, dadurch die eigenen Handlungen anzuleiten. Daher kann man beim Aufbau einer politischen Ordnung die Möglichkeit gutwilliger Bürger nicht außer Acht lassen. In der Diskussion zu Discorsi I, 12 teilt Guicciardini nicht Machiavellis Meinung, die römische Kirche hätte alle Mängel Italiens verschuldet. Femer teilte Guicciardini nicht Machiavellis Optimismus bezüglich der Bürgerschaft und ihrer Überlegenheit über Monarchie und Aristokratie und beklagte die vielen Mängel der „multitudo" (zu Discorsi I 29 und 58). Grundsätzlich lehnte Guicciardini die Methode Machiavellis ab, die römische Geschichte als Folie des Verständnisses seiner eigenen Zeit zu gebrauchen (zu Discorsi I 49). Eine starke römische Republik hätte niemals Raum gelassen für die florierenden Stadtkultur Italiens, für die Florenz Zeugnis ablegt. Statt dessen sollte man lieber nach gegenwärtigen als nach antiken Modellen suchen. Was sind die Antriebskräfte menschlichen Handelns und wie wirken sie sich auf die Tugend und diese auf das Gemeinwohl aus?, lautete Guicciardinis Fragestellung. Nicht alles, was tugendhaft wirkte, sei aus Selbstlosigkeit und Hingabe für das Gemeinwohl erfolgt. Bei der bürgerschaftlichen Leistungsbereitschaft verbinde sich das persönliche Interesse mit öffentlicher Anerkennung und Ehrgeiz (ambizione). Die ambizione ist laut Guicciardini die Fortbildung der feudalen Ehre, die nach dem Sieg der Urbanen Bürgerschaft über die Adelsgeschlechter in der Stadtrepublik ein neuartiges Betätigungsfeld fand und fur Unruhe sorgte (Pocock 1975, 133-135). Guicciardini hielt aber den Adel als Leistungselite für einen unverzichtbaren Bestandteil der Republik. Im Gegensatz zu Machiavelli basiert die Republik in Guicciardinis Augen auf der zentralen Stellung der Elite und nicht der Bürgerschaft als ganzer. Er bewertete daher die florentinische Verfassung skeptischer als Machiavelli und erkannte in ihr nicht die von Bruni gefeierte römische Republik wieder, sondern ein neuartiges Regime verhüllter Machtverhältnisse, die besser durch strenge Gesetzesherrschaft als durch breite Partizipation kontrolliert würden. Denn die breite Bevölkerung sei zur republikanischen Selbstregierung außerstande und bedürfe elitärer Führung. An die Stelle der Suche nach den „regola" in der Politik tritt die discrezione des Politikers, das Urteilsvermögen (Ricordo Nr. 6). Venedig mit seiner Adelselite und nicht das alte Rom war für Guicciardini das große Vorbild. Die venezianische Republik wurde nicht nur von Touristen für ein wahres Wunder gehalten, die bereits in der Spätrenaissance kamen, weil die Lagunenstadt für ihre Fähigkeit zur Befriedigung zahlreicher Begehren bekannt war, sondern auch von den politischen Theoretikern (Martin/Romano 2000). Sie besaß das ungewöhnliche Attribut der Dauerhaftigkeit, was in den Augen der Anhänger der republikanischen Ordnung besonders erstrebenswert war, widerlegte dies doch die Vorwürfe ihrer Gegner, Republiken neigten zu inneren Wirren und seien deshalb eine leichte Beute für Tyrannen. Venedig dagegen war seit Jahrhunderten eine stabile, leistungsfähige politische Ordnung mit einem Imperium entlang der Adria und

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im östlichen Mittelmeer. Für die meisten Beobachter dieser Zeit lag es daher nahe, in dem Regierungssystem Venedigs das erstrebte Ideal des Ausgleichs von republikanischer Freiheit und politischer Ordnung zu sehen. Man konnte bereits im 15. Jahrhundert auf bedeutende Stellungnahmen zu Venedig in der Geschichte des politischen Denkens zurückblicken: Ptolemäus von Lucca hatte den Dogen als den einzigen Inhaber fürstlicher Gewalt gepriesen, der nicht tyrannisch, sondern mannigfach moderiert regiert (in seiner Fortsetzung von Thomas von Aquins De regimine principum IV 8). Als der byzantinische Gelehrte Georg von Trebizond in der Einfuhrung zu seiner Übersetzung von Piatons Nomoi Venedig als den Idealstaat bezeichnete, den Piaton im Sinn gehabt hätte, machte ihn die Republik Venedig 1460 zum Inhaber eines Lehrstuhl für Rhetorik (Gilbert 468-469). Machiavelli lobte an Venedig die Fähigkeit zur Bewältigung von Extremsituationen (Discorsi I 34), die Effizienz der Justizverwaltung (Discorsi I, 49) und die Dauerhaftigkeit der Regierung {Discorsi I 50). Er kritisierte aber die Außenpolitik, die er im Vergleich mit dem alten Rom als mangelhaft angelegt ansah, da sie nur auf die Wahrung der bestehenden Macht, nicht auf deren Ausweitung bedacht sei (Cervelli 1974; Sullivan 1996, 62-66; Hulliung 1983, 49-50; abwägend Gilbert 1968, 488-489). Allerdings betrachtete er nur Venedigs Politik in Italien, nicht die expansive Politik des Handelsimperiums im östlichen Mittelmeer, wie er generell die maritime Grundstruktur zu unterschätzen scheint: er kritisierte die mangelnde Miliztradition der Lagunenstadt und vergaß, dass der Adel mit der Kriegführung zur See beschäftigt war. Am verfassungspolitischen Aufbau Venedigs missfiel Machiavelli, dass dort frühere Inhaber höherer Ämter es ablehnen, später Aufgaben von niederem Rang zu übernehmen und machte dafür die Grundstruktur dieser Aristokratie verantwortlich mit ihrem Ehrbegriff, der an Stelle der Tugend handlungsmotivierend wirke (Discorsi I 36). Allerdings vergaß Machiavelli zu erwähnen, dass auch in der römischen Republik ein früherer Konsul später nur pro-konsularische, also quasi-konsularische Ämter akzeptierte oder sich erneut um das Konsulat bewarb. Guicciardini begann seine Considerazioni zu Machiavellis Discorsi mit einer von seinem Freund abweichenden Einschätzung Venedigs (Considerazione zu Discorsi I I ) . Sein Interesse an Venedig lag in der zentralen Stellung, die der Aristokratie vorbehalten ist. Warum Machiavelli überhaupt die Herrschaft der multitudo erwägt, war Guicciardini schleierhaft, da man doch auf das Vorbild Venedigs verweisen könne, wo die Herrschaft der multitudo generell verhindert werde (Considerazione zu I 5). Guicciardini erblickte in Venedig die Umsetzung der Idee der Mischverfassung. Die kluge Anordnung der Handlungsstränge der in einer Republik wirkenden sozialen und ökonomischen Kräfte sei in Venedig so gestaltet, dass sie sowohl die Tugendhaftigkeit des einzelnen Politikers wie die diejenige der gesamten Bürgerschaft kompensiert, und zwar in beiden Fällen: wenn es an Tugend fehlt oder diese in überschießende Ambition übergeht und daher der Kontrolle bedarf. Guicciardini missachtete freilich Machiavellis bereits erörterte Bevorzugung eines dynamischen Modells der Mischverfassung im Gegensatz zum statischen, das Machiavelli mit Venedig identifizierte. Wie bereits erwähnt bevorzugte er die römische Variante (Discorsi I 2), in welcher das Volk für den Erhalt der Freiheit die Schlüsselstellung einnimmt. Venedigs Weigerung, neue Kreise in den Adel aufzunehmen durch die Beschränkung der Wählbarkeit in die höchsten Ämter auf eine bestimmte Anzahl von Familien (im Gegensatz zu den plebejischen Konsuln im alten Rom) nahm laut Machiavelli Dynamik aus dem Regierungsprozess heraus (Discorsi I 55). Ungeachtet der Kritik Machiavellis wuchs Venedigs Ansehen als konstitutioneller Hort der Freiheit in der politischen Diskussion der folgenden Jahre (Bouwsma 1968). Donato Gian-

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III Die Wiederentdeckung des Politischen in der Frühen Neuzeit

notti (1492-1573) lebte einige Monate in Padua und Venedig und begutachtete ihr Regierungssystem aus eigener Anschauung. Seine Deila Reppublica de' Veneziani beendete er 1527 (1540 gedruckt). Giannotti und dann Gasparo Contarini (De magistratibus et republica Venetrorum Paris 1543) haben Venedig einer theoretischen Analyse unterzogen und zugleich den Mythos fortgeschrieben (Pocock 1975, 272-330), hinzu kam später noch Paolo Paruta (Delia perfezione della vita politica 1579). Giannottis Darstellung von Venedig ist vielleicht der Höhepunkt der politischen Venedigliteratur (Gilbert 1968, 490-499). Die ungewöhnlichen Rahmenbedingungen Venedigs erlaubten freilich nicht, seine Verfassung auf andere Stadtrepubliken zu übertragen. In Giannottis Studie der florentinischen Republik (Republik von Florenz 1534) generalisierte er das venezianische Paradigma, indem er von der „virtü della forma" sprach, und darunter eine durch Institutionen vermittelte Tugend meinte. Man kann von einer Tradition des politischen Institutionalismus sprechen, die durch Argumente Machiavellis, Giannottis über Harringtons Theorie bis zu den Autoren der Federalist Papers reichte (Riklin 1997, 49; Bader 2000, 200). Gesetzmäßigkeiten über die Art und Weise politischen Handelns zwingen die Akteure in ein Verhalten, so dass sie auch ohne die dominierende Kraft persönlicher Tugend die Intentionen des Gesetzes erreichen können. Bedenklicher sind laut Giannotti eher die Möglichkeiten des falschen Ruhmes sowie der Fehlleitung der Ehre und Ambition (Republik von Florenz II 20, ed. Riklin 218-220). Nur aus diesem Grund bevorzugte Giannotti das soziale Ethos der Popolari vor demjenigen der Grandi, weil es sich leichter mit dem Allgemeinwohl verbinden lässt. Die Grandi gehen im Gegensatz zu den Populari der Grandezza nach, die weitaus schwieriger mit den Bedürfnissen des Gemeinwohls verknüpft werden kann (RepublikFlorenz III 3, ed. Riklin 233-236). Der christliche Staat: Calvin Die nicht nur von Machiavelli geübte Kritik an den Zuständen der Kirche in Italien führte dort nicht zur Reformation. Die Distanz Venedigs zum Papsttum strebte nicht seine Beseitigung als religiöser Autorität an. Diese Forderung wurde nördlich der Alpen gestellt, wo sich die religiös motivierte Kritik am Papsttum mit der Idee politischer Selbstregierung verband. Wenngleich das Luthertum (siehe Abschnitt „Mittelalter") auch in den Städten (Hamburg) prägend werden konnte, war es doch die von Johannes Calvin ausgehende Variante der Reformation, die besonders in der Urbanen Lebenswelt der oberdeutschen und eidgenössischen Städte wirksam wurde. Der Calvinismus sprach der Gemeinde die Obhut über die materiellen wie geistigen Belange der Bürger zu. Der Bürgergemeinde der Gläubigen wurde so ein Eigenwert beigemessen, der ein neuartiges Verständnis für die gegenseitige Verpflichtung der Bürger begründete. Dem Calvinismus kam eine politische Kultur entgegen, die von stadtstaatlicher Unabhängigkeitserfahrung geprägt war und amalgamierte zum „civic Protestantism" (Monahan 1994, 219). Zwingli und sein Nachfolger Heinrich Bullinger in Zürich, Martin Bucer in Straßburg und selbst Johannes Calvin in Genf mussten ihre kirchenpolitischen Vorstellungen auf die urbane Lebenswelt übertragen und so immer wieder auch inhaltlich anpassen. Es waren gerade Städte, die im Widerstand gegen die zeitweilig militärisch siegreiche katholische Seite des Kaisers im Deutschen Reich die Selbständigkeit der Gemeinde, die Hoheit der „niederen" Behörden und ihr Widerstandsrecht postulierten. Nach dem Sieg im Schmalkaldischen Krieg und der religionspolitischen Kompromissformel des „Interims" auf dem Augsburger Reichstag von 1555 widersetzten sich Reformatoren wie Matthias Flacius und Nikolaus von Amsdorf in Magdeburg der Kompromisspolitik Melanchthons. Bei dem Ver-

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such, Magdeburg mit Waffengewalt zur Übernahme des Interims zu zwingen, überschütten die Verteidiger und ihre Anhänger die Öffentlichkeit mit Flugschriften. Der erfolgreiche Widerstand Magdeburgs trug die Widerstands- wie die Gemeindeidee über Deutschland hinaus nach England und in die Schweiz, wo der Calvinismus sie aufgriff (Grünberger 1999; Whitford 2001). Der Anteil des Calvinismus an der politischen Theorie der Moderne wird in der Forschung kontrovers eingeschätzt. Seine Auswirkungen lassen sich in zweierlei Richtungen unterscheiden: Zum ersten wurden der individuellen Leistung des Einzelnen im Rahmen seiner weltlichen Betätigung eine Bedeutung verliehen, die sie zuvor nicht hatte. Dies trug maßgeblich zur Schaffung des bürgerlichen „Geistes", des Arbeits- und Leistungsethos bei: die erwirtschafteten Ressourcen werden nicht zur Konsumtion freigegeben, sondern reinvestiert. Das jedenfalls ist die berühmte, noch heute diskutierte These Max Webers im Geist des Kapitalismus. Arbeit dient nicht der Befriedigung der Lebensbedürfnisse alleine, sondern hat einen intrinsischen Wert, weil an ihrem Erfolg indiziell die göttliche Erwähltheit des Arbeitenden ermessen (nicht ermittelt oder berechnet) werden kann, die „Gnade", die er vor Gott erfahrt und somit die Zugehörigkeit zu seinem auserwählten Volk. Zum zweiten gibt der Calvinismus dem Gestaltungswillen der gläubigen Gemeinde eine Legitimation, die sie zuvor nicht hatte, da sie den Umbau der sozialen Lebenswelt hin zu einer gottgefälligen Lebensführung verantworten muss. Daraus erwächst im späteren Puritanismus eine Art politischer Radikalismus (Michael Walzer 1965). Beiden Interpretationen kann man vorhalten, den Calvinismus aus einer ex post-Sicht einzuschätzen (Hancock 1989, 164-194). Man kann auch kritisieren, dass zu einsinnig Wirkungen einer einzigen Quelle zugesprochen werden, deren gesuchte Charakteristika sich in mehren Fäden der Ideengeschichte wiederfinden und die erst als Amalgame und institutionelle Agglomerationen dauerhafte Wirkung haben. So nennt Walzer die innere Disziplin von Oliver Cromwells New Model Army aus der Zeit der Englischen Revolution im 17. Jahrhundert als Beispiel der durch den Calvinismus geprägten Selbstdisziplinierung. Darin erkennt er eine parallele Wirkung zum Arbeitsethos, das Max Weber als Kennzeichen des Calvinismus dargestellt hatte (Walzer 1965, 13). Doch eben diese militärische Selbstdisziplin war mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor in den Niederlanden erstmals vorexerziert worden, dort aber in einer Mischung aus calvinistischer Grundstimmung und einer am Neo-Stoizismus orientierten Elitenideologie, die nicht religiös motiviert war. Vor der Aufstellung solch weitreichender Thesen wird man besser zunächst die kontextuellen Bedingungen der Genese und Geltung einer bestimmten Formation politischen Denkens klären müssen. Calvin selbst war nicht so sehr an der Liebe Gottes interessiert, der ihn auch nicht als furchtbarer Gott so stark seelisch erschütterte wie Luther. Seine Rationalität ist juridisch-praktisch. Wie die Herrschaft Gottes auf Erden zu gewährleisten ist, lautet die Frage, die bereits in der Praefatio seines Hauptwerks, der Institutio Christianae Religionis, durchscheint. Jean Calvin (1509-1564) wuchs im französischen Kulturraum auf. Er wurde in Kollegien von Paris erzogen und studierte in Orleans Rechtswissenschaften, darunter bei Andreas Alciat, einem berühmten Lehrer und Methodiker des Römischen Rechts. Neben humanistischen Studien verfasste Calvin einen Kommentar zu Senecas De dementia. Im Strudel der Reformation fühlte er sich frühzeitig dazu berufen, an der Reform der Kirche teilzuhaben. In seinem anfänglichen Wanderleben kam er über Straßburg nach Basel und lernte die südwestdeutsche Variante der Reformation durch so herausragende, auch humanistisch denkende Köpfe wie Bullinger, Bucer und Capito kennen. In Basel veröffentlichte Calvin auch die erste Fassung

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der Institutio Christianae Religionis (1536). Sie hatte zunächst nur sechs Kapitel und wurde erst in der weiteren Bearbeitung zu jener Dogmatik, die in der Ausgabe von 1559/1560 schließlich vier Bücher in 80 Kapiteln umfasst (zur Textgeschichte vgl. Wendel 1963, 112122). Von einem Italienaufenthalt nach Straßburg zurückkehrend machte er in Genf im Juli/August 1536 Station. Im Mai des Jahres hatte sich die Stadt feierlich zur Reformation bekannt als unmittelbares Ergebnis einer Disputation des Vorjahres zwischen Altgläubigen und reformierten Theologen. Dahinter stand aber auch das politische Freiheitsbegehren der Stadt, welche sich von Savoyen wie vom dortigen Bischof emanzipieren wollte. Die Stadtväter verknüpften mit der Reformation also auch politische Ziele, was erklärt, dass sie entgegen den Plänen Calvins den Geistlichen nie die völlige Unabhängigkeit zugestanden. Calvin wurde erst nach Fertigstellung der letzten Auflage der Institutionen Bürger Genfs. Die Gemeinde war für ihn schon vorher der Focus seines Denkens gewesen. Daraus hat die frühere Forschung einen Zusammenhang mit dem Republikanismus oder sogar der Demokratie gefolgert (Baron 1938; McNeil 1949). Als Prediger verfasste Calvin bereits 1536 eine neue Gemeindeordnung. Sie wurde im Januar 1537 dem Rat vorgelegt (seinerzeit noch offiziell unter Federführung Wilhelm Farels, der vor Calvin die Reformation in der Stadt eingeleitet hatte). Calvin nutzte die Gelegenheit und formte am grünen Tisch die Stadt zu einer christlichen Gemeinde um, die nach dem Evangelium leben sollte. In gegenseitiger Zucht sollte der Lebenswandel kontrolliert und gebessert werden, damit die Bürger des Abendmahls würdig werden. Zucht und Disziplin herzustellen war Aufgabe der Obrigkeit, wobei ähnlich wie im Luthertum auch die Institutionen von Elternschaft und Familie als Teil der Obrigkeit zwecks Erziehung der Kinder gesehen wurden. Hinzukamen öffentliche Institutionen wie die Schule, die Krankenversorgung und die Armenpflege. Man tauschte das verhasste Regiment des Bischofs mit dem neuen Regiment der Reformation, die ihr Anliegen kompromisslos ernst nahm. Die Stadt jedoch wollte weder diejenigen vom Abendmahl ausschließen, die den Eid auf die neue Gemeindeordnung verweigerten, noch beachtete sie den Protest der Reformatoren gegen Zeremonien, die man in Anlehnung an Bern, das Genf politisch und militärisch Schutz gegen Savoyen gewährte, übernahm. Die starre Haltung der Reformatoren führte zu deren Ausweisung. Calvin zog nach Basel, zeitweilig nach Straßburg und schrieb die zweite, stark erweiterte Fassung der Institutio (1539, französische Übersetzung 1541). Die nun in Genf erst recht ausbrechende Anarchie führte zu einem raschen Sinneswandel der Führung. Sie ersuchte Calvin bereits im Oktober 1540, zurückzukehren. Aufgehalten durch die europäische Ebene der Reformation (Regensburger Religionsgespräche) kehrte Calvin erst im September 1541 nach Genf zurück und legte eine neue Gemeindeordnung im November vor. Sie war den Anforderungen des Gemeindelebens angepasst und flexibler in der Anwendung. Calvin mag von dem Vorbild der Kirchenorganisation Martin Bucers in Straßburg profitiert haben. Dem Straßburger Vorbild folgend sah die neue Genfer Gemeindeordnung die vier Ämter von Predigern, Lehrern, Presbytern und Diakonen vor. Erst mit der Erfahrung der stadtstaatlichen politischen Systeme bekam Calvin ein Gespür für die soziale und politische Verortung seines eigentlich auf die gesamte Kirche angelegten Reformationsbestrebens. In der Erstfassung der Institutio war von der Republik noch keine Rede. Sie legitimierte zunächst die Monarchie als eine von der offenbarten Schrift zur Beherrschung der menschlichen Bosheit eingesetzte obrigkeitliche Einrichtung (VIII20, 7). Erst die Fassung von 1543 fügte die berühmte Stelle hinzu, welche der Republik ein überschwänglichen Lob erteilte, und zwar als Beispiel für eine Ordnung, in welcher die Bürger mit größtem

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Eifer an der Aufrechterhaltung der Obrigkeit arbeiten und sie auch respektieren (IV 20, 8; Troeltsch 1994, 684-685; Kingdon 1987). Der Augsburger Religionsfriede zwischen den Katholiken und den Lutheranern im Reich schloss die Reformierten nicht ein, was Genf nur noch enger an den Glauben band, der nun auch noch stärker identitätsstifitend wirkte (Roney/Klauber 1998). Das Prinzip gegenseitiger Aufsicht konnte schließlich in die Genfer Kirchenverfassung aufgenommen werden. Calvin führte 1557 den Kleinen Rat ein, der in geheimer Tagung gegenseitige Kritik in brüderlicher Sorge übt. Ohne Ansehen der Person sollte die Gemeinde den Lebenswandel beaufsichtigen, ermahnen und notfalls bestrafen. Darin liegt mittelbar ein egalitäres Moment, das viele Patrizier bitter empfanden; zugleich trug Calvin damit zum Gedanken des Sozialitätsprinzips bei. Der Bund Gottes und der Menschen untereinander inspirierte ihn zu dem Gedanken, dass die Nächstenliebe ein verpflichtendes Sozialverhältnis sei, was schließlich die spätere Ausprägung des Sozialitätsprinzips durch Erastus, Danaeus, Althusius und vor allen Dingen durch Grotius prägte (Schneider 1967, 121-122). Die Institutio griff abgesehen von der Theorie der Gemeinde nur sporadisch politische Fragen auf: in der Dedikation an Franz I., in dem Kapitel zur christlichen Freiheit in Buch III und vor allem im berühmten Schlusskapitel zur Regierung (IV 20). Auch in seinen Kommentaren zum Römerbrief des Paulus und zum Buch Daniel Aussagen sind politisch relevante Fragen behandelt. Generell gilt das Recht des Alten Testaments als von Gott gegeben, der damit dem Menschen den Sinn für das Naturrecht einpflanzen wollte (Institutio II 8, 1). Hinter dem geschriebenen Wort findet sich die „ratio" des Naturrechts, für welche das geschriebene Wort nur Zeugnis ablegt (IV 20, 16). Vor dem Hintergrund der Münsteraner Wiedertäufer-Bewegung stellte sich Calvin vehement gegen anarchische Experimente; selbst ein heidnischer Staat verdient Gehorsam. Die Gehorsamspflicht besteht auch gegenüber Tyrannen: sie sind von Gott zur Bestrafung der Sünde eingesetzt; auch eine tyrannische Amtserfüllung befreit den Untertanen nicht von seiner Gehorsamspflicht, Widerstand ist ihm verboten (Wolf 1972). Hinzu kommt die augustinische Überlegung, dass tyrannische Herrscher eine eigene, wenn auch unbewusste Mission zur Bestrafung eines korrupten Volkes haben können. Freilich wird im Römerbrief (13, 1) von höherer, nicht von der höchsten Gewalt gesprochen, wie Calvin im Unterschied zu Luther betonte. Kein Herrscher hat größere Macht als Gott, ihm gebührt eher Gehorsam als den Menschen. Als Konsequenz hieraus wertete Calvin niedere Obrigkeiten wie der magistratus populäres gegenüber Reich, Königtum und Papst erheblich auf. Sie können von Amts wegen die höhere Obrigkeit kontrollieren und notfalls auch absetzen, sofern sie dazu eingesetzt worden sind (IV 20, 31; Skinner 1978 II 232 zum Übersetzungsproblem). Alle Obrigkeit ist von Gott gewünscht, sie ist angesichts der Natur des Menschen auch erforderlich. Ihre Legitimation bezieht die Obrigkeit alleine von Gott, nicht aus dem Herrschaftsverhältnis. Daher stehen die Obrigkeiten auch jeweils gleichrangig zu Gott und insofern zueinander in einem Verhältnis der Ranggleichheit. Es ist die Amtspflicht des Königs zu herrschen wie es die Amtspflicht unterer Ränge ist, zu kontrollieren. Die Obrigkeit aber sie ist vielfältig strukturiert denkbar und nach Instanzen und Kompetenzen differenziert, die den jeweiligen Obrigkeiten eine Autorität verleiht, die auch durch ihre Einbindung in Amtshierarchien nicht verloren geht. Calvins historisches Vorbild hierzu waren besonders die spartanischen Ephoren (IV 31; vgl. Rawson 1991, 158-159). Kontrovers wird immer wieder diskutiert, ob in der Erwähnung der Ephoren bei Calvin bereits die in der späteren monarchomachischen Rezeption zum Vorschein gelangende Widerstandstheorie

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angelegt ist (Lloyd/Stein 1981; Ulimann 1981). Zeitgenössische Vorbilder Calvins waren ferner die Ständeversammlungen im Deutschen Reich und in Frankreich (IV 20 § 31). Das 20. Kapitel des vierten Buches war in allen Editionen enthalten. Aber erst in der Edition von 1543 fugte Calvin die Stelle hinzu, wonach Aristokratie oder eine durch die Aristokratie temperierte Demokratie die beste aller Regierungsformen sei. Die politische Präferenz ist demnach die „aristokratisch temperierte Republik" (Troeltsch 1994, 665). Die Aristokratie deswegen, weil es angesichts der Gebrechlichkeit und Unstetigkeit der Menschen besser sei, wenn mehrere Personen regieren, die sich gegenseitig beistehen und belehren können (IV 20, 8). Aristokratie meint hier also auch Kollegialität und vor allem Herrschaft der Besten. Die Verfolgung der Reformierten besonders in Frankreich führte Genf viele Nationalitäten zu, insbesondere Flüchtlinge aus Frankreich (Hugenotten). Calvin veranlasste die Einführung des passiven Wahlrechts für Neubürger, was die Integration erleichterte. Eine besondere Außenwirkung erreichte Calvin mit der Gründung der Akademie 1559. Ihr erster Rektor wurde Beza, ihre wichtigsten Schüler waren Olevanius, Philipp Marnix und besonders John Knox, der Reformator Schottlands. Die Mission war eine Forderung Calvins. Er dachte aber nicht an eine weltumspannende Kirche: die Auserwählten bleiben eine Minderheit, die es immer mit einer Mehrheit der Gefallenen zu tun hat. Das Volk Gottes gleicht eher Inseln im Meer der Gefallenen. Jede dieser Inseln bildet einen eigenen Bund mit Gott. Gedacht war aber an eine Art Bund vieler christlicher Gemeinden. Die Missionsbedingungen veränderten natürlich die politische Orientierung der Akteure. Calvin beschäftigte sich in Trostbriefen mit den Klagen der reformierten Gemeinden in Frankreich, die gegen die katholische Mehrheit zu bestehen hatten. Das duldende Leiden galt ihm als Teil der Auserwählung, ein traditioneller christlicher Topos (Martyrium). Calvin selbst blieb dem positiven Recht treu und nahm ein Widerstandsrecht der Magistrate nur dann an, wenn es in der politischen Ordnung vorgesehen war (Bohatec 1934, 177; Höpfl 1982, 213-214). Allerdings scheint er in seinem Kommentar zum Römerbrief, der zwischen 1552 und 1554 veröffentlicht wurde, den göttlichen Ursprung fürstlicher Autorität von der Amtsführung des Fürsten abhängig zu machen: der Fürst verliert demnach seine göttliche Legitimation, wenn er Gott nicht mehr achtet, und wird wieder zu einem gewöhnlichen Menschen, weshalb es keine Verletzung des königlichen Amtes ist, wenn man tyrannischen Edikten widersteht (Commentarium in Acta Apostolorum, Opera omnia, Bd. 48, 109 und 398, zitiert und diskutiert bei Monahan 1994, 230-231). Aber von welchem magistrates popularis war in Hinblick auf Frankreich die Rede? Calvin lies die für Frankreich entscheidende Frage, ob hierzu auch die Ständeversammlung zählt, mit einem kryptischen „vielleicht" offen. Die Generalstände hatten sich das letzte Mal drei Jahre vor Calvins Geburt getroffen. Die Bartholomäus-Nacht: Monarchomachen, Tyrannenmord und Volkssouveränität Calvin hatte vor seiner Genfer Zeit seine Hoffnung noch in den französischen König Franz I. gesetzt. Doch Franz war abgeneigt und sein Nachfolger Heinrich II. drohte sogar Verfolgung an, wenngleich sein Edikt von Econen von 1559 und der Aufruf zur ungestraften Tötung von Reformierten nicht rechtskräftig wurden. Die Verfolgung der Hugenotten, wie die Calvinisten in Frankreich hießen, blieb - mit Ausnahme von Heinrich IV. - die Politik der Könige bis zu Richelieu. Dies hatte auch damit zu tun, dass die politische Basis des Calvinismus in Frankreich in Teilen des Hochadels beheimatet war, der seinen ständischen Tradition folgend der königlichen Zentralisierungspolitik Widerstand leistete und für die religiöse Unterstützung dankbar war.

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Erst die Aufnahme weiterer Elemente wie insbesondere neue Quellen zum Widerstandsrecht und die Idee des Gesellschaftsvertrages schuf den politischen Calvinismus, sein Katalysator waren die Massaker in der Bartholomäus-Nacht vom 23. auf den 24. August 1572. Bis zur Bartholomäus-Nacht blieb die Stellung des Königs auch bei den Hugenotten unangefochten. Kritik richtete sich gegen die Regentschaft Katharinas von Medici für ihren unmündigen Sohn Karl IX. und seine Ratgeber. Die Bartholomäus-Nacht, in der mit Einwilligung des Königs Tausende von Hugenotten ermordet wurden, änderte den Frontverlauf der Argumentation dramatisch (Erlanger 1960; Sutherland 1973; Soman 1975; Papcke 1985; Kingdon 1988). Vorher auf Ausgleich bedachte Hugenotten verknüpften nun Calvinismus, Föderaltheologie und Gottesbundgedanken zu einer Theorie der Volkssouveränität. Calvin war zum Zeitpunkt der Bartholomäus-Nacht bereits tot. Er hatte zwar stets den Gehorsam gegen das geltende Recht verlangt. Immerhin aber gestattete er nach dem Massaker von Vassny 1562 den bewaffneten Widerstand der Protestanten gegen Usurpatoren in Frankreich (gemeint waren die Guise), nicht aber gegen den König (Skinner 1978 II, 302; Hancock 1989, 116). Die gegen legitime Throninhaber gerichteten hugenottischen Konspirationen fanden nie und hätten auch nie seine Zustimmung gefunden. Seine Lehre barg jedoch das Potential (Höpfl 1982, 210-211), bestehenden Ordnungen einen Maßstab anzulegen und das Widerstandsrecht institutionell einzufordern, ein Potential, das mit der Bartholomäus-Nacht akut wurde (Kingdon 1975). Weit davon entfernt, die Gewaltausübung zu verurteilen, wurde die Bartholomäus-Nacht im katholischen Lager geradezu gefeiert. Bereits im Oktober 1572 erhielt Giorgo Vasari von Papst Gregor XIII. den Auftrag, die Ereignisse zu verarbeiten. Vasaris Fresco-Tryptichon ist heute noch in der Sala Regia des Vatikans zu sehen. Die Antwort der Calvinisten war natürlich nicht bildlich, sondern schriftlich (ein Vergleich der Reaktionen in Rom und in Genf bei Kingdon 1975, 25-49) und bestand in einer Flut von politischen Schriften. In rascher Folge erschienen Francois Hotmans Franco-Gallia (1573, 3. Aufl. 1586) und im gleichen Jahr sein Le reveille matin. 1574 publizierte Beza Du droit des magistrats sur leur sujets, das unter dem Titel De iure Magistratum 1576 gekürzt und in Latein aufgelegt wurde. 1576 erwidert Jean Bodin die hugenottischen Angriffe mit den Les six livres de la Republique. 1579 erschien pseudonym der berühmteste Text jener Zeit, die Vindiciae contra tyrannos; im selben Jahr erreichte der Diskurs mit George Buchanans De iure regni apud Scotos England. Mit etwas Verspätung erwiderten katholische Autoren, die nach den Wendungen in der französischen Thronfolge mit der Möglichkeit eines protestantischen Königs konfrontiert waren und analog zu den Hugenotten gleichfalls mit Tyrannenmord-Modellen operierten. Für sie wurde die 1589 durch einen fanatischen Katholiken durchgeführte Ermordung Heinrichs III. von Frankreich, der sich gegenüber den Hugenotten als nachgiebig erwiesen hatte, zum Initialereignis. Das bereits weitestgehend fertig gestellte Buch von Jean Boucher erschien wenige Tage später (De iusta Henrici Tertii Abdicatione 1589). Das Vorwort der zweiten Auflage rief geradezu zum Mord an Heinrich IV. auf (Lyon 1591). Ähnlich gestimmt, aber maßvoller im Ton und grundlegend angelegt ist De iusta Reipublicae Christianae Authoritate von 1590 (nach späteren Auflagen der Feder eines Gulielmus Rossaeus zuzurechnen, hinter dem vermutlich William Reynolds stand). Beide stützten sich auf George Buchanan (Vahle 1974; Salmon 1991, 221-231). Man bezeichnete die Autoren dieses Diskurses oft als „Monarchomachen", eine von dem Stuart-Anhänger Wilhelm Barclay geprägte Bezeichnung. Er warf dieser Publizistik vor, gegen jegliche Autorität zu polemisieren (De regno et regale potestate adversus ... Monarchomachos 1600). Monarchos und machesthai meint wörtlich in etwa

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„bekämpfen der Alleinherrscher". Das Contra tyrannis im Titel eines dieser monarchomachischen Schriften ist präziser, weil nicht die Alleinherrschaft als solche bekämpft wird: zahlreiche Monarchomachen sind sogar Anhänger des Königtums; bekämpft wird die illegitime Alleinherrschaft, die Tyrannis (Stricker 1967, 3 spricht daher auch von "Tyrannomachen"; Dennert 1968, IX-X). Der Tyrannenmord ist nicht von den Monarchomachen erfunden worden. Unter den politisch motivierten Morden (Ford 1985) nimmt der Tyrannenmord einen besonderen Platz ein (drei unterschiedliche Darstellungsweisen: Neumann 1967b; Reibstein 1972 I, 125189; Turchetti 2001). Aristoteles sah in der Tyrannis eine zeitlich begrenzte Herrschaft, die in sich zusammenfällt. Im griechischen Diskurs galt der Tyrannenmord als eine durchaus vorbildliche Tat: Weil der Tyrann die Polis zerstört, besteht kein Eid und keine Verpflichtung ihm gegenüber, er steht außerhalb des Rechts und der Sitte (Berve 1969, 180). Einen anderen Argumentationsstrang begründete Augustinus. In seiner De Civitate Dei wählte er Nero als Schreckbild des Tyrannen, als „Gipfel des Lasters", dessen zügellose Ausschweifungen und grenzenlose Grausamkeit sprichwörtlich waren. Gleichwohl sei selbst in einem solchen Fall die Tatsache seiner Herrschaft bedeutungsvoll. „Auch solchen Menschen wird die Macht zu herrschen nur durch die Vorsehung des höchsten Gottes verliehen, und zwar dann, wenn sie urteilt, dass die Menschen solche Herren verdient haben" (Gottesstaat V 19). Augustinus bezieht diese Ansicht aus den Sprüchen Salomons:5 „Durch mich regieren die Könige, und durch mich herrschen die Tyrannen auf Erden" sowie: „Um der Verderbtheit des Volkes willen lässt er einen Heuchler herrschen." Hat das Volk also einen verderbten Herrscher, so muss es selbst verderbt sein. Auf dieser Grundlage bleibt Tyrannis ein Symptom des moralischen Zustande der Akteure wie der Betroffenen, darauf lässt sich aber keine Theorie des Widerstands gegen die Tyrannis errichten. Noch Calvin blieb auf dieser augustinischen Basis stehen und wagte keine explizite Widerstandstheorie. Eine solche lag jedoch bereits im Hochmittelalter und spätestens im 14. Jahrhundert vor. John of Salisbury (1115/1120-1180) war ein Ministeriale am englischen Königshof, mit Thomas Beckett befreundet und wurde, wie dieser ins Exil gezwungen; später war er Bischof von Chartres. Im Exil schrieb er das für seine Zeit ganz außergewöhnliche Werk Policraticus (1159; ed. Webb 1909; ed. Nederman 1990), das für seine Tyrannenlehre berühmt wurde. Der Policraticus fußt an den entscheidenden Stellen auf dem pseudo-plutarchischen Werk lnstitutio Traiani (ed. Klofit/Kerner 1992). Vermutlich hat Salisbury diese Schrift selbst gefälscht oder sie ist im literarischen Umfeld seiner Zeit entstanden (Kemer 1988; Anton 2004. Salisbury übertrug die organologische Körper-Metapher (Struve 1978) der Kirche auf den Staatskörper mit dem König an Stelle von Christus als Haupt, worin ein Säkularisierungsschub in der politischen Theorie gesehen werden kann (Eismann 1994). Der lnstitutio Traiani zufolge dient der Fürst dem Gemeinwohl. Seine Herrschaft muss den höchsten Ansprüchen der Billigkeit und Gerechtigkeit genügen und in rationaler Weise ausgeübt werden (Policraticus V 2: „et summae aequitatis agitur nutu et regitur quodam moderamine rationis"). Hierin bereits den modernen Staatsbegriff im Sinne einer von de

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Sprüche Salomons 8 , 1 5 und 16. Das augustinische „per me reges regnant et tyranni per me tenent terram" setzt das tyrannis dort ein, wo es in der Vulgata heißt: „per me reges regnant et legum conditores iusta decernunt," weshalb Luther richtig übersetzt mit: „Durch mich regieren die Könige und setzen die Ratsherren das Recht. Durch mich herrschen die Fürsten und alle Regenten auf Erden", zitiert nach Reibstein 1972 I 130.

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Herrscherperson unabhängigen Abstraktion zu sehen, ist eine in der angelsächsischen Literatur beliebte Vermutung (Berman 1991,443-463; relativiert bei Canning 1996, 110-133). Auch Salisburys Tyrannenlehre (Rouse/Rouse 1967; Forhan 1990) bezog sich auf PseudoPlutarch. Nicht das Laster oder das Böse alleine führen zur Tyrannis, es ist oft genug auch die bloße politische Ambition oder die Handlungskonstellation. Salisbury unterschied nach den institutionellen Kontexten, in welchen tyrannisches Verhalten auftreten kann und sprach vom privaten Tyrannen (beispielsweise im Haushalt), vom öffentlichen im Bereich der Politik sowie von kirchlichen Tyrannen (Priestern und höhere Ränge: Policraticus VIII 17). Entsprechend variierte Salisbury den gebotenen Umgang mit ihnen: die Spannweite reicht von der Duldung bis zur Kritik und verschiedenen Mitteln zu ihrer Besserung. Salisbury nannte aber als letztes Mittel auch die Ermordung, denn wenn Hochverrat des Todes würdig ist, dann erst recht tyrannische Herrschaft, welche den Fürsten zu einem öffentlichen Feind macht (III 15). Der Tyrannenmord ist nur gerechtfertigt, wenn sich kein anderes Mittel findet und der Tyrannenmörder frei von privaten Ambitionen oder persönlicher Rache ist (VIII 20). Die ungewöhnliche Stellung Salisburys zeigt sich auch im Vergleich mit Thomas von Aquins, der den Tyrannenmord ablehnte (Goertz 1970; Turchetti 2001, 267-274). Thomas nannte neben biblischen auch sachliche Argumente für die Ablehnung des Widerstandes gegen illegitime Herrschaft. Die Tyrannis ist in Thomas' Augen zunächst nur die entartete Gestalt der Monarchie. Schlechte Herrschaft ist zwar am gefahrlichsten, wenn die Monarchie entartet, am häufigsten aber bei den Herrschaftsformen zu finden, bei denen viele an der Regierung beteiligt sind. Nach Thomas steht der Tyrannenmord im Widerspruch zur apostolischen Aufforderung, das Unrecht zu leiden (De regimine principum I 6; vgl. Scripta super libros Sententiarum II Dist. 44., quaest. 2 artic. 2, engl, zitiert in: Political Writings 72-75). Vor allem jedoch warnt er vor der irreleitenden Hoffnung, dass der Tyrannenmord eine bessere Herrschaft nach sich zieht, biblische wie historische (vornehmlich römische) Zeugnisse aufführend. Oft folgen auf Tyrannen noch weitaus grausamere Tyrannen, die zuvor das Risiko des Mordes am amtierenden Herrscher auf sich genommen hatten. Daher wies Thomas die Eigenmacht zurück, für sich die Entscheidung zu fallen, einen Herrscher zu ermorden. Selbst dort, wo den Grundgesetzen zufolge das Volk das Recht der Einsetzung eines Königs hat und damit auch das Recht der Absetzung, wenn der König dem Volk untreu wird, verlangte Thomas einen allgemeinen Beschluss der Absetzung, am besten aber das Urteil einer höheren Instanz, worunter im Falle von Königen regelmäßig der Papst zu verstehen ist. Gleichsam tröstend fügte Thomas noch hinzu, dass im Falle des Scheiterns menschlicher Abhilfe das Gebet bleibe, Gott möge den Tyrannen hinwegfegen. John Locke wird später dieses christliche Argument in ein Argument des Krieges umwandeln, wenn er die Situation, nur noch an den Himmel appellieren zu können, als Kriegszustand deutet (Treatises II 20-21): Gott ist nun der einzige Richter und nicht wie bei Thomas Erlöser, der den um ihr Recht kämpfenden Bürgern beisteht oder auch nicht. Am Römischen Recht geschulte Legisten wie Bartolus di Sassoferrato legten eine Systematisierung der Tyrannei vor (Turchetti 2001, 294-298). In seiner Abhandlung Tractatus de Tyranno unterschied Bartolus zunächst zwischen der Tyrannis ex defectu tituli (die legitime Herrschaft ohne legitimen Herrschaftsanspruch: De tyranno 5-7) und der Tyrannis ex parte exercitii (die Herrschaft, die aufgrund ihrer besonderen Ausübung tyrannisch genannt werden muss: De tyranno 8-9). Danach richtet sich auch die Reaktion: der ohne legitimen

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Herrschaftsanspruch vorgehende Tyrann ist analog zum Hochverrat zum Tode zu verurteilen; für die tyrannische Herrschaftsausübung dagegen sieht Bartolus eine Reihe möglicher Sanktionen vor, die von zivilrechtlichen Ansprüchen bis zum Exil und schließlich zur Todesstrafe reichen (De tyranno 9-10). Gehorsam wird dem Tyrannen natürlich nicht mehr geschuldet. Offensichtlich ging Bartolus aber von einem gerichtsförmigen Verfahren aus (das zeigt sich auch im Tractatus de Guelphis et Gebellinis). Damit ein solches Gericht effektiv sein kann, muss die Autorität der politischen Ordnung von der Tyrannis unbeeinträchtigt sein. Bartolus schien auch hier von der republikanischen Amtsordnung in den Stadtstaaten auszugehen. Wie verhält es sich aber, wenn die politische Ordnung mit der Person so weit identisch ist, dass die Infragestellung des Gehorsams gegenüber fürstlicher Herrschaft zugleich die politische Ordnung in Zweifel zieht? Bei einem der berühmtesten Tyrannenmorde des Spätmittelalters, der Ermordung des Herzogs von Burgund im Auftrag des Herzog Louis von Orleans am 23.11.1407, konnte noch ein Konzil als eine Art Tribunal und zugleich als informeller Gerichtshof die Problematik behandeln. Jean Petit (Franziskaner und Doktor der Theologie, ca. 1360-1411) hatte in seiner Rechtfertigung des Herzogs von Burgund (1408 verfasst) erklärt, dass das tyrannische Verhalten eines Fürsten alle Eide ungültig macht und auch unmoralische Mittel wie der Mord zu seiner Vernichtung erlaubt seien. Petit zog Argumente von Cicero bis zu Salisbury heran. Im Konzil von Paris 1413/1414 vertrat der Kanzler der Pariser Universität, Jean Gerson, die augustinische Position, doch das Konzil entschied nur teilweise gegen Petit (Turchetti 2001, 320-323). Die revolutionären Gärungen in England im 17. Jahrhundert und in Frankreich im 18. Jahrhundert kannten förmliche Gerichtsprozesse und Todesurteile gegen die amtierenden Könige Charles I. und Louis XIV. Hier lebte noch einmal die Widerstandslehre gegen Tyrannen auf, führte nun aber nicht mehr zum Mord, sondern zur Hinrichtung. Was als extremer Endpunkt des Widerstands begonnen hatte, wurde zum regelrechten Ausgangspunkt der Republikgründung. Die politisch motivierten Morde beispielsweise der anarchistischen Terroranschlägen im 19. Jahrhundert oder die faschistischen Feme-Morden des 20. Jahrhunderts wurden immer seltener als Tyrannenmorde gesehen (Jaszi/Lewis 1975, 149-166). Als aber in der Bartholomäus-Nacht der Anschlag auf Coligny misslang und die königliche Partei aus Angst vor Vergeltung das Massaker anordnete, konnte keine kirchliche Instanz mehr den Konflikt gutachterlich schlichten oder die Täter zur Rechenschaft ziehen. Die Bartholomäus-Nacht war der Höhepunkt eines Jahrhunderts, das zuvor unbekannte Gewalterruptionen erlebte, die auch kulturgeschichtlich bemerkenswert sind (Burschel 2004). Bereits der Sacco di Roma von 1527 hatte ein die Zeitgenossen erschreckendes Maß an Grausamkeit demonstriert. Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen in Frankreich wurden ständig Massaker verübt, das von Vassny aus dem Jahr 1562 ist bereits genannt worden. Nicht zufallig schlug sich dieses Thema auch in der Kunst nieder, man denke an Pieter Breugel des Älteren Bild Der Kindermord in Bethlehem (1564-7, Hampton Court, Royal Gallery). Wirkungsvoller als die Tyrannislehre war das Gegenkonstrukt zum Königtum: die Volkssouveränität. Die Zustimmung des jungen Königs zum Massaker in der Bartholomäus-Nacht besagte für Hugenotten, dass sie auf sich selbst gestellt waren und den König als Teil der feindlich gesonnenen Gegenpartei begreifen mussten. Nun wurde das „Volk" zur entscheidenden Referenz der hugenottischen Argumentation. Normativer Maßstab zur Verurteilung der Ty-

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rannei war der Gottesbund, das als Obligationsverhältnis im Dreieck von Gott, Volk und Obrigkeit unter Einschluss des Königs interpretiert wurde. Der königliche Eid verpflichtet demnach den König nicht nur gegen Gott, sondern auch gegenüber Gottes Volk, welches seinerseits Gott dafür verantwortlich ist, dass die Obrigkeit ihre Pflichten erfüllt. De iure Magistratum in subditos, die Hauptschrift von Theodore de Bezes, genannt Beza, war ein Höhepunkt der hugenottischen Literatur. Der innere Wandel des Calvinismus von einer dominant theologischen zu einer politischen Lehre ist an seiner Person ablesbar. Beza (1519-1605) studierte wie Calvin in Orleans Rechtswissenschaften, lebte dann aber als Humanist in Paris, wo er einen Band mit lateinisch geschriebenen Liebesgedichten veröffentlichte. Eine Krankheit veranlasste ihn zur Beschäftigung mit religiösen Fragen und führte zur Konversion. Er ging zu Calvin nach Genf, lehrte Griechisch in Lausanne und wurde 1559 von Calvin nach Genf zum Direktor der neu gegründeten Akademie berufen. Nach Calvins Tod galt er als dessen selbstverständlicher Nachfolger. Er leistete mit seinen GriechischAusgaben und Latein-Übertragungen des Neuen Testaments wesentliche Vorarbeiten für die Genfer Bibel-Ausgabe und die King James' Bibel. Beza war schließlich politischer orientiert als Calvin. Dazu zwangen ihn die Vorgänge in Frankreich. Um die seit geraumer Zeit schwelenden Konfessionskriege zu befrieden, vertrat er auf dem Vermittlungskonzil von Poissy 1561 die reformierte Sache gegenüber den französischen Klerikern. Die Bartholomäus-Nacht veranlasste Beza zu einer erweiterten Interpretation des Widerstandsrechts. Sie stand vor 1572 noch ganz im Rahmen dessen, was Calvin zu Römer 13 gelehrt hatte (Muller 1998); nun aber vertrat er auf der Grundlage des Volksbegriffs die Auffassung vom Supremat der Stände (als Repräsentanten des Volkes) gegenüber dem König. Können die Stände ihren Pflichten nicht nachkommen, so geht die Aufgabe der Kontrolle der Monarchie von der Ständeversammlung auf die niederen Obrigkeiten über. Die Legitimation des Widerstands beruht dabei stets auf der Gehorsamspflicht aller gegen Gott (Apostelgeschichte 5, 29). Bezas Theorie erschien den Genfer Räten so brisant, dass sie es untersagten, sie unter seinem Namen zu publizieren. Francois Hotman plädierte in der Franco-Gallia (1573, 3. Aufl. 1586) für den Primat des Volkes, gegliedert nach Ständen und repräsentiert von der Ständeversammlung (Monahan 1994, 256-260). Große Teile dieses Werkes waren vor der Bartholomäus-Nacht geschrieben (zur Genese vgl. Giesey 1972, 38-52). Ihr fehlte die Polemik, welche die übrigen Werke nach 1572 auszeichnete. Hotman historische Forschungen zur Übertragung der Herrschaftsgewalt vom Volk auf den König unter Vorbehalt des Absetzungsrechts (Franco-Gallia 1573, cap. 6, 54) wurde zum Ausgangspunkt einer Theorie, wonach das „Concilium Publicum", eine Art jährlich einzuberufende Ständeversammlung, zahllose Kompetenzen inne hatte: Wahl und vor allem Absetzungsrecht des Königs (Franco-Gallia, ed. Dennert Kap. 1, 213; Kap. 6, 234 und Kap. 13, 251), Gesetze, Amtsbesetzungen, Verfügungen über das Krongut bei Mitgiften, Rechnungswesen und anderes mehr. In einer Art Generalkompetenz werden alle Angelegenheiten der Zustimmung der Stände Versammlung zugewiesen, die öffentlich sind und das Gemeinwesen betreffen (ed. Dennert Kap. 14, 282, ed. Giersy 291). Das änderte freilich nichts an der Bedeutung des Königs als treibender politischer Kraft, dem das Initiativrecht zur Gesetzgebung zugestanden blieb. Die Tyrannei des Königs zeigt sich laut Hotman dann, wenn er die Einberufung der Versammlung verhindert. Diese Idee reflektierte die damaligen Debatten in England, wo sich das Parlament das Recht der regelmäßigen Zusammenkunft bereits erkämpft hatte (wenn auch in der Praxis noch keineswegs effektiv).

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Hotman provozierte zahlreiche Gegenschriften (Stricker 1967, 126-127), aber das war nichts im Vergleich zur zeitgenössischen Rezeption der pseudonym publizierten Vindiciae contra tyrannos, der berühmtesten Schrift aus dem Umkreis der Monarchomachen. Sie hat den Topos des Vorrangs des Volkes vor dem König berühmt gemacht. Die Autorschaft der Schrift wird immer wieder neu diskutiert. Bereits das Pseudonym „Stephanus Junius Brutus" war Programm. Es knüpfte an den Gründer der römischen Republik Lucius Junius Brutus an, der den zum Tyrannen gewordenen König tötete sowie an Stephanus, den ersten christlichen Märtyrer, der Widerstand leistete.6 Der Bezug auf Brutus deutete an, dass der gewünschte Widerstand nicht anarchisch gerechtfertigt und auch nicht nur der Verantwortung des eigenen Gewissen überlassen wurde, wie es der anonyme Discours politiques des diverses puissances establies de Dieu au monde nahelegte (Kingdon 1988, 173-182; Skinner 1978 II 305). Im Kontext der calvinistischen Monarchomachen betonen die Vindiciae, dass nur Amtsträger dazu berechtigt sind, den Tyrannen anzugreifen. Alle Monarchomachen strukturierten die politische Ordnung als ein System von Ämtern, das den König einschloss. Als Amtsträger steht dieser nicht außerhalb der Grundordnung und kann für Übertretungen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Vindiciae setzten die Existenz eines gegenseitigen Vertrages voraus, der auch in Gestalt eines bloß stillschweigenden oder unausgesprochenen Vertrages angenommen wurde (Vindiciae ed. Dennert 156). Es handelt sich um eine „mutua obligatio," eine gegenseitige, doppelt begründet Verpflichtung: als Geltungsgrund (Legitimation des Titels) und als Verpflichtungsgrund (Legitimation der Durchfuhrung). Der monarchomachische Gedanke gegenseitiger Verpflichtung hängt mit dem calvinistischen Bundesgedanken zusammen und verknüpft politische und religiöse Motive (siehe diachroner Diskurs „Politik und Religion"). In der Regel wird ein doppelter Bund (foedus) unterstellt: zwischen Mensch und Gott (pactum religiosum) und zwischen Herrscher und Volk (pactum civile). Der Auffassung, wonach in den Vindiciae schon sprachlich eine Differenz zwischen föderaltheologischem „covenant" bzw. foedus und einem rein politischen „contract" bzw. pactum erkennbar sei (Skinner 1978 II 331), weshalb diese Schrift eine der ersten politischen Kampfschriften sein soll, die von religiösen Konnotationen frei ist, wurde widersprochen: Pactum und Foedus werden im Gebrauch vermengt und stehen inhaltlich in einem Verweisungszusammenhang (Baker 2000, 29). Aber die Vindiciae bereiteten den Diskurs zum Gesellschaftsvertrag vor (Terrel 2001, 75-96). Die Föderaltheologie blieb als covenant-Idee eine Quelle der modernen Gesellschaftsvertragslehre (Lessnoff 1986, 30-39) wie der Verfassungsidee und reichte in ihrer Wirkung bis zu den Federalist Papers (Elazar/Kincaird 2000). Die Verfassung folgt dem Muster des covenant indem sie sich als höhere Normenebene definiert, ganz gleich ob sie ihre Verpflichtungskraft nun aus dem Gottesvolkgedanken, der Nation oder der Menschenrechtsidee speist. Die lateinische Übertragung der biblischen Begriffe verlieh dem Bundesgedanken eine quasi-rechtliche Konnotation. Allein die rechtliche Verpflichtung aus dem Bund wäre für die Akteure fiktiv, wenn sie nicht auf dem überragenden Normenprogramm des Alten Testa-

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Anfänglich wurde sie Francois Hotman zugeschrieben, was bereits Barclay De Regno III 1 und V 17 ausschloß. Seit einiger Zeit wird aber vermutet, dass Hubert Languet, ein Protestant, der überwiegend für den Kurfürsten von Sachsen in diplomatischen Diensten war, einen ersten Entwurf schrieb und Philippe du Plessis-Mornay, der später einer der führenden Politiker der Hugenotten war, die Endfassung verfertigte. Diese Ansicht hat die stärksten Indizien für sich: Vindicia contra Tyrannos, ed. H. Weber, Genf 1979, S. I-V; eine Meinung der sich Kingdon 1991, 212 angeschlossen hat und die in der Neuedition noch einmal überprüft wurde: Garnett 1991, LV-LXXVI. Andere sprechen die Arbeit Duplessis Momay ganz zu: Monahan 1994, 260-272.

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ments basierte. Die Erzählung, wonach der Priester „Jehojada schloss einen Bund zwischen dem ganzen Volk und dem König, dass sie ein Volk Jahwes sein sollten" (2 Chroniken 23, 16) wurde ein juristischer Vertrag der Solidarobligation zwischen Gott einerseits und König und Volk andererseits. Nach Römischem Recht haften die Solidarschuldner füreinander und können sich gegenseitig zur Einhaltung der Vertragsobligation zwingen (Treumann 1895, 62-63). Was dort natürlich als Versprechen unter anwesenden Akteuren gedacht war, wurde hier nun sakral gewendet und blieb daher auch ohne willentliche Zustimmung bindend. Die Verpflichtungsart des Bundes konzipierten die Vindiciae analog zur zivilrechtlichen Obligationenlehre: Sie kann durch Zustimmung verändert werden, kann nichtig sein und sogar rückwirkende Geltung entfalten (Vindiciae ed. Dennert 179). Wenn eine von den Rechtsgenossen beklagte Amtsverletzung nicht auf eine zwingende positive Vorschrift gestützt werden kann, so verbleibt immer der Rekurs auf die der Grundordnung zugrundeliegenden Bundesverpflichtungen möglich, die sozusagen die gemeinsame Geschäftsgrundlage aller Amtsinhaber darstellen. Als hilfreich erwies sich die Erwähnung der Ephoren bei Calvin. Diese Institution von Verfassungswächtern lieferte besonders den Vindiciae, die Calvin mit Bedacht nicht zitierten, das Vorbild fur eine verfassungsformige Königsaufsicht (Garnett 1994, XXVII; Skinner 1978 II 192, 230-232, 314-316). Widerstand ist somit Amtspflicht, bleibt jedoch den Amtsträgern vorbehalten (Vindiciae ed. Dennert 104, 182, 187-188). Die aristotelische Unterscheidung von gemeinnütziger oder eigennütziger Herrschaft wurde als Kriterium der Güte aller Regierungspolitik übernommen (Vindiciae ed. Dennert 148). Das Gemeinwohl definiert wiederum die Grenzen des Widerstands der Amtsträger gegenüber dem König, um die Gefahr einer durch Tyrannensturz verursachten Anarchie zu vermeiden. Mit der Bundesidee wurde dem Volk (Gottes) eine besondere Stellung zugewiesen, die es erlaubte, der Dignität des Königs eine besondere Sakralität des Volkes entgegenzustellen. „Volk" ist hier aber bereits ein unklarer Begriff. Vor dem Hintergrund des römischen Rechts und des spätmittelalterlichen Korporationenrechts konnte Volk eine kooperative Ganzheit bezeichnen, eine integrierte „universitas" (Universalgemeinschaft), die nicht mit dem modernen Begriff des Volkes als Summe von gleichrangigen Individuen identisch ist (Stolleis 1988, 107). Der Volksbegriff wurde bei den Monarchomachen in dreifacher Hinsicht verwendet (Stricker 1967, 164): 1) als die bei der Krönung des Königs anwesende Volksmenge, 2) als Summe der Bewohner (universus populus) und 3) als das staatsrechtliche Element des Volkes im Gegensatz zum Herrscher. Stets schwang die Differenz von Plebs und Populus mit. Das Volk nur als quantitative Größe hieß in der politischen Theorie des 16. und 17. Jahrhunderts „multitudo", also „Menge", wohingegen die Suprematie des Volkes „populus" genannt wurde im Sinne einer qualitativ definierten Menge, oft identisch mit bestimmten sozialen Gruppen (Treumann 1895, 55). Die vielköpfige Menge (belua multorum capitum) ist nach einhelliger Meinung zu einheitlicher politischer Handlung außerstande (Georgius Buchanan, De iure regni apud Scotos 13; Boucher, 19; Vindiciae contra tyrannos 26). Das Volk als Universitas kann nur im ganzen agieren und bedarf daher der Organisation. Vertreter des Volkes sind die Beamten und die Stände, denn das Volk ist ganz selbstverständlich ständisch differenziert. Die Gesamtheit bleibt auch bei Untergang einiger Glieder aufrechterhalten und einander weiterhin verpflichtet. Die Vindiciae contra tyrannos verbanden ohne weiteres die Forderung, die Souveränität dem Volk zuzusprechen, mit der Forderung der Gesetzesherrschaft (Vindiciae ed. Dennert 178). Politik soll ja die religionspolitische Tyrannis verhindern und nicht nur formelle Legitimation regeln. Die Abwesenheit von im modernen Sinne demokratischen Intentionen tut der ideengeschichtlichen Bedeutung

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dieses monarchomachischen Volksverständnisses keinerlei Abbruch. Denn das Organisationsproblem des Volkes, dem eine legitimatorische Letztinstanz (unterhalb der Unverfügbarkeit Gottes) zugesprochen wird, blieb das beherrschende Problem der politischen Theorie bis in unsere Gegenwart hinein. Innerhalb der calvinistischen politischen Theorie kappte erst Althusius den Bezug zur Theologie. Johannes Althusius (1557-1638) schrieb mit seiner Politica 1603 eines der erstaunlichsten Werke seiner Zeit, und zugleich blieb er von allen herausragenden Autoren seines Jahrhunderts am wenigsten rezipiert. Dies hatte auch mit seinem wenig spektakulären Leben zu tun, das er außerhalb der großen politischen Brennpunkte seiner Zeit verbrachte. Nach Studien in Basel und Genf wurde Althusius an die neue Herborner Akademie des reformierten Fürsten von Nassau berufen, wo er die Politica schrieb (Winters 1995, 31). 1604 ging er als Syndikus nach Emden, eines der Bollwerke des reformierten Glaubens in Nordeuropa, mit den Niederlanden eng verbunden. Dort blieb er bis zu seinem Tode. Bereits Grotius, der neben den antiken Büchern auch fast das gesamte Corpus zeitgenössischer Autoren berücksichtigte, scheint Althusius schon nicht mehr gekannt zu haben.7 Die Politica griff zahlreiche Fäden des 16. Jahrhunderts auf, darunter die Naturrechtslehre der spanischen Spätscholastik (Reibstein 1955) und die monarchomachische Literatur, der er die Fokussierung auf den populus als Inhaber der Souveränität entnahm (Winters 1967; 1995; Gelderen 2002). Althusius verknüpfte diese Fäden neu. Er wies jeden Einfluss theologischer Argumentation zurück, indem er sie einfach für unsachlich erklärte und aus dem Bereich der Politischen Wissenschaft verbannte (Skinner 1978 II 341-342). Dies zielte nicht allein auf eine Ent-Theologisierung, sondern auf eine Versachlichung der Politikwissenschaft. Wie das Vorwort zur Erstauflage von 1603 verdeutlichte, meinte Althusius mit der Exklusion sachfremder Argumente neben der Theologie auch die Philosophie, insbesondere die Ethik mit ihren moralischen Ansprüchen an die Adresse der Politik, sowie die Rechtswissenschaft. Politik soll nach eigenen Maßstäben erörtert werden. Das hinderte Althusius nicht daran, in den späteren Auflagen (3. Aufl. 1614) den Zitatenschatz erheblich um biblische Nachweise zu erweitern, vermutlich mit Rücksicht auf die Emdener Umgebung, in welcher er mittlerweile tätig war. Von allen Nachbardisziplinen fiel Althusius die Abgrenzung zur Jurisprudenz am schwersten, Verwechslungen und Vermengungen sind mit ihr am leichtesten möglich. Die Freistellung der Politikwissenschaft von anderen Disziplinen führte Althusius aber nicht in die Arme der Staatsräsonliteratur. Bei allem Verständnis für die unendliche Varianz von Handlungskonstellationen, auf die Politiker nur mit der Schärfung ihrer Urteilskraft vorbereitet werden können, überwand Althusius die Maximenliteratur und setzte auf Systematik. Die systematische Methode folgte dem ramistischen Vorbild. Nicht nur die behandelten Themengebiete, auch die interne Argumentation gliederte er systematisch, insofern er von allgemeinen Obersätzen zu speziellen Aussagen voranschritt. Die ersten Paragraphen der Politica geben bereits die entscheidenden Definitionen. Politik ist die Kunst, Menschen zur Begründung, Pflege und Erhalt eines gesellschaftlichen Lebens zusammenzuschließen. Das nannte 7 Vgl. die in der Liste nachklassischer Autoren aufgeführten Werke in der Tuck-Edition von Grotius' De Iure Belli ac Pacis, 1763-1789. Eigentlich hat erst Otto von Gierke Althusius fur die Ideengeschichte entdeckt (Gierke 1880). Man wird aber Gierkes überschwängliche Einschätzung des Althusius nicht teilen können, wonach mit ihm erst die moderne politische Theorie einsetze und alle späteren Theoretiker nicht sehr viel mehr taten, als die von ihm markierten Wege fortzuschreiten. Unter dem Einfluss von Gierke nannte Figgis 1956, 175 alle Bücher nach Gierke nichts als Plappem.

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Althusius auch die Lehre vom symbiotischen Leben (Kap. 1,1). Diese miteinander verbundenen Menschen, die Symbioten, verpflichten sich in ihrer Lebensgemeinschaft (consociatio) in einem ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrag (pactum) zur wechselseitigen Teilhabe an allem, was zum Zusammenleben notwendig und nützlich ist (1, 2). Das Ziel ist eine fromme, gerechte, angemessene und glückliche Lebensgemeinschaft. Es zu erreichen, ist keinem Menschen als Individuum vergönnt, er bedarf hierzu von Natur aus anderer Menschen (Politico ed. Janssen 24). In der Forschung wird immer wieder die calvinistische Prägung Althusius' hervorgehoben. Die Annahme der Sozialität eines gegenseitigen Aufeinanderverwiesenseins (auch zum frommen Leben) spricht dafür. Aus der monarchomachischen Zeit ist die Bundesidee vertraut sowie die Annahme, dass beispielsweise der Widerstand gegen die Obrigkeit nicht Individuen zusteht, sondern Gemeinschaften und ihren Gliederungen. Diesen Aspekt stellte Althusius in den Mittelpunkt seiner Theorie: alle politisch und rechtlich relevanten Lebensformen sind solche Zusammenschlüsse und umgekehrt sind alle solche Zusammenschlüsse politisch und rechtlich relevant, was soziale Verbände von der Familie bis zu den Korporationen, von der Gemeinde bis zu den territorialen Herrschaftsformen sowie das Reich als Bund zur Kategorie der Verbündungen (consociationen) zusammenschließt. Politik ist die Kunst des Verbündens (Hüglin 1991; Benoist 1999). Man muss aber sorgsam beachten, dass Althusius nicht durchweg voluntaristisch argumentierte. Die Bündnisse seien nicht wirksam, weil die Menschen, die sie eingehen, sich dazu verpflichten. Althusius ersetzte die alttestamentarisch grundierte normative Betrachtung durch eine weitgehend deskriptive: weil die soziale Welt des Menschen durchwirkt ist vom Bundesgedanken, ist darin das eigentliche Prinzip der Politik zu erkennen. Die Föderalismus-Theorie erkennt Althusius als einer ihrer ersten systematischen Begründer an (Duso 1997). Die Politiques und Jean Bodin Eine andere Reaktion auf die blutigen Konfessionskriege war die sich im Umfeld des Herzog von Alengon konstituierende Gruppierung, die sich „Politiques" nannte. Sie waren vorsichtige Anhänger des Königtums und versuchten zwischen den Bürgerkriegsfronten zu vermitteln. Mit den Politiques wurde eine Auffassung greifbar, die den Staat als Focus politischen Denkens ansah und die Frage nach Konfession oder politischer Überzeugung für nachrangig erklärte. Mit der Parteiergreifung für die (vom König verkörperte) Staatlichkeit war die Marginalisierung der Stände zwingend verbunden. Das ergebnislos verlaufende Vermittlungskonzil von Poissy 1561, auf dem Beza die Partei der Calvinisten vertreten hatte, war auf Betreiben von Michel d'Höpital, dem politischen Haupt der Politiques und Kanzler Katharinas von Medici, zustande gekommen (Kim 1997). Seiner Überzeugung nach bot nur die Konzentration auf die Belange des Königreichs die Möglichkeit, den Konfessionskrieg zu befrieden, ohne einer der beiden Parteien die Vormacht zu geben. Die Politiques versuchten, dem König Spielraum für eine flexible Politik zu verschaffen. Höpital führte das Prinzip ein, dass der König zwar den wahren Glauben verteidigen, aber mehr noch Frieden und Ruhe des Volkes sicherstellen müsse (Oeuvres compl. I 449; vgl. Skinner II 251; Kim 1997, 82-83). Dem König gebühre ein Kompetenzvorrang, das bestehende Recht notfalls zu verändern oder die Fundamentalgesetze, an welche der König schon aus Legitimitätsgründen gebunden blieb, neu zu interpretieren. Der Vordenker dieser Strategie und wichtigster theoretischer Kopf der Politiques war Jean Bodin, sein wichtigstes begriffliches Instrument der Begriff der Souveränität (Goyard-Fabre 1989). Die Frage nach

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der Souveränität sollte durch die Klärung von Hierarchien eine Einheitlichkeit in das Gefüge der politischen Ordnung bringen. Vieles trugen zur Verwirrung bei: Einander überkreuzende Hierarchien, die Suprematsansprüche von Kaiser und Papsttum einerseits und die sich unabhängig wähnenden Städte, Korporationen oder Fürstentümer andererseits, sie alle waren die Quelle von Normen, die Geltung beanspruchten. Die Unabhängigkeit nach außen war seit der älteren, monarchiezentrierten Tradition, von Philipp dem Schönen bis Franz I. erkämpft; Bodins eigene Leistung bestand darin, die Stoßrichtung der Souveränität nach innen zu thematisieren. Nach innen glich das französische Königreich einem vielschichtigen Gebilde von Fundamentalgesetzen, Privilegien und Verträgen, erwachsen aus Erbschaften, Hochzeiten und Bündnissen. Dieses historisch gewachsene Netz an Ordnungspartikeln mit rechtlichen Ansprüchen auf Land und Bevölkerung entbehrte eines einheitlichen und organisierenden Prinzips. Das Volk war nicht französisch, englisch oder deutsch, sondern dem persönlichen Herrschaftsbereich des Königs, des Fürsten, des Bischofs, der Bürgerstadt zugeordnet. Hinzu traten nun die konfessionellen Konkurrenzen. Angesichts dessen blieb das Königtum der einzige zentrale Bezugspunkt für die Idee Frankreichs als eigenständiger Ordnung, um sie herum formierte sich bereits vor den Politiques eine bedeutende Riege an Autoren. In der Ordonnance de Villers-Cotterets von 1539 war das Französische an Stelle des Lateinischen zur Gerichtssprache erhoben worden. Im Manifest der Pleiade La Defense et illustration de la Langue francaise von 1549 wurde Frankreich zu einer kulturellen Größe erklärt und somit Adressat intellektueller Appelle und Erwartungen. Die französische Rechtslehre emanzipierte sich von der Autorität des Römischen Rechts und versuchte aus der Systematisierung des Corpus Iuris Civilis ebenso wie aus der Erschließung des historischen Rechts, des Gewohnheitsrechts und der in ihm waltenden Prinzipien ein modernes Rechtsverständnis zu entwickeln. Guillaume Bude widmete Franz I. seine L 'institution du prince von 1548, worin er für die Förderung der Wissenschaften, der Beredsamkeit, Tugend und Gemeinwohlbeachtung plädierte, immer mit Blick auf ihren Nutzen für die Sicherung und Steigerung der königlichen Macht. Bei Bude zeichnete sich bereits semantisch eine allmähliche Ablösung des königlichen Amts von der Person des Königs ab (Bontems 1965; Skinner 1978 II 354-355). Die Textgattung des Fürstenspiegels blieb gewahrt, aber es war nicht mehr die persönliche Macht des Königs, die er durch kluge Politik wahren sollte, sondern die Sicherung der öffentlichen Gewalt, zu welcher der König den entscheidenden Beitrag leisten musste. Andererseits wiesen verfassungshistorische Studien auch in eine vom Königtum abgewandte Richtung (Beame 1993): 1539 wollte Du Moulins mit seinem Premier Commentaire sur la Coutume de Paris das regionale Gewohnheitsrecht gegen den Zugriff der Krone stärken. Etienne Pasquier (1529-1615) hatte im ersten Band seiner Geschichte Frankreichs (Recherches de la France 1560) behauptet, historisch sei das Parlement von Paris an die Stelle der Versammlungen des Marsfeldes getreten und nicht die Ständeversammlung (in neun Bänden 1560 bis 1643, teilweise posthum). Pasquier befürwortete zwar grundsätzlich die Position der Politiques und wollte den König gestärkt wissen. Seine Anforderungen waren freilich hoch, wie er in seinem Pourparler du prince 1560, der in der Tradition der Fürstenspiegel stand, betonte. Das Pariser Parlement behielt in seinen Augen die Position einer Kontroll- und Vermittlungsinstanz. Selbst Höpital setzte sich für die unabhängige Stellung besonders des Parlement de Paris ein und verlangte die Unabsetzbarkeit der Richter (Kim 1997, 118-145).

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Eine der Fragen, die Claude de Seyssel (1450-1520), bis Bodin der bedeutendste politische Theoretiker dieses Diskurses (Hexter 1973; Keohane 1979), in seiner La Grant Monarchie de France von 1519 umtrieb, war das institutionelle Verhältnis der Gerichtshöfe. Da die Mitglieder sich ihr Amt erkauften und nicht ernannt wurden, besaßen sie sogar eine gewisse Unabhängigkeit vom König. Haben sie ihr Amt lebenslang inne? Sind sie absetzbar oder bleiben sie wenigstens dem König weiterhin verantwortlich? Seyssel trat für die lebenslange Amtszeit der Richter als Voraussetzung der gemischten Verfassung bzw. moderaten Monarchie ein, die Richter waren bei ihm nur fur Anklagen des Hofes verantwortlich (Seyssel, La Monarchie de France 117-118). Die verfassungspolitische Frage lautete, ob die Gerichtshöfe grundsätzlich Edikte des Königs zurückweisen konnten. Da sie das Recht der Registratur der königlichen Erlasse hatten, konnten sie deren Rechtswirkung hintertreiben, indem sie sich Zeit ließen. Der normative Ort der Klärung dieser Kompetenzabgrenzungen waren die Fundamentalgesetze. Die Abhängigkeit des Königs von den Fundamentalgesetzen war eine durchgehende Selbstbeschreibung der politischen Gewalt des Königs. Wäre er keinerlei normativen Maßstäben unterworfen, könnte er nur seinem Willen folgen und würde somit per definitionem ein Willkürregime ausüben. Bodin ersetzte das verfassungshistorische Argumentationsmodell durch ein normenhierarchisches Modell, in dessen Zentrum juridisch-prozedurale Überlegungen standen. Er war der Ansicht, dass mit einer unstrittigen Klärung der formellen Zuständigkeiten der Grund für die anhaltenden Auseinandersetzungen behoben werden könnte. Souverän ist, wer innerhalb einer politischen Ordnung die Gesetzgebungskompetenz ausübt. Diese Definition war nicht völlig innovativ (Franklin 1973). Methodisches Vorbild war der zeitgenössische Umgang mit dem Römischen Recht. Bodin gehörte wie Höpital und Hotman zu den führenden Juristen seiner Zeit. Die im Rahmen der Exegese des Römischen Rechts gewonnene Interpretationsmethode normativer Texte emanzipierte die verfassungspolitische Argumentation endgültig von den biblisch-historischen Vorschriften (vgl. Dennert 1964, 13 und klassisch Gilmore 1941). Bodin griff umfangreich Gedankengut aus Mittelalter und Renaissance auf: die Gedankenfigur „merum imperium", der unumschränkten Amtsgewalt, wie der Glossator Alciatus das Römische Recht interpretierte (Gilmore 1941, 47-57) ebenso wie die plenitudo potestatis als Bezeichnung der päpstlichen Gewalt im Kanonischen Recht. Auf den ersten Blick wirkt Bodins Werk daher wie eine gewaltige Kompilation des für die politische Theorie zur Verfügung stehenden Materials. Bereits im ersten bedeutenden Werk, dem Methodus ad facilem historiarum cognitionem von 1566 (Franklin 1963; Beame 1993), versammelte und kritisierte Bodin die verschiedenen historischen und theoretischen Ansätze seiner Zeit, darunter die Anlage der aristotelischen Politik (Kap. 6). Er berief sich statt dessen auf Tacitus und Guicciardini als Vertreter einer Geschichtsschreibung, die historische Ereignisse rekapitulierte, um daraus Argumente für Fragen der Politik und des Rechts zu ermitteln. Interessanterweise zählte er Machiavelli (der, wie Bodin zu Beginn des 6. Kapitels sagt, in aller Munde ist) nicht hierzu. In der Geschichte, heißt es in der Dedikation, ist der größte Teil eines universellen Gesetzes verborgen. Ähnliche Überlegungen finden sich in Hotmans Antitribonian (1567). Für die Aufgabe der Legislation ist die Kenntnis der Sitten unverzichtbar, sowie des Entstehens, Wachstums und Niedergangs von Staaten und der hierbei wechselnden Bedingungen. Im Methodus von 1566 billigte Bodin der französischen Ständeversammlung noch beachtliche Mitwirkungskompetenzen zu: Herkommen und lange beachtetes Gewohnheitsrecht sollen vom Fürsten nicht ohne ihre Zustimmung geändert werden dürfen. Mit der Zuspitzung

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der politischen Situation und Bodins eigener politischer Tätigkeit änderte sich seine Einstellung zu den politischen Institutionen, wie seine Six livres de la Republique von 1576 zeigten (Denzer 1967; Kim 1997, 142; anders Franklin 1991, 308: die Republique würde nur präzisieren, was bereits im Methodus angelegt ist). Im Jahr des Erscheinens seiner Six livres de la Ripublique war Bodin Vertreter des Vermandois auf der Generalständeversammlung von Blois, plädierte entschieden gegen ein Wahlkönigtum und sprach den Ständen keine grundlegende Kompetenz mehr zu. Er berichtete in einer späteren Ausgabe der Republique von seiner dort gehaltenen Rede, worin er argumentierte, die Forderung des Wahlkönigtums wolle den Ständen die Macht einräumen und das Königreich ehrgeizigen Umstürzlern in die Hand geben (Ergänzung zur Republik von 1586, ed. Mayer-Tasch I 594). Bodin bezog damit eine eindeutige Position zugunsten des Königtums und wich erheblich von der früheren Meinung im Methodus ab. Als Vertreter der Politiques hatte sich Bodin für die Seite des Königs entschieden, jedoch nicht eines bestimmten Kronprätendenten, sondern des Königtums als Amt, das nur dann effektiv und vor allem friedenssichernd ausgeübt werden kann, wenn es souverän ist. Bodin sollte daher weniger als Begründer der absolutistischen Staatstheorie, sondern als Theoretiker gesehen werden, der Politik in juridische Formen goss, um politische Probleme zu lösen (Franklin 1973; Goyard-Fabre 1989; Salmon 1996; Mayer-Tasch 2000). Aus dem Vergleich unterschiedlichster Konstellationen, in welchen Regierungsgewalt ausgeübt wurde, entwickelte Bodin eine Art verfassungspolitische und regierungspraktische Komparatistik. Das allgemeinste Ziel ist die Wahrung des Friedens und die Sorge für das Gemeinwohl, doch dies nahm jede politische Ordnung für sich in Anspruch; das Problem lag in der Vielfalt der Kontexte. Mit dem Blick für die praktischen Steuerungsanforderungen, d.h. mit der Perspektive aus dem Innern des politischen Zentrums, begriff Bodin das Recht als politisches Gestaltungsinstrument. Daher stellte er auch die Gesetzgebung und nicht die Rechtsprechung in den Mittelpunkt seiner Theorie. Bereits im Methodus lag der Schwerpunkt auf der Gesetzgebung, was Bodin in den Six livres de la Republique von 1576 noch verstärkte. Bodin benannte im Vorwort der Erstauflage der Republique (Bibliographie der Ausgaben bei ed. McRae A78-A86) seine Gegner: die Machiavellisten und jene Autoren, die im Namen der Freiheit des Volkes die Untertanen zur Rebellion gegen die Fürsten anstacheln wollten und so zum Untergang der politischen Ordnung beitrugen. Damit war unzweifelhaft die monarchomachische Literatur gemeint. Die Zusammenstellung von Machiavellismus und Monarchomachen durch Bodin ist kein Einzelfall (Salmon 1987c, 120-123). In Drucken am Ende des 16. Jahrhunderts war es üblich, den Principe Machiavellis mitsamt einiger Werke der Monarchomachen im Anhang herauszugeben. Die französische Ausgabe der Vindiciae erschien zusammen mit einer lateinischen Fassung von Machiavellis Princeps (1581), Bezas Du Magistrat zusammen mit den Vindiciae als Anhang zum Princeps (1589: erste Namenserwähnung Bezas als Verfasser; 1595; 1599; 1600; Frankfurt 1608 und 1622 und öfter). In der Sache näherte sich Bodin jedoch immer wieder den Auffassungen Machiavellis an (Tenenti 1987, 243-298; Quaglioni 1989). Die Hauptfrage der Monarchomachen, wer gegen die Verletzung des Naturrechts und des göttlichen Rechts Widerstand leisten darf, beantwortete Bodin mit dem Hinweis auf den Souverän. Zwar definiert er, dass der Verstoß gegen das Naturrecht einen Fall der Tyrannis darstellt (Republique II 6). Die entscheidende Frage ist jedoch, wie in einem solchen Fall zu verfahren ist. Die bloße Titulatur gibt noch keinen Aufschluss darüber, ob ein Herrscher rechtswidrig an die Herrschaft gelangte oder nicht. Bodin erinnerte daran, dass manche Tyrannen

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wie Befreier des Volkes gefeiert wurden, legitime Herrscher dagegen oft durch Milde und Nachsichtigkeit die Tyrannis vieler tausend kleinerer Herrscher ermöglichten und so dem Volk eher schadeten als halfen (II 4). Der schwierigste Fall liegt vor, wenn der Fürst Züge des guten wie des tyrannischen Herrschers aufweist. Hier folgt Bodin Machiavelli, wenn er sagt, dass oft anarchische Zustände und die Verderbtheit des Volkes die nach außen tyrannisch wirkende Herrschaftspolitik geradezu verlangt, die in Wahrheit einer Kur gleicht, die dem Volk verabreicht wird (II 4). Wer kann Richter sein, wenn der angebliche Tyrann etwa durch Manipulation des Verfahrens Souverän wurde? In diesem Fall gestattete Bodin keinerlei Gewalt gegen den Herrscher, sondern nur passiven Widerstand (II 4). Jede andere Verhaltensweise führe zu einer Destabilisierung des politischen Systems und macht jeden legitimen Fürsten zu einem Despoten, da er ständig fürchten müsse, bei den geringsten Zweifeln an seiner Legitimität mit der Ermordung rechnen zu müssen. Das Widerstandsrecht erzeugt laut Bodin erst diejenige Herrschaftsweise, vor der es schützen will. Bodins Argument zielte aber nicht auf eine blinde Unterstützung des Königs ab, sondern auf die pazifizierende Kraft der richtigen Erkenntnis, was politisch der Fall ist. Klarheit in der Souveränitätsfrage bewirkt Frieden nach innen. Die Souveränität als Merkmal der Kompetenzhierarchie ist Bodins wichtigstes Resümee aus seiner umfangreichen verfassungspolitischen und verfassungshistorischen Beweisführung. Die Souveränität liegt an dem Ort der Herkunft der Gesetze. Nicht die Rechtsprechungsgewalt deutet den zentralen Ort politischer Gewalt an, sondern die Gesetzgebung, die Legislative. Mit der Klarheit dieses Ortes gewinnt das Recht seine Sicherheit und damit seine friedensstiftende, friedensverbürgende Funktion wieder, die es nach dem Wegfall der mittelalterlichen Ordnung verloren hatte und die mit der Pluralität religiöser Ansprüche in Verwirrung geraten war. Erforderlich ist für Bodin nicht die Überprüfung der Richtigkeit oder Heiligkeit des Rechts, sondern nur die Klarheit der Normenhierarchie. Souveränität als Normenhierarchie trennt den Staat als Sphäre öffentlichen Rechts von den nunmehr nur noch privaten Ansprüchen aus den Reihen des Adels und der Kirche, was einen schon formalen Vorrang der politischen Gewalt statuierte. Die Grenzen der Legislative liegen in den Fundamentalgesetzen des Landes, zu welchen auch die Akzeptanz fürstlichen Privatbesitzes - oft von der Größe kleinerer Staaten - zählt. Ferner betonte Bodin, dass man scharf zwischen Gesetz und Vertrag trennen müsse (Republique I 8, ed. Mayer-Tasch I 216). Statute und Erlasse, Edikte und Verordnungen des Fürsten sind bindend, aber nicht für den Gesetzesurheber selbst, sonst verlöre er alle Flexibilität im Umgang mit diesem Instrument der Steuerung. Geht jedoch der Fürst Verträge mit Untertanen ein, so ist er hieran gebunden und kann sie nicht selbstherrlich auflösen. Die Definition der Souveränität lautet „La souverainete est la puissance absolue & perpetuelle d'une Republique" (I 8; 1583, 122), wobei sie das bezeichnen soll, was im Lateinischen „maiestas" hieß, so dass die spätere lateinische Fassung von 1586 von Bodins eigener Hand definierte: „Majestas est summa in cives ac subditos legibusque soluta potestas." Wortgeschichtlich knüpft der Ausdruck Souveränität an die römisch-rechtliche Maxime des „princeps legibus solutus"-Prinzips aus den Digesten an,8 die verschiedentlich ins Französische übertragen worden war (Übersicht bei Dennert 1964, 101-4; Quaritsch 1970, 249-251). Hin-

Die Stelle lautet: Ulpianus libro XIII ad legem Iuliam et Papiam: „Princeps legibus solutus est: Augusta autem licet legibus soluta non est, principes tarnen eadem illi privilegia tribuunt, quae ipsa habent" (D 1, 3, 31). Ferner D 32, 23 und Institutionen II 17, 8 (7).

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zu trat die Rezeption der papalen plenitudo potestatis-Lehre (Republique I 8). Bodin systematisierte und abstrahierte diese Modelle. Es sah zwei Möglichkeiten der Trägerschaft von Souveränität: Fürst und Volk (I 8, 1583: S.126). Der Unterschied besteht allein in der Frage ihrer Verkörperung: der Fürst verkörpert die Souveränität persönlich, das Volk nur institutionell (IV 3, 1583: S. 578). Die Staatsform ist für Bodin nachrangig. Das Gesetz ist nach der Definition Bodins dasjenige, was die höchste Macht als Gesetz erachtet. Die Souveränität ist dauernd und unteilbar, aber an göttliches und Naturrecht gebunden (I 8). Als Beispiel eines Fundamentalgesetzes („loi fundamentale") nennt Bodin das Salische Recht der Thronfolge (I 8: Bd. 1218), von dem er behauptet, auch der mit absoluter Gesetzeskraft ausgestattete König könne es nicht in seiner Substanz antasten. Wenn Bodin immer wieder betonte, der souveräne Fürst sei weiterhin an die Gesetze Gottes und der Natur gebunden, so war ausgangs des Mittelalters eine Selbstverständlichkeit, die er nur hervorhob (I 8: Bd. I 229 u.ö.). Eine abstrakte Souveränität im Sinne völliger Unbeschränktheit königlicher Macht lag außerhalb von Bodins Intentionen und dem Denkkreis seiner Zeit; nur ein modernes Verständnis des Souveränitätsbegriffs, das rückblickend bei Bodin Bestätigung sucht, konnte zu einer solchen Annahme gelangen. Streitfragen werden von der souveränen Gewalt entschieden. Für ihre befriedende Funktion ist es in Bodins Augen daher wichtig, dass die Klarheit der Kompetenzentscheidung nicht durch die Teilung der Souveränität verwässert wird. Bodin lehnte daher ganz entschieden die Mischverfassungslehre ab. Sie ist in seinen Augen nichts als ein Korruptionszustand des Staates, in dem ein verborgener Streit um die Souveränität herrscht (I 8; II 1). Bodins Zurückweisung der Mischverfassung hat ihr nachhaltig geschadet, sie galt in systematisch angelegten Politiktheorien des Naturrechts nachgerade als antiquiert. Die mittlere Obrigkeit muss laut Bodin den Geboten des Fürsten auch gehorchen, wenn sie zwar völkerrechtswidrig sind, nicht aber gegen das Naturgesetz verstoßen. Der Fürst kann sich nämlich aus Gründen des Nutzens und des Vorteils der Allgemeinheit gezwungen sehen, gegen das Völkerrecht zu verstoßen (Republique III 4, ed. Mayer-Tasch I 466). Eidliche Selbstverpflichtungen von Souveränen autorisieren die Obrigkeiten nicht, den Willen des Fürsten in Frage zu stellen, sie können höchstens (auch wiederholt) ihre Bedenken vortragen, müssen sich aber dem nachhaltigen Willen beugen. Können Obrigkeiten aber wenigstens bei Verstößen gegen das Naturrecht ihren Gehorsam verweigern? Bodin verneint selbst dies: auch wenn sie ein formales Recht dazu hätten, wäre praktisch doch nie eindeutig zu klären, ob Naturrecht übertreten wurde oder nicht. Bodin schloss sich der Tyrannenmordlehre insoweit an, als einem tyrannus absque titulo Widerstand geleistet werden dürfe, und zwar bis hin zum Mord. Denn deijenige, der sich eigenmächtig und ohne Rechtsgrund die Herrschaft anmaßt, begeht Hochverrat {Republique II 5, ed. Mayer-Tasch I 361). Freilich ist dies nicht der Fall, wenn jemand die souveräne Alleinherrschaft durch List oder Gewalt übertragen bekam, er also wenigstens formell berechtigt ist. In diesem Fall dürfen die Untertanen keinen Widerstand leisten. Der grausamste Verstoß gegen das Naturrecht darf nur durch Gehorsamverweigerung oder durch Flucht beantwortet werden, nicht aber durch Gewalt gegen den Souverän (II 5). Auch ein Gerichtsverfahren der Untertanen über den Souverän scheidet aus, denn das Gericht würde in einer solchen Konstellation die Souveränität beanspruchen müssen. Das gleiche gilt für die mittlere und niedere Obrigkeit.

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Die beiden Reformatoren Luther und Calvin erwähnte Bodin ausdrücklich erst in einer Randnote der Ausgabe von 1586 (ed. Mayer-Tasch I 622). 1577 war in Genf ein Raubdruck der Republique erschienen, dessen Herausgeber Claude de Juge in einem längeren Vorwort Bodins angebliche Fehldarstellung Calvins und Genfs korrigierte (Salmon 1987c, 362-363; Franklin 1973, 93-101). Bodin reagierte moderat, und zwar in seinem zweiten Vorwort, das er der Neuausgabe von 1578 einfügte, änderte aber nichts am Text {Avertissement au lectuer 352-353). Bodin wies Calvins Argument zurück, wonach im politischen System Spartas die Ephoren von Amts wegen einschreiten mussten. In den Augen Bodins war dieses Herrschaftssystem nämlich keine souveräne Alleinherrschaft, sondern eine Aristokratie. Bodin diskutierte die Reformatoren, um die grundsätzliche Verneinung des Widerstandsrechts bei den Protestanten hervorzuheben, zitierte diesbezüglich Luther und trennte diesen Flügel des Protestantismus lobend von den „frivolen" Lehren der Monarchomachen ab. Zugleich tadelte Bodin Luther dafür, die Rechtsnatur des Deutschen Reiches falsch beurteilt zu haben. Im Reich nämlich ist laut Bodin der Kaiser nicht Inhaber souveräner Alleinherrschaft, sondern muss sich die Souveränität mit den Aristokraten teilen. Die an der Souveränität teil habenden Fürsten waren nach Bodins Auffassung deswegen durchaus zum Widerstand berechtigt (II 5, ed. Mayer-Tasch I 365-367). Bodin bestritt ferner, dass das englische Parlament als Ständeversammlung Souveränitätskompetenzen ausübte. Bodin kannte das englische Parlament aus eigener Anschauung. Er reiste im Gefolge des Herzogs von Alengon mehrere Male nach England (zuletzt 1581), diskutierte gelegentlich mit Königin Elisabeth und unterhielt auch später einen Briefwechsel mit deren Sekretär Francis Walsingham. Sein Argument gegen das Parlament ist prozedural (Republique I 8, ed. Mayer-Tasch I 220-222): zwar kommt das englische Parlament alle drei Jahre zusammen, aber nur auf Anordnung des Königs; zwar ergreift es die Initiative, aber in Form von Bitten und Gesuchen an den König. Die Tatsache, dass Könige ohne die Stände nicht Steuern erheben können, trifft Bodins Meinung nach auf alle Fürsten zu und gibt keinen Hinweis auf ihre Souveränitätsstellung. Ist Notzeit aber braucht der König nicht auf das Parlament Rücksicht zu nehmen und beweist so im Ausnahmezustand seine souveräne Stellung (ein Argument, das später Carl Schmitt anhand von Hobbes' Theorie exponieren wird). Bodin entwarf einen Begriff der Souveränität als Tyrannis der Praxis, wenn die Not die Verletzung geltenden Rechts verlangt: nicht das Recht als solches steht im Zentrum, sondern es dient der Friedensfunktion aller politischen Ordnung (Dennert 1964, 70). Die Souveränitätslehre wurde lange Zeit als Vorarbeit zum modernen Staatsbegriff gedeutet. Die Verwendung des Souveränitätsbegriffs selbst indiziert noch keine semantische Vorbereitung des modernen Staatsbegriffs. Bodins Wortgebrauch ist schwankend, er verwendet „republique" ebenso wie „estat". Der Republik-Begriff ist formalisiert und meint jedes politische System, das gesetzmäßig und nicht willkürlich regiert wird: das ist die berühmte Eingangsformel der Republique: „Unter dem Staat [republique] versteht man die am Recht orientierte, souveräne Regierungsgewalt über eine Vielzahl von Haushaltungen und das, was ihnen gemeinsam ist" (I 1 ed. Mayer-Tasch I 98), eine Definition, die an Aristoteles erinnert, aber an entscheidender Stelle die aristotelische Tradition abbricht (Sternberger 1978 I 2930). Nicht jede politische Ordnung wird einbezogen (nicht die Tyrannis), die oikoi werden vor einem feudalen Gesellschaftsverständnis verstanden und es tritt das Merkmal der Souveränität hinzu. Worin Bodin dem modernen Staat nahe steht, ist sein Rechtsverständnis, das dem Recht eine dienende, friedensstiftende Funktion zuteilt. Ferner hat Bodin eine frühe Theorie des Beamtentums vorgelegt.

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Für Bodin kann der Staat nicht ohne den Beamten existieren (Republique III 2: Bd. I 428), weshalb er auch in jeder Staatsform auftaucht (436). Die Frage ist, in welchem Verhältnis er zur souveränen Gewalt steht. Bereits in Du Moulins Theorie führten Amtsträger eher die Befehle des Königs aus und sind daher nicht selbständig. Deshalb können sie vom König auch abgesetzt werden (Church 1941, 123; Skinner 1978 II 266-267). Dem widersprach jedoch die Praxis des Ämterkaufs. Bodins Erörterungen (IV 4) sind ein Kommentar zum verfassungspolitischen Kampf, den Michel d'Höpital gegen das selbständige Beamtentum geführt hatte (Kim 1997, 118-145). Ähnlich wie in der Frage des Verhältnisses des Königs zu den Ständen entwickelte Bodin sein Argument für die Abhängigkeit der Beamten und ihren Gehorsamszwang aus einer systematischen Darlegung des Gesamtproblems. Im 2. Kapitel des 3. Buches der Republique behandelte Bodin das Thema unter dem Stichwort Officiers et Commissaires. Beamte und Kommissare sind öffentliche Personen, ausschließlich im Bereich des Öffentlichen tätig und daher nur aus dieser Perspektive zu betrachten. Sie sind öffentliche Personen wie gewählte Magistrate, also beispielsweise wie Päpste oder Bischöfe (jedenfalls nach der Verfassung der alten Kirche). Beamte im Sinne Bodins bekleiden ein durch Gesetz geschaffenes Amt, ihre Kompetenzen werden durch dieses Gesetz geregelt und begrenzt. Das Amt wird dauerhaft zur Erfüllung einer allgemeinen Aufgabe geschaffen. Die Kommission dagegen wird nur für kurze Perioden gebildet und erhält Inhalt und Grenzen aus dem Auftrag. Die Kommission ist vor allen Dingen zur Erledigung besonderer, begrenzter Aufgaben zuständig, in welcher der Handelnde im Namen des Souveräns agiert. Bodin denkt hier auch an die Kontrolle der Amtsausübung von Officiers, also der regulären Beamten. Kommissare in der Begriffsverwendung Bodins sind hauptsächlich Diplomaten. Sie sind an die Weisungen des Auftraggebers gebunden, jeder Zeit rückrufbar und verfügen nur über wenig eigenes Ermessen. Beamte dagegen erhalten ihre Kompetenzen aus der Befehlsgewalt ihres Amtes und üben innerhalb dieser Grenzen ein freies Ermessen aus (III 2, Mayer-Tasch 1441). Üben sie das Amt mit einer selbständigen Befehlsgewalt aus, so sind sie nicht Beamte im engeren Sinne, sondern Magistrate. Beamte ohne Befehlsgewalt sind nur Hilfspersonen zur besseren Durchführung öffentlicher Angelegenheiten: Wahlhelfer, Liktoren, Vollzugpersonen. Magistrate dagegen schöpfen aus einer eigenständigen Kompetenz, die sich durch Auslegung der allgemeinen Prinzipien ergibt, durch welche das Amt beschrieben ist. Diese Unterteilung richtet sich besonders gegen Aristoteles Politik VI, der die verwirrende Vielzahl beamteter Tätigkeiten nach Bodins Meinung nicht sinnvoll differenziert hatte (III 3, ed. Mayer-Tasch I 447). Am weitesten geht die Magistratsstellung der Beamten bei den Richtern. Sie erhalten ihre Position aus allgemeinen Prinzipien und entscheiden nach allgemeinen Prinzipien, gegen die wiederum nur andere Richter urteilen können. Schließlich unterschied Bodin das Amtsgeschäft innerhalb des Staates, d.h. bevor es öffentlich gemacht wird, vom Amtsgeschäft in der Öffentlichkeit. Anhand dieser Differenzierung beantwortete Bodin die Frage, ob der Beamte Befehle auszuführen hat, die ihm unbillig erscheinen: im Verfahren der nicht-öffentlichen Beratung hat der Beamte laut Bodin die Pflicht hat, auf Ungerechtigkeiten und Fehler aufmerksam zu machen und sogar zur Not auf das Amt zu verzichten (Republique III 4, Mayer-Tasch 1471). Der Protest darf aber nicht außerhalb des souveränen Entscheidungsverfahrens sichtbar werden. Ist das Gesetz erlassen und auf dem Wege der Beratung nicht mehr zu revidieren, so muss der Beamte gehorchen, schon um die Untertanen nicht zum Ungehorsam zu verleiten. Immerhin könnte der Widerstand des Beamten ja an seiner Unfähigkeit liegen, die Beweggründe des Souveräns zu durchschauen,

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weshalb sein Widerstand größeren Schaden anrichten würde, als wenn man das ohnehin beschlossene Gesetz befolgt. Bodins Beamtentheorie unterlief demnach das republikanische Magistratsverständnis. Allgemein knüpfte später der Teil der politischen Theorie an Boodin an, der die Souveränität als Kern der modernen Staatstheorie sah (Heller 1927; für Althusius vgl. Scupin 1965, für England vgl. Krautheim 1977 und für Hobbes siehe King 1972). Zu völkerrechtlichen Fragen äußerte sich Bodin dagegen nur wenig, was mit seinem im Bürgerkrieg geschulten Problembewusstsein zu erklären ist; in diesem Feld griff Grotius erst dankbar Bodins Kategorie der Souveränität auf. Machiavelli-Rezeption,

Neo-Tacitismus

und Staatsräson

Die Bartholomäus-Nacht zementierte die Auffassung, wonach Machiavellis Name mit skrupelloser Machtpolitik identifiziert werden müsse. König Charles IX. hatte das Massaker auf Anraten seiner Mutter Katharina von Medici angeordnet. Sie übte über Jahrzehnte einen starken Einfluss auf die französische Politik aus, als Gattin König Heinrich II. und als Mutter dreier Könige, Franz II., der genannte Charles IX. und Heinrich III. Den Kritikern der königlichen Politik fiel es leicht, ihre florentinische Herkunft für den Modus dieser Politik verantwortlich zu machen und sie als eifrige Studentin Machiavellis zu bezeichnen. In der Tat ließ sich die Anwesenheit führender Hugenotten in Paris als occasione dechiffrieren, die man nutzen musste, um dem Feind einen vernichtenden Schlag zu erteilen. Der gedankliche Weg von Sinigaglia 1503 nach Paris 1572 war daher kurz. Die katholischen Guise galten fortan als Machiavellisten und die Karriere von Machiavellis Principe (der seine übrigen Schriften überstrahlte und so auch überschattete) erreichte einen negativen Höhepunkt. Nur vor dem Hintergrund der Regierungspraxis der Tyrannis ist die beispiellose Erfolgs- und Wirkungsgeschichte dieses kleinen Büchleins zu verstehen, das seinen Autor zum Inbegriff einer bestimmten politischen Denkweise stilisierte, dem Machiavellismus. Der Prozess der Verfemung setzte schon früher ein. Nach der Veröffentlichung des Principe 1532 verurteilte Pius IV. 1557 Machiavelli als verbrecherischen Schriftsteller, das Konzil von Trient setzte den Principe auf den päpstlichen Index verbotener Bücher (Index Librorum prohibitorum). Machiavellis Werk wurde dennoch intensiv studiert und häufig kompiliert (Agostino Nipho, De regnandi peritia 1523, Kaiser Karl gewidmet, erwähnt bei Lutz 1964, 25). Mit der Bartholomäus-Nacht beherrschte zunächst die antimachiavellistische Literatur den Diskurs, allen voran Innocent Gentillets Discours contre Machiavel von 1576 (Andrea 1970; Anglo 2004, 271-324,417-433). In England nahm sich die Bühne des Themas an. In der elisabethanischen Tragödie ist Machiavelli sprichwörtlicher Ausdruck amoralischer Politik. Im Prolog des etwa 1590 entstandenen Jew of Malta lies Christopher Marlowe Machiavelli sagen, sein Geist lebe jenseits der Alpen fort, auf den Opportunismus der katholischen Guise anspielend. Marlowe schrieb auch ein Stück über das Massacre at Paris. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde der Machiavellismus in England schließlich lexikalisch reflektiert. Rändle Cotgrave nahm in seinem Wörterbuch A Dictionarie of the French and English Tongues von 1611 den Eintrag „Machiavellisme" auf, den er als „subtill policie, cunning roguerie" definierte. In dem nachfolgenden Eintrag hieß es zu „Machiavellizer": „to Machiavellize it, to practice Machiavelisme" (zitiert bei: Anglo 2005, 572). Ob hier die Grundlage für die moderne angelsächsische Auffassung von Policy als technisch-strategischer Umgangsweise mit politischer Handlung gelegt wurde (Sternberger 1978 I 256-265, II 16-18, 159-161; 1980c, 85-94), ist fraglich. Denn es gibt auch wesentlich differenziertere Umgangsweisen. William Shakespeares Rezeption von

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Machiavelli näherte sich wieder der republikanischen Argumentation an (Hadfield 2005; ferner Roe 2002). Praktiker wie Kardinal Reginald Pole, Lordkanzler Thomas Cromwell, Bischof Gardener oder John Wolfe zeigten aus ihrer Kenntnis der politischen Rationalität heraus größeres Verständnis (Donaldson 1988, 1-110). Mit Alberigo Gentiiis, einem aus Italien nach England ausgewanderten Juristen, begann eine vorsichtigere Einschätzung Machiavellis. Wenn Machiavelli Machiavellist gewesen wäre, so hätte er die Herrschaftspraktiken absoluter Fürsten verheimlicht, hieß es. Mit ihrer Öffentlichmachung habe Machiavelli seine aufklärerische Absicht bewiesen (De legationibis libri tres 1582 III, 9). Im 17. Jahrhundert änderte sich die Rezeption vollständig: die Entrüstung machte der analytischen Rezeption Platz, wie Hermann Comings beweist, der eine umfangreiche Sammlung an Machiavelli-Literatur besaß (Stolleis 1990c, 86-94). Machiavelli wurde schon ein halbes Jahrhundert später für Republikaner um James Harrington zu einem positiven Resonanzboden für ein bürgerschaftliches, zugleich an Cicero orientiertes Politikverständnis, das sich an den Problemen der Selbstregierung orientierte (Raab 1964). In Frankreich kam es dann mit der Festigung der königlichen Regierung zu einer allmählichen Beruhigung und teilweisen Neueinschätzung. Gabriel Naude (Donaldson 1988, 141185), Bibliothekar Kardinal Mazarins, bekannte sich in seiner Bibliographia politico zu Machiavelli. Auch hier initiierten Praktiker die (allerdings vergebliche) Rehabilitierung Machiavellis, vor allem Kardinal Richelieu. Er veranlasste Louis Machon zu dessen Apologie pour Machiavel (Erstfassung 1643, zweite, nachrangige Fassung 1668). Aus Machons Nachlass geht hervor, Richelieu habe ihm gesagt, alle, die zur Politik schreiben, referierten Machiavelli, ohne dass einer von ihnen den Mut gehabt hätte, seine Maximen zu rechtfertigen (Donaldson 1988, 187). Machon selbst neigte eher zu einer Art „biblical Machiavellism" (Donaldson 1988, 186-222): um der Durchsetzung der offenbarten Gebote willen seien vielerlei Mittel berechtigt. In der Machiavelli-Rezeption setzte ein, was in der Theorie der Staatsräson und der politischen Klugheitslehre systematisch fortentwickelt wurde: die Verselbständigung politischer Rationalität (Meinecke 1960; Schnur 1975; Münkler 1987; Stolleis 1990). Zunächst schien es, als sei politische Klugheit einfach gleichzusetzen mit Verschlagenheit oder Schläue in der Art, die gerne dem machiavellistisch genannten Verständnis von Politik zugesprochen wurde (Hennis 1968, 12-14). Die Staatsräsonlehre (Überblick nach Autoren bei Sfez 2000) spitzte die politische Klugheitslehre so sehr auf die Fähigkeit zur Erkenntnis des Vorteils und seiner effektiven Ausnutzung zu, dass sie von naturrechtlichen Autoren wie Samuel Pufendorf verächtlich alleine auf List und Verschlagenheit beschränkt wurde (De concordia verae politicae cum religione christiana 1675, 545). Machiavelli hat zwar im Principe diesen Eindruck erweckt, jedoch in den Discorsi klar gemacht, wie sehr auch freiheitliche Gemeinwesen auf die Klugheit ihrer Politiker angewiesen sind. Klugheit ist eine Eigenschaft, die jeder Politiker, Fürst oder Bürger, aufbringen muss. Da Klugheit und Staatsräson auf die politische Rationalität der Akteure abzielen, ändert sich ihr Inhalt in dem Augenblick, da nicht mehr wie bei Machiavelli in den Discorsi das Volk bzw. seine Sprecher als Akteure vorgestellt werden, sondern die Fürsten und ihre Ratgeber. Klugheit löste sich aus dem ethischen Tugendkanon und wurde anhand der Vielzahl der möglichen Handlungskonstellationen systematisiert (Johannsen 1972). Ein bedeutender Katalysator für diese Entwicklung war der Neo-Tacitismus, in dessen Mittelpunkt Justus Lipsius (1547-1606) stand und mit ihm die Niederlande. Zu ihnen zählten bis zum Unabhängigkeitskampf auch die spanischen Niederlande, d.h. der katholische Teil, dem

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Lipsius zugehörte. Die Niederlande waren keineswegs von Anbeginn ein Land praktizierter Toleranz gewesen. Die religiösen Konflikte auf engstem Raum, die orthodoxe Intoleranz, die Autonomiebestrebungen nach außen gepaart mit der sich steigernden Praxis politischer Autonomie prägten das Gesprächsfeld. Von Justus Lipsius bis Hugo Grotius (1583-1645) formierte sich ein breites Spektrum politischer Reflexion. Lipsius stand für die Idee der Staatsräson ein und fand in der Stoa jene moralische Grundhaltung, die es dem Individuum erlaubt, in großen Wirren sich selbst treu zu bleiben, sich zu disziplinieren und somit zugleich der staatlichen Herrschaftsgewalt zu gesteigerter Effizienz zu verhelfen. Grotius suchte dagegen nach einem Ausweg aus den kriegerischen Verstrickungen der konfessionellen Bürgerkriege und fand ihn in der Begründung einer neuen gedanklichen Tradition: dem juridischen Naturrecht, von dem dann ideengeschichtlich der Kontraktualismus einerseits und das moderne Völkerrecht andererseits abzweigten. Anders als Bodin verstand Lipsius den Bürgerkrieg nicht als Anomalie, gegen den souveräne Staatlichkeit Abhilfe schafft, sondern als andauernde Bedrohung, mit der es zu leben gilt, was sein Interesse an der späten Stoa und an Tacitus begründete. Das von Tacitus beschriebene römische Kaiserreich war aus einem Bürgerkrieg entstanden und seine Bürger waren wie Menschen eines eroberten Volkes behandelt worden, als Untertanen. Dies wich erheblich von der Situation ab, die Cicero und sein Lob der Republik vor Augen hatte und die für das stadtrepublikanische Oberitalien vorbildlich war (zur Rezeptionswende von Cicero zu Tacitus vgl. Tuck 1993; 1999, 10-11). Der Verdacht kaum auf, der Widerstand gegen Tyrannen habe desaströsere Folgen als die Politik der Tyrannen. Mit zunehmender Desillusionierung über die Fähigkeiten der Bürger, eine wohlgeordnete Selbstregierung in Freiheit auszuüben, wechselte schon Guicciardini von Machiavellis Vorbild der Livianischen Republik zum Taciteischen Kaiserreich (Ricordi Nr. 13, 18, 300, 301). Der Dichter Boccachio hatte die Historien des Tacitus und die Bücher XI-XVI der Annalen wahrscheinlich bereits 1362 entdeckt. Die ideengeschichtlich wirkungsvolleren ersten 6 Bücher der Annalen fand Arcimbaldo erst 1509 im Kloster Corvey. Die Annalen wurden erstmals 1515 im Auftrag des Papstes Leo X., dem Guicciardini diente, von Filippo Beroaldo gedruckt. Machiavelli kannte Tacitus' Annalen nur rudimentär, vermutlich waren ihm Auszüge durch einen Brief des Kardinals Soderini aus Rom an Virgilio, seinem Kollegen in der florentinischen Administration, bekannt (Schellhase 1976, 12-13). In den Discorsi (III 19) zitierte er aus den Annalen eine Stelle (3,55), die dort gar nicht existiert. 9 Machiavelli kontrastierte Tacitus' Auffassung von der Nützlichkeit der multitudo mit seinem eigenen Ansatz des Umgangs unter Freien und Gleichen. Am Beispiel des Lucius Junius Brutus demonstrierte Machiavelli, wie man sich in einer Alleinherrschaft zu verhalten hat: man muss sich zur Not auch verrückt stellen. Ansonsten empfahl er die Abstandwahrung (Discorsi III 3). Dies ist aber nicht deckungsgleich mit der taciteischen Fragestellung, wie ein freisinniger Bürger unter einer irreversiblen Fürstenherrschaft zu leben habe, denn Machiavelli hatte mit dem Brutus-Beispiel natürlich die republikanische Überwindung der Alleinherrschaft im Auge. Guicciardini dagegen sah die Tyrannis immer stärker als unüberwindbar an, womit sich auch die Aufgabe der Bürger wandelte. In den Ricordi (Nr. 220) beschrieb er Möglichkeiten der

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Hinweis in Discourses ed. Mansfield/Tarcov 216. Man darf angesichts der präziseren Zitate aus den Historien in I 29 und III 6 vermuten, dass Machiavelli eine rasch und fehlerhaft angefertigte Abschrift der gerade erst aufgefundenen Annalen konsultierte.

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Bürger, auf den Tyrannen einen guten Einfluss auszuüben, indem man sein Vertrauen gewinnt und ihn so zu überreden vermag, Gutes zu tun. Hier war Tacitus ein Augenzeuge für das Problem freiheitlich gesonnener Bürger, sich mit einer Tyrannis abzufinden, die man nicht abschütteln kann. Das machte ihn am Ende des 16. Jahrhunderts wieder interessant, als seine Rezeption im Neo-Stoizismus den Höhepunkt erlebte, obwohl Tacitus' negative Einstellung zu Christentum und Judentum diese im 16. Jahrhundert nicht leicht machte (Schellhase 1976). Lipsius brachte in einer der letzten großen humanistischen Editionsleistungen das Werk Senecas heraus. An der späten Stoa, zumal an Seneca interessierte ihn die Ethik des Skeptizismus, die er als die einzig mögliche Haltung des Gelehrten in seiner eigenen, unruhigen Zeit propagierte (Saunders 1955; Oestreich 1969, 35-79; 1989). Der republikanische Ruf nach innerer Eintracht war am Ende des 16. Jahrhunderts in Nordeuropa angesichts der konfessionellen Erschütterungen unplausibel geworden. Eroberungen der Protestanten führten zu Repressionen bei den verbliebenen Katholiken, katholische Rückeroberungen zu Repressionen im protestantischen Teil der Bevölkerung. Die protestantischen Bilderstürme 1566 und 1578 erhöhten nicht gerade die Beliebtheit der Calvinisten. In ihrem Namen wurde ebenso gemordet und verwüstet wie umgekehrt die Gegenreformation gewalttätig zu bekehren suchte. Gegen die calvinistische Orthodoxie formierten sich die Arminianer, die in der Gnadenlehre weniger streng waren. Lipsius' Leben war repräsentativ für die zeitgenössische Fähigkeit, sich den sich ändernden Zeitläuften anzupassen, und zwar je nachdem, wo man sich gerade aufhielt (Waszink 2004). Lipsius war katholisch getauft, wurde 1572 Lutheraner in Jena, erneut katholisch in Löwen 1573-1578 (wo er eine reiche, fromme Katholikin heiratete), wechselte in Leiden zum Calvinismus 1578-1591 und wieder zum Katholizismus in Löwen und verstarb in diesem Glauben. Inmitten der äußeren Schicksalswendungen suchte Lipsius in dem an Seneca angelehnten Werk De Constantia inneren Halt. In der Einleitung zu seinem politischen Hauptwerk, der Politico von 1589, sagte Lipsius, in De Constantia habe er sich mit dem Gehorsam und der inneren Unabhängigkeit des cives beschäftigt, die Politica nun nehme die Perspektive des Regierenden ein (ed. Waszink S. 230). Ethik und Politik standen bei ihm in einem engen Verhältnis zueinander (Abel 1978, 79-81). So sehr Lipsius die Regierungstechnik der Abschreckung ablehnte, wie sie in der von Seneca überlieferten Sentenz „oderint dum metuant" (mögen sie mich hassen, so lange sie mich fürchten) verdichtet überliefert wurden (De Clementiae 2, 2, 2), so sehr versuchte er zu verstehen, warum Tyrannen zur Furcht Zuflucht nehmen; sie tun es „cum causa", weil Furcht Menschen passiv macht (Politica IV 12, 1). Die gesuchte innere Haltung ist also nicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln, sondern beinhaltet die Furchtlosigkeit und darin die Unabhängigkeit vom Tyrannen. Lipsius beklagte, dass die Religion Ursache des Aufstands war und so unzählige Existenzen ruiniert und Menschenleben zerstört habe (Politica IV 3). Tacitus, den Lipsius während seines Aufenthaltes in Rom schätzen lernte, gab ihm die Möglichkeit, Parallelen zu ziehen zwischen jener und der eigenen Zeit. Das macht er 1572 in einer Vorlesung in Jena deutlich, in der er Tacitus' Darstellung von Tiberius mit Albas Wüten („sanguinolentus tyrannus") in Flandern verglich (Schellhase 1976, 118-119). Lipsius war weit von der monarchomachischen Widerstandslehre entfernt; gleichwohl provozierte er besonders in der katholischen Kirche Kritik, weil er religiöse Fragen der Gesetzgebung unterwarf (Waszink 2004, 173190). Er limitierte diese Regelungskompetenz zwar, stellte aber deutlich die Religion im Lichte ihrer Bedeutung für die Politik dar: Religion ist die Bindekraft des Gemeinwesens

2 V o m oberitalienischen R e p u b l i k a n i s m u s z u m Machiavellismus

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(Laktanz zitierend: De Ira 12, Patrologia Latina 7, 114) und zur Erzielung bzw. zur Einhaltung der Eintracht ist es erforderlich, eine einheitliche Religion zu erreichen (Politico. 4, 2). Der Maler Peter Paul Rubens stand in engem Kontakt zum Kreis um Lipsius und fertigte das Titelkupfer für dessen Opera Omnia an (Morford 1991, 139-145): Darin steht Seneca für die philosophische Seite des Werks von Lipsius, Tacitus ist der Patron der politischen Seite. Die weibliche Figur der Politica hält ein Ruder in ihrer Hand, das Symbol guter, stetiger Regierung und einen Speer in der anderen, Zeichen der Wehrhafitigkeit. Auf ihren Knien ruht eine Weltkugel als Zeichen imperialer Herrschaftsfähigkeit, auf ihrem Haupt befindet sich die Mauerkrone, der altrömische Lohn für bürgerschaftliche Tugend (für denjenigen, der als erster die gegnerische Mauer erstürmte). Unter der Politica ist die Büste des Tacitus angeordnet, neben dem Merkur steht, hier als Garant des Friedens und der rednerischen Überzeugungskraft, den Attributen ziviler Regierung. Ferner ist zu ihren Füßen die personifizierte Tugend zu sehen mit Schwert und Helm. Seneca und Tacitus umsorgen beide die von der Wölfin genährten Romulus und Remus am Fuße des gesamten Titelkupfers (Morford 1991, 142). Die zahlreichen an den Republikanismus erinnernden Embleme fuhren jedoch etwas in die Irre. Zu Beginn der Politica gab Lipsius eine Definition von vita civilis, die keine Spuren des bürgerhumanistischen Politikverständnisses mehr aufweist: Leben erfolgt in menschlicher Gemeinschaft zu gegenseitigem Nutzen; die aktive Anteilnahme am politischen Schicksal der politischen Ordnung ist nicht mehr mit dem individuellen Glück verknüpft. Politik ist nur noch Regierungshandeln. Die Tugenden finden sich nicht in der Bürgerschaft, sie sind Eigenschaften staatlicher Akteure. Staatliche Akteure können aber auch Frauen sein. Lipsius trug die Argumente zusammen, die traditionell gegen die politische Partizipation von Frauen vorgebracht wurden (Unvernunft, Leidenschaft), hielt sie aber nicht für stichhaltig, da die Tugend unabhängig von Eigentum oder Geschlecht in den Menschen wirksam sein kann und einige der besten Herrscher Frauen waren (II 4), was auch eine Reverenz an Elisabeth I. war, deren Truppen den Unabhängigkeitskampf der Niederlande unterstützten und mit deren Truppenführern Lipsius korrespondierte. Der Krieg prägte Lipsius' Begrifflichkeit (Sommer 2001). Die Realität des Krieges zwingt seiner Ansicht nach die Akteure zu einer rationalen Betrachtungsweise der Politik, denn hiervon hängt ihr Erfolg ab. Lipsius thematisierte aber auch, wie der Krieg instrumentell als Mittel gegen das Aufkommen innerer Aufstände missbraucht wird (Politica VI 7). Trotz der Veränderung in der Militärtechnik (Feuerwaffen) pries Lipsius die römische Disziplin als Kern ihrer militärischen Tüchtigkeit: besonders im Bereich der Infanterie optimiert sie die Verwendbarkeit der Truppen und damit die taktischen und strategischen Optionen des Feldherrn. Noch bevor Lipsius in seiner De militia romana libri quinque. Commentarium ad Polybium (Antwerpen 1596) die Beschreibung der römischen Kriegführungstechnik durch den griechischen Historiker wieder einem größeren Publikum zugänglich machte, hatte Moritz von Oranien zusammen mit seinem Vetter Wilhelm von Nassau in der antiken Literatur (besonders in der Taktik des byzantinischen Autors Aelian) das Vorbild für die nötige Reorganisation der niederländischen Infanterie gefunden, um den kriegserprobten spanischen Tercios standhalten zu können (Reinhard 1986). Moritz hatte in Leiden 1583-1584 studiert und dürfte dort auch bei Lipsius gelernt haben. Der Einfluss von Lipsius war eher intellektueller Art gewesen und fiel mit mentalen Wandlungen der politischen Kultur zusammen, für die Gerhard Oestreich den Begriff der Sozialdisziplinierung bzw. der Fundamentaldisziplinierung geprägt hat (Oestreich 1969b; vgl. hierzu Schulze 1987). Die Disziplin als ethische

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Konzentration auf die innere Haltung, die Standfestigkeit inmitten wechselnder äußerer Bedingungen, bewährt sich in der Haltung des Untertanen gegenüber der Tyrannis ebenso wie beim Soldaten in der Schlacht (Prodi 1995). Für die Staatsräson-Tradition sind Lipsius' Erörterungen zum Klugheitsbegriff und der Bezug, den er zwischen prudentia und ratio status herstellt, maßgeblich geworden. Seine begriffliche Vorgehensweise erinnerte im allgemeinen an die Methodik, die Petrus Ramus begründet hatte (Abel 1978, 229-235; Oestreich 1989, 111). Ramus stand mit seiner begrifflichen Differenzierungslogik in Konkurrenz zur diskursiven Tradition (Ong 1953). Er fächerte Bedeutungen und Anwendungen der Begriffe in stammbaumartigen Verzweigungen auf. Die Klugheit bei Lipsius glich einer Systematisierung der in den historischen Werken des Tacitus verstreut niedergelegten Maximen (Morford 1993). Die Bücher 3-5 beschäftigen sich mit allen Varianten der Klugheit im Bereich der Regierung: die Klugheit gegenüber Fremden (Buch 3) und die Prudentia nach innen (Bücher 4-5), die im Räsonnement des Politikers im Verhältnis zu seinen Ministern und Ratgebern besteht. Sie ist wiederum unterteilt in „prudentia togata," womit die zivile, gesetzgeberische Klugheit gemeint ist und in die militärische Klugheit. Die zivile Klugheit unterteilt Lipsius nach den Regelungsgebieten res divinae und res humanae. Lipsius' Machiavelli-Rezeption wird in seiner Gegenüberstellung von prudentia civilis (IV 4-7) und prudentia mixta spürbar (IV 13-14; vgl. Oestreich 1989, 184-185). Die prudentia civilis ist die Fähigkeit zum beständigen Regieren, die auf Gewalt und Tugend zur Förderung und Festigung der politischen Ordnung beruht (IV 7). Die Klugheit muss zwischen der allgemeinen Forderung nach Ehrenhaftigkeit, Treue und Gesetzmäßigkeit einerseits, die Lipsius als den wünschenswerten Weg fordert, und den Bedingungen andererseits abwägen, unter denen diese Forderungen umgesetzt werden sollen. Das betrifft natürlich die besonders schwierige Frage, ob die Klugheit auch zu unehrenhaften Verhaltensweisen raten kann. In den Ausgaben vor 1596 lobte Lipsius an dieser Stelle (IV 13, ed. Waszink S. 511) Machiavelli als Vorbild für die Listigkeit. Im Bereich der prudentia mixta unterschied er nach leichtem, mittlerem und schweren Betrug: Verstellung und Misstrauen sind leichter Betrug und zu empfehlen, Bestechung und Täuschung sind als mittlerer Betrug zu dulden, wogegen Treulosigkeit und Ungerechtigkeit als schwerer Betrug eindeutig verdammt werden. Viele Motive, die bereits Machiavelli behandelte, wurden von Lipsius neu aufgegriffen, ohne den Florentiner selbst nennen zu müssen. Bezüglich des Löwe-Fuchs-Motivs referierte Lipsius vorsichtigerweise die Lysander-Biographie Plutarchs selbst und die anekdotische Auflistung bei Erasmus. Lipsius stellte das Motiv jedoch in einen streng systematischen Kontext (IV 14) und grenzte sich darin von der etwa zeitgleichen Arbeit Giovanni Boteros (1540-1617) zur Staatsräson ab (Ragione di stato 1589), die auch das Lysander-Motiv benutzte (II 5 und IX 22). Botero hatte dem Staatsräson-Topos zu großer Verbreitung verholfen (Chabod 1967; Behnen 1987). Von Machiavelli zu Lipsius und Botero reicht der an kriegerischen Handlungserfordernissen geschulte Blick für die Klugheit als Maß aller Verhaltensmaximen (Behnen 1986). Eine typische Gestalt für Theorie und Praxis der Staatsräson war Kardinal Richelieu (15851642), der führende französische Politiker in der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert. Als oberster Minister übte er eine sprichwörtliche Machtpolitik aus, die offenkundig gegen das normative Programm seiner Soutane verstieß. Richelieu bezog sich hierfür auf die Staatsräson. Sie ist ihm nicht nur die Rechtfertigungsbasis seines politischen Handelns, sondern beschränkt zugleich die Herrschaftsausübung des Königs. Richelieus Forderung bestand in

2 Vom oberitalienischen Republikanismus zum Machiavellismus

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nichts geringerem, als das monarchische Interessenkalkül, das in dynastischer Zielbestimmung, persönlicher Willkür und Vorlieben besteht, gegen die Perspektive des objektiven Staatsinteresses einzutauschen, welches zu verteidigen dem König wie einem Amtsinhaber aufgetragen ist. Richelieu legte dies als Regel in seinem Politischen Testament fest: „Die Räson muss die Regel und Führerin eines Staates sein. (...) Wenn der Mensch in hervorragender Weise raisonnable ist, so muss er in hervorragender Weise auch die Räson regieren lassen" (II 2). Das galt besonders für den Fürsten. Der Lohn ist Gefolgschaft, welche um so bereitwilliger erfolgt, je mehr die Untertanen wissen, dass die „Räson Führerin all seiner Handlungen" ist. Richelieu bezeichnete die Leidenschaft als Gegenspielerin der Räson und verlangte daher den Verzicht darauf. Eitelkeiten oder persönlicher Hass dürfen keine bestimmende Rolle bei der Festlegung der Politik spielen. Fürsten stimmen freilich gern den Anforderungen einer gemeinwohldienlichen Politik zu, wenn sich keine Hindemisse finden. Wirken aber „Frömmigkeit, Mitgefühl, Gunst, Aufdringlichkeiten" auf sie ein; haben sie dann nicht genug Kraft, ihre Leidenschaften zu kontrollieren und Sonderinteressen geringzuschätzen, so unternehmen sie nicht das Nötige. Die Staatsräson wird als moralische Kraft verstanden, um die - rein intellektuell gesehen leicht einsehbaren - Handlungserfordernisse unbeirrt und tatkräftig zu verfolgen. Die moralische Qualität der Staatsräson-Argumentation Richelieus bekämpfte das irrationale Element, das in der Willkürlichkeit des monarchischen Regimes steckt, wenn es durch Launen und Geschmack, schlimmer noch: durch Ambitionen und Ruhmsucht bestimmt wird. Es lässt sich also ein weiter Bogen von der ambizione zur Politik des Interesses spannen (Hirschman 1987). In diese Linie gehören Autoren wie der Herzog Henri de Rohan (15791638), die eine Perspektive des a-personalen Staatsinteresses mit eisiger Kühle entwickelten. Rohan war zunächst ein führender Politiker der französischen Calvinisten gewesen, trat nach der Eroberung von La Rochelle aber in venezianische Dienste und wurde schließlich Botschafter Ludwig XIII. in der Schweiz. Sein De I 'interest des princes et estats de la Chrestiente von 1638 zielte weniger auf eine Apotheose der Macht als vielmehr auf eine nüchterne und leidenschaftslose Sachlichkeit, die an die Stelle der von Emotionen beherrschten Fürstenpolitik treten soll. Die Kalkulation hat etwas rationales, die Emotionen sperren sich dagegen: „Die Fürsten kommandieren den Völkern und das Interesse kommandiert Fürsten," so formulierte es Rohan im einleitenden Satz (bei Meinecke 1960, 210; Salmon 1987b). Was zunächst auf den Fürsten zielt, gilt aber für jeden, der im Staat agiert (De L 'interest des princes Einleitung zu Teil II, bei Hirschman 1987, 43). Das von der Vernunft geleitete Interesse soll gegen Begierden und heftige Leidenschaften Richtschnur des Handelns sein. So wird das emotional geprägte Willkürregime der Fürsten bei Rohan in ein rationales Korsett geschnürt. Rohan meinte mit Interesse das Interesse des Staates im Unterschied zum Interesse des Herrschers an dem Wohlergehen seiner Person oder seiner Familie. Die Staatsfuhrung erhält damit ein Ethos der Sachwalterschaft. Mit der Zurückdrängung der Emotionen aus dem Kreis der Handlungsmotive verschwinden freilich nicht nur Rache und Ruhm, sondern auch Mitleid und Gerechtigkeitsempfinden. Mit einer Mischung aus Bewunderung, Respekt und Abscheu betrachtete Max Weber später diese Rationalisierung der Politik, die er in Anspielung auf Tacitus' Umschreibung der Abgeklärtheit des Historikers definierte: „'Ohne Ansehen der Person', ,sine ira et studio', ohne Hass und deshalb ohne Liebe, ohne Willkür und deshalb ohne Gnade, als sachliche Berufspflicht und nicht kraft konkreter persönlicher Beziehung erledigt der homo politicus ganz ebenso wie der homo oeconomicus heute seine Aufgabe

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gerade dann, wenn er sie in idealstem Maße im Sinn der rationalen Regeln der modernen Gewaltordnung vollzieht" (Wirtschaft und Gesellschaft 361). Der Aspekt der Staatsklugheit verselbständigte sich im 17. Jahrhundert in der „Arkanliteratur", in welcher über die Herrschaftspraxis als geheime (arkane) Wissenschaft vermittelt wurde. Das Buch De arcanis rerumpublicarum libri sex (Bremen 1605) des Nürnberger Juristen Arnold Clapmarius (1574-1604; eigtl. Klapmeier) ist ein Beispiel hierfür. In einer Art Handbuch der praktischen Politik entwickelte Clapmarius im Anschluss an Bodin und Machiavelli Maximen politischen Regierens für den fürstlichen Ratgeber (Donaldson 1988, 111140). „Geheim" sind diese Ratschläge, weil sie an Wirkung verlieren, wenn sie in aller Öffentlichkeit gegeben oder dort diskutiert werden (Hölscher 1979, 133). Clapmarius definierte diese Arkana als „intimas et occultas rationes sive consilia eorum", als verborgene Mittel und Ratschläge zum Erhalt des Friedens, der Herrschaft und zur Sicherung des Gemeinwohls (I 5). Vorbilder waren ihm im Anschluss an Lipsius einschlägige Passagen bei Aristoteles (Politik 8) und besonders Tacitus (Annalen II 36). Clapmarius differenzierte die Mittelwahl nach den Regierungsformen, in welchen sie nützen sollen: die Beherrschung des Volkes erfordert andere Mittel als die des Adels. In der Sache folgte Clapmarius der von Botero gelegten Spur (Münkler 1987, 285) gab ihr aber eine für den deutschen Diskurs bezeichnende Wendung ins Juridische: die Herrschaftsmittel sind nicht nur politisch nötig und klug, sie haben auch ein rechtliches Fundament. Im Abschnitt „De iure dominationis" bezeichnet er die Durchbrechung des Rechts als Recht des Herrschers. Am Beispiel des Raubs der Sabinerinnen demonstrierte Clapmarius diesen Umstand: um das Recht zu erhalten muss der Herrscher das Recht manchmal verletzen (IV 7). Zugleich ist diese Textgattung bemüht, sich vom Odium des Machiavellismus zu befreien: Machiavelli wird ständig kritisiert und die Distanz zu seiner Lehre ostentativ hervorgehoben. Botero hatte das vorgemacht, am deutlichsten fand sich dies bei dem Tübinger Juristen Christoph Besold (1577-1638), einem Freund Keplers, der in habsburgische Dienste trat und später zum Katholizismus konvertierte, weswegen er an die Universität Ingolstadt wechseln musste. Seine De arcanis rerumpublicam (1641) wurde oft mit Clapmars Werk zusammengebunden. Besold stellte in De consilio politico (1622) die politischen Ratgeber in die Nähe der Theologen (II 6, 11): für beide ist die Treue zum Herrscher entscheidend (zu Gott oder zum Staat). Machiavelli dagegen denunzierte er als Beispiel amoralischer Arkanpolitik (II 9, 17), der Staatsdienst sei bei ihm zum Götzendienst erniedrigt worden (Praecognita 32). Noch Hermann Conring (1606-1681) beschäftigte sich intensiv mit der Staatsräsonliteratur. Conring hat Machiavellis Principe ins Lateinische übersetzt und kommentiert. Er schwankte zwischen Bewunderung und Zurückweisung. Nicht fürstliche Herrschaft, sondern Tyrannis sei sein Gegenstand gewesen. Der Politiker sollte als Arzt („doctor Politicus") die von Machiavelli dargebotene Arznei nur ausnahmsweise verabreichen, denn sie sei und bleibe Gift (Machiavelli Princeps Prolegomena, opera II 994). Die Staatsräson unterliegt immanenten Einschränkungen, die aus Religion, Ehre und vor allem aus der Vertragstreue resultieren (Stolleis 1990c, 79-80). Conring grenzte die Politik mit der ihr eigenen Klugheits-Rationalität von der Rechtswissenschaft ab. Klugheit ist ihm ein ausschließlich politischer Begriff und zwar auch im Bereich der Gesetzesanwendung, insofern sie als Teil der Administration der Sphäre der Politik angehört {De civili prudentia liber unus 1662). Klug ist, was im menschlichen Leben das Nützliche vom Unnützen unterscheiden lehrt (III §§11 und 15, opera III 292-293; vgl. Willoweit 1975, 133). Daher kann man auch nicht alle Gesetze auf das römische Recht zurückführen.

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„Nützlich" ist aber bereits nach der Lehre der Stoiker, insbesondere nach Tacitus nur, was auch als ehrenvoll und nicht als schändlich bezeichnet wird (§§ 7-9, opera III 285-286 im Anschluss an Ciceros De officiis). Voraussetzung der Staatsräson ist aber zunächst einmal die Kenntnis der staatlichen Angelegenheiten, und zwar neben seinen Gesetzen auch, was Aristoteles (Rhetorik I 4) als Hauptgegenstände der politischen Beratung auflistete: Steuern und Einkünfte, Krieg und Frieden, Schutz des Landes, Export und Import (Examen rerumpublicarum, ed. Rassem/Stagl 252). Die medizinische Metapher ist aufschlussreich für eine Form des „Paduanischen Aristotelismus", welcher aus der stärker empirisch arbeitenden Medizinforschung an der dortigen Universität ihre Vorbilder schöpfte (Stolleis 1990c, 99). Padua war zuvor Galileo Galileis geistige Heimat gewesen (Dreitzel 1970, 53-62). Conring verwarf dagegen Hobbes und bezeichnete dessen Theorie, wonach die Menschen von Natur aus in einem feindlichen Gegensatz zueinander stehen, als „absurdum dogma" (Dissertatio de civitate nova 1662, These XVIII, opera III 743), und als „horribili principio", da er nicht von einer natürlichen Geselligkeit, sondern von der Zwietracht ausging (De civili prudentia § 105, opera III 421). Conrings Widerstand hatte auch mit dem abstrakt-rationalen Schema von Hobbes' Argumentation zu tun. Hobbes habe auf unzulässige Art und Weise die modernen Wissenschaften von Galilei, Harvey, Kopernikus auf die Politik übertragen. Die Staatsräsonliteratur war auf den Staat fixiert, was sich vor dem Hintergrund des schwelenden konfessionellen Bürgerkriegs erklärte; ihre vorschnelle Identifizierung von Recht und Politik, von Wahrheit und Frieden wollte den Konflikt entscheiden, nicht schlichten (Hunter 2001, 66-68). In jungen Staaten wie Preußen wurde die Staatsräson zur leitenden Maxime, ja zum Selbsterhaltungsprinzip schlechthin stilisiert. Als die widerstrebenden Stände den Finanzbedarf der neuen Praxis stehender Heere, die der Große Kurfürst, Friedrich Wilhelm von Brandenburg eingeführt hatte, nicht decken wollten und sich hierbei auf ihre alten Freiheiten beriefen, da rechtfertigte der Kurfürst seine Verletzung dieser Freiheiten unter Rückgriff auf ein seinerseits altes, aber weitaus weniger fixiertes Prinzip, wonach „Noth (...) kein Gesetz leide (...) und (...) von allen Banden (entbinde)." Des Brandenburger Kurffirsten Geheimer Rat und Kanzler Daniel Weimann nannte das „Noth, Raison, allgemeines Interesse, res major" (zitiert bei Dipper 1975, 454). Die bemerkenswertesten Protagonisten der Staatsräson waren die preußischen Könige selbst, und am Ende dieser Kette Friedrich II. von Preußen (Nitschke 1995, 242-261), die in ihren Testamenten dieser Rationalität Ausdruck verliehen (Die Politischen Testamente). Doch mittlerweile hatte sich mit dem Naturrecht bereits ein neuartiger Paralleldiskurs ausgebildet und auch im deutschen Sprachraum etabliert.

3. Das Naturrecht und der souveräne Staat Das Naturrecht war die ideengeschichtliche Rezeptionsfläche für die Theorien des Individualismus, der subjektiven Rechte und des Kontraktualismus (mit der Differenzierung von Naturzustand und Gesellschaftszustand). Ferner ist es eine langlebige Tradition. Noch unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg kam es zu einer erneuten Renaissance des Naturrechtsdenkens und schuf eines der Fundamente für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 (siehe Abschnitt „Menschenrechte"). Ob man deswegen vom Naturrecht als einer eigenen „political language" sprechen kann (Tuck 1987), mit einer über Jahrhunderte hinweg unveränderten Semantik, lässt sich bezweifeln. Sowohl die „Natur" wie das

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„Recht" in diesem Wortkompositum unterlagen ganz unterschiedlichen Auslegungen: es kann das ontologisch-theologische Naturrecht im Anschluss an Thomas von Aquin gemeint sein, das in der politischen Philosophie bis in die Gegenwart hinein wirkt (Maclntyre 1987; Finnis 1980), wobei auch die nachaquinatische Naturrechtsdiskussion zur Kenntnis genommen werden sollte (Westermann 1998); es kann das rationale Naturrecht des Kontraktualismus sein, das bis Kant und die Kant-Rezeption reicht oder es ist das systematische Naturrecht, dessen sichtbarster Vertreter das moderne Völkerrecht ist. Den Unterschied macht dabei die Referenz von „Natur" (Crowe 1977, 255-275). In Piatons Politeia vertritt Thrasymachos das „Recht des Stärkeren", womit er das Recht den vermeintlich „natürlichen" Gegebenheiten nachahmen wollte. In der spanischen Spätscholastik, in jeder Hinsicht Ausgangspunkt des modernen Naturrechtsdenkens, stand der interne Zusammenhang von Natur und Gott im Vordergrund, was bis Pufendorf und Locke bedeutsam blieb; von Hobbes bis Rousseau dagegen hatte Natur mit innergesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten zu tun. Als „Recht" thematisierte Naturrecht den internen Zusammenhang von Recht und Gesetz und formulierte ein System von Rechtsprinzipien, das dem von Menschen gesatzten („positiven") Recht vorangeht. So wurde ein Völkerrecht denkbar, das ohne die Annahme eines Staaten umspannenden Weltreichs oder der Kirche als Rechtsinstanz auskommt. Naturrecht und Völkerrecht Hugo Grotius' (1583-1645) Stellung als „Vater" des klassischen Völkerrechts ist unbestritten, doch das jüngere Schrifttum hat Grotius auch als entscheidenden Ausgangspunkt des neuzeitlichen politischen Denkens ausgemacht (Tuck 1979; Schneewind 1998; Zuckert 1994). Er erkundete die Möglichkeit, politische Vorgänge nach rechtlichen Maßstäben zu beurteilen, durch ihn erhielt der Vertragsgedanke einen prominenten Platz in der politischen Theorie. Sein Einfluss reichte bis zur Schottischen Aufklärung (Haakonssen, 1996; 1998). Das Grotius anleitende Problem war nicht die Herrschaft nach innen wie bei den Vertretern der Staatsräson, sondern der Krieg als der herausragende Fall des Staatenverkehrs. Mitten im 30jährigen Krieg erschien sein Hauptwerk De iure belli ac pacis (1625), dessen Kategorien den Friedensschluss von 1648 erheblich beeinflussten. Neostoizismus und Staatsräsonliteratur nahmen den Standpunkt eines einzelnen staatlichen Akteurs ein, Grotius wollte das Verhältnis der Staaten zueinander erfassen, das im Krieg gestört ist und durch Recht neu organisiert werden kann. Grotius wuchs in einer gelehrten Familie auf und galt als Wunderkind. Sein Vater Jan war Kurator der Leidener Universität und mit Lipsius bekannt, sein Onkel Cornells dortiger Professor der Rechte. Grotius erwähnte in seinen Schriften wie in den Briefen in auffalliger Weise nie Lipsius. Im Kapitel „De Constantia" seines Frühwerks Parallelon Rerumpublicarum, ein 1602 verfasster Vergleich zwischen der athenischen, der römisch-republikanischen und der holländischen Verfassung, war keinerlei Hinweis auf Lipsius' Schrift enthalten (Eyffinger 1997, 167 erklärt dies mit Lipsius' machiavellistischer Perspektive). Grotius war bereits fünfzehnjährig in diplomatischen Diensten und erhielt den juristischen Doktorgrad in Frankreich. Mit 18 veröffentlichte er die erste von drei Tragödien. Er war zunächst anwaltlich tätig und wurde 1607 zum Generalanwalt der Provinz Holland ernannt. Auch wenn Grotius das Erbe von Lipsius nicht antrat, so folgt er dessen Spuren an manchen Stellen. Lipsius' Widmung seines Tacitus-Kommentars von 1581 an die niederländischen

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Generalstaaten hob den Nutzen der Bataver-Darstellung bei Tacitus hervor. Diesen Hinweis hatte Grotius in seiner Geschichte der antiken Vorzeit der holländischen Republik von 1610 (De antiquitate republicae batavicae, Einleitung 3) umgesetzt, und zwar in durchaus freier Verwendungsweise: er zitierte Buch IV der Historien des Tacitus als Beleg fur die Aussage des Bataver-Anführers Claudius Civilis, auf die Unabhängigkeit der Bataver von Rom besonders stolz zu sein, was sich bei Tacitus gar nicht findet (Waszink 2004, 69). Grotius' Patriotismus und republikanische Einstellung (Kossmann 2000, 31-50) versteifte sich später zu einem aristokratisch-patrizischen Elitismus mit absolutistischen Neigungen. Dies war vielleicht den Zeitumständen geschuldet, geriet er doch in den konfessionellen Konflikt über die Prädestinationslehre im niederländischen Calvinismus. Der gemäßigte Flügel unter Jakob Arminius erlaubte größere intellektuelle und religiöse Freiheit und Beweglichkeit, wohingegen die Orthodoxie unter Franz Gomarus die Einheit des Calvinismus verteidigte. Diese Frage wurde zu einer machtpolitischen, als sich Moritz von Oranien auf die Seite der Gomaristen schlug und die arminianischen Provinzen Holland und Utrecht bezwingen wollte. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen versuchte Grotius vergeblich zu vermitteln und neutral zu bleiben. Er wurde festgenommen und zu lebenslanger Haft verurteilt, welcher er auf abenteuerliche Weise und durch die Hilfe seiner couragierten Frau entfloh. Im Pariser Exil schrieb er dann sein 1625 fertig gestelltes Hauptwerk De iure belli ac pacis. Grotius versammelte darin wie in den scholastischen Summen zahllose Autoren von der Antike bis zum Mittelalter (Bartolus wird 31 mal zitiert, Baldus 30 und Thomas von Aquin 40 mal). Da die (auch konfessionell) unterschiedlichsten Interpreten zu ähnlichen Schlüssen kommen, ging Grotius davon aus, dass ihre Ansichten einen gemeinsamen Grund hatten, so wie man bei ähnlichen Wirkungen von einer gemeinsamen Ursache ausgehen kann, eine mit dem allgemeinen Menschenverstand begründete Annahme (I 1, 12, 1). Das Naturrecht gilt für alle natürlichen Wesen, ob vernunftbegabt oder nicht, eine dem Corpus iuris civilis entnommene Überlegung; 10 es liegt den von Menschen bewirkten Gesetzen zugrunde. Die Denknotwendigkeit des Naturrechts erzwingt die Überlegung, es müsse auch gelten, wenn es Gott nicht gebe oder er sich nicht um die menschlichen Angelegenheiten kümmerte {De iure belli, Prolegomena 11-13). Das bedeutete aber noch keine Verabschiedung Gottes, sondern eine bereits in der Scholastik (von Gregor von Rimini bis zu Francisco de Vitoria) erprobte argumentative Spekulation. Die Interaktionen der Individuen bilden zusammen mit der Größe „Gott" ein Dreieck: die Rolle Gottes wird nicht gestrichen, sondern so disponiert, dass sie für alle Konfessionen Geltung beanspruchen kann. Grotius verstand das Völkerrecht nicht als säkularisierte, positivistische Rechtsdisziplin. Er selbst beschäftigte sich umfangreich mit theologischen Fragen (die Opera omnia theologica umfasst drei Bücher in vier Bänden). Sein Völkerrecht als Teil seiner politischen Theorie basierte auf dem Naturrecht und einer Vorstellung vom Verhältnis der „Natur" zu Gott als Quelle der Verbindlichkeit dieses Rechts. Das wird verständlicher, wenn man die unmittelbaren naturrechtlichen Vorläufer von Grotius betrachtet, die spanische Spätscholastik, die gleichzeitig auch die eigenständige Idee des Völkerrechts hervorbrachte. Die Naturrechtslehre Thomas von Aquins blieb in der spanischen Spätscholastik, vom Dominikaner Vitoria zu Beginn des 16. Jahrhunderts bis zum Jesuiten Suarez im 17. Jahrhunderts, besonders prominent, schon weil Ordenstheologen in Spanien eine weiterhin beherrschende

Ulpian Dig. 1,1,1,3: „Ius naturale est quod natura omnia animalia docuit; nam ius istud non humani generis proprium, sed omnium animalium quae in terra quae in mari nascuntur, avium quoque commune est."

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intellektuelle Kraft waren (Skinner 1978 II 135-172; Tierney 1997, 288-315). Die Entdeckung der Neuen Welt am Ende des 15. Jahrhunderts schuf das Problem, eine begriffliche Grundlage fur den Umgang Spaniens mit den Völkern Amerikas zu bilden. Die Verbrechen der spanischen Eroberer an den einheimischen Völkern legitimierte die Amtskirche mit der Ungläubigkeit der Indianer. Ihre gewaltsame Unterdrückung fand jedoch nicht nur Billigung, provozierte Fragen der Herrschaftslegitimation, ihre Enteignung löste neue Diskussionen zum Eigentum aus. Kaiser Karl V. hatte zwar 1542 die „Neuen Gesetze" zum Schutz der Ureinwohner Amerikas unterzeichnet, die aber wenig Beachtung fanden. Besonders dominikanische Theologen protestierten energisch, an erster Stelle Bartolome de las Casas, der Bischof von Chiapas, der aus eigener langjähriger Anschauung von den Untaten der Konquistadores und der wirklichen Situation der Ureinwohner zu berichten wusste (Meier/Langenhorst 1992). Las Casas erzwang eine öffentliche Disputation, vermutlich in Anwesenheit Karls V., mit Juan Gines de Sepülvada in Valladolid 1550/51 (Losada 1971). Casas stützte seine Verteidigung der Indianer nicht auf naturrechtliche Gründe, sondern auf den Geist des Evangeliums (Hoornaert 1992, 56). Der Beichtvater des Königs, Domingo de Soto (1494-1560), moderierte die Disputation. Soto hatte in Paris mit Francesco Vitoria (1486-1546) studiert, beide waren dort Magister der Theologie. Sie begannen nun, das Problem systematischer anzugehen als Casas. Die Spätscholastiker konkurrierten mit der katholischen Staatsräsonliteratur jener Zeit, die im Zuge der Gegenreformation einen erheblichen Aufschwung erlebte (Fernandez-Santamaria 2005). Vitoria begründete die spanische Herrschaft vor dem Hintergrund der habsburgischen Idee der Universalmonarchie, setzte ihr jedoch naturrechtliche Grenzen (in den beiden Büchern De Indis und De iure belli aus seiner umfangreichen Theologie Relectiones theologicae XII: Political Writings). Auch bei De Soto ist noch die habsburgische Idee der Universalmonarchie spürbar. Fernando Vasquez (1509-1566) in den Controversiae illustres (1559) dagegen formulierte einen Begriff von Menschheit auch ohne Reichsidee. Er definierte die Herrschergewalt als Amtsgewalt im Sinne von Rechtsprechung, weshalb das Zufiigen von Unrecht und Schaden ihrem Wesen widerspricht (II 51 § 56 und praef. 107). Lenker des Staates müssen (unter Verweis auf Piaton und Cicero) ihr Handeln auf das Wohl der Bürger ausrichten, ungeachtet ihres eigenen Vorteils, selbst unter Gefahr des eigenen Lebens (I 2), und sie haben für das Gemeinwesen in seiner Gesamtheit zu sorgen, nicht nur für einen Teil unter Vernachlässigung der übrigen (praef. 31 nach Ciceros De Officiis I 25). Nur unter diesen Gesichtspunkten ist die Obrigkeit de lege naturali als gegebene Obrigkeit anzuerkennen. Der Gedanke der Volkssouveränität wurde hier vorformuliert, allerdings in rein legitimatorischer, nicht partizipativer Hinsicht. Ob in der spanischen Spätscholastik bereits eine Theorie natürlicher Rechte entwickelt wurde (Brett 1997, 123-205), die über privatrechtliche Fragen hinaus unveräußerliche Rechte beinhaltet, ist fraglich. Der Jesuit Francisco Suarez (1548-1617) hielt die „freiwillige" Versklavung 1612 für rechtens: da der Mensch sich selbst besitzt, kann er sich versklaven (Tractatus de legibus II 14, 18). In diesem Punkt folgte sogar Grotius zunächst noch Suarez (De iure belli I 3, 8, 1), und ließ diesen Gedanken erst später zugunsten der Annahme unveräußerlicher Rechte fallen (vgl. Tuck 1979, 71). Auch John Locke am Ende des 17. Jahrhunderts interpretierte gerade die biblischen Aussagen zur Menschennatur dahingehend, dass der Mensch sich nicht veräußern darf (nicht: kann). Dies Recht ist demnach von höheren Normschichten abgeleitet und gehört nicht der immanent gedachten Personalstruktur des Menschen an.

