Politische Systeme bei Friedrich Dürrenmatt: Eine Analyse des essayistischen und dramatischen Werks 9783412211769, 9783412210304

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Politische Systeme bei Friedrich Dürrenmatt: Eine Analyse des essayistischen und dramatischen Werks
 9783412211769, 9783412210304

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Literatur und Leben Band 84

Patricia Käppeli

Politische Systeme bei Friedrich Dürrenmatt Eine Analyse des essayistischen und dramatischen Werks

2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Charlotte Kerr Dürrenmatt-Stiftung, Bern.

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Frühjahrssemester 2011 auf Antrag von Prof. Dr. Rudolf Käser und Prof. Dr. Sabine Schneider als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Formel des Gesetzes der grossen Zahlen aus Karl Popper, Logik der Forschung, 2005, S. 161. Mit Genehmigung der Karl-Popper-Sammlung der Universitätsbibliothek Klagenfurt. © 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche, Weeze Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-21030-4

Dank Für die Unterstützung beim Zustandekommen dieser Forschungsarbeit möchte ich vielen danken. An erster Stelle Herrn Professor Rudolf Käser vom Deutschen Seminar der Universität Zürich. Durch seine Forschung bin ich auf das Thema aufmerksam geworden. Er hat das Projekt mit grossem Engagement und Interesse begleitet und es durch viele wertvolle Hinweise vorangetrieben. Herzlicher Dank gebührt auch der Zweitgutachterin, Frau Professor Sabine Schneider von der Universität Zürich, und dem Pro*Doc Art&Science, insbesondere Herrn Professor Philip Ursprung, Frau Professor Anne von der Heiden und Frau Dr. Nina Zschocke. Als assoziierte Kollegiatin durfte ich am Graduiertenkolleg der Kunstgeschichte teilnehmen und konnte viel von den Tagungen und Workshops profitieren. Für den Zugang zu Archivalien von Friedrich Dürrenmatt danken möchte ich zudem Herrn Dr. Ulrich Weber vom Schweizerischen Literaturarchiv in Bern. Hilfreiche Anregungen zum Experiment-Kapitel erhielt ich zudem von Herrn Professor Michael Gamper (Leibniz Universität Hannover). Mein grosser Dank gilt auch zwei Stiftungen: der Stiftung the cogito foundation für die Gewährung eines grosszügigen Promotionsstipendiums für die Dauer von zwei Jahren sowie der Charlotte Kerr Dürrenmatt-Stiftung für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung dieser Arbeit. Danken möchte ich aber auch meiner Familie und vielen Freunden, die bei der Entstehung dieser Forschungsarbeit auf unterschiedlichste Weise mitgeholfen haben: Als Korrekturleser, Sparringspartner und Ratgeber. Ein besonderer Dank gilt dabei Bartosz Wilczek für seine immerwährende Unterstützung und grosse Geduld in den letzten Jahren. Zürich, im November 2012

Patricia Käppeli

Inhaltsverzeichnis Dank ...................................................................................................................... Einleitung: Soziopolitische Systemdynamiken in Friedrich Dürrenmatts Werk ......... 1. Methodologische Vorüberlegungen..................................................................... 1.1. Der New Historicism als kulturwissenschaftlicher Ansatz .......................... 1.1.1 Der New Historicism ...................................................................... 1.1.2 Die Problematik des New Historicism und mögliche Lösungsansätze ................................................................................ 1.1.3 Der New Historicism: Material- und Inhaltsebene ........................ 1.2 Die Analyse der essayistischen Texte........................................................... 1.3 Die Analyse der dramatischen Texte .......................................................... 1.3.1 Allgemeine Anmerkungen zur Analyse dramatischer Texte .............. 1.3.2 Die Durchleuchtung der theatralisch dargestellten Gesellschaftssysteme: Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung................................................................................. 1.3.2.1 Die Theorie der Strukturierung: Struktur, Interaktion, soziales System und sozialer Wandel.................................. 1.3.2.2 Exkurs: Demokratie und Diktatur als zwei unterschiedliche Formen politischer Systeme .................... 1.3.2.3 Die Durchleuchtung der theatralisch dargestellten Gesellschaftssysteme in Dürrenmatts Komödien ............... 1.3.3 Sympathielenkung in Theaterstücken .............................................. 1.3.3.1 Textuelle Strategien und Strukturen der Sympathielenkung in Theaterstücken ................................ 1.3.3.2 Techniken der Sympathielenkung auf der Ebene der Geschichte ........................................................................ 1.3.3.3 Techniken der Sympathielenkung auf der Ebene der Darstellung der Geschichte ............................................... 1.4 Interferierende Elemente in der Analyse des essayistischen sowie des dramatischen Werks ................................................................................... 1.4.1 Gleichnis ......................................................................................... 1.4.2 Allegorie ......................................................................................... 1.4.3 Referenzproblematik ....................................................................... 2. Der Experimentbegriff in Friedrich Dürrenmatts Werk ..................................... 2.1 Das Experiment in Naturwissenschaft und Literatur – eine Einführung .... 2.2 Friedrich Dürrenmatts Komödien als literarische Experimente .................. 2.3 Experimentelle Verwendung theatralischer Mittel zur Akzentuierung der dargestellten Systeme ................................................................................. 2.3.1 Sympathielenkung als Experiment...................................................