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Von bleibender Bedeutung war aber Suarez' Stufenmodell des Naturrechts (Völkerrecht), das die ältere Vorstellung einer historischen Entwicklung des Menschen von seiner vorgesellschaftlichen zur vergesellschafteten Lebensführung modellhaft strukturierte. Die Beziehungen der Menschen über ihre staatliche Gliederung hinweg regelt in diesem Modell eine eigene Rechtsebene: das Völkerrecht (Seelmann 1997). Die Frage war, ob dieses naturrechtliche Völkerrecht seinen Ausgangspunkt bei Gott oder bei der Vernunft nahm. Das Ankerargument des neuzeitlichen Naturrechts ist die Vernunft als Wesensbestimmung des Menschen. Diese Annahme erlaubte es, über die konfessionellen Konflikte um das rechte Verständnis Gottes und der richtigen Auslegung der Offenbarungsschriften hinaus allgemein gültige Aussagen zu machen. Die Natur des Menschen ist von Gott gegeben, daran zweifelte auch Grotius nicht und die Rationalität des Menschen erlaubt die Erkenntnis des göttlichen Willens {De iure belli I 1, 10), Vernunftnatur und Gottesgeschöpflichkeit blieben in einem engen Bezug gedacht. Suarez thematisierte dieses Verhältnis eingehender. Das Naturrecht findet in Gott 1) seine Ursache oder 2) seinen willentlichen Gesetzgeber. Fall 1 ist immer richtig (und, wie er sagt, zugleich eine Frage des richtigen Glaubens); Fall 2 dagegen nicht: das Naturrecht ist eine Frage der Untersuchung dessen, was gut und böse ist, und diese Frage kann beantwortet werden ohne Klärung der Ursachen von Gut und Böse, ähnlich wie die Frage nach der Farbe eines Gegenstandes unabhängig von einer Farbentheorie entscheidbar ist. Gott ist Autor und nicht Gesetzgeber (Suarez Tractatus de legibus II 6, 2). Dies richtete sich gegen Ockhamisten, die das Naturrecht vom Willen Gottes abhängig machten und daher dessen vollständige Erkenntnis durch rationale Schlüsse bestritten. Rationalität und göttlicher Wille sind Suarez identisch, weshalb die Verbindlichkeit des Naturrechts durch ihre göttliche Heiligkeit gegeben ist. Der göttliche Ausgangspunkt der Vernunft verleiht den Diktaten der Vernunft ihre verpflichtende Kraft und verschafft dem Naturrecht eine die Menschheit überwölbende Geltung, und zwar ohne weitere Auslegung des in der Offenbarung gezeigten Gotteswillens. Die Neutralisierung des Theismus im Sinne eines unmittelbaren Eingreifens Gottes in den Weltablauf schlug die Schneise, welcher Grotius folgte. Seine Abhängigkeit von Suarez ist evident (Edwards 1981, 27-70 ), wenngleich er ihn nicht namentlich erwähnte; das mag damit zusammenhängen, dass Grotius im Pariser Exil auf die Verurteilung der Schriften des Suarez durch das Pariser Parlement Rücksicht nehmen musste (Tierney 1997, 326-327). Neben Suarez war Gentiiis, der bereits als Machiavelli-Rezipient begegnete, ein für Grotius wichtiger Vorläufer. Alberigo Gentiiis (1552-1608), war ein aus Italien stammender protestantischer Rechtsgelehrter in Oxford. Seine Arbeiten leiteten eine Wende im Kriegsrecht ein (Prima commentatio de iure belli, London 1588 und De iure belli libri tres 1589), indem er auf originelle Weise pragmatische und juridische Überlegungen verknüpfte. Er formulierte das machiavellistische Grundanliegen in die Rechtssprache um (Panizza 2002): moralische oder normative Bewertungen müssen sachgerecht erfolgen, Theologen haben auf diesem Gebiet zu schweigen: „Silete theologi in munere alieno" (De iure belli I 12). Diese Sentenz richtete sich ausdrücklich gegen Texte wie Martin Luthers Türkenschrift Vom Kriege widder die Türcken (1528), der die Türkengefahr als Strafmittel Gottes gegen die Sünden der Christen interpretierte und die Allianzpolitik, um eine wirksame Verteidigung aufzubauen, skeptisch beurteilte (Molen 1968, 125). Gentiiis wies mit großer Verve solche Interventionen als sachfremd zurück. Sein Pragmatismus bezog auch die zeitgenössische Staatenpraxis in seine Überlegungen ein (Kingsbury 1998). Er rechtfertigte den Präventivkrieg, wenn dieser der Verteidigung diente (I 14) und löste sich von der Tradition der Theorie des gerechten Krie-

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ges: was, wenn beide Seiten Anspruch auf normativ tragende Rechtsgründe erheben können (siehe diachroner Diskurs „Idee des Friedens und des Krieges")? Selten konnte in der Geschichte eine Seite alle Gerechtigkeit für sich alleine beanspruchen. Grotius dagegen erstrebte einen Disziplinen umfassenden, integrativen Ansatz. Er teilte mit Lipsius die Akzeptanz des Krieges als einer politischen Struktur, die man nicht wie in den ethisch-humanistischen Schriften von Erasmus nur beklagen soll. Man kann den Krieg rational betrachten und so dazu beitragen, seine im konfessionellen Bürgerkrieg und dann im 30jährigen Krieg sichtbar gewordenen Schrecken entgegen zu treten. Er war sich darüber im klaren, dass die hierbei berührten Rechtsfragen auch aus der Perspektive der Staatsräson betrachtet werden können und man dann zu anderen Ergebnissen kommt. So diskutierte er den Präventivkrieg nicht nur als rechtliches sondern auch als politisches Problem. Er akzeptierte, dass die Klugheit von Politikern erfordert, dem an Macht wachsenden potentiellen Kriegsfeind zuvorzukommen, bevor er in einem offen erklärten Krieg nicht mehr überwältigt werden kann. Ein solcher Präventivkrieg ist aber rechtlich nicht zu rechtfertigen {De iure belli II 1, 17). Grotius warf daher Gentiiis vor, bei dieser Frage politische und rechtliche Erwägungen vermengt zu haben. Grotius griff Bodins Souveränitätsbegriff als rein formelles Merkmal auf, in der Regierungslehre war er neutral: Die Vielzahl der vorhandenen Regierungssysteme (I 3, 7) erzwinge die Anerkennung selbst absoluter Herrschaft, sofern die Betroffenen sich freiwillig unterwerfen (er spricht sogar von freiwilliger Versklavung: I 3, 8, 1). Weder lassen sich politische Gemeinwesen nach Art und Umfang ihrer gesetzgeberischen Tätigkeit definieren (II 5, 23 im Anschluss an Aristoteles, Nikomachische Ethik V 3) noch folgt ihre interne Organisation einem einheitlichen, naturrechtlich vorgegebenen Schema. Insbesondere kann laut Grotius der Vorrang der Volkssouveränität nicht aus dem Naturrecht abgeleitet werden {De iure belli I 3, 8, 1), worin er die ihm zu radikal anmutende Variante der Volkssouveränität in den calvinistischen wie den jesuitischen Widerstandstheorien zurückwies (Reibstein 1957, 216): Völker können versklavt sein, sie können unter der ungeteilten Herrschaft eines Einzelnen regiert werden, Völker können von anderen Völkern beherrscht werden und schließlich ist nie das ganze Volk an der Volksherrschaft beteiligt, das niedere Volk ist immer ausgeschlossen: Es gibt keine noch so freie Republik, in welcher nicht Arme, Fremde, Frauen oder Minderjährige von den Beratungen ausgeschlossen sind (I 3, 8, 6). Die Frage war nicht, was rechtlich an Regierungsmodellen empfohlen oder unterstellt werden soll, sondern was in gegebenen Fällen jeweils rechtlich zu tun sei (I 3, § 8, 1). Dennoch wird immer wieder deutlich, dass Grotius eine für das Ganze sprechende Mehrheitsvertretung als Regierungsform bevorzugte (II 5, 17). Der tatsächliche Besitz der Macht war für Grotius keine Voraussetzung für die rechtliche Anerkennung der Staatsgewalt (I 3, 14), die rechtliche Analyse ist von der politischen unabhängig. Die Staatsgewalt ist einheitlich aber teilbar (13, 17, 1), sofern die Teilung der Gewalten ausdrücklich und distinkt ist. Es reicht nicht, dass der Alleinherrscher dem Volk einen Teil seiner Kompetenzen abtritt oder die Wahl des Fürsten durch das Volk mit bestimmten Vorbehalten erfolgt, um das Volk als eigene Gewalt anzuerkennen. Grotius erachtete auch die Zustimmungsrechte der Stände bei bestimmten staatlichen Akten des Königs nicht als ein Indiz für das Vorliegen der Gewaltenteilung. Die Idee einer permanenten wechselseitigen Verpflichtung (mutua obligatio) lehnte er genauso ab (I 3, 9, 1) wie ein grundsätzliches Recht niederer Obrigkeiten, gegen die oberste Staatsgewalt vorzugehen (14, 6). Damit verabschiedete Grotius die monarchomachische Lehre. Die niederen Obrigkeiten verhalten sich

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zur obersten Gewalt wie Privatpersonen zur Obrigkeit: sie sind etwas anderes und ebenso wie Privatpersonen ist auch ihnen der Widerstand verboten (I 4, 2), da sonst die Staatlichkeit als solche bedroht wäre. Reklamierte jedermann ein privates Widerstandsrecht, wäre die Obrigkeitsstruktur permanent in Frage gestellt. Allerdings konzedierte Grotius ein effektives Widerstandsrecht in genau umrissenen Fällen: überschreitet in einer Republik die Obrigkeit ihre Kompetenzen und verletzt so die Kompetenzen anderer Obrigkeiten, ist genauso Widerstand geboten wie im Falle, dass eine gegen das Volk gerichtete obrigkeitliche Politik evident ist. Die Entscheidung, ob die Freiheit oder die Ordnung geopfert werden muss, ist freilich so komplex, dass man sie nicht dem Urteil des Einzelnen überlassen kann (I 4, 19, 2). Dem Selbsterhaltungsrecht des Einzelnen steht nämlich das aller anderen entgegen (I 4, 2, 1), die unter Umständen selbst in tyrannisch ausgeübter obrigkeitlicher Ordnung einen besseren Schutz finden als in der Anarchie. Daher gesteht Grotius auch dem Usurpator, dem tyrannus absque titulo, eine gewisse Legitimität zu: wenn die Leugnung seiner Gewalt dazu fuhren würde, dass Gesetze verstummen und Ordnung verschwindet, ist die einstweilige Gültigkeit der Bestimmungen des Usurpators anzuerkennen (I 4, 15, 1). Von privatrechtlichen Eigentumsregelungen bis zum Völkerrecht ist der Vertrag die Grundlage des grotianischen Naturrechts. Die „menschliche Gesellschaft" ist von Natur aus da, die „politische Gesellschaft", d.h. der Staat, existiert nicht von Natur, sondern nur kraft menschlicher Einsetzung. Anders als der Bund im Calvinismus konstruierte Grotius den Vertrag nach privatrechtlichen Vorbild. Der Vertrag ist die Obligation zwischen Individuen und nicht zwischen abstrakten kollektiven Subjekten, wie die Monarchomachen mit ihren Begriffselementen des Volkes und der Stände noch meinten. Wie diese Verpflichtung gedacht bzw. konstruiert werden muss, war das Thema des rationalen Naturrechts (Härtung 1998). Die Verpflichtung des Menschen beruht bei Grotius auf der eingegangenen vertraglichen Selbstbindung. Grotius radikalisierte die stoisch-christliche Lehre der personalen Autonomie zur Freiheit der individual-willentlichen Selbstverpflichtung, dem „Versprechen" (De iure Belli II 11-13; Diesselhorst 1959, 34). Bereits in seinen frühen Schriften definierte Grotius den erkennbaren Willen der Akteure, sich zu binden, d.h. im Versprechen, als Basis der Obligation. Der Mensch macht seinen Willen sprachlich wahrnehmbar, das Versprechen ist an die Sprache gebunden (Jurisprudence of Holland 1, 292-293, nach Tuck, 1979, 69-70). Der Fähigkeit zum Versprechen sind nur immanente Grenzen gesetzt: die Vermeidung von Widersprüchlichkeit oder die grundsätzliche Möglichkeit, das Versprochene überhaupt leisten zu können. Der individuellen Vertragstheorie stand das Gewicht der Lehre von Aristoteles (Politik III 9) entgegen, der die Vertragstheorie des Lykophron als unzureichende Beschreibung politischer Ordnung zurückgewiesen hatte. Aristoteles kritisierte, dass ein allein auf Vertrag gegründetes Gemeinwesen nur die Sammlung getrennter Einzelner sei, es dagegen auf die Tugend der Bürger ankomme, die der Vertrag selbst nicht herzustellen vermag. Der Jesuit Luis de Molina (1535-1600) betont am Ende des 16. Jahrhunderts, dass jede auf Vertrag beruhende Rechtsgemeinschaft in Gefahr gerate, denn die Kontrahenten könnten sich Rechte vorbehalten (De iustitia et iure 2, 22, 9 (1593/1609, Mainz 1659). Dagegen fand sich die Akzeptanz des Individualismus bei den Epikureern, die damit auf die hellenistische Auflösung der Polisbindung reagierten. Ihnen folgte Thomas Hobbes wenige Jahrzehnte nach Grotius. Die Gefahr der monadischen Auflösung der Ordnung wollte Hobbes durch die freiwillige Abtretung der individuellen Vertragsfreiheit auf den absoluten Souverän verhindern, die Freiwilligkeit

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sei motiviert durch die rationale Einsicht in die friedensbegründende Wirkung des Rechtsverzichts. Selbst Hobbes argumentierte noch in der Sprache des Naturrechts; der völlig voluntaristische Individualismus ist als Begriff erst dem 19. Jahrhundert bekannt (Lukes 1971) Grotius setzte zwar beim Versprechen des Einzelnen an, aber er beireite deswegen nicht das Individuum von aller Verpflichtung, sondern sah seine Fähigkeit zur vertraglichen Bindung als Ausdruck seiner Natur an, die er teleologisch definierte: die Verpflichtung besitzt eine ihr innewohnende natürliche Tendenz auf die Gemeinschaft, den „appetitus societatis" (De iure Belli, Prolegomena § 7), das Reststück der aristotelischen Naturbestimmung (Welzel 1962, 112-113), dem sich nun ein „affectus socialis" hinzugesellte (Prolegomena § 13). Das vertragliche Versprechen ist eine Form der Umsetzung dieser Sozialnatur des Menschen, welche Grotius auch für den Zustand vor aller politischen Ordnung anerkannte. Den Naturzustand wie Hobbes als Kriegszustand zu definieren lehnte Grotius ausdrücklich ab. Mersenne sandte im April 1643 ein Exemplar von Hobbes' De Cive an Grotius, der daraufhin seinem Bruder schrieb, dass er die Naturzustandstheorie von Hobbes als Verteidigung des Königtum deutete und grundsätzlich die Definition des Naturzustandes als Kriegszustand und die Pflicht des Bürgers, der Landesreligion Gehorsam zu leisten, ablehnte (nach Tuck 1993, 200). Hobbes' Theorie war unvereinbar mit der Annahme von Grotius, wonach der Mensch auf das Recht angewiesen sei, um die Unbill politischer Praxis wie eben der Kriegführung zu verringern. Dieses Recht ruhte auf der Vereinbarung der Betroffenen und nicht auf einer Fremdentscheidung. Die Rationalität des Naturrechts bestand für ihn nicht darin, aus rationalen Gründen auf das Gestaltungsrecht zu verzichten, sondern es rational zu gestalten. Grotius legte mit seiner Neutralität in der Regierungsfrage und mit dem formellen Souveränitätsbegriff den gedanklichen Grundstein für den Westfälischen Frieden von 1648 (Instrumentum pads Osnabrugiensis V §30 VIII §§ 1 u 2: ius territorii et superioritas; V 30: superioritas seu ius superioritas), worin auch die staatliche Unabhängigkeit der Niederlande festgeschrieben wurde. Die Friedensschlüsse von Münster und Osnabrück akzeptierten nur den souveränen Staat als Akteur und verlangten die gegenseitige Respektierung unterschiedlicher innerstaatlicher Verfassungen, zumal in Konfessionsfragen. Damit fiel das Papsttum als klassische Institution zur Sicherstellung des internationalen Friedens weg. Papst Urban VIII. konnte die sich ankündigenden Konzessionen an die Protestanten als Friedensvoraussetzung nicht verhindern, Papst Innozenz X. nach erfolgtem Abschluss des Westfälischen Friedens nur noch gegen die Religionsartikel des Westfälischen Friedens, die den konfessionellen Besitzstand auf das Jahr 1624 fixierten, protestieren. Damit war zwar das Ende der päpstlichen Machtpolitik noch nicht gekommen, aber man konnte niemanden mehr von seiner Suprematstellung überzeugen: „Das europäische Staatensystem emanzipierte sich vom Papsttum" (Jedin 1985b, 665). An die Stelle des Universalität beanspruchenden kirchlichen Friedensspruches trat das Völkerrecht. Der Westfälische Friedensschluss markierte den Beginn moderner Staatlichkeit, den Ausgangspunkt der "modernen" Staatenordnung des "Westfälischen" Systems gleichrangiger Staaten. Diese Ordnung war allerdings nur für einen sehr begrenzten Bereich gedacht, in welchem die Voraussetzungen für eine solche wechselseitige Anerkennung günstig waren. Die Erschöpfung der Kriegsparteien, der bereits im 16. Jahrhundert erprobte und im Bereich des Deutschen Reichs praktizierte konfessionelle Religionsfriede und die regionale Nähe der Beteiligten machten ein Einsehen unumgänglich. Neben die Alte Welt trat nun aber die Neue Welt hinzu. Die Errichtung kolonialer Ordnungen eröffnete auch eine neuartige Konkurrenz europäischer Staaten außerhalb des europäischen Schauplatzes. Der mittelmeerische Raum

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schließlich und der ottomanische Nachbar im Süden (zu Spanien) und Osten (zu Habsburg) stellte ganz andere Anforderungen, fur die die Westfälische Ordnung nicht gedacht war. Souveränität und

Mischverfassung

Mit der Souveränität wurde ein Merkmal der Staatlichkeit definiert, das anderen Staaten zeigte, wer sein Ansprechpartner war. Diese Klarheit setzte voraus, dass sich ein solcher Akteur innerhalb der staatlichen Ordnung finden ließ. In zwei wichtigen Fällen verwirrte die Souveränitätskategorie eher als zu erhellen: Deutschland und England. Das Deutsche Reich war der Hauptschauplatz des 30jährigen Krieges, zugleich die größte politische Ordnung im Herzen Europas. Wo lag seine Souveränität? Bis zum 30jährigen Krieg gab es zwei Modelle zur begrifflichen Klärung der politischen Ordnung des Reichs: die ältere Lehre verstand das Reich als Nachfolger des Römischen Reichs und betrachtete es aus der Perspektive der mittelalterlichen Tradition. Die „continuatio imperii Romani" war in spätmittelalterlichen Schriften wie Antonio de Rosellis Monarchia und Enea Silvio Piccolominis Epistola de ortu et auctoritate imperii Romani sowie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch in Francesco Zoanettis De Romano imperio ac jusrisdictione Uber zentral: Aus der Konfrontation mit der päpstlichen plenitudo potestatis-Theorie betonte dieser Strang die Macht des Kaisers nach innen und vernachlässigte so den Reichstag und die Stellung der Kurfürsten (Schubert 1966, 468- 469). Es war fur den Beginn der Diskussion um das Wesen der Staatlichkeit des Deutschen Reiches im frühen 17. Jahrhundert charakteristisch, dass spätmittelalterliche Arbeiten wie Peter von Andlaus Kaiser und Reich (Libellus de caesarea monarchia, auch De Imperio Romano genannt, 1460 geschrieben) nun das erste Mal gedruckt wurden, da man sich von ihnen zusätzliche Legitimationsschübe für den staatlichen Charakter des Reichs erhoffte (R. Müller 1998, 321-322). Solche unkritischen Anknüpfungen an die Geschichte hielten der nun einsetzenden Verfassungsgeschichtsschreibung nicht stand. Die Reichsgewalt wurde beispielsweise auf die „legibus solutus"-Lehre, wie sie das Corpus iuris civilis beinhaltete, gestützt, seine Geltung als verbindliches Gesetz in Deutschland habe Kaiser Lothar III. begründet. Diese Annahme widerlegte Hermann Conrings Kritik De finibus 1654 (opera Bd. VI, Kap. XXI-XXII, vgl. Wieacker 1967, 206-208). Die lutherische Staatslehre war hingegen an einer Reduzierung der Reichsgewalt interessiert, wollte die Stellung der Ständeversammlung stärken und vor allem die Reichsverfassung mit der für die Lutheraner zentralen Regelung zur Gleichrangigkeit der Konfessionen im Augsburger Religionsfrieden von 1555 für unantastbar erklären. In den Ausbildungsstätten des lutherischen Staatsrechts wie Helmstedt, (Caselius, Arnisaeus, Conring) galt Aristoteles als absolut herrschende Lehre. Conring legte dort 1656 eine Edition von Aristoteles' Politik vor. In Helmstedt wurden antretende Professoren auf die "wahre und reine Lehre Aristoteles' und Melanchthons'" vereidigt (Petersen 1921, 119). Die lutherische Staatslehre richtete sich gegen den Machiavellismus und versuchte an dessen Stelle einen christlich grundierten Klugheitsbegriff zu stellen: hierzu zählten Ch. W. Friedtliebs Prudentia politico Christiana von 1614, ferner Dietrich Reinkingks (1590-1664) Idee einer Biblischen Policey sowie Veit Ludwig v. Seckendorff und sein Vom teutschen Fürstenstaat aus dem Jahr 1656 (Grunert 2000), Conring hingegen vertrat wie gesehen eine vermittelnde Position (siehe Abschnitt „Machiavellismus"). Das lutherische Ständeinteresse entwickelte eine Präferenz für die Theorie vom Reich als „status mixtus" und zog hierzu die Tradition der Mischverfassungslehre heran (Arnisaeus, Besold, Limnaeus). Die Ausnahme war Reinkings Tractatus de Regimine saeculari et eccle-

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siastico 1619, der aufgrund seiner Bodin-Rezeption die Mischverfassungslehre prinzipiell zurückwies (Tractatus nr.223ss.; Schubert 1966, 501). Er betonte Bodins Theorie der Unberührbarkeit der leges fundamentales, zu welchen er die Stellung des Reichstages und den Religionsfrieden zählte. Formell und nominell ist also das Reichsoberhaupt souverän, darf aber nicht die Grundstruktur des Reichsgebildes antasten (Link 1987, 90). Auch Hippolithus a Lapide (d.i. Bogislaw Philipp Chemnitz 1605-1678) war in seiner Dissertatio de ratione status in Imperio Romano-Germanico von 1640/43 vom lutherischen Erkenntnisinteresse geprägt (Link 1987, 85-86), hier aus der Perspektive Schwedens, in dessen Diensten er stand. Aber auch Chemnitz verzichtete auf die Mischverfassungslehre und definierte das Reich als Aristokratie. Noch komplizierter war die calvinistische Theorie mit ihrer Unterscheidung von maiestas realis und maiestas personalis (Duchhardt 1977, 177). Modelle von geteilter, doppelter oder graduell differenzierter Souveränität befriedigten kaum das an Systematik interessierte rationale Naturrecht in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Schubert 478-490). Schon Conring war nicht damit zufrieden, dass die offenkundige Asymmetrie des Reichsgebildes zum Anlass genommen wurde, die staatsrechtlichen Formenbegriffe zu verwirren. Diesem Unbehagen gab Samuel Pufendorf den vehementesten Ausdruck. Samuel von Pufendorf (1632-1694) stand in der grotianischen Tradition, gab ihr aber eine stärkere Ausrichtung auf die Gesellschaftslehre. Pufendorf war von 1661 bis 1668 Inhaber des ersten deutschen Naturrechtslehrstuhls (Heidelberg) und griff von dort unter dem Pseudonym Monzambano auch in den Streit um die Auslegung der Deutschen Reichsverfassung ein (De statu Imperii Germanici 1667). Pufendorf machte die Ungeklärtheit der Souveränität für die Machtlosigkeit des Deutschen Staates verantwortlich. Seine im Vergleich zu anderen Staaten eigentümliche Struktur der verschiedenen Ebenen von Reich und Ländern und funktionale Souveränitätsdifferenzierung mache das Reich zu einem „irreguläre aliquod corpus et (tantum non) monstro simile" (4, 9), das sich nicht mit der Souveränitätslehre erfassen ließ. Die Bezeichnung „Monstrum" erregte großes Aufsehen, Pufendorf nahm die Bemerkung in späteren Auflagen ganz heraus, lenkte sie doch von dem Problem ab, die Eigentümlichkeit auf den Begriff zu bringen. Seiner Ansicht nach glich das Reich am ehesten einer Mischung aus Staatenbund und Monarchie (Stolleis 1988, 234). Mangels Kenntnis der althusianischen Föderalismus-These blieb es bei dieser Vermutung. Aus der prinzipiellen Verteidigung der Souveränität folgte aber keine absolutistische Regierungslehre. Pufendorf verteidigte das englische Parlament und die Lehre vom Widerstandsrecht in der Glorious Revolution (Commentarii de rebus gestis Friedend III, Hinweis bei Rödding 1912, 15). Aus der Souveränitätslehre folgt nur die völlige Ablehnung der Mischverfassungslehre. In seinem Hauptwerk, dem 1672 erschienenen De jure naturae et gentium, libri VIII (Ausgabe letzter Hand 1688), machte er den Vorschlag, den terminus „status mixtus" durch „irregularis" zu ersetzen (VII, 5 §§ 2, 14, 15; vgl. Krieger 1965, 153-64). Pufendorf war auch der erste, der eine Art Ideengeschichte des Naturrechtsdenkens ins Auge fasste (Hochstrasser 2000, 40-71): mit Grotius habe das Naturrechtsdenken erst seine systematische Phase erreicht, die eine allumfassende Behandlung des Naturrechtsstoffes vom Eigentum bis zum Völkerrecht verlangt. Diese Phase will Pufendorf nun vollenden. Anders als Grotius geht Pufendorf nicht von einer Dominanz allein der Soziabilität aus; bereits unter dem Eindruck von Hobbes stehend wollte Pufendorf auch die destruktive und eigennützige Natur des Menschen in Rechnung stellen. Er bestritt aber das Vorhandensein eines grundsätzlichen Gegensatzes von Eigenliebe und Gemeinschaftsbindung (z.B. Status § 8 und 10) oder von Individualität und Sozialität (De jure naturae II, 3, 16) und polemisierte an dieser Stelle heftig

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gegen Hobbes, dessen Individualismus er bekämpfte (Randelzhofer 1983). Die moralische Verbindlichkeit des Naturrechts beruht jedoch nicht auf der - wie auch immer zu konstruierenden - sozialen Natur des Menschen, sondern setzt eine Verbindlichkeit schaffende Kraft voraus, die Pufendorf in Gott zu erkennen glaubte (Saastamoinen 1995, 110-118): die Verbindlichkeit des Naturrechts ist ein Gebot Gottes, das bereits vor dem Sündenfall existierte. Pufendorf verband Suarez' Argumentation wieder mit der Sündenfallspekulation und vertrat gegen die reformierte und lutherische Orthodoxie die Meinung, dass der Mensch die Vernunftnatur gleichsam vom Urzustand in die Zeit nach dem Sündenfall hinübergerettet habe. Wenn die Aussagen Gottes und zur Not auch alle ohne Gott denkbaren naturrechtlichen Prinzipien gelten, so kann mit anderen Worten die Frage nach dem korrekten Gottesbegriff ausgespart bleiben. Die Vernunft ist allen Menschen gemeinsam, eine Differenzierung der Vernunft nach der Religion ist unzulässig (De Jure naturae II 15, § 8). Um diesen Gedanken auszubuchstabieren griff Pufendorf vor allem auf Ciceros Pflichtenlehre zurück. Cicero ist in De jure naturae die wichtigste Referenz (II 3 § 20; vgl. Hochstrasser 2000, 63-64) und in dem 1673 vorgelegten, vertiefenden Auszug hieraus {De officio hominis et civis, Ausgabe letzter Hand 1682) beherrschend. Alle Pflichten bestehen gegenüber dem eigenen Selbst: die Sorge für Leib und Leben, Pflege des Geistes, Selbsterkenntnis und Selbsterhaltung, sie alle dienen der eigenen Verwirklichung und sind zugleich Funktionen des Gemeinschaftslebens (De jure naturae II 4, §§ 1 und 5 und 19). Daher wirkt die Pflichtenbindung in alle Rechtsbeziehungen hinein: als Generalklausel aller Verträge, der zufolge sie die Verpflichtung für das menschliche Zusammenleben erfüllen müssen (De jure naturae III 5, 1-4; III 7, 1 und 6 und 8). Die göttliche Gebotsstruktur fundiert das Recht, seine Struktur ist aber nicht von göttlichen Eingriffen oder aus den offenbarten Schriften zu bestimmen, sondern aus der Vernunft, die Gott dem Menschen als Erkenntnisvermögen mitgab. Diese Überlegungen waren dem deutschen Moraldiskurs und dessen protestantischer Ausrichtung geschuldet (Hochstrasser 2000). Die Klärung des Verhältnisses von Gott, Natur und Vernunft beschäftigte noch Immanuel Kant am Ende der deutschen Aufklärung und des rationalen Naturrechts. Die europäische Wirkung Pufendorfs als des meist gelesenen Naturrechtssystematikers entfaltete sich erst im 18. Jahrhundert, und durch Barbeyracs Übertragung ins Französische (1740). Naturrecht, Kontraktualismus und Republikanismus: Hobbes, Harrington, Spinoza Auch in England fiel es schwer, den exakten Ort der Souveränität anzugeben. Wenn man in der Forschung von der Souveränität des Parlaments spricht (Streifthau 1963), meint dies weniger die Souveränität des Unterhauses als die des „King-in-Parliament," die Bezeichnung für ein flexibles System zwischen König, Unter- und Oberhaus. Das erlaubte keine klare Antwort auf die Frage nach der Souveränität innerhalb dieses Systems und dieser Unklarheit gab Thomas Hobbes die Schuld für den englischen Bürgerkrieg. Hobbes' Hauptwerk Leviathan erschien drei Jahre nach dem westfälischen Frieden, operierte mit dem Souveränitätsbegriff und wollte die englische Tradition der verfassungsmäßig gebundenen Monarchie, die bis dahin ohne Souveränität ausgekommen war und nun im Bürgerkrieg zerstört wurde, überwinden. Die politische Philosophie von Thomas Hobbes (1588-1679) war eine Antwort auf die Bürgerkriegssituation seiner Zeit. Auch er wandelte in den Spuren von Bodin, er folgte ihm in der Souveränitätstheorie und in der Ablehnung der Mischverfassungstheorie (King 1974; Krautheim 1977, 331-355). Aber es wäre zu vordergründig, Hobbes' Beitrag lediglich in

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einer Übertragung von Bodins Souveränitätsbegriff auf England zu sehen. Die systematische Vorgehensweise, der Kontraktualismus und die Naturrechtssemantik sind Fäden, die Hobbes in seinem Denken verwob, und die ihren Ursprung nicht bei Bodin haben. Der Bürgerkrieg war nicht nur das zeitgenössische Hauptproblem, es stellte in seinen Augen das Leitproblem aller Politik dar. Es zu lösen bedurfte es Hobbes' zufolge einer der Geometrie nachempfundenen „Wissenschaft" der Moral {De Corpore 11,7) und der natürlichen Rechte und Pflichten (I 7, 7), welche den Menschen zur Erkenntnis ihrer Pflichten verhilft und so den Bürgerkrieg vermeidet. Ihren Ausgang nimmt diese Wissenschaft nach Hobbes unbescheidener Meinung in seinem De Cive (Widmung: ed. Gawlick 61). Inbegriff der Wissenschaft war für Hobbes der geometrisch-mechanische Rationalismus, der in den zeitgenössisch Arbeiten von Rene Descartes (Discours de la methode de raisonnes 1637) und Galileo Galilei (Discorsi 1638) seinen Höhepunkte erreicht hatte. Hobbes definierte in Analogie zur Mechanik den Menschen als bewegten Körper, die Bewegungsgesetze von Anziehung und Abstoßung beruhten auf den Leidenschaften: Alle Menschen streben nach Glück und entfernen sich vom Leid. Die politisch wirksamste Unlust ist die Furcht. Nur mittels der Vernunft lässt sich diese Naturmechanik beeinflussen. Als Körper formen die Menschen neue, künstliche Körper wie den Staat. Um solche komplexen Körper erforschen zu können, muss man sie in ihre Bestandteile zergliedern, die Gesetzmäßigkeiten erforschen und sie wieder zusammenfügen. Zwillinge habe seine Mutter 1588, in den Tagen der Bedrohung Englands durch die spanische Armada, zur Welt gebracht, berichtete Hobbes in seiner Autobiographie, ihn selbst und die Furcht. Hobbes studierte ab 1603 in Oxford, wo er mit John Seiden befreundet war, der später mit seiner profunden Rechtsquellenstudie De Jure Naturali et Gentium (1640) in den Kreis der Naturrechtslehrer eintrat. Es ist möglich, dass beide noch bei Gentiiis hörten, der seit 1581 in Oxford lehrte, seit 1587 Regius Professor of Civil Law (Tuck 1999, 17). Nach dem Studium wurde Hobbes Tutor im Hause Cavendish, einer Familie, der er bis an sein Lebensende verbunden blieb (Skinner 1996, 217). Hobbes verbrachte viele Jahre auf ihrem Landsitz und bewegte sich dort in illustrer Gesellschaft von gebildeten Aristokraten und befreundeten Wissenschaftlern, dem Great Tew Kreis (Metzger 1991, 54-88). In der Dedikationsepistel zu De Cive pries Hobbes den ihm vom Great Tew Kreis bekannten William Harvey, dem Entdecker des Blutkreislaufes (Exercitatio Anatomica 1628). John Napier veröffentlichte bereits 1614 seine Entdeckung der Logarithmen, Robert Boyle begann im Laufe der 1640er Jahre seine physikalischen Experimente, und entwarf eine Vakuum-Theorie, die Hobbes in einer Schrift Dialogus Physicus 1661 verwarf. Hobbes forschte also innerhalb eines sehr intensiven Netzes an wissenschaftlicher Tätigkeit. Hobbes' Interesse an den Naturwissenschaften stand im Zeichen einer stärker empirisch orientierten Wissenschaftstheorie. Besonders zu nennen ist Francis Bacon, dessen Privatsekretär Hobbes kurz vor dessen Tod 1626 wurde. Der Spruch des Aurelius Gellius, wonach die Wahrheit eine Tochter der Zeit ist, nicht der Autoren, diente Bacon als Beweis gegen die mittelalterliche Argumentationsweise des Autoritätsbeweises (Organon I § 84): nicht die Fundstelle beim göttlichen Aristoteles alleine kann den Wahrheitsgehalt einer Aussage versichern und die Bibel darf nicht als Schlagwortsammlung verwendet werden. In seinen Essays verdichtete Bacon die Maximenliteratur zu kleinen Arbeiten über einzelne Probleme und Fragen der Politik, Wirtschaft und Lebensführung. Der Anspruch ging aber weiter. Bacon strebt eine scientia activa an, eine Philosophie der wissenschaftlich-technischen Revolution mit dem Dreigestirn von Arbeit, Technik und Fortschritt (Brocker 1992, 443-451). Wissen

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sollte nicht mehr aus Lektüre, sondern aus der Beobachtung der in Welt und Gesellschaft unterschiedlich wirkenden Gesetzmäßigkeiten gewonnen werden. Wissen ist Macht (Meditationes sacrae 253) und zielt auf die planmäßige Gestaltung der Wirklichkeit, eine Auffassung, der sich Hobbes unter Verweis auf Bacon anschloss De Corpore I 1, 6-7). Dieses Steuerungsinteresse schlug sich bei Bacon in seinem utopischen Werk Nova-Atlantis nieder. Seine Zugehörigkeit zum Cavendish-Kreis eröffnete Hobbes die Möglichkeit verschiedener Bildungsreisen (den üblichen Grand Tours) durch Europa. Hobbes lernte dabei Gassendi und Galilei kennen und erwarb Euklids Schriften. Noch als Hauslehrer übersetzte Hobbes 1629 Thukydides' Peleponnesischen Krieg ins Englische (Skinner 1996, 235). Für den aristokratischen Intellektuellen-Kreis der Cavendish schrieb Hobbes auch seine erste politische Schrift, die Elements of Law, die zunächst als englisches Manuskript kursierte und später in verschiedene Bücher einging. Hobbes plante eine streng systematisch angelegte, politisch-philosophische Theorie unter dem Gesamttitel Elementa Philosophiae. Dem Konzept nach sollte der Band De Corpore (Vom Körper) ihren ersten Teil bilden, gefolgt von De Homine (Vom Menschen). Erst der Schlussstein De Cive (Vom Bürger) sollte politische Fragen behandeln. Die politischen Umstände motivierten Hobbes dazu, den politischen Band vorzuziehen {De Cive 1642), dem dann erst 1656 bzw. 1658 die anderen folgten. Als Intervention in die Bürgerkriegsdiskussionen richteten sich die Bände aber nicht an das breite nationale Publikum, sondern an die des Lateinischen mächtige Elite, eine englische Übertragung von De Cive erschien 1651 unter dem Titel Philosophical Rudiments concerning Government and Society. Der Bürgerkrieg trieb Hobbes ins französische Exil, wo sein Hauptwerk, der Leviathan entstand. In Paris war er u.a. Mathematiklehrer des nun vaterlos gewordenen Kronprinzen und Thronfolgers, des späteren Charles II. Aufgrund von Atheismus-Vorwürfen musste Hobbes den englischen Hof in Paris wieder verlassen und kehrte nach England zurück. Hobbes hat später in Behemoth von 1668 die Entstehungsgründe und Ursachen des Bürgerkrieges analysiert. Die politischen Machtkämpfen zwischen Krone und Teilen des Parlaments waren Ausdruck sowohl der sozialen Konflikte zwischen den Handelsinteressen Londons und den Statusinteressen des Hofes wie der konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen der auf den König ausgerichteten anglikanischen Hochkirche und der calvinistisch geprägten Gemeindeorientierung der Kirche. Doch der Hauptgrund lag Hobbes zufolge in der Anmassung aller Streitparteien, wahre und deswegen kompromisslose Auslegungen sowohl der Verfassung wie der Bibel für sich in Anspruch zu nehmen. Das zielte besonders gegen den Puritanismus, worunter ein protestantischer Flügel von Eiferern verstanden wurde, welcher seit 1563 gegen die Hofkirche und die bischöfliche Kirchenorganisation wetterte: es sollte nur noch Priester, keine Bischöfe mehr gegeben. Unter der Reaktion in der Regierungszeit Maria der Katholischen (1553-1558) flohen sie auf den Kontinent, häufig in das calvinistische Genf. Gerade die Heimkehrer aus Genf gehörten dann in England zu den schärfsten Gegnern des kirchlichen Establishments. Der eigentliche Auslöser des Bürgerkrieges waren jedoch die Bestrebungen des Königs, nach dem Vorbild des Kontinents souveräne Gewalt zu beanspruchen. Die konfessionellen Bürgerkriege in Frankreich erhöhten die Plausibilität, die Stellung des Königs nicht nur rechtlich, sondern auch politisch zu aufzuwerten, und zwar als diejenige Institution, welche der Anarchie Einhalt gebietet (Salmon 1981). Dieses Ansinnen brach mit der Formel des „Kingin-Parliament", die regelte, dass der König nur vermittelst seiner mit dem Parlament geteilten Befugnisse wirksam regieren kann. So war das Zustimmungsrecht des Parlaments in Steuerfragen anerkannt. Die unter Umgehung des Parlaments erhobenen Steuern von 1635 („ship

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money") verschärften den Konflikt, 1642 kam es zum Ausbruch der Feindseligkeiten. Der Bürgerkrieg endete mit dem Sieg des Parlaments und der Hinrichtung des Königs. 1649 radikalisierte sich die Entwicklung noch einmal in der Republik unter Oliver Cromwell, was dann aber in die Restauration von 1660 mündete. Vor 1651 stand Hobbes im naturrechtlichen Kontext politischer Theoriebildung. Von Grotius übernahm er den Vertragsansatz und das Theorie-Modul des Versprechens und radikalisierte es (Tuck 1979, 82-142). Hobbes hatte in den Elements den Freiheitsbegriff im Zusammenhang mit der politischen Partizipation vertreten (Tönnies 1971, der Hg. der Elements·, Herb 1999) und darüber hinaus Aristoteles' Politik (VI 2) über die Unvereinbarkeit von Freiheit und Knechtschaft aufgegriffen (Elements II 27, 3) sowie Freiheit und Demokratie gleichgesetzt. Der Leviathan brach mit diesen Auffassungen aus De Cive (Skinner 1998, 140; anders Herb 1999 mit Blick auf De Cive X, 8). Er erschien 1651 und damit mitten im englischen Bürgerkrieg (Sorell 1996; Kersting 1996). Der lateinischen Fassung des Leviathan von 1668 fügte Hobbes ein Schlusskapitel bei (ed. Euchner S. 533-534), das erklärte, warum er seinerzeit den Leviathan auf englisch veröffentlichte hatte und erst jetzt auf lateinisch: Im Bürgerkrieg hatte er möglichst viele Leser erreichen wollen, nun sei ihm aber deutlich geworden, dass es letztlich um einen Kampf der Meinungen ginge und man zu einer langfristigen Befriedung den Kampf an den Universitäten führen müsse, wo seiner Ansicht nach immer noch „demokratische Grundsätze" gelehrt würden. Hobbes wollte das politische Denken von der heidnischen Staatslehre befreien (gemeint waren Aristoteles und Cicero). So wie früher die Universitäten den Papst in seinem Kampf gegen das Kaisertum unterstützt hätten, so müssten sie heute den König in seinem Kampf gegen die Anarchie unterstützen. Hobbes spitzte die Baconsche Kritik an der orthodoxen Antiken-Rezeption noch zu (Wolffers 1991): Aristoteles (Hobbes erwähnt Politik VI 2) habe die weit verbreitete Vorstellung verschuldet, wonach wahre Freiheit alleine in der Demokratie zu finden sei, was in Verbindung mit anderen antiken Autoren wie Cicero und der Forderung nach persönlicher Freiheit erst zum Bürgerkrieg geführt habe; die antike Literatur habe also nichts als Tumulte und Bürgerkrieg verursacht und müsse verboten werden (Leviathan 21; Behemoth 1668,1. Dialog, ed. Münkler 50-51). Hobbes folgte Francis Bacon nicht hinsichtlich dessen ausführlicher Beschäftigung mit Tacitus (Tuck 1993, 109). Hobbes nahm sich auch kein Beispiel an Lipsius; er wollte den Bürgerkrieg systematisch zu Ende denken (Tuck 1993, 279-345; 1999, 109-139). Der Naturzustand ist demnach das vorpolitische Handeln der nach Sicherheit strebenden Menschen, er ist eine Art Anarchie und kann nur durch eine bestimmte Form der Staatsbildung überwunden werden; der Rückfall in den Naturzustand droht beständig und hält zwischen den Staaten dauerhaft an. Der Staat des Leviathan sollte dieses Anarchie-Problem lösen und eine dauerhafte Prävention gegen den Bürgerkrieg bieten. Hierzu muss der Staat einem Ungeheuer gleich mächtig sein (Hobbes bediente sich des biblischen Motivs vom Seeungeheuer Leviathan: Hiob 41, 24). Er ist mächtig durch die Übertragung der Macht der einzelnen Menschen auf ihn, was ihn allerdings von den Individuen abhängig macht und gleicht einem sterblichen Gott. Aristoteles hatte in der Nikomachischen Ethik (X 10) davon gesprochen, dass die Tugendhaften aus Ehrfurcht sowie aus Angst vor Ruhmverlust (Schande) agieren, dabei Autorität achten, die „große Menge" hingegen aus Angst um ihr Leben. Sie lässt sich vom Schlechten nur durch Strafe abhalten, unterliegt der Leidenschaft, sucht die Lust und flieht den Schmerz. Was Aristoteles ablehnte, stellte Hobbes in den Mittelpunkt seiner Anthropologie: Lust und

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Glück, Leid und Schmerz. Darin folgte er stärker der epikureischen Philosophie (Ludwig 1998), welche die subjektive Wahrnehmung als maßgeblichen Filter der Seinsordnung begriff: Hobbes' ist der Theoretiker des politischen Hedonismus (Strauss 1977, 172-209). Auch Sallusts Theorie der Furcht wirkte hier nach, insofern bedrohliche Umstände die Menschen zu einem Verhalten nötigen, welches sie selber vielleicht gar nicht wünschten. Hobbes rezipierte schließlich Thukydides' Lehre von den Auswirkungen des Bürgerkrieges, zu denen die Verwirrung der Semantik und damit die Unklarheit über die geltenden Maßstäbe zählt (Wood 1995, 186-188). Die Furcht verursacht laut Hobbes einen Zustand der Unsicherheit. Ferner empfindet der Mensch nicht nur aktuell, sondern auch virtuell Furcht, denn anders als die Tiere sind Menschen aufgrund ihres Verstandes imstande, künftige Gefahren zu antizipieren. Sie imaginieren potentielle Bedrohungsquellen; hinzu kommt dass auch der körperlich Schwächste eine Gefahr für Leib und Leben aller anderen darstellen kann (Leviathan 13). Aus ständiger Sorge um seine Existenz sieht sich der Mensch gezwungen, permanent seine Machtmittel zu steigern, was zu einer Spirale gegenseitiger Bedrohung führt, in welcher das virtuelle Bedrohungsgefühl in eine objektive Gefahrensituation umschlägt. Menschen ringen um die gleichen Güter und um die wertvollsten um so mehr, als sie zugleich die knappsten sind. So konkurrieren alle Menschen miteinander und belauern sich misstrauisch. Furcht, so definiert Hobbes bereits in De Cive, ist nicht Schrecken oder Panik, sondern das „Voraussehen von kommendem Unheil" (De Cive 1, 2 Anmerkung). Diese permanente Furchtsituation nannte Hobbes im Leviathan Naturzustand, einem Kriegszustand eines jeden gegen jeden (bellum omnium contra omnes) gleich. Im Naturzustand besteht mangels politischer Ordnung ein beständiger Krieg eines jeden gegen seinen Nachbarn (20: ed. Euchner 162; 24: 190). Die Gewalt über Krieg und Frieden ist zugleich ein natürliches Grundrecht (26: 221), Kriegführung ist naturrechtlich erlaubt (28: 242). Kriegerisch ist der Charakter dieses Zustands nicht erst, wenn die Waffen sprechen, sondern bereits, wenn die Waffengewalt droht. Nur wenn man sicher sein kann, dass es nicht zum Kampf kommt, lebt man in Frieden (13: 96). Der latente Kriegszustand schafft eine andauernde Unsicherheit, in welcher man nur auf die eigene Stärke und Erfindungskraft vertrauen kann. Ohne Sicherheit bleibt kein Platz für längerfristige Investitionen, da man sich des Ertrages nicht sicher sein kann und schließlich bleibt auch kein Raum für Wissenschaften und Literatur. Die beständige Furcht macht das menschliche Leben einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz (solitary, poor, nasty, brutish and short). Der Ausdruck „Naturzustand" ist verwirrend und in der Forschung nicht vollständig geklärt. In De Cive meinte Hobbes, es sei sinnwidrig zu sagen, der Mensch lebe im Naturzustand. Er konstatierte, dass der Mensch der Fürsorge anderer Menschen von Anbeginn seines Lebens bedarf, weshalb ihn seine Natur zur Geselligkeit zwingt. Aber diese Geselligkeit, wie sie in der Familie oder ähnlichen Gemeinschaften gepflegt wird, unterscheidet Hobbes von Zusammenschlüssen wie die einer „bürgerlichen Gesellschaft" (De Cive 1, 1 Anm.), für die „Bündnisse, zu deren Abschluss Treue und Verträge notwendig sind". Von Aristoteles bis Grotius war das Argument der Soziabilität, der Geneigtheit des Menschen zur Vergesellschaftung, tragend. Hobbes drehte es um: Zusammenschlüsse gefährden den Frieden, denn der Zusammenschluss der individuellen Kräfte steigert ihr Gefahrenpotential für andere Individuen. In De Cive hieß der Naturzustand auch schlicht Freiheit. Die Botschaft war die gleiche wie später im Leviathan, wo das Argument unter dem Titel Naturzustand vorgetragen wurde: lebt

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der Mensch im Naturzustand, so erfreut er sich vollständiger Freiheit, denn er kann nach eigenem Willen alle Dinge definieren und ist Richter in eigener Sache (De Cive 1, 9). Auch wenn Hobbes über die scholastische Argumentationsweise von Francisco Suarez spottete (Leviathan Kap. 8), so war er doch gezwungen, die Sprache des Naturrechts aufzugreifen. Suarez war in der englischen Diskussion vor dem Bürgerkrieg präsent, selbst in der Tagespolitik wurde er zitiert, zumal von Vertretern einer verfassungspolitisch moderierten Stellung des Königs wie dem Herzog von Buckingham in einer Parlamentsrede (Sommerville 1986, 67-77). Naturrecht definierte Hobbes als das Recht des Naturzustandes, umfassend und dadurch wirkungslos, da sich die Ansprüche der Individuen gegenseitig neutralisieren, sie sogar zum Bürgerkrieg führen. Im Naturzustand habe jeder einen natürlichen Anspruch auf alles. Faktisch kann aber niemand diesen Anspruch aus den genannten Gründen permanenter Furcht realisieren und genießen. Es bleibt daher nur übrig, sich des Naturrechts zu begeben, um den Frieden mittels Bildung eines staatlichen Körpers zu begründen. Die Vernunft, die es dem Menschen ermöglicht, künftige Gefahren zu antizipieren, versetzt den Menschen auch in die Lage, den Naturzustand zu verlassen, und zwar durch den Verzicht auf das individuelle Naturrecht zugunsten eines Dritten. Nach Hobbes ist die Rechtsübertragung nicht anders als durch Verzicht möglich (De Cive 5, 11). In einem gegenseitigen Vertrag begeben sich die Individuen ihrer natürlichen Rechte auf Gewaltgebrauch, konstituieren dadurch den Gesellschaftszustand und übertragen gleichzeitig ihre Naturrechte auf einen Dritten: den Souverän. Der Souverän ist durch den Gesellschaftsvertrag begünstigt, nicht aber gebunden. Die Vergesellschaftung ist bei Hobbes ein rationaler und willentlicher Vorgang, keine instinktartige Folge der menschlichen Sozialnatur; Vorteilssuche und der Wunsch, Schaden zu meiden begünstigen eine kalkulatorische Vernunft. Der Zweck gibt die Ratio jeder Vergesellschaftung vor: Handelsgesellschaften suchen das Vermögen zu mehren, Ehrenämter werden aus Eifersucht und Eitelkeit gesucht und die politische Gesellschaft schließlich aus Furcht. Rationale Voraussicht motiviert den Menschen, sich gesellschaftlichen Regeln zu unterwerfen, die er selber nicht beeinflussen kann. Der Naturzustand erscheint hier wie das Modell der freien Marktökonomie (MacPherson 1962), der Vertragsschließende wie ein Marktteilnehmer, der aus eigenem Antrieb heraus die schützende Marktordnung sucht. Die Naturrechte des Individuums leben erst wieder mit dem Naturzustand auf: ist die souveräne Gewalt nicht mehr imstande, das Leben des Einzelnen zu schützen, ist dieser wieder ungebunden. Der Staat muss alle Mittel in der Hand halten, um seine Funktion zu erfüllen. Die Verfügung des Staates auf alle politisch relevanten Machtmittel und ihre Monopolisierung sind seine wichtigsten Kennzeichen. Im Frontispiz der Erstausgabe des Leviathan wird die gesamte Aussage des Werks in ein Titelkupfer gegossen sichtbar gemacht laut (nach Bredekamp 1999 ist Abraham Bosse und nicht Wenzel Hollar der Künstler des Frontispiz). Das Ungeheuer „Staat" besteht aus einer Vielzahl von Menschen. Die Menschen sind dem Staat vollständig zugeordnet. Eine Doppelmitgliedschaft des Menschen in mehreren Staaten ist in der Hobbesschen Logik ausgeschlossen. Der Leviathan ist das Ungeheuer, welches über Land und Stadt herrscht, und zwar durch zwei Machtmittel, die er in Händen hält: in der Rechten das Schwert und in der Linken den Bischofsstab. Burg und Kirche, Krone und Mitra, Kanone und Exkommunikation, Waffen und logische Begriffe sowie Schlacht und Disputation symbolisieren seine Macht, derer er für die Erfüllung seiner Aufgabe bedarf: den Staat am Leben zu halten und damit zugleich den Frieden zu erhalten, um so die Sicherheit seiner Untertanen nach innen wie nach außen zu gewährleisten.

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Der Staat muss über das Wort und das Schwert verfügen. Das heißt, er besitzt das absolute Gewaltmonopol und zusätzlich die ausschließliche Definitionskompetenz. Diese Forderung ist eine Folge von Hobbes' Sprachtheorie. Alle gesellschaftlichen Dinge sind Dinge nur aufgrund ihrer sprachlichen Definition. Unterschiedliche Menschen definieren gesellschaftliche Dinge unterschiedlich. Alle gesellschaftlichen Werte sind sprachliche Festlegungen durch Menschen und variieren zwischen Menschen, sind also das Ergebnis von Konventionen. Begriffe können nach ihren Teilbedeutungen analysiert und zu komplexeren Bedeutungen wieder zusammengesetzt werden. Das demonstriert Hobbes am Beispiel der Gerechtigkeit. Er definiert „ungerecht mit „Handlung wider das Gesetz" und „Gesetz" als „Befehl" des Machtinhabers sowie „Macht" als Wille der Menschen, die sie um des Friedens wegen einsetzen (De Corpore 6, 7. Diesselhorst 1988, 3-5, erkennt hierin den Einfluss von Descartes). Auf diese Weise gelangt man laut Hobbes schon aus dem Begriff der Gerechtigkeit heraus zu seinem eigenen Staatsmodell. Mit der Definitionskompetenz geht die Wissenschaftskompetenz einher, weshalb es laut Hobbes keine vom Staat unabhängige und damit möglicherweise gegen den Staat gerichtete akademische Organisationen geben darf. Das meinte die Universitäten, die nach mittelalterlicher Tradition selbständige Korporationen waren und die Hobbes unter staatliche Aufsicht stellen wollte. Hobbes' Souveränitätstheorie reklamierte die Unabhängigkeit des Staates von der Riege von Juristen, die in der englischen Tradition des Common Law die autoritäre Rechtsauslegung für sich in Anspruch nahmen. Nach Hobbes verschafft nur die hinter dem Gesetz stehende Autorität des Staates dem Gesetz tatsächliche Geltung. Hobbes fasste das in der berühmte Formel „auctoritas, non Veritas facit legem" zusammen (De Cive VI 19; XIV 1 u. 17; Leviathan 26), worin Hobbes dem Vorbild von Robert Filmer zu folgen scheint (Oberservations concerning the Original of Governement, Vorwort; vgl. Strauss 1977, 193; Euchner 1982). Ohne das Schwert ist das Gesetz nur ein Stück Papier. Diese Aussage wollte die in England etablierte Theorie vom Vorrang des Rechts vor der Macht widerlegen. Hobbes' Theorie richtete sich gegen die Selbständigkeit der Rechtsinterpreten von der politischen Ordnung. Die Theorie vom Vorrang des Rechts im englischen Diskurs ging auf John Fortescue zurück (etwa 1385-1479), der selbst den monarchischen Willen der Verfassung des Landes unterordnete. Das Prinzip der Nichtanwendbarkeit des Gesetzes auf den Fürsten („princeps legibus solutus") galt ihm als despotisches Kennzeichen des französischen Königtums, der er die moderierende Stellung des Parlaments als Kennzeichen der englischen Königsherrschaft entgegenstellte (Governance of England). Die Rosenkriege zwischen den Häusern York und Lancaster brachten das reguläre Regieren zum Erliegen. Fortescue stand zwar auf der Seite Lancasters, aber es lag nahe, die Ausübung der Königsherrschaft an das Recht zu binden, ganz gleich, wer im Bürgerkrieg die Oberhand behalten würde. Im schottischen Exil wurde Fortescue Kanzler des jungen Heinrich VI. und begleitete die Familie in das französische Exil, wo er für den Prinzen Edward in einer Art dialogischem Fürstenspiegel das politische System Englands analysierte (De laudibus legum Anglaie, ca. 1468/71). Fortescues Governance of England war ungewöhnlicherweise nicht in Latein oder auf Französisch (der offiziellen Gerichtssprache), sondern auf Englisch verfasst. Darin definierte er das politische System nicht in den Termini des römischen Rechts, sondern eigentümlich als „dominium politicum et regale", das er in Gegensatz zum dominium regale als Herrschaftsform von Willkür-Monarchen stellte (Governance II; De laudibus Kap. 9-11; Vollrath 2003, 117). Seinen eigenen Angaben zufolge übernahm er die Begriffe aus Thomas von Aquins De Regimine Principum (IV 1-3, tatsächlich also aus dem von Ptolemäus geschriebenen Teil).

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Die Perspektive auf die Gesetzgebungskompetenz als den Ort, an welchem das Herrschaftsprinzip abgelesen werden kann (und nicht etwa die ungeschmälert dem König zustehenden außenpolitischen oder militärischen Kompetenzen) weist bereits auf Jean Bodin ein Jahrhundert später hin. Fortescue ergänzte seine Begrifflichkeit um eine zivilisationstheoretische Erklärung (Nippel 1980, 172). In der historischen Entwicklung ersetzen demnach Konsens und förmliche Herrschaftsübertragung im corpus politicum die früher praktizierte Unterwerfung des Volkes unter die königliche Gewalt. Die Zustimmung des Parlaments zur Gesetzgebung bedeutet allerdings keine Gleichrangigkeit der agierenden Institutionen: England bleibt eine Monarchie, nur ihre Regierungsweise wird begrenzt und auf Kooperation angelegt. Auch Vertreter einer monarchischen Position wie Richard Hooker (etwa 1554-1600) in The Laws of an Ecclesiastical Polity (1594/1597) sahen die königliche Gewalt unter das Recht gestellt. Hooker gestand dem König die Prärogative persönlicher Exekutive zu, aber nicht aus eigenem Recht, sondern auf Grund des Rechts. Der Wille des Königs hat ihre Grenzen: was das Recht nicht vorsieht, kann der König nicht ermöglichen (Sommerville 1986, 76). Der königliche Wille muss vielmehr durch das Nadelöhr des Rechts gehen, um Anerkennung zu finden. Das „Axiom" der königlichen Herrschaft in Britannien lautet demnach: „Lex facit regem": das Recht konstituiert die Regierung, rechtswidrige Handlungen sind unwirksam, denn auch der König kann nichts tun, was das Recht nicht erlaubt (ed. 1612, 353). Hobbes erwiderte später Hookers „lex facit regem" mit seinem Gegenaxiom „auctoritas facit legem." Die Hüter des Rechts waren im englischen Diskurs die Richter. Die im Common Law ausgebildeten Juristen waren bei Ausbruch des Bürgerkrieges zutiefst von der Rechtsunterworfenheit des Königs überzeugt. Unter ihnen ragte besonders Edward Coke (1552-1634) hervor (Beaute 1975). Coke geriet mit James I. in einen Konflikt über das Verständnis der Prinzipien von „king-in-parliament". Jede Vermengung von Macht und Recht führt seiner Ansicht nach nur zur Steigerung der Macht und Minderung des Rechts (Bohatec 1964, 273). Das Recht ist lebendes Recht, das heißt es ist das Resultat der Auslegungspraxis vieler Generationen von Juristen, die von Fall zu Fall an seinen Problemen arbeiteten. Recht ist für Coke das Produkt von „artificial reason", wobei „künstlich" hier „menschlich gewirkt" meint (Sabine 1963, 451-452; vgl. Sommerville 1986, 91-94; Cromartie 1995, 16-29): artifex bedeutet Handwerker. Aus rationalen Gründen hat es Vorrang vor einzelnen Gesetzgebungsinstanzen, etwa dem statuarischen Recht des Königs, seinen Dekreten und Gesetzen. So typisch die common lawyers für den englischen Diskurs auch waren (Pocock 1957, 30-69), vor Ausbruch der Revolution bildeten sie inmitten der Vielfalt der politischen Theorien in dieser Zeit nur ein Lager unter anderen (Sommerville 1986, 78). Dem Staat gebührt die alleinige Autorität zur Lösung dogmatischer Konflikte unter Einschluss von Glaubensfragen. Daher unterstellte Hobbes auch die Kirche dem Staat: der König ist Oberhaupt der Kirche mit allen Kompetenzen. Hobbes' Vertragslehre richtete sich gegen den biblisch inspirierten Kontraktualismus, der zu Hobbes' Zeit immer noch wesentlich einflussreicher war als der philosophische. Hobbes stand im Deutungskampf mit den Puritanern und ihrer Föderaltheologie, der Bundesidee samt ihrer demokratischen Implikationen (Oestreich 1969, 159; Förster 1969). Fast die Hälfte des Leviathan (Bücher III und IV) widmete sich der Widerlegung theologischer Einwände. Bereits De Cive behandelte die Frage des Verhältnisses von Politik und Religion und versucht zu zeigen, dass ungeachtet eines Bundes mit Gott die Menschen immer unter der absoluten Herrschaft von Priestern oder Königen standen {De Cive 16 und 17). Für die Puritaner aber bot die Idee des Bundes Gottes mit dem Menschen die Leitidee, wie sich Menschen sozialisieren. Dadurch wird Reli-

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gion in Hobbes' Augen zur doppelten Bedrohung der politischen Friedensordnung: Die katholische Kirche als quasi-politische Organisation ist eine gefahrliche Macht und erzeugt bei den staatlichen Untertanen Probleme der Loyalität. Die katholische Kirche bezeichnete Hobbes als Macht der Finsternis, was in England keine Verwunderung provozierte. Das Loyalitätsproblem ist in der anglikanischen Hochkirche mit ihrer Anlehnung der Kirchenorganisation an den Staat weniger stark ausgeprägt. Doch zahlreiche protestantische Glaubensrichtungen orientierten sich neben den Puritanern nach dem Bundesgedanken des Alten Testaments. Die Digger (Winstantley) wie auch die Leveller (Lilburne und Overton) sowie die Independents (Cromwell, Ireton) gehen ganz selbstverständlich von dem Vorbildcharakter der Bundestheologie aus, weil bereits in der Bibel der Ausgangspunkt die soziale Natur des Menschen formuliert ist (Richard Overton, Art Appeale from the Degenerate Representative Body of the Commons, 1647). Der „Covenant of grace" stellt alle Gläubigen in ein gleiches Verhältnis zu Gott und bewertet die gesellschaftliche und politische Position der Priester, des Königs und aller anderen Amtsträger nach dem Gesichtspunkt des Bundes. Die Annahme eines unmittelbaren Verpflichtungsverhältnisses zwischen Gott und den Gläubigen fährte Hobbes zufolge zu einer ständigen Infragestellung der politischen Friedensordnung. Der Protestantismus bedurfte daher einer subtileren Gegenargumentation, die Hobbes durch die Uminterpretation der Bundestheologie aufstellte. Der Leviathan führte den Nachweis, dass auch der Bund letztlich eine Einrichtung durch Vertrag ist (covenant is institution by pact). Hobbes verlangte die Kontrolle der Kirche durch den Staat, eine Forderung, die ihn sogar zeitweise mit Cromwells Republik sympathisieren ließ (Collins 2005). Wo im Puritanismus das religiöse Element die Verpflichtungskraft des Gesellschaftsvertrages sicherte, überantwortete ihn Hobbes ganz der eigennützigen Vernunft des Individuums. In der zeitgenössischen Diskussion war die von Hobbes reklamierte bischöfliche Autorität des Staates einer der umstrittensten Aspekte seiner Lehre (z.B. Edward Hyde Α Brief View). Hobbes nahm der Kirche alle Sakralität: sie wird menschlich organisiert und daher den Gesetzmäßigkeiten menschlicher Ordnung unterworfen. Nur durch Wunder und andere Zeichen habe Gott unmittelbar zu den Menschen gesprochen. Solche Zeichen werden aber nicht mehr beobachtet. Daher ist der Mensch auf die Vermittlung des göttlichen Wortes durch Schrift und Auslegung angewiesen, damit aber auf andere Menschen. Bezüglich des Glaubensstreites ist in den Augen von Hobbes der Staat bereits dann ein christlicher Staat, wenn er Jesus von Nazareth als den Christus postuliert. Nur dieses Dogma dürfe der Christ einfordern, alle anderen Fragen hat der Staat um der Erhaltung der Ordnung willen zu regeln und der Untertan darf sich nicht auf die Offenbarungsschriften beziehen, um Widerstand zu leisten. Im Ergebnis bestätigte Hobbes daher die monarchistische Lehre von der Autorität des Souveräns in religiösen Fragen kraft göttlichen Rechts (Leviathan Kap. 42): der König kann sich auf kein Gottesgnadentum berufen, sondern stützt seine kirchliche Regelungsgewalt auf dem Auftrag zur Friedenssicherung. Eine zentrale Frage war, ob das Eigentum eine naturrechtlich geschützte Qualität besitzt oder der Verfugung des Gesetzes unterworfen ist. Die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des königlichen Rechts zur Steuererhebung führten zum Ausbruch des Bürgerkrieges. John Locke wird später den naturrechtlichen Vorrang des Eigentums vertreten; Hobbes nahm die genau entgegengesetzte Position ein: Eigentum ohne Gesetz und damit ohne politische Ordnung ist nur ein Name. Menschen haben im Naturzustand nur Besitz; erst der Staat schafft das Eigentumsrecht und daher kann er vollständig über Inhalt und Umfang des Eigentums verfugen, was das Recht zur Steuergesetzgebung als intensiven Eingriff in den Besitz einschließt. Die

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Steuergesetzgebung berührte die Kompetenzen des Unterhauses gegenüber dem König. Hobbes' wollte alle parlamentarischen Ansprüche gegenüber der Krone relativieren. Der Leviathan verlangt die Ungeteiltheit der Souveränität. Sie kann entweder beim Monarchen oder bei einer Versammlung liegen, eine Machtteilung oder Gewaltenmischung zwischen Personen und Institutionen ist in Hobbes' Augen bereits logisch ausgeschlossen. Er definierte die Repräsentation als Prozess, der aus einer Menge von Individuen eine organisierte politische Person macht, die zu einem Allgemeinwillen mit allgemeinverbindlichen Entscheidungen befähigt wird. Die Repräsentationstheorie von Hobbes hatte sich kontinuierlich von De Cive zum Leviathan fortentwickelt. Hobbes knüpfte in De Cive an die Lehre der monarchomachischen Volkssouveränität an und unterschied wie diese zwischen populus und multitudo. Die Definition des Volkes als populus im Unterschied zur Bevölkerung als unpolitischer Masse (multitudo) kommt in der lateinischen Ausgabe schärfer zum Ausdruck. 11 Laut Hobbes besteht die Aufgabe darin, aus einer Menge ein Volk zu machen. Als Volk herrscht es immer, selbst in einer Monarchie. Aber es kann immer nur vermittelt herrschen, sei es durch den Willen des Monarchen oder durch die Versammlung der Repräsentanten. Insofern sind es die Repräsentanten, die aus der Menge eine politische Einheit, d.h. in dieser Terminologie: ein Volk hervorbringen, ungeachtet der verschiedenen Formen der Repräsentation. Der Vorgang ist im Falle der Monarchie am einfachsten zu denken: hier ist der Repräsentant identisch mit einer von der Menge klar unterschiedenen individuellen Person. Diese Person ist nicht mit der Bevölkerung als solcher, sondern mit ihrer Qualität als Volk identisch (rex est populus). Hobbes räumte ein, dass diese Formulierung paradox klingt, doch nur dann, wenn man multitudo nicht von populus unterscheidet {De Cive 12, 8). Populus ist bei Hobbes ein politischer Aggregatzustand, den eine beliebige Menge nur durch dauerhafte Repräsentation erreichen kann. Nur wer die Menge aufwiegeln möchte, behauptet, dass der König sich gegen das Volk auflehne. „Allein, sie wiegeln dabei unter dem Vorwand, dass es das Volk sei, die Bürger gegen den Staat, d.h. die Menge gegen das Volk auf." Laut Hobbes gehörte eine falsche Repräsentationslehre zu den Ursachen für die Auflösung des Gemeinwesens {De Cive 12; Leviathan 29). Wahre Repräsentation soll Anarchie und somit Bürgerkrieg vermeiden. Hobbes hielt sowohl einen monarchischen wie einen parlamentarischen Souverän mit seiner Theorie vereinbar. Aber er optierte wegen der unvermeidlichen Kompetenzstreitigkeiten in Körperschaften mit mehreren Vertretern für die monarchische Gestaltung der Repräsentation. Nicht zufällig sahen die meisten Zeitgenossen in ihm den Anhänger der Monarchie (Auflistung bei Sommerville 1992, 3), zumal Hobbes auch jeden Aspekt der Parteibildung bekämpfte. Verbindungen von Bürgern untereinander sind in seinen Augen Ausdruck von Verschwörungen, die von der politischen Einheit bekämpft und unterdrückt werden müssen {Leviathan 22). Wie ist aber parlamentarische Arbeit ohne Faktionsbildung überhaupt möglich? Das musste ihm eigentlich als Beobachter des englischen Parlaments bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts klar sein. Die Variante, auch einer Versammlung die Souveränität zuzu-

Hobbes De Cive XII § 8: „Nullum horum de multitudine dici potest. Populus in omni civitate regnat; nam et in monarchiis populus imperat; vult enim populus per voluntatem unius hominis. Multitudo vero cives sunt, hoc est subditi. In democratia et aristocratia, cives sunt multitudo; sed curia est populus. Et in monarchia, subditi sunt multitudo, et, quamquam paradoxum sit, rex est populus."

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sprechen, wurde in der lateinischen Ausgabe des Leviathan, die insgesamt stark komprimiert ist, fast gänzlich ausgelassen (beispielsweise Kap. 18 unter Ziffer 2 und Kapitel 30 am Ende). Hobbes verdächtigte die Mischverfassungstheorie und ihre englische Variante des „King-inParliament" der latenten Bürgerkriegsgeneigtheit. In Anspielung auf die theologische Denkfigur der Trinität bemerkte Hobbes, dass die Einheit von drei getrennten Elementen vielleicht im Himmel möglich sei, nicht jedoch auf Erden und so auch nicht im Falle der dreigliedrigen Aufteilung der Gesetzeskompetenz im englischen Parlament, so lange Menschen unterschiedlicher Meinung sind (Leviathan 29). Die Einheit geht verloren, wenn unklar ist, wem die Untertanen Gehorsam schulden. „Beseitige in jeder Staatsform den Gehorsam und folglich die Eintracht des Volkes [concord of the people] - und es wird nicht nur nicht gedeihen, sondern sich binnen kurzem auflösen" (Leviathan 30: ed. Euchner 258). Hobbes konnte sich in den zeitgenössischen Diskussionen genauso wenig durchsetzen wie er in der englischen Entwicklung des politischen Denkens zunächst keine bedeutende Rolle einnahm, bis ihn die Wissenschaft wiederentdeckte. Juristen des Common Law wie Matthew Haie kritisierten erfolgreich seine politische Theorie, die Kirche stellte ihn in das atheistische Abseits. Mit Blick auf die kontinentale Diskussion und diachron betrachtet wirkte er hingegen nachhaltig, und zwar mit Blick auf die Souveränität wie auf den Gesellschaftsvertrag. Das kontraktualistische Argument wurde zum Kennzeichen einer ganzen Diskurstradition, in welcher Gesellschaft auf dem Begriff des Individuums als des eigentlichen Naturrechtsinhabers basierte. Hobbes fügte auch der Naturrechtstheorie einen neuen Strang hinzu, indem er die Natur des Menschen nicht in der Rationalität erblickte (deren Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen für Suarez wie für Grotius die Dignität des Naturrechts über dem positiven Recht begründet hatte), sondern im Überlebenswunsch {De Cive I 10; Leviathan 14; Elements XIV 10). Die Erhaltung des Lebens ist das Ziel, die Rationalität des Menschen nur Mittel hierzu. Das war freilich aus der Sicht der Naturrechtstradition von Suarez bis zu Hegel nur eine Schrumpfform der Rationalität. Rationalität war vor und nach Hobbes mehr als eine kalkulatorische Verstandestätigkeit: sie war sowohl soziale Kommunikation, theologische Gotteserkenntnis, als auch Sittlichkeit in ihrer historischen Entfaltung, die ein ganzes normatives Programm barg. Den Bürgerkrieg unmöglich zu machen, mit dieser Aufgabe begnügte sich kein Naturrechtslehrer. Die Interpretationen der Hobbes'schen politischen Theorie sind geprägt von einem Disziplinenstreit zwischen einer eher philosophischen und einer diskursiven Auslegung (kontextuell: Metzger 1991; Sommerville 1992; dekontextualisiert: Kersting 1996). Die Frage, ob Hobbes zur Naturrechtstradition gehört oder eine gleichsam zeitlose Theorie moralischer Obligation schrieb (Condren 2002), ist in der englischen Forschung zentral, auch wenn mit guten Gründen die Wurzeln der Obligationsfrage eher bei Grotius zu suchen sind (Zuckert 1994; Haakonssen 1996, 30-33). Hobbes ist wegen seines Modells der Kalkül-Rationalität Ausgangspunkt der rational choice-Theorie; andererseits wird betont, wie stark Hobbes in der älteren Tradition der scientia civilis steht, der er auch dann noch zugehört, wenn er sich im Leviathan von ihr abwendet (Skinner 1996). Ein a-historischer Auslegungsansatz sieht sich durch den Diskurs des Kontraktualismus gerechtfertigt, der - als diachroner Diskurs begriffen - bei Hobbes einsetzt (Kersting 1994), bis zu Kant reicht und seit John Rawls wieder im Zentrum der politischen Philosophie steht. Die Vielfalt der Interpretationen entspricht der Vielfalt der Rezeptionen: Hobbes bot zahlreichen Theoriefäden Material zur Verknüpfung.

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Auf der Grundlage der Vertragsgründung hatte Hobbes die Bundesidee überwunden; im Vergleich mit der im Zusammenhang dieser Bundesidee entstandenen politischen Literatur war er geradezu rückschrittlich wo es um die Frage der institutionellen Gliederung einer Gesellschaft ging. Hobbes hatte die bedeutsame Doppelbund-Idee in eine nur gedankliche Differenzierung nach Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag überführt, die er de facto in eins setzte. Die Trennung von Gesellschaftstheorie und Regierungslehre bestimmte freilich die weitere Entwicklung der politischen Theorie: man konnte die Gesellschaft ähnlich wie Hobbes kontraktualistisch begründen und hiervon unbeeindruckt die Regierungfrage erörtern. Hobbes verwarf die komplexe King-in-Parliament-Theorie mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit politischer Einheit. Damit unterschritt er allerdings das Niveau der Diskussion seiner Zeit. Das gilt sowohl für die Diskussion während des Bürgerkriegs (John Milton) wie für die republikanische Alternative bei Algernon Sidney oder James Harrington und schließlich auch für weitere Fortschreibung des vertragstheoretischen Ansatzes bei Spinoza und besonders bei John Locke. Der Republikanismus Hobbes stellte der Rechtsherrschaft der Common Law-Juristen die Herrschaft des Souveräns gegenüber. Die republikanisch argumentierende politische Theorie wollte die Herrschaft der Gesetze errichten. Der „Republikanismus" ist die erst nach dem 2. Weltkrieg entwickelte Bezeichnung für eine Gruppe von Autoren (Llanque 2003), mit einem vergleichbaren Politikver-ständnis, wonach die Bürgerschaft Autor und Adressat der Gesetze, ihre Partizipation sowohl Sinn wie Voraussetzung ihrer kollektiven Freiheit und ihr politischer Handlungsarm magistratisch organisiert ist (Pocock 1975). Rezeptionsgrundlage war der Bürgerhumanismus der italienischen Renaissance und besonders Machiavelli mit ihren hohen Tugendanforderungen an die Bürgerschaft. Als „res publica" galt hier nicht jedes politisches Gemeinwesen, sondern nur diejenigen, die das Gemeinwohl verfolgten, eine seit dem Spätmittelalter vertraute Vorstellung (Kempshall 1999), die im Republikanismus zur Richtschnur für die Einrichtung der politischen Institutionen wurde. Rückblickend kann man einen antiken Republikanismus von einem klassischen unterscheiden, der seinen Ausgang in der Zeit der kurzlebigen englischen Republik (1649-1660) hatte. Die Hinrichtung des englischen Königs 1649 wurde der Verletzung seiner Amtspflichten gerechtfertigt (Flümann 1999; Worden 2002). Aber das Parlament erwies sich als unfähig, das entstandene Machtvakuum eigenverantwortlich auszufüllen, weshalb Oliver Cromwell die Republik gründete. Anhänger der Republik wie John Milton, Marchamont Nedham und Anthony Ascham suchten nach einer neuen theoretischen Grundlage dieser dem englischen politischen Denken unvertrauten Regierungsform. Ascham (etwa 1614-1650) war zunächst Prinzenerzieher James II. und wurde als Parlamentarier zum Anhänger der Republik, die er in Pamphleten unterstützte. Als Gesandter der Republik in Spanien wurde er von Royalisten ermordet. Marchamont Nedham (1620-1678) war als Herausgeber des Mercurius Politicus, dem quasi-offiziellen Organ der Republik Cromwells, einer der einflussreichsten Pamphletisten (Worden 1994) und legte auch eine Republiktheorie vor (The Case of the Commonwealth of England, stated, 1650), die ähnlich wie Machiavelli antike, zumal römischrepublikanische Vorbilder zur Nachahmung empfahl. Die tagespolitischen Anforderungen diktierten hier jedoch meist die Feder. Vor allem John Milton (1608-1674) versuchte der Republik eine langfristige Orientierung zu geben. Als Verfechter der Presse- und Meinungsfreiheit bekannt geworden (Areopagitica

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1644) veröffentlichte Milton zwei Wochen nach der Hinrichtung des Königs die wichtigste Apologie dieses Vorgangs (The Tenure of Kings and Magistrates Februar 1649). Darin erklärte er gemäß der republikanische Idee magistratischer Macht nur die amtsfÖrmig verfasste politische Ordnung fur legitim. Milton wurde 1649 von Cromwell zum Secretary for Foreign Languages im Council of State berufen und war 1651-1652 als Zensor im Mercurius Politicus tätig; in diese Zeit entdeckte er die Discorsi Machiavellis für sich (Armitage 1995, 207). Als sich in Europa die Kritik an den englischen Vorgängen häufte und mit der Defensio regia, pro Carolo I. (1649) von dem damals bedeutenden Gelehrten Claudius Salmasius (Claude de Saumaise, 1588-1653) ein veritabler publizistischer Angriff erfolgte, beauftragte der Council of State Milton mit der Abfassung einer Verteidigungsschrift: die im Februar 1651 veröffentlichte Pro populo anglicano defensio erlebte 11 Auflagen und machte Milton auf der europäischen Bühne berühmt. Milton orientierte sich an der Bundesidee, gab ihr aber einen institutionellen Anstrich. Er verband die calvinistische Föderaltheologie mit dem republikanischen Argument Machiavellis (Kahn 1994). Aus der Trinitätslehre schloss er auf das Deliberationserfordernis politischer Entscheidungen (Patrides 1973, 12; Metzger 1991, 218219): In der Genfer Bibel von 1560 war die Rede davon, dass Gott vor seiner Tat sich mit sich selbst berät: he is „deliberating with himselfe, the Father with the Sonne and the holy Ghost, and they with him." Auch James Harrington (1611-1677) beschäftigte sich mit der Theorie der Republik, aber er stand Cromwells Republik ferner als zum Beispiel Milton. Harrington stand zunächst dem König nahe, war aber nicht intensiv in die politischen Kämpfe involviert. Er widmete sich der Abfassung seines Hauptwerks The Commonwealth of Oceana, das nach anfänglichem Widerstand Cromwells 1656 erscheinen konnte. Sein Verständnis der Republik war nicht vereinbar mit der Art von Alleinherrschaft, die Cromwell als Lord Protector faktisch ausübte. Harrington zählte zu den institutionalistischen Republikanern, die nicht allein auf die Tugend von Personen, sondern im Sinne des von ihm ausgiebig rezipierten Giannottis auf die Tugend der Institutionen vertrauten. Er war ein maßgeblicher Vordenker der Repräsentationsidee (Riklin 1999, 183), insofern als niemand zuvor mit so viel Akribie Fragen der Wahl und des repräsentativen Entscheidungsprozesses erörtert hatte. Seine Oceana beschäftigte sich wie viele seiner anderen Arbeiten (besonders The Prerogative of Popular Government 1658 und The Art of Lawgiving 1659) mit der Vorstellung und Diskussion von institutionellen Modellen: er äußerte sich zur Wahl, zur Gliederung der Wählerschaft, zur Gewaltenteilung, zur Heeresfrage. Grundsätzlich befürwortete Harrington eine dauernde Rotation der Amtsinhaber, um zu verhindern, dass die Amtsgewalt gleichsam auf die konkrete Person überging. Mitunter waren Harringtons Vorschläge so kompliziert, dass sie selbst von Republikanern kritisiert wurden. Milton lehnte 1660 in The ready and easy way to establish a free commonwealth Harringtons Rotationsprinzip als unpraktisch ab. Die Anhänger der Republik hatten in Hobbes als Verfechter des Absolutismus einen gemeinsamen theoretischen Gegner ausfindig machten (Nedham Case of the Commonwealth stated, Anhang; Ascham Of the Confusions and Revolutions of Government 1649, 15-16; vgl. Tuck 1979, 123-124). Am ausfuhrlichsten setzte sich Harrington mit ihm auseinander. Hobbes hatte im Leviathan (Kap. 21) die zeitgenössische Antikenrezeption angegriffen, einem Missverständnis zu erliegen: was als Freiheit bei Aristoteles und Cicero verstanden werde, sei in Wirklichkeit die Freiheit der ganzen Republik und nicht eines einzelnen in ihr. Ob Monarchie oder Republik: das Individuum habe in beiden politischen Ordnungen keine Freiheit. Spöttisch erinnerte Hobbes an den Schriftzug „libertas" über den Eingängen zum Gefängnis-

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se der Republik Genua. Diese Passage zitierte Harrington in Oceana wörtlich und schloss daraus, Hobbes unterscheide nicht zwischen freiheitsbeschränkenden und freiheitsverbürgenden Gesetzen (Oceana, Erste Vorbemerkung). Zwar muss der Mensch auch in der Republik den Gesetzen Gehorsam zollen, doch in einer Republik eröffnen die Gesetze eine wesentlich größere Freiheit als in Monarchien. Außerhalb von Republiken dienen die Gesetze nur der Förderung des Eigennutzes der Herrscher, in der Republik regieren dagegen die Bürger selbst und verfassen ihre eigenen Gesetze. Bei aller Kritik zählte Harrington Hobbes zu den bedeutendsten Theoretiker seiner Zeit (Works 1737, 259). Er teilte dessen Auffassung, dass ein Gesetz ohne Schwert nur ein Stück Papier sei, fügte aber hinzu, dass es darauf ankomme, in wessen Händen das Schwert liege. Daher legte Harrington großen Wert auf die Stellung der Armee innerhalb der Republik (Works 1737, 41). Entscheidend ist, wer die ökonomischen Grundlagen der Armee sicherstellt. Die Erfahrung mit Cromwells Republik, die auf die Armee gestützt war, verallgemeinerte Harrington zu der Aussage, dass die Stellung der Armee in der politischen Ordnung für das Ausmaß der Freiheit mitentscheidend sei. Die Tugend der Bürger ist Voraussetzung der Selbstregierung, weshalb die Regierung für die Tugend ihrer Bürger sorgen muss. Die Frage, ob denn nur Heilige Gesetze machen könnten, beantwortete Harrington mit der Umkehrung der Argumentation: die Gesetze haben die Aufgabe, gute Bürger hervorzubringen (Oceana 6. Ordnung). Damit erteilte er den glaubenseifrigen Puritanern, die in der Frömmigkeit die Quelle der Tugend erblickten, eine klare Absage. Harrington sah wie Machiavelli vielmehr die Schaffung einer nationalen Religion vor, die keine rigorosen Dogmen vorschreiben und lernfahig bleiben sollte. Harrington ergänzte die Tugendforderung um die vernünftige Abwägung und unterschied hierzu zwischen „diverse reasons": nämlich „private reason", „reason of state" und „reason of mankind" {Oceana Erste Vorbemerkung). Diesen Vernunftarten korrespondiert ein jeweils entsprechendes Interesse. Je umfassender das Interesse, desto eher entspricht es der „right reason". Die Vernunft wirkt nicht selbständig motivierend. Das Interesse der Gattung bzw. der Menschheit sowie die Vernunft wirken nicht stärker motivierend als das unmittelbar persönliche Eigeninteresse. Harrington wollte daher die magistratische Macht so konstruieren, das sie die Menschen dazu anhält, gemäß einem umfassenderen Interesse als ihrem eigenen zu agieren. Die Institutionen müssten so geordnet sein, dass auch derjenige, der zunächst nur seinem eigenen Interesse folgt, einsieht, dass der gesetzmäßige Prozess der Entscheidungsfindung seinem Interesse entspricht. Harrington konstruierte hierzu das Beispiel von Kindern, die einen Kuchen untereinander teilen wollen. Gemäß einer nutzenmaximierenden Kalkulation werden sie einsehen, dass die Kuchenteilung in zwei Vorgänge gegliedert werden muss, um das Eigeninteresse weitestgehend umzusetzen: in einen Akt, der den Kuchen teilt und einen Akt, der die einzelnen Teile an die Teilhaber verteilt. Der Teilende darf nicht wählen, sondern muss erkennen, dass sein Teil, den er als letzter greift, dann am größten sein wird, wenn er möglichst gleichmäßig teilt, was wiederum dem Interesse aller anderen entspricht. Dieses Beispiel ist für Harrington ein rationaler Beweis für die Notwendigkeit, Beratung und Entscheidung in zwei verschiedenen Kammern vorzunehmen. Die Beratung liegt am besten in den Händen einer gewählten Elite, deren Ergebnisse aber der Zustimmung einer Repräsentationskammer des Volkes bedürfen, um zu gültigen Gesetzen zu werden. Ganz anders gelagert war der Fall bei Baruch Spinoza (1632-1677), der republikanische Argument aufgriff und Hobbes' individualistisch-kontraktualistisches Argument demokratietheoretisch radikalisierte. Spinoza stellt für die Philosophie ein hermeneutisches Grenz-

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problem dar. Zum einen ist er der Philosoph der Äquivokationen par excellence. Er war ein Meister des hermeneutischen Umgangs mit autoritativen Texten wie der Bibel und hatte aus persönlicher Überzeugung die Technik der Verschlüsselung gemäß seinem Leitspruch, ständig auf der Hut zu sein, perfektioniert. Spinozas vollständige Identifizierung von Natur und Gott sowie Macht und Recht finden sehr unterschiedliche Auslegungen. Das Interpretationsspektrum oszilliert zwischen einer liberal-individualistischen Perspektive einerseits und einer eher politisch-soziologischen, ja sozialpsychologischen andererseits. Spinoza kann in Einklang mit dem rationalen Naturrecht gelesen werden, erkennbar wird aber auch sein Anliegen, die „empirische" Natur politischer Verbände zu beschreiben, insofern als Spinoza Affektualität und die Zugehörigkeit der Akteure zu unvernünftigen Massen als Faktum des Politischen voraussetzte. Diese Pole der Betrachtungsweise markieren zugleich die interpretatorischen Hauptschwierigkeiten mit Spinozas politischem Denken. Spinoza gehörte zum holländischen Gesprächsfeld, das stark republikanisch durchdrungen war. Die humanistische Tradition von Erasmus bis Lipsius und selbst Grotius wurde nach dem erfolgreichen Aufstand der Niederlande gegen Spanien und der Gründung der (schließlich 1648 anerkannten) Republik ersetzt durch intensive Überlegungen zur Selbstregierung (Mulier 1987; Gelderen 1992). Die Gebrüder van Hove und ihre Politike Weegschaal von 1660 sind wegen ihres Rationalitätsideals als Vertreter eines „cartesianischen Republikanismus" bezeichnet worden (Kossmann 2000, 60-74). Die erste Fassung der Politike Weegschaal hatte Johan (1622-1666) geschrieben, war von seinem Bruder Peter van Hove (16181685) veröffentlicht und in weiteren Auflagen fortentwickelt worden. Im Laufe dieser Überabreitungen verschob sich jedoch der Standpunkt von einer eindeutig demokratischen, der Stadt Leiden nachempfundenen politischen Theorie zu einem moderaten Aristokratismus Peters. Diese Fortentwicklung kann auch als Vorlage für einige von Spinozas politischen Theoremen gelten (Rod 1970; Kossmann 2000, 74-83), der republikanische Motive des holländischen Diskurses aufgriff (Prokhovnik 2004). In Amsterdam aufgewachsen prägten Spinoza zwei Ereignisse: sein Ausschluss aus der Synagoge wegen häretischer Ansichten und die Ermordung des holländischen Politikers Jan de Witt durch einen Mob 1672. In der Tradition des Kontraktualismus wird Spinoza als Hobbes-Rezipient und Kritiker dargestellt (Heerich 2000; Malcolm 2002). Er las sicherlich in Vorbereitung seines Tractatus politico-theologicus von 1670 den Leviathan, er war mit Hobbes' holländischem Übersetzer befreundet und kannte wohl auch die lateinische Fassung von 1668. Ihn interessierte Hobbes' Forderung, die Kirche und theologische Fragen gegenüber den Interessen des Staates an der Einrichtung und Erhaltung politischer Ordnung als nachrangig zu erachten. Spinoza strebte eine Art rationale Rekonstruktion der Bibel an. Sein Vertragsbegriff war aber von der Trennung von Natur- und Gesellschaftszustand entkoppelt und zielte auf die Übertragung von Macht an die Regierung. Der Vertrag ist nur bindend, so lange er nützlich ist {Tractatus politico-theologicus 16). Die Nützlichkeit der vertraglichen Vereinbarung aufrechtzuerhalten liegt daher im Interesse des Staates und seiner Macht. Das gelingt in verschiedenen Regierungsformen, am ehesten aber in der Demokratie, da hier die Interessen der Regierung und die Interessen der Regierten am weitesten konvergieren und so zugleich die Macht des Staates anwachsen lassen. Das allen gemeinsame Interesse besteht nicht alleine in der kurzfristigen Selbsterhaltung, sondern schließt längerfristige Interessen ein (Tractatus politico-theologicus 17), die um so handlungsbestimmender werden, je vernünftiger die Menschen sind respektive die Regierungsform ist. Spinoza zog also ganz andere Folgerungen aus Hobbes' Prinzipien. Die politisch relevanten Leidenschaften

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waren in Spinozas Augen nicht nur die individuelle Furcht, sondern vor allem die Fähigkeit der Menge zu irrationalen Gewaltausbrüchen. Die Vernunft war etwas, was man nicht einfach bei jedem voraussetzen konnte. Sie ist Richtmaß für die Regierungsform. Je vernünftiger die Menschen, desto freiwilliger sehen sie den Gehorsam ein. Es ist unklar, ob Spinozas Befürwortung der Demokratie als normative Anerkennung oder als deskriptive Notwendigkeit zu deuten ist. Im Tractatus politico-theologicus zeigte sich Spinoza als Anhänger der Demokratie. Im erst posthum veröffentlichten Tractatus politicus fehlte das Demokratie-Kapitel; der Tod habe dem Autor die Feder aus der Hand genommen, notierten die Herausgeber. Es lassen sich aber aus der in diesen Werken unterschiedlich behandelten Vertrags- und Massen-Lehre Schlüsse ziehen, ob Spinoza im DemokratieKapitel des Tractatus politicus weiterhin eine so befürwortende Haltung wie zu Zeiten des Tractatus politico-theologicus eingenommen hätte. Dort ist Spinoza ein leidenschaftlicher Vertreter des Vertragsdenkens, weshalb dieses auch eine zentrale systematische Rolle spielte. Im Tractatus politicus tauchte der Vertrag jedoch nur an untergeordneter Stelle und zugleich eigenartig verwandelt auf: statt eines individual-kontraktualistischen Verständnisses war dort nämlich die Rede von dem Vertrag, mit dem die „Menge" ihre Rechte überträgt. Wie sich nun Spinozas Varianten seiner Vertrags- und Menschenmassen-Lehre auf seine Einschätzung der Demokratie auswirkte, ist eine der Hauptfragen der Spinoza-Auslegung. Die Idee des Eigentums und John Locke Innerhalb der republikanischen Argumentation hatte das Eigentum keinen hohen Stellenwert. Übergroßer Luxus galt als Zeichen der Korruption und damit als Hindernis der Tugend, wogegen Frugalität der Lebensweise Nachweis der Tugend sein konnte (Machiavelli Discorsi I 55). Das Eigentum war daher recht ungeschützt und galt als Mittel der Politik, um mit gelegentlich sehr intensiven Eingriffen in die Eigentumsverteilung unter den Bürgern ihre Tugendhaftigkeit zu erreichen. Piatons Kommunismus stieß im Republikanismus nicht auf liberale Vorbehalte, so lange die Regulierung der Eigentumsverteilung dem Gemeinwohl diente. Die sinnvolle Eigentumsverteilung war beispielsweise in Harringtons Augen die Voraussetzung stabiler Gesetzesherrschaft (Oceana Vorbemerkung). Anders als die meisten politischen Utopien (Davis 1981, 205-240), die grundsätzlich für eine quantitativ gleiche Eigentumsverteilung votierten, sprach sich Harrington für eine aus institutionellen Gründen gebotene Ungleichverteilung aus. So sollen die Mitglieder des beratenden Gremiums über eine größere ökonomische Unabhängigkeit verfügen als die Mitglieder des Entscheidungsgremiums, da sie ein größeres Urteilsvermögen entwickeln müssen; um dieses zu entwickeln sollten sie vom wirtschaftlichen Druck entlastet sein, den eigenen Lebensunterhalt sichern zu müssen. In jedem Fall zählt das Eigentum zu den Gelenkstellen zwischen politischer Gestaltung und gesellschaftlichen Strukturen (Parel/Flanagan 1979; Pennock/Chapman 1980; Buckle 1991; Brocker 1992; Eckl/Ludwig 2005). Eigentum, die Ordnung des „meum et tuum", wurde bereits frühzeitig als zentrales politisches Problem angesehen. Von Interesse sind hier nicht die im engeren Sinne ökonomischen Aspekte, für die auf die reiche ideengeschichtliche Forschung in den Wirtschaftswissenschaften verwiesen sei, sondern die Erörterung des Eigentums aus politischer Perspektive. Eigentum geriet hier nie nur als Recht oder als rein ökonomische Institution über die Regeln des Umgangs mit Gütern in den Blick, sondern im Zusammenhang mit Freiheit, Herrschaft und Ordnung. Wer die Verfu-

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gungsgewalt über das Eigentum inne hat, kann den effektiven Umfang der Freiheit eines Individuums bestimmen. Das Eigentum als natürliches Recht zu fordern, war daher eine politische Forderung. Piaton sah im Privateigentum eine Quelle der politischen Zwietracht und glaubte, politische Freundschaft durch Vergemeinschaftung aller sozialen Güter einschließlich des Eigentums erreichen zu können (Politeia 462c). Aristoteles betonte dagegen die soziale Bedeutung des Eigentums: es schafft personale Verantwortung für Güter, woraus moralische Kräfte erwachsen, sich um Erhalt und Pflege von Gütern zu kümmern; wird diese Verantwortung an eine anonyme Gemeinschaft abgetreten, ist nicht zu erwarten, dass diese eine vergleichbare Sorge hervorbringt {Politik II 3). Diese Kontroverse war noch im Humanismus in Thomas Morus' Utopia erkennbar. Die Aufhebung des Privateigentums bei den Utopiem und die Vergemeinschaftung der Güter soll zur Erschlaffung gefuhrt haben, was durch ein umfassendes Sittenprogramm kompensiert werden sollte. Wie Piaton thematisierte Morus das Eigentum in Hinblick auf seine Folgen für die gesellschaftliche Ordnung, nicht in Hinblick auf seine Entstehungsgründe. Eigentum war ihm ein Thema der Distribution, nicht der Produktion: „Denn solange jeder auf Grund gewisser Rechtsansprüche, soviel er nur kann, an sich zieht, mag die Menge der vorhandenen Güter noch so groß sein, sie wird doch nur unter wenige aufgeteilt, und für die übrigen bleibt Not und Entbehrung" 0Utopia 1980, 55-56). Wie die Güter gerecht zu verteilen sind, war eine Schlüsselfrage der aristotelischen Ethik. Wohlgeordnetheit als Ziel setzt die Wohlproportioniertheit der Güterverteilung voraus. Hierzu unterscheidet Aristoteles zwischen der so genannten ausgleichenden (kommutative) und der zuteilenden (distributive) Gerechtigkeit, eine noch in der modernen Ethik gebräuchliche Differenzierung {Nikomachische Ethik V 5-11). Gerecht müssen laut Aristoteles neben den ökonomischen auch die ideellen Güter verteilt werden, wozu er Ehrungen und Ämter zählte. Im Sachgüterverkehr kommt die kommutative Gerechtigkeit mit der arithmetischen Proportion zur Anwendung: der Verlust einer Sache wird durch ein vergleichbares Äquivalent ersetzt. In Fragen der Ämter und der Ehre sieht Aristoteles dagegen die geometrische Proportion vor: die Gleichheit hängt von der Würdigkeit der Personen ab, die Gleichheit hängt also von der Vergleichbarkeit der betroffenen Personen ab. Vorausgesetzt war dabei der umfassende politische Zugriff auf das Eigentum der Bürger. In Athen wurden bestimmte Sachleistungen wie der Bau von Kriegsschiffen oder die Finanzierung von Theaterauffuhrungen durch Volksbeschluss einzelnen Bürgern aufgebürdet (Liturgie), wogegen sie Klage erheben durften. Waren sie der Meinung, dass reichere Bürger eher in die Pflicht genommen werden sollten, konnten sie den kompletten Vermögenstausch (Antidosis) als Sanktion und zugleich Prüfung der Ernsthaftigkeit ihres Anliegens beantragen. Hier war der Gedanke einer „natürlichen" Heiligkeit des Privateigentums fernliegend. Die „gerechte" Verteilung zu den Vorbedingungen für die Stabilität aller politischen Ordnung zu zählen, war weit verbreitet und fand sich auch bei Xenophon (Kyropädie I 3, 17), den Grotius diesbezüglich rezipierte {De iure belli acpads I 1, 8, 3 ab der 2. Aufl. von 1631). In Spätantike und Mittelalter bildeten Armut und "dominium" (im Sinne von Verfügungsgewalt) die beiden Pole, um Eigentum begrifflich zu erfassen (Coleman 1988). Die Eigentumsordnung als ein moralisches und ethisches Problem erhielt über die Gerechtigkeitsfrage hinaus Impulse durch die Christianisierung der Politik. Die Apostelgeschichte bot den normativen Bezug für die Überzeugung, die Gemeinde Christi teile eine kommunisti-

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sehe Eigentumsvorstellung: „Die Menge aber der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; auch sagte keiner von seinen Gütern, dass sie sein waren, sondern es war ihnen alles gemein (panta koina)" (4, 32). Die politische Relevanz des Eigentums trat spätestens im Armutsstreit und den Auseinandersetzungen der Bettelorden mit der Kirche hervor. Die christliche Vorstellung, wonach der Wunsch nach Eigentum Zeichen der inneren Verhaftetheit mit der Welt war und deshalb die Eigentumslosigkeit Ausweis der christlichen Geisteshaltung war, führte zur Konfrontation der Bettelorden mit dem Papsttums. Die Bewertung der Güter erfolgte hier nach ethischen Maßstäben, Marktbewertungen konnte die Scholastik nicht in ihr Weltbild einfügen: Thomas von Aquin blieb es wie vielen seiner Zeitgenossen unverständlich, wieso eine Perle einen soviel höheren Wert genoss als ein Menschenleben, stand doch die Perle in seiner Vorstellung von Seinsordnung auf einer viel niedrigeren Stufe als der Mensch (Pribram 1998,123-37). Dennoch wollte Thomas die Eigentumsfrage aus dem Naturrecht und nicht aus der augustinischen Sündenfalls-Theologie erklären, wie es Duns Scotus tat. War das Eigentum durch den menschlichen Sündenfall „verschuldet", so erhielt es heilsgeschichtliche Bedeutung, die ihr William Ockham wieder nahm, um den Armutsstreit lösen zu können. Er diskutierte wieder stärker die soziale Natur des Eigentums (Flasch 1987, 457-458). Daher konnte er auch die Frage der päpstlichen und kaiserlichen Verfügungsgewalt über das Eigentum nach säkularen Kriterien lösen (Whether a Ruler can accept the Property of Churches). Die Legisten dagegen postulierten das Eigentum als Recht: Baldus behauptete, dass das Privateigentum eine dem Herrschaftsbereich der politischen Macht entzogene Sphäre sei, die Eingriffe nur mit gutem Grund erlaubt (Canning 1987, 79-82; Pennington 1993b, 209). Der Begriff des „dominium" brachte die Verfügungskompetenz der Sachherrschaft zum Ausdruck. Es meint den Ausschluss anderer von der Sachherrschaft. Wie dies erklärt und gerechtfertigt werden konnte, war Gegenstand einer anhaltenden Debatte, die von Johannes von Paris bis zu John Locke reichte (Coleman 1985). Die Entdeckung der Neuen Welt veränderte das Problembewusstsein erheblich. Die Erkundung der nicht europäisch zivilisierten Welt und die Vorstellung vom wilden Ureinwohner Amerikas trug dazu bei, die biblische Idee des Sündenfalls um die Idee des Naturzustandes als einer menschlichen Entwicklungsphase zu ergänzen, in welcher Eigentum unbekannt gewesen sei. Grotius ging davon aus, dass die Einwohner Amerikas kein Eigentum kannten {De iure belli ac pacis II 2, 2, 1.; Brandt 1974), ein Gedanke, der sich bei Locke wiederholte. Eine andere Frage war, ob Menschen Eigentum über Menschen haben konnten, ob also Sklaverei ein Bestandteil des dominium (siehe auch diachroner Abschnitt „Menschenrechte"). Die antike Welt ging mit wenigen Ausnahmen selbstverständlich davon aus, das Corpus iuris civilis diskutierte rein technische Probleme des „beweglichen Eigentums" und seiner Mängelhaftung. Dominium erhielt mit den Konnotationen von Sklaverei und Knechtschaft einen zusätzlichen politischen Anstrich, da es als Herrschaft von Menschen über Menschen als Gegenteil von Freiheit gebraucht werden konnte, was zum Umkehrschluss führte, dass ein politisch Unfreier in Wahrheit ein Sklave sei (Skinner 1998, 76). Dem standen Ansichten von Etienne de La Boetie (1530-1563), dem Freund Montaignes und Michel de Höpitals in De la servitude volontaire (1573) bis zu Hobbes' Leviathan entgegen, die auf die Neigung des Menschen verwiesen, um des Lebens und der Ruhe willen freiwillig die Untertänigkeit zu akzeptieren; Boetie kritisierte dies, Hobbes hielt es für rational nachvollziehbar.

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Die Sklavereifrage wurde angesichts des Umgangs der Eroberer mit den Einwohnern Amerikas erneut akut und provozierte die Attacken der spanischen Spätscholastik (siehe Abschnitt „Naturrecht und Völkerrecht"). Die Neue Welt erweiterte die Eigentumsdiskussion um den Aspekt außereuropäischer Gebiete. Wem nun die Neue Welt gehörte und wie sie aufzuteilen sei, entschied der Papst zunächst 1494 im Vertrag von Tordesillas zwischen den katholischen Ländern Portugal und Spanien. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts kamen aber die protestantischen Länder England und Niederlande hinzu; sie konkurrierten mit den katholischen Staaten und erkannten den Papstspruch nicht an und begannen eine lukrative Strategie der Kaperung. War dies Piraterie oder Eigentumserwerb? Die Kaperung eines portugiesischen Indienfahrers durch ein Schiff der Holländischen Ostindien-Kompanie 1603 erregte aus ethischen Gründen die Empörung einiger mennonitischer Aktionäre der Kompanie, welche den Eigentumscharakter der Prise bestritten. Die Kompanie beauftragte Hugo Grotius mit einem Gutachten, der De iure praedae der Kompanie recht gab. Das Gutachten (ursprünglich De Indis genannt) blieb unveröffentlicht, aber Grotius publizierte 1609 daraus das 12. Kapitel unter dem Titel „Freiheit der Meere" (Mare liberum sive de iure quod Batavis competit ad Indicana commercia dissertatio). Er postulierte darin, dass das Meer offen sei und der Okkupation aller ausgesetzt bliebe. Grotius' Position war mit seiner späteren Naturrechtstheorie unvereinbar, in De iure belli ac pacis vertrat er den Primat vertraglicher Vereinbarungen (zur Entwicklung Tuck 1979, 58-81). Zu diesem Zeitpunkt stimmte die Theorie von der Freiheit der Meere auch nicht mehr mit den niederländischen Interessen überein, da mit der Gründung eigener Kolonien die Niederländer nun ihre neuen Besitztümer einschließlich der unmittelbaren Seezugänge schützen wollten. John Seiden wies Grotius' Lehre von der Freiheit der Meere zurück und folgerte aus dem umfassenden Besitzanspruch von Staaten an ihren Küstengewässern auf die Verfügung über die daran anschließende See (Mare clausum 1635; Klee 1946). Seiden bediente sich hierbei u.a. aus Grotius' De iure belli von 1625 und verband dies mit verfassungshistorischen Aspekten der Common Law Tradition (Tuck 1982). Grotius' Eigentumstheorie (Buckle 1991, 1-52; Brocker 1992, 30-124 verknüpfte in einer für das Naturrecht typischen Weise biblische und antike Argumente: Gott gab der Menschheit die Welt als Gemeinbesitz, damit der Mensch seine Bedürfnisse befriedige. Das deutete Grotius aber nicht als tatsächlichen Gemeinbesitz, sondern als gedanklichen Ausgangspunkt privater Aneignung. Wie wird aus ursprünglichem Gemeinbesitz privater Besitz? Die Aufgabe der Nutzung macht den Ausschluss anderer nötig und damit auch gerecht. Das Problem verdeutlichte Grotius anhand einer in der römischen Antike vertrauten Konstellation (De iure belli II 2, 2, 1): wenn ein Ritter einen Platz im Circus einnahm, der Angehörigen seines sozialen Standes reserviert war, bedeutete dies, dass er ihn besetzte im Sinne von „gehört" bzw. „besitzen" (occupatio), kann er also andere Ritter von dessen Nutzung ausschließen (Seneca, De beneficiis 7, 12; Cicero, De finibus III 20, 67)? Während im Falle des Circus bzw. des Theaters der Sitz nach erfolgter Nutzung wieder freigegeben ist, folgt in der Güterwelt der ursprünglichen Okkupation eine anhaltende Kette von Eigentumsansprüchen an diesen Gütern, über die nur mit rechtlichen Gründen gegen den Willen des Eigentümers verfügt werden darf. Die normativen Qualität des Eigentums bestimmt sich nach Grotius aus ihrer Nutzungsanweisung, die dem Eigentumsgebrauch einer normativen Teleologie unterstellt: So stellt eine Notsituation den ursprünglich universalen Gebrauch des Eigentums wieder her, ohne die Eigentumsrechte des Betroffenen zu verletzen: die Nutzung des Eigentums aufgrund oder infolge einer Notlage den Bedürftigen zu

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verwehren wäre ein Verstoß gegen die Natur (im Sinne von: Wesen) des Eigentums (Buckel 1991, 45-46). Noch Pufendorf schränkte ausgangs des 17. Jahrhunderts die Freiheit des Privateigentum nach Maßgabe des Allgemeinwohls ein (De jure naturae et gentium Π 6, 5-8). Da ihm folgend alle Pflichten zugleich der Sorge um das eigene Selbst dienen wie auch gemeinschaftsorientiert gedacht sind, ist recht verstanden ein Widerspruch zwischen der Eigennutzen und dem Gesamtnutzen nicht vorhanden. Das „Wie" der Nutzung blieb also naturrechtlichen Prinzipien vorbehalten, das „Wer" der Nutzung regelte sich vertraglich. Dominierte dagegen die Erfahrung politischer Willkür im Eingriff in das private Eigentum, etablierte sich die Doktrin von der politischen Unantastbarkeit des Eigentums. In der englischen Tradition des 17. Jahrhunderts von den Juristen des Common Law bis zu Puritanern wie Richard Baxter oder Richard Overton (Brandt 1974, 242) war sie die herrschende Meinung. Von ihr wich allein Thomas Hobbes ab. Er definierte das Eigentum als Rechtsverhältnis, wobei der Staat nicht nur Garant, sondern Schöpfer des Eigentums ist: Im Naturzustand verfügen die Menschen nur über den Besitz von Sachen, und auch nur so lange sie physische Kontrolle ausüben. Erst im Gesellschaftszustand verwandelt der Staat den Besitz in Eigentum als Rechtstitel und setzt diesen auch zwangsweise durch. Daher obliegt dem Staat auch das Recht, im Einzelfall auf das Eigentum des Einzelnen zuzugreifen, indem er es durch Eigentumsgesetze neu definiert. Die paradigmatische Wende im Eigentumsbegriff von der Okkupations- zur Arbeitstheorie leistete John Locke (MacPherson 1962; Tully 1980; Brocker 1992, 125-291). Er fragte nicht mehr, wer sich Sachen wie aneignen oder nach welchen ethischen Kriterien (Gerechtigkeit) Eigentum verteilt werden solle, sondern begriff das Eigentum als ein Produktionsproblem: Eigentum entsteht durch menschliche Arbeit, die den Naturgütern jene Individualität hinzufügt, die den Anspruch des Verarbeitenden auf diese Naturgegenstände als sein Eigen begründet. Locke verband das republikanische Argument der Selbstregierung mit der Gesellschaftsvertragsidee und dem Naturrecht. Er erweiterte dabei das republikanische Argument um die Perspektive der gesellschaftlichen Verwurzelung des Bürgers, die er im Begriff des Eigentums festhielt. John Locke (1632-1704) entstammte einer durch Handel und Gewerbe zu Wohlstand gekommenen, puritanischen Familie, die ihm eine hervorragende Ausbildung ermöglichte (Westminster School, London; Christ Church College, Oxford). Locke war praktizierender Arzt und beteiligte sich an naturwissenschaftlichen Experimenten. Mit seinem philosophischen Hauptwerk Über den menschlichen Verstand zählt er zu den wichtigsten Philosophen der Aufklärung. Locke war zudem englischer Gesandter und als Sekretär und Vertrauter Lord Ashleys, des späteren 1st Earl Shaftesbury, einem fuhrenden Politiker der Whigs, in der politischen Opposition aktiv (Hugelmann 1992). Shaftesbury opponierte gegen die Hofpartei und bekämpfte Katholizismus und Royalismus, die nach der Restauration von 1660 wieder in England Fuß gefasst hatten. Locke musste aus politischen Gründen 1683 ins Exil gehen. Dort schrieb er auch seine Theorie des Verstandes und den Brief über Toleranz. Lockes politisches Hauptwerk sind die Two Treatises on Civil Government. Beeindruckt zeigte sich Locke von Pufendorfs Verbindung grotianischer mit hobbesianischen Gedanken, die ihm wahrscheinlich durch ihre Rezeption bei Lockes Freund James Tyrrell vertraut waren (Wootton 1993, 77-89). Locke gab keine juridische, sondern eine soziale Interpretation

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des Naturzustandes. In der grotianischen Tradition stehend, erachtete Locke das Naturrecht als immanent rational, dessen Wurzeln aber in göttlicher Fügung liegen (Zuckert 1994, 187288). Stellen aus offenbarten Schriften wurden so bei Locke zu „Argumenten", d.h. sie wurden rational rekonstruiert. Diese Technik berief sich weniger auf die göttliche Autorität des Arguments, sie erkannte vielmehr im göttlichen Willen eine rationale Struktur. Dahinter stand die naturrechtliche Grundidee von der Identität des göttlichen Schöpfungswillens mit der Rationalität. Den Forschungen Peter Lasletts folgend, hatte Shaftesbury Locke mit der Widerlegung von Filmers Hauptwerk Patriarchia beauftragt. Anders als Hobbes berief sich Filmer für seine moderat-monarchistische Theorie auf die Bibel und das machte ihn eher zum Vordenker der Königspartei als die abstrakte Theorie des Absolutismus von Hobbes, der zudem Zeit seines Lebens unter Atheismus-Verdacht stand (Sommerville 1992, 70-72, 82-86 u.ö.). Robert Filmer (etwa 1588-1653) hatte vermutlich noch vor Ausbruch des Bürgerkrieges eine Abhandlung zur Rechtfertigung der absoluten Monarchie geschrieben (Patriarchia - or the natural Powers if Kings), die jedoch erst 1680 zusammen mit anderen Werken Filmers veröffentlicht wurde und auf den öffentlichen Streit einwirkte, der mittlerweile zwischen Whigs und Tories entbrannt war. Streitpunkt war die mögliche katholische Thronfolge Charles II. durch seinen Bruder James, den Herzog von York und ab 1685 König James II. Filmers hauptsächlich auf die Bibel rekurrierende Arbeit stützte den Standpunkt der Monarchisten. Die Bibel blieb selbst unter intellektuellen Skeptikern eine wesentliche Lektüre; sie bot sogar revolutionären Forderungen Referenzmöglichkeiten. Thomas Edwards hatte in Gangraena von der allgemeinen Gleichheit der Menschen in ihrem Wunsch nach propriety and liberty gesprochen, wobei er die gleiche Geburt des Menschen aus ihrer Gottesgeschöpflichkeit ableitete und sich wiederum auf Richard Overtons Remonstrance von 1646 bezog (Sabine 482). Auch George Lawsons Politica Sacra et Civilis von 1660 bot Locke Anknüpfungspunkte (MacLean 1947; Franklin 1975). Milton rechtfertigte die Republik mit Hinweis auf biblische und antike Quellen. Filmer dagegen berief sich bei seiner Ablehnung des Parlamentsregimes, das er als strukturelle Minoritätsherrschaft bezeichnete, auf die historisch-praktische Fiktion des Gesellschaftsvertrages, wie ihn vermeintlich die Bibel vorgab. Wie zuvor Richard Hooker (The Laws of an Ecclesiastical Polity) dachte Filmer die politische Ordnung als willentlichen Zusammenschluss zwischen dem freien Willen Gottes und dem von Gottes Gnaden eingesetzten König, insoweit Repräsentant des Volkes in diesem Vorgang. Dieser Vertrag begrenzte Filmer wie Hooker zufolge aber auch den Spielraum der königlichen Prärogative. Was aber heftige Reaktionen auslöste war die Behauptung Filmers, die Bibel sehe grundsätzlich eine patriachalische Herrschaftsform vor, was aller Möglichkeit zur Selbstregierung widersprach. Der Republikaner Algernon Sidney (1622-1683) setzte sich in seinen Discourses on Government von 1683 (erst 1698 veröffentlicht) ebenso ausfuhrlich mit Filmer auseinander wie Lockes Freund James Tyrrell in seiner Patriachia non Monorchia (1681). Filmer war dann auch wenig überraschend der kritische Bezugspunkt von Lockes Two Treatises on Government, die er 1690 anonym veröffentlichte. Die Absetzung des Königs und die Einsetzung Wilhelm von Oraniens prägten den politischen Diskurs der 80er Jahre und damit auch Locke (Goldie 1980), aber die Vorarbeiten und auch der erste der beiden Treatises gehen bis auf das Jahr 1679 zurück (Milton 1995). Im ersten der beiden Treatises beschäftigte sich Locke mit der Theorie Filmers, im zweiten bekämpfte er die Freiheitsvorstellung Filmers, wonach die Freiheit eines jeden bedeute, zu

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tun, was ihm beliebt und zu leben wie es ihm gefällt. Aus dieser Zuspitzung zur anarchischen Freiheitsdefinition verschaffte Filmer dem König eine ordnungsstiftende Legitimität. Dem stellte Locke die Theorie entgegen, dass bereits im Naturzustand alle Freiheit an das Gesetz gebunden sei (§ 22), weshalb Freiheit von absoluter bzw. willkürlicher Gewalt nicht gleichbedeutend sei mit Anarchie. Die Freiheit des Menschen in der Gesellschaft beruhe vielmehr auf der Gebundenheit an selbstgegebene Gesetze. Diese Gesetze sind keine Hüllen für beliebige Inhalte. Ihr Gegenstand ist „property". Der Mensch ist als Abkömmling Adams selbst Teil der göttlichen Schöpfung und hat den Auftrag zur Selbsterhaltung. Daher kann er sich auch nicht in die Sklaverei begeben und umgekehrt widersprechen alle Gesetze dem Naturrecht, die den Menschen sklavisch behandeln. Locke ging davon aus, dass kein rationaler Mensch sich freiwillig einer absoluten Herrschaft unterwirft (II § 164), und fegte damit den Ansatz von Hobbes beiseite, mit dem er sich explizit nur wenig auseinandersetzte. Jede Tyrannei ist weitaus schlechter als der Naturzustand: die Nachteile sind zwar die gleichen, die Mittel sie zu beheben aber ungleich geringer (II 225). Ein vernünftiges Sichselbstausliefern an eine unkontrollierbare Regierung kam für Locke auch nicht in Frage. Locke folgte der aristotelischen Tradition und der Unterscheidung von gemeinwohlorientierter Regierung und eigenwohlorientierter Tyrannis (II 19). Dieser Enthusiasmus wirkte später auf die amerikanischen Kolonisten vorbildlich. Der Naturzustand hält nach Locke an, wenn jemand absolute Herrschaft ausübt und Bürger zu Untertanen macht (II 90). Ferner besteht er zwischen politischen Gemeinschaften (II 145), darin wiederum Hobbes nahe kommend. Im Zentrum der politischen Theorie von Locke stand der Begriff des Eigentums, dem er eine neue Wendung gab. Im Naturrecht konnte man argumentieren, dass Gott dem Menschen die Welt zur Ermöglichung seines Lebens überlassen hatte. Daraus folgte der ursprüngliche Gemeinbesitz. Anders als Grotius sah Locke die Aneignung (acquisition) natürlicher Gegenstände zu Privatbesitz ohne rechtliche Interaktion des Vertrages vor. Lockes Kernbegriff lautete „property", den Locke über den deutschen Ausdruck Eigentum hinaus in einem sowohl weiteren als auch engeren Sinne verwendete. Er definierte property als Inbegriff von „lives, liberties and estates" (II 87 und 123), gelegentlich beschränkte er sich aber auch auf den Besitz an Gegenständen. Man kann daher zwei Eigentumsbegriffe bei Locke unterscheiden: der eine ist eine Art Treuhandschaft, d.h. mit Sorgepflichten des Eigentümers verbunden, zunächst für sich selbst (Ausschluss des Selbstmordes), dann für die Güter; der andere begründete Privateigentum im modernen Sinne der individuellen und freien Verfügbarkeit (Schwarzenbach 1988). Anders als Hobbes versteht Locke unter Eigentum nicht die Zuteilung von Rechtstiteln durch den Staat, sondern die spezifische Qualität eines natürlichen Gegenstandes, der durch menschliche Arbeit verändert wird. Das Wasser ist allen gemein, aber wer mit dem Krug Wasser aus dem Bach schöpft, der darf ein Eigentum an diesem Wasser in seinem Krug beanspruchen. Denn mittels seiner Arbeit fügt der Mensch den Sachen einen Teil seiner Persönlichkeit hinzu, so dass danach dieser Gegenstand von allen anderen unterschieden ist, weshalb der die Sache verarbeitende Mensch auch einen Anspruch darauf hat, andere Menschen hiervon auszuschließen (II 27). Die Arbeit als Ursache des Eigentums begrenzt auch das Ausmaß des Eigentumserwerbs auf die Fähigkeit des Menschen, Gegenstände zu verarbeiten. Darüber hinaus verleiht erst die Arbeit den natürlichen Rohstoffen ihren eigentlichen Wert (II 43). Locke sprach die Sprache eines den Boden kultivierenden Landwirts (Wood 1984). Erst mit dem Geld, einer durch menschliche Vereinbarung geschaffenen Institution, konnte es dem Menschen gelingen, Güter dauerhaft und ungeachtet seiner Arbeitskraft anzu-

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häufen und die großen Unterschiede in der Eigentumsverteilung setzten ein, die Locke sehr kritisch betrachtete. Lockes Eigentumsauffassung wurde bereits in seiner eigenen Zeit kontrovers diskutiert (Tully 1980; Buckle 1991). Für die politische Theorie wurden besonders Lockes Folgerungen in Hinblick auf die Institutionenlehre bedeutsam. Locke prägte das Bild der freien Persönlichkeit, die aus eigener Kraft ihre Lebenswelt kultiviert. Konsequenterweise gesteht er allein den Eigentümern ein Mitspracherecht am Staat zu. Arbeit verbürgt Produktivität. Unproduktive Tätigkeiten, zu denen Locke alle Tätigkeiten im Haushalt zählte, schloss er fast verächtlich aus und verweigerte den Personen, die solche Tätigkeit verrichteten, ebenso das politische Mitspracherecht wie den Lohnarbeitern. Denn der Mensch, der die Sachen bearbeitet, die bereits das Eigentum eines anderen sind, kann nicht seinerseits ein Eigentum daran erwerben, jedenfalls nicht ein Eigentum allein durch seine Arbeit. Nach Locke kommen die Eigentümer in einem Gesellschaftsvertrag dazu überein, einen Staat einzusetzen, um ihr Eigentum besser zu schützen. Nur weil sie ohne Regierungsgewalt sich der Früchte ihres Eigentums nicht erfreuen können, schließen sie sich zusammen. Im Naturzustand fehlen Gesetze, Richter und eine Vollstreckungsgewalt (II 124-126). Daher gibt der Eigentümer einen Teil seines Eigentums als Steuern in die Hände der Regierung, die diese dann in Treuhandschaft (trust) nimmt und nur für die von den Eigentümern festgelegten Ziele einsetzt. Lockes Gesellschaftsvertragstheorie stand insoweit der Hobbes'sehen diametral entgegen (Thompson 1994; Terrel 2001, 233-298). Steuern sind bei Locke Eingriffe in das unabhängig vom Staat erworbene Eigentum und daher zustimmungspflichtig (II 140-142). Allgemein kann Regierungsgewalt ohne die Zustimmung der Regierten nicht ausgeübt werden. Die Verletzung des Gesellschaftsvertrags seitens der Regierung hebt die Gehorsamspflicht auf und begründet ein Widerstandsrecht der Regierten (II 202-204, 223-227), womit Locke der Widerstandstradition eine neuartige Wendung gab (Salmon 1987). Hobbes sah nur vor, dass das Individuum nicht mehr an den Vertrag gebunden sei, wenn dieser sein Leben nicht wirksam schützt, was Flucht und nicht Widerstand meinte. Für Locke diente die Regierung einzig und allein im Schutz und Gedeihen des Eigentums der Menschen, welches wiederum seinen moralischen Grund in der Arbeit hat und zugleich den Freiheitsraum des Bürger absteckt (II 124). Die Kompetenz der Regierung geht nicht über das Gemeinwohl hinaus, dessen Inhalt durch Gesetze festgelegt wird, die der Zustimmung der Bürger bedürfen (II 131). Locke gab damit dem Parlament die institutionelle Schlüsselstelle: kein Gesetz hatte verpflichtende Kraft, wenn es nicht durch die Legislative sanktioniert wurde (II 134). Die erlassenen Gesetze müssen allgemein sein, d.h. für jedermann gelten und keine Einzelfallregelungen erlauben (II 136). Die Regierungsgewalt ist in drei Zweige gegliedert, zur Vermeidung unnötiger Machtkonzentration und wegen der Neigung des Menschen zur Machtgier (II 143). Die Kompetenzen bestimmt allein das Gesetz (II 152), was Locke nicht daran hinderte, an anderer Stelle freies Ermessen bei der Ausführung des Gesetzes einzuräumen (II 147), differenziert nach der Natur des Regierungshandelns. In der Innenpolitik, zumal der Steuerpolitik formulierte Locke eine strengere Gesetzesbindung der Exekutive als in Fragen der Außenpolitik, wo freies Ermessen Voraussetzung der Handlungsfähigkeit sei (II 144-148). Die dritte Gewalt neben Exekutive und Legislative ist statt der uns vertrauten Judikative die „Föderative", der die Außen- und Bündnispolitik vorbehalten bleibt. Was heute als Exekutive vereint gedacht wird war bei Locke in einen innen- und einen außenpolitischen Zweig getrennt, zu

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sehr fürchtete Locke den mittelbaren Einfluss außenpolitischer Kompetenzen auf die politische Ordnung. Locke knüpfte die Geltung des Gesellschaftsvertrages an die Selbstverpflichtung, die an der Zustimmung (consent) erkennbar wird. Er nahm sogar an, dass es historisch solche Gesellschaftsverträge gegeben hatte. Die bindende Kraft der Obligation ist individuell und willentlich. Die Zustimmung verpflichtet niemanden außer den Zustimmenden selbst. Ein Vater kann seinen Sohn nicht mehr verpflichten, wenn dieser erst das Alter des freien Ermessens (welches lange vor dem formlichen Wahlrecht liegt) erreicht hat (II 116). Die Zustimmung kann ausdrücklich erfolgen, aber auch durch entsprechendes Verhalten („tacit consent") zustande kom-men. Die Annahme der Verbindlichkeit stillschweigender Zustimmung ging weit über Grotius' expressiv-voluntaristische Versprechenstheorie hinaus, die Verpflichtung mit dem sozialen Verhalten verknüpft. Mit dem „tacit consent" (stillschweigende Zustimmung) machte Locke sein System praktikabel. Wer sich bewusst in einer bestimmten politischen Gemeinschaft aufhält, unterwirft sich damit auch deren Gesetzen, selbst wenn er das nie wörtlich geäußert hat und selbst wenn er keinen Anteil an der Repräsentation hat. So rechtfertigt er auch die Besteuerung von Nichtbürgern. Schafft der tacit consent aber auch politische Rechte? Man könnte aus der Tatsache indirekter Steuern schließen, dass auch der Ärmste Partizipationsrechte beanspruchen darf (Hughes 1990). Die Armen sind aber aus Lockes Bürgerbegriff ausgeschlossen (Davies 2002, 278), sie erfreuen sich jedoch des gesellschaftlichen Lebens und dürfen sich glücklicher schätzen als ein König in der Wildnis Amerikas (II 41). Die Geringschätzung Amerikas folgt der von Grotius, der davon ausging, dass man dort kein Eigentum kennt (De iure belli ac pacis II 2, 2, 1). Für Lockes Orientierung am Eigentum ist es typisch, dass er den Besitz von Gütern als wirkungsvollste Form des „tacit consent" zu den Gesetzen eines Landes zählt (II 119). Dabei wird der Grad der Verpflichtung differenziert. Die bloß stillschweigende Zustimmung begründet noch keine vollständige Verpflichtung, wie sie in Lockes Augen für ein Vollmitglied einer Gesellschaft besteht (II 122). So wenig der länger verweilende Besucher einer Familie durch die Tatsache des Aufenthalts in dem Haushalt zum Familienmitglied wird, so wenig gilt dies für den Bewohner eines Landes. Er hat die Gesetze zu respektieren, aber die Tatsache seiner Anwesenheit alleine begründet kein Vollmitgliedschaft, andererseits kann er auch nicht von der politischen Ordnung zu einer entsprechenden Verantwortung gezogen werden und muss nicht die entsprechenden Pflichten erfüllen. Die Notwendigkeit einer expliziten Selbstverpflichtung für die vollständige Mitgliedschaft bleibt also bestehen. Locke hatte hier im Gegensatz zu Hobbes die ganz realistische Problematik vor Augen, dass Menschen sich gerade im Zeitalter des Handels zwischen verschiedenen Staaten bewegen und nicht für alle Menschen die gleichen Obligationen gelten können (Hampsher-Monk 1979). Locke reflektierte damit auch die sozialen Wandlungen in der englischen Gesellschaft. Die kommerzielle Aktivität der Elite verstieß nicht gegen adlige Verhaltensprinzipien, vielmehr erlaubte sie die Vermischung der Aristokratie mit dem wohlhabenden Bürgertum in der gentry und erweiterte so die Aktivbürgerschaft. Das Leitbild des Edelmannes (gentleman) war eher ein Erziehungsideal, welches zu erringen jedermann offen stand, der hierzu die Mittel besaß. Locke stellte in seinen Some Thoughts Concerning Education von 1705 Unterrichtspläne zur Ausbildung des bürgerlichen Ehrenmannes zusammen (Tarkov 1984). Damit hatte Locke in einem großen Wurf die ethischen wie politischen Grundlagen der sich Bahn brechenden Arbeits- und Eigentumsgesellschaft aufgezeichnet, die als Neudefinition der „bürgerlichen Gesellschaft" die bis dahin herrschende, mehr oder weniger auf Aristoteles

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zurückgehende Idee der bürgerlichen Gesellschaft als politische Gemeinschaft Freier und Gleicher ablöste (Medick 1973). Dies machte Locke in der politischen Ideengeschichte zum Ahnherrn des liberalen Individualismus. Einige Überlegungen Lockes widersprechen jedoch dem modernen Liberalismus, so die Theorie der Vollbürgerschaft. Die liberale Rezeption reagierte hierauf mit komplexen Interpretationen, etwa durch eine Verdoppelung des tacit consent in moralischer und dann in sozialevolutionärer Hinsicht (Waldron 1994), statt die liberale Lesart zu verändern. Ob Locke eine Ideologie des Besitzindividualismus (Macpherson; Euchner 1992, 38) und weniger eine der politischen Freiheitsrechte des Individuums verfasste, ist ein Kernpunkt des Auslegungsstreits. Ähnliche Schwierigkeiten bereitet der liberalen Rezeption, dass Lockes fur Atheisten keine Toleranz forderte (siehe diachroner Abschnitt „Politik und Religion"). Lockes unmittelbare Wirkung war nicht so prägend gewesen, wie es seine Rezeption im ausgehenden 18. Jahrhunderts vermuten lässt, als Locke zu einer wichtigen Bezugsgröße der Freiheitsideologie in der Parte der Gentry (Whig ideology) wurde. Die Treatises wurden 1694 und 1698 erneut gedruckt und doch nur eingeschränkt rezipiert. Selbst sein Freund James Tyrrell erwähnte in seiner voluminösen Bibliotheca Politica. Or an enquiry into the Antient [sic] Constitution of the English Government von 1694 Locke nur fünfmal (Dickinson 1977, 72). Locke argumentierte systematisch und nicht historisch und widersprach damit dem Grundzug des politischen Denkens seiner Zeit. Zwar hatte seine Gesellschaftsvertragsidee historische Vorbilder und vermutlich zählte Locke auch koloniale Charters hierzu, in welchen wie in einem Kapitalgesellschaftsvertrag das Ziel der Vereinigung und die Organe ihrer Selbstregierung festgelegt wurden; Locke hatte 1669 in der Fundamental Constitutions of Carolina eine solche Charter für Carolina verfasst (Milton 1990; McGuinness 1990). Aber das Schwergewicht seiner Theorie war naturrechtlich-systematisch. Im 17. Jahrhundert war die vertragliche Grundlegung sozialer Kooperation kein dem Kontraktualismus vorbehaltener Gedanke (Thompson 1987; 1994). Zwar war dem Sprachgebrauch der Ausdruck „original contract" vertraut: Dokumente wie die Resolution des Convention Parliament vom 7. Februar 1689 über die Vakanz des Thrones warfen James II. vor, den „original contract" gebrochen zu haben. Damit war jedoch keine vertraglich vereinbarte Verfassung gemeint, sondern die Leitidee der „ancient constitution," zu welcher man mit der Einsetzung des neuen König zurückgekehrt sei. Das politische Denken der ehemaligen Hofopposition beruhte nämlich auf der Idee der „ancient constitution" und insofern war 1688 eine „glorious revolution" als sie eine Rückkehr zu den guten alten Zuständen vor den absolutistischen Ambitionen des Königs bedeutete. Der Begriff der „Revolution" entstammte der Astronomie und beschrieb die Planetenbewegung. Die Idee der ancient constitution lehnte Locke aber gerade ab (Resnick 1984) und war darin die Ausnahme im synchronen Diskurs der Gegner der absoluten Monarchie (Pocock 1957, 46). Locke erachtete historische Argumente als nachrangig. Ähnlich wie bei Hobbes setzte sich im synchronen Diskurs also nicht der kontraktualistische Standpunkt durch, sondern ein politisches Prinzip, dessen Wurzeln weniger in Einzelleistungen der politischen Theorie als im politischen Denken bestimmter Akteursgruppen lagen. Die Idee der „ancient constitution" war bereits eine Referenz im Kampf des Parlaments gegen den König vor dem Bürgerkrieg gewesen (Burgess 1993) und blieb auch für die Verfassungspolitik des 18. Jahrhunderts bei Blackstone, de Lolme, Miliar ein wichtiger Fixpunkt (Francis/Morrow 1988).

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Diachron betrachtet wurde Lockes Einbettung der Freiheit in die Idee der Arbeitsgesellschaft entscheidend. Der Produktionsbegriff hatte laut Locke eine moralische Qualität der Beziehung zwischen der individuellen Personalität und den Natursachen. In der individuellen Fähigkeit zur Verarbeitung von Gütern lag ja auch die Grenze des „natürlichen" Umfangs an Eigentum. Auf der Eigenschaft des Menschen als Eigentümer beruhte seine Fähigkeit zu freier Selbstbestimmung. Damit begründete die Eigentumsstellung die Qualifizierung des Menschen zum Bürger: es kann nur demjenigen ein freier Wille zugesprochen werden, der auch frei davon Gebrauch machen kann, der also nicht in einem ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Menschen steht. Freiheit und ökonomische Selbständigkeit standen noch bei Immanuel Kant in einem inneren Zusammenhang zueinander: der Königsburger forderte, dass der Bürger „sein eigener Herr (sui juris) sei, mithin irgend ein Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk oder schöne Kunst, oder Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt" (Über den Gemeinspruch, Werke XI 151; vgl. Metaphysik der Sitten § 46). Eines der Ergebnisse der revolutionären Ära war daher die Verknüpfung des Stimmrechts mit dem Eigentum in Gestalt der Steuer. Das bürgerliche Wahlrecht war ein Zensuswahlrecht in dem Sinne, dass der Bürger nur Stimmrecht hatte, wenn er ein Mindeststeueraufkommen nachweisen konnte. Das galt sowohl für das revolutionäre Amerika wie für Frankreich ausgangs des 18. Jahrhunderts. In den Bürger- und Menschenrechterklärungen, von der Virginia Bill of Rights (sect. 1: enjoyment of life and liberty, with the means of acquiring and possessing property) über die französische Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte (Art. 2) bis zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (Art. 17) wurde das Postulat der individuellen Freiheit mit dem Schutz des Eigentums verbunden. In den USA setzte bald schon der Kampf um das gleiche Stimmrecht ein, das sich erst mit der Integration der jungen Grenzstaaten in den 1820er Jahren etablieren konnte, wo eine andere lebensweltliche Erfahrung der Gleichheit prägend gewesen war. Gleichzeitig existierte die Sklaverei fort. In Frankreich war die Kritik an dem Bürgerbegriff, der an die Qualität des Eigentümers geknüpft war, erheblich schärfer. Dies hatte mit der Sklaverei-Kritik zu tun, welche für die französische Menschenrechtsbewegung initialgebend gewirkt hatte. Girondisten wie Brissot kritisieren ebenso das uneingeschränkte Eigentum (Techtmeier 1961) wie der Jakobiner Maximilien Robespierre. In seiner Rede Über die Mark Silber vom 20. April 1791 griff Robespierre die Festlegung des Mindesteinkommens als Voraussetzung für das Wahlrecht an. Gerade das besitzlose Volk sei am Allgemeininteresse orientiert, weil es mangels größeren Eigentums auch nicht korrupt sei, d.h. sein Verhalten nicht am Eigeninteresse ausrichte. In der Rede Über das Eigentum vom 24. April 1793 im Nationalkonvent, prangerte Robespierre die Inkonsequenz der Rechtseinschränkung an. Er verwarf die Idee einer gleichen Besitzverteilung als irreal, kritisierte aber, dass auch das Eigentum ein soziales Recht sei und daher dem Zugriff des Gesetzes als Ausdruck des allgemeinen Willens des Volkes ausgesetzt bleiben müsse. Er denunzierte das Eigentum, das man dem Zugriff der Republik entziehen wollte, als das von Spekulanten, Wucherern und derjenigen, die mit Hilfe des Eigentums das Volk zu tyrannisieren versuchten. Inmitten der Kämpfe um die Versorgung der Pariser Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und angesichts der sprunghaft ansteigenden Lebensmittelpreise empfanden die Revolutionäre das Festhalten am Privateigentum sogar als konter-

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revolutionär. Sie hatten einen rein politischen Blick auf das Eigentum als Verteilungs-, nicht als Produktionsproblem. Denkt man den von Locke hergestellten Zusammenhang von Gesellschaftszustand und Eigentum konsequent weiter, so wird ersichtlich, dass nicht die naturrechtliche Stellung, sondern die gesellschaftliche Herkunft des Eigentums entscheidend ist. Die intrinsische Moralität des Eigentums, die Locke vor Augen hatte, sah er von der Geldwirtschaft gestört: Die Erfindung des Geldes entkoppelt die Sachherrschaft von der Arbeit, im Geld kann die Arbeit gleichsam stillgestellt und gehortet werden, wodurch sich das Ausmaß persönlicher Verfügbarkeit ins Grenzenlose steigert. Francis Hutcheson thematisierte dieses Problem im Anschluss an Locke und hob die Unterscheidung zwischen Nutzung und Sachherrschaft gänzlich auf, und zwar seinerseits aus moralischen Erwägungen (Hörne 1990, 75-88). Das persönliche und uneingeschränkte Eigentum an den Gütern bringt Hutcheson zufolge nämlich erst die moralische Verantwortung und Sorgfalt des Verarbeitenden hervor (Short introduction to moral philosophy 158). Der effiziente Umgang mit den Gütern ist hier als moralische Tugend gedacht, der Zusammenhang der moralischen Welt mit der Welt der Güter wird noch aufrechterhalten. Erst mit Adam Smith wurde das Privateigentum konsequent von aller moralischen Disposition emanzipiert. Adam Smith hatte in seinem ökonomischen Hauptwerk (Wealth of Nations 1776) die theoretische Frage des Eigentums nicht mehr erörtert, sondern ging bereits von der Arbeitstheorie aus (I 10, 12). Schon in den Lectures on Jurisprudence (1762/3: I, 17) konstatierte er ein uneingeschränktes Eigentumsrecht (dominium) und stellte es unter keinerlei Vorbedingungen oder in den Kontext einer Teleologie wie noch Locke zuvor (vgl. Bowles 1985, 204). Daher schließt das Eigentumsrecht bei ihm sogar das Recht auf Zerstörung der Sache ein: Eigentum unterliegt der persönlichen Willkür. Smith interessierten der Güterverkehr, Produktion und Tausch und ihre inhärenten Regeln. Vorbild war ihm die englische Gesellschaft, die er (wie die Schottische Aufklärung) am Ende eines langen Zivilisationsprozesses stehend sah, geprägt durch die Arbeitsteilung. Das Privateigentum war die notwendige Konsequenz der Arbeitsteilung und ermöglichte deswegen bei aller Ungleichverteilung Wohlfahrt, d.h. einen Überschuss an Erträgen, weshalb im Ergebnis die Vorteile alle Nachteile überwogen. Smith bemerkte allerdings bereits die bedenklichen Folgen der Arbeitsteilung, da die fabrikmäßige Produktionsweise (Stecknadelfabrikation) jedem Arbeiter nur wenige Handgriffe beließ und er so verdummen musste. Der Fortschrittsoptimismus stieß an seine Grenzen. In der weiteren Auseinandersetzung um Sinn und Inhalt des Eigentums strebten zwei Diskurse auseinander: Von Hegels Rezeption der Schottischen Aufklärung führte eine Linie zu Karl Marx, der im Eigentum die Entfremdung des Menschen von seiner gesellschaftlichen Umwelt thematisierte; von ähnlichen Motiven angeleitet bezeichnet Proudhon es als „Diebstahl" (zu Marx und Proudhon siehe Abschnitt „Demokratie ohne Repräsentation"). Auf der anderen Seite konzentrierte sich das individual-liberale Argument auf das Eigentum als personales Eigentumsrecht, das naturrechtlich sanktioniert dem politischen Zugriff möglichst entzogen werden sollte. Wo das Eigentum aber der gesetzgebenden Macht der Eigentümer unterlag, wurde es deutlich disponibler gedacht. Das Eigentumsrecht galt im 18. Jahrhundert in England als politisch bedingtes Recht. David Hume ebenso wie der ideengeschichtlich einflussreiche Kommentator der englischen Verfassung Edward Blackstone (1723-1780) betonten das „künstliche", d.h. durch Menschen beeinflusste We-

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sen des Eigentums (Whelan 1980; Hörne 1990, 80-101,126-131). In den Commentaries on the Laws of England von 1766 definierte Blackstone das Eigentum als „bloß" ziviles, also nicht natürliches Recht (II 1). Wo dagegen das Eigentum als Willkürschutz gegenüber nicht politisch kontrollierten Fürsten diente, betonte man seine naturrechtliche Heiligkeit. In der Mitte des 20. Jahrhunderts beklagte Joseph Schumpeter, dass mit der modernen Organisationsform der Aktiengesellschaft jedes moralische Band zwischen Inhaber und Gegenstand zerrissen worden sei. Das Aktienpaket habe „das Leben aus der Idee des Eigentums" entfernt. Der Aktionär hat nicht mehr den Willen, „ökonomisch, physisch, politisch für ,seine' Fabrik und seine Kontrolle über sie zu kämpfen und wenn nötig auf ihrer Schwelle zu sterben. (...) Ein Eigentum, das von Person und Materie gelöst und ohne Funktion ist, macht keinen Eindruck und erzeugt keine moralische Treupflicht, wie es die lebenskräftige Form des Eigentums einst tat" (Schumpeter, Socialism, Capitalism, and Democracy, dt. 230).

Die Frühneuzeit setzt mit Thomas Morus und Machiavelli ein, die jeweils am Ende von bereits im Mittelalter einsetzenden Diskursen stehen. Machiavelli wurde im Gegensatz zu Morus vielfältig rezipiert, sein Name galt schon bald als eine Epochenmarke. Doch die mit der Emanzipation der Politik vom christlich-moralischen Fundament einhergehenden Erschütterungen wurden moderiert durch weitere Antikenrezeptionen. Der gelehrte Taciteismus setzte den Humanismus fort, inhaltlich knüpfte er an Machiavelli an. Die römische politische Kultur und der Aristotelismus wurden im Republikanismus neu verknüpft. Demgegenüber verarbeitete das systematische Naturrecht die antike Tradition auf eine Weise, die sich in Inhalt wie Argumentation immer stärker vom antiken Vorbild abwandte und so die Entdeckung der Gesellschaft ermöglichte, welche die weitere Entwicklung entscheidend prägen sollte. Schon der Republikanismus machte deutlich, wie bedeutsam die innere Einstellung des einzelnen Bürgers zur Politik ist, damit diese nicht nur dem Gedanken der Machtpolitik folgt. Im Gedanken des Vertrages schließlich, dem Leitgedanken des systematischen Naturrechts, trat das Individuum und sein Wille, Politik zu gestalten, immer stärker in den Mittelpunkt, wobei noch bei Locke die christlich-moralische Umhüllung der Gestaltungsfreiheit prägend blieb. Das Individuum findet im Gedanken der „Gesellschaft" der nun folgenden Ära ein neues Feld seiner Entfaltung.

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Was traditionell an intellektuellen Erzeugnissen des 18. Jahrhunderts unter dem Namen „Aufklärung" zusammengefasst wird (Schneiders 2003), fügte der politischen Ideengeschichte im wesentlichen zwei Faktoren hinzu: die Entdeckung der Gesellschaft und die Revolution. Das Gesprächsfeld war durch ein dichtes Geflecht internationaler Kommunikation von Gelehrten gekennzeichnet, die das Ausmaß des Naturrechtsdiskurses erheblich überbot. Als eine Europa umspannende Geisteshaltung war das allgemeinste Merkmal der Aufklärung ein gewisser Paganismus (Peter Gay 1973), wenngleich sich hinter der aufklärerischen Kritik an Kirche und Moral durchaus auch - wie im Naturrecht - rationale Gottesmodelle verbergen konnten. Davon abgesehen müssen verschiedene, bereits national differenzierte Aufklärungsdiskurse unterschieden werden. Der Inbegriff der Aufklärung war ihr französischer Zweig. Aus der Tradition der Moralistik erwachsen und in der lingua franca dieser Zeit publizierend war ihr eine gesamteuropäische Aufmerksamkeit sicher. Dennoch unterschieden sich Montesquieu und Rousseau in Begrifflichkeit wie Problembewusstsein erheblich voneinander und ihrerseits noch einmal von den Autoren der Schottischen Aufklärung. Obwohl letztere stark auf die amerikanische Revolution einwirkten, kann man einen spezifisch amerikanischen vom europäischen Zweig der Aufklärung trennen (Himmelfarb 2004). Die Schweizerische Aufklärung beerbte die rational-naturrechtliche Tradition und führte den Gedanken des systematischen Völkerrechts im Modell einer die Nationen umspannenden Völkergemeinschaft fort, wie es in der Schweiz selbst vorgelebt wurde. Von diesen Zweigen unterschied sich noch einmal die deutsche Spätaufklärung. Die „Gesellschaft" zu entdecken bedeutete, einen Ort der Werte- und der Güterproduktion zu thematisieren, der eigenen Gesetzmäßigkeiten folgte, der weitestgehend von der Politik unabhängig sein konnte und als dessen Medium die „Öffentlichkeit" erkannt wurde. Im Gegensatz zum rationalen Naturrecht stand nicht alleine die Vernunft, sondern die gesellschaftliche Verwurzelung des Menschen im Mittelpunkt. Jegliches gesellschaftliche Gebaren, die Mode der Umgangsformen ebenso wie das ökonomische Verhalten, die Laster wie die Tugenden können von politischer Bedeutung sein, allerdings immer nur in der Summe individuellen Verhaltens gesehen. Hier war nicht mehr der virtuose Politiker zentraler Akteur, ganze Populationen galt es zu betrachten. Damit einher ging ein schärferes Bewusstsein für sozial verursachte Differenzierungen innerhalb der Populationen. Der Begriff der Gesellschaft in seiner Unbestimmtheit war dabei eine semantischer Fokus, der ganz unterschiedliche Phänomene miteinander in Verhältnisse setzte, für die kein anderer Begriffshorizont vorhanden war. Der Begriff der Gesellschaft besitzt eine Ambiguität, die für die vielfaltigen theoretischen Vorhaben hilfreich war, und zwar auch nach der Etablierung der Soziologie als akademische Gesellschaftslehre (für den deutschen Fall vgl. die Sammlung bei Pankoke 1991). Das Konzept des Staates hatte die Akteursgruppen im Kernbereich staatlicher Tätigkeit im Blick. Mit dem Konzept der Gesellschaft wurde der Akteurskreis dramatisch erweitert. Nun konnte schlechthin alles individuelle Verhalten politisch relevant sein. Wer die Öffentlichkeit in den Mittelpunkt des Gesellschaftsverständnisses stellte, nahm an, dass die Schaffung und Verbreitung von Meinungen und Werten entscheidend seien. Alle Teilnehmer am Prozess der öffentlichen Meinungsbildung waren Akteure, nicht zuletzt die Theoretiker selbst. Wenn die französische Aufklärung von Gesellschaft sprach, so meinte sie das kulturelle Ergebnis der Zivilisation: Mode und Geschmack, Sitten, Religion. Wer dagegen - wie große Teile der englischen Aufklärung - bei Gesellschaft auch an Gewerbe und Handel dachte und an die Schaffung und Verbreitung von Gütern, legte die Gesellschaft wirtschaftlich aus und be-

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trachtete jeden Teilnehmer am Wirtschaftsprozess als relevant. Für letztere Perspektive war die Politische Ökonomie typisch. Mit der Entdeckung der Gesellschaft setzte die Skepsis darüber ein, ob politisch intendiertes Handeln tatsächlich die erhoffte Steuerungsfähigkeit erbrachte. Wenn das soziale Verhalten ganzer Populationen in Ökonomie und Öffentlichkeit erhebliche, wenngleich unintendierte politische Auswirkungen haben konnte, wurde die Zentralität der politischen Ordnung fraglich. Daher konnte die Politik als Teilaspekt der Gesellschaft gesehen werden, von ihr dominiert, statt diese zu beherrschen. Andererseits demonstrierten die Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts, dass in diesen Populationen politische Energien vorher ungekannten Ausmaßes stecken und auch geweckt werden konnten, um gezielt gesellschaftliche Strukturen zu verändern. Gesellschaft und Revolution sind daher die beiden maßgeblichen Pole, zwischen denen die politische Theorie operierte.

1. Gesellschaft als Öffentlichkeit und als Ort der Produktion von Werten Gelehrte Öffentlichkeit war bereits vor der Aufklärung bekannt. Schon die Scholastik kann als eine internationale Gelehrtengemeinschaft bezeichnet werden, in welcher Autoren miteinander im Medium der Öffentlichkeit kommunizierten, ohne sich von Angesicht zu Angesicht kennen zu müssen. Die lateinische Sprache einte die Scholastik, und auch der Naturrechtsdiskurs debattierte anfanglich über die Landesgrenzen hinweg auf Latein. Der Wechsel zu den Landessprachen bedeutete zugleich eine Erweiterung und eine Verengung des Diskurses. Nur die deutschen Universitäten behielten das Latein bei. Allein das Französische konnte halbwegs die Rolle des Lateinischen übernehmen. Oft erhielten Naturrechtstexte des 17. Jahrhunderts mit ihrer Übertragung ins Französische sogar eine größere Publizität; der berühmteste Fall ist die Übersetzung von Pufendorfs De jure naturae et gentium 1740 durch Jean Barbeyrac (1674-1744), der als hugenottisches Emigrantenkind in Lausanne aufwuchs. Er wurde nach Ausbildungsjahren in Norddeutschland der erste Rechtsprofessor an der Akademie von Lausanne. Der bedeutende Völkerrechtler Jean-Jacques Burlamaqui (1694-1784) war 1723-1740 der Nachfolger auf Barbeyracs Lehrstuhl. Solche Moderatoren und Vermittler von Theorien waren für die Aufklärung als Gesprächsfeld von großer Bedeutung, ihre Herkunft aus Ländern wie den Schweizer Kantonen oder Holland mit ihrer verhältnismäßig großzügigen Pressefreiheit kein Zufall. Auf nationaler Grundlage erhielt die Kooperation von Gelehrten, Philosophen und Schriftstellern in enzyklopädischen Unternehmen eine neue Qualität. Das Streben, das Wissen einer Epoche in allen Bereichen zu sammeln, reichte bis ins 16. Jahrhundert zurück, meist das Werk einzelner oder weniger Autoren. Im 18. Jahrhundert hingegen arbeiteten Dutzende von Intellektuellen an der Erstellung von Enzyklopädien zusammen. Ein großer Teil der französischen Aufklärung kooperierte in dem kühnen Unternehmen der Encyclopedie (1751-1765; Weiß 1956; Darnton 1979; Kafker 1996; Blom 2005). Prägend waren Persönlichkeiten wie Denis Diderot, die als Herausgeber das organisatorische Handwerk mit der Technik der Edition und dem Sinn für die einzelnen Fachgebiete verbanden. Diderot und Jean Le Rond d'Alembert, der andere Herausgeber, schrieben auch selbst zahlreiche, für die politische Theorie wichtige Artikel: Diderot verfasste Autorite politique, d'Alembert den Discours preliminaire und den Artikel zu Genf. Weitere Autoren waren Voltaire, Paul Thiry

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d'Holbach (u.a. Representans), der von Barbeyrac beeinflusste Louis Jaucourt (u.a. Republique, Libelle, Monarchie, Politique-Philosophie, Pouvoir-droit nat. et politiq., Propriete, Peuple, Liberalite, Despotisme), Anne-Robert-Jacques Turgot und Jean-Jacques Rousseau, letzterer schrieb neben dem Artikel Economie politique überwiegend solche zur Musik. Bereits die quantitative Verbreitung - Schätzungen gehen von 15000 bis 20000 Exemplaren zwischen 1751-1789 aus - verrät etwas über den immensen Einfluss dieses Werks auf die Meinungsbildung (Lough 1963). Das andere herausragende Beispiel war die Encyclopaedia Britannica, die hauptsächlich William Smellie in Edinburgh als Sammelbecken der Schottischen Aufklärung edierte. Im Dezember 1768 begonnen, lag sie 1771 in zunächst drei Bänden abgeschlossen vor. Die zweite Auflage (1777-1784) umfasste bereits 8 Bände (Kogan 1958). Ähnliches galt für die schweizerische Encyclopedie d'Yverdon 1770-1780, die von dem neapolitanischen Emigranten Bartolomeo de Feiice herausgegeben wurde und mit den Berner Mitarbeitern das Ziel einer gründlichen Umarbeitung des Wissens im Geiste des christlichen Rationalismus anstrebte. Andere Sammelbecken und Fixpunkte wissenschaftlicher Kommunikation waren Akademien, die mittels Preisausschreiben die Beschäftigung mit einzelnen Themen anregten. Die beiden Discours von Rousseau beispielsweise wurden durch Preisausschreiben der Akademie von Dijon angeregt. Es ging natürlich auch um die Bereitstellung von finanziellen Ressourcen. Die wichtigste Quelle hierfür war neben den adligen Mäzenen die Öffentlichkeit selbst, welche in Gestalt von Subskribenten langfristige Unternehmen wie die erwähnten Enzyklopädien überhaupt erst ermöglichten. An Stelle der Berater im kleinen Kreis von Entscheidungsträgern trat eine allgemeine und öffentlich ausgetragene Diskussion. Aufklärer wollten diese Diskussion anleiten. Dadurch wurden Intellektuelle und Autoren auf neue Weise zu Akteuren: sie gaben nicht nur Handlungsanweisungen oder bezogen Position in politischen Fragen, sondern formten auch die öffentliche Meinung, die ihrerseits einen Einfluss auf politische Entscheidungen nahm. An Stelle konkreter Personen wurde die anonyme Wirksamkeit der Öffentlichkeit wirkmächtig, der man konsequenter Weise schließlich eine eigene Meinung zusprach. Die Aufklärer stehen in einem engen Interaktionsverhältnis zu ihrem Publikum; sie war ihrem Selbstverständnis nach Kritiker, ihr Resonanzboden war das Publikum. Die Öffentlichkeit wurde zum Adressat von Essays, die als „Briefe" verfasst waren. Sie sollten jeden interessierten Leser erreichen, und jeder Leser wurde zum Teil der Öffentlichkeit. Zwischen dem diffusen Medium des Publikums und der Politik vermittelten ferner soziale Orte wie die Salons im Umfeld von Fürstenhöfen und Metropolen Meinungen und Urteile. Das galt besonders für die Pariser Salons, wo herausragende Damen als Gastgeber wertvolle Relaisstationen gesellschaftlicher Kommunikation waren (Goodman 1994). Oft befanden sich Schriftsteller in der Obhut einflussreicher Aristokraten, Sprache verband bürgerliche Autoren mit der Lebensweise des Adels. Brillanz in Stil und Gedankenführung erlaubte manch kühnen Gedanken, da dieses Publikum nicht immer an Sachfragen interessiert war, sondern oft lediglich Gesprächsthemen suchte. Schließlich wurde die „Öffentlichkeit" in der politischen Theorie entdeckt und thematisiert und zwar in einem sehr komplexen, oft filigranen Prozess, dessen ideengeschichtliche Erschließung erst spät einsetzte (Oncken 1914; Tönnies 1930; Noelle-Neumann 1991). Der Sinn für Öffentlichkeit wurde als „public spirit" bei Montesquieu und Hume erörtert; vor

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IV Die Entdeckung der Gesellschaft und die Revolution

dem Hintergrund der Revolution bedeutete dann Sinn für Öffentlichkeit vor allem die Bereitschaft, für die öffentliche Sache, die res publica, einzustehen (Gunn 1995, 329-392). Die Eigenständigkeit des Ablaufs öffentlicher Kommunikation schlug sich in der begrifflichen Innovation der „öffentlichen Meinung" nieder (Gunn 1989). Eine Rolle spielte dabei die Diskussion der politischen und sozialen Handlungsfähigkeit, die mit Hilfe der Reputation gesteigert oder geschmälert werden konnte, die ein Akteur in der Öffentlichkeit genoss (Gunn 1995, 11-48). Diese Diskussion hatte Vorläufer bei Botero und Hobbes, die bereits erörterten, welches politische Gewicht der Meinung anderer zukam, etwa in Hinblick darauf, ob ein Akteur Furcht oder Zuneigung beim Beobachter auslöst (Gunn 1995, 11-23). Auf öffentlicher Meinung kann am Ende sogar die politische Ordnung ruhen. Diese Überlegung erzeugte nicht nur Wohlbehagen. „Meinung" hatte immer mit dem Verdacht zu kämpfen, defizitär zum Wissen zu sein (Hölscher 1986). Das Wort von der „vox populi, vox Dei" (Boas 1969) sprach zunächst keine demokratische Überzeugung aus, wonach man über die öffentliche Meinung der Bevölkerung so wenig richten könne wie über den Willen Gottes, sondern betonte, dass sie so unwiderstehlich sein könne wie dieser, dabei aber nicht die gleiche Unfehlbarkeit haben muss. Selbst Anhänger freiheitlicher Regierungsweise wie Machiavelli zeigten ihre Skepsis, ob eine auf öffentlicher Meinung beruhende Regierung tragfahig sei (Discorsi I 58; III 34). Michel de Montaigne (1533-1592) betrachtete die öffentliche Meinung als Meinung des gemeinen, also ungebildeten Menschen, die er als Bedrohung des Gelehrten ansah. Wie kann ein Weiser vom Urteil von Narren abhängig sein dürfen (Essais II 16)? Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts wollten die öffentliche Meinung „aufklären", sie identifizierten sich keineswegs mit ihr. Aberglaube, Intoleranz, Vorurteil beobachteten sie nicht nur bei den Eliten, sondern gerade beim einfachen Volk. Montaigne gehörte zur französischen Moralistik, die eine oft paradoxe Anlage der Beweisführung aus didaktischen Gründen wählte. Sie skizzierte allgemeine Moralregeln anhand von Widersprüchen, die sie in der Alltagsmoral und der Lebensführung vorfand (Lewis 1974; Delft 1982). Von Montaignes Essais (1580) bis zu den Reflexions ou sentences et maximes morales von Francois La Rochefoucauld (erste Aufl. 1665) wurde die Tradition antiker Epigramme und frühneuzeitlicher Sententia zur Haushaltswirtschaft und Lebensführung fortgeführt, oft nach dem Vorbild der Adagia des Erasmus von Rotterdam (1500 und öfter) konzipiert (Rubinstein 1963; McCutcheon 1977), und zu einer subtilen, mikroskopischen Sozialbeobachtung verfeinert. Hinzu trat dann die moralisierende Fabel bei Jean de La Fontaine (1621-1695) in den Fables von 1668. Die Essays und Maximenliteratur der französischen Moralistik hatten eine kritische Note, insofern sie „contre l'opinion Commune" stehen konnten (Dictionnaire universel, 1727). „Gesellschaft" meinte hier den Ausschnitt des kultivierten Benehmens. Diese Bedeutung behielt der Ausdruck von „Civil society" im Sinne von „politeness" bei, der zivilisiertes Auftreten und gepflegten Umgang von der Konversation bis zum öffentlichen Auftreten meinte. Ihr deutscher Nachahmer in weniger galantem Stil war Adolph Freiherr Knigge und sein Über den Umgang mit Menschen von 1788. Diese Literatur gehörte eher zur Ethik als zur politischen Theorie. Später regte die französische Moralistik Friedrich Nietzsche zur Schaffung einer Theorie der Genealogie der Moral an. Zivilität hatte in der Schottischen Aufklärung eine zentrale politische Rolle auf der Suche nach dem moralischen Zement der Gesellschaft. Je stärker die Politik mit den verschiedensten sozialen Gruppierungen verflochten war, desto klarer trat die Bedeutung der öffentlichen Meinung für den politischen Entscheidungsprozess zu Tage. Daher finden sich die ersten theoretischen Reflexionen zum politischen Stellenwert

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der öffentlichen Meinung im englischsprachigen Diskurs. In dem gelegentlich Daniel Defoe zugeschriebenen, 1709 erschienenen anonymen Essay Vox Populi, Vox Dei or the true maxims of Government, der noch im Erscheinungsjahr acht Auflagen durchlebte (Dickinson 1977, 73), ist das Zusammenspiel von Meinungsbildung in der Öffentlichkeit und Regierungshandeln bereits vorausgesetzt. Intellektuelle spielten bereits auf der Klaviatur der öffentlichen Meinungsbildung, um auf die Regierungspolitik Einfluss zu gewinnen. Ein hervorstechendes Beispiel ist Jonathan Swift (1667-1745). Der Autor der Gesellschaftsatire Gulliver's Travels publizierte das Pamphlet On the Conduct of the Allies, das er 1711 in nur wenigen Tagen mit einer Auflage von über 15000 Exemplaren auf die Straßen Londons brachte, um gegen den Herzog von Marlborough Front zu machen. David Hume formulierte schließlich die Theorie, dass jede Regierung als Inbegriff einer Minderzahl von Akteuren auf der öffentlichen Meinung beruht {Of the First Principles of Government 1742; siehe unten). In der Französischen Revolution wurde dann die öffentliche Meinung als eine spezifische Form der Intervention des Volkes gesehen, die gegenüber der politischen Elite geradezu beschworen wurde (Baker 1990). Mit der Gründung zahlreicher Journale im 17. Jahrhundert setzte die journalistische Publizität ein. Der Teutsche Merkur, die Gazette (de France) oder die London Gazette hatten anfänglich große Gemeinsamkeiten (Schultheiß-Heinz 2004). Doch bereits im 18. Jahrhundert wurden die Unterschiede greifbar: das größere Publikum und die hartnäckigen Kämpfe um die Pressefreiheit - die als das eigentliche Palladium der Freiheit bezeichnet wurde - in England (Schinz 2004, 254-280) sowie Journale wie Cato 's Letter oder Craftsman, die in die politischen Debatten intervenierten und dabei oft Sprachrohre bestimmter politischer Lager waren (Winkler 1998), fanden auf dem Kontinent kein Pendant. Ist die Gesellschaft als Ort der Entstehung und Bewertung von Meinungen und Werten entdeckt, stellt sich die Frage des Maßstabes, anhand dessen diese Normen zu bewerten sind. Im Naturrecht wurde die gesellschaftliche Interaktion mit Kategorien wie Gott oder Vernunft diskutierte, die nicht als gesellschaftliche Produkte galten. Bereits Thomas Hobbes verließ die Bahn des Naturrechts und definierte den Wert des Menschen als seinen Preis im Sinne der jeweils aktuellen Wertschätzung in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit (Leviathan 10). Das war eine Provokation des Publikums, das von theologischen und naturrechtlichen Grenzen menschlichen Verhaltens ausging. Für Hobbes waren diese Wertungen der Gesellschaft immanent, er akzeptierte keine externen Maßstäbe, die bürgerkriegsähnliche Sprengkraft besitzen konnten. Auch das Eigeninteresse wurde traditionell dem Allgemeinwohl untergeordnet. Man konnte höchstens die Deckungsgleichheit beider postulieren. Entscheidend war die innere Einstellung des Handelnden, das Gewissen galt als Resonanzboden für moralisierende Appelle. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts aber wurde das Eigeninteresse nicht nur von dem Mehrwert des Allgemeinwohls abgelöst, seine potentielle Gemeinwohlnützlichkeit wurde nun thematisiert, die selbst dann vorhanden sein konnte, wenn die Intentionen des Handelnden eigennützig waren. Das war die „Moral" der Geschichte von der Bienenfabel, mit welcher ihr Autor, Bernard von Mandeville einen revolutionären Markstein der Ideengeschichte meißelte. Mandeville und die Schottische

Aufklärung

Bernard de Mandeville (1670-1733) begann seine Karriere in England als Übersetzer von La Fontaine (Hundert 1995, 580; 1994; Goldsmith 1985). Seine kleine Bienenfabel The Grumbling Hive von 1705 entsprach formal dem klassischen Stil der Maximenliteratur, bewirkte

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IV Die Entdeckung der Gesellschaft und die Revolution

jedoch mit ihrer moralischen Belehrung am Ende eine ungeahnte Transformation des Diskurses (Schmitz 1997). Mandeville komprimierte seine These in dem (später hinzugefiigten) Untertitel „Private Vices, Publick Virtues" zu einem Paradoxon: was für gewöhnlich als lasterhaftes Verhalten galt, konnte auf der gesellschaftlichen Gesamtebene wohltätig wirken und sei daher genauso wie die Tugend schätzenswert. Dieses Paradoxon trug entscheidend zur Aufwertung des egoistischen Eigeninteresses in der politischen Ideengeschichte bei. In seiner (späteren Auflagen beigegebenen) Einleitung „Eine Untersuchung über den Ursprung der sittlichen Tugend" erörterte Mandeville die Bemühungen aller Gesetzgeber und Theoretiker, den Menschen glauben zu machen, es sei besser, das allgemeine Wohl und nicht das Privatinteresse im Auge zu behalten. Mandeville nahm jedoch an, dass ein solches Vorhaben nicht ohne Gegenleistung erfolgversprechend ist, weshalb die Gesetzgeber zu der Vorstellung einer imaginären Belohnung gegriffen hätten wie etwa dem Seelenheil und ähnlich transzendenten Gewinnen. In Wahrheit sei jedoch das Privatinteresse die ausschlaggebende Motivation menschlichen Handelns. Die Unterscheidung von Lastern (alle Verhaltensweisen ohne Rücksicht auf das Allgemeinwohl) und Tugenden (alle auf das Gemeinwohl abzielende Handlungsweisen) hielt Mandeville für eine Erfindung (Grumbling Hive dt. 99), die die Schlechtesten unter den Menschen gemacht hätten: Begierden kann man besser auskosten, wenn nicht Begierden anderer Menschen sie beeinträchtigen; damit diese hiervon abließen, predigten jene um so lauter den Geist der Tugend und der Aufopferung. Aber was in der Regel als Tugend gelte, sagte Mandeville, lasse sich nie wirklich als Motivation des Handelns beweisen: jegliches Tun, auch dasjenige, welches als tugendhaft gelte, weise Spuren der Eigenliebe aus, des Stolzes und der Machtbefriedigung. Auf der anderen Seite führt keinerlei Motivation immer nur zu allgemeinwohlforderlichen Resultaten. Das demonstrierte er am Mitleid: es galt in den Augen seiner Zeitgenossen als die sanfteste und unschädlichste aller Affekte, verursache Mandeville zufolge aber beispielsweise die Parteilichkeit des Richters. Auch wer das gefährdete Kind aus Mitleid rettet, will zugleich das Unangenehme des Mitansehens von Leid vermeiden wollen, wird somit also vom „Selbsterhaltungstrieb" motiviert (Grumbling Hive dt. 105). Die Grenzen von Laster und Tugend verwischte Mandeville absichtlich durch einer Reihe von Paradoxa, die allesamt dem Grundmuster folgen, wonach grundsätzlich jedes so genannte Laster auch zu Vorteilen für das Allgemeinwohl führt, wogegen jede so genannte Tugend gesellschaftlich nachteilige Folgen haben kann. Als Kriterium einer solchen Bewertung benannte Mandeville die beobachtbaren Folgen an Stelle von Wille, Gesinnung oder Motivation. Zu den berühmtesten Beispielen zählt Mandevilles Argumentation, wonach die Duldung oder sogar die punktuelle Förderung der Prostitution letztlich dem Schutz der großen Mehrheit der Frauen diene, die dadurch unbehelligter blieben, wobei er Beispiele aus Venedig anführte (Abschnitt H, 146-147). Er äußerte die Auffassung, dass weise Politiker nie versucht hätten, die so genannten Laster aus der Welt zu schaffen, sondern eher, sie produktiv umzusetzen. Mandeville polemisierte gegen die ihm aufgesetzt erscheinende Moralität, die in der Öffentlichkeit herrschte, dabei aber keineswegs das tatsächliche Verhalten bestimmte; darin unterschied er sich nur wenig von der zeitgenössischen Gesellschaftssatire. Er ahnte nicht, welchen Perspektivenwechsel er in der Gesellschaftstheorie anregte. Der wichtigste Anwendungsfall des Eigeninteresses in der Gesellschaft war die eigennützige Verfolgung des Profits. Mandeville hatte mit seiner Interessentheorie das ökonomische Verhalten aufgewertet. Die republikanische Argumentation ging umgekehrt selbstverständlich von dem Vorrang des

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Gemeinwohls vor dem Eigenwohl aus. Auch das Naturrecht folgte dieser Vorstellung; Soziabilität war stets als naturhafte Eingliederung des Menschen in die ihn umgebende Sozialgemeinschaft gedacht. Die Staatsräsontradition formulierte das Interesse des Staates, um das Eigeninteresse des Monarchen zu bändigen. Das ökonomische Eigeninteresse in den gesellschaftlichen Kontext zu stellen und seine positiven Folgen ungeachtet seiner moralisch manchem zweifelhaft erscheinenden Motive zu betonen, inkludierte Handel und Gewerbe in die Gesellschaft. Ökonomie war selbstverständlich immer schon ein politisches Thema gewesen: Haushaltspolitik zählte seit Aristoteles zum Kern der Gesetzgebung. Angesichts der rapide steigenden Kosten der neuzeitlichen Kriegführung wuchs auch das Interesse des Staates an der Ökonomie, die den Haushalt erwirtschaftet. Wer das Problem der Finanzen nicht beherrschte, riskierte die staatliche Existenz. Die Kosten des Siebenjährigen Krieges nötigten Großbritannien zur Erhöhung der Steuerlast der amerikanischen Kolonien und provozierten deren Aufbegehren; die von Frankreich in diesem Krieg aufgenommenen Schulden führten zum staatlichen Bankrott und damit zur Revolution. Aber die Ökonomie aus der Perspektive ihrer Produktionsbedingungen und der Motive der wirtschaftlich Handelnden zu betrachten und in den Mittelpunkt der Gesellschaft zu stellen, war ein neuer Denkansatz, der in der Schottischen Aufklärung seinen Ausgang nahm. Zur Schottischen Aufklärung werden Autoren gezählt, die aus Schottland kamen und an den dortigen Universitäten wirkten, insbesondere in Glasgow oder Edinburgh. Wichtige Autoren der Schottischen Aufklärung waren maßgeblich an der Diskussion der Thesen von Mandeville beteiligt (Stafford 1997): Francis Hutcheson (A Letter to the Dublin Weekly Journal vom Februar 1726), David Hume (Of Benevolence and Self-Love 1751) und schließlich Adam Smith {Of Licentious Systems 1759). Die Schotten begnügten sich nicht wie im klassischen Naturrecht damit, dem Menschen Vernunft zu unterstellen, sie gingen von der Eigengesetzlichkeit moralischen Verhaltens aus. Hierbei wurde „Moral" im Sinne von Sitten und Gebräuchen gemeint und schloss die Vernunft ebenso wie Religion, Ökonomie Recht, Geschichte, Psychologie, Mode und Geschmack und im engeren Sinne Ethik mit ein (Berry 1997 nach Themen geordnet). Vernunft kann alleine noch keine ausreichende Quelle moralischer Zustimmung sein - dieser von Hutcheson markierte Ausgangspunkt war noch für Adam Smith ausschlaggebend (Hope 1989, 43-59 und 113-115). Selbst Smith begann mit moralphilosophischen Überlegungen (Theory of Moral Sentiments 1759). Die thematische Bandbreite der Schotten war daher gewaltig, gleichwohl spezialisierten sie sich in einzelnen Disziplinen: Moralphilosophen, Juristen und Ökonomen (George Turnbull, Thomas Reid, George Campbell, James Beattie, James Oswald, James Steuart, Adam Smith) gehörten ebenso dazu wie Zivilisationstheoretiker (Lord Kames, Adam Ferguson, John Miliar). Selbst die Ästhetik wurde in die Überlegungen zu den Quellen des „moral sense" einbezogen: Edmund Burke begann seine schriftstellerische Karriere mit der Studie Philosophical Inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757). Nur vordergründig ging es ihm um künstlerische Fragen, die Ästhetik berührte Fragen der Erkenntnistheorie und des Entstehungsgrunds der Moral: Sind moralische Normen das Ergebnis menschlicher Praxis oder entspringen sie einem eigenständigen Gefühl? Trifft letzteres zu, schließt sich die Frage an, ob moralische Normen abhängig sind von ihrer Wahrnehmung, die als eigenständiges intellektuelles Vermögen zum Ausgangspunkt einer realistischen Moraltheorie erhoben werden könnte. Politisches Handeln und politische Theorie waren in dieser Sicht - wie andere

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Praktiken auch - gesellschaftlichen Faktoren unterworfen und konnten nicht separat von diesen behandelt werden (Oz-Salzberger 2003). Trotz der unvermeidlichen Spezialisierung waren die Schotten durch intensiven geistigen und persönlichen Austausch miteinander verbunden. Institutioneller Ausgangspunkt war der Lehrstuhl für Naturrecht in Glasgow, den zuerst Gershom Carmichael inne hatte. Für seine Vorlesungen nutzte er noch Lockes Treatises, verband sie mit Pufendorfs Naturrechtslehre (dessen De officio hominis er 1718 und 1724 mit zahlreichen Kommentaren editierte) und ergänzte bzw. korrigierte sie in politischer Hinsicht um Lockesche Ideen. Sein Nachfolger wurde Francis Hutcheson (1694-1747), seinerseits der Lehrer Adam Smiths (1723-1790). Hutcheson griff in die Debatte um die Kritik Shaftesbury an Locke ein. Locke hatte das persönliche Glück als Triebfeder des moralischen Handelns genannt, wogegen Anthony Ashley Coopers, 3rd Earl of Shaftesbury (1671-1713), der als Kind von Locke erzogen worden war, die Tugend dafür veranschlagte (Characteristics of Men, Manners, and Opinion 1711). Hutcheson verteidigte nun Shaftesburys Kritik an Locke, erweiterte aber das Problem, indem er eine Linie von Thomas Hobbes zu Mandeville zog, die er beide als die neuen Epikureer bezeichnete {Illustrations on the Moral Sense, Works II 207-208). Er ging von der Existenz der Tugend aus, und zwar als einem der stärksten der moral senses (An Inquiry Concerning Beauty and Virtue). In der weiteren Diskussion trennten sich zwei Linien voneinander: die eine folgte weiterhin Hutcheson und ging von der Existenz und Wirksamkeit moralischer Faktoren aus, die in der menschlichen Psyche wurzelten und soziale Kooperation ermöglichten; die andere Linie nahm Mandevilles Überlegungen ernster und konzentrierte sich auf das individuelle Selbstinteresse als Motor menschlichen Handelns. Es wäre aber eine Simplifizierung, würde man diesen beiden Linien unterschiedliche Autoren zuordnen. Vordergründig gehörten David Hume und Adam Smith eher der Interessen-Linie an, und Adam Ferguson beispielsweise eher der Soziabilitäts-Linie. Aber bei allen Autoren finden sich Diskussionen und Einflüsse der jeweils anderen Linie, und auch wenn sie einzelnen Modellen stärker zuneigten, versuchten sie, Gegenmodelle zu beachten und zu integrieren. Die Gesellschaft als Ort sozialer Differenzierung auch in hierarchischer Hinsicht zu verstehen galt John Millars (1735-1801) Forschung, die er in den Observations concerning the Distinction of Ranks in Society (1771, erweiterte Ausgabe 1779) niederlegte. Eine noch umfassendere Gesellschaftstheorie legte Adam Ferguson (1723-1815) vor, vermutlich der schottischste der Schottischen Aufklärer (Kettler 2005; Hill 2006). Er sprach Gälisch, war Feldgeistlicher des berühmten schottischen Regiments der Black Watch und kämpfte in der Schlacht von Fontenoy im Österreichischen Erbfolgekrieg. Da er aber so kein Auskommen erhielt, wechselte er in die Wissenschaft und wurde 1757 Nachfolger Humes als Bibliothekar in Edinburgh, wo er schließlich den Lehrstuhl zunächst für Naturrecht (1759), dann für Moralphilosophie inne hatte. Sein Nachfolger war Dugald Stewart (1753-1828) in den Jahren 1785-1810. Fergusons Hauptwerk war der Essay on the History of Civil Society (1767). Für die Encyclopedia Britannica schrieb er 1780 den Artikel History. Der Begriff der Zivilisation wurde erst durch Ferguson wissenschaftlich populär gemacht (Bowden 2004, 33-34). Er verstand darunter den Gesamtzusammenhang menschlicher Lebensformen in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit: Beispielsweise ist die künstlerische Tätigkeit des Menschen ab einem bestimmten Niveau von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Produktion, der ökonomischen Absicherung und der Arbeitsteilung abhängig. Nach dem Ausscheiden aus dem Lehramt veröffentlichte er seine Vorlesungen (Principles of Moral and Political Science

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1792). Seiner Ansicht nach ist der Mensch immer in Gruppen tätig, woraus folgt, dass die Natur des Menschen nur aus seiner sozialen Umgebung und diese nur im Wechsel ihrer zivilisatorischen Entwicklung erschlossen werden kann (Essay ed. Forbes 220). Während Smith den nationalen Markt als Ordnung wahrnahm, vertrat Ferguson die Theorie spontaner Ordnungen, wie sie später vor allem F.A. Hayek ausbildete (Hill 2006, 101-122): Vom Eigentum bis zur Grammatik der Sprache, vom Markt bis zur Verfassung entstehen zentrale soziale Institutionen nicht als Ergebnis eines menschlichen Planes, sondern aus menschlicher Interaktion, die diese Institutionen weder plante noch zum Ziel hatte (Hamowy 1987, 22-25). Das galt besonders für politische Verfassungen, die er als Ergebnis politischer Entwicklungen und Erfahrungen sah; deshalb bezweifelte Ferguson auch, dass Gestalten wie Lykurg tatsächlich die Urheber von Verfassungen gewesen waren und man sie ihnen nicht einfach nachträglich zugesprochen hatte (Essay ed. Forbes 123). Ferner betrachtete Ferguson auch allseits verurteilte Regierungsformen wie den Despotismus als Ergebnis eines Prozesses, der dieses Resultat anfanglich nicht notwendig intendiert hätte (Essay 268). Daher unterschied er auch deutlich zwischen einer Gerechtigkeit, die das Ergebnis von Gesetzen sein soll, und den Tugenden, verstanden als die verhaltensbestimmenden moralischen Kräfte, die oft ganz andere Wurzeln hätten und doch für die Existenz politischer Ordnung unerlässlich blieben (.Principles Bd. 2, IV 1-3). Ferguson war jedoch zwiespältig bezüglich der Frage, wie die moderne Gesellschaft einzuschätzen sei: Sie ist einerseits der Antike überlegen, bringt aber andererseits mit der Arbeitsteilung auch neue Ungleichheiten hervor. Viele seiner Überlegungen wollten nicht nur institutionelle Probleme lösen, sondern verfolgten auch die Absicht, Tugenden hervorzubringen, welche die moderne Gesellschaft aus sich selbst heraus nicht mehr beforderte, aber voraussetzte. Dazu zählte Fergusons Festhalten am klassischen Gedanken der Miliz (Metzger 1999; Bohlender 1999), die Adam Smith und Hume kritisierten. Ort der Austragung dieser Diskussion war der Poker Club (Robertson 1985, 200-228). Aus Smiths Sicht verlangte die Arbeitsteilung auch eine gesonderte Militärprofession; die Präzision der Artillerie verlangte Training und Erfahrung. Ferguson dagegen war nicht alleine an der Effizienz interessiert: der Militärdienst bildete in seinen Augen einen Kern von Bürgerschaftlichkeit aus, der durch die Arbeitsteilung generell bedroht sei. Ein anderes Mitglied des Poker Clubs und ein weiterer Opponent des Milizgedankens war David Hume (1711-1776). Er sah Shaftesbury als den Anreger seines sozialphilosophischen Denkens an (in einer später gestrichenen Passage in On the Dignity or Meanness of Human Nature: Essays 620) und wollte die Kritik am System der Selbstliebe, das er bei Hobbes und Locke angelegt sah, reformulieren (Enquiry Concerning the Principles of Morals, appendix II, 1751). Anders als die Glasgower gehörte Hume nicht akademisch, sondern intellektuell der Schottischen Aufklärung an. Neben den bedeutenden philosophischen Werken zur Erkenntnistheorie und Verstandestätigkeit, die für Immanuel Kant entscheidende Bedeutung haben sollten, hatte Hume durch seine Essays - Moral, Political and Literary (1742; 1772 letzter Hand) einen großen Bereich der Politik pointiert abgehandelt. Die thematische Breite reicht von demographischen Fragen bis zur Idee des Gesellschaftsvertrages, von skeptischen Überlegungen zum republikanischen Argument bis zu den Grenzen der Verwissenschaftlichung der Politik sowie Überlegungen zur Regierung als einer gesellschaftlichen Institution. Persönlich befürwortete Hume die aufgeklärte Monarchie, weil die Republik zu hohe Anforderungen an die durchschnittlichen Bürger stelle. Er rechnete vor, wie groß die Differenz zwischen den tatsächlich stimmberechtigten Vollbürgern der athenischen

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Demokratie gewesen sei im Verhältnis zur dort lebenden Bevölkerung (Of the Popolousness of Ancient Nations) und folgerte daraus, wie wenig aussagefähig die antike Regierungslehre mit ihren Unterscheidungen nach Monarchie, Aristokratie und Demokratie für die Regierungsweise im 18. Jahrhundert war. Menschen in Populationen von der Größe Großbritanniens bedürften der Regierung, um ihre eigenen Interessen besser zu organisieren. Die Frage nach der besten Regierungsform war für Hume von nachrangiger Bedeutung. Die Regierung sah er als ein gesellschaftliches Phänomen an, das aus seiner Funktion für die Gesellschaft zu verstehen sei. Erst das gesellschaftliche Interesse am Vorhandensein einer Regierung verleiht ihr Legitimität. In zivilisierten Umgangsformen sah Hume den großen Vorzug der Neuzeit gegenüber der Antike. Er kontrastierte die chaotischen Folgen der direkten Demokratie in Athen und Rom mit der vergleichsweise moderaten Politik der Neuzeit, wobei er das neuzeitliche Repräsentativprinzip für diese Moderation verantwortlich machte. Grundsätzlich galt ihm daher die direkte Demokratie ohne Repräsentation als Wurzel von Chaos und Anarchie; er befürwortete stattdessen die repräsentative Demokratie (That Politics may be reduced to a Science 1742; Idea of a Perfect Commonwealth 1752). In seinem Traktat über die menschliche Natur (1739/1740) diskutierte Hume das Problem der Kooperation eigensüchtiger Akteure: wenige, miteinander vertraute Nachbarn können ein gemeinsames Projekt unter verhältnismäßig gerechter Verteilung der Arbeitslasten verwirklichen. Fehlt jedoch die gegenseitige Verpflichtung, etwa weil soziale Nahverhältnisse wie die Nachbarschaft und damit die Möglichkeit wechselseitiger Kontrolle wegfallen, erhöht sich also beispielsweise die Zahl der teilnehmenden Individuen in die Tausende, so fallt nicht nur die arbeitsteilige Organisation viel schwerer, es steigt auch die Zahl derjenigen an, welche die Arbeit scheuen, gleichwohl aber am gemeinsamen Ertrag partizipieren wollen (Essays, dt. II 288). Mit diesem Beispiel wurde Hume zum ideengeschichtlichen Bezugspunkt der modernen sozialwissenschaftlichen Subdisziplin der collective choice-Theorie (Olson 1965, 33-34: John Rawls hatte Olson auf Hume aufmerksam gemacht). Kollektive Tätigkeiten ermöglichen es „Trittbrettfahrern", die Vorleistungen anderer ohne eigene Gegenleistung auszunutzen; da dies antizipiert wird, werden diese Vorleistungen unwahrscheinlich. Aus diesem Problembewusstsein heraus erklärte Hume (worin ihm die collective choice-Theorie in der Regel nicht folgt) die gesellschaftliche Notwendigkeit der Regierung: sie muss dort tätig werden, wo kollektive Selbstorganisation wegen des Problems der eigensüchtigen Interessenwahrnehmung zu scheitern droht, beispielsweise bei Gemeinschaftsaufgaben wie dem Brückenbau, dem Bau von Leuchttürmen, Schulen und Häfen oder der Aufstellung von Armeen. Hume, als Skeptiker der Politik bekannt, lobte hier die Einrichtung der Regierung als Abhilfe für menschliche Schwächen. Humes Geringschätzung der klassischen Regierungslehre hatte auch damit zu tun, dass er gesellschaftliche Mittel der Regierungskontrolle sah, die bislang wenig beachtet worden waren. Dazu zählte der Wechselbezug von Regierung und Gesellschaft im Bereich der öffentlichen Meinung. In Of the First Principles of Government (1742) diskutierte Hume das Paradox, dass es immer eine kleine Zahl an Regierenden sei, die eine große Zahl an Regierten beherrsche. In oppressiven Regierungen hätten die Regierten zwar die größere Stärke, weil sie die größere Zahl bildeten (was Spinoza als die größere Macht bezeichnet hatte), jedoch reglementiere die Meinung diese Stärke, und zwar sowohl die eigene Meinung wie die mutmaßliche Meinung anderer. So könne sich auch ein Tyrann an der Macht halten, denn obwohl er als einzelner ganz schwach sei, schütze ihn die Meinung der Menschen, er sei mächtig und andere Menschen würden seinen Befehlen folgen. Auch die Autorität der Regie-

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rung in Republiken ruht auf der öffentlichen Meinung. Schließlich bestimmt das Interesse nach Hume das Handeln der Menschen, jedoch ist es die Meinung über den Inhalt dieses Interesses, die die Richtung vorgibt, in welche das Interesse das Handeln bestimmt (Whether the British government inclines more to absolute monarchy or to a Republic). Daraus folgt auch, dass die Pressefreiheit für die Freiheit eines Volkes von größerer Bedeutung ist als die Regierungsform. Unter den Schotten übte neben Hume Adam Smith die größte ideengeschichtliche Wirkung aus (Brühlmeier 1988). Smith wird traditionell dem Diskurs der „Politischen Ökonomie" zugerechnet und weniger der Schottischen Aufklärung. Die in Großbritannien entstehende „Politische Ökonomie" setzte bereits im 17. Jahrhundert mit William Petty (1623-1687) und seinen Political Arithmetics (posthum 1690) ein (Olsen 1993), ihr erster Höhepunkt hundert Jahre später war Adam Smith mit Wealth of Nations (1776). Da die Masse individuellen Verhaltens erfasst werden musste, wurde die durchschnittliche und typische Verhaltensweise im Umgang mit Gütern bedeutsam. Das zog das Interesse an ihrer rechnerischen Erfassung beispielsweise in Statistiken nach sich. Diese sozial-quantitative Auffassung nahm in der empirischen Staatsbeschreibung, der Statistik (Rassem/Stagl 1980) ihren Ausgang. Der Reichtum der Nationen, den Smiths ökonomisches Hauptwerk zum Gegenstand hatte, lässt sich beziffern. Die „Politische „Ökonomie" war so Vorreiter der modernen Disziplin der Ökonomie (Caton 1988; Wootton 1994; Ottow 1998), als welche sie die Grenzen der staatlichen Steuerung der Wirtschaft aufzeigte, den merkantilistischen Theorieansatz ablöste, der seinerzeit den französischen Diskurs zur politischen Ökonomie beherrschte (Perrot 1992). Ferner gelangte die Politische Ökonomie zu der für die ältere politische Theorie unverständlichen Erkenntnis, dass der Staat am meisten profitiert, wenn er sich der Steuerung enthält. Anders als in der von Francois Quesnay (1694-1774) ausgehenden Schule der Physiokraten, die im Agrarbereich das Herz der Wirtschaft sah, definierte die Politische Ökonomie Wirtschaft im Zusammenhang mit anderem gesellschaftlichen Verhalten, zumal als Ergebnis von Tatkraft und Fleiß (industria) und betonte insoweit auch die moralische Perspektive der Verhaltensmotivation. Das Eigeninteresse in den Mittelpunkt zu stellen war nicht als Verabschiedung ethischer Modelle gedacht, sondern als ihre Fortsetzung, wobei Ethik nun als „Moral" stärker in die jeweiligen gesellschaftlichen Kontexte des Verhaltens gestellt wurde. Auch Smiths politische Ökonomie war keine reine Wirtschaftstheorie; sie bildete zusammen mit seinen juristischen und moralphilosophischen Arbeiten ein System, das man als „science of a legislator" bezeichnen kann (Haakonssen 1981; 1996; 1998). Smith war derjenige, der am deutlichsten die Vorteile des Eigeninteresses herausstellte, aber er verzichtete nicht auf den Tugendbegriff, den er in seiner Theory of Moral Sentiments ausführlich behandelte (1759). Zu den Tugenden zählte Smith u.a. Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, Klugheit und Beherrschung (Teil VI: Virtue; Hope 1989, 106-107), die klassische Tugendlehre blieb spürbar (Vivenza 2001). Er betonte die Unterschiede zwischen den einzelnen Tugenden, wenn man sie in der Praxis betrachtet: Anhand von Machiavellis großem Vorbild, dem Musterpolitiker Cesare Borgia, klärte Smith den Unterschied zwischen der Gerechtigkeit und der Klugheit. Während die Gerechtigkeit überall die gleiche sei, müsse in bestimmten Konstellationen (wie im Italien des 16. Jahrhunderts) eine Ungerechtigkeit nicht zugleich eine Torheit (folly) sein (VI 1: 217). Sympathie bzw. altruistische Tugenden waren Smith vertraut, und er erkannte auch ihre Leistung in der Gesellschaft an, hob aber hiervon die Wirtschaft ab. Adam Smiths bekanntestes Werk Wealth of Nations (1776) machte mit der Entlastung des Eigeninteresses von sachfremder Moralisierung Ernst und trug, durchaus kontraintentional,

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zur Isolierung der Ökonomie von den Moralwissenschaften bei. Smith beschäftigen zwei Probleme: das Effizienzproblem der Güterverteilung und das Ordnungsproblem. Seine Definition der politischen Ökonomie als Lehre fiir den Staatsmann und Gesetzgeber (Einleitung zu Buch IV) zeigte, dass Smith den inneren Zusammenhang gesellschaftlichen Reichtums und staatlicher Handlungsfähigkeit bedachte. Die politische Ökonomie erörtert demnach die wechselseitige Bedingtheit von Eigenwohl und Gemeinwohl: die Höhe des Arbeitslohns verbindet das Schicksal des einfachsten Arbeiters mit dem Gesamtwohl (I 11 am Ende), die wirtschaftlichen Erträge erlauben es der Regierung, öffentliche Aufgaben zu bewältigen. Smith nahm den naturrechtlichen Gedanken der Soziabilität auf und wendete ihn zur Theorie der Arbeitsteilung: In zivilisierten Gesellschaften ist der Einzelne wie noch in keiner anderen Gesellschaftsformation zuvor von den Leistungen anderer abhängig. Wie können diese Leistungen motiviert werden? Smith lehnte die von Hutcheson diskutierten Kandidaten Altruismus oder Sympathie wenigstens für den ökonomischen Bereich ab. Nicht die Philantropie treibe den Bäcker frühmorgens in die Backstube, sondern sein Eigeninteresse (I 2: 18-17). Dadurch sei der Konsument aber auch nicht vom Wohlwollen des Bäckers abhängig, sondern Teil eines rationalen Austauschprozesses. Die Bewertung der Güter erfolgt laut Smith durch diesen Austauschprozess am Markt. Der Markt ist wiederum der Ort, der durch den Mechanismus von Angebot und Nachfrage die aktuelle Bewertung der Güter steuert (I 7). So wurde der „Markt" zur durchschlagendsten Metapher der Ideengeschichte, erfolgreicher noch als diejenige vom Staatsschiff. Der älteste Einwand gegen das individuelle Eigeninteresse aus der Sicht der politischen Theorie war die Anarchieerwartung: Sind alle Menschen ihrem eigenen Interesse überlassen, wird der Bürgerkrieg die Folge sein. Das rechtfertigte den Eingriff staatlicher Zwangsmittel. Smith antwortete mit dem Theorem der „unsichtbaren Hand," das als Denkfigur bereits vor ihm bekannt war (Ottow 1991). Die eigennützige Handlungsorientierung der Bürger bringt demnach eine neue Ordnungsformation, den Markt hervor, und zwar ohne entsprechende Intentionen der Akteure. Der Markt erreicht Smith zufolge ein weitaus höheres Produktivitätsniveau als jede staatlich reglementierte Steuerung, was eine Zurückweisung merkantilistischer Wirtschaftssteuerung bedeutete. Die Marktteilnehmer sind dem Produktions- und Distributionsprozess viel näher und zudem reaktionsschneller als es eine zentrale Steuerungsstelle je sein kann. Das Eigeninteresse ersetzt somit das Gemeinwohl: Weil jeder ökonomische Akteur seinen Profit sucht, verwendet er die Ressourcen so ökonomisch, dass im Ergebnis die dadurch bewirkte Verteilung der Produktions- und Verwertungslogik gerecht wird und dem Gemeinwohl am besten dient (IV 7, 3: 581). Die Politik kann nach Smith die Bewertungsleistung des Marktes nicht ersetzen und darf es auch nicht. Sie kann nur den Mechanismus des Marktes schützen. Bestimmte marktschädliche Tendenzen wie die Monopolbildung (Smith kritisierte beispielsweise die East India Company) erwachsen gleichfalls aus eigennützigem Verhalten und bedürfen der politischen Gegensteuerung. Das eigennützig orientierte Verhalten von Menschen wirkt also nur in bestimmten Kontexten gemeinwohlforderlich. Der Markt entlastet die Politik, aber ersetzt sie nicht. Verteidigung, Erziehung, Ausbildung, Marktaufsicht, Gerichtswesen verbleiben laut Smith dem Staat als gesellschaftlich erforderliche Aufgaben, die weder dem Spiel von Angebot und Nachfrage unterliegen noch durch einen Geist des Wettbewerbs zu besonderer institutioneller Leistung angestachelt werden können (V 1). Smith befürwortete eine stehende Armee und hielt Bürgermilizen für ineffizient, wodurch er sich ausdrücklich vom republikanischen Argument Fergusons distanzierte (V 1, 1).

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Man wird bei Smiths Interessebegriff nicht von einem Paradigmenwechsel, sondern von einer Paradigmenerweiterung sprechen müssen. Der Begriff des Interesses fand sich bereits in der Staatsräsonliteratur und verwies wie sein späteres Pendant in der politischen Ökonomie auf das Gebot sachorientierter Rationalität. So wie das kühl zu kalkulierende Interesse in der Politik zu sachgerechteren Urteilen gelangt als die undifferenzierte Übertragung moralisierender Maßstäbe auf die Politik, so ist der ethisch verwerfliche Eigennutzen in bestimmten Handlungsbezügen forderungswürdig, weil sachgerecht. Doch selbst Smith sorgte sich, ob nicht die Automatisierung des Arbeitsprozesses, der als Ergebnis der Arbeitsteilung die Produktivität menschlicher Arbeit erheblich steigerte, zugleich für den einfachen Arbeiter zu einer gefahrlichen geistigen Verdummung führe (V 1, 2). Karl Marx wird diesen Aspekt die „Entfremdung" des Arbeiters nennen. Liest man Smith nur im Kontext des Wealth of Nations, wird nicht nur sein Denken, sondern auch sein Beitrag zur politischen Ökonomie um sozio-moralische Aspekte beraubt, die heute wieder anregend auf die „Neue Politische Ökonomie" wirken (Meyer-Faje/Ulrich 1991). Die Französische Aufklärung:

Montesquieu

Dem Forschungsprojekt der Schottischen Aufklärung kam in der französischen Aufklärung Montesquieu am nächsten, sein Begriff der „moeurs" umfasste eine ähnlich große Spannbreite gesellschaftlicher Phänomene. Charles Louis de Secondat de La Brede et Montesquieu (1689-1755) absolvierte juristische Studien und wurde zunächst Advokat am Parlement zu Bordeaux (Shackleton 1961). An diesen regionalen Verwaltungs- und Gerichtsinstitutionen hatte sich im zentralistischen Frankreich ein Teil politischer Selbstbehauptung bewahrt. Diese Tradition machte sich noch vor der Revolution von 1789 bemerkbar, welcher die sog. Rebellion der Notabein 1788 voranging, in deren Mittelpunkt das wichtigste aller Parlements, das Pariser, stand. Eine Erbschaft machte Montesquieu ab 1716 unabhängig. Der Erfolg seiner Lettres Persannes (1721) sicherte Montesquieu einen vorderen Platz in den Pariser Salons. Es folgten die Considerations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur decandence (1734), die bereits andeuteten, dass Montesquieu die sozialen Bedingungen der Möglichkeit von Herrschaft klären wollte. Dieses Bestreben kulminierte im L 'Esprit des Lois von 1748. Bereits zwei Jahre nach dem Erscheinen des Buches konnte Montesquieu von der 22. Auflage des Werks berichten. Montesquieus verwirrender Hinweis im L 'Esprit des Lois, wonach die Idee der Freiheit den Wäldern Germaniens entstamme (XI 2; Pensees 215 und 1340), ist nur aus den Deutungskämpfen seiner Zeit um den Vorrang der Aristokratie vor der Monarchie zu verstehen. Er zählte selbst zum alten Adel und pries die Erbaristokratie als wichtiges Gegenmittel zum Absolutismus der Monarchie. Apologeten der absolutistischen Stellung des Königtums wie Jacques Benigne Bossuet (1627-1704) und sein Politique tiree de l'Ecriture sainte (1677/1709; (Fetscher 1985) feierten die königliche Machtstellung in Analogie zur Hausgewalt des aristotelischen Oikosdespotes. Angesichts solcher Apologien wirkten selbst moderate Arbeiten wie der Telemaque (1699) von Francois de Salignac de La Mothe Fenelon (16511715) rebellisch und wurden vom König auch verboten. Als Variante der Fürstenspiegeltradition in Gestalt einer Heldenerzählung präsentiert, vermittelte der Telemaque in prinzenerzieherischer Absicht Informationen über verschiedene politische Verfassungen und Regierungsweisen samt Anweisungen für das richtige Verhalten der Verantwortlichen und versuchte so, die Differenz von Monarchie und Tyrannis in aristotelischer Hinsicht zu propagieren. Doch schon zum Ende der Regierung Ludwig XIV. war der Absolutismus nicht mehr

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unumstritten. Seine Innovationskraft war durch die Intrigen am Hofe von Versailles verloren gegangen. Die Regentschaft von 1715-1722 war eine Zeit aufblühender Reformdiskussionen, die auch nach dem Regierungsantritt Ludwig XV. nicht endeten: Die Gegner des Absolutismus waren zunächst Adlige und nicht Bürger. In dieser Debatte konkurrierten zwei Richtungen: Die Anhänger der „these royale" stellten sich auf den Standpunkt der königlichen Souveränität, deren Ursprünge bis in die Frühzeit des fränkischen Reiches zurückreichen. Der Abbe Dubos hatte hierzu in seiner dreibändigen Histoire Critique de l'etablissement de la monarchie frangaise (1735) die Auffassung zu dokumentieren versucht, Frankreich sei von Anfang an monarchisch verfasst gewesen, die Monarchen seien von den römischen Kaisern eingesetzt worden. Erst die feudale Aristokratie habe die Monarchie von innen zersetzt und so die germanische Eroberung vorbereitet. Den Anhängern der Monarchie stand die „these nobiliaire" oder germanistische gegenüber, die den Adel mit dem Staat identifizierte (Kinneging 1997, 235-278). Sie behauptete, der Adel habe aus seiner Mitte einen König gewählt und auch nie auf dieses Recht verzichtet. Namentlich der Graf Henry de Boulainvilliers (1658-1722) bot in seiner Histoire de l'ancien gouvernement de la France (1727) historische Gründe auf, um die Position des Adels zu stärken. Der König sei aus den Reihen des Kriegeradels gewählt worden, die ihre „droits primordiaux" niemals aufgegeben hätten. Hinter diesem Konflikt von Royalisten und Adligen verbarg sich zugleich ein sozialer Kampf zwischen dem Schwertadel der Hocharistokratie und dem jüngeren Geldadel, der im Zuge des Systems des Ämterkaufs und mit Hilfe und in Zusammenarbeit mit dem König zu Einfluss gekommen war. Montesquieu bezog Partei für die germanistische These (Kinneging 1997, 279-300; Binoche 1998). Seine berühmte Gewaltenteilungstheorie kann als Versuch gedeutet werden, die germanistische These auf ein systematisches Niveau zu heben. Die gesamte Institutionentheorie im L 'Esprit des Lois besaß eine anti-despotische Zielrichtung mit Blick auf das französische Königtum (Goyard-Fabre 1993), wenngleich er die Despotie lieber am orientalischen Fall diskutierte. Der Ausdruck Despot und Despotismus gehörte zur Terminologie des 18. Jahrhunderts, um die Willkürherrschaft zu kritisieren (Koebner 1951; Richter 1974). Gleichwohl zielte L 'Esprit des Lois weit über den zeitgenössischen Kontext hinaus und bot eine soziologische Politiktheorie dar, eingebettet in eine Zivilisationstheorie. Das betraf bereits den Begriff der Aristokratie selbst. Montesquieu verwendete einen funktionalen Aristokratie-Begriff, der nicht mit der feudalen Bedeutung erblicher Privilegien der Blutsverwandtschaft zusammenfiel: Da Montesquieu in Hinblick auf politische Wahlen das Los dem demokratischen und das eigentliche Wahlsystem der Aristokratie zuordnete, bildete sein Aristokratiebegriff den institutionellen Kern seiner Repräsentationstheorie (Manin 1997, 70-74). Die Idee gewaltenteilender Freiheitsverbürgung und das Prinzip der Mäßigung als Maxime politischen Handelns machten Montesquieu neben Locke zur ideengeschichtlichen Ikone des modernen Freiheitsverständnisses und beide zu Referenzen des Liberalismus (Manent 1994, 53-64). Der L 'Esprit des Lois weist stark komparatistische Züge auf. Montesquieu lernte auf zahlreichen Reisen zahlreiche unterschiedliche politische Systeme kennen, darunter 1728 Holland, Österreich und Deutschland und 1729-1731 schließlich England (Krauss 1963). In England hatte er enge Kontakte zum Bolingbroke-Kreis, zu dem Persönlichkeiten wie Jonathan Swift, Alexander Pope und John Gay (Beggar Opera) zählten und der in Opposition zur Regierungspolitik von Walpole stand (Kramnick 1992). Die Reisen erweiterten Montesquieus Gesichtskreis dahingehend, dass er lernte, aus dem Vergleich verschiedener Verfassungen und Zivilisationen nach den ihnen allen zugrunde liegenden Wirkkräften zu fragen: Er suchte

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jedoch nicht nach anthropologischen Universalien, sondern nahm die Vielfalt der Lebensformen ernst (Manent 1998). Daher nannte ihn Emile Dürkheim in seiner lateinischen Dissertation von 1892 den Vordenker der Soziologie (Miliar 1993), ging Montesquieu doch von der Vielfalt der sozialen Konstellationen aus, die in Betracht gezogen werden müssen, um ein Gesetz zu verstehen. Hier gilt es zu bedenken, dass Montesquieu keinerlei Sinn für die quantitative Betrachtung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens besaß. Die politische Ökonomie dagegen nahm, wie gezeigt, die Relevanz individuellen Verhaltens in der Summe ihrer durchschnittlichen Wirkungen in Betracht, was Montesquieu fern lag. Die Thematisierung der Religion bietet ein aufschlussreiches Beispiel für Montesquieus zivilisationsvergleichende Methode. Er betonte, dass er Religion nur insoweit untersuche, als sie auf die Gesellschaft Einfluss ausübe, theologische oder doktrinäre Differenzen zwischen den Religionen interessierten ihn hingegen nicht (XXIV 1 und 4). Damit berücksichtigte er, dass auch nichtchristliche Glaubensrichtungen hochentwickelte Lebens- und Kulturformen hervorbringen konnten, wie die chinesische Zivilisation zeigte, die zu diesem Zeitpunkt bis in die Mode hinein in Europa rezipiert wurde, und zwar ohne monotheistischen Gottesbegriff. Ähnliche Überlegungen bestimmten David Humes These über die natürlichen Gründe des Aufkommens von Religion in jeder Gesellschaftsformation (A Natural History of Religion 1757). Montesquieu erörterte klimatische Einflüsse auf die Ausgestaltung der jeweiligen Religion, weshalb bestimmte Religionen nicht auf Gesellschaften übertragbar seien, wenn in ihnen völlig andere klimatische Bedingungen herrschten (XXIV, 26) - eine Kritik an Missionierungsanstrengungen, die seinerzeit Jesuiten in Indien unternahmen. Der L 'Esprit des Lois enthält in den Büchern I-XIII eine Art allgemeine Politikwissenschaft, gefolgt von einer Theorie des sozialen Rahmens der Gesetze, darunter die Klimatologie (IXXIX) und eine soziale Ursachenlehre (XX-XXVI). Montesquieu interessierte der Standpunkt des Gesetzgebers bzw. Verfassungsgebers, zu denen er klassische Gestalten wie Lykurg ebenso wie Politiker seiner Zeit, namentlich William Penn in Amerika zählte (IV 6). Der „Geist" der Gesetze ist die hinter dem Buchstaben der Gesetze erkennbare Bedeutung, eine aus den Paulus-Briefen vertraute Begriffsverwendung, die im juristischen Diskurs Frankreichs durch Jean Domat (1625-1696) und seinen Les lois civiles dans Vordre naturel (1689, Einl. und Kap. 11) bekannt war. Montesquieu suchte hinter dem Wortlaut der Gesetze nach ihren Auswirkungen auf das soziale Verhalten, das zu steuern sie intendieren. Menschen existieren ihm zufolge nicht unabhängig von den Gesetzen oder den sozialen und natürlichen Lebensbedingungen, sondern unter der Einwirkung dieser Faktoren, zu welchen er die bereits existierenden Gesetze selbst zählt. Soziale Rahmenbedingungen sind beispielsweise der Charakter der Bevölkerung oder das Klima der Landschaft, die Religion ebenso wie die Art und Weise des Wirtschaftens; maßgeblich ist die Frage, inwieweit diese die Möglichkeit des Regierens und die Art und Weise der Regierungsausübung prägen. Montesquieus Denken berührte sich insoweit mit der Naturrechtstradition, als auch ihn das Problem der Obligation beschäftigt. So plante er in frühesten Jahren eine Arbeit zur Pflichtenlehre im Anschluss an Cicero (Analyse du Traite des Devoirs), die er nicht beendete (Shackleton 1961, 20). Judith Shklar fragt, welche Art von Obligation das "devoir" meine: das der natürlichen Notwendigkeit (im Englischen "must"), das, was zur Erzielung gewünschter Wirkungen erforderlich sei ("should") oder das, was getan werden müsse, weil es moralisch richtig sei ("ought") (Shklar 1987, 69). Mit dieser Fragestellung war die Nähe Montesquieus zum Problembewusstsein der Schottischen Aufklärung gegeben (Sher 1984). Montesquieus löste das Problem mit Hilfe des Begriffs der Sitten („mceurs"), das heißt habi-

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tueller oder konventioneller Verhaltensweisen, die das Ergebnis zahlreicher externer wie interner Einflüsse sind und die zu beachten die Grundlegung der Gesetzgebung sein muss. Montesquieus Regierungslehre (Goyard-Fabre 1993; Binoche 1998) gehört zu den am meisten rezipierten Teilen des L 'Esprit des Lois. Darin differenziert er nach „Natur" und „Prinzip" einer Regierungsform: die Natur der Regierung meint die institutionelle Struktur, ihr Prinzip die menschlichen Leidenschaften, die in dieser Regierungsform handlungsmotivierend wirken (III 1), von Montesquieu in der Bucheinleitung „Tugend" genannt. Montesquieu beeilte sich, seine wertfrei gedachte, analytische Betrachtungsweise der Tugend von dem Begriffsgebrauch im französischen Diskurs abzuheben, wo Tugend fast ausschließlich die moralische Eigenschaft des menschlichen Charakters, oft auch die christliche Disposition des Charakters meinte. Indem Montesquieu die Tugend in der Republik mit der Vaterlandsliebe identifizierte, verstanden als „Liebe zu den Gesetzen", rezipierte er die italienische Verwendungsweise von Tugend bei Machiavelli als Eigenschaft politischer Akteure oder bei Giannotti als Eigenschaft politischer Institutionen, was üblicherweise im französischen Diskurs wegen deren anscheinend a-moralischen Stoßrichtung abgelehnt wurde. Daher betonte Montesquieu auch, er verstehe den Begriff der Tugend weder als moralische noch als christliche, sondern als politische Eigenschaft. Politische Tugend ist demnach die Triebkraft, die Regierungen in Bewegung setzt, sie ist die Handlungsursache der in bestimmten Regierungsformen tätigen Bürger. Montesquieu unterschied also einen christlichen von einem eher republikanischen Tugendbegriff und stellte beide in Relation zum Tugendbegriff, wie ihn die Schottische Aufklärung benutzte (Kloppenberg 1987, 27). Die Natur der Regierung besteht laut Montesquieu aus ihrer Form (Regierungskompetenz und Regierungsorganisation) und ihrer Ausübung. Montesquieu distanzierte sich damit von der aristotelischen Einteilung und sprach von der republikanischen, der monarchischen und der despotischen Natur der Regierung. Zur republikanischen Regierungsweise zählt die Regierung des ganzen Volkes oder eine Auswahl (Aristokratie) aus dem Volk. In der Monarchie regiert eine Einzelperson, jedoch nach Gesetzen. In der Despotie regiert die Willkür (II 1). Zu Natur und Prinzip der Regierung gehört schließlich die Zielsetzung der Regierungsweise, die Einfluss nimmt auf die Verfassung und die Stellung der Bürger zum Staat (Rahe 2001). Grundsätzlich zielen alle Regierungen auf ihre Selbsterhaltung. Spezifischere Zielsetzungen können ferner Machterweiterung, Handel, Religion, Frieden, Glück oder Unabhängigkeit und individuelle Freiheit sein (XI 5). In der Demokratie als der einen Gestalt der Republik ist nach Montesquieu das Regierungsprinzip die Tugend, die er der Ehre als Prinzip der Monarchie gegenüberstellte. Ziel demokratischen Regierens ist die Gleichheit. Für die Natur der demokratischen Regierungsweise ist die Regelung des Wahlrechts grundlegend (II 2), wobei das Losverfahren ihrer Natur am nächsten kommt, da hier ihre Leitnorm: die Gleichheit, am klarsten umgesetzt wird. Soziale Voraussetzung des Regierungsziels der Gleichheit ist die Genügsamkeit der Bürger (III, 1 und V 4-7); erst die Genügsamkeit versetzt die Privaten in die Lage, frei zu sein für öffentliche Aufgaben (V 3). Der Handel verhindert dabei keineswegs die Tugend als solche, denn er erzwingt Fleiß und Sparsamkeit; erst die Anhäufung großer Reichtümer ist gefahrlich und der Luxus steigert das Bestreben nach privatem Glück (V 6). Andererseits droht in der Demokratie ein übertriebenes Gleichheitsstreben, was Montesquieu als Ausartung ihres Prinzips ansah (V III 2-4). Der Natur der Republik entspricht ein kleines Territorium (Richter 1994, 41-54), weil es in großen Republiken zu große Reichtümer gebe, worunter der Sinn für die Disziplin leide, und zu große Werte den Händen eines einzigen Bürgers anvertraut werden

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müssen, was wiederum die Korruption erleichtere (VIII 16). In Demokratien - und in geringerem Maße in Aristokratien - muss die Tugend unter den Bürgern weit verbreitet sein, sind die Gesetzgeber hier doch ihren eigenen Gesetzen unterworfen, was die Versuchungen des Missbrauchs und die Unterschreitung des Gemeinwohls wahrscheinlicher mache (III 2). Montesquieu untersuchte am ausführlichsten und ideengeschichtlich bei weitem am einflussreichsten das Regierungsziel der Freiheit und skizziert hierzu die Regierungsweise Englands. England war in Frankreich schon vor Montesquieu ein beliebtes Thema (Moliere 1972). England sei das freieste Land der Welt, auch im Vergleich zu Republiken, notierte Montesquieu in seinem englischen Reisetagebuch (Notes sur l 'Angeterre, Oeuvres completes VII 195). Er wusste allerdings um die Ambiguität des Freiheitsbegriffs und betonte, dass er „politische Freiheit" im Unterschied zur Willkürfreiheit (ob Individuum oder Despot) meinte: es gehe nicht darum, dass jeder machen könne, was er wolle, sondern dass man zu tun vermöge, was man gesetzmäßig tun solle (XI 3). Ein bloß negatives Freiheitsverständnis des individuellen Rechtsschutzes wäre in seiner Sicht unpolitisch (Berlin 1969). Die Gewährleistung politischer Freiheit ist nach Montesquieu eine institutionelle Frage, eine Aufgabe der Konstitution und der Verteilung von Macht. Lockes Gewaltenteilungslehre und ihre Unterscheidung nach Legislative, Exekutive und Föderative war in Frankreich schon vor Montesquieu bekannt. Montesquieu rezipierte Locke nur in Hinblick auf die ersten beiden Gewalten, stellte sie in ein anderes Licht und fügte die Judikative hinzu. Die Lockesche Unterscheidung der Gewalten diente der besseren Klärung ihres Zusammenspiels, wobei er der Legislative den Vorrang gab; er dachte an eine Gewaltendifferenzierung, Montesquieu dagegen an eine Gewaltenbalancierung als institutionelle Sicherung der Freiheit. Machtkonzentration bringe Despotismus hervor, davon war Montesquieu überzeugt; die Aufgabe bestehe in der Hegung der Macht (Böhlke 1999, 219-244), für die Montesquieu auf die klassische Mischverfassungstheorie (constitution melee) zurückgriff. In der Monarchie wirkten intermediäre soziale Gewalten (pouvoirs intermediäres) wie die Städte oder der unabhängige Adel als Gegengewichte zentraler Macht. Dieses Argument wird später Tocqueville aufgreifen auf der Suche nach Gegengewichten zur Tyrannei der Mehrheit in den Demokratien, die er in zivilgesellschaftlichen Organisationen fand. In der englischen Verfassung sah Montesquieu das Problem gefahrlicher Machtballung durch die Verteilung der Macht (distribution des pouvoirs) und die gegenseitige „Arretierung" der politischen Gewalten gelöst. Die Balance-Theorie galt nur für Regierungen, die auf Freiheit angelegt waren. Das war eine erhebliche Einschränkung ihrer Geltungsreichweite, die oft unberücksichtigt bleibt. Montesquieu formulierte an dieser Stelle kein Ideal, sondern eine analytische Deskription der englischen Verfassung. Montesquieu beschrieb das King-in-Parliament-Prinzip, in welchem die exekutive Macht auf den König konzentriert ist und die legislative Macht auf zwei Kammern verteilt wird, die sich gegenseitig einschränken, jedoch gemeinsam wiederum die exekutive Macht einschränken und umgekehrt. Ihr Modell war nicht die einzige institutionelle Möglichkeit der Einhegung absoluter Macht. Die judikative Macht ist in Montesquieus Augen nicht unbedeutend, wie oft angenommen wird. Sie spielt im Konzert der gegenseitigen Arretierung der Gewalten eine unbedeutende Rolle. Ihre Macht ist gefurchtet, wird jedoch „unsichtbar und nichtig" (XI 6), wenn das Gericht aus einem gewählten Tribunal besteht und dem Gesetz folgt. Montesquieu hatte die englische Jury vor Augen, an deren Zusammensetzung der Angeklagte einen Anteil hatte, und verglich die englische mit der römisch-republikanischen Praxis (XI 18). Die Zusammensetzung der Gerichte war daher von zentraler Bedeutung für die Freiheit. Allerdings äußerte

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sich Montesquieu nur verhältnismäßig kurz zur Rechtsprechung, was angesichts der Stellung der französischen Parlementes einigermaßen überrascht. Die Gewaltenteilungslehre Montesquieus stand im Zusammenhang mit seiner Vorliebe für den Mäßigungsgedanken (Kuhfuß 1975). Im Falle Englands sah Montesquieu die Freiheit dort aber nicht so sehr durch eine politische Kultur der Mäßigung gewährleistet - immerhin gab es eine Revolution, Rebellionen und eine Königshinrichtung sondern durch das Klima, das die Menschen in ständiger Erregtheit halte (XIV, 13): da politische Versklavung oder Tyrannei die Schläfrigkeit der Bevölkerung voraussetze, sei in dieser Hinsicht das englische Volk am besten davor geschützt, versklavt zu werden (Courtney 2001, 282). Zu den institutionellen Sicherungen der Freiheit zählte laut Montesquieu auch, in Zeiten der Not die Freiheit selbst einzuschränken. Es gehöre zum Brauch der freiesten Völker, einen Moment lang einen Schleier über die Freiheit zu werfen, um die Freiheit im ganzen zu verteidigen (XII 19). Montesquieu verglich römische Diktatoren mit den venezianischen Inquisitoren (II 3) und teilte die republikanische Befürwortung der Diktatur, verstanden als magistratisches Amt zur Verteidigung der Verfassung, wie es Machiavelli und Harrington nach dem Vorbild der römischen Republik thematisiert hatten. Montesquieu äußerte sich jedoch skeptisch zur Modernität des Republikanismus (VIII 16; III 3): große Territorialstaaten schienen für die republikanische Regierung ungeeignet zu sein, das Problem der Korruption drohte und auch das des inneren Verfalls, weshalb Republiken rasch in die Hände eigennütziger Oligarchien fallen würden (Venturi 1971, 43-45). Gleichwohl trug Montesquieu erheblich zur Verbreitung der Kenntnisse über den Republikanismus bei, in Frankreich (Shklar 1990), den Niederlanden (Velema 1997) und vor allem in Amerika (Stourzh 1970, 63-75). Jean-Jacques Rousseau Kaum ein größerer biographischer Kontrast ist in der Zeit der Aufklärung denkbar als der zwischen Rousseau und Montesquieu. Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) wurde als Genfer Bürger geboren. Er verließ seine Heimatstadt 1728 und ließ sich nach langer Wanderschaft, Aufenthalten in Paris und in der Republik Venedig sowie der Konversion zum Katholizismus schließlich in Paris nieder. Dort nahm er rasch Kontakt zu der Gruppe der Enzyklopädisten um Diderot auf, für deren Projekt er verschiedene Artikel aus dem Bereich der Musik und den Artikel Politische Ökonomie schrieb; in letzterem skizzierte er Grundelemente seines künftigen politischen Denkens. Bereits in frühen Jahren hatte er eine große Arbeit zu den Institutions Politiques geplant. Nach zahlreichen Arbeiten zur modernen Musik, einigen Romanen und pädagogischen Abhandlungen verfasste er seine Arbeiten zur politischen Theorie. Auf dem Wege zu dem im Gefängnis zu Vincennes einsitzenden Diderot erfuhr er vom Preisausschreiben der Akademie von Dijon zu der Frage, ob der Fortschritt der Künste und Wissenschaften zur Läuterang der Sitten beigetragen habe. Von Diderot nachhaltig bestärkt schrieb er den Essay Discours sur les sciences et des arts, gewann den ersten Preis und wurde schlagartig berühmt für die Heftigkeit seines Stils und die Radikalität seiner Thesen, da er die Frage nachdrücklich verneinte. Im Discours sur l 'origine et les fondemonts de l 'inegalite parmi les hommes, dem sog. Zweiten Diskurs (1755), antwortete Rousseau auf die Preisfrage, woher die Ungleichheit unter den Menschen resultiere und ob sich diese Ungleichheit im Naturrecht begründen ließe. Hier entwickelte er seine Überlegungen zum Verhältnis von Natur und Gesellschaft.

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Rousseau übernahm die Aufgabe der Bearbeitung des Nachlasses des Abbe Pierre (siehe diachroner Abschnitt „Frieden und Krieg") zwecks Druckfassung seiner Friedensschrift. Zu dieser Zeit erfuhr er, dass sein alter Kontrahent Voltaire von Berlin nach Genf übergesiedelt war: Rousseau hatte zuvor ähnliche Pläne gehabt. Nun bezog er seine Eremitage, das Haus der Madame d'Epinay in Montmorency, wo Emile und der Contrat Social (beide 1762) entstanden. Die darin enthaltenen kirchenpolitischen Aussagen erzwangen seine Ausreise aus Frankreich. Aufenthalte in England bei David Hume und wieder in Genf und Umgebung führten zu keiner Verwurzelung. Die Genfer Republik übernahm das französische Druckverbot des Emile. Zur Rechtfertigung der Genfer Haltung gegenüber Rousseau verfasste ein Mitglied des Magistrats eine Abhandlung. Rousseau erwiderte in seinen Briefen vom Berge (1764) mit einer sehr detaillierten Verfassungsgeschichte Genfs und der Analyse ihrer politischen Institutionen. Ihm lag daran zu beweisen, dass die formelle Verfassung von Genf freiheitlich war, die Praxis und gewohnheitsrechtliche Auslegung hingegen einen unfreiheitlichen Zug bargen, welcher die Republik in eine Oligarchie verwandelte (Fralin 1978, 147172). Etwas später schrieb Rousseau auf Bitten von Politikern seine Verfassung für Korsika (etwa 1768) und die Betrachtungen über die Regierung Polens (London 1782). Sie zeigen Rousseau als Analytiker, der angesichts unterschiedlicher geographischer und politischkultureller Voraussetzungen auch unterschiedliche Wege und Anstrengungen zur Transformation in Republiken vorschlug. Rousseau zeichnete den Ersten Diskurs mit „Genfer Bürger". Er war freilich schon 1728 vom calvinistischen Glauben seiner Vaterstadt abgerückt, zum Katholizismus konvertiert und hatte damit offiziell seinen Bürgerstatus in Genf verloren. Gleichwohl widmete er den Diskurs über die Ungleichheit der Genfer Republik. Diese Widmung ist aufschlussreich für seine zwiespältige Beziehung zur Vaterstadt (Rosenblatt 1997, 159-163; anders Mason 1993). Rousseau trug sich mittlerweile mit Plänen, wieder in Genf zu leben. Er reiste dorthin, wandte sich wieder der calvinistischen Kirche zu und konnte hierdurch auch erneut die Bürgerrechte dieser Stadtrepublik in Anspruch nehmen. Die Entstehung des Contrat Social, worin er neben dem unvermeidlichen Lykurg auch Calvin zu den großen Legislatoren zählte, stand also in einem Zusammenhang mit Rousseaus Selbstverständnis als Genfer Bürger. Verstand Rousseau unter „ G e n f die Vaterstadt mit ihrer patrizischen Verfassung oder ein idealisiertes Genf als freie Stadtrepublik, die allen übrigen politischen Ordnungen zum Vorbild gereicht? Rousseau war ein Kenner der konkreten verfassungspolitischen Fragen Genfs (in den Briefen vom Berge) und zugleich prägte ihn auch die Schweizer Aufklärung, deren völkerrechtliche Arbeiten die Naturrechtstradition fortsetzten (Rosenblatt 1997, 88-101) und Pufendorfs politische Theorie vermittelten (Wokler 1994). Nicht ohne Grund stellte der Untertitel des Contrat Social den Bezug zur Naturrechtstradition her, um sich von ihr abzusetzen, denn Rousseaus Anliegen bestand in einem Neuansatz zum Naturbegriff. Normen menschlichen Verhaltens im sozialen wie im politischen Leben können nicht einfach aus der Vernunftnatur erschlossen und als Imperativ behandelt werden, sie erwachsen aus der gesellschaftlichen Verankerung. Dazu zählte Rousseau auch und vor allem Emotionen, da sie die Bindung des Menschen an politische Ordnungen ermöglichten. Rousseau kritisierte an der Naturrechtstradition daher ihre zu starke Betonung der rationalen Komponente bei gleichzeitiger Vernachlässigung der emotiven Aspekte (Sigmund 1971, 119-133). Wenn Rousseau den Patriotismus als Liebe zu den Gesetzen definierte, meinte er dies nicht metaphorisch, sondern wörtlich; er

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rückte politische Leidenschaften in das Zentrum der Aufmerksamkeit (Orwin 1997), was eine gewisse Parallele zu Montesquieus Regierungslehre zeigt. Rousseau betrachtete den Naturzustand nicht als vor-gesellschaftlichen Zustand, der mit Hobbes zu sprechen tierisch und brutal genannt werden müsse und dem zu entfliehen daher das rationale wie moralische Streben der Menschen wäre. Die Natur ist für Rousseau ein anderer gesellschaftlicher Zustand als die moderne Zivilisation: sie verfügt nicht über deren Vorteile, weist aber auch nicht deren Nachteile auf. Rousseau meinte im sozialen Naturzustand eine praktizierte Sozialität vorzufinden, die erst durch die Überfeinerung der Zivilisation und die Ausbildung subtiler Formen der Ungleichheit unter den Menschen unmöglich gemacht worden war. Die zivilisierende Wirkung von Mode, Öffentlichkeit und Kultivierung der Lebensgewohnheiten brachte die Ungleichheit unter die Menschen. Ähnlich wie zuvor Locke sah Rousseau in der Einfuhrung des Geldes einen weiteren Schub an Ungleichheit, der mit einer ganzen Kette an gesellschaftlichen Werturteilen verknüpft gewesen sei und schließlich die Einführung von ständischen Differenzen zur Folge gehabt hatte. Anders als seine aufklärerischen Zeitgenossen verband Rousseau keine Hoffnung mit der Fortsetzung der Zivilisation, sie war in seinen Augen ein moralischer Rückschritt (Garrard 2006, 17-28 sieht darin eine gegenaufklärerische Tendenz). Rousseau kritisierte Mandeville und wollte auch nicht den zivilisationstheoretischen Überlegungen der Schottischen Aufklärung folgen, die in Gestalt Humes und Smiths diesen Prozess für unausweichlich erachtete und seine Wohltaten betonte. Rousseau entwickelte ein Gegenmodell zur modernen Zivilisation, das auf dem Modell des schönen Wilden basierte: Unverstellt durch die gesellschaftlichen Umgangsformen hat dieser seine sittliche Natur bewahrt und wird darin zum Vorbild. Rousseau glaubte nicht, den gesellschaftlichen Prozess umkehren zu können. Anders als Voltaire, der aus Rousseau eine Witzfigur zu machen versuchte, indem er verbreitete, dieser wünsche, alle Menschen würden wieder wie die Wilden leben, sah Rousseau den Naturzustand als vorgesellschaftliche Periode der Sozialität und zugleich als Modell der Sittlichkeit. Das im französischen Rokoko beliebte Schäfer-Idyll entsprach nicht Rousseaus Naturbild. Rousseau wollte die mit der Vergesellschaftung unweigerlich verbundenen Effekte ausgleichen, und zwar mit Hilfe von Politik und Erziehung. Die Differenz Rousseaus zur französischen Aufklärung war daher auch politischer Art. Er lehnte die Neigung der Aufklärer ab, die despotische Monarchie durch eine aufgeklärte ersetzen zu wollen. Politik sollte vielmehr über die gesellschaftlichen Differenzierungen hinweg den Menschen in Interaktionen spannen, in denen er anderen Menschen ungeachtet deren sozialen Unterschieden als Freien und Gleichen begegnen kann: die Republik. Der Freiheitsgewinn ist moralischer Natur und muss sogar einen Zwangscharakter annehmen: Gegen die gesellschaftlich bedingten Sonderinteressen der Menschen soll die politische Ebene der Allgemeinheit die Menschen dazu zwingen, von ihren sozialen Dispositionen Abstand zu nehmen, wenn auch nur für die Herstellung des Allgemeinwillens, der Quelle des verbindlichen Gesetzes. Rousseau übernahm zwar nicht den Naturbegriff der Naturrechtstradition, doch aber dessen voluntaristische Grundstruktur: Es kommt auf den tatsächlichen Willen der Individuen, auf ihre innere Verpflichtung an. Rousseau vollendete den Individualismus als Voluntarismus: der Wille des Menschen ist es, der politische Ordnung schafft. Zugleich will Rousseau aber auch dessen anarchische Neigungen bändigen und stellte die Gesamtheit der Einzelwillen (volonte des tous) dem Allgemeinwillen (volonte generale) gegenüber. Daher definierte er die Ausgangsfrage seiner Theoriebildung wie folgt: „Es muss eine Gesellschaftsform gefun-

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den werden, die mit der gesamten gemeinsamen Kraft aller Mitglieder die Person und die Habe eines jeden einzelnen Mitglieds verteidigt und beschützt; in der jeder einzelne, mit allen verbündet, nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie zuvor" (Contrat Social I 6: 1977, 73). Die Lösung besteht in der vollständigen „Überäußerung eines jeden Mitglieds mit all seinen Rechten an die Gemeinschaft" (ebda.). Das knüpft an die Gesellschaftsvertragstradition an, ohne wie bei Hobbes den Vertrag als Unterwerfungsvertrag zu konzipieren (Brandt/Herb 2000; Kersting 2003). Jeder unterstellt seine gesamte Person dem zu schaffenden Allgemeinwillen und wird zugleich unzertrennliches Glied desselben, an dem er partizipiert und so zu seiner Entstehung beiträgt, der ihn aber auch schützt. Der Mensch geht im politischen Körper auf, um darin eine neue Hülle, ein eigenartiges Dasein als politisches Wesen wiederzugewinnen. Das geschieht hauptsächlich im Wahlakt, in dem sich der Einzelwille zum Bestandteil des Allgemeinwillens wandelt. Der Mensch gewinnt politisches Dasein als Glied des von ihm geschaffenen politischen Körpers und wird zum Bürger. Der Mensch ist frei geboren, lautet der berühmte Eröffhungssatz des Contrat Social, und daraus folgt auch die Gleichheit der Menschen untereinander, doch nur in normativer, nicht in sozialer Hinsicht. Bereits Hobbes hatte unmissverständlich die Gleichheit aller Menschen als politisches Faktum postuliert, da alle Menschen einander bedrohen können. Allerdings hatte diese Gleichheit im Gesellschaftszustand keinerlei Relevanz mehr: sie war mit der Unterwerfung unter den Souverän systematisch abgegolten. Rousseau erachtete Hobbes' politische Konstruktion der Gleichheit für empirisch verfehlt. Schon die physische Natur sei eine Quelle der Ungleichheit. An Stelle der physischen Ungleichheit der Menschen stellt Rousseaus Gesellschaftsvertrag eine moralische und gesetzmäßige Gleichheit, wonach alle als gleich gelten (I 9). Die Freiheit, die Hobbes allein im Naturzustand verwirklicht sah, aber als etwas, was man um Leib und Leben besser flieht als daran festhält, erhielt bei Rousseau in der Republik eine neue Heimstatt. Die dort erreichte Gleichheit ist nur möglich, wenn der Mensch sein gesellschaftlich determiniertes Sonderinteresse hinter sich lässt. Die Republik wird so zur zweiten Natur des Menschen, um sein ursprüngliches Menschsein wiederzugewinnen, das er durch die Vergesellschaftung allmählich verloren hatte. Das Aufbrechen der gesellschaftlichen Umklammerung des Individuums bedarf Rousseau zufolge notfalls auch des Zwangs, eine Überlegung, die dann von jakobinischen Revolutionären zur gewalttätigen, ja terroristischen Doktrin stilisiert wurde. Vorbilder für Rousseaus Idee fanden sich im französischen Theoriediskurs von Pascal über Montesquieu bis zu Diderot in dem Sinne, dass dem Allgemeinwillen ein Vorrang vor dem Partikularwillen gebührt (Riley 1986). Aber erst Rousseau stellte ihn in den Mittelpunkt einer politischen Theorie (Shklar 1969, 84), und zwar als etwas, das erst prozessartig geschaffen werden muss. Die Entgegensetzung von Republik als magistratischer Macht und arbiträrer Monarchie, die Idee freiheitlicher politischer Ordnung und die Suche nach dem Ort tugendhafter Bürgerschaftlichkeit waren vertraute Ingredienzien des zeitgenössischen Diskurses, der ständig die antiken Republiken thematisierte. Rousseau griff einen Topos der französischen Aufklärung auf, der in den Dramen Voltaires, in der Encyclopedic (nicht nur im Sparta-Artikel) und in dem umfangreichen Werk Mablys (Bödeker/Friedemann 2001) bereits präsent war. Abbe Gabriel Bonnot de Mably (1709-1785) war zu seiner Zeit ein bekannterer Autor als Rousseau (Schleich 1981, 90-105), vor allem durch seine erst posthum aufgelegtes Werk Des droits et des devoirs des citoyens (1789). Beispielsweise machte Benjamin Constant am Ende der Französischen Revolution Mably stärker verantwortlich für den revolutionären Jakobinismus als Rousseau. Mablys Thematisierung der Republik zeigt auch,

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wie nah oder fern sich Rousseau zum Republikanismus befand: Mably kannte keinen Allgemeinwillen, befürwortete die Repräsentation und sah sich in der Tradition der Mischverfassungstheorie (Wright 1997, 123). Er hatte sich in einem seiner letzten Arbeit ausfuhrlich mit der Regierungsdiskussion in Amerika beschäftigt (Observations sur le Gouvernement). Für Rousseau ist das Repräsentationssystem dagegen eine vormoderne und archaische Einrichtung (Contrat Social III 15): sie entstammt dem Feudalsystem und eignet sich besser zur Unterdrückung des Volkes als zu seiner Selbstregierung. Das Volk muss, wenn nicht im Bereich der Exekutive, so doch wenigstens auf legislativer Ebene seine eigenen verbindlichen Entscheidungen treffen, statt nur das Personal dieser Entscheidungen auszusuchen. Die innere wie äußere Umwandlung des sozial korrumpierten Menschen zum freien Bürger bedarf eines Minimums an Partizipation. Hier ließ Rousseau keine Stellvertretung zu, da sich mit jeder Zwischenebene eigenartige Interessenformulierungen artikulieren, die der Kreation des Allgemeinwillens entgegenwirken. Repräsentanten können in Rousseaus Augen Interessen entwickeln, die sowohl vom Einzelinteresse der Vertretenen wie vom Gesamtinteresse abweichen. Ferner gewöhnen sich Menschen daran, dass ihnen verantwortliche politische Entscheidungen abgenommen werden, ständig droht die Gefahr der Selbstentmächtigung der Bürger durch die dauerhafte Einrichtung von Stellvertretern, was zur Rückentwicklung der Bürger, verstanden als Citoyens in der Republik, zu bloßen Untertanen bedeuten würde. Rousseau stand der repräsentativen Demokratie nicht vollständig feindlich gegenüber. Er ordnete Regierung und Volk unterschiedliche Aufgaben zu, konstatierte aber deren Zusammenwirken. Hierfür sprechen die stärker institutionentheoretischen Arbeiten Rousseaus, allen voran die Schrift zur Regierung Polens. Mit Montesquieu übereinstimmend konzedierte er erfahrenen Repräsentanten, dass sie nicht so leicht wie eine unmittelbare Volksgesetzgebung hinters Licht geführt werden könnten, dafür aber weitaus anfalliger für die Korruption seien (Regierung Polens, Kap. 7; Masters 1968, 411-413). Die parlamentarische Arbeit als solche fand Rousseaus Lob. Einerseits tadelte er das englische Volk dafür, dass es sich nur mit einem einzigen Augenblick der Freiheit begnügte, nämlich dann, wenn es seine Abgeordneten wählt; gleichzeitig lobte er die Arbeit des englischen Unterhauses, insonderheit die Einrichtung von Ausschüssen und die Debattenkultur. Auf der Ebene der Regierung war dagegen Stellvertretung nicht nur zulässig, sondern sogar geboten (Contrat Social III 4): „Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Solch eine vollkommene Regierung eignet sich nicht für die Menschen." Jede gesetzmäßige Regierung war in Rousseaus Augen republikanisch, weshalb im Bereich der Exekutive selbst eine amtsförmig geregelte Monarchie mit der Republik im Sinne magistratischer Macht vereinbar wäre (II 6). Um so wichtiger war daher die Selbstregierung im Felde der allgemeinen Gesetzgebung. Rousseau wollte aber nicht einfach den legislativen Gremien die politische Allgewalt zubilligen. Er sah vor, dass die unmittelbare Volksgesetzgebung dem moderierenden Einfluss der Regierung unterliegt: legislative Körperschaften lassen sich zähmen, indem die Regierung Meinungen zu Gehör bringt und diskutiert (Contrat Social IV 1). Petitionen aus der Bürgerschaft müssten erst von der Regierung angenommen werden, bevor sie in der Legislative beraten werden dürften (Achter Brief vom Berge). Solche Möglichkeiten einer Feinsteuerung des Souveräns könnten undemokratisch genannt werden, wenn Rousseau damit zur Manipulation des Volkes aufriefe (Fralin 1978). Es kann sich aber auch einfach nur um die Ambiguität zwischen Rousseaus präskriptiven Überlegungen und seiner deskriptiven Beobachtung handeln (J. Cohen 1985, 291). Jedenfalls verraten sie seine Nähe zur republikanischen Dis-

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kussion politischer Institutionen, worauf auch die von ihm gewählten Vorbilder Rom und Genf hinweisen (Marini 1967; Bertram 2004, 8). Rousseau wollte das zentrale Anliegen des Republikanismus, die Gesetzesherrschaft, etablieren, wie er in einem Brief (26.7.1764) an Mirabeau selbst formulierte (ed. Vaughan II 160), gab dieser aber eine neue Richtung (Spitz 1995). Das Aufgehen des individuellen Willens im Allgemeinwillen wurde als quasi-platonisches Homogenitätsbestreben gedeutet (Verne 1978). Man kann aber auch von dem Problem des kollektiven Willens sprechen, der in Konflikt mit den ihn bildenden Einzelwillen treten kann (Bloom 1997). Der individuelle Wille konsentiert nicht zum Allgemeinwillen, er wird transformiert. Rousseaus eigentümliche Vorstellung ist es, dass als eigener Irrtum angesehen wird, was sich nach der Kreierung des Allgemeinwillens als abweichende Mindermeinung herausstellt (Jones 1987). Der Allgemeinwille kann sich also auch gegen den Individualwillen stellen, letzterer ist diesem völlig unterworfen, so scheint es. Diese Auffassung Rousseaus, die aus der republikanischen Forderung des ausnahmsweise zu erbringenden Selbstopfers einen Dauerzustand macht, hat ihm den Vorwurf eingebracht, eine Art tyrannischer bzw. totalitärer Demokratie zu wünschen (Taine 1898, S. 319, 321, 323; Talmon 1952; zum sog. Rousseau-Problem vgl. Cassirer 1932). Ferner sollen verschiedenste institutionelle Mittel wie Erziehung, Feste und die Zivilreligion den Vorgang der Transformation des Menschen zum Bürger erleichtern, was zugleich das Zustandekommen eines Allgemeinwillens erleichtert. Geselligkeiten dieser Art verhelfen dazu, einen bürgerschaftlichen Habitus einzuüben, der zu einer wachsenden Identifizierung mit der Republik und ihren Gesetzen fuhrt (Trachtenberg 1993, 193-200). Was als Homogenitätsstreben kritisiert werden kann, berührt gleichwohl ein Kernproblem der politischen Theorie, das auch dort spürbar wird, wo nicht von der Transformation des Einzelwillens, sondern von ihrer Agglomeration ausgegangen wird; hier zeigt sich das Problem als das der Angleichung von Präferenzen, die zur Kooperation nötig ist (Trachtenberg 1993, 252-260). Rousseau sieht dieses Problem gerade dort, wo die Menschen zuvor nur Knechtschaft kannten. In seinem Entwurf einer Regierung Polens beschäftigte sich Rousseau daher ausführlich mit der Frage, wie Menschen lernen, die schwerste aller Bürden, wie er sagt, die Bürde der Freiheit zu tragen. Die Erziehung soll die Meinungen und den Geschmack der Bürger lenken, so dass sie zu leidenschaftlichen Patrioten aus Neigung werden. Diese Auffassung bestimmt auch die Gewichtung des schulischen Stoffes: Das Gesetz steht im Mittelpunkt des Unterrichts, gibt ihm Stoff, Reihenfolge und Gestalt (Regierung Polens, Kap. 4). Die Geschichte der Nation soll als Geschichte der Freiheit derselben gelehrt werden, ergänzt durch die Unterweisung im positiven Recht. Das Kind soll bereits zum Erlernen der Lesefahigkeit die Geschichte des Vaterlandes zum Gegenstand haben. Mit fünfzehn soll ihm diese bekannt sein, mit sechzehn sollen es alle Gesetze auswendig gelernt haben. Rousseau geht allerdings von einer nur geringen Zahl zentraler Gesetzbücher aus, die jeder Bürger kennen muss: ein politisches, ein bürgerliches und ein strafrechtliches {Regierung Polens, Kap. 10). Eine tugendhafte Bürgerschaft zeichnet sich durch eine geringe Zahl an Gesetzen aus. Nicht zuletzt die Religion bietet die Möglichkeit, das einigende Band der Bürger zu stärken. Rousseau griff diesen Gedanken von Machiavelli auf, hatte aber natürlich auch den Calvinismus in Genf vor Augen. Seine Vorstellungen waren aber moderater als dort: Das einheitliche Dogma war für ihn - anders als für Hobbes - nicht zentral, vielmehr sollte das Zeremoniell des Ritus habituell den Zusammenhalt und das Zusammenwirken der Bürger einüben und so zugleich stärken (siehe diachroner Diskurs „Politik und Religion").

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IV Die Entdeckung der Gesellschaft und die Revolution

Wie aber kann es überhaupt zu einer Republik kommen, wenn sie es ist, welche die Menschen überhaupt erst zu Bürgern transformiert? Wer soll eine Republik gründen, wenn die gesellschaftlich korrumpierten Menschen erst durch die Republik ihre in der Gesellschaft verschüttete Tugendhaftigkeit wiedererlangen können? Rousseau stand vor dem gleichen Dilemma wie Machiavelli (McKenzie 1982; Masciulli 1986). Wie Machiavelli griff Rousseau zu der Figur des ersten Gesetzgebers, des Republikgründers, oder wie ihn Rousseau selbst nannte: des Legislators. Lykurg und Solon, aber auch Moses und Calvin waren seine Musterbeispiele von Legislatoren (seit dem revolutionären Zeitalter würde man sagen: Verfassungsgeber), die aus sich selbst heraus tugendhaft sind und so die Initialzündung liefern, um aus einer Population ein tugendhaftes Volk zu machen (Masters 1968, 354-417). Anders als Machiavelli hatte der Legislator bei Rousseau in der von ihm geschaffenen Republik keinerlei Funktion mehr, das Volk kann ohne weiteres seine Gesetze ändern (Kersting 2002, 168-173). Wie Solon soll der Legislator die Verfassung geben, sodann das Land verlassen und es sich selbst überlassen. Das implizierte eine Kritik an Calvin, der in Genf geblieben war. Die Rousseaus Republik zugrunde liegenden Modelle sind das antike Athen und vor allem Rom. Ähnlich wie bei Machiavelli soll Rom nicht blind nachgeahmt werden, sondern die Möglichkeit effektiver Selbstregierung aufzeigen. Die Republik ist ein Modell für alle Menschen, unter den gegenwärtigen Bedingungen aber nur in Stadtstaaten verwirklicht und ansonsten nur in kleinen Flächenstaaten (Korsika) mit zivilisatorisch unkorrumpierten Sitten begründbar (Richter 1994, 55-64). Allerdings glaubte Rousseau, dass große Populationen durch Föderationen solcher Stadtstaaten die Vorteile der Republik (Selbstregierung und Freiheitsgewinn) mit den Vorteilen der großen Flächenstaaten (militärische und ökonomische Stärke) verbinden könnten (Asbach 2000). Dies skizzierte Rousseau am Beispiel Polens, das mit Hilfe einer föderalen Organisation die Vorteile der Flächenstaaten mit der republikanischen Selbstregierung nach innen durch ein System der Repräsentation verknüpfen sollte. Vorbild mag hierfür der Schweizerische Bund gewesen sein.

2. Die Atlantische Revolution und die Geburt der repräsentativen Demokratie Keiner der Aufklärer propagierte einen gewaltsamen Regimewechsel oder prognostizierte ernsthaft die revolutionäre Ära, die am Ende des 18. Jahrhunderts die Bahnen des politischen Denkens entscheidend veränderte. Die Entdecker der Gesellschaft bedachten sehr vorsichtig die sozialen Strukturen, in welchen sinnvolle Veränderungen überhaupt vorstellbar waren. Die idealisierte Genfer Republik diente Rousseau weniger als Blaupause für die Wandlung der Regierung Frankreichs als vielmehr zur Kritik an dem Stand der Zivilisation, welche die Kultiviertheit des geselligen Umgangs über die politische Tugend gestellt hatte. Man wird daher sehr vorsichtig sein müssen, aus dem post hoc ein ergo propter hoc zu machen: die Aufklärung hat die Revolution nicht vorbereitet, denn sie hat sie nicht intendiert. Die Rezeption eines für die Revolutionäre nützlichen Teils der aufklärerischen Philosophie hat die Revolution ermöglicht, verbunden mit einem Rückgriff auf antike und neuzeitliche Textbestände. In Hinblick auf den Fortgang der politischen Theorie und angesichts der Übermacht des Gesellschaftskonzepts im 18. Jahrhunderts und seines Primats vor der Politik

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musste die Revolution überraschend kommen. Sie ist daher eine Wende, kein Kulminationspunkt der Entwicklung. Das Zeitalter der Revolutionen beendete auch eine Epoche, in welcher die Autoren Politik eher dachten als machten. An ihre Stelle traten Autoren, die in den meisten Fällen selbst politisch aktiv wurden und ihre Theorien vor dem drängenden Hintergrund anstehender Entscheidungen entwickelten. Theorie diente ihnen zur Selbstreflexion politischen Handelns, d.h. das Handeln wurde nicht aus theoretischen Überlegungen blind abgeleitet. Die Aufgabe der Republikgründung knüpfte ein Band zwischen Akteuren diesseits und jenseits des Atlantiks und forderte ihren Gedankenaustausch (Higonnet 1988). Die von Thomas Jefferson mitverfasste Unabhängigkeitserklärung von 1776 war Vorlage für die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Einer ihrer Initiatoren war Lafayette, der am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg beteiligt gewesen war und nun intensiv mit Jefferson über den Entwurf der Erklärung korrespondierte. Jefferson war zu diesem Zeitpunkt Botschafter in Paris, Thomas Paine wurde später Abgeordneter des Konvents von 1792/1793, nachdem er zuvor im Unabhängigkeitskrieg der am meisten gelesene Pamphletist gewesen war. Einige der französischen Revolutionäre von 1789 hatten zuvor Amerika bereist. Brissot de Warville, der Kopf der politischen Gruppe, die später als Girondisten bezeichnet und zum Gegenspieler der Jakobiner stilisiert wurde, war lange Jahre in Amerika gewesen wie auch Lafayette. Solche Querverbindungen machen die Vorstellung einer Revolution der „atlantischen Zivilisation" plausibel (Palmer 1970, 14). Das darf aber nicht über die teilweise erheblichen Unterschiede beider Bewegungen und ihrer politischen Theorien hinwegtäuschen. Die Kenntnis der aufklärerischen Philosophie erleichterte die Kommunikation der Revolutionäre. Doch selbst wo Montesquieu und Rousseau wie ideengeschichtliche Heroen verehrt wurden, blieb ihr Einfluss eine Frage der aktiven Rezeption: niemand übernahm ihre Theorien einfach en bloc. Die Reputation von Montesquieu beispielsweise variierte von Land zu Land und Phase zu Phase: im vorrevolutionären Frankreich galt Montesquieu vielen als Interessenvertreter des Adels. Das erschwerte es, Montesquieu zum Augenzeugen heranzuziehen solange die Vormacht des Adels gebrochen werden musste (Forno 1973; Volpilhac-Auger 2001 und polemisch Althusser 1959). Daher war die Neigung in Frankreich groß, Rousseau und nicht Montesquieu zum Kronzeugen der politischen Veränderung gesellschaftlicher Strukturen zu stilisieren (Füret 1997), wogegen diejenigen, die eine gemässigtere und vor allem weniger beschleunigte Gangart bevorzugten, wieder auf Montesquieu zurückgriffen (Hampson 1983; für Deutschland vgl. Herdmann 1990). Die Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien und die Verfassung der USA In der Deutungsgeschichte der amerikanischen Revolution dominierte lange Zeit die liberale Interpretation, die besonders in John Locke die ausschlaggebende ideengeschichtliche Referenz der Revolutionäre sah. Sofern Locke im Lichte des Liberalismus des 19. Jahrhunderts gelesen wurde, bedeutete das eine bedenkliche Einseitigkeit. Die RepublikanismusForschung in den Arbeiten von Gordon Wood und J.G.A. Pocock trat dem entgegen und hat im Republikanismus von Machiavelli bis Harrington eine von Locke unabhängige Bezugslinie ausgemacht, so dass am Ende wieder Locke als unumgänglicher Bezugspunkt angesehen, nun allerdings nicht mehr in einer klassisch liberalen Interpretation, sondern um wichtige Aspekte des Republikanismus erweitert wurde (White 1978; Pangle 1988; Huyler 1995). Der Einfluss Lockes setzt in der frühen Kolonialzeit ein und prägte das politische Selbstverständnis der Siedler. Die Idee einer Legitimation des Eigentums durch die Arbeit, hier durch die

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Kultivierung des Landes, gab den Siedlern gegenüber der Urbevölkerung ein Argument an die Hand, welches deren Vertreibung erleichterte. Zugleich bot die Idee der Arbeit auch gegenüber den privaten Eigentümern einen Weg der Selbstbehauptung. Beispiele hierfür waren Siedlerrevolten gegen die Herrschaftsansprüche der Eigentümer der beiden CarolinaKolonien. Mit ausdrücklichem Hinweis auf Lockes Theorie erklärten die dortigen Siedler ihre Unterstellung unter die britische Krone, um sich der Macht der privaten Kolonialherren zu entziehen. Die englischen Kolonien hatten im Siebenjährigen Krieg den Kampf des Mutterlandes gegen Frankreich unterstützt, nicht zuletzt, da sie von ihm profitierten. Zugleich führte der amerikanische Kriegsschauplatz erstmalig zu einer intensiven Beschäftigung des britischen Parlaments mit seinen dortigen Kolonien. Nach Ende des Krieges versuchte das Unterhaus, die großen Kosten wenigstens teilweise an diese abzuwälzen. Das war der Hintergrund des Sugar Act und des berühmten Stamp Act, die den Widerstand der Kolonisten provozierten und den Anlass zur Bildung der Formel „no taxation without representation" oder „taxation without representation is tyranny" lieferten. Diese Formel ging auf Daniel Gookin (16121687) zurück, Sprecher der Gesetzgebungskammer von Massachusetts und Verfechter allgemeiner Rechte (Pitkin 1967, 3). Der Konflikt führte dazu, dass innerhalb weniger Jahrzehnte die Amerikaner ihr politisches und ideologisches Verhältnis zum britischen Mutterland überprüften und schließlich verwarfen. Daher galt es, sich nach neuen Vorbildern umzuschauen, um für den gewaltigen Schritt der Republikgründung Orientierung zu finden. Bei der kritischen Sichtung und Prüfung der ideengeschichtlichen Vorbilder konnte man nicht zuletzt in der britischen politischen Kultur Vorbilder werden. Keine Öffentlichkeit übte eine freiere Selbstkritik des politischen Systems als die englische. Die politische Satire und Publizistik von Jonathan Swift und Daniel Defoe oder die grundsätzliche Kritik am Parteiensystem und der königlichen Ämterpatronage gab den Amerikanern, die diese Literatur intensiv studierten, sowohl Munition für ihre eigenen Kritik an der britischen Regierung wie auch Angaben darüber, in welchen Bahnen eine Alternative zum politischen System der Monarchie gesucht werden konnte. Was im 17. Jahrhundert als Republikanismus etabliert worden war, verstetigte sich im 18. Jahrhundert in einer Vielzahl von Schriften und Journalen, die entweder in unmittelbarem Anschluss an James Harrington ihre Argumente formten - die „Neo-Harringtonians" von Henry Neville bis Robert Molesworth und John Toland (Robbins 1959; Fink 196) - oder aber die Idee freiheitlicher Verfasstheit der politischen Ordnung adaptierten und die bestehende Praxis kritisierten - so besonders John Trenchard und Thomas Gordon, die vom November 1720 bis Dezember 1723 Cato's Letters: or, essays on Liberty, Civil and Religious, and other important subjects herausgaben. Exemplare von Harringtons Oceana fanden sich etwa in sieben Prozent der vorrevolutionären privaten und öffentlichen Bibliotheken in Amerika, klassisch-republikanische Arbeiten wie Algernon Sidneys Discourses on Government sogar in einem Viertel und Ca to 's Letters schließlich wiesen eine Präsenz von 40 % auf (Cress 1979, 53). Trotz der Rebellion behielt die britische Verfassung Vorbildcharakter für die Amerikaner. Die Perspektive des heutigen Verfassungsstaates verleitet dazu, den Ausdruck „Verfassung" auf das geschriebene Verfassungsdokument einer politischen Ordnung zu beschränken, so dass Staaten wie Israel und weiterhin Großbritannien als Ausnahmen gelten, da sie nur „ungeschriebene" Verfassungen haben. Doch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts galt Großbritannien geradezu als Inbegriff einer auf der Grundlage von Fundamen-

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talnormen ausgeübten Gesetzesherrschaft. Der Schweizer Jean Louis de Lolme (17411806) sprach auch ganz selbstverständlich in seiner La Constitution d'Angleterre (1771) von der britischen „Verfassung". Bis zur Gründung der USA herrschte nämlich der aristotelische Begriff der Verfassung im Sinne von „politeia" und in Aufnahme des römischen Begriffs der „constitutio" im Sinne von „Grundlegung". Von der Idee der Mischverfassung (constitutio mixta) bis zur „ancient constitution" in der englischen Debatte des 17. Jahrhunderts kennzeichnete der Begriff „Verfassung" die grundlegenden normativen und institutionellen Merkmale einer politischen Ordnung. Bezugspunkte konnten dabei Dokumente wie die Magna Charta oder auch die Geschichte selbst sein. Der aristotelische Begriff blieb über Hegel bis zu Ferdinand Lassalle präsent, der die Verfassung unabhängig vom Verfassungstext als Inbegriff der „tatsächlichen Machtverhältnisse" definierte (Über Verfassungswesen 1862). De Lolme veröffentlichte 1775 eine englische Fassung und wurde damit für die Amerikaner zu einem wichtigen Referenzautoren. Die Bezüge zur britischen Verfassung waren in den offiziellen Debatten der politischen Anführer der Kolonisten häufig. Auf dem Kontinentalkongress vom September 1774 erwähnte eine Delegation des Suffolk County in Massachusetts die britische Verfassung als Grundlage ihrer Ansprüche, stellte ihnen aber auch Pflichten gegenüber Gott und ihrem eigenen Land, die Rechte und Freiheiten an spätere Generationen weiterzureichen, an die Seite {Journals of the Continental Congress, ed. Ford I 33). James Wilson sagte im gleichen Jahr, dass das Glück (happiness) der Menschen das Ziel einer jeden Regierung sein müsse und dies auch für das Britische Parlament gelte, wenn dessen Gesetze Anspruch auf Legitimität erheben wollen (Considerations on the Nature and Extent of the Legislative Authority of the British Parliament 1774, Works II 723-724). Die Kolonisten reklamierten die Rechte des Engländers, die sie einer idealisierten britischen Verfassung entnahmen, wie sie die Kommentare von William Blackstone vermittelten (Commentaries 1765-69). Schließlich besaßen die amerikanischen Kolonien bereits vor dem Unabhängigkeitskrieg vielfache Erfahrungen mit Verfassungsgebungen. Schon die königlichen Charters des 16. oder 17. Jahrhunderts unterliefen diverse Verfassungsrevisionen, wozu eigens Verfassungskonvente einberufen wurden. In Massachusetts beispielsweise war eine königliche Charter von 1691 in Kraft, welche die innere politische Ordnung regelte und im Massachusetts Government Act von 1774 (gedacht als Einschränkung der amerikanischen Freiheit zur Selbstorganisation) noch einmal verändert worden war. Die maßgeblichen Persönlichkeiten des Unabhängigkeitskampfes griffen nun ihrerseits auf der Suche nach einer Verfassung ganz unbefangen auf die königliche Charter zurück. Dagegen erhoben sich allerdings weit vernehmbare Stimmen aus dem Hinterland von Boston. Mit der Unabhängigkeit von England fiel die Legitimität der verfassungsgebenden Gewalt des englischen Königs und damit auch die der Charter selbst weg. Besonders historische Vorbilder prägten die weiteren Verfassungsdiskussionen. 1765 äußerte John Adams (1735-1826), später Präsident der USA, man solle das Naturrecht, den Geist der britischen Verfassung und die Verfassungen Athens und Roms studieren (Reinhold 1984, 96). Zur Begründung gab er an, man könne zwar einen allgemeinen Fortschritt der Menschheit seit der Antike konstatieren, nicht aber in der politischen Theorie. Die Kenntnis der Prinzipien, wie eine freiheitliche Regierung zu gründen ist, habe ihre Gültigkeit seit über drei Jahrtausenden beibehalten. Adams Einfluss war groß (Seilers 1994, 33-40), seine Kritik der

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griechischen Stadtstaaten hatte Gewicht. Auch Alexander Hamilton verurteilte die griechischen Stadtstaaten scharf und stellte sie in Kontrast zu Vernunft, Freiheit und Ordnung (The Continentalist No. 1, Juli 1781, zitiert Reinhold 1984, 111). Dagegen genossen das republikanische Rom und Sparta Vorbildstatus (Rawson 1991, 368). Sparta wurde von der weit verbreiteten Lykurg-Biographie Plutarchs vermittelt. Es gab aber auch Gegenstimmen (Reinhold 1984, 111): Charles Pinckney kritisierte den Militarismus der Spartaner und Hamilton machte sich über den spartanischen Lebensstil lustig. Nur in der Wertschätzung des republikanischen Roms war man sich einig, was vor allem mit Montesquieus Lob zu tun hatte. Man muss also von einer regelrechten Debatte um die richtige Rezeption sprechen, in welcher am Ende Rom obsiegte, wie schon die vielen symbolischen Anlehnungen der USA dokumentieren (Seilers 1994, 11-19): das Siegel, die Amts- und Institutionsbezeichnungen (Capitol, Senat). Befürworter wie Gegner der Union bedienten sich in den publizistischen Deutungskämpfen antikisierender Pseudonyme wie Brutus, Publius, Cicero, Civis, Cato, Cassius oder Cincinnatus (Seilers 1994). Obwohl Montesquieu kein Republikaner war, forderte seine Rezeption die Verbreitung des republikanischen Geistes. Seine Objektivität galt gerade wegen seiner eher aristokratischen Neigung als besonders verlässlich (Levin 1936, 68-70; Stourzh 1970, 63-75; Foner 1976, 158-160; Reinhold 1984, Kap. 5). Die Amerikaner standen nicht vor dem Problem, eine bestehende Monarchie und die adlige Tradition in die Gründung ihrer politischen Ordnung integrieren zu müssen. Die Radikalität Rousseaus wirkte hier eher abschreckend, die Moderation und die Befürwortung der Repräsentation bei Montesquieu dagegen vorbildhaft (Spurlin 1940). Montesquieus (ebenso wie Rousseaus) These von der Unvereinbarkeit einer Republik mit großem Territorium schärfte das Problembewusstsein der Amerikaner, die Bedingungen der Möglichkeit einer Republik genauestens zu bedenken. Obwohl Montesquieu weder eine geschriebene Verfassung noch die Probleme der Verfassungsgebung behandelte, war er für die revolutionären Verfassungsgeber die erste Referenz (Shklar 1987, 111-126). Schließlich darf nicht die politische Praxis kolonialer Selbstverwaltung vergessen werden (Pole 1983). Diese Erfahrungen bestimmten ihren Zugriff auf das ideengeschichtliche Material. Alle bedeutenden Theoretiker der Amerikanischen Revolution waren zugleich aktive Politiker, die meisten erwarben legislative und administrative Kompetenzen bereits in der vorrevolutionären Zeit. John Adams war Abgeordneter im Repräsentantenhaus von Massachusetts gewesen, Mitverfasser ihrer Verfassung, Gesandter des im Unabhängigkeitskampf befindlichen Amerika in den Niederlanden und in Frankreich, erster Botschafter Amerikas in Großbritannien nach der Erringung der Unabhängigkeit, acht Jahre Vizepräsident unter Washington und schließlich der zweite Präsident der USA. Thomas Jefferson formulierte nicht nur die Unabhängigkeitserklärung, er war zuvor in der Legislative Virginias erprobt, Gouverneur seines Heimatstaates gewesen und wurde später selbst Präsident der USA. Hamilton, Jay und Madison waren als Autoren der Federalist Papers wortgewaltige Vertreter des Verfassungsprogramms in der heiklen Ratifizierungsphase im Bundesstaat New York, Hamilton war einer der Delegierten auf dem New Yorker Ratifizierungskonvent. Diese biographischen Hintergründe zeigen bereits, dass hier nicht Theoretiker in das Geschäft der politischen Praxis einstiegen, sondern Praktiker auf das Reservoir der Ideengeschichte Zugriffen. Alle nahmen später hochrangige Ämter in der jungen Republik ein. Die akademische Ausbildung dieser Revolutionäre verrät schließlich einen weiteren Bezugspunkt ihrer ideengeschichtlichen Rezeption: die Schottische Aufklärung, die an den amerikanischen Colleges Generationen künftiger Revolutionäre gelehrt wurde (Fleischacker 2003). Thomas Jefferson

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studierte am 1693 gegründeten William and Mary College in Williamsburg/Virginia. Der erste Präsident dieses Colleges war der Reverend James Blair gewesen, ein Schotte vom Marischal College in Aberdeen, der viele Schotten als Lehrpersonal anstellte, darunter Jeffersons Lehrer William Small (Turnbull 1996). Die Besonderheit des amerikanischen Diskurses lag darin begründet, dass wie selten zuvor die Debatte ihren prägnanten Ausdruck in zwei Dokumenten fand: der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der Verfassung von 1787. Mit der ersteren ist kein Name so eng verbunden wie der von Thomas Jefferson. Thomas Jefferson (1743-1826) begann seine Laufbahn 1768 mit der Wahl zum Virginia House of Burgesses und seine publizistische Karriere mit dem zunächst anonym erschienenen Summary View of the Rights of British America (1774). Neben Montesquieu, zu dem er umfangreiche Exzerpte in seinem Commonplace Book verfasste (Chinard 1925), waren der englische Republikanismus und die Schottische Aufklärung Quellen seines Denkens (Carrithers 1982). Montesquieus Einfluss auf seine Argumentationsweise zeigte sich beispielsweise an der Populationsfrage. Obwohl die Kolonien grundsätzlich an dem Zuzug von Einwanderern interessiert waren, gab Jefferson zu bedenken, dass Einwanderer aus Europa die Erfahrung und den Geist des Lebens in absoluten Herrschaften mitbrächten. Ihre Konfrontation mit dem ganz anderen Geist Amerikas könne zu Problemen führen, und zwar für diese selbst wie für die Funktionsfahigkeit der amerikanischen Selbstregierung (Notes on the State of Virginia 1787-1788, query 8: Populations). Jefferson wirkte entscheidend an der Abfassung der Declaration of Independence vom 4. Juli 1776 mit, dem normativen Gründungsdokument der USA (Wills 1978; Pauline Maier 1997; Jayne, 1998). Noch zwei Jahre zuvor legitimierten die Amerikaner in der Deklaration des Kongresses der Amerikanischen Kolonien vom 14.10.1774 die beanspruchten Rechte umständlich aus einer Vielzahl von Quellen; genannt wurden neben dem Naturrecht die englische Verfassung sowie die Charters und Compacts der Kolonien. Die Unabhängigkeitserklärung dagegen legte ihr eigenes Fundament, indem sie zahlreiche der von den Amerikanern rezipierten Fäden zu einem neuen Knoten verknüpfte. Gleich im Eröffnungssatz „We hold these truths to be seifevident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights, that among these are life, liberty and the pursuit of happiness" brachte sie ihr politisches Credo zum Ausdruck. Die Erklärung fiel aber nicht vom Himmel. Jeffersons erster Entwurf wurde an vielen Stellen verändert. Jefferson wandte sich ursprünglich deutlich polemischer gegen England. Die Stellung der Religion war ambivalent gehalten: Einerseits fügte der Kongress die Formel „divine Providence" hinzu, was Jefferson nicht vorgesehen hatte, andererseits veränderte Benjamin Franklin eine der berühmtesten Stellen in diesem Dokument (Himmelfarb 2004, 204): Dort, wo Jefferson formulierte „We hold these truths to be sacred and undeniable", gab Benjamin Franklin dem Text seinen klassischen Schliff mit der Sentenz „We hold these truths to be self-evident." Das Pathos war nicht singulär, wie wenige Tage zuvor die Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776 zeigte, die in ihrem ersten Artikel erklärt hatte, dass alle Menschen von Natur aus frei und unabhängig seien (Pauline 1997, 165). Die Unabhängigkeitserklärung schuf sich ihre eigene Geltungsgrundlage, indem sie auf die Zustimmung jener rekurrierte, die ihre Aussagen „für wahr und selbstevident" hielten. Anders als vergleichbare Dokumente, die auf die Vergangenheit verwiesen, etwa auf alte Freiheiten oder alte Gesetze, wurde hier Verbindlichkeit aus eigener Gestaltungskraft geschaffen, der Blick war auf die Zukunft gerichtet. Das gab dieser Erklärung als Gründungsdokument

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ihr Gepräge und initiierte damit die Rhetorik des Verfassungsstaates, der sich mit Hilfe einer Verfassung das Fundament gab, auf dem die Republik erst zu errichten war (Arendt 1965, 277). Auffallig ist, dass nach der Erwähnung von Freiheit und Gleichheit nicht - wie in der Locke'schen Trias - Eigentum folgte, sondern der „pursuit of happiness." Noch zwei Jahre zuvor nahm in der Deklaration des Kongresses der Amerikanischen Kolonien das Eigentum diesen Platz ein. Vermutlich stand eine Passage in Blackstones Kommentaren zur britischen Verfassung Pate (Commentaries 1765, I 41), was nahe legt, dass auch hier ein deistisches Gottesbild im Hintergrund stand und den quasi göttlichen Auftrag des Menschen ansprach, sein (individuelles) Glück zu suchen. Andererseits hatte zuvor die Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776 bereits ähnliche naturrechtliche, unveräußerliche Grundrechte erklärt (section 1), die sowohl Glück wie auch Eigentum umfassten. Das war dann das Vorbild nicht nur fur die der Unionsverfassung von 1787 nachträglich angefügte Bill of Rights, sondern auch für die französische Menschenrechtserklärung. In dieser Zeit wurden an mehreren Orten Amerikas Unabhängigkeitserklärungen mit lokalem Geltungsanspruch formuliert (Pauline Maier 1997, 226-234), die eine vergleichbare Sprache verwendeten. Die Rechteerklärung hatte eine politische Stoßrichtung, die gegen Großbritannien zielte; als normative Selbstbindung der Republikgründer kollidierte sie mit dem Umstand der Sklavenhaltung. Die Verfassung von Virginia, die der Virginia Bill of Rights voranging, verbot zwar nunmehr jede Einfuhr von Sklaven, aber die Existenz von Sklaven wurde nicht in Frage gestellt, das Eigentum der Sklavenhalter nicht angetastet. Es war ein weiter Weg von der Verkündung von Normen, welche die Legitimation für die Revolution darboten, zu ihrer Umsetzung in der eigenen Ordnung (siehe diachroner Abschnitt „Menschenrechte"). Die Verkündung solcher Deklarationen ersetzte auch nicht die Republikgründung. Die eigentliche Aufgabe bestand in der Schaffung einer stabilen politischen Ordnung. Die Rebellion war geglückt, würde auch die Revolution gelingen? Mit Hannah Arendt (1965) zu sprechen muss die in der Rebellion errungene Selbstbefreiung in eine freiheitliche Ordnung übergehen, sonst zerfällt die Freiheit. Freiheit bedarf der Verfassung, um auf Dauer gestellt zu sein und um die mit aller Rebellion einhergehende Anarchie zu vermeiden. Schon die erfolgreiche Führung des Krieges machte eine dauerhafte Selbstorganisation mit einer einheitlichen Exekutive zur Organisation des Kampfes erforderlich. Aber die vom Kontinentalkongress 1777 beschlossenen Articles of Confederation, die nach der Ratifizierungsphase in den Kolonien im März 1781 in Kraft traten, gründeten einen föderalen Verband unabhängiger Staaten, der zwar der Bundesebene einige wichtige Kompetenzen zusprach, ihr aber wenige Instrumente in die Hand gab, sie auch effektiv auszuüben. Die Kolonien behielten ihre Souveränität und versicherten sich ihrer gegenseitigen Freundschaft (Article II und IV). Diese Form der Gewaltenteilung unter Beibehaltung der einzelstaatlichen Souveränität erwies sich im Unabhängigkeitskampf als zu schwerfallig. Noch während des Krieges und sogleich nach dem Sieg setzte die Diskussion über eine neue Verfassung ein, zentriert um die Frage, ob eine starke, von den Einzelstaaten relativ unabhängige Zentralgewalt nötig sei. Neue Partizipationsforderungen wurden laut. In einer Eingabe der Farmer von Spencer hieß es (bei Palmer 1970, 242), das große Geheimnis des Regierens sei, alle durch alle zu regieren. Die Idee einer gänzlich neuen Verfassung an Stelle einer Revision griff John Adams auf und legte einen neuen Verfassungstext vor (1779). Er setzte die Idee des Gesellschaftsvertrages in eine konkrete Verfassung um und legte in seinem Entwurf der Präambel fest, dass der zu bildende „body politic" aus einer willentlichen Assoziation von Individuen bestehe, die in einem „social compact" die Verpflichtung eingingen, nach Gesetzen regiert werden zu wol-

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len, welche das Gemeinwohl formulierten (Report of α Constitution, Works ed. Adams IV 219). Die gegenseitige Verpflichtung der Bürger zur Formung eines politischen Körper war inspiriert vom Contrat Social Rousseaus, den Adams bereits 1765 gelesen hatte. Der individuelle Grundzug, die Orientierung auf das durch Gesetze zu erzielende Gemeinwohl, dem dann an einzelnen Stellen das individuelle Wohl unterstellt werden muss, und die Erwähnung der Tugend als dem wichtigsten Medium dieser Vermittlung von einzelnem Interesse und Gemeinwohl zeugen von dieser Rousseaus-Rezeption. Die deutlichste Abweichung von Rousseau war die fast überall offensichtliche Präferenz für die Gewaltenteilung, und zwar selbst innerhalb der Legislative. Die meisten Amerikaner bevorzugten den Bikameralismus, das Zweikammersystem innerhalb der Legislative. Die Rousseausche Idee des Allgemeinwillens fand dagegen ihren institutionellen Ausdruck in einer unikameralen Legislative, was die französischen Revolutionäre übernahmen. 1778 kritisierte Anne-Robert-Jacques Turgot, der letzte (und gescheiterte) Reformer des ancien regime die Amerikaner fur ihren Bikameralismus (Letter to Dr. Price, in: Price, ed. Peach 218-219). Die Verfassungen der amerikanischen Einzelstaaten wurden in Frankreich schon vor Ausbruch der Revolution mehrfach abgedruckt (Receuil des lois constitutives des colonies anglaise, transl. C.-A. Regnier, 1778 und eine annotierte Sammlung von La Rochefoucauld aus dem Jahr 1784). Besonders die Verfassungen der vielleicht bedeutendsten Einzelstaaten Amerikas, Virginia und Massachusetts, zeigten die Vorliebe für zwei legislative Kammern (anders die Verfassung von Pennsylvania, die eine unikamerale Struktur vorsah). Turgots Kritik löste eine Kontroverse aus, in welcher Adams mit der umfangreichen Diskussion bestehender und vergangener Verfassungen das amerikanische republikanische Vorhaben verteidigte (Defence of the Constitutions of Government of the USA 1787-1788). Adams zeigte am Beispiel der Niederlande und der Schweiz, dass die institutionelle Gewaltenteilung innerhalb der Legislative zu den Gepflogenheiten freiheitlicher Verfassungen gehörte. Im Faktionalismus der griechischen Städte (Kap. 41) sah er freilich ein unheilvolles Beispiel dafür, was sich in den intensiven Debatten um die amerikanische Verfassung abzeichnete. Die französische Überlegung, die Souveränität des Königs einfach auf das Volk als „einzigem und unteilbaren" Körper zu übertragen, löste bei Amerikanern größte Bedenken angesichts einer solchen Machtkonzentration aus. Im Virginia der Zeit vor 1776 beispielsweise war die Gewalt bei der Legislative konzentriert, die den Gouverneur als ihre exekutive Spitze wählte. Thomas Jefferson nannte dies in Notes on the State of Virginia (1787/88) „elective despotism" (Kap. 13); sie zu verhindern war der Sinn des Bikameralismus. Der Verfassungskonvent in Philadelphia nahm am 17.9.1787 eine neue Bundesverfassung an, deren politisches System durch eine Mischung von präsidentieller Exekutivmacht und strenger Gewaltenteilung gekennzeichnet war. Nun begann die Phase ihrer Ratifizierung in den Einzelstaaten, begleitet von einer intensiven Debatte über die Vorzüge und Nachteile dieser Verfassung. Die Frage war, was eine republikanische Regierung auf der Bundesebene bedeutete und in welchem Verhältnis der Bund zu den Einzelstaaten stand. War die Union ein eigener politischer Körper, verbunden durch eine selbständige Exekutive, oder beschwor die Bildung einer solchen Zentralkompetenz eine neue Gefahr für die Freiheit herauf, zu deren Schutz größere Kompetenzen der Einzelstaaten nötig seien? Diese Frage trennte die beiden großen publizistischen Lager, die in der Forschung „Federalists" und „Anti-Federalists" genannt werden (Wootton 2003). Die Federalists nannten sich zwar so (berühmt vor allem die Autoren der Federalist Papers), aber sie waren die erklärten Anhänger der neuen Zentralgewalt. Die Anti-Federalists hingegen waren erklärte Anhänger eines losen Staaten-

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bundes (Duncan 1994; Dry 2003). Sie unterlagen in der Ratifizierungsdebatte (Siemers 2002) und sind praktisch nur noch für die Geschichte des politischen Denkens jener Zeit von Interesse (vgl. aber Lienisch 1983), die Federalists dagegen siegten und beeinflussten die Deutungsgeschichte Amerikas nachhaltig. Vom August bis zum Dezember 1786, im unmittelbaren Vorfeld der Verfassungsdebatte, kam es zu einer Rebellion in Massachusetts, die nach einem ihrer Anführer als Shay's Rebellion in die Geschichte der USA einging. Ein für sich betrachtet regionaler Konflikt unzufriedener Farmer über die rapide Verschlechterung ihrer ökonomischen Verhältnisse und die Zunahme an Zwangsversteigerungen wegen der Unnachgiebigkeit der Gläubiger bekam überregionale Bedeutung, stand hier doch plötzlich die alarmierende Frage im Raum, ob die Republikgründung nicht der Anarchie Tür und Tor öffnete. Zwei konträre Reaktionen zeichneten sich ab. Auf der einen Seite stand Thomas Jefferson, der vor Übertreibungen warnte. Er wünschte keine zu hohe Strafe für die Rebellen und sah sogar Vorteile einer Rebellion. Aufstände würden sowohl die Regierung wie den Bürgersinn vital halten, Rebellionen seien eine Art Medizin gegen den Niedergang von Regierungen (Brief an James Madison vom 30.1.1787: Portable Jefferson 416-417): Der Baum der Freiheit muss von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Patrioten wie von Tyrannen getränkt werden (Brief an William Stevens Smith vom 13. 11. 1787). Jefferson griff hier Machiavellis Überlegungen zur Erhaltung der Tugend und der Korruptionsprävention auf. Nicht Ruhe und Sicherheit, sondern Herausforderungen sind das Elixier der politischen Freiheit. Jefferson war grundsätzlich davon überzeugt, dass die Güte einer Regierung vom Bürgersinn der Bevölkerung abhängt. Der einzige Freiheitsgarant des Volkes sei das Volk selbst. Dieses müsse die Tüchtigkeit seiner Regierung begutachten und aufmerksam Zerfallserscheinungen beobachten. Thomas Jefferson warnte die Amerikaner davor, die Verfassung wie eine „Bundeslade" zu behandeln und sie gegen Einwände künftiger Generationen zu immunisieren (Brief an Samuel Kercheval vom 12. Juli 1816: Portable Jefferson 558-559). Nicht die Verfassung, sondern der Gemeingeist der Bürger verbürge die Freiheit: Ist dieser stark, wird er selbst einen Despoten verpflichten können, das Volk auf republikanische Art zu regieren (ebda. 555). Fehlt er jedoch, wird auch der beste Verfassungstext diesen Mangel nicht kompensieren können. Jefferson erwog sogar, die Verfassung von Generation zu Generation aufs neue zur Abstimmung vorzulegen, um nötige Verfassungsänderungen zu erlauben. Davon nahm er nur die Menschenrechte und die Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung aus. Jefferson legte konsequenterweise auf die Erziehung der Bürger, auf „public education" größten Wert (Rahe 1992, 701-705; Gilreath 1999). Der Plan für eine solche „public education" war das Herzstück seines Modells eines Staates von Virginia in den Notes ort the State of Virginia (1787/88). Die beste Erziehung zum Bürgersinn sei aber die politische Praxis selbst, weshalb Jefferson unterhalb der repräsentativen Ebene der Abgeordneten immer die Bedeutung kommunaler Selbstregierung in den lokalen Zusammenkünften der townships hervorhob. Jefferson war kein repräsentativer Anti-Federalist; allerdings griff die spätere Opposition zu Washingtons erster Präsidentschaft Wahlsprüche führender Anti-Federalists auf, und aus dieser Opposition ging dann die demokratische Partei Jeffersons hervor. Er blieb die Bezugsfigur des „democratic localism," der dem „democratic nationalism" gegenüberstand - beide Richtungen ringen bis in unsere Gegenwart um Einfluss in der politischen Kultur der USA (Lind 1997). Der „democratic nationalism" nahm seinen Ausgang bei Alexander Hamiltons, einem der Autoren der Federalist Papers.

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Papers

Eine andere Reaktion auf Shay's Rebellion bestand in der Forderung, die Union als Ordnungsgewalt sowohl nach innen wie nach außen zu verstehen. Die wichtigsten Befürworter waren Hamilton, Jay und Madison. Sie waren die Autoren der Federalist Papers, einer kurz nach Shay's Rebellion einsetzenden Artikelserie, die den zur Ratifikation vorliegenden Verfassungsentwurf verteidigte und zugleich eine Art Kollektivkommentar vorlegte, der bis in unsere Tage hohe Autorität genießt. Diese Artikelserie erschien vom Oktober 1787 bis zum Mai 1788 in New Yorker Zeitungen wie dem Independent Journal oder dem The New-York Packet unter dem Pseudonym „Publius". Alexander Hamilton, James Madison und John Jay hatten im Unabhängigkeitskampf Meriten erworben und waren überregional bekannte Politiker. Alexander Hamilton (1755/57-1804) kam ursprünglich von der Westindischen Insel Nevis, machte aber im Staate New York Karriere. Er war der Adjutant und Privatsekretär Washingtons gewesen, des Oberbefehlshabers der amerikanischen Unabhängigkeitsarmee und späteren ersten Präsidenten der USA. Hamilton gehörte dem Philadelphia-Konvent an, war also an der Entstehung des Verfassungsentwurfes beteiligt. Er wurde unter der neuen Verfassung Finanzminister unter Washington und Generalinspekteur der Armee. Den Riten eines Gentleman folgend starb er an den Folgen eines Duells. James Madison (1751-1838) war wie Jefferson gebürtiger Virginier und war Delegierter auf dem Philadelphia-Konvent. Er wurde später Außenminister in der Präsidentschaft Thomas Jeffersons und war 1809 bis 1817 schließlich selbst Präsident. John Jay (1745-1829) war Anwalt und Außenminister der Konföderation, unter der neuen Verfassung Chief Justice des Verfassungsgerichts. So vielfach politisch erprobt, beschäftigten sich die Autoren der Federalist Papers mit der Grundsatzfrage, was die Bedingungen der Möglichkeit der verfassungsstaatlichen Republik seien. Ihre erste Antwort fiel eindeutig aus: nicht das persönliche Glück oder das Eigentum als solches, sondern die Tugend. Madison beispielsweise rückte 1788 auf seiner Rede vor dem Ratifizierungskonvent von Virginia die Tugend in den Mittelpunkt, und zwar in ähnlicher Weise wie Jefferson: Ohne Tugend wird auch das klügste Regierungsmodell nicht die Freiheit sichern, ohne Tugend sind Freiheit wie Glück nur „chimärische Ideen" (Rede vom 20. Juni 1788, ed. Ketcham 2006, 157). „Tugend" brachte freilich mehrere Vorstellungen semantisch zusammen: den zur Selbstregierung erforderlichen Gemeinsinn, der ähnlich wie wenig später in Frankreich auch „Patriotismus" genannt wurde, ferner die Resistenz gegenüber allen möglichen Formen der Korruption und schließlich die Fähigkeiten, die zur Selbstregierung nötigen Ämter ausüben zu können. Der Gemeinsinn war angesichts des blutigen Unabhängigkeitskampfes unmittelbar einsichtig, war doch der Krieg in der republikanischen Argumentation die klassische Bewährungsprobe der Tugend, die hier die Aufopferung des Lebens für die gemeinsame Sache meint. Zu den Formen der Korruption zählte der Missbrauch der Macht zur Verfolgung eigennütziger Ziele. Am Ende der republikanischen Tradition stehend (Pocock 1975), lautete die Frage weniger, ob Tugend erforderlich sei als vielmehr, was ihre Quelle sei und in welchem Umfeld sie gedeihen kann: garantiert die Unabhängigkeit des Farmers im Vergleich zum profitorientierten Händler die Tugend, wie es viele Autoren der Anti-Federalists betonten oder sind es die politischen Institutionen? Ist Tugend eine persönliche Charakterfrage, die mit dem Lebenswandel zu tun hat, oder erwächst die Tugend aus dem institutionellen Umfeld der politischen Tätigkeit? Im Unterschied zu Jefferson sahen die Autoren der Federalist Papers eine enge Wechselbeziehung zwischen Tugend und Institutionen. Die magistratische Macht muss so gestaltet sein,

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dass sie Tugend abverlangt. Im 55. Federalist machte Madison seine Auffassung klar, dass selbst dann, wenn alle Bürger Athens tugendhaft wie Sokrates gewesen wären, die Einrichtung der gesetzgebenden Versammlung Athens ihre Teilnehmer in einen Pöbel verwandeln musste. Die Federalists setzten die Theorie des politischen Institutionalismus fort (Grofman/Wittman 1989), die ihre Vorbilder bei Machiavelli, Giannotti und Harrington fand (Riklin 1997, 49; Bader 2000, 200). Erneut war es das republikanische Rom, das vor dem demokratischen Athen den Vorzug erhielt {Federalists No. 1; 9; 37; 70). Besonders Madison verteidigte die Repräsentation gegen alle Forderungen nach direkt-demokratischen Abstimmungen (Federalist No. 10; Matthews 1995). Ferner vertrat er die legislative Gewaltenteilung von Senat und Repräsentantenhaus (No. 48, 10 und 51). Der Gedanke der Repräsentation war laut Madison den antiken Autoren keineswegs unbekannt gewesen; der Unterschied zur Antike liege aber im Ausschluss der direkten Demokratie (Federalist No. 63). Die große Bevölkerungszahl und das gewaltige Territorium des zu gründenden Staates widersprachen bekanntlich der klassischen republikanischen Idee. Doch was zuvor als Problem galt, legten die Federalist Papers als Vorzug und Chance aus: die Größe ermögliche Tugend. Bereits Hume hatte behauptet, dass die Größe eines Landes die Hemmung der privaten Interessen verbürge und dem public interest förderlich sei {Idea of Perfect Commonwealth 528). Madison arbeitete im berühmten Federalist No. 10 das Hume'sche Argument zu einer institutionellen Theorie aus. Zwar sei die Existenz von Faktionen im Grunde schädlich, aber ihre Vielzahl depotenziere die Gefahr. Ihre Vielzahl ist immerhin Ausdruck der Freiheit: Alle Bemühungen um die Homogenisierung der Interessen mit dem Ziel der Konfliktvermeidung erscheinen nicht nur unwahrscheinlich, sondern auch als Freiheitseinschränkung. Daher müssen die Faktionen toleriert werden, nur gilt es, ihrer missliebigen Effekte Herr zu werden. Das gelingt am ehesten durch die Vervielfältigung der Faktionen: so lange es viele von ihnen gibt, werden sie sich gegenseitig in Schach halten. Die Vielfalt der Faktionen ist eher in einem großen Land zu erwarten, wo das Faktionsproblem daher leichter zu bewältigen ist als in einem kleinen Land. Mit der Größe des Landes wächst die Vielzahl der politischen Interessengruppen, so dass sich die Ambitionen der Akteure gegenseitig in Schach halten können (Richter 1994, 76-94). In diese Logik fugt sich auch die Unterstützung der Gründung von politischen Parteien, wie sie Madison selbst maßgeblich motivierte. Im Spannungsverhältnis von legislativer Gesetzesherrschaft und exekutivischer Amtsgewalt mit Ermessensfreiheit standen die Autoren der Federalist Papers eindeutig auf Seiten der Regierungsgewalt. Die Verfassung war ein Kompromiss beider Auffassungen (Ketcham 1993, 38-45, 165-172): Article 1 Section 9 verbietet der nationalen Regierung die Suspendierung der individuellen Rechte, wogegen Article 1 Section 8 ihr zahlreiche Kompetenzen zur Sorge um das Gemeinwohl verleiht. Hamilton betonte den engen systematischen Zusammenhang von Regierungsgewalt und Freiheit {Federalist No. 1). Die Furcht vor jeglicher Gefahrdung der Rechte des Volkes sei oftmals von Demagogen missbraucht worden, als „Köder zu Lasten des Gemeinwohls". Nicht die Befürworter einer handlungsfähigen Regierung bezeichnete er als Feinde der Freiheit, sondern die selbsternannten Schützer der Demokratie, welche die Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit verkennen würden. Dazu gehöre der Ermessenspielraum einer Regierung mit entsprechender Kompetenzfülle. Der Wunsch, die Freiheit zu sichern, dürfe nicht zur unnötigen Einschränkung der Handlungsfähigkeiten der Regierung führen. Für die Autoren der Federalist Papers boten die Articles of Federation das Musterbeispiel für den fehlgeschlagenen Versuch, eine Idee angemessen umzusetzen. Diese lebte aus dem

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Wunsch, eine Alternative zur despotisch gescholtenen Herrschaft Großbritanniens zu schaffen, doch war es gerade um der Freiheit willen erforderlich, eine Zentralgewalt zu bilden. Die Unionsregierung als Ziel der Verfassung an Stelle der Unabhängigkeit der Einzelstaaten zu sehen markierte den Gegensatz zu den Anti-Federalists (Siemers 2002). Je stärker die Stellung der Unions-Regierung war, desto geringer fiel die Unabhängigkeit der Einzelstaaten aus. John Dickinson (.Fabius-Letters No. 4-6) wünschte sich ebenso wie Noah Webster oder John Wilson lieber ein zwar energisch geführtes, aber doch in seinen Kompetenzen deutlich limitiertes Präsidentenamt (Sheehan/McDoewell 217-230). Die Federalist Papers konterten, dass die gewünschte Führungsenergie (leadership) bestimmte Entscheidungskompetenzen voraussetze. Entschlusskraft in der Exekutive und eine unabhängige Richterschaft standen bereits vor Abfassung der Federalist Papers im Zentrum von Hamiltons politischem Denken (Stourzh 1970). In einer während des New Yorker Ratifizierungs-Konventes entstandenen Notiz (bei Flaumenhaft 1992, 189-190) schrieb Hamilton, die Repräsentanten müssten von den aktuellen, meist emotional geprägten Willensäußerungen der Bürger verhältnismäßig unabhängig sein, um ihr Amt tugendhaft ausüben zu können. Man müsse nicht nur die Besten auswählen, sondern dafür Sorge tragen, dass sie im Amt tugendhaft agieren könnten (Madison, Federalist No. 57). Hamilton wurde deswegen damals der Vorwurf gemacht, er sei ein Anhänger der Monarchie, zumal er vorschlug, die Amtsdauer des Präsidenten faktisch auf Lebenszeit zu erheben (allerdings mit der Möglichkeit seiner vorzeitigen Abberufung). Seiner Ansicht nach bestand ein Zusammenhang zwischen der Auslese durch die Wahl und der Pflichterfüllung im Amt, sofern die Wähler auf die Gesichtspunkte acht gäben, die hierzu erforderlich seien. Jede Klage über die Verselbständigung und Unfähigkeit der politisch Verantwortlichen werfe daher immer auch ein Licht auf die offenbare Unfähigkeit der Bürgerschaft, das richtige Personal aus-zuwählen. Für Madison war die Existenz von Regierungen die institutionelle Antwort darauf, dass die wenigsten Menschen zur Selbstregierung imstande seien, Freiheit vielmehr magistratischer Macht bedarf. Wären Menschen Engel, bedürfte es keinerlei Regierung (Federalist No. 10). Auch Hamilton ging davon aus, dass ohne Zwang die Vernunft nicht gegen die Leidenschaften ankomme (Federalist No. 15). Daher könne man weder die Rechte der Regierung noch die Rechte der Bürger voneinander isolieren und zu Fragmenten der Verfassung machen. Für Hamilton war die Verfassung im Ganzen eine Bill of Rights (Federalist No. 84). In die gleiche Richtung zielte die Kritik an einer übersteigerten Kompetenz der Verfassungsrichter, einem weiteren Streitpunkt mit den Anti-Federalists (Rahe 1992, 609-614). Aus diesen Gründen findet man in den Federalist Papers auch eine vehemente Befürwortung des Senates, der im Gegensatz zum zweijährigen Turnus des Repräsentantenhauses eine rotierende sechsjährige Amtszeit kennt (Swift 1993). Der Senat ist der Ort für die neuartige Aristokratie, als welche die Autoren der Federalist Papers gerne die Repräsentanten sahen. Sie erachteten das Verhältnis von Amtsträgern und Bürgerschaft jenseits der Kontrollmöglichkeiten durch die Wahl oder der Anklage im Amt im wesentlichen als eine moralische Beziehung. Der hierfür benutzte Ausdruck war „trust", der sich auch in der Formel „the representative trust" wiederfindet (Federalist No. 57). Der Trust-Gedanke ist zentral für das Repräsentations-Konzept der Federalist Papers insgesamt (No. 16, 28, 37,46, 63; 68-70; Haller 1987, 113-114). Doch worauf soll das Vertrauen gegründet sein? Eine Möglichkeit wäre die Gemeinsamkeit der Lebensform. Der Verbreitung des republikanischen Arguments kam das Selbstverständnis des Agrarismus entgegen. Das Bestellen des Landes und der Landbesitz galten als Ele-

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mente jener „politisch-ethischen" Lebensform, die eine sozio-moralische Garantie für Freiheit und Stabilität gab (Reinhold 1984, 98-100; Pocock 1971c). Die Autoren der Federalist Papers, allen voran Alexander Hamilton mit seinen späteren Plänen für den Aufbau einer föderalen Notenbank zeigten dagegen ihr Verständnis für das Handel treibende Großbürgertum mit seinen überregionalen Wirtschaftsinteressen; das war ein gänzlich anderer sozio-moralische Hintergrund. Der Widerstand gegen diese Pläne war sehr groß, gab eine solche Notenbank doch der nationalen Regierung ein effektives Steuerungsinstrument in die Hand, das die Bedeutung der Einzelstaaten mindern musste. So formierten sich die politisch aktiven Handwerker in New York, mit Thomas Paine als einem ihrer Sprecher (Shalope 1990, 139168). Was aus der klassisch republikanischen Sicht ein Zeichen von Korruption war, galt in Hamiltons Augen als Zeichen der Vitalität der Republik. Hamiltons Tätigkeit bereitete dann auch den Aufstieg New Yorks zur führenden Handelsstadt des Landes vor. Generell lässt sich aber ein Wandel der Einstellung bei den meisten Revolutionären nach vollzogener Republikgründung feststellen. Auch der beharrliche Republikanismus Jeffersons wich allmählich einem größeren Verständnis für den Handel treibenden, geldwirtschaftenden Liberalismus des Bürgertums der Großstädte. Ob ein ausgeprägter Wirtschaftsliberalismus immer schon im amerikanischen Republikanismus angelegt war (Banning 1986; Kramnick 1990) oder sich erst mit dem Erfolg der Republik und ihrer ökonomischen Entwicklung einstellte (Pocock 1975, 551-552), ist eine immer noch offene Forschungsfrage. Der Ausbruch der französischen Revolution und das Problem der Repräsentation Die Französische Revolution ist eine der großen Epochenschwellen in der Geschichte. Die Begriffsgeschichte (Brunner/Conze/Koselleck 1972ff.; Reichart/Schmitt 1985ff.) begreift die Französische Revolution überwiegend als Wegscheide des politischen Sprachgebrauchs. Das zeigt sich bereits am Wort „Revolution" selbst. Es gehörte ursprünglich einer Begriffstradition an, die sich mit dem Wechsel der Verfassungen politischer Ordnungen beschäftigte und diesen Wechsel als Wiederkehr und Rückkehr zum verlassenen Ausgangspunkt begreift. Die englische „glorious revolution" von 1688 verstand die Inthronisierung der Oranier samt der Bill of Rights als Rückkehr zu - allerdings größtenteils imaginierten - konstitutionellen Verhältnissen der Zeit vor dem Bürgerkrieg. Erst die Französische Revolution gab dem Ausdruck die Bedeutung einer Staatsumwälzung, die regelmäßig gewalttätig verläuft (Griewank 1973, 189). Das Attribut „revolutionär" wurde zu einem Kernbegriff der politischen Sprache, wie Condorcet meinte (Sur le sens du mot revolutionnaire 1793, Oeuvres XII 615; vgl. Griewank 1973, 191). „Revolution" erhielt eine progressiv-dynamische und zugleich legitimatorische Bedeutung. Ausgangspunkt der Französischen Revolution war jedoch zunächst die Reform des Staates. Angesichts des desolaten Zustandes des französischen Haushalts, letztlich durch den Siebenjährigen Krieg verursacht, berief der König im August 1788 die Generalstände für den 1. Mai 1789 ein, das erste Mal nach dem Jahr 1614. Anders als in der damaligen Ständeversammlung wollte man das ganze Volk in den Reformprozess integrieren und forderte öffentlich dazu auf, Reformvorschläge zu machen. Das hatte praktisch die Etablierung von Meinungsfreiheit zur Folge. Über 2500 Traktate wurden publiziert, ferner Tausende an Beschwerdebriefen (cahiers de doleances). Das Pariser Cahiers war sogar ein Verfassungsentwurf, der zahlreiche Nachahmer fand (Markov 1982,1 53). In Ständeversammlungen der Provinz wurden Reformfragen intensiv beraten, ein umfassender Reformwille der Bevölke-

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rang in allen Ständen wurde deutlich. In dieser Phase taten sich Personen hervor, die später als dominierende Köpfe der Revolution bekannt wurden, darunter Jean-Joseph Mounier und Antoine Barnave, die in der Provinzialständeversammlung der Dauphine brillierten. Große Erwartungen begleiteten die Versammlung der Generalstände. Ihre Delegierten wurden gewählt, was zumindest für die Wahl zum Dritten Stand einen weiteren Schub öffentlicher Partizipation mit sich brachte. Ungeklärt war die Frage, wie der Wahlmodus innerhalb der Generalstände aussehen sollte. Das Pariser Parlement legte fest, dass nach dem alten Verfahren jeder Stand mit einer Stimme abzustimmen hätte. Die Forderung der Abstimmung nach Köpfen dagegen würde dem Dritten Standes die Möglichkeit bieten, Koalitionen mit reformfreudigen Adligen und Klerikern einzugehen. Der König war in dieser Frage wie so häufig unentschlossen. Er verdoppelte schließlich die Mandate des Dritten Standes, beließ es aber bei der Abstimmung nach Ständen. Die Diskussion des Wahlmodus der Generalstände blieb ein vorrangiger Diskussionspunkt. Die Debatte galt zunächst weniger demokratischen oder parlamentarischen Gesichtspunkten als vielmehr der Frage, welcher Stand am ehesten das Anrecht reklamieren konnte, im Namen bzw. im Sinne der vertretenen Gesamtnation zu sprechen. Definierte man die Allgemeinheit nach der Tradition, so war es plausibel, den ersten beiden Ständen: Adel und Geistlichkeit, das größte Stimmgewicht zuzugestehen, ungeachtet ihres proportionalen Anteils an der Bevölkerung. Definierte man aber diese Allgemeinheit nach dem tatsächlichen sozialen und ökonomischen Leistungsvermögen, dann war es ein Widerspruch, ausgerechnet jene Schichten zu privilegieren, die in dieser Hinsicht nichts oder fast nichts leisteten, sondern nur die erbrachten Leistungen konsumierten. Das war der Standpunkt von Emmanuel Sieyes, den er in dem berühmtesten der im Vorfeld der Generalstände veröffentlichten Traktate, Was ist der Dritte Stand, auf die Formel brachte: der Dritte Stand ist die Nation. Die Aufgabe der in Versailles zusammenkommenden Ständeversammlung bestand nach deren allgemein geteilter Einschätzung in der Reform des ancien regime. Selbst viele fortschrittlich gesonnene Akteure wünschten die Rückkehr zu einer idealisierten Urform, in welcher der König im Zentrum stünde, allerdings befreit von den Zwängen, Intrigen und der Korruption des Hofes und einer satten und unproduktiven Adelsschicht, deren Privilegien Unterdrückung und Ungerechtigkeit zur Folge hätten. Auch die öffentliche Meinung war zunächst nicht antimonarchisch. Das landesweite Interesse an den Beratungen der Generalstände motivierte die Gründung zahlreicher Journale und Gazetten, die vom Geschehen berichteten. Die publizistische Öffentlichkeit erreichte vorher unbekannte Ausmaße. Schon in der Zeit der Aufklärung gehörten die Presseorgane zu den wesentlichen öffentlichen Meinungsbildnern, darunter die 1631 gegründete Gazette de France, die eine Art halboffizielles Sprachrohr des Hofes war. Zeitungen wie der Mercure de France oder das Journal de Paris erfreuten sich großer Leserschaft in den gebildeten Kreisen. Das war aber nicht zu vergleichen mit der Explosion an Presseorganen im unmittelbaren Vorfeld der Französischen Revolution. Von Ende Mai bis zum Ende des Jahres 1789 gab es bereits über 150 Neuerscheinungen. Hinzu kamen Zehntausende unterschiedlicher Flugschriften und Pamphlete allein zwischen 1789 und 1791 (Eb. Schmitt 1969, 14-15). Das Publikum dürstete nach Meinungen, Formulierungen, Tendenzen und Ausblicken. Das Informationsbedürfnis über die Vorgänge in der Ständeversammlung und dann besonders in der Nationalversammlung war Auslöser für Zeitungen wie den Point du Jour von Barrere de Biensac, dem Deputierten aus dem Bigorre, die eine erstaunlich zuverlässige Berichterstattung boten. Die meisten waren jedoch von geringer

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Qualität und auch nur kurzlebig, aber sie wurden oft von aktiven Politikern ediert, die dadurch erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der öffentlichen Meinung nahmen. Einige Revolutionäre waren bereits vor 1788 im Pressewesen tätig. Brissot hatte 1784 das Journal Lycee de Londres gegründet und veröffentlichte im April 1789 das Prospekt seiner neuen Zeitung Le Patriote Frangais. Nicht nur, dass er damit dem Ausdruck „Patriot" eine revolutionäre Wendung gab, er machte auch unzweifelhaft deutlich, welche Bedeutung seiner Ansicht nach den Zeitungen in diesen ereignisreichen Monaten zukam - im Kopf der Zeitung stand als Epigraph die Formulierung: „Eine freie Zeitung ist ein Wachtposten, der ohne Unterlass für das Volk wacht" (Cunow 1912, 42). Die Zensur verbot das Erscheinen von Le Patriote Franqais und zog den Prospekt ein. Das verstärkte Erscheinen unabhängiger Presse mit unverdeckt politischen Ambitionen war jedoch nicht mehr aufzuhalten. Condorcet übernahm zusammen mit Garat am 1. Mai 1789 die Redaktion des Journal de Paris. Die erste Nummer von Mirabeaus Etats Generaux erschien am 2. Mai. In dem Heft vom 5. Mai veröffentlichte Mirabeau eine heftige Kritik an Finanzminister Necker, worauf es zum Verbot der Zeitung kam. Mirabeau gründete einfach eine neue Zeitschrift, die Lettres du Comte de Mirabeau ά ses commettants (später in Courrier de Provence umbenannt, unter welchem Namen Mirabeaus Zeitung berühmt wurde), die bereits im ersten Heft das Verbot seiner Vorgängerzeitung angriff (Cunow 1912, 44). Target brachte den Vorfall am 8.5. vor die Wahlversammlung von Paris, es kam zu einer Protestresolution, woraufhin Publikationen über die Debatten der Nationalversammlung grundsätzlich erlaubt wurden, wenn sie ohne Kommentar erfolgten. Daran hielt sich freilich niemand. Ab dem 28. Juni erschien Brissots neue Zeitung Patriote täglich und am 12.9. kam die vielleicht berüchtigste aller dieser Zeitungen heraus, das ab Nummer 6 Ami du Peuple genannte Organ Jean-Paul Marats, des Volkstribunen. Der Redaktionstisch nahm für ihn die Stelle des Rednerpodiums ein. Der Streit um den Wahlmodus der Generalstände radikalisierte schließlich den Dritten Stand, der nicht mehr bereit war, traditionell und verfassungsgemäß nach Ständen abzustimmen, sondern eine Abstimmung nach Köpfen verlangte. Die Androhung von Gewalt seitens des Königs provozierte den Ballhausschwur (20. Juni), in welchem die Delegierten die Unauflöslichkeit ihrer Versammlung deklarierten. Woher resultierte aber ihre Legitimität bzw. wie konnte eine von der königlichen Gewalt unabhängige, ihr gegenüber selbständige Legitimation reklamiert werden? Die Generalstände waren vom König zusammengerufen worden und konnten daher auch von ihm wieder aufgelöst werden. Am 17. Juni benannte sich der Dritte Standes auf Antrag von Sieyes in „Assemblee nationale" um: die Interessenvertretung der „Tiers" wurde zu einer alle Stände umfassenden Allgemeinheit, an welcher mitzuwirken auch die Vertreter der übrigen Stände aufgerufen waren. Die Nationalversammlung konkurrierte nun in Hinblick auf die Repräsentation der Nation mit dem König, der sie bislang reklamiert hatte. Die Repräsentation gehört zu den wichtigsten institutionellen Ideen der modernen politischen Ordnung. Als Denkfigur reicht sie weit über den politischen Bereich hinaus und berührt theologische, juristische und sogar kunsttheoretische Fragen. Vollmacht, Botenschaft, Stellvertretung, Vikariat, Mandat: die möglichen Formen der Repräsentation sind zahlreich (Hofmann 1990). Stellvertretung als Instrument zur Erleichterung der Handlungsabläufe, zumal wenn verschiedene Personengruppen betroffen waren und es um räumlich wie zeitlich komplexe Vorgänge ging, war nicht die einzige, rein technische Umgangsweise mit dem Problem. Max Weber definierte Repräsentation als „das Handeln bestimmter Ver-

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bandszugehöriger (Vertreter)", das „den übrigen zugerechnet wird oder von ihnen gegen sich als , legitim' geschehen und für sie verbindlich gelten gelassen werden soll und tatsächlich wird" (Weber 1980, 175). Dieses „gegen sich gelten lassen" ist ein Grundproblem politischer Legitimation. Für die katholisch christianisierten politischen Diskurse wirkte das Problem der Stellvertretung Gottes vorbildhaft, und zwar in doppelter Hinsicht: als amtliche Stellvertretung Gottes durch den (von Kardinälen gewählten) Papst und als Repräsentation Jesu im Abendmahl (eucharistische Repräsentation). Dieses Vorbild gab der Idee der Repräsentation einen gewissen transzendenten Bezug, der im Wechsel von der monarchischen Souveränität des Gottesgnadentums auf die Volkssouveränität spürbar blieb. Geht man davon aus, dass weder Gott selbst noch das Volk als Entität sprechen und handeln können, ihren Sprüchen aber die höchste Autorität zukäme, so verleiht der Transfer dieser Autorität auf die Stellvertreter eine Herrschaftsposition, die sich auch gegen den Willen der von ihnen vertretenen Personen richten kann. Die juristische Stellvertretung ganzer Körperschaften behandelte das römische Recht nur zögerlich, sie wurde aber im Kanonischen Recht zur Praxis. Besonders im Konziliarismus war das Problem bindender Entscheidungen durch Stellvertreter akut, was Theoretiker wie Nikolaus von Kues mit komplexen Modellen stufenweiser Repräsentation zu lösen versuchten. Kues' Modell wurde als ein „förmliches System des repräsentativen Parlamentarismus" gedeutet in einem „parlamentarischen geistlichen Staat" mit den Kardinälen als Oberhaus bewertet (Gierke 1880, 214). Diese Überbewertung (Hofmann 1990, 286-326) lebte von der Wertschätzung der Parlamentarismusidee im 19. Jahrhundert, das als Modell galt, auf das die politische Institutionenentwicklung zuzulaufen schien. Der Konziliarismus bereitete aber das Verständnis vor, vor dessen Hintergrund die im Parlament getroffenen Entscheidungen als bindend anerkannt werden konnten (Post 1964; Müller 1966, 125-130). Der frühe Parlamentarismus war eine korporative Vertretung von Ämtern, Institutionen, Regionen und Städten, nicht eine Repräsentation individueller Wähler. Diese Herkunft erklärt auch, warum noch zu Beginn des Verfassungsstaates das Wahlrecht weniger als individuelles Recht denn eher als Pflicht verstanden wurde: man wurde nicht im Eigeninteresse tätig, wenn man wählte, sondern weil man dazu beitrug, das „Volk" zu einem Willen zu verhelfen. War dies aber so, musste auch das Volk möglichst vollkommen repräsentiert werden. Dies begünstigte das Bild vom Parlament, das wie eine verkleinerte Kopie des von ihr repräsentierten Originals proportional zu ihm aufgebaut sein müsse (Mirabeau oeuvres I 7, nach Redslob 1912, 111). Ferner begünstigte es die Theorie vom imperativen Mandat des Abgeordneten, dessen Entscheidungsspielraum von eben diesem Mandat definiert wird. Ein Problem blieb aber bestehen: Wie konnte eine Mehrheitsentscheidung als bindender Wille der gesamten Körperschaft oder sogar des ganzen Volkes gelten? Während das römische Recht das Mehrheitsprinzip aus rein pragmatischen Erwägungen vorsah (Corpus iuris civilis Digesten 50, 7, 160, 1 und öfter), zeigt der Blick auf die wenigen historisch greifbaren normativen Festsetzungen des Frühmittelalters, wie stark tastend die Beteiligten versuchten, ihren Vorstellungen Ausdruck zu verleihen. Zu den ältesten Abstimmungsregeln zählt die Regel des Bendikt von Nursia, die in dieser Angelegenheit zwischen 530 und 546 Jahren dreimal verändert wurde (Clarke 1936, 337-338). Im gesamten Mittelalter überwog das in Legitimationsfragen befriedigendere Einstimmigkeitsprinzip. Die Wahl sollte Ausdruck der Harmonie sein und Einstimmigkeit ihr Merkmal, in ka-

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nonischen Kontexten oft als Zeichen des Wirkens des Heiligen Geistes gedeutet. Einstimmigkeit war nichtsdestotrotz nicht immer zu erzielen, die Einstimmigkeitsregel war höchst unpraktisch und keine entscheidungsförderliche Verfahrensmaxime. Daher ging man zur Konsensfiktion über: Ergab die Wahl ein geteiltes Votum, so schloss sich in der Regel die verbleibende Minderheit dem Mehrheitsvotum an, so dass im Ergebnis und nach außen von einer Konsensentscheidung gesprochen wurde (Moulin 1958). Das war nur möglich, weil die Wähler nicht aus Eigenrecht abstimmten, sondern als Teil der Institution, deren Handlungsfähigkeit sie herstellen wollten. Diese Vorstellung kam noch bei Rousseau zum Tragen, wenn er verlangte, dass Mindermeinungen bei Gesetzesabstimmungen im Nachhinein ihre Meinung als irrig anzusehen und sich der Mehrheitsmeinung anzuschließen hätten, um so die Allgemeinheit zu garantieren. Konsens war in der Praxis des mittelalterlichen Wahlverfahrens oft einfach nur die Abwesenheit von Ablehnung; die Mehrheit galt als Indikator für die Richtung der potentiellen Einstimmigkeit, so dass sich die Minorität rasch mit der Mehrheit zufrieden gab und man nach außen Einstimmigkeit erzielte. Huguccio (1140-1210) war einer der führenden Vertreter des Kanonischen Rechts. Seiner Auffassung nach sollte das Ergebnis der Wahl gewichtet und nicht einfach nur gezählt werden. Er nannte drei Kategorien der Gewichtung: Anzahl, Eifer und Autorität. Zwei der drei Kategorien müssten zusammenkommen, um der Entscheidung das Übergewicht zu verleihen. Henricus de Segusio (gest. 1271) vertrat die Meinung, dass die Autorität des Bischofs die Anzahl aller übrigen ausgleiche. Für die Mehrheitsentscheidung sei daher die Meinung des Bischofs und nur eines weiteren Wählers ausreichend, um den „maior et sanior pars" (der höhere und verständigere Teil) zu bilden, welcher der Wahl die Geltung für die gesamte Korporation verleihe. Allerdings sah er bei Entscheidungen über die Grundlagen (d.h. über die Verfassung) eine entsprechend höhere Zahl nichtbischöflicher Stimmen als erforderlich an (Pennington 1988, 445). Johannes Teutonicus dagegen schätzte die Quantität höher ein als die beiden übrigen Aspekte, sofern das Übergewicht der Zahl erheblich war. Er definierte die maior pars eines Wahlkollegiums daher als die größte Zahl, die ein Kandidat auf sich vereint (Pennington 1988, 451). Die Anerkennung rein quantitativer Merkmale der Mehrheit war ein sich erst allmählich durchsetzender Vorgang. Marsilius von Padua verstand unter maior et sanior pars weiterhin die qualitativ stimmgewichtigen Bestandteile der politischen Korporation. So fasste dies auch die Konziliarismustheorie immer wieder auf, etwa bei Johannes Gerson. Selbst das englische Parlament, in seiner Bedeutung und inneren Organisation allen anderen Ständevertretungen Europas bereits im 16. Jahrhundert weit überlegen, verstand sich zunächst nicht als Repräsentation der individuellen Menschen, sondern des Territoriums, der Stände und Städte. Zu deren Repräsentation bedurfte es der qualitativ erheblichen Stimmen und nicht der Stimmen einer nicht weiter qualifizierten Mehrheit der bloßen Köpfe (Dunbabin 1988, 518519). Das englische Parlament begann als Korporationsvertretung, doch seine Mitglieder entwickelten allmählich ein politisches Bewusstsein, nicht nur beauftragte Stellvertreter zu sein, sondern in ihrer Eigenschaft als versammeltes Gremium die Nation im Ganzen zu vertreten. Das ging einher mit der stetig wachsenden Bedeutung des Parlaments im politischen System Englands. Simon de Montfort, beraten u.a. von dem Aristoteles-Übersetzer Robert Grosseteste, trotzte schon im 13. Jahrhundert dem englischen König ein dauerhaftes Parlament ab (Provisions of Oxford 1258), in welchem die Grafschaften (der Adel) ebenso wie die Städte (die Bürger) vertreten waren. Diese Einrichtung verstetigte sich aber

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erst unter Eduard I. Die Zustimmung des Parlaments zu den Steuern hatte auch mit der Verwaltung der Steuererhebung zu tun, die bei der Gentry und den Städten lag. Allmählich erweiterten sich die Kompetenzen des Parlaments. Dieses initiierte Gesetzesvorhaben (Petitionen), wurde nun regelmäßig einberufen und begann, sich nach innen hin zu differenzieren (House of Lords und House of Commons). Während der Rosenkriege jedoch zerfiel die Machtstellung des Parlaments. Genau in dieser Zeit entstehen erstmals bemerkenswerte politische Schriften, die die Sonderstellung der Ständeversammlung in England auf den Begriff zu bringen versuchten: die Werke von John Fortescue und Thomas Smith (siehe auch den Abschnitt „Naturrecht, Kontraktualismus"). Diese proklamierten eine dominante Stellung des Parlaments in einer Zeit, in der es weit davon entfernt war, eine solche tatsächlich inne zu haben oder auszuüben. In Zeiten des Bürgerkrieges schien Bodins Zurückweisung der Mischverfassung als ein System, in dem auf gefährliche Weise die Frage der Souveränität unentschieden belassen sei, besonders aktuell; dennoch waren Fortescue und Smith bestrebt, die institutionelle Balance zwischen König und Parlament zu erklären und nicht aufzuheben. John Fortescue betonte den Gegensatz von englischem und französischem politischen System anhand des Zustimmungsrechts des Parlaments zu Entscheidungen des Königs {De Natura Legis Naturae I 16; Vollrath 2003, 117). England war im Hinblick auf die Gesetzgebungskompetenz eine politische Ordnung „politicum et regale" (Nippel 1980, 169-171), weil die Gesetze nicht ohne die Zustimmung des Parlaments zustande kommen konnten. Fortescues Position setzte Thomas Smith (1513-1577) fort. Er war 1562-1566 Botschafter in Paris, gehörte 1571 zum Privy Council und war 1572 Secretary of State (Dewar 1964). Im Parlament erkannte er den institutionellen Kern des englischen politischen Systems, so sein De Republica Anglorum (II 1): „The most high and absolute power of the realme of Englande, consisteth in the Parliament." Das war die (gemäßigte) Souveränitätserklärung des King-in-Parliament, bestehend aus König, Ober- und Unterhaus. Smith stellte das englische Parlament in die Reihe deliberativer Versammlungsgremien, wie sie der Ideengeschichte seit der Antike bekannt waren. Seine Funktion bestand darin, politische Entscheidungen als Entscheidungen des ganzen Landes zu qualifizieren: „And the consent of the parliament is taken to be everie mans consent." Diese Fiktion ließ sich aus keinem höheren Gesetz ableiten, sondern wurde von Smith nur behauptet; die tatsächliche Geltung dieses Satzes musste erst politisch erkämpft werden. Aus der eigenständigen Stellung des Parlaments leiteten die Abgeordneten schließlich auch besondere politische Rechte ab: die Immunität ihrer Person und die Indemnität ihrer im Parlament geäußerten Meinungen. Nicht nur das Parlament, sondern jedes seiner Mitglieder vertrat die Nation als ganzes, wie spätestens Edward Coke, und zwar noch vor Ausbruch der englischen Revolution, formulierte: zwar sei der Abgeordnete von seinem county oder borough gewählt, versammelt mit den anderen Mitgliedern des Parlaments gelte jedoch: „he serveth for the whole realm" (Institutiones 1, 14: bei Pitkin 1989, 137-138). Im Laufe des 17. Jahrhunderts festigte sich diese Haltung und ähnlich wie später bei den französischen Revolutionären verlieh die Idee der Repräsentation des Volkes dem Parlament genügend Autorität, um eine vom König unabhängige politische Rolle spielen zu können (Morgan 1988, 38-77). Die Theorie vom Abgeordneten als Vertreter der ganzen Nation wurde in Blackstones Commentaries kanonisiert und fand in Edmund Burkes berühmter Auffassung vom freien

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Mandat des Abgeordneten ihre funktionale Rechtfertigung in einer bis auf unsere Tage wiederholten Argumentation (Speech to the Electors of Bristol 1774): Entsandt, den politischen Gesamtwillen zu bilden bedarf der Abgeordnete einer entsprechenden Freiheit; die Wähler können ihm dann bei Unzufriedenheit das Mandat bei den nächsten Wahlen entziehen. Burke hielt die Eintracht zwischen dem Abgeordneten und seinen Wählern für wünschenswert. Der Abgeordnete solle hierzu die Wünsche der Wähler erkunden. Aber des Abgeordneten Meinung müsse gleichwohl unvoreingenommen bleiben, sein Urteil und sein Gewissen dürfen den Wünschen der Wähler nicht geopfert werden. Die Position des Abgeordneten sei ein treuhänderischer Auftrag, er schuldet dem Wähler seine Urteilskraft. Der Abgeordnete würde den Auftraggeber betrügen, wenn er seine freie Urteilskraft der wechselnden Meinung des Wählers opferte. Regierung und Gesetzgebung seien eine Sache von vernünftiger Beratung, Entscheidungen dürften daher nicht der Diskussion vorausgehen. Burke ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass langfristig die Ideen und Meinungen der Repräsentanten mit denen der von ihnen Repräsentierten identisch sein müssten. Ferner ging Burke davon aus, dass durch die Notwendigkeit der Wiederwahl des Abgeordnete sichergestellt wurde, dass sich dessen Interpretation des Gesamtinteresses nicht zu weit und nicht zu lange vom Willen der Wähler entfernte (Pitkin 1969, 168-189). Burkes Position bezüglich der Amerikanischen Kolonien, deren Unabhängigkeitsbestreben er anerkannte, kostete ihn denn auch die Wiederwahl. Ein anderes Problem der Repräsentation ist die Auswahl der Repräsentierten. Zahllose Überlegungen wurden angestellt, auf welche Weise die Verfügungsmacht über das Verfahren begrenzt und die damit verbundene Gefahr einer Manipulation des Wahlergebnisses vermieden werden konnten. Dieser Gefahr begegneten die Athener mit dem Losverfahren. Das Losverfahren tauchte daher immer wieder dort auf, wo Verfahrensmacht verhindert werden sollte. Auch Thomas von Aquin diskutierte in einer kleineren Schrift zum Losverfahren diese Frage: Ermöglicht der Heilige Geist bei der Wahl von Amtsträgern die Einigkeit des Votums? Das wäre zwar wünschenswert, jedoch empfahl Thomas bei strittigen Wahlsituationen das Los, um der Uneinigkeit Herr zu werden und keine Disharmonie aufkommen zu lassen. Er schloss jedoch das Los im Falle der Wahl hoher Kirchenämter aus {De Sortibus ad Dominum Iacobum de Tonengo, etwa 1268-1271, bei Finnis 1998, 262). Das Vorbild waren erneut die Athener, die besonders wichtige Ämter nicht dem Los, sondern der Wahl überließen, so das militärische Oberkommando und die Verwaltung des Budgets, denn die Verteilung der für die Ausübung bestimmter Ämter erforderlichen Kompetenzen (die Tugenden) galten als ungleich verteilt. Wenn Montesquieu daher sagte, das Losverfahren sei demokratisch {Esprit des Lois II 2), das Wahlverfahren dagegen aristokratisch, so deshalb weil das Los am ehesten die normativ angenommene Gleichheit der Akteure reflektiert: Wenn alle gleich sind, so kann letztlich auch der Zufall entscheiden. Wo aber die ungleich verteilten Kompetenzen den Ausschlag für die Frage geben, wer am meisten geeignet sei, ein Amt auszuüben, dort muss gewählt werden. Das führte zur der Frage, ob die große Masse der Wähler, welche über diese Kompetenzen gar nicht verfügt, die für die Ausübung des Amtes nötig sind, überhaupt erkennen kann, welcher der Kandidaten diese tatsächlich besitzt. Auf welche ideengeschichtlichen Traditionsbestände konnten die französischen Revolutionäre bei ihrer Suche nach einer Lösung zurückgreifen? Das naheliegende britische oder amerikanische Beispiel wirkte nur indirekt, prägender waren die zwei konkurrierenden Modelle

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aus der französischen Aufklärung: Rousseau, der bestrebt war, die Repräsentation so gering wie möglich zu halten, und Montesquieu, der die Stellung von Repräsentanten für zentral erachtete. Rousseau stand für die generelle Ablehnung der Repräsentation und diente allen, welche Repräsentanten misstrauten, als Referenz. Montesquieu präferierte dagegen das Repräsentativsystem: Nur Repräsentanten, nicht das Volk in seiner Gesamtheit, seien dazu imstande, politische Fragen mit der gebührenden Sachkenntnis zu diskutieren (Esprit des Lois XI 6). Die Repräsentanten sind für Montesquieu als gewählte Vertreter eine Aristokratie im Sinne einer Funktionselite (Manin 1997, 70-74), die nicht durch eine direkte Volksgesetzgebung zu ersetzen wäre, und zwar auch dann nicht, wenn das aufgrund der geringen Bevölkerungszahl technisch möglich wäre. Die Kennzeichnung der Repräsentanten als gewählte politische Elite wurde ein wichtiger Baustein der modernen Repräsentationstheorie als „democratic aristocracy" (Manin 1997, 132-160), der Begriff der Aristokratie aber nur wenig gebraucht, da die französischen Revolutionäre aus ihm sehr rasch ein polemisches Schlagwort im Kampf gegen den Erbadel machten. Es war im wesentlichen Emmanuel Joseph Sieyes (1748-1836), der in der kritischen Situation des Jahres 1789 den Weg wies, indem er die Berufung auf die Nation als Legitimationsquelle etablierte und die Stellung der Repräsentanten im Verhältnis zum Volk definierte. Der Gebrauch der Begriffe Nation, Verfassung und vor allem Repräsentation wurde maßgeblich von ihm geprägt (Redslob 1912, 57-70; Eb. Schmitt 1969, 223-230; Hofmann 1990, 406409; Riklin 2001). Sieyes hatte an seinem Lebensende vier Revolutionen in Frankreich erlebt, 2 erfolgreiche Putschversuche, die Herrschaft Napoleons und die zwei Anläufe der bourbonischen Restauration - und wird dennoch fast ausschließlich mit der Frühphase der Revolution von 1789 in Verbindung gebracht. Er gehörte dem Konvent an, stimmte 1793 für die Hinrichtung des Königs, war Mitglied sowohl des Wohlfahrtsausschusses nach dem Tode von Robespierre und des Verfassungsausschusses, bereitete den Putsch von Napoleon Bonaparte vor, gehörte mit diesem und Duclos zum Triumvirat der Konsuln, unterzeichnete die Abdankungsurkunde Kaiser Napoleons und musste nach der Restauration ins Exil. Sieyes war ein ausgebildeter Priester und gehörte für den Klerus bereits der Notabelnversammlung von 1788 an, welche die Versammlung der Generalstände 1789 vorbereitete. Seine Kandidatur für die Generalständeversammlung als Vertreter des Klerus scheiterte jedoch, woraufhin er für den Dritten Stand im Bezirk Paris kandidierte und gewählt wurde. Mittlerweile hatte er Ende 1788 seine bereits erwähnte Hauptschrift Was ist der dritte Stand verfasst, die er in den ersten Januartagen 1789 veröffentlichte und welche noch im gleichen Jahr die dritte Auflage erlebte. Sieyes vertrat darin eine qualifizierte Vorstellung des Volkes, die dem Geist seiner Zeit und der Epoche entsprach: das Volk als Nation. Die Nation galt ihm als souverän: sie ist keiner Ordnung unterworfen, sondern gibt sich in Gestalt von Verfassungsgesetzen selbst eine Ordnung. Verfassungsgesetze gliedern sich bei Sieyes in legislative und exekutive Gesetze: die ersteren regeln die Organisation und Aufgaben der gesetzgebenden Körperschaft, die anderen diejenigen der ausführenden Gewalt. Verfassungsgesetze sind unantastbar nur für die von ihr geschaffenen Organisationen selbst, nicht für die Nation, welche sie jederzeit ändern kann. Die Nation hat nämlich die verfassunggebende Gewalt (pouvoir constitutant) inne, welche Quelle der von ihr eingesetzten Gewalten (pouvoir constitue) ist. Die Verfassungsgesetze binden also nur die Regierung, nicht die Nation. In der Einleitung zum Entwurf einer Menschen- und Bürgerrechtserklärung, die Sieyes am 20. Juli 1789 in der Nationalversammlung vorstellte und erläuterte, findet sich erstmals im

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französischen Diskurs der Begriff der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes {Einleitung zur Verfassung, Juli 1789). Sieyes übernahm für seine Theorie von der verfassungsgebenden Gewalt die Denkfigur Rousseaus, wonach das Volk selbst nicht an seine eigenen Gesetze gebunden werden könne, übertrug diese aber vom Volk auf die Nation als dem nach bestimmten Gesichtspunkten qualifizierten Volk. Das Volk selbst kann als Wählerschaft oder in Plebisziten als Organ der Willensbildung seinerseits eine verfasste Gewalt sein, die neben anderen verfassten Gewalten wie beispielsweise dem König steht. In diesen Fällen regeln Verfassungsgesetze, wie das Volk als Wählerschaft einzurichten ist, wer dazu gehört und wie es zu agieren hat. Das Volk kann also unterschiedliche Aggregatzustände annehmen: Als verfassungsgebendes Volk ist es unbeschränkbar. Als Wahlvolk hingegen ist das Volk konstituierte und damit dem Recht unterworfene Gewalt wie alle anderen politischen Gewalten. Hat es als Wahlvolk gesprochen, ist es zum Schweigen verurteilt und schuldet dem Ergebnis der Gesetzgebung Gehorsam. Das erlaubte auch die Unterscheidung nach aktiven und passiven Bürgern {Einleitung zur Verfassung Juli 1789: Schriften 251), also zwischen dem passiven Genuss der Rechte und der aktiven Partizipation an der Politik als Wähler. Sieyes' Differenzierung des Volkes als Nation im Sinne des Subjekts der verfassungsgebenden Gewalt einerseits und dem Wahlvolk andererseits rechtfertigt ferner den Ausschluss bedeutender Teile der Bevölkerung aus der Regierung, insbesondere der Frauen und der sozial und ökonomisch abhängigen Personen (Was ist der dritte Stand? Schriften 135-136): Sie gehören zwar zum Volk, ihnen fehlen aber die zur Ausübung des Wahlrechts erforderlichen Qualitäten, insbesondere die Unabhängigkeit der Urteilskraft. Die Aberkennung des Wahlrechts für Besitzlose stand im Zusammenhang mit der Vorstellung, dass allein Besitz die nötige Unabhängigkeit verschaffe, wie es bereits Holbach in seinem Repräsentations-Artikel in der Encyclopddie behauptet hatte; in der Wahlrechtsdebatte der Nationalversammlung wurde zudem die Befürchtung laut, dass Arme und Abhängige für jegliche Form der Korruption anfällig seien (Crook 1996, 30-33). Sieyes verneinte die Demokratie als Regierungsform für Frankreich wegen der Größe des Landes im Vergleich zu derjenigen der antiken Stadtstaaten. Zugleich unterstellte er der Nation einen Gemeinwillen und sah das repräsentative System als einzige Möglichkeit, zu einer einheitlichen Willensbildung zu gelangen. Der Rückbezug der Repräsentanten zur Bevölkerung durch permanente Wahlen sollte den nötigen „demokratischen Geist" aufrechterhalten, um eine Entwicklung zur selbstbezüglichen Elite zu unterbinden (Rede vom 7.9.1789: Schriften 269; Über die Ausführungsmittel der Repräsentanten 1789: Schriften 75). Sieyes folgte nicht dem Modell Rousseaus, der eine Repräsentation des Volkes nur für die Exekutive gestattete, nicht aber für die Legislative. Für Sieyes ist der Repräsentant nicht Sprecher eines bestimmten differenzierten Teiles der Bevölkerung, nicht Vertreter bestimmter partikularer Interessen, sondern agiert vielmehr für das Ganze. Sieyes' Nation und Rousseaus Allgemeinwille ähneln demnach einander, nur dass den Repräsentanten die Ermittlung von letzterem zukommt. Ihre Mehrheit in der Versammlung ist laut Sieyes als Wille der Nation anzusehen und nicht als numerisches Übergewicht eines territorial oder sozial definierten Teiles der Nation (Gauchet 1995). Auf die Selbstlegitimierung der Nationalversammlung mit Hilfe des Prinzips der Nation folgte die Aufgabe, eine Verfassung zu entwerfen, weshalb sich die Nationalversammlung nach der Bildung eines Verfassungsausschusses am 7. Juli zur „Assemblee nationale Constituante" ausrief (9. Juli). Die revolutionären Verfassungsgeber mussten im Zuge ihrer Pra-

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xis zugleich die theoretische Grundlegung ihres Tuns reflektieren (Baker 1999). Stanislas Clermont-Tonnerre stellte am 28. Juli 1789 im Verfassungsausschuss die Frage, ob es ausreiche, die „alte Verfassung" wiederzuerrichten, oder ob eine völlig neue, nicht historisch legitimierte Verfassung nötig sei. Als Aristokrat bedeutete ihm der Hinweis auf eine seit 14 Jahrhunderten existierende Verfassung einiges. Anfanglich glaubten sowohl ClermontTonnerre wie auch Mounier in der geplanten Menschenrechtserklärung einen Kompromiss gefunden zu haben: im Lichte der Menschen- und Bürgerrechtserklärung sollte die alte Verfassung wiedererrichtet und zugleich reformiert werden. Im Pathos des 4. August (oder der Furcht vor Aufständen auf dem Lande) wandelte sich aber der Kompromiss zu einer klaren Entscheidung: die Erklärung wurde mit der Forderung nach einer neuen Verfassung verbunden. Die Declaration des Droits de l'Homme et du Citoyen vom 26. August 1789 legte feierlich in ihrem ersten Artikel fest: „Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten." Hinzu kamen Aussagen bezüglich der neu zu schaffenden Verfassungen, die einen Kompromiss zwischen revolutionärer und traditioneller Orientierung, zwischen Rousseau und Montesquieu formulierte: die Rechtsverbürgung und Gewaltenteilung (Art. 16) war nicht ohne weiteres kompatibel mit den Aussagen über die Natur des Gesetzes als Ausdruck des Gemeinwillens (Art. 6) und die Festlegung der nationalen Souveränität (Art. 3). Die Repräsentation war als Regierungsprinzip festgeschrieben. Die Declaration war über die Grundrechteerklärung hinaus ein Verfassungsschema, das sowohl normative als auch institutionelle Garantien beinhaltete. Der Kampf zwischen den Modernisierern und den Revolutionären konzentrierte sich nun auf die Frage des königlichen Vetos und damit auf die Frage nach dem Anteil des Königs an der politischen Gewalt. Gemäßigte wie Lally-Tollendal oder Mounier wollten die Regierung nicht auf einen Exekutivausschuss der Legislative reduzieren. Erfahrung und Vernunft sollten in einer selbständigen Regierung das ausgleichende Instrument zur legislativen Philosophie sein, die vom experimentellen, bisweilen radikalen Geist beseelt sei. Honore-Gabriel Mirabeau (1749-1791), der zu diesem Zeitpunkt vielleicht einflussreichste Politiker, analysierte in einer Rede vor der Nationalversammlung (23. Juli 1789) das Problem einer schwachen und vom Parlament abhängigen Regierung, das besonders in Phasen des Übergangs und heftiger Meinungskämpfe akut werden würde; der Zwiespalt der Situation würde die Anarchie fordern (Schriften 448). Politische Freiheit verlangt seiner Ansicht nach eine handlungsfähige Regierung. In seiner Rede vom 26. August an gleicher Stelle verlangte er daher im wesentlichen eine Politik der Mäßigung. Der Unterschied zwischen den „durch den bürgerlichen Zustand gebundenen Menschen" und dem „freien Menschen der Natur" sei unüberbrückbar. Mirabeau prognostizierte daher, dass es beim Fortschreiten des gesetzgebenden Werks der Nationalversammlung immer wieder zu Situationen kommen werde, die von dem Zwang diktiert sein würden, „an Stelle von Rechten Pflichten, an die Stelle der Freiheit Fesseln zu setzen" (Schriften 472). Die Rousseauisten (Petion, Gregoire, Rabaut Saint-Etienne, Sieyes) lehnten jedoch das absolute Veto des Königs bzw. der Regierung ab und verfolgten eine maximale Lösung des Allgemeinwillens als dem Herzstück der nationalen Souveränität, woraus sie den Vorrang und nicht die Gleichstellung der Legislative ableiteten. Das Misstrauen gegenüber dem schwankenden und taktierenden König war zu groß. Das suspensive (aufschiebende) Veto setzte sich letztlich als Kompromiss durch, die Verfassung von 1791 schuf eine konstitutionelle Monarchie.

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Im Geiste der Sieyes'schen Theorie legte die Verfassung von 1791 die Voraussetzungen fur die wahlberechtigte Aktivbürgerschaft fest, wonach man u.a. kein Bankrotteur gewesen sein durfte und ein jährliches Steueraufkommen von drei sog. Arbeitstagen nachzuweisen hatte, um gewählt werden zu können. Der Protest gegen dieses ungleiche Wahlrecht war nicht sonderlich groß. Der Hinweis darauf, dass unter diesen Voraussetzungen Rousseau oder Jesus Christus nicht wahlberechtigt gewesen wären (Camille Desmoulins im Les Revolutions de France et Brabant vom November 1789), überzeugte nicht, und Robespierres bemerkenswertes Argument, dass dieses Wahlrecht gegen die Menschen- und Bürgerrechtserklärung verstoße (in seiner Rede vom 22. Oktober 1789), unterschlug, dass eben diese Erklärung zwischen Menschen und Bürgern unterschied. Erst die Verfassung von 1793, die Verfassung des Konventes, maßgeblich geprägt durch die Girondisten einerseits und schließlich die Jakobiner andererseits, war im wesentlichen demokratisch und kannte keine steuerlichen Hürden für die Ausübung des Wahlrechts. Das Recht auf Revolution: Edmund Burke und Thomas Paine Selten lässt sich eine publizistische Kontroverse, die in eine über die Ideengeschichte hinweg anhaltende theoretische Debatte mündete, so eindeutig mit dem Erscheinen eines Buches in Verbindung bringen wie im Falle der Reflections on the Revolution in France von Edmund Burke aus dem Jahre 1790. Kaum ein Jahr nach dem Sturm auf die Bastille und lange vor dem 1793 einsetzenden Terrorregime der Jakobiner, welches ganz Europa gegen die Revolution aufbrachte, formulierte Burke in diesem umfangreichen Buch eine scharfe und fundamentale Kritik an dem revolutionären Selbstverständnis, das in der Überzeugung gipfelte, auf einem System natürlicher Rechte eine politische und gesellschaftliche Ordnung begründen zu können. Burkes Kritik provozierte die englischen Befürworter der Revolution zu zahlreichen Stellungnahmen; für den Zeitraum von November 1790 bis Dezember 1793 hat man 90 einschlägige Titel gezählt (Boulton 1963, 265-271). Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Burke in 30 Jahren politischer Praxis und Publizistik einen Ruf als unermüdlicher Verteidiger von Revolten gegen überlebte Regime oder gegen Willkürherrschaft erworben: er hatte das Anliegen des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges ebenso verteidigt wie den Kampf Korsikas und Polens für ihre jeweilige Unabhängigkeit, und schließlich sogar den Widerstand Indiens gegen das Willkürregime des britischen Repräsentanten Warren Hastings. In all diesen Fällen stellte Burke die Gerechtigkeit über tradierte politische Ordnungen. Die Reflections enttäuschten daher Burkes liberale Freunde, die sich 1790 in ihm einen Fürsprecher der Französischen Revolution versprachen und nun deren schärfsten Kritiker entdecken mussten; Burkes überraschender Schlag gegen die Revolution und die Kritik progressiver Köpfe daran schuf das Bild Burkes als Ausgangspunkt des Konservatismus (Mannheim 1925/1984; Kirk 1959, 17-83). „Konservatismus" im Sinne einer Bewahrung der sozialen Strukturen und politischen Ideen vor dem Ansturm der Revolution (zeitgenössisch oft Konterrevolution oder Reaktion genannt) ist ähnlich wie Republikanismus und Liberalismus eine ideengeschichtliche Festlegung und ein Deutungskampf um die Ideengeschichte als Arsenal. Im britischen politischen Denken gab es seit dem 17. Jahrhundert den Gegensatz von „whigs" und „tories" (Leonhard 2002), Bezeichnungen für die politischen Vertreter des Großbürgertums einerseits und der Monarchie andererseits, wobei rückblickend die „whigs" als „Liberale" und die „tories" als „Konservative" interpretiert wurden. In dieser Konstellation zählte Burke eindeutig zu den whigs. Er war Abgeordneter im House of Commons seit 1765 und verdankte seinen Sitz der

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Protektion eines der führenden Whig-Politiker, des Marquis Rockingham, dessen Sekretär Burke war. Mit seiner Kandidatur im Bezirk Bristol, einem umkämpften Sitz, wollte sich Burke etwas unabhängiger machen. In seiner 1774 gehaltenen Rede als frisch gewählter Abgeordneter Bristols legte Burke die Prinzipien seines Selbstverständnisses als Repräsentant fest und gab darin wie gezeigt der Theorie des freien Mandats ihren klassischen Ausdruck. Die Organisation der Abgeordneten war noch sehr weit von modernen Fraktionen oder gar Parteien entfernt, was ihre Schlagkraft erheblich minderte. Burke versuchte Rockinghams politische Bemühungen um eine Einigung der diversen Whig-Gruppen publizistisch zu unterstützen. Am bedeutendsten war hierbei seine Schrift Thoughts on the Cause of the Present Discontents aus dem Jahr 1770, in welcher er in Ansätzen eine Parteien-Theorie vorlegte: Eine Partei ist ein Verband von Menschen, vereinigt, um das nationale Interesse durch die Verbindung ihrer Fähigkeiten zu fördern, basierend auf einigen bestimmten Prinzipien, deren Geltung alle anerkennen (Works I 530). Der Wandel der Prinzipien oder die mangelnde Übereinstimmung bezüglich ihres Inhalts könne zu einem Konflikt innerhalb einer Partei führen und sogar zu deren Bruch. So verstand Burke auch seinen Bruch mit den Whigs anlässlich seiner Frankreich-Politik: nicht er habe sich gewandelt, sondern der Wandel der Zeiten mache einen Wandel des Prinzips nötig {Appeal from the New to the Old Whigs 1791). Der zentrale Begriff in Burkes Thoughts on the Cause of the Present Discontents war "trust". Trust meint über das Vertrauen hinaus die politische Beziehung zwischen dem Volk und den Inhabern der politischen Gewalt, der Regierung. Jede funktionierende Politik fußt auf dem wechselseitigen Vertrauen zwischen Volk und Regierung. Das gilt auch für Richter, selbst für Könige, aber ganz besonders für gewählte Repräsentanten. Politische Gewalt wird den Repräsentanten als Trustees anvertraut. Trust prägt jede Regierung, und zwar auch dann, wenn sie kolonial eingesetzt ist. Daher verteidigte Burke die Inder gegen den Amtsmissbrauch von Warren Hastings wegen Verletzung des mutual trust (Rede zu Fox' East India Bill von 1783): Das Vertrauen der Regierten korreliert mit der Verantwortung der Regierung. Burkes Anklage gegen Hastings gestaltete er in Analogie zu Ciceros Anklage gegen Verres betreffend dessen Verfehlungen auf Sizilien. Ferner unterstützte er Gesetzesvorhaben zur Änderung der britischen Verwaltung der Kolonie. Hierbei ist es gerade im Blick auf seine spätere Kritik an der revolutionären Menschenrechtsideologie bemerkenswert, dass Burke umfänglich die Menschenrechte zum idealen Fixpunkt der Bewertung der Politik in Indien erklärte und ausdrücklich das diskutierte Gesetzesvorhaben als eine Art Magna Charta fur die Inder ansehen wollte. Die britische Verfassung sei der Garant der Freiheit der Engländer gewesen, noch besser wäre jedoch die Festlegung dieser Freiheitsrechte in einem Verfassungsdokument. Burke wurde wegen seines Eintretens für die Amerikaner im Unabhängigkeitskrieg nicht in Bristol wiedergewählt, woraufhin er wieder einen Wahlbezirk (Malton) durch Protektion erhielt. Vor Eröffnung der Kampfhandlungen mit den Amerikanern trat Burke für eine Politik des Verständnisses und der Annäherung ein. Freiheit sei eine unschätzbare Ware, nur sie allein gewährleiste die Bindung der amerikanischen Kolonien an das Mutterland (Speech on Moving Resolutions for Conciliation with the Colonies 1775: Works II 179). Nach dem Ausbruch des Krieges wehrte sich Burke entschieden gegen die Meinung, der Kriegszustand mit den Kolonien habe alle Bande mit ihnen zerrissen und es bestünde nun die Notwendigkeit, die Regierung kritiklos zu unterstützen, deren einzig mögliche Politik die Niederwerfung mit

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militärischen Mitteln sei; hiergegen wandte Burke trocken ein, ein solches Argument liefe darauf hinaus, jeder Regierung um so bedingungsloser Vertrauen schenken zu müssen, je mehr sie das eigene Land ins Unglück stürze (A Letter to the Sheriffs of Bristol on the Affairs in America 1777: Works II219). Burkes Einsatz für Indien ebenso wie sein Eintreten für eine friedliche Lösung des AmerikaKonflikts erklärten die Überraschung der Zeitgenossen über Burkes Haltung zur Französischen Revolution. Die britische Öffentlichkeit kommentierte die Ereignisse in Frankreich zunächst mit Wohlwollen. Der Sturm auf die Bastille fand großen Beifall als Sturz eines verkommenen ancien regime (Porter 2000,447). 1788 war der hundertste Jahrestag der Glorious Revolution gefeiert worden, deren Bedeutung für die englische Verfassung umfangreich diskutiert wurde (Dickinson 1976). Richard Price (1723-1791) stellte in seiner im November 1789 veröffentlichten Predigt A Discourse on the Love of Our Country die französischen Ereignisse in eine ideengeschichtliche Linie zur Glorious Revolution. Gegen Price waren nun Burkes Reflections gerichtet, denn er befürchtete, dass im Überschwang der Unterschied zwischen beiden Formen von Revolution vergessen werden könne. Burke verteidigte die Tradition der Glorious Revolution, doch die Französische Revolution sah er als ihr gefährliches Gegenstück. Bereits die Verteidigung der Amerikaner hatte Burke auf die Beobachtung gestützt, dass diese wie kein anderes Volk die Freiheit liebten, aber nicht eine „abstrakte Freiheit", sondern - als Abkömmlinge Englands - die englischen Prinzipien der Freiheit (Works II 120). Diese Freiheit beruhe auf Erfahrung, nicht auf philosophischen Gedanken. Burkes Kritik an der Französischen Revolution lag die Überzeugung zugrunde, dass die menschliche Gesellschaft nicht auf gedanklichen Prinzipien aufgebaut werden könne, so etwa denjenigen eines nur gedachten Naturzustandes. „Volk" ist in seinen Augen nicht das Resultat eines fiktiven Gesellschaftsvertrages, sondern das Ergebnis von Vergesellschaftung und unterliegt somit gesellschaftlichen und nicht philosophischen Gesetzmäßigkeiten. „Menschenrechte" erachtete Burke als Ausdruck politischer Metaphysik (Reflections ed. Clark 217-220), vor deren Maßstab keine Verpflichtung Bestandskraft habe und kein Kompromiss möglich scheine; in Wahrheit werde diese Metaphysik aber wie ein Lichtstrahl durch das Wasser verändert, wenn sie in die empirische Wirklichkeit eintauche. Diese Wirklichkeit besteht Burke zufolge aus dem Labyrinth menschlicher Angelegenheiten und Leidenschaften. Er mahnte zum Realismus: Rechte einfach zu postulieren, ohne Rücksicht auf die menschliche Natur, lasse jede Politik ins Leere gehen; umgekehrt unterstützten Leidenschaften die Wirkung von Gesetzen, sofern diese hierauf Rücksicht nähmen. Burke war demnach ein Gefolgsmann Montesquieus. Für die Tendenz zur Abstraktion universaler Prinzipien, die dem historischen Prozess der Vergesellschaftung übergestülpt würden, machte Burke die Philosophie Rousseaus verantwortlich. In einem Brief vom Januar 1790 bekundete er, nicht Montesquieu, sondern Rousseau sei der Stichwortgeber der Revolutionäre (Correspondance VI, S. 78-81). Rousseau habe der neuen „public morality" den Rahmen gegeben und dafür die auf dem christlichen Glauben beruhende Moralität geopfert {Letter to a Member of the National Assembly, Works IV 25-33). Die Logik der Revolution verkürze die Frage der Legitimität und Verantwortung auf den Zeitpunkt der Gegenwart. Gesellschaft sei dagegen ein „partnership" nicht nur von Lebenden, sondern von den Lebenden, den Toten und jenen, die noch geboren würden: die Verantwortung der Politik war Burke zufolge immer eine historische und nicht eine willkürliche {Reflections ed. Clark 261). Die Folgen von Politik gehören demnach in die Verantwortung der Politiker; solche Folgen

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erschließen sich aus Erfahrung, nicht mit Hilfe gedanklicher Konstruktionen. Burkes Argumentation wies jede idealisierte Gestalt politischer Verfassungen als Trugbild zurück. Nur die in historischer Betrachtung gewonnene Klugheit und Erfahrung erscheinen geeignet, eine in gesellschaftlicher Wirklichkeit existenzfähige Verfassung zu begründen. Burke befürchtete, dass die abstrakte Idee der Menschenrechte in Verbindung mit einer demokratischen Regierungsform zur gefährlichen Waffe der Volkswillkür werden kann, da sie geeignet ist, alle bestehenden Rechte und Pflichten zu ignorieren, alle gewachsenen Traditionen zu zerstören. Er erinnerte daher an die direkte Demokratie Athens und prognostizierte, dass auch in Paris bald nicht allgemeine Gesetze herrschen, sondern Einzelfallbeschlüsse wie die psephismata (die Einzelfallbeschlüssen des athenischen Volkes) gefallt würden. Unter Tradition verstand Burke nicht jeglichen historischen Bestand, der kritiklos und unverändert bewahrt bleiben sollte, sondern den Schutz vor politischer Willkür. Keineswegs wollte er jeglichen Wandel verwehren: dem Staat Wandlungsfähigkeit abzusprechen bedeutet fur Burke, ihm die Mittel der Selbstbehauptung zu verweigern (Reflections ed. Clark 170). Die Leistungen vergangener Generationen genössen jedoch aufgrund ihres Erfolges Geltung; sie dem vorschnellen Zugriff neuer Generationen zu entziehen heißt, die Gesellschaft resistenter gegen Willkür zu machen. Burkes Verteidigung der Klugheit gegen die abstrakte Vernunft stand demnach im englischen Diskurs des Common Law (Vollrath 1987, 152) und der artificial reason, die Edward Coke gegen die absolute Herrschaft der englischen Könige vorgebracht hatte. Burke verdunkelte seine Argumentation durch eine polemische Sprache. Zu den Verfechtern der Französischen Revolution in England gehörte die Zeitschrift Pig's Meat von Thomas Spence, der den Titel in Anspielung auf Burkes Phrase von der „swinish multitude" (Reflections ed. Clark 242) wählte und die Nationalisierung großen Landbesitzes forderte. Der von Burke angegriffene Richard Price hatte keine radikale Sprache gewählt, sein Urteil schien durchaus abgewogen zu sein. Ihm sprangen zahlreiche Autoren zur Seite (Butler 1984). Dazu gehörten William Godwin (1756-1836) und Mary Wollstonecraft, seit 1796 miteinander verheiratet, und Eltern von Mary Shelley, der Autorin des romantischen Schauerromans Frankenstein. In An Enquiry Concerning Political Justice (Februar 1793) bezog Godwin die Ereignisse der Französischen Revolution auf eine zivilisatorische Tendenz zum Fortschritt im Sinne der vernünftigen Beherrschung der Materie durch den Geist, die schließlich auch alle tradierten Formen politischer Herrschaft überflüssig machen würde. Diese Anschauung machte Godwin später zu einem Vordenker des Anarchismus. Wollstonecraft verteidigte nicht nur die menschenrechtliche Legitimation der Französischen Revolution (Vindication of the Rights of Man 1790), sondern mahnte auch die Erweiterung der Menschenrechtsidee um die Rechte der Frau an (Vindication of the Rights of Women 1792). Die wichtigste Reaktion auf Burke war aber Thomas Paines Buch Rights of Man, das in zwei Teilen 1791 und 1792 erschien. Thomas Paine (1737-1809) begann seine revolutionär Aktivität in Amerika: als Engländer kam er 1774 auf Anraten Benjamin Franklins, den er in London getroffen hatte, nach Amerika und unterstützte die Unabhängigkeitsbestrebungen der Kolonisten publizistisch. 1776 veröffentlichte er Common Sense, worin er zur vollständigen Unabhängigkeit vom britischen Mutterland riet. Der Titel war klug gewählt. Auf der einen Seite knüpfte er an jüngeren philosophischen Diskussion der Schottischen Aufklärung an (1764 war Thomas Reids An Enquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense erschienen), zum anderen argumentierte Paine nicht auf der Grundlage der klassischen Regierungslehre, sondern appel-

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lierte an die gemeinverständliche Vernunft, der er die Kosten einer militärischen Aufrüstung vorrechnete und so praktikabel erscheinen ließ. Der Erfolg dieses Pamphlets war gewaltig. Bei einer Bevölkerung von drei bis vier Millionen Menschen betrug die Gesamtauflage der Schrift in den ersten drei Monaten bereits etwa 120000 Exemplare, eine erstaunliche Größenordnung, die im ersten Jahr auf eine halbe Million anwuchs. Paine war mit einem Schlag der berühmteste Schriftsteller Amerikas (Claeys 1989, 51). Während des Unabhängigkeitskrieges schrieb Paine sechs weitere Pamphlete, die unter dem Titel The American Crisis gesammelt sind (1776-1783). Sie hatten gelegentlich den Stil einer Feldpredigt, wie sie auch von Ferguson oder später von Fichte stammen konnte. Vor der Schlacht von Trenton im Dezember 1776 ließ George Washington tatsächlich die erste dieser Druckschriften vor der Truppe verlesen. Anders als die Plantagenbesitzer, Anwälte und Großhändler, die die Autoren der Federalist Papers waren, zielte Paine auf das Kleinbürgertum, zumal die Handwerker, deren ökonomische und politische Selbständigkeit er gegen die Oberschichten schützen wollte (Howard 1990, 54-56). Paine verzichtete zunächst in den genannten Schriften auf das Wort Demokratie (Wootton 1994a), aber in seinem eigentlichen Hauptwerk, den Rights of Man stand es im Mittelpunkt. Paines Rights of Man war direkt an Burke adressiert und versuchte, das Vorgehen der Französischen Revolutionäre, insbesondere die Schaffung ihrer Verfassung von 1791, in allgemeinen und damit auch auf andere Länder anwendbaren Gesichtspunkten zu verteidigen. Nicht zu Unrecht sah Paine die Kritik Burkes nicht nur auf das Ereignis der Französischen Revolution zielen, als vielmehr auf die Idee der Demokratie, die Paine als das Ergebnis der Revolutionen auf beiden Seiten des Atlantiks ansah. Burke kritisierte an der Französischen Revolution die Missachtung historisch gewachsener Strukturen, was Thomas Paine zu dem revolutionär-demokratischen Schlachtruf provozierte, dass Menschen nicht durch Entscheidungen ihrer Großeltern auf ewig gebunden werden könnten (Rights of Man, ed. Stemmler S. 88). Demokratie bedeutete nach Paine das Recht eines Volkes auf Revolution, das Burke selbigem verweigerte. Paine sah im Verfassungsbegriff die Schwäche der Burkeschen Argumentation. Für Burke war die Verfassung das Ergebnis eines langen Prozesses von Regierungspraxis. Der revolutionäre und demokratische Begriff der Verfassung, den Paine in etwa demjenigen von Sieyes nachempfindet, veränderte jedoch diese Konstellation. Nun war es das Volk, das sich durch seine Repräsentanten für die Nationalversammlung eine Verfassung gab, welche jeder künftigen Regierung Form und Inhalt ihrer Tätigkeit weisen sollte. Das Modell hierfür ist der Gesellschaftsvertrag, weshalb Paine die französische Nationalversammlung von 1789 an eine Art personifizierten Vertrag deutete (84-88). In Burkes Sicht war der Gesellschaftsvertrag eine Idee von sich selbst überschätzenden Politikern, für Paine erhielt er als Verfassung Realität. Bezüglich der Regierungslehre jedoch verlangte auch Paine keine direkt-demokratische Exekutivgewalt. Er lobte vielmehr die Regierungstechnik der Repräsentation als jene moderne Entdeckung, die in den gegenwärtigen Revolutionen der Demokratie „aufgepfropft" werde und sie so veredele: die demokratische Legitimitätsstruktur bleibt seiner Ansicht nach erhalten, vermeidet aber die anarchischen Wildwüchse, wie sie die athenische Demokratie kennzeichneten, (Rights of Man ed. Stemmler 211-215). Damit propagierte Paine den Gedanken der „repräsentativen Demokratie" (Sternberger 1980b). Burke wandte hiergegen ein, dass Repräsentation etwas von der Demokratie unabhängiges, ihr in vielem sogar entgegengesetztes Prinzip ist und nicht mit ihr vermengt werden sollte (Sternberger 1980a; Claeys 1989, 6384).

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Im Mai 1792 erließ Pitt, alarmiert von der Wirkung von Thomas Paines Rights of Man, eine Proklamation gegen aufrührerische Schriften. Paine reagierte mit der Flucht. Er galt als Radikaler, ebenso wie Thomas Hardy, der fur das allgemeine Wahlrecht eintrat, und zu dessen Förderung er eine Kette von Vereinen über ganz Großbritannien hinweg gründete, vermutlich nach dem Vorbild des Jakobinerclubs. Er korrespondierte mit anderen „radikalen" Organisationen, darunter Verfechtern der schottischen und irischen Unabhängigkeit von England. Die Regierung bekämpfte diese - im Ganzen betrachtet rudimentären - Phänomene mit ungewöhnlicher Härte: die Habeas Corpus Akte wurde ausgesetzt, Personen verhaftet und ein Hochverratsprozess gegen Hardy eingeleitet, der allerdings freigesprochen wurde. Mit dem 1793 ausbrechenden Krieg gegen Frankreich verloren die Befürworter des französischen Modells erheblich an Zustimmung in der Öffentlichkeit, und es schien, als habe Burke im nachhinein Recht behalten, gegen Frankreich Front zu machen, zumal er prognostiziert hatte, dass am Ende der Revolution die Diktatur eines populären Generals stehen würde (Reflections ed. Clark 388). Nicht nur Burke lehnte Paine als Inbegriff des Demokraten ab. Stärker der republikanischen Tradition angehörige Autoren wie John Quincy Adams, der spätere 6. Präsident der USA und Sohn des 2. Präsidenten John Adams, verwahrte sich 1791 in Publicola gegen Paines angebliche Überlegung, dem Volk die Verfassungsgebung überlassen zu wollen und forderte Vertrauen in den Aushandlungsprozess von Repräsentanten, der durch die Bikameralität und andere Maßnahmen gegenseitiger Kontrolle moderiert werde. Paine hatte eine solche Forderung nicht erhoben, allerdings Mitwirkungsrechte empfohlen. Er selbst war nicht an den amerikanischen Verfassungsgebungen beteiligt, sehr wohl aber an den Französischen. Seine Verteidigung der Revolution gegen Burke honorierten die Französischen Revolutionäre mit der Staatsbürgerschaft, er wurde 1792 in den Konvent gewählt und beteiligte sich an den Arbeiten zur Ausfertigung einer neuen Verfassung, welche diejenige von 1791 ersetzen sollte. Während der Kämpfe zwischen den gemäßigten und den radikalen Kräften wurde er verhaftet und entkam der Hinrichtung nur knapp. Paine lebte noch bis 1802 in Frankreich. Danach kehrte er zurück nach Amerika und starb in New York City. Die Radikalisierung der Französischen Revolution Die französische Kompromissverfassung von 1791 schien den Fortschritt der Revolution nur zu hemmen. Als die Kriege mit Europa begannen und zudem der König sein Heil in der Flucht suchte, war deutlich, dass eine neue Verfassung nötig war. Der 1792 gewählte Konvent erklärte in seiner ersten Sitzung Frankreich zur Republik, verurteilte den König zum Tode und diskutierte die Prinzipien einer neuen Verfassung, bis er im Schatten der Kriege gegen Europa und dem Terreur der Jakobiner schließlich durch einen Putsch aufgelöst wurde. Alle Pläne zur Reform der Verfassung von 1791 standen unter dem Schlagwort der Demokratie, aber es gab zwei Wege, die zur Demokratisierung der Verfassung vorgeschlagen wurden: der gemäßigte Weg Condorcets, der mittels Institutionen die Menschen zum mehr oder weniger freiheitlich bestimmten Bürgersein vorbereiten sollte und der radikale Weg der Jakobiner, die über die Formung der Gesinnung der Bürger die Revolution sicherstellen wollten. Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat Marquis de Condorcet (1743-1794) ist in erster Linie als Philosoph und Mathematiker berühmt. Condorcet war aber auch der bedeutendste politische Theoretiker der Französischen Revolution nach Sieyes. Er zählte vor der Revolution zum Freundes- und Beraterkreis von Turgot und war ein aufmerksamer Beobachter der Arne-

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rikanischen Unabhängigkeitskrieges sowie der dortigen Verfassungsprozesse, wobei er den Bikameralismus kritisierte (Lettres d 'un bourgeois de New Haven ά un citoyen de Virginie, sur l'inutilite departager depouvoir legislatif entreplusieurs corps 1788). Bei den Wahlen zu den Generalständen stellte er sich als Adliger für den zweiten Stand auf, wurde aber nicht gewählt, weil er die Abstimmung der Generalstände nach Köpfen und nicht nach Ständen forderte. Ohne Mandat begleitete er Nationalversammlung und Revolution zunächst publizistisch: er schrieb verschiedene Entwürfe von Menschenrechtsdeklarationen und Verfassungen und gehörte zu den Mitbegründern der „Societe des amis des noirs" zur Befreiung der Sklaven. Condorcet hatte bereits 1781 in der Abhandlung Epitre dedicatoire aux negres esclaves die unhaltbare Situation der Sklaven beklagt. Nun versuchte er politisch, ihre Befreiung durchzusetzen. Als Präsident der „Societe" bat er in einem Rundschreiben an alle Amtsbezirke Frankreichs, die Abschaffung der Sklaverei in die cahiers de doleances aufzunehmen. Condorcet war 1791 Abgeordneter der Legislative und gehörte auch dem Konvent von 1792 an. Er arbeitete viel mit Thomas Paine zusammen, dessen Rights of Man Condorcets Frau Sophie teilweise ins Französische übersetzte. Einige unter Condorcets Namen veröffentlichte Arbeiten werden mittlerweile Sophie zugerechnet, insbesondere solche, deren Ton und Inhalt radikaler war. Sie war auch an seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten und Experimenten beteiligt. Condorcet seinerseits forderte öffentlich das Frauenwahlrecht (Sur I 'admission des femmes au droit de cite 1790). Er verlangte die vollständige Demokratisierung des Wahlrechts und eine andauernde Beteiligung des Wählerwillens. Hierzu schlug er die komplexe Überprüfung durch Urwählerversammlung und Referendum vor, flankiert von einer Volksjury als permanent begleitendem Organ der gesetzgebenden Versammlung. Condorcet verstand sich nicht als Parteigänger, wurde aber der Gironde zugerechnet und von den Jakobinern bekämpft und verfolgt. 1794 kam er auf der Flucht vor der Verhaftung um. Bereits die genannten Arbeiten zeichnen Condorcet als vielleicht konsequentesten aller rationalistischen Aufklärer aus. Condorcet hatte ferner vor dem Hintergrund seiner mathematischen Interessen einen völlig neuartigen Zugang zur Demokratietheorie eröffnet, und zwar über seine Wahltheorie {Arithmethique politique), Keim der heutigen Rationalwahltheorie. Wahlen waren immer schon Gegenstand theoretischer Erörterungen gewesen: Fragen zum Modus, so etwa die nach Öffentlichkeit oder Geheimhaltung der Abstimmung (Buchstein 2000), Fragen des Wahlrechts und des Stimmgewichts. Ausgehend vom Problem der Zuwahl von Mitgliedern zur französischen Akademie der Wissenschaften, das Jean Charles de Borda 1770 öffentlich diskutierte, nahm Condorcet die Problematik auf und entwickelte seine eigene Wahltheorie (Lüchinger 2002, 208-213). Condorcet warf Montesquieu vor, das Wahlverfahren als elementaren Bestandteil der Repräsentation unterschätzt zu haben (Observations sur le XXIXe livre de I'esprit des lois, posthum). Die Verbindlichkeit von Wahlentscheidungen ist in Condorcets Augen nur gegeben, wenn diese ein wahres Abbild der Intentionen und Präferenzen der Wähler spiegeln und nicht durch Mängel der Wahlverfahrens verfälscht werden (Sur les assemblies provengiales von 1788: Oeuvres VIII 118). Das mathematische Problem bestand darin, die Wählerpräferenzen bei mehreren Kandidaten proportional gerecht zu verteilen. Condorcet entdeckte das in der heutigen Forschung nach ihm benannte Paradox, wonach es unmöglich ist, aus den Präferenzlisten von Individuen kollektive Listen zu erstellen (Essai sur I'application d'analyse a la probalitite des decisions rendues ά la pluralite de voix 1785). Als Problem der Wahrscheinlichkeitstheorie hat es Kenneth Arrow nach dem Zweiten

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Weltkrieg mit Verbindlichkeit für die Rationalwahltheorie neu formuliert, ohne zu diesem Zeitpunkt Condorcets Erstbehandlung gekannt zu haben. Das Condorcet-Paradox gehört zum Kernbestand des Rationalwahlflügels in der gegenwärtigen Demokratietheorie (Hardin 1993; McLean/Urken 1995). Condorcets Verfahrensvorschlag war ebenso komplex wie aufwendig in der Durchführung und konnte sich weder in der Akademie noch später in der von ihm ansonsten stark beeinflussten Verfassung von 1793 durchsetzen. Stattdessen wurde das zweistufige Wahlverfahren mit einfacher Mehrheit und Stichwahl unter den beiden Bestplazierten des ersten Wahlgangs eingeführt. Condorcet hatte vergeblich den Konvent umzustimmen versucht und kritisierte das Ergebnis scharf (Sur les elections, 1. Juni 1793, in: Oeuvres XII 637-644, bei Lüchinger 2002, 212-213). Hier stießen zwei unterschiedliche Denkweisen bezüglich des Sinns und der Grundlagen des politischen Wahlverfahrens aufeinander. Man kann entweder die absolute Gerechtigkeit anstreben und aufwendige Verfahrensmodelle verlangen, die kostspielig sind und auch viel Zeit verlangen, oder aber man sieht das Verfahren als eine Frage kluger Balancierung der Ziele, die angestrebt werden: Spiegelung des Wählerwillens, aber auch Klarheit des Ergebnisses zum Zwecke der Stabilität der durch diese Wahlen erzeugten Institutionen. Diese Frage hängt auch von der Perspektive ab: Betrachtet man die Wahl aus der Sicht der Individuen und ihres Stimmgewichts, in der Demokratie also unter dem Gesichtspunkt der Stimmgewichtsgleichheit, so muss man verlangen, dass der Wählerwille sich möglichst getreu im Wahlergebnis spiegelt. Betrachtet man es aber aus der Sicht der durch Wahlen zu kreierenden Organe, so stehen Klarheit und Stabilität im Vordergrund und somit eine andere Logik der Argumentation, die nicht in der Rationalwahltheorie, sondern im Institutionalismus beheimatet ist. Die mathematische Argumentation bietet die Gewähr der Objektivität; für Condorcet war sie Ausdruck der Vernunft und damit inhärent gerecht. Aber sie war nicht das einzige Kriterium, das er gelten ließ. Er plädierte dafür, das demokratische Verfahren einem aufgeklärten Volk vorzubehalten. Sei das Volk aber nicht ausreichend aufgeklärt, sollte sein Entscheidungsrecht auf solche Fragen begrenzt werden, die das allgemeine Interesse berührten (Condorcet nennt Sicherheit, Freiheit und Eigentum) und deswegen genügend Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermochten. Condorcet verlangte daher von der Republik, das Volk aufzuklären, damit es das Subjekt der Herrschaft sein kann, das es nominell mit der Revolution geworden war. Das Mittel hierzu war die Erziehung. Die Französische Revolution setzte den republikanischen Gedanken der Erziehung der Menschen zu Bürgern institutionell um, indem sie staatliche Schulen begründete und höhere Bildungsanstalten initiierte, in welchen durch einen Ausleseprozess der Republik die fähigsten Kräfte zuwachsen sollten. Die zuvor überwiegend von der Katholischen Kirche organisierte Schulbildung stand unter dem Verdacht der Indoktrination und sollte durch staatliche Schulen abgelöst werden. Im Geiste republikanischer Elitenforderung wurde die heutige „Ecole Normale Superieur" unter dem Namen „Ecole Normale de Γ an III" 1794 nach Plänen von Joseph Lakanal gegründet. Er hatte hierzu Rousseau studiert und kam mit Blick auf sein Erziehungsprogramm zu dem Schluss, erst die Revolution habe das Verständnis für Rousseau geschaffen (Rapport sur J.J. Rousseau, fait au nom du Co mite d'Instruction publique). Ursprünglich sollten Volksjuries auf 40000 Bürger einen geeignete Anwärter auswählen. Die im gleichen Jahr gegründete „Ecole polytechnique" legte ihr Augenmerk auf die technische Ausbildung. Im Vorfeld dieser Gründungen wurden in intensiven Debatten und in zahlreichen Programmentwürfen Sinn und Zweck staatlicher Erziehung erörtert. Condorcet war einer der wichtigsten Debattenteilnehmer, aber bei weitem nicht der einzige (Bazcko 1982).

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Condorcets Beiträge, vor allem der Rapport sur Γorganisation generale de I 'instruction publique vom April 1792, sah einen detaillierten Erziehungsplan für drei Altersklassen von 9 bis 21 vor. Die Absicht lag in der Vorbereitung auf die verschiedenen Tätigkeiten als Bürger, wozu er neben die Wahrnehmung politischer Funktionen in Ämtern alle Tätigkeiten mit Wirkung auf das Gemeinwohl zählte (Kintzler 1987). Condorcet führte aus, dass die Einfuhrung des Buchdrucks die kommunikativen Strukturen der Politik im Vergleich zur Antike erheblich verändert habe: die orale sei der schriftlichen Kommunikation gewichen. Politische Entscheidungen würden nicht mehr von der Redegewalt des Orators abhängig. Andererseits habe der Buchdruck die Zahl des Publikums erheblich erweitert und die öffentliche Meinung von der ihrer Repräsentanten getrennt. Die Vielzahl der Schriften mache eine rasche Lektüre erforderlich. Die Vernunft kann Condorcet zufolge nicht den ihr gebührenden Einfluss auf die Meinungsbildung ausüben, da die Sprache missbräuchlich verwendet werden kann. Der Schule nun wächst die Aufgabe zu, das Volk vor diesem Missbrauch mittels Erziehung und Aufklärung zu schützen (Cinq memoires sur I 'instruction publique, 2nd memoir: De I'instruction commune pour les enfants). Daher maß Condorcet auch der Unterrichtung in Naturwissenschaften an den Schulen eine aufklärerische Wirkung auf die politische Meinungsbildung zu, und zwar als eine Einübung in Rationalität. Für die jakobinische Erziehungspolitik sollte die Schule eher der Ausbildung zur Tugend dienen (Higonnet 1998, 206-209), um alle konter-revolutionären Einflüsse von vornherein auszuschalten. Collot wandte gegen Condorcet ein, dass eine zu große Wissensvermittlung die Gleichheit der Bürger unterlaufen könne, wenn nicht auch der nötige „civisme" gelehrt werde. Robespierre setzte im Konvent den im Nachlass des ermordeten Abgeordneten LouisMichel Le Peletier de Saint-Fargeau gefundenen Schulplan durch, und zwar an dem Tag, da die Ermordung Marats die öffentliche Meinung erzürnte. Nach spartanischem Vorbild sollten die Schüler in Internaten ihren Familien entzogen und einem Tugenddrill unterzogen werden. Die republikanische Indoktrination ersetzte diejenige der Kirche. Condorcet vertraute dagegen auf die Ermöglichung eines eigenständigen Urteilsvermögens, das weniger durch Gesinnungsübungen als vielmehr durch Wissen in allen Bereichen erworben werden sollte. Die Verfassungsdebatten der Jahre 1792 und 1793 verloren ihren Sinn mit den Notwendigkeiten der Kriegführung. Die Regierung war zwar als Ausschuss des nominell vorrangigen Parlaments gedacht, aber der Wohlfahrtsausschuss zog immer mehr Kompetenzen an sich. Da die Revolutionäre annahmen, nicht nur einen Krieg nach außen gegen die feindlichen europäischen Monarchien wie England und Österreich führen zu müssen, sondern vor allem nach innen, gegen konter-revolutionäre Kräfte, wandelte sich am Ende die Wohlfahrt in Terror. Maximilien Robespierre, der Kopf der Jakobiner, war davon überzeugt, dass in jedem Menschen ein Konter-Revolutionär lauert und er letztlich nur durch den Terror dazu gebracht werden kann, die Anstrengungen der Tugend in den Dienst der Republik zu stellen. Der Terreur stand aber am Ende einer die gesamte Revolution begleitenden Debatte darüber, was nun eigentlich das Volk sei, das sich seine Verfassung gab. Das Parlament hatte gegen die traditionelle Repräsentationsstellung des Monarchen seine eigene, nationale Legitimität durchsetzen können. Die Stellung des Parlaments zur Nation war jedoch von Beginn an prekär. Teile der Bevölkerung beanspruchten, als „Volk" eine Kontrolle über die Tätigkeit der Abgeordneten auszuüben. Ob von der Tribüne des Parlaments, auf der Straße in den journees, in der öffentlichen Meinung der Gazetten oder in den direktdemokratischen Versammlungen der Sektionen und schließlich in den diversen politischen Clubs: das „Volk" bildete

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rasch eine beachtliche Gegenrepräsentation zum Parlament. Die Tätlichkeiten der Zuschauer der Debatten der Nationalversammlung gegen Abgeordnete gehörten zu den Begleitumständen der dortigen Diskussionen. Schon in Versailles war es im Juni 1789 zu handgreiflichen Attacken gegen Abgeordnete gekommen, als diese die Versammlung verließen (Thompson 1951, 24). Ständig versuchten Versammlung und Magistrat ihre Handlungen vom Druck der Straße zu befreien, verlangten Ausnahmedekrete, setzten die Zensur gegen ihrer Ansicht nach aufrührerische Demagogen der Feder ein und waren schließlich auch bereit, die Nationalgarde mit Waffengewalt gegen vermeintliche oder offene Gegner der repräsentativen Deliberation einzusetzen. Das imperative Mandat erfreute sich jedoch - wenigstens als Grundsatzforderung - großer Beliebtheit: Abgeordnete waren Beauftragte oder Bevollmächtigte und konnten jederzeit an ihren Auftrag erinnert werden. Wer allerdings diesen Auftrag während des Mandats zu formulieren autorisiert war, blieb eine ungeklärte Frage. Wie bindend waren Majoritätsentscheidungen? Konnte nachträgliche Kritik an formal korrekt zustande gekommenen Entscheidungen die Autorität des Parlaments in Frage stellen und somit die politische Ordnung destabilisieren? Mirabeau rief als damaliger Präsident der Jakobinerclubs Robespierre zur Ordnung, der gegen ein bereits erlassenes Dekret sprach (Aulard 1889-1897,1404). Die politischen Clubs stellten ebenso eine Gegenöffentlichkeit zum Parlament da, wie auch die Straße oder die Sektionsversammlungen der Pariser Bevölkerung. Thuriot forderte im Oktober 1791 dazu auf, den Jakobiner-Club nicht als Anklagebehörde gegen die „autorites constituees" zu missbrauchen (Aulard 1889-1897 III 225). Immer stärker ging der Jakobiner-Club dazu über, nicht mehr nur künftige Sitzungen der Nationalversammlung vorzubereiten, sondern abgeschlossene nachzubereiten, verbunden mit allen möglichen Protesten und Appellationen. Die Clubs errichteten auch ihre eigene revolutionäre Mythologie. Büsten republikanischer Heroen schmückten die Debattenräume; die am meisten verewigten waren Rousseau, Benjamin Franklin, Algernon Sidney, Mably, Richard Price und Mirabeau (Aulard 1889-1897 III 291), ferner Voltaire, Solon, Brutus und Washington (Brinton 1930, 187). Später kamen dann Opfer von Mordanschlägen wie Marat und Le Peletier hinzu, die als Märtyrer der Revolution gefeiert wurden. Die Dualität von hauptstädtischer Politik und nationaler Repräsentation einerseits sowie die Dualität innerhalb der Hauptstadt zwischen dem städtischen Magistrat und den Sektionen in den einzelnen Stadtvierteln beherrschte die weitere Entwicklung. Die Sektionen verstanden sich als Vertretung der parlamentarisch Unvertretenen, als das politisch aktive Volk mit der Straße als Versammlungsort und den Sektionen als Forum. Man warf dem Bürgertum vor, sich im Zuge der Nationalisierung des Kirchengutes und der Güter eines großen Teils des Adels persönlich bereichert zu haben, während die Versorgung der Hauptstadt immer prekärer wurde. Die Versorgungslage von Paris bildete weiterhin den Hintergrund revolutionärer Politik und deren gezielter Eigentumseingriffe (Petersen 1979). Die Jakobiner feierten das städtische Kleinbürgertum als die eigentliche Trägerschicht der Revolution und instrumentalisieren den Begriff des Volkes, um der eigenen Machtbasis eine Legitimation zu verschaffen. Volk meinte nicht mehr die Nation im Sinne von Sieyes und damit letztlich das wirtschaftende Bürgertum, sondern vielmehr das städtische Kleinbürgertum. Dieser Gegensatz fand seinen symbolisch verdichteten Umstand in dem Habitus des Bürgertums, die aristokratische Mode der Kniehose (culotte) samt Seidenstrumpf anzunehmen, das Kleinbürgertum bevorzugte dagegen die knöchellange Hose, daher der Ausdruck „Sansculotte". Die Idee der Demokratie war das allgegenwärtige politische Schlagwort, um

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die städtischen Schichten ungeachtet ihres geringen Einkommens zu Vollbürgern zu machen. Für Louis-Antoine Saint-Just, den wichtigsten Mitstreiter Robespierres, bestand der Vorzug der Demokratie in der Möglichkeit des Eingriffs in Eigentum und Freiheit, um dem Willen des Volkes Geltung zu verschaffen. Hierzu sei auch der Terror erlaubt: er habe nichts mit dem Willkürregime der Tyrannis zu tun, sondern zwinge die widerstrebenden Teile der Bevölkerung zum Gesetzesgehorsam. Der Terror war hierzu das geeignete Instrument im legitimen Kampf des Volkes gegen eine Minderheit von Eigentümern und Privilegierten. Zugleich diente er der Verstetigung der Tugend des Volkes selbst, denn er hielt die Kräfte wach, die für die Revolution notwendig seien. In diesen Überlegungen wirkten sowohl die traditionelle Gegenüberstellung von Demokratie und Oligarchie fort wie der dem Republikanismus entlehnte Tugendbegriff (.Rapport sur la necessite de declarer le gouvernement revolutionnaire 1793). Der Kampf der Jakobiner und ihres wichtigsten Wortführers Robespierre galt zunächst der Gironde. In seiner Konventsrede Über die repräsentative Regierung vom 10. Mai 1793 sprach sich Robespierre zunächst gegen den parlamentarischen Alleinvertretungsanspruch der girondistischen Mehrheit aus und hielt ihr ein Demokratieverständnis entgegen, das allen Volksversammlungen unterhalb der parlamentarischen Schwelle - gemeint war insbesondere die Pariser Commune - eine eigenständige Legitimität zugestand. Dem athenischen Modell folgend forderte er Diäten für die einfache Bevölkerung in den Pariser Sektionen, die sich in diesen Versammlungen um das Wohl aller kümmerte. Als Robespierre jedoch selbst politische Verantwortung trug, interpretierte er die gepriesene Tugend des Volkes dahingehend, dass das Volk alles tut, was es tun kann und alles übrige seinen Abgeordneten überlässt {Liber die Grundsätze der revolutionären Regierung, Rede vom 25.12.1793: Ausgewählte Texte 586). Im Kampf gegen die noch stärker radikalisierten Hebertisten lehnte er in der Rede vom 5. Februar 1794 Über die Prinzipien der politischen Moral eine bruchlose Übertragung des antiken Konzeptes der unmittelbaren Demokratie auf die französischen Verhältnisse ab. Solche Forderungen würden von Extremisten stammen, die genauso zu Feinden der Revolution gerechnet werden müssten wie die reaktionären Kräfte, da sie den Bogen der Revolution überspannten. Das Volk müsse tun, was es zu tun imstande sei, aber hauptsächlich müsse es von guten Gesetzen angeleitet werden. Der Zweck der Revolution verlangt einen Umbau der Gesellschaft: Moralität an Stelle von Egoismus, Redlichkeit statt Ehre, Pflichten statt guter Manieren, die die Herrschaft der Vernunft statt der Tyrannei der Mode, die Liebe zum Ruhme statt der Liebe zum Geld, mit einem Wort: die Tugend an Stelle des ancien regime. Die Tugend ist laut Robespierre kein der christlichen Ethik entnommener Begriff, sondern vielmehr jene Tugend, die Montesquieu beschrieb und Rousseau feierte: die Liebe zum Vaterland und zu den Gesetzen. Das Wesen der Demokratie sei aber die Gleichheit und diese das Prinzip aller Gesetze der Revolution. Nachdem Robespierre die Gironde dekapitiert hatte, entledigte er sich der radikalen Hebertisten und danach der moderaten Dantonisten auf gleiche Weise. Wie der Girondist Vergniaud vor seiner Hinrichtung gesagt hatte, verhielt sich die Revolution wie Saturn und fraß ihre eigenen Kinder. Der Ablauf der Ereignisse wurde von Karl Max bis Lenin als Paradigma revolutionärer Prozesse gedeutet: dem „bürgerlichen" Sieg über den Feudalismus folgten Kämpfe in den Reihen der Revolutionäre zwischen denjenigen Kräften, die die Revolution fortsetzen und solchen, die sie konsolidieren wollten, gefolgt von Flügelkämpfen innerhalb der Radikalen. Die Revolution wandelte sich von der Befreiung des Volkes zu einem auferzwungenen Umerziehungsprozess. Robespierre führte im Mai 1794 den Kult der Vernunft

3 Die Revolution denken: Kant und die deutsche Revolutionsdebatte

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ein, zahllose Festivitäten, versuchten dem ätherischen Gedanken der Tugend einen Körper zu verleihen. Andererseits verhallte der Tugendappell an das Volk nicht fruchtlos. In den Kriegen gegen die Koalitionen der umliegenden Länder des ancien regimes und Großbritanniens setzte mit den Reformen Lazare Carnots und der Einfuhrung der Wehrpflicht das Zeitalter der Volksheere ein: dem Ruf „levee en masse" im August 1793 folgten viele. Nur in der Wirtschaftspolitik ersetzte der Tugendappell nicht den Produktionsprozess. Die rigorose Preissteuerung durch Robespierre konnte die Inflation nicht stoppen und brachte ihn selbst auf das Schafott. Die Zügellosigkeit der enthemmten revolutionären Energien folgte das Direktorium, Napoleon Bonaparte erklärte die Revolution für beendet, was er im Sinne von „erfüllt" verstanden wissen wollte.

3. Die Revolution denken: Kant und die deutsche Revolutionsdebatte Die europäische Öffentlichkeit war zwiespältig, was man unter „Französischer Revolution" zu verstehen habe: ihre Anhänger identifizierten sie mit den Ereignissen von 1789, wer sie dagegen ablehnte, verstand darunter das Schreckensregime der Jahre 1793 und 1794. Die Hinrichtung des Königs, der hasserfüllte Kampf gegen die alte Aristokratie und die Kirche, die Anarchie der Straße und der Terreur verschreckten das europäische Publikum, die Absicht, das menschliche Zusammenleben nach vernünftigen Prinzipien, nach Ideen der Aufklärung gestalten zu wollen, konnten es begeisterten. Hegel erinnerte sich seiner jugendlichen Begeisterung und schenkte ihr auch später noch, in seiner ab 1822 mehrfach gehaltenen Vorlesung zur Geschichtsphilosophie, besonders ausdrucksstarke Worte: „Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumreisen, war das nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf, d.i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut" (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke XII 529). Die Ziele der französischen Revolutionäre wurden nach Europa hinausgetragen, um dessen Völker zu „befreien". Doch die Befreiung erfolgte oft kriegerisch. Die englischen Verteidiger der Revolution verstummten angesichts der anhaltenden Kriege. Besaßen die Völker angesichts dieser Vorkommnisse überhaupt ein Recht zur Revolution? Rechts des Rheins, in den Regionen, die weniger von erfolgreicher politischer Praxis als von der Kraft des Gedankens geprägt waren, setzte sich die Auffassung durch, die Revolution nicht politisch nachzuahmen, sondern sie zu „denken" - Kant war ihr Vordenker. Bereits vor Ausbruch der Revolution zählte Immanuel Kant (1724-1804), der in Königsberg lebte und starb, zu den herausragenden Philosophen Europas. Er konnte auf eine in Deutschland universitär gebildete Variante des Naturrechts zurückgreifen, die bereits auf Pufendorf zurückging und die sich in Halle in den Lehren von Christian Thomasius (1655-1728) und dann vor allem Christian Wolff (siehe Abschnitt „Frieden und Krieg") etablierte. Auffällig war das in deutscher Sprache verfasste Lehrbuch des Naturrechts von Thomasius sowie sein Kurtzer Entwurff [!] der politischen Klugheit (1705), eine Verarbeitung des Staatsräsonmaterials in Verbindung mit einer sie mäßigenden christlichen Morallehre. Im Zentrum dieses Diskurses standen Systementwürfe des Naturrechts, an ihrer Spitze Christian Wolffs Werk Grundsätze des Natur- und Völckerrechts von 1754, das noch einmal an die Tradition Pufendorfs anknüpfte. Kant vollendete die deutsche Aufklärung durch die konsequente Zuspitzung ihres Vemunftbegriffs zum rationalen Naturrecht seiner „kritischen Philosophie". 1788 legte er nicht nur

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die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft vor, sondern auch die Erstausgabe der Kritik der praktischen Vernunft. 1785 und 1786 war bereits in zwei Auflagen die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erschienen, welche in ihrer zeitgenössischen Wirkungsgeschichte die praktische Vernunftkritik zunächst überragte. Nach Ausbruch der Französischen Revolution folgten noch die Kritik der Urteilskraft, worin er bereits auf die weltgeschichtlichen Ereignisse einging (§ 65), der Gemeinspruch-Aufsatz von 1793, die Schrift zum Ewigen Frieden 1795, schließlich 1798 die Metaphysik der Sitten. Im Zentrum sowohl der theoretischen wie auch der praktischen Philosophie Kants stand der Begriff der Freiheit, welchem er eine rationale Grundlegung geben wollte, um zugleich die praktische Realität dieses Begriffs zu klären. Freiheit ist für Kant der Grund, auf welchem alle Praxis stehen soll. „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist" (Kritik der reinen Vernunft 1787, Β 828). Praktische Freiheit ist „Unabhängigkeit des Willens von jedem anderen außer allein dem moralischen Gesetze" {Kritik der praktischen Vernunft 218). Freiheit gehört Kant zufolge der „noumenalen" Welt der Vernunft an und wird durch den Mensch als ihrem praktischen Vehikel in der Empirie wirklich. Gleichsam die Relaisstation beider Welten ist der menschliche Wille. Es gibt also außerhalb des Menschen keine Freiheit, sie wirkt nur über den Willen auf die phänomenale Welt ein. Kant nahm Rousseau'sche Gedanken auf, und zwar sowohl die Grundüberlegung, wonach die moralische Zurechenbarkeit ausschließlich auf freie Handlungen erfolgen darf, wie auch die Konzentration auf den Willen. Anders als Rousseau ist fur Kant jedoch die freiheitlich beeinflusste Welt von nachrangiger Bedeutung: nur der Inhalt des Willens kann moralisch sein, seine tatsächlichen Konsequenzen in der empirischen Welt sind irrelevant. Freiheit wird ohne Institutionen praktisch: Kant legte die Autonomie als individuelle Selbstgesetzgebung aus. Die Gesetze sind nicht Ausdruck menschlicher Willensfreiheit, sondern Gefäß rationaler Vernunft. Diese Grundüberlegungen bestimmten auch seine politische Theorie. In deren Zentrum stand die republikanische Idee der Gesetzesherrschaft als Überwindung des Naturzustandes. Kant nahm die Rousseausche Idee des Allgemeinwillens auf und deutete diesen als „Recht", verstanden als Ausdruck der Vernunft. Der Allgemeinwille ist nicht mit der Willkür des Einzelnen noch mit der Willkür des Volkes in seiner Mehrheit identisch, sondern ist vielmehr Vernunftrecht und birgt daher für die Idee der Volksherrschaft einige Überraschungen. So verpflichtet Kant den Staat auf die klassische Gemeinwohlformel „salus rei publicae suprema lex", sagt aber ausdrücklich, diese betreffe das „Heil des Staates", nicht dagegen das „Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit". Denn der Rechtsstaat gilt als Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien, die aufgrund ihrer Vernünftigkeit verbindlich sind und nicht wegen des von ihnen sichergestellten empirischen Glücks der Menschen (Metaphysik der Sitten, I 2, Allgemeine Anmerkung: Werke VIII, 437; zuvor: Gemeinspruch 1793: Werke XI, 158). Was die Vernunft vorschreibt sieht Kant weder in den aufgeklärten Monarchien noch in der französischen Republik verwirklicht. Im Rechtsstaat ist die Vernunft souverän, politische Herrschaftsgewalt geht ihrem Grunde nach vom Volk aus, doch ist sie nicht von dem Volkswillen abhängig. Die Volksherrschaft war für Kant eine regulative Idee, keine praktische Institution. Er entschärfte die Rousseausche Figur des Gesellschaftsvertrages, worin er kein Modell der Verfassungsgebung sah, wie kurz zuvor noch Thomas Paine dies gegen Burke betont hatte, sondern eine „bloße Idee der Vernunft," ein „Probierstein der Rechtmäßigkeit" (Gemeinspruch: Werke XI, 153). Ein Gesetz ist legitim, wenn alle Menschen kraft ihres Vernunftvermögens

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dem allgemeinen Gesetz zustimmen müssten, ganz gleich, ob sie dies tatsächlich tun werden. Die Verfassung war für Kant bereits in der Kritik der reinen Vernunft (B 373) eine theoretische Aufgabe, die darin bestand, eine Verfassung zu denken, in welcher die größte menschliche Freiheit möglich ist und die zugleich mit der Freiheit eines jeden anderen bestehen kann. Diese Aufgabe hat Kant in seinen späteren praktischen Erörterungen aufgegriffen und sich hierbei nicht von der Theorie des Verfassungsstaates in Amerika oder Frankreich beirren lassen. Daher hängt die Rechtmäßigkeit einer Verfassung bei ihm auch nicht davon ab, ob das Volk selbst sie sich gegeben hat. Ähnliches sagte Kant zur Rechtmäßigkeit von Gesetzen. Auch hierzu ist nicht die tatsächliche Zustimmung eines empirischen Volkes nötig. Als Maßstab der Rechtmäßigkeit von Gesetzen ist vielmehr die Vorstellung anzusehen, dass nur dasjenige als Gesetz angesehen werden darf, was ein Volk sich selbst geben würde, wenn es denn ein vernünftiges Volk wäre. Entspricht das Gesetz diesem Maßstab, so ist seine Geltung wiederum nicht von der Zustimmung des tatsächlichen Volkes abhängig. Kant bezeichnet den anzustrebenden Zustand auch als „bürgerliche Verfassung", die alle Ebenen der menschlichen Interaktion umfasst: die innerstaatliche Verfassung, den Verkehr der Staaten untereinander und die Ebene der Interaktion der Individuen als Weltbürger. Das war der systematische Schluss aus der Theorieanlage des rationalen Naturrechts. Ist nur eine dieser Ebenen nicht vollständig vernunftrechtlich geregelt, so droht insgesamt der Naturzustand (Ewiger Friede: Werke XI, 203). Alle einschlägigen Arbeiten Kants (Gemeinspruch, Zum ewigen Frieden, Metaphysik der Sitten) versuchen daher Antworten für alle drei Ebenen zu erbringen. Die Endgestalt des Rechtsstaates ist die Republik, die in einem föderalen Bund mit anderen Republiken koexistiert. Sie ist in Kants Augen auch das Ziel der weiteren Entwicklung der Menschheit. Ihre Form lässt sich an der Trennung von legislativer und exekutiver Gewalt sowie am System der Repräsentation erkennen. Den bürgerlichen Zustand als „rechtlichen Zustand" betrachtet, d.h. nur hinsichtlich seines Geltungsanspruches, nicht seiner Wirksamkeit, gliedert Kant in drei Ebenen (Gemeinspruch: Werke XI, 145): die Ebene des Menschen als Glied der Sozietät, worin ihm Freiheit zukommt, die Ebene der Untertanen, die gleich vor dem Gesetz sind und schließlich die Ebene des Bürgers, der an der Gesetzgebung mitwirkt und hierzu der Qualifizierung der Selbständigkeit bedarf. Die Selbständigkeit, von Kant „sibisufficientia" genannt (Gemeinspruch: Werke XI, 150151), ist die Qualifizierung, die er neben den „natürlichen" Qualitäten, nicht Kind oder „Weib" sein zu dürfen, aufweisen muss, um Staatsbürger sein zu können. Erst das Eigentum lässt Personen als Selbständige miteinander in Verkehr treten, die soweit unabhängig sind, dass ihr Urteil als selbständig angesehen werden kann. Die einem anderen zur Verfügung gestellte Dienstleistung der Arbeitskraft reicht nicht hin. Daher sah Kant zwar beim Perückenmacher die erforderliche Selbständigkeit erfüllt, da dieser Eigentum an den Rohstoffen hat, aus welchen er die dann zu verkaufende Perücke fertigt, nicht aber beim Friseur, welcher nur kraft seiner Arbeit tätig wird, an dem Gegenstand seiner Arbeit aber kein Eigentum besitzt. In einem solchen Modell bürgerlicher Personalität war für den Gedanken des Wohlfahrtsstaates im modernen Sinne kein Platz. Wo in der Revolution von Brüderlichkeit die Rede war, sprach Kant von Selbständigkeit (Kersting 1993, 381-392), weshalb bei ihm auch jede Dimension der Solidarität fehlt (Kersting 1993, 372-381 gegen Luf 1978, 147). Je geringer die Zahl der Herrscher und um so größer die Repräsentation, desto eher stimmt eine Verfassung damit überein, was Kant Republikanismus nannte (Ewiger Friede: Werke XI, 207). Weder die alten noch die existierenden Staaten haben den Status einer bürgerlichen Verfassung bzw. der Republik bereits erreicht. Kant lobte die Selbstbeschreibung Friedrichs

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des Großen als erster Diener des Staates (Ewiger Friede 207; Cavallar 1993); ihn beeindruckte besonders das von Friedrich in Auftrag gegebene Allgemeine Preußische Landrecht, wie er generell an die Reformfähigkeit eines aufgeklärten preußischen Staates seine größten Hoffnungen knüpfte (Langer 1986). Dieser Staat entsprach aber noch nicht Kants idealer republikanischer Verfassung mangels Trennung von legislative und Exekutive. Der Staat der französischen Revolution interpretierte Kant als Demokratie und galt ihm geradezu als Gegensatz zur Republik: er nannte sie eine demokratische Despotie {Ewiger Friede: Werke XI, 206-207). Auf dem Wege zur Republik ist laut Kant Revolution nicht erlaubt. Das Volk muss der Verfassung nicht zustimmen, es hat auch kein Widerstandsrecht gegenüber einem Regime, das ihm tyrannisch vorkommt. Die erste Voraussetzung von Gesetzesherrschaft ist Gehorsam. Hiervon abzuweichen bedeutet Anarchie und ist dem Naturzustand näher als dem bürgerlichen oder Gesetzeszustand, in dessen Namen man doch angeblich revoltiert. Die Anarchiegefahr verbietet es den Untertanen, sich selbst an die Stelle eines Gerichts über den Oberherren zu stellen (Gemeinspruch: Werke XI, 156-157). Eine solche Obergewalt einzurichten ist aber das Ziel der bürgerlichen Vereinigung. Das Widerstandsrecht des Volkes müsste daher, als allgemeines Prinzip gedacht, zur Aufhebung der Idee der Regierung führen und stellt einen Selbstwiderspruch dar. Selbst die Fälle, in welchen dem Aufstand eine konstruktive Staatsgründung folgt, sieht Kant mit Skepsis. So sind, wie er sagte, die „Empörungen" der Engländer in der Glorious Revolution genauso kritisch zu sehen wie die Erhebung der Schweizer und der Niederländer gegen die Herrschaft der Habsburger. Gewaltsamer Widerstand gegenüber existierenden Gesetzen ist in Kants Augen ein Selbstwiderspruch des Volkes, das damit den gedanklichen Fehler begeht, Gesetzlichkeit als solche in Frage zu stellen. Gewaltsamkeit der Regierung als gedanklichen Fehler thematisierte Kant dagegen nicht. Er beruhigte sich mit der Annahme, dass kein Monarch willentlich Unrecht tut (Gemeinspruch: Werke XI, 161). Kant scheute die politische Auseinandersetzung: „Autokratisch herrschen", aber „im Geiste des Republikanism" regieren, das erzeuge die Zufriedenheit im Volk und damit Stabilität einer politischen Ordnung (Der Streit der Fakultäten 1798: Werke XII, 360 Anm.). Freiheitsgesetze sollten gelten, „wie ein Volk mit reifer Vernunft sie sich selbst vorschreiben würde," aber hierzu muss es nicht um seine tatsächliche Einwilligung gebeten werden (Streit der Fakultäten: Werke XII, 365). Die Rigorosität Kants in diesem Punkt ist bemerkenswert. Sie sorgte unter seinen Anhängern für erheblichen Unmut und weckte den Zweifel, ob Kant - bei aller Kritik an den revolutionären Mitteln - zu den Befürwortern der revolutionären Ziele gehörte. Auch Institutionen innerhalb eines Staates dürfen keinen Widerstand anordnen: am Beispiel der britischen Verfassung demonstrierte Kant, dass hier Widerstand gar nicht vorgesehen sei. Interessanterweise scheint Kant hierbei das Prinzip der Gewaltenteilung abzulehnen, sofern darunter eine „öffentlich konstituierte Gegenmacht" (Gemeinspruch: Werke XI, 160) verstanden wäre: wer sollte Richter in eigener Sache sein, ohne damit zugleich insgeheim immer schon die bestehende Verfassung aufzuheben? In der Metaphysik der Sitten konzedierte Kant immerhin ein negatives Widerstandsrecht des Parlaments (als Volksvertretung) im Sinne der Verweigerung der Gefolgschaft, aber nicht im Sinne eines Aufrufs an das Volk, die Regierung zu einer anderen Politik zwingen zu wollen (I 2 Allgemeine Anmerkung: Werke VIII, 441). Insoweit hat eine solche passive Weigerung eher demonstrativen als praktischen Sinn, so wie alle Untertanen ihr Missfallen mit der Regierung als freie Meinungsäußerung bekunden dürfen, was allerdings folgenlos bleiben kann (Gemeinspruch: Werke XI,

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161). Kant dachte wohl an eine öffentliche Debatte zur Frage, welche Reformen nötig seien. Er machte aber keine Angaben darüber, wie institutionell sichergestellt werden kann, dass diese Debatte auch die tatsächliche Regierungspolitik beeinflusst. Andererseits meinte Kant, dass die illegitime Entstehung eines Staates (also auch die revolutionäre oder usurpatorische) die Bürger nicht von der Pflicht zum Gehorsam entbindet (Metaphysik der Sitten I 2 Allgemeine Anmerkung: Werke VIII, 442). Kant gelang es also nicht, eine seinen moralischen und rechtsphilosophischen Ansprüchen genügende Institutionentheorie zu errichten. Die republikanische Lösung, den Gehorsam gegenüber den eigenen Gesetzen in der Tugend der Bürger zu suchen, sah Kant als unwahrscheinlich an. Er vermutete diese Tugend eher an der Spitze des Staates als an seiner Basis. An Stelle einer dogmatischen Umformung der Gesellschaft in Hinblick auf ihre soziale und politische Zusammensetzung empfahl Kant die „Revolution der Denkungsart" {Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 1794: Werke VIII, 698-699). Das war auch eine Reaktion auf die Ereignisse in Frankreich. Bevor nicht die Aufklärung in den Köpfen verankert ist, kann die Gesellschaft nicht mit einem Schlag verändert werden, nur weil man es so will. Das war eine Fundamentalkritik der Tugendpolitik Robespierres. Der Ort, an dem laut Kant die Änderung der Köpfe erfolgt, ist nicht die Politik, sondern die Öffentlichkeit; die Politik muss nur die Freiheit und Offenheit der öffentlichen Auseinandersetzung gewährleisten. Daher bezeichnet Kant die freie Meinungsäußerung das wahre „Palladium der Freiheit", die Freiheit der Feder ist das einzige Palladium der Volksrechte (Gemeinspruch: Werke XI, 161). Nicht Subjekte verändern Gesellschaftsstrukturen, es ist der Entwicklungsgang der Gattung, woran die Kurzlebigkeit des Monarchen ebenso wenig etwas ändern kann wie der Gestaltungswille eines Volkes. Ist nun der Inhalt des vernünftigen Sollens einer Republik als Rechtsstaat aufgezeigt, stellt sich die Frage, welche Kräfte seine Umsetzung bewirken. In dieser Frage zeigte sich die anthropologisch-geschichtsphilosophische Seite Kants, die an entscheidender Stelle vom klassischen Naturrecht abwich. Er bediente sich nämlich nicht des von Cicero bis Pufendorf strapazierten Gedankens der Soziabilität, sondern rezipierte Hobbes Negativnatur des Menschen als gefährliches und eigensinnig-egoistisches Wesen, wendete dies allerdings ins Konstruktive: indem die Natur den Menschen eigensinnig und moralisch unvollkommen geschaffen hat, führt sie ihn - als Gattung betrachtet - auch gegen seinen individuellen Willen zu einem mit der Vernunft übereinstimmenden Resultat. Der Antagonismus der menschlichen Natur bringt den Menschen in der Zwischenzeit dazu, ohne als Individuum bereits vollständig von der Vernunftethik beseelt zu sein, in die richtige Richtung zu streben, an deren Ende der mit der Vernunft übereinstimmende rechtliche Zustand steht. Die Instrumente der Natur, die den unvernünftigen Menschen in die gewünschte Richtung der Gattungsentwicklung treiben, sind der egoistische Verstand und der Krieg. Bereits 1784 beschäftigte sich Kant (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht) mit der Gattung des Menschen, was er auch die „Freiheit des menschlichen Willens im großen betrachtet" nannte (Werke XI, 33). Den Mensch sieht Kant als Zwischenwesen: nicht bloß instinktmäßiges Tier, aber auch nicht „Weltbürger", welcher sein Handeln und Streben ausschließlich nach der Vernunft orientiert. Gleichwohl formulierte Kant das Weltbürgertum als Entwicklungsziel des Menschen und fragte nun danach, welche Kräfte im Menschen daraufhin wirkten, dieses Ziel auch notfalls nichtintentional zu erreichen. Kant ging von einer Teleologie der Naturanlagen aus (erster Satz) und verwendete dazu die botanische Sprache, welche erst im 19. Jahrhundert die Evolutionstheorie mitbestimmen sollte, wenn er

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sagt, die im Menschen angelegten „Keime der Natur" sollten sich entwickeln. Kant hob mithin die strenge Trennung von Natur und Vernunft auf, wenn er von den „Naturanlagen" des Menschen sprach, „die auf den Gebrauch der Vernunft abgezielt sind" (Werke XI, 34-36). Wie aber erzwingt die Natur die Entwicklung der Keime zur Vernunft im Menschen ohne oder sogar gegen seinen zunächst von anderem Begehren bestimmten Willen? Sie entwickeln sich als „Früchte der Ungeselligkeit" (Werke XI, 40). Kant definierte nämlich den Menschen als beherrscht von einem „Antagonism" der „ungeselligen Geselligkeit": Der Mensch neigt zur Vergesellschaftung und zugleich zur Isolierung von anderen Menschen. So sich ständig aufeinander zu bewegend und auch sich wieder abstossend werden aber auch erst alle diejenigen Kräfte geweckt und entfaltet, welche ein „moralisches Ganzes" herbeifuhren. Ohne die menschlichen Eigenschaften wie „Unvertragsamkeit", „wetteifernde Eitelkeit" und nicht zu befriedigende Begierde zum Besitz wie zum Herrschen würden auch die „vortrefflichen Naturanlagen" in der Menschheit nur schlummern, sich nie verwirklichen können (Werke XI, 37-38). Im Ewigen Frieden entwarf dann Kant das Modell des Verfassungsmechanismus, der so eingerichtet werden soll, dass selbst ein „Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)", den Gesetzen gehorcht {Ewiger Friede: Werke XI, 224). Antrieb ihres Gehorsams ist nämlich nicht die innere Gesinnung, sondern der äußere Vorteil. Dieser Gedanke gleicht einer Anweisung für alle Gesetzgeber, wie bis zur Erreichung der idealen Republik Verfassungen eingerichtet werden müssen. Gelingt es, den Staat so zu formen, dass allgemeine Gesetze eingehalten werden, weil sie wenigstens dem Einzelinteresse am ehesten entsprechen und man sich, schon um der eigenen Sicherheit und Selbsterhaltung willen, daran hält, dann kann sogar von einer solchen Verfassung eine „moralische Besserung eines Volkes" erwartet werden {Ewiger Friede: Werke XI, 224). Der andere Faktor, der die Menschheit als Gattung kontraintentional in die Richtung der Republik lenkt, ist der Krieg. Kant lehnte den Weltstaat ab: je größer der Staat, desto mehr verlieren die Gesetze an Nachdruck {Ewiger Friede: Werke XI, 225). Aber auch hier hat die Natur einen Riegel vorgeschoben: die vielen unterschiedlichen Sprachen und Religionen machen einen solchen Staat unwahrscheinlich. Zwar fuhren diese Unterschiede auch zu Kriegen, doch im Ganzen vor allem zu einem Wetteifer der Kräfte und einem Gleichgewicht der Völker an Einfluss und Bedeutung {Ewiger Friede: Werke XI, 226). Ein langer Friede dagegen wecke nur „niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit," die Kant mit dem Handelsgeist assoziierte {Kritik der Urteilskraft § 28). Kant war nicht unbeeindruckt von kriegerischen Leistungen, wenn sie gewisse zivilisatorische Regeln einhalten. Der Krieg, sofern er unter Achtung des Rechts erfolgt, hat für ihn etwas „Erhabenes an sich" {Kritik der Urteilskraft: Werke X, 187) - dies um so mehr als ein Volk sich Gefahren aussetzt, um dieses Recht zu bewahren und sich militärisch behaupten kann. Doch die meisten Kriege sind nicht von dieser Art. Zwar führt der Krieg zu Zerstörung und Verwüstung, aber er verlangt die Anspannung der Kräfte und gibt den Menschen die nötige Erfahrung, den Zustand ihrer politischen Wildheit, belehrt durch die Praxis, zugunsten eines weltbürgerlichen Zustandes des Völkerbundes zu verlassen. Der Krieg erst treibt die Menschen dazu, dem „gesetzlosen Zustande der Wilden" zu entfliehen und in einen „Völkerbund zu treten." Die scheinbar planlose Entwicklung der Geschichte, geprägt durch zahllose Kriege, treibt die Menschheit somit in einen „bürgerlichen Zustand" der Gesetzesherrschaft {Idee zu einer allgemeinen Geschichte: Werke XI, 42-43).

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Ob im Anschluss an Kant Demokratie und Rechtsstaat zusammengedacht werden können (Maus 1992; Thiele 2002; Joung 2006), ist eine Frage diachroner Auslegung. Kant selbst hatte sich dem repräsentativen Verständnis von Republik zugesellt (Herb 1999, 137). In der zeitgenössischen Debatte wurde Kant vorgeworfen, über die moralische Systematik die politischen Ausgangsprobleme der Revolution vergessen zu haben. Nach zahlreichen Berichten und Kommentaren zu den französischen Ereignissen kam es zur Lagerbildung in der deutschsprachigen Publizistik hinsichtlich der Frage, ob die Franzosen ein Recht auf die Veränderung ihrer politischen Ordnung besäßen oder nicht. Der nächste Schritt war dann die Übertragung dieser Diskussionen auf die Politik von einem allgemeinen Standpunkt aus, der dann wenigstens indirekt auch die deutschen Verhältnisse berührte, die unmittelbar anzusprechen sich noch kaum jemand wagte. Es erschienen erste umfangreiche Monographien wie die von Ernst Brandes (Politische Betrachtungen über die Französische Revolution 1790) und schließlich erste philosophische Abhandlungen, welche die Ereignisse in einen Gesamtzusammenhang der philosophischen Entwicklung stellten und die Französische Revolution als Kind der Aufklärung etikettierten (Karl Reinhard, Übersicht einiger vorbereitenden Ursachen der französischen Staats—Veränderung 1791). Diese Frage beschäftigte auch Ernst Ferdinand Klein (Kurze Betrachtung über den Einfluss der Philosophie in die öffentlichen Angelegenheiten 1790), der zuvor zusammen mit Carl Gottlieb Svarez am Allgemeinen Preußischen Landrecht gearbeitet hatte. Auf Friedrichs Initiative hin arbeiteten Johann Heinrich von Carmer, Klein und Svarez von 1769 bis 1780 am Allgemeinen Preußischen Landrecht. Es wurde 1780 niedergeschrieben und 1784 als Entwurf veröffentlicht, mit dem Ziel seiner öffentlichen Diskussion. Dieser Vorgang mochte Kants Begeisterung über den Sinn und die Produktivität der Publizität öffentlicher Gesetze angeregt haben. Die endgültige Fassung des Landrechts von 1794 jedoch hatte aus den Entwürfen die Einbindung des absoluten Monarchen in den Staat und die Abschaffung königlicher Machtansprüche und der entsprechenden Interventionsmöglichkeiten sowie die Staatszielbestimmung der Wohlfahrt wieder herausgenommen. Das war sicherlich eine Reaktion auf die Französische Revolution. In der Zwischenzeit formierte sich die Fundamentalkritik, die ein Überschwappen der Revolution über die Grenzen Frankreichs hinaus verhindern wollte. Justus Moser (1720-1794), ein Vertreter des klassischen Kameralismus, der im nachhinein dem deutschen „Konservatismus" zugerechnet wurde, gehörte zu den ersten scharfen Kritikern der Französischen Revolution. In der Berlinische Monatsschrift, dem wichtigsten Publikationsorgan für die deutsche Diskussion der französischen Vorgänge und zugleich Publikationsort der im folgenden genannten Schriften, hatte Moser schon 1785 erwogen, ob nicht in altdeutsch-partikularistischer Manier jedem „Städtchen eine besondere politische Verfassung" gegeben werden sollte (1785, 499-506). 1790 nun bezog er auf eine an Burkes spätere Reflections erinnernde Weise Stellung für historisch gewachsene politische Ordnungen und verwies Fragen spekulativer Staatssysteme spöttisch auf die Theologie (Über das Recht der Menschheit als den Grund der neuen französischen Konstitution 1790). Das provozierte den jungen Kant-Schüler Friedrich Gentz zu einer heftigen Gegenattacke: seiner Ansicht nach bedarf es eines theoretischen Maßstabes, um ermessen zu können, was eine rechtmäßig herrschende Verfassung ist. Laut Gentz kann nur eine Verfassung, die auf der Grundlage individueller Freiheit konzipiert ist, Geltung beanspruchen (Über den Ursprung und die obersten Principien des Rechts 1791). Friedrich Gentz (1764-1832) ist eine schillernde Figur der politischen Publizistik der nachrevolutionären Zeit (Kronenbitter 2002). Er galt zunächst als Kantianer, hatte bei Kant stu-

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diert, der große Stücke auf ihn hielt und ihm seine Kritik der Urteilskraft zur Korrektur gab (Pirler 1980). Doch wenige Zeit später veränderte die Lektüre von Burkes Reflections sein politisches Denken völlig. Burke hatte generell auf den deutschen Sprachkreis einen enormen Einfluss (Braune 1917; Raynaud 1989). Brandes, August Wilhelm Rehberg, Adam Müller und Friedrich Gentz zeigten sich beeindruckt von Burkes politischem Denken, das der deutschen Naturrechtstradition mit ihren allgemeinen Begriffen fern stand. Gentz' Übersetzung sorgte für die Verbreitung von Burke im deutschsprachigen Gesprächsfeld. Da Gentz dabei das Werk mit umfangreichen Anmerkungen versah, gab er der weiteren Rezeption auch eine Richtung vor, die nicht nur die französische Gestalt der Revolutionen, sondern Revolution per se kritisierte. Mosers Replik auf Gentz' Aufsatz von 1791 beantwortete er nicht mehr, da Mosers Warnung vor einem demokratischen Despotismus (Wann und wie vermag eine Nazion [!] ihre Konstitution zu ändern? 1791) nun Gentzens Zustimmung fand. Er selbst reagierte erst wieder auf Kants Gemeinspruch und nutzte diese Publikation, um sich von seinem Lehrer zu distanzieren. Unter dem Eindruck der Lektüre von Burke wandte Gentz gegen Kant ein, dass theoretische Überlegungen nur Präliminar-Kenntnisse vermittelten; ohne die Kenntnis der Mittel aber, die theoretischen Einsichten in die Praxis umzusetzen, liefen sie ins Leere und bleiben eine „reine Theorie der Rechte". Die praktischen Kenntnisse zur Natur des Menschen als einzelnem wie in Gruppen sowie zu den gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen sind aber nur aus der Erfahrung und dem Vergleich entsprechender Praktiken zu beziehen, worin Gentz die Grenzen von Kants politischer Theorie ausmachte (Nachtrag zu dem Räsonnement des Herrn Professors Kant 1793). Die jakobinische Verfassungstheorie fand in Gentz ihren frühesten Kritiker außerhalb von Frankreich (Über die Grundprinzipien der jetzigen französischen Verfassung nach Robespierre's und St. Jiist's 1794). Gentz stand mittlerweile in preußischen Diensten und gehörte schon bald zum publizistischen Kreis um Fürst Metternich, dem Kopf der österreichischen Regierung, die in Europa den Widerstand gegen Frankreich und besonders gegen Napoleon organisierte. Kant verfolgte die Debatten in der Berlinischen Monatsschrift, wo er selbst einschlägige Aufsätze (Gemeinspruch) veröffentlichte. Doch die allgemein diskutierten institutionellen Fragen interessierten ihn nur wenig, sie standen für ihn allesamt in einem nachrangigen Verhältnis zur Rechtstheorie. Was die philosophische Rechtstheorie ermittle, habe die Politik umzusetzen, die keinen Anspruch erheben darf, in diesen Fragen ihre eigene Logik zur Geltung zu bringen. Die politische Logik fuhrt nämlich nach Kants Überzeugung zur mangelnden Moralität menschlichen Handelns in der Politik. Diese Einschätzung zeigt sich an Kants harscher Zurückweisung der klassischen Klugheits-Lehre (Castillo 1995, 201-207). Klugheit definierte Kant als die Geschicklichkeit, andere Menschen zur Verwirklichung eigener Absichten auszunutzen (P. Fischer 2003). Klugheit ist damit per definitionem das negative Gegenstück zum kategorischen Imperativ, wonach - in einer seiner Umformulierungen Kants der Mensch stets nur als Ziel, niemals nur als Zweck behandelt werden darf. Was bereits auf der Ebene individueller Ethik verwerflich ist, potenziert sich in der Politik. Hier verwirren laut Kant die „Schlangenwendungen einer unmoralischen Klugheitslehre" (Zum ewigen Frieden 237) die Begriffe. Klugheit behält ihre Bedeutung bei Kant nur als Ausdruck technischer Fertigkeit (Luckner 2005, 48-49) und verliert die ihr in der politischen Tradition zugekommene handlungsbestimmende Rolle (Hariman 2003). Gegen Herrschaftsmaximen hilft moralisch nur das unerschütterliche Beharren auf dem Vorrang der Moral vor aller Politik, und mag dabei die Welt untergehen, wie es Kant postulierte: „fiat iustitia, pereat mundus."

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Gegen die politische Klugheit empfiehlt Kant die Öffentlichkeit, das heißt die Offenlegung der handlungsleitenden Maximen, denn Klugheit wirkt am stärksten im Geheimen (Zum ewigen Frieden 244-245). Man muss bei der Bewertung politischer Stellungnahmen immer berücksichtigen, dass die Freiheit der Meinungsäußerung in Deutschland eingeschränkt war. Die Französische Revolution wurde zum Politikum, und wer sich für sie öffentlich einsetzte, war der Gefahr ausgesetzt, des Hochverrats verdächtig zu sein, zumal es ja jakobinisch-republikanische Bestrebungen im deutschsprachigen, linksrheinischen Gebiet gab (Lamprecht 2001), allen voran die kurzlebige Mainzer Republik. Georg Forster (1754-1794), den seine Teilnahme an einer von James Cooks Weltumseglungen berühmt gemacht hatte, gehörte zu den Mitbegründern der Mainzer Republik und unterstützte als Redakteur der Neuen Mainzer Zeitung oder der Volksfreund die republikanische Sache publizistisch. Ein anderer deutscher Republikaner, Georg Friedrich Rebmann, sah die Republik durch den Amtswechsel gekennzeichnet, durch die Wahl durch das Volk, die Bewachung der Gewählten, die Gewaltenteilung und den institutionellen Zwang, dass selbst die eigennützigsten Bürger auf die Achtung der Mitbürger angewiesen sind und so ihr Streben nach Macht moderiert wird (Vollständige Geschichte meiner Verfolgungen und meiner Leiden 1796, 169-170). Die deutschen Republikaner konnten nicht auf Kants Unterstützung hoffen. Kants Ablehnung des Widerstandsrechts kann bis in die frühesten Textschichten der 1760er Jahre zurückverfolgt werden (Burg 1974, 195-214). Seine Position wurde nicht nur von Republikanern, sondern auch von seinen zeitgenössischen Bewunderern als unstimmig oder kurzschlüssig verworfen. Ist nicht gerade eine politische Revolution die Voraussetzung für eine freie Öffentlichkeit und damit für eine Aufklärung der Bevölkerung? Für den Kantschüler Johann Benjamin Erhard (1766-1826) war die Demokratie gleichfalls ein Despotismus, aber aus anderen Gründen als Kant: das athenische Vorbild diente Erhard als Beispiel für eine politische Ordnung, die den Leidenschaften des unmündigen Volkes zu Diensten ist und damit ein Regime ermöglicht, das Erhard noch ärger erschien als der übergroße Respekt des unmündigen Volkes gegenüber der Vorherrschaft der Aristokratie (Über das Recht des Volks zu einer Revolution 1795, 90). Aber damit hatte es bei Erhard nicht sein Bewenden. Die Aufklärung sollte die unmündige Bevölkerung in den Stand versetzen, der für die Erringung politischer Selbstbestimmung Voraussetzung war: Mündigkeit. Gerade der Kampf um Aufklärung gegen ein die Aufklärung unterdrückendes Regime verlieh laut Erhard das Recht auf Revolution. Kants Zurückweisung faktischer Selbstgesetzgebung zugunsten der Geltung der Idee des allgemeinen Vernunftgesetzes wurde auch als eine Zurückweisung des Mehrheitsprinzips interpretiert, so bei Friedrich Schlegel (1772-1829) zwei Jahre nach Veröffentlichung von Zum Ewigen Frieden (Versuch über den Begriff des Republikanismus 1796; Rese 1997). Schlegel meinte, das allgemeine Gesetz müsse dem Gedanken nach alle Mitglieder berücksichtigen und dürfe erst in der Konkretion einer Maxime oder einer Verordnung wieder den Charakter einer differenzierenden Besonderheit annehmen. Republikanismus ist in dieser Sicht notwendig demokratisch, denn die Idee des allgemeinen Willens ist realistisch nur als Mehrheit zu haben; Kant habe Demokratie mit Ochlokratie verwechselt. Auch der Kantbewunderer Christian Garve (1742-1798), der einer der ersten Rezipienten Kants war und an der Verbreitung seiner Philosophie großen Anteil hatte, beklagte die Gehorsamslehre Kants (Über die Grenzen des bürgerlichen Gehorsams 1801). Ähnlich wie Schlegel vertrat Garve die Auffassung, dass es zur Implementation der abstrakten Ethik Kants zusätzlicher, zwischen Theo-

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rie und Praxis vermittelnder Maximen bedürfe. Gerade die klassische Klugheit sah er als die zur Erstellung solcher Maximen erforderliche intellektuelle Fähigkeit an. Kants kategorischer Imperativ, wonach die Maximen des Handelns rein formal dahingehend zu begutachten sind, ob sie mit einem allgemeinen Gesetz übereinstimmen könnten, gehe insofern einen Schritt zu schnell voran. Garve wollte für die politische Handlungstheorie zwischen Kant und Cicero vermitteln. Kant setzte sich im Gemeinspruch wie im Ewigen Frieden mit Garve auseinander, wies aber wie gezeigt die Klugheitslehre als zu kurzschlüssig und ihrerseits voraussetzungsbedürftig zurück. Kant-Bewunderer wie der junge Wilhelm von Humboldt (1767-1835), der nach Paris gereist war, um sich ein Bild von der Revolution zu machen, störte die rechtsphilosophische Perspektive Kants, da so die richtungweisenden Probleme aus dem Blick gerieten, welche die französischen Revolutionäre aufgeworfen hatten; denn trotz aller Anarchie sah Humboldt Ideen am Werk, die er für die weitere politische Diskussion als zentral erachtete, darunter die Frage der Erziehung (Über die Sittenverbesserung durch Anstalten des Staates und Über öffentliche Staatserziehung, beide 1792). Humboldt formulierte in dieser Zeit auch die Umrisse seiner späteren politischen Theorie über die Grenzen der Staatstätigkeit in Hinblick auf die Freiheit der Person {Ideen über Staatsverfassung, durch die neue Französische Konstituzion [!] veranlaßt 1792). Sie kann als eine der ersten Arbeiten des als Reaktion auf die Revolution im Entstehen befindlichen Liberalismus gesehen werden (Wismann 1989). Die Kontakte junger deutscher Gelehrte wie Humboldt mit Frankreich nahmen zu. Karl Theremin diskutierte 1796 in Paris viel mit Sieyes über die kantische Philosophie. Sein Bruder Anton Ludwig schlug Kant brieflich vor, mit Sieyes in Kontakt zu treten (Brief Nr. 693). Kant schrieb Sieyes wohl auch (Ruiz 1977), erörterte aber nach Rücksprache mit den preußischen Behörden ausdrücklich nur Fragen der Übersetzung seiner Werke ins Französische. So sehr Kant in der diachronen Perspektive zu einem zentralen Anknüpfungspunkt für eine rechtstheoretisch inspirierte politische Philosophie unserer Gegenwart geworden ist, so sehr hat seine Rechtsstaats-Idee die politische Theorie zumal des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert gehemmt. Die Revolution zu denken hieß noch nicht, sie zu verstehen. Der kantisch geprägte Liberalismus blieb revolutionsfeindlich. Erst die sozialistische Rezeption am Ende des 19. Jahrhunderts im „ethischen Sozialismus" (Karl Vorländer, Kant und Marx. Ein Beitrag zur Philosophie des Sozialismus 1911) entdeckte in Kant die rein theoretische Begründung des Rechts wieder, was es ermöglichte, das Recht trotz seiner „bürgerlichen" Prägung als Zivilisationsleistung anzuerkennen. Kants Bedeutung für die politische Theorie beruht nicht auf seiner Institutionen, sondern als auf seiner Friedens- und Kriegstheorie.

4. Die Idee des Friedens und des Krieges Zum Merkmal politischer Ordnung gehört die Organisation der physischen Gewalt. Hierzu zählen die Hegung privater Gewalt und der notfalls gewaltsame Schutz der Unabhängigkeit nach außen. Der neuzeitliche Staat monopolisierte erfolgreich die physischer Gewalt als Kompetenz der Allgemeinheit. Diese Gewaltkonzentration dient nach ihnen der Vermeidung von unkontrollierter Gewalt und wird durch die Befriedigungsleistung gerechtfertigt. Organisierte physische Gewalt avancieren aber auch zum politischen Mittel der Außenpolitik. Als militärische Gewalt hat dieses Phänomen eine eigentümliche Präsenz in der Politik: der physische Tötungsakt von Menschen wird moralisch verurteilt, wenn er auf der

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Grundlage privater Motive eigennützig erfolgt, erhält aber als kriegerische Gewalt höchstes Lob. Dieses Paradoxon hat zu Reaktionen radikaler Verweigerung geführt wie im Pazifismus (Bleisch/Strub 2006); weitaus häufiger waren die Anstrengungen, den Krieg theoretisch zu beschreiben und zu rechtfertigen: Militärische Gewalt bewahrt den Frieden oder stellt ihn wieder her, sie ist nötig, um Freiheit, Glauben und Wohlstand zu bewahren. Erst als man von inhaltlichen Rechtfertigungen absah, wurde der Blick frei für die Theorie der Staatenverhältnisse, die in engstem Zusammenhang mit der Kriegstheorie steht (Boucher 1998; Murphy 1999; Robert H. Jackson 2005). In der Idee des Krieges verzahnen sich zahlreiche elementare Aspekte: Der Krieg ist Inbegriff der Gewaltsamkeit aufgrund seines Zerstörungspotentials, nicht nur Mensch und Material werden zerstört, sondern auch gesellschaftliche Strukturen. Andererseits eröffnen Kriege neue Räume zur Errichtung politischer Ordnung. Politische Bürgerrechte wurden oft in einem engen Zusammenhang mit der Fähigkeit zu militärischer Aktivität verliehen: Der waffenfähige Krieger war in der Antike mit dem Vollbürger gleichgesetzt, ob als Hoplit oder als Ruderer. Die Waffenfähigkeit des Ritterstandes begünstigte die Entstehung der feudalen Gesellschaft. Noch die Ausweitung des Stimmrechts auf alle erwachsenen Männer am Ende des Ersten Weltkrieges war eine Reaktion auf die Leistung der Massenheere, so wie die Leistung der Frauen in der Kriegsproduktion die Anerkennung ihres Wahlrecht erheblich förderte. Der Krieg ist schließlich ein Grenzbegriff im Verhältnis von Staaten zueinander und zugleich Merkmal der Staatlichkeit. Kriege fördern das Interesse an der Organisation gewaltiger Kapazitäten und Ressourcen und konnten damit Rechtfertigung staatlicher Kontrolle sowie Sinnbild staatlicher Leistungsfähigkeit sein. Mit der zunehmenden Komplexität der waffentechnischen Rüstung und der Vergrößerung der Heere beanspruchte die Staatlichkeit bald exklusiv alle kriegerischen Vorbereitungen und entwickelte hierzu notwendigerweise ein Verständnis für die sozialen und ökonomischen Bedingungen der Möglichkeit erfolgreicher Kriegführung (Reinhard 1999, 343-369). „Pecunia nervus rerum" war eine zu Zeiten der Aufklärung bereits alte Devise (Stolleis 1983), die insbesondere auch bezüglich des Krieges galt. Der Krieg ist ferner eine Metapher, die im Sinnbild der Schlacht oder der gestuften Rationalität von Strategie und Taktik auch über den engeren Bereich militärischer Aktivität Vorbildcharakter besitzt: kein Gesellschaftsbereich ist auch im Frieden so durchdrungen von kriegerischen Bildern und Begriffen wie die Politik. Die Auswirkung des Krieges auf das Tugendideal des Bürgers kann kulturgeschichtlich gar nicht überschätzt werden. „Immer Bester zu sein und überlegen zu sein den andern" (Ilias VI 208, XI 783), war seit Homer ein am Vorbild kriegerischer Leistungsfähigkeit orientiertes Denkmuster, das vom Krieg auf ritualisierte Verhaltenseinübungen wie den Sport übertragen wurde (Davies 1983, 141). Von den panhellenischen Spielen bis zu den Cricket-Feldern von Eton, auf denen die Schlacht von Waterloo gewonnen worden sei (eine Wellington zugeschriebene Sentenz), weil dort künftige britische Offiziere die Standhaftigkeit einübten, die es ihnen erlaubte, dem Ansturm der französischen Kavallerie widerstehen: die geregelte Einübung des Wettbewerbs unter physischem Einsatz stand in enger Beziehung zur Idee des Krieges. Diese Vielzahl von Aspekten schwingt im Begriff des Krieges mit, aber seine politische Theorie ist immer auch im Zusammenhang mit korrespondierenden Ideen des Friedens entwickelt worden (Janssen 1976; Brieskorn/Riedenauer 2000-2003; Koppe 2001).

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Das Wesen des Krieges und seine Gerechtigkeit Bereits Heraklits häufig bemühtes Diktum, wonach der Krieg der Vater aller Dinge sei, die einen zu Sklaven und die anderen zu Freien mache (etwa 480 v.Chr.: Diels-Kranz 22 Β 53), zeigt die zentrale Bedeutung des Krieges im gedanklichen Haushalt der Antike. Heraklit meinte die kriegerische Tradition der vorklassischen Zeit (Kiechle 1969), in welcher die Unterlegenen regelmäßig versklavt wurden. Auch der interne Zusammenhang von Krieg und Frieden war antikem Denken geläufig. In seiner 8. Philippika (Kap. 1) äußerte Cicero den später häufig zitierten Satz „inter bellum et pacem nihil est medium". Auch die Integration der Kriegführung in das politische System war geläufig, sogar selbstverständlich. Die Politeia Piatons definierte die Funktion der Wächter als Verteidigung der politischen Ordnung (Kleemeier 2002, 89-108). In Piatons Spätwerk Nomoi ist der Krieg die Ausgangsfrage des Dialogs. Bei der Schilderung der eigentümlichen Verfassung Kretas geht hier der Kreter Gesprächspartner Kleinias davon aus, dass jede politische Ordnung um der Kriegführung willen eingerichtet werden muss, denn es bestünde ein fortwährender Krieg aller Staaten untereinander. Was die meisten Menschen Frieden nennen würden, das führe bloß diesen Namen, in Wirklichkeit bestehe von Natur aus ein von keinem Herold angekündigter Krieg zwischen allen (Nomoi I 2: 625e-626a). Der Athener in Piatons Dialog hält dem Kreter entgegen, dass die Vorbereitung des Krieges kein Ausweis der Güte einer Verfassung sei, sondern nur das Notwendige leiste. Jedoch sei nicht der Frieden um des Krieges willen da, sondern um des Friedens willen bereite man den Krieg auch in Friedenszeiten vor (Nomoi 1,4: 628d-e). Auch die Eigenschaften, derer der Krieger bedarf, dürfen laut Piaton nicht alleine nach Maßgabe des Krieg bewertet werden: Tapferkeit als ausschließliche Tugend sichert noch keinen dauerhaften Sieg, denn der Sieg macht übermütig und bedingt neue Laster, die am Ende zum Untergang führen. Tapferkeit ist demnach nur ein Teilaspekt der Tugend, die nur als Ganze, das heißt im Konzert mit Gerechtigkeit, Weisheit und Besonnenheit ihre befruchtende Wirkung entfaltet. Piaton demonstrierte diese Überlegungen am Beispiel des Sokrates (Symposion): Der Weise ist zugleich der tüchtigste Bürger und erfüllt auch alle Aufgaben des Krieges auf das Beste. Das hatte auch mit Piatons umfassendem Kriegsbegriffs zu tun. Er unterschied zwei Gattungen von Krieg: die innere Entzweiung unter Freunden (stasis), also den Bürgerkrieg, und den äußeren Krieg zwischen griechischen Städten und gegen fremde Stämme und Barbaren (polemos). Den Krieg gegen den äußeren Feind wird auch der Söldner tapfer bewältigen; den ersteren, den bei weitem grausamer geführten Bürgerkrieg dagegen wird nur bestehen können, wer die gesamte Tugendpalette beherrscht, nicht nur die Tapferkeit (Nomoi I 5: 629d-630c). Die römische Praxis, die Kriegführung unter rechtliche Gründe zu stellen, eröffnete einen Theoriestrang, der den Weg zum Völkerrecht vorbereitete. Cicero war selbst an Kriegen beteiligt, als Prokonsul sogar in der Funktion des Feldherrn. Aber er bestand darauf, die Bedeutung eines Politikers nicht nach seinen militärischen, sondern nach seinen politischen Fähigkeiten zu bewerten {De officiis I 22, 74). Ihn interessierten weniger Fragen des militärischen Erfolges als vielmehr die normative Betrachtung des Krieges: Was ist das Recht des Krieges, wann ist er eröffnet, wie wird er beendet und wie steht es um rechtliche Bindungen im Krieg etwa im Umgang mit dem Gegner; sind beispielsweise Verträge im

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Krieg bindend? Der Krieg ist für Cicero die gewaltsame Form der Konfliktaustragung (genus decertandi: per vim) im Gegensatz zur argumentativen Form (De officiis I I I , 34) und steht wie diese unter Rechtsregeln. Cicero verlangte besondere Gründe für die Kriegseröffhung (De republica III 23; Reibstein 1957/1963 I 125), welche der Maßstab dafür sind, welcher Krieg in welchem Umfang gerechtfertigt ist. Es ging also um Selbstbindung, die Cicero naturrechtlich verankerte: das Recht zwischen den Völkern bedürfe keiner höheren Aufsichtsinstanz, die gleichsam richterlich über die Einhaltung des Rechts wacht; das Völkerrecht sei bei allen Akteuren ungeachtet ihrer Herkunft wirksam; gegen dieses Recht zu verstoßen komme einem Selbstwiderspruch gleich und zahle sich auch politisch nicht aus. Denn nach Cicero ermöglicht die „fides", das heißt die Glaub- und Vertrauenswürdigkeit eines Akteurs, seine Bündnisfahigkeit und erweitert damit seinen Handlungsspielraum. Kriegführung ist darüber hinaus nur zur Verteidigung und zur Vergeltung begangenen Unrechts gerechtfertigt (De re publica III 23). Für Cicero ist der Krieg als solcher ein kaum hinterfragbares Strukturmerkmal seiner politischen Lebenswelt, Kriegführung als Mittel der Politik stellte er nicht in Frage. Aus der Eroberungspolitik Roms, die diese zur beherrschenden Macht der mittelmeerischen Welt machte, lassen sich jedoch Pflichten für den Sieger ableiten. Problematisch ist eher, dass der Krieg Karrieren außerhalb der republikanischen Ordnung eröffnet und die Kriegführung Rückwirkungen auf die innere Struktur der Republik hat. Marius führte die allgemeine Wehrpflicht ein, was die Republik rettete, aber auch die Bürgerschaft Roms in quantitativer Hinsicht dramatisch ausweitete; Caesars militärische Leistungen in Gallien brachten ihm gewaltige Geldmittel ein, die er für seine populäre Politik nutzte, die eigene Kommentierung dieses Feldzug war ein geeignetes Propagandamittel in der gebildeten Elite. Das Christentum thematisierte dagegen den Krieg als ethisches Problem (Ramsey 1961, 15-33). Die pazifistische Grundhaltung der Christen machte diese den Römern suspekt. Wie gezeigt, galt Augustinus' Hauptwerk De Civitate Dei dem Versuch einer Vermittlung von römischer und christlicher Sphäre. Ausgelöst durch die Eroberung Roms durch Barbaren und die daran anschließenden Vorwürfe gegen die Christen, sie hätten mit ihrer eigentümlich weltfernen und gewaltskeptischen Ethik den Niedergang Roms von innen her mit verursacht, stellt Augustinus die bahnbrechende Frage, ob der Krieg als solcher gerechtfertigt sei und was die normativen Kriterien seiner Rechtfertigung sein könnten (Political Writings 205-225; Russell 1975, 16-39). Anthropologisch hielt Augustinus Kriegshandlungen für erwartbar, da es dem Menschen seit dem Sündenfall an Moralität mangelt. In seinem Weltbild wird der Mensch letztlich den Frieden ohnehin nicht in der Welt finden, sondern erst, wenn er sie überschreitet bzw. sich auf der Pilgerschaft befindet, sie zu überschreiten. Die Politik kann nicht Ideale verwirklichen ohne Gott, und der Mensch tendiert zum Bösen. Augustinus war aber auch umgekehrt bemüht, die christliche Verurteilung des Krieges zu relativieren, um bestimmte Varianten des Krieges zu rechtfertigen: So wie die Gerechtigkeit den Unterschied zwischen einer gewalttätigen Verbrecherbande und einer Republik ausmacht, so trennt alleine die Gerechtigkeit den gerechtfertigten Krieg von der verbrecherischen, wenn auch organisierten Gewaltanwendung. Augustinus lehnte die antike Akzeptanz des Krieges als gleichsam selbstverständliche Begleiterscheinung des politischen Verkehrs der Völker ab. Er akzeptierte auch nicht die Ideologie einer „Pax Romana", sondern lehnte Großreiche ab, da sie ihre Größe meist nur durch Ungerechtigkeit erreichen konnten (De Civitate Dei XV). Augustinus erwog die Vorstellung, ob der Frieden

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nicht eher durch eine Vielzahl von Völkern gewährleistet wird, vergleichbar der Vielzahl von Häusern in einer Stadt (De Civitate Dei IV 15). Staatlich organisierte Gewaltanwendung ist für Augustinus nur legitim, wenn sie um der Gerechtigkeit willen ausgeübt wird, das meint vor allem, um Unrecht zu vergelten (Quaestionum in heptatenchum lib. 6, q. 10, bei Reibstein 1957/1963 I 126; Grewe 1988, 133). In Anlehnung an Cicero (De republica III 23) verlangte Augustinus besondere Gründe für die Kriegseröffnung, bestand auf Vertragstreue und akzeptierte nur die Selbsterhaltung als von vornherein unbestreitbare Berechtigung der Waffengewalt. Der einzig zu rechtfertigende Grund für den Beginn eines Krieges ist der Frieden (De Civitate Dei XIX 12). Der Friede galt ihm als Leitzustand, das Mittel des Krieges dient der Behebung einer Friedensstörung. Die Gerechtigkeitsfrage stellte sich daher nicht so sehr bei Verteidigungskriegen (III 10), die bei allen Theoretikern des Krieges keiner besonderen normativen Erklärung bedurften, sondern vielmehr bei der offensiven Kriegführung. Neben dem gerechten Grund zum Krieg (iusta causa) bedarf es laut Augustinus einer aufrichtigen Gesinnung (intentio recta), die er daran bemisst, ob der Kriegführende nur den Frieden wiederherstellen will, welcher durch die vorausgehende Unrechtstat gestört wurde. Schließlich ist nicht jeder befugt, Krieg zu führen: die Legitimation hierzu kommt allein dem römischen Kaiser zu. Augustinus' verstreute Einlassungen zum Krieg erhob Thomas von Aquin zum Dreigestirn von „auctoritas principis", „iusta causa" und „intentio recta", wobei er die Legitimierung zur Kriegführung allgemein auf Fürsten erweiterte (Summa II/II q 40 a 1; Russell 1975, 258-291). Thomas war seinerseits von den kriegsrechtlichen Bestimmungen im Decretum Gratianum und den Debatten der Kanonisten beeinflusst. Augustinus wollte demgegenüber kein Kriegsrecht geben, sondern stellte den Krieg in einen ethischen Gesamtzusammenhang, in welchem auch der Kriegsgegner seinen Platz hat. Der Krieg, verstanden als eine Form der Strafe, will den Missetäter wieder in die Friedensordnung reintegrieren. Er wird besiegt, damit er seinen Frieden wieder erlangt, also zu seinem eigenen besten, und er soll bereits während der Kampfhandlungen vom Sinn des Friedens überzeugt werden (Grewe 1988, 134-135). Das beschränkte die Wahl der Mittel im Krieg, ein später von Kant an zentraler Stelle aufgegriffener Gedanke. Augustinus hatte aber neben der begrenzenden auch eine erweiternde Wirkung auf das Verständnis des Krieges. Seiner Auffassung nach wurde das Gute, das dem Bösen gegenübersteht, zum Krieg gezwungen (De Civitate Dei XIX 7; XV 5). Das war Augustinus' spezifischer „Realismus", geeignet, der modernen Theorie des internationalen Realismus im 20. Jahrhundert - besonders bei Reinhold Niebuhr - eine christliche Wurzel zu geben (Johnson 1981, 330-338; Elshtain 1995). In dieser Tradition ist der Krieg als Sinnbild eines Konfliktes zwischen „Gut und Böse" begriffen, der jeder menschlichen Gesellschaft innewohnt und dem man sich auch als Ausweis der Ernsthaftigkeit des eigenen moralischen Anliegens stellen muss - was auch Rechtfertigungen eines „Krieges" gegen den Terror mit Hilfe von Augustinus ermöglicht (Elshtain 2003). „Gott will es!" - dieser Schlachtruf der Kreuzfahrer auf den Zügen ins Heilige Land vom 11. bis zum 15. Jahrhundert erlaubte die Waffengewalt im Namen übergeordneter Normen, die deren autoritäre Interpreten anordneten. Diese normative Sichtweise konnte sich jedoch mit ökonomisch-machtpolitischen Interessen vermischen wie im 4. Kreuzzug (1202-1204), den Venedig nach Byzanz umlenkte, um diesen Konkurrenten im östlichen Mittelmeer

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auszuschalten und einen Staat der Christenheit zu plündern. Übergeordnete Normen wie Menschheit oder Zivilisation erlaubten auch die Unbedingtheit des Kampfes und machten die Forderung einer unbedingten Kapitulation des Feindes als Voraussetzung künftigen Friedens glaubwürdig: in Fragen von unbedingten Nonnen gibt es keine Kompromisse, oder jedenfalls erscheint dies so. Der Krieg als Ordnungsmodell Wer den Krieg als Handlungsweise der politischen Realität akzeptiert, konzentriert sich eher auf kriegstechnische, strategische und taktische Aspekte und betont den selbständigen Ablauf kriegerischer und friedlicher Interaktionen. Antike Historiker wie Xenophon oder Polybios traten auch als Kriegstheoretiker hervor. Sie stellten keine Grundlagenreflexion über Sinn und Wesen des Krieges an, sondern sprachen zum Fachmann, der aus eigener Erfahrung die Umstände der Kriegführung kennt und sein Wissen durch Lektüre vertiefen möchte. Das Vorbild solcher Texte führte in der Staatsräsonliteratur dazu, den inneren Anforderungen des Krieges gerecht werden zu wollen, ohne diesen selbst zu richten. Daraus folgte noch keine Eloge auf den Krieg: alle Schrecken und Nachteile, die mit ihm verbunden sind, wurden hervorgehoben; aber als Realität der Politik war der Krieg akzeptiert und die Aufgabe bestand darin, ihn aus sich selbst heraus zu verstehen. Die italienischen Autoren der Spätrenaissance standen unter dem Eindruck anhaltender kriegerischer Auseinandersetzungen, die immer stärker auch unter dem Gesichtspunkt der Ressourcenlogik beurteilt wurden. Probleme der Bezahlung von Söldnern, die Ausstattung mit Artillerie und die diplomatischen Künste der Schaffung immer neuer Allianzen und Gegenallianzen zementierten die Auffassung vom Krieg als einer technischen Auseinandersetzung. Niccolö Machiavelli erörterte aber nicht nur die rein technische Problematik der Kriegführung (Arte della Guerra; Gilbert 1952; Mallett 1990), er thematisiert in den Discorsi (II und III) den Krieg auch im Gesamtzusammenhang seiner politischen Theorie. Von seiner Bevorzugung der Miliz gegenüber den Söldnern, der Infanterie gegenüber der Kavallerie und Artillerie sowie der Hochschätzung der Moral der Soldaten gegenüber den Geldmitteln als Erfolgsgaranten (II 10) war im Kontext seines republikanischen Bürgerideals bereits die Rede. Ferner debattierte er den Krieg im Kontext seiner Handlungslogik und des Erfolgswertes. So lobte er den Betrug im Krieg, der, obwohl moralisch verwerflich, als Kriegsmittel generellen Zuspruch findet, wie die Biographien großer Feldherrn zeigen. Allerdings unterschied Machiavelli den unrühmlichen Betrug des Wort- und Vertragsbruchs, der kurzfristig zu Landerwerb fuhren kann, aber langfristig erhebliche Probleme der Herrschaftssicherung mit sich bringt, von der List des Feldherrn gegenüber einem anderen, bereits misstrauischen Gegner (III 40). Andererseits erlaubte Machiavelli zufolge die Aufgabe Freiheit und Leben zu verteidigen, jedes Mittel, ob rechtmäßig oder nicht, ob milde oder grausam, löblich oder schändlich, sofern es nur erfolgreich ist (III 41). Daher haben erzwungene Versprechen für Machiavelli keine Verpflichtungskraft, wenn sich die Zwangslage, die das Eingehen des Versprechens erzwungen hatte, veränderte (III 42). Präventivkriege diskutierte Machiavelli ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Vor- und Nachteile, auf gegnerischem Territorium Krieg zu führen (II 12). In der Regel reichte Machiavelli die Schilderung historischer Ereignisse und deren Verallgemeinerung, um wertneutral Handlungsmöglichkeiten zu diskutieren. Dazu zählte die Darlegung der Mittel, wie

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man erfolgreich einen nahenden Friedensschluss sabotierte, indem man zu schweren Verbrechen wie Gesandtenmord oder Massaker griff (III 32). Machiavelli war nicht Vorbild, sondern Ausdruck des Diskurses seiner Zeit. Auch Francesco Guicciardini meinte, militärische Siege würden durch Klugheit, Glück und Stärke errungen; die Rechtmäßigkeit des Kampfes beeinflusst nur indirekt das militärische Geschick, da es den Akteuren Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit verleiht und sich dadurch günstig auf die Tapferkeit auswirkt (Ricordi 147). Lipsius erörterte neben den üblichen waffentechnischen Fragen, den Bedingungen der Tapferkeit oder des Festungsbaus den Krieg als politisches Mittel: so kann man beispielsweise mit dem Krieg von inneren Problemen ablenken wollen und mögliche oder bereits ausgebrochene Unruhen unterdrücken {Politica VI 7; Behnen 1986). In all diesen Erörterungen ist aber immer vom Krieg als einer außenpolitischen Handlungsstrategie die Rede, nicht von dem Verhältnis der Staaten untereinander. Die konfessionellen Bürgerkriege, die auch international geführt wurden zwischen den Allianzen der jeweils einer Glaubensrichtung zugehörigen Staaten (England, Frankreich, Hugenotten), wurden zur dauerhaften Bedrohung. Vor diesem Hintergrund erhielt der Krieg seine Bedeutung als Metapher für einen bestimmten politischen Zustand, der grundsätzlich vermieden werden sollte, weil die Kosten des Krieges nicht mehr toleriert werden können. Das hatte auch damit zu tun, dass nun immer weniger Beteiligte das Seelenheil dem physischen Heil vorzogen. Nur drei Jahre nach dem Westfälischen Frieden publizierte Hobbes den Leviathan. Der Krieg war aus seiner Sicht ein realistischer Naturzustand, der aber mit politischen Mitteln neutralisiert oder sogar überwunden werden konnte. Hobbes hatte nicht zufälligerweise sein schriftstellerisches Schaffen mit der Übersetzung von Thukydides' Peleponnesischer Krieg ins Englische begonnen. Sein „Realismus" war immer auch ein Immanentismus, da seine Problemlösung nicht auf transzendente Normen zurückgriff. Hobbes' Theorie von Krieg und Frieden (Caws 1989; Airaksinen/Bertman 1990; Kleemeier 2002) im Leviathan ist für den realistischen Zweig der heutigen Theorie der Internationalen Beziehungen ein ähnlicher Ausgangspunkt wie ihn Immanuel Kant für den idealistischen Zweig darstellt. Diachron ist Hobbes somit der ideengeschichtliche Gegenspieler zu Kant (Brown 1970). Hobbes zählt neben Thukydides und Machiavelli zum traditionellen Dreigestirn des Machtrealismus (Johnson 1993; Murray 1997, 33-47), allerdings äußerte wie gezeigt bereits Piaton die Idee vom anhaltenden Kriegszustand zwischen den politischen Ordnungen (Nomoi 12: 625e-626a). Die textliche Grundlage für die Annahme, Hobbes ginge von einer zwischenstaatlichen Anarchie aus, ist jedoch dünn (Malcolm 2002). Zum einen nannte er nur in den Elements (23, 12) den „state of war" einen „state of anarchy", in De Cive und Leviathan hingegen blieb der Ausdruck Anarchie der Beschreibung der Demokratie vorbehalten. Ferner geht die Gleichsetzung von Naturzustand und Krieg in den allermeisten Fällen vom Bürgerkrieg aus; das Verhältnis zwischen den Staaten wird dem gegenüber sehr wenig behandelt. Selbst wenn man annimmt, Hobbes ginge von einer zwischenstaatlichen Anarchie aus, so bedeutet das nicht, er stellte die Staatenwelt einem regellosen Chaos gleich (Malcolm 2002). Der Naturzustand wird vom Naturrecht geregelt, das freilich bei Hobbes entnormativiert und stark auf einige wenige Grundprinzipien reduziert ist. Es existiert allerdings keine Sicherheit darüber, das einmal eingegangene zwischenstaatliche Verpflichtungen auch stets befolgt werden. Die meist zitierte Stelle (Torbjörn 1992, 89) ist Leviathan I 13,

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wo der zwischenstaatliche Krieg jedoch nur als Beweis für die Existenz eines Naturzustandes herangezogen wird. Daher kann man die Anwendbarkeit von Hobbes' Theorie auf die tatsächliche Staatenwelt in Zweifel zu ziehen (Bull 2002, 44-49). Die Übertragung von Hobbes' Staatstheorie auf die Staatenwelt unter Verwendung des Ausdrucks Anarchie erfolgte erst unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges (Dickinson The European Anarchy 1916, 10) und dann als analytischer Hintergrund zum Verständnis der Zwischenkriegszeit (Carr Twenty Years Crisis 1939, 81-83) - und zwar in beiden Fällen mit stärkerem Fokus auf Machiavelli als auf Hobbes. Aus der Erkenntnis, dass im Umgang mit totalitären Staaten den herkömmlichen diplomatischen und völkerrechtlichen Interaktionen jegliche Basis fehlt, folgte, dass als letzte Kommunikationsmöglichkeit nur noch der Krieg verbleibt. Es stellt sich ferner die Frage, warum nicht auch die Staaten der von Hobbes für die Überwindung des Bürgerkrieges demonstrierten Logik folgen und den vernünftigen Frieden suchen, indem sie ihr Recht auf den Krieg auf eine Art Weltstaat übertragen. Die Antwort liegt weniger in der mangelnden Vorstellungskraft bezüglich der Gründung eines Weltstaates als vielmehr in einem systematischen Problem. Die Voraussetzung der Staatsgründung ist die Erkenntnis der Gleichheit der Menschen in Bezug auf ihre gegenseitige Gefahrdung: Soziale oder physische Unterschiede sind laut Hobbes unerheblich, denn auch der schwächste Mensch kann unter bestimmten Umständen jedem anderen Menschen gefahrlich werden. Das lässt sich angesichts der erheblich größeren und auch strukturell vorhandenen Ungleichheit zwischen einzelnen Staaten nicht auf die Ebene der internationalen Ordnung übertragen (Farrell 1989, 76-77). Die Staatenwelt war durch stark asymmetrische Machtverhältnisse geprägt, was einen Ausgleich nur schwer zulässt; immerhin kann man sich hegemoniale Schwergewichte denken, welche die Kriege auf solche zwischen unterschiedlichen Hegemonen und den ihnen zugeordneten Verbündeten und Auxiliarstaaten begrenzen (Triepel, Die Hegemonie 1938). Der englische Bürgerkrieg führte zu keiner Intervention europäischer Mächte, da diese in den 30jährigen Krieg verstrickt waren. In diesem Konflikt reklamierten alle Konfliktparteien das Recht auf ihrer Seite und behaupteten jeweils, einen gerechten Krieg zu führen. Der Krieg wurde durch das Westfälische Staatensystem beendet, das zugleich das Ende der europaweit ausstrahlenden Friedensidee des „Reichs" markiert. So wie der Papst völlig vergeblich gegen die Anerkennung protestantischer Staaten als gleichberechtigte Glieder der neuen europäischen Friedensordnung protestierte, so endete auch klanglos die Idee des Heiligen Römischen Reiches als Friedensgarant, wie es Dante beschworen hatte. Nicht nur hatte sich der Führungsanspruch des Reichs zerschlagen, es war auch der Hauptschauplatz des 30jährigen Krieges gewesen und demonstrierte seine Uneinigkeit sowie seine Ohnmacht, den Frieden auf eigenem Boden zu garantieren oder gegen äußere Eindringlinge zu sichern. Die Reichsidee als Friedensidee geriet aber nicht in Vergessenheit (Münkler 1996). Der Mathematiker und Universalgelehrte Leibniz bediente sich ihrer im Kontext der weiteren europäischen Hegemoniekämpfe mit Frankreich (Schatz 2000, 273304) und als „Imperium" entfaltete die Reichsidee sogar eine eigene Handlungslogik von Zentrum und Peripherie (Münkler 2005), die dann besonders im Imperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts zur Geltung kam. An Stelle der Reichsidee trat im 17. Jahrhundert die Idee Europas. Als Friedensmodell hatte es keine mit dem Reich vergleichbare Weihe, es beruhte vielmehr auf der Zustimmungsfahigkeit der Akteure. Die Idee Europas ist vielgestaltig; einer ihrer wichtigsten Zweige ist

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die Idee Europas als Friedensordnung (Schlochauer 1953; Heater 1992). Neben den Appell an die abendländische, christliche oder zivilisatorisch-humanitäre Idee tritt hier stets die Kalkulation eines gemeinsamen Interesses, ob dies nun Eroberungsabsichten, Defensivinteressen („Türkengefahr" im 17. Jahrhundert) oder die nachhaltige Kriegsvermeidung sind. Eine solche Friedensordnung beruht auf der Eingliederung der Staatlichkeit in Bündnisstrukturen und der damit erzielten Einschränkung einzelstaatlicher Souveränität oder Handlungsfreiheit (Forsyth 1981). Dieser Zweig reicht bis zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der heutigen Europäischen Union, welche als Antwort auf die Erfahrung des 2. Weltkrieges 1952 mit der Organisierung einer gemeinsamen Kontrolle der für die Rüstung wichtigen Industriebereiche begann (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl). Das Bündnismodell ist zudem der Ursprung des Föderalismus (Deuerlein 1972; Koselleck 1972; Maier 1990; Fröschl 1994), der in heutiger Diktion eher eine Komponente innerstaatlicher Verfasstheit als eine internationale Konstellation meint. Treten Staaten erst einmal in ein so enges Verhältnis, wird die gewaltfÖrmige Austragung eines Konfliktes zwischen ihnen immer unwahrscheinlicher. Die Frage ist, wie Staaten veranlasst werden, in solche Bündnisse einzutreten, um darin ein Element ihrer politischen Unabhängigkeit aufzugeben. Der Verdacht liegt nahe, dass ein europäisches Bündnis nicht allen Beteiligten gleichmäßig von Nutzen ist, dass vielmehr Hegemonialmächte ihren Einfluss durch die Schaffung eines Bündnisses vermeintlich gleichrangiger Partner erweitern wollten. Das zeigte sich schon bei dem ersten dieser Modelle, bei Pierre Dubois' De recuperatione terrae sacrae aus dem Jahr 1306. Die Wiedereroberung des Heiligen Landes war seiner Ansicht nach nur möglich, wenn die Kräfte der christlichen Herrscher Europas vereint würden, was fiir Dubois, der dem Mitarbeiterstab Philipps des Schönen zugehörte, nur unter französischer Führung vorstellbar war. Die völkerrechtliche

Staatenordnung

Mit dem frühneuzeitlichen Völkerrecht verschob sich der Fokus vom gerechten Krieg zum Kriegsrecht (Tuck 1999). Alberigo Gentiiis (1552-1618), bei dem Hobbes in Oxford studierte, brachte als erster auf den Begriff, was die konfessionellen Kriege offenbart hatten: der gerechte Kriegsgrund lässt sich nicht objektiv ermitteln, alle Kriegsparteien sind Richter in eigener Sache und in so schwer wiegenden Fällen wie den Religionskonflikten, lässt sich dies auch nicht erwarten. Das Kriegsrecht muss sich daher auf Formalien stützen: Wer darf einen Krieg eröffnen, wer darfeinen Krieg führen, wer darf sich daran beteiligen? Gentiiis ging in seinen kriegstheoretischen Schriften Prima commentatio de iure belli (1588) und De iure belli libri tres (1589) davon aus, dass stets beide Seiten einen gerechten Kriegsgrund reklamieren und daher unmöglich zu klären ist, ob die Kriegshandlung gerechtfertigt ist oder nicht, wenn man nur auf den Grund zum Kriege sieht (De iure belli libri tres I 6). Es gehört zum Wesen des Krieges, dass die kriegführenden Seiten für sich beanspruchen (ut pars utraque praetendat), eine gerechte Sache zu verfolgen. Daraus wird bei Grotius 37 Jahre später das berühmte „bellum iustum ex utramque partem" (De iure belli ac pacis II 23, 13). Wie Gentiiis ausführte, können meist beide Parteien mit Gründen eine „causa iusta" geltend machen: die tatsächlichen Kriegsursachen sind so komplex, dass sich immer Anknüpfungspunkte für die Rechtmäßigkeit finden lassen. Kann man also den Krieg als solchen nicht mit Rechtsmitteln verhindern, so stellt sich doch die Frage, wie er

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zu strukturieren und zu hegen ist: Wer darf wie Krieg führen? Wie sind Akteure in Konflikten zu behandeln, etwa Diplomaten, Botschafter, Soldaten? Die Rechtsbetrachtung, die in der Praxis ihren Ausgangspunkt nehmen muss, kann insoweit wenigstens zur Erzeugung stabiler Erwartungen beitragen. Gentiiis sah den Krieg als einen Übergangszustand zwischen Friedenszuständen. Überlässt man den Krieg staatlichen Akteuren, die gewissermaßen professionell mit ihm umgehen, kann der Schaden leichter reduziert werden, als wenn die Akteure die Gerechtigkeit ihres Anliegens in den Vordergrund stellen. Staaten, oft durch Verträge verbunden, brechen ihre Verpflichtungen, führen Krieg und kehren wieder an den Verhandlungstisch zurück. Der Krieg muss demnach keinen Abbruch der rechtlichen Kommunikation bedeuten, wie die zahllosen Waffenstillstände, Kapitulationsverhandlungen oder Vereinbarungen über Gefangenenaustausch zeigen. Gerade der Verzicht auf die moralische Exposition der Gerechtigkeitsfrage erlaubt unterhalb der ethischen oder religiösen Ebene eine pragmatischrechtliche Lösung von Einzelkonflikten. Gentiiis, der Protestant aus Italien, der in England Asyl fand, reflektierte so die Möglichkeiten einer Betrachtungsweise, die sich vom Primat der Theologie emanzipierte. Er atmete bereits den Geist, den Diego Velasquez in seinem Gemälde Las lanzas (1631 entstanden) einfing, worin er die großzügigen Kapitulationsbedingungen Spinolas gegenüber der von ihm belagerten protestantischen Stadt Breda dokumentierte - und ihre disziplinierte Durchführung. Breda wurde als Fall zivilisierter Kriegfuhrung von Calderon de la Barcas 1626 dramatisiert. Die Belagerung La Rochelles 16271628 zeigte dagegen die entsetzlichen Folgen der technisierten Kriegführung, die sich von formalen Rechtsbetrachtungen letztlich nicht erfassen ließ. Der Dreissigj ährige Krieg entvölkerte Mitteleuropa; erst die Erschöpfung der Kriegsparteien erlaubte an seinem Ende die „Westfälische Staatenwelt", in welcher die Theorien von Grotius und Hobbes in die Praxis umgesetzt wurden und politische Ordnungen nach rein formellen Kriterien als Akteure der Staatenwelt anerkannt wurden. Breda kapitulierte 1625, als Grotius' De iure belli ac pacem erschien. Wie Gentiiis erwog auch Grotius nicht, den Krieg als Handlungsgattung verhindern oder gar verbieten zu wollen. Immerhin konnte man dieses mit herkömmlichen Normen nicht einzäunbare Gebiet durch die Formulierung eines Naturrechts neuer Art wenigstens regulieren. Wenn Grotius mit der klassischen Formulierung „gerechter Krieg" operierte, so ging es nicht um ethisch verdammenswerte Kriege, er wollte statt dessen den Gesamtkomplex kriegerischer Aktivität mit seiner Vielzahl von Akteursgruppen und seiner Vielzahl von Handlungsformen normieren und so eine Handlungsorientierung ermöglichen. Dazu war es nötig, das Erscheinungsbild des Krieges nach sachlichen Gesichtspunkten zu systematisieren. Grotius unterteilte alle Kriege in öffentliche, private und gemischte. Öffentliche sind solche, die im strengen Sinne und nach förmlichen Kriterien gesehen von höchsten („souveränen") Gewalten untereinander geführt werden. Nur auf dieser Ebene sprach Grotius vom Völkerrecht. Daran anschließend unterschied er zwischen dem „ius ad bellum" (das Recht zur Kriegführung und Kriegeröffnung) und dem „ius in bello" (das Recht im Krieg geltende Recht), wobei das ius ad bellum allein bei souveränen Gewalten liegt. Als Grenzfall erörterte er auch das ius in bello für Situationen, wenn der Krieg von Akteuren geführt wird, die kein ius ad bellum besitzen. Grotius' Argumentation war oft kasuistisch und behandelte Fragen wie die, was im Falle eines ungerechten Krieges zu tun sei, und zwar sowohl aus der Sicht der Regierung wie aus der Sicht einzelner Untertanen (III 10)?

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Das Kriegsrecht wird immer dann vernebelt, wenn man nach primär politischen Gesichtspunkten Krieg beginnt und nachträglich rechtliche Argumente zur Begründung sucht. Diese Praxis kritisierte Grotius, sie ist der Ausgangspunkt der ganzen Fragestellung von De iure belli ac pacem (Präliminarien 3). Kriegsrecht wird oft zum Siegerrecht, wie es Tacitus einmal in der Sentenz formulierte, wonach siegreiche Waffen immer im Recht sind (Annales XV 1). Der (noch heute) schwierigste Abgrenzungsfall war dabei der Präventivkrieg. Gentiiis hatte bestimmte Fälle (siehe unten unter „Gleichgewicht") als ausreichenden Grund fur eine präventive Kriegseröffhung gebilligt (De iure belli 1588,1 14), was Grotius energisch kritisierte und mit dem Vorwurf verband, Gentiiis trenne nicht genügend politische von rechtlichen Fragen in Hinblick auf den Krieg (II 1, 17). Bevor man Angriffskriege aus der Überzeugung heraus unternehme, einem Angriff zuvor zu kommen, müssten alle nichtkriegerischen Mittel genutzt werden, um die Bedrohung zu mildern (II 23, 5). Die bloße Möglichkeit eines Angriffs eines Nachbars, basierend auf der Beobachtung seiner militärischen Erstarkung, erachtete Grotius für genauso wenig ausreichend (II 1,17) wie die günstige Gelegenheit des Ausnutzens eines temporären Vorteils. Aber die Abgrenzung fällt schwer, und Grotius war ungeachtet der von ihm gegebenen Kasuistik ehrlich genug, diese Frage eine moralische zu nennen: Man muss seinem eigenen Gewissen nach sicher sein, dass der Nachbar angreifen will und angreifen kann. Grotius grenzte auch die Sphären von Recht und Moral ab, wenn er Situationen behandelte, in welchen das Recht Handlungen erlaubt, die Gewissen und Ehre verbieten (III 10, 3). Ausführlich diskutierte er die Lüge (III 1), wobei er Machiavellis Befürwortung grundsätzlich anerkannte. Das Tötungsrecht im gerechten Krieg und das Verbot, Unbeteiligte und Unschuldige in die Kampfhandlungen einzubeziehen oder gar zu töten, fand Grotius' besondere Aufmerksamkeit (III 11). Ungerechte Akte in gerechten Kriegen oder gerechtfertigte in ungerechten Kriegen ziehen Ansprüche auf Restitution nach sich. Insbesondere Fragen des Umgangs mit Eigentum im Krieg wurden von Grotius ausgiebig erörtert. Grotius sah die aller politischen Praxis gemeinsame rechtliche Aktivität als das Fundament des Völkerrechts an, weshalb der Umgang souveräner Ordnungen nicht nur als Frage der Macht bewertet werden darf. Alle Staaten zeigen seiner Ansicht nach ein Interesse am Frieden. Das Gemeinwohl der Völker in ihrem Bestreben nach Stabilität, Sicherheit und Verkehr nötigt daher eine die Staaten umgreifende Perspektive auf. Diese Perspektive ist nicht idealistisch gemeint, wenn man mit Grotius bedenkt (Prälimarien 23-24), dass kein Staat so mächtig ist, auf Verbündete verzichten zu können und das Recht der Abkommen, Bündnisse und Verträge eine Sicherheit bietet, die es erlaubt, nicht immer nur auf die eigene Macht zu vertrauen. Das, was allen Menschen am ehesten gemein ist, ist aber die Vernunft - das übernahm die weitere Naturrechtstradition vom grotianischen Ansatz und systematisierte ihn, von Samuel von Pufendorf bis zu Christian Wolff und dem naturrechtlichen Vernunftrecht. Das Gemeinwohl interpretierte Grotius als die Summe der zu diesen Fragen vorgetragenen Vernunft, weshalb Grotius neben der Klärung einzelner politischer Fragen stets auch die gelehrte Tradition, zumal antike Autoren als Beleg für die Rationalität seiner Argumentation heranzog. Das Gemeinwohl ist im allgemeinen so unbestimmt wie sich die Kasuistik im Partikularen verliert. Sie zeigt aber an, dass rechtliche Fragen des Krieges aus einer Perspektive erörtert werden müssen, die nicht nur alle Kriegsparteien einschließt, sondern auch die unbeteiligten, aber betroffenen Staaten. Das Völkerrecht wur-

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de so von der Beschäftigung mit bilateralen Konflikten zur Theorie einer universalen Ordnungsidee. Das Völkerrecht als Beschäftigung mit dem Rechtsverkehr der Staaten untereinander machte die Erfassung und Sammlung zwischenstaatlicher Verträge nötig, eine erste Sammlung legte Leibniz vor (Codex Juris Gentium Diplomaticus 1693). Das positive Völkerrecht bot parallel zu den naturrechtlichen Theorien Stoff, verbindliche Maßstäbe zu ermitteln, die als geübter Konsens, als Gewohnheit oder anerkanntes Prinzip verallgemeinert werden konnten. Das war der Gegenstand des Völkerrechts in der Schweizer Aufklärung. Die Schweizer Aufklärung des 18. Jahrhunderts begründete das moderne Völkerrecht, das über die Idee einer naturrechtlichen Rechtsordnung hinaus das Faktum der Westfälischen Staatenordnung zum Ausgangspunkt nahm und nur Staaten als Akteure gelten ließ. Der Hintergrund der Schweizer Aufklärung war die Verdichtung des Netzes an internationalen Verträgen und Kooperationen zu Beginn des 18. Jahrhunderts, das optimistisch stimmte. Der Friede von Utrecht im Jahre 1713 weckte mehr noch als der Westfälische Friede von 1648 Hoffnungen bezüglich der Möglichkeit, über die latente Feindseligkeit der europäischen Staatenwelt hinauszukommen. Die relativ lange Friedenszeit nach Utrecht erlaubte noch Voltaire 1739, die Chance einer großen Republik zu erwägen, die aus zahlreichen, verschiedenen Staaten besteht. Ist Grotius der Vater des neuzeitlichen, so Vattel der des modernen Völkerrechts (Koskenniemi 2001; Ruddy 1975; Whelan 1988; Jouannet, 1998). Emer de Vattel (1714-1767) äußerte am Ende der Vorrede seiner Le droit des gens von 1758, er sei in einem Land geboren, in welchem die Freiheit zugleich die Seele, der Schatz und das Grundgesetz darstelle und könne sich daher durch seine Geburt als Freund aller Nationen bezeichnen. Damit formulierte er bereits die bemerkenswerte Position des Schweizers inmitten der europäischen Politik und eine Lösung des Standpunktproblems bei der Formulierung politischer Prinzipien: die interessierte Neutralität. Vattel wurde im Fürstentum Neuenburg geboren, das noch zu Preußen gehörte. Er studierte in Basel (wo er Pufendorfs Schriften begegnete) und Genf (wo Burlamaqui lehrte). Wolffs System, das in Atheismus-Verdacht geraten war, verteidigte Vattel energisch. Christian Wolff (1679-1754) hatte alle Staaten als Bürger einer einzigen „civitas maxima" interpretiert (Ius gentium methodo scientifica pertractatum, prolegomena §§ 7-22 und 25 sowie Institutiones iuris naturae et gentium von 1750, § 1090) und berief sich hierzu auf Grotius (Politico § 10 auf De iure belli ac pads, Prälim. 17). Für einen Vertreter des rationalen Naturrechts war die Abhängigkeit der Bündnisse vom Willen der Regierungen eine unbefriedigende Annahme. Wolff argumentierte universalistisch, der Geltungsgrund war die Vernunft des Arguments, nicht die Vernünftigkeit des Willens (Grewe 1988, 418-419; Onuf 1994). Der Wille hatte seinen Platz allein in der rechtlichen Selbstbindung der Staaten; wie diese gewährleistet werden konnte, war freilich eine andere Frage. Vattel verwarf die civitas maxima Wolffs (Preface S. XVII der Ausgabe 1758) als unzulässige Einschränkung des Gedankens der Souveränität der Völker und entwarf, seinerseits an Grotius anschließend, das Modell der Staatengemeinschaft, beruhend auf dem Konsens ihrer Mitglieder: über das „obrigkeitlich-positivistische" Modell souveräner Staaten wölbte Vattel ein „genossenschaftlich-naturrechtliches" Modell (Reibstein 1957/1963 I 635), das die civitas maxima-Idee Wolffs pragmatisch überwand (Manz 1917, 125-129; Hochstrasser 2000, 176-183). Aus dem Naturrecht folgerte Vattel die societas gentium, die Völkerge-

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meinschaft. Die Staaten sind seiner Auffassung nach vergesellschaftet, worauf Gemeinsamkeiten in der Übung und im Interesse aller Beteiligten hinwiesen. Vattel zählte sich zur Tradition des rationalen Naturrechts (Le droit des gern, Präliminarien § 11). Er argumentierte auf der Grundlage einer angenommenen Vernunftnatur des Menschen: im menschlichen Wesen sei die Idee der Völkergemeinschaft verankert (I 12 § 135). Überlegungen zur Selbstverteidigung, zur Nothilfe, zu der Pflicht, Schutz zu gewähren und zur Anerkennung gegenseitiger Gleichheit ungeachtet unterschiedlicher physischer Stärke analogisierte Vattel zu den Verhältnissen zwischen Individuen. Die Religionsunterschiede zwischen den politischen Akteuren erachtete Vattel als irrelevant: Menschen verkehren rechtlich als Menschen, nicht als Angehörige einer Religion. Daher beantwortete Vattel die von Grotius (De iure belli ac pacis II, 15, § 8f) und noch von Locke (Brief über Toleranz) behandelte Frage, ob man mit Fremdgläubigen Verträge schließen und somit rechtliche Verbindlichkeiten eingehen kann, eindeutig positiv. Andererseits war sich Vattel darüber im klaren, dass die Vernunft nicht von alleine zur Geltung kommt. Die Verbindlichkeit des Rechts beruht bei ihm auf dem Willen der Akteure. Staaten folgen nicht moralischen oder vernünftigen Geboten, sondern gehen freiwillig Verpflichtungen ein, an die sie durch ihre eigene Tätigkeit des Vertragsschlusses gebunden sind. Damit sie frei agieren können, müssen sie souverän sein, d.h. also unabhängig. Vattel wandte sich an die Handelnden selbst, die Diplomaten, Fürsten und deren Berater (Reibstein 1957/1963 I 605). Die Vernunft diente ihm nicht als doktrinärer Maßstab, sondern als Richtlinie des Handelns. Vattel versuchte zu überzeugen („Der Friede ist ein kleines Opfer wert": II 18 § 332), nicht zu moralisieren. Er wusste, dass Machthaber nicht die von ihm aufgestellten natürlichen Gesetze strikt befolgen würden, aber man sollte nicht die Hoffnung verlieren, dass sie auf sie Eindruck genug machten, um ihr Handeln zu beeinflussen (Vorrede). Die politische Friedensidee Neben der völkerrechtlichen Idee des Krieges als Ableitung naturrechtlicher Argumentationsfäden etablierte sich im 18. Jahrhundert die Idee des Friedens als Organisationsmodell. Ging Vattel von der faktischen Völkergemeinschaft mit all ihren Mängeln als Bezugspunkt seiner rechtlichen Überlegungen aus, so stellte sich nun eher die Frage, wie eine solche Gemeinschaft am besten organisiert wurde, um den Frieden dauerhaft zu etablieren. Dieser Strang reichte vom Abbe Saint-Pierre über Rousseau bis Kant. Im Vorfeld der Utrechter Friedensverhandlungen von 1715 entstand das berühmte Friedensprojekt des Charles Castel Abbe de Saint-Pierre (1658-1743). Er entstammte einem verarmten normannischen Adelsgeschlecht, wurde zum Priester ausgebildet, führte aber das Leben eines Gelehrten. Sein Friedensplan für das europäische Staatensystem (Michael 1922; Chabod 1963, 38-40; Asbach 2002) löste eine Diskussion aus, die bis zu Immanuel Kant reichte. Das Memoire pour rendre la paix perpetuelle en Europe wurde zunächst 1712 anonym veröffentlicht (bei einem Kölner Verleger, der sich Jacques le Pacifique nannte). Er arbeitete die Denkschrift zu einer umfangreichen Trilogie aus, die beiden ersten Bände erschienen unter dem Titel Projet pour rendre la paix perpetuelle en Europe 1713 anonym in Utrecht, der dritte Band 1716 unter dem Namen des Verfassers in Paris. Danach wurden ihrerseits weit verbreitete Abzüge ("Abrege") 1729 und 1738 veröffent-

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licht. Das umfangreiche Werk machte Rousseau mit seinem Auszug von 1761 zusätzlich bekannt (Raumer 1953, S. 343-368). Der Friedensplan des Abbe Saint-Pierre sieht ein System kollektiver Sicherheit vor, das an die Stelle eines suprastaatlichen (ehedem päpstlichen) Schiedsrichters tritt, der doch nur seine eigenen Interessen wahrnehmen würde. Das System soll mit seiner gemeinsamen Macht vereinzelte Friedensstörer bekämpfen. Hierzu schließen die vertragsschließenden Souveräne einen ewigen und unwiderruflichen Bund und ernennen Bevollmächtigte, um an einem bestimmten Ort einen immerwährenden Bundestag oder Kongress abzuhalten, in welchem alle Streitigkeiten der Bündnispartner durch Schiedsspruch oder richterliches Urteil geregelt werden. Die Idee des immer währenden Friedenskongresses hatte den Reichstag des Deutschen Reiches zum Vorbild, der bereits William Penn zu seinem Essay toward the present and future peace of Europe by the establishment of an European Dyet (1693) inspirierte. Saint-Pierres Modell war wesentlich ausführlicher. Es legte Stimmrecht und Abgaben fest und formulierte die Garantie des Bundes, jedem Mitglied den aktuellen Territorialbesitz sowie die Wahl bzw. Erbrechtsfolge entsprechend den Grundgesetzen eines jeden Landes zu sichern. Um mit einem Schlage die Quelle der ständig ausbrechenden Streitigkeiten auszutrocknen, sollten der gegenwärtige Besitzstand und die letzten Abkommen als Grundlage aller gegenseitigen Rechte der vertragsschließenden Mächte genommen werden, wobei alle auf frühere Ansprüche für immer verzichtten. Ferner führte Saint-Pierres Modell die Fälle einzeln auf, in denen ein Bundesgenosse mit dem Europäischen Bann belegt und als öffentlicher Feind geächtet werden soll, so wenn ein Staat sich weigert, die Schiedssprüche der Großen Allianz auszuführen, wenn er über Verträge verhandelt, die sich gegen den Bund richten oder wenn er Kriegsvorbereitungen trifft, um einen der Bundesgenossen anzugreifen. Ferner bestimmt das Modell das Verfahren zur Festlegung der entsprechenden Rüstungskosten, die Stimmenquoren für dieses sowie das Verfahren des Schiedsspruches. Saint-Pierre wollte eine Art Mustervertrag formulieren, der sich an der Form anderer Friedensschlüsse orientierte und die in der Praxis so wichtigen Festlegungen von Verfahrensregeln und kasuistischen Auflistungen ernst nahm. Diese Form hat später Kant in seinem Entwurf eines Ewigen Friedens übernommen. Trotz dieses pragmatischen Ansatzes störte die Zeitgenossen Saint-Pierres Idealismus oder gar Utopismus, mit einem einzigen Wurf den anhaltenden Frieden schaffen zu wollen (Zenz-Kaplan 1995, 175-230). Wie sollten die Staaten dazu gebracht werden, diesem Bund beizutreten, wenn doch die ständige Veränderung der Grenzen und die Erweiterung des Einflussgebietes Triebfedern der Außenpolitik sind? Andererseits steckten in den utopischen Entwürfen immer wieder wertvolle realistische Überlegungen (Bok 1990), welche die Diskussion anregten. Nach dem Tode von Saint-Pierre beauftragte der Erbe seines Nachlasses Rousseau mit der Edition einer Zusammenfassung, die 1761 erschien. Das führte dazu, dass in der nachfolgenden Kritik die Namen Saint-Pierre und Rousseau in einem Atemzug genannt wurden. Rousseau selber war jedoch skeptisch, wie sein zu Lebzeiten unveröffentlichtes Gutachten zu Saint-Pierre zeigte (Urteil über den ewigen Frieden 1782 posthum; Asbach 2002). Rousseau verlangte, dass sich die Interessen mit dem politischen Willen verbinden müssen, wenn man ein realistisches Modell des internationalen Friedens entwerfen will. Die bei den verschiedenen Vertragsschlüssen feierlich beschworene Friedensidee der Regierungen sowie ihre Deklamationen des Wunsches nach ewigem Frieden dürfen laut Rous-

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seau nicht darüber hinwegtäuschen, dass die einzelstaatlichen Interessen die wesentlichen Motive des Friedens sind und sich erst anschließend in die wohlklingenden Worte des Friedens hüllen. Der im Modell Saint-Pierres theoretisch leicht zu behauptende allgemeine Nutzen des Friedens breche sich realpolitisch an den besonderen Interessen der Einzelstaaten. Ehrenvolle Absichten scheiterten so lange an den geheimen Triebfedern politischen Handelns, wie nicht gewährleistet sei, dass der Gemeinnutzen des Volkes und der Eigennutzen der Regierenden identisch seien. Das kann nur durch die Angleichung der inneren politischen Verfassung dieser Staaten gelingen. Die Wurzel der Gebrechen des Völkerrechts liegt in Rousseaus Augen darin, dass es gar kein Völker-„Recht", kein droits des gens ist, sondern ein Recht der Außenbeziehungen von Staaten. Das hat mit dem formalen Souveränitätsbegriff zu tun, der von der Binnenverfassung der Staaten absieht. Rousseau erklärte die Volkssouveränität zum wahren Begriff der Souveränität. Erst wenn die Staaten demokratisch legitimiert sind, wird eine Epoche anbrechen können, von der man realistischerweise erwarten dürfe, dass sie Frieden dauerhaft ermöglicht. Rousseaus Lösung liegt also in der Änderung der Regierungsform: Erst wenn das ancien regime und mit ihm die Tradition der Kabinettskriege überwunden ist, kann es zu einem immerwährenden Frieden kommen. Nur zwischen Völkern, nicht zwischen Fürsten ist ein solcher Friede erreichbar. Hier bahnte sich die Homogenitätstheorie an, die in der heutigen Diskussion als Theorie des demokratischen Friedens kursiert (Kley 1999). Rousseau kritisierte deswegen auch die von Abbe Saint-Pierre vorgenommene Verewigung des status quo als Ausgangspunkt des internationalen Friedensschlusses. Mit dem Friedensbund werde ein für alle Mal der jetzige Status der Grenzen und zwischenstaatlichen Verhältnisse festgeschrieben. Das aber hieße, dass die wesentlichen Fragen etwa bezüglich der inneren Verfasstheit der Staaten unangetastet blieben. Darin sah Rousseau den eigentlich wunden Punkt der Argumentation. Nach einem Jahrhundert des Naturrechts und der Geltendmachung vernünftiger Maßstäbe der innerstaatlichen Zustände behauptete Rousseau, dass man unmöglich einen irgendwie gearteten status quo, der aus zufälliger Entwicklung oder einfach der Macht des Stärkeren folgte, akzeptieren könne, ohne das Programm der Aufklärung zu verraten. Rousseaus diskutierte im Zusammenhang mit seinen Überlegungen bezüglich einer dauerhaften Friedensordnung die innere Struktur des Deutschen Reichs als mögliches Vorbild. Was von Pufendorf bis Hegel als abschreckendes Beispiel diente, wie eine politische Ordnung nicht aussehen darf, lobte Rousseau als Vorbild einer internationalen Friedensordnung, deren Schwäche gerade ihre Stärke ausmacht. Die Unklarheit bezüglich des politischen Kraftzentrums im Deutschen Reich sah er wie Pufendorf als Schwäche dieser politischen Ordnung, die sich von einer höheren Warte aus aber als nützlich erweisen kann. Die mangelnde Konzentration der Kräfte im Reich wirkt nämlich vorteilhaft für den Frieden in Europa: das Reich ist verfassungspolitisch zu Eroberungskriegen unfähig. Daher hängt laut Rousseau das europäische Gleichgewicht von der Ungeklärtheit der Souveränitätsfrage im Innern des Reichs ab. Das Reich ist durch den Föderalismus zu einer defensiven politischen Ordnung gezwungen, der Föderalismus als Binnenverfassung ist somit das Modell jeglicher Friedensordnimg. Diese Überlegung verzahnte sich leicht mit Rousseaus Theorie der republikanischen Struktur politischer Ordnungen, die seiner Ansicht nach stets nur geringe Bevölkerungen umfassen konnten. Dem Einwand, dass diese kleinen Republi-

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ken den deutlich größeren Fürstentümern und Königreichen schon militärisch unterlegen seien, erwiderte Rousseau mit der Möglichkeit der Föderation von Republiken. Hier verwies Rousseau auf den Schweizer Bund unabhängiger Kantone, der sich in der Defensive den Fürsten gewachsen zeigte, zu offensiver Kriegführung aber außerstande war. Der intensivste Widerhall von Saint-Pierres Friedensplan war in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts vernehmbar (Dietze/Dietze 1989), und die bedeutendste Schrift war in diesem Zusammenhang Kants Zum ewigen Frieden von 1795 (Höffe 1995; Cavallar 1992; 1999). Kant unternahm den Versuch, die Forderungen der praktischen Vernunft mit den Realitäten des politischen Lebens anhand der Friedensproblematik in Einklang zu bringen, angeregt vom Basler Frieden zwischen der französischen Republik und dem Königreich Preußen im gleichen Jahr. Kant wählte für die Struktur seines Arguments die Form eines seinerzeit üblichen Friedensschlusses, indem er die Schrift in „Präliminarartikel", die politischen Vorbedingungen des Friedens regelnd, und die eigentlichen Abmachungen für die Zukunft, die „Definitivartikel" unterteilte. Darin folgte er der Idee des Abbe, den ewigen Frieden als einen Friedensschluss, d.h. als einen diplomatischen Akt zu begreifen. Die Präliminarartikel statuieren sechs Vorbedingungen des Friedens: den Frieden nicht unter Vorbehalt einzugehen, keinen anderen Staat zu erwerben, stehende Heere mit der Zeit aufzugeben, keine Schulden für außenpolitische Unternehmen zu machen, sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen und schließlich keine Mittel im Krieg zu benutzen, die einen künftigen Frieden unmöglich machen. Die Definitivartikel, die den ewigen Friede regeln, beinhalten drei Bestimmungen: die innere Verfassung der Staaten soll republikanisch sein, ihr Völkerrecht soll auf einem Bund freier Staaten beruhen, und es wird ein Weltbürgerrecht auf der Grundlage des Gastrechts statuiert. Diese unspektakulär wirkenden Einzelbestimmungen sind nur der äußere Rahmen für eine Begründung, die einen eigenen Pfad in der Theorie der Internationalen Beziehungen eröffnete, sogar als eigenständige politische Theorie gelesen werden kann (Gerhardt 1995). Obschon retrospektiv zum Opponenten von Hobbes stilisiert, besteht Kants Leistung gerade darin, die grundsätzlich idealistische, vernunftrechtliche Position mit bemerkenswerten „realistischen" Überlegungen zu kombinieren. Die Idee des ewigen Friedens, so sehr sie auch nur ein vielleicht unerreichbares „Gedankending" sei, ist für Kant das „höchste politische Gut". Der Friedenszustand, verstanden als vollkommener Rechtszustand innerhalb von Staaten und zwischen ihnen, ist für Kant der Endzweck aller Rechtslehre (Die Metaphysik der Sitten 1798, Beschluss der Rechtslehre 478-479). Die moralisch-praktische Vernunft spricht ein eindeutiges Urteil: es soll kein Krieg sein. Die Aufgabe seiner Schrift Zum ewigen Frieden liegt nun im Nachweis der Vernunftgründe, die den Weg zu einem solchen ewigen Frieden weisen. Kant will sich aber nicht mit der Diskussion naturrechtlicher Prinzipien begnügen, welche die naturrechtliche Völkerrechtslehre von Grotius bis Vattel in Kants Augen zu voreilig als „Recht" bezeichnete, ohne Angaben darüber zu machen, wie denn dieses „Recht" wirksam sein könne. Kant folgte der realistischen Ausgangsüberlegung von Hobbes, wonach in Abwesenheit des Friedens ein latenter Kriegszustand vorliegt, und nicht derjenigen von Samuel Pufendorf und Christian Wolff, die den Frieden als natürlichen Zustand und den Krieg als dessen Störung begriffen; Kant zog aus der Latenz des Kriegszustandes den Schluss, dass nur eine wirkliche Rechtsordnung als dauerhafte Friedensordnung gelten kann, ansonsten man eher von einem dauerhaften Waffenstillstand sprechen müsse. Für Kant war nicht der Frieden

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der status naturalis, sondern der Krieg (Ewiger Friede 203), weshalb der Friedenszustand erst gestiftet werden muss: das bloße Unterlassen des Krieges ist noch kein Frieden, der Friede bedeutet ihm etwas qualitativ anderes als der Zustand des Krieges. Sicherheit schafft nur ein mit Zwangsgewalt ausgestattetes Recht, das aber nach Kant nicht in Gestalt eines Weltstaates erreichbar ist, sondern nur als Staatenbund. In einem solchen Staatenbund behalten die Staaten ihre Souveränität, verfolgen jedoch einen gemeinsamen Bundeszweck: die Abwehr des Krieges. Alle künftigen Konflikte sollen dann schiedsgerichtlich geregelt werden. Die Permanenz eines solchen Staatenbundes sieht Kant durch die innere Republikanisierung der beteiligten Staaten gewährleistet, wobei, wie gezeigt, zu beachten ist, dass Kant einen anderen Begriff von Republik hatte als der Republikanismus von Machiavelli bis Madison. Die friedliche Natur von Republiken war für Kant evident. Kant vertraute darauf, dass republikanische Regierungen nicht „kriegssüchtig" sind (Streit der Fakultäten 361). Denn ihre innere Verfassung garantiere eine Mitwirkung des Volkes bei der Regelung, ob und wann Krieg sein soll. Hier kann das Staatsoberhaupt nicht mehr über seine Untertanen als Soldaten wie über sein Eigentum verfügen. Vor dem zeitgenössischen Hintergrund der Konfrontation von Republiken mit Staaten des ancien regime deutete Kant an, dass ein solcher Friedensbund republikanischer Staaten seinen Nukleus in einer großen europäischen Republik haben könnte (Zum Ewigen Frieden 211-212), die um sich hemm andere Republiken als Bundesgenossen gewinnt und so zusehends größer wird. Das kam einer Anerkennung Frankreichs als Vorreiter sehr nahe. Kant stellte die Republikanisierung mit der Forderung der Abschaffung stehender Heere im 3. Präliminarartikel in einen Zusammenhang und knüpfte hier an das in der Schottischen Aufklärung intensiv diskutiert Thema an. Ihn interessierten jedoch mehr die Aspekte der defensiven Ausrichtung von Milizarmeen sowie der Vermeidung einer professionellen militärischen Schicht in einer politischen Ordnung, deren bloße Existenz bereits eine Neigung zur Kriegführung darstellen könnte, als die Frage der Ertüchtigung der Bürger zur Tugend. Hegel widersprach an dieser Stelle Kant: er erachtete die Ausbildung eines professionellen Soldatenstandes als unausweichliche und auch notwendige Folge der allgemeinen Arbeitsteilung und folgte darin Adam Smiths Argument gegen Ferguson. Nur in Notzeiten äußerster Kriegführung ist die allgemeine Wehrpflicht geboten (Rechtsphilosophie § 326; Losurdo 1989, 238-242). Weitaus stärker als Kant betonte Hegel den Krieg als Naturgewalt, der in die Sphäre der Vernunft hineinragt und nicht nur Zerstörung bringt, sondern wie ein vitalisierender Wind anzusehen ist, wohingegen der Frieden eine Tendenz zur Faulheit mit sich bringt, damit aber einem Sumpf vergleichbar ist (§324 Anm.). Diese Metapher war in der Zeit Hegels durchaus vertraut (Herder, Schiller), wurde doch mit ihr nicht nur der Krieg, sondern jede politisch indizierte Gewaltanwendung gerechtfertigt (Losurdo 1989, 457), sofern sie fortschrittliche Resultate zeitigte. Die Begleiterscheinung der Gewalt darf den Fortgang der Weltgeschichte (sofern dieser sich als progressiv oder vernünftig erweist) nicht hindern. Auch die Mittel der Kriegführung erörtert Kant nach Maßgabe des Friedens. Im 6. Präliminarartikel gibt er zu bedenken, dass der Mitteleinsatz im Kriege immer daraufhin geprüft werden muss, inwiefern er den künftigen Frieden erleichtert, und nicht, ob der militärische Sieg dadurch gewährleistet wird. Niemand darf sich solche Feindseligkeiten erlauben, die das „wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen,"

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namentlich Mord, die Verwendung von Gift, Verletzung der Kapitulation, Anstiftung zum Verrat. Denn solche Mittel sind ihm Ausdruck eines , Ausrottungskrieges". In diesem Fall ist der Krieg als „Notmittel im Naturzustande" angesehen und nicht als Rechtszustand (Zum Ewigen Frieden: Werke XI, 200). Das bedeutet aber auch, dass Kant offensichtlich nicht von einem absoluten Kriegsverbot ausging, sondern die Möglichkeit weiterer Kriegfuhrung ins Auge fasste. Denn es war auszumachen, dass ein solcher republikanischer Völkerbund in einem permanenten Konflikt mit den Staaten des ancien regime stehen würde, was die bisherigen Koalitionskriege bereits unter Beweis gestellt hatten. Kant verlangte die Gewährung von „Hospitalität", d.h. das Gastrecht für die Bürger aller Staaten. Die Hospitalität ist eine Voraussetzung für den Welthandel, dem Kant eine zusätzlich vergemeinschaftende Kraft zusprach. Sie ist für Kant Teil dessen, was er Weltbürgerrecht nannte; für dessen Existenz sprach weniger das Recht als vielmehr die Praxis: schon der Welthandel war ein Indiz hierfür, darüber hinaus aber auch der Umstand, dass „die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird" (Zum ewigen Frieden Dritter Definitivartikel: Werke XI, 216). Durch die publizistische Öffentlichkeit nehmen Menschen Anteil, auch wenn sie nicht selbst betroffen sind und der Schauplatz der Ereignisse weit weg liegt. Diese Zunahme der Bedeutung der Öffentlichkeit wertete Kant zudem als einen friedenssichernden Faktor, da Öffentlichkeit das Gegenteil von Geheimdiplomatie ist, letzteres das Kennzeichen der klassischen Kabinettskriege war. Kant erhob das Prinzip der Öffentlichkeit zur „transzendentalen Prinzip des öffentlichen Rechts" in der Außenpolitik. Nur diejenige Außenpolitik darf als legitim angesehen werden, die ihre Maxime publizieren kann, ohne ihre Strategie damit selbst aufzuheben (Zum ewigen Frieden 2. Zusatz: Werke XI, 244-251). War für Kant in seiner allgemeinen politischen Theorie die Öffentlichkeit das Palladium der Freiheit, so im internationalen Staatenverkehr ein Kontrollmechanismus der Regierenden, um die „lichtscheue Hinterlist" der Politiker zu durchkreuzen. Kant sah nicht voraus (Habermas 1996), wie stark die Demokratisierung der Politik die Öffentlichkeit zum Einfallstor für Propaganda und Demagogie machen konnte und bereits wenige Jahre nach seinem Tode der Nationalismus in der Bevölkerung den Krieg geradezu herbeisehnte statt das Instrument des Krieges den regierenden Fürsten aus der Hand zu reißen. Diese Demokratisierung entsprach auch nicht dem, was er unter Republikanismus verstand. Kants Modell des anhaltenden Friedens schwankte. Im Gemeinspruch war noch von der Notwendigkeit eines Völkerrechts die Rede, das „auf öffentliche mit Macht begleitete Gesetze, denen sich jeder Staat unterwerfen müsste", gegründet sei, nach der Analogie eines bürgerlichen oder Staatsrechts, auch „allgemeiner Völkerstaat" genannt (Gemeinspruch 171-172). Doch der im Zum ewigen Frieden vorgeschlagene Friedensbund war nicht Kants letztes Wort. In der Metaphysik der Sitten sprach er von einem permanenten „Staatenkongress", auf dem Streitigkeiten der Staaten untereinander auf „zivile Art", nämlich durch Prozess, und „nicht auf barbarische (nach Art der Wilden), nämlich durch den Krieg zu entscheiden" (Metaphysik der Sitten § 61: Werke VIII, 475) sind. Ein Kongress ist ein weitaus weniger dicht geprägtes Gebilde als ein Staatenbund, wobei Kant offenkundig die Idee William Penns aufgreifen wollte. Kant erwog, die klassisch-völkerrechtliche Unterscheidung von „ius ad bellum" und „ius in bello" um den Gedanken eines „ius post bellum" zu ergänzen. Nicht nur die Phasen von Kriegseröffnung und Kriegführung müssten bedacht werden, auch die Phase der nach-

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kriegerischen und somit vorfriedlichen Zeit verdiene rechtliche Beachtung, denn hier werde der nächste Krieg vermieden oder vorbereitet. Kant ordnete diesem „Recht nach dem Krieg" neben den Friedensverhandlungen die Fragen von Reparationen, Strafe und vor allem die Amnestie zu (Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 58). Heute ist das „ius post bellum" beispielsweise in der Frage der Amnestie eher unter dem Gesichtspunkt der Friedensvertragspraxis erforscht (Fisch 1979, 35-280), weniger in der Kriegstheorie (Evans 2005), da die Friedensverhandlungen als genuin politische gelten im Sinne vor-rechtlicher Interaktionen (Kissinger 1957). Trotz seiner juridisch orientierten Theorie debattierte Kant nicht die Idee der Einrichtung eines Gerichtshofes als Schiedsstelle. Ein solch revolutionärer Gedanke lag auch dem auf seine Art ähnlich radikalen Engländer Jeremy Bentham nicht. Dessen Principles of International Law sind eine Sammlung von Essays, die bis auf das Jahr 1780 zurück gehen und auf die Unabhängigkeit Amerikas und die daraus erwachsenden Probleme der atlantischen Sphäre reagierten (erst posthum veröffentlichten). Im vierten Essay macht er vierzehn Vorschläge, wie ein dauerhafter Frieden zwischen unabhängigen Staaten organisiert werden kann und riet im 13. Vorschlag zur Einrichtung eines „common court of judicature". Das war aber kein Gerichtshof, auch wenn Bentham diese Idee nachgesagt wird, denn die Erläuterungen zu diesem Vorschlag zeigen, dass sein Vorbild u.a. der Reichstag des Deutschen Reiches war. Seine Beschlüsse sollten öffentlich erfolgen und veröffentlicht werden, als solche aber keine zwingende Kraft haben. Sie standen Bentham zufolge eher im Kontext eines Bündels an Maßnahmen, zwischen den Regierungen in Fragen der Außenpolitik „Vertrauen" zu schaffen, um damit die Möglichkeit zu vergrößern, zu dauerhaften Abkommen und Schiedslösungen zu gelangen. Bentham hat auch den Ausdruck „international law" geprägt (An Introduction to the Principles of Morals and Legislation 149), womit er gegen die Tradition des „droit des gens" den Aspekt des „droit entre les gens" betonen wollte. Der Rechtscharakter des Internationalen Rechts ist dabei radikal von dem des Naturrechts unterschieden, insofern er grundsätzlich und auch in diesem Fall einem positivistischen Rechtskonzept folgt: Recht ist, was durch oberste politische Gewalt als Recht gesetzt wird. Das Gleichgewicht der Staaten Was Kant ohne weiteres als bloßes „Hirngespinst" verwarf, war die Idee des Gleichgewichts der Kräfte (Gemeinspruch, Werke XI 172), das ähnlich wie ein Haus, welches ausschließlich nach allen Gesetzen des Gleichgewichts erbaut ist, einfallen muss, wenn sich nur ein kleiner Vogel auf eine Seite setzt (ein von Swift entlehntes Bild). Der Gleichgewichtsgedanke gehörte in Kants Augen der pragmatisch-prudentiellen Sphäre an, nicht der der Vernunft und muss als Handlungsprinzip in die Irre fuhren, wenn darauf der internationale Friede errichtet werden soll. Das Gleichgewicht der geistigen und moralischen Kräfte als Ergebnis des kulturellen Fortschritts galt ihm dagegen - ähnlich wie die Ungeselligkeit der menschlichen Natur - als ein Mittel zur Erzeugung eines Wetteifers unter den Menschen. Kant verstand den ewigen Frieden nicht als Friedhofsruhe oder als Freiheitsunterdrückung, sondern als lebendige Auseinandersetzung (Zum ewigen Frieden, Werke XI 226).

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Kants Kritik änderte nichts daran, dass der Gleichgewichtsgedanke in den Friedensideen eine zentrale Stellung einnahmen: Er war die theoretische Alternative zu philosophischen Idealmodellen und auch das Gegenmodell zum Reichsgedanken (Münkler 1992, 42-53). Für Kant wie für die Naturrechtstradition im Ganzen waren Krieg und Frieden kategorial voneinander unterschieden: Entweder es ist Krieg oder es ist Frieden, und wenn nicht wirklicher Frieden ist, dann ist Krieg. Wer dagegen Krieg und Frieden als Phasen eines Prozesses sieht, sucht nach stärker dynamischen Ordnungsmodellen, und hierzu zählte der Gleichgewichtsgedanke (Reibstein 1957/1963 1453-481; Haslam 2002, 89-127). Der Zusammenhang von Rechten und politischer Macht, von politischer Zweckmäßigkeit und formeller Rechtserwägung ist Historikern immer präsent gewesen. Ohne von Gleichgewicht zu sprechen, nahm Thukydides als eigentliche Kriegsursache zwischen Athen und Sparta im Peleponnesischen Krieg die wachsende Übermacht Athens an: die Störung des Machtgleichgewichts verursachte den Krieg. Polybios (I 83) diskutierte die Gründe, die den Syrakuser Hiero dazu bewogen, den Karthagern Hilfe zu leisten (und damit seine Bündnisverpflichtungen gegenüber Rom zu verletzen). Ihm zufolge war Hieros Motiv war in der Sorge begründet, dass mit dem Sieg Roms keine verbleibende Gegenmacht mehr den Römern Paroli bieten kann, so dass auch die Nachbarstaaten nicht mehr in der Lage sein werden, ihre Rechte gegen Rom zu verteidigen. Ist die Verletzung des Machtgleichgewichts als Kriegsursache analysiert, so kann das Machtgleichgewicht umgekehrt auch als Garant des Friedens in komplexen internationalen Situationen gepriesen werden. In der italienische Spätrenaissance, angesichts der FünfMächte- Konstellation in Nord- und Mittelitalien und vor dem Hintergrund der Interventionsbereitschaft benachbarter Großmächte wie Frankreich, Spanien (Neapel) oder das Deutsche Reich definierte Francesco Guicciardini die Balance der Mächte als außenpolitische Strategie („modo bilanciato": Storia d'Italia 1492-1532,1 1: ed. Menchi/Gilbert 1971, 6). Dieses Gleichgewicht zu erhalten bedarf es laut Guicciardini der außergewöhnlichen Fähigkeiten eines Politikers wie Lorenzo di Medici, der mit größter Aufmerksamkeit und Umsicht Gefahren für das Gleichgewicht erkennen und ihnen vorbeugen konnte oder rechtzeitig Abhilfe verschaffte. Alberigo Gentiiis hob gleichfalls Lorenzo für die erfolgreiche Gleichgewichtspolitik hervor, diskutierte aber die für das Kriegsproblem entscheidende Frage, ob man zur Erhaltung des Gleichgewichts Krieg führen darf und ob dies sogar präventiv erlaubt ist. Er erachtete den Widerstand gegen Weltherrschaftsanspriiche (worunter zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich Europa gemeint war) für einen gerechten Grund, Krieg zu fuhren (De iure belli 1588,1 14): Generell dürfe keine Macht so groß werden, dass es niemandem mehr möglich wäre, selbst offenkundiges Unrecht zur Sprache zu bringen. In dieser Sicht scheint der Krieg als Mittel gerechtfertigt zu sein, um Gleichheit zwischen den Staaten zu gewähren, so dass Rechtsfragen überhaupt eine Rolle spielen können. Hugo Grotius lehnte diese Position dagegen ab (De iure belli ac pacis II 1, 17). Die Gründe, die Gentiiis für die Kriegführung gegen eine erstarkende Übermacht und zum Schutze des Gleichgewichts nannte, ließ Grotius nur unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit, nicht aber der Rechtmäßigkeit gelten (non sub ratione iuris, sed ratione utilis) und verbannte sie aus dem Bereich des Völkerrechts. Die Eventualität einer Bedrohung durch einen übermächtig werdenden Staat muss man seiner Ansicht nach in Kauf nehmen, absolute Sicherheit gebe es im menschlichen Leben nicht.

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Im Völkerrecht wurde das Prinzip des Gleichgewichts zum unausweichlichen Bestandteil der theoretischen Diskussion, als es in der Staatenpraxis aufgegriffen und Bestandteil völkerrechtlicher Verträge wurde. Der locus classicus war der Utrechter Friede (Artikel 6 des englisch-französischen Friedensvertrages vom April 1713 und Artikel 2 des englisch-spanischen Friedensvertrages vom Juli 1713). Der Grotianischen Trennung von Politik und Völkerrecht folgte Vattel daher nicht mehr. Im Kapitel „Über die gerechten Gründe, einen Krieg zu fuhren" im Teil „Vom Kriege" definierte Vattel das politische equilibrium (Le droit des gens III 3 § 47) als Vermeidung der Vorherrschaft einer einzelnen Macht und als den tatsächlichen Zustand Europas. Staaten sind in diesem System des Gleichgewichts in einer Art „Republik" verbunden, in welcher die für sich betrachtet souveränen Staaten durch ein gemeinsames Interesse, ihre jeweilige Unabhängigkeit zu erhalten, verknüpft sind und sich darum bemühen, die Ordnung und Freiheit zu bewahren. Zu den Maßnahmen, das Gleichgewicht zu erhalten (§§ 48-50), gehörte Vattel zufolge nicht das Recht. Denn die Veränderungen ökonomischer, militärischer und politischer sowie rechtlicher (Erbfolge) Art sind materiell induziert. Hier helfen nur Allianzen und letztlich auch ein Krieg, der als Mittel zur Erhaltung des Gleichgewichts und damit der Freiheit der Staaten eingesetzt werden kann. Versucht ein Potentat, offensichtlich das Gleichgewicht zu zerstören, ist der Krieg gegen ihn zulässig: Führt er einen Krieg gegen den einen, sind alle anderen berechtigt, gegen ihn Krieg zu führen, denn sie sind als Teile des Systems von dem Krieg berührt, auch wenn sie nicht angegriffen worden sind (§ 49). Eine Gleichgewichtspolitik als außenpolitische Strategie wurde immer wieder der englischen Regierung zugesprochen und der Widerstand gegen die englische Politik häufig mit den angeblichen Mängeln der Idee des Gleichgewichts erklärt, so bei Johann H.G. Justi (1717-1771) (Die Chimäre des Gleichgewichts von Europa, 1758; Die Chimäre des Gleichgewichts des Handels und der Schiffahrt 1759). Englische Autoren wie David Hume dagegen sahen die Idee des Gleichgewichts ganz einfach als Resultat des gesunden Menschenverstandes an (Über das Machtgleichgewicht). Hier erhielt die Idee des politischen Gleichgewichts zusätzlichen Schub durch den Gleichgewichtsgedanken der Handelsbilanz. Charles Davenant behauptete sogar, das politische Machtgleichgewicht beruhe auf der Macht des Handels (Essai upon the Balance of Power 1701). Die ökonomische wie die politische Idee des Gleichgewichts wiederum waren Ableger der am Paradigma der Mechanik orientierten Theoriebildung (Gollwitzer I 244). Die Reihe von englischen Autoren, die das Gleichgewicht präferierten, reicht im 18. Jahrhundert bis zu Edmund Burke (Schumann 1964). Selten aber erreichte die Befürwortung des Gleichgewichts den Status einer ausgereiften Theorie; das gelang erst Friedrich Gentz, dem Übersetzer Burkes und Gegner der Französischen Revolution. Gentz definierte in seiner Abhandlung Vom wahren Begriff eines politischen Gleichgewichts den Sachverhalt als „diejenige Verfassung neben einander bestehender und mehr oder weniger mit einander verbundener Staaten, vermöge deren keiner unter ihnen die Unabhängigkeit oder die wesentlichen Rechte eines andern, ohne wirksamen Widerstand von irgend einer Seite, und folglich ohne Gefahr für sich selbst, beschädigen kann" (Politisches Gleichgewicht 117). Wer das Gleichgewicht zu verletzen droht, muss nicht nur von der Gemeinschaft der anderen Staaten, sondern bereits von deren Mehrheit in die Schranken gewiesen werden. Nur die konsequente Befolgung dieser „Maxime" erlaubt es, dass bereits

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„die Furcht vor gemeinschaftlichem Widerstande oder gemeinschaftlicher Rache der Andern" ausreicht, um jeden davon abzuhalten, das Gleichgewicht zu verletzen. Das Gleichgewicht der Kräfte sah Gentz als eine Art unvollkommene, aber realistische Verwirklichung des Friedensmodells des Abbe Pierre: an Stelle eines einzigen Bundes treten viele Allianzen. Insbesondere kleinere Staaten haben Gentz zufolge ein Interesse daran, sich zusammenzuschließen, um gegenüber größeren Mächten ein Gegengewicht aufzubauen. Allerdings ist sich Gentz dessen bewusst, dass auch um der Erhaltung des Gleichgewichts willen Kriege geführt werden und sogar unter Vorspiegelung der Wiederherstellung des Gleichgewichts unnötige, weil rein ehrgeizige Kriege geführt worden sind. Doch er sieht dadurch nicht das Modell selbst in Misskredit gebracht, sondern nur diejenigen, die es missbrauchen. Denn die „wahre Theorie des politischen Gleichgewichts" beruhe auf den Ideen der „Mäßigung, der wechselseitigen Beschränkung, der Genügsamkeit, der Haltung." Das bedeute zugleich die „Herrschaft des gebildeten Verstandes über die rohe Gewalt," bzw. „der Kabinettsklugheit über die militärische" (Über den ewigen Frieden 1800, 480). Für Lord Peter Brougham (1778-1868) bedeutete das Gleichgewichtssystem zu Beginn des 19. Jahrhundert einen erheblichen Fortschritt in der Außenpolitik. Als System betrachtet habe es nämlich die traditionelle Allianzpolitik, die Staaten zwecks defensiver oder offensiver Außenpolitik eingegangen seien, verdrängt. Das Gleichgewichtssystem zwinge die Teilnehmer dazu, mit anhaltender Aufmerksamkeit die Politik anderer, selbst fernster Staaten zu beobachten. Außenpolitik wird nun laut Brougham zu einer professionellen Beschäftigung, ad hoc-Strategien haben darin keinen Platz. Auch hilft das Gleichgewichtssystem dazu, nationale Sympathien und Antipathien zu relativieren, denn der auschlaggebende Gesichtspunkt ist nun der Ort eines Staates im System. Wer imstande sei, das Gleichgewicht zu erhalten, sei in einer informellen Union verbunden, mit denen, die den gleichen Regeln folgten und dadurch das Handeln berechenbar machten (An Inquiry into the Colonial Policy of the European Powers, 1803, Bd. III § 1). Akteure in Gleichgewichtssysteme entwickeln ein besonderes Gespür für Änderungen oder Störungen der Machtbalance. Interventionen können eine solche Störung sein, aber auch Nichtinterventionen, wenn dadurch bereits stattfindende Prozesse durch Nichteingriff gefördert werden. Nur in diesem Kontext macht das berühmte bonmot Talleyrands zum Begriff der Intervention Sinn. Talleyrand, nach 1830 Botschafter Frankreichs in London, wurde anlässlich des militärischen Eingreifens Frankreichs in Belgien befragt, wie das mit der Doktrin der Nichtintervention übereinstimme; das 1815 auf dem Wiener Kongress auf dem Reißbrett geschaffene Belgien war das sichtbare Symbol der europäischen Gleichgewichtspolitik. Talleyrand erwiderte, der Begriff der Nicht-Intervention sei „metaphysisch und politisch" und bedeute das gleiche wie Intervention (Journal von Thomas Raikes 1858,1 64; eine andere Version bei Granville Stapleton, Intervention and Non-intervention 1866, 15). Das sollte sagen, dass auch eine gezielte Nicht-Intervention den Charakter einer Einmischung annehmen kann, wenn die nicht-intervenierende Macht sich von dem Gewährenlassen der Prozesse Vorteile verspricht.

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Der Völkerkrieg Zu diesem Zeitpunkt entkoppelte sich die Theorie der Kriegführung von der Theorie der Außenpolitik. Rein militärtheoretische Arbeiten entwarfen Modelle des Krieges unter dem bloßen Gesichtspunkt der Kriegführung, sie diskutierten beispielsweise Truppenbewegung und Schlachtordnung, nicht aber den Friedensschluss oder die Frage politischer Führung. Für den preußischen Offizier und Lehrer an der Allgemeinen Kriegsschule Carl von Clausewitz (1780-1831) war eine solche Trennung von politischer und militärtheoretischer Betrachtungsweise eine Verkürzung des Sachverhalts (Kleemeier 2002, 214-300). Krieg und Frieden waren ihm keiner Graduation fähige Begriffe (Vom Kriege 988). Clausewitz umging das Problem ihrer begrifflichen Abgrenzung, indem er nach der einwirkenden Rationalität unterschied: nämlich zwischen dem Kriegsziel, welches man „im" Kriege verfolgt, und dem Kriegszweck, den man „mit" dem Krieg und über den Krieg hinaus erreichen will. Mit dem „Zweck" des Krieges (Vom Kriege 952; Münkler 1999) ragt das „politische Element" unmittelbar in die Betrachtung des Krieges hinein. Ohne die politische Zweckbestimmung droht eine Situation, in der den Kriegführenden die Relationen abhanden kommen und sie unfähig werden, das angewandte Mittel in ein Verhältnis zum erstrebten Zweck zu setzen (Vom Kriege 960-961/ Auf der Grundlage dieser Vorüberlegungen erhob Clausewitz die Forderung, den Krieg als Instrument der Politik zu begreifen: Zum einen kann die Politik nicht Krieg und Frieden künstlich voneinander trennen und als geteilte Kompetenzen ansehen, sondern muss die Kontrolle auch im Krieg effektiv ausüben. Umgekehrt darf die Politik bereits bei der Kriegsentscheidung nicht ahnungslos sein bezüglich der Grenzen und Voraussetzungen des Mitteleinsatzes, wenn sie nicht aus der Unkenntnis dieser Faktoren heraus Gefahr laufen will, die militärischen Möglichkeiten zu überschätzen. Die Grundformel von Clausewitz, wonach der Krieg „ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln" sei (Vom Kriege I 1, 24: 210), schränkte Clausewitz dahingehend ein, dass der politische Zweck kein „despotischer Gesetzgeber" sei. Man müsse die Natur der militärischen Mittel bedenken, und zwar am besten bereits bei der Überlegung, welche Zwecke angestrebt werden sollen. Clausewitz verlangt eine einheitliche Kommandogewalt über Politik und Krieg und unterstellte die militärische Logik der politischen. Revanchisten wie Erich Ludendorff (Der totale Krieg 1940, Kap. 1) haben gegen Clausewitz argumentiert, man müsse diese Formel umkehren, wenn man den totalen Krieg fuhren wollte, in dem alle Mittel dem Ziel der Kriegführung unterstellt werden. Anhand der Unterscheidung von Strategie und Taktik machte Clausewitz den inneren Zusammenhang von Politik und Kriegführung für die Kriegswissenschaft plausibel. Die Taktik behandelt den Einsatz der Mittel zur Führung des Kampfes, die Strategie beschäftigt sich mit der Relation des Kampfes zum Zwecke des Krieges und stellt damit den Zusammenhang her zwischen rein politischen Überlegungen und taktischen Erwägungen der Mittelverwendung (Aron 1980, 41-42). Strategie ist keine Theorie, die rein technisch auf Fehler überprüft werden kann wie die Mängel einer Spielstrategie (so aber Rappoport 1964). Sie zielt auf Handlung und deren Planung ab und muss nicht nur materielle Faktoren abwägen, sondern vor allen Dingen die Motive des Handelns (Vom Kriege 290). Clausewitz' philosophische Auseinandersetzung mit Kants Kritik der Urteilskraft bezüglich des „Tak-

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tes" als Bestandteil einer entsprechenden Handlungstheorie sind unverkennbar (Vollrath 1984). Die analytische Einstellung zum Krieg, wie sie ein professioneller Soldat wie Clausewitz mitbrachte, unterschied sich sehr grundlegend von dem Bellizismus, der ab der Mitte des 19. Jahrhunderts dem Krieg eine philosophische Weihe zu geben versuchte. Das hatte mit dem erwachenden Nationalismus und der zunehmenden inneren Beteiligung der Bevölkerung am Krieg zu tun. Leon Tolstoj thematisierte diesen Aspekt in seiner literarischen Verarbeitung der Kriege zwischen Napoleon und Russland (Krieg und Frieden 1869). In einer Szene begegnen sich Clausewitz, der im Napoleonischen Russlandfeldzug auf russischer Seite diente, und die Romanfigur des Fürsten Bolkonski, ohne aber miteinander zu sprechen. Die russische Strategie der verbrannten Erde, welche Napoleons Niederlage wegen der dadurch bereiteten Nachschubprobleme besiegelte, kommentierte Clausewitz nüchtern und verlangte der Logik dieser Strategie folgend auch ihre rücksichtlose Durchsetzung. Bolkonski dagegen entwickelte angesichts der Zerstörung des eigenen Landes einen persönlichen Hass auf Napoleon. Die Möglichkeiten der Kriegführung unter Einbeziehung der Bevölkerung, die der Hass gegen den Feind zusammenhält, diskutierte Clausewitz unter dem Gesichtspunkt des Partisanenkrieges. Schon vor dem Russlandfeldzug hatte der Widerstand der spanischen Bevölkerung gegen die französischen „Befreier" nicht nur die taktischen Möglichkeiten einer solchen Kampfweise demonstriert, sondern auch gezeigt, wie wenig die professionellen Mittel einer traditionell operierenden Armee hiergegen ausrichten konnten. Ob das Auftauchen des Partisanen den Niedergang des klassischen Staatenkrieges und mit ihm die Aufhebung des klassischen Völkerrechts indizierte, wie Carl Schmitt urteilte (1963), ist ideengeschichtlich nicht zu bestätigen. Denn die Französische Revolution war es, die mit dem Dekret des Wohlfahrtsausschusses vom 23. August 1793 die levee en masse verkündete und damit das Volk zu den Waffen rief (Lytle 1958). Anders als in der Milizbewegung der amerikanischen Revolution (etwa die „minute men", die sich in einer Minute bewaffneten) handelte es sich nicht allein um eine taktische Einbeziehung nichtregulärer Kämpfer in die Armee, sondern um eine durch erhebliche propagandistische Anstrengungen unterstützte Kampagne, in welcher die Idee eines in seiner Gesamtheit kämpfenden Volkes verbreitet wurde. Die Integration der Bevölkerungsmassen in den Krieg provozierte auf gleicher propagandistischer Ebene den nationalen Abwehrkampf, als sich die französische revolutionäre Armee bereits von einer revolutionären Armee der „Tugend" in die napoleonische Armee der „Ehre" verwandelt hatte (Lynn 1989). Was vordem eine Staaten- und Kabinettsaktion gewesen war, wurde mit der Einbeziehung des Volkes zum Ausgangspunkt des Nationalismus. Die Erfahrung der politischen Mobilisierung der Bevölkerung während der napoleonischen Befreiungskriege sowie die kriegerischen Umstände der Nationalstaatswerdung im 19. Jahrhundert haben besonders im deutschen Sprachraum dem Krieg einen geschichtsphilosophischen Nimbus verliehen: der Krieg wurde zum Kulturideal (Alfred Lasson, Das Culturideal und der Krieg 1868). Auf dem Gipfel dieser Kriegsverherrlichung steht Treitschke. Heinrich von Treitschke (1834-1896) war eine intellektuelle Ikone des nationalen, bismarckfreundlichen Liberalismus. Seine Darstellung der Deutschen Geschichte war eines der meistgelesenen Bücher dieser Zeit, seine Berliner Vorlesungen zur Politik formulierten die „Realpolitik" zu einem politischen Credo der reinen Machtpolitik um. Hiernach ist das

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Wesen des Staates Macht und nichts anderes als Macht (Bundesstaat und Einheitsstaat 1864, 71). Die wichtigste Bewährungsprobe der Politik ist der Krieg, das „Examen rigorosum" der Staaten (Politik II 363), der große Völkerbildner (I 60 und öfter), eine von Gott gesetzte Ordnung (II 553). Der Krieg ist als „Völkerprozess" eine sachliche Auseinandersetzung um Machtfragen, die keine andere Lösung finden können. Die Einsicht, dass die bestehenden Verträge nicht mehr den „wirklichen Machtverhältnissen" entsprechen und man sich nicht friedlich einigen kann, macht Treitschke zufolge eine Entscheidung des „großen Völkerprozesses" unabwendbar (II 553). Die Kriegserklärung soll nach Abwägung aller Gesichtspunkte geradezu als „notwendige Pflicht" erfolgen, das heißt aber auch: unter Ausschaltung von Leidenschaften und Emotionen wie Ruhmsucht oder Eitelkeiten. Andere Lösungsmöglichkeiten als einen Krieg hielt Treitschke nicht für möglich; ein internationales Schiedsgericht gilt ihm mangels Unparteilichkeit der beteiligten Staaten als unbefriedigend. Da nicht der Frieden, sondern die Klärung der Machtverhältnisse den Sinn des Krieges ausmache, wird dieser auch „von Rechts wegen in der wirksamsten Weise geführt, weil so sein Ziel, der Friede, am schnellsten erreicht wird" (II 565). Das kann freilich heißen: in der rücksichtslosesten Weise. Treitschke begrüßte Clausewitz' Theorie, weil sie einen Beitrag zur Überwindung des Idealismus darstelle (I 72; II 362), den er mit dem universalistischen Humanismus ä la frangais, d.h. mit Menschenrechten und Naturrecht, gleichsetzte. Treitschke setzte sich damit vom zeitgenössischen Paralleldiskurs, der im Völkerrecht erfolgte, ab. Ihm war der vereinnahmende Universalismus, den ein großer Teil des Völkerrechts vertrat, um wenigstens die „zivilisierten" Staaten als Gemeinschaft zu denken, suspekt. Der Universalismus, der dem Völkerrecht den Vorrang vor dem Staatsrecht einräumte, wurde im frühen 20. Jahrhundert von niemandem so konsequent und radikal vertreten wie von Hans Kelsen im Rechtspositivismus. Die Linie von Kant bis zu Kelsen ist eine „normenlogische": wer auf Normen rekurriert, geht implizit von der Einheit der Rechtsordnung aus. Diese Einheit umfasst, wie bei Kant deutlich wurde, sowohl das private wie das Völkerrecht und muss daher für die gesamte Rechtsordnung Geltung beanspruchen. Der Sinn des Universalismus ist also nicht nur, eine alle Staaten umfassende Ordnung zu schaffen, sondern eine alle Ebenen rechtlicher Verhältnisse umfassende Ordnung, in welcher laut Kelsen dem Völkerrecht der normenhierarchische Vorrang gebührt. Demgegenüber hatte die Linie der Schweizer Aufklärung mit Vattel an der Spitze die Völkergemeinschaft als Grund des Völkerrechts angesehen, unter Einschluss der Regierungspraxen (Onuf 1994; Koskenniemi 2001). Dieses Modell war gezwungen, die nicht-rechtlichen Voraussetzungen rechtlichen Verkehrs zu berücksichtigen, Fragen der Homogenität und der Zivilität der Akteure. Die Völkerbundidee war ein Ausläufer dieser Idee. Die Erfahrung des Ersten Weltkrieges bedeutete einen Rückschlag für den Optimismus der Internationalisten, zeigte aber zugleich die Notwendigkeit internationaler Kooperation, um seine Wiederholung zu vermeiden. Der Völkerbund und schließlich die UNO sind die wahren Höhepunkt der Friedenstheorie. In beiden Fällen galt Immanuel Kant als Vorbild. Sein Einfluss war im 19. Jahrhundert nicht zurückgegangen und besaß auch in den USA eine starke Wirkung (Falk 1952). Der Politikwissenschaftler und spätere 28. Präsident der USA Woodrow Wilson fand in Kant einen Vordenker für sein Völkerbundmodell (Beestermöller 1995). Wilson schlug in seinem 14-Punkte-Plan eine Liga von Nationen vor, die in aller Öffentlichkeit ihre Verhältnisse vertraglich regeln und dadurch als Forum

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der Weltöffentlichkeit dienen sollte, um Konflikte und Konfliktpotentiale zur Sprache zu bringen. In sozialistischen Kreisen war der Internationalismus bereits während des Imperialismus konkurrierender Nationalstaaten ausgeprägt gewesen. In Verbindung mit der bereits ausgangs des 19. Jahrhunderts neu rezipierten Kantischen politischen Philosophie war man auf die Völkerbundidee vorbereitet (Eduard Bernstein, Völkerbund oder Staatenbund 1918). Die Diskussion über die philosophischen Wurzeln und die Anschlussfähigkeit des Völkerbundgedankens an genuin „deutsche" Denktraditionen sollte in Deutschland dazu verhelfen, der allenthalben erfolgenden Denunziation dieses Modells als Ausdruck „westlicher" Ideologie der Siegerstaaten entgegenzutreten (Moritz J. Bonn, Was will Wilson? 1918; Eduard Spranger Völkerbund und Rechtsgedanke 1919). Die Forderung nach Öffentlichkeit war gleich im ersten der Punkte Wilsons enthalten und erinnerte zeitgenössische Beobachter sogleich an Kants Publizitäts-Prinzip (Karl Vorländer, Kant und der Gedanke des Völkerbundes 1919). Wie sehr Wilson die Publizität als Grundprinzip der neuen Außen- und internationalen Politik einschätzte, zeigen verschiedene Äußerungen in diesen Jahren. Die Herrschaft des Rechts, der Konsens der Regierten und die organisierte Meinung der Menschheit sollten eine gerechte Politik ermöglichen, deren sichtbarste Kriterien die Öffentlichkeit des Regierungshandelns und die Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung waren (Four-Point Speech, 4. Juli 1918). Die Völkerbundsatzung sah in Artikel 18 auch die Publizierung aller internationalen Verträge vor. Nach den sog. Legalitätskriterien des Artikels 1 sollten nur solche Staaten aufgenommen werden, die das Kriterium des „self-governing" erfüllten und damit Gewähr für die aufrichtige Absicht boten, ihre internationalen Verpflichtungen zu beachten. Paul Guggenheim, einer der bedeutendsten Völkerrechtler seiner Zeit, zog 1932 daraus den Schluss, dass „bei den Schöpfern des Paktes die vernünftige Absicht [bestand] (...) dass ihm ausschließlich politische Gemeinwesen angehören sollten, welche im Innern des Staates das Prinzip der demokratischen Herrschaftsform anerkennen" (Der Völkerbund 27). Der Völkerbund schien damit Kants weitere Annahme, dass nur republikanische Staaten einen ewigen Frieden untereinander schließen können, in modernisierter Weise erfüllt zu haben. Andererseits reflektierte die privilegierte Stellung der großen Mächte im Völkerbundrat die anhaltende Präsenz der Gleichgewichtsidee. Doch der Völkerbund erfüllte nicht die in ihn gesteckten Hoffnungen. Zum einen zogen sich die USA aus der weltpolitischen Verantwortung zurück, zum anderen erlagen auch westliche Demokratien der Versuchung, den Völkerbund für ihre Machtpolitik zu benutzen, und schließlich erwies sich ein Frieden auf der Grundlage der Völkerverständigung als unmöglich, wenn nicht alle betroffenen Staaten den Willen zur Verständigung aufbrachten - insbesondere bei den faschistischen Staaten war das nicht der Fall -oder aber nicht die Entschlossenheit erkennen ließen, Verletzungen der Satzung notfalls auch kriegerisch zu ahnden. Nicht zuletzt dieser Umstand und die Schrecken des Zweiten Weltkrieges veranlassten die Begründer der UNO dazu, nicht mehr auf die Demokratie als homogenisierende Binnenstruktur der Mitgliedstaaten zu setzen, sondern eine Integrationspolitik zu verfolgen, die in der UNO eine Menschheitsorganisation sah, die dann konsequenterweise auch auf der Idee der Menschenrechte ruhen sollte. Das eröffnete eine neue Ära des Naturrechts (siehe diachroner Diskurs „Idee der Menschenrechte"). Die Erfindung der atomaren

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Waffen und die Möglichkeit ihres strategischen Einsatzes über Kontinente hinweg veränderten zudem auf Jahrzehnte hinaus den weiteren Kriegsdiskurs.

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V Das Zeitalter der Demokratie

V Das Zeitalter der Demokratie

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Unsere Gegenwart steht im Zeichen der Demokratie; kein anderer politischer Begriff genießt auch nur annähernd eine vergleichbare normative Wertschätzung. Die Selbstverständlichkeit dieser Wertschätzung verleitet dazu, retrospektiv die Ideengeschichte als Erzählung von Kampf und Sieg der Demokratie zu sehen, in welcher man zwischen „Demokraten" und „Nichtdemokraten" oder gar „Anti-Demokraten" unterscheiden kann. Man macht es sich aber zu einfach, wenn man annimmt, die Idee der Demokratie habe sich nur gegen konservative Traditionalisten, reaktionäre Kräfte und totalitäre Fanatiker behaupten müssen. Was unter dem Begriff „Demokratie" zu verstehen sei war gerade bei jenen unklar, die den Prozess unterstützten, dass einem immer größeren Teil der Bevölkerung ein Anteil an der politischen Selbstbestimmung zugesprochen wurde. Die Skepsis war groß, ob die Demokratie die beste Regierungsform war. Bereits der Begriff „Demokratie" war strittig und hatte ausgangs des 18. Jahrhunderts weitestgehend noch den Status eines „Pariawortes" (Dunn 2005, 71). Die Demokratie schien angesichts drängender sozialer und politischer, innen- wie außenpolitischer Konflikte eher die Probleme zu verschärfen als sie lösen zu können. Wenn heute ganz selbstverständlich die Repräsentation als Kembestandteil der Demokratie angesehen wird, so steht dies am Ende einer langen Debatte, an deren Anfang die Differenz von Demokratie und Repräsentation hervorgehoben wurde. Das Zeitalter der Demokratie beruht daher keineswegs auf einer linearen Geschichte des sukzessiven Sieges der Demokratieidee über ihre Feinde. Diese Sicht gilt noch am ehesten für die Einführung des demokratischen Wahlrechts. Im revolutionären Frankreich war das Wahlrecht noch auf Männer mit bestimmten Eigentumsvoraussetzungen beschränkt (Crook 1996); im Verlauf des 19. Jahrhunderts kam es zu dramatischen Schwankungen zwischen rigider Einschränkung und erneuter Ausweitung. Anders als in Deutschland (1919) und Großbritannien (1919-1928) wurde das Frauenwahlrecht hier erst 1944 eingeführt. England etablierte das allgemeine Männerwahlrecht und ein zunächst eingeschränktes Frauenwahlrecht als Zeichen des Dankes für die Kriegsmühen im Ersten Weltkrieg (Wild 2003, 14-41). Selbst die USA kannten zahlreiche Einschränkungen: neben Eigentumsqualifikationen auch den Ausschluss von Frauen und Sklaven (Keysar 2000); noch 1930 waren in den Einzelstaaten zahllose Eigentumsanforderungen oder Sprachtests als Wahlrechtsvoraussetzungen in Kraft, was gegen Schwarze und Einwanderer gerichtet war, so dass erst mit den Bürgerrechtsreformen der 1960er Jahre das demokratische Wahlrecht vollständig erreicht war. Die demokratischen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Amerika und Frankreich führten also nicht mit einem Schlag zum Sieg der Wahlrechtsgleichheit. Es war das Zeitalter der Demokratie, weil immer deutlicher wurde, dass sich im Begriff der Demokratie alle zentralen politischen Probleme fokussierten, ob man ihr nun beipflichtete oder nicht. Seit Beginn der revolutionären Ära durchlief die Demokratie einen ständigen Wechsel von dramatischen Gewinnen und erneuten Verlusten an Terrain. Die Französische Revolution führte die Demokratie in die Nähe der Anarchie, auf die Rufe nach soliderer Ordnung folgten. Die Revolution von 1848 signalisierte einen eruptiven Durchbruch der Demokratieidee, bevor es kurz darauf zum reaktionären Rückschlag des Bonapartismus kam; der Erste Weltkrieg brachte einen kontinentalen Regimewechsel, alteingesessene und keineswegs immer unbeliebte Monarchien mussten der demokratischen Selbstregierung weichen; doch danach brach eine Zeit von Diktaturen bis dahin ungekannter, ungeahnter Intensität an. Nach dem Zweiten Weltkrieg vertraute man der Demokratie nicht mehr alleine die Sicherung des Menschen vor politischer Gewalt zu und stellte die Idee der Menschenrechte in den Vordergrund.

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Das 19. Jahrhundert wird oft als „Zeitalter der Ideologien" beschrieben, in dem die Diskurse nach ihrer ideologischen Ausrichtung von Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus zu unterscheiden sind; nationale Eigenheiten verkomplizieren diese säulenartige Struktur zueinander parallel verlaufender Diskurse zusätzlich (Beyme 2002); „Demokratismus" zählt dabei in der Forschung selten zu den diskutierten Ideologien, obwohl die Selbstreflexion der zeitgenössischen Akteure dies anders sah: Hermann Heller sprach 1926 vom demokratischen „Ideenkreis" (Die politischen Ideenkreise der Gegenwart 1926, Werke I 309-338), den er vom monarchischen, liberalen, nationalen und sozialistischen getrennt behandelte. Hier wird nicht davon ausgegangen, dass Autoren in Ideologien hineingeboren werden oder diesen eindeutig zuzuordnen sind (siehe „Einleitung"). Der Gedanke der Ideologie ist selbst ein Kind des 19. Jahrhunderts: Begriffe und Argumente werden sozialen Gruppierungen zugeordnet, Autoren sozial verortet, das politische Denken mit den sozialpolitischen Interessen korreliert. Was Karl Marx als Ideologie dechiffrierte, lässt sich aber schon nicht mehr auf ihn selbst und die meisten sozialistischen Theoretiker anwenden. Viele liberale Autoren näherten sich konservativen Restauratoren in der Frage der Demokratie, andere gingen Koalitionen mit Sozialisten ein, Sozialisten ihrerseits entwuchsen ihrer liberalen diskursiven Umgebung, kehrten aber auch oft genug wieder zu ihr zurück. Die Ideologie-Struktur führt zu einer verfälschenden und einengenden Etikettierung der Autoren. Das jeweilige Problembewusstsein motivierte die Denkbewegungen und Traditionen boten die begrifflichen Rahmen, wo diese Probleme zu verorten waren. Das Charakteristikum des 19. Jahrhunderts bestand jedoch darin, dass die meisten Theoretiker mit den Traditionen brachen und völlig neue Wege beschritten, und zwar selbst dort, wo sie behaupteten, die alten Traditionen fortzusetzen. Hintergrund war die ungelöste Aufgabe der theoretischen Verarbeitung der Revolution. Die Restauration der monarchischen Gewalten nach Napoleons Vertreibung hielt nur kurze Zeit an. Nationale Bewegungen, die Revolution von 1830 in Frankreich und die Revolutionen von 1848 zeigten endgültig den Anbruch eines neuen Zeitalters, des Zeitalters der Demokratie, das sich revolutionär oder nicht-revolutionär Bahn brach. Die Frage war, wie diese Bewegung zu bewerten und zu gestalten war. Welche historisch gewachsenen Bestände sollten erhalten bleiben? Was bedeutete „Herrschaft des Volkes": löste das gebildete Besitzbürgertum den Erbadel ab oder durfte der neue kollektive Akteur, der „Pöbel", später Proletariat genannt, Ansprüche erheben? Wie weit reichte die Herrschaftsgewalt in die Gesellschaft hinein? Eine Theorie des Volkes lag nicht vor und allein die Formulierung „Herrschaft des Volkes" war nicht hilfreich. Nach der Revolution von 1848 machte der führende liberale Politiker Francois Guizot (1787-1874) das bloße Wort „Demokratie" für die ungeheure Verwirrung verantwortlich, die im politischen Denken eingetreten war (De la Democratic en France 1849, 9-10). Galt die klassische Regierungslehre noch, nur dass nun mit dem Volk ein neues Subjekt die Arena betreten hatte? Wer gehörte zum Volk? Die politischen Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund der Revolution von 1848 zeigen, wie variabel der Ausdruck „Volk" gehandhabt wurde. Das Volk war eine universale Kampfparole geworden, auf die keine Partei verzichten wollte. Die Ambiguität des Begriffs machte ihn zu einer leicht instrumentalisierbaren Parole. Mitte des 19. Jahrhundert sah Ludwig von Rochau alle politischen Parteien damit beschäftigt, den Volksbegriff für sich in Anspruch zu nehmen und zu reklamieren, das wahre oder eigentliche Volk zu repräsentieren (Grundsätze der Realpolitik 1853, 57). Ob das Heer die Elite des Volkes im Sinne des militärischen Absolutismus ist oder die Bauern den Kern des Volkes bilden, ob nicht doch eher die Städtebe-

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wohner oder wenigstens der wohlhabende und gebildete Mittelstand als das eigentliche Volk zu gelten haben oder sogar nur diejenigen, die zum Proletariat gehören, eine objektive Definition war angesichts dieser Deutungskämpfe nicht mehr möglich: „Die Frage nach dem wahren, dem eigentlichen Volke pflegt allen Parteien sehr geläufig zu sein, und jede Partei findet das wahre, das eigentliche Volk da, wo sie ihre eigenen Ansichten oder wenigstens bereitwillige Werkzeuge für ihre Zwecke findet" (Grundsätze der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands 1853/1859, 57). Rochaus eigene Reaktion war der programmatische Abschied von den sich seiner Ansicht nach als Illusion erweisenden liberalen Prinzipien, so lange ihnen nicht das materielle Fundament der Machtpolitik zugrunde lag. Rochau machte in diesem Buch die Vokabel „Realpolitik" prominent, eines der vielen Glieder in einer Kette der Abwendung vom idealistischen und der Suche nach einem realistischen Volksbegriff.

1. Hegel und der moderne Staat Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) war zusammen mit Friedrich Hölderlin und Friedrich W. Schelling in Tübingen ausgebildet worden und arbeitete zunächst in Jena, Nürnberg und Heidelberg bevor er 1818 nach Berlin berufen wurde. In Hegels politischer Philosophie spiegelte sich das Ringen der politischen Theorie um die angemessene Erfassung der Staatlichkeit im Kontext zunehmender revolutionärer Zumutungen und vor dem Horizont der Demokratie. Von seinen ersten Schriften zu Verfassungsfragen in der Schweiz und Deutschland bis zu seiner letzten Publikation zu den Debatten im Vorfeld der großen Parlamentsreform in England, hatte er sich mit Fragen - wie man heute sagen würde - der polity intensiv beschäftigt. Die Synthese dieser Überlegungen legte er in seiner reifen politisch-theoretischen Arbeit, den Grundlinien der Rechtsphilosophie von 1821 vor. Mit Schriften, die deutlich republikanische Züge trugen, begann Hegels Beschäftigung mit Fragen der politischen Theorie; sie endete mit einem komplexen systematischen Modell der konstitutionellen Monarchie, was ihm den Vorwurf der „Akkommodation" an die preußischen Verhältnisse einbrachte. War Hegel der verschleiert argumentierende Revolutionär, der noch die Jugendbegeisterung für die Französische Revolution im Herzen trug, welcher er einst einen Freiheitsbaum erstellte? Hatte er die moderne Freiheit in Gedanken erfasst oder zeigt sich in seinem Denken die totalitäre Anlage eines völlig überzogenen Staatsdenkens? Je nachdem, welcher Auffassung an folgte, konzentrierten sich die Interpreten entweder auf Hegels Frühwerk Phänomenologie des Geistes oder sein Spätwerk, darunter die Rechtsphilosophie. Die zahllosen Interpretationen Hegels (Ottmann 1977) weichen stark voneinander ab; ihre Bandbreite hat auch damit zu tun, dass Hegels Problembewusstsein umfassender war als es sein Modell in den Grundlinien der Rechtsphilosophie auf den Begriff bringen konnte. Die Fassung, deren Publikation er selbst autorisierte, bestand an vielen Stellen aus einem verhältnismäßig dürren Gerüst von dogmatischen Stellungnahmen. Anders verhielt es sich mit seinen Vorlesungen aus der gleichen Zeit, die deutlicher politische Fragen ansprachen. Sie wurden erst allmählich den Neueditionen (von Eduard Gans 1833 bis zu Karl-Heinz Ilting 1973/1974) hinzugefügt und auf ihnen beruhen viele Kernelemente der weiteren Interpretationen, die in Hegel Liberalität und Modernität entdeckten. In der Phänomenologie des Geistes (1806) entwarf Hegel ein komplexes Bild der Freiheit. Sie ist nicht nur ein Gedanke, sondern historische Realität, welche ihrerseits ihren Platz auch

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im Gedanken haben muss. „Geist" ist hier der Ausdruck fur die sowohl subjektiven wie objektiven Entwicklungen einer zu sich selbst kommenden Bewegung, an welcher der Intellekt Anteil hat. Das wirkungsmächtigste Kapitel dieser schwer zu lesenden kryptischen Arbeit ist das zu „Herrschaft und Knechtschaft". Darin zeigte Hegel, dass die Befreiung von Fremdherrschaft nicht immer nur als ein heroischer Akt tugendhafter Menschen verstanden werden kann, sondern Teil einer permanenten Auseinandersetzung zwischen dem Herrn und dem Knecht ist: der erobernde Herr belässt dem Besiegten das Leben und macht ihn so zum Knecht, verliert aber im Laufe der Herrschaft die Fähigkeiten, die ihn zuvor siegen ließen, während der Knecht Fähigkeiten erwirbt, die den Herrn schließlich von ihm abhängig machen. Hier schien sich ein subtiler Vordenker der Revolution Gehör zu verschaffen. Betrachtet man hingegen das in der Rechtsphilosophie vorgeschlagene institutionelle Modell der konstitutionellen Monarchie, so ist es verwunderlich, warum ein so gewaltiger begrifflicher Aufwand betrieben wurde, um ausgerechnet dieses Modell zu rechtfertigen (Boldt 2000, 209), das sich historisch als eine politische Ordnung des Übergangs erweisen sollte und in vielem Hegels Unentschiedenheit zeigte, angesichts der revolutionären Gärungen seiner Zeit eine klare Position zu beziehen. Die wenigsten Anhänger Hegels waren entschiedene Anhänger der konstitutionellen Monarchie. Hegels Wirkung und damit Bedeutung liegt in dem von ihm formulierten Problembewusstsein, zu dem das Modell der konstitutionellen Monarchie nur die grobe Oberfläche bietet. Die Frage lautete: Welche Gesichtspunkte muss jede moderne Regierungslehre berücksichtigen, wenn sie die Gesamtbevölkerung in ihr System integrieren will? Um diese Frage zu beantworten hat Hegel zahllose Denktraditionen und Diskurse vereint, darunter das klassische Naturrechtsdenken (T. Burns 1996, 42-74), die Schottische Aufklärung und die Politische Ökonomie (Waszek 1988). Hegel rezipierte Montesquieu, Rousseau und natürlich Kant und nahm von allen Elemente auf, lehnte aber jeden für sich entschieden ab. Die klassische Gewaltenteilungslehre, die Gesellschaftsvertragstheorie und nicht zuletzt die Volkssouveränitätstheorie kritisierte er genauso als zu kurz gegriffen wie er Kants rechtsphilosophische Fundierung der politischen Ordnung als zu schmal ansah. Einzig die politische Ökonomie, die er „Staatsökonomie" nannte, bezeichnete Hegel in einem ganz außerordentlichen Lob als „Wissenschaft, die dem Gedanken Ehre macht", wobei er Jean-Baptiste Say, Adam Smith und David Ricardo hervorhob {Rechtsphilosophie § 189 Zusatz). Smith galt zu diesem Zeitpunkt bereits als ein Klassiker der ökonomischen Theorie, Says Traite d'economie politique von 1803 war bereits berühmt, doch waren beide in Deutschland bei weitem nicht so bekannt, wie Hegels Nennung den Eindruck erwecken mag; Ricardos On the Principles of Political Economy and Taxation war erst wenige Jahre (1817) vor Hegels Rechtsphilosophie erschienen. Diese Rezeption deutet an, dass Hegel weit über Montesquieu und Kant, die Französischen Verfassungsrevolutionäre und den deutschen Frühliberalismus hinausreichte und gerade darin auch paradigmatisch wirken sollte. Seiner Auffassung nach sind Politik und Verfassung selbst dort in die gesellschaftlichen Strukturen eingebettet, wo sie als Recht formuliert und umkämpft sind; das gilt auch für die Ökonomie und selbst für die Moral. Alle diese normativen Denkweisen unterliegen ihrerseits einem historischen Formenwandel und spiegeln sich zugleich im individuellen Selbstbewusstsein. Um die Komplexität dieser Strukturen und den Ort der Politik darin begrifflich zu erfassen, trennte Hegel die Sphären von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat voneinander. Dies war keine segmentäre Unterscheidung der Gesamtgesellschaft nach sauber abtrennbaren sozialen Orten, sondern eine Unterscheidung in Hinblick auf die moralischen Bezüge, die in

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den entsprechenden Handlungsräumen jeweils wirksam sind. Sie dürfen laut Hegel nie isoliert voneinander betrachtet werden, setzen einander voraus (insbesondere die bürgerliche Gesellschaft den Staat) und wirken in andere Sphären hinein, weshalb Hegel auch in der bürgerlichen Gesellschaft staatliche Tätigkeit sieht (dort aber als bloßer „Verstand" wirksam), die wiederum auf die Sphäre des Staates übergreift (repräsentative Vertretung), wo die „Vernunft" eigentlich erst zum Zuge gelangt, ohne mit ihr identisch zu sein. Die Sphäre des Staates als Ort der Vernunft macht den Staat zur „Institution der Allgemeinheit" (Böckenförde 1976, 189), die an Stelle der Idee des Staates als eines machtpolitisches Instruments der Herrschenden tritt (gleich ob Monarch oder Volk). Der wahre Repräsentant dieser Sphäre ist der Beamte und sein Ethos Ausdruck eines von den Herrschenden unabhängigen Selbstverständnisses. Im Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft" zeigte Hegel die komplexe Verflechtung ethischer, rechtlicher und ökonomischer Faktoren, mit welchen sich der Staat auseinanderzusetzen hat. Hegel überführte die traditionellen Begriffe in ein neues System. Die bürgerliche Gesellschaft war keine aristotelische Bürgergesellschaft mehr (Riedel 1969a). Aber das bedeutete auch nicht einfach nur ihre Reduktion auf die Ökonomie. Die bürgerliche Gesellschaft ist als „System der Bedürfnisse", wie Hegel sagt, nicht auf die Bedürfnisse der Konsumtion und Produktion zu beschränken, denn zu diesen Bedürfnissen tritt noch die Rechtssicherheit. Deshalb stellte Hegel der Wirtschaft noch Polizei und Rechtspflege an die Seite stellte und entwarf so ein politisch-soziales Modell der bürgerlichen Gesellschaft, das dem konzeptuellen Anspruch von „politischer Ökonomie" gerecht zu werden versuchte, deren einseitige Ökonomisierung er aber hinter sich ließ. Keine Theorie vor Jürgen Habermas und Niklas Luhmann hat jemals diesen Grad an Komplexität erreicht. Einseitig den ökonomischen Bestimmungsfaktoren folgende Theoriemodelle fanden sich zu Hegels Lebzeiten in retrospektiv als „Frühsozialismus" bezeichneten Gesellschaftsentwürfen, darunter jene von Charles Fourier und Robert Owen. Fourier (1772-1837) offerierte eine mikrosoziologische Perspektive zur Lösung des Dilemmas fortschreitender Zivilisation. Technik und Arbeitsteilung zerstören seiner Ansicht nach die humane Lebenswelt allmählich, aber auf die Dynamik der ihr inhärenten Gesellschaftsentwicklung kann nicht verzichtet werden. Es ging Fourier um eine glückssteigernde und mit den Bedürfnissen des Menschen harmonisierte Kanalisierung dieser Entwicklung, was mittels des Aufbaus von genossenschaftlichen Selbstverwaltungen gelingen sollte. Diese Selbstverwaltungseinheiten nannte Fourier „Phalansterium", ein Kompositum aus der makedonischen Kampfeinheit der Phalanx und dem Monasterium der klösterlichen Lebensgemeinschaft, wo Menschen in einer autarken Welt in einem gemeinsamen Gebäudekomplex leben. Produktion wie Konsumtion waren genossenschaftlich organisiert. Die Grundidee bestand darin, durch die Arbeitsteilung, den häufigen Wechsel der Arbeit und die Befriedigung aller Bedürfhisse in allen Lebensaltern die vollkommene Freiheit zu errichten. Auf der Grundlage einer Charakterlehre des Menschen verbunden mit einer Arbeits-Anthropologie errechnete Fourier, dass für die harmonische Zusammenfuhrung aller dem Menschen innewohnender Bedürfnisse zur Gründung eines Phalansteriums 1620 Personen erforderlich waren. Fourier unterschied in seiner ausgeklügelten Sozialpsychologie 12 grundlegende Leidenschaften, die durch Kombination zu 810 verschiedenen Charakteren führten, die wiederum jeweils von einem Mann und einer Frau vertreten sein müssen. Diese Leidenschaften umfassen die fünf Sinne, die affektiven Leidenschaften der Anerkennung, Freundschaft, Liebe und Elternschaft und schließlich die Leidenschaften der Kombination, der Veränderung und Intrige (Jonas 1981, I 206-207). Der Mensch ist grundsätzlich gut, er wird nur durch die unausgewogenen gesellschaftlichen Ver-

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hältnisse zu schädlichem Verhalten veranlasst. Es muss zu einer gesellschaftlichen Integration aller Leidenschaften kommen. So hätte der für seine Grausamkeit gefürchtete römische Kaiser Nero als Metzger ein nützliches Glied der Gesellschaft sein können (Jonas 1981, 207). Fourier wartete zeit seines Lebens vergeblich auf einen Verwirklichungsversuch seiner Ideen. Erst sein Schüler Victor Considerant (1800-1893) unternahm nach Fouriers Tode in Texas in den USA einen, allerdings wirtschaftlich fehlgeschlagenen Versuch. Solche mikrosoziologischen Modelle wollten die der industriellen Arbeitsteilung innewohnende Rationalität nutzen, um die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern. Das setzte aber die Harmonisierung der Leidenschaften und Bedürfnisse voraus, weshalb der Mensch in diesen Modellen durch die Idee allgemeiner Arbeitspflicht und der Organisation seines Verhaltens eingezwängt wird. Der humanitäre und philantropische Impetus, der besonders Robert Owen (1771-1858) motivierte, schlug in eine Unterordnung unter die ökonomischen Abläufe um. Aus Hegels Sichtweise ließ sich aber kein Element der bürgerlichen Gesellschaft von anderen isolieren und zugleich durfte die individuelle Freiheit nicht vernachlässigt werden: Freiheit und die aus den unterschiedlichen Sphären von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat dem Individuum entgegentretenden notwendigen Verhaltenspostulate müssen vermittelt werden. Dieses Problem hatte Hegel auch im Spiegel Rousseaus und der Französischen Revolution als dasjenige des Verhältnisses von citoyen und bourgeois interpretiert (Fulda/Horstmann 1991; Losurdo 1991), der Kernbegriff war aber die Tugend. Die Idee der Tugend orientierte sich in Hegels Jugendzeit am klassischen Griechenland, das viele, darunter auch Friedrich Hölderlin (1770-1843) begeisterte, Hegels Mitbewohner aus studentischen Tagen in Tübingen. Sollte diese Idee Grund und Ziel der Revolution sein und musste sich jede Revolution daran messen? Hölderlins Hymne an die Unsterblichkeit von 1790 feierte die Spartaner als Inbegriff der in der Selbstaufopferung für das Vaterland gipfelnden Tugend. Als Anhänger zeigte sich auch Friedrich Schiller in seiner Übersetzung des Simonides-Epigramm auf die an den Thermophylen gefallenen Spartaner (Elegie 1795 in den Hören, späterer Titel: Der Spaziergang). Der Klassizismus setzte in Berlin mit dem Bau des Brandenburger Tors ein (1793/1795). Doch bis zu welchem Grade durfte die Idealisierung des Griechischen auf die Gesellschaft übertragen werden? Hegel wurde in dieser Frage zunehmend skeptischer. Die „schöne glückliche Freiheit der Griechen", wie Hegel sie zunächst pries, bestand gerade darin, die Trennung von Individuum und Gemeinschaft, Einzelwille und Allgemeinwille, persönlicher Freiheit und Regierung noch nicht zu kennen {Jenaer Realphilosophie 1805/1806, 267). Diese Trennung kennzeichnet dagegen die Moderne und ihr Gewinn ist die Entdeckung der subjektiven Freiheit. Darin lag nach Hegel der gewaltige Abstand zwischen Antike und Moderne. Die antike Sittlichkeit war in Hegels Augen kein Vorbild mehr für die Moderne, denn sie kannte das Prinzip der subjektiven Freiheit nicht, das sich erst mit Sokrates als reflektierter Gedanke Bahn brach, aber beim Volk auf Widerstand stieß, ja stoßen musste. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (12, Β 3: Werke XVIII 496-515) zeigte Hegel anhand des Sokrates-Prozesses, wie die alte Welt der substantiellen Sittlichkeit mit der neuen Welt subjektiver Freiheit „tragisch" aufeinander traf. Das Selbstbewusstsein in der Gestalt von Subjektivität macht aber die Moderne aus: Zu jeder Entscheidung muss „ein ,Ich will' vom Menschen selbst ausgesprochen werden" und dieses Prinzip muss „in dem großen Gebäude des Staats seine eigentümliche Existenz haben" (Rechtsphilosophie § 279 Zusatz).

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„Sittlichkeit" als Hegels Ausdruck der Individuum und Gemeinschaft umspannenden Gesamtperspektive war demnach nicht mehr in der „Tugend" zu finden. Der Verlust der „substantiellen Sittlichkeit" seit den Griechen konnte nicht umgekehrt werden, sie begründete die gegenwärtige Spannung zwischen bourgeois und citoyen, die Hegel in seinen ersten Entwürfen thematisierte {Jenaer Realphilosophie 266), noch unentschlossen, wie sie aufzuheben sei. Die erste Hoffnung Hegels ruhte auf der protestantischen Religion, am Ende seines Denkweges war es „objektiv" der Staat, „absolut" hingegen die Kunst. Die Notwendigkeit des Subjektivitäts-Prinzips bedeutete keine einseitige Konzentration auf die egoistische BourgeoisSeite des Individuums. Hegel kritisierte immer wieder Tendenzen, auf die politische Seite des Bürgers, auf den citoyen, gänzlich zu verzichten, um den Bourgeois zu inthronisieren. Ablehnend, geradezu verächtlich äußerte sich Hegel im Aufsatz über die Wissenschaftlichen Behandlungen des Naturrechts (1803) über die „politische Nullität der Bourgeoisie" (Werke II 494). Der Bourgeois definiert sich laut Hegel über das Eigentum, der Citoyen dagegen über die Politik. Diese der Französischen Revolution nachgesprochene, republikanische Argumentation diskutierte Hegel in seiner Frankfurter Zeit anhand des Vergleichs zwischen dem patrizischen Bern und den USA. Bern bot nur einen geringen Grad an politischer Partizipation, was aber, wie Hegel mit süffisantem Unterton bemerkte, mit Hinweis auf die niedrige Besteuerung kompensiert werde; dagegen bekämpften die amerikanischen Kolonisten die Teesteuer mit allen Mitteln, obwohl sie vergleichsweise niedrig veranschlagt war: dies zeige das sichere Gefühl der Amerikaner dafür, dass mit diesem - materiell gesehen nur geringen - Eingriff in ihr Eigentum das ihnen wichtigstes politische Recht abhanden kommen sollte, die Repräsentation (Wadtland 1798: 249). Es blieb in Hegels Augen immer ein sicheres Zeichen für den tatsächlichen Zustand der politischen Freiheit, ob die Menschen als Bürger sich selbst hohe Steuern auferlegen, um die Ziele der Allgemeinheit zu verfolgen oder ihre Freiheit darin sehen, möglichst wenig aus ihrem Eigentum hierzu beisteuern zu müssen. Englands hohe Steuerlast, freiwillig erbracht, zeigte den dortigen hohen Stand der freiheitlichen Verfassung (Rechtsphilosophie § 302 Zusatz). Hegels Lösung bestand nun darin, Bourgeois wie Citoyen in ihren jeweiligen Rollen anzuerkennen, denn in beiden werden Aspekte der Freiheit und der Sittlichkeit erkennbar. Der Begriff der Sittlichkeit umfasst bei Hegel alle Bestimmungsgründe des menschlichen Verhaltens und seiner Institutionen. Dazu zählte er das Recht im engeren Sinne, von Hegel das „abstrakte Recht" genant, d.h. Vorstellungen von juristischer Person, Vertrag, Eigentum, Strafrecht. Ferner gehörte zur Sittlichkeit die Moralität, worunter Hegel alle selbstgesetzten Bestimmungsgründe des Menschen verstand. Hierher gehören Absicht, Schuld und Gewissen. Nach dem abstrakten Recht und der Moralität kommt Hegel zum Kern seiner Darstellung, die er „objektive Sittlichkeit" nennt. Sie gliedert sich in die genannten drei Bereiche Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat. Alle drei Bereiche sind miteinander verzahnt und aufeinander angewiesen. Zugleich ging Hegel von einem Entwicklungsgang des Menschen aus, dessen Telos die vollendete individuelle Freiheit ist. Freiheit besteht bei Hegel im individuellen Selbstbewusstsein wie in den erwirtschafteten Gütern, den Vergegenständlichungen der Freiheit. Der Staat ist Inbegriff der Freiheit auf der modernen gesellschaftlichen Stufe der Problembewältigung (Apel 1988). So kann es sein, dass das Individuum als Familienmitglied einer anderen Ethik folgt denn als Vertragspartner in der bürgerlichen Gesellschaft, wo die Verfolgung des Eigeninteresses geboten ist und hiervon wiederum verschieden als Beamter die Perspektive der

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Allgemeinheit einnimmt. Erst im Durchgang dieser Stadien der Freiheit gelangt das Individuum zu einem Vollbegriff seiner eigenen subjektiven Freiheit. Die Zwänge, denen diese Freiheit ausgesetzt ist, sind in allen Bereichen unterschiedlich und enden auch nicht auf der Ebene des Staates. Die sinnvolle Notwendigkeit der sittlichen Sollensforderungen nach jeweiliger Maßgabe der gesellschaftlichen Sphäre als eigene anzuerkennen ist der formale Begriff der Freiheit. Der Mensch wächst in der Familie auf, deren Bestimmungsgrund die Liebe ist. Seine Individualität im Sinne seiner Fähigkeiten und Talente erfährt er aber erst in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, wo Arbeit und Beruf die entsprechende Anerkennung des Individuums bewirken. In der bürgerlichen Gesellschaft ist das individuelle Verhalten bereits einem gemeinsamen (keinem allgemeinen) Interesse gewidmet, aber ohne alle Reflexion hierüber. Diese erfolgt erst in der Sphäre des Staates, der zugleich die Voraussetzung der objektiven Sittlichkeit in Familie und bürgerliche Gesellschaft ist, insofern er den Rahmen hierzu absteckt. Der Staat ist damit der Abschluss in der Entwicklung der Sittlichkeit und setzt insofern den Durchgang durch die vorherigen Bereiche voraus, deren Wirken er wiederum sicherstellt. Im komplexen Begriff der Sittlichkeit verknüpfte Hegel gewöhnlich getrennt voneinander thematisierte Fragen des Rechts, der Ökonomie, des Krieges und des Beamtentums ebenso wie Liebe, Ehe und Erziehung in einer vorher nicht gekannten Weise. Die bürgerliche Gesellschaft formt laut Hegel die Ungleichheit der Menschen in Hinblick auf unterschiedliche Fähigkeiten und Neigungen zu einem „System". Auf den ersten Blick mutet das Aufeinanderprallen subjektiver Lebensvorstellungen der vom Familienverband gelösten Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft als Anarchie oder chaotischer Betrieb an, in welchem nicht aufeinander abgestimmte Lebensführungen ihren zufälligen Weg suchen. Mit der bahnbrechenden theoretischen Entdeckung der Politischen Ökonomie (von Hegel Nationalökonomie genannt) kann das Chaos individueller Verhaltensweisen als ein in sich geordnetes Ganzes dargestellt und begriffen werden: die Freisetzung des Egoismus der Gewerbetreibenden schafft allgemeinwohlforderliche Ergebnisse auch kontraintentional, also unabhängig vom subjektiven Willen. Damit integrierte Hegel Adam Smiths Theorem von der unsichtbaren Hand {Rechtsphilosophie § 199; Avineri 176) in sein eigenes System der Sittlichkeit. Mit dem durch Arbeit und Erwerb vermittelten Anteil am allgemeinen Vermögen, dem nationalen Reichtum, ist auch der Status des Menschen darin definiert. Das Eigentum ist der Spiegel der Anerkennung des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft. Es beruht weder auf der Zusicherung des autonomen und autarken Staates wie bei Hobbes noch auf der Selbständigkeit der Eigentümer aus der Verarbeitung von Gütern im Naturzustand wie bei Locke, es beruht laut Hegel auf der gegenseitigen, interaktiven Anerkennung. Die Verweigerung des Eigentums ist daher eine Unterlassung der Anerkennung der Person (Honneth 1992, 54-105). An diesem Reichtum haben die Armen keinen Anteil, ihnen fehlen die Eintrittsbedingungen zu diesem System der gegenseitigen Befriedigung der Lebensbedürfnisse und damit auch die persönliche Anerkennung (Rechtsphilosophie § 200). Hegel erkannte damit der Armut und Arbeitslosigkeit eine neue Bedeutung zu: nicht nur, dass die Armen nicht am Wohlstand der Gemeinschaft teilnehmen, ohne Arbeit und ohne Eigentum erfahren sie keine Anerkennung (§ 244 Zusatz), weshalb die Armenpflege (§ 242) das eigentliche Übel (aus sittlicher Perspektive betrachtet) nicht zu heilen vermag. Daher besteht für Hegel ein interner Zusammenhang zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und der Armut: Die bürgerliche Gesellschaft ist außerstande, die Armut abzuschaffen, ohne ihre eigenen Prinzipien zu verletzen, denn mit der Zuteilung von Eigentum an Arme wird das

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bürgerliche Prinzip verletzt, seine Persönlichkeit über selbst erarbeitetes Eigentum zu verstehen und Anerkennung zu gewinnen; will man aber Arme an der Erwerbstätigkeit ohne wirtschaftlichen Zwang teilnehmen lassen, erzeugt man eine künstliche Überproduktion mit der Folge weiterer Armut: dies beobachtete Hegel an England {Rechtsphilosophie § 244 Zusatz), wo die Armut „schauderhaft" sei (Vorlesungen 1824/5, ed. Ilting IV 494). Dort waren intensive Diskussionen im Zusammenhang mit der Armengesetzgebung (Poor laws) im Gange. Die „Un-ruhe" der dynamischen Gesellschaftsentwicklung, die eigentlich fruchtbar ist, weil sie Freiheit und Reichtum freisetzt, überträgt sich auf die politische Sphäre: der Pöbel wird von der bürgerlichen Gesellschaft erzeugt und droht sie zugleich zu zersetzen (Rechtsphilosophie §§ 243-246). Hegel entwickelte mit dem Modell einer über sich selbst hinaus führenden bürgerlichen Gesellschaft eine Denkfigur, die später Karl Marx rezipierte. Marx übernahm aber nicht Hegels Lösung, wonach die Mängel der bürgerlichen Gesellschaft auf die Notwendigkeit des Vernunftstaates als Abschluss des Systems der Sittlichkeit verweisen. Kein Bereich ist ohne den anderen zu haben oder darf überbetont werden, politisches und bürgerliches Leben können nicht voneinander getrennt werden {Rechtsphilosophie § 303). Sittlichkeit ist ein fortdauernder Entwicklungsprozess individueller Freiheitserfahrung und institutioneller Freiheitsverwirklichung. Freiheit birgt allerdings erhebliche Spannungsmomente: als allgemeine Idee und als besondere Praxis, als Willkür und als Gesetzesgehorsam. Sie können nur im Staat aufgehoben, das heißt konstruktiv vereinigt werden. Hegel wollte nicht den bourgeois gegen den citoyen tauschen, sondern jedem seinen Platz anweisen; in einer Person können sich je nach Aktivität, je nachdem, in welcher Sphäre der Sittlichkeit er gerade tätig ist, citoyen und bourgeois vereinen. Individuum und Staat, moderne oder antike Freiheit Hegel suchte nach einer neuen Balance zwischen Citoyen und Bourgeois. Der nachrevolutionäre Diskurs nahm dagegen zunächst deutlichen Abstand vom Citoyen, nachdem man die Erfahrung der revolutionären Vereinnahmung des Individuums in Tugend, Terror und langjährigem Krieg gemacht hatte. Bereits 1792 hatte Wilhelm von Humboldt (1767-1835) die Leitfrage gestellt, die alle Theorien, die sich später „liberal" nannten oder so genannt wurden, beschäftigte: was ist das Verhältnis von Individuum und Staat? Sein Ansatz wollte die „Grenzen des Staates" klären: wie weit reicht sein legitimer Eingriff in die Gesellschaft, wie weit darf er das Individuum zu seinem Glück zwingen? „Der wahre Zweck des Menschen (...) ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässlichste Bedingung" {Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen 1792, 64). Humboldt gehörte zu den Anhängern des Klassizismus, das Humanitätsideal des antiken Menschen galt ihm als unerreicht, doch nahm er hiervon die Politik aus und ermittelte den Begriff der Freiheit geradezu aus dem Gegensatz zum antiken Freiheitsbegriff. Die Forderung, den Staat nicht um seiner selbst willen, sondern allein um der Entfaltung des Individuums und seiner Freiheit zu wollen, wurde zum Credo des Liberalismus, der „negative Freiheitsbegriff' seine theoretische Grundstruktur (Isaiah Berlin 1969). Den Humboldtschen Ausgangspunkt anerkannte auch noch John Stuart Mill in den 1860er Jahren, dessen Programmschrift On Liberty mit einer Diskussion Humboldts begann. Die „liberalen" Antworten auf die Frage, welche Intervention des Staates in die Sphäre des Individuums berechtigt seien, wichen teilweise erheblich voneinander ab (Müller 1991, 21-

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176): Man kann einen angelsächsischen Liberalismus mit Adam Smith und seinen Epigonen (Craig, Cooper, Brougham, Spencer), vom radikalen (Bentham, Lewis, Jevons) und gemäßigten Utilitarismus unterscheiden (Senior, McCulloch, Mill, Sidgwick), die sich wiederum vom Laissez-faire Liberalismus abheben. Staatliche Tätigkeit kann in kompensierender Art gefordert werden (Lüder, Kraus, Berg, Jacob, Rotteck), in steuernder (Ahrens, Mohl, Schmitthenner) oder in Gestalt des industriell fokussierten Manchester-Liberalismus auftreten (Rochau, Schulze-Delitzsch, Prince-Smith, Barth) mit jeweils nationalen Spielarten in England, Frankreich (Constant, Tocqueville) und Deutschland. Die theoretisch schmale liberale Doktrin musste sich in immer wieder verändernden Konstellationen beweisen. Ihr Problem blieb immer das Verhältnis zur politischen Freiheit und darin zur Gleichheit. Humboldts Thema beschäftigte in Frankreich Benjamin Constant in seinem Athenäum-Vortrag von 1819 (Über die Freiheit der Alten). Constant (1767-1830) war ein in Lausanne geborener Schriftsteller und Politiker, der nach Studium in Deutschland und Schottland und diversen Tätigkeiten in Diensten von Fürsten in die französische Politik ging, als das Direktorium die Schreckensherrschaft ablöste. Meist als Publizist wirkend, übte er nach dem Staatsstreich Napoleons 1799 Einfluss aus und wurde nach Napoleons Rückkehr von Elba mit der Abfassung einer Verfassung beauftragt, die infolge der Niederlage bei Waterloo Makulatur wurde. Nach 1817 fand man ihn im französischen Parlament, ein beachteter Redner und Vortragender. In dem Vortrag von 1819 betonte Constant die Eigenständigkeit der Moderne gegenüber der Antike, deren Vorbildhaftigkeit er wenigstens für den Bereich des Politischen zurückwies. Für ihn war der Gedanke einer Wiederbelebung des antiken Freiheitsgeistes schon wegen des gewandelten Stellenwerts politischer Partizipation für das Individuum ein in die Irre führendes Vorhaben: Gerade die kritiklose Rezeption der Antike sei mitverantwortlich für die Schrecken der Revolution gewesen. In der athenischen Demokratie waren Staaten politischreligiöse Zentren, was die vollständige Abhängigkeit des Individuums von der politischen Gemeinschaft nach sich zog, verbunden mit einer uneingeschränkten Verfügungsmacht über sein Schicksal, wie Constant am Beispiel des Scherbengerichts demonstrierte. Das moderne Selbstverständnis von Freiheit hingegen beruhte seiner Ansicht nach auf der Unversehrtheit des Individuums, der inneren Unabhängigkeit seiner Meinungsbildung und -äußerung und auf der Toleranz der politischen Gewalt gegenüber den das Individuum prägenden Bestimmungsgründen, namentlich der Religion. Constant widmete der Stellung der Religion in der Moderne sein umfangreichstes Werk, bemüht, die Religion in die Privatsphäre des Individuums zu verlagern und den Staat zur völligen Toleranz anzuhalten (De la religion consideree dans sa sourceses formes et ses developpements, 4 Bände 1822-1830; Rosenblatt 2004). Im Verkehr der Staaten untereinander eröffnet der moderne Handel laut Constant ein Betätigungsfeld des Individuums, das er ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit ausüben kann. Die moderne Freiheit beruht auf der entwickelten Personalität und dem individuellen Glücksstreben. Jetzt ist der Mensch imstande, sein Glück in Gestalt des Geldes über die Grenzen mitzunehmen. Der moderne Freiheitsbegriff bringt laut Constant daher dem Individuum auch ohne Politik mehr Gewinn und Handlungsspielräume ein als in der Antike, weshalb naturgemäß der moderne Mensch sich weitaus weniger geneigt zeigt, den Primat des Politischen zu akzeptieren. Aus der konkreten Partizipation bezog der antike Mensch die Kompensation fiir die damit verbundenen Einschränkungen seiner privaten Freiheit, viele Handlungen konnte der antike Mensch nur in Kooperation mit seinen Mitbürgern vollziehen. Daher war es für

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den antiken Menschen sinnvoll, seine private Unabhängigkeit zu opfern. Der moderne Mensch dagegen vermag mit seiner privaten Unabhängigkeit weit mehr zu bewirken als der antike Mensch, weshalb politische Untertänigkeit heute ein weitaus größeres Opfer bedeutet. Constants These von den fundamental verschiedenen politischen Grundvorstellungen zwischen Moderne und Antike als Vorbild politischer Theoriebildung löste eine das ganze 19. Jahrhundert hindurch anhaltende Kontroverse aus. Fustel de Coulanges schloss sich 1878 Constants Grundthese an und wandte sich darin ausdrücklich gegen George Grotes Geschichte Griechenlands von 1856; Friedrich Julius Stahl, Robert von Mohl und Johann Caspar Bluntschli wiederum unterstützten Fustel, Jacob Burckhardt formulierte die These sogar noch grundsätzlicher, Georg Jellinek dagegen kritisierte sie ausgangs des 19. Jahrhunderts (Sartori 1992, 281-284). Constant vergaß aber nicht, die Schattenseiten des modernen Freiheitsverständnisses zu erwähnen. Es droht die Gefahr, dass die Konzentration auf den Genuss der persönlichen Unabhängigkeit und die Beschäftigung mit den privaten Angelegenheiten dazu fuhrt, vorschnell sein Recht auf politische Partizipation aufzugeben. Das Individuum wendet sich von den öffentlichen Belangen ab, die es mehr und mehr nur noch als Belastung ansieht. Dies kann aber zugleich die Quelle eines modernen Despotismus sein. Die Machthaber können das Interesse am persönlichen Glück ausnutzen: Sie bieten dem Bürger an, sie vollständig von der Bürde der politischen Angelegenheiten zu entlasten, damit diese sich ganz ihren persönlichen Anliegen widmen können; es verbleibt nur die Mühe des Gehorchens und Bezahlens (Slimani 1999; Holmes 1984). Aus dieser Sicht ist es daher nicht damit getan, das Individuum nur vor dem Zugriff des Staates zu schützen. Was aber folgt hieraus für die innere Verfassung des Staates? Eine erweiterte politische Partizipation der Bevölkerung forderte Constant nicht. Konnte sich Napoleon noch rühmen, in einem Plebiszit von drei Millionen Wählern zum Konsul auf Lebenszeit legitimiert worden zu sein, so bedeutete die restaurative Verfassung der Charte constitutionnelle von 1814, die nach Waterloo wieder in Kraft trat, einen denkbar scharfen Einschnitt in der Zuerkennung politischer Beteiligungsrechte. Ein striktes Zensuswahlrecht wurde eingeführt, von Karl X. noch einmal beschränkt, so dass schließlich nur noch etwa 90.000 Wahlberechtigte bzw. 25.000 wählbare Männer verblieben (bei einer Gesamtpopulation von mehr als 30 Millionen Menschen). An Demokratie war gleichwohl nicht gedacht und wurde von kaum jemandem gefordert. Bis zur Julirevolution 1830 drehten sich die politischen Kämpfe hauptsächlich um die Frage der Pressezensur. Die „drei glorreichen Tage" des Juli 1830 wurden durch die gewalttätige Durchsetzung des Verbotes bestimmter Zeitungen ausgelöst, bei dem sich die Drucker zur Wehr setzten und ihr Widerstand wie ein Fanal durch die Straßen von Paris ging. Brachte die Julirevolution von 1830 auch kurzzeitig das Schreckgespenst des revolutionären Umbruchs auf die Tagesordnung, die institutionellen Auswirkungen der Erhebung waren am Ende gering: der Anteil der wahlberechtigten Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung betrug nun 1 zu 137. Gewaltenteilung, rechtsprechende Gewalt und der Rechtsstaat Die geringe Partizipationsmöglichkeit in den Parlamenten des Vormärz schien weniger problematisch und die konstitutionelle Monarchie mit dem Bürgertum verträglich, so lange das Recht nicht als Politikum missbraucht wurde. Schutz vor Missbrauch bot eine unabhängige Rechtsprechung, was zu der Frage führte, was die Stellung der Rechtsprechung

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innerhalb des modernen Staates ist. Gerichtsentscheidungen konnten spektakuläre Weichenstellungen bedeuten, wie das Beispiel der Anti-Sklaverei-Rechtsprechung von Lord Mansfield in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlich machte (siehe diachroner Diskurs „Menschenrechte"). Die Tradition des Common Law von Edward Coke bis William Blackstone (dem Protege Mansfields) kannte die Vorstellung, dass Richter unabhängig vom Parlament feststellen, was Recht ist (Stourzh 1989, 37-74). Die Unabhängigkeit der Richter stellte Blackstone in den Vordergrund (Commentaries 1765,17), doch er sah keine richterliche Prüfung der Gesetzgebung vor (Vile 1967, 103-105). Der englischen Debatte blieb die kontinentale Theorie verborgen und wurde noch im 19. Jahrhundert von der englischen politischen Theorie kaum berücksichtigt. Die klassische Gewaltenteilungslehre kannte die Rechtsprechung nicht als eigenständigen Bereich. Die Rechtsprechung galt zunächst als Teil der „Exekutive". Von John Locke (Two Treatises on Government II §§ 124130) über Algernon Sidney (Discourses on Government III 10) und schließlich bis zu Montesquieu (Geist der Gesetze VI 3; XI) gehörte die Rechtsprechimg zum Komplex der Recht und Gesetz ausführenden Institutionen. Montesquieu inkorporierte sie zwar in die Gewaltenteilungslehre, postulierte aber zugleich, dass ihre gewaltenbalancierende Wirkung gleich „null" sei (Geist der Gesetze XI 6), was angesichts der Bedeutung, die er den Gerichtshöfen für den Freiheitsschutz beimaß, verwirrend war. Gewaltentrennung meinte bei Montesquieu in Bezug auf die Richterschaft ihre institutionelle Unabhängigkeit von den anderen Institutionen. Er sprach auch nie von einem „pouvoir judiciaire", sondern nur von einer „puissance judiciaire" (Vile 1967, 86-92). Immanuel Kant zählte zwar die Rechtsprechung zu den Gewalten, beschäftigte sich aber wenig mit ihrer Stellung im Kontext der übrigen Institutionen. Die Gewaltenteilungslehre und so auch die politische Theorie der meisten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts thematisierte unter dem Rubrum der Gewaltenteilung hauptsächlich das Verhältnis von Exekutive und Legislative. Erst als Verfassungsgerichtsbarkeit trat die Rechtsprechung als politische Gewalt in Erscheinung. Eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Handelns der Verfassungsorgane sah bereits Emmanuel Joeph Sieyes vor, und zwar für die Thermidor-Verfassung (Rede vom August 1795). Als jury contitutionnaire sollten zunächst eigens gewählte und dann aus den Reihen der legislativen Körperschaften kooptierte Personen Organklagen, aber auch Individualbeschwerden prüfen. Vorgesehen waren also nicht professionelle Richter, da Sieyes der französischen Tradition folgend die Legislative als am meisten legitimiertes demokratisches Organ ansah. Die für den modernen Verfassungsstaat so eigentümlich zentrale Stellung der Gerichtsbarkeit begann mit der Entscheidung Marbury v. Madison von 1803 (dt. Llanque/Münkler 2007, 277-278) im Richterspruch John Marshalls als Chief Justice des Supreme Courts. Das von der Common Law-Tradition beanspruchte Privileg der Auslegung von „Recht" bezog sich auf das Richterrecht, nicht auf das vom Parlament statuierte Recht. Marshall erweitert das Spektrum von „Law" auf die Verfassung und unterstellte auch formell korrekt zustande gekommene Gesetze der richterlichen Prüfung (Sherry 2005). Diese Auffassung war strittig. Bereits 1791 war es unter der neuen Verfassung zu Individualklagen gegen Einzelstaaten gekommen, auf die diese mit Gesetzen und sogar Verfassungsänderungen reagierten (11. Amendment von 1798). Marshalls Theorie, dass der Supreme Court nicht nur die Herrschaft des Gesetzes sicherzustellen hat, sondern monopolisiert, stieß auch nicht sogleich auf die Gegenliebe des U.S. Congress, der zwei Jahre später mit einer Richteranklage eines Kollegen von Marshall (Samuel Chase) seine Machtmöglichkeiten demonstrierte.

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Alexander Hamilton hatte die Rechtsprechung als diejenige Institution bezeichnet, von welcher die geringsten Gefahren für die „politischen Rechte in der Verfassung" ausgehen {Federalist No. 78). Für die Autoren der Federalist Papers war die weitere Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht vorhersehbar. Robert von Mohl (1799-1875) war einer der ersten, der die Sonderstellung des Supreme Court im verfassungspolitischen System der USA diskutierte (Das Bundes-Staatsrecht der Vereinigten Staaten von Amerika 1824, 298-302), wobei er keineswegs von dem amerikanischen Modell der Gewaltenteilung überzeugt war (Racky 2005, 79-84). Schließlich thematisierte Tocqueville die Verzahnung der Gerichtsbarkeit mit den anderen Institutionen der Demokratie ausführlich (De la democratie en Amerique 1835, I 6), bemühte hierzu aber nicht mehr die Gewaltenteilungsdoktrin. Nach den USA führte erst wieder die Schweiz die Verfassungsgerichtbarkeit ein, dann Österreich 1920 (und zwar unter maßgeblichem Einfluss von Hans Kelsen). Die Weimarer Republik sprach dem Staatsgerichtshof vergleichbare Kompetenzen zu, aber um seine verfassungspolitische Stellung wurde intensiv gestritten (Wendenburg 1984). Im deutschen Frühliberalismus zu Hegels Zeit suchte man nicht in der republikanischen Idee der Herrschaft der Gesetze das Gegenstück zur Willkürherrschaft (und zwar auch und gerade gegen die Willkürherrschaft durch demokratische Selbstregierung), sondern in der Idee des Rechtsstaates, verstanden als Schutz vor dem monarchischen Polizeistaat und seinen despotischen Übergriffen in die Sphäre des Individuums. Das zeigten die frühesten Wortverwendungen von „Rechtsstaat" von Robert von Mohl (Die deutsche Polizeiwissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates 1832/1834) bis Otto Bähr {Der Rechtsstaat 1864) und Rudolf von Gneist {Der Rechtsstaat 1872). Hier wurde die exekutive Sphäre der Staatlichkeit als Bedrohung und nicht als Freiheitsermöglichung des Individuums verstanden, eine zeitgenössisch verständliche, aus Hegels Sicht aber systematisch völlig verkürzte Perspektive, da sie auch die Verfassung einseitig als Rechtsdokument auslegte. Die diversen Beiträge des Staats-Lexicon zur „Verfassung", darunter die seiner Herausgeber Carl von Rotteck und Carl Theodor Welcker, aber auch des jungen Robert von Mohl, gaben der Verfassungsidee eine rechtsstaatliche Interpretation (Rotteck Constitution, constitutionelles Princip III 1836; Welcker, Grundgesetz, Grundvertrag VII 1839 und Staatsverfassung XV 1843). Die Verfassung wurde als das Ergebnis einer historischen Entwicklung gedacht, an deren Ende der Rechtsstaat steht, welcher die Vernunftidee des mit Rechten ausgestatteten Bürgers in die Tat umsetzt. Die Macht sollte sich anonymisieren, der Staat wurde selbst zur Persönlichkeit, schließlich zur „Staatspersönlichkeit" (Eduard Albrecht, Über Maurenbrechers Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts 1837; Vollrath 1990, 284). Diese theoretische Abstraktion des Staates zum Rechtsstaat beruhte auf dem zeitgenössischen Verzicht des Bürgertums auf die politische Machtfrage, so dass man sich stärker auf die Gerichte und die zivilistische Stellung des Bürgers konzentrierte. Was den Bürgern in ihrem gleichrangigen Verhältnis zueinander im Vertragsrecht zukam wurde einfach auf die „öffentliche" Ebene übertragen. Der Tübinger Rechtsprofessor Carl Friedrich Gerber formulierte eine Theorie subjektiver öffentlicher Rechte. Danach gelten Eingriffe in die Individualrechte nicht nur als Eingriff in die Privatsphäre, sondern zugleich als Verletzung der Stellung des Individuums als Glied des politischen Ganzen, ob er sie machtpolitisch tatsächlich inne hatte oder nicht {Über öffentliche Rechte 1852, 3-4; zuvor schon Robert von Mohl, Staatsrecht des Königreiches Württemberg 1840, 395 und 414). Der Rechtsstaat war die Antithese zum Machtstaat, nur dass dabei der politische Prozess der Willensbildung, deren Resultat die

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Normengebung war, vernachlässigt wurde. So betrachtet war „das Politische nicht mehr Zweck, sondern Material" der Rechtsbetrachtung (Gerber, Über öffentliche Rechte 1852, 28). Hegel war ein strikter Gegner der Gewaltenteilungsdoktrin (Siep 1992) wie der Doktrin des Rechtsstaats. Die bloße Rechtsstaatsforderung sowie das Grundrechteprostulat missachteten laut Hegel die gesellschaftliche Verwurzeln allen rechts. Die Vermittlung von subjektiver Freiheit und staatlichem Handlungsinteresse blieb bei dem Modell des Rechtsstaates ausgespart. Die Theorie des Rechtsstaats mit seiner Vorstellung vom Individuum als Rechtsträger lastete Hegel dem formalen Rechtsdenken der Kantischen Tradition an: sie konnte genauso wenig wie Kant erklären, wie allein auf der Basis der Zuerkennung formeller Rechte die gesellschaftliche Situation eines konkreten Menschen zu begreifen ist. Als Träger von Rechten gehört das Rechtsindividuum einer gedanklichen Sphäre an, die Hegel in seinem Staatsmodell der Rechtsphilosophie „Moralität" nannte und unterhalb der Ebene der Sittlichkeit einordnete. Ein Freiheitsverständnis, das von allen Bestimmungsgründen absieht und so zur leeren Abstraktion wird, war laut Hegel mit der Französischen Revolution erreicht und hatte sich als unzureichend erwiesen (Rechtsphilosophie § 5). Die Zerstörung von dauerhaften Institutionen als Beweis der Befreiung von allen Bestimmungsgründen war in Hegels Augen nur der Schein der Freiheit. Die Frage lautete, wie sich die normative Forderung der Freiheit und Gleichheit mit der Realität vermitteln lassen und welche politischen Institutionen daraus folgen. Hegel kritisierte an der Idee des Rechtsstaates ihre gedankliche Abstraktion, das formale Rechtsverständnis und das negative Politikverständnis, das sich weniger um die Belange des Staates kümmerte als vielmehr, sich davor zu schützen. Hegel war daher auch kein Anhänger der Menschenrechtserklärungen, wenn sie nicht mit sozialen und politischen Institutionen veermittelt waren (Wissenschaftliche Behandlungen des Naturrechts 1803). Das Fehlen von Grundrechten ist als die eigentliche Schwachstelle von Hegels politischer Theorie bezeichnet worden (Siep 1992; Boldt 2002; anders Lübbe-Wolff 1986). Hegel hatte sich aber immerhin mit der Institution der Gerichtsbarkeit beschäftigt: sie gehört als „Rechtspflege" zum System der Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft und behandelt Probleme der institutionellen Umsetzung des abstrakten Rechts, die Gerichte und ihre Stellung in der politischen Ordnung. Hegel ging davon aus, dass die Gerichtsbarkeit nur „ideell" wirksam ist: ihre Beschlüsse werden erst durch die exekutive Umsetzung gesellschaftlich wirksam, wenn also dem ideellen Subsumieren das reelle Subsumieren folgt (System der Sittlichkeit 87). Ferner ist die Unparteilichkeit der Richter ein vielleicht wichtigeres Element der Sicherung von Rechten als die formelle Nennung der Rechte selbst. Zu den institutionellen Garantien der richterlichen Unabhängigkeit zählte er Kollegialität, Instanzenzug, Öffentlichkeit und materielle Unabhängigkeit der Richter (Rechtsphilosophie §§ 222, 228). Ferner erwog Hegel Geschworenengerichte (Rechtsphilosophie §§ 225-228; Peperzak 2001, 458-459) und traf sich hier mit einer Kernforderung des Bürgertums, wie sie seit der Französischen Revolution diskutiert wurde (Landau 1987). Laut Hegel darf der Angeklagte erwarten, von Personen verurteilt zu werden, denen er vertraut. Die Geschworenen sollen vermeiden helfen, dass sich rechtliche Institutionen abschotten und schaffen zugleich die Voraussetzungen dafür, dass Angeklagte die Ergebnisse der Rechtsprechung für verbindlich erachten. In diesem Sinne waren die Jury-Gerichte eine politische Forderung der Zeit und liberale Vordenker wie Welcker erörterten im Staats-Lexicon ihr Doppelgesicht als juridische wie politische Einrichtung mit großem Sachverstand (Welcker, Schwur oder Geschworenengerichte 1840).

1 Hegel und der moderne Staat Das Volk der Volkssouveränität

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und die Nation

Hegels Ablehnung des Prinzips der Volkssouveränität (Rechtsphilosophie § 273 Zusatz; § 279) hat mit dem unklaren Volksbegriff zu tun, der in seinen Augen nur die Probleme der Vermittlung von allgemeinem und Einzelwillen überdeckt. Woher kann der Einzelne das Vertrauen beziehen, dass im Allgemeinen auch seine subjektive Freiheit der Sache nach und nicht nur der Form nach berücksichtigt wird? Woher kommt die Verpflichtung der überstimmten Minderheit gegenüber der Mehrheit? Was führt zur freiwilligen Entäußerung des besonderen Einzelinteresses zugunsten der Belange der Allgemeinheit (Realphilosophie 263)? Diese Fragen schlicht mit dem Hinweis auf die Zugehörigkeit zum Volk zu beantworten lehnte Hegel ab. Die Übertragung des romantischen Volksbegriffs auf die politische Theorie im Zusammenhang mit dem Nationenbegriff war ihm suspekt, was besonders auf seine Berliner Kollegen Fichte und Savigny bezogen war. Ist das Volk durch Zugehörigkeit oder durch Mitgliedschaft gekennzeichnet? Ist das Volk durch die Zugehörigkeit der Individuen zu einer ethnischen, kulturellen oder historischen Gemeinschaft definiert, steht die Klärung der Inhalt dieser Merkmale im Vordergrund? Definiert man aber das Volkes durch die Mitgliedschaft zu einem politisch organisierten Verband, rückt die Verfassung stärker in den Mittelpunkt. Der Begriff der Nation beinhaltete Elemente beider Formen politischer Verbindlichkeit. Er konnte mit Blick auf die Zugehörigkeit eine polemische Note erhalten, wenn er mit Vorstellungen der Überlegenheit verknüpft war - ein bis in die Frühneuzeit zurückzuverfolgender Vorgang (Münkler/Grünberger/Mayer). In der französischen Aufklärung und in dem in dieser Zeit aufkommenden Kulturvergleich (Ory 1987, 127-135) wurde dagegen Nation überwiegend wertneutral gebraucht; für Rousseau meinte die Nation hauptsächlich das Rohmaterial eines Volkes, das der Gesetzgeber kennen muss, damit die Grundgesetze der Republik auch greifen können. Hierher gehörten auch die materialreichen Überlegungen Herders (Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit 1784-1791) über die sprachlichen Gemeinsamkeiten der Individuen. Kant hatte in seiner Anthropologie den Volkscharakter einzelner Nationen wie der Deutschen und Franzosen erkundet. Mit der Französischen Revolution setzte sich eine viel stärker politische Verwendung des Begriffs durch, da hier die Nation zum Bezugspunkt der politischen Ordnung wurde. Der französische Nationalstaat konnte auf eine Identität als Nation in sprachlicher wie in kultureller Hinsicht zurückgreifen, die neue Staaten im 19. Jahrhundert, die Nationalstaaten sein wollten, erst schaffen bzw. klären mussten, eine Aufgabe, die hauptsächlich Wissenschaftler und Publizisten erfüllten. Nationale Geschichtsschreibung konnte so eine identitätsbildende Intervention sein, was besonders für die deutschsprachigen Regionen Europas im 19. Jahrhundert galt, wo die Idee der wiedergefundenen oder teilweise auch neu erfundenen Nation (Anderson 1991) über den schulischen Unterricht Verbreitung fand. Da zugleich die Zahl der Teilnehmer an der öffentlichen Diskussion immer größer wurde, konnte der allgemeine Effekt dieser Nationenbildung die Nationalisierung des Diskurses sein, das heißt ein nachlassendes Interesse an der politischen Theorie anderer Diskurse und ein bevorzugtes Interesse an den anderen Teilnehmern des als „national" definierten „eigenen" Diskurses. Nach dem Vorbild der Französischen Revolution nahmen viele Nationalstaaten nämlich die Bildung ihrer Bürger als Kernaufgabe der Staatlichkeit wahr, und zwar weit über die Ausbildung des unmittelbar für den Staat interessanten Personals in der Verwaltung hinaus. Die Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin 1809 schuf zugleich ein Paradigma staatlich finanzierter aber vom Staat mehr oder weniger unabhängiger Forschung, die sich

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ungeachtet der Frage einer unmittelbaren ökonomischen Verwertbarkeit entfalten konnte. Akademien und Universitäten waren schon vor dem Zeitalter der Demokratie bekannt, nahmen nun aber erheblich an Zahl und vor allem an Besuchern zu. Kaum ein Theoretiker nach 1800, der nicht eine universitäre Ausbildung vorweisen konnte; selbst Autodidakten aus der organisierten Arbeiterbewegung ahmten die Ausbildungsziele der Universitäten nach und halfen schließlich, eigene Ausbildungsstätten für Arbeiter zu betreiben. Hinzu kam der sprunghafte Anstieg an Schulabsolventen und die Zunahme der Journale. Die erheblich vergrößerte Öffentlichkeit erlaubte es auch mehr Diskussionsteilnehmern, von ihren intellektuellen Erzeugnissen zu leben und somit eine gewisse Unabhängigkeit vom bis dahin üblichen Mäzenatentum zu erringen. So kam mit dem „Intellektuellen" ein völlig neuer Typus des Theoriebildners auf. Neben den Regeln des Marktes schuf auch die Öffentlichkeit selbst neue Abhängigkeiten: die Gunst des Publikums musste berücksichtigt werden und der Umgang mit den Agenturen, die den Kontakt zum Publikum herstellten. Der theoriebildende Typus des Intellektuellen kann nicht eindeutig politisch verortet werden. Anhänger des nationalen Bürgertums konnten zu Beginn des 19. Jahrhunderts ebenso von staatlichen Stellen verfolgt werden wie sozialistische Intellektuelle am Ende des Jahrhunderts. Intellektuelle Verfechter politischer Strömungen gab es in allen Schattierungen, von konservativen Traditionalisten bis zu international und anarchistisch ausgerichteten Sozialisten. Die Neue Preußische Zeitung (auch Kreuzzeitung genannt) wurde von Hermann Wagener 1848 gegründet und bot konservativen Publizisten wie den Gebrüdern Leopold und Ernst Ludwig von Gerlach, daneben auch dem jungen Bismarck ein Publikationsorgan (sie bestand bis 1939). Auf der anderen Seite machte Georges Clemenceau als Herausgeber und Eigentümer der 1897 gegründeten Zeitschrift L 'Aurore Geschichte, als er dem Romancier Emile Zola eine Plattform gegen die Reaktion mit dessen Attacke in dem Artikel J'accuse bot (13.1.1898). In der daraufhin entbrannten Debatte um die Dreyfus-Affäre etablierte sich der Intellektuelle als politischer Akteur, der im Namen der Aufklärung Partei ergriff, wo die staatlichen Instanzen versagten. Doch auch die Befürworter der Reaktion waren Intellektuelle: Jedem „linken" oder „progressiven" Intellektuellen einer Epoche kann man einen „konservativen" oder „reaktionären" gegenüberstellen, jedem Emile Zola einen Charles Maurass. Bereits Petrarca kann als Vorläufer des Typus des Intellektuellen gesehen werden, der mit dem Ertrag seiner intellektuellen Erzeugnisse nach finanzieller Unabhängigkeit strebend doch immer auch von Mäzenen abhängig blieb; mit Hilfe der gleichwohl distanzierten Haltung gelangte er als Intellektueller zu einer eigenständigen Sichtweise auch auf die Politik. Sein essayistisch-literarische Stil suchte an Stelle von systematischer Konsistenz sprachliche Brillanz. Petrarcas Ideal Roms (Africa 1338/1342) oder Dantes Befürwortung eines idealisiert dargestellten Kaisertums sind insoweit nicht weit entfernt von Friedrich Gottlieb Klopstocks Die deutsche Gelehrtenrepublik (1774) oder H.G. Wells kosmopolitischelitärem Ansatz (The Open Conspiracy. Blueprints for a World Revolution 1928). Vielleicht kann der utopische Ansatz politischer Theorie am ehesten mit Intellektuellen in Verbindung gebracht werden und insofern konnte George Orwell mit seiner negativen Utopie 1984 unter allen Nichttheoretikem den größten Einfluss auf die politische Theorie ausüben. Die intellektuellen politischen Theorien waren oft innovativ und zugleich diffus. Die „konservative Revolution" war eine intellektuelle Erfindung ohne institutionelle Aussage, aber mit weit reichender destruktiver Wirkung, was die bestehenden Institutionen der Weimarer Republik anbelangte. Die Spannbreite politischer Überzeugungen reichte von

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den Anhängern der Republik als Inbegriff aufklärerisch interpretierter Ideen von 1789 im Kampf gegen die Reaktion bei den Dreyfussiards bis zu Phantasien über ideale politische Assoziationen im Neuen Reich von Stefan George (1928). Ein Intellektueller seiner eigenen Zeit war Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), der sich mit seinen Reden an die deutsche Nation (1807/1808) an die nationale Öffentlichkeit. Die Nation wurde ihm zum Ankerbegriff seiner Überlegungen zur Eigenheit und Einmaligkeit der deutschen Nation, die er der französischen Nation entgegenstellte: eine im Behauptungs- und Unabhängigkeitskampf gegen Napoleon geborene Vorstellung. Fichte hob die autochthonen Eigenheiten der Völker hervor und entwarf das Modell eines auf sich selbst bezogenen nationalen Gebildes. In diesem Bestreben erhielt der revolutionäre Ausdruck der Nation eine Wendung zum Nationalismus. Fichte begann als Kantianer, darum bemüht, Kants erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt der individuellen Autonomie zum Angelpunkt einer sozialen und politischen Philosophie zu erheben. Das radikal abstrahierte Individuum galt ihm als Bezugspunkt der Politik. Fichtes erste Arbeiten auf diesem Gebiet, von den Grundlagen des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796) bis zu Der geschlossene Handelsstaat (1800), experimentierten mit der Idee der sozial-ökonomischen Autarkie einer (wie im Deutschland jener Tage) überwiegend agrarisch strukturierten Gesellschaft, in welcher Eigentum Ausdruck der Selbstbestimmung sein sollte. Fichte postulierte die Verantwortung des Staates für die individuelle Wohlfahrt mit einer intensiven Interventionsbereitschaft, weshalb Fichte oft in den Kontext des Frühsozialismus oder eines frühen Sozialliberalismus gestellt wird (Batscha 1981, 259-337; Nomer 2005). Das Frühwerk reflektierte und verallgemeinerte zunächst die politischen Strategien der französischen Revolutionsregierungen, die er in Deutschland auch öffentlich verteidigte. Nur bezüglich der Institutionentheorie war ihm die Zentralisierung der politischen Gewalt nicht geheuer, weshalb er auf das spartanische Modell des Ephorats zurückgriff. Es ist die „negative" Staatsgewalt, die durch Interdikt die Regierungspolitik aufheben und das Volk als Gericht zwischen sich und der Staatsgewalt einberufen darf. Hegel kritisierte schon frühzeitig Fichtes Ephorat als rein negative Idee der Staatszerstörung (System der Sittlichkeit 83) und wiederholte seine Kritik in der Rechtsphilosophie (§ 273) zu einem Zeitpunkt, als Fichte bereits selbst hiervon Abstand genommen hatte (System der Rechtslehre, Vorlesung 1812 III 2, 1), und zwar wegen der Probleme der Ausführbarkeit. Unter dem Eindruck der französischen Besatzung bezeichnete Fichte in seiner achten Rede an die deutsche Nation (1808 gedruckt), das Volk als Abstammungsgemeinschaft, welche einen unveränderlichen Nationalcharakter tradiert. Die Zugehörigkeit zu einer Nation markiert den Abschluss der Individualität. Durch die Nation nimmt das Individuum an welthistorischen Entwicklungen teil, wobei Fichte die Nationswerdung mit christlichen Motiven der Erlösungsgeschichte parallelisierte. Zwar soll man anderen Nationen mit Respekt entgegentreten, aber im Krieg zeigt sich der Nationalcharakter am deutlichsten; hier diktierte die Begeisterung für die Idee einer kriegerischen Erhebung gegen Napoleon die Feder Fichtes. Der Nationsbegriff konnte aber auch anders gesehen werden. Der Ökonom Friedrich List (1789-1846) bezog sich auf Adam Smiths Wealth of Nations, vermisste darin aber die Definition der Nation. Für List bedeutete Nationalität das Mittelglied zwischen Individualität und Menschheit (Das nationale System der politischen Ökonomie 1841, Vorrede). Angesichts der mangelnden Gesamtstaatlichkeit Deutschlands bot der Wirtschaftsraum eine Zuordnungsmöglichkeit der Deutschen auch ohne politischen Rahmen: die Ökonomie war Kompensation

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fur die nichtvorhandene politische Einheit, weshalb Zollverein und der lose Deutsche Bund ausreichen musste. Der Wirtschaftsverkehr als Maßstab war angesichts des zunehmenden Freihandels allerdings eine wenig verlässliche Größe. Unter dem Eindruck des Verlustes von Elsaß-Lothringen als Resultat des verlorenen Krieg von 1870/71, definierte Ernest Renan (1823-1892) in einem Sorbonne-Vortrag die Nation als „un plebiscite de tous les jours", als tagtägliches Plebiszit der Zugehörigkeit (Qu'est-ce qu une nation! 1882). Für Renan ersetzte das voluntaristische Bekenntnis einer Bevölkerung die völkerrechtliche Sichtweise. Dabei war sich Renan darüber im klaren, dass die Referenzgröße dieser Zugehörigkeitserklärung eine Idee ist, die mittels klug ausgewählter historischer Rückbezüge plausibel wird. Die Nation ist ein geistiges Prinzip, womit Renan alternative Parameter, darunter vor allem die Rasse, als ungeeignet zurückwies. Neben das Bekenntnis tritt der Umgang mit dem Erbe der Nation, weshalb die Leistungen der Könige - so sehr sie eigensüchtig dynastisch waren und so sehr die Könige Feinde des „Volkes" waren - nun als nationales Erbe Anerkennung fanden. Hierzu gehörte nicht zuletzt das Vergessen: das Vergessen der blutigen Umstände ihrer Entstehung, von den Kriegen der Könige bis zu den Revolutionen. Unterschiedliche Nationenbegriffe konnten ihrerseits Ausdruck unterschiedlicher Nationen sein. Inmitten einer Debatte um die nationalen Wurzeln einzelner politischer Institutionen wie etwa der Verwaltung (hatte mehr das britische oder das französische Vorbild die preußische Verwaltung geprägt?) typisierte Friedrich Meinecke (1862-1954) unterschiedliche Wege zur Nation: die eher Frankreich zugehörige „Staatsnation", welche durch politische Einheitsbildung bestimmt ist, und die „Kulturnation", welche unabhängig von politischen Einflüssen durch ihre kulturellen Inhalte festlegt wird, so besonders in Deutschland (Weltbürgertum und Nationalstaat 1907). Der Wechsel von einer radikal individualistischen zu einer radikal nationalistischen Perspektive wie sie Fichte demonstrierte, war in Hegels Augen die charakteristische Denkbewegung einer unausgeglichenen Staatstheorie. Auch Hegel befürwortete die Nation als historischen Hebel für die Entwicklung der Gesellschaft, darin Kant und Fichte nicht unähnlich. Aber die Staatlichkeit blieb für ihn das Ziel aller Geschichte, die sich auch einzelner Persönlichkeiten wie Napoleon bedienen kann: die „List der Vernunft" bewirkt (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Einleitung 89), dass diese Personen auch ungeachtet ihrer primär machtpolitischen Ambitionen die Staatswerdung erzwingen. Daher trotzte Hegel dem nationalistischen Überschwang und befürwortete den Import französischer Gesetze, wie etwa den Code Napoleon im deutschen Rheinland, sofern darin ein Zuwachs an Rationalität bestand. Mit der Befürwortung von Gesetzeskodifikationen nahm Hegel Stellung in dem zeitgenössischen Schulenstreit zwischen Anton F.J. Thibaut (Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland 1814) und Friedrich Karl Savigny (Vom Beruf unserer Zeit fur Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1814; beides ed. Hattenhauer 1973). Ist das Recht das Ergebnis historisch gewachsener Praxis oder kann man intentional Recht setzen? Einen „Beruf zur Gesetzgebung" hatten aufgeklärte Absolutisten wie Friedrich II. oder Joseph II. von Österreich am Ende des 18. Jahrhunderts und in jüngerer Zeit Napoleon mit dem Code Napoleon unter Beweis gestellt. Diese Gesetzeskodifikationen stellten intensive gesellschaftspolitische Eingriffe dar. Gerade systematisch angelegte Gesetzeskodifikationen waren für Hegel Ausdruck des Fortschritts und Gewinn an Rationalität (Rechtsphilosophie § 211). Anders als Savigny oder Fichte dachte Hegel nicht das Volk als Quelle des Rechts, sei es als „Volksgeist", sei es als

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„Nation". Das Recht ist konkret und muss einen konkreten Gesetzgeber haben in Gestalt einer bestimmten und nicht nur einer gedachten Regierung. In Hegels Augen war mit dem Begriff des Volkes nichts über dessen konkrete institutionelle Organisation oder Verfassung gewonnen. Ohne Institutionen war das Volk in seinen Augen nichts anderes als eine unförmige Masse (Rechtsphilosophie § 279). Die liberalen Theorien des beginnenden 19. Jahrhunderts hatten ihre Not, einen konsistenten Begriff des Volkes zu entwickeln und neigten unter dem Eindruck der Revolutionen dazu, im Volk eine größere Gefahr für das Individuum zu sehen als in der Monarchie. Von der revolutionär an die Macht strebenden „Masse" zu sprechen war eine häufig gebrauchte Bezeichnung, die dem normativen Unbehagen einerseits und der analytischen Unbeholfenheit andererseits Luft machte, da die wenigsten solche neuartigen Phänomene wie die „Herrschaft der Straße" oder demokratisch legitimierte Diktaturen in ihre Vorstellung von Politik integrieren konnten oder wollten. Noch Friedrich Christoph Dahlmanns (1785-1860) Politik von 1835 setzte die Kritik an den demokratischen Verirrungen der Französischen Revolution fort und beklagte die Überflügelung der vernünftigen Gesetzgebungsarbeit (die er nomothetisch nennt) durch die transitorischen Volksbeschlüsse mit Verordnungscharakter (§ 45). Dabei war Dahlmann ein Kenner der Revolutionen, die er in einflussreichen Darstellungen der Französischen (1844) und der englischen Revolution (1845) behandelte hatte. Er war zudem ein engagierter Verfassungspolitiker: er gehörte zu den Göttinger Sieben 1837 und war am Frankfurter Parlament von 1848 beteiligt. Auch nach dem Scheitern der Reichsgründung blieb Dahlmann Anhänger eines preußischen Kaisertums, das er der Demokratie mit ihren arbiträren Volksbeschlüssen vorzog. Dahinter stak die Überlegung, dass das Subjekt der Gesetzgebung nicht von beliebigem Zuschnitt sein kann. Der Pöbel, die Menge, die Masse eignet sich nicht zum Volk, wobei oft ohne jegliche Differenzierung der Tagelöhner mit dem Hausgesinde und der Frau gleichgesetzt wurde (Blättler 1995). Damit setzte sich im 19. Jahrhundert eine Debatte fort, die in klassischer Begrifflichkeit als Gegensatz von „multitudo" und „populus" bezeichnet wurde und zur „Theorie der Massendemokratie" führte (siehe dort). Staat, Beamtentum und Eliten Der Staat war für Hegel der Inbegriff der Institutionen, in dem die Allgemeinheit der Idee der Freiheit gemeinsam mit der Idee des Individuums ihren höchsten Ausdruck erfährt. Die „modernen Staaten" vereinen „das Prinzip der Subjektivität" mit seinem Extrem der selbständigen und „persönlichen Besonderheit" des Individuums und die „substantielle Einheit" seines gesellschaftlich-politischen Kontextes (Rechtsphilosophie § 260). Hegel scheute nicht die Analogie von Staat und Gott, worin auch eine Reminiszenz an Hobbes gesehen werden kann. Doch der Staat ist nicht das letzte Wort in dem Entwicklungsmodell der Sittlichkeit: er ist es nur im Bereich der objektiven Sittlichkeit, nicht aber im Bereich der absoluten Sittlichkeit, bestehend aus Religion, Philosophie und Kunst. Hegel entwickelte ein komplexes Modell der Verzahnung verschiedener Institutionen. Das Schwergewicht dieses Modells lag auf der Exekutive und der Handlungsfähigkeit der Politik. Freiheit ohne Handlungsfähigkeit der Allgemeinheit ist in der Politik ein leerer Begriff, die im Staat Handelnden sind vor allem die Beamten. Philosophisch-ethisch inspirierte Interpretationen des Freiheitsbegriffs bei Hegel unterschätzen in der Regel die zentrale Stellung, die Hegel dem Beamtentum zusprach (Neuhouser 2000).

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Den Mangel an Handlungsfähigkeit kritisierte der junge Hegel an der alten Reichsverfassung von Deutschland. In einer seiner ersten politischen Arbeiten (Die Verfassung Deutschlands 1801/2), unterzog Hegel die Staatlichkeit des Alten Reichs einer gründlichen Analyse und kam zum Schluss, dass Deutschland gar kein Staat ist, vielmehr nach innen handlungsunfähig und nach außen den Interventionen des Auslands ausgesetzt sei. Die Struktur des Reichs war das Resultat privatrechtlicher und familienpolitischer Verhältnisse der Fürsten, die politische Rechte wie privates Eigentum behandelten. Im Anschluss an Pufendorfs Verfassungsschrift konstatierte Hegel, dass es unmöglich sei, einen eindeutigen Ort der Souveränität auszumachen. Souveränität war für Hegel eine evidente Ausdrucksform der Allgemeinheit, des Denkens einer politischen Ordnung auf eine Allgemeinheit hin, die in sich die Besonderheiten und Partikularismen der Gesellschaft aufnimmt und zu einem Ganzen vereinigt (466). Souveränität war fur Hegel ein Begriff für Handlungsfähigkeit der Allgemeinheit. Die unterschiedlichen Arten tatsächlichen staatlichen Agierens zerlegte Hegel in der Rechtsphilosophie mit Hilfe der Begriffe von Verstand und Vernunft. Er behauptete, alle Staatslehre vor ihm und selbst die englische Nationalökonomie habe den Staat bislang nur als Verstandesstaat gedacht, wonach aus der Gemeinsamkeit der Personen als Glieder der bürgerlichen Gesellschaft die politische Gemeinschaft heranwachse, um gemeinsame Probleme zu lösen. Diesen Staat bezeichnete Hegel als „Not- und Verstandesstaat" oder als den äußeren Staat (§ 183). Die bürgerliche Gesellschaft steuert und regelt sich in diesem Bereich überwiegend selbst. Instrumente ihrer Selbststeuerung sind laut Hegel das Gerichtswesen, die Polizei und die Korporationen, letztere meinten eine Art privates Zunftwesen im Sinne von Interessenverbänden. Diese drei Pfeiler der Regulierung gemeinsamer Bedürfnisse besitzt die bürgerliche Gesellschaft und wählt auch die Personen in die Ämter ihrer Selbststeuerung. Die Aufgabe, diese noch so wenig auf das Allgemeine hin organisierten Elemente zu bündeln und die Handlungsfähigkeit des Ganzen herzustellen, kommt dem Beamtentum zu. Die Beamten verkörpern in Hegels Augen zusammen mit dem Monarchen den Staat, nun definiert als das Allgemeine, das die Vernunft verwirklicht (§§ 258; 272 Zusatz), die „Hieroglyphe" der Vernunft (§ 279 Zusatz) oder einfach auch: „der politische Staat" (§ 273). Das Beamtentum übt darin im wesentlichen Aufsichtsfunktionen über die Tätigkeiten des Verstandesstaates aus. Der Verstandesstaat unterliegt nur einer „oberpolizeilichen" (§ 270) Aufsicht des Vernunftstaates, welcher sich beispielsweise in Fragen der religiösen Gesinnung ausdrücklich „liberal" und „tolerant" verhalten soll (§ 270). Der eigentliche Gegenstand des Vernunftstaates sind Verwaltung und Außenpolitik. Die Beamten formen den „allgemeinen Stand", der sich gesondert um die Belange des Staates kümmert. Hegel inkorporierte mit dieser für seine Theorie so bezeichnenden und den deutschen Diskurs maßgeblich prägenden Idee des Beamtentums wie mit keinem anderen Theorem das Vorbild Preußens. Die Preußische Reformbewegung der Jahre nach der vernichtenden Niederlage von Jena und Auerstedt gegen Napoleon 1806 wurde vom Beamtentum getragen und vermochte es, ungeachtet der ungünstigen Friedensbedingungen, die Preußen eingehen musste, einen schlagfähigen Staat zu begründen: von der Städteordnung des Freiherrn vom Stein bis zur Armeereform Scharnhorsts, von der Gründung der Universität zu Berlin durch Fichte und Humboldt bis zu den Verwaltungsreformen des Staatsapparates selbst (Koselleck 1967). Dazu zählte auch die Frage von Organisation und Auslese des Beamtentums selbst, das dem traditionellen Adel nicht entzogen, aber für bürgerliche Schichten durchlässiger gemacht wurde. Die Preußischen Reformen haben als Idee eines modernen und effizienten, dabei im Geiste aufgeklärten und zivilisatorisch fortschrittlichen Gemeinwesens

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den deutschsprachigen Diskurs erheblich bis weit in die Weimarer Republik hinein geprägt (Llanque 2001), selbst die klassenkämpferischen Sozialisten achteten das preußische Beamtentum nicht nur, sondern ahmten es nach. Die Ideengeschichte des Beamtentums ist noch sehr rudimentär (für Deutschland: Hattenhauer 1993) erforscht. Bürokratie" meint zum einen die spezifische Arbeitsweise: Kanzlei (Aktenorganisation), Kollegialität (Arbeitsteilung) und Hierarchie (Dienstweg), dann aber auch die intransparente Herrschaftsform der Verwaltung. Der Ausdruck „Bürokratie" war von Anbeginn negativ konnotiert. Er lässt sich bis auf Melchor Grimm (1723-1807) zurückverfolgen, der in seiner Literarischen Korrespondenz im Sommer 1764 über die Reglementierungssucht der französischen Regierung klagte. In diesem Zusammenhang erinnerte er an einen wenige Jahre zuvor getätigten Ausspruch des leitenden Regierungsbeamten und Physiokraten Vincent de Gournays (1712-1759), der die Krankheit der Schreibstube und der Kanzleien „bureaumanie" genannt und von einer vierten oder fünften Regierungsreform gesprochen habe, die er laut Grimm „bureaucratie" getauft hatte (Correspondeance litteraire, ed. Maurice Tourneaux, 1878, Bd. VI 30). Grimm beschrieb Bürokratie als die sich selbst bewegende „Maschine", die von einer undurchsichtigen und vielköpfigen Zahl von Posten betrieben wird. Gournay war 1751-1758 Intendant du Commerce gewesen; ihm wird auch der Ausdruck „laissez faire laissez passer" zugeschrieben. Amt und Bürokratie müssen aber scharf getrennt werden. Das Amt stand im Zentrum der republikanischen Argumentation und meinte damit meist das jährlich neu zu besetzende Wahlamt. Im Zuge der aufkeimenden Staatlichkeit sah bereits Jean Bodin den Beamten als eine innerstaatliche und nach außen abgeschottete Vollzugsperson, verbunden mit den Problemen der personalen und sachlichen Loyalität sowie der Innen- und Außenwirkung. Die Französische Revolution griff die administrativen Traditionen des Königtums (Intendantur) auf und rationalisierte sie erheblich, so dass bis zu dem Schub der Professionalisierung des Beamtentums im Zuge der Preußischen Reformen nach 1806 Frankreich das Vorbild rationaler Staatlichkeit war. England dagegen galt bis zu den vom NorthcoteTrevelyan Report von 1854 initiierten Reformen des Civil Service, die u.a. zur Einführung von Examina führte, als Regelfall für die Patronagebesetzung in der Verwaltung. Im deutschen Liberalismus des Vormärz (Welcker Staatsdienst-, Dahlmann, Politik 1835 §§ 250-257) war das Beamtentum besonders ein Problem hinsichtlich seiner rechtlichen Struktur, als Element der monarchisch geprägten Staatlichkeit aber wenig angefochten. Erst Otto Gierke erinnerte daran (Genossenschaftsrecht I, 1868, 313-319), dass die mittelalterlichen städtischen Magistratsverfassungen „genossenschaftlich" strukturiert gewesen waren und am Wahlprinzip festhielten. Sie bildeten damit einen Gegensatz zu der „herrschaftlich" Struktur der am Hof und im Vasallentum vorfindbaren Dienstverhältnisse, die in den etatistischen Verwaltungsstaat mündete. Auf Gierkes Spuren versuchte der preußische Staatslehrer Hugo Preuß (1860-1925), für seine Gegenwart und gleichrangig zum etatistisch Lebensbeamten den magistratisch auf Zeit gewählten Amtsträger zu profilieren. Rechtlicher Ausgangspunkt war dabei für Preuß die Bürgerschaft. 1902 zeigte Preuß, dass Ämter wie das des Schöffen nicht in das Schema des von oben herab berufenen Staatsdieners passten und auf die Existenz eines anderen Amtsverständnisses hindeuteten (Das städtische Amtsrecht in Preußen, 72-73). Die Stadt galt Preuß in seiner 1906 erschienenen Arbeit Die Entwicklung des deutschen Städtewesens als Keimzelle des modernen Staates (I

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1-7) und die städtische Amtsorganisation des Mittelalters als der Bezugspunkt des modernen Amtsverständnisses, wie es, Preuß zufolge, die Reformen des Freiherrn vom Stein zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch für Preußen vorgesehen hatten (I 227-234). Preuß' Auffassung hat sich aber in Deutschland nicht durchgesetzt, obwohl es von Schweizer Seite (Fritz Fleiner, Beamtenstaat und Volksstaat 1916) gestützt wurde. Demokratien wie die USA erwogen immer wieder Alternativen zum etatistischen Modell des Staatsdienstes, am Schweizer Vorbild orientiert bei 1932 Carl Joachim Friedrich (Responsible Bureaucracy. Α Study of the Swiss Civil Service, zusammen mit Taylor Cole). Das Beamtentum war nur eines von verschiedenen Modellen einer politischen Elite, die als Reaktion auf die sich am Horizont abzeichnende Demokratie diskutiert wurden. Zeitgleich zu Hegels Beamtentum vertrat Saint-Simon ein Konzept der Elite als „industrieller Klasse". Henri de Saint-Simon (1760-1825) entstammte einer verarmten Adelsfamilie aus der Picardie. Er nahm wie viele seiner Landsleute am Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg teil, ohne sich aber wie Lafayette mit den politischen Zielen der Amerikaner zu identifizieren und er spielte in der Französischen Revolution keine bedeutende Rolle. Die revolutionäre Nationalisierung des Kirchen- und Feudalgutes nutzte Saint-Simon zur Schaffung eines großen Vermögens durch den spekulativen Ankauf von Nationalgütern. Dieses Vermögen ermöglichte ihm zunächst das Leben eines Mäzens für Kunst und Wissenschaft. Allein, die Vermögenssubstanz wurde hierdurch bald verbraucht, so dass er schließlich von Zuwendungen aus Familie und Freundeskreis abhängig wurde. Viele seiner Schüler, namentlich Auguste Comte, brachten ihm eine quasi-religiöse Verehrung entgegen. Laut Saint-Simon stand die Französische Revolution in einer allgemeinen Fortschrittstendenz der Menschheit, die jedoch nicht linear und nicht ohne Konvulsionen erfolgt und in deren Mittelpunkt die Politik steht. Die Revolution habe nur das Vertrauen in die alten Mächte von Theologie und Feudalismus erschüttert, ohne neue an deren Stelle zu setzen, abgesehen von bloßen Deklamationen der Menschenrechte. Sie verhalf immerhin unversehens einer allgemeinen Entwicklung zum Durchbruch: der „Organisation" (Saint-Simon, Avant-propos zu: De la reorganisation de la societe europeenne 1814). Jetzt erst konnte ein Zeitalter anbrechen, das sich die Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Abläufe bewusst zu eigen macht, wozu früher die Zuhilfenahme metaphysischer Annahmen nötig gewesen war. Organisation im Sinne von rationaler gesellschaftlicher Selbstverwaltung, die von der Administration bis zur Ökonomie analoge Strukturen erzeugt, war für Saint-Simon eine solche Gesetzmäßigkeit und die Entfaltung der in ihr ruhenden Entwicklungskräfte sein Ziel. Organisation und Technik bringen nach Saint-Simon eine führende Klasse hervor. Sie führt, aber sie herrscht nicht, d.h. sie regiert nicht nach ihrem Gutdünken, sondern in Erkenntnis der Logik der Sache, geprägt von den „industriellen Ideen". Die wahre Regierung ist daher nach Saint-Simon die sog. „classe industriel", die eigentliche Elite des Landes. Die formelle Regierungsform, ob monarchisch oder republikanisch, ist nachrangig, so lange es sich um eine Regierung handelt, in welcher die Leistungselite einer Nation über den maßgeblichen Einfluss verfügt. Man darf sich dem heutigen Sprachgebrauch gehorchend nicht unter Industrie Produktionsanlagen vorstellen. Industrie ist ein Lehnwort aus dem lateinischen Begriff „industria", was zunächst soviel heißt wie Fleiß, Unternehmungsgeist, eifrige Tätigkeit und Beharrlichkeit. Saint-Simon sah sie nicht auf eine spezielle Tätigkeit beschränkt, weshalb er neben Wirtschaftsunternehmern auch Künstler und Wissenschaftler zur industriellen Klasse zählte.

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In einer berühmten Parabel aus dem Jahr 1819 versuchte Saint-Simon vor Augen zu fuhren, worin die Bedeutung der industriellen Klasse besteht. Man solle sich vorstellen, dass die 30.000 ersten Industriellen Frankreichs auf einen Streich verunglücken: die fünfzig ersten Physiker, Chemiker, Mathematiker, Physiologen, die ersten fünfzig Mechaniker, Ingenieure, Ärzte, Uhrmacher und Seeleute, die ersten fünfzig Bankiers, die zweihundert ersten Kaufleute, die 600 ersten Landwirte, die fünfzig ersten Schmiede, Bergleute, Reeder, Gold- und Metallarbeiter, die fünfzig ersten Maurer, Gießer, Schlosser, die dreitausend ersten Gelehrten und Künstler usf. Sie stellen die wichtigsten Erzeugnisse her, leisten die nützlichsten Arbeiten und machen Frankreich zu einer in Wissenschaft, Künsten, Handwerk und Gewerbe schöpferischen Nation. Verlöre die Nation diese ersten 30.000 auf einen Schlag, würde es eine Generation brauchen, um diesen Verlust auszugleichen, damit ihr wieder ein neuer Kopf nachwachse, wie sich Saint-Simon ausdrückte. Dieser „classe industriel" hielt er die in seiner Zeit nominell führende Elite entgegen: Was verlöre Frankreich, wenn Monarchie, königliche Familie und Hofstaat, wenn die reichsten 10.000 Eigentümer, die Beamten und Bischöfe und Richter verschwänden? Dies „betrübliche" Ereignis würde bei allem Gefühl des Schmerzes doch kein größeres politisches Unglück für den Staat darstellen, denn die freigewordenen Stellen wären ohne weiteres wiederbesetzbar (Erster Auszug aus dem Organisator). Saint-Simon wollte mit dieser Parabel zum Ausdruck bringen, dass die Gesellschaft noch in einer Phase der „Unsittlichkeit" steckte: die Unfähigen sind mit der Leitung der Fähigen betraut, die Ersetzbaren beherrschen die Unersetzbaren und kosten darüber hinaus auch noch viel mehr als diese. Die wichtigste Aufgabe besteht darin, die „classe industriel" zur herrschenden Klasse zu machen und der Gesellschaft die Augen zu öffnen, dass es neben der „guten Gesellschaft", d.h. der Gesellschaft der Salons, der Gazetten und der Rhetorik, noch die eigentliche Leistungsgesellschaft gibt, in welcher sich die Akteure ohne Floskeln, rein sachlich auseinandersetzen und so jeden intriganten Streit ausschließen. Die neue IndustrieElite werde eine freiwillige Herrschaft begründen, da keine Autorität größere Zustimmung fände als die Autorität der Befähigten, die sich selber nur als Werkzeug des Geistes der Menschheit sähen, die sich auf einem unausweichlichen Weg des Fortschritts befindet. Ein Rat der Weisen, den Saint-Simon „Newton-Rat" nach dem großen englischen Physiker nannte, der das physische Weltbild bis zur Entdeckung der Quantenphysik prägte, soll die Gesellschaft nicht regieren, sondern „lenken". In drei Kammern dieses Newton-Rates ist die Intelligenz des Landes versammelt und berät die erforderlichen Schritte, dem Fortschritt den Weg zu ebnen und die Wohlfahrt zu mehren. Der Elitenlenkung kommt nach Saint-Simon die gewachsene Einsichtsfähigkeit des Proletariats entgegen, die es ermöglicht, dass die Organisationsvorstellungen der Elite ohne Zwang von der Bevölkerung eingesehen, anerkannt und übernommen werden. Denn im Laufe der zivilisatorischen Entwicklung habe auch die einfache Bevölkerung einen erheblichen Lernfortschritt erzielt. Das hänge nicht nur mit der Verbreitung der Schreib- und Lesefahigkeit zusammen, sondern mit dem allgemein gewachsenen Wissen um den technischen Fortschritt und der praktischen Fertigkeit zu seiner zweckmäßigen Anwendung. Saint-Simon wollte darauf hinaus, dass das Proletariat eine genügend hohe Entwicklungsstufe erreicht habe, um als Verwalter seines Eigentums die Steuerungsvorgaben der Elite sinnvoll und nutzbringend umzusetzen. Diese Stufe erlaube es, das Gesetz nicht mehr als Bevormundung und als Herrschaftsinstrument einzusetzen. Zwang ist nur mehr erforderlich für die Müßigen und Störrischen. Die Masse der Bevölkerung erkennt laut Saint-Simon ihre wirklichen Interessen, lässt sich nicht mehr ohne weiteres zu nutzlosen Aufständen hinreißen und verschafft

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daher der Elite die nötige mehrheitliche Zustimmung zu ihren Plänen, die der Förderung des Allgemeinwohls dienen. Wir haben es also mit einer Art gestaffelten Elitendemokratie zu tun: Den Inhalt des Gemeinwohls festzustellen bleibt den Beratungen der Elite vorbehalten, deren Ergebnisse aber noch der Zustimmung durch die Bevölkerung bedürfen, um Gesetzeskraft zu erlangen (Über die Gesellschaftsorganisation 48-49). Die Verbindung beider Bevölkerungsteile gelingt nach Saint-Simon durch die Abschaffung des Erbeigentums. Diesen Aspekt seiner Gesellschaftslehre entwickelten seine Schüler im Programm des Saint-Simonismus weiter, und zwar in der von Armand Bazard und Prosper Enfantin erstellten Doctrine de Saint-Simon 1829/1830 (dt. Auszug Ramm 1965, 68-90). Danach fällt das Vermögen jedes einzelnen an den Staat und nicht an seine Familie, sofern es sich um Eigentum am sog. Produktionsfonds handelt. Mit dem Wegfall des Erbrechts kann sich das nicht selbst verdiente Eigentum auch nicht ständig vergrößern. Jeder wird nach seinen Fähigkeiten eingestuft, jeder wird nach seinen Werken belohnt. Ungleichheit und Wetteifer sind das allgemeine Prinzip, weshalb man sich auch vom kommunistischen Ideal der Gütergemeinschaft distanzierte, das nur den Müßiggänger auf Kosten des Leistungsträgers bevorteilt und damit letztendlich eine Erschlaffung des Produktivitätsgeistes zur Folge hat. Saint-Simon wurde auch in Deutschland diskutiert. Der Hegel-Schüler Friedrich Wilhelm Carove machte ihn einem größeren Publikum bekannt (Saint-Simonismus und die neuere französische Philosophie 1831), er war eine sowohl für Lorenz von Stein wie für Karl Marx wichtige Durchgangsstufe ihres Denkens. In Hegels Augen wäre Saint-Simons elitäre Organisation zum größten Teil in seinem Staatsmodell verwirklicht, nur dass seiner Ansicht nach die jeweiligen Bereichseliten der bürgerlichen Gesellschaft nicht aus sich heraus gemeinwohlnützig tätig werden können, vielmehr hierfür den unabhängigen Stand der Beamten benötigen. Im Unterschied zu Saint-Simon begründen die Beamten bei Hegel auch keine Selbstregierung, sondern bedürfen der Kooperation mit dem aus Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft zusammengesetzten Parlament einerseits und dem von ihnen nicht weiter beeinflussbaren, unabhängigen Monarchen andererseits. Parlament und Repräsentation Bereits 1802 hatte Hegel die eigene Zeit als Ära der Repräsentation bezeichnet, welche die Despotie und dann die gewalttätige Republik abgelöst habe. Wie bereits gesehen, beruhte die Idee der Repräsentation bei den Gründern des modernen Verfassungsstaates auf einer eigenen theoretischen Basis und wurde nicht mit der Demokratieidee identifiziert. Selbst Thomas Paine hob die Differenz zwischen diesen beiden Ideen hervor und hoffte, durch das Aufpfropfen der Repräsentation auf den Stamm der Demokratie letztere veredeln zu können, das heißt, ihre Mängel ausgleichen zu können. Die Unterscheidung beider Ideen setzte sich in den Reformdebatten des britischen Parlaments im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts fort. Die Diskussion des Wahlrechts in der britischen Reformdebatte vor 1832 wurde veranlasst durch die Forderung nach einem Zuschnitt der Wahlkreise, der den sozialen Gegebenheiten der Bevölkerungsverteilung gerechter wurde (Wende 1995, 20). Das Skandalon des englischen Parlaments vor der Reform bestand in der gewaltigen Ungleichheit der Wahlkreise, die am deutlichsten in den „rotten boroughs" vorlag. Das waren Wahlkreise, die durch ihre Abgelegenheit oder durch die Landflucht der Bevölkerung so entvölkert waren, dass der Abgeordnete dort gelegentlich alle Wähler mit Handschlag begrüßen konnte. Mit dem Erwerb eines entvölkerten Landstrichs konnte man einen Sitz im Parlament gleichsam kaufen. Von

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658 Sitzen im Unterhaus gehörten 424 zu der Kategorie der rotten boroughs. Auf der anderen Seite waren die im Zuge der industriellen Revolution immens gewachsenen Städte nur sehr gering im Parlament repräsentiert, manche erst jüngst angewachsene Stadt stellten gar keinen Abgeordneten. Trotz dieses Zustands des Parlamentarismus gab es niemanden, der nach französischem Vorbild eine Radikalreform wünschte. Selbst der aus prinzipiellen Erwägungen für ein individuelles und gleiches Wahlrecht eintretende englischen Utilitarismus hielt sich mit Demokratieforderungen zurück. Der Utilitarismus wurde von Jeremy Bentham (1748-1832) begründet, dem vielleicht radikalsten Rationalisten der Ideengeschichte (Rosen 1992; W. Hofmann 2002). In Benthams Ethik galt als wertvoll, was der größten Menge den größten Nutzen (utilitas) einbringt: „it is the greatest happiness of the greatest number that is the measure of right or wrong" (A Comment on the Commentaries 393). Dies setzte die Gleichwertigkeit der Individuen voraus, weshalb der Utilitarismus eine immanent demokratische Ausprägung hat, aber nicht zwingend die Beteiligung aller an der Regierung fordert. Der Argumentation der Orthodoxie eines Blackstone und Burke, die historisch und aristotelisch-verfassungspraktisch argumentierten, setzte der Utilitarismus einen rechnerischen Rationalismus entgegen. In seinem 1776 anonym erschienenen Α Fragment on Government, das zunächst als Teil eines geplanten größeren Comment on the Commentaries von Blackstone gedacht war (A Fragment on Government 78), sprach Bentham der Mehrzahl der Bevölkerung die Fähigkeit ab, selbst an der Regierungsarbeit zu partizipieren, weil sie ganz einfach zu sehr mit der Bewältigung des Alltages beschäftigt sei und nur für außergewöhnliche politische Umstände Aufmerksamkeit genug finde, um sich ein Urteil zu bilden. Die antike Demokratie erhob zwar den Anspruch, diejenige Regierungsform zu sein, in welcher die höchste Gewalt unter alle Mitglieder aufgeteilt ist, aber in Athen seien in Wahrheit nur ein Zehntel der Bevölkerung an der Regierung beteiligt gewesen (71). In seinem Beitrag zur britischen Reformdebatte (Plan of Parliamentary Reform 1817) forderte Bentham das allgemeine und geheime (Männer-)Wahlrecht sowie jährliche Neuwahlen. Dies war eine deduktive Ableitung aus seiner Ethik, in welcher das als gerecht und normativ wünschenswert angesehen wird, was der größten Zahl am meisten nutzt. Diese Auffassung vertrat Bentham seit langem, wagte es aber erst jetzt, sie öffentlich zu äußern. Einige von Benthams Anhänger saßen im Unterhaus, namentlich der politische Ökonom David Ricardo, der 1819-1823 Abgeordneter ausgerechnet eines rotton boroughs war (Portarlington in Irland); aber Bentham galt als „radikal" und behielt dieses Attribut bis ins 20. Jahrhundert hinein (Halevy 1901/1904), weshalb seine Schüler und Freunde in der Reformdebatte eine vorsichtigere Positionen vertraten, um nicht marginalisiert zu werden. Ricardo wollte das Wahlrecht auf diejenigen beschränken, die direkte Steuern zahlen, James Mill (Essay on Government 1820), der Benthams Skepsis bezüglich der begrenzten Partizipationsfahigkeit der breiten Bevölkerung teilte, wollte das Wahlrecht auf Männer ab 40 beschränken. Das Hauptargument hierbei lautete, dass der Sinn des Parlaments nicht darin bestehe, die Bevölkerung zu spiegeln, sondern das allgemeine Interesse, während die gegenwärtige Struktur des Parlaments nur „sinister interests" wahre und schütze. Der Historiker George Grote, ein Schüler James Mills, erklärte in diesem Zusammenhang, dass die Sicherstellung des Allgemeininteresses nicht mit einem bestimmten Wahlsystem identifiziert werden kann (Statement on the question of Parliamentary Reform 1821). Das waren allerdings immer auch Konzessionen an die Debattenmehrheiten, die sich wie die Autoren in der Edinburgh Review, allen voran Thomas Macaulay, gegen die Ableitung des allgemeinen Wahlrechts aus abstrakten

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Denkprinzipien verwahrten und statt dessen eine „induktive", das heißt hier: eine historisch argumentierende Methode für angemessener erachteten {James Mill 's Essay on Government 1829). Die Parlamentsreform von 1832, die erst durch einen erheblichen Peersschub im Oberhaus möglich wurde, brachte eine Neuaufteilung der Wahlkreise, der das Land-Stadt-Gefälle etwas zugunsten der Städte ausglich und damit eine Verschiebung des Einflusses vom reichen Landbesitz zum städtischen Bürgertum bedeutete. Die Zahl der Wahlberechtigten stieg zwar erheb-lich an, aber umfasste unter Zugrundelegung eines Wahlzensus immer noch nur einen geringer Anteil der Bevölkerung (kaum mehr als 3% von 26 Millionen) unter völligem Ausschluss der Frauen. Andererseits war England im Vergleich mit den europäischen Großmächten das am weitesten demokratisierte Land. In Frankreich betrug der Anteil der wahlberechtigten Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung nach der Julirevolution 1830 lediglich 1 zu 137. Hegel verfolgte diese Debatte (Wirsching 1995), er hatte in seiner Heidelberger Zeit die Edinburgh Review intensiv studiert, und folgte in vielen Hinsicht den in der englischen Debatte angeführten Argumenten. Seine Zurückweisung eines nach abstrakten Prinzipien geformten Wahlrechts zum Parlament gehörte ebenso dazu wie die Überlegung, dass die Vertretung des Allgemeininteresses nicht logisch zusammenfällt mit dem Individualwahlrecht. Das englische parlamentarische System war in Hegels Augen unter vielen Gesichtspunkten vorbildlich. In der Rechtsphilosophie hob er besonders hervor, dass dort die Regierung aus dem Parlament hervorgeht und ihm nicht gegenübersteht (§ 303 Zusatz). Hegel kritisierte immer wieder das Unverständnis des deutschen Frühliberalismus für die Institution der Regierung, wenn er von einer natürlichen Opposition zwischen Parlament und (monarchisch bestimmter) Regierung sprach. Hegel kontrastierte gerne das Selbstverständnis frühliberaler Parlamentarier in Deutschland mit dem Selbstverständnis englischer Unterhausabgeordneter (Losurdo 184-187). Der Wechsel von Regierungsmehrheit und Opposition (Versammlung der Landstände Württembergs 1817, Werke IV 476) und die Reichhaltigkeit des parlamentarischen Lebens (Vorlesungen ed. Ilting IV 722) dort, dagegen die schroffe Systemopposition hier mit ihrem Wunsch nach der „Ministerverantwortlichkeit." Der Unterschied, auf den Hegel immer wieder abstellte, lag in der konstruktiven Partizipation an der Regierungsbildung. Der Sinn der Repräsentation liegt laut Hegel in der Vermittlung, in der Mediation der Interessen, die zu einem Allgemeininteresse transformiert werden müssen. In seinem Modell der konstitutionellen Monarchie war die Regierung ein Gesamtkonzept von Fürst, Beamtentum und Ständen, die wiederum als Legislative weniger gewählt als von den verschiedenen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft entsandt wurden. Der Zusammenhang der Stände mit der Bevölkerung wird durch die Öffentlichkeit der parlamentarischen Debatten hergestellt, die Hegel auch deswegen wünschte, weil er sich hiervon einen Lerneffekt für die Bevölkerung erhoffte (Rechtsphilosophie § 315 Zusatz). Die englische Reform war für Hegel aber auch ein zur Revolution alternatives Muster. Die Julitage des Jahres 1830 führten Hegel vor Augen, dass der Gedanke der Revolution nicht ausgelöscht war, sondern neuen Atem schöpfte und sich rasch über Europa verbreiten konnte. Das nahm Hegel 1831 zum Anlass, in der Allgemeinen Preußischen Staatszeitung den Entwurf des englischen Gesetzes zur Parlamentsreform kritisch zu kommentieren. Dabei unterschied er zwischen zwei Akteursgruppen: den hommes d'etat und den hommes ä principes. Die hommes d'etat rekrutieren sich aus der privilegierten politischen Oberschicht,

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welche zur allmählichen, organischen Reform fähig ist, weil sie an konkreten politischen Fragen interessiert ist, zugleich aber die Staatlichkeit intakt halten möchte. Die hommes ä principes zählte er zu den Verfechtern abstrakter Prinzipien, die - inspiriert von der Französischen Revolution und der Idee der Menschenrechte - einen Begriff von Volk entwerfen, der ohne Unterschied auch die Masse dazu zählt und nicht dulden, dass sich Beamtentum und Regierung hiervon abheben. Die hommes d'etat sind Reformer, die hommes ä principes dagegen suchen ihre Stärke im Volk, das unabhängig vom Parlament in Bewegung gebracht wird (mit Blick auf die Chartisten-Bewegung) und daher zur Revolution tendiert (Über die englische Reformbill 122-128). Die Regierung sah Hegel nicht vom Volk „kreiert", sondern unabhängig von ihm; ihr Bezugspunkt war die Idee des Staates. Hegels Modell machte freilich kaum Bemerkungen zu der Frage, was in Machtfragen und in Fällen des Missbrauchs der Macht getan werden sollte und wie dies institutionell aufgefangen werden kann. In einem Vorlesungszusatz sprach Hegel davon, dass der monarchische Wille letztlich nur ein „i-Tüpfelchen" sei (Rechtsphilosophie § 280 Zusatz), also mehr oder weniger das, was im Laufe des 19. Jahrhunderts in der parlamentarischen Monarchie Großbritanniens Realität wurde, nachdem der britische König mit dem ersten Kabinett von Peel das letzte Mal eine Regierung aus eigener Initiative gebildet hatte. Als dem preußischen König Hegels Bemerkung über die Rolle des Monarchen zugetragen wurde, äußerte er süffisant: was aber, wenn er sich weigert, nur ein i-Tüpfelchen zu setzen? Wer hinderte den Willen an der Willkür? Auch Hegel hatte die Revolution letztendlich nur gedacht.

2. Demokratie und Repräsentation: Tocqueville und John Stuart Mill Tocquevilles politische

Soziologie

Alexis de Tocqueville (1805-1859) gehörte einem alten normannischen Adelsgeschlecht an, das gerne daran erinnerte, dass seine Ahnen in der Schlacht von Hastings gekämpft hatten. Die Familie war während der Französischen Revolution königstreu, der Urgroßvater Lamoignon des Malesherbes war zwar im ancien regime ein Gegner des Absolutismus gewesen, verteidigte aber 1793 den König, als ihm die Revolutionäre den Prozess machten, was er wie dieser mit dem Leben büßte. Tocqueville wurde als Jurist ausgebildet, hörte aber auch die berühmten Historiker seiner Zeit an der Sorbonne, allen voran Thiers und Guizot. Als Tocqueville 1829 und 1830 bei Guizot hörte, war dieser bereits eine Berühmtheit, seine Vorlesungen waren intellektuelle Veranstaltungen von gesellschaftlichem Rang, obschon er wegen seiner liberalen Überzeugungen zwischenzeitig Lehrverbote erhielt. Während der Juli-Monarchie reiste Tocqueville 1831/1832 mit seinem Freund Gustave de Beaumont im öffentlichen Auftrag in die USA (Pierson 1938), um das dortige Gefangniswesen zu studieren. Zusammen mit Beaumont fertigte er auch eine Studie hierzu an (Du Systeme Penitentiaire aux Etats-Unis et de son application en France 1833), die Francis Lieber (1798-1872) ins Englische übersetzte. Bereits 1832 begann Tocqueville mit der Arbeit an seiner monumentalen Studie zur Demokratie in Amerika, die er 1835 in zwei Bänden veröffentlichte (De la dimocratie en Amerique). Danach plante er eine Arbeit, deren Arbeitstitel ,,L'influence de l'egalite sur les idees et les sentiments des hommes" lautete (Brief an John Stuart Mill vom November 1839, O-

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euvres ed. Mayer VI/1, 326), dann aber als zweiten Teil von De la democratie en Amerique 1840 publiziert wurde. Es handelte sich also nicht einfach nur um eine Fortsetzung des ersten Teils. Dort schilderte Tocqueville systematisch die politische Ordnung der USA unter besonderer Betonung ihrer demokratisierten Gesellschaft; im zweiten Teil gelangte er zu weitaus stärker verallgemeinernden Aussagen und entwarf eine später äußerst einflussreiche Assoziationstheorie. Im ersten Band stand die Analyse der Gefahren der Demokratie stärker im Vordergrund („Tyrannei der Mehrheit"), im zweiten die demokratischen Mittel, ihnen zu begegnen. In der Einleitung zum ersten Teil machte Tocqueville seine Absichten deutlich: er wollte anhand Amerikas als des augenblicklich am weitesten entwickelten demokratischen Landes der Erde das Modell der Demokratie als solches untersuchen. Da Tocqueville die Demokratisierung für das unausweichliche Schicksal auch der europäischen Welt hielt, bot Amerika einen Blick in die Zukunft Europas. Man konnte diese Entwicklung nur kanalisieren, nicht sie stoppen. Die Entwicklung beherrschbar zu machen setze voraus, die Demokratie in der Praxis zu verstehen. Die Demokratisierungsthese war zu Tocquevilles Zeit überraschend und stand vor allem im Widerspruch zum Misserfolg des demokratischen Gedankens nach der Juli-Revolution von 1830. Auch musste es wie eine Verkehrung der Rangfolge schienen, wenn man Amerika zum Vorbild Europas erklärte. Hegel hatte in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1830) Amerika im Kontext der Weltgeschichte als „Land der Zukunft" charakterisiert, das gegenwärtig nur den Widerhall der Alten Welt darstelle und mit Europa so lange nicht verglichen werden könne, als nicht der kontinentale Raum vollständig erschlossen sei und dadurch Konflikte durch Auswanderung in den Westen umgangen werden können (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Einleitung: Die Neue Welt). Amerika war aus europäischer Sicht ein ferner, aber kein unbekannter Kontinent mehr. Tocquevilles Amerika-Studie war nicht die erste und auch nicht die erste kritische Arbeit zur Neuen Welt. Solide Darstellungen des politischen Systems lagen bereits vor, so vor allem die gründliche Studie von Robert von Mohl (Das Bundes-Staatsrecht der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika 1824). Die konformistische Gewalt der Mehrheitsmeinung wurde schon vor Tocqueville diskutiert und zwar auch mit Bezug auf die USA. Stendhal (das ist Henri Beyle) nannte in seinem Roman Le rouge et le noir aus dem Jahr 1831 die öffentliche Meinung tyrannisch, und zwar sowohl in der französischen Provinz wie in Paris und auch in den USA (am Ende von Kap. 1). Der englische Schriftsteller Thomas Hamilton bereiste Amerika und veröffentlichte seine Eindrücke 1834 in dem Buch Men and Manners in America. Darin war von der Masse der Bevölkerung als eigentlicher Machtquelle die Rede: sie entscheide die Ämterverleihung wie auch die Verfassungsauslegung. Dem Volk müssten die Beamten schmeicheln, die Hamilton als Sklaven des Volkes bezeichnete. Zugleich äußerte sich Hamilton entrüstet über die anhaltende Versklavung der Schwarzen: Washington, der Regierungssitz eines freien Volkes, sei durch die Sklaverei geradezu geschändet (II 141). Tocqueville konnte ferner auf eine lange Tradition französischer Amerikareisender zurückgreifen. Schon die ersten Revolutionäre von 1789 wie Lafayette und Brissot de Warville waren in Amerika gewesen und ein publizistischer Konkurrent Tocquevilles, Chateaubriand, hatte 1826 mit Voyage en Amerique zum Genre beigetragen. Das analytische Instrumentarium von Tocquevilles Beschreibung der amerikanischen Gesellschaft und ihrer politischen Kultur zeigte die Rezeption von Montesquieu, worauf bereits Saint-Beuve in der Besprechung des ersten Teils des Amerika-Buches aufmerksam machte

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(Premiers Lundis 1836). Tocqueville hatte Montesquieu aufmerksam studiert (Richter 1969; 1970). Im Tagebuch zu seiner im Anschluss an sein Rechtsstudium unternommenen Sizilienreise wandte er die Klimatheorie Montesquieus fur den Vergleich Siziliens mit Frankreich in Hinblick auf Vor- und Nachteile der Parzellierung des Grundeigentums an (Mayer 1972, 89). Der Kulturvergleich unter Berücksichtung der unmittelbar das menschliche Verhalten prägenden Lebensumstände war also bereits als Methode erprobt, bevor er in die USA reiste. In welches Amerika reiste Tocqueville nun? Im zeitgenössischen Leatherstockings-Zyklus (von den Pioneers 1823 bis zum Deerslayer von 1841) beschrieb James Fenimore Cooper (1789-1851) ein Bild des amerikanischen Nordostens, in dem noch der Geist des Pioniers, der „frontier" und des unmittelbaren Naturerlebnisses atmete und Ethos und Lebenswelt der Menschen prägte, lange bevor der „Westen" diese Rolle übernahm. Die Welt des naturbelassenen Nordostens kannte Cooper noch aus seiner eigenen Kindheit in dem von seinem Vater begründeten Städtchen Cooperstown. Doch war dies bereits ein Schwanengesang auf eine Welt vor der Industrialisierung. 1825 wurde der Erie-Kanal fertiggestellt, der den Hudson mit den Oberen Seen verband, so dass die jährlich explosionsartig steigenden Handelsströme zum Mittleren Westen über New York City verliefen. Erst der Kanal machte diese Stadt zum eigentlichen Wirtschaftsmekka des Nordostens, darin Philadelphia endgültig den Rang ablaufend. Im American Democrat von 1838, nur drei Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes von Tocqueville, unterzog Cooper das gesellschaftlichen Ideal und die politische Ordnung Amerikas einer vernichtenden Kritik und beklagte den Erwerbsgeist und die Profitsucht. In den 1830er Jahren vollzog sich zudem die „Jacksonian Revolution", die Ablösung einer eher europäisch orientierten, an den Universitäten Neuenglands ausgebildeten politischen Elite, durch die Wortführer des einfachen Volkes, angeführt vom neuen Präsidenten Andrew Jackson, einem siegreichen Armeeführer. Der je nach Einzelstaaten unterschiedliche, oft an Steuerkraft oder Grundbesitz ausgerichtete Zensus wurde erst allmählich in der Zeit der Präsidentschaft Jacksons durch das allgemeine Männerwahlrecht (der Weißen) ohne Zensus ersetzt. Die Welle begann bei den jungen Staaten des Westens und erreichte schließlich auch die Gründerstaaten im Osten. Was Tocqueville als Demokratisierung analysierte war demnach eine relativ junge Erscheinung. Laut Tocqueville befanden sich sowohl Amerika wie Europa bereits im Zeitalter der Gleichheit, worunter er die überall zu beobachtende gesellschaftliche Wandlung der politischen und sozialen Lebensverhältnisse verstand. Tocqueville unterschied drei Idealtypen an Gleichheit (II 2, 1: 109): erstens die vollendete politische Freiheit unter gleichen gesellschaftlichen Bedingungen, wie sie in demokratischen Völkern zu finden ist; zweitens eine Art politische Gleichheit ohne politische Freiheit, die vorliegt, wenn alle Menschen unterschiedslos gleichgestellt sind, mit Ausnahme des Einen, der Herr aller anderen, und drittens schließlich die Gleichheit in der „bürgerlichen Gesellschaft", das ist die Gleichheit in dieser Lebensweise ohne Anteil an der Regierung. Mochten also die politischen Systeme Amerikas und Europas auch sehr verschieden sein, die Gleichheit machte sich überall bemerkbar und war zum eigentlich beherrschenden Faktor der Entwicklung geworden. Demokratisierung war in Tocquevilles Augen also keine nur die politischen Institutionen betreffende am Wahlrecht ablesbare Wandlung. Die institutionelle Sichtweise der klassischen Regierungslehre erachtete Tocqueville für zu vordergründig und er hielt sich auch nicht lange bei der Erörterung der Regierungsform auf nationaler Ebene auf. Zwar untersuchte er Beamtenwahl und Richterwahl, das Geschworenengericht, die Wahl des Präsidenten und der Gouverneure sowie viele

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andere institutionelle Einzelheiten. Diese Darstellung nahm jedoch einen verhältnismäßig kleinen Raum im Buch ein. Tocqueville hob statt dessen das Wirken der Demokratie in der Praxis der Selbstregierung hervor, insbesondere im lokalen Bereich, und ihre Auswirkungen auf die Mentalität des Amerikaners, die ihrerseits über die öffentliche Meinung bis auf die nationale Ebene der Politik durchschlägt. Um dies alles eingehend zu analysieren bedarf es laut Tocqueville einer „neuen Wissenschaft", einer Politikwissenschaft, die er mit seiner Studie über die Demokratie in Amerika begründen wollte (Hennis 1982). Demokratische Politik ist wesentlich von der demokratisierten Gesellschaft geprägt, weshalb die Politikwissenschaft zunächst die Auswirkungen der Demokratisierung auf die Gesellschaft erfassen muss. Viele von Tocqueville angesprochenen Probleme: die Mehrheitsherrschaft, die öffentlichen Meinung, die intermediären Institutionen, waren bereits bekannt; Tocqueville stellte sie in ein anderes Licht und bündelte sie zu einer Gesamtschau der Demokratie. Insbesondere schloss er die Lücke, die bei Rousseau zwischen volonte generale und volonte des tous existierte, indem er auf der gesellschaftlichen Ebene in Öffentlichkeit und Assoziationen (wie Parteien oder Bürgervereinigungen) die Vermittlung zwischen Einzel- und Allgemeinwillen am Werke sah. Was Rousseau als intermediäre Gewalten abgelehnt hatte, war in Tocquevilles Augen gerade das Mittel, mit welchem das amerikanische Volk trotz Repräsentation die Politik unmittelbar lenkte (I 2, 1). Unter Öffentlichkeit verstand Tocqueville nicht das Medium gelehrter Auseinandersetzung von Aufklärern, sie war ihm der Ort zahlloser Kommunikation gleichrangiger Bürger. Zu den Assoziationen als intermediären Organisationen zählte er neben die politischen Parteiungen auch und vor allem Zweckvereine und Bürgerbündnisse zur Verfolgung sozialer Ziele. Politik betreiben nicht nur Politiker, sondern in gewisser Hinsicht alle Bürger und in unterschiedlichen Formen und Institutionen. Nachhaltig wirksam war Tocquevilles Analyse der Gewohnheiten und Sitten. Er stand in der langen französischen Tradition, die mit der Moralistik (La Bruyere, Vauvenargues, La Rochefoucauld) begonnen hatte und bis zu Montesquieus Begriff der „mceurs" für Tocqueville abrufbereit zur Verfügung stand. Tocqueville verarbeitete diese Fäden zu einer detaillierten Studie von Ideen und Verhaltensweisen, aus deren Verzahnung ein der Demokratie eigentümlicher „Habitus" erwächst, die „Gewohnheiten des Herzens" wie die „geistigen" Gewohnheiten (I 2, 9: 332). Diese Gewohnheiten und Sitten sind das Bindemittel zwischen Gesellschaft und Politik, und zwar auf allen unterschiedlichen Ebenen der Kommunikation: in der assoziativen Praxis ebenso wie in der Öffentlichkeit. Sie erzeugen eine gewisse Homogenität der Bürger, die es ihnen erleichtert, miteinander zu sprechen und zu kooperieren. Dadurch erwachsen dem Individuum aber auch eigentümliche Gefahren, die Tocqueville als Despotismus der Demokratie bezeichnete. Aufgrund der Egalität der Individuen steht jedes Individuum vor der überwältigenden Macht der Öffentlichkeit, die überall eindringt und zugleich nicht zu fassen ist. Über die allgemeine Gesetzgebung und die Öffentlichkeit wird das Individuum mit der Mehrheitsmeinung konfrontiert, gerät unter Anpassungsdruck und droht, dem Konformismus zu erliegen. Zwar sind alle aufgefordert ihre Meinung zu sagen und viele verfügen über das Stimmrecht, aber die Mehrheit als der eigentliche Souverän schafft laut Tocqueville ein Umfeld, in welchem der Einzelne immer mehr darauf verzichtet, seinen freien Willen zu gebrauchen und immer mehr der Versuchung nachgibt, die Mehrheitsmeinung als eigene anzuerkennen. Die Bürger entwöhnen sich allmählich der freien Selbstbestimmung: Der Mehrheitsdespot „bricht den Willen nicht, sondern er schwächt, beugt und leitet ihn; er zwingt selten zum Handeln, steht vielmehr ständig dem Handeln im Wege; er

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zerstört nicht, er hindert die Entstehung; er tyrannisiert nicht, er belästigt, bedrängt, entkräftet, schwächt, verdummt und bringt jede Nation schließlich dahin, dass sie nur noch eine Herde furchtsamer und geschäftiger Tiere ist, deren Hirte die Regierung" ist (II 4, 6: 343). Dies nannte Tocqueville die „Tyrannei der Mehrheit" (I 2, 7: 289-300). Tocqueville wollte mit der Tyrannei der Mehrheit nicht zur sattsam bekannten Debatte über die Gefahren der Nivellierung und des Plebejismus beitragen. Denn so sehr er diese Gefahr betonte, er sah darin auch eine für den Erhalt der Demokratie entscheidende Wirkung: Die Unterlegenheit des Individuums gegenüber der Mehrheit zwingt es, sich mit anderen Individuen zu verbünden und die gemeinsamen Interessen zu organisieren und dies ist die Antriebsfeder zur Partizipation der Bürger. Tocqueville nannte sie das wohlverstandene Eigeninteresse, das „interet bien entendu" (II 2, 8: 138). Diesen Ausdruck verwendete schon Benjamin Constant (Vom Geist der Eroberung 1814 II 10), und zwar im Sinne des eigentlichen Interesses des Einzelnen, das dieser oft genug nicht zu erkennen vermag. Tocqueville verstand darunter den Zusammenhang von Verfolgung persönlicher Interessen und gemeinschaftlichem Engagement. Alleine und auf sich gestellt vermag das Individuum nichts zu bewerkstelligen, daher muss es lernen, sich zu assoziieren. Das hilft, die Gefahren der egalitären Demokratie zu moderieren. Tocqueville räumte ein, dass das wohlverstandene Eigeninteresse als ethische Anforderung weniger anspruchsvoll ist als die Tugendforderung der klassischen politischen Theorie, dafür ist es aber wesentlich leichter adaptierbar und erheblich verbreiteter. Im Zeitalter des Individualismus laufe der Appell an die heroische Tugend zwangsläufig ins Leere und sei eine sentimentale Erinnerung. Das wohlverstandene Eigeninteresse dagegen entwickelt das Individuum aus eigenem Antrieb und damit freiwillig. In Tocquevilles Beobachtung gewinnt der Demokrat nicht aus dem Buchwissen seine Kenntnisse bezüglich seines Daseins als Bürger, sondern aus der Lebenspraxis. So drehte er den europäischen Spott über die geringen wissenschaftlichen und literarischen Fertigkeiten der Amerikaner zu einer Lobeshymne auf den amerikanischen Pragmatismus und die dort praktizierte, unverbildete Lebensklugheit. Diese berühmte Theorie des wohlverstandenen Eigeninteresses ist zugleich nach Hobbes das wichtigste Beispiel des methodologischen Individualismus, in welchem die politische Theorie von der politischen Psychologie des Einzelnen ausgeht (Elster 1993). Tocqueville sah in der freiwilligen Tätigkeit in zivilen Vereinigungen, einschließlich der Betätigung in politischen Vereinen und Parteien, die einzige Möglichkeit der individuellen Freiheit, sich gegen den Mehrheitsdruck zu Wehr zu setzen. Das Individuum muss sich mit Gleichgesinnten verbünden. Auf diese Weise lernt der Bürger sein persönliches Interesse mit dem Interesse anderer Bürger in Einklang zu bringen und erfährt zugleich, wie sehr Kooperation sein persönliches Interesse fördert. Dieses Engagement vermittelt neben der Erfahrung und Praxis auch den Sinn dafür, in politischen Kontexten auf Zusammenarbeit zu vertrauen statt auf Doktrinen. Die Individuen lernen, große Menschenmengen selbst zu ordnen und zu organisieren, ihre Kräfte einem gemeinsamen Ziel zu unterstellen, sich punktuell unterzuordnen. Diese Fähigkeiten nannte Tocqueville „art de s'associer" (II 2, 5), eine Kunst, welche die Voraussetzung jeder Form der Selbstregierung ist und so auch der nationalen politischen Ebene zugute kommt (II 2, 7: 133). Tocqueville unterschied zwischen natürlichen und künstlichen Assoziationen: Vereine und vergleichbare Organisationsstrukturen auf Mitgliederbasis zählte er zu den künstlichen Assoziationen, die Gemeinde sah Tocqueville als die natürliche Assoziation par excellence. Er verstand darunter die townships und nicht die im Entstehen befindlichen städtischen Metro-

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polen wie Philadelphia, Baltimore oder New York. Tatsächlich zeigen Zählungen kleinstädtischer Assoziationsgründungen in Massachusetts und Maine, dass zwischen 1820 und 1830 jährlich 70 solcher Vereinigungen gegründet wurden (Skocpol 2001, 605). Laut Tocqueville bringen natürliche Assoziationen Menschen aufgrund der tatsächlichen Lebensumstände zusammen; künstliche Assoziationen werden durch freiwillige Mitgliedschaft gegründet und erhalten. Letztere können anders als die natürlichen Assoziationen große Zahlen aufnehmen und durch überregionale Organisation und Konvente sogar zu nationalen Bewegungen auswachsen. In der Demokratie müssen künstliche Assoziationen sogar zahlreiche Mitglieder haben, um Macht zu besitzen (II 2,5). Das von Tocqueville wiederholt herangezogene Beispiel war die Anti-Alkohol-Liga, deren Mitgliederzahl er auf mehrere hunderttausend Menschen bezifferte (II 2, 5). Ferner müssen Assoziationen ihre Meinungsbildung fokussieren und zugleich multiplizieren, wozu ihnen eigens gegründete Zeitungen dienen (II 2, 6), die deshalb auch nicht der Zensur unterliegen dürfen. Neben der Pressefreiheit zählte Tocqueville die Vereinigungsfreiheit zu den Einrichtungen, die für die Erhaltung der politischen Freiheit elementar sind. Droht aus dem Schöße des Assoziationswesens nicht eine anarchische Kraft zu erwachsen, so fragte sich Tocqueville selbst (I 2, 4)? In diesem Sinne prognostizierte Tocqueville auch für das anbrechende Zeitalter der Demokratie in Europa die Weggabelung, entweder der Anarchie oder dem Despotismus zu verfallen (II 4, 1), wenn man nicht die Kunst der Selbstregierung wesentlich mit Hilfe eines moderierten Assoziationswesens erlernt. Der Kontraktualismus verlangte die Assoziierung der Menschen in Form ihrer Vergesellschaftung auf politischer Ebene, die Französische Revolution postulierte die eine und unteilbare Nation und verbot beispielsweise die Bildung von Gewerkschaften (Loi Chapelier 1791). Mittlerweile hatte aber die ganz Europa erfassende Strömung der Romantik mit ihrem - zuweilen verklärenden - historischen Blick auf das Mittelalter auch den Sinn für die Vielfalt der Lebenswelten und den Partikularismus der Ordnungsmodelle wiedererweckt (Boesche 1987). An Stelle des Gesamtplans einer Gesellschaft und ihrer rationalen Gliederung in Verwaltungseinheiten erkannte man im Chaos und der historischen Kontingenz der Entstehung zahlloser sozialer und politischer Gebilde auch Möglichkeiten und Chancen der Pluralität. Die Romantik verband sich an manchen Stellen mit den Restaurationsbestrebungen, die sich mit Verweis auf die historische Dignität von Monarchie und Katholizismus gegen die Volkssouveränität verwahrten und eine andere Form von Legitimität entgegenstellten. Doch wie die Vorlesungen von Thiers Tocqueville gelehrt hatten und die literarische Romantik unter Beweis stellte, konnte man mit Hilfe der Geschichte die verschiedenen Legitimitäten in ihrem historischen Ablauf verknüpfen zu einer großen Narration, in welcher die monarchischen Leistungen als Erbe angenommen werden konnten, ohne deswegen Monarchist sein zu müssen. Aus der Sicht von Hobbes oder Rousseau bedeutete Assoziierung innerhalb des Staates immer auch eine Parzellierung der politischen Ordnung und eine private Bündelung von Ressourcen, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung stellen konnte. Als Faktionen oder politische Parteien erfreuten sich solche Assoziationen in der politische Theorie keines guten Rufes. In Amerika war die von Parteien drohende Gefahr besonders groß, da mit der Wahl in ein Amt die Besetzungsmöglichkeit administrativer Stellen verbunden war, wie es zu Tocquevilles Zeit das junge, durch Jackson eingeführte „spoils-system" demonstrierte: der Wahlsieger besetzte tausende von Stellen in der Verwaltung neu, und zwar meist mit Anhängern seiner Partei. Daher verfügten siegreiche Parteien trotz knapper Mehrheiten über große mate-

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rielle Ressourcen, denen die Minderheiten nur ihre „moralische Kraft" entgegenstellen konnten und sich vereinigen müssten (12,4). Politische Parteien behandelte Tocqueville als Teil seiner allgemeine Theorie der Assoziationen und betrachtete ihre Bedeutung nach dem jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Umfeld ihres Wirkens. Europäische Parteien verglich Tocqueville mit Armeen, die ihren Führern wie Soldaten gehorchen (12, 4: 224), ein Umstand, der in Amerika stärker durch den Unabhängigkeitsgeist moderiert sei. Stellen Parteien auch eine Gefahr dar, so können sie gleichwohl gegen die noch größere Gefahr der politischen Despotie nützlich sein: Durch den Gebrauch einer „gefährlichen Freiheit" lernen die Amerikaner die „Gefahren der Freiheit" zu verringern (II 2, 7: 136). Tocquevilles soziologische Sichtweise zeigte ihm, dass auch egalitäre Gesellschaften soziale Differenzierungen mit politischen Auswirkungen kennen. Mit der Egalität fallen nicht die Schranken sozialer Differenzierung, sondern diese erleben einen Gestaltwandel. An die Stelle der Erbaristokratie tritt in einer demokratischen Gesellschaft die Funktionselite, eine neue Form der „Aristokratie". Tocqueville benutzte den aristotelischen Begriff der Aristokratie als Kernelement seiner neuen Politikwissenschaft (Wolin 2001, 190-191). Auch der Erbadel kann in nicht-egalitären Gesellschaften eine aristokratische Rolle erfüllen, was Tocqueville zufolge bis zu einem gewissen Grade im vorrevolutionären Frankreich der Fall gewesen war, als nur der Erbadel ein Gegengewicht zur absoluten Stellung des Königs bot und die Funktion übernommen hatte, die in Amerika nun die Assoziationen einnahmen: Ressourcen und Personal zu verknüpfen und unter ein gemeinsames Ziel zu stellen (I 2, 4). Zur neuen Aristokratie in Amerika zählte Tocqueville Anwälte und Richter, die dem mitunter despotischen Gestaltungswillen der Mehrheit die formalen und prozeduralen Hemmungen des Rechts entgegensetzen und hierbei einen Habitus ausbildeten, der sie zu besonneneren und gesetzestreueren Akteuren macht, als es die öffentliche Meinung je sein kann (I 2, 7). Die Suche nach solchen Aristokratien war in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Merkmal vieler politischer Theorien, welche die Freiheitsidee dem Zugriff der Demokratie wie der Monarchie entziehen wollten (Kahan 1992). Tocqueville sah in der Ausbildung von Eliten keinen Gegensatz zur Demokratieidee; Aristokratie und Demokratie waren analytische Termini, die sich bei Tocqueville je nach institutionellem Arrangement und sozialer Struktur ergänzen konnten (Manent 1982, 29-50). Zwischen dem ersten und dem zweiten Band der Demokratie in Amerika begann Tocquevilles politische Karriere im Parlament als Abgeordneter in der Chambre des Deputes für den Wahlbezirk Valognes. In einem Brief aus dem Jahr 1836 an seinen Jugendfreund Eugene Stoffels entfaltete Tocqueville so etwas wie sein politisches Programm, worin er einen neuen Liberalismus forderte (Brief vom 24. Juli 1836, Oeuvres ed. Beaumont V 428-431): Er distanzierte sich darin von Ordnungsvorstellungen, die den freien Willen und die Gesetze „verschacherten", um eine ungestörte Nachtruhe zu sichern, womit er jene bürgerlichen Richtungen meinte, die Lassalle später als Gefolgsleute einer „Nachtwächteridee" des Staates schimpfte (Arbeiterprogramm 1862: Reden und Schriften 55). Tocqueville wollte als Liberaler einer neuen Art gelten, ohne mit den Demokraten verwechselt zu werden. Als er im März 1837 das erste Mal gewählt wurde, stellte sich die Frage, auf welchem Sitz der Abgeordnetenkammer er Platz nehmen sollte. Die Platzwahl im Parlament wurde nicht von einem Ältestenrat wie heute reglementiert. Sie signalisierte in der Öffentlichkeit die politische Zugehörigkeit des Abgeordneten. Das noch heute geläufige Links-Rechts-Schema der politischen Zugehörigkeit geht auf die Anordnung

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der Abgeordnetenplätze im französischen Parlament der ersten Restaurationszeit zurück. Das große englische Vorbild, die Mutter aller Parlamente, kannte und kennt dieses Schema nicht in der gleichen Weise: die dortige Trennung nach Regierungs- und Oppositionssitzen sieht ein duales System zweier gegenüberliegender Lager vor, zwei Schwertlängen voneinander entfernt. Die Französische Revolution trennte im Konvent zwischen dem „Berg" und der „Ebene": der Berg, also die oberen Sitzreihen, wurde in der Nähe der Tribüne (der Volkesstimme) von den Jakobinern eingenommen, die Ebene dagegen, oder auch aus der Sicht des doktrinären Gipfels: der „Sumpf genannt, besetzten die gemäßigten Kräfte. Nach 1815 war die Fraktionierung komplexer geworden. Zwischen extremen Republikanern, ultraloyalen Royalisten, Anhängern eines anderen Familienzweigs der Bourbonen, die Anspruch auf die legitime Thronfolge ihres Favoriten erhoben und diversen bürgerlichen Vertretern kam es zu wechselnden Fronten, die schließlich in der Öffentlichkeit nach der Platzierung im Parlament nach links und rechts (aus der Perspektive des Kammerpräsidenten) benannt wurden, mit einem Zentrum zwischen beiden Lagern (Gauchet 1996, 248-249). In Tocquevilles Fall gab es Sessionen, in welchen auf der Rechten viele Plätze frei blieben und mehr Abgeordnete Plätze auf der linken Hälfte einnehmen wollten, als vorhanden waren. Tocqueville wusste, wie sehr die bloße Platzwahl aus der Sicht der Wähler mit einer politischen Selbstzuordnung gleichgesetzt wurde und wie rasch sich eine solche Zuordnung von den politischen Stellungnahmen des Abgeordneten zu einem ständig erinnerten Gesamtbild seiner politischen Position verselbständigen konnte. Er wollte der regierungskritischen „Linken" zugezählt werden (Jardin 1991,257). 1839 war Tocqueville Berichterstatter zur Sklavenbehandlung in den Kolonien, ferner Mitglied der Kommission zur Reform des Gefangniswesens und 1846 in jener zur Behandlung des afrikanischen Kolonialwesens, wofür er zwei Reisen nach Algier unternahm. Tocqueville sah die Revolution des Jahres 1848 kommen. In seiner Kammerrede vom 27.1.1848 warnte er nachdrücklich vor dem Versagen der Regierung, welche einen Aufstand provozieren mochte. Nach der Revolution von 1848 war Tocqueville schließlich für wenige Monate Außenminister. Als Louis Napoleon ihn aus der Regierung entließ, begann Tocqueville im Juli 1850 mit der Niederschrift seiner Souvenirs, die er Anfang 1851 in Sorrent abschloss. Danach widmete er sich hauptsächlich seiner Studie Der alte Staat und die Revolution, die 1856 erschien. In diesen beiden Bänden finden sich Überlegungen zur Politik, die in dem Amerika-Buch nicht einmal angedeutet wurden und die fur Tocquevilles eigentliches politikwissenschaftliches Vermächtnis gehalten werden (Hadari 1989). Tocquevilles Arbeit an einer neuen politischen Wissenschaft war mit dem frühen Werk zur Demokratie in Amerika also nicht beendet. In einer viel später gehaltenen Rede Über die politischen Wissenschaften machte Tocqueville auf die Grenzen ihrer Wissenschaftlichkeit aufmerksam (3.4.1852, ed. Bluhm 49-59). Das Wesen des Menschen sei der konstante Gegenstand der Politik als Wissenschaft, nicht dagegen die Kunst des Regierens. Sie ist auf zahlreiche andere Disziplinen angewiesen wie die allgemeine Staatsphilosophie, das Völkerrecht, Disziplinen zu Einzelgebieten wie dem Strafrecht, Ökonomie sowie der juristischen Kommentarliteratur zu Verträgen und Institutionen. Alle letztgenannten Disziplinen spielten in De la Democratic en Αηιέrique eine nur untergeordnete Rolle. Im Vorwort von Der alte Staat und die Revolution erklärte Tocqueville gleichwohl, dass die Prinzipien des Demokratiebuches weiterhin Bestand hätten und untersuchte mit Blick auf Frankreich, wie sich der Geist des Despotismus trotz der Französischen Revolution erhalten konnte. Tocqueville zog einen Bogen von der Zeit des ancien regime bis zum Regime Louis

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Bonapartes. Die Hauptursache für die so unterschiedliche Entfaltung der Freiheitsidee in den USA und in Frankreich sah Tocqueville im französischen Zentralismus. Ohne den Zentralismus hätten die einst freien Städte Frankreichs die gleichen Segnungen für die politische Freiheit gebracht wie die amerikanischen townships (Der alte Staat 62), so aber glichen sie einander wie der Lebende einem Toten: die Leiber ähneln sich, doch nur einer ist noch lebendig. Tocqueville erkannte auch im Selbstverständnis der Intellektuellen einen wichtigen Unterschied: Frankreichs Intellektuelle besaßen anders als in Großbritannien und im kolonialen Amerika kaum politische Praxis, die Kluft zwischen theoretischer Phantasie und praktischer Erfahrung war in Frankreich am größten. Vor allem aber blieb die zentralistische Verwaltung bestehen, der sich auch die radikalste Revolution bediente. So änderte die Revolution kaum etwas, außer den Kopf der Freiheit auf einen servilen Rumpf zu setzen (Der alte Staat 204). Diese bissige und mit Blick auf den Bonapartismus geübte Kritik griff auf und vertiefte, was Tocqueville bereits 1833 im Tagebuch seiner ersten Englandreise notiert hatte (Voyage en Angelterre 1833, Oeuvres Mayer V/2: 35): Frankreich sei aufgrund der Abwesenheit lokaler Eigenständigkeit und mangels der Führung lokaler Aristokraten, die sich im ancien regime in eine Kaste verwandelt hatten und aller politischen Unabhängigkeit entbehrten, anfällig für die Tyrannei des Staates gewesen und fiel so schließlich der Tyrannei einer Mehrheit zum Opfer, die sich des Staatsapparates bemächtigte. Repräsentation

in demokratischer

Umgebung: John Stuart Mill

Tocquevilles Rezeption in England wurde erheblich von John Stuart Mill (1806-1873) befördert, der beide Bände der Demokratie in Amerika ausführlich rezensierte. Die beiden wichtigsten Theoretiker eines liberalen Demokratieverständnisses im 19. Jahrhundert waren befreundet, so sehr sie sich auch in der Anlage ihrer politischen Reflexion unterschieden: Tocqueville arbeitete historisch-soziologisch, Mill war Philosoph, Logiker, Ökonom. Sein Vater James Mill (1773-1836), der Freund Jeremy Benthams, wollte aus John Stuart den vollendeten Utilitaristen machen. So zum Ziel, man muss sagen: zum Opfer eines Erziehungexperimentes geworden, erhielt John Stuart rigorosen Unterricht in alten Sprachen, Natur- sowie Sozialwissenschaften. Erst sein Nervenzusammenbruch 1826 befreite ihn halbwegs aus den Klauen der väterlichen Ambitionen. Nun konnte er sich auch geistesgeschichtlichen Richtungen wie der Romantik widmen, bekannte sich aber als Mitglied der Utilitarian Society weiterhin zur Philosophie seines Vaters, wenn auch in moderierter Form. John Stuart Mill studierte in Frankreich. Beruflich fand er Arbeit in der East India Company als Junior Clerk (1823), wo er 1856 zum Senior aufstieg und eine relative finanzielle Unabhängigkeit genoss. Er gehörte auch eine Zeit lang dem Unterhaus an, war aber nie ein Parteipolitiker und blieb daher in seinen zentralen Forderungen Zeit seines Lebens erfolglos. Mills philosophische Karriere erreichte ihren ersten Höhepunkt mit der Veröffentlichung des Systems der Logik (1843). Es kamen 1848 die Grundsätze der politischen Ökonomie hinzu und in rascher Folge die in der politischen Theorie einflussreichsten Werke On Liberty (1859), Utilitarism (1861) und die Considerations on Representative Government (1861). Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss hatte seine Liason mit Harriet Taylor, die er 1830 kennen gelernt hatte, aber erst 1851 nach dem Tode ihres Mannes heiraten konnte. In einer intensiv geführten Korrespondenz stand Mill in engem Kontakt zu zahlreichen zeitgenössischen Autoren, die er teilweise auch persönlich kannte, darunter neben Tocqueville und Auguste Comte auch George Grote. Mills Rezensionen von Tocqueville Demokratiebü-

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ehern (Freeden 1996, 154-165) - er besprach die beiden Bände der Democratie en Amerique auf zusammen etwa 100 Druckseiten, die jeweils noch im selben Jahr der Vorlage erschienen (1835, 1840) - standen im Zeichen der allgemeinen Demokratiekritik. Er interessierte sich mehr für das Problem der Tyrannei der Mehrheit als für die Assoziationslehre. Ein Grund hierfür wird auch der Zeitabstand zwischen dem Erscheinen des ersten und des zweiten Bandes gewesen sein. Der erste Band machte den Ausdruck „Tyrannei der Mehrheit" in der politischen Begriffswelt populär und indizierte eine grundsätzlich skeptische, wenn nicht gar abwehrende Einstellung Tocquevilles zur Demokratie, wohingegen der zweite Band deutlicher die Vorzüge der Demokratie thematisierte und auch die Möglichkeiten debattierte, konstruktiv auf die Gefahren der Demokratie zu reagieren. Trotz einiger bemerkenswerter Differenzen äußerte sich Mill begeistert über das Buch. Das Konzept, anhand einer Studie über die fernen USA Aufschluss über die europäische Zukunft zu gewinnen, begrüßte Mill enthusiastisch. Mit Vorliegen des zweiten Bandes unterzog Mill das Gesamtwerk in der Edinburgh Review einer erneuten Erörterung. Dort betonte er im Vergleich zu seiner ersten Rezension sogar noch die Gefahren der Demokratie. Der starke Eindruck, den Tocqueville auf Mill machte, kann nicht über die Grenzen ihrer Übereinstimmung hinwegtäuschen. Für Tocqueville war Amerika ein Modell, aber keine Vorlage für die Sicherung der Freiheit. So wie er am ancien regime Frankreichs die freiheitssichernde Funktion der Erbaristokratie schätzte, so pries er in England die kommunale Selbstverwaltung. Tocqueville hatte bereits auf seiner Rückreise von Amerika zusammen mit Beaumont England besuchen wollen, um die englischen Wurzeln Amerikas, seiner politischen und gesellschaftlichen Verfassung aufzusuchen, aber eine Cholera-Epidemie hatte ihn davon abgehalten, so dass er erst 1833 und erneut 1835 England besuchte. Dabei studierte er besonders die englische Tradition der örtlichen Selbstverwaltung, des Friedensrichters und der regionalen Gliederung, die gerade nicht rationalen Kriterien folgte (Voyage en Angleterre 1833; 1835 OC VIII). Ihre historisch begründete Zusammensetzung bot für Tocqueville die Möglichkeit der Identifikation der Menschen mit ihr. Er kritisierte an den englischen Radikalen, dass sie mit dieser Tradition brechen wollten und sah ihre politische Tendenz in Richtung Zentralisierung und willkürlich-rationale Strukturierung gehen. Während Tocqueville der Geschichte und ihrer Erblast positive Seiten abgewann, erblickte Mill in ihr nur den Ballast vergangener Klassenherrschaft, die als „sinister interest" definiert wurde und im Gegensatz zum allgemeinen Wohl des Landes stand, dem oberstem Maßstab im Denken und Handeln der Utilitaristen. Es gebe nicht einmal ein englisches Wort für Tocquevilles französischen Ausdruck der „commune", meinte Mill. Dies war freilich eine maßlose Übertreibung, da die überkommene englische Tradition der Gliederung in Grafschaften sogar den amerikanischen Abkömmlingen den Begriff des „county" geliehen hatte, wie ihn auch Tocqueville verwendete. Mill blieb ein Kind des englischen Rationalismus. Wenn Mills Demokratietheorie trotz seiner frühen Demokratiekritik als eine Art Modernisierung der athenischen Demokratieideals gesehen wird (Urbinati 2002), so wegen seiner Rezeption von Grotes historischen Forschungen. George Grote (1794-1871) hatte sich wie gezeigt an der Debatte zur Parlamentsreform beteiligt (Statement of the Question of Parliamentary Reform 1821) und war 1831-1842 Mitglied des Unterhauses. Er stand Ricardo und den Utilitaristen nahe. Seine vielbändige History of Greece (I und II: 1846, III-X: 1847-1856) diskutierte u.a. die Nachteile und Vorzüge der demokratischen Institutionen in Athen. Grotes Auffassung wich von der überwiegenden Mehrheit der Althistoriker ab, wenn er betonte, dass der Wert der direkt-demokratischen Partizipation des Volkes in der praktischen Erzie-

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hung desselben bestand. Die Althistorie lehnte mehrheitlich die politische Demokratisierung ab (Näf 1986) mit Hinweis auf die Mängel der athenischen Demokratie, die das Leitbild der Demokratie bei Anhängern und Gegnern bis zum 19. Jahrhundert blieb (Roberts 1994; Münkler/Llanque 1999). Grote betonte zwar die Gefahren politischer Entscheidungen, die in Volksversammlungen zustande kommen, doch er hob auch die erzieherische Ausbildung der Bevölkerung hervor, die aus dieser Tätigkeit erwuchs. Darin sah Grote die große Nähe der modernen Jury-Gerichte im angelsächsischen Sprachraum zu den Gerichten Athens. Zu der erzieherischen Funktion der Demokratie gesellte sich wie in Athen die Möglichkeit, die Herausbildung einer professionellen Oligarchie zu vermeiden. In diesem Punkt unterstützte ihn John Stuart Mill in seiner Rezension der History of Greece aus dem Jahr 1853 in der Edinburgh Review. Die athenische Demokratie habe aufgrund ihrer Sklavenhaltung einen schwerwiegenden Makel und könne genauso wenig eine echte Demokratie genannt werden wie die USA, weil in beiden Fällen kein allgemeines Wahlrecht herrsche; aber Athen sei insofern eine Demokratie gewesen, als in ihr die „multitude", bestehend aus den armen Teilen der Bevölkerung, selbst regierte. Hiergegen ließe sich zwar vieles einwenden, aber nach wie vor unerreicht sei das damalige Ausmaß der „political education" gewesen, das die Bevölkerung in den diversen Partizipationsformen erhielt und die politischen Energien des Patriotismus, die zu einer auch in der Moderne nicht mehr erlebten Identifizierung des Individuums mit den politischen Projekten der Allgemeinheit geführte hatte (534-535). In der Tradition der Politischen Ökonomie sah Mill sein eigentliches Erbteil, dem er mit seinem ersten großen Werk, den Principles of Political Economy von 1848 huldigte. Er sprach sich klar gegen den Staatsinterventionismus in wirtschaftlichen Fragen aus (II 11), diskutierte aber im Kapitel „Futurity of the Labouring Classes" (1848 IV 7) auch Möglichkeiten, die arbeitende Bevölkerung in den Stand zu setzen, sich politisch zu beteiligen. Unter dem Eindruck der kooperativen Vereinigungen der Arbeiter in Frankreich nach 1848 (Vorwort zur 3. Aufl. vom Juli 1852) kam Mill zu dem optimistischen Ergebnis, es gäbe eine Art „spontaneous eduction", die viele unterschiedliche Wurzeln habe: die Erwachsenenbildung, die gemeinsamen politischen Beratungen der Tagespolitik, die Gewerkschaftsbewegung, die politische Agitation: sie alle wirkten zusammen, um so etwas wie einen „public spirit" in der „mass" bzw. der „multitude" zu erwecken (IV 7, 2). Selten hat ein bedeutender Autor der politischen Theorie diesen beiden Grenzbegriffen eine so positive Zukunft prognostiziert. Der

Bonapartismus-Schock

Die europäische Aufbruchsstimmung von 1848 wich der Ernüchterung und Desillusionierung, als Louis Bonaparte zunächst mit demokratischer Legitimation das französische Parlament ausschaltete und sich schließlich zum Kaiser proklamieren ließ. Das mit revolutionären Mitteln durchgesetzte allgemeine Männerwahlrecht von 1848 verhalf einem Hochverräter und Abenteurer zum Sieg und führte mit demokratischer Zustimmung zur Alleinherrschaft und zur eigenen Selbstabschaffung. Die Besorgnisse über den verheerenden Einfluss der Demokratie auf die Politik schienen ihre moderne Bestätigung zu erhalten. Die Demokratie war zum Sprungbrett für eine neue Variante der Regierung geworden: die plebiszitär legitimierte, autoritäre Exekutive (Wippermann 1983). Louis-Napoleon Bonaparte, Neffe Napoleon Bonapartes, hatte 1836 und 1840 mit dilettantischen Staatsstreichversuchen in Mantel- und Degenmanier seine politischen Ambitionen offenbart, musste ins Exil gehen und wurde in Abwesenheit in einer Nachwahl vom 4.6.1848

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in die Nationalversammlung gewählt. Die Verfassung von 1848 sah einen demokratisch gewählten Präsidenten vor. Bonaparte operierte mit demagogischen Mitteln, die an die demokratische Praxis des alten Athen erinnerten. Völlig unerwartet und mit einem verblüffend deutlichen Ergebnis wurde Napoleon zum Präsidenten gewählt (mit 5,4 Mill. Stimmen gegen 1,4. Mill für Cavaignac, den eigentlichen Favoriten; Lamartine, das Idol zu Beginn der Revolution mit einem der besten Wahlergebnisse bei der Wahl zur Nationalversammlung, erhielt nur noch 8000 Stimmen). Nun entbrannte ein Kampf zwischen Parlament und Präsidenten. Das Gesetz vom 31.5.1850 schloss der Armen vom Wahlrecht aus und verminderte die Zahl der Wahlberechtigten von 9,6 auf 6,8 Millionen. Damit reagierte die liberale Führung des Parlamentes auf die plebiszitären Erfolge Bonapartes, der sich im Gegenzug zum Anwalt des demokratischen Wahlrechts stilisierte (Ende September 1851). Als das Parlament eine Aufhebung der Wahlrechtseinschränkung ablehnte, führte Bonaparte den Staatsstreich durch (2.12.1851), der nach einigem Widerstand in Paris und der Provinz in einem Plebiszit vom 20. und 21. 12. 1851 mit gewaltiger Mehrheit (7,5 Mill. Befürworter, 640000 Neinstimmen, 1,5 Mill. Enthaltungen) legitimiert wurde. Die neue Verfassung vom 14.1.1852 und das anschließende Plebiszit vom 20.11.1852 (7,8 Millionen gegen 250000) brachten die Wiedereinführung des Kaiserreichs. Bonapartes Staatsstreich regte einen Strom politischer Reflexion an. Zum einen beeinflusste der Bonapartismus den Sozialismus (siehe dort). Ferner erschienen Arbeiten, die sich für die machtpolitischen Abläufe und ihre sozialen Hintergründe interessierten. Pamphlete wie das von Auguste Romieu (L'ere des cesars 1850, schon ein Jahr später ins Deutsche übersetzt) zeichneten ein düsteres Bild, in welchem die französischen Vorgänge als Vorbote einer gemeineuropäischen Entwicklung interpretiert wurden. Differenzierte Studien von Constantin Frantz und Walter Bagehot beleuchteten das Problem der machtpolitischen Entwicklung und fragten, welche Lehren daraus für die politische Theorie zu ziehen seien: war der Bonapartismus eine Weichenstellung, Elemente der republikanischen Diktatur aufgreifend, um ein korruptes Parlament zu neutralisieren und den Appell an das Volk zu revitalisieren oder war er eine Form der Tyrannis, die eine bestimmte Situation ausnutzte, um die eigene Macht zu stabilisieren, aber nicht im Schutz der Dunkelheit, sondern in aller Öffentlichkeit? Für das Verhältnis liberaler Autoren zur Demokratie und zum Volksbegriff bedeutete das Scheitern der Revolution in Frankreich wie in Deutschland von 1848 einen Schock; das Bürgertum hatte sich als eigentlicher Repräsentant der Gesamtbevölkerung verstanden, doch zum einen zeigten sich die Monarchien widerstandskräftig genug, notfalls auch mit militärischer Gewalt revolutionäre Gärungen zu zähmen (Preußen, Österreich), zum anderen konnte der politische Führungsanspruch des Bürgertums demokratisch überflügelt werden, wie der Fall Bonapartes zeigte, der mit demokratischer Legitimation das Parlament ausmanövrierte und schließlich kaltstellte. Noch heute fällt es schwer, die Eigentümlichkeit des Bonapartismus, sein Zustandekommen und seine Herrschaftsweise, zu erklären (Hazareesingh 1998, 29-95), zumal ihm die Dritte Republik nachfolgte. In welchem Verhältnis standen hier Demokratie und Ordnung zueinander, bzw. Öffentlichkeit zur Verwaltung und zur Armee? Tocqueville hatte bereits in der Democratic en Amirique von den Gefahren des Umschlagens der Demokratie in die Despotie gesprochen (II 4, 6) und dabei den Bonapartismus des ersten Napoleon vor Augen gehabt. Anhand dieser Vorlage arbeitete er sich nun am Regime des dritten Napoleon ab (Richter 2004). Tocqueville wurde während des Staatsstreichs verhaftet und begann, wie erwähnt, nach seiner Freilassung an dem Buch zum Ancien regime (1856), eine Kritik an den politi-

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sehen und intellektuellen Strukturen, die eine solche Entwicklung mit Louis Napoleon an ihrem Ende ermöglichten. Er machte die Tradition des administrativen Zentralismus für den Despotismus auf demokratischer Grundlage verantwortlich, ein Vermächtnis des ancien regime, das die Revolution keineswegs zerschlagen, sondern als Instrument fortentwickelt hatte. In Großbritannien verfolgte Walter Bagehot (1826-1877) die Ereignisse in Paris mit großer Aufmerksamkeit und veröffentlichte eine Reihe von Essays über das Regime Louis Napoleons von seinen Anfangstagen nach dem Staatsstreich bis zum Kollaps im Krieg gegen Deutschland. Er gewann erst allmählich einen Begriff davon, was geschehen war. In den ersten Essays, die noch unter dem frischen Eindruck der Ereignisse standen, widerstand Bagehot dem Bedürfnis, die Vorgänge pauschal zu verurteilen, wie es sein englisches Publikum sicherlich erwartete: Warum wurde dem Despotismus und der Deportation der Sozialisten so wenig Widerstand geleistet, selbst in der öffentlichen Meinung? Bagehot machte dafür zunächst umständlich den französischen Nationalcharakter verantwortlich (Letters on the French coup d'Etat of 1851, 1852). Erst später brachte er die neuen Strukturen auf die Formel, dass Louis Napoleon ein „Benthamite despot" sei (Caesarism as it now exists 1865 Works IV, 111): seine Legitimation beruhe trotz der Kaiserkrone nicht auf der Salbung, sondern auf der Umsetzung der Wünsche des Volkes. Für das Glück der größten Zahl nimmt das Volk auch das Unglück einer Minderheit politisch Prinzipientreuer in Kauf. Die Voraussetzung dieser Art von Herrschaft war die Funktionsfähigkeit der französischen Bürokratie, die Bagehot im europäischen Vergleich für beispiellose effizient erachtete. Das System des „Cäsarismus" verstand Bagehot als plebiszitäre Überflügelung der parlamentarischen Repräsentation: Es missbrauchte das Vertrauen der am wenigsten Gebildeten, um die vernünftigen Argumente der Gebildeten in Schach zu halten im Namen populärer Wünsche (Caesarism as it now exists 113; The Collapse of Caesarism 1870, Works IV, 156). Der „demokratische Despotismus" ist durch eine besondere Sensibilität ausgezeichnet für alle Delegitimationstendenzen: jede Kritik an der Klugheit einer bestimmten Politik des Cäsaren wird als Regimekritik verstanden und entsprechend verfolgt. Der Cäsarismus steht und fallt daher laut Bagehot mit der Kontrolle des Erziehungssystems und der Öffentlichkeit, in welchen die Zustimmung zum Regime organisiert wird. In vergleichbarer Weise nannte der deutschsprachige Publizist Constantin Frantz das System Bonapartes ein demokratisches „Wahlreich" mit einem „ c h e f an der Spitze der Exekutive, der entweder als „republikanischer Magistrat" oder als Erbmonarch auftritt und für sich reklamiert, der Korruption des Parlaments und seine Scheinrepräsentation des Volkes überwunden zu haben (Louis Napoleon, anonym 1852, Kap. 7). John Stuart Mill zeigte sich zutiefst enttäuscht über das Aufkommen des Bonapartismus. In seiner Autobiographie (posthum 1873) schrieb er, das Scheitern der Revolution von 1848 und der Erfolg eines „Usurpators" im Dezember 1851 beendete alle Hoffnungen zur Fortentwicklung von Freiheit und sozialer Entwicklung (245). Was ihn darüber hinaus enttäuschte und zugleich die Augen öffnete, war der Umstand, dass im Mai 1852 Auguste Comte (17981857) im 2. Band seines politischen Hauptwerks Systeme de politique positive (1851-1854) den Staatsstreich Bonapartes herzlich begrüßte: Frankreich habe mit der Diktatur die parlamentarische Phase der Gesellschaftsentwicklung übersprungen und sei damit dem von Comte angestrebten Ziel der Verwirklichung des positivistischen Zeitalters erheblich näher gekommen (II, Vorwort XIII-XIV). Mill hatte sich vorher Comte, dem Schüler Saint-Simons und Begründer der rationalen Philosophie des Positivismus, sehr verbunden gefühlt; seit

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seiner eigenen Logic stand er mit Comte in einem intensiv geführten Briefwechsel. Nun aber strich er von Neuauflage zu Neuauflage die lobenden Erwähnungen Comtes (Packe 1954, 280) und kommentierte in der Autobiography erbittert, Comtes Werk sei ein monumentales Warnzeichen dafür, was geschieht, wenn ein politischer und sozialer Theoretiker den Blick für die Werte von Freiheit und Individualität verliert (221). Mills Regierungstheorie und die Wahlrechtsfrage Den Bonapartismus muss man vor Augen haben, um das weitere Ringen Mills um das Verhältniss von Regierungslehre, demokratischer Legitimation und individueller Freiheit zu verstehen. Mills Theorie der Regierung entwickelte sich seinen ersten Rezensionen 1835 (neben dem ersten Band von Tocquevilles Amerika-Studie auch Samuel Baileys Rationale of Political Representation) bis zu seinen Considerations 1867. Mill nannte die von ihm bevorzugte Idee der Demokratie (Burns 1957; Urbinati 2002) anfangs „rational democracy" (Tocqueville on Democracy 171), was nicht die Regierung durch das Volk meinte, sondern die Gewähr, dass das Volk die beste Regierung erhält. Mill veröffentlichte schließlich in kurzer Zeit drei Schlüsselwerke seiner politischen Theorie: 1859 die Theorie der Freiheit und 1861 die Rekonstruktion der Philosophie des Utilitarismus sowie im gleichen Jahr seine Theorie der Repräsentativregierung. Hinzu kam sein Plädoyer für das Frauenwahlrecht in The Subjection of Women. Mill zählt zu den entschiedensten Vertretern des Frauenwahlrechts (Okin 1992, 197-230). Er engagierte sich in der Frauenrechtsbewegung, konnte damit aber in der zweiten Reformbill des Parlaments nicht durchdringen und veröffentlichte daher 1869 mit The Subjection of Women eine der berühmtesten Arbeiten zu diesem Thema. Der Text war bereits zum Zeitpunkt der Arbeiten zur Freiheit und zur Repräsentativregierung abgeschlossen, aber er hatte die Publikation aus taktischen Gründen zurückgehalten. Mill stützte sich auf den Aufsatz seiner Lebensgefahrtin Harriet Taylor aus dem Jahr 1851 {Enfranchisement of Women). Die propagierte Gleichberechtigung der Frau folgte unmittelbare aus seiner Philosophie des persönlichen Individualismus, stand aber auch im Zusammenhang einer Theorie des gesellschaftlichen Fortschritts, der erst die Gleichberechtigung der Frau ungeachtet ihrer biologischen und sozialen Stellung denkbar gemacht habe. Mills Arbeit wurde intensiv diskutiert (ed. Pyle 1995). Sie initiierte auch eine Übersetzung des Essays von Condorcet aus dem Jahr 1790 für das Wahlrecht der Frau (siehe diachroner Diskurs „Idee der Menschenrechte"). Der Kampf um das Frauenwahlrecht stieß im Unterhaus auf mehrheitlichen, nicht aber auf unüberwindlichen Widerstand. Vermutlich gingen Disraeli wie Gladstone dem Kampf um das Frauenwahlrecht auch deswegen aus dem Wege, weil sie um den energischen Widerstand Königin Victorias wussten. Die zahlreichen Gesetzesvorlagen zur Einführung eines noch so moderaten Frauenwahlrechts zum Unterhaus scheiterten, Erfolge konnten nur auf der lokalen Ebene erzielt werden. Das musste zur Radikalisierung der Frauenbewegung führen, die als Wahlrechtsbewegung (Suffragetten) den politischen Kampf aufnahm und dabei die öffentliche Meinung auch durch spektakuläre Aktionen aufzurütteln versuchte (Kraditor 1981; Phillips 2003). Erst die Erfahrungen im Ersten Weltkrieg und die unverzichtbaren Leistungen von Frauen in der Rüstungsindustrie wie im alltäglichen Dienstleistungsbereich ermöglichten den Durchbruch (Gullice 2002). Das Frauenwahlrecht war für Mill allerdings kategorial nachrangig zum Problem der freien Persönlichkeit in einer sich demokratisierenden Gesellschaft. Unter dem bleibenden Eindruck von Tocquevilles Theorie der Tyrannei der Mehrheit sorgte sich Mill um den Schutz

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der individuellen Freiheit vor ihrer sozialen und politischen Umwelt. Es ging hierbei weniger um das Individuum als solches, sondern um die entwickelte Persönlichkeit, die sich nonkonformistisch verhält: Mills Studie zur Freiheit begann mit einigen Überlegungen im Anschluss an Wilhelm von Humboldts Theorie über die Grenzen des Staates, welcher auch das Dedikationsmotto entnommen war. Mill folgte auch Humboldts: Der Sinn der Kultur liegt in der weitestgehenden Entfaltung der Persönlichkeit und die Aufgabe des Staates erschöpft sich mehr oder weniger darin, dies zu unterstützen. Für eine solche Persönlichkeitsentwicklung sind die Freiheit der Entwicklung und die Vielfalt der Umgebung erforderlich, wozu er Klassen- und Standesunterschiede ebenso wie die kulturellen und regionalen Unterschiede zählte. Sie schleifen sich jedoch im Zuge des Fortschritts zusehends ab {On liberty, Kap. 3) und geraten zusätzlich durch die Tyrannei der Mehrheit unter Konformitätsdruck. Zum Schutz der Persönlichkeit sind daher unbedingt Rede- und Gedankenfreiheit geboten (Kap. 2). Mills Humanitätsbegriff folgte demnach anderen Motiven als die Kritik am viktorianischen Großbritannien, wie sie etwa Charles Dickens in seinen populären Romanen formulierte, beginnend mit Oliver Twist 1838 (Armut) über David Copperfield 1850 (Erziehung) bis hin zu den Great Expectations 1860 (Klassengesellschaft). Das Hauptbetätigungsfeld der reifen Persönlichkeit war in Mills Augen die Gesetzgebung. Mill befürchtete aber, das Parlament werde sich zu einem Ort sozialer Interessenvertretung entwickeln. Repräsentation bedeutete fur Mill demgegenüber die Formulierung des allgemeinen Interesses. In den Considerations on Representative Government bedeutete Demokratie nicht Selbstregierung des Volkes, sondern den Umstand, dass die Regierten Ausgangsund Bezugspunkt der Regierung sind. Das Verhältnis zwischen Regierten und Regierung ist wechselseitig: Eine Regierung kann nur so gut sein, wie das Volk es zulässt. Das Volk muss die Regierung arbeiten lassen. Dazu bedarf es eines Mindestmaßes an politischem Interesse, das sich an der Wahlbeteiligung zeigt. Ohne Aufmerksamkeit des Volkes wird jede Repräsentativregierung dazu neigen, ihren eigenen Interessen zu folgen; verkaufen Wähler ihre Stimme, so wird sich ihre Korruptheit auf die Regierung übertragen und umgekehrt. Mill verlangt ein Zusammenspiel von Regieren und Regiertwerden: Achten die Wähler nicht darauf, die besten Kandidaten mit dem Mandat zu betrauen, so kann man das Regierungssystem nicht für Mängel verantwortlich machen, die in der Person der Regierenden zu suchen sind. Umgekehrt ist die Güte einer Regierung auch daran abzulesen, inwieweit sie es unternimmt, den Bildungsstand ihrer Bürger zu heben. Ein unzivilisiertes Volk wird daher kaum mehr ertragen und nichts mehr bedürfen als ein despotisches Regime, um Fortschritte zu machen. Umgekehrt ist die Regierung um so eher freiheitlich, als das Volk die Gesinnung der Freiheit besitzt, was am Gesetzesgehorsam ablesbar ist und an der Fähigkeit, den Vorgang des Regierens zu verstehen. Das Verständnis fur das Regieren erwächst nicht aus theoretischer Bildung, sondern aus der Praxis. Prinzipiell ist daher die politische Bildung dort am höchsten, wo die Bevölkerung wenigstens auf der lokalen Ebene am meisten an dem Geschäft des Regierens beteiligt wird und sich so aus der Praxis einen Begriff hiervon machen kann. Das von Mill beschriebene, historisch wandelbare Wechselverhältnis von Regierten und Regierenden zeigt sich in seiner undogmatischen Theorie des Wahlrechts. Sein Plädoyer für die uneingeschränkten politischen Rechte der Frau bedeutete keineswegs ein uneingeschränktes Eintreten für das universale Wahlrecht. Tocqueville wie John Stuart Mill befürworteten beispielsweise das Preußische Dreiklassenwahlrecht, das 1849 eingeführt worden war. Tocqueville reiste 1854 durch das preußische Rheinland und wurde später von seinem

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Neffen, der in der französischen Botschaft in Berlin 1858 tätig war, über die Reformdebatten unterrichtet. In Tocquevilles Augen war die Preußische Verfassung die ideale Übertragung des politischen Entwicklungsrades in Preußen auf die Struktur der politischen Ordnung. Die Einteilung der gesamten (männlichen) Bevölkerung in drei Einkommensklassen und ein entsprechend gestaffeltes Stimmgewicht fand auch Mills Zustimmung, zumal die Zugehörigkeit zu den Klassen durchlässig war. Er befürchtete nur das Anwachsen des Wunsches, die erreichten Freiheiten zu rasch erweitern zu wollen (Briefwechsel zwischen Mill und Tocqueville: Kahan 1992, 73). John Stuart Mill gab der Preußischen Verfassung von 1850 gegenüber der englischen Verfassung nach der Reform von 1832 den Vorzug. Noch 1863 betrachtete er das Dreiklassenwahlrecht als Vorbild, sofern es in der 3. Klasse der „Demokratie" im Sinne der armen Teile der Bevölkerung ein allgemeines Wahlrecht zugestand (Brief an William Rathbone v. 29.11.1863 Works, XV 905). Der berüchtigt reaktionäre Ruf des Dreiklassenwahlrechts bestand also nicht von Anbeginn, er beruhte darauf, dass dieses Wahlrecht bis 1918 unverändert galt und die weitere demographische und politische Entwicklung hartnäckig ignorierte. Die Nachwirkungen des Bonapartismus-Schocks auf Mill zeigten sich noch in den Considerations. Sie erwähnten Bonaparte mit keinem Wort, aber ein ganzes Kapitel beschäftigte sich mit der Widerlegung der Idee eines „guten Despotismus" im Sinne der Herrschaft einer angeblich die Interessen des Volkes verfolgenden Einzelpersönlichkeit. Mill kam zu dem Schluss, dass eine solche Herrscherfigur schwer zu finden sei, eine (temporär gedachte) Diktatur gleichwohl dort am Platz ist, wo der Genuss der Freiheit der Menschen, die zur Anarchie führt, nicht anders einzuschränken ist (Kap. 3). Mill trennte die Regierung scharf von der legislativen Repräsentation. Die Legislative soll keine Regierungsgewalt ausüben, sie soll die Regierung bestellen, beraten und kontrollierende Funktionen ausüben: das Parlament ist hauptsächlich die Arena der Meinungen (Considerations, Kap. 5). Der Regierung verbleibt ein großer Ermessens- und Handlungsspielraum, der Natur der politischen Entscheidungssituation gemäß. Das Wahlrecht verfolgt den Zweck, die beste Regierung zu ermöglichen und ist nicht von allgemeinen Dogmen abhängig, von denen man aus der Idee der Gleichheit unter den Menschen auf ein gleiches Wahlrecht schließen könnte. Das von Mill favorisierte (und auf Großbritannien bezogene) Repräsentativsystem seiner Considerations kannte kein universales Wahlrecht. Zwei Bevölkerungsgruppen schloss Mill aus: die Empfanger von Armenhilfe, da hier die Gefahr zu groß sei, dass ihre Stimme gekauft wird, und diejenigen, die nicht die Mindestanforderungen an Erziehung erfüllen, da hier nicht mit einer eigenständigen politischen Meinung zu rechnen sei. Mill veranschlagte als Voraussetzung zur Teilnahme an der öffentlichen Debatte allerdings nur die Fähigkeit des Lesens und Rechnens. Die Regierung ist laut Mill von der Meinung des Volkes abhängig, weshalb die Formung der Meinungen entscheidend ist für die Akzeptanz des Regierungssystems, im Guten wie im Schlechten. Mit Hilfe der Eisenbahnen und der Zeitungen habe die öffentliche Meinung die Anwesenheit der Bürger auf der Agora der athenischen Demokratie ersetzt (Tocqueville on Democracy II 165; Urbinati 2002, 176122). Die Frage ist nun, ob auch die repräsentativen Institutionen durchlässig genug sind für die Meinungsbildung in der Öffentlichkeit. Das ist nur dann der Fall, wenn die repräsentativen Institutionen auch tatsächlich ein stellvertretendes Bild der an der Meinungsbildung beteiligten Bevölkerungsteile abgeben. Am Beispiel der Einschätzung der Arbeiterstreiks demonstrierte Mill, warum aufgrund der mangelnden Vertretung der Arbeiter im Unterhaus die Be-

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wertung dieser sozialen Kampfmaßnahmen einseitig aus der Sicht der im Parlament vertretenen Arbeitgeber erfolgte. Diesen Zustand thematisierte Mill weniger unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit als vielmehr aufgrund der politischen Funktionsfahigkeit der Institutionen: wie kann die Gesetzgebung den sozialen Frieden sichern, wenn nicht alle betroffenen Parteien ihre Sicht der Dinge darlegen können? Die beste Gewähr dafür, dass alle Interessen und Meinungen im Parlament Gehör finden können, bietet Mill zufolge das proportionale Wahlrecht. Mill kannte den ersten theoretischen Entwurf eines funktionierenden proportionalen Wahlrechts, den Thomas Hare 1859 vorgelegt hatte (Treatise on the Election of Representatives, Parliamentary and Municipal). Hares System, das noch heute - wenn auch durch d'Hondts Modifikationen verfeinert - Anwendung findet, diskutierte Mill in den Considerations ausfuhrlich (Kap. 7). Mill deutete die Proportionalität als Umsetzung der DemokratieKomponente des Parlamentarismus, die darin liegt, alle Segmente der Bevölkerung zu repräsentieren. Das stellt vor allem den Parlamentseinzug einer Mill besonders am Herzen liegenden Minorität sicher: die Gebildeten. Alle Parlamente laufen Gefahr, Abgeordnete zu haben, die zu wenig intellektuelle Kapazitäten mitbringen. Diese Gefahr ist dort besonders groß, wo die öffentliche Meinung den entscheidenden Einfluss bei der Auswahl der Repräsentanten ausübt. Das Mehrheitswahlrecht verstärkt bei steigender Demokratisierung des Wahlrechts diesen Aspekt zusätzlich, da es nicht der Mehrheit, sondern der „Mehrheit der Mehrheit" die Oberhand gibt, das heißt eine Mehrheit im Parlament privilegiert, die bereits von einer Mehrheit vorab selektiert wurde. Nur das Proportionalwahlrecht gibt der stets Minorität bleibenden Zahl an Gebildeten die Möglichkeit, Vertreter ins Parlament zu entsenden. Die „Elite" und nicht eine „kollektive Mediokrität" soll laut Mill im Parlament agieren. Ist sichergestellt, dass wenigstens ein Teil der Elite in das Parlament gelangt, wird ihr tatsächlicher Einfluss weit größer sein als ihr numerisches Gewicht es vermuten lässt, da sie kraft ihrer Bildung und Begabung die Diskussionen beherrschen und so die Mehrheit in der Kammer überzeugen können (Kap. 7). Um diesen Effekt zu verstärken, gesteht Mill den Gebildeten ein Pluralwahlrecht zu, das heißt, sie verfugen bei den Parlamentswahlen über mehrere Stimmen (Kap. 8; Urbinati 2002, 93-104; kritisch Schmidt 2000, 148-164). Mills Argument zielte nicht nur gegen das britische Mehrheitswahlrecht, sondern gegen alle lokalen und regionalen Mehrheitssysteme, zu welchen er auch die amerikanischen Wahlen zum Kongress zählte. In den USA habe sich eine schlechte Variante der Demokratie durchgesetzt, da hier die Gebildeten bereits die Kandidatur scheuen, um sich nicht dem Druck der Mehrheit auszusetzen (Kap. 7). Walter Bagehot war in vielerlei Hinsicht der Gegenpart zu Mill (Collini/Winch/Burrow 1983, 161-182). Journalistisch und nicht akademisch geschult, später Herausgeber des Economist, argumentierte Bagehot aus der Praxis heraus. Aufgrund seiner mangelnden oratorischen Begabung scheiterten drei Anläufe zum Unterhaus. In seinem Hauptwerk The English Constitution von 1867 verwendete Bagehot den Ausdruck „Verfassung" in einem aristotelischen Sinne: alle auf die Regierungspraxis einwirkenden Faktoren gehören hierzu. Er sah das britischen Systems im Vergleich zum amerikanischen im Vorteil wegen der parlamentarischen Kabinettsregierung, die er als das eigentliche Herz des hiesigen Regierungssystems begriff: Der amerikanische Präsident kann im Wahlkampf aufgrund des Vorherrschens innenpolitischer Debatten gewählt worden sein und sich bei einem plötzlichen Kriegsausbruch als schlechte Amtsbesetzung erweisen; in der parlamentarischen Kabinettsregierung kann das

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Unterhaus die Regierung in ganz kurzen Fristen austauschen und so den unmittelbaren Bedürfnissen anpassen: es ist flexibler und daher leistungsfähiger (Kap. 2). Das Parlament hat die Rolle, die Regierung zu bestimmen, die wie sein Exekutivausschuss tätig wird, da es zwingend (und noch heute) aus Mitgliedern des Parlaments besteht. Die Stabilität der Regierungsbildung steht im Vordergrund, was zugleich eine disziplinierende Wirkung auf die Abgeordneten ausübt. Ähnlich wie Mill sah Bagehot die andere Säule des Parlaments darin, der Öffentlichkeit eine institutionelle Stimme zu gelten. Die englische Regierungsweise bezeichnete Bagehot als „government by discussion" (Vorwort zur 2. Aufl. 1872) bzw. als Regierung durch Überzeugen (Kap. 5). Er konstatierte , dass Diskussion auch außerhalb des Parlaments stattfindet. Die Öffentlichkeit, insbesondere die Presse habe einen gewaltigen Einfluss, weil das Parlament aufgrund seiner Zusammensetzung und Arbeitsweise sehr wandlungsfähig und sensibel für Veränderungen der öffentlichen Meinung sei. Bedeutsam ist die Geltung der Maxime, dass auch die „andere Seite" gehört werden muss, ein durch Erziehung zum Habitus kultivierter Charakterzug. Daher behält laut Bagehot die Opposition bei dem Zugehörbringen von Meinungen eine große Rolle. Typisch für seine Argumentationsweise war die ausführliche Diskussion von Mills Plan eines Proportionalwahlrechts (Kap. 6). Er gestand dem Modell zahlreiche Vorteile zu, ahnte jedoch seine Schwächen: Nationale Listen bedürfen großer Öffentlichkeit. Wer die Zuschneidung dieser „willentlichen" Wahlkreise in Händen hält, wird eine geradezu despotische Macht ausüben und sich die Kandidaten aussuchen können, die als Lohn dafür, dass sie aufgestellt wurden, „servile" Gefolgschaft anbieten werden. Das war eine Vorwegnahme der Kritik am Wirken politischer Parteien, die später Max Weber wiederholte. Repräsentation und Demokratie waren im 19. Jahrhundert keine Geschwister, was nicht nur an den anti-demokratischen Vorurteilen lag: diese sollten sich am Ende des Jahrhunderts in Gestalt des Begriffs der Massendemokratie sogar noch potenzieren. Entscheidend war die Frage, welche Auswirkungen die Demokratie auf funktionierende politische Institutionen hatte. Das Parlament konnte auch ohne demokratisches Wahlrecht funktionieren, dessen war man sich sicher. Mit Tocqueville hatte sich jedoch eine Möglichkeit kreativer Analyse geboten, über die Gefahren hinaus Chancen und kalkulierbare Risiken der Demokratie zu erkennen; der Bonapartismus bewirkte allerdings bei vielen Autoren die Abwendung von der Demokratie und die Suche nach neuen Lösungen, die man in der Elite fand.

3. Demokratie ohne Repräsentation: der europäische Sozialismus und Karl Marx Parallel zu den institutionentheoretischen Diskussionen im weitverzweigten Liberalismus entstand im Sozialismus eine Alternative zum „bürgerlichen" politischen Denken, die in der Berücksichtigung weitaus grundsätzlicher gesellschaftstheoretischer Faktoren die Antwort auf die Frage nach einer dem demokratischen Zeitalter angemessenen politischen Theorie suchte. Im Werk von Karl Marx spiegelte sich das Ringen der zeitgenössischen Theorie um eine Erweiterung ihrer Perspektive: die Begeisterung für die Französische Revolution und die unbedingte Freiheitsforderung als vollendete Emanzipation des Menschen von Fremdherrschaft verknüpfte sich mit der Auffassung, dass diese Forderungen nicht durch politische Willensakte alleine zu erreichen seien, sondern die makrosoziologischen Rahmenbedingungen berücksichtigen müsste, allen voran die mit der industriellen Revolution verbundenen

3 Demokratie ohne Repräsentation: der europäische Sozialismus und Karl Marx 375 Wandlungen der menschlichen Lebenswelt. Diese Verknüpfung von idealistischen Motiven mit einer materialistischen Faktorenanalyse erklärt, warum Marx nicht nur der Vordenker des Historischen Materialismus war und vermeinte, die kommende Revolution anhand volkswirtschaftlicher Statistiken vorhersagen zu können, sondern darüber hinaus immer wieder, von der Revolution von 1848 bis zur Pariser Commune, seine Begeisterung für Akte der Selbstbefreiung beibehielt, obwohl er wusste, dass sie zum Scheitern verurteilt waren. Was Adam Smith und die Schottische Aufklärung bereits warnend als Gefahr der Verkümmerung der menschlichen Existenz im arbeitsteiligen Produktionsprozess der Fabrik beklagt hatten, wurde im Vormärz immer sichtbarer. Vor dem Hintergrund des Pauperismus und der Frage des legislativen Umgangs mit der Armut hatte sich in Großbritannien die gesamte Politische Ökonomie von Adam Smith über Malthus bis zu John Stuart Mill mit dem Zusammenhang von gesellschaftlichen Strukturen, politischer Intervention und Ökonomie beschäftigt. Hinzu traten - wie gesehen - Elemente des Philanthropismus, die den Lebensstandard der Arbeiter heben wollten, um ihnen eine würdevolle Existenz zu ermöglichen (Robert Owen). Der französische Sozialismus stellte die Frage der Organisation der Gesellschaft in den Mittelpunkt, von den mikrosoziologischen Entwürfen Charles Fouriers bis zu der makrosoziologischen Perspektive Henri de Saint-Simons. Von Karl Marx wurden diese Ansätze als „utopisch" verworfen. Er setzte ihnen einen „wissenschaftlichen Sozialismus" entgegen, der alle Politik aus den Gesetzen der sozialen, im wesentlichen der ökonomischen Entwicklung ableitete. Aus dem Stand der politischen Ökonomie seiner Zeit leitete Marx zwei Überlegungen ab: die Verelendungstheorie und die Zusammenbruchstheorie. Die ökonomische Entwicklung führt demnach zu einer unaufhaltsam sich steigernden Verelendung der Arbeiter und zugleich tendiert die kapitalistische Produktionsweise zu ihrer Selbstaufhebung in Gestalt eines Kollapses. Bei aller ökonomischen Terminologie verlor Marx nicht die ethischen wie politischen Ausgangsprobleme aus dem Auge, nämlich die „Entfremdung" des Menschen zu überwinden und die „Arbeit", den Umgang des Menschen mit Natur, in die politische Theorie zu integrieren. Das Ziel war, die Arbeit als Ausdruck der Freiheit zu erkennen und die Gesellschaft so zu strukturieren, dass dies Wirklichkeit werden konnte. Nach anfänglich politisch-revolutionären Versuchen rang sich Marx zum langen Atem des historischen Materialismus durch, der die treibenden Kräfte des Umbruchs nur aus dem Ganzen der Gesellschaftsentwicklung selbst zu begreifen bestrebt war: es sind die Produktivkräfte, welche die Produktionsverhältnisse sprengen; politische Revolutionen, die diesen Hintergrund nicht berücksichtigen, sind zum Scheitern verurteilt, andererseits bedarf die revolutionäre Sprengkraft wachsender Produktivkräfte nicht unbedingt einer politischen Revolution, um zum Tragen zu kommen und die Gesellschaftsstrukturen zu ändern. Karl Heinrich Marx (1818-1883) studierte in Bonn und ab 1836 in Berlin Rechtswissenschaften, wo er mit den Junghegelianern in Kontakt kam und Hegels Werk rezipierte (McLellan 1980). Auch nach Hegels Tod im November 1831 blieb sein Einfluss deutlich spürbar. Im „Verein der Freunde des Verewigten" erschienen von 1832 bis 1845 kontinuierlich Hegels Werke, darunter 1833 Eduard Gans' Edition der Rechtsphilosophie (mit den ersten Zusätzen) sowie weitere Vorlesungsschriften wie die zur Philosophie der Geschichte 1837. Die Berliner Universität stand im Zeichen eines Schulenstreits zwischen den systematisch argumentierenden Hegelianern und der Historischen Schule um Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) und Leopold von Ranke (1795-1886). Die Hegel-Schule wurde zunächst von liberalen Konstitutionalisten wie Eduard Gans angeführt, doch eine Schar ambitionierter

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Studenten gab sich mit der Verfassung als Lösung der Probleme, die Hegel thematisiert hatte, nicht zufrieden. Dazu gehörten auch Fragen zur Deutung der Rolle Gottes in der Geschichte. Die Kontroverse um David Friedrich Strauß' Das Leben Jesu von 1835, eine strenge Historisierung seines Lebens und Werks, brachte die Spaltung in Junghegelianern, die Strauß unterstützten, und Althegelianern, die aufgrund ihrer religionspolitischen Einstellung Strauß' Ansatz ablehnten. Im Berliner „Doktorclub" beteiligte sich der junge Marx an den Debatten. Wortführer waren aber die aus dem Wissenschaftsdienst entlassenen Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach, Publikationsorgan waren die von Arnold Rüge begründeten Halleschen Jahrbücher fiir deutsche Wissenschaft und Kunst (dann Deutsche Jahrbücher, 1843 verboten). Die politische Grundhaltung war eindeutig demokratisch, aber die religionspolitischen und geschichtsphilosophischen Debatten zeigten die staats- und nationenübergreifende, auf die Menschheit als Gattung bezogene Perspektive. Kennzeichnend war ferner die Forderung, die politischen und gesellschaftlichen Probleme endgültig und nicht nur pragmatisch lösen zu wollen. Das hieß: die Probleme an der Wurzel (radix) anzupacken, sie radikal zu lösen. Marx zog nach Bonn und wurde im Oktober 1842 - nach verweigerter akademischer Karriere - leitender Redakteur der Kölner Rheinischen Zeitung. Hier veröffentlichte er seine Kommentare zu den Landtagsdebatten um das Holzdiebstahlsgesetz, das auf den sprunghaft angestiegenen Diebstahl von Brachholz reagierte. Das Sammeln solchen Raffholzes durch die armen Bevölkerungsschichten war bislang gewohnheitsmäßig geduldet worden, führte nun aber angesichts der Agrarkrise und der zunehmenden Verarmung zu einer Verknappung an Holz, die den Bedürfnissen der Industrie zuwiderlief. Fünf Sechstel aller Deliktsfälle betrafen solchen Holzdiebstahl und Forstfrevel. Um der Lage Herr zu werden, übertrug die Legislative den Waldeigentümern quasi-staatsanwaltliche Kompetenzen bei der Aufklärung. Marx beklagte die Kurzsichtigkeit der Verteidigung des Eigentums, da es ein Eingehen auf die sozialen Ursachen des Diebstahls verhinderte und forderte statt dessen, einen „politischen" Standpunkt einzunehmen, d.h. den Fall „im Zusammenhang mit der ganzen Staatsvernunft und Staatssittlichkeit zu lösen" (MEW I 147). Diese an seine Hegel-Lektüre in Berlin erinnernde Wortwahl folgte der Gesamtschau sozialer und politischer Aspekte, die Hegel „Sittlichkeit" genannt hatte und ging darüber hinaus. Weder die Diebe noch die Eigentümer und ihre Interessenvertreter im Parlament sind persönlich zu tadeln, denn sie reagieren auf die politisch-ökonomischen Strukturen, aus denen allein ihr Verhalten zu erklären ist. Abhilfe gegen die Ungerechtigkeit ist daher auch nicht mit einem Appell an das Gerechtigkeitsempfinden zu erreichen, sondern letztlich nur aus einem Strukturwandel, welcher erst ein alternatives Verhalten ermöglicht. Rückblickend hatte Marx diesen Artikel als Wendepunkt seines Denkweges beschrieben, an dessen Ende seine politik-ökonomische Sichtweise stand (McLellan 1974, 63). Zu diesem Zeitpunkt sah Marx die unmittelbare Lösung noch in dem Handlungsauftrag des Staates, der den Gesichtspunkt der Allgemeinheit zu berücksichtigen hatte. Aber zunehmend war er von der Kurzschlüssigkeit dieses Arguments überzeugt und stellte immer klarer die Politik in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den gesellschaftlichen Strukturen, die nicht intentional verändert werden können, sondern nur als Ergebnis historischer Prozesse. Deshalb muss politische Theorie im Kern zunächst Gesellschaftstheorie sein, was zu dieser Zeit vor allem politische Ökonomie hieß. Marx kritisierte, dass die Politische Ökonomie des historischen Bewusstseins ermangele, wohingegen der französische Sozialismus zu idealistisch angelegt sei. Beides galt es zu vermitteln. 1843 siedelte Marx nach Paris um, arbeitete an den

3 Demokratie ohne Repräsentation: der europäische Sozialismus und Karl Marx 377 Deutsch-Französische Jahrbüchern mit und formulierte in den erst posthum (1932) veröffentlichten („Pariser") Ökonomisch-philosophischen Manuskripten 1844 die Grundlagen seiner eigenen Theorie. Marxens Pariser Theorieentwurf ging vom Problem der Stellung des Individuums zur Gesellschaft aus, gebrochen im Lichte des Eigentums und der Arbeit, und konstatierte eine stufenweise „Entfremdung" des Menschen von sich selbst. Danach entfremdet sich der Mensch 1) vom Gegenstand seiner Arbeit: Da der Arbeiter nicht Eigentümer der Produktionsmittel ist, tritt ihm das Resultat seiner Arbeit als ein fremdes gegenüber. Sodann entfremdet sich 2) der Mensch von seiner Arbeit selbst: die Arbeit wird als Tätigkeit äußerlich, der Arbeiter entäußert seine Arbeit als Arbeitskraft zwecks Erhaltung des Lohns. Das fuhrt wiederum 3) zur Entfremdung des Arbeiters von seinem Wesen als Mensch. Die Arbeit ist nicht Inbegriff und Ziel seines Tuns, sondern Mittel seiner Existenz. Dadurch entfremdet sich der Mensch als Arbeitender schließlich 4) von seinen Mitmenschen bzw. der Gattung, denn die in den ersten Stufen wirksamen Entfremdungsverhältnisse bestimmen schließlich auch das Verhältnis der Menschen untereinander. Die Entfremdung ist demnach Ergebnis sozialer Wirkmächte und wahre Emanzipation des Menschen verlangt die Befreiung von solchen, letztlich anonymen, Wirkkräften. Die Konzentration auf die Arbeit zeigte bei aller Kritik an der politischen Ökonomie, wie sehr Marx ihr konzeptionell zugehörte (Brocker, 1992, 326-341). Die Emanzipation wird nicht durch eine Deklaration der Menschenrechte erreicht, was Marx in seinem Aufsatz zur Judenfrage (1843) verdeutlichte. Die Judenemanzipation im Sinne gleichberechtigter Staatsbürgerschaft galt in dieser Zeit als ein klassischer Fall von „Emanzipation". Bruno Bauer, gegen dessen Arbeit Die Judenfrage von 1843 sich Marx stellte, sah in der republikanischen Idee der Menschenrechte die Lösung des Problems: alle Menschen sollten ihre partikularen Besonderheiten, beispielsweise ihre religiösen Zugehörigkeiten, aufgeben und sich so für die politische Allgemeinheit von sich selbst befreien. Die von Bauer dabei bevorzugte universalisierte christliche Grundierung der Menschenrechte, die später in einen manifesten Antisemitismus umschlug (Moggach 2006a), thematisierte Marx nicht. Er stellte die Frage, was denn diese „Menschenrechte" eigentlich seien und kritisierte, dass es sich hierbei nicht um die Rechte von „Menschen" als Gattungszugehörigen handelte, sondern um die Zuerkennung von Rechten vor dem Hintergrund der bürgerlichen Gesellschaft: statt die Menschen zu assoziieren, werden sie durch die Rechte voneinander abgesondert, ihre monadischen Sphären geschützt, darunter die Religion, aber auch das Eigentum. Die Rechte des citoyens sind in den Menschen- und Bürgerrechtserklärungen nur Abstraktionen des Menschen als Glied der bürgerlichen Gesellschaft: sie erhalten diesen Status, statt ihn zu revolutionieren. Die Revolution besteht in der Emanzipation des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens von den Abstraktionen rechtlicher Separation. Der Abstand zwischen dem, was der Mensch als Gattungswesen ist bzw. sein kann und dem Leben, das er zu führen gezwungen ist, kann nicht durch eine künstliche Ebene der politischen Allgemeinheit überwunden werden. Anders als Hegel meinte, hilft auch kein Freiheitsbegriff, dessen Ort das menschliche Bewusstsein ist, denn hier besteht eine Differenz zwischen dem Bewusstsein und der gesellschaftlichen Interaktion, die durch Institutionen wie Arbeit und Eigentum verstellt wird. Die Gesellschaft selbst muss der Ort der Revolution sein. Marx, Lorenz von Stein und der

Gesellschaftsbegriff

Marx war nicht der erste Hegelianer, der nach Paris ging und dort die Gesellschaft als Schauplatz der Wirklichkeit entdeckte. Lorenz von Stein (1815-1890) hatte sich in Berlin mit den

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V Das Zeitalter der Demokratie

Junghegelianern auseinandergesetzt und war mit Hegels Rechtsphilosophie vertraut. Sein eigenes Modell des „sozialen Königtums" war eine Variante von Hegels konstitutioneller Monarchie. Unter dem Eindruck seines Pariser Aufenthaltes (1841 bis 1843) und der teilweise persönlichen Kenntnis der dortigen intellektuellen Strömungen - von den Saint-Simonisten bis zu den sozialistischen Utopisten der Fourier-Schule und schließlich zu Louis Blanc stellte Stein den Begriff der Gesellschaft in den Mittelpunkt. Die Arbeit Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs (1842) war die erste Frucht dieser Überlegungen, die Vorstudie zur seiner späteren, umfassender angelegten Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (3 Bände 1850). Stein prägte in Der Socialismus und Communismus den Ausdruck „Klassenkampf' als Bezeichnung für die komplexen, sozial verursachten Auseinandersetzungen, die ihren Grund nicht in politischen Parteien oder führenden Politikern findet, sondern in den innergesellschaftlichen Spannungen, die hauptsächlich durch die Verteilung des Eigentums geprägt sind. Stein machte das deutsche Publikum zudem mit Vokabeln wie Sozialismus und Kommunismus vertraut. Die Rheinische Zeitung, vielleicht sogar Marx selbst, rezensierte das Buch von 1842 überschwänglich. Das Pariser sozialistische Intellektuellen-Milieu fand allerdings bei Marx nicht die gleiche Zustimmung wie bei Stein. Marx ging von einem engen Zusammenhang von Erkennen und Handeln aus: wissenschaftliche Erkenntnis ohne Handlungsbezug galt ihm als reiner Idealismus, aber umgekehrt war jede Handlungstheorie ohne wissenschaftliche Grundierung Aktionismus. Marx lehnte sozialistisch-revolutionäre Varianten des Blanquismus (Instruktionen zum Aufstand 1866) ebenso ab wie die zahllosen Strömungen des Anarchismus, da sie die Probleme zu oberflächlich analysierten. Als Marx die Studie Die Lage der arbeitenden Klassen in England (1845) von Friedrich Engels (1820-1895) las, begeisterte ihn ihre empirische Ausrichtung und das englische Vorbild löste langfristig das französische ab. Doch die Revolution von 1848 nahm von Frankreich ihren Ausgang. Marx hatte sich stets als Revolutionär verstanden. Er schloss sich dem „Bund der Gerechten" um Wilhelm Weitling an und setzte die Namensänderung in „Bund der Kommunisten" durch. Revolution bedeutete ihm kein parteipolitisches Mittel zur Eroberung der Macht, sondern einen historischer Prozess. Der Kommunismus in Marx' Verständnis kehrt in einer dramatischen Weise die Frage der politischen Vorreiterstellung um: nicht mehr das gebildete Besitzbürgertum, sondern ausgerechnet der nur über seine Arbeitskraft definierte Proletarier sollte die Spitze des gesellschaftlichen Wandels darstellen, die Avantgarde des revolutionären Prozesses. Der Proletarier war in römisch-rechtlicher Tradition derjenige, welcher im Zensus der Bürgerschaft nichts einzubringen hatte als nur seine Kinder. Der moderne Proletarier war der nur für die Subsistenz, d.h. für die Eigenversorgung arbeitende, wurzellose Mensch, der mobil war und sich deshalb zur Konzentration der Arbeitskraft in den aufkommenden Fabriken eignete. Daher beschränkte sich der Begriff des Proletariats schließlich auf das Industrieproletariat, zumal nach Marxens Prognose alle Lohnarbeit am Ende der bürgerlichen Gesellschaftsepoche sich in Fabriken konzentrieren würde. Die Lösung des Proletarierproblems lag in der Überwindung der gegenwärtigen Wirtschaftsweise, die er wegen des privaten Eigentums an Produktionsmitteln als anarchisch einschätzte. Das Proletariat hatte am ehesten ein Interesse an der Überwindung der bürgerlichen Wirtschaftsweise, und trat als Avantgarde der gesamten Menschheit voran. Überwindung der Anarchie hieß 1848: revolutionäre Enteignung, die „Expropriation der Expropriateure".

3 D e m o k r a t i e ohne Repräsentation: der europäische Sozialismus u n d Karl M a r x 379 Im Gedanken des Proletariats integrierte Marx bis 1848 die Idee der Demokratie. In Auseinandersetzung mit Hegel nannte Marx 1841/2 die Demokratie das „aufgelöste Rätsel aller Verfassungen" (Kritik der Hegeischen Staatsphilosophie 1841/42, ed. Landshut 47). Dieses Rätsel änderte in den Jahren bis 1844 seine Gestalt, aus der Demokratie wurde der Kommunismus als „aufgelöstes Rätsel der Geschichte" (Nationalökonomie und Philosophie 1844, ed. Landshut 235). Die „Erkämpfung der Demokratie" war aber der erste Schritt, um im Kommunismus das Stadium zu erreichen, in welchem die Menschen als Freie und Gleiche assoziiert sind (Kommunistisches Manifest, ed. Landshut 547-548). Die alte Frage, wie ein noch nicht demokratisches Volk sich selbst zu einem politischen Volk emanzipieren kann, beantwortete Marx mit der Ansicht, dass gerade das Proletariat den revolutionären Hebel ansetzen werde, weil es sich am wenigsten emanzipierte, sondern verelendete. Durch die Verelendung sozial entdifferenziert ist gerade das besondere Klasseninteresse des Industrieproletariats mit dem allgemeinsten Interesse der Menschheit selbst identisch. Da das Industrieproletariat nichts besitzt, hat es nichts zu verlieren „außer seinen Ketten". In Vorbereitung der Revolution nahm Marx an, dass sich die Proletarier auch politisch zusammenschließen, eine Partei bilden und dadurch erst zu einer aktionsfahigen Klasse werden würden. Das Klassenbewusstsein wird sich laut Marx daran erweisen, dass sich das Proletariat nicht mehr nach nationalen Grenzen, sondern nach Gesellschaftsgrenzen formiert und den Klassenkampf international fuhrt. Arbeit allein wird die Knechte nicht zu Herren machen, das Hegeische Modell von Herrschaft und Knechtschaft wurde zum assoziierten Klassenkampf transformiert. Daher lautete auch der berühmte Kampfruf des Kommunistischen Manifestes: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Die Sprengkraft dieses Perspektivenwandels wurde allerdings gehemmt durch die Vagheit seiner wenig konkreten Angaben darüber, welche Politik man in der Übergangsphase, im Warten auf die Revolution favorisieren sollte und welche Gestalt die sozialistische Gesellschaft schließlich annehmen werde. „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (Marx, Kommunistisches Manifest, ed. Landshut 548). Das war jedoch kaum mehr als ein Ideal. Das Manifest der kommunistischen Partei (1848) wurde von der Februarrevolution 1848 eingeholt. Nicht in Frankreich mit seiner agrarischen Grundstruktur oder in Deutschland mit seinem handwerklichen Mittelstand, sondern in England, dem am meisten industrialisierten Land seiner Zeit, hätte Marx die Revolution erwartet. Doch nicht dort, sondern im vergleichsweise unterentwickelten Festlandeuropa kam es zur Revolution. Marx ordnete die Revolution den bürgerlichen Revolutionen zu, das heißt, sie gehörte zum Prozess der Überwindung feudaler Restbestände in der europäischen Gesellschaft. Mit Ausbruch der Revolution eilte Marx an den Rhein und versuchte sich mit der neu gegründeten Zeitschrift Neue Rheinische Zeitung. Organ der Demokratie in revolutionärer Agitation. Nach dem Scheitern der Revolution ging Marx über Paris ins Londoner Exil, wo er die weitere Entwicklung in Frankreich publizistisch analysierte. Er widmete sich nun dem „wissenschaftlichen Sozialismus," Marxens Beitrag zur Politischen Ökonomie, die in Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) ihre erste Fassung fand und schließlich im Das Kapital gipfelte (1867). Marxens Grundmodell der Revolutionstheorie geht von der massenhaften Ausweitung des Proletariats aus, das schließlich in sich alle nicht-bourgeoisen Bevölkerungsteile aufsaugt. Die eigentlich historischen Subjekte sind die in der Gesellschaft vorhandenen Produktivkräfte, die sich ihrer Entfaltung gemäße Produktionsverhältnisse schaffen. Die Entwicklung

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V Das Zeitalter der Demokratie

verläuft nicht in einem harmlosen Sinne evolutiv, sondern birgt revolutionäre Sprengkraft, sie zerstört soziale Strukturen. Die Selbstentfaltung der gesellschaftlichen Kräfte ist Motor der Geschichte. Ihre Lokomotive ist die Revolution. Marx bezeichnete im Kapital die Gewalt als „Geburtshelferin" der neuen Gesellschaft, die im Schöße der alten entsteht (MEW XXIII 779). Ihre Bewertung darf sich durch die unmittelbar verursachten Schmerzen nicht irritieren lassen, erst der Prozess und sein Resultat machen Sinn verständlich. Damit hatte Marx aber nicht nur einen Erklärungsversuch vorgelegt, sondern auch eine Legitimationsstrategie, fasst die Geburtsmetapher doch seine geschichtsphilosophische Sichtweise bündig zusammen. Die neue Gesellschaftsformation schält sich aus der alten heraus, der sie bereits unentwickelt und embryonal angehört, ein gewaltsamer und schließlich revolutionär-erruptiver Vorgang. Die zu eng gewordenen Produktiwerhältnisse werden wie Ketten gesprengt, Revolutionäre sind Geburtshelfer. Diese Denkfigur blieb für die gesamte Sozialrevolutionäre Gewaltlegitimation vorbildhaft. Die in den Schriften der 1840er Jahre erkennbare und für den Sozialismus insgesamt eigentümliche Tendenz war die Übertragung von Kernbegriffen der Regierungslehre auf Kollektivakteure wie die „Klassen", die Konfliktaustragung hieß „Klassenkampf. Eine politische Regulierung dieses als historisch gewerteten Vorgangs schloss Marx aus. Das Bürgertum als Akteur der kapitalistischen Revolutionierung der Wirtschaftsweise war nicht Subjekt der Geschichte, sondern Instrument. Ähnliches galt für das Proletariat, dessen Emanzipation zwar ein ursprüngliches Motiv seiner Theorie war, nun aber - anonymisiert - seine Rolle im historischen Prozess zu spielen hatte, ungeachtet seines Schicksals im einzelnen. Das „Kapital" ist „despotisch" und entwickelt auf der Ebene der anonymen Kooperation seine spezifische Form des „Despotismus" (Das Kapital 111: MEW S. 351; Boesche 1996, 237-284); das Bürgertum als solches ist „diktatorisch" und entsprechend muss das Proletariat als Klasse eine „Diktatur" ausüben, wenn es an die Macht gelangt. Das waren nicht nur metaphorische Anleihen, sie zeigten einen paradigmatischen Wandel in der politischen Theorie, da nun alle Fragen der politischen Regierung aus der Sicht makrogesellschaftlicher Erörterungen erklärt - und auch normativ gerechtfertigt werden. Das Kapital war eine auf sechs Bände angelegte umfassende Politische Ökonomie (nach dem von Engels überlieferten Arbeitsplan aus dem Jahr 1857). Dem Kapital selbst im ersten und einzigen von Marx selbst fertig gestellten Band, sollten Bände zum Grundeigentum und zur Lohnarbeit folgen und erst im 4. Band sollte der Staat behandelt werden, gefolgt von Bänden zum internationalen Handel und zum Weltmarkt. Politische Organisation hatte also ihren Platz, aber die makrosoziologische (Klassenkampf), weltgeschichtliche Perspektive Marxens führte fast notwendig zur Vernachlässigung der institutionellen Ebene der Politik. Marx hatte nicht den für Mill typischen Doppelblick auf Ökonomie und Politik. Fragen des Kredits, des Geldes, der Wertschöpfung behandelte Marx mit größerer Akribie als die Funktionsfähigkeit eines Parlaments oder der Öffentlichkeit. Der „wissenschaftliche" Sozialist Marx sagte wenig zur Frage der Stellung einer freien Wissenschaft zum Produktionsprozess in der nachliberalen Ära. Seine Prognose, mit dem Sieg des Proletariats entfalle die Notwendigkeit der Ausübung politischer Herrschaft, die bislang nur Ausdruck der Klassenherrschaft gewesen war, ging offenbar vom Wegfall aller Probleme der politischen Selbstorganisation aus. Marx sagte auch nur wenig zur Organisationstheorie der von ihm erwünschten Assoziationen, in welchen sich die Menschen als Freie und Gleiche begegnen können. Tocquevilles Assoziationstheorie scheint Marx unbekannt geblieben zu sein, sozialistische Genossenschaftstheorien im Umfeld Louis Blancs lehnte Marx ab, Proudhons Föderalismus-Theorie blieb unbe-

3 Demokratie ohne Repräsentation: der europäische Sozialismus und Karl Marx 381 achtet und um eine Theorie politischer Parteien hat er sich nie weiter gekümmert. Andererseits hat Marx sich stets gegen den Anarchismus Proudhons und vor allem Bakunins zur Wehr gesetzt. Bonapartismus,

Marx und

Anarchismus

Der Verlauf der französischen Revolution von 1848, die mit der demokratisch legitimierten Etablierung eines cäsaristischen Regimes an Stelle der bürgerlichen Herrschaft endete, konfrontierte Marx wie alle anderen Sozialisten mit der Entdeckung, dass die Demokratisierung und die gesellschaftliche Entwicklung einander nicht ergänzten, sondern sogar hemmen konnten. Die Grenzen der ausschließlich ökonomischen Betrachtung für die Analyse politischer Handlungsstrategien wurden Marx allmählich bewusst. Seine Verlaufsanalyse der französischen Revolution (Klassenkämpfe in Frankreich 1849/1850 sowie Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte 1852) versuchte mit der ökonomischen Klassenanalyse den Code zur Entschlüsselung der verworrenen Koalitionssituation der verschiedensten sozialen und politischen Gruppierungen an die Hand zu geben. Laut Marx müssen die Handlungen politischer Akteure aus ihrer gesellschaftshistorischen Position heraus verständlich gemacht werden. Doch er musste akzeptieren, dass gelegentlich auch nichtökonomische Aspekte die politische Auseinandersetzungen diktierten und so die „wahren" Konfliktursachen „verschleiern": Das Proletariat schwelgt im Fraternitätsrausch (Politische Schriften I 134), die Übergangsklasse des Kleinbürgertums befindet sich außerhalb der Klassengegensätze (I 308), die (französische) Sozialdemokratie will nicht Gegensätze aufheben, sondern abschwächen (I 304); Parteien, die sich ewige Menschenrechte und Volksinteressen programmatisch zu eigen machen, verschleiern mit diesem oberflächlicher Schein die eigentlich wirksamen Klassenkämpfe (I 300); der parlamentarische Kretenismus setzt sich an die Stelle der offenen Klassenkämpfe (I 344). Der Bonapartismus zeigte schließlich, dass der Kampf für die Demokratie dann kein Übergang zum Kommunismus ist, wenn die treibenden Kräfte noch keinen ausreichenden Klassencharakter entwickelt haben. Mit bissiger Ironie kommentierte Marx, wie das unbeirrte programmatische Festhalten am demokratischen Wahlrecht zum normativen Fetisch wird, aber den politischen Interessen der Reaktion zugute kommt. Die Enttäuschung über diese Umstände schlug nach dem Staatsstreich Bonapartes 1851 in Sarkasmus um. In seiner Darstellung dieser Umstände (Der 18. Brumaire) sprach Marx das vernichtende Wort vom „Lumpenproletariat", das gemeinsam mit den Parzellenbauern Bonaparte die Stimme gab. Beide sozialen Schichten befanden sich - genauso wie der Mittelstand - nicht in einem revolutionären, sondern reaktionären Kampf gegen das Bürgertum. Ihnen allen das demokratische Wahlrecht zu verleihen verhieß daher noch keinen gesellschaftlichen Fortschritt. Sah Marx bis etwa 1850 eine gewisse Kongruenz zwischen der demokratischen und der sozioökonomischen Entwicklung, entkoppelte er nun beide Stränge endgültig und bis zu einem Grade, dass beide sogar einander gegenüber stehen konnten. Marx war nicht der einzige Sozialist, der Mühe hatte, diese Hinwendung des Volkes zur Diktatur zu begreifen. Der Bonapartismus war auch für Anarchisten wie Bakunin und Proudhon schockierend. Die sehr unglückliche Selbstbezeichnung „Anarchist" weckte bei Zeitgenossen den Verdacht, es handelte sich hierbei um einen Anhänger des regellosen Chaos, der Anarchie im Sinne völliger Unordnung. Als Vorläufer des Anarchismus gelten so unterschiedliche Autoren wie Godwin oder Max Stirner (Crowder 1991, 6-73; Degen/Knoblauch 2006, 26-71); als Bezeichnung eines bestimmten Politikverständnisses hat aber zunächst Proudhon von Anar-

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chismus gesprochen. Die klassischen Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865), Mikhail Bakunin (1814-1876) und Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842-1921) verstanden unter Anarchismus zunächst nur die Ablehnung des staatlichen Herrschaftsapparates, meist auch die Zurückweisung jeglicher Hierarchie (Diefenbach 1997). An ihre Stelle sollten Selbstregierung und freie Kooperation treten, weshalb sich die klassischen Anarchisten auch als Demokraten verstanden; sie wollten keineswegs das normative Ideal der Demokratie in die Form nicht-demokratischer Staatlichkeit gießen, um dadurch auf die kritisierten Begleiterscheinungen wie Verwaltung, Militär und Geheimpolizei verzichten zu können. Schon straffe Führungsansprüche innerhalb der I. Internationale, wie sie Karl Marx zwecks Erhöhung der Schlagkraft verlangte, stießen bei Proudhon und Bakunin auf Widerstand Bakunin verabschiedete sich in Reaktion auf den Bonapartismus von der zuvor geteilten Überzeugung, das demokratische Wahlrecht werde progressive Wirkungen haben. Er machte für die „antidemokratischen" Effekte des allgemeinen Wahlrechts die Trennung von politischer und ökonomischer Macht verantwortlich (Das knutogermanische Kaiserreich 1870, 16-17). Da alle Staatlichkeit auf Verwaltung und Militär errichtet sei, mache die Staatsform keinen Unterschied aus: ob Monarchie oder Republik, im Ergebnis würden Verwaltung und Militär die übrige Bevölkerung ausbeuten (Staatlichkeit und Anarchie 1873, ed. Stuke 439). Aus ähnlichen Gründen störte er sich an der Idee einer Diktatur des Proletariats, da auch ehemalige Arbeiter als Regierende doch nur die gleichen Verhaltensweisen an den Tag legen würden wie alle Herrschenden (614). In seinen polemischen Glossen zu Staatlichkeit und Anarchie verwahrte sich Marx gegen diesen Vorwurf und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass die Klassenherrschaft des Arbeiters mit dem Wegfall der Klassengesellschaft entfallen würde (ebda.). Was an Stelle der Klassenherrschaft treten sollte blieb bei Marx kaum weniger vage als Bakunins Vertrauen darauf, dass im Zuge einer „anarchistischen sozialen Revolution" das Volk die ihm innewohnenden Kräfte endlich frei entfalten und so zu neuen „Formen einer freien Gesellschaft" gelangen werde (Staat und Anarchie, ed. Stuke 561), deren Inhalt er im Unklaren ließ. Der russische Zweig des Anarchismus wurde später zusätzlich von dem Umstand verdunkelt, dass Terroristen, die mit Anschlägen auf verschiedene Zaren europaweite Beachtung fanden, sich als Anarchisten bezeichneten. Proudhon, der Kopf des französischen Zweigs des Anarchismus (Crowder 1991, 74-117), schwächte sein früheres Modell ebenfalls unter dem Eindruck des Bonapartismus ab. Er war nach dem Staatsstreich verhaftet worden und musste sich eingestehen, dass das demokratische Wahlrecht an die Stelle der Republik die Monarchie gesetzt hatte. Es galt daher nun, eine strukturelle Nähe zwischen der Herrschaft „par la grace de Dieu" und derjenigen „par la grace du peuple" zu konstatieren (Napoleon III. posthum, 258). Die ehemals provokativen Ansichten seiner Anfangszeit (Qu 'est que la proprieti? 1840), wonach der Mensch keiner Herrschaft bedarf, Eigentum eine kaum verhüllte Verschleierung von Herrschaft sei und alleine Anarchie - im Sinne des Wegfalls organisierter (staatlicher) Herrschaft - die Freiheit des Menschen garantiere, wichen nun eher konstruktiven Überlegungen. In den 1860er Jahren beschäftigte er sich mit moderateren politischen Theorien, die er zur Theorie des Föderalismus umformte (Du principe federatif 1863). Dieser spät-rousseauistische Ausblick auf Assoziationen von Menschen im Sinne von sich selbstregierenden Verbänden hatte den von Marx am Frühwerk gescholtenen „utopischen" Charakter (Misere de a philosophie 1847) abgestreift. Die Ernsthaftigkeit dieser Bemühungen anerkannte Marx jedoch nie; gleichzeitig hatte er aber Proudhons institutionellen Überlegungen nichts vergleichbares entgegenzusetzen.

3 Demokratie ohne Repräsentation: der europäische Sozialismus und Karl Marx 383 Der ökonomischen Theorie von Marx war kein Erfolg beschieden. Die Arbeitswertheorie, der Fall der Profitrate, die Untergangsprognose des Kapitalismus und die enge Verbindung von Staatlichkeit und makroökonomischer Struktur im Begriff der (ökonomisch definierten) Klassenherrschaft konnten schon wenige Jahre nach ihrer Niederschrift nicht der Wirklichkeit standhalten. Marxistische Ökonomen der Folgegeneration, von Rosa Luxemburg bis Rudolf Hilferding, waren verzweifelt bemüht, die Marxsche Theorie der Entwicklung des Kapitalismus (Imperialismus, organisierter Kapitalismus) anzupassen. Der Marxismus hielt jedoch ungeachtet der jeweiligen ökonomischen Beweisführung an der politisch zentralen These fest: das Bürgertum ist außerstande, die kapitalistische Wirtschaftsordnung zu reformieren, ohne ihre eigene Klassenposition zu negieren; die Wirtschaftsstrukturen selbst führen zur Ausbeutung des Arbeiters und müssen daher überwunden werden. Wenn der Kapitalismus von einem Teil des Bürgertums auch sozialethisch kritisiert wurde, konnten dem Marxismus zufolge bloße Reformen keine dauerhafte Abhilfe schaffen. Auf der anderen Seite haben gerade die marxistischen Sozialisten Marx' Faszination fur den Kapitalismus geteilt: seine revolutionäre Kraft bei der nicht-militärischen Überwindung des Feudalismus, seine Fähigkeit zur Schaffung ungeahnter Mengen an Ressourcen, die Schaffung eines vorher unbekannten Sozialverhältnisses von Freiheit und Gleichheit zwischen den am Markt tätigen Individuen (Grundrisse der Ökonomie 1857, 170-174). Die Frage war, ob die institutionentheoretische Lücke des Marxismus durch Anleihen oder gar Übernahmen aus dem Repertoire des bürgerlichen Denkens geschlossen werden konnte oder eine solche Übernahme als ein Rückschritt im Klassenkampf zu bewerten wäre. Mit anderen Worten: waren Demokratie und Parlamentarismus Produkte bürgerlichen Denkens oder konnten sie in den Marxismus integriert werden? Marx oder Lassalle? Die zeitliche Perspektive weitete sich zusehends aus. Marx sichtete die unmittelbaren Geschehnisse seiner Zeit auf der Suche nach Hinweisen darauf, dass die Krise des Kapitalismus endlich eintrat und die Revolution unmittelbar bevorstand. Er selbst war bestrebt, die Internationalisierung des Proletariats durch die Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation (der „ersten" Internationale) 1864 zu beschleunigen. Sein Wunsch einer straffen Organisation stieß von Anbeginn auf den hartnäckigen Widerstand der Anarchisten um Bakunin, die keine Staatlichkeit auf einem anderen Niveau haben wollten (Gouldner 1982). Diese Diskussion führte zu Selbstblockade und schließlich 1876 zur Auflösung. Auf nationaler Ebene setzte die parteipolitische Organisation der Arbeiterbewegung ein. Während Marx im Londoner Exil am Kapital arbeitete, formierte sich in Deutschland die politische Arbeiterbewegung unter der Führung von Ferdinand Lassalle (1825-1864). Eine Abordnung sächsischer Arbeiter beauftragte Ferdinand Lassalle mit der Ausarbeitung eines Organisationsstatuts für ihre Bewegung. In seinem Offenen Antwortschreiben aus dem Jahr 1863 verlangte Lassalle, dass die Arbeiter eine selbständige, das heißt von den liberalen Parteien des Bürgertums unabhängige Partei konstituieren und das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zur prinzipiellen Losung der Partei erheben sollten, was mit der Gründung des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins" auch so geschah. Für Lassalle war die Demokratieforderung eine machtpolitische Strategie, kein Dogma, weshalb er sie auch nicht auf die innerparteiliche Struktur übertrug. Das Stimmrecht der Mitglieder war auf die jährlichen Generalversammlungen beschränkt, ansonsten regierte Lassalle per Anordnung unbeschränkt. Diese „Diktatur der Einsicht" rechtfertigte er mit der man-

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gelnden politischen Reife der Arbeiter (Na'am 1963). In seiner Rhonsdorfer Rede unterschied Lassalle zwischen dem liberalen Freiheitsbegriff und demjenigen des Arbeiterstandes; jenem ordnete er das individuelle Meinen und Nörgeln zu, diesem die Fähigkeit, aus freier Einsicht in die Diktatur einzuwilligen, um die nötige politische Schlagfertigkeit zu erhalten (Agitation des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins 22. Mai 1864): darin zeigte sich Lassalles Hegelianismus, was sich auch auf seinen Staatsbegriff auswirkte. Lassalles politische Strategie zielte auf die Eroberung des Staates. Der Staat soll nicht überwunden oder überflüssig gemacht werden, Lassalle wollte ihn mit Hilfe der Arbeiterbewegung seiner eigentlichen Kulturaufgabe zuführen, an welcher ihn das Bürgertum und die Aristokratie hinderten. Daher betonte Lassalle die tragende Rolle der Arbeiterschaft. Er hatte in dem Vortrag Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes am 12. April 1862, der unter dem Titel Arbeiter-Programm gedruckt wurde, dem vierten Stand die geschichtsphilosophische Aufgabe zugewiesen, das Erbe des Bürgertums anzunehmen und zur historische Kraft zu werden, die den Prozess der Aufklärung der Menschheit zu ihrem Ende bringt, das hieß: zur Freiheit. Nur für den vierten Stand ergab sich die Koinzidenz von der Verbesserung der Lage der Arbeiter und dem Fortschritt der Menschheit insgesamt. Das Instrument hierzu war der Staat. Das Mittel zur Eroberung des gegenwärtigen Staates und zu seiner Umwandlung in den sittlichen Staat sollte das allgemeine und direkte Wahlrecht sein. Im Arbeiterprogramm und in dem wenige Tage später gehaltenen Vortrag Über Verfassungswesen im Berliner Bürger-Bezirks verein am 16.April 1862 sprach er der Arbeiterschaft eine Machtstellung im Staat zu. Schon jetzt sei die Arbeiterschaft ein Teil der Verfassung des Staates, auch wenn sie dort gar nicht erwähnt werde, genauso wenig wie die Verfassung die Berliner Börse erwähnte, die gleichwohl einen erheblichen Einfluss habe. Definiere man die Partizipation am Staat nach Maßgabe des Steuerbetrags, wie es das bürgerliche Denken verlangte, so könne man den Beitrag der Arbeiter an den indirekten Steuern erkennen. Lassalles Forderung des allgemeinen Wahlrechts war eine agitatorisch wirksame, wenn auch zeitgeschichtlich umstrittene Forderung, die aber mit ihrer aufklärerischen Wurzel ihre Wirkung auf die Arbeiterbewegung und ihre Führer - auch der Eisenacher und dort vor allen Dingen Wilhelm Liebknecht - nicht verfehlte (Misch 1974, 82-84). Das allgemeine Wahlrecht als Fahnenspruch gab der sich formierenden Arbeiterschaft politisches Selbstbewusstein, wie es die komplexe marxistischen Theorie kaum vermochte. Das demokratische Wahlrecht blieb trotz Marxens Einspruch eiserner Bestand der Sozialdemokratie, allerdings wechselten seine taktischen Begründungen und strategischen Überlegungen (Misch 1974). Marx und Engels kritisierten Lassalles Festhalten am klassischen Staatsbegriff als unzeitgemäß (Ramm 1960), Marx verurteilte die demokratische Parole des allgemeinen Wahlrechts entschieden und warf Lassalle vor, nicht die richtigen Schlüsse aus dem Bonapartismus gezogen zu haben (Brief an Schweitzer vom 13.4.1866). Er versuchte, Lassalles Partei zum Beitritt zur Internationalen zu bewegen, was an Lassalles nationaler Ausrichtung scheiterte. Engels thematisierte daraufhin 1865 die unterschiedlichen Sichtweisen Marxens und Lassalles öffentlich: In einer Zeit, da die reaktionären Bauern zahlenmäßig dem Proletariat weit überlegen seien, müsse auf eine schnelle Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts verzichtet werden (Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei 1865, MEW XVI 73-74). In Absprache mit Marx gründete Wilhelm Liebknecht die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, den Eisenacher Flügel der Arbeiterbewegung um Bebel und Liebknecht, als Gegengewicht zu den Lassalleanern.

3 Demokratie ohne Repräsentation: der europäische Sozialismus und Karl Marx 385 Nach Lassalles Tod war davon die Rede, Marxens Einfluss auf die Parteientwicklung zu vergrößern, was aber am Widerstand der Lassalleaner scheiterte. Daraufhin hofften Marx und Engels, das Auftreten der lassalleanischen Abgeordneten im Reichstag nach ihrem ersten Wahlerfolg in den Reichstagswahlen von 1874 werde eine desavouierende Wirkung haben und zur Minderung des lassalleanischen Einflusses im Prozess der Fusionsbestrebungen der Arbeiterparteien führen. Ein Vorabentwurf des Parteiprogrammes der mit den Lassalleanern fusionierten Eisenacher (Gothaer Programm) wurde Marx zugesandt, der es 1875 mit bissigen polemischen Kommentaren überall dort versah, wo er die Fortexistenz des Lassalleanischen Erbes vermutete. Marxens kritisches Schreiben an die Parteiführung wurde von der Parteiführung unterdrückt und erst von Engels 1891 in der Neuen Zeit veröffentlicht. Marx lehnte es ab, die Arbeiterfrage als ein Problem der Regierungslehre zu sehen (Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei 1875, Politische Schriften 1033-1034): Die Aufgabe der Gestaltung des Staates im Zuge der Umwandlung der Gesellschaft zum Kommunismus sei nur gesellschaftstheoretisch, nicht demokratietheoretisch zu bewältigen. Marx wollte den „vom Untertanenglauben der Lassalleanischen Sekte an den Staat" „verpesteten" Teil der organisierten Arbeiterbewegung bloßstellen (Randglossen ed. Lieber 1037). Um sich von Lassalles Demokratieidee zu distanzieren, sprach Marx von der „Diktatur des Proletariats" (Randglossen 1034) als Bezeichnung für die revolutionäre Umwandlung der kapitalistischen zur kommunistischen Gesellschaft, verstanden als politische „Übergangsperiode." Marx erwähnte diesen Begriff erstmals in einem Brief an Joseph Wedemeyer vom 5.3.1852 (MEW XXVIII 508), in dessen Monatsschrift Die Revolution er den 18. Brumaire veröffentlicht hatte. Der Begriff „Klassendiktatur des Proletariats" findet sich dann auch in den Klassenkämpfen (Politische Schriften 222). Der Ausdruck „Diktatur des Proletariats" verknüpfte den republikanischen Begriff der Diktatur mit einer kollektiven Trägerschaft. Die Aufgabe der Revolution bestehe im Durchbruch zum Kommunismus und erfolge durch Nichtachtung der bürgerlichen Rechte der zu enteignenden Bürger und der zu entmachtenden sozialen Eliten. In dieser Übergangszeit macht laut Marx eine dogmatisch behauptete demokratische Egalität aller Menschen keinen Sinn. Seine sozialgeschichtlich-revolutionäre Theorie glaubte anfangs noch kompatibel mit der allgemeinen, auch von Liberalen erhobenen Forderung der Demokratie zu sein, verstanden als Zwischenschritt zum Kommunismus und endete in einer Form der Selbstregierung, die Marx Diktatur nannte. Die Forschung zu Marx' politischer Theorie changiert zwischen der Betonung des einen oder des anderen Elements (Draper 1987; Ehrenberg 1992; Nimtz 2000). In der Ideengeschichte ist aber die Entgegensetzung von Demokratie und Diktatur kein zwingender Gedanke: so wie die republikanische Diktatur die Gesetzesherrschaft (zeitweilig) über den aktuellen Willen eines Volkes stellen kann, um diesem besser zu dienen, so konnte Marx die Diktatur als ein historisch erforderliches Stadium vollendeter Demokratie ansehen. Das Beispiel einer solchen Diktatur des Proletariats vermeinte Marx in der Pariser Commune von 1871 zu entdecken, die er ausführlich kommentierte (Der Bürgerkrieg in Frankreich 1871; Rosenberg 1988, 172-175). Die Begeisterung für die Commune teilte er mit Bakunin {Die Commune von Paris und der Staatsbegriff 1871). Marx schilderte die kurze Phase, als im verlorenen Krieg Frankreichs gegen Preußen-Deutschland die Bevölkerung von Paris die Macht übernahm und sich als Kommunarden selbst organisierte. In einer stark idealisierenden Hervorhebung der dabei zum Vorschein gelangten Selbstorganisationskräfte wollte Marx demonstrieren, wie die Staatsmacht durch eine andere politische Formation ersetzt werden kann. Der Staat war hier nicht wie bei Lassalle eine allgemeine, klassenunabhängige Vorstel-

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lung, sondern weiterhin der politische Arm des Bürgertums. Marx' Bürgerkrieg in Frankreich wurde später immer wieder als Bezugspunkt für die vermisste Institutionentheorie rezipiert und war die Hauptreferenz für Lenins Staatstheorie von 1917, in welcher er dem Parlamentarismus eine vollständige Absage erteilte (Meschkat 1965, 15-17; Grützner, 1963). Rosa Luxemburg dagegen stellte die Kommune in Zusammenhang mit der ersten Phase der Arbeiterbewegung, in welcher Barrikadenkampf noch sinnvoll war (Die Krise der Sozialdemokratie 1916, Kap. 1). Ihr sei die zweite Phase der Massenorganisation nachgefolgt, in welcher andere Mittel wie der Massenstreik nötig seien. Bernstein schließlich nutzte die Kommunarden-Schrift von Marx, die er als einer der ersten Marxisten systematisch gebrauchte, um eine nicht rein historische, sondern relativ selbständige Politiktheorie für den Marxismus zu fordern (Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie 1899), woran sich die mit Bernsteins Namen eng verbundene Revisionismusdebatte über den Primat des Politischen in der Sozialdemokratie entzündete. Klassenbegriff und sozialistische Parteipolitik Marx und Marxismus sind sehr unterschiedliche Erscheinungen. Der Weg führte von Marx zur Sowjetideologie des 20. Jahrhunderts, aber von diesem Ende her lässt sich der Anfang nicht verstehen (Fetscher 1970), zumal der politische Sozialismus als Denkbewegung wie als politische Bewegung alleine schon in Europa sehr unterschiedliche Formen annehmen konnte (Kolakowski 1981; ed. Fetscher 1983). Marx löste eine theoretische Neuorientierung aus bzw. verstärkte sie. In der Frage des obskuren Volksbegriffs bot der Marxsche Klassenbegriff einen neuen Zugang. Der Klassenbegriff umfasst alle Teile der Bevölkerung und definiert seine Einteilung in kollektive Größen und Akteursgruppen. Zugleich ist er transnational, was die I. Internationale umsetzen wollte. Erst als die organisierte Arbeiterbewegung ihre nationale Überzeugung glaubhaft machte, wurde sie regierungsfähig. Regierungsfähig zu sein war aber ebenso wenig Marxens Perspektive auf die Klassen wie die demokratische Binnenorganisation zwischen den Klassen: Die Sozialdemokratie befand sich in einem Dilemma zwischen marxistischer Ideologie und parteipolitischer Praxis. Die institutionentheoretische Lücke, die Marx gelassen hatte, machte sich nun bemerkbar. Marx hatte im Kommunistischen Manifest behauptet, die Proletarier hätten nur ihre Ketten zu verlieren und seien daher für die Revolution am leichtesten zu gewinnen. Mit dem Aufkommen der organisierten Arbeiterbewegung hatten die Arbeiter jedoch mehr zu verlieren als nur ihre „Ketten": sehr große kollektive Vermögen, Hunderte von Zeitungen, Liegenschaften und Schulen. Die Gewerkschaftsbewegung ebenso wie Arbeiterpartei wollten das Klassenbewusstsein der Arbeiter schulen und die Lebensbedingungen verbessern, da sie sich nicht nur der Gesellschaftsgeschichte der Menschheit, sondern den Mitgliedern dieser Organisationen verpflichtet fühlten. Das wirkte freilich der Verelendungstheorie entgegen und stand in einem unüberbückbaren Gegensatz zur Revolutionstheorie. Wie der Marxgetreue Wilhelm Liebknecht später sagte, macht es nun einmal einen erheblichen Unterschied, ob man als Philosoph neben dem Strom steht und ihn fließen sieht oder im Strom schwimmen muss. Die Sozialdemokratische Programmatik vom Eisenacher Programm über das Gothaer zum Erfurter Programm von 1891 sah eine ganze Reihe an unmittelbar demokratischen Institutionen vor (Fraenkel 1990, 190-191). Diese Maßnahmen reichten von Referenden bis zur unmittelbaren Volksgesetzgebung, schlossen das allgemeine und gleiche, auch Frauen berücksichtigende Wahlrecht ein. Dieses Bündel wurde aber in kein Verhältnis zu den institutionellen Anforderungen des Parlamentarismus oder zur Revolution gebracht. Es war eine offene

3 Demokratie ohne Repräsentation: der europäische Sozialismus und Karl Marx 387 Frage, ob die Sozialdemokratie eine parlamentarische Kraft war oder eine systemfeindliche politische Bewegung, die nur die Vorzüge des bestehenden politischen Systems ausnutzen wollte, um dieses im ganzen zu überwinden. Sozialisten als Internationalisten waren aus der Sicht nationalstaatlicher Theoretiker dem permanenten Hochverrat nahe und wurden so auch in den Sozialistengesetzen behandelt. Die Sozialdemokratie wurde ab 1893 nach der Überwindung der Sozialistenverfolgung auf Reichsebene zu einer der maßgeblichen Parteien und treibenden Kräfte des Parlamentarismus. Beunruhigt vom gewerkschaftlichen Einfluss auf die Partei und den weiterhin spürbaren Geist Lassalles, begann Friedrich Engels mit der Publikation von Marxens „kleinen politischen" Schriften, um eine marxistische Alternative zur Arrivierung im bürgerlichen politischen System aufzuzeigen. Engels hatte von Anbeginn den institutionellen Fragen der Politik, von der parlamentarischen Praxis bis zu Problemen der Militärtaktik, eine größere Aufmerksamkeit gewidmet als Marx. Den Anfang machte nun Engels Edition des 18. Brumaire. Diese berühmte Arbeit von Marx aus dem Jahre 1852 war von ihm selbst in zweiter Auflage 1869 veröffentlicht worden, gewann aber erst in der 3. Auflage 1885 Gewicht in der Parteidiskussion, wozu auch Engels eigene Einleitung zur erweiterten Fassung beitrug. Die Klassenkämpfe in Frankreich waren als Aufsatzfolge in den Jahren 1848/50 erschienen und wurde nun erstmals geschlossen durch die Ausgabe von 1895 zugänglich, der Engels eine rezeptionsgeschichtlich wirkmächtige Einleitung beigab. 1891 hatte Engels bereits den Bürgerkrieg in Frankreich veröffentlicht und wiederum mit einer Einleitung versehen. Zuerst waren sie als Adressen an den Generalrat der (ersten) Internationale auf englisch erschienen und wurden nun mit dieser Edition einem breiteren Publikum in Deutschland bekannt gemacht. Im gleichen Jahr veröffentlichte Engels schließlich in der Neuen Zeit erstmals Marxens Kritik am Gothaer Programm. Engels wollte an die revolutionäre Ausrichtung der Bewegung erinnern und gegen die politischen „Philister" Druck ausüben (Steinberg 1967, 177). Auch Karl Kautsky (1854-1938) unterstützte Engels. Nach Marxens Tod gehörte Kautsky ebenso wie Eduard Bernstein (1850-1932) zu den wichtigsten Protagonisten eines marxistischen Selbstverständnisses der deutschen Sozialdemokratie. Als Eduard Bernstein nach den Sozialistengesetzen daran gehen konnte, eine Schriftensammlung der geistigen Väter der Partei herauszugeben (1892-1893), waren es zunächst die Schriften von Lassalle, die von Partei wegen berücksichtigt werden sollten. Bernstein wurde mit der Edition beauftragt und versuchte in seinen Kommentaren und Einleitungen, nicht am bewunderten Bild Lassalles als Vorkämpfer und begeisternden Parteigründer zu rütteln, wie es die Lieder und Feiertage der Partei reproduzierten, aber vorsichtig die ökonomischen und politischen Lehren Lassalles zu relativieren und die theoretische Überlegenheit Marxens zu begründen. Insbesondere Lassalles Eintreten für das demokratische Wahlrecht interpretierte Bernstein als Anerkennung seines Werts als taktisches Kampfmittel und nicht aus prinzipiellen Gründen. Bernstein befürwortete mit Lassalle die Demokratie und distanzierte sich zugleich von seiner Begeisterung hierfür. Die Demokratieidee konnte nach schweizerischem Vorbild als direkte Volksgesetzgebung gedeutet werden, wie sie die seinerzeit breit rezipierte Lehre des Schweizers Moritz Rittinghausen propagierte. Ganz im Sinne der idealistischen, rousseauistisch geprägten Demokratietheorie galt für Rittinghausen die Unvertretbarkeit des Volkes als Kennzeichen der Demokratie {Die direkte Gesetzgebung durch das Volk 1893; Mantl 1987). Im Zuge dieser Tradition betonte er die Gefahr der Verstellung und Aushöhlung der Demokratie durch das Repräsentativsystem. In der lassalleanischen Tradition fanden solche Demokratieforderungen Gehör.

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Kautsky verlangte statt dessen, zwischen agrarisch-kleinbürgerlichen, rousseauistischen Kleinstaaten und modernen Industriestaaten zu unterscheiden; in letzteren seien Modelle der direkten Gesetzgebung nichts als demokratische „Illusionen" {Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Sozialdemokratie 1893). Ein anderes Problem war die innerdemokratische Struktur der Partei selbst. Für eine Bewegung, die wie keine andere demokratische Forderungen in ihrem Programm verfocht, ziemte sich innerparteiliche Demokratie. Im Vorwort einer Neuauflage seiner Rittinghausen-Kritik {Parlamentarismus und Demokratie 1911) ging Kautsky auf die Vorwürfe ein, die gegen die straffe Organisationsstruktur der Partei erhoben wurden. Der einzelne Arbeiter habe nichts zu verlieren als seine Ketten, aber dies sei nicht in gleicher Weise gültig für die Organisation der Arbeiterbewegung. Mit diesem bemerkenswerten Kommentar zum Kommunistischen Manifest schlug Kautsky einen Gedankenweg ein, der alle weiteren politischen Handlungsstrategien begleitete. Die Bedeutung der Organisation war für Kautsky die entscheidende Veränderung zu den Ausgangsbedingungen einer revolutionären Partei, wie sie noch den Autoren des Kommunistischen Manifestes vor Augen gestanden hatten: von einer Splittergruppe war die Arbeiterschaft mittlerweile zur massenhaft organisierten Arbeiterbewegung angewachsen. Diese Wandlung machte Kautsky zufolge auch einige Veränderungen in Strategie und Taktik der Politik des Proletariats nötig. Dazu zählte er die besondere Bewahrungswürdigkeit der Organisation als solcher. „Beim Proletarier wird naturgemäß der Wille zur Macht der Wille zur Organisation", der Organisation gebührt eine besondere Stellung. Die Organisation verändert aber auch die Perspektive, was einen Konflikt zwischen „ungeduldig vorwärtsdrängenden Massen und zur Behutsamkeit mahnenden Führern" verursacht {Parlamentarismus und Demokratie 9). Hinzu kam die unterschiedliche Psychologie der Akteure: hier die zu dauernder Berufsarbeit eigens bestellten Parteibeamten, dort die nur gelegentlich gewählten Funktionäre, die „aus der Masse empor tauchen, um nach einiger Zeit wieder in ihr zu verschwinden." Der Maßstab, nach dem dieser Konflikt zu entscheiden ist, findet sich laut Kautsky nicht in der Übertragung idealistischer demokratischer Prinzipien auf die Parteiorganisation. Im Staat darf die Forderung nach Volksgesetzgebung zumindest der Idee nach Geltung beanspruchen, wenngleich evolutiv die Repräsentation als zeitgemäße Form einer denkbaren und realisierbaren Volksgesetzgebung akzeptiert werden muss. Im Gegensatz hierzu ist die Partei nicht das Forum der Austragung von Klassengegensätzen, sondern nur der Ort von Meinungsverschiedenheiten innerhalb einer Klasse. Im Klassenkampf ist jede Klasse zur Einigkeit angehalten, weshalb die Mittel und Wege zur Herstellung dieser Einigkeit und zur effektiven Führung des Klassenkampfes eine besondere Relevanz haben. Es gilt, die Logik „des Krieges der Klassen, des Krieges mit den jeweilig gegebenen Machtmitteln der inneren Politik" {Parlamentarismus und Demokratie 19) ernst zu nehmen, und dieser Krieg bedarf einer straffen Führung der Partei. Das Dilemma der sozialistischen Theoriebildung, beruhend auf der Kluft zwischen der geschichtsphilosophischen Orientierung und institutionellem Problembewusstsein, schien im Gedanken der Organisation ihre Lösung gefunden zu haben. Kautsky fasste seine Theorie in dem berühmten Diktum zusammen, die Sozialdemokratie sei eine revolutionäre Partei (in geschichtlicher Perspektive), die aber keine Revolution mache (in politischer Hinsicht) {Der Weg zur Macht 1910, 52). Was aber, wenn die straffe Organisation eher zur Förderung einer sich selbsterhaltenden Bürokratie führte als die revolutionäre Schlagkraft der Arbeiterbewegung zu erhöhen? Diese Möglichkeit trieb Rosa Luxemburg (1871-1919) um. Sie hatte 1906 den Niedergang des

3 Demokratie ohne Repräsentation: der europäische Sozialismus und Karl Marx 389 revolutionären Politikverständnisses teilweise mit dem wachsenden Einfluss der Gewerkschaften und des dort herrschenden Obrigkeitsgeistes erklärt und lobte dafür den innerparteilichen „Demokratismus" der SPD (Massenstreik, Partei und Gewerkschaften 1906). In der zweiten Auflage ließ sie das Lob dieses innerparteilichen Demokratismus fallen und konstatierte statt dessen, dass das beklagte Gewerkschaftsbeamtentum nun als Parteibeamtentum auf die SPD übergegangen sei {Politische Schriften 222). Als probates Mittel gegen die Petrifizierung der Parteiführung schlug sie die Revolution vor. Das Mittel zur Eröffnung der Revolution war in ihren Augen der politisch motivierte Massenstreik. Der Kampf um die Demokratisierung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts, dem institutionellen Schlüssel zur Brechung des Obrigkeitsstaates auf parlamentarischer Ebene, brachte die strategische Überlegung auf die Tagesordnung: sollte man mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dafür eintreten, und zwar unter Einschluss des politischen Massenstreiks, oder sollte man sich auf parlamentarische Mittel beschränken? Die Parteileitung befürwortete mehrheitlich eine reformerische Strategie. Der revolutionäre Flügel befürchtete dagegen die Verbürgerlichung durch Anpassung, wohingegen der Massenstreik ein genuin revolutionäres, die Entscheidung herbeizwingendes Kampfmittel zu sein schien. Luxemburgs Sorge steigerte sich mit Bernsteins Wandel vom ökonomischen Marxisten zum Parlamentarismustheoretiker (Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie 1899) und den Widerhall, den die von Bernstein ausgelöste Revsionismusdebatte fand. Sie kritisierte, dass Bernstein die Luxemburg zufolge bürgerliche Idee des Parlaments nicht mehr ausschließlich im Kontext des Klassenkampfes betrachtete, sondern als bewährte politische Institutionen pries; Bernstein wollte den Parlamentarismus auch nachdem der Arbeiterbewegung die Macht evolutionär in den Schoß gefallen war beibehalten. Die Revolution war in Luxemburgs Augen nicht einfach ein Umsturz, sondern ein Schritt zur Emanzipation der Arbeiter selbst, ein rapider Lernprozess der Selbsterfahrung im Umgang mit der politischen Macht. Der Streik war ihrer Ansicht nach kein gewerkschaftliches Mittel zur gezielten Durchsetzung verbesserter Lebensbedingungen der Arbeiter, sondern ein Mittel zum Wandel von Gesellschaftsstrukturen unter tätiger Mitwirkung der Betroffenen selbst. Angesichts von Verkrustungs- und Bürokratisierungserscheinungen der Organisation sprach Luxemburg der unorganisierten Arbeiterschaft, der „Masse" der Arbeiter besondere Eigenschaften wie Spontaneität und Lernfähigkeit zu, die ihr durch Organisation abhanden zu kommen drohten. Noch 1917 beschrieb Luxemburg ihre Hoffhungen bezüglich der Masse, die sie zwischen niedrigster Feigheit und wildestem Heroismus schwanken sah (in: Llanque/Münkler 2007, 215). Sie war sich der Ambivalenzen bewusst, zog aber die Gefahren spontaner Selbstorganisation dem Paternalismus von oben gelenkter Organisation vor. Insofern war ihre Position in der Massenstreikdebatte zu Beginn des 20. Jahrhundert auch eine andere als die des Syndikalisten Georges Sorel (1847-1922) in Frankreich, der in den ReJlexions sur la violence (1908) gleichfalls den Generalstreik als politisches Mittel pries. Der Streik war in Sorels Augen das Mittel, mit dem sich die Massen von den bürgerlichen Strukturen gewaltsam losreißen konnten. Er vertrat jedoch eine stark anti-intellektuelle Haltung, die irrationale Prozesse nicht nur in Kauf nahm, sondern geradezu ersehnte. Luxemburg verstand sich dagegen als rationale Marxistin, als Vertreterin einer konsequenten politischen Ökonomie, die im Bereich der Politik allerdings Grenzphänomene wie die Psychologie der Revolution berücksichtigen wollte.

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4. Die politische Theorie der Massendemokratie Das Volk im Zeitalter des Imperialismus Zum Ende des 19. Jahrhunderts war die „Demokratie" eine zunehmend umworbene Vokabel, ein „Hochwertwort" (Meissner 1990); ihr begrifflicher Inhalt, ihre soziale und politische Wirklichkeit blieb vielen Theoretikern ein Rätsel. Das Unbehagen war verbreitet, inwieweit die zu politischer Selbstbestimmung drängende „Masse" einer in Ziffern zu beschreibenden Population individuelle Freiheit und Persönlichkeitsentwicklung in Gefahr brachte. Wie effizient konnte ein demokratisches Regime sein und wie leicht ließ sich die Demokratie als Legitimationsressource für Alleinherrschaft ausnutzen? Der sprunghafte Anstieg der Massenmedien, zunächst der auflagenstarken überregionalen Zeitungen, dann die Einfuhrung akustischer Medien wie der Hörfunk, änderten die Struktur der Öffentlichkeit, auf deren Rationalität man seit der Aufklärung vertraut hatte: Politik im Lichte demokratisierter Gesellschaften war immer noch terra incognita für die politische Theorie. Hinzu kam nun auch noch, dass das „Volk" sich nicht mehr ohne weiteres in Kategorien von Staat und Nation begreifen ließ. Der internationalistische Sozialismus schien die Nationalität als Merkmal der Zugehörigkeit der Menschen zu politischen Ordnungen zu überwinden; was als Ideologie des Klassenkampfes hätte gedeutet werden konnte, erhielt durch den Aufbau imperialer Kolonialreiche zusätzliche Plausibilität. Seit der Entdeckung Amerikas hatte der Horizont des europäischen politischen Denkens seine kontinentale Ausrichtung überschritten. Doch erst der Kolonialismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts führte zu tiefgreifenden Veränderungen des politischen Denkens. Die Kriege der europäischen Nationen untereinander beruhten weitestgehend auf der Vorstellung einer Gleichwertigkeit der Teilnehmer. Die Herrschaft über Bevölkerungen in außereuropäischen Kolonien war ein neues Phänomen. Eingebettet in der Selbstgewissheit moralischer Überlegenheit des christlichen Glaubens, begleitet von der missionarischen Aufgabe des Kampfes gegen den Sklavenhandel einerseits und der „Kultivierungsaufgabe" der Naturvölker andererseits, gingen Waffe und Kreuz, wissenschaftliche Forschung und Mission, machtpolitische Expansion und wirtschaftspolitische Interessen beim Aufbau der Weltreiche Hand in Hand. Die erfolgreiche Eroberung des größten Teils der Welt vermittelte den Eindruck der Höherwertigkeit der europäischen Bevölkerung, was seinen begrifflichen Ausdruck in der gleichzeitigen Etablierung der Rassetheorie fand. Sie wurde besonders von Arthur de Gobineaus (1816-1882) Essai sur l'inegaliti des races humanies (1853-1855) popularisiert. Die Idee, menschliches Verhalten nach Rassemerkmalen zu klassifizieren und hieraus eine naturalistisch fundierte moralische Überlegenheit abzuleiten, prägte das politische Denken. Verstärkend wirkte das rasch wachsende Medium der Zeitungen, welche die Phantasien in der Bevölkerung anregten und imperiale Politik populär machten. Dazu zählten Massenblätter wie das 1896 von Alfred C. Harmsworths (der spätere Viscount Northcliffe) gegründete Halfpenny-Blatt Daily Mail. Harmsworth galt noch in Max Webers Politik als Beruf als Inkarnation des Pressedemagogen. Der Daily Mail folgte 1900 Arthur Pearsons Daily Express. Imperialismus war ein das Massenpublikum begeisterndes Thema, welches sich leicht mit Abenteurertum, soldatischer Romantik und rassistischem Vorurteil verbinden ließ (Baumgart 1975, 36-37). Eine umfangreiche Literatur entstand, die eine Art Geschichtsphilosophie oder Moralsoziologie des Imperialismus verfocht und auf offene Ohren eines immer größeren Publi-

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kums stieß: Die Erfolge von Charles Dilke (1843-1911) und seinem Greater Britain (1868) oder John Robert Seeley (1843-1895) und The Expansion of England von 1883 sowie die Reden von J. Chamberlain, Disraeli, Cecil Rhodes (1853-1902), die entsprechende Romanliteratur, allen voran die Bücher Rudyard Kiplings (1865-1936) bezeugen dies. Die Rechtfertigung der imperialen Politik machte bei Theorien Anleihen, die nicht für den Imperialismus entwickelt wurden. Dazu zählte der Sozialdarwinismus. Charles Darwin (1809-1882) hatte mit seiner hochkontroversen Studie On the origin of species by means of naturals election or the preservation of favoured races in the struggle for life (1859) die These der Evolution als Faktor der Artenentwicklung vertreten und damit ein neues Paradigma begründet. So wie die Medizin der politischen Theorie im 5. vorchristlichen Jahrhundert Leitbegriffe zur Verfugung gestellte hatte, so konnte es nicht ausbleiben, dass das politische Denken von Begriffen aus der Biologie Gebrauch machte, auch wenn der „Sozialdarwinismus" (Koch 1973) weder inhaltlich noch methodisch tatsächlich an das Vorbild Darwins anknüpfte. Die Idee eines unausweichlichen Kampfes ums Überleben bot einen anderen Denkweg als Zivilisation und Humanität, wie ihn die Aufklärung bislang verfolgt hatte. Gleich einer Parabel auf seine Zeit thematisierte der Romancier Joseph Conrad in The Heart of Darkness (1902) das Aufeinandertreffen von scheinbar objektiver Rassenkunde (Schädelvermessung) und dem Aufkommen eines Herrenmenschentums in den Tiefen weitestgehend unbekannter Kontinente: die Versuchung der Macht über Leben und Tod und die Ferne der Zivilisation mit ihren zahllosen Hegungen der menschlichen Natur lösen barbarisches Verhalten aus, das vermeint, im Dienste der Zivilisation zu stehen. Wenn Jules Ferry, republikanische Premierminister Frankreichs, 1885 seine Kolonialpolitik mit den Worten begründete, „dass die höherstehenden Rassen in der Tat ein Recht gegenüber den niederen haben" oder Dilke die Überzeugung von der Größe der angelsächsischen Rasse äußerte (Reifeld 1987, 28-30), dann ging die Rechtfertigung der zum Teil äußerst brutal und grausam durchgeführten Eroberung bzw. Konsolidierung der Kolonialgebiete immer von der Annahme der Existenz eines ethnisch-evolutiven Vorrangs aus, welcher seinerseits aus dem Erfolg der Unterdrückung die Überlegenheit der Rasse als Bestätigung der sozialevolutiven Prinzipien ablas. Hannah Arendt hat den Imperialismus als Herrschaftsform zu den Quellen der nationalsozialistischen Herrschaftsattitüde gezählt (Elemente und Ursprünge), die auch eine sehr viel praktischere Anleitung bot als die Philosophie Friedrich Nietzsches bzw. als das, was aus seinen, zudem durch die Herausgeber (seine Schwester und Peter Gast) entstellten, Einlassungen zum Willen zur Macht (1901/1906) herausgelesen werden konnte. Die Besorgnisse Arendts bezüglich der Auswirkungen imperialer Politik auf das europäische Verständnis von Regierung fanden in Hobson ihren Vorläufer, dessen Leistung darin bestand, Imperialismus als einen Gesamtkomplex politischen Denkens zu begreifen (Freeden 1990). John A. Hobson (1858-1940) war ein überzeugter Anhänger des Freihandels in der Tradition von Richard Cobden, betonte die interessenpolitische Analyse und warnte vor der machtpolitischen Instrumentalisierung des Ressentiments. Das Schüren des imperialistischen Geistes der Konkurrenz diene nur der Verschleierung eigensüchtiger Interessen von Anhängern nationaler Schutzzölle. In seinem Buch Imperialism (1902) konzentrierte sich Hobson zunächst auf die ökonomische Erklärung des Imperialismus, für die er die Überproduktion vollentwickelter kapitalistischer Industrien wie der Großbritanniens gepaart mit der Unterkonsumtion der Arbeiter verantwortlich machte. So wie Cobden 1853 vor der Instrumentalisierung des Frankreich-Hasses gewarnte hatte (1793 and J853), so warnte Hobson in seinem Pamphlet The German Panic aus dem Jahre 1913 vor der Übertreibung der Gefahr, die

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in der deutschen Wirtschaftskonkurrenz gesehen wurde (Gollwitzer 1982 II 71). Betrachte man die Zahlen und sehe man von der Ideologie ab, werde das Bild der um ihr Dasein konkurrierender Imperialismen zur Chimäre. Hobson verband mit der ökonomischen Forderung nach Freihandel auch ein politisch-historisches Ideal, werde doch in der Internationalen Politik der Friede durch die wirtschaftliche Annäherung der Nationen gefestigt. Diese These hätte sich auf Kants Theorie vom friedensforderlichen Funktion des Handels stützen können. Aber zu diesem Zeitpunkt war Kant in England noch unbekannter als Hegel. Hobson war nicht der Auffassung Norman Angells {The Great Illusion 1909), wonach die Dominanz der Ökonomie das Heft des Handelns der Politik genommen und in die Hände der Hochfinanz gelegt habe, was zu einer Internationalisierung und Rationalisierung der Politik führe. Hobson berücksichtigte statt dessen die mit dem Imperialismus verbundenen Rückwirkungen auf die Politik. Die Anarchie der lizenzierten Ausbeutung kolonialer Gebiete verlangte seiner Ansicht nach die staatliche Aufsicht über dieses Treiben, wobei er die Aufgabe des Staates als eine Art Zivilisationswächter verstand. Er fürchtete zudem die innenpolitischen Folgen imperialistischer Verwaltung für das politische System Großbritanniens, insbesondere die Erosion der demokratischen Institutionen und die Stärkung des Militarismus (Wehler 1976, 18). Gemeint waren die psychologischen Auswirkungen des Kolonialdienstes, der eher mittelalterlicher Herrschaft als moderner Regierung glich. Was würde geschehen, wenn in Kolonialherrschaft geübte Politiker nach England zurückkehrten? Als Therapie gegen die Folgen des Imperialismus schlug er demokratisch-parlamentarische Sozialreformen vor, setzte auf eine Demokratisierung der Außenpolitik durch ihre Internationalisierung und rief zur Schaffung internationaler Organisationen auf. Massen- und Elitensoziologie Hobsons Befürchtungen bezüglich der psychologischen Auswirkungen imperialistischer Politik und Verwaltung beschrieben nur einen Teilaspekt der in dieser Zeit einsetzenden theoretischen Beschäftigung mit Eliten; die Motivation hierfür war meist die Beobachtung demokratisierter Gesellschaften und der sozialen Binnendifferenzierung der Bevölkerung, die sich nicht mehr nur nach dem Muster von Klassen begreifen ließ und auch die Grenzen des Nationen- oder des Volksbegriffs sprengten. Der neue Begriff hierfür war die „Masse". Die Masse als Thema musste dem Sozialismus am nächsten stehen. Wie gezeigt setzte Rosa Luxemburg ihre größten Hoffnungen in die Masse als Gegenentwurf zur formierten Bewegung einer nach Befehl und Gehorsam organisierten Arbeiterschaft. Kautsky warf Luxemburg eine irrationale Mythisierung der Masse vor. Er verwies auf die Erkenntnisse der italienischen und französischen Massenpsychologie, welche die nur irrationale Aktionsweise und begrenzte Verantwortlichkeit von Massen zu zeigen versucht hatten. Die Massenpsychologie begann mit den Untersuchungen der Kriminologen Gabriel Tarde (Les crimes des faules 1892) und Scipio Sighele (/ delitti della folla 1902). Beide nahmen unter strafrechtlichen Gesichtspunkten eine verringerte Schuldfahigkeit von Tätern an, die in Massen agieren. Gustav le Bon (1841-1931) hatte in Psychologie des faules von 1895 diesen Gedanken aufgegriffen und auf das politisch aktive Volk angewandt. In seinem weit rezipierten Buch erklärte Le Bon, die Masse sei das Kennzeichen der Zeit (Nye 1975), geeignet, alle vertrauten Institutionen von innen heraus zu wandeln. Massen sind Le Bons Einteilung zufolge nämlich nicht nur große Menschenansammlungen, wie sie beispielsweise in Demonstrationszügen zu beobachten sind: von diesen war kaum die Rede. Zur Masse gehören laut Le Bon so ver-

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schiedene Phänomene wie die Geschworenen im Gericht, die Abgeordneten in einer Parlamentsversammlung sowie die Wählermassen, aber auch der Mob als einer Lynchjustiz begehenden Masse von Menschen auf der Straße. Nicht die bloße Anzahl der Menschen, sondern ihre spezifische psychologische Verfassung mache aus einer Menschenmenge eine Masse. In Ausdrücken wie „hypnotisierter Zustand" (16) oder „religiöses Gefühl" (46) suchte Le Bon nach geeigneten Analogien, um den von ihm beschriebenen Zustand verständlich zu machen. Überall dort, wo die persönliche, individuelle Urteilskraft durch die bloße Anwesenheit einer Gruppe oder Menge anderer Menschen verändert wird, sah Le Bon das Phänomen der Masse als gegeben an. In Le Bons Sicht ist das Verhalten der Masse irrational, logische Beweisgründe entfalten in ihr keinerlei Überzeugungskraft. Der rationale Politiker muss daher lernen, auf das Bedürfnis der Massen einzugehen, um diese zu einem Verhalten zu bestimmen, das im Ergebnis das Resultat logischer Überlegung ist, aber nur durch den Umweg der Massenbeeinflussung erzielt werden kann. Dazu zählte Le Bon u.a. die Kenntnis der Wirkung von Prestige (92101) als einem zentralen Aspekt des Verhältnisses von Führung und Masse. Die Masse ist zur rationalen Selbstregierung völlig unfähig und bedarf hierzu der Führung. Diese Problemwahrnehmung öffnete das Tor zur Elitensoziologie. Die Entstehung der politischen Soziologie am Ende des 19. Jahrhunderts ist zu einem erheblichen Teil den Interessen an Eliten und Organisationen zu verdanken und korrespondierte nicht zufallig mit einer stärker einsetzenden Kritik an der Demokratie als politischer Idee sowie als Organisationsprinzip. Was bereits im Sozialismus zu beobachten war prägte auch andere Perspektiven auf die Demokratie. Die Auswirkungen der Demokratie auf das Niveau der öffentlichen Meinung und der über die öffentliche Meinung verstärkte Einfluss irrationaler Stimmungen, die Veränderung der Parteien durch die großen Mitglieder- und Teilnehmerzahlen, die zu einer spezifischen Form der Herrschaft durch Organisation führte und die Bedenken hinsichtlich einer vermeintlichen Nivellierung der Kultur vermischten sich zu einer Kritik, in welcher bis zu Plato zurückreichende anti-demokratische Reflexe bezüglich der Pöbelherrschaft erneut auflebten (McClelland 1989). Besonders das Studium politischer Parteien inspirierte die Organisationssoziologie, an ihrem Anfang stand Moisei Ostrogorski (1854-1919). Der weißrussische Parteiforscher und kurzzeitig auch politisch aktive Parlamentarier studierte in Paris, London und den USA die Realität des Parteilebens (Quagliariello 1996). Seine Democracy and the Organisation of Political Parties (1902) behandelte im ersten Band Großbritannien und im zweiten die USA. Ostrogorski überarbeitete, veränderte und erweiterte sein Buch mehrfach (das Schicksal aller politikwissenschaftlichen Komparatistik vorgreifend) und diskutierte neue Phänomene wie die englische Labour party. Doch seine Ergebnisse blieben konstant: ungeachtet der demokratischen Programmatik oder Ideologie einer Partei hat sich eine neuartige Form der Macht durch Organisation durchgesetzt, die große Wählermassen durch den Hebel ihrer Organisation beherrschbar macht. Was dem heutigen Parteiforscher selbstverständlich erscheinen muss, war für Ostrogorski noch ein Skandalon: er ging vom Primat des Parlamentarismus aus und sah die Parteiorganisation als extraparlamentarisches Gebilde an, welches Gestalt und Ergebnisse des Parlamentarismus zu verfalschen drohte. Unbestrittenes Leitideal war die Idee des unabhängigen Abgeordneten und der freien Diskussion. Für Großbritannien machte Ostrogorski das „caucus"System der organisierten Mitgliederversammlung und der geordneten Abstimmung dafür verantwortlich, dass nunmehr die Parteiführung und nicht der Abgeordnete zum eigentlichen

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Zentrum der Politik avanciert sei, da sie entscheide, wer für das Parlament kandidiert (I 329441). In den USA bezeichnete Ostrogorski die Convention als Äquivalent zum caucus, wobei dort noch die „machine" in der Hand des „boss" hinzukam. Gemeint waren damit lokale Parteiorganisationen wie die New Yorker Tammany Hall (II 149-167), in welchen durch Geld und Gewalt Loyalität organisiert wurde. Der „boss" war für Ostrogorski Inbegriff des modernen Politikers, der hinter der öffentlichen Kulisse die Zügel in der Hand hielt und eine eigentümliche Psychologie in der Verwaltung von Macht entfaltet (II 367-440). Ostrogorski empfahl als Abhilfe die Ersetzung permanenter Parteiorganisationen durch ein „league system" (II 689) von Bürgerassoziationen, die Einzelfragen verfolgen (ganz in der Tradition Tocquevilles), sowie eine Verstärkung der Unabhängigkeit gewählter Abgeordneter von ihren Parteien durch die Ausweitung ihrer Amtszeit: bezogen auf die USA schlug Ostrogorksi vor, das Senatsamt auf 9 und das Repräsentantenmandat auf 6 Jahre auszuweiten (II 755-758). Ostrogorskis Kritik war nicht singulär. Erhob man den Parlamentarismus zum Leitbild der Politik, so wirkte die Demokratisierung wie ein gefahrlicher Störfaktor. Zu den zahlreichen Demokratiekritikern im Viktorianischen England (Francis/Morrow 1994, 250-269) zählte auch William Edward Hartpole Lecky. Er hatte 1896 in seiner umfangreichen Studie Democracy and Liberty (2 Bände) den Niedergang des „government by gentleman" thematisiert (15-118), verursacht durch den Einfluss der Parteiversammlung (caucus-Systems) auf die Unabhängigkeit des Abgeordneten (123). Lecky hob die Gefahren für die Freiheit durch den Zuwachs an legislativer Regulierungsambition hervor, wofür er die Demokratie verantwortlich machte (Lippincott 1938, 207-243). Im französischsprachigen Raum zielten der Belgische Ökonom Emile Laveleye (Le gouvernement dans la democratic 1891, 2 Bände) und etwas später Adolphe Prins' De l'esprit du gouvernement democratique, Essai de science politique von 1905 in die gleiche Richtung. Sie schlugen „aristokratische" Institutionen zur Moderation dieser Entwicklung vor. Laveleye stand immer noch unter dem Eindruck des Bonapartismus und erörterte umfangreich die Nähe der Demokratie zum Despotismus, wo die Freiheit für Wohlfahrt eingetauscht wird, und zwar auf freiwilliger Basis (1 195-252). Doch selbst die Anhänger der Demokratieidee waren nicht mit jeder Entwicklung, die von der Demokratisierung ausgelöst wurde einverstanden. Sie erörterten unter dem Stichwort Unforseen tendencies of modern democracy, wie Edwin Lawrence Godkin sein Buch aus dem Jahr 1898 nannte, diesen Umstand. Godkin (1831-1902) war ein renommierter Journalist (New York Evening Post, Nation). Zu den Vordenkern der Demokratie zählte er Bentham und Tocqueville, die freilich nicht soziale Entwicklungen wie Urbanisierung sowie die Möglichkeit der Akkumulation privaten Reichtums ungeahnten Ausmaßes und ihre Auswirkungen auf die Praxis der Demokratie voraussehen konnten (Vorwort). Andererseits setzte Demokratie nicht den Parlamentarismus voraus: da Demokratie nicht theoretisch lehrbar ist, sondern praktiziert werden muss, um verstanden zu werden, sind Idealbilder des römischen Senates oder des britischen Unterhauses unangemessen. Der Niedergang aller zeitgenössischen legislativen Körperschaften (96-144) bedeutete deswegen nicht einen Niedergang der Politik, sondern eine Verschiebung der institutionellen Gewichte in Richtung lokaler Partizipation, die allerdings angesichts der sozialen Veränderungen erst ihre Form finden musste. Die Demokratisierung war eine Herausforderung bestehender politischer Institutionen, daran zweifelte niemand; die Frage war, ob ihre Auswirkungen auf die Politik im ganzen betrachtet tatsächlich so dramatisch waren wie befürchtet; Bryce und Lowell waren hier anderer Ansicht als Ostrogorksi (Quagliariello 1996, 111-151). Der amerikanische Jurist und Politikwis-

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senschaftler Abbot Lawrence Lowell (1856-1943), langjähriger Präsident der Universität Harvard und Präsident der American Political Science Association, bestätigte zwar Ostrogorskis Analyse des englischen caucus-Systems, bestritt aber, dass man deswegen nur noch von einem Schein-Parlamentarismus sprechen könne (Government of England 1908). Der Parlamentarismus habe sich immer schon nach den Bedürfnissen der Parteien verändert. Übertriebene Erwartungen an die Demokratie führten Lowell zufolge zu Enttäuschungen. Er zählte die Demokratieidee im Sinne der Forderung nach Volksherrschaft zu solchen Prinzipien, die ohnehin an der Wirklichkeit politischer Organisation scheitern müssten; das sei durch die Massendemokratie endgültig zum Vorschein gelangt. Für Lowell war der Volkswille eine Fiktion. Die „vox populi" wurde immer und werde weiterhin von einer kleinen Anzahl von Personen bestimmt, da die große Masse nur selten Interesse an Streitfragen aufbringt, bevor sie ihr unterbreitet werden, und ist in deren Beantwortung meist auf ein schlichtes ja oder nein reduziert. Die Voraussetzung einer Funktionsfahigkeit des Parlamentarismus war laut Lowell die „loyale Opposition", d.h., dass die der Regierung gegenüberstehenden Partei auf revolutionäre Systemwechsel verzichtet, um an die politische Macht zu gelangen; solche Loyalitäten hätten andere Wurzeln als die Massenbasis der modernen Parteien und eher mit dem politischen Personal zu tun. Auf der anderen Seite sei die weitaus größere Zahl der Versammlungsbesucher ein erfreuliches Zeichen und keineswegs die Ursache der beklagten Probleme. Was Lowell für England konstatierte, analysierte der Brite James Bryce anhand der amerikanischen Demokratie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. In seinem dreibändigen Werk American Commonwealth von 1888 - nach Tocqueville die bedeutendste Darstellung Amerikas und erheblich umfangreicher - , bestätigte Bryce die seit Tocqueville rezipierten „Missstände", etwa die „tyranny of the majority" (Kap. 85) und den „fatalism of the multitude" (Kap. 84), die Mängel der öffentlichen Meinung, schließlich das Obwalten einer „demagogischen" Politik. Bryce war daher für Ostrogorski der natürliche Ansprechpartner gewesen, ihm half Bryce bei seinen Studien in England und schrieb auch ein Vorwort zu seinem Democracy and the Organisation of Political Parties. Doch in der Bewertung der Fakten gingen ihre Meinungen auseinander. Die Auswirkungen der von ihm wie von Ostrogorski beschriebenen Mängel auf das politische System waren Bryce zufolge begrenzt, da viele Ausgleichs- und Abwahlmöglichkeiten bestünden, um eine mittels demagogischer Technik an das Ruder gelangte Politik wieder entfernen bzw. deren schlechte Wirkung beschränken zu können (Kap. 94). Die Rezeption der Massenpsychologie in Deutschland erfolgte hauptsächlich durch Robert Michels (1876-1936). Michels war Mitglied der SPD und kannte ihre Organisationsdebatte aus erster Hand. Er wandte die Fragestellung Ostrogorskis auf die SPD an und kam zu ähnlichen Ergebnissen, nur dass sein anfangliches Erkenntnisinteresse nicht an der Funktionsfähigkeit des liberalen Parlamentarismus ausgerichtet war, sondern die Kritik Rosa Luxemburgs an der Umsetzung des demokratischen Emanzipationsprogramms aufnahm. Die frühen Arbeiten von Michels (ed. 1987) zeigen, dass seine organisationssoziologischen Studien von der Sorge motiviert waren, die SPD würde ihren demokratischen Charakter verlieren. In dem Aufsatz Formale Demokratie und oligarchische Wirklichkeit (1909) betonte er die Schwierigkeiten, denen die Umsetzung der klassischen Demokratieidee unter den Bedingungen der Massendemokratie ausgesetzt war. Michels war anfangs weit davon entfernt, Le Bons Zynismus und Demokratieverachtung zu teilen. Auch sein Hauptwerk Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen

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des Gruppenlebens (1911; Linz 2006, 1-80) zeigte zunächst den um Reputation und Zukunft der Demokratieidee besorgten Demokraten. Der plebiszitäre Bonapartismus habe laut Michels die Ausnutzbarkeit der Massen gezeigt (Zur Soziologie des Parteiwesens 203-214). Selbst konservative Parteien bedienten sich nun der demokratischen Legitimation, um ihre Gruppenherrschaft zu bewahren. Die Erstauflage der Soziologie des Parteiwesens bewertete die Demokratie noch anders als die in der Forschung für gewöhnlich herangezogene Zweitauflage von 1925. Michels wollte 1911 zeigen, dass in der modernen Massengesellschaft die Beherrschung der Mehrheit durch eine Minderheit ein auf alle Regierungsformen zutreffendes Grundgesetz sei und also daher nicht die Demokratieidee desavouieren könne. Wenn daher auch in der SPD oligarchische Tendenzen der Beherrschung der Parteibasis durch die Funktionärspitze zu beobachten waren, so zeige dies nur die Unausweichlichkeit der organisationssoziologischen Gesetze, die er aufstellte, und keine Besonderheit einer einzelnen Partei. Als Marxist betonte Michels, dass unter den gegenwärtig vorliegenden ökonomisch-sozialen Abhängigkeitsverhältnissen die „Idealdemokratie" unerreichbar sei (13). Aber Michels formulierte sein demokratisches Credo: selbst die unvollkommenste Demokratie sei der „relativ gut funktionierenden Aristokratie" überlegen (391), denn was sich als Herrschaft der Besten geriert, ist in der Sache eine Oligarchie, d.h. - in der aristotelischen Begriffsverwendung - eine Minderheitsherrschaft zur Förderung des Eigenwohls, nicht des Allgemeinwohls. Die Gebrechen der Demokratie bestünden ja gerade in ihren „unveräußerlichen aristokratischen Schlacken", das heißt in der Tendenz zur Oligarchisierung, derer sie unter den Bedingungen der Massendemokratie nicht ledig wird. Die Gefahren der Oligarchisierung zu bannen setzt ihre sachliche Analyse voraus und kein Appell an ein „umflortes" Demokratieideal von Volkssouveränität. Die Macht der Organisation, die zur dauerhaften Vorherrschaft von Minderheiten führt, hat mit dem Bildungsgefalle zwischen Führern und Geführten zu tun (85), das durch die moderne Ausbildung des „berufsmäßigen Führertums", also der Professionalisierung der Politikerschicht, vergrößert wird. Hier helfen langfristig keine institutionellen Kontrollen wie etwa Referenden oder anarchische Phantasien zur Abschaffung von Regierung und politischer Herrschaft (320-349), denn politische Parteien sind und sollen „Kampforganisationen" sein, wie sie Lassalle beschrieben hatte (41); es ist daher auch kein Zufall, dass in der Politik eine militärische Terminologie gebräuchlich ist. Das Ziel der Partei ist die Erringung von Schlagkraft in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner; die Sicherstellung von Konsens oder demokratischer Zustimmung in einer zeitraubenden Versammlungsdemokratie würde nur zu einer „Politik der Verschleppung" und der verpassten Chancen führen und damit zum Untergang. Michels lehnte daher auch Ostrogorskis Idee der Ersetzung permanenter Parteien durch Bürgerassoziationen ab (348). „Diktatur" und ein gewisser Grad an Cäsarismus sind laut Michels im Parteienkampf unabwendbar. Langfristig hilft gegen den Vorsprung derjenigen, die über die Technik der Organisation verfügen, nur die Bildung der Massen. Die arbeitsteilige und unübersichtliche moderne Gesellschaft fordere verständlicherweise das Bedürfnis nach Führung, die Selbstführung aber setzte Erziehung und Wissen voraus. Allerdings konstatierte Michels, dass bestimmte Eigenschaften von Völkern wie die psychische Disposition zur Unterordnung, Disziplin und eine Autoritätsgläubigkeit bis zur Kritiklosigkeit (54) das ohnehin vorhandene Führungsbedürfhis des Menschen vertiefen können: er hatte die Deutschen im Sinn, nahm aber die Rheinländer ausdrücklich aus!

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Michels machte nicht nur die italienische Massenpsychologie im deutschen Diskurs bekannt, er rezipierte auch ausfuhrlich und mitunter sehr kritisch die italienischen Elitentheorie Gaetano Moscas und Vilfredo Paretos. Für sie war die Masse der Bevölkerung Objekt der Politik, ihre eigentlichen Subjekte die Führer. Oft bedienten sie sich des Ausdrucks der Aristokratie, aber die Güte der Elitenherrschaft war gar nicht zentral, da sie ohnehin unausweichlich sei. Elite bedeutete Befähigung zur Herrschaft; die Sicherstellung dieser Befähigung erfolgt durch den Wettkampf um die Macht zwischen unterschiedlichen Eliten, nicht etwa durch eine demokratische Kontrolle seitens der Masse. Gaetano Mosca (1858-1941) veröffentlichte 1895 seine Elementi di Scienza Politica, die durch ihren Abschnitt zur „classe politica" berühmt wurde (1923, 52-72; Meisel 1962; Albertoni 1987; Bellamy 1987, 34-53). Die politische Klasse, auch präziser „classe dirigente" genannt (52), war eine Generalisierung, die aus seiner älteren Parlamentsstudien (Sulla teorica de Governi e sul Governo parlamentare 1884) über die Ausbildung aristokratischer Strukturen in den Parlamenten resultierte, wo er eine extreme Verengung der Auslese beobachtete: die Abgeordneten wurden aus einigen wenigen Familien rekrutiert und vererbten mitunter ihre Sitze. Was im römischen Senat der Republik oder zur Hochzeit des englischen Unterhauses vorbildlich gewesen war, kann ab einem gewissen Grad zum Niedergang des Parlaments führen. Pareto erörterte auch die nahe liegende Vermutung, ob nicht das erheblich erweiterte Wahlrecht zu einer Veränderung der Auslese führte und in einer vollendeten Demokratie die aristokratischen Selbstergänzungsmechanismen schließlich ganz wegfallen könnten. Aber Phänomene wie Nepotismus oder die „Vererbung" des Mandats an leibliche Nachfahren oder vom Inhaber bestimmte Nachfolger sind laut Mosca auch in Demokratien vorhanden (64, Fn 1). Was Mosca am Beispiel des Parlaments mit großer Nüchternheit beobachtete, erweiterte Pareto zu einer umfangreichen Elitentheorie als Kern der politischen Soziologie. Vilfredo Pareto (1848-1923) war mit seinem Manuale d'economia politica (1906) der Mitbegründer der Wohlfahrtsökonomie, deren spezifische Form der Gleichgewichtstheorie er in der nach ihm benannten „Pareto-Optimalität" formulierte: innerhalb einer Gemeinschaft ist dann ein Equilibrium erreicht, wenn eine Veränderung ein Mitglied besser stellt ohne dabei andere schlechter zu stellen (Kap. 6 § 33). Pareto wollte in diesem Werk generell die sozialwissenschaftlichen Vorfragen einer rein ökonomischen Betrachtungsweise klären (Kap. 2), und von metaphysischen oder ethischen Betrachtungsweise ganz absehen, um alleine die handlungsrelevanten Faktoren zu berücksichtigen. Der Nutzen und das Selbstinteresse sind nach Pareto die eigentlichen Handlungsfaktoren des Individuums. Gleichwohl neigt das Individuum dazu, seinem Handeln einen Sinn zu unterstellen (II 108), weshalb weiterhin moralische und religiöse Überzeugungen sowie politische Vorurteile wirksam werden. Diese Beobachtung hatte Pareto bereits zuvor am Beispiel von politischen Überzeugungen im Sozialismus demonstriert (Les systemes socialistes 1902). Mit einer quantitativen, nur auf das Interesse und den Vorteil der Akteure abstellenden Theorie wollte Pareto nun ein formales und insoweit wissenschaftliches Schema liefern. Auch die Differenzierung zwischen Eliten und einfacher Bevölkerung war formal gemeint, selbst wenn er die Eliten „Aristokratien" nannte (II 103). Die Überlegenheit der Aristokratie zeigt sich in der Neigung der Masse, sie zu imitieren, was ihr nicht immer Vorteile bringt. Individuen machen Dogmen wie das der Gleichheit vor dem Gesetz oder der Gleichheit des Menschen zum Leitgestirn ihres politischen Handelns, ohne ihre soziale Realität zu prüfen; das führt oft zu kontra-intentionalen Resultaten. Das empirische Material solcher Prüfungen war

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bei Pareto hauptsächlich historischer Art. Der Geschichte entnahm Pareto die Theorie der „Zirkulation der Eliten", wonach Eliten nicht aufhören zu existieren, sondern einander ablösen: ein auch in Demokratien anhaltender Vorgang (II 103: 113-123). All diese Aspekte hat Pareto dann in seinem Hauptwerk, dem Trattato di sociologica generale (1916) ausfuhrlicher behandelt. Im Mittelpunkt stand hier die Theorie der „Residuen", wie Pareto die handlungsbestimmenden Überzeugungen nannte, die keiner weiteren logischen Klärung mehr fähig sind, und den „Derivationen", den ideologischen Rationalisierungen dieser Überzeugungen durch die Akteure selbst (§§ 842-2059). Vor diesem Hintergrund sei die Demokratieidee als Derivation wirksam, wenngleich es eine Herrschaft des Volkswillens nie gegeben hat und nie geben wird (§§ 2259-2260). Das marxistische Modell der Klassenherrschaft war Pareto zu grob und gegenüber Moscas Modell der politischen Klasse hielt sich Pareto zugute, dass er von einer Heterogenität der Eliten ausging, die um die Macht kämpfen, sich aber auch selbst zerstören: Die Geschichte ist ein Friedhof der Aristokratien (§ 2053) und Revolutionen werden nicht vom „Volk" gemacht, sondern von neuen Eliten, die bestehende Eliten ablösen wollen (§ 2057). Demokratie ist laut Pareto ein Klientel-Patron-Verhältnis, in welchem beispielsweise die Durchsetzung von Vorteilen für bestimmte Schichten der Arbeiterschaft stets anderen Teilen zum Nachteil gerät (Bellamy 1987,12-33; Femia2006, 100-123). Michels rezipierte die Italiener, beschränkte aber seine Elitentheorie auf die modernen politischen Parteien und erklärte die dort angenommene Unausweichlichkeit einer Differenzierung nach Masse und Führung bzw. Leitung mit den organisationssoziologischen Strukturen. Michels Begriff der „Oligarchie" wies aber schon darauf hin, dass Michels diese Entwicklung kritisch sah. Er hob 1911 die antidemokratischen Motive der Massenpsychologie und der Elitentheorie Moscas hervor und distanzierte sich von ihr, ohne deswegen aus ideologischen Gründen auf ihre Forschung verzichten zu wollen. Die Erfahrung des Weltkrieges veränderte Michels Einstellung zur Demokratie: seine italienische Überarbeitung der deutschen Erstausgabe brachte Veränderungen, auch die 1915 erschienene englische Ausgabe war an manchen Stellen verändert und ergänzt, insbesondere im Schlussteil, wo das demokratische Credo dahin schmolz. In der 1925 erschienenen, völlig neubearbeiteten zweiten Auflage der Soziologie des Parteiwesens war der frühere überzeugte Demokrat kaum mehr zu erkennen. Das organisationssoziologische Faktum schien letztlich nur noch ein technisches Problem für Führer zu sein, die mit der Masse als einem Faktor der Machtpolitik umzugehen lernen müssen. Michels aktive Unterstützung des italienischen Faschismus (siehe synchroner Diskurs „Demokratie oder Diktatur") überschattete zusätzlich die Auslegung seiner soziologischen Anfange. Herrschaftssoziologie: Max Weber Die politische Soziologie der Jahrhundertwende war geprägt von Überlegungen zu den Auswirkungen der Massendemokratie auf die herkömmlichen politischen Institutionen, allen voran das Parlament. Dieses Problembewusstseins konnte zur einseitigen Betonung der Gefahren bei gleichzeitiger Blindheit für die Chancen führen, worauf bereits Michels, Bryce und andere aufmerksam gemacht hatten. Nur eine systematisch angelegte Soziologie, wie sie die eigentliche Gründergeneration mit Spencer, Dürkheim und Max Weber bot (Gordon 1991,411-497), konnte hier Abhilfe schaffen. Erst aus dem Gesamtblick ergab sich die Mög-

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lichkeit, zu einer aufgeschlossene Perspektive auf die Moderne und ihrer Demokratie zu gelangen. Emile Dürkheim (1858-1917) thematisierte Formen der Ausbildung sozialer Verhältnisse in der Demokratie, die er mit religiösen Formen der Vergesellschaftung verglich. In seinen 1890 bis 1900 in Bordeaux gehaltenen, an der Sorbonne bis zu seinem Tode fortgesetzten Vorlesungen zur „Physik der Moral" entwarf Dürkheim auch ein Modell der Politik. Ohne Autorität kann demnach keine politische Gemeinschaft bestehen, die wiederum erst die freie Individualität ermöglichet und schützt {Physique des maeurs et du droit dt. 96-101). Der Staat schafft das „milieu", in dem sich das Individuum frei bewegen kann. Dürkheim formulierte darin eine über den klassischen Liberalismus Mill'scher Prägung hinausreichende Grundlage des Freiheitsbegriffs, in welcher er den Vorrang der politischen Gemeinschaft vor gesellschaftlichen Kräften wie der Kirche oder der Tradition begründete. Im Kampf der Dritten Republik gegen restaurative Kräfte bekannte sich Dürkheim zur Republik (Hawkins 1995) und gehörte zu den Dreyfus-Anhängern, was im Umfeld der zeitgenössischen französischen Soziologie mit ihren scharfen Angriffen auf die Republik (Nye 1975) ungewöhnlich genug war. Die Soziologie bot auch die Möglichkeit, den durch Industrialisierung, Urbanisierung und Technisierung verursachten Strukturwandel hinsichtlich seiner Chancen und nicht nur seiner Gefahren zu thematisieren. 1904 erörterte Georg Simmel (1858-1918) die Frage des Individualismus. Er schilderte sie als das philosophische Problem der Befreiung des Individuums von verschiedenen Abhängigkeiten. Danach habe Kant das Individuum von den Fesseln der Natur befreien wollen, Nietzsche hingegen von den Fesseln der Gesellschaft. Für Simmel lag es in der inneren Logik dieser Befreiungsversuche, nicht bei dem ursprünglichen Konzept des vernunftbegabten Individuums als dem letzten Sinn der menschlichen Welt stehen bleiben zu können, sondern das Individuum in seinem gesellschaftlichen Dasein und den dort wirksamen Abhängigkeiten zu berücksichtigen, also notwendig von der Philosophie zur Soziologie fortzuschreiten. Das ursprüngliche Ideal von Freiheit und Gleichheit war mit der Erkenntnis der gesellschaftlichen Bedingtheiten des Individuums zweifelhaft geworden, und es war daher nicht überraschend, dass Nietzsches Weg der Zuspitzung der Freiheit zur Idee der exemplarischen Persönlichkeit gegenüber der durchschnittlichen Masse antiliberale Züge aufwies (Kant und der Individualismus, Gesamtausgabe VII 281). Die moderne Gesellschaft bot in Simmeis Augen neben den von der Massendemokratie verursachten oder verstärkten Gefahren auch Möglichkeiten neuer Freiheitsräume für das Individuum. Die moderne Großstadt bietet eine viel größere Varianz der Interaktionen und sozialen Vernetzungen als frühere Lebensformen (Die Großstädte und das Geistesleben, Jahrbuch der Gehe-Stiftung 1903); das Geld als Tauschmittel (Philosophie des Geldes 1900) ist nicht einfach nur Ursache der Entfremdung des Menschen oder ein Fetisch, sondern eröffnet neue Wege der Differenzierung. Die sozialen Konflikte schließlich können auch so interpretiert werden, dass sie Hinweise auf Gemeinsamkeiten geben, um die gerungen wird und die wiederum neue Formen sozialer Verhältnisse begründen können, weshalb das Vorhandensein von „Streit" nicht einfach nur ein Symptom der Auflösung von Sozialität ist, oft sogar das Gegenteil indiziert (Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung 1908, 186-255). In Deutschland wurde nach der Reichgründung die „sociale Frage" zum beherrschenden Thema der vom Geist des Bürgertums geprägten Wissenschaften: wie können die arbeitenden Schichten in den Nationalstaat integriert werden? Rasch wurde klar, dass Fragen dieser Art philosophische, ökonomische und juristische Wurzeln hatten, die voneinander getrennt

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zu behandeln immer weniger sinnvoll war. Die im Entstehen begriffenen Sozialwissenschaften widmeten sich gesellschaftlichen Problemen in einer disziplinübergreifenden Perspektive. Gelehrtenversammlungen wie der „Verein für Socialpolitik" verknüpften das wissenschaftliche Anliegen mit den drängenden gesellschaftspolitischen Aufgaben. Die Grundlage hierfür war die Erhebung von Fakten, weshalb der Verein 1890 u.a. eine Untersuchung der Situation von Landarbeitern in Auftrag gab. Einer der hierzu beauftragten Forscher war Max Weber. Weber (1864-1920) war von allen Gründern der modernen Soziologie derjenige, der sich am intensivsten mit Fragen des Politischen beschäftigte (Prager 1981). Er wuchs in Berlin auf, studierte in Heidelberg und Berlin Rechtswissenschaften und wurde 1894 auf einen nationalökonomischen Lehrstuhl an der Universität Freiburg berufen. Er wechselte nach Heidelberg, ließ sich aber aufgrund eines langjährigen, rätselhaften Nervenleidens beurlauben und lebte ab 1903 das Leben eines Privatgelehrten. 1905 veröffentlichte er die erste seiner bahnbrechenden Arbeiten, die religionssoziologische Studie Die protestantische Ethik und der , Geist' des Kapitalismus, die in kollegialer Konkurrenz zu Ernst Troeltsch und Werner Sombart stand. Die 1905 in Russland ausgebrochene Revolution veranlasste Weber, Russisch zu lernen, um den Ereignissen besser folgen zu können. Die Politik nahm einen immer stärkeren Platz in seinen Publikationen ein, bis sie ihn im ersten Weltkrieg am intensivsten in Anspruch nahm. Während des gesamten Krieges trat Weber mit publizistischen Interventionen zu Fragen der Kriegführung, der Friedenspolitik und vor allem der Verfassungsreform des Kaiserreichs hervor (Llanque 2000). Den Höhepunkt bildete die Aufsehen erregenden Artikelfolge Deutscher Parlamentarismus in Vergangenheit und Zukunft in der Frankfurter Zeitung, die mitten in der Kanzlerkrise des Jahres 1917 erschien. Weber kandidierte nach dem Ersten Weltkrieg schließlich selbst (allerdings erfolglos) für politische Ämter, und zwar in der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Partei. So sehr er selbst politische Publizistik von wissenschaftlicher Lehre trennen wollte (Werturteilsfrage), ist beider Verzahnung nicht zu übersehen. Als Weber 1890 für die Erhebung des Vereins für Socialpolitik zur Untersuchung der Lage der Landarbeiter die Auswertung des ostelbischen Teils übernahm, bekamen 3180 Gutsbesitzer einen Fragebogen zugeschickt, den Weber selbst entworfen hatte. Die Erhebung sozialstatistischer Daten zur Erfassung gesellschaftlicher Wirklichkeit war das Kennzeichen der jungen Soziologie. Das paradigmatische Werk war Dürkheims Studie zum Selbstmord gewesen (Le suicide. Etude de Sociologie 1897). Die 1892 vorgelegte Studie Webers Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland wies ihn als Empiriker aus; er wurde jedoch vor allem als Theoretiker berühmt, der in scharfen Begriffsklärungen und wegweisenden Kategoriebildungen verbunden mit dem methodischen Ideal der Werturteilsfreiheit und des Individualismus zur zentralen Referenz der Gesellschaftstheorie bis heute wurde. Die 1917 erschienene Arbeit Wahlrecht und Demokratie in Deutschland und die im Folgejahr publizierte Ausarbeitung seiner in der Frankfurter Zeitung veröffentlichten Artikelserie zur Monographie Parlament und Regierung wurden von Weber ausdrücklich als Gelegenheitsarbeiten deklariert (Mommsen 1974), aber ihre Leistung bestand darin, die tagespolitischen Probleme auf ein systematischen Niveau zu heben. Weber versuchte, mit realpolitischen Überlegungen für den Verständigungsfrieden zu werben, als dessen eine Voraussetzung er die Demokratisierung des politischen Systems erachtete. Ohne Herzensdemokrat zu sein, war Weber genauso wenig ein Opportunist, denn er vertrat öffentlich eine Minderheitsposition und galt in konservativen Kreisen als Radikaler; Ludendorff bezeichnete Weber

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rückblickend als „Hochverräter" (Baumgarten 1964, 512). „Gelegenheitspolitisch" war auch die Abhandlung Zur Neuordnung Deutschlands von 1919, in welcher er nach dem Waffenstillstand die möglichen Reformwege auszutarieren suchte, die ein republikanisiertes Deutschland beschreiten konnte. Sein Eintreten fur eine starke Position des Reichspräsidenten zielte sowohl gegen direkt-demokratische Modelle wie die Räteherrschaft nach russischem Vorbild als auch gegen ein Parlament, dessen parteipolitische Zusammensetzung bei Weber Zweifel weckte, ob es die anstehenden Aufgaben meistern konnte. Auch hier gehorchte die Forderung nach einer starken Exekutive den Erfordernissen der Zeit. Als geachteter Reformer wurde Weber vom Verfasser der ersten Entwürfe der Weimarer Reichsverfassung, Hugo Preuß, zu dessen Beraterkreis hinzugezogen. Beide waren in der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Partei aktiv, deren Vorsitzender Webers Bruder Alfred kurzzeitig war. Weber reagierte auf politische Probleme seiner Zeit und änderte mit ihrem Wandel auch seine Vorschläge. Gleichwohl leitete Weber seine tagespolitischen Interventionen und Reformpläne aus allgemeinen Überlegungen zur politischen Theorie ab. Dazu gehörte seine „Herrschaftssoziologie", die Geltung fiir alle menschlichen Konstellationen beanspruchte und seine Theorie der Politik, die moderne Aspekte bürokratischer Staatlichkeit und der Massendemokratie berücksichtigte (Anter 1995). Es war daher nicht nur der Weltkriegserfahrung geschuldet, wenn Weber als Kennzeichen der Politik den „ K a m p f bezeichnete. Weber versuchte, die „irrationalen" Aspekte der Politik in seine Theorie zu integrieren. Zum Kampf zählte er den „Wahlkampf' genauso wie den Machtkampf, wie bereits Webers Heidelberger Freund und Kollege, der Staatsrechtslehrer Georg Jellinek in seiner Allgemeinen Staatslehre 1900 definierte (3. Aufl. 1913, 116). Aber der Kampf umfasste bei Weber auch den Einsatz von Gewalt und hierauf gründete er seine Staatsdefinition: der Staat ist der politische Verband, dem spezifisch das Mittel der physischen Gewalt zukommt (Politik als Beruf 505). Den „modernen Staat" kennzeichnet der Umstand, dass es ihm gelang, die legitime Verwendung von Gewalt zu monopolisieren. Modernität hat nicht Gewalt ersetzt, sondern konzentriert und dadurch gebändigt. Doch spätestens im Krieg wie in Revolutionen tritt dies politische Mittel wieder klar zum Vorschein. Die „Herrschaftssoziologie" Webers (Hanke/Mommsen 2001) unterscheidet zwischen Macht und Herrschaft, wobei Macht die generelle Chance meint, mit Anordnungen das Verhalten anderer Menschen zu bestimmen; Herrschaft dagegen ist eine soziale Beziehung, in welcher die Anordnungen des Herrschers auf den Gehorsam der Beherrschten treffen, d.h. auch ohne Zwang befolgt werden (Wirtschaft und Gesellschaft op. post. 28-29). Freiwilliger Gehorsam wird geleistet, wenn der Befehlsempfanger von der Richtigkeit der Anordnung überzeugt ist. Diesen Umstand nannte Weber Legitimität. Über die gesamte politische Geschichte hinweg machte Weber drei Idealtypen der Legitimität, der „inneren Rechtfertigung" von Herrschaft, aus: 1) traditionale Herrschaft, begründet auf „unvordenklicher Geltung und gewohnheitsmäßiger Einstellung" zur Einhaltung der „Sitte" und der hierauf gegründeten Autorität des Herrschers wie den Patriarchen oder den Patrimonialfürsten. 2) Die auf der „außeralltäglichen persönlichen Gnadengabe", dem Charisma, gegründete Autorität, wie sie in den Augen der Beherrschten Heldentum oder die Nähe zu Offenbarungen verleiht, ferner die auf der Redegewalt begründete Demagogie. Hier ist die Autorität nicht vererbt und durch Satzung verliehen, sondern beruht auf der Person des Herrschers. Schließlich 3) die Herrschaft „kraft des Glaubens an die Geltung legaler Satzung", die Legalität. An Stelle des Charismas tritt hier die sachliche Kompetenz und der Gehorsam besteht in der „Erfüllung satzungsgemäßer

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Pflichten" wie sie der moderne „Staatsdiener" kennt. Weber hatte 1917 noch den Gedanken einer vierten, der magistratischen Legitimität erwogen, die er in Verbindung mit der Lebenswelt des Stadtstaates brachte {Probleme der Staatssoziologie). Neben der bürokratischen Militärmaschinerie und dem Kapitalismus habe die Stadt am stärksten die abendländische Geschichte geprägt. Alle Typen der Legitimität gründen auf dem Glauben an die Richtigkeit der Anordnung; auch im Falle der Legalität mit ihrer spezifisch bürokratischen Rationalität der Satzung und prozeduralen Regeln muss zur Rationalität noch der Glaube der Beherrschten hinzukommen, dass diese Rationalität Geltung beanspruchen darf. „Rational" und damit vorhersehbar sind laut Weber Handlungen, die in der Absicht erfolgen, Interessen zu verwirklichen. Webers Begriff der Rationalität umfasste sowohl „zweckrationale" wie „wertrationale" Aspekte. Ferner vermischen sich unterschiedliche handlungsbestimmende Interessen in einem gesellschaftlichen Segment: wirtschaftliches Verhalten ist, wie Webers berühmtes Theorem vom (calvinistischen) Geist des Kapitalismus zu zeigen versuchte, nicht nur von der Absicht der Erzielung von Profit bestimmt, sondern kann auch durch religiöse Überzeugungen beeinflusst sein, weshalb die Bereitschaft, den erzielten Profit wieder zu reinvestieren statt ihn zu konsumieren, auch von Heilsüberlegungen beeinflusst war (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus 1904/1905). Der am meisten diskutierte Aspekt von Webers Herrschaftssoziologie ist die charismatische Herrschaft (Breuer 1994). Beispiele solcher charismatischen Herrschaft waren für Max Weber der Demagoge in der athenischen Demokratie (Perikles), der Prophet im altisraelitischen Jerusalem (u.a. Jesus von Nazareth), der Kriegsherr (im Ersten Weltkrieg Hindenburg), schließlich der Revolutionär (Lenin). Kraft der besonderen Begnadung des Charismatikers beruhend auf Heldentum, Redegewalt oder der Kraft seines Geistes kommt es zu einer affektualen Hingabe der Beherrschten an den Träger des Charismas. Damit meinte Weber nicht, der Charismatiker könne willkürlich herrschen. Vielmehr liegt die Autorität des Charismatikers in seinem besonderen Anteil an einer Sache, an welcher die Gehorchenden nur durch Gehorsam gegenüber den Anordnungen des Charismatikers partizipieren können. So formuliert der Charismatiker nicht, es sei sein Wille, den Krieg zu führen oder das Königtum zu stürzen, sondern es sei seine ebenso wie der Gehorchenden Pflicht, diese Tat zu vollbringen, und zwar typischerweise unter Aufopferung der eigenen Interessen, insbesondere des Lebens. Mit dem Gehorsam gegenüber dem Charismatiker ist das Versprechen verbunden, man nehme dadurch teil an einer höheren, überpersonalen Dimension des Daseins: sei es das himmlische Reich bei Jesus von Nazareth, der für Weber ebenso Charismatiker ist wie Perikles als Demagoge der athenischen Demokratie, der von der spezifisch athenischen Lebensführung spricht, für die es sich lohnt, zu kämpfen und zu sterben; sei es Lenin, der sich selbst als Werkzeug der weltgeschichtlichen Notwendigkeit einer Revolution empfiehlt. Die charismatische Herrschaft bezeichnete Weber als die große revolutionäre Kraft in der Moderne (Wirtschaft und Gesellschaft 142-143, 666, 670), die es ermöglicht, bürokratische Routinen und gesellschaftliche Konventionen zu durchbrechen, weil sie imstande ist, starke emotionale Energien auszulösen. Das Charisma ist eine zerstörerische und zugleich eine schöpferische Macht {Wirtschaftsethik der Weltreligionen 1915/1919: Religionssoziologie 269). Die legale Herrschaft ist nach Weber allen anderen überlegen, weil sie von Personen ab-sieht und Verfahren in den Mittelpunkt stellt. Die charismatische Herrschaft ist aufgrund ihrer Verankerung in der personalen Gnadengabe des Charismatikers viel weniger zur Sachlichkeit imstande und genau das ist auch ihre Achilles-Ferse. Wie steht es nämlich mit der Herrschaft, wenn der Charismatiker sie nicht mehr ausüben kann? Zwei Probleme tauchen auf:

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die Veralltäglichung seiner Herrschaft schon zu Lebzeiten und die Nachfolgefrage nach seinem Tode. Die Veralltäglichung des Charismas hängt mit der Erfordernis jeder effizienten Herrschaft zusammen: man kann Revolutionen nicht verewigen, sie sollen zwar Strukturkonservatismus durchbrechen, müssen aber an die Stelle der alten Herrschaft eine neue setzen. Das gelingt nicht durch permanente Eingebungen des Charismatikers, da sich die gestalterischen Kräfte rasch erschöpfen. Daher kommt es spätestens jetzt zu einer Rationalisierung der Befehle des Charismatikers in Gestalt von Präjudizien und Präzedenzien: der Verwaltungsstab beginnt mit der Ordnung und Strukturierung der bislang immer ad hoc erfolgten Willensäußerungen des Charismatikers, die allmählich in eine neue Form der Legalordnung übergehen. So vermischt sich das Charisma des überlieferten Wortes mit der Legitimität der Auslegung seiner Lehre, die zur Legalität umgedeutet wird. Die für Demokratien typische Legitimitätsform ist laut Weber charismatisch: zum einen in Hinblick auf plebiszitäre Herrscherkürungen, dann aber auch in einem komplizierten Prozess der „Veralltäglichung" des personalen Charismas und seiner Übertragung auf prozedurale Formen der Wahl. Es kommt zu einer Umdeutung des Charismas: Die freie Anerkennung durch die Beherrschten kann zur Voraussetzung der Legitimität werden, was besonders eine Quelle „demokratischer Legitimität" sein kann, wenn aus dem Charisma der Auserwähltheit das der Wahl wird {Drei reinen Typen der legitimen Herrschaft op. post., Wissenschaftslehre 487). Das demokratische Wahlverfahren ist laut Weber kein Bestandteil des legalen Legitimitätstypus. Ist aber die Bestellung von Politikern durch Verfahren der Repräsentation in Demokratien ein Bestandteil der Legalität oder des Charismas? Repräsentation definierte Weber als Problem der Zurechnung des Handelns einiger als verbindlich und gültig für andere, die solches Handeln als legitim ansehen. Repräsentation ist also ein soziales Verhältnis, das nur aus der Perspektive des Individuums zu verstehen ist (Wirtschaft und Gesellschaft 25; 171). Die repräsentative Demokratie erklärte sich Weber als Mischform des charismatischen und des legalen Legitimitätstypus. Damit ist bereits angedeutet, dass Legitimitätstypen niemals in Reingestalt auftreten. Weber hatte sie zwecks heuristischer Klarheit in „Reinform" beschrieben, in der Realität existieren jedoch nur Mischformen. Wie gezeigt werden Anordnungen des Charismatikers gesammelt und systematisiert, was zu neuen Legalitätsformen fuhren kann; die moderne Parteiherrschaft besteht aus charismatischen wie legalen Strukturen; die moderne Massendemokratie begünstigt besonders Formen charismatischer Herrschaft. Was in der antiken Demokratie der Redner, der Demagoge war, ist in der modernen Demokratie die cäsaristische Führung, die begnadet erscheint durch militärische oder vergleichbare Taten. Der „Caesar" ist Anhänger der populären Partei: er gibt sich als Sachwalter der Volksinteressen aus, die er gegen die elitäre Clique einer vom Ressentiment gegen das einfache Volk beherrschten Oligarchie durchsetzten will. Deliberative Parlamentssysteme müssen sich gegen demokratische Erwartungen eher behaupten, als dass sie durch sie bestärkt werden. Vor allem müssen sie lernen, mit der Demokratisierung der Institutionen umzugehen. Weber sah in der Schaffung verantwortlicher Politik das zentrale Problem jeder politischen Ordnung. „Verantwortung" meinte Weber nicht im Sinne der Verantwortung gegenüber den Interessen der Wähler, sondern gegenüber der ideellen „Sache", um deren Verwirklichung willen der Politiker gewählt wird (Llanque 2007b). Verantwortung übernimmt ein Politiker für zwei verschiedene, oft miteinander in Konflikt liegende Beweggründe seines Handelns: Verantwortung für seine innersten ethischen Überzeugungen, die sein Gewissen diktiert und Verantwortung für das Mandat, das ihm zugesprochen wird und die Folgen seines Handelns

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für andere nahe legt. Hier wie in anderen Fällen sozialen Handelns bestimmen Werte und Überzeugungen ebenso wie Interessen das Handeln der Akteure. „Ideen" bestimmen mitunter maßgeblich das Verständnis dessen, was als Interesse gilt (Wirtschaftsethik der Weltreligionen, Religionssoziologie 252). „Interessen" können sehr variantenreich sein: sie reichen von ökonomischen Profitinteressen bis zum Interesse am Seelenheil oder an der Verwirklichung des Kommunismus, von der Freiheit des Individuums bis zur Sorge für das Wohl der Nächsten. Ideen können nicht einfach in formalen Verfahren mit austauschbaren Akteuren erkundet werden, sie sind zur Bürokratisierung unfähig. Weber wurde nicht müde zu betonen, wie unersetzbar die Leistungsfähigkeit der Bürokratie ist, doch verantwortliche Politik wird seiner Ansicht nach von Politikern gemacht, genauer: von „Führern". Die Statur des politischen Akteurs hängt dabei erheblich von den Herrschaftsbedingungen ab, in welchen er aktiv ist. Die Vermittlung von Rationalität erfolgt in einem Parlament von Berufspolitikern anders als bei der Adressierung politischer Ideen in der Öffentlichkeit an ein großes, von Gefühlen und Leidenschaften beherrschtes Publikum. Mit der Massendemokratie sah Weber eine Tendenz zur irrationalen Führungsauslese verbunden. Da er die Demokratie für ebenso wenig vermeidbar erachtete wie die Bürokratisierung der Gesellschaft, konnte die Frage nur sein, wie diese gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklungen soweit gelenkt werden können, dass Freiheit und Rationalität der Politik noch möglich bleiben. In Webers berühmtester politischer Schrift, seiner im Revolutionswinter 1918/1919 gehaltenen Rede Politik als Beruf, die er im Oktober 1919 zu einer kleinen Monographie überarbeitet veröffentlichte, unterschied Max Weber zunächst zwischen den Gelegenheitspolitikern, die, wie etwa der durchschnittliche Bürger, sich nur ab und an, beispielsweise in Wahlzeiten intensiver mit Politik beschäftigen, und solchen, die sich dauerhaft auf die Politik einlassen. Letztere sind wiederum unterschieden nach solchen, die „von der" Politik oder „für sie" leben. Zwar lebt auch die moderne Politik von Bürokratisierungs- und Verwaltungsleistungen und verlangt daher einen professionellen Umgang, insbesondere bei der Organisation von Parteien; aber „Führung" leisten nur diejenigen, die „für" die Politik leben. Nur sie sind imstande, in Massendemokratien große Bevölkerungsteile von der Notwendigkeit eines bestimmten Handelns zu überzeugen und zugleich die Apparaturen der Parteien wie der Administration zu beherrschen. Überlässt man die Politik dem verwaltungsmäßig operierenden Behördenapparat innerhalb der Parteien, so überwiegen die Interessen an Pfründen und dem Leben von der Politik. Nur „Führung" integriert politische Ideen in die Apparatur der Politik. „Führer" müssen nicht spektakuläre Einzelgestalten sein. Betrachtet man eine von Weber selbst vorgelegte Liste an Politikern, welchen er Führungsqualitäten zusprach - August Bebel, Eugen Richter, Ernst Lieber, Matthias Erzberger (Parlament und Regierung: Politische Schriften 392), wird man feststellen, wie wenig ingeniös die Person sein muss, um dennoch als Führer wirken zu können. Führung in der Terminologie Webers ist daher von seinem berühmtesten Typus des Politikers, des Charismatikers, zu unterscheiden. Führer können Charismatiker sein und bestimmte politische Situationen wie Revolutionen geben gerade Charismatikern oft das Ruder in die Hand; ferner neigt die Massendemokratie zur plebiszitären Legitimierung von Charismatikern, mögen sie siegreiche Feldherrn oder religiöse Heilsgestalten sein. Doch das Charisma ist unberechenbar und kann nicht auf Dauer gestellt werden, weshalb eine spezifisch charismatische „Führung" zu neuen Problemen führt, namentlich in der Nachfolgefrage.

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Drei Qualitäten müssen Führer laut Weber aufweisen: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Alle drei Aspekte bedingen einander, wobei sich Leidenschaft und Augenmaß konkurrierend gegenüberstehen und das Verantwortungsgefühl für Weber jene Qualität ist, die sowohl Leidenschaft wie Augenmaß moderiert. Augenmaß meint die „Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen", d.h. „Distanz zu den Dingen und zu den Menschen" {Politik als Beruf, Politische Schriften 546); sie hebt den Politiker vom aufgeregten Intellektuellen ab, der sich leidenschaftlich „interessiert" und sich betroffen zeigt, aber nicht interessiert daran ist, politische Verantwortung zu übernehmen. Das Verantwortungsgefühl und die Leidenschaft wiederum unterscheidet den Politiker aus Berufung vom kühlen Sachwalter ohne innere Verpflichtung gegenüber der Sache, für die sich der leidenschaftliche Politiker mit Hingabe einsetzt. Das eigentümliche Problem des Politikers aus Berufung ist das unaufhebbar Dilemma einer zugleich von Verantwortung wie von Gesinnung geprägten Ethik des Politikers, der aufgefordert ist, die Balance beider Pole der Ethik auszutarieren und notfalls: zurückzutreten. Um Demokratie und verantwortliche Politik institutionell zu verkoppeln hat Weber verschiedene Modelle durchdacht. Er bevorzugte einen recht verstandenen demokratischen Parlamentarismus, der flexibel genug ist, legale wie charismatische Elemente zu verbinden und in unterschiedlicher Gewichtung auszutarieren. Das Parlament muss offen sein für partielle und temporäre charismatische Herrschaft wie sie besonders begabte politische Führungspersönlichkeiten ausüben, die beispielsweise den Anstoß für tiefgreifende Strukturreformen geben können oder die imstande sind, wie im Falle Deutschlands nach dem Weltkrieg, die Folgen einer Kriegsniederlage zu tragen und die enttäuschten und darbenden Massen an die politische Ordnung zu binden. Zugleich bietet der Parlamentarismus Leistungen, die weder der Charismatiker noch eine unmittelbare Demokratie erbringen können: die Erarbeitung des unausweichlichen und doch so schwierigen Kompromisses zwischen den verschiedenen Konfessionen, sozialen Schichten und politischen Ideologien. Das Kompromiss, wie man zu Webers Zeiten sagte, ist das Ergebnis harter, sachlicher Arbeit und diese geschieht laut Weber nur im Parlament. Das Parlament moderiert die politischen Energien, die von oben oder von unten, durch Charismatiker genauso wie durch Gärungen auf der Straße hervorgerufen werden können und der Zügelung und Kanalisierung bedürfen (Wahlrecht und Demokratie in Deutschland 1917, Politische Schriften 287). Das Parlament ermöglicht so ein integriertes Führertum, in welchem der Demagoge dem Parlament verantwortlich bleibt. Das Parlament erlaubt auch den möglichst reibungslosen Aufstieg eines Führers wie seine reibungslose Nachfolge und kann dabei gleichzeitig die „staatsrechtlichen Garantien der bürgerlichen Ordnung" bewahren (Parlament und Regierung 1918, Politische Schriften 401). Das setzt allerdings Parlamentspolitiker voraus, die selbst über ausreichendes politisches Bewusstsein und zugleich über Erfahrung in der politischen Machtausübung verfügen. Macht ist in Webers Augen ein Vehikel zur Erziehung und Schulung der Politiker, die sich gegenseitig kontrollieren. Vorstellungen, wie das oft zitierte Wort Lord Actons aus dem 19. Jahrhundert, wonach Macht korrumpiert (Brief an Bischof Mandell Creighton 1887), oder auch Jacob Burckhardts Wendung von der Macht als dem „an sich Bösen" (Weltgeschichtliche Betrachtungen, Vorlesungen 1870/71, op. post. 1905 III 1), waren in Webers Augen nur Phrasen, die an den politischen Realitäten vorbeigingen. Die feste Organisation der Parteien und die parlamentarische Arbeit schult die Akteure und erhöht somit die Chance, dass auch demokratisch legitimierte Charismatiker sich in die „festen Rechtsformen des Staatslebens

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einfügen und dass sie nicht rein emotional, also lediglich nach den im üblen Sinne des Wortes .demagogischen' Qualitäten, ausgelesen werden" (Parlament und Regierung 1918, Politische Schriften 403). Max Webers Sorge, ob Institutionen die irrationalen Aspekte der Politik, wie sie besonders in demokratischer Umgebung zu erwarten sind, kontrollieren können, war nicht unberechtigt. Das Problem der Massendemokratie spitzte sich nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Problem von Demokratie und Diktatur zu.

5. Demokratie und Diktatur Demokratische Legitimität und diktatorische politische Macht als die beiden einander gegenüberstehenden Pole im Spektrum der politischen Theorie zu begreifen ist das Ergebnis der Rezeption des demokratietheoretischen Diskurses der Zwischenkriegszeit. Die verheerenden Erfolge faschistischer und dann vor allem nationalsozialistischer Diktaturen zwangen schon während des 2. Weltkriegs dazu, das politische Denken in diese zwei Lager aufzuteilen. Selbst innerhalb der westlichen Demokratien gab es großes Verständnis für das Aufkommen starker Exekutiven: die sozialen und ökonomischen Probleme standen im Vordergrund, deren rasche und effektive Lösung vielleicht besser mit leistungsfähigen Verwaltungen unter einheitlicher politischer Führung gewährleistet war als durch die umständlichen und zeitraubenden Deliberationen legislativer Vorhaben im Parlament. War nicht die Zeit der liberalen Demokratie abgelaufen und konnte man nicht die Diktaturen als eine gewissermaßen unabwendbare Weiterentwicklung der Demokratieidee interpretieren? Erst das Erlebnis von beispielloser politischer Unterdrückung und Zweitem Weltkrieg wandelte die Perspektive und aus dem zögerlichen Demokratie und Diktatur wurde ein entschiedenes: Demokratie oder Diktatur. Die demokratisierte Welt und das Problem der Öffentlichkeit Das Ergebnis des Ersten Weltkrieges war der Sieg der Demokratie über die autokratischen Systeme; Woodrow Wilsons Kriegsziel, die Welt sicherer zu machen für das Gedeihen der Demokratie (Rede vom 2. April 1917), schien erreicht. Der deutschpreußische und der österreichische Autoritarismus waren besiegt, die Dynastien der Hohenzollern und Habsburger wie zuvor die der Romanows und nicht zuletzt auch die Osmanen waren von ihren Thronen gestürzt, und wie es schien, mit ihnen auch alle feudal-aristokratischen Kräfte. Überall wurde das demokratische Wahlrecht eingeführt und auch die westlichen Demokratien erlebten einen Demokratisierungsschub: in Großbritannien wurde das allgemeine Männerwahlrecht als Zeichen der Anerkennung der Kriegsleistungen auch des einfachen Mannes eingeführt, ferner das eingeschränkte Frauenwahlrecht. Die Schaffung des Völkerbundes schließlich brachte eine der ältesten idealistischen Hoffnungen der Demokraten der Verwirklichung näher: die Ablösung von Kabinettskriegen politischer Eliten durch die Kontrolle demokratischer Öffentlichkeiten. Eine Art Fazit dieser Demokratisierungswelle zog James Bryce in seiner dreibändigen Studie Modern Democracies aus dem Jahr 1921. Komparatistisch angelegt skizzierte Bryce die zahllosen Varianten demokratischer Regierung, sorgte sich aber zugleich, ob die Welle, welche historisch der Demokratie seit der Französischen Revolution scheinbar unaufhaltsam zur Verbreitung verholfen hatte, sich nicht gegen sie selbst richten könnte. Bryce konstatierte

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nämlich, dass diese Welle nicht von einer tief wurzelnden Überzeugung getragen war, wonach die Demokratie ein Ideal wäre, das es unter allen Umständen zu erreichen und zu verteidigen gelte; vielmehr setzte sich die Demokratie als nützliches Mittel des Machterhalts durch, also aus Berechnung (dt. I 41-42). Ein dauerhafter Sieg bedürfe aber überall einer tiefer reichenden Verwurzelung der Demokratie als politischer Praxis. Schon 1891 hatte Bryce betont, dass nicht bereits die Gewährung demokratischer Rechte ausreicht, um die Demokratie als Regierungssystem zu etablieren, vielmehr sei ein geistigmoralischer Anpassungsprozess der Bürger nötig, der immer nur langsam verläuft (Age of Discontent). Ungenügend ist das demokratische Stimmrecht vor allem dort, wo es nicht wirkliche politische Macht verleiht: Eine auf Grund eines verhältnismäßig begrenzten Wahlrechts konstituierte Versammlung kann die Volksherrschaft näher bringen als wenn sie zwar von großen Teilen der Bevölkerung gewählt wird, aber nur über begrenzte Kompetenzen verfügt (I 40). Das sollte sagen, dass der englische Weg, den Parlamentarismus vor der Demokratie durchzusetzen, erfolgversprechender war als der deutsche, der das demokratische Männerwahlrecht für ein Parlament kannte, bevor es regierungsbildend war. Mit Blick auf die jungen Demokratien gemahnte Bryce nun daran, den Parlamentarismus nicht aus formaldemokratischer Überlegung auszuhöhlen. Er hatte sich in seiner Einschätzung der USA gegen Ostrogorski und andere als nüchtern Urteilender erwiesen; er registrierte aber das anhaltende Unbehagen in der öffentlichen Meinung wie in der gelehrten Öffentlichkeit, ob die Demokratie wirklich ein geeignetes Mittel der Organisation von Politik sei (I 3). Daher schloss Bryce es 1921 auch nicht aus, dass sich die Demokratisierungswelle wieder in eine anti-demokratische Richtung umkehrt (I 43), wenn die in sie gesetzten Hoffnungen enttäuscht werden. Die Debatte der Jahrhundertwende zum Verhältnis von Aristokratie und Demokratie fand auch in den USA ihren Niederschlag (Schneider 1924, 349-356). Die im Krieg äußerst erfolgreich angewandte Technik der Massenpropaganda zur Stabilisierung der Heimatfront brachte einen erheblichen Reputationsschub für die ältere französische Massenpsychologie (Le Bon; Tarde). Die aufklärerische, namentlich die französische und vor allem die Kantische Position hatten von der Erweiterung des Einflusses der Öffentlichkeit einen Zuwachs an Rationalität der Politik erwartet. Die propagandistische Lenkung der Öffentlichkeit im Krieg schien eine solche Hoffnung endgültig zunichte gemacht zu haben, Demokratietheoretiker wurden nachdenklich (Kaplan 1956). Abbot Lawrence Lowell, der vor dem Krieg noch die einseitige Sichtweise der Elitensoziologie auf die Demokratie kritisiert hatte, diskutierte nun in einem pessimistischen Grundton das Verhältnis von öffentlicher Meinung und Demokratie (Public opinion and popular government 1921; Public opinion in war and Peace 1923, 7278, 96-100). Die Propagandatechnik des Krieges war der Ausgangspunkt einer völlig neuartigen politischen Kommunikationsforschung, die besonders mit dem Namen Walter Lippmann verbunden war (1927; 1949). Walter Lippmann (1889-1974) untersuchte in Public Opinion von 1922 alle Aspekte der Öffentlichkeit in der Realität der funktionierenden Demokratie: vom Zeitungswesen bis zur öffentlichen Meinung. Die grundsätzliche Frage, wie überhaupt der Mensch sich eine Meinung von der Welt macht, beantwortete Lippmann mit der Theorie der Stereotype, worunter er Deutungsschemata verstand, die dazu verhelfen, aus der Fülle und Komplexität der einfließenden Sinneseindrücke (stimuli) ein kohärentes Bild zu entwerfen. Politiker verfügen über die Fähigkeit, durch Symbole Bilder entstehen zu lassen, in welchen sich Eindrücke und Gefühle verbinden, die verschiedenste Interessen verknüpfen und so eine

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öffentliche Meinung im Sinne des Allgemeinwillens produzieren: Das Bild siegt über das Wort. Der Gipfel dieser Kunst besteht laut Lippmann darin, die Vielfalt der Betrachtungswinkel wie der beteiligten Interessen und Vorurteile zu einem Bild zu verdichten, zu dem ein einfaches ,ja oder nein" (Kap. 14) formuliert und abgerufen werden kann. Obschon beispielsweise mit der Wissenschaft Agenturen existierten, die aus der Fülle der Eindrücke Informationen und Fakten destillierten, um ein vernünftiges Urteil der Öffentlichkeit vorzubereiten (Kap. 25-26), bleibt doch ein gewaltiger Unterschied zwischen dem „appeal to the public" und dem „appeal to reason" (Kap. 27-28) bestehen. Lippmann war 1922 noch vorsichtig bezüglich einer Bewertung des von ihm studierten Prozesses der Öffentlichkeit; die kritischen Aspekte waren ihm selbst noch nicht geheuer. 1925 hingegen kam er zu einem klaren Urteil und wollte nun die öffentliche Meinung, jene große legitimierende Kraft der Demokratie, als „Phantom" enttarnen: Menschen äußern nicht von der Öffentlichkeit unabhängige, insoweit authentische Meinungen, die sich dann durch Mehrheitsbildung zu einem Allgemeinwillen formen, sondern sie bringen sich in Übereinstimmung (alignment) mit vorgefertigten Meinungen, sie reagieren auf vorgeformte Vorschläge mit Zustimmung oder Ablehnung (The Phantom Public 1925, Kap. 4). Die Öffentlichkeit kann laut Lippmann nur prüfen, ob die Entscheidungsträger ihre Vorschläge aufgrund nachvollziehbarer Erwägungen vornehmen oder in Wahrheit ihr willkürliches Eigeninteresse als Allgemeinwillen verschleiern (Kap. 10). Die inhaltlichen Fragen müssen Experten überlassen bleiben. Die Erarbeitung von Kriterien zur Abgrenzung dieser beiden Möglichkeiten obliegt der Politikwissenschaft; den Bürger zu befähigen, in diesem engen Rahmen zu einem vernünftigen Urteil zu gelangen, ist die Aufgabe der Erziehung (Kap. 13). Lippmanns Theorie der Stereotypen und sein Plädoyer für die Expertenherrschaft führte zu einer heftigen Debatte mit John Dewey über die Zeitgemässheit der Demokratie (Manicas 1989, 366-376; Westbrook 1991, 275-318; Lasch 1995, 161-175). John Dewey (1859-1952) war wohl der enthusiastischste Befürworter der Demokratieidee seiner Zeit. Seine Vorträge aus dem Jahr 1926, die er in The Public and its Problems 1927 zu einem Buch verarbeitete, konnten auf seine Studie Democracy and Education von 1916 zurückgreifen, in welcher er Lippmanns späterer Forderang nach einer demokratischen Erziehung bereits ausführlich behandelte hatte (Westbrook 1991, 150-194). Die Menschen in einer demokratischen Gesellschaft weisen zwei Kennzeichen auf: die Ausbildung eines wechselseitigen Interesses und die ständige Abgleichung des Verhaltens in Hinblick auf die Situationen, die es gemeinsam zu meistern gilt (Democracy and Education, Kap. 7). Daher muss die Demokratie von allen Regierungsformen auch am meisten an der Erziehung ihrer Bürger interessiert sein. Das Demokratieideal muss in der Schule gelehrt werden, wo Erfahrungen mit der Bewältigung von Problemen vermittelt werden und nicht allein die intellektuelle Instruktion des Frontalunterrichts stattfinden sollen. Der Hintergrund dieser Argumentation war die philosophische Richtung des Pragmatismus, dessen philosophischer Hauptvertreter seiner Generation Dewey war (Festenstein 1997, 17101)). Zunächst von Hegel beeinflusst, wandte er sich der Philosophie von William James and Charles Sanders Peirce zu, die sich auf Fragen der Erkenntnistheorie und der Ethik konzentrierten. Im Zentrum stand dort die Handlung (pragma) und die durch das Handeln gewonnene Erkenntnis. Die „Wahrheit" einer Aussage ist im Lichte des Handelns zu erörtern, für das sie Informationen und Orientierung zur Verfugung stellt. Insofern gibt es keine abgeschlossene, dogmatisch rekonstruierbare Philosophie, die man lehren könnte. Unter-

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schiedliche soziale und ökonomische Kontexte vermitteln unterschiedliche Werte, wobei das Handeln selbst ein Umfeld schaffen kann, das neue Werte erschließt (Joas 1997). Wie alle Pragmatisten war auch Dewey sehr zurückhaltend bezüglich der Ausarbeitung einer politischen Theorie. Er gehörte zu der breiten Intellektuellengruppe des „progressivism", welche die extrem liberale Wirtschafts- und Sozialpolitik Amerikas aus ethischen Überzeugungen heraus kritisierte, eine amerikanische Variante des europäischen Sozialdemokratie (Kloppenberg 1986). Die Nähe der Demokratie zum Pragmatismus lag zunächst nahe, weil seit Tocqueville die Erfahrung und die Betonung der wechselseitigen Abstimmung, der „habits of the heart and minds" das demokratische Credo ausmachten. Mit der Massendemokratie hingegen und der zunehmenden Kritik an der Funktionsfahigkeit des amerikanischen politischen Systems musste die Nähe von Demokratie und Pragmatismus neu überdacht werden. Dewey missfiel an Lippmanns Ausführungen die Betonung des Expertenwissens und die Geringschätzung der Kapazität des einfachen, durchschnittlichen Menschen. Dewey dagegen hielt Zeit seines Lebens und erst recht in Konfrontation mit totalitären Systemen an seinem Glauben an den „common man" fest, der die Offenheit gegenüber Problemlösungen dem Dogmatismus von Ideologen vorzieht (Faith in Democracy (934). Andererseits konnte Dewey den Befund Lippmanns bezüglich des Wandels der Öffentlichkeit nicht grundsätzlich für falsch erklären. Er löste das Problem, indem er von zwei Begriffen der Demokratie ausging, die nicht notwendig deckungsgleich sind: Demokratie als Idee einer Gesellschaft und als Regierungsform (The Public and its Problems, Kap. 5). Ursprünglich sei die amerikanische Demokratie auf einen lokalen Rahmen ausgerichtet gewesen, der beide Ebenen des Demokratiebegriffs viel enger in Deckung brachte als auf nationaler Ebene. Die Öffentlichkeit war nur ein unvollkommener Ersatz für die Debatte in räumlicher Nähe; ferner ist auch die Notwendigkeit von Expertenwissen in der modernen Gesellschaft unabdingbar (Kap. 4). Dies berührt aber seiner Ansicht nach nicht die Idee der Demokratie als einer spezifischen Gesellschaftsform. Fehler der politischen Demokratie bringen nicht die Demokratieidee als solche in Misskredit. Denn die Demokratieidee hat nicht die demokratische Regierungsform hervorgebracht, sondern nur beeinflusst. Ganz im Geiste des Pragmatismus erklärte Dewey das universale Wahlrecht, regelmäßige Wahlen, Mehrheitsprinzip, sowie den Institutionenaufbau von Legislative und Exekutive nicht für „sakrosankt": sie entstanden als Mittel, um bestimmte Aufgaben zu lösen und können mit dem Wechsel der Aufgaben auch wieder ihre Gestalt ändern (Kap. 5). Denn die eigentliche Aufgabe besteht in der Verwirklichung der gesellschaftlichen Demokratie, für die Politik nicht allein entscheidend ist, und die nur im Konzert mit Fragen der Sozialität, der Familie, der Ethik und Religion sowie der Wirtschaftsverfassung gelingen kann. Dewey stellte die Gemeinschaft von Bürgern in das Zentrum seiner Ausführungen, wobei sich der Ausdruck der „community" auf eine besondre Verbundenheit der Bürger bezog. Als Lebensform ist Demokratie überwiegend im kommunalen Leben zu finden. Dewey warnte vor einer Überschätzung der Bedeutung der professionellen Politik für die Demokratie. Anstatt auf Experten zu vertrauen, müsse die Deliberation ausgeweitet und verbessert werden, was wiederum die Fähigkeit der Öffentlichkeit zum politischen Urteil stärkt. Das sei auch immer schon der Sinn des institutionellen Gerüsts der Demokratie gewesen. Der politische Institutionenapparat bildet also nur den Hintergrund für die Ausbildung der Fähigkeiten der Bürger, die Demokratie als Lebensprinzip zu erlernen und auszuüben. Beispielsweise sei die Mehrheitsregel laut Dewey „Irrsinn", wenn sie nicht im Zusammenhand der Deliberation der Bürger stünde (The Public and its Problems, Kap. 6, 207). Im Vordergrund stand für ihn die

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Demokratie als Lebensform, in welcher eine bestimmte Ethik gedeiht, eine schon 1888 von ihm vertretene Auffassung (The Ethics of Democracy). Dewey bietet in der modernen Theorie der deliberativen Demokratie eine der wichtigsten Anknüpfungspunkte der politischen Philosophie (Joas 2000). Die Alternative zur parlamentarischen Demokratie: Bolschewismus und Räteidee Dewey wollte das Verständnis des „demokratischen Staates" nicht von exekutiven, beispielsweise militärischen Erfordernissen abhängig machen, dies würde doch nur die Stellung des Expertentums legitimieren (The Public and its Problems, Kap. 3). Doch die Erfahrung des Weltkrieges konnte nicht so leicht ausgeblendet werden, schon gar nicht in Europa. Selbst Länder wie Großbritannien mit ihrer Tradition von Freihandel und Laissez-faire sahen sich im Krieg zu einer intensiven Planwirtschaft gezwungen. Die ungeheuren ökonomischen Anstrengungen, die zur dauerhaften Versorgung von Millionenheeren nötig wurden, konnten nicht vom Markt bewältigt werden. Erwerb und Verteilung von Ressourcen wurden zentral gesteuert oder wenigstens zentral beaufsichtigt. War der damit einhergehende Zuwachs an bürokratischen Strukturen eine durch den Weltkrieg bedingte Übergangserscheinung oder der Auftakt einer neuen Ära, in welcher alle Probleme der modernen Gesellschaft mittels rationaler Organisation und Planung gelöst werden mussten? Ließ sich ein so komplexes Gebilde wie die Gesellschaft überhaupt „planen" und wenn ja: wer sollte dies auf welche Weise tun? Die Planbarkeit von Gesellschaft war vor dem Weltkrieg nirgendwo so vehement propagiert worden wie im sozialistischen Diskurs. Die Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg übertraf nun alle Erwartungen. Der von der Staatsspitze reglementierte „Kriegssozialismus" deutete an, dass der Staat nicht abstarb, wie es Marx prognostiziert hatte, sondern eine zentrale Rolle im Sozialismus spielten konnte. Andere fühlten sich angespornt, den Sozialismus dort zu versuchen, wo er nach marxistischer Auffassung am wenigstens wahrscheinlich war, in Russland. In den Anfangsjahren des Ersten Weltkrieges beobachtete Lenin aus dem Schweizer Exil mit zunehmender Faszination die Leistungsfähigkeit von Planung am deutschen Beispiel: begonnen mit der geplanten generalstabsmäßigen Bewegung von Millionenheeren, für die ein eigenes Büro errichtet waren worden, bis zur zentralen Ressourcenverwaltung, die Walther Rathenau angeregt hatte und der selbst diese Erfahrungen reflektierte (Von kommenden Dingen 1917). Wenn der Staat der entscheidende Hebel sein konnte, um das sozialistische Anliegen zu verwirklichen, so bestand das revolutionäre Ziel in seiner Eroberung. Mit Hilfe der deutschen Regierung gelangte Lenin ins zaristrische Russland und bereitete mit Staat und Revolution (1917 geschrieben, 1918 veröffentlicht) die Revolution vor. Das Buch sollte ursprünglich mit einem Abschnitt über die Lehren der Revolution von 1905 und vom Februar 1917 abschließen: gemeint waren die „bürgerlichen Revolutionen". Gemäß der orthodoxen Lehre musste der sozialistischen eine bürgerliche Revolution vorausgehen, zumal in Ländern mit feudalen Strukturen wie Russland. Doch mit der Chance der Machtergreifung durch die sozialdemokratische Partei änderte sich die Situation vollständig, die Lenin schließlich noch weiter zuspitzte, als er den orthodoxen Mehrheitsflügel (Menschewiki) der russischen Sozialdemokratie mit seiner Minorität (daher: Bolschewiki) überflügelte und in der Oktoberrevolution die Macht eroberte. Die bolschewistische Revolution etablierte über Nacht eine völlig neuartige politische Theorie, den Leninismus mit seiner Variante der Diktatur des Proletariats.

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Lenins Theorieentwicklung seit 1902 bewegte sich auf das Konzept einer strengen Zentralisierung politischer Gewalt zu. Das zaristische Russland war das am wenigsten industrialisierte Land unter den europäischen Großmächten und wäre daher aus orthodox marxistischer Sicht als letztes reif zur Revolution gewesen. Gleichzeitig verfugte es über einen äußerst repressiven Staatsapparat, der wiederum von anarchistischen Terroristen herausgefordert wurde, die sich als eigentliche Speerspitze der revolutionären Bewegung verstanden. Diese Terroristen wollten die apathische Bevölkerung durch die Provokation zugespitzter staatlicher Unterdrückung aufrütteln. Zugleich suchte die Gewerkschaftsbewegung ihren Frieden mit der Politik. Vor diesem Hintergrund verlangte Lenin 1902 in seiner Broschüre Was tun? die Anerkennung der Gesetzmäßigkeit der „Organisation". Danach werden weder Terrorismus noch Gewerkschaftsbewegung die Revolution herbeifuhren: Terroristen sind Anarchisten und können keine politische Ordnung errichten; auf der anderen Seite erstrebt die Gewerkschaftsbewegung nur die Anhebung des Lebensstandards der Arbeiter und wird sich daher stets mit der herrschenden Staatsgewalt akkommodieren. Der Generalstreik schließlich, als politische Waffe zur Herbeiführung einer Revolution, war in Lenins Augen ein bloßer Mythos. In dieser Situation plädierte Lenin für eine Partei von Berufsrevolutionären, die nach außen einheitlich und schlagkräftig auftritt und den Kern der revolutionären Aktion ausmacht. Diese Partei ist schon deshalb nicht nach demokratischen Gesichtspunkten einzurichten oder irgendeiner Öffentlichkeit rechenschaftspflichtig, weil sie nicht unterwandert werden darf von staatlichen Agenten und bis zur Revolution im Untergrund bleiben muss. „Berufsrevolutionäre" müssen den Ablauf der Revolution und die Machtübernahme vorher generalstabsmäßig studieren. Die Ausübung der politischen Gewalt durch die erfolgreichen Akteure der Revolution nannte Lenin ganz unumwunden „Diktatur". Unmittelbar vor der Revolution entstand Lenins Staat und Revolution, wo er mit Bezug auf Marxens Kommune-Schrift eine eigenständige politische Theorie der Diktatur des Proletariats entwickelte (Draper 1987; Ehrenberg 1992). Lenin wollte Marxens „vergessene Worte" aus seiner Kommune-Schrift in Erinnerung rufen und neu rezipieren (Staat und Revolution 414), wobei er vermutete, dass diese Worte in der deutschen Sozialdemokratie vergessen gemacht werden sollten, weil sie ihrer Anpassungspolitik an die bürgerliche Politik widersprachen. Diese Schrift zeigte aber laut Lenin, dass Marxens Anliegen im letzten Abschnitt seines Denkens die politische Neubegründung des Sozialismus gewesen sei. Marx hatte in der 1. Fassung seiner Analyse des Bürgerkrieges in Frankreich (MEW XVII 543) davon gesprochen, dass die Volksmassen an Stelle der staatlichen Gewalt eine eigene Gewalt setzen müssten. Diese Überlegung wählte Lenin zum Ausgangspunkt seiner Re-Politisierung der marxistischen Orthodoxie. Lenin las Marxens Arbeit als Beschreibung der Kommune zum Zwecke der Skizzierung einer Alternative zum Parlamentarismus; die Kernforderung Marxens sei die Zusammenlegung von exekutiver und legislativer Macht (434-436). Die Diktatur des Proletariats war somit für Lenin keine vage Umschreibung der „Übergangszeit" zum Kommunismus, sie handelte nicht von „Utopismus", sondern war wie im Beispiel der Pariser Kommune der Nukleus einer politischen Theorie des Staates (Staat und Revolution 438). Lenin wollte die Revolution jetzt gleich und mit den Menschen, wie sie augenblicklich waren, d.h. Menschen, die mutmaßlich ohne „Kontrolle, ohne 'Aufseher und Buchhalter' nicht auskommen werden" (438). Er rief zu einer Umkehrung der Logik der Revolution auf: nicht mehr ökonomische Revolution, sondern „staatliche, rein politische Umgestaltung der Gesellschaft" sei nun gefragt, die zwar ihren Sinn erst im Zuge des Übergangs der Produktionsmittel erhalte, also im Kontext der ökonomischen Veränderungen, aber zeitlich dieser ökonomi-

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sehen Veränderung vorangeht sollte (434). Für diese Aufgabe hilft die Idee der Demokratie nicht weiter: betrachtet man den Menschen in seiner gesellschaftlichen Situation, greift der Gedanke der Gleichheit nicht: nicht jeder ist zur Demokratie fähig, nicht jeder an der Emanzipation der Arbeiter interessiert, wie sie der Sozialismus verwirklichen will. In der Übergangssituation einer Gesellschaft muss die unhistorische angewandte Demokratieidee kontraproduktiv wirken, sie wird zum Hindernis der Revolution oder sogar eine konterrevolutionäre Parole (Borcke 1977,477-450). Der Primat des Politischen drückte sich am deutlichsten im Ziel aus, die Macht zu erringen und sie dann zu stabilisieren und hierzu war jedes Mittel recht. Die Bolschewisten sprachen nicht nur vom Frieden, sie schlossen ihn mit dem deutschen Kaiserreich, was einen ungeheuren Prestigegewinn mit sich brachte angesichts des Lavierens bürgerlicher Parlamente zwischen der Unterstützung des Krieges und dem Friedenswunsch. Die Bolschewiki nahmen die Forderung nach der Selbstbestimmung der Völker auf, verhinderten in der Sowjetunion aber ihre Umsetzung. Auf die sich im Bürgerkrieg zuspitzenden Versorgungsprobleme reagierte Lenin mit einer immer stärkeren Zentralisierung der Gewalt und der Unterdrückung selbst der innerparteilichen Opposition sowie der Gewerkschaftsbewegung. Andererseits war Lenin kurz vor seinem Tod gegenüber Lockerungen der Planwirtschaft in der Theorie der „Neuen politischen Ökonomie" aufgeschlossen. Lenin wurde angesichts dieser politischen Beweglichkeit von sozialistischen Ideenhistorikern wie Karl Vorländer in die Nähe zu Machiavelli gebracht (Von Machiavelli bis Lenin 1926; vgl. Bolsinger 2001). Werner Sombart, der bürgerliche Historiker des Sozialismus, betrachtete Lenin mit respektvollem Hass, für ihn war Lenin der „fanatische Hasser, der rücksichtslose amoralische Gewaltmensch, der genial-brutale mongolische Hordenführer, dabei zugleich der gelehrte Buchmensch und starrsinnige Doktrinär" (Sozialismus und soziale Bewegung 148). Lenin war vor allem Inbegriff der großen Alternative zur bürgerlichen Weltordnung wie zur sozialdemokratischen Anpassung und die dann von Trotzki ausgegebene Formel der Weltrevolution, die es von Russland aus zu entfachen galt, klang in manchen Ohren wie ein Versprechen, in anderen wie eine Drohung. Für die deutschen Sozialisten lag der Verdacht nahe, dass für Lenin „Sozialismus" nur eine Parole zum Machtgewinn und Machterhalt war: die Unterdrückung der Mehrheitssozialisten wie der Gewerkschaftsbewegung waren für so unterschiedliche Sozialisten wie Kautsky und Luxemburg Alarmzeichen und die Einstellung zur Demokratie wurde ihnen zum Indiz für die mangelnde Aufrichtigkeit des Anliegens der Bolschewisten. Zugleich offenbarten sich in ihrer Kritik Lenins die Unterschiede von Kautskys und Luxemburgs Demokratiebegriff. Karl Kautsky legte ein kompromissloses Bekenntnis zu Demokratie ab und stellte sie in einen begrifflichen Gegensatz zur Diktatur (Häupel 1993, 128-146). Ungeachtet der gesellschaftsgeschichtlichen Fragen muss der Sozialismus aus institutionellen Gründen auf der Demokratie aufgebaut sein: bürgerliche Ideale wie die Pressefreiheit bleiben notwendig, auch wenn das Proletariat an der Macht ist. In Demokratie oder Diktatur? Ein Katechismus der Sozialdemokratie formulierte Kautsky 1918 den Begriffsgegensatz von Demokratie und Diktatur aus: Demokratie ist nicht nur eine bürgerliche Parole, sie ist die politische Grundlage des Sozialismus, zu welcher die Diktatur nur die Ausnahme darstellen darf. In Diktatur des Proletariats aus dem gleichen Jahr legte Kautsky Marxens Diktaturbegriff neu aus, um Lenin die ideengeschichtliche Legitimation abzuschneiden. Lenin antwortete mit der Broschüre Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky von 1918, die Kautsky 1919 erwiderte (Terrorismus und Kommunismus. Ein Beitrag zur Naturgeschichte der Revolution).

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Diese Arbeit reizte wiederum Leon Trotzkij, der zu diesem Zeitpunkt die Rote Armee aufbaute, zu einer Erwiderung (Terrorismus und Kommunismus: Anti-Kautsky 1920), auf welche Kautsky im Folgejahr replizierte (Von der Demokratie zur Staatssklaverei. Eine Auseinandersetzung mit Trotzki). Kautsky stand zwischen den Anforderungen des Augenblicks und den Hoffnungen, die er mit einer sozialistischen Demokratie langfristig verband: der Sozialismus sollte die besten Teile der alten Gesellschaftsordnung beerben und kultivieren. Lenin und Trotzki dagegen erblickten in dieser Haltung nur eine Bremse des revolutionären Zuges, der auf dem Weg nicht alle mitnehmen konnte, dessen Ziel aber die Beschleunigung rechtfertigte. Rosa Luxemburg war Mitbegründerin der KPD und bekämpfte dennoch die leninistische Politik vehement. Anders als Kautsky sah sie keinen doktrinären Gegensatz zwischen Demokratie und Diktatur. In der kurz nach der Oktoberrevolution verfassten, aber erst posthum von Paul Levi 1922 veröffentlichten Arbeit Die russische Revolution hob sie hervor, dass Sozialisten keine „Götzendiener der formalen Demokratie" seien und stets den „sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie" unterschieden hätten (Politische Schriften 569). Insofern werde die „sozialistische Demokratie" andere Züge tragen als die bürgerliche: sie werde mehr Demokratie bringen! Denn die Diktatur des Proletariats sei nur eine Art der Verwendung der Demokratie, nicht ihre Abschaffung. Sie sei die Diktatur einer ganzen Klasse und nicht einer Minderheit. Sie muss „auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen", öffentlich kontrolliert werden und im Zusammenhang mit der „politischen Schulung der Volksmassen" stehen. Der Lernprozess auf dem Weg zum Sozialismus soll die politische Führung einschließen, weshalb breiteste Demokratie im Sinne von Wahlkampf und uneingeschränkte Pressefreiheit zwingend notwendig sind, um den Umbauprozess am Leben zu halten und die Massen mitzunehmen statt sie zum Objekt einer kleinen Minderheit von Machtpolitikern zu degradieren. Nicht aus doktrinärer Hemmung, sondern aus institutionellem Zwang muss demokratische Partizipationsfreiheit gewährleistet sein, Freiheit ist die Freiheit des anders denkenden Sozialisten (Politische Schriften 564). Die Demokratie bekam in der Auseinandersetzung mit der sozialistischen Linken in Deutschland eine zusätzliche Bedeutung. Kautsky hatte 1917 zwar die Abspaltung der Unabhängigen Sozialisten von der SPD mitgetragen (ebenso wie Bernstein), doch zum Kriegsende übernahmen die Mehrheitssozialdemokraten Regierungsverantwortung, während es unter erheblichem Einfluss Lenins zur Gründung der Kommunistischen Partei kam. Berufsrevolutionäre wie Karl Radek kamen wiederholt aus Russland mit der Absicht, die bolschewistische Revolution zu exportieren; er begleitete diese Versuche auch publizistisch (Die Entwicklung der Weltrevolution und die Taktik der kommunistischen Parteien im Kampf um die Diktatur des Proletariats 1920). Die deutschen Kommunisten drängten voreilig zum Aufstand (Januar 1919). Luxemburg hielt den kommunistischen Aufstand im Januar 1919 als Auftakt einer Revolution in Deutschland für verfrüht, aber sie blieb loyal und büßte das mit ihrem Leben. Schlecht vorbereitete regionale Erhebungen (Märzaktion 1921, Roter Oktober 1923) wollten erneut die Revolution nach Deutschland tragen; Lenin selbst hatte vorschnelle Unternehmungen kritisiert (Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus 1920): Der Enthusiasmus der zur Tat drängenden Revolutionäre dürfe die machtpolitische Analyse der Situation nicht trüben. Erfolgreicher war der Export der Räteidee. Die bolschewistische Revolution hatte sich der Parole „alle Macht den Räten" (Sowjets) angeschlossen. Die Räteidee war eine alle Revolu-

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tionen begleitende Erscheinung der Selbstorganisation unmittelbar vor Ort, von den Soldatenräten in der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts bis zu den Arbeiterausschüssen 1848. Sie waren in Russland bereits in der Februarrevolution von 1905 erprobt worden (Anweiler 1958) Die Räte lebten am Ende des Ersten Weltkriegs in Gestalt von Soldatenräte, die ihre Offiziere selbst wählten, und den Arbeiterräten wieder auf, die sich zu Herren über die Produktionsmittel machten. Die Räte hatten dann in der Zwischenkriegszeit den Charakter eines Gegenentwurfs zum bürgerlich konnotierten Parlament und wurden besonders in Deutschland als ernsthafte Alternative zum Parlamentarismus und als institutionelles Vehikel einer direkten Demokratie gehandelt. Die Rätebewegung griff in der Novemberrevolution weit über Armee und Wirtschaft hinaus: in den Ministerien, in den Schulen, sogar in den Kirchen wurden Räte gebildet, Künstler und Akademiker beteiligten sich oder bildeten eigene Räte. Die Akteure in der Rätebewegung sahen dies allerdings mehrheitlich als Übergangsphänomen und wollten meist nur den Weg zu einer Nationalversammlung ebnen. In München wurde kurzzeitig eine Räterepublik installiert, die aufgrund der dadurch ausgelösten Gewalttätigkeiten den Gedanken die Idee schwer belastete. Man übersah auch, dass die Bolschewisten selbst nur sehr kurz mit den Räten experimentiert hatten, denn die Einführung der Räte in der Wirtschaft hatte ein dramatisches Versiegen der Produktion zur Folge; die Räte wurden mittels ihrer Durchsetzung mit Parteikadern mit der Partei gleichgeschaltet. Diese Ereignisse inspirierten bereits 1919 eine ganze Flut an Rätemodellen, meist in Form kurzer Broschüren und Pamphlete (Arnold 1985). Die dabei vorgelegten Theorien waren teilweise detaillierte Pläne einer neuartigen Staatlichkeit (Dähn 1975; ed. Bermbach 1973). Otto Neurath (1882-1945), durch sein späteres Wirken als Ökonom und Philosoph im Wiener Kreis bekannt geworden, sah im Rätesystem die beste Organisationsstruktur zur Bewältigung der Sozialisierung der Wirtschaft, die ihm angesichts der Kriegserfahrung eine unausweichliche Entwicklung zu sein schien, ganz gleich, welcher politischen Überzeugung man anhing {Betriebsräte, Dachräte, Kontrollrat und die Vorbereitung der Vollsozialisierung 1920). Hierzu entwarf er Schemata und Schaubilder zur Funktionsweise eines das gesamte Land überziehenden Rätesystems (Tribes 1995, 140-168). Neurath war in der Münchener Räterepublik der Leiter des Zentralwirtschaftsamtes und wurde nach ihrem Zusammenbruch wegen Hochverrats zu Zuchthaus verurteilt (Max Weber sagte als Zeuge für ihn aus). Die mit den Räten eröffneten institutionellen Möglichkeiten motivierten Studien, die grundsätzlichere Fragen diskutierten. Der Korrespondent der Frankfurter Zeitung Alfons Paquet (1881-1944) beispielsweise, der die Oktoberrevolution miterlebte hatte, erörterte die Gefahr einer weiteren oder gar parallelen Bürokratisierung durch die Räte, beruhigte sich aber mit der Chance, dass hier wenigstens eine ganz andere, demokratisch legitimierte Elitenauslese möglich werde, die das Arbeiterelement stärkte (Der Geist der russischen Revolution 1919, 15). Die Rätedemokratie war als ein Modell zur Umsetzung des Volkswillens gedacht, bei dem die politische Herrschaft von unten nach oben, von der Basis zur Spitze durchorganisiert werden sollte. Das bedeutete meist das imperative Mandat, was zu einer erheblichen Einschränkung der Beratungs- und Entscheidungsfahigkeit der Räte führen musste. Setzte man den Volkswillen als homogenen Willen voraus, so war es nur konsequent, ihn auf diese Weise zur Geltung zu bringen; war aber der Volkswille das Ergebnis eines Beratungskompromisses, der von den „Volksvertretern" in relativer Eigenständigkeit bewerkstelligt werden musste, so gab man dem Parlamentarismus den klaren Vorzug. Da aber das Parlament mit den Parteien gleichgesetzt wurde, die als ein Haupthindernis der effizienten Umsetzung des Volkswillens galten, lag das Interesse an den Räten in ihrer Rolle als Gegen-

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macht zu den politischen Parteien begründet. Deshalb fanden selbst Anhänger einer starken staatlichen Exekutive Gefallen am Rätegedanken, insoweit man mit seiner Hilfe das Parteiparlament umgehen konnte. Anhänger berufsständischer Modelle betonten Verbindungsstellen zum Rätegedanken. Parteien und vor allem die Gewerkschaften griffen schließlich zur Strategie der freundlichen Umarmung, nahmen dann aber in der Nationalversammlung nur noch sehr wenig Rücksicht auf die Räte. Die Weimarer Republik: Demokratie oder Liberalismus Die Zeit der Weimarer Republik zwischen 1918 und 1933 gehörte zu den Zeiträumen, in welchen der Druck der historischen Ereignisse die Debatten so stark verdichten, dass in wenigen Jahren eine Fülle an politischer Theorie entstehen kann, für die es unter anderen Umständen ganzer Generationen bedarf. Dieser Umstand rückte die Weimarer Republik in das Zentrum des politischen Diskurses. Im Mittelpunkt stand dabei die Demokratie, die in allen denkbaren Varianten und Modellen diskutiert wurde: die repräsentative Demokratie fand immer weniger theoretische Verfechter, dafür gab es Enthusiasten der Rätedemokratie, Sozialisten, die von der „sozialen" oder „wahren" Demokratie sprachen und einen Kontrast zur „bürgerlichen" Demokratie postulierten; bald schon machten sich neue Kräfte auf die Suche nach der „Volksgemeinschaft" oder erdachten die „konservative Demokratie." Die Diskussionen reichten von reinstem utopischen Denken bis zu härtestem Realismus, von den Versuchen einer Modernisierung traditionaler Modelle wie dem Ständegedanken bis zu apolitischen Überlegungen zur Volksgemeinschaft, die mittels innerer Harmonie keiner Politik, und erst recht keiner Parteipolitik bedürfe. Überschneidungen und Überschreitungen waren an der Tagesordnung. Nationalisten interessierten sich für den Bolschewismus und amalgamierten beides zum Nationalbolschewismus (Dupeux 1985), katholisches politisches Denken schwankte zwischen Etatismus und Ständestaat (Bröckling 1993; Dahlheimer), Sozialisten zwischen Kommunismus und republiktragender Sozialdemokratie. Autorengruppen lasen sich nur schwer nach ideologischen Mustern erstellen (Schürgers 1989). Was wäre auch der angemessene Maßstab, zu dem die zahllosen Modelle in Beziehung gesetzt werden könnten? War beispielsweise die Verfassung geeignet, um verfassungskonforme Demokratiekonzepte von verfassungsfeindlichen abzugrenzen und letztere als „antidemokratisch" zu deklarieren (Sontheimer 1962)? Voller Stolz verkündete Edgar David 1919 der Nationalversammlung, dass Deutschland die demokratischste Verfassung der Welt geschaffen habe. Sie besaß eine vorher ungekannte Vielfalt an demokratischen Instrumenten. Das demokratische Wahlrecht unter Einschluss des Frauenwahlrechts war doppelt wirksam: für die Wahl zum Parlament wie zum Reichspräsidenten. Volksreferendum und Volksentscheid rundeten das Bild ab. Aber bei näherer Betrachtung war diese Verfassung keine Festlegung auf ein einziges Demokratiemodell, sondern inkorporierte mehrere, die nicht ohne weiteres miteinander kompatibel waren. Die partizipativen Modelle von Plebiszit und direkter Personalwahl traten in Konkurrenz zum Modell der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie. Die parlamentarischen Kräfte, die den Parlamentarismus wollten und die auch die Mehrheit für diese Verfassung zusammenbrachten (die Weimarer Koalition), waren schon 1920 nicht mehr unangefochten. Der Liberalismus fand immer weniger Zustimmung in der Bevölkerung. Dafür tauchten immer stärker politische Gruppierungen auf, die explizit den Parlamentarismus ablehnten und ihn durch negative Mehrheiten in seiner Arbeit blockierten. Die Verfechter der liberalen Demokratieidee (Gusy 2000) vertraten bald schon eine Mindermeinung.

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Von den involvierten wissenschaftlichen Disziplinen war die Politikwissenschaft in Deutschland erst im Aufbau befindlich. In Frankreich war die „Ecole libre des sciences politiques" bereits 1871 von Emile Boutmy ins Leben gerufen worden (Favre 1989). In Großbritannien wurde 1895 die „London School of Economics and Political Science" gegründet, unter Federführung von Sidney Webb (Dahrendorf 1995). Eine vergleichbare Einrichtung gab es in Deutschland erst mit Beginn der Weimarer Republik, als 1920 die Hochschule für Politik in Berlin ihre Pforten öffnete (Bleek 2001). Ihr maßgeblicher Vordenker, der Politiker und Publizist Friedrich Naumann (1860-1919), ein Mitstreiter Max Webers, drängte schon im Weltkrieg auf die Errichtung einer solchen Anstalt, um das Niveau der politischen Debatten zu heben und sie vor allem mit komparatistischen Kenntnissen auszustatten. Die Soziologie als immer noch junge Disziplin konnte zwar auf Webers Herrschaftssoziologie zurückgreifen und auf Simmeis offenen Blick auf die Moderne, rezipierte sie aber nur sehr eingeschränkt. Nimmt man das Handwörterbuch der Soziologie, das Alfred Vierkandt 1931 herausgab, als Indikator, so wird die breite Beschäftigung mit politischen Fragen deutlich: es behandelte Stichworte wie Krieg, Masse, Staat (Heller), politische Parteien, Fascismus (wie zeitgenössisch „Faschismus" geschrieben wurde), Bolschewismus, Revolution, Führung, Patriotismus (Michels) und Machtverhältnis. Gleichwohl hemmte die Fülle der unterschiedlichen Ansätze die Diskussion: die meisten Beiträge wollten eigene Ansätze des Politikverständnisses etablieren statt die vorhandenen Probleme zu lösen. In der „Massensoziologie" setzte sich nicht überraschend ein Seitenzweig durch, der sich mit den soziologischen Fragen der Massendemokratie beschäftigte. Der 5. Soziologentag von 1926 diskutierte ausschließlich das Thema der Demokratie (Verhandlungen des 5. deutschen Soziologentages 1926). Ferdinand Tönnies (1855-1936) beschäftigte sich ausführlich mit Fragen der Demokratie, viele davon behandelte er in seinen drei Bänden Soziologische Studien und Kritiken (19251929. Ihm war die Differenz von Menge und Volk vertraut (1919), er diskutierte das Verhältnis von Demokratie und Parlamentarismus und versuchte sich an einer Staatssoziologie des demokratischen Staates (1927). Im Hintergrund stand jedoch die Verlusterfahrung des Kaiserreichs. Bereits 1887 war Tönnies mit der Abhandlung Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie hervorgetreten. Die dort vorgenommene kategoriale Gegenüberstellung von gemeinschaftlicher Nahbeziehung und den gesellschaftlichen Verhältnissen unter einander fern stehenden Personen war als soziologische Theoriegrundlegung gedacht. Das Begriffspaar „Gemeinschaft und Gesellschaft" wurde mit der Erfahrung des Krieges und der Republikgründung zu einer Formel, die alle Kritik an den veränderten Zeiten versammelte: zur Gesellschaft zählte die bedrohliche Außenwelt von Wirtschaft und Modernität z.B. des Verkehrs und der Pluralität der Lebensentwürfe, Gemeinschaften galten hingegen als eigentlicher sozialer Ort menschlicher Sittlichkeit. Der 3. Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft 1920 folgten rasch die 4. und 5. 1922 sowie die 6. und 7. Auflage 1926 nach. Im Vorwort zur 3. Auflage betonte Tönnies, dass zwischen dieser und der Auflage von 1912 „die Katastrophe der europäischen, zumal der deutschen Gesittung" gelegen hatte. In der Vorrede zur 4. Auflage brachte Tönnies sein Begriffspaar in die Nähe einer Gegenüberstellung von nordeuropäisch geprägter, älterer „Kultur" und der jüngeren, romanisch dominierten „Zivilisation", wobei er den Eindruck erweckte, als werde die Kultur von der Zivilisation bedroht. Bedrohungspotential ging Tönnies zufolge auch von der Großstadt aus, das gesellschaftliche Leben bezeichnete er als den Tod des Volkes und seiner gemeinschaftlichen Struktur (Ausblick).

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Nicht zufallig erwähnte Tönnies an gleicher Stelle Oswald Spengler (1880-1936), in dessen berühmt-berüchtigtem Untergang des Abendlandes er eine analoge Fragestellung sah, ihm gegenüber aber die Priorität beanspruchte. 1918 war der erste Band von Spenglers Studie erschienen und erregte sogleich große Aufmerksamkeit, die sich mit dem Erscheinen des 2. Bandes und dann der gemeinsamen 2. Auflage beider Bände 1922 zur Sensation steigerte. Seine geschichtsphilosophische Methode der „Morphologie" bewältigte enorme Mengen historischen Materials, um weitreichende Strukturanalogien in Aufstieg und Fall ganzer Zivilisationen zu beweisen. Seine These von der Niedergangstendenz der eigenen Zeit stieß im Nachkriegsdeutschland nicht nur in der breiten Öffentlichkeit auf offene Ohren, sondern auch in großen Teilen der gelehrten Welt. Dabei waren Methode wie These äußerst umstritten (Schröter 1922; Feiken 1988). Seine Prognose des Emporkommens eines Zeitalters der „Caesaren" inmitten einer durch öffentliche Meinung und mediale Wissensvermittlung geprägten modernen Welt festigte die vorurteilsbehaftete Stimmung gegen die „Moderne". Ähnlich wie in den USA gab die Erfahrung des Weltkrieges auch im Weimarer Diskurs den wesentlichen Anschub zur Erörterung der öffentlichen Meinung. Der österreichische Wissenschaftler Wilhelm Bauer (1877-1953) sammelte bereits 1914 das ideengeschichtliche Material {Die öffentliche Meinung und ihre geschichtlichen Grundlagen), verknüpfte diese 1915 mit dem Thema des Weltkriegs selbst (Der Krieg und die öffentliche Meinung) und veröffentlichte 1930 mit Die öffentliche Meinung in der Weltgeschichte eine epochenübergreifende Darstellung. Tönnies lieferte mit seiner Kritik der öffentlichen Meinung von 1922 einen umfangreichen theoretischen Beitrag, worin er die Missbrauchsmöglichkeiten sowie die negativen Auswirkungen der öffentlichen Meinung in den Mittelpunkt der Analyse stellte. Die Volkssouveränität galt unbestritten das Herz der Demokratie: Vom Volk sollte alle Gewalt ausgehen, es sollte alle Konflikte zwischen den Institutionen entscheiden. Aber die Umsetzung dieses Prinzips bereitete praktische Schwierigkeiten, besonders der Staatslehre. In ihr spiegelte sich am deutlichsten, wie sehr die Interpretation der Verfassung von der die Autoren jeweils bestimmenden politischen Theorie abhing. In welchem Verhältnis stand die Verfassung zum parlamentarischen Gesetz? Hatte der im parlamentarischen Gesetz zum Ausdruck kommende gegenwärtige „Volkswille" Vorrang vor der Verfassung oder war die Verfassung gegenüber dem „einfachen" Gesetz höherrangig? Diese Schwierigkeiten hatten sich bereits im Kaiserreich gezeigt, dem Sozialisationshintergrund der meisten Debattenteilnehmer in Weimar. Der fuhrende Staatsrechtslehrer des Kaiserreichs war Paul Laband gewesen, in der Staatslehre jedoch hatte Georg Jellinek dominiert, der in Heidelberg lehrte und mit Max Weber befreundet gewesen war. Anders als die meisten Kollegen seiner Zunft hatte er die amerikanische und englische Forschung rezipierte, und Übersetzungen wie die von Sidney Lows The Governance of England (1904, dt. 1908) initiiert. Doch selbst Jellinek hatte die Verwirrung beklagt, die der Begriff der Volkssouveränität ausgelöst habe (Allgemeine Staatslehre 457-458). Jellineks Dreielementen-Theorie, die den Staat als Einheit von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt definierte (Allgemeine Staatslehre 394-434), war nach dem Krieg untauglich geworden: die Eindeutigkeit des Staatsvolks war fraglich, denn überall gab es Loyalitäten, die über das Volk hinauswiesen, wie z.B. die internationale Klassenzugehörigkeit; das Staatsgebiet war, wie nicht weiter verwunderlich, im Zuge des Friedensvertrages neu geordnet und nicht einmal abschließend geregelt worden (Saar, Danzig, Ostgrenzen); die Staatsgewalt schließlich galt es nach der Implosion des Kaiserreichs neu zu fundieren. Die Demo-

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kratisierung des Staates konfrontierte die Staatslehre mit Problemen, auf die sie weitestgehend unvorbereitet war und nun ihre Kategorien neu justieren musste. Junge Vertreter der Disziplin wie Hermann Heller (1891-1933) konstatierten die Unfähigkeit der älteren Generation, etwas Konstruktives zum Satz „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" sagen zu können {Souveränität Schriften II 98). Heller suchte eine Neuorientierung durch Klärung der ideengeschichtlichen Wurzeln des zeitgenössischen europäischen politischen Denkens (Die politischen Ideenkreise der Gegenwart 1926) und wünschte die Versöhnung von Sozialismus und Nationalismus {Sozialismus und Nation 1925), in der Hoffnung, darin das tragfahige Fundament der jungen Demokratie und ihres Staatsrechts zu finden. Noch jüngere Juristen wie Gerhard Leibholz (1901-1982) experimentierten mit Demokratievorstellungen, die über den Liberalismus hinauswiesen (Wiegandt 1995). Leibholz sah im nationalen Erbe der Fichte'sehen Philosophie einen genuin deutschen Ansatzpunkt des Demokratieverständnisses {Fichte und der demokratische Gedanke. Ein Beitrag zur Staatslehre 1921). Er sollte später in der Bundesrepublik als Publizist und vor allem Bundesverfassungsrichter erheblichen Einfluss auf die Auslegung des Grundgesetzes nehmen und eine Theorie der Massendemokratie vertreten, wonach die politischen Parteien große Bevölkerungsmassen aktivieren und deshalb in ihrem inneren Aufbau strengen demokratischen Kriterien gehorchen sollten. Seine Weimarer Theorie der Repräsentation, die in vielen Aspekten Carl Schmitt folgte {Das Wesen der Repräsentation 1929), reihte Leibholz zunächst in die vielköpfige Riege deqenigen ein, die eine Demokratietheorie jenseits des Liberalismus formulierten. Die Einführung des reinen Verhältniswahlrechts galt vielen als unmittelbare Umsetzung der Demokratieidee: wenn alle Bürger gleich sind, so muss ihnen auch ein gleiches Stimmgewicht zukommen. Damit wurde das englische oder das alte kaiserliche Mehrheitswahlrecht als unzeitgemäß disqualifiziert. Die normative Logik demokratischer Gleichheit hatte also Vorrang vor der prozeduralen Logik des Parlamentarismus. Solche institutionellen Ableitungen aus normativen Grundüberlegungen stießen auf die Kritik jener, die sich um die Funktionsfähigkeit des durch Wahlen konstituierten Parlaments Sorgen machten. Der Staatslehrer Rudolf Smend (1882-1975) befürchtete, dass von der Mehrheitswahl zentripetale Kräfte ausgingen {Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl 1919). Vor der Inkompatibilität von demokratischem Verhältniswahlrecht und der Logik des Parlamentes warnten viele: Friedrich Naumann schon in der Nationalversammlung, ferner Wahlforscher wie Tecklenburg, politische Theoretiker und Parlamentarismus-Forscher aus dem Umkreis Max Webers wie Karl Löwenstein und am ausfuhrlichsten Ferdinand Hermens {Demokratie und Wahlrecht 1933). Heller schließlich rechtfertigte Einschränkungen des Gleichheitsprinzips im preußischen Wahlrecht, die mit wahlrechtstechnischen Maßnahmen der Parteienzersplitterung entgegen wirken wollten, in dem er als wesentliche Aufgabe des Wahlrechts die konstruktive Regierungsbildung definierte, die den Vorrang habe vor einer blinden, rein mathematischen Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes {Die Gleichheit in der Verhältniswahl 1929, Schriften II 339-340). Ein anderes Problem war das Verhältnis der Demokratie zur Gerichtsbarkeit. Sollten die Gerichte das Recht zur inhaltlichen („materiellen") Prüfung von Parlamentsgesetzen haben, die prozedural („formal") korrekt zustande gekommen waren? Unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilungslehre konnte man auf das Eigengewicht der Gerichte pochen, die in einem Verfassungsstaat gegenüber dem Parlament das höhere Recht der Verfassung geltend machen konnten: Allerdings wurde in den zeitgenössischen Darstellungen der USA die Stellung

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des Supreme Court noch nicht so hoch eingeschätzt. In der Nationalversammlung war der Vorschlag gemacht worden, dass nur dann Gerichte ein materielles Prüfungsrecht haben sollten, wenn ein Mindestquorum an Abgeordneten im Einzelfall einer Prüfung zustimmt. Verteidiger der Weimarer Rechtsordnung wie Richard Thoma (1874-1954) sahen das Richterrecht als Notrecht an, legitimiert zum Schutz der „republikanischen Rechtsordnung", für den Fall dass das Parlament seine Befugnisse missbrauchen würde (Das richterliche Prüfungsrecht 1922, 275). Der fuhrende Verfassungskommentator Weimars, der Heidelberger Jurist Gerhard Anschütz (1867-1948), hatte zunächst das Prüfungsrecht des Verfassungsgerichts („Staatsgerichtshof' genannt) abgelehnt. Erst in der 14. Auflage seines Kommentars Anfang 1933 folgte er der gegenteiligen Meinung (Die Verfassung des Deutschen Reichs 1933, 123). Im Vorwort hierzu bemerkte Anschütz, es herrsche gegenwärtig „Feindschaft, zumindest Gegnerschaft zwischen einem großen Teil des deutschen Volkes und der Verfassung". Die demokratischste Verfassung der Welt war mittlerweile ein ungeliebtes Kind. Hugo Preuß und Hans Kelsen vertraten unter den Staatslehrern am klarsten die Sache der repräsentativen Demokratie. Sie wehrten sich mit zunehmender Verzweiflung gegen ihrer Ansicht nach obskurste Deutungen der Politik, die einem liberalen Verständnis der Verfassung im Wege standen. Hugo Preuß (1860-1925) entstammte einer Berliner Kaufmannsfamilie und war jahrzehntelang in der Stadtpolitik aktiv. Die Stadt war in seinen Augen die Lebenswelt freiheitlicher Selbstregierung (Staat und Stadt 1909). Er hatte bereits im Kaiserreich eine Minderheitsposition innerhalb der Staatsrechtslehre eingenommen, da er vehement den Souveränitätsbegriff kritisierte und stattdessen, in der Nachfolge Otto von Gierkes, den Genossenschaftsgedanken als systematischen Grundgedanken der Politik verfocht (Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften 1889). In dieser Sicht nahm der Staat keine privilegierte Stellung innerhalb der zahlreichen Gebilde politischer Selbstorganisation mehr ein, ihm kam kein historischer oder normativer Primat gegenüber lokalen und regionalen Gebilden zu (Lehnert 1998). Schon im Ersten Weltkrieg hatte Preuß die „obrigkeitliche" Struktur des Kaiserreichs scharf angriffen, an dessen Stelle der Volksstaat treten sollte (Das deutsche Volk und die Politik 1916). Das Eintreten für den „Volksstaat", die Umschreibung für Republik, weckte das Vertrauen der Sozialdemokraten in Preuß. Als sie nach dem Kollaps des Kaiserreichs die Regierungsverantwortung übernahmen, betraute Friedrich Ebert Preuß mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs. Die Überwindung des Obrigkeitsstaates und die Errichtung einer republikanischen Selbstregierung waren Preuß' Ziele. Hierfür wollte er sogar mit der föderalen Struktur Deutschlands und dem Übergewicht Preußens brechen, wovon ihm allerdings Max Weber angesichts der anhaltenden Grenzkämpfe im Osten und der Separationsbewegung im Rheinland abriet, und zwar in einer Anfang 1919 von Preuß nach Berlin eingeladenen Beratungsrunde. Webers Einfluss wird die starke Stellung der exekutiven Spitze in der Verfassung zugeschrieben. Doch sowohl linke wie rechte Politiker forderten eine starke Exekutivgewalt: entweder auf der Suche nach einer Nachfolge für die Stellung des Kaisers in der Republik oder wegen der beabsichtigten Sozialisierungsbestrebungen, die eine starke Regierungsgewalt nötig machten. Hugo Preuß sah die Regierung als das Zentrum des neuen politischen Systems; sie sollte das Gleichgewicht zwischen präsidialen und parlamentarischen Elementen herstellen, um flexibel genug zu sein, auf alle Konstellationen reagieren zu können, je nachdem ob eher exekutive oder legislative Akzente gefordert waren. Nachdem Preuß wegen des Versailler Friedensvertrages von seinem Amt zurück, begleitete er die weitere Entwicklung der Weimarer Republik hauptsächlich publizistisch und versuchte die Republik als Lösung der drängenden

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wie der langfristigen politischen Fragen zu verteidigen (Deutschlands republikanische Reichsverfassung 1923). Voraussetzung der Republik war in seinen Augen das Bewusstsein der Bürger, in diesem politischen System ihre Selbstregierung anzuerkennen und sie entsprechend zu unterstützen (Müller/Lehnert 2003). Der Volksstaat der Weimarer Republik entwickelte allerdings zusehends ein Selbstverständnis, das von der Verfassung abrückte. Hans Kelsen (1881-1973), der vielleicht konsequenteste Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, war ein Wegbereiter der österreichischen Republik nach dem Zusammenbruch des Habsburgischen Kaiserreichs. Aus Robert Musils „Kakanien" war ein kleiner Staat am Rande des Deutschen Reichs geworden, der anfänglich die Fusion anstrebte, was ihm aber durch den Versailler Friedensvertrag verwehrt wurde: ein Widerspruch zum Grundprinzip der Selbstbestimmung der Völker. Kelsen entwarf die neue Verfassung und wurde auch Verfassungsrichter. Seine zahllosen Bücher und Aufsätze sollten dem Publikum den Gedanken der parlamentarischen Demokratie nahe bringen (Dreier 1990). Auf seine Weise vertrat Kelsen einen radikalen Demokratiebegriff, wonach Demokratie eine Methode der Normenerzeugung sei, die nur relative Geltung beanspruche, insofern offen gegenüber Wandlungen zu sein habe. Ihre Institutionen, allen voran das Parlament und die Mehrheitsentscheidung, sollten auf diese Offenheit hin ausgerichtet sein. Kelsen lehrte später in Köln Staatsrecht. Er bemerkte frühzeitig die Ambiguität der unterschiedlichen demokratischen Elemente der Weimarer Reichsverfassung: der plebiszitäre Präsident als Chef der Exekutive war als Sachwalter des Volkes intendiert, insbesondere in staatlichen Notsituationen, kontrollierte aber auch das Parlament und konnte unter Umständen an seine Stelle treten. Das entsprach einem weitverbreiteten Wunsch nach Autorität, konnte aber laut Kelsen eine zeitweilige Autokratie bedeuten und so die Volkssouveränität eher hemmen als sie befördern (Wesen und Wert der Demokratie 1929, 82). Er betonte, dass die politischen Ideen der Wahl und der Repräsentation grundsätzlich undemokratisch seien, Montesquieu in dem einen und Rousseau in dem anderen Falle folgend. Der neue Staat sei nun einmal nicht einfach eine „Demokratie", er sei mit guten Gründen aus unterschiedlichen Elementen zusammengesetzt. Der Demokratieidee eigentümlich sei eine Tendenz zur „Herrschaftsfeindlichkeit", nämlich das „dem demokratischen Empfinden unerträgliche Faktum einer Herrschaft von Mensch über Mensch" (Allgemeine Staatslehre 325). Insofern wird jeder Zusatz zur Demokratieidee, der um der Herrschaftsfahigkeit willen eingefügt wird, als Fremdkörper empfunden. Hat man sich also erst einmal damit abgefunden, dass Demokratie als solche gar keine politische Herrschaftsform ist, so kann man laut Kelsen auf einige demokratische Dogmen verzichten, allen voran die Vorstellung eines überparteilichen, organischen Gesamtwillens. Die soziale Wirklichkeit verlangte vielmehr eine arbeitsteilige Gesellschaft, deren politische Gestalt die Demokratie als Parteienstaat sei; hier ist der Gemeinschaftswillen nur die Resultante der Parteiwillen (Wesen und Wert der Demokratie 1929, 22-23). Wenn aber Herrschaft unabdingbar ist, so sollte sie laut Kelsen möglichst dem Gedanken der Freiheit folgen: muss der Mensch um des Bestandes der Gesellschaft willen „Untertan" sein, so am besten seiner eigenen Herrschaft. Die politische Freiheit organisierter Selbstregierung war für Kelsen eine Fortentwicklung der Freiheitsidee, die mit der individuellen Freiheit einsetzt (modern negative Freiheit genannt) und evolutiv mit der Souveränität des Volkes, dem „Freistaat" endet (Allgemeine Staatslehre 326). Parlament, Kompromiss, Parteienregime und Gesetzesherrschaft sind insofern Zutaten zum Demokratiebegriff und ergeben den Vollbegriff moderner Demokratie.

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Kelsen war der Begründer des Rechtspositivismus bzw. der „reinen Rechtslehre", in welcher dem Begriff des „Rechts" keinerlei substantielle oder qualitative Bedeutung zukommt, sondern nur eine formelle Bedeutung: die Norm, die sich eine Gesellschaft selbst gibt. Naturrecht oder Gerechtigkeitsmaßstäbe erachtete Kelsen zum einen für rückständig, zum anderen bewertete er solche Vorstellungen als latent anti-demokratisch, da sie dem Rechtserzeugungswillen des Volkes inhaltliche Vorschriften machen wollen. Der Demokratie kommt demnach kein absoluter Wert zu, sie ist vielmehr die relativ beste Methode, wie eine Gesellschaft sich selbst regiert. Auf dieser allgemeinen Ebene steht der Demokratiebegriff in einem unversöhnlichen Gegensatz zum Begriff der Autokratie. Dieser Gegensatz beruht auf der Grundeinstellung der Bürger, ihrer „Weltanschauung" bzw. „Wertanschauung": ob sie nämlich ihre eigene Ordnung für absolut oder nur für relativ richtig erachten. Wer nach absolut richtigen Normen verlangt, wird eine autokratische Politik bevorzugen; Mehrheitsentscheidung in substantiellen Fragen kann er nicht gelten lassen, denn was bedeutet schon die Zählung von Stimmen gegenüber absoluten Werten? Wer hingegen die von einer Gesellschaft erzeugten Normen nur fur relativ richtig erachtet und insofern fur wandlungsfahig, der wird eher auf die Offenheit des Normerzeugungsprozesses achten und der Offenheit des Mehrheitsentscheids zustimmen können. Ungeklärt ließ Kelsen die Frage, wie mit der Konstellation umzugehen sei, in der Anhänger einer absoluten auf solche einer relativen Weltanschauung treffen. Den Relativismus als normativen Fluchtpunkt der Demokraten in Weimar verteidigte auch Gustav Radbruch (1878-1949) in seiner Rechtsphilosophie von 1932. Er war aus Überzeugung und nicht aus Klassenbewusstsein der Sozialdemokratie beigetreten (Kulturlehre des Sozialismus. Ideologische Betrachtungen 1922) und war zeitweilig Justizminister. Radbruch sah, wie sehr Zeitgenossen die Argumentation Kelsens zugunsten des Relativismus als Schwäche auffassten, weshalb Radbruch für einen Relativismus aus Stärke plädierte: Das Parlament sei keine Institution, die nur mangels besserer Einrichtungen eine Existenzberechtigung habe. Die politischen Parteien seien vielmehr das Lebenselixier des Parlaments und Ausdruck konkurrierender rechtsphilosophischer Grundeinstellungen (Rechtsphilosophie 5869), was nur die Breite des politischen Denkens einer Bevölkerung spiegelt. Die populäre Vorstellung einer „überparteilichen Regierung" dagegen bezeichnete er als „die Lebenslüge des Obrigkeitsstaates" {Die politischen Parteien im System des deutschen Verfassungsrechtes, Handbuch des deutschen Staatsrechts 1930,1 289). Der Relativismus war das aufrichtige, aber letztlich nutzlose Angebot liberaler Gesinnung an jene, die im Weimarer Diskurs um letzte Werte rangen. Kommunisten auf der einen Seite und Nationalsozialisten auf der anderen versuchten sich in ihrer Überzeugung von der absoluten Richtigkeit der von ihnen jeweils vertretenen Positionen gegenseitig zu übertrumpfen und fochten dieses Ringen auch in blutigen Straßenkämpfen in Berlin oder Hamburg aus. Aus der Sicht dieser Fundamentalisten war Liberalismus unzeitgemäß. Die Überzeugung, nur mit Entschiedenheit die eigenen Positionen verteidigen zu können, brachte so eigentümliche Phänomene politischen Denkens wie die „konservative Revolution" hervor (Möhler 1989, Breuer 1993). „Konservatives" Denken bedeutete hier nicht die negative Reaktion auf die Französische Revolution, wie das noch für jene Autoren des 19. Jahrhunderts der Fall war, deren Bestreben der Traditionserhalt war (Mannheim 1984). Als Revolutionäre erachteten diese Autoren die sozialen und politischen Kräfte des altständischen Modells und des Erbadels als rückständig und wollten mittels einer nationalen Revolution erst jene Strukturen errichten, die zu konservieren sich lohnten: Dazu gehörte vor allem nationales Gedankengut,

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aus dessen Solidargedanken heraus partiell sozialistische Aspekte der Gemeinwirtschaft und ähnlich kollektivistische Modelle vertreten wurden. Eine Schule entstand allerdings nicht und für eine politische Organisation war das intellektuelle Moment zu stark. Autoren wie Hans Freyer {Revolution von rechts 1931), Arthur Moeller van den Bruck (Das dritte Reich 1923, 3. Aufl. 1931) und Ernst Jünger {Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt 1932) vertraten kaum miteinander kompatible Ideen; sie wirkten eher als Stichwortgeber, als dass sie an politischer Theorie mit systematischem Anspruch interessiert waren. Typischerweise war selbst hier immer wieder von Demokratie die Rede, nur in einer möglichst nicht-liberalen, das hieß vor allem: nicht individualistischen Ausrichtung. Innerhalb der Staatslehre formulierte Carl Schmitt (1888-1985) die heftigste Liberalismuskritik. Noch in den Kategorien des kaiserlichen Staatsrechts ausgebildet stand Schmitt unter dem Eindruck der Erfahrung des Weltkriegs und der anschließenden revolutionären und bürgerkriegsähnlichen Situation. Er verknüpfte katholisches politisches Denken mit nationaler Grundorientierung und einem an Hegel erinnernden Etatismus, der allerdings dessen Aufgeschlossenheit für die politische Ökonomie vehement ablehnte. Von allen Weimarer Autoren fanden Schmitts Begriffsprägungen die größte Rezeption: „Hüter der Verfassung", „politische Theologie" (siehe Abschnitt „Politik und Religion"), „Unterscheidung von Freund und Feind" (siehe Abschnitt „Idee des Politischen") sind noch heute gebräuchliche Ausdrücke, die aber oft einfach aus ihrer Stellung in Schmitts politischer Theorie herausgerissen werden. Schmitts Problembewusstsein deckte sich mit dem seiner Kollegen: die Leitbegriffe des Staatsrechts wie „Staat" und „Souveränität" waren unklar geworden; er verlangte aber eine radikale Lösung an Stelle von „dilatorischen Formelkompromissen", die er durch die Schaffung einer „radikalen Begrifflichkeit" {Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität 1922, 59) herbeifuhren wollte. Diese Radikalität sollte den theologischen und metaphysischen Gehalt eines Begriffs ausloten. „Hier hört das Staatsrecht a u f hätten die klassischen Staatslehrer zu solchen methodischen Überlegungen gesagt (Gerhard Anschütz/Georg Meyer, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. 1919, 906), eine von Schmitt ständig kritisierte Formel {Verfassungslehre 1928, 56; Politische Theologie 2. Aufl. 1934, Vorbemerkung). Ideengeschichtliche Aufschlüsse über den Sinn juristischer Begriffe erprobte Schmitt 1921 am Begriff der Diktatur {Die Diktatur). Dessen Aktualität beruhte auf der von der Weimarer Verfassung eingeräumten Ausnahmegewalt des Reichspräsidenten (Art. 48), die in der zeitgenössischen Terminologie in einem wertneutralen Sinne „Diktaturgewalt" genannt wurde. Aus dem von Schmitt zusammengestellte Material - von der römischen Republik bis zum Wohlfahrtsausschuss der Französischen Revolution und den Auseinandersetzungen innerhalb des sozialistischen Lagers zwischen Lenin und Kautsky, destillierte er zwei Typen der Diktatur: die kommissarische und die souveräne. Schmitt wollte die „Souveränität", den alten Leitbegriff des Staatsrechts, mit neuem Leben füllen und definierte an anderer Stelle: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet {Politischen Theologie). Die Norm setzt demnach einen „Normalzustand" voraus, den zu schaffen die souveräne Gewalt kennzeichnet. Souveräner Diktator (im Gegensatz zum beauftragten und einer übergeordneten Gewalt unterworfenen kommissarischen Diktator) ist der Verfassungsgeber, der diesen Normalzustand schaffen will und hierzu einer Konzentration exekutiver und legislativer Gewalten bedarf, welche die wiederhergestellte Verfassungsordnung dann anschließend wieder aufhebt. Normativ gesehen ist die Gründung einer politischen Ordnung ein Vorgang „aus dem Nichts": einer politischen Ordnung geht keine Norm voraus, an welcher sie sich messen

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ließe, sie begründet erst Normen. Die Entscheidungsfahigkeit über Inhalt und Maßstab der eigenen politischen Ordnung bezeichnete Schmitt als das wesentliche Merkmal eines „politischen Volkes" im Gegensatz zu einem Volk, das von Entscheidungen anderer Völker abhängig ist. Dies war auf die Lage des deutschen Verfassungsgebers gemünzt. Schmitt verfasste 1928 bezeichnenderweise eine Verfassungslehre und keine Staatslehre. In der Verfassung erblickte Schmitt die Grundentscheidung des Volkes; für Deutschland war das in seinen Augen die Entscheidung für die Demokratie. War aber die Demokratie der begriffliche Ersatz für Staatlichkeit, lag es nahe, einen substantiellen und keinen relativistischen Demokratiebegriff anzumahnen. Liberale Komponenten des Verfassungssystems waren im Verhältnis zu dieser Grundentscheidung nur gewollte Hemmungen. Schmitt ging soweit, einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Liberalismus und Demokratie zu postulieren: die Idee des Rechtsstaates zum Zwecke des Schutzes der individuellen Rechtssphäre sah er als klassischen Ausdruck des Liberalismus und nicht als genuinen Bestandteil der Demokratieidee, welche Schmitt mit Bezug auf Rousseau als Identität von Regierenden und Regierten definierte (Verfassungslehre 235). Schmitt sprach der Diktatur zu, institutioneller Ausdruck dieser Identität zu sein (Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus 1926, 37) und experimentierte mit dem Gedanken der „Akklamation" als spezifisch demokratischer Form der Legitimierung im Gegensatz zur liberalen Position, die sich in der geheimen Wahl niederschlage (Volksentscheid und Volksbegehren 1927). Die von Schmitt als Kennzeichen der Demokratie bezeichnete Identität wird durch substantielle Homogenität gewährleistet, die in einem Volk vorliegen muss, damit seine politische Einheit möglich wird. In der Gegenwart erkennt Schmitt in der Nationalität die Substanz dieser Homogenität. Die Folge ist, dass die Logik der demokratischen Substanzsicherung es verlangt, das „Heterogene" auszuschalten, notfalls zu vernichten, in diesem Falle die nationalen Minderheiten (Geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus 1926). Schmitt meinte, die Substanzsicherung eines Volkes liege außerhalb des Horizontes der liberalen Denkwelt. Der Liberalismus sei immer nur ein retardierendes Moment. Einzig in der Zeit, da man überzeugt war, dass die freie Diskussion im Parlament zu rationalen Ergebnissen führe (was Schmitt als Hochzeit des Liberalismus ansieht), konnte das Parlament den Kern der Staatlichkeit bilden (mit Verweis auf Bagehot). Mit dem Wegfall dieser Epoche müssten andere, zur Substanzsicherung befähigtere Ideen und damit verbundene Institutionen in den Mittelpunkt treten. Dazu zählte Schmitt die Exekutive mit dem Reichspräsidenten an der Spitze der staatstreuen Beamtenschaft. Hierzu entwickelte Schmitt auch die Figur vom „Hüter der Verfassung", mit welcher er eine Art Funktionsbeschreibung der alten Überparteilichkeit der Staatsgewalt gab (Hüter der Verfassung 1931) und zugleich den institutionellen Ort dieser Überparteilichkeit nicht beim Verfassungsgericht, sondern beim Reichspräsidenten ansiedelte. Die Restitution der Staatlichkeit mittels einer geistreichen Verfassungsauslegung wollte die politische Einheit gegenüber Parlament und Parteien sicherstellen. Für Kelsens Theorie eines internen Zusammenhangs von Parlamentarismus und Demokratie aus Gründen der Arbeitsteilung auf politischer Ebene (Wesen und Wert der Demokratie 1929, 71) und ähnlichen Überlegungen Richard Thomas {Zur Ideologie des Parlamentarismus und der Diktatur 1925) hatte Schmitt kein Verständnis. Andere Etatisten wie Rudolf Smend erwogen immerhin die Möglichkeit, auch im Parlament den Ort der politischen Einheitsbildung zu sehen (Verfassung und Verfassungsrecht 1928, Abhandlungen 153; 245). Smend definierte die politische Einheit als andauernden Prozess der „Integration", zu dem Symbole und Repräsentanten

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ebenso beitragen können wie die parlamentarische Kompromissfindung. Für Heller schließlich existierte keine außerhalb der politischen Sphäre befindliche „Einheit", schon gar nicht als Substanz: die Einheit ist ihm nur als „Einheit in der Vielheit" vorstellbar und es sei die Aufgabe des politischen Prozesses, diese Einheit temporär und partiell immer wieder aufs neue zu „organisieren" (Europa und der Fascismus 1931: Schriften II 467). Schmitt konnte jedoch auf den Umstand verweisen, dass sich das Parlament der Weimarer Republik immer weniger zur Einheitsbildung fähig zeigte. Da das Parlament zu Beginn der 1930er Jahre nur noch negative Mehrheiten fand und sich zu einer konstruktiven Regierungspolitik außerstande zeigte, mehrten sich zwischen 1930 und 1932 die Stimmen, welche die Überlebensfähigkeit der Republik nur noch in einer Stärkung der Exekutive und ihrer Immunisierung gegen den Zugriff des stärker zentripetalen Parlaments erblickten. Das Wort von der „autoritären" Demokratie ging um, und zwar sowohl aus dem Munde deijenigen, welche die Republik soweit als möglich zu erhalten bestrebt waren, wie von jenen, die den Parlamentarismus gegen eine exekutivfixierte Staatlichkeit eintauschen wollten. Autoren wie Heller oder Leibholz plädierten ebenso für die Regierung wie Schmitt, aber aus ganz anderen Intentionen. Demokratie oder Diktatur? Autoritäre und diktatorische Regime verbreiteten sich über ganz Europa: ihr anti-liberales Vokabular, die Parteienfeindlichkeit, die Lächerlichmachung parlamentarischer Arbeit, die Hymne vom starken Staat und der elitäre Gestus derer, die eine nationale Revolution durchfechten wollten, fanden viel Gehör, und zwar auch dort, wo man deswegen nicht in die entsprechenden Parteien eintrat. Vom Marsch auf Rom 1922 über nationale oder militärische Autokratien in Bulgarien, Spanien, der Türkei, Portugal und Litauen in den 1920er Jahren bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland und nicht zu vergessen der bolschewistischen Parteidiktatur in Russland verbreitete sich die Diktatur immer mehr in Europa. Zum Ende der 1920er Jahre setze in den verbliebenen Demokratien die Diskussion darüber ein, ob diese Entwicklung Ausdruck eines Demokratiedefekts war oder Zeichen dafür, dass sich die Diktatur als eigenständige Regierungsform etablierte. Von einer politischen Theorie des Faschismus oder des Nationalsozialismus kann man nicht sprechen. Die Forschung in den demokratischen Ländern zog immer wieder Alfred Rosenberg, gelegentlich auch Carl Schmitts Staat, Bewegung, Volk von 1933 heran und natürlich einschlägige Verlautbarungen Hitlers und Mussolinis; wenn man aber von der „Ideologie" dieser Systeme sprach, so war dies ein Ausdruck dafür, dass es sich hierbei nicht um politische Theorien handelte, die man als Außenstehender verstehen konnte. Beide Bewegungen kreierten ihre eigene Tradition: der Faschismus lehnte sich an die Romidee an, die den angestrebten imperialen Gestus vermittelte, der Nationalsozialismus reklamierte „germanische" Wurzeln und knüpfte an die alte Reichsideologie an, ohne dass die von ihnen beanspruchten Ideen Rückschlüsse auf ihr politisches Denken zuließen. Ihre Selbstreflexion war inhaltsleer oder phrasenhaft, Worte ohne Begriffe, dafür aber flexibel und so an die machtpolitischen Gegebenheiten beliebig anpassungsfähig. Adolf Hitler benutzte in den ersten Auflagen von Mein Kampf angesichts der herrschenden Semantik des Diskurses auch die Vokabel „Demokratie" - in der Variante einer „germanischen Demokratie" - , was er dann ab 1933 ersatzlos zugunsten der reinen Führerautorität strich (Bracher 1984, 106). Selbst mit dem italienischen Faschismus sympathisierende Autoren wie Robert Michels akzeptierten die Meinung, dass dieser dem Wesen nach theorielos sei und sogar jahrelang auf

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die Formulierung eines konsistenten Programms verzichten konnte (Sozialismus und Fascismus in Italien 1925, 277). Michels griff aus Italien verschiedentlich in die Weimarer Debatte ein: seine Parteiensoziologie erschien 1925 in zweiter Auflage, gefolgt von Studien über die Massenpsychologie (Psychologie der anti-kapitalistischen Massenbewegung 1926) und den gegenwärtigen Stand der Demokratie (Grundsätzliches zum Problem der Demokratie 1928). In letzterem Aufsatz vertrat er die Auffassung, dass das identitäre Prinzip der Demokratie in der faschistischen Konsenstheorie verwirklicht sei, eine Diktatur mit Genehmigung des Volkes, „Konsensus statt Parlament." Aber solche Beschreibungen lebten von der Abgrenzung zum liberalen oder demokratischen System und hatten kein Eigengewicht. Der Theorielosigkeit des Faschismus entsprach die ausgiebige Verwendung von Symbolen und Emblemen in Anlehnung an sakrale Vorbilder (Hehl 2002), was den Vergleich mit Religionen nahe legte. Der Ausdruck „politische Religion" kam Mitte der 1930er Jahren auf, und zwar unabhängig voneinander bei so unterschiedlichen Autoren wie Raymond Aron und Franz Borkenau und ist heute ein bekannter, wenn auch nicht unumstrittener Terminus der Forschung (Maier 1996; Maier/Schäfer 1997). Den bedeutendsten Beitrag leistete Eric Voegelin (1901-1985) mit seiner kurzen Abhandlung Die politischen Religionen von 1938 (siehe diachroner Diskurs „Politische Theologie"). Voegelin war ein Jurist aus dem Umfeld Hans Kelsens, der aber rasch die Grenzen des Rechtspositivismus hinter sich ließ, andererseits aber auch nicht in die Spuren der zeitgenössischen Soziologie trat. In Arbeiten wie Rasse und Staat (1933) und seiner Analyse der antiparlamentarischen Tendenzen in Österreich (Der autoritäre Staat 1936) beschäftigte er sich mit einer Art Phänomenologie post-liberaler Staatlichkeit. Die Idee der „Rasse" ordnete Voegelin den zahllosen ideengeschichtlichen Vorstellungen der „Leibidee" unter, zu denen er auch den Leib Christi im mittelalterlichen Ordnungsmodell zählte. Den modernen Erfolg der Rasseidee erklärte Voegelin teilweise mit der Weigerung der modernen Staatslehre, die menschlichen Grunderlebnisse in das Zentrum ihrer Theorie zu stellen, sondern diese unhinterfragt vorauszusetzen. Doch die Grenzen des Verständnisses sind selbst bei Voegelin zu spüren, wenn er davon spricht, dass die politische Religion von ihren Anhängern nicht als „Verbrechen gegen die Würde der Person" (Politische Religionen 54) empfunden, sondern offenbar geradezu ersehnt würde. Die Erzeugung eines Mythos und seine Propagierung in Zeitung und Rundfunk, die Reden, Gemeinschaftsfeiern, Versammlungen und das Marschieren, die nach Plan organisierte Arbeit und schließlich das „Sterben im K a m p f ' sind laut Voegelin moderne Methoden „religiös-ekstatischer Verbindung des Menschen mit seinem Gott", neue Formen der „unio mystica". Die ersten ernstzunehmenden Diskussionen des italienischen Faschismus, Erwin von Beckeraths Wesen und Werden des fascistischen Staates (1927) oder Edgar Rosen, Der Fascismus und seine Staatsidee. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des neueren Italien (1933), beschränkten sich auf eine möglichst nahe Darstellung des Faschismus. Beckerath machte die Wirtschaftskrise für den „Neo-Absolutismus" verantwortlich. Die Ausbreitung des faschistischen Modells auf Staaten mit älterer Staatstradition hielten viele zunächst dennoch für unwahrscheinlich, zu abstrus und fremdartig wirkte es auf sie. Individualismus galt freilich immer mehr als allmählich verschwindende Vorstellung aus der liberalen Vergangenheit, Kollektivismus war das Wort der Stunde. Doch auf welches Kollektiv dabei Bezug genommen wurde, war die Frage: „Volk", „Rasse", Nation, oder Klasse? Der junge Sozialdemokrat Ernst Fraenkel wollte als Kollektiv nur gesellschaftliche Verbände wie die Gewerkschaften gelten lassen. In seiner 1932 vorgelegten Theorie der „kollektiven Demokratie" versuchte er sich wohlweislich vom Korporatismus des italienischen Faschismus abzugrenzen. Die

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Grenzlinie zog er nicht zwischen individualistisch-liberaler Gesinnung und Kollektivismus, sondern innerhalb des Kollektivismus anhand des Merkmals, ob die Verbände über faktische Autonomie verfügten oder nicht; letzteres sei in Italien der Fall {Kollektive Demokratie 1929, 116).

Immer deutlicher wurde, dass der Faschismus nicht nur auf Italien begrenzt war, sondern ein Schlaglicht auf die Bestandskraft der liberalen Demokratie warf. Alle Parteien gingen dazu über, ihre Anhängerschaft wie Heere zu mobilisieren und sie aufmarschieren zu lassen (oft im Berliner Sportpalast), um ihre Stärke zu demonstrieren. Die Institutionen der Weimarer Verfassung wurden zur Fassade der Parteien auf der linken wie auf der rechten Seite, zugleich sahen sich die liberalen Parteien immer stärker marginalisiert. Bereits 1925 erörterten liberale Vordenker wie Alfred Weber {Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa), der kurzzeitig der Vorsitzende der Deutschen Demokratischen Partei gewesen war, und Moritz Julius Bonn {Die Krise der europäischen Demokratie) den Autoritätsverlust der liberalen Demokratie. Sie machten dafür das Denken in Kollektiven verantwortlich bzw. den Niedergang der Überzeugung, im Individuum die unhintergehbare Maßstab für politisches Handeln zu akzeptieren. Alfred Webers 1931 erfolgter Versuch, die Freiheitsidee nicht mehr als beliebiges Handeln des Individuums aufzufassen, sondern „als etwas in einem Kollektiv sich Verwirklichendes" {Das Ende der Demokratie? 1931, 5, 8), wirkte hilflos. Auch wenn der Faschismus deshalb noch keine überzeugende Alternative sein musste, stellte sich die Frage, welche Richtung für die Entwicklung der Staatlichkeit verblieb. Gerhard Leibholz hob die zahllosen Inkonsistenzen im Faschismus hervor {Zu den Problemen des fascistischen Verfassungsrechts 1928), dessen Vordringen eher mit der nachlassenden Überzeugungskraft des Liberalismus zu tun habe. Als Grund für den Niedergang des Liberalismus nannte Leibholz den Verlust seiner „Autorität" im Sinne von Anerkennung und Gehorsam bei den Bürgern; umgekehrt erklärte das Bedürfnis nach Autorität die zunehmende Zustimmung zum Faschismus und dann zum Nationalsozialismus. Seine mit Vorwort vom März 1933 publizierte Arbeit Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild verriet die Besorgnis, in welche Richtung die von ihm grundsätzlich erwogene und bis zu einem gewissen Grade auch befürwortete Stärkung der „Autorität" gehen konnte, ohne die liberale Substanz gänzlich aufzugeben. Eine resignative Stimmung machte sich breit, im Nationalsozialismus eine zwar unerwünschte, aber wohl unausweichliche Entwicklung sehen zu müssen, da die repräsentative Demokratie außerstande war, ihre Funktionsprobleme selbst zu lösen. Nicht alle Staatslehrer wurden von dieser Stimmung erfasst. Hermann Heller sah das Gebrechen der parlamentarischen Demokratie seiner Zeit nicht im Versagen der Institutionen, sondern im Wegfall der Rationalitätsgrundlage: die Krise des Parlamentarismus sei eine Krise des rationalen politischen Denkens {Die politischen Ideenkreise der Gegenwart 1926, Schriften I 331-332). Wenn maßgebliche politische Kräfte gar nicht mehr auf einen Ausgleich der Interessen und eine rationale Schlichtung aus sind, sie aber Zustimmung im Volk gewinnen, dann nutzt eine institutionelle Reform des Staates nicht viel. Heller war ein halbes Jahr durch das faschistische Italien gereist, um vor Ort zu erkunden, ob diese Art des Kollektivismus zeitgemäßer war als der Liberalismus. Seine Ergebnisse legte er in der 1929 veröffentlichten Studie Europa und der Fascismus vor, die 1931 in erweiterter Zweitauflage erschien. Heller konstatierte, dass in allen Bereichen des ideologischen Spektrums individualistische Gesellschaftsansätze kollektivistischen gewichen seien. Man dürfe sich aber nicht von dem Versprechen kollektivistischer Ansätze täuschen lassen, wonach sie geeignet wären,

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die innere Integration zu gewährleisten, die dem individualistischen Liberalismus nicht mehr gelingen wollte. Das nationalsozialistische Führerprinzip kann Heller zufolge theoretisch ebenso integrieren wie desintegrieren, als entscheidende Frage sah er nicht die Ideologie, sondern den tatsächlichen Staatsaufbau an. Die Praxis des italienischen Faschismus zeigte Heller nun, dass man es hier mit einer propagandistischen Lüge zu tun hatte: Integration gelang nur an der Oberfläche, die Einschränkung der individuellen Rechte erreichten nicht das versprochene Ziel. Bedurfte es also nur der Aufklärung über die politische und soziale Wirklichkeit des Faschismus, um seinen Faszinationsbann zu brechen? Heller sah das Problem des Kampfes gegen den Faschismus in dessen rücksichtsloser Machtausübung, die in heroischer Geste imstande war, die Massen für sich zu begeistern, wo die Demokratien nur skeptischen Relativismus erzeugten (gegen Kelsen gerichtet). Dieser Resignation wollte Heller nicht erliegen und forderte statt dessen öffentlich seine Studenten dazu auf, notfalls mit der Waffe in der Hand die Verfassung zu verteidigen. Mit ganz anderen Verständnisschwierigkeiten hatte der Marxismus zu kämpfen. Der Faschismus war ein vom Marxismus nicht vorhergesehenes und nur schwer in seine Rahmentheorie einzuordnendes Phänomen (Beetham 1983). Es war zwar für die Linke leicht, aus der faschistischen Bewegung angesichts derer partiellen Kooperation mit den alten aristokratischen und den jüngeren bürgerlichen Eliten politisches Kapital zu schlagen, doch theoretisch konnte man diese Erscheinungen nicht in die tradierten sozialistischen, marxistischen oder leninistischen Modelle einpassen. Insbesondere griff das Klassenschema nicht, da sich die politischen Kader des Faschismus nicht ohne weiteres einer Klasse zuordnen ließen (Wippermann 1997, 11-50). Unter Rückgriff auf Marxens Bonapartismus-Studie sprach daher der österreichische Sozialdemokrat Otto Bauer von einem neuartigen politischen Phänomen in einer Situation des Gleichgewichts der Klassenkräfte (1924). Zu den herausragenden Marxisten jener Zeit gehörte Antonio Gramsci (1891-1937). Er war in erster Linie ein parteipolitisch aktiver Kommunist, den Mussolini vom November 1926 bis zu seinem Tode in Haft hielt. Seine Gefiingnishefte entstanden in dieser Zeit. Sie waren keine systematische Arbeit, sondern die Sammlung von Reflexionen, aus welchen die Forschung erst eine Theorie Gramscis destillierte. Die erste hieraus publizierte Auswahl erschien 1957 unter dem Titel The Modern Prince und konzentrierte sich auf Gramscis Machiavelli-Rezeption, die besonders in den Gefangnisheften 13 und 18 zu finden ist (Fontana 1993). Machiavelli spielte eine zentrale Rolle in Gramscis Bemühen, aus der Sackgasse herauszukommen, in welche die marxistische Theoriebildung seinerzeit geraten war: die bürgerliche Klassenherrschaft fiel nicht in sich zusammen, die staatliche Gewalt erlebte neue Höhepunkte und zu allem Überdruss nahm der Faschismus mit seinem Kollektivismus zahlreiche Motive der sozialistischen Tradition auf, zumal in ihrer syndikalistischen Variante, in welcher Benito Mussolini ursprünglich groß geworden war. Neben Machiavelli verarbeitete Gramsci auch die politische Theorie des Bürgertums seiner Zeit, besonders die von Gaetano Mosca (Golding 1992; Finnochiaro 1999). Gramsci hatte nämlich aus dem machtpolitischen Scheitern der Kommunisten geschlossen, dass die Politik als ein relativ selbständiges Gebiet menschlicher Tätigkeit anerkannt werden müsse und nicht einfach nur aus der politik-ökonomischen Analyse abgeleitet werden könne. In den industriellen Herzländern des Kapitalismus existierte eine mit marxistisch-orthodoxen Mitteln nicht begreifbare Revolutionsresistenz, ferner entfalteten sich ideologische Muster weitaus unabhängiger vom ökonomischen Regime und zugleich einflussreicher, als es die marxistische oder sozialistische politische Ökonomie diagnostiziert hatte.

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Gramsci stellte auch Überlegungen zum Cäsarismus an (Fontana 2000) und vor allem zur Zivilgesellschaft: Die bürgerliche Gesellschaft als sozio-ökonomisches System und die „Zivilgesellschaft" als eine spezifische politische Ideologie sind demnach zwei verschiedene Aspekte der Gesellschaftsentwicklung mit unterschiedlichen Verläufen. In der Zivilgesellschaft verläuft die politische Hauptkampf entlang der kulturellen Hegemonie: die Deutungshoheit des Bürgertums über das kulturelle Selbstverständnis der Akteure begründet seine Macht und auf diesem Gebiet müssen Sozialisten brechen, auch wenn die ökonomischen Strukturen noch nicht für eine Revolution reif sind. „Kulturell" meint hier immer mehr als Museen und Kunstwerke: es bezeichnet vor allem die Begriffsbildung, die politische Theorie und öffentliche Meinung. Einen ganz anderen Weg schlug die „Kritische Theorie" ein, die rein intellektuelle Variante der marxistischen Theorie. Sie gruppierte sich um das privat finanzierte Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main (Wiggershaus 186), daher auch Frankfurter Schule genannt. Ihr Leiter war Max Horkheimer (1895-1973), der mit großem Geschick das Institut nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zunächst in die Schweiz und nach Paris, schließlich nach New York transferieren konnte. Die Wurzeln der Kritischen Theorie lagen im Historischen Materialismus, doch distanzierte man sich von aller politisch-ideologischen Vereinnahmung durch Kommunismus und Stalinismus. Die Kritische Theorie der Gründergeneration übernahm vom Marxismus vor allem die makrosoziologische Perspektive, nur dass immer stärker die ökonomischen Fundamente um kulturelle Aspekte der Gesellschaft ergänzt wurden: Ästhetik und Kultur waren wichtige Phänomene zur Einschätzung des zivilisatorischen Standes einer Gesellschaft. Die Entdeckung der Kultur erfolgte parallel zu Gramsci. Ferner beerbte die Kritische Theorie die Massensoziologie, die sie mit Impulsen aus der Psychoanalyse zu einer Sozialpsychologie umformte. Bahnbrechend waren die von Horkheimer herausgegebene Studien über Autorität und Familie, die 1936 in Paris erschienen, die Arbeiten von Autoren wie Herbert Marcuse, Erich Fromm oder Alfred Meusel versammelte. Nicht zu wenig Autorität, sondern ein Zuviel an Autoritätsbedürfnis, eine tief sedimentierte Autoritätsmentalität gehörte demnach zu den Ursachen der Zustimmung zum Dritten Reich. Auch die Kritische Theorie war nicht am Erhalt der liberalen Demokratie sonderlich interessiert. Sie arbeitete nur wenig zur politischen Theorie und zeigte sich zumal an der Institutionentheorie wenig interessiert. Franz Leopold Neumann und Otto Kirchheimer etwa, die auf diesen Feldern tätig waren, gehörten charakteristischerweise nicht zum engeren Mitarbeiterkreis. Horkheimers Aufsatz Egoismus und Freiheitsbewegung (1933) gab den Autoren des Instituts für Sozialforschung eine Interpretationsrichtung des Faschismus vor. Faschismus und Massendemokratie hingen danach unmittelbar zusammen. An Stelle der vom Sozialismus erwarteten Emanzipation der Massen sei es zur kulturgeschichtlichen Regression gekommen. Die „Massen" waren zur Formulierung ihrer Interessen noch außerstande und griffen als Ersatz auf Fetische zurück, ein Gedanke, der in die Kritik des Massenkonsums mündete. Das Bedürfnis nach einem politischen Führertum fand sein Äquivalent in der „Massenschundliteratur des Zeitalters" mit dem gleichen „Durcheinander von Blutrausch und Tugend, Großsprecherei und Bescheidenheit, das auch im Führer angebetet wird" (101). Die Kulturpolitik wurde nun zum Instrument der Massenbeherrschung. Aufschlussreich ist, dass Horkheimer diese Regression nicht als eine Ausnahme von dem zivilisatorischen Hauptstrom, sondern als dessen zwingendes Resultat ansah. Nationalistische „Erhebungen" heute und die liberalen Großtaten bürgerlicher Revolutionen früher waren nur Phasen eines einzigen Prozesses.

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Mit großer Sensibilität hielt die Kritische Theorie auch in scheinbar faschismusresistenten demokratischen Gesellschaften wie der amerikanischen Ausschau nach kulturellen Phänomenen, die auf ähnliche Entwicklungstendenzen hinwiesen, wie sie in Europa erkennbar waren. Ein Resultat dieser Aufmerksamkeit war die kulturphilosophische Programmschrift Dialektik der Aufklärung (1947), die Horkheimer zusammen mit Theodor W. Adorno (19031969) im amerikanischen Exil schrieb. Die darin formulierten Ansätze einer Sozialphilosophie verbanden Denkmuster der abendländischen Tradition zu einer zutiefst pessimistischen Prognose, in welcher der Faschismus zur Signatur einer Epoche wurde: die Aufklärung, die in befreiender Absicht die Welt rational beherrschbar machen wollte, schlug gegen sich selbst zurück und verursachte die totale Herrschaft von Menschen über Menschen. Die politische Theorie in den westlichen Ländern vor 1933 hatte sich hauptsächlich mit dem italienischen Faschismus beschäftigte (Griffin 2004): die erfolgreiche Eroberung der Staatsgewalt und die wider Erwarten erreichte relative Stabilität der politischen Ordnung erweckten den Eindruck, dass es sich hierbei nicht einfach nur um ein vorübergehendes Phänomen war. „Faschismus" umschrieb ein Gesamtphänomen: von der Militanz der politischen Aktivität über die eigentümliche Führerstruktur bis zur Ideologie, die nicht theoretisch zu erfassen oder ideengeschichtlich abzuleiten war. Wollte man hauptsächlich auf die politische Bedeutung des Faschismus abheben, lautete der zentrale Begriff „Diktatur". Die republikanische Konnotation des Ausdrucks Diktatur war zwar noch präsent, verschwand aber zusehends und machte der Bezeichnung für extrem autoritäre Regime wie dem Dritten Reich Platz. Dabei hatte beispielsweise in den USA zuvor die Diktatur durchaus Anhänger gefunden: mit der Diktatur wurden Vorstellungen von Macht, Effizienz, Modernität verbunden (Alpers 2003, 15). Als Franklin D. Roosevelt in seiner Antrittsrede als Präsident im Januar 1933 besondere Vollmachten verlangte, um die sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die USA bewältigen zu können, sprach die Presse unumwunden von der Diktatur, aber meist in einem positiven Grundverständnis. Erst der deutsche Fall demonstrierte im Vergleich zu den anderen europäischen extremen Bewegungen (Mosse 1964), wie sehr hier die „Blut und Boden"-Ideologie, eine obskure rassistische Volkstheorie sowie die Menschen verachtende und Zivilisation leugnende Ausmerzungsstrategie eine völlig neue Qualität der Bedrohung erreichte, die dann in die industriell geführten Vernichtungslager mündete. Die Unterdrückung der politischen Gegner war eine gemeineuropäische Signatur des Faschismus, der Antisemitismus keine deutsche Erfindung; aber die besondere Brutalität des deutschen Vorgehens im Kampf sowohl gegen die politische Opposition wie gegen die jüdischen Bevölkerungsteile wurde sofort als etwas Eigentümliches gesehen und als eindeutiges Gefahrenpotential für die Demokratien bewertet. Konferenzen wurden abgehalten, um dem Thema auf die Spur zu kommen. Guy Stanton Ford holte hierbei auch die Expertise deutschsprachiger Exilanten wie Sigmund Neumann und Hans Kohn ein. Fords Tagungsband aus dem Jahr 1935 (Dictatorship in the Modern World) nahm eine globale wie komparatistische Perspektive ein, die in der erheblich erweiterten Ζweitauflage von 1939 noch einmal stark ausgeweitet wurde, neben Europa auch die Türkei, Japan, Lateinamerika und die Sowjetunion behandelte. Die in New York ansässige Foreign Policy Association veröffentlichte 1935 einen Sammelband, der die europäischen Diktaturen behandelte, die als Attack on Democracy bewertet wurden, wie es Vera Micheles Dean in dem einführenden Beitrag formulierte (Raymond Leslie Buell, ed., New Governments in Europe 1935, 15-35).

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In Großbritannien war das Zögern am größten, ob nicht der Liberalismus angesichts der europäischen Diktaturbewegung nicht nur auf dem Rückmarsch, sondern unzeitgemäß geworden war. Umgekehrt gab es Bemühungen, die liberale Demokratie in einen unüberbrückbaren Gegensatz zur Diktatur zu stellen, die zu bekämpfen geradezu den Inhalt und historischen Sinn der Demokratie ausmachte, so bei dem britischen Deutschlandexperten Ernest Barker (The Citizen 's Choice 1937). Die Diktaturen wurden nun ausführlichen theoretischen und ideengeschichtlichen Studien unterzogen, wobei die Arbeiten des Oxforder Professors E.E. Kellett (The Story of Dictatorship 1937) und des in London lehrenden Historikers Alfred Cobban {Dictatorship in History and Theory) herausragten. Cobban (1901-1968) hielt eigentlich den Ausdruck „Tyrannis" für den zutreffenden Begriff; er wollte aber dem Sprachgebrauch seiner Zeit folgen und benutzte „Diktatur" (Dictatorship in History and Theory 9). Seine These lautete, dass mit Napoleon I. das Vorbild einer im formalen Sinne demokratisch legitimierten Alleinherrschaft geschaffen war, die sich nun nach dem Ersten Weltkrieg erfolgreich etablieren konnte und nicht als ein Übergangsphänomen gewertet werden dürfe, will man nicht Gefahr laufen, es zu unterschätzen. Im Schlusskapitel (335-346) diskutierte Cobban Carl Schmitts Diktaturtheorie und warf ihm eine tendenziöse Begriffsbildung vor. Auch wurde die Frage aufgeworfen, wie die Demokratien auf die moderne Diktatur reagieren sollten. Im Fords Dictatorship in the Modern World verlangte der britische Amerikaspezialist Denis W. Brogan eine Übernahme diktatorischer Instrumente zum Schutze der Demokratie, wohlweislich auf die Gefahren für die Demokratie hinweisend, die damit verbunden waren. Demokratie sei aber zunächst und zumeist demokratische „Regierung": Kann die Demokratie es nicht mit der Leistungsfähigkeit diktatorischer Regierungen aufnehmen, sei sie zum Untergang verurteilt. Aber war die Demokratie zu einer solchen Leistung imstande? Die Skepsis war unübersehbar, und sie hatte mit dem Phänomen der Massendemokratie zu tun. Der amerikanische Historiker Crane Brinton rezipierte 1933 die „moderne Sozialpsychologie" von Tarde bis Walter Lippmann als Beleg dafür, dass die „Massen" immun gegen Überlegungen der politischen Philosophie seien und statt dessen der Wirkung von Symbolen, Ritualen und Stereotypen unterlägen (English Political Thought in the 19th Century 1933, 3). Diese Auffassung fügte sich nahtlos in die bereits erwähnten Diskussionen der Öffentlichkeit in der modernen Massendemokratie ein, die in den USA geführt wurden. Harold Dwight Lasswell (1902-1978), ein Schüler Merriams in Chicago, hatte 1930 in Psychopathology and Politics Walter Lippmanns Überlegungen zur modernen Öffentlichkeit und die Grenzen ihrer Demokratisierung aufgegriffen. 1936 erschien seine Arbeit Politics. Who gets what, when, how, worin er ein formales Schema machtpolitischer („politics") Analyse bar aller normativen Fragen entwickelte, das in der Politikwissenschaft der Nachkriegszeit auf große Resonanz stieß. Lasswells sah im Einfluss und in jenen, die Einfluss ausüben, das Zentrum der Politik: Einfluss ist an der Verfügung über Werte zu messen, Werte wiederum unterteilte Lasswell in die Gruppen Einkommen, Sicherheit und Achtung. Die Einflussausübenden nannte er „Elite", die übrigen „Masse". Die gesamte Studie behandelte nun die Frage, wie sich diese Elite zusammensetzt, was für eine Persönlichkeit und welche besonderen Fertigkeiten jemand mitbringen muss, um zu ihr zu gehören. Ungeschönt und mit einer betont sachlichen Attitüde, dabei den Stand der Meinungs- und Elitenforschung verarbeitend, bestand Lasswells Politikbegriff auf dem Ringen um Macht. In gewisser Hinsicht wappnete sich die amerikanische Theorie für den Kampf gegen die Diktatur, indem sie sich Stück für Stück ihrer idealistischen Tradition begab.

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Emigranten wie Emst Fraenkel und Franz Leopold Neumann brachten zusätzliche Expertise in die USA. Fraenkel (1898-1975) war bis zu seiner Auswanderung 1938 aus Deutschland als Anwalt in Berlin tätig (zeitweilig zusammen mit Neumann). Fraenkel brachte ein Manuskript mit, das er in Amerika 1941 unter dem Titel The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship veröffentlichte (beide Fassungen in Fraenkel 1999). Aus der Erfahrung seiner anwaltliche Tätigkeit erkannte er in der Herrschaftspraxis des Dritten Reichs die Doppelstruktur von „Normenstaat" und „Maßnahmestaat". Auf der Oberfläche blieben die legal vorgesehenen Verfahren in Kraft und wurden nur in politisch bedeutsamen Fällen durch reine Machtdekrete ersetzt. Neumann (1900-1954) emigrierte 1936 und veröffentlichte 1942 Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism (2. erw. Aufl. 1944). Der an Hobbes' Bürgerkriegsabhandlung angelehnte Titel barg die These von der Strukturlosigkeit der Herrschaft im Dritten Reich. Das staatliche Willkürregime beruhte neben dem Terror und der Massenpropaganda und von Hitler abgesehen auf vier Säulen: der Parteiorganisation, der staatlichen Bürokratie, den Industriekonzernen und dem Militär, die in ihrer jeweiligen Interessenwahrnehmung um die verbliebene Macht konkurrierten. Fraenkel hatte am Aufbau der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland einen großen Einfluss und zählte zu den führenden Pluralismus-Theoretikern (Buchstein 2000); Neumann stand der Kritischen Theorie nahe (Iser/Strecker 2002). Sah man von den immensen Unterschieden zwischen italienischem Faschismus, deutschem Nationalsozialismus und russischem Stalinismus in der Ideologie ab und konzentrierte sich auf das politische System, so war nicht zu übersehen, dass sie alle liberale Institutionen ablehnten, das Mittel organisierter physische Gewalt gegen politische Gegner nicht scheuten und eigenständige Ideologie als Selbstrechtfertigungen entwickelten. Auch um diese Ähnlichkeiten herauszustellen, verwendeten in der Mitte der 1920er Jahre italienische Liberale den Ausdruck „totalitär" (Petersen 1978, 122; Gleason 1995, 16-20). Francesco Nitti führte einen solchen Vergleich zwischen italienischem Faschismus und russischem Bolschewismus durch (dt. Faschismus und Bolschewismus 1926). Der Begriff der totalen oder totalitären Herrschaft fand immer mehr Verbreitung. Carl Schmitt begrüßte den Anspruch der Staatlichkeit, die Gesellschaft und darin das Individuum total zu umfassen (Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland 1933 in: Positionen und Begriffe). Franz Borkenau dagegen erblickte in der totalitären Herrschaft den eigentlichen Gegner zu den (verbleibenden) Demokratien (The Totalitarian Enemy 1940, 11), was er in dem noch 1933 publizierten Aufsatz zur Soziologie des Faschismus nicht so gesehen hatte. Diese und andere Vorarbeiten wurden dann von der „klassischen" Totalitarismustheorie um Carl Joachim Friedrich und Hannah Arendt in den frühen 1950er Jahren übernommen (Wippermann 1997a, 21-34); sie fächerten sie zu einer Theorie der Herrschaftstechnik totalitärer Systeme auf, in deren Mittelpunkt die Konzentration der Machtmittel und die Ausbildung einer Ideologie standen. Carl Joachim Friedrich gehörte freilich 1937 noch zu den idealistischen Vertretern der Politikwissenschaft, die den Nationalsozialismus lediglich für einen vorübergehenden Spuk hielten und die verfassungsstaatliche Demokratie als Norm und als Telos der Entwicklung ansahen (Constitutional Government ans Politics). Ähnlich wie Friedrich war auch der WeberSchüler Karl Löwenstein (1891-1973; vgl. Lang 2007) noch vor der Machtergreifung in die USA ausgewandert, aber er betonte, dass ohne tätige Unterstützung die Demokratie verloren war. Löwenstein entwickelte daher das heute unter dem Namen der „wehrhaften Demokratie" rezipierte Modell, das er selbst militante Demokratie nannte (Militant Democracy and Fundamental Rights 1937). Wie sollten Demokratien auf die Tendenz zur Diktatur reagieren,

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wenn man in Rechnung stellte, dass die meisten dieser Diktaturen aus Demokratien hervorgegangen waren. Löwenstein hielt sich nicht lange mit der politischen Theorie des Faschismus auf: sie existierte in seinen Augen nicht, da es sich hier immer nur um reine Machttechnik handelte. Demokratien müssten im Kampf gegen den Faschismus ihrerseits Machttechniken entwickeln (430), die Demokratie müsse „militant" werden und mit der „demokratischen Toleranz" Schluss machen, welche bislang dem Faschismus nur den Weg an die Macht bahnte. Damit war auch ein Dilemma beschrieben: ihre Offenheit macht sie für ihre Feinde anfallig, aber gab sie nicht ihre Ideale auf, wenn sie auf diese Offenheit verzichtete? Nicht jedes Mittel durfte recht sein. Die erfolgreiche faschistische Strategie einer massendemagogischen Emotionalisierung der Politik wollte Löwenstein nicht nachahmen. Löwenstein zählte die vielen vereinzelten, in manchen Ländern erfolgreich praktizierten gesetzgeberischen Maßnahmen zur Bekämpfung des Faschismus auf und bot damit ein exzellentes Beispiel politikwissenschaftlicher Komparatistik. Zu den erprobten Kampfmitteln zählte er die Unterbindung der Ausnutzung der parlamentarischen Mittel im Kampf gegen den Parlamentarismus selbst, die Vermeidung von Obstruktion und Sabotage des geregelten Willensbildungsprozesses, Einschränkungen des Versammlungsrechts, Disziplinierung des Wahlkampfes und schließlich Maßnahmen zur Sicherstellung der Verfassungstreue der Beamten, die ja ihrerseits die Kampfmittel gegen den Extremismus handhaben sollten. Nicht zufällig erinnern diese Maßnahmen an die Gesetzgebung, mittels welcher Demokratien in Kriegszeiten auf die besonderen Erfordernisse reagierten und partiell individuelle Rechte aufhoben: für Löwenstein befanden sich die Demokratien im Krieg, in einem Krieg im Innern gegen ihre Feinde (432). In diesem Verteidigungskampf schlug Löwenstein auch vor, die Demokratie neu zu definieren: sie soll die Umsetzung von disziplinierter Autorität in den Händen liberal gesinnter Politiker zur Verwirklichung von Menschenwürde und Freiheit sein (658). Der Zweite Weltkrieg und die Frontstellung gegen den Nationalsozialismus festigte die Reihen der Demokraten, die ihre Zweifel und Unsicherheiten ablegten und ex negativo zu einem eindeutigen Demokratiebild gelangten: der Gegensatz zur Diktatur bedeutete umgekehrt, dass Demokratie ungeachtet des konkreten Regierungssystems auf den Schutz des Individuums verpflichtet war. Zugleich kam es zu einer Art Abrechnung mit allen ideengeschichtlichen Vordenkern der Demokratiefeinde. Jacob Talmon (1916-1980) besuchte 1938 in Paris ein Seminar zur jakobinischen Diktatur in der Französischen Revolution, während Stalin in den Moskauer Schauprozessen (1936-1938) mit seinen innerparteilichen Gegnern abrechnete. Das brachte Talmon auf die Idee, die gemeinsamen Wurzeln der modernen Diktaturen zu untersuchen (Gleason 1995, 113-114). Seine The Origins of Totalitarian Democracy von 1952 machte er die Rousseausche Demokratietheorie als den gemeinsamen Ausgangspunkt aller totalitären Regime aus. Gerade Rousseaus Anspruch, das Individuum völlig den Interessen der Republik zu unterstellen, und die Legitimation der Machtvollkommenheiten der politischen Ordnung hätten die Bewegung zur modernen Diktatur ausgelöst, die sich auf die eine oder andere Weise demokratisch legitimierte. Das bekannteste Werk dieser Gattung war Karl Poppers The Open Society and its Enemies (1945). Das während des Krieges in Neuseeland geschriebene Buch führte die totalitäre Herrschaft auf die Gedankenwelt Piatons, Hegels und Marx' zurück, denen er jegliche Autorität für den Wiederaufbau von Politik und Gesellschaft nach dem Krieg absprach. Hegel und Marx lagen angesichts ihrer Referenz für Leninismus und Stalinismus nahe; Piaton hingegen war weder hier noch im Faschismus oder Nationalsozialismus sonderlich rezipiert worden und doch war Popper nicht der erste und

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nicht der einzige, der ihn philosophisch verantwortlich machte für totalitäre Herrschaftsansprüche. Diese Art von Abrechnung hielt Leo Strauss (1899-1986) fur zu kurz gegriffen. 1948 veröffentlichte er inmitten der immer stärker anschwellenden Flut an Literatur zum Thema der Diktatur und des Totalitarismus ein schmales Bändchen namens On Tyrannis. Es diskutierte darin den Hieron von Xenophon, ein vergleichsweise abgelegenes ideengeschichtliches Thema. Strauss demonstrierte darin das methodische Problem der Auslegung politischer Philosophie, wenn diese in einer ihr feindlichen Umgebung entstanden war und ihre eigentliche Theorie verschlüsseln musste, somit eine der ersten Beiträge zu der von ihm später begründeten Schule der politischen Ideengeschichte. Synchron betrachtet war es eine Intervention in die Diktaturdiskussion seiner Zeit, das sich deutlich von anderen Beiträgen abhob, insofern Strauss die Tyrannis für ein klassisches Thema hielt und zeigen wollte, wie wenig die moderne Politikwissenschaft imstande war, die Diktatur zu verstehen. Leo Strauss gehörte zunächst zum deutschen Wissenschaftsspektrum der Zwischenkriegszeit, in welcher auch die rabbinische Gelehrtenkultur ihren Platz haben konnte. An der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums hatte Strauss zunächst zu Spinoza und zu jüdisch-arabischen Philosophen wie Maimonides, Alfarabi und Ibn-Ruschd gearbeitet. Von Spinoza übernahm Strauss die methodische Problemstellung, als Philosoph mit einer unphilosophischen Öffentlichkeit umzugehen und mit größter Aufmerksamkeit die rhetorischen Subtilitäten und Paratexte zu studieren, in welchen Philosophen ihre Lehre kodieren, um nicht sogleich öffentliche Entrüstung hervorzurufen (Die Religionskritik Spinozas 1930). Der jüdischen Denktradition entnahm Strauss ferner das Thema des Prophetentums als einer selbständigen Akteursfigur des politischen Denkens (Philosophie und Gesetz 1935, 87-122). Das Prophetentum hatte bereits Max Weber interessiert und es ist in der Forschung Michael Walzers auch heute noch präsent. Strauss interessierte besonders die spezifische Kommunikationstechnik des Propheten, der immer zugleich Philosoph, Staatsmann und Seher in einem war (108-116), um vielschichtig und flexibel in der Adressatenorientierung politische Fragen zu vermitteln. In der Tyrannis erblickte Strauss eine bereits von der klassischen politischen Philosophie {On Classical Political Philosophy, in: Social Research 1945, 98-117) behandelte „Idee" und ihre antike Diskussion habe trotz historischen Wandels nichts an Geltung eingebüßt, nur das Verständnis der Klassik sei mit diesem Wandel getrübt worden. Strauss hob sich mit dieser Einstellung deutlich vom synchronen Diskurs seiner Zeit ab (Bluhm 2002, 150-195; Tanguay 2003). Bereits in den ersten Rezensionen (Kurt von Fritz; Eric Voegelin) wurden Einwände mit Blick auf die historischen Umstände der xenophontischen Schrift erhoben, wonach moderne Phänomene wie Cäsarismus und Bonapartismus nicht mit antiken Begriffen zu begreifen seien. Das konnte aber nicht Strauss' Anliegen treffen, das sich allerdings auch erst in den weiteren Schriften deutlicher abzeichnete: er wollte nicht eine Analyse der Tyrannis mit der Zielsetzung ihrer Verhinderung vorlegen, sondern das platonische Programm einer spezifisch philosophischen Lebensweise fortschreiben, wie sich der Wissende inmitten der Herrschaft einer unwissenden Menge zu verhalten habe. Diese Lebensweise bestand seiner Ansicht nach in einer eigentümlich öffentlich-arkanen Zuwendung zur Politik zwischen der exoterischen Oberfläche der textlich verfassten Normen und ihrer esoterischen, nur dem Gelehrten zugänglichen eigentlichen, den meisten Menschen unzugänglichen und auch nur schwer bekömmlichen Wahrheit. Während in dieser Zeit Piaton gerne für totalitäres politisches Denken verantwortlich gemacht wurde, beharrte Strauss auf einer Perspektive, die

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Philosophie nicht nach politischen Wertungen einteilen wollte. Strauss' moderner Philosophenstaat suchte er in einer philosophisch angeleiteten Elite, weshalb seinerzeit Gertrude Himmelfarb von einem Konservatismus neuer Prägung sprach (Commentary 1950, 78-87: bei Bluhm 2002, 162). Die ökonomische Theorie des Politischen und der Realismus Nach dem Ende der Weimarer Republik schrieb Carl Schmitt in der 1933 geänderten Fassung des Begriff des Politischen: „Die Politik ist das Schicksal" (1933, 21), womit er einen Satz, den Napoleon I. gegenüber Goethe während des Erfurter Kongresses von 1808 geäußert hatte, wiederholte. Schmitt dachte, nun sei überwunden, was zu Beginn der Weimarer Republik Walther Rathenau in einer Rede vor dem Reichstag vom 29.9.1921 als „die Wirtschaft ist das Schicksal" formuliert hatte: die gesellschaftlichen Einflüsse auf die Politik, die Einflüsse des „Betriebes" und des Denkens in ökonomischen Kategorien, seien nun beendet. Ökonomie galt Schmitt als das Geistlose, womit er die Hinweise von Max Weber missachtete, der gegen die allenthalben geäußerten, abschätzigen Meinungen zur Wirtschaft herausgestellt hatte, dass auch im (Handels-)Kontor Geist walte und selbst die leblose Maschine „geronnener Geist" sei (Parlament und Regierung, Politische Schriften 332). Rathenau dagegen hatte nur auf den Begriff gebracht, was der Weltkrieg gelehrt hatte, dass nämlich selbst die außenpolitische Stellung und Unabhängigkeit eines Landes von seiner wirtschaftlichen Leistungsstärke abhängt, von der Fähigkeit der effizienten Organisation der Ressourcen, ihrer Verarbeitung und Verteilung. Seit der Entdeckung der Gesellschaft in der politischen Theorie, zumal seit der Formierung des Gesprächsfeldes der Politischen Ökonomie war die enge Verbindung von Politik und Wirtschaft erörtert worden. Vor diesem Hintergrund war auch die Wirtschaftstheorie gezwungen gewesen, sich mit Fragen der politischen Theorie zu beschäftigen, selbst wenn sie primär nur wirtschaftliche Probleme lösen wollte. Auf der anderen Seite war die Ökonomietheorie vor dem Hintergrund der Massendemokratie besonders geeignet, eine ihr adäquate Theorie zu erstellen, da sie stets massenhaft auftretendes individuelles Verhalten thematisierte. Ökonomietheorien wie die von Marx, von Pareto, Keynes oder Schumpeter waren auch als Sozialtheorien angelegt. Auf den Kollektivismus von Marx' folgte die Tendenz zum Individualismus in der Grenznutzentheorie, welche einen Bogen von der individuellen Nützlichkeitserwägung jedes einzelnen Wirtschaftsteilnehmers auf die gesamtwirtschaftliche (und insoweit: gesamtgesellschaftliche) Entwicklung spannte. Die Grenznutzentheorie wurde zeitgleich in den sehr unterschiedlichen Werken wie William Stanley Jevons' Theory of Political Economy (1871), Carl Mengers Grundsätze der Volkswirtschaftslehre (1871) und Leon Walras' Elements d'economie politique pure (1874-1877) entwickelt (Srepanti/Zagmagni 2005, 163-195). Ungeachtet der komplexen theoretischen Einzelheiten bedeutete die „marginal revolution" einen Wechsel des Focus ökonomischer Bewertung von der Produktion zur Konsumtion. Anders als die klassische politische Theorie oder Marxens Arbeitswerttheorie ging die Ökonomietheorie nun davon aus, dass objektive Werte nicht zu ermitteln seien. An ihre Stelle trat die subjektive Wertermittlung, die als Grenznutzenbewertung relational rekonstruierbar war, damit aber auch an Stelle einer (später im Staatssozialismus zur Karikatur verkommenen) Zentralplanung der Wertermittlung die subjektive Wertermittlung jedes einzelnen Marktteilnehmers. Politik agierte in diesem Modell nur als Mittel zur Justierung der Rahmenbedingungen wie in der Fiskalpolitik, Geldpolitik, Monopolpolitik und Handelspolitik.

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Jevons sah sich in der Tradition der Philosophie des Utilitarismus, der mit dem Nutzenbegriff auch seinen Leitterminus vorgab. Von der Nutzenperspektive des Einzelnen zur Konsumtion als Ausgangspunkt der Wirtschaftstheorie war es kein weiter Weg. Jevons' hatte freilich ein sehr reduziertes Bild davon, was die Triebkräfte des wirtschaftlichen Handelns sind: wie Hobbes ging er von einer Mechanik der Leidenschaften aus, den Nutzen zu maximieren und das Leid zu minimieren, weshalb Ökonomie nichts anderes sei als „the mechanics of utility and self-interest" (1876, 199). Jevons war bestrebt, die Wissenschaftlichkeit der Ökonomie durch ihre Mathematisierung sicherzustellen. Walras erblickte gerade in Gleichgewichtsmodellen die Rationalität der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung, so wie später Schumpeter aus den Konjunkturzyklen eine sozialstatistisch ermittelbare innere Logik des Wirtschaftsverlaufs ableitete, der aus der Nahperspektive eher chaotisch und unberechenbar anmuten mochte. Demgegenüber stand Menger in einer anderen wissenschaftstheoretischen Tradition, die nicht auf die Möglichkeit einer Deduktion universal anwendbarer Gesetze vertraute (gewährleistet durch Mathematik), sondern die Ökonomie in den Kontext umfassender (auch die Entwicklung der Moralität einbeziehender) historischer Prozesse stellte. Sein Ausgangspunkt war Hegel, der auch den Bezugspunkt der konkurrierenden ökonomietheoretischen Richtung jener Zeit bildete, der Historischen Schule um Lorenz von Stein und Wilhelm Roscher. Im Gegensatz zu dieser Richtung wie auch zur marxistischen politischen Ökonomie pochte Menger auf einen individualistischen Standpunkt: selbst kollektive Gebilde, die ökonomisches Verhalten prägen, erwachsen aus überwiegend spontaner und insoweit freier Selbstorganisation der Akteure (Hickson 2000). Wie war aber überhaupt das Verhalten von Massenbevölkerungen als geordnetes verstehbar? Was waren die Strukturen, nach denen diese Massen geordnet werden können? Die Ökonomie bot nur einen Ausschnitt massenhaften Verhaltens, der in den Parametern von Angebot und Nachfrage, Konsumtion und Produktion dargestellt wurde. Komplexere Handlungszusammenhänge verlangten nach Ordnungsmustern, die über die individuelle Nutzenperspektive hinausreichten. Hierzu gehörten Orte ökonomischen Verhaltens wie Betriebe, Handel, Börse, Landwirtschaft, Unternehmen und Banken, die in ihrer tagtäglichen geschäftlichen Praxis Regelmäßigkeiten aufweisen, die über die ökonomische Theorie hinausweisen und eine grundsätzlichere Betrachtungsweise abverlangen. Was Menger als Problem der spontanen Selbstorganisation thematisierte hatte, untersuchte Thorstein Veblen sozialevolutionär als Selektion von „Institutionen" (Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions 1899). Veblen trennte zwei ökonomische Institutionen voneinander: die business class und die industry class. Erstere bezeichnete er auch als Finanzklasse, bestehend aus Händlern, Managern, Börsenmaklern. Sie machten zugleich die „leisure class" aus, bezogen ihre Werte und „habits of thought" aus einer evolutionären Gesellschaftsphase, die Veblen als räuberisch und barbarisch bezeichnete, was er am Überleben archaischer Verhaltensweisen wie dem Duell und der Vorliebe für Sport ablas. Das Problem bestand nun darin, dass die moderne Gesellschaftsentwicklung eher nach einem Verhaltenscharakter verlangte, der sich auf die kollektiven Abläufe der Gesellschaft und Ökonomie einließ. Diese waren Vehlens Ansicht nach nicht mehr durch den Kampf ums Überleben gekennzeichnet und die Interessen verschiedener „communities" konkurrieren auch nicht mehr in Begriffen von Leben und Tod; vielmehr seien ihre Interessen kompatibel und ihre Konflikte regulierbar. Daher verlange die gegenwärtige Gesellschaftsphase nach Loyalität, Kooperation und Frieden (Kap. 11). Da aber die business class weiterhin die Gesetzgebung und die öffentliche Meinung dominie-

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re, komme es zu einem Konflikt mit der produktiven Klasse, welche die eigentlichen materiellen Werte schaffe, deren Mittel aber „parasitär" von der business class (der eigentlichen leisure class) abgeschöpft würden. Zwar wollte Vehlen eine nicht-wertende, moralfreie Analyse vorlegen, aber seine persönliche Abneigung gegen die leisure class schien wenig verschleiert durch die Analyse hindurch. Vehlens Studie war insofern bahnbrechend als er das schwierige Problem der Verbindung von gesellschaftlicher Prägung individuellen Verhaltens und der Rückwirkung kollektiven Verhaltens auf die gesellschaftliche Entwicklung anpackte (Kap. 8 und 9), ein Zusammenhang, der zeitgenössisch auch unter dem Begriffspaar von Individuum und Gemeinschaft behandelt wurde. Veblen sah in den Institutionen Angelpunkt und Bindeglied zur Analyse gesellschaftlicher Entwicklung zugleich und wurde so zu einem Gründer des modernen Institutionalismus. Er trat auch mit im engeren Sinne ökonomietheoretischen Arbeiten hervor (Theory of business enterprise 1904). Aber anders als der Marginalismus wollte Veblen die Wirtschaft nicht von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen abkoppeln, weshalb er ein Gesamtmodell präferierte. Andererseits misstraute Veblen der ihm vertrauten Historischen Schule (Seckler 1975), da sie in den ökonomischen Prozess eine Teleologie hineininterpretierte. Daher war sein Rückgriff auf sozialevolutionäre Prozesse und die Terminologie des Sozialdarwinismus eine eher methodische als eine inhaltlich prägende Wahl der Begrifflichkeit, wie ja seine Annahmen zur Sozialverträglichkeit des modernen Menschen der industrial class zeigten. Institutionen also sind bei Veblen Bindestücke zwischen individuellem Verhalten und gesellschaftlicher Struktur: Ehe, Familie, Eigentum, Industrie usf. Sie prägen das individuelle Verhalten durch die selektive Anpassung von „Temperament" und „habits of thought" (Kap. 9, 213), sind aber ihrerseits Ergebnis der Anpassung an Lebensbedingungen und ändern sich mit deren Wandel. Der Wandel von Institutionen wie von „habits of thought" erfolgt gleichfalls wechselwirksam, wobei die Quelle des Wandels aus anderen Institutionen und vor allem aus älteren Schichten der Gesellschaftsentwicklung stammen können. Ob Vehlens Spielart des Institutionalismus vom „Neuen Institutionalismus" verdrängt wurde, der die strikt sozialevolutionären Kategorien Vehlens durch funktionale ersetzt, ist eine Frage, die bereits zur Gegenwartsanalyse der Sozialtheorie gehört (Rutherford 1994). Die ökonomietheoretisch interessierte Fortentwicklung des institutionalistischen Ansatzes vernachlässigt die nichtökonomischen Faktoren des wirtschaftlichen Umfelds sowie den wechselwirksamen Einfluss von Individuum und gesellschaftlich bedingtem Verhalten innerhalb bestimmter Regelsysteme, da das individuelle Nutzen-Kalkül den Sinn für den sozialisierten Menschen ersetzt hat oder die Evolutionstheorie als spontane Entwicklungstheorie verstanden wird und darob der Einfluss normativer Vorgaben aus anderen Institutionen unberücksichtigt bleibt (Knight 1997, 92-188). Eine weitere Alternative zur „marginal revolution" bot die britische Ökonomie der sog. Cambridge School. Ihr Gründer Alfred Marshall verwarf rein mathematische Modellbeschreibungen: nicht Theorie, sondern Analyse wollte er leisten, keine Prinzipien definieren, sondern Maximen. Die moderne Gesellschaft hatte sich seiner Ansicht nach moralisch fortentwickelt, weshalb in ihr - ähnlich wie bei Veblen - nicht mehr der Wettbewerb oder der Kampf ums Dasein das ökonomische Handeln dominierten. Möglichkeiten der „deliberation" traten Marshall zufolge an ihre Stelle: deliberative Kooperation, die freiwillige Vermeidung von Monopolbildungen und die charity als Gewinnreduzierung zur Sicherstellung einer höheren Lebensqualität (Collini 1983, 309-337). Marshall erwog sogar Möglichkeiten der Rit-

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terlichkeit im Wirtschaftshandeln (Social possibilities of economic chivalry 1907). Die rein ökonomische Theorie, die Marshall als erster „economics" nannte, um sie von der Tradition der politischen Ökonomie zu unterscheiden, untersuchte dagegen stärker isolierbare Phänomene, die auch mathematisch zugänglich sind. Dieser Spur folgt Marshalls Schüler John Maynard Keynes, der vielleicht einflussreichste Ökonom des 20. Jahrhunderts. John Maynard Keynes (1883-1946) wuchs in einem akademischen Elternhaus in Cambridge auf, wo er studierte und schließlich auch lehrte. Seine vielseitigen Interessen brachten ihn in einen engen Kontakt mit dem Freundeskreis, der „Bloomsbury Group" genannt wird, den künstlerisch und intellektuell interessierten „loving friends" (Gadd), die lange Zeit im Londoner Stadtteil Bloomsbury lebten. Größtenteils an den Cambridger Colleges King's und Trinity ausgebildet und beeinflusst durch die Philosophie von George E. Moore (Principia ethica 1903), gehörten die Mitglieder diese Gruppe zur künstlerischen Avantgarde. Sie waren in den Augen ihrer Zeitgenossen verhaltensauffällig wegen ihrer Lebenseinstellung und ihrem rigiden Pazifismus. Keynes Gesichtskreis reichte also weit über seine ökonomietheoretischen Ambitionen und seine wirtschaftspolitische Tätigkeit in der britischen Verwaltung hinaus. Während des Ersten Weltkrieges war Keynes im Finanzministerium tätig und dann als Mitglied der britischen Delegation in Versailles. Seinen Ärger über den Friedensvertrag und die ihm unvernünftig erscheinenden Reparationsbedingungen brachte er 1919 in dem mutigen Pamphlet Economic consequences of the peace zum Ausdruck (zu dem Veblen 1920 eine positive Rezension schrieb). Doch erst in seinem Hauptwerk, der General Theory of Employment, Interest and Money von 1936, integrierte er diese Überlegungen in eine umfassende makroökonomische Studie. Hier schloss sich auch der Kreis, der mit Mandeville und der Entdeckung der Gesellschaft ihren Ausgang nahm, denn er referierte ausführlich Mandeville als den ersten Autor, der den Vorzug des Konsums gegenüber dem Sparen für das Gemeinwohl herausstellte (1936, 359-362). Ein die Makroökonomie der Zwischenkriegszeit beschäftigendes Problem war der Rolle von Ungewissheit im wirtschaftlich relevanten Verhalten, was sich laut Keynes im Geldwert und der Zinshöhe niederschlägt, die mit der Bewertung zukünftiger Entwicklungen zu tun haben. Ging man von der individuellen Nutzenentscheidung aus, so mussten alle in diese Entscheidung hineinwirkenden Faktoren einbezogen werden, auch die Psychologie. Entscheidungen unter Unsicherheit prägten das Wirtschaftshandeln ebenso wie kalkulierbare Risiken. Keynes wurde mit einer Arbeit zum Thema der Wahrscheinlichkeit promoviert (Treatise on Probability), etwa zeitgleich mit Frank H. Knights Arbeit zu Risk, Uncertainty and Profit 1921), die sich mit Fragen der Ungewissheit auseinandersetzte und die „uncertainty" spielte auch in Keynes' General Theory eine zentrale Rolle (Kap. 12). Was bereits Aristoteles als Merkmal politischer Entscheidungen kenntlich gemachte hatte: nämlich dass sie nicht kalkulierbar sind, weil sie auf die Zukunft zielen und daher ohne exaktes Wissen auskommen müssen, fand hier als Voraussetzung von Investitionsentscheidungen wieder Berücksichtigung. Die Ungewissheit hat dabei eine komplexe Doppelperspektive temporärer ebenso wie subjektiver Art, die eine irrationale Dimension aufwies und das Wirtschaftsverhalten zwingend in einen sozialen Kontext stellte (Netter 1996). Maßgeblich sei beispielsweise die Größe des Vertrauens in die Stabilität der Entwicklung und die Orientierung an Konventionen, um relative Sicherheit für die eigenen Zukunftsentscheidungen zu gewinnen. Unsicherheit als Entscheidungsproblem kann aber auch formal-logisch untersucht werden. Die Arbeiten Kurt Gödels hatten die formale Mathematik erschüttert, woraufhin der Pole Jan Lukasiewicz eine dreiwertige Logik entwickelte, in welcher er den traditionalen Wertungen

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„wahr" und „falsch" die Kategorie „unsicher" hinzufügte. Dies inspirierte Karl Menger, den Sohn des Ökonomen Carl Menger, zur Entwicklung des Konzeptes der „logischen Toleranz". Würden Entscheidungen nur auf der Grundlage von Fakten getroffen werden, die eindeutig als wahr oder falsch eingeschätzt werden, dann bliebe in einer Situation der Unsicherheit nur die Nichtentscheidung. Aber in diesen Fällen helfen auch unvollkommene Entscheidungsfiguren oder Analogiemuster bei der subjektiven Analyse der sozialen Umwelt und erleichtern so die Urteilsfindung trotz Unsicherheit. Parallelen zu Keynes waren vorhanden, Einflüsse nicht anzunehmen. Menger publizierte 1934 sein Hauptwerk Moral, Wille und Weltvorstellung, einen der vielen zeitgenössischen Versuche zu einem Gesamtentwurf der Welt und des menschlichen Daseins in ihr. Mengers den sozialen Handlungsbedingungen angepasste logische Offenheit beeinflusste wiederum die Spieltheorie. Oskar Morgenstern (19021977) brachte Mengers Überlegungen in die Diskussionen mit John von Neumann ein (Leonard 1998). Morgenstern und Neumanns The Theory of Games and Economic Behavior von 1944 bildet einen der Eckpfeiler der modernen Rationalwahltheorie. Darin untersuchten sie Probleme der Handlungsstrategie unter den Bedingungen der Unsicherheit über das Handeln anderer beteiligter Akteure, deren Kooperation jedoch für das eigene Verhalten maßgeblich ist. Die Situation, in welcher der Erfolg des einen den Misserfolg des anderen bedeutet, wird als Gattung des Nullsummenspiels bezeichnet. Neumann (1903-1957) als der eigentliche Mathematiker im Bunde mit dem Ökonomen Morgenstern hatte zuvor bereits Probleme des Umgangs mit Risiko und der Erzielung von Mindestgewinnen behandelt, die heute als Minimax- bzw. Maximin-Strategien zum täglichen Brot der Rationalwahltheorie gehören. Karl Mengers Überlegungen entstanden im Kontext des „Wiener Kreises", einer analytischen Philosophierichtung der 1920er und 1930er Jahre, die auf Ökonomie und Handlungstheorie ausstrahlte. In jener Zeit fand in Österreich der berufsständische Gedanke großen Zuspruch und Theoretiker waren nicht unbeeindruckt vom Sozialismus, das als rationales Modell der Wirtschaftsplanung gelten konnte. Im Seminar von Hans Hahn kamen der gesellschaftspolitische Anspruch einer rationalen Gesellschaftsgestaltung mit dem Ideal strenger Logik zusammen. Auch Otto Neurath besuchte das Seminar Hahns. Er war nach seinen gescheiterten Räteexperimenten (siehe synchroner Diskurs „Alternativen zum parlamentarischen System") nach Wien gegangen. Sozialismus als Konsequenz aus dem grundsätzlichen Bedürfnis nach rationaler Wirtschaftsführung überzeugte aber nicht Ludwig von Mises, der in seinem Wiener Seminar die Grenzen der Rationalität des Sozialismus thematisierte. Mises' Seminar besuchten sowohl Karl Menger wie auch Friedrich August von Hayek (1899-1992), der am stärksten die sozialistischen Modelle der Ökonomietheoretiker seiner Zeit bekämpfte. Ähnlich wie in Teilen der Schottischen Aufklärung (Pestoulas 2001) war fur Hayek die spontane Entstehung von Institutionen und die Freiheit als Möglichkeit hierzu der entscheidende Aspekt der Gesellschaftsentwicklung. Mises hatte 1929 die Kritik des Interventionismus veröffentlicht, in dessen Geist Hayek 1939 das Pamphlet Freedom and the Economic System verfasste. Darin behauptete er, dass das Scheitern der Demokratie dem Umstand geschuldet sei, dass sie die Wirtschaft zu kontrollieren versucht habe (27). In seinen Augen führte ein direkter Weg von sozialdemokratischen Experimenten zu totalitären Regimen, wie er in seinem berühmten Buch The Road to Serfdom (1944) wenige Jahre später ausführte. Hayeks Buch erschien zeitgleich mit Mises' Omnipotent Government, das weniger polemisch als Hayek war. Beide befürchteten, dass die Ereignisse des Krieges ein Wiedererstarken kollektivistischer und etatistischer Planbarkeitsphantasien zur Folge hatte, zumal der Kampf gegen den Nationalsozialismus in Allianz mit dem kommunistischen Russland ge-

1.15 Demokratie und Diktatur

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führt wurde. Planung war in Hayeks Augen zwar immer erforderlich (Road to Serfdom, Kap 3), aber ihre Zentralisierung war das gesellschaftspolitische Problem. Jede zentralisierte Planung führt zu politischen Problemen, welche ihre Befürworter aus den Augen verloren hatten. Diese Befürworter waren nicht nur Kommunisten; Hayek machte eine lange Reihe von Rationalisten aus, die von Saint-Simon über die im ersten Weltkrieg entstandene staatsozialistische Perspektive bis zu Karl Mannheim reichte, seinem Kollegen an der London School of Economics and Political Science, der in Man and Society in an Age of Reconstruction (1940) für die technokratische Elitenherrschaft von Fachexperten unter demokratischer Kontrolle plädiert hatte. Laut Hayek muss man schon dort von Sozialismus sprechen, wo in einem größerem Maßstab Wirtschaftsplanung praktiziert wird, darunter auch die westlichen Demokratien (Kap. 5). Mit der Wirtschaftsplanung führen Demokratien ein Element der Unfreiheit ein, as ungeahnte Folgen haben kann. Für Hayek ist dagegen Wettbewerb mit Freiheit identisch. Die sozialisierte Wirtschaft könne nicht den Wettbewerb ordnungspolitisch ersetzen und den mit unterdrücktem Wettbewerb verursachten Freiheitsverlust politisch durch demokratische Willensbildung kompensieren. Denn laut Hayek ist die Meinung, die planwirtschaftliche Zentralisierung können demokratisch kontrolliert werden, illusionär: Wirtschaftliche Macht führt unweigerlich zu Einschränkung und Aufhebung persönlicher Freiheit, und zwar mit der gefahrlichsten aller ideologischen Argumente, mit dem Hinweis auf den Vorrang des Kollektivs oder des Gemeinwohls vor dem individuellen Eigeninteresse. Auch die Proklamierung von Menschenrechten war in Hayeks Augen kein Ersatz für Wettbewerb und dürfe keine Rechtfertigung für politisch intendierte Interventionen in die Wirtschaft sein. Die Diskussion der Menschenrechte seiner Zeit (Road to Serfdom, Kap. 6), zumal der Entwurf, den der Schriftsteller H.G. Wells (1866-1946) vorgelegt hatte, worin sozialistische und menschenrechtliche Elemente vereint wurden (siehe diachroner Diskurs „Idee der Menschenrechte"), wies Hayek entschieden zurück. Rechte verlören jegliche Wirkung, wenn sie mit einer zentralisierten Planwirtschaft konfrontiert seien. Daher waren Rechtsstaat und Planwirtschaft unvereinbar. Kapitel für Kapitel schloss Hayek mögliche und in der zeitgenössischen Debatte erwogene Kombinationen des Sozialismus mit Restbeständen des Liberalismus und der Demokratie aus. Die Übertragung des Wettbewerbsgedankens auf die Demokratietheorie unternahm Joseph Schumpeter (1883-1950), der Berater der jungen österreichischen Regierung nach dem Ersten Weltkrieg, Bewunderer Max Webers und seit 1932 gefeierter Harvard-Ökonom. Schumpeter, der sich durchaus in Konkurrenz zu Keynes sah, stellte die General Theory in den ideengeschichtlichen Kontext ihrer Zeit, und zwar als eine Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise und den politischen Irrationalismus, der bereits wütete. Schumpeters posthum erschiene History of Economic Analysis (1954), die ihn zum Mitbegründer einer ökonomischen Ideengeschichte machte, geht auf eine von Max Webers Projekt des „Grundrisses der Sozialökonomik" motivierte Studie von 1914 (Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte) zurück. Schumpeter stellte die Autoren der Ökonomietheorie in ihren jeweiligen diskursiven Kontext (ohne das so zu nennen) und diskutierte Hintergründe ihres intellektuellen Umfelds und Fragen der Abgrenzung der wissenschaftlichen Disziplinen. So erinnerte er daran, dass die 1930er Jahre eine Atmosphäre schufen, in welcher eine ganze Reihe schwedischer Ökonomen (darunter Lindahl und Myrdahl) und der dann in Vergessenheit geratene deutsche Ökonom Föhl unabhängig von Keynes zu ähnlichen Überlegungen wie dieser gelangt seien (1954, 1170-1174). Schumpeter lastete Keynes an, psycho-

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logisch zu argumentieren, wo er besser mit statistischen Methoden gearbeitet hätte, die in Schumpeters Augen mit der Ökonomie als analytischer Theorie verträglicher seien. 1938 hatte Schumpeter nach der Theory of Economic Development von 1936 seine Theorie der Business Cycles abgeschlossen und damit die Ökonomietheorie um die Idee der schöpferischen Zerstörung und der Schlüsselstellung des „entrepreneurs", des freien und innovativen Unternehmers bereichert. Bereits 1912 hatte er zwischen zwei Perspektiven der Ökonomie unterschieden (Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung): der sozial-hedonistischen, welche der Handlungsperspektive des Managers (dem einem Kanzleibürokraten ähnlichen Verwalter und Dienstleister) gleichkomme, und der dynamischen bzw. kreativen, welche die des innovativen Unternehmers sei. Diese ausdrücklich soziologischen Überlegungen nahm Schumpeter aus der 2. Aufl. heraus, auf welcher die englische Übersetzung von 1934 beruhte (Dahms 1995,4). Die Motive für Schumpeters berühmtes Buch Capitalism, Socialism, and Democracy (1942), die Hauptreferenz der realistischen Demokratietheorie, waren primär ökonomischer Art. Schumpeter diagnostizierte den (von ihm bedauerten) Niedergang des Kapitalismus: der innovative Unternehmer werde wegrationalisiert und die kreative Zerstörung als Folge des andauernden Wettbewerbs unterbunden. Der Kapitalismus werde zu einer Form von Sozialismus transformiert, dessen war sich Schumpeter sicher, aber das bedeutete nicht, dass Sozialismus im Sinne des politischen Sozialismus verwirklicht werden musste; Schumpeter glaubte vielmehr zu erkennen, dass erhebliche Aspekte des Kapitalismus übernommen werden könnten. Er sympathisierte nicht mit dem Modell einer sozialistischen Demokratie, sah seine Aufgabe aber in Weberscher Manier darin, diesen Pfad, musste er denn eingeschlagen werden, wissenschaftlich zu begleiten und möglichst von ideologischen Begleitkämpfen zu befreien. Ein wesentlicher Aspekt dieses Kampfes zwischen einer kapitalistischen und einer sozialistischen Ideologie sei der Umstand, dass beide Seiten für sich reklamierten, die einzig geeignete Rahmenbedingung einer funktionsfähigen Demokratie zu sein. Die Frage, ob und wie Sozialismus mit der Demokratie kompatibel sei, galt es zu klären. Vor dem Hintergrund des amerikanischen New Deal erörterte Schumpeter die Gestalt der künftigen Wirtschaftsordnung. Der Bolschewismus war keine Lösung, aber die im Europa der Zwischenkriegszeit, zumal in der Weimarer Sozialdemokratie sowie in der britischen Labour-Partei sich abzeichnende Entwicklung zu einer „sozialistischen Demokratie" hatte Schumpeter zufolge aussichtsreiche Zukunftschancen. Capitalism, Socialism, and Democracy beginnt mit einem langen Kapitel zu Marx und endet mit einer Prognose über die Regierungsfähigkeit der Sozialdemokratie in Europa. Die Demokratie hatte für Schumpeter einen doppelten Status (Medearis 2001): zum einen war sie ein wesentlicher Faktor der Transformation des Kapitalismus, zum anderen eine Institutionenordnung unter dem Gesichtspunkt von Wettbewerb. Schumpeter strebte einen nicht-ideologischen Begriff der Demokratie an und wollte zugleich die „klassische Theorie" der Demokratie überwinden (Kap. 21). Ihre Behauptung nämlich, wonach der Inhalt der Demokratie in der Herrschaft des Volkes läge (oder wenigstens der Sicherstellung, dass sein Wille - mittelbar oder unmittelbar - regiert) war Schumpeter zufolge bereits ideologisch, da sie einfach nicht den Fakten entsprach. Ohne Umschweife folgte Schumpeter dem Stand der Theorie der Massendemokratie des 20. Jahrhunderts bis zu seiner Zeit (Medearis 2001, 107-114): die Notwendigkeit von Führerschaft war für Schumpeter ebenso ein soziales Faktum wie die

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Unfähigkeit der breiten Bevölkerung, den Inhalt der Politik selbst zu bestimmen. Die klassische Theorie wurde von politischen Führern aus Machterhaltungsgründen am Leben gehalten. Schumpeter wollte damit nicht sagen, die Demokratie sei eine Illusion; er versuchte vielmehr eine „realistische" Definition der Demokratie zu liefern, die mit den tatsächlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen übereinstimmte. Dieser Theorie zufolge ist die Demokratie eine Methode der Auslese des Herrschaftspersonals, wobei dieses Personal in einem Wettbewerb um die Zustimmung der Wählerschaft steht (Kap. 22). Schumpeter folgte hier den Spuren Max Webers. Der bloße Umstand des Wettbewerbs sichert nun nicht die Güte der Politik. Anders als in der ökonomischen Theorie, wo die Effizienz der Ressourcenverteilung durch Wettbewerb und freie Preisbildung gewährleistet zu sein scheint, kann im Bereich der Politik der Wettbewerb nur indizieren, dass Demokratie überhaupt vorliegt (und nicht nur behauptet wird). Wie in der Ökonomie entstehen natürlich Gefahren für den Wettbewerb durch Tendenzen der Monopolisierung oder Oligopolisierung. Aber es gibt auch Gegenkräfte: Schumpeter zählte hierzu die Neigung von Politikern, ihre Bindungen zu anderen Politikern nicht zu eng zu schnüren und sich nicht von programmatischen Überzeugungen davon abzuhalten zu lassen, das Personal auszutauschen, wenn es um der Macht willen opportun erscheint. Was aus anderer Perspektive ein Mangel an Ethik bedeutet, ist in der Politik ein wesentlicher Faktor zur Aufrechterhaltung des Wettbewerbs. Schumpeter entwarf keine ökonomische Theorie der Demokratie in dem Sinne, dass er Demokratie nach ökonomischen Modellen modellierte. Politik und Wirtschaft sind bei Schumpeter zwei sehr verschiedene Bereiche: weder kann man Manager nach demokratischen Methoden wählen noch kann man Politik nach Angebot und Nachfrage bestimmen. Nicht die Preisgestaltung, sondern der Wettbewerb war das Herzstück der Analogie. Insoweit unterscheidet sich Schumpeters Ansatz von Anthony Downs, der später unter Rückgriff auf Schumpeter die Economic Theory of Democracy (1957) publizierte; Downs wollte das Gleichgewichtsmodell der Ökonomie übertragen, Schumpeter dagegen hatte das Gleichgewichtsmodell ausdrücklich als zu kurz gegriffen zurückgewiesen (Kap. 7). Bei Schumpeter kamen zum Wettbewerb der Führer um Zustimmung der Wählerschaft noch zahlreiche Aspekte hinzu, die für eine „effiziente" Demokratie erforderlich waren (Kap. 23): die Qualität des Führungspersonals muss vergleichsweise hoch sein, es darf nicht zu Monopolen kommen, was u.a. eine gewisse Offenheit und Toleranz des öffentlichen Meinungswettstreits verlangt, ferner darf das Spektrum der umworbenen Ideen nicht zu weit voneinander entfernt liegen und schließlich muss die Bürokratie eine eigenständige Kraft sein, das heißt sie muss professionell und von den politischen Wandlungen ausgenommen sein sowie ein hohes Ethos entwickelt haben. So wie auch der Kapitalismus, als er noch effizient war, kultureller Zusatzfaktoren bedurfte, um ökonomisch zu funktionieren, so kann auch laut Schumpeter die Demokratie nicht vom Wettbewerb alleine leben. Sind diese Voraussetzungen aber erfüllt, so ist ein demokratischer Sozialismus möglich.

6. Die Idee der Menschenrechte Heute sind die Menschenrechte in fast allen politischen Theorierichtungen gegenwärtig. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 bündelten sich wie durch ein Brennglas zahlreiche Fäden der Ideengeschichte und gaben der Debatte nach dem Zweiten Weltkrieg die Richtung vor. Die Allgemeine Erklärung ist das Werk eines Kollektivs an

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Autoren, die, jeder für sich betrachtet, keinen ersten Rang in der Ideengeschichte beanspruchen können. Namen wie John P. Humphrey, Rene Cassin oder Eleanor Roosevelt (Glendon 2001) sind außerhalb der Menschenrechtsforschung eher unbekannt. Das mag erklären, warum in den Darstellungen zur politischen Theorie des 20. Jahrhunderts die Menschenrechte wenig diskutiert werden (Reese-Schäfer 2000; Renaut 2001; Ball/Bellamy 2003), als seien sie ortlos, anonym verfasst oder gefahrlicher noch: selbstverständlich und unkontrovers. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Am 10. Dezember 1948 nahm die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte an. Diese Erklärung wurde nur möglich vor dem Hintergrund der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und der ungeheuren Verletzungen der Menschenwürde, die vor allem das nationalsozialistische Regime verübte hatte. Zu den Kriegszielen der westlichen Alliierten hatte frühzeitig die Menschenrechtsidee gehört, die Roosevelt in der Rede zu den Four Freedoms proklamierte (Annual Message to Congress vom 6.1.1941), und zusammen mit Churchill in der Atlantic Charta vom 14.8. 1941 aufnahm. Die Dumbarton Oaks Proposals zur Errichtung einer internationalen Organisation, an deren Ende die Vereinten Nationen standen, sahen gleichfalls Menschenrechte vor (Kap. IX). Zahlreiche private und wissenschaftliche Bemühungen flankierten die amtlichen Verlautbarungen, zu Kriegsende die Menschenrechte als unveräußerliche Rechtsgüter zu etablieren. Bereits 1929 hatte das „Institute of International Law" in seinem Organ American Journal of International Law eine Declaration of the Rights of Man vorgeschlagen (1930, 560; als Anhang abgedruckt in: Maritain The Rights of Man and Natural Law 1944), ihr Adressat war die öffentliche Weltmeinung. Die internationale Arbeitsorganisation ILO hatte soziale Grundrechte verkündet und 1942 erklärte die „New Education Fellowship"eine Charter for basic, minimum rights of children. Hinzu kamen individuelle Entwürfe. Der später fur seine kriegstheoretischen Arbeiten bekannte Völkerrechtler Quincy Wright verfasste im Februar 1943 Human Rights and World Order im Auftrag der „Commission to Study the Organization of Peace". Breitere Öffentlichkeit erreichte der unermüdliche H.G. Wells (1866-1946), der sein als Autor phantastischer Romane erworbenes internationales Renommee dazu nutzte, für die Forderung zu werben, die Menschenrechte offiziell zum Inhalt und Ziel aller Politik zu erheben. In The New World Order (1940) nahm er einen förmlichen Katalog der Menschenrechte auf (139143). Wells' Verständnis von Menschenrechten konzentrierte sich auf zivile und politische Freiheiten. Der Soziologe Georges Gurvitch (1894-1965) dagegen meinte, die moderne Gesellschaft verlange vor allem eine Bill of Social Rights (1945). Das juridische Problem einer solchen Deklaration war ihre bindende Verpflichtung, das politische Problem war die Frage ihrer Implementation und Durchsetzung bei staatlichem Widerstand. Eine beachtliche Stimme zu diesen Problemen war die des Völkerrechtlers Hersch Lauterpacht (1897-1960). 1945 legte er eine International Bill of the Rights of Man vor, hervorgegangen aus Vorträgen vor der Grotius-Gesellschaft 1942. Lauterpacht gefiel an den Dumbarton Oaks Proposals nicht, dass nur von der Förderung des Respekts vor den Menschenrechten die Rede war (S. 213-214). Im Vorwort erinnerte Lauterpacht an die harsche Kritik Jeremy Benthams an der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution („nonsense upon stilts", s.u.). Obwohl er nicht die Kritik des englischen Utilitaristen teilte, sah Lauterpacht eine Wurzel des Widerstands gegen die Menschenrechtsidee darin, dass in solchen Deklarationen die „high sounding phrase" eine Art Substitut zu werden drohte für

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„positive means of remedial legislation", denn Rechte ohne die prozedurale und materielle Möglichkeit, ihre Verletzung vor Gericht bringen zu können, seien nicht nur nutzlos, sondern sogar schädlich. Diesem Einwand wollte Lauterpacht in seinem Entwurf zuvorkommen, indem er 1) keine Rechte aufnahm, die von vornherein politisch unumsetzbar sind (darunter das Recht auf Eigentum, auf freien Handel, auf Einwanderung) und 2) erhebliche Anstrengungen für die Durchsetzbarkeit von Rechten vorsah, und zwar innerhalb der Staaten wie in der internationalen Staatengemeinschaft (169-224). In diese Richtung deutet, dass Lauterpacht das Recht auf Selbstregierung als Menschenrecht verstand (Art. 10 seines Entwurfs). Sein Vorbild war der Artikel 1 der Völkerbundsatzung (siehe diachroner Diskurs „Frieden und Krieg"). Lauterpacht erwartete daher von einer internationalen Organisation, dass nur solche Staaten aufgenommen werden, die demokratisch verfasst sind, weil nur bei diesen die Menschenrechte auch durchgesetzt werden können. Generell bedeute die Akzeptanz der Menschenrechte die Opferung eines erheblichen Teils der staatlichen Handlungsfreiheit (82), wozu die Staaten sich bereit erklären mussten, bevor sie aufgenommen wurden. Zusätzlich verlangte Lauterpacht einen internationalen Gerichtsschutz. Die Debatte um Sinn und Inhalt der Menschenrechte wurde also bereits vor der Gründung der UN intensiv gefuhrt. Die Allgemeine Erklärung selbst ging aus einem langwierigen Prozess von Entwürfen und Diskussionen zwischen Regierungsvertretern hervor. In der „Human Rights Commission", die sich Ende Januar 1947 das erste Mal traf, waren 16 Mitgliedstaaten mit Repräsentanten vertreten. Hier wurden Differenzen über Sinn und Zweck der Erklärung sichtbar. Die erste Vorsitzenden dieser Kommission, Eleanor Roosevelt, die Witwe des verstorbenen Präsidenten der USA, drängte auf das Zustandekommen einer Deklaration überhaupt, das sie fur wichtiger erachtete als die Frage der Implementation einer solchen (Glendon 2001, 38). Dies war nicht verwunderlich angesichts der Differenzen zwischen sowjetrussischem, europäischem und chinesischem Grundverständnis der Menschenrechte, die von den Kommissionsmitgliedern zur Sprache gebracht wurden. Rene Cassin (1887-1976), ein weiteres Mitglied der Kommission, später Präsident des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und Friedensnobelpreisträger von 1968, bestand auf einer Einheitlichkeit des Menschenbildes und der Menschheitsgattung als Grundlage der Menschenrechte sowie auf dem Vorrang der Menschenwürde (Agi 1998). Dieser Auffassung warf das jugoslawische Kommissionsmitglied Wladislaw Ribnikar überzogenen Individualismus vor sowie die Unterschätzung der sozialen Einbettung des Menschen in die Gemeinschaft. Der Libanese Malik präferierte ein christliches Menschenbild auf der Grundlage der Soziallehren von Thomas von Aquin, wogegen der Chinese Peng-Chun Chang auf das Alter seiner Zivilisation hinwies und die Vorbildlichkeit ihrer Philosophie. Die indischen und australischen Vertreter Hansa Metha und William Roy Hodgson betonten, dass eine bloße Deklaration nicht nur sinnlos, sondern geradezu ein Rückschlag sein würde. Angesichts der inhaltlichen Ferne der Positionen war das Zustandekommen der Deklaration am Ende erstaunlich und hauptsächlich dem Kanadier Humphrey zu verdanken, der den Kompromiss zu Papier brachte. Die Allgemeine Erklärung lässt sich nach einer von Rene Cassin selbst vorgenommenen Gliederung in vier Gruppen aufteilen (La Declaration Universelle et la Mise en Oeuvre des Droits de l'homme 1951, 279). Nach den persönlichen Rechten (Art. 3-11) folgen die Rechte des Einzelnen im Verhältais zu sozialen Gruppen (Art. 12-17), die zivilen Freiheiten und politischen Rechte (Art. 18-21) sowie die Rechte im wirtschaftlichen und sozialen Bereich

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(Art. 22-27). Die Forderung, ein der Wirksamkeit der Menschenrechte forderliches soziales und wirtschaftliches Umfeld zu schaffen (Artikel 28), wurde am meisten kritisiert. Parallel zur Human Rights Commission in New York bat die UNESCO in Paris, unbelastet von dem Problem der Mobilisierung politischer Zustimmung, unabhängige Gelehrte, Philosophen und Literaten zu einer Stellungnahme über die philosophischen Voraussetzungen der Menschenrechte. Die UNESCO operierte ohne Zustimmung der Menschenrechtskommission der UN, die sogar versuchte, deren Arbeit zu torpedieren (Büttner 2004). Der verschickte Fragebogen wurde häufig in Form von Aufsätzen beantwortet, die gesammelt und unter der Herausgeberschaft der UNESCO 1949 veröffentlicht wurden (Human Rights. Comments and Interpretations), zusammen mit einem eigenen Entwurf der Menschenrechte. Zu den kürzeren Antworten zählte die Mahatma Gandhis, der betonte, dass die Idee der Rechte nur aus der Perspektive der Pflichten zu verstehen sei, man sich also hierüber einig werden müsse. Die meisten, so wie Harold Laski (1893-1950), der Politikwissenschaftler von der London School of Economics and Political Science, verlangten umfassende soziale Rechte. Juristen wie McKennon waren skeptisch bezüglich des Rechtscharakters der Menschenrechte und bestanden auf der Einsetzung eines Gerichtshofes, der auf der Grundlage von Rechtsprinzipien im Laufe seiner Rechtsprechung eine Dogmatik entwickeln würde, die er für erfolgversprechender hielt als jede noch so gut durchdachte Erklärung. Allgemein erkennbar war die Sorge, dass eine bloße „Erklärung" der Rechte ohne begleitende und effektive Institutionen, die ihre Implementation sicherstellen, die Idee der Menschenrechte selbst auf Dauer desavouieren könnte. Die Reaktionen auf den Kompromiss von 1948 fiel teilweise harsch aus. Zwei Jahre nach Inkrafttreten der Allgemeinen Erklärung legte Lauterpacht seine Kritik vor, worin er die Forderung nach Implementation seiner Bill of the Rights of Man von 1945 aufrechterhielt (International Law and Human Rights 1950). Die Deklaration war in seinen Augen das Ergebnis eines politischen Kompromisses, geprägt durch innenpolitische Einflüsse der Autorstaaten, daher von fraglicher moralischer Autorität, unvollständig und bar aller Durchsetzungsmechanismen (279). Die Kriegsverbrechertribunale von Nürnberg und Tokyo wirkten seiner Ansicht nach nachhaltiger auf die Durchsetzung der Menschenrechtsidee als die Deklaration. Wenn UNO und Menschenrechtsidee der Inbegriff des politischen Idealismus waren, so blieb die Gegenreaktion in Gestalt des politikwissenschaftlichen Realismus nicht aus, am klarsten vertreten von Hans J. Morgenthau (Smith 1986; Williams 2005). Morgenthau (19041980) gilt als der Klassiker der realistischen Theorie der Internationalen Beziehungen in der Politikwissenschaft; seine Intentionen bezogen sich aber auf das Politikverständnis. Auch er war in der Weimarer Debatte groß geworden, hatte sich mit Weber und mit Carl Schmitt auseinandergesetzt {La Notion du 'politique' et la theorie des differends internationaux 1933) und war schließlich in die USA emigriert, wo er an der University of Chicago einen der einflussreichsten Lehrstühle in der Geschichte der akademischen Politikwissenschaft begründete. 1946 fasste Morgenthau mehrere frühere Aufsätze zu dem Buch Scientific Man versus Power Politics zusammen und startete einen Frontalangriff gegen die Sozialwissenschaften und ihr Politikverständnis. Die Herausforderung des Faschismus war seiner Ansicht nach nicht mit dem Sieg über Deutschland bestanden, denn der Faschismus stünde nicht für eine einmalige Regression der Denkweise, er war in vielerlei Hinsicht sogar fortschrittlich: namentlich in der Verwendung modernster Technologie (6) und im Umgang mit der Macht. Da die Wissenschaftler, die sich mit Politik beschäftigten - von Bentham bis Dewey und Karl Mannheim - eine Szientifizierung der Politik wünschten, um sie mit rationalen Mitteln zu begrei-

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fen (11-40), waren sie letztlich außerstande, den Faschismus zu verstehen. Dazu zählte Mergenthau auch das American Institute of Public Opinion, das George Gallup 1935 gegründet hatte, um mit wissenschaftlichen Methoden die Meinungsforschung zu präzisieren. Aber obwohl man Politik durch Vernunft verstehen kann, darf man nicht annehmen, dass Politik auf Vernunft gegründet ist (10): Politik sei eine Kunst, keine Wissenschaft, sie habe mit Macht als einer zutiefst menschlichen Leidenschaft zu tun, die nur durch das Können von Staatsmännern bewältigt werden kann. Das Bestreben, die Politik zu verwissenschaftlichen, deutete Morgenthau als das Ergebnis eines pazifistischen und „dekadenten" Liberalismus (41-74), vergleichbar dem ebenso „dekadenten Legalismus", der die Hoffnung nährte, Politik mit internationalem Recht bändigen zu können und dem (alten kantischen) Motto „fiat iustitia pereat mundus" folgte. Die Gründung der UNO 1945 in San Francisco stimmte Morgenthau nachdenklich, ob hier nicht ein illusionärer Idealismus, der bereits den Völkerbund begleitet hatte, erneut auflebte und wie jener an Stelle einer nüchternen Machtanalyse eine Verachtung für Machtpolitik (power politics) hegte. Vor dem Hintergrund der im Aufbau befindlichen UNO schrieb Morgenthau eine der einflussreichsten politischen Theorie des 20. Jahrhunderts: Politics among Nations. The Struggle for Power and Peace, die im Oktober 1948 erschien. Im August 1949 folgte bereits der zweite Nachdruck und ab 1950 permanente und meist erweiterte Neuauflagen. Morgenthau verzichtete in diesem systematisch angelegten Werk auf Polemik und entfaltete seinen auf Macht gegründeten Begriff des Politischen, den er nun auf die Internationale Politik fokussierte. Den drei ersten Teilen, die dem Verständnis der Machtpolitik gewidmet waren, folgten drei Teile zu den Grenzen der Machtpolitik (Machtgleichgewicht, Weltmeinung und Moral, internationales Recht) sowie eine ausfuhrliche Diskussion, wie und auf welchen Wegen unter diesen Umständen ein dauerhafter Frieden zu erreichen sei (Teile 8-10). Morgenthau druckte im Anhang sogar die Charta der Vereinten Nationen ab. Die Textmengen, die Morgenthau für Fragen der Begrenzbarkeit von Machtpolitik verwendete, zeigen, dass er sich trotz aller Skepsis ernstlich damit beschäftigte. Das Internationale Recht ist laut Morgenthau im Gegensatz zum nationalstaatlichen Recht ein Recht von „primitivem" Zuschnitt, denn es ist dezentralisiert und in seiner Bindekraft vom Verhalten anderer abhängig. Der Völkerbund zerfiel nicht wegen des mangelhaften institutionellen Arrangements, sondern weil nach den groben Verstößen seitens der faschistischen Staaten ab 1936 die übrigen Mitglieder so taten, als sei der Völkerbund auch fur sie nicht mehr existent. Andererseits sei die bereits vom Völkerbund entwickelte und von den Vereinten Nationen übernommene Idee der kollektiven Sicherheit die am beachtlichste Entwicklung im Völkerrecht, die nach Morgenthaus Einschätzung im Falle der UNO jedoch schon wegen des Vetorechts der fünf festen Mitglieder des Sicherheitsrates zum Scheitern verurteilt sei (Politics among Nations 232-242). Morgenthau Plädoyer, die Realitäten der Politik nicht aus dem Auge zu verlieren, war gegen den nach dem Weltkrieg neu keimenden Idealismus und das Naturrechtsdenken gerichtet, und die Proklamation der Universalen Menschenrechte im Dezember 1948 verstärkte seine Sorge bezügliche der Machtvergessenheit des Idealismus zusätzlich. Die Ideengeschichte

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Menschenrechte

Die Allgemeine Erklärung löste nur wenige Probleme, aber sie fokussierte in einem Dokument verschiedene Theoriestränge des politischen Denkens, die seit Anbeginn die Ideenge-

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schichte begleiteten und nun in neuer Gestalt Aktualität erhielten. Zu diesen Theoriesträngen zählt 1) die Tradition der Menschenrechtserklärungen seit der Französischen Revolution, 2) die Tradition des Naturrechts, 3) das Problem der politischen Unabhängigkeit und - darin eingebettet- die Einzelprobleme von Sklaverei, Frauenrechten und sozialer Abhängigkeit sowie 4) die Tradition des Kosmopolitismus. 1) Die Tradition der Menschenrechtserklärungen Art. 1 der Allgemeine Erklärung nennt jedes menschliche Wesen als von Geburt an frei und gleich an Rechten. Dies war eine klare Anlehnung an den Art. 1 der französischen Declaration des Droits de l'Homme et du Citoyen vom 26. August 1789. Aber diese Analogie trügt: die französische Erklärung ging von der Doppelnatur von Menschen- und Bürgerrechten aus. Die Präambel der Declaration machte deutlich, dass die Idee der Menschenrechte bereits als vorhanden angesehen worden war, ihre Missachtung aber zu politischem Unglück und zur Korruption der Regierung geführt habe, weswegen diese Rechte gleichsam als Leitfaden der Politik proklamiert werden müssten. Die Existenz der Menschenrechte bedürfe einer politischen Gewalt (Art. 12). Alle einzeln aufgeführten Menschenrechte, von der Religions- und Meinungsfreiheit bis zur Eigentumsgarantie, standen unter der Einschränkung, dass ihre Grenzen durch Gesetz festgelegt wurden, wobei das Gesetz als Allgemeinwille definiert war, an dem mitzuwirken jeder Bürger aufgefordert blieb und auch das Recht hierzu hatte. Der Sinn dieser Declaration bestand insgesamt darin, die Herrschaft des Gesetzes zu errichten, was eine politische Ordnung zur Voraussetzung hatte. Die Menschenrechte dienten als orientierende Leitideen, deren inhaltliche Auslegung wiederum von der gesetzmäßigen Ausformulierung abhängig gemacht wurde. Die französische Declaration war somit das Gründungsdokument einer politischen Ordnung, die erst das Umfeld dafür schaffen sollte, dass Menschenrechte überhaupt Bestand haben können. Das war nicht auf die UNO übertragbar. Zu der Tradition der Deklarationen gehörte ihre Kritik. Jeremy Bentham prägte den berühmten Ausdruck, Menschenrechte als Variante von Naturrechten seien Unsinn auf Stelzen (Nonsense upon Stilts 1795). Er wendete sich dabei nicht gegen die Rechte als solche, sondern gegen ihre Ideologie: sie als angeboren zu betrachten und zu proklamieren übersehe, dass sie letztlich nichts anderes seien als Gesetzgebung und auch nur der Gesetzgeber für sie verantwortlich sein kann. Bentham störte also, dass die Menschenrechte dem politischen Prozess entzogen wurden, was angesichts der allgemeinen Gesetze als Ausführungsnormen der Menschenrechte, die dem Prozess der Gesetzgebung unterzogen waren, zu kurz gegriffen sei. Karl Marx dagegen (Zur Judenfrage 1844) beklagte, dass die Emanzipation des Menschen nicht mittels der Verleihung formeller Rechte zu erreichen sei, sondern nur durch den revolutionären Wandel der sozio-ökonomischen Situation, welche den Menschen in Abhängigkeit hielt. Marx kritisierte Bruno Bauers Auffassung, die Judenemanzipation sei eine Frage des politischen Bewusstseins. In einem Beitrag für die Deutschen Jahrbücher schrieb Bauer, der wie Marx zu den Junghegelianern zählte, dass Juden ihre soziale und politische Marginalisierung nur durch ein republikanisches Bekenntnis zu den Menschenrechten überwinden könnten (Moggach 2006a). Die Republik war bei Bauer das Gehäuse der Menschenrechte. Marx zufolge halfen aber weder Bekenntnis noch Rechteverleihung. Die Menschenrechte spiegelten in seinen Augen nur ein bestimmtes Stadium in der Gesellschaftsentwicklung, sie verallgemeinerten die Phase der bürgerlichen Gesellschaft, was anhand des Eigentumsrechts abzulesen sei: Die Menschenrechte setzen dem-

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nach die Menschen als Monaden voraus, die ihr Eigentum im Gegeneinander definieren, statt sich zu assoziieren. Der bekannteste Kritiker der französischen Declaration, Edmund Burke, verwendete die Menschenrechtsidee sogar sehr oft als Basis seiner eigenen politischen Argumente: In der Indien-Frage etwa, als er die Gesetzgebung unterstützte, die eine größere Selbständigkeit Indiens und einen Schutz vor der Willkür britischer Gouverneure anstrebte (Rede zu Fox's East India Bill 1783; Lock 2006, 46-48). In diesem Kontext sprach er von den natürlichen Rechten der Menschen als einer „sakralen" Angelegenheit (Works II 437). Noch 1791, d.h. nach seiner Kritik der Französischen Revolution, begrüßte er die Revolution in Polen mit Verweis auf die natürlichen Rechte des Menschen (Freeman 1980, 84-106). Burke war Gegner des spezifischen Gebrauchs, den die französischen Revolutionäre von der Idee machten, indem sie Politik und Gesellschaft mit einer unangemessenen Logik rationaler Argumente überzogen und damit zu tyrannischen Ergebnissen kommen mussten. Die Kritiker der Menschenrechte waren keine prinzipiellen Gegner, aber sie bezweifelten meist, dass ihre Proklamierung einen konstruktiven Platz im tatsächlichen Ablauf der Politik einnehmen konnte. Menschenrechte als Leitfaden der Politik zu fordern hieß, sich mit den Bedingungen von Politik auseinandersetzen zu müssen. Zieht man daher diese Tradition als eine der Quellen der Allgemeinen Erklärung heran, werden deren Grenzen deutlich. Obwohl die Allgemeine Erklärung auch Bürgerrechte definiert, bleibt doch der politische Rahmen, in welchen diese Rechte stehen, notwendigerweise unbestimmt. Dabei erfordert ja bereits die Möglichkeit des Konfliktes zwischen den einzelnen Menschenrechten Angaben darüber, wie solche Konflikte zu regeln sind, ein Problem, über das die moralische Absolutheit, mit welcher die Menschenrechte proklamiert werden, hinwegtäuscht (Waldron 1987a, 180): was in der französischen Declaration die Republik ist, bleibt in der Allgemeinen Erklärung offen. 2) Die Naturrechtstradition Die synchrone Debatte im Umfeld der Allgemeinen Erklärung war immer auch eine Debatte über die Idee des Naturrechts. So selbstverständlich das normative Gewicht der Menschenrechte auch erschien, so unklar war seine ideengeschichtliche Herkunft. Willy Strzelewicz (geb. 1905), ein früheres Mitglied der KPD, ging 1933 zur Sozialdemokratie und gehörte während des Krieges in Stockholm zu den führenden Köpfen des „Arbeitskreises demokratischer Deutsche"; er war neben Willy Brandt Redakteur ihres Organs Sozialistische Tribüne. In schwedisch erschien 1943 eine Arbeit zu den ideengeschichtlichen Wurzeln der Menschenrechtsidee, die er 1947 auf deutsch veröffentlichte (Der Kampf um die Menschenrechte). Strzelewicz definierte eine demokratisch grundierte Tradition, die in seinen Augen vom Mayflower Compact 1620 bis zur Atlantic Charta reichte. Mit diesem Fundament war es ihm leicht, „Fünf Angriffsstöße" gegen die Menschenrechtsidee auszumachen: Konservatismus und Romantik, Marxismus, Biologismus, Totalitarismus und Positivismus (163-212). Lauterpacht sah dagegen in der Naturrechtstradition das eigentliche ideelle Fundament, wenngleich er einräumte, dass nichts weniger klar war als die weitverzweigte und in sich inkohärente Naturrechtstradition (International Law and Human Rights 1950, 73-141). Er fugte dem Strang des rationalen Naturrechts noch die englische Tradition des „birthright of the English people" hinzu, worin die Rechte nicht absolut galten, sondern als das Ergebnis eines historischen Prozesses angesehen wurden, in dessen Mittelpunkt das Parlament stand. Damit wollte Lauterpacht das Naturrecht wieder mit

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konkreter politischer Ordnung verbinden und formulierte das Spannungsverhältnis zwischen überpositivem und Naturrecht. Jacques Maritain (1872-1983), der wesentlich an dem erwähnten Bericht der UNESCO mitwirkte, rief in der zeitgenössischen Debatte die Naturrechtstradition als Hintergrund der Menschenrechtsidee in Erinnerung. Maritain war ein zum Katholizismus konvertierter Philosoph und galt als Vertreter des Neuthomismus, wogegen er sich selbst stets verwahrte. Die katholische Ethik konnte in der Mitte des 20. Jahrhundert durch die thomistische Tradition ohne weiteres an das Naturrecht anknüpfen. Mit der päpstlichen Enzyklika Quadragesimo Anno von 1931 versuchte die Kirche wieder Anschuss an die zeitgenössischen Debatten zu gewinnen. Das Naturrecht konnte als katholische Tradition gedeutet werden, die Ewige Wiederkehr des Naturrechts, wie es Heinrich Rommen in einem Buch von 1936 formulierte, war auch eine Neurezeption der Spätscholastik, die als eine Wurzel des modernen Völkerrechts gesehen wurde (Rommen, Francesco Suarez 1948). Maritain war Gastwissenschaftler in den USA, als Frankreich 1940 überrannt wurde, und veröffentlichte dort seine These über die Aufgeschlossenheit des Christentums für eine Demokratievorstellung, deren Kern der personalistische Individuumsbegriff war (Christianisme et Democratic 1943). Maritain verkündete das Ende der reinen Machtpolitik, die bar aller Normativität agierte und sich nicht an den wirklichen Bedürfnissen des Menschen orientierte (The End of Machiavellanism 1942). In seiner kleinen Menschenrechtsstudie Rights of Man and Natural Law von 1944 bezeichnete Maritain das Einparteiensystem als das deutlichste Merkmal eines „totalitären" Regimes (neben der menschenverachtenden Einstellung); daher müsse die Antwort der Demokratie darin bestehen, den Menschen als Person mit unumgehbaren Rechten zu verstehen, der in „pluraler" Weise an der Gesellschaft durch Assoziationen teil habe (57). Maritain verstand den Pluralismus nicht primär voluntaristisch. Mit dem Ausdruck „organisch" hob er die Sozialität des Menschen hervor, die in der Natur der Gesellschaft liege und weniger vom Einzelwillen abhinge. Die Familie nahm er in die Reihe der Assoziationen auf. Ferner legte Maritain einen Schwerpunkt auf die Aspekte des Menschen als „Arbeitsperson" und als „Bürgerperson", denen jeweils entsprechende soziale und politische Rechte zukommen (50-51). Wird das Menschenrecht aus naturrechtlicher Perspektive thematisiert, so ist damit kein Recht im „positiven" Sinne gemeint, das von politischen Ordnungen ausformuliert werden muss und dem Individuum verliehen wird; die Quelle des Menschenrechts ist vielmehr das Naturrecht selbst, ein allem positiven und damit auch allem demokratischen Recht vorund übergeordneter Normenbereich. Damit lebte aber auch die klassische Problematik des Naturrechts wieder auf, klären zu müssen, welche Natur gemeint ist: Die Natur als Inbegriff von Welt oder als Wirken Gottes? Oder war eine spezielle Natur gemeint, die Natur der Sachen etwa, eine Frage, die ja Lipsius und die Staatsräsonliteratur umgetrieben hatte, oder die Natur des Menschen als eines Lebewesens? Bezüglich der Natur des Menschen stellte sich wiederum die Frage, welchen Ausschnitt, welche Eigenschaft man als „natürlich" ansah: sein Sicherheitsbedürfnis und die Interessenverfolgung (Hobbes), die Soziabilität (Pufendorf) oder noch allgemeiner: die Rationalität des Menschen (Kant)? Mit dem Rechtsaspekt des Naturrechts war es noch komplexer bestellt. Welche Funktion nimmt ein Argument ein, das sich auf Naturrecht beruft? Im Falle Maritains ging es um das Naturrecht, das unabhängig und vor allem positiven Recht Geltung beansprucht und daher höher als alles staatliche Recht steht; damit umging man die formelle Rechtmäßig-

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keit tyrannischer Gesetzgebung. Anders als in der Gesellschaftsvertragstradition von Thomas Hobbes behält das Naturrecht auch nach erfolgter Gesellschaftsgründung Geltung und kann zu ihr in Konkurrenz treten. Diese Konzeption hatte griechische Vorbilder. Der locus classicus des übeipositiven Naturrechts war der Antigone-Mythos, den Sophokles in seiner gleichnamigen, vermutlich 442 v. Chr. uraufgeführten Tragödie verarbeitet hatte und dessen ideengeschichtliche Rezeption mit Aristoteles einsetzt (Rhetorikl, 13: 1373 biff; I, 15: 1375a 25ff.; Crowe 1977, 6). Die Königstochter Antigone verstößt gegen das Verbot des Königs, ihren im Zweikampf gefallenen Bruder zu bestatten und beruft sich auf ein höheres Recht. In diesem Mythos verdichtet sich emblematisch die Konfrontation des politisch wehrlosen Geschöpfs mit dem Machtstaat, der aus politischen Gründen (Abschreckung und Prävention) die gebotene Humanität unterbindet. Während Sophokles' Antigone sich auf eine seit unvordenklichen Zeiten anerkannte Sitte berief, die von keinem menschlichen Recht verletzt werden durfte, verknüpfte Cicero das Naturrecht mit der menschlichen Natur, die als Vernunftnatur über alle kulturellen Differenzen zwischen den Menschen hinweg ihr Verhalten regelt. Naturrecht findet „zwischen allen Völkern" Beachtung und muss daher auch von allen Menschen befolgt werden (De re publica III 22). Der Mensch, der dieses natürliche Vernunftrecht nicht befolgt, erfährt laut Cicero eine eigentümliche Bestrafung: er läuft vor sich selbst weg und wird so die schwerste aller Strafen erleiden, selbst wenn er allen menschlichen Strafen entgehen konnte. Die mit Laktanz einsetzende Überlieferung Ciceros erkannte hierin den Gewissensbefehl, in welchem Gott zu jedem einzelnen Menschen spricht. Cicero sprach an dieser Stelle aber nicht von Gott. Seine Konzeption des Naturrechts umspannt eine Vorstellung, die von den Grundlagen der individuellen Moralität bis zum Völkerrecht als dem Recht der Interaktion menschlicher Gemeinschaften reicht. Gerade mit diesem weiten Horizont inspirierte Cicero die neuzeitliche Naturrechtstradition (Ilting 1983). Die naturrechtlichen Systeme der Neuzeit haben ein aller kulturellen Besonderheit entledigtes und gerade deswegen allgemeinverbindliches Naturrecht destilliert, das als Grundlage des privaten wie des staatlichen Rechts dient. Vertrag und Eigentum sind Kernpunkte dieses Naturrechts und behalten darin ihre politische Stoßrichtung, insofern sie dem Individuum einen Rückhalt vor dem Zugriff politischer Macht geben. Wer jedoch Verstöße gegen das Naturrecht sanktionieren soll, blieb in der Naturrechtstradition meist ungeklärt. Das Naturrecht war insoweit ein intellektuelles Recht, dem Hobbes die politische Existenz absprach, da es kein Schwert in Händen hielt. Hier zeigte sich also, dass das Naturrecht neben der Idee eines nicht von der Politik verfugbaren Rechts auch die Vorstellung einer dem Individuum zukommenden Rechtsphäre tradierte. In einem langen Prozess schälte sich der Gedanke eines abstrakten Individuums als Rechtsträger einer Fülle von Rechten basierend auf Eigentum, Status und Vertrag heraus (Tierney 1997) und die Vorstellung einer dekontextualisierten Individualität kam zum Vorschein (Coleman 1996). In den 1940er Jahren war die Rezeption des Naturrechts nicht mehr selbstverständlich. Das Naturrechtsdenken galt in vielen Bereichen der Theorie fur überwunden. Die Soziologie (Dürkheim, Max Weber) war ebenso wie ein bedeutender Teil der Rechtstheorie (Kelsen, Radbruch) davon überzeugt, dass das Naturrecht entweder eine rein metaphysische Betrachtungsweise oder aber die Strategie einer anti-demokratischen Politik war. Dürkheim folgte der republikanischen Tradition und betonte den engen Zusammenhang von individuellem Recht und politischer Ordnung; Weber anerkannte die Bedeutung der naturrechtli-

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chen Menschenrechtsidee als Wert an, lehnte aber jede Vorstellung ab, es gäbe einen Normenbereich, der sozialen Beziehungen entzogen wäre (König 2002). Kelsen sprach davon, dass der evolutive Sinn des Naturrechts ausgeschöpft sei und es nun im Zeitalter der demokratischen Selbstgesetzgebung und der Arbeitsteilung keine Geltung mehr beanspruchen könne. Wenn das Naturrecht einen Wert habe, so nur, weil es durch menschliche Positivierung einen solchen zugesprochen bekam. Wer von überpositivem Naturrecht ausgehe, argumentiere in der Regel gegen das Prinzip von Mehrheitsentscheidungen und damit antidemokratisch, er will auf eine der Mehrheit entzogene Vorstellung von Ordnung zurückgreifen und so den Volkswillen mit Hilfe einer Kunstfigur eindämmen. An diese Kritik des Naturrechts knüpfte der Ökonomietheoretiker Frank H. Knight in seiner Rezension zu Maritains Naturrechtslehre in der Zeitschrift Ethics (1944, 124-145) an. Ihr folgte seine Replik gegen die Kritiker seiner Maritain-Kritik am gleichen Ort {Natural Law: Last Refuge of the Bigot 1949, 127-135). Knight hielt die Vorstellung einer bei allen Menschen gleichen Natur, von welcher Normen abgeleitet werden können, die der Legitimität durch entsprechendes positives Recht nicht bedürfen, für unhaltbar. Er warf dem Naturrecht vor, eine Haltung einzunehmen, die selbst „autoritär" sei, da sie keine andere neben sich duldet (1944, 134). Eine liberale und demokratische Interpretation der Menschenrechtsidee müsste Knight zufolge vielmehr die Offenheit betonen, wohingegen Maritain dogmatische Schlüsse ziehen würde und das Spektrum schließen wolle. Die Versuchung liege nahe, in den Menschenrechten eine Art Gegenreligion zu der in Diktaturen geübten Denkweise zu sehen, wobei „religiös" das Gegenstück zu „rational" war. Knight wollte deswegen nicht einem kruden Relativismus folgen: Menschenrechte verdienen als Orientierung menschlichen Handelns einen normativen Vorrang, man kann sie aber nicht in Besitz nehmen oder proklamieren in der Meinung, sie zu „haben"; sie sind ausschließlich eine Richtungsangabe eines Fortschritts, der in liberalen Demokratien offen bleiben muss, da ihn niemand präzise prognostizieren kann. Auch Hannah Arendt (1906-1975) kritisierte die Menschenrechtsidee in den Origins of Totalitarianism von 1951. Das Kapitel war „Aporien der Menschenrechte" überschrieben und gehörte zum 3. Teils des Buches (Elemente und Ursprünge 422-470), der erst 1958 in die Neuausgabe der erstmals 1951 veröffentlichten Arbeit aufgenommen wurde. Der Leitgedanke ihrer Kritik geht aber auf frühere Aufsätze zurück, unter ihnen Es gibt nur ein einziges Menschenrecht von 1949. Arendt erklärte darin das Recht auf Staatsangehörigkeit als das erste und entscheidende Menschenrecht. Im Hintergrund stand die Erfahrung, dass Tausende von Menschen, durch die Wirren der Geschichte zu Staatenlosen geworden nun jener Zugehörigkeit beraubt waren, die Arendt später in ihrer politischen Philosophie als die Essenz des Menschseins beschreibt: der zum öffentlichen Raum, in dem und durch den er wirken kann. Arendt ging soweit, den Staatenlosen als den „modernen Sklaven" zu bezeichnen, um zu betonen, wie sehr er der Willkür anderer Menschen ausgeliefert war: sie mochten ihn aus humanitären Gründen „gut" und „menschlich" behandeln, aber das ist bei weitem nicht das gleiche wie die Situation, in welcher jeder seine Bedürfnisse und Probleme als Bürger gelten machen, sich organisieren und am politischen Prozess partizipieren kann. 3) Sklaverei und Frauenrechte Arendts auf den ersten Blick übertrieben anmutender Vergleich des Staatenlosen mit dem Sklaven misst die Menschenrechte anhand ihrer politischen und nicht normativ-ethischen

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Stellung. Ihr politischer Sinn lag im Schutz des Individuums vor der konzentrierten Macht der Politik, und zwar auch dort, wo diese Macht in regulärer Regierungshand liegt und vielleicht sogar demokratisch legitimiert ist. Pfade für den politischen Schutz des Individuums fanden sich auch unabhängig von der Menschenrechtsidee, etwa in der Anerkennung unverfügbaren Eigentums als „Naturrecht", die das Individuum vor dem Kollektiv schützen sollten. Die Aufnahme des Eigentums in den Katalog der von der französischen Declaration geschützten Rechte verstand unter dem Eigentum nicht nur den Besitz, sondern den materiellen Hintergrund personaler Freiheit, weshalb selbst radikale Jakobiner wie Robespierre nie die Existenz eines Eigentumsrechts bestritten hatten, sondern nur seine konkrete Gestalt monierten. Eine Variante des Eigentums ist das Eigentum an der eigenen Person, oder negativ formuliert: niemandes Sklave zu sein. Die Sklaverei ist zunächst Ausdruck für das menschliche Eigentum an anderen Menschen, wie es soziale Praxis von der Antike bis zu den Sklavenhalterstaaten Amerikas bis 1868 war. Diese Praxis war nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts der massenhaften Versklavung durch die Nationalsozialisten keine ferne Erinnerung, weshalb die Allgemeine Erklärung Sklaverei und ähnliche Zustände ausdrücklich verbot (Art. 4). Die Erörterung der Sklaverei begleitete schon die Antike (Garnsey 1996): von der Annahme eines Sklaven von Natur bei Aristoteles {Politik I 5) bis zu Augustinus, der den freien Willen als das Gegenteil der Versklavung durch Laster und Sünde definierte (Vom Gottesstaat XIV 11). Auch später blieb Sklaverei kontinuierlich ein Thema (Davis 1966). Das klassische Naturrecht von Suarez bis Grotius hielt eine freiwillige Versklavung für rechtens (siehe synchroner Diskurs „Naturrecht und Völkerrecht") und auch Hobbes hielt das Versprechen sklavenartigen Gehorsams durch besiegte Menschen als Gegenleistung für ihr Leben für bindend: der Mensch wird vom rechtlosen, aber auch an kein Recht gebundenen Sklaven zum Knecht (Leviathan 20). Der Sklave als Besitz eines anderen Menschen konnte nach humanitären Maßstäben „menschlich" behandelt werden, aber an politischen Maßstäben gemessen reichte das nicht aus: der Mensch ist nur als „freier Mensch" wirklich Mensch, nämlich als Bürger. „Sklave" ist deshalb immer auch die Bezeichnung für den Status des Nichtfreien gewesen (Skinner 1998, 76), dem zu entrinnen nur heißen kann, den Bürgerstatus zu erlangen. Freiheit als Menschenrecht erwuchs also immer auch aus dem Gegensatz zu Sklaverei oder minderen Formen der Sklaverei wie Leibeigenschaft und Knechtschaft (Blickle 2003). In der Frage der Sklavenbefreiung ging das politische Denken der politischen Theorie erheblich voraus. Besonders die Quäker taten sich hierbei hervor. Die Schriften Wilhelm Burlings und später von William Penn 1718, führten zur Abschaffung der Sklaverei im Staate Pennsylvania und dann Delaware. 1772 wurde in England das bahnbrechende Urteil im Somerset-Fall gesprochen: Lord Mansfield, Richter auf der King's Bench, erklärte den Sklaven James Somerset zum freien Mann (Wise 2005). Dieser war mit seinem „Herrn" Charles Steuart aus Virginia nach England gekommen und geflohen, worauf Stuart sein Eigentum einklagen wollte. Mansfield entschied jedoch, dass das englische Common Law keine Sklaven kennt und folgte hierbei seinem früheren Protege William Blackstone, der in den Commentaries diese Auffassung vertreten hatte (1765, I 123): der Geist der Freiheit sei so tief in der englischen Verfassung verankert, dass ein „Sklave oder Neger" dem Naturrecht gemäß sofort frei wird, wenn er den englischen Boden betritt.

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England wurde zur Hochburg im Kampf gegen die Sklaverei. Von hier gingen auch maßgebliche Impulse nach Frankreich aus. Viele französische Aktivisten der Anti-SklavereiBewegung wurden bedeutende Revolutionäre, manche wirkten unmittelbar an der Abfassung der Declaration mit. Die „Societe des Amis des Noirs" wurde 1788 von Brissot de Warville nach englischem Vorbild gegründet. Ihr gehörte auch Lafayette an, Präsident im entscheidenden Jahr 1789 war Condorcet. Dieser verfasste ein Schreiben an alle Amtsbezirke, mit der Bitte, die Abschaffung der Sklaverei in die Beschwerdehefte aufzunehmen. Condorcet hatte schon 1781 in der Abhandlung Epitre dedicatoire aux negres esclaves die unhaltbare Situation der Sklaven beschrieben. Zwar schaffte die Französische Revolution tatsächlich die Sklaverei ab, aber sie setzte dies für die Kolonien nicht um; das Verbot wurde durch Napoleon wieder aufgehoben und erst 1848 endgültig durchgesetzt. 1839 war eine Kommission unter Vorsitz von Alexis de Tocqueville eingesetzt worden, um die Frage zu untersuchen, ob die zu befreienden Sklaven graduell oder mit einem Schlage zu emanzipieren seien (Jennings 2002, 126-128). Tocqueville hatte zu diesem Zeitpunkt den ersten Band seiner De la Democratie en Amerique veröffentlicht, in welchem er bereits die Sklaven-Frage diskutierte. Die Kommission zur Sklaven-Emanzipation kam in ihrem Bericht von 1839 zum Schluss, dass es unmöglich sei, Menschen zu Bürgern zu erziehen, so lange sie Sklaven sind. Jede noch so wohlfahrtlich organisierte, aber künstliche Erziehung zur Freiheit bliebe unbefriedigend. Die Erziehung des Menschen zu einem Wesen, dass mit seinen Rechten umzugehen versteht, begleitete die Sklavenfrage allenthalben. Der Kampf gegen die Sklaverei wurde im Namen der Humanität geführt. Mit Blick auf die Beeinflussung der öffentlichen Meinung intervenierte die Literatur am erfolgreichsten. 1835 veröffentlichte Tocquevilles Freund Gustave de Beaumont, der mit ihm Amerika bereist hatte, einen Roman über das Schicksal schwarzer Sklaven in Amerika (Marie, ou l'esclavage aux etats-unis). Zu diesem Zeitpunkt lag bereits George Sands Roman Indiana (1832) vor, der die Sklavenfrage thematisierte und Analogien in der Unterdrückung von Sklaven und Frauen diskutierte. Sand war es auch, die noch im Erscheinungsjahr von Harnet Beecher Stowes Uncle Tom's Cabin (1852) in La Presse rezensierte, den bei weitem wichtigsten Roman in diesem Diskurs. Europa selbst kannte Sklaverei im engeren Sinne nicht mehr, auch wenn politisch-polemisch immer wieder mit dieser Assoziation operiert wurde, so als Marx im Kommunistischen Manifest sagte, die Proletarier hätten nichts zu verlieren außer ihren Ketten. Der eigentliche Schauplatz der Auseinandersetzung um die Sklaverei waren die USA, wo er ein Kampf gegen politische und ökonomische Interessen und gegen rassische Voreingenommenheit war. Als Thomas Jefferson 3. Präsident der USA wurde (1801-1809), nannten ihn seine Gegner polemisch den „Negro President" (Wills 2003). Dieser Ausdruck verknüpfte verschiedene Aspekte der Sklaverei. Jefferson selbst war Sklavenhalter und kam aus einem Sklavenhalterstaat: In der öffentlichen Debatte prallten schon zu diesem Zeitpunkt, lange vor Ausbruch des amerikanischen Bürgerkrieges die sog. Abolitionisten mit den offensiven Verteidigern der Sklavenhaltung zusammen. Die Quäker hatten 1776 in Pennsylvania den Sklavenhandel abgeschafft. Virginia dagegen hatte zwar die Einfuhr von Sklaven untersagt, nicht aber den Sklavenhandel und die Sklavenhaltung im eigenen Staat. Der andere Aspekt des Ausdrucks „Negro President" berührte den Umstand, dass Jefferson nur wegen der Sklaven zum Präsident gewählt werden konnte. Bei der Zählung der Wahlmännerstimmen in der Präsidentschaftswahl wie bei der

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Verteilung der Sitze im Repräsentantenhaus galt nämlich die Bevölkerungszahl als Maßstab. Die Frage, wer aus der Bevölkerung gezählt werden sollte wurde im Kompromiss zwischen den Sklavenhalterstaaten und den Nichtsklavenhalterstaaten beantwortet, wonach alle Freien gezählt wurden und drei Fünftel der „übrigen Bevölkerung", wie es in der Verfassung von 1787 hieße (Article I, section 2). Gemeint waren hauptsächlich die Sklaven, die freilich nicht wählen durften. Das Stimmgewicht der freien Bevölkerung in den Sklavenhalterstaaten war somit weitaus höher als das der freien Bevölkerung des Nordens, der zu diesem Zeitpunkt jedoch auch sklavenhaltend war. Im Federalist Paper No. 54 verteidigte Madison die „federal ratio"-Bestimmung, wie die Ungleichheit des Stimmgewichts zwischen dem Norden und dem Süden genannt wurde. Das schlechte Gewissen Madisons, selbst Sklavenhalter, kam darin zum Ausdruck, dass er nicht für diese Regelung Partei ergriff, sondern einen fiktiven Anhänger dieser Regelung zu Worte kommen ließ. Nur wenige wagten es in der Öffentlichkeit, mit Gründen für die Sklavenhaltung einzutreten. Dazu zählte John C. Calhoun, Politiker aus South Carolina, der in einer Senatsrede aus dem Jahr 1837 die Sklaverei für ein soziales und ökonomisches Gut erklärte, das auch den Sklaven selbst zu gute komme. Seiner Auffassung nach waren die Aussagen zur Gleichheit des Menschen in der Declaration of Independence nie auf die Sklaven bezogen und wären sie das gewesen, so wären sie einfach unwahr, wegen der seiner Ansicht nach unüberwindlichen Rassenunterschiede, die ein Zusammenleben von Weißen und Schwarzen auf der Grundlage von Freiheit und Gleichheit unmöglich machten (Bartlett 1993, 217-229). Das rassische Vorurteil, vertieft durch vorenthaltene Erziehung, prägte das politische Denken an dieser Stelle stärker als die normativen Schlüsseltexte. Viele Sklavenhalterstaaten unterbanden die geregelte Erziehung von Sklaven und Freigelassenen. North Carolina beispielsweise stellte bis zum Bürgerkrieg das Unterrichten von Sklaven im Lesen und Schreiben unter Strafe. Madison kam aus Virginia, die beiden anderen Autoren der Federalist Papers jedoch, John Jay und Alexander Hamilton aus New York. Der Staat New York war zu diesem Zeitpunkt auch ein Sklavenhalterstaat, New York City nach Charleston die Stadt mit der größten Zahl versklavter Bevölkerung. Hamilton und Jay waren jedoch im Gegensatz zu Madison energische Gegner der Sklaverei. Selbst als Gouverneur des Staates New York gelang es John Jay nicht, die vollständige Abschaffung der Sklaverei zu bewirken, seine entsprechenden Gesetzesvorschläge fanden keine ausreichende Mehrheit. Während Jefferson vorschlug, die freigelassenen Sklaven nach Afrika zurückzuschicken, waren Hamilton wie Jay der Auffassung, dass den Schwarzen ebenso wie den Weißen nichts am Bürgerstatus fehlte außer der entsprechenden Erziehung. Bereits im Unabhängigkeitskrieg und als Adjutant von George Washington hatte Hamilton den Widerstand des Oberbefehlshabers aus Virginia überwinden müssen, der sich weigerte, aus freien Schwarzen Armeeregimenter zu bilden. Nach dem gewonnenen Unabhängigkeitskampf, in dem Schwarze aus New York bereits in der frühesten Phasen als Milizen mitgewirkt hatten, legten Hamilton und besonders Jay großen Wert darauf, Schwarze auf eigene Kosten zu erziehen oder wirkten bei entsprechenden Vereinigungen mit, die dieses Ziel verfolgten. Ein anderes Beispiel für die Schwierigkeiten einer konsequenten und wirksamen Durchsetzung der Menschenrechte war die Frage der Gleichberechtigung der Frau. Die erwähnte Anlehnung von Art.l der Allgemeinen Erklärung an Art. 1 der Declaration veränderte das Vorbild an einem Punkt: der Ausdruck „human being" trat an die Stelle der „hommes" und

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löste den Begriff ab, der sowohl den Menschen wie den Mann meinen kann. Dies war auch eine Reaktion auf die Frauenrechtsbewegung. 1944 verlieh Frankreich das Stimmrecht den Frauen und in einer Preambule von 1946 zur Declaration von 1789 wurde ihr Inhalt ausdrücklich auf die Frauen ausgeweitet (Art. 3), ferner kamen soziale und ökonomische Rechte hinzu. Die Legitimität und moralische Würde der Menschenrechtstradition konnte auch von Autoren beansprucht werden, die bei näherer Betrachtung offenkundig Frauen nicht berücksichtigten. Thomas Paine konnte von den Rights of Man sprechen und meinte ausschließlich Männer. Jacques Thouret legte im September 1789 vor der Nationalversammlung den Bericht des Verfassungsausschusses vor. Er berechnete die Zahl der wahlberechtigten „Aktivbürger", indem er von der Gesamtbevölkerung von 26 Millionen alle Frauen, Minderjährige und die mit „legitimen" Gründen ihrer politischen Rechte beraubten Menschen abzog und so auf ein Sechstel kam. Als 1848 endlich die Sklaverei offiziell aufgehoben war und den Schwarzen die Bürgerrechte zuerkannt wurden, konnten in Paris die sich organisierenden Frauenrechtlerinnen mit dem Kampfruf protestieren, dass sie nun schlechter behandelt wurden als Sklaven. Menschenrechtsaktivisten im 19. Jahrhundert hielten die Emanzipation der Sklaven für wichtiger als die Emanzipation der Frauen (Levin 1992, 175198). Die Thematisierung der Frau als Gegenstand politischer Theorie (Okin 1979; Elshtain 1981) kann mittlerweile auf eine eigene Ideengeschichte zurückgreifen. Die Ideengeschichte ist auch hier ein reiches und seit Jahren genutztes Arsenal, die mehr umfasst als die Ideengeschichte der von Frauen geschriebenen Texte, so bemerkenswert der Ertrag in diesem Feld auch sein mag: von Christine de Pizans (1365-1430) Le livre de la Citi des Dames (1409; gedr. 1521) bis zu Mary Astells (1666-1731) A Serious Proposal to the Ladies 1698 oder Mary Wollstonecrafts Vindication of the Rights of Men (1790) und nicht zuletzt Rosa Luxemburg. Nicht zuletzt der Appell an die Gleichheitsidee der Bibel (Genesis 1, 26-27) gab Frauen die Möglichkeit, politische Gleichberechtigung zu verlangen. Im Zusammenhang der englischen Revolution machten Frauen in ihrer Petition of Women, Affect ers and Approvers of Petition vom 11.9.1648 darauf aufmerksam (Woodhouse, ed. 1938, 367), dass alle Menschen von Gott gleich geschaffen worden seien, weshalb Frauen auch ihrer eigenen Repräsentanten zum Zwecke der Formulierung ihrer eigenen Beschwerden bedürfen. Noch 1945 erinnerte Lauterpacht an diese Zusammenhänge (An International Bill of the Rights of Man 1945, 121). Die christliche Gottesebenbildlichkeit gehörte zu den prägenden Topoi der westlichen Ideengeschichte (Ruston 2004; Stein 2007). John Locke widerlegte Filmer schon deswegen stichhaltig, weil er die Bibel besser auslegte, auf die sich Filmers patriarchalische Politiktheorie berief. Die Genesis habe nicht Adam die Herrschaft anvertraut, sondern Adam und Eva (Treatise on Government I 29). Doch im gleichen Werk äußerte er die Auffassung, natürlicherweise lege die Regierungsgewalt beim Mann als dem stärkeren und befähigteren Geschlecht (II 82). In Vereinigungen wie dem amerikanischen „Anti-Suffrage movement" im 19. Jahrhundert wurde die Meinung vertreten, dass Frauen von Natur aus ungeeignet seien zur Politik; Frauen seien aufgrund ihrer körperlichen oder intellektuellen Unterlegenheit gegenüber dem Mann und wegen der „natürlichen" Abhängigkeit durch Familie und Mutterschaft zum Bürgerstatus nicht geeignet: es ermangele ihnen an einem selbständigen Urteil bzw.

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ihre Abhängigkeit vom Mann erlaube kein unabhängiges Urteil in politischen Fragen. Immanuel Kants Definition des Bürgers legte die Selbstversorgungsfahigkeit als soziale Grundlage fest (Gemeinspruch 150-151), da die Ausübung der Bürgerrechte einer gewissen Unabhängigkeit bedarf, was ausdrücklich Knechte ebenso wie auch Frauen ausschloss. Hinzu kamen Einwände bezüglich der moralischen Auswirkungen politischer Tätigkeit auf die soziale Rolle von Frauen, die in der mütterlichen Aufzucht künftiger (männlicher) Bürger gesehen wurde. Es gab freilich von Anbeginn Autoren, die aus politisch-theoretischen Gründen die geschlechtliche Gleichheit anerkannten. Piaton sah die Erziehung von Frauen zu Wächtern vor (Politeia IV). Lipsius wies die Argumente gegen die politische Partizipation von Frauen (Unvernunft, Leidenschaft) zurück (Politico II 4), sowohl aus theoretischen (Tugend ist nicht abhängig vom Geschlecht) wie aus historischen Gründen (Beispiele großer weiblicher Herrschergestalten zu seiner Zeit wie Elisabeth I). Da Frauen ebenso wie Männer im Überlebenskampf stünden, bezog er sie als Akteure in seine politische Theorie ein. Doch das waren Erwähnungen am Rande der eigentlichen Theoriearbeit, die wie Kuriositäten der Ideengeschichte rezipiert wurden und kaum Einfluss ausübten. Wollte die politische Theorie den Frauen eine relevante politische Akteursstellung zusprechen, war sie gezwungen, die Fähigkeit der Frau unter Beweis zu stellen, mit dieser Rolle auch fertig werden zu können. Die Zeit der Französischen Revolution stellte insofern den ersten Höhepunkt des Kampfes für die Frauenrechte dar. Frauen stellten eigene Verbände revolutionärer Garden, waren beim Barrikadenbau aktiv, beim Zug nach Versailles, beim Sturm auf die Tuilerien. Nicht zufallig waren Condorcet und John Stuart Mill, die beiden profiliertesten männlichen Verfechter der politischen Gleichstellung der Frau, mit Frauen liiert, die aufgrund ihrer intellektuellen Fähigkeiten großen Einfluss auf die Theoriebildung ihrer Partner auch zu anderen Themen als dem der Gleichberechtigung ausübten. Sophie de Grouchy beteiligte sich an den naturwissenschaftlichen Arbeiten ihres Mannes, Harriet Taylor war der vielleicht wichtigste Ansprechpartner Mills. Condorcet hatte an verschiedenen Stellen für die Frauenrechte geworben, am bekanntesten wurde sein Aufsatz Sur I 'admission des femmes au droit de citi (1790). Keine biologischen Besonderheiten hindern an einer vernünftigen Ausübung des Intellekts: so wenig jemandem, der ständig unter Erkältungen oder im Winter an Gicht leidet, diese Fähigkeit abgesprochen werden könne, so abwegig sei dies im Falle der Frau wegen einer Schwangerschaft. Marie Gouze (1748-1793), die sich Olympes de Gouges nannte, veröffentlichte 1791 eine Gegendeklaration zur Declaration (Les droits de la femme), in der sie Gleichberechtigung forderte. Sie hob die ungleiche Position von Frauen in den Verhältnissen der Ehe und der Mutterschaft zum Mann hervor und entwarf zusätzlich noch eine Art Formular, wie Frauen durch Eheverträge diese Nachteile ausgleichen können. Gouze war zuvor durch das Theaterstück L 'esclavage des noirs bekannt geworden, das 1789 an der Comedie Frangaise uraufgeführt wurde und worin sie die Sklaverei als inhuman anprangerte. Sie wurde 1791 guillotiniert. Ein Jahr später veröffentlichte Mary Wollstonecraft die Vindication of the Rights of Women (1792). Die Studie war Talleyrand gewidmet, dessen Erziehungspläne Auslöser ihrer Schrift waren. Alle Emanzipation war für Wollstonecraft wesentlich eine Frage der Erziehung: Sei das Bild von der Frau als dem hauptsächlich mit nichtpolitischen Fragen beschäftigten Geschlecht korrekt, so aus dem einfachen Grunde, dass Frauen nicht die entsprechende Erziehung erfuhren, um ihren Pflichten gerecht werden zu können, die mit ih-

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ren Rechten korrespondierten. Wollstonecraft konzedierte also, dass es sinnvoll sei, die Rechte vorzuenthalten, wenn es unwahrscheinlich ist, dass der Rechtsträger die damit einhergehenden Pflichten erfüllt. Sie verglich die politische und rechtliche Situation der Frauen mit der von Sklaven und sah in beiden Fällen eine nationale Erziehung als Angelpunkt aller Veränderung. Frauen eine solche Erziehung vorzuenthalten war gerade fur eine Republik verderblich, war den Frauen doch die Aufzucht der künftigen Bürger anvertraut. Die effektive Umsetzung der Idee der Menschenrechte in Hinblick auf die soziale und politische Stellung der Frau war das Ergebnis eines langen Kampfes gegen eine Fülle von Vorurteilen und Meinungen, die das politische Denken bis weit in die politische Theoriebildung hinein beherrschten. Die Menschenrechtsidee war in zweifacher Hinsicht dienlich: Sie war ein Indikator für die Inkonsequenz der Durchsetzung der Rechtsidee in einer konkreten Gesellschaft; ihre hauptsächliche argumentative Funktion bestand dabei in der Schaffung eines normativen Bezugsrahmens, um die genannten Institutionen, welche die tatsächliche Nachrangigkeit der Frau im Verhältnis zum Mann verursachten, zu kritisieren. Die Menschenrechte haben dadurch weit mehr bewirkt, als die meisten ihrer Autoren anfangs mit ihrer Proklamierung intendiert hatten. Diese Funktion hält auch heute noch an, und zwar nicht nur in Ländern, die nominell die Menschenrechte als geltend akzeptieren, bei ihrer Umsetzung aber die tradierte Gestalt sozialer Institutionen nur zaghaft zu verändern bereit sind. Das Recht zur Erziehung in der Allgemeinen Erklärung gehört vielleicht zu den wichtigsten politischen Grundrechten des Menschen. 4) Die Tradition des Kosmopolitismus In der Menschenrechtsidee begründet die bloße Zugehörigkeit des Menschen zur „Menschheit" seinen Status; daraus resultiert die Nähe zum Kosmopolitismus (Heater 1996; Carter 2001, 11-72). Diese im Hellenismus entstandene Idee verfolgte keine Weltstaats-Absichten. Der Ausdruck „Kosmopolis" will den Menschen ungeachtet seiner politischen Zugehörigkeit immer auch als Bürger der Welt betrachten, die selbst nicht politisch verfasst ist. Piaton erörterte die Idee der philosophischen Lebensweise als eine von der Polis unabhängige Lebensform (Theaitetos 173e-174a): der Körper gehört der Polis, der Geist aber transzendiert sie, er überschreitet ihre Grenzen (Scholz 1998 73-121). Diogenes von Sinope war der erste, der auf die Frage nach seiner Herkunft antwortete, er sei „kosmopolites" (bei Diogenes Laertios VI 63). Diogenes war Kyniker, zog also das Leben des Hundes dem des kultivierten Menschen vor und sah in der Bedürfnislosigkeit sein ethisches Ideal, das dem klassischen griechischen Tugendideal diametral entgegenstand. Man muss daher den kynischen vom stoischen Kosmopolitismus unterscheiden: Der kynische plädierte für eine weitabgewandte Lebensform der Bedürfnislosigkeit; der stoische dagegen für eine andere Vorstellung von Polis (Schofield 1991, 141-145). Die Stoa lehrte, dass die Vernunft das Wesen des Menschen ausmacht. Das Erkenntnisvermögen eröffnet den Einblick in die vernünftig geordnete Welt, an welcher der Mensch seinen Anteil hat. Die Vernunft verbindet zugleich alle Menschen miteinander. Insofern sind alle Menschen gleich, wenn auch unterschiedlich geprägt. Zenon (etwa 335-263), der Schulgründer der Stoa, sprach von der politeia als einem idealen Gedankenbild; das göttliche Vernunftgesetz mache alle Menschen zu Mitbürgern (Arnim SVF I 61). Er folgte Aristoteles' Lehre vom Menschen als eines auf Politik bezogenen Lebewesens, nur dass die geltende Polis die Kosmopolis war und der Gehorsam dem allmächtigen Weltengesetz galt (Scholz 1998, 345-346). Wie mög-

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liehe Loyalitätskonflikte zu lösen seien, blieb weitestgehend unerörtert. Für Chrysippos (etwa 280-206) schließlich war nicht mehr die polis, sondern die Kosmopolis der Ort des Zusammenlebens von Menschen und Göttern (Arnim SVF II 328; III 81-82). Der stoische Kosmopolitismus war anti-militaristisch: die weltumspannende Megapolis kennt keine Feinde und bedarf daher auch keiner Waffen zu ihrer Verteidigung (Scholz 1998, 336). Daher war das Bild von der Menschheit als einer friedlich grasenden Herde beliebt, gehegt durch das gemeinsame Gesetz. Das Bild von der Herde war der Anknüpfungspunkt für das Christentum, in welchem Gesetz und christlicher Gott gleichgesetzt wurden. Die Menschheit ist die Herde Gottes, und umfasst sowohl Christen wie Heiden (Tertullian, De pudicitia 7, 6 und 11). Die Analogie zur Herde rief freilich immer auch das Bild vom König (Xenophon, Kyropaedia I 1,2) bzw. des Politikers als Hirten hervor (Piaton Politikos 265-268; 274-276; 94101). An seine Stelle trat der Papst als oberster und zugleich stellvertretender Hirte. Der Weltherrscher konnte seinen imperialen Anspruch mit der Weltfriedensidee rechtfertigen. Das römische Reich identifizierte sich gerne als orbis terrae (Vogt 1929). Cicero beschrieb den Senat als Ort, wo die ganze Welt ihre Klagen vorbringt (Catilina 1, 9). Die christliche Kirche als geistliche Idee gab sich eher den Anschein des Weltstaatsersatzes, so bei Irenäus {Adversus Haereses 1,10,2, geschrieben etwa 180) und im frühen 3. Jahrhundert bei Tertullian (Apologeticum 37). Dieser hob auch hervor, dass die Kirche bereits größer sei als das Reich Alexanders (Adversus ludaeos 7; Schneider 1954 II 326). Das gesamte Naturrecht beinhaltete kosmopolitische Überlegungen, aber viele ersetzten die Weltstaatsidee durch das Modell der Föderationen, zumal in der Aufklärung. Den vielen kosmopolitischen Modellen der Aufklärung (Schlereth 1977) fügte das spätaufklärerische Deutschland nur weitere Varianten hinzu (Kleinfeld 1999), darunter Immanuel Kant. Er rezipierte dabei die Stoa (Nussbaum 1994) und verknüpfte Elemente der Gesellschaftsvertragstheorie und damit des modernen Individualismus (Cheneval 2002, 403-622) mit geschichtsevolutiven Modellen (siehe diachroner Diskurs „Frieden und Krieg"). In der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) hatte Kant die Entwicklung der Menschheit als ein Zulaufen auf die Vorstellung einer alle Menschen umfassenden Gemeinschaft definiert. Als Indiz hierfür betrachtete Kant im Ewigen Frieden den Umstand, dass Ungerechtigkeiten an einem Ort der Welt an allen anderen Orten von Menschen zur Kenntnis genommen und diskutiert wurden, als seien sie selbst davon betroffen. Kant lehnte jedoch ausdrücklich die Weltstaatskonzeption ab und begnügte sich mit dem Recht des Menschen als Weltreisenden, dem von Kant „Hospitalität" genannten Gastrecht, das er als Kern des Weltbürgerrechts ansah (Zum Ewigen Frieden 3. Definitivartikel, Werke XI 213). Allerdings kann der Gaststaat dieses Recht verweigern, wenn die Grenzschließung nicht zum Tode des Gastes in dem Land führt, aus dem er einzureisen versucht. Kant formulierte hier auch eine Art Flüchtlingsrecht (Kleinfeld 1999, 514). In der Metaphysik der Sitten (§ 62) legte er das „ius cosmopoliticum" als Verkehrsrecht des Händlers fest. Kants Kosmopolitismus meinte Weltbürgerschaft und behandelte nicht die Konturen einer weltumfassenden politischen Ordnung. Gerade das Völkerrecht im 19. und dann im 20. Jahrhundert nach dem Ersten Weltkrieg bemühte sich um eine Umsetzung des Menschheitsgedankens in einem die Nationalstaaten umfassenden Ordnungsmodell. Mit Wegfall universaler politischer Faktoren wie dem Reich oder der Kirche wurde im Völkerrecht die Idee der „zivilisierten" Staatenwelt prä-

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gend (Koskenniemi 2001, 11-97). Die zivilisierte Staatenwelt unterschied sich von den „unzivilisierten", gelegentlich auch „barbarisch" genannten politischen Ordnungen durch die Form des politischen Umgangs. Nach der in diesem Punkt repräsentativen Meinung des Schweizer Politikwissenschaftlers und Völkerrechtlers Johann Caspar Bluntschli (1808-1881) strebten alle Länder zur Zivilisation, die sich dadurch auszeichnete, dass der Geist die Herrschaft über das „Thierische in der menschlichen Natur" erringe und im Felde der Politik Konflikte nicht mit Gewalt ausgetragen werden (Civilisation in: Deutsches Staats- Wörterbuch II, 1857, 510-515). Diesen Ansatz formulierte Bluntschli dann in dem Buch Das moderne Völkerrecht der civilisierten Staaten von 1866 systematisch aus. War Zivilisation das Telos der Menschheitsentwicklung, ließ sich eine Rangfolge unter den politischen Ordnungen formulieren nach dem Grad der bereits erreichten Zivilisierung. Die europäischen Großmächte fühlten sich für die Einhaltung der Standards dieser Zivilisation verantwortlich und intervenierten auch, wo diese verletzt wurden; sie rechtfertigten ihr Expansionsstreben zugleich mit dem Vorwand, die Zivilisation in der Welt verbreiten zu wollen. Auf der anderen Seite erlaubte diese Zivilisationsvorstellung auch die Formulierung eines formlichen Kriegsrechts (als Ergebnis der Haager Landkriegskonferenzen von 1899 und besonders 1907) oder den Aufbau einer der ersten international wirksamen Nichtregierungsorganisationen wie das 1864 gegründete Internationale Kommittee vom Roten Kreuz, welches maßgeblich zum Zustandekommen der Genfer Konvention von 1864 zum Umgang mit Kriegsbeteiligten beitrug. Das Rote Kreuz ist ein Verein Schweizer Bürger, das seit 1949 als Völkerrechtssubjekt anerkannt, also den Staaten gleich gestellt ward. In Verfolgung eines einzigen konkreten Zieles, der Linderung unnötigen Leides, welche die Konfliktparteien mangels Neutralität einander nicht zugestehen, begründete es eine Linie von nichtstaatlicher politischer Organisation auf der internationalen Bühne, die erst nach dem Zweiten Weltkriegs großes Gewicht bekam. Mit dem Ersten Weltkrieg brach diese Zivilisationsvorstellung zusammen. Der Völkerbund übernahm zwar noch stellenweise die Tradition der älteren Zivilisationsvorstellung. So war in seiner Satzung von 1919 davon die Rede, dass die internationalen Beziehungen auf „Gerechtigkeit und Ehre" gegründet sein sollten (Art. I 3). Die leitende Zivilisationsvorstellung war in der Idee der Nation verkörpert, was sich daran zeigte, dass die Völkerbundsatzung zwischen den fortgeschrittenen Nationen und jenen Völkern unterschied, die sich erst im Prozess der Nationalstaatswerdung befanden; letztere bei diesem Prozess zu begleiten wurde als „sacred trust of civilisation" definiert (Art. 221). An die Stelle der Zivilisation trat die „Welt" und die prägnanteste Ausformulierung dieser Idee in politisch-theoretischer Hinsicht war das universalistische Völkerrecht. Hans Kelsen formulierte nach dem Ersten Weltkrieg die Idee des normativen Universalismus, der die einzelnen Staaten umspannt und ihnen normenlogisch, also gedanklich vorausgeht. Zu zeigen, dass diese gedankliche Voraussetzung der Rechtsordnung bereits in der internationalen Staatenwelt praktiziert werde, war das Anliegen von Kelsens Schüler Alfred Verdroß (1890-1980). In seinen Büchern Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung von 1923 und Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft von 1926, ging Verdroß von der universalistischen Struktur der gesamten Rechtsordnung aus. Er bezeichnete das Völkerrecht als „Verfassung", wobei er diesen Begriff im aristotelischen Sinne verstanden wissen wollte, also als Ausdruck für die faktischen Grundnormen einer bestimmten Ordnung, ob kodifiziert, geschrieben oder als gedankliche Vorausset-

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zung. Als oberste Grundnorm definierte Verdroß die Maxime „pacta sunt servanda" (eingegangene Verträge müssen gehalten werden). Eines seiner ideengeschichtlichen Vorbilder (Einheit des rechtlichen Weltbildes 100-101) war dabei William Blackstone, der im 4. Buch seiner Commentaries on the Laws of England gesagt hatte, dass jede englische Gesetzgebung, die gegen geltendes Völkerrecht verstößt, den Ausschluss dieses Landes aus dem Kreis der zivilisierten Welt bedeuten würde. Den Universalismus in den Begriffen des Völkerrechts zu etablieren und dabei das Völkerrecht als Recht und nicht nur als normativ kristallisierten politischen Willen zu begreifen, der von der Politik abhängig bleibt, scheiterte zunächst an dem Umstand, dass auf unerwartete Weise Länder wie Italien und Deutschland den zivilisatorischen Kernbereich der Staatenwelt verließen und einem Politikverständnis folgten, das noch hinter die Verhaltensweisen zurückfiel, die im 19. Jahrhundert als „barbarisch" bezeichnet wurde, was mit dem Ausstoß aus dem Kreis der gleichberechtigten Staaten endete. War die Möglichkeit des Umschlags ehemals zivilisierter Staaten in Barbareien Umstand ein Beweis für die Nichtexistenz der Universalität oder geradezu Beleg hierzu? Was war der Beitrag der Staaten an Genese und Geltung der Normen? Kelsens Universalismus konkurrierte mit dem Dualismus, wie ihn maßgeblich Heinrich Triepel (1868-1946) formuliert hatte: Völkerrecht und Staatenrecht gehören zwei verschiedenen Rechtsordnungen an (Völkerrecht und Landesrecht 1899). Immerhin machte Triepel die Geltung des Völkerrechts nicht von der Anerkennung einzelner Staaten abhängig, sondern von dem Gemeinschaftswillen der Staaten: das Völkerrecht entsteht gemeinschaftlich und kann auch nur gemeinschaftlich abgeändert werden (S. 88). Schloss dies die Möglichkeit ein, dass es verschiedene völkerrechtliche Ordnungen geben konnte mit unterschiedlichem „Gemeinwillen"? In diesem Sinne hatten deutsche Völkerrechtler, namentlich Carl Schmitt, nach 1933 behauptet, unterschiedliche Gemeinschaften mit unterschiedlichen Leitnormen seien zugleich der Kern unterschiedlicher „Großraumordnungen". Schmitt hatte in seiner Broschüre der Begriff des Politischen von 1932 postuliert, dass die Welt kein Universum einheitlicher Rechtsprinzipien sei, sondern ein Pluriversum formal gleichrangiger Staaten. Nach 1933 passte er seine Theorie den Bedürfnissen der nationalsozialistischen Außenpolitik an und formulierte das Konzept der „Großraumordnung" (Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte 1939), in welchem einzelne Machtsphären (Schmitt dachte vor allem an Deutschland als kontinentaler Macht, Großbritannien als Seemacht und die USA) so voneinander abgegrenzt sind, dass in ihnen jeweils unterschiedliche internationale Rechtsmaßstäbe gelten. Das konnte aber auch so ausgelegt werden, dass die Ausbeutung der von Deutschland eroberten Gebiete keiner übernationalen Wertung unterzogen werden durfte. Die Einheitlichkeit der zivilisatorischen Maßstäbe dauerhaft zu sichern bezweckten Weltstaatsentwürfe (Heater 1996, 156-164), die im Umfeld der Menschenrechtsdiskussionen entstanden. Sie reichten von den Völkerbundskonzeptionen bis zu Vorstellungen einer Weltregierung, alle von der Leidenschaft angetrieben, dem Frieden dauerhafte Konturen zu geben. Meist erblickte man im nationalstaatlichen Eigeninteresse die eigentliche Ursache der Kriege (Mangone 1951). In dem von Literaten und Wissenschaftlern 1940 veröffentlichten Aufruf The City of Man. A Declaration on World Democracy, an dem u.a. Herbert Argar, Hermann Broch, Hans Kohn, Thomas Mann, Lewis Mumford, und Reinhold Niebuhr beteiligt waren, wurde die Idee eines „Universal parliament" mit einem gewählten Präsidenten, dem „Presi-

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dent of Mankind" vorgeschlagen, der mit föderaler Gewalt „anarchy and felony" bekämpfen sollte. Hinzu kamen Weltstaatsmodelle aus der Feder von Romanciers wie die positiv gemeinte Visionen technischer Expertenherrschaft bei H.G. Wells (1866-1946) (The Work Wealth and the Happiness of Mankind 1932), die sich über die antiquierten Staatsgrenzen hinwegsetzen. Mit umgekehrten Vorzeichen skizzierte George Orwell (1903-1950) in seinem Roman 1984 (1949) das Szenario totalitärer Herrschaft, in welchen politische Eliten ihre Macht auch durch permanente Kriege zwischen kontinentaler Blöcke zementieren. Orwell teilte nicht die optimistische Stimmung einer durch die UNO gesicherten Friedensordnung, sondern prognostizierte in der aufziehenden Blockkonfrontation mit ihrer ideologisch geprägten Außenpolitik und der polizeistaatlichen Struktur im Innern die zukünftige Problematik. Zugleich war das Buch ein Fanal gegen die Unterdrückung des Individuums. Aus der Perspektive des Protagonisten Winston werden die Schrecken einer totalitären Herrschaftspraxis beschrieben, in welchen Orwell die massenpsychologischen Debatten seiner Zeit verarbeitete („Hassschaltung"). Auffallig war Orwells in 1984 eingeflochtener Essay zur Herrschaftstechnik des „oligarchischen Kollektivismus" {1984, 185-218), der mit Hilfe der Beeinflussung des Denkens („doublethink") wie der Sprache („newspeak") die Menschen manipulierte. Zum „newspeak" fügte Orwell sogar als Appendix eine Art Essay ein, welcher aller Ironie entbehrt (1984, 301314). Hintergrund war Orwells bereits zu Beginn der 1940er Jahre einsetzende Kritik an Überlegungen, die ideologieträchtige Politik durch die Reinigung der Sprache von allen Ambiguitäten zu befreien (Joseph/Love/Taylor 2001, 29-42). In seinem Aufsatz Politics and the English Language von 1946 beschäftigte sich Orwell mit einer entsprechenden Studie von Stuart Chase (Tyranny of Words 1938), der wiederum an die linguistischen Arbeiten von Charles K. Ogden und Ivor Α. Richards (The Meaning of Meaning 1923; 1930; 1936) anknüpfte. Ogden und Richards wollten ein „Basic English" schaffen, in welchem 850 Wörter und einige Grundregeln ihrer Kombinatorik 20.000 Wörter ersetzen und 8.000 Verben überflüssig machen sollten: ein Vorhaben, das sehr an Orwells totalitärer Kunstsprache des „newspeak" erinnerte. Die Klarifizierung der Sprache sollte ihrem ideologischen Missbrauch einen Riegel vorschieben, aber Orwell erkannte in der Freiheit der Sprache ein letztes Refugium individueller Freiheit vor der Politik des „Ministeriums der Wahrheit". Auch die in der Allgemeinen Erklärung benutzten Begriffe zur Festlegung der Menschenrechte erwiesen sich nicht als so eindeutig, wie es sich die Verfasser gewünscht hätten: Individualismus oder Kollektivismus, Gleichheit im Verhältnis zur Freiheit, kulturelle Prägung oder universaler Gehalt. Auch hier wäre alle semantische Festlegung als Vermeidung der politischen Auseinandersetzung nicht nur vergebens, sondern vielleicht sogar gefährlich für den ursprünglichen politischen Sinn der Menschenrechte: den Schutz vor politischer Macht. Die Menschenrechte als Lösung oder als Ziel der politischen Entwicklung zu betrachten, vereint in sich Elemente, die an geschichtsphilosophische, weltgeschichtliche Versuche erinnern. 1949 veröffentlichte Karl Löwith (1896-1973) seine Studie über das Verhältnis von Weltgeschichte und Heilsgeschehen (Meaning in History. The Theological Implications of the Philosophy of History), worin er von zwei großen Konzepten des Geschichtsverständnisses ausging: dem zyklischen Modell der Antike und dem eschatologisehen der monotheistischen Religionen. „Eschatologisch" sind alle Modelle, in welchen die Geschichte als auf letzte Ziele zustrebend begriffen wird. Aufgrund der ideengeschichtlichen Prägung sei dies unabhängig davon, ob die Theoriebildner gläubig sind oder nicht. Löwith zählte zum escha-

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tologischen Modell auch alle Vorstellungen, eine „bessere Welt" erschaffen zu wollen. Daran erinnerten ihn gegenwärtig die Versuche, Nationen zu verwestlichen oder einer „reeducation" zu unterziehen (203). Geschichte lasse sich auch nicht mit Vernunftgründen rekonstruieren, sie scheint eher ein Produkt von Zufall und Schicksal zu sein. Gleichwohl bedarf der Mensch der Prognose und hierzu bedient er sich der Sinnkonstruktion, in der Geschichte einen Ablauf zu sehen, der auf ein Ende zustrebt. Löwith mahnte an, Weltgeschichte nicht mit Heilsgeschehen zu verwechseln, Fakten nicht mit Wünschen zu vermengen. Die Idee der Menschenrechte ist zugleich das Resultat einer sehr langen politischen Denkbewegung und setzt diese voraus. Die Erklärungen der Menschenrechte fielen ebenso wenig vom Himmel wie die Zustimmung zu ihnen eine natürliche Reaktion war. Schon die Überzeugung, dass Menschenrechte ein alternativloses Gebot der Ethik sind, bedarf einer entsprechenden politischen Kultur; die Gewährleistung des politischen Raumes, in welchem Menschenrechte nicht nur gelten, sondern wirklich werden können, bedarf der Kenntnis der politischen Ideengeschichte, aus deren Vielfalt die Idee der Menschenrechte nicht von alleine emporstieg, sondern hierzu der aktiven Rezeption ihrer Anhänger bedurfte und weiter bedarf. Auf den ideellen Trümmern des Ersten Weltkrieges stehend endete Max Weber seinen vor Studierenden gehaltenen Vortrag Politik als Beruf mit der Bemerkung, das politisch Mögliche lasse sich oft nicht erreichen, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen wird. In diesem Sinne ist die Idee der Menschenrechte die unverzichtbare politische Utopie des Westens, eine Einladung an die Menschheit, die nicht von allen angenommen wird und zugleich wie keine andere Idee der freiwilligen Zustimmung bedarf, um wirklich zu werden.

7. Ausblick Das Zeitalter der Demokratie ist selbstverständlich mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nicht zum Abschluss gekommen. Man kann sagen, dass der Siegeszug der Demokratie erst nach dem zweiten Weltkrieg richtig einsetzte. Das repräsentative System der Demokratie wurde nicht nur zum hegemonialen Modell, es nahm diskursiv auch Züge einer Ideologie an und zwar einer Gegenideologie zu der staatssozialistischen Ideologie des Ostblocks, die unter dem systemvergleichenden Rubrum des Totalitarismus analysiert und dabei zugleich abgewiesen wurde. Der kalte Krieg und die Blockkonfrontation brachten somit eine gewisse Erlahmung der institutionell-theoretischen Auseinandersetzungen innerhalb der Demokratietheorie. Die Varianz und der Reichtum an Alternativen, welche noch die Zwischenkriegszeit ausgezeichnet hatten, machten der Hegemonie des westlichen Demokratieideals Platz. Dieses wurde nun als das „entwickelte" politische System der modernen industriellen Gesellschaft angesehen, was retrospektiv hieß, es als das Telos der ideengeschichtlichen Evolution zu begreifen. Ideengeschichtliche Deutungskämpfe fanden gleichwohl statt, wie beispielsweise in den 1960er Jahren mit der behutsamen Neurezeption von Modellen der direkten Demokratie aus der Hochzeit des Rätegedankens (Bermbach 1973). Aber Autoren wie Ernst Fraenkel, die die Demokratieidee mit dem Parlamentarismus identifizierten, werteten solche Diskussionen geradezu als Systemangriffe und versuchten ihnen mit scharfen anti-rousseauistischen Attacken den ideengeschichtlichen Boden zu entziehen (Deutschland und die westliche Demokratie

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V Das Zeitalter der Demokratie

1964, erweitert 1991). Mit dem funktionierenden Verfassungsstaat verlagerten sich zudem zahlreiche Polity-Debatten in das Feld der Verfassungsgerichtsbarkeit. Die rechtliche Betrachtung des Verfassungsstaates benutzte indes eine Terminologie, die geeignet war, die Diskussion von der breiten Öffentlichkeit abzuschirmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zunächst die politischen Parteien zu den Handlungszentren der Demokratie; nach zwei Jahrhunderten nicht nachlassender Kritik erlebten sie nun eine ungeahnte Zustimmung. Dies hatte wiederum mit dem Erfahrungsraum der Zwischenkriegszeit zu tun. Theoretiker wie Gerhard Leibholz, die während der Weimarer Republik noch die metaphysischen Grenzen des Repräsentationsgedankens abgeschritten waren, konzentrierten sich nun auf die Theorie der Parteiendemokratie (Strukturprobleme der modernen Demokratie 1958). Aber die - oft ungerechte - Unzufriedenheit mit der Leistung der Parteien sowie das stets drohende Problem der Korruption in festgezurrten Netzwerken von Machtinteressenten ließen das Pendel wieder in die Richtung autonom organisierter „Bewegungen" ausschlagen. Die etablierten Parteien identifizierten sich mit der bestehenden Demokratie, was die grundsätzlicheren Kritiker dazu brachte, andere als parteipolitische Foren zu suchen. Nachdem der Korea-Krieg noch eine große Zustimmung in den demokratischen Bevölkerungen erfahren hatte, brachte der Vietnam-Krieg die Wende. Ausgehend von der Studentenbewegung formierten sich überall nicht- oder außerparlamentarische Gruppen, die ihren verhallenden Protest zu einer Systemkritik radikalisierten. Das war auch ein Generationenkonflikt. Die Studentenbewegung war aus sich heraus nicht imstande, institutionelle Alternativen zu entwickeln. Die von Hannah Arendt angemahnte Differenzierung zwischen Macht und Gewalt blieb unverstanden {On Violence 1970). Erst im Begriff der Zivilgesellschaft wurde ein - wie es schien - neuartiges politisches Konzept entdeckt, das auf einer Ebene unterhalb des Nationalstaates und der herkömmlichen politischen Akteure Selbstorganisation und Autonomie thematisierte. Zivilgesellschaft war aber in vielem nichts anderes als der ältere Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft", der Hoffnungen und Erwartungen weckte, die ideengeschichtlich aus dem Umkreis der republikanischen Bürgergemeinde und der Tocquevilleschen Assoziationenlehre vertraut waren. Das Konzept der Zivilgesellschaft trat zunächst im staatssozialistisch still gestellten Mittelosteuropa hervor, allen voran die Charta 77-Bewegung um Vaclav Havel (Mastnak 2005). Unterhalb der machtpolitischen Ebene von Nationalstaat und Einheitspartei wurde die „Macht der Machtlosen" begründet und leitete die friedliche Revolution des Jahres 1989 ein. In ihm lebt die aristotelische Bürgergesellschaft wieder auf. Der demokratische Nationalstaat schien unter dem Eindruck des großen Zuspruchs für die Zivilgesellschaft im Innern wie unter dem Druck der internationalen Strukturveränderungen (Globalisierung), die einer transnationalen Neuorientierung der Politik den Weg zu bahnen schien, zu einem Modell der Vergangenheit zu werden. Ereignisse wie Nine/Eleven und die Revitalisierung des Nationalstaates unter geradezu klassischer Betonung seiner exekutiven Komponenten zeigen jedoch, wie rasch sich unter dem Eindruck intensiver Konflikte das Problembewusstsein wandeln kann und mit ihm die Aufmerksamkeit für politische Modelle. Schien der „demos" in einer Gemengelage von zivilgesellschaftlichen Aktionsforen zu diffundieren und mit Wegfall des Blockkonflikts der Weg frei zu sein für anspruchsvolle Politikmodelle jenseits des Nationalstaates, hat es nun den Eindruck, als sei der Nationalstaat wieder unentbehrlich geworden.

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Das exekutive Selbstverständnis des demokratischen Nationalstaates vermochte es in jüngster Zeit zuvor für unantastbar gehaltene Prinzipien der Demokratie plötzlich in Frage zu stellen. Waren zuvor liberale Grundsätze von Personen- und Meinungsfreiheit so weit in das juridische Gehäuse des Verfassungsstaates eingebettet, dass sie dem politischen Prozess entzogen waren und gerade dadurch auch ein höheres Rationalitätsniveau ihrer Diskussion und anhaltenden Anpassung an den Gesellschaftswandel ermöglichten, hat sich wieder mit Macht das politische Könnensbewusstseins zurückgemeldet, und das Gut der Sicherheit über alle anderen Güter gestellt - auch um den Preis der demokratischen Zivilisation, die in fast gänzlich rechtsfreien Räumen einfach außer Kraft gesetzt wurde: Vorgänge sind hierbei zu beobachten, die noch wenige Jahre zuvor für undenkbar und atavistisch angesehen worden wären. Ob dies nur vorübergehende Erscheinungen sind, vom Diktat eines Bedrohungszenarios ermöglicht und vor dem Hintergrund einer Atmosphäre der Furcht entstanden, das geeignet ist, Citoyens wieder in engstirnige Bourgeois zurück zu transformieren, wird abzuwarten bleiben. Die demokratischen Verfahren und Grundprinzipien setzen ein zivilisatorisches Umfeld voraus. Demokratie ist also nicht neutral, was dieses Umfeld anbelangt: sie muss es schützen, um ihre eigene Funktionsfahigkeit zu gewährleisten. Gesetzesgehorsam, Akzeptanz der Mehrheitsregel, Verallgemeinerungsfähigkeit über die individuellen Präferenzen oder den Gruppennutzen hinaus, Lernfähigkeit, Respekt, Sinn für demokratische Autorität, all diese Aspekte sind keine anthropologischen Konstanten, sie sind Resultate der Zivilisation und stehen und fallen mit ihr. Die demokratische Zivilisation kann ihre Kraft aus sehr unterschiedlichen Wurzeln ziehen, die in sehr verschiedenen religiösen und kulturellen Böden ruhen. Religionen wie das Christentum oder Kulturen wie die urbane Lebenswelt sind nicht in ihrer Ganzheit demokratieforderlich gewesen, sondern meist nur in bestimmten Teilaspekten. Nicht das Christentum als solches hat sich in all seinen Spielarten als demokratieforderlich erwiesen, sondern nur ein Ausschnitt hieraus. Auch der Protestantismus war nicht immer demokratieförderlich außerhalb des eigenen lokalen Gesichtskreises der Gemeinde und die katholische Transnationalität führte zu zahllosen Problemen in Hinblick auf die politische Loyalität. Umgekehrt sind der Verzicht auf die Verbindlichkeit von Normen und die Förderung von Atheismus, Pluralismus und die demokratische Toleranz, welche totalitären Ideologien zu spät Paroli bietet, keine Garantien für den Fortbestand der Zivilisation. Die Ideengeschichte des Westens lehrt, durch wie viele Konflikte hindurch das Politikverständnis gehen musste, um sich mit der Idee der Demokratie zu identifizieren. Diese Idee wurde vor zweieinhalbtausend Jahren erfunden und hat sich erst vor weniger als einem dreiviertel Jahrhundert endgültig durchsetzen können. Dazwischen lagen vor allem konfessionelle Bürgerkriege, die um des rechten Glaubens willen das Leben der Mitmenschen nicht als der Güter höchstes respektierten. Doch nicht nur religiöse Dogmen, die mit Absolutheitsgeltung Anerkennung suchten, auch politisch-weltanschauliche Denkmuster mit ähnlichen Geltungsansprüchen versuchten den Begriff des „Volkes" für sich alleine und unter Ausschluss anderer Deutungsmöglichkeiten zu reklamieren. Daher ist das „Volk Gottes" kein per definitionem demokratischer Begriff und die „Volksgemeinschaft" erst recht nicht. Religionen wie Weltanschauungen mussten sich zivilisieren, um freiwillige Anerkennung bei allen zu finden und die Zivilisationen zu bereichern, statt sie zu bekämpfen: sei es, dass sich im Laufe des oft blutigen Ringens diese Ansprüche abstumpften und erschöpften, sei es, dass diese Geltungsansprüche niedergerungen werden mussten und gemäßigten Formen wichen.

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V Das Zeitalter der Demokratie

Die politische Ideengeschichte des Westens ist voll von diesen politisch-existenziellen Konflikten, die stets zuerst im Kopf ausgetragen wurden, bevor sie die Handlungen der Menschen bestimmten. Die politische Ideengeschichte bietet ein gewaltiges Reservoir an Exempla und Modellen, die diese grundsätzlichen Konflikte veranschaulichen und zugleich die Lernfähigkeit steigern, mit ihnen umzugehen. In den wenigsten Fällen übernahmen bestehende politische Ordnungen die Demokratieidee als fertiges Programm von außen, sondern amalgamierten sie mit den jeweils bestehenden politisch-kulturellen Gegebenheiten, damit sie von den Bevölkerungen, die nun als „Volk" die Last des Politischen selbst zu tragen hatten, als tragfahig akzeptiert werden konnte. Offenkundig kann man diese Konflikte nicht umgehen oder völlig vermeiden, aber man wird sie vielleicht durch intensive Lernbereitschaft abkürzen und so auch die Opfer reduzieren können.

Schlussbetrachtung Archiv- und Arsenalfunktion der politischen Ideengeschichte des Westens sind mit den 1940er Jahren nicht zum Stillstand gekommen, auch wenn die Menschenrechtsidee einen unzweifelhaften Kulminationspunkt darstellte, der die unterschiedlichsten Ideen auf eine neue Art und Weise verknüpfte. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist daher eine diskursive Zäsur, aber weder der ultimative Inhalt noch das Ende der politischen Deutungskämpfe gewesen. Die kulturellen und religiösen Konflikte fokussierten sich aber mit der Einstellung auf die Menschenrechtsidee neu. Die Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948 erhielt in Gestalt der afrikanischen (1981), arabischen (1990), asiatischen (1993), und anderer Menschenrechtserklärungen Geschwister: Sie ähneln einander, unterscheiden sich scheinbar nur in semantischen Details wie dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit, Person und Gemeinschaft. Aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Differenzen im Detail Unterschiede ums Ganze bedeuten und unterschiedliche Zivilisationsvorstellungen verraten, allein schon gemessen an dem Status, der jeweils dem Individuum eingeräumt wird. Die westlich geprägte Vorstellung der Menschenrechte ist weder konsistent noch ohne innere Spannungsbögen. Es bedurfte zahlloser, teilweise äußerst intensiv geführter Konflikte, um immer wieder aufs neue Rangverhältnisse zwischen Normen zu klären. Freiheit und Gleichheit standen und stehen nicht in einem harmonischen Verhältnis zueinander, ähnlich die Demokratie und die Menschenrechte. Junge Demokratien mit dem Anspruch auf souveräner Selbstbestimmung können den Verdacht haben, das die Übernahme der Menschenrechtsidee zugleich eine Einschränkung ihrer politischen Gestaltungsfreiheit bedeutet. Als „Menschenrechtsimperialismus" denunziert wird die Idee der Menschenrechte als Trojanisches Pferd gewertet. Man kann nun mit philosophischen Gründen hoffen und den theoretischen Nachweis fuhren, dass Demokratie und Menschenrechte in einem Verhältnis der „Gleichursprünglichkeit" zueinander stehen (Habermas, Faktizität und Geltung 1992). Die kantianische Beweisführung, die der Denkmöglichkeit einer harmonischen Vereinigung von Demokratie und Menschenrechten nachzuweisen, beschränkt sich auf den Bereich der Geltung, nicht den der Genese. Von der Genese dieser Ideen her betrachtet mussten sich beide Überlegungen in Jahrhunderte anhaltenden Deutungskämpfen durchsetzen und immer wieder neu behaupten und es mag sein, dass die Geltungsvermutung ohne die vorangehenden Deutungskämpfe nicht möglich ist. Das dämpft Erwartungen, die bloße Proklamation von Demokratie und Menschenrechten mache diese Ideen bereits politisch wirksam. Immerhin lässt sich aber vermuten, dass die Kenntnis der Ideengenese hilft, die Länge der Deutungskämpfe abzukürzen und so auch die Zahl der Irrtümer zu verringern. Schon die Diskussion des Verhältnisses von Demokratie und Menschenrechten zeigt, dass die Debatten nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder an die Tradition anknüpfen konnten. Die Annahme der Möglichkeit eines solchen Anknüpfens war nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst erschüttert worden, da die Entwicklung atomarer Waffen und die Fähigkeit ihrer geostrategischen Einsetzbarkeit die diskursive Struktur der Debatte komplett gewandelt

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Schlussbetrachtung

zu haben schien. Doch bald schon reagierte das veränderte Problembewusstsein auch hierauf mit neuen Rezeptionen, beispielsweise mit Raymond Arons Neuinterpretation von Clausewitz (Penser la guerre 1976) oder Hans Jonas' Neurezeption Kants zum Zwecke der Formulierung einer Ethik im Lichte des atomaren Zeitalters (Das Prinzip Verantwortung 1979). Die ältesten Texte wie Aristoteles' Politik erlebten im Neo-Aristotelismus (Gutschker 2002) intensivste Neurezeptionen, so wie auch Marx immer wieder neu rezipiert wurde, und zwar in der veränderten geopolitischen Lage der Unabhängigkeitskriege und der Entwicklungspolitik einerseits sowie in veränderten kulturell-politischen Milieus der Studentenschaft andererseits (Herbert Marcuse). Mit dem „cultural turn" der Sozialwissenschaften gelangten Fragen, die auf der normativen oder institutionellen Ebene nur unzureichend in den Blick gerieten, in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie behandeln die mentalen Gewohnheiten, die auch das politische Denken erheblich beeinflussen. Im Vergleich hierzu bekam die politisch-institutionelle Theoriebildung den Anstrich einer konservativen Bestandserhaltung. Die mit dem cultural turn erfolgte Ausweitung des Forschungsspektrums ist gewaltig. Michel Foucault erforschte beispielsweise anhand der Geschichte des Gefängniswesens die Institutionalisierung von Gewalt, die zuvor nicht als repräsentativ für ein politisches System oder seine Kultur behandelt worden war (Surveiller et punir 1975). Die cultural studies von Stuart Hall thematisierten im Anschluss an Antonio Gramscis Hegemonie-Theorie politische Kulturen, die bis dahin aus der Perspektive der westlichen Kultur als „Subkultur" angesehen worden waren und entdeckten ihre politischen Potentiale (Resistance through Rituals 1989). Die vom cultural turn inspirierte Forschung war oft von emanzipatorischen Motiven getrieben. Das zeigte sich bereits bei Theoretikern der Dekolonisation, namentlich bei Frantz Fanon. Fanon wollte die politische Unabhängigkeit von Frankreich bis in die Befreiung von der politischen Kultur Frankreichs treiben, und zwar notfalls mit physischer Gewalt, da für ihn gerade die kulturelle Abhängigkeit die subtilste und wirksamste Form der politischen Fremdherrschaft bedeutete (Peau noir, masques blancs 1952). Zur Beschreibung des Verhältnisses von schwarzen Beherrschten und weißen Kolonialherren griff er auf das Hegeische Modell von „Herrschaft und Knechtschaft" zurück. Ähnlich kritisierte Herbert Marcuse, der Vordenker der Studentenbewegung, das Verhaftetsein in soziale Schemata etwa im Konsumverhalten als eine Form politischer Abhängigkeit (One-dimensional man 1964). Auch Feminismus und Gender-Forschung motivierten Klärung und Kritik der kulturellen Voraussetzungen politischer Emanzipation. Gegen Formen eines nur auf den ersten Blick „subpolitischen" Emanzipationsbestrebens gab Hannah Arendt zu bedenken, dass Rebellion noch keine Revolution ist und die bloße Befreiung noch keine Freiheit bedeutet (On Revolution 1963). Man kann habituell revoltieren, man kann rebellieren und staatliche Apparate zum Erliegen bringen. Wenn das aber mehr sein soll als die Demonstration destruktiven Potentials, welches natürlich für jede Änderung institutioneller Gefüge nötig ist (was nicht zuletzt Weber mit seiner Charisma-Theorie erörterte), dann darf die Frage nach den alternativen Institutionen nicht unbeantwortet bleiben. Wenn Politik mehr bedeutet als die egoistische Sorge um die eigene Freiheit, dann verlangt sie nach der Organisation der Freiheit zwecks Kooperation oder wenigstens Koordination des Handelns. In diesem Sinne verlangte Arendt von aller Revolution auch die Gründung eines institutionellen Gefuges, in welchem Freiheit praktikabel wird. Der politische Reichtum des Westens ist die Vielfalt seiner Traditionen und seiner in der politischen Praxis erprobten Modelle und Systeme. In langen Strängen von zu Diskursen ge-

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bündelten Fäden politischen Denkens stand der Theoriebildung immer ein gewaltiges Reservoir an Begriffen und Theoremen zur Verfugung. Schien die Geschichte an ihr Ende gelangt, eröffneten neue Kombinationen neue Denkwege und damit auch neue Handlungsmöglichkeiten. Einige Themen und Fragestellungen durchziehen wie ein roter Faden die Ideengeschichte, dazu zählen Anarchievermeidung, Freiheitsgründung, Wohlfahrtssicherung; aber die Antworten variierten ständig und umfassen eine große Breite: sie reichen von der Suche nach dem Heil oder dem individuellen persönlichen Glück bis zum Gemeinwohl einer Gruppe, Gemeinschaft, eines politischen Verbandes oder gar der gesamten Menschheitsgattung. Die Voraussetzungen von Gleichheit, guter Politik oder fur die Befreiung von Fremdherrschaft wurden genauso erörtert wie die Wege, diese Voraussetzungen zu erzielen und dann zu bewahren: Gesetzesgehorsam, Disziplinierung, spontane Selbstorganisation, Staatlichkeit, Assoziationen, Gemeindegeist oder gar Weitabgewandtheit und Askese. Zu dieser Vielfalt zählen praktizierte Lebensformen und soziale Modelle, die in der politischen Theorie aufgegriffen wurden, genauso wie rein gedankliche Spekulationen. Vergangene politische Zustände wurden theoretisch absolutiert und idealisiert und so der Gegenwart kritisch als Spiegel vorgehalten. Ob es die „gute alte Verfassung der Väter" war (die „politeia patrios"), an die zu Zeiten der athenischen Demokratie erinnert wurde, oder die Scipionen-Republik, welche als Vorbild in Erinnerung gerufen wurde, als der römische Bürgerkrieg ausgebrochen war, oder die „ancient constitution" vor Ausbruch des englischen Bürgerkrieges, stets wurden Teilelemente der historischen Wirklichkeit zu theoretischen Vorbildern erhoben. Eine andere Variante bestand darin, normative Überzeugungen, die wie im Christentum ihrer Genese nach nur eine geringe politische Intentionalität besaßen, institutionell umzusetzen und diese Praxis wiederum begrifflich zu erfassen. Klöster und Kirche, Ordensverfassung und Konzile, Gemeinde und Sekten sind nur die wichtigsten Beispiele für die hierdurch angestoßene Vielfalt der Assoziationsformen. Im Reich der Ideen schließlich stießen Utopien die Tore auf zu allerlei nur denkmöglichen Spekulationen, wie solche Assoziationen auch vorstellbar wären. Endlich konnte man die Ebene der Assoziationen ganz verlassen und Staaten, Gesellschaften oder Gattungen in ihrem geschichtlichen Ablauf in den Blick nehmen. Die genannte Vielfalt verlangt nach Reduzierung oder gar Entscheidung, welche der ideengeschichtlich hervorgetretenen Politikverständnisse „gut" oder „richtig" zu nennen sind. Dolf Sternberger hat in seiner fundierten Studie zum Begriff des Politischen drei solcher Stränge von Politikverständnissen hervorgehoben, nach Leitdenkern benannt und bewertet: Aristoteles, Augustinus und Machiavelli (Drei Wurzeln der Politik 1978). Augustinus steht hierbei für die heilsgeschichtlichen Erwartungen an die Politik, für den utopischen Überschuss an Hoffnungen, die mit Hilfe der Politik verwirklicht werden sollen; Machiavelli ist ihm das Symbol des von allen normativen Lasten befreiten Virtuosentums der Macht, das sich schließlich gegen den Menschen selbst richtet. Machiavelli ist für Sternberger auch die Chiffre für die Vereinseitigung der Politik auf das innerweltlich Machbare, Augustinus für die einseitige Perspektive auf das innerweltlich Unerreichbare; alleine Aristoteles habe das dem Menschen Zuträgliche mit dem politisch-praktisch Machbaren vereint und sei somit das Maß der Politik schlechthin. Damit bietet Sternberger ein weiteres Musterbeispiel für die Verwendung der Ideengeschichte als Arsenal. Betont man die Ideengeschichte dagegen als Archiv, so wird deutlich, wie Sternbergers - aus der Perspektive des Archivs betrachtet keineswegs repräsentative - Bündelung der politischen Theoriegeschichte auf nur drei Stränge zunächst einmal den Vorzug

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hat, das Problembewusstsein zu wecken, da er zeigt, wie umfassend der Rahmen sein muss, den ein Politikverständnis haben müsste, um - wenn nicht „richtig", so doch wenigstens vollständig alle anfallenden Fragen beantworten zu können und welche Problemkonstellationen dabei berücksichtigt werden sollten. Wollte man die politische Ideengeschichte nach einem einzigen inhaltlichen Thema gliedern, so wäre es das des Spannungsverhältnisses von Mitgliedschaft und Zugehörigkeit als zwei Modi der Organisation von politischer Verbindlichkeit. Alle politische Theorie hat es mit der Organisation von Verbindlichkeit zu tun, sei es, dass sie dieses Problem thematisiert, sei es, dass sie es voraussetzt. Politische Ordnung existiert nicht ohne die Auffassung ihrer Bürger, sie als verbindlich anzuerkennen. Herkunft, Glaube, rationale Zustimmung, vertragliche Einwilligung, tacit consent, Unterwerfung: in zahllosen Varianten ist Verbindlichkeit thematisiert worden. Verbindlichkeit ist nicht nur eine Frage der Legitimität der politischen Gewalt, es handelt sich um ein Problem der grundsätzlichen Anerkennung von Normen und Verfahren, Verhaltensweisen und Wertungen, die weit über die Verfügungsgewalt des staatlichen Zentrums der Politik hinausreichen. Dies erklärt die anhaltende Bedeutung des Themas „Religion" auch bei jenen Theoretikern, die persönlich sehr skeptisch sind bezüglich bestehender Konfessionen, aber nicht auf das verzichten möchten, was ihrer Ansicht nach Religion wenigstens teilweise gewährleistet: die Verbindlichkeit der Ordnung. Umgekehrt muss auch und gerade die Theorie, die auf Religion verzichtet, andere Formen der Verbindlichkeit an ihre Stelle setzen: Vernunft und Geschichte sind die vielleicht wichtigsten Kandidaten gewesen. Ungeachtet der naheliegenden Frage, welche dieser Möglichkeiten nun erstrebenswert ist (eine Hauptbeschäftigung der politischen Philosophie), kann man mit Blick auf die Ideengenese sagen, dass zwei Stränge der Argumentation herausragen: zum einen die Überlegung, auf dem Wege der „Zugehörigkeit" die nötige Verbindlichkeit zu organisieren, zum anderen der Weg der „Mitgliedschaft". Die erstere stelt die Zugehörigkeit der Betroffenen zu Gemeinschaften in den Vordergrund, die nach bestimmten Merkmalen religiöser, ethnischer, anthropologischer oder intellektueller Art definiert ist. Die mitgliedschaftliche Organisation erfolgt dann unter denjenigen, die diese Merkmale aufweisen. „Mitgliedschaft" dagegen kehrt das Verhältnis um und formuliert zunächst die Bedingungen der Mitgliedschaft und überlegt im Anschluss, welche Zugehörigkeitsmerkmale mit dieser Mitgliedschaft kompatibel sind und in welcher Weise. Alle Zivilreligions-Modelle operieren in diesem Mitgliedschaftsmodus. In diesem Sinne kann der Begriff der „Nation" einmal den Aspekt der Zugehörigkeit betonen, nämlich die Zugehörigkeit zu einer Sprach- oder Kulturgemeinschaft, zu einer Gemeinschaft mit gemeinsamer Geschichte oder Verwandtschaft; Nation kann aber auch eine Form der Mitgliedschaft meinen, die von diesen Zugehörigkeitsmerkmalen absieht, Verbindlichkeit unabhängig hiervon formuliert und beispielsweise in Verfassungsdokumenten festlegt. Ohne Zweifel besteht ein Spannungsverhältais beider Formen der Organisation von Verbindlichkeit und historisch gesehen kam es stets zu Querverbindungen und Vermittlungen. Je klarer und fester die Zugehörigkeit alle Verbindlichkeit bestimmt, desto weniger Wert muss man auf die mitgliedschaftliche Organisation legen. Freundschaft, Familie, die christliche Urgemeinde, organologische Modelle sind Beispiele hierfür und die Probleme, die aus Mitgliedschaft resultieren für sie nachrangig. Denn diese Probleme sind meist institutioneller Art: Wahlrecht, Bürgerschaftsstatus, Konfliktmanagement - alles Aspekte, die dann zentral werden, wenn die politische Verbindlichkeit wesentlich im Modus der Mitgliedschaft organisiert wird. Daher verlangten Republiken den Amtseid und städtische Bürgerschaften

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versammelten sich zum jährlichen Eid auf die Verfassung. Symbolisch-expressive Akte wie die Eidesleistung erhalten dadurch politische Relevanz, so wie „Glauben" und Emotionen für die Verbindlichkeit bedeutsam sein können. Verbindlichkeit bewegt sich also im Grenzbereich rationaler Begreifbarkeit. Es wird zu den zukünftigen Fragen der Theoriebildung gehören, ob der Idee der Menschenrechte das politische Subjekt „Menschheit" korrespondiert und ob es ausreicht, politische Verbindlichkeit alleine durch die Betonung der Zugehörigkeit zur Menschheit zu organisieren, oder ob nach neuen Formen einer mitgliedschaftlichen Organisation Ausschau gehalten werden muss. Das Modell der Zugehörigkeit verspricht die verlockende Inklusion aller Menschen und verliert damit leicht politische Probleme aus dem Blick; Mitgliedschaft dagegen muss das Problem der Exklusion bedenken, denn Mitgliedschaft ist ein Gut, das jeden Wert verliert, wenn es bedingungslos jedem zugesprochen wird. Das Arsenal der Ideengeschichte ist bei weitem nicht erschöpft und dient weiterhin der Anregung und Orientierung; zugleich wird in ihm vor naiver Nachahmung warnt. Es hilft dabei, das Bewusstsein dafür wach zu halten, wie voraussetzungsvoll auch solche politischen Ideen sind, die heute als selbstverständlich gelten. Die Ideengeschichte des Westens steuerte nicht selbstverständlich oder alternativlos auf das politische Ordnungsmodell des Nationalstaates zu oder identifizierte das politische Denken des Westens mit Staatlichkeit. Leistungen und Grenzen des Staatsmodells sind gerade aus der Perspektive der Ideengeschichte überdeutlich: von der marxistischen Totalkritik bis zu Tocquevilles Warnungen vor den despotischen Tendenzen der Zentralisierung, von der uralten Vorstellung der „Bürgergesellschaft" bis zur Freiheit spontaner Selbstorganisation ist das Arsenal angefüllt mit bedenkenswerten Ideen, die es wie Fäden nur neu aufzunehmen und zu verknüpfen gilt. Auch die Kenntnis dessen, was glücklicherweise als überwunden gilt, hilft aus dem Kontrast heraus zu erkennen, was die bewahrenswerten oder anknüpfungsfahigen Ideen sind und was sie bedeuten. Würde man aufhören, Geltung und Genese von Modellen zu prüfen, die als selbstverständlich angesehen werden, drohen diese zu versteinern. Die Ideengeschichte trägt so zur Vitalität der politischen Kultur bei, weil sie das Ferne und Vergangene als Denkmöglichkeit wach hält.

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Frieden

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