5 11 26 27 29 33 35 36 42 42 43 44 47 48 54 54 55 55 56 56 59 62 64 66 71 75 76

8 Inhalt 2.3.2 Poetische Gerechtigkeit als Experiment ........................................... 83 2.3.3 Weitere Experimente mit klassischen Theaterelementen .................. 84 3. Friedrich Dürrenmatts soziopolitischer Diskurs im essayistischen Werk ............ 86 3.1 Allgemeine Vorüberlegungen zum mathematischen Gesetz der grossen Zahl .............................................................................................. 86 3.2 Das Gesetz der grossen Zahl als Gleichnis moderner soziopolitischer Systeme und ihrer Dynamiken .................................................................. 87 3.2.1 Dürrenmatts Aneignung des Gesetzes der grossen Zahl .................. 88 3.2.2 Das Gesetz der grossen Zahl im Essay Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit 1956 ........................................................................ 90 3.2.3 Weiterentwicklung des Gleichnisses in Manuskripten und einem Interview in den Jahren 1960 und 1966 ......................................... 94 3.2.4 Eine kleine Dramaturgie der Politik, der Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht als zentraler Essay des soziopolitischen Diskurses 1969................................................................................ 97 3.2.4.1 Exkurs: Die bürgerliche Welt – Das Wolfsspiel ................. 98 3.2.4.2 Exkurs: Die sozialistische Welt – Das Gute-Hirte-Spiel .... 99 3.2.5 Intensive Weiterarbeit am soziopolitischen Denken in den Jahren 1976 sowie 1977 .................................................................. 106 3.2.6 Der Essay Überlegungen zum Gesetz der grossen Zahl 1976/77.......... 107 3.2.7 Wiederaufnahme des Gleichnisses in Gesprächen und dem Essay Über Toleranz 1977.......................................................................... 110 3.2.8 Der Winterkrieg in Tibet als fiktionale personalisierte Präzisierung des soziopolitischen Diskurses 1981 ................................................ 115 3.3 Die Rekontextualisierung des soziopolitischen Diskurses Friedrich Dürrenmatts ............................................................................... 125 3.3.1 Karl Poppers Logik der Forschung..................................................... 129 3.3.2 Karl Poppers und Friedrich Dürrenmatts soziopolitische Reflexionen im Vergleich................................................................. 132 3.3.2.1 Die Kritik an totalitären Lehren ....................................... 133 3.3.2.2 Der Fallibilismus in der Naturwissenschaft und der Politik ......................................................................... 134 3.3.2.3 Die Stückwerk-Sozialtechnik ............................................ 139 3.3.2.4 Exkurs: Die Sozialdemokratie im Europa des 20. Jahrhunderts ............................................................... 142 3.3.2.5 Politik und Emotionalität.................................................. 151 3.3.2.6 Negativer Utilitarismus – Glück........................................ 154 3.3.2.7 Automobilist als Individualist............................................ 155 4. Der Besuch der alten Dame – ein „soziale[s] Experiment“ .................................. 157 4.1 Das theatralisch dargestellte Gesellschaftssystem in Der Besuch der alten Dame ................................................................................................. 158

Inhalt 9

4.1.1 Struktur, Interaktion und sozialer Wandel im theatralisch dargestellten Gesellschaftssystem ..................................................... 158 4.1.2 Die Strukturdimension Legitimation im Fokus: Gerechtigkeit und Freiheit im theatralisch dargestellten Gesellschaftssystem ......... 161 4.1.3 Die Steuerbarkeit des sozialen Wandels im theatralisch dargestellten Gesellschaftssystem ..................................................... 166 4.2 Die experimentelle Verwendung klassischer Theaterelemente zur Kritik des theatralisch dargestellten Gesellschaftssystems ...................................... 170 4.2.1 Sympathielenkung als Experiment .................................................. 171 4.2.1.1 Strategien der Sympathielenkung auf der Ebene der Geschichte......................................................................... 173 4.2.1.2 Strategien der Sympathielenkung auf der Ebene der Darstellung der Geschichte ............................................... 174 4.2.2 Poetische Gerechtigkeit als Experiment ........................................... 178 4.2.3 Der Doppelchor als Experiment...................................................... 180 4.3 Die Neuinterpretation der Komödie: Neue soziopolitische Erkenntnisse aus Der Besuch der alten Dame ................................................................... 182 4.4 Zwischenfazit ............................................................................................. 188 5. Moderne Systemdynamiken als dramatisches Darstellungsproblem: Die Theaterstücke Die Ehe des Herrn Mississippi, Frank der Fünfte, Der Mitmacher sowie Die Frist im diachronen Vergleich ................................... 190 5.1 Die theatralisch dargestellten Gesellschaftssysteme ..................................... 192 5.1.1 Korrupte Systeme und ihre Dynamiken sowie die Entwicklung des Einzelnen vom mutigen Menschen zum ironischen Helden ...... 192 5.1.1.1 Die Ehe des Herrn Mississippi ............................................. 193 5.1.1.2 Frank der Fünfte ................................................................ 195 5.1.1.3 Der Mitmacher .................................................................. 197 5.1.1.4 Die Frist ............................................................................ 200 5.1.2 Die Steuerbarkeit des sozialen Wandels in den theatralisch dargestellten Gesellschaftssystemen.................................................. 202 5.1.2.1 Die Ehe des Herrn Mississippi ............................................. 202 5.1.2.2 Frank der Fünfte ................................................................ 204 5.1.2.3 Der Mitmacher .................................................................. 206 5.1.2.4 Die Frist ............................................................................ 208 5.1.3 Zwischenfazit .................................................................................. 211 5.2 Die Theaterexperimente Die Ehe des Herrn Mississippi und Der Mitmacher ........................................................................................... 220 5.2.1 Die Strukturdimension Legitimation im Fokus der theatralisch dargestellten Gesellschaftssysteme in Die Ehe des Herrn Mississippi und Der Mitmacher ......................................................................... 220 5.2.1.1 Die Ehe des Herrn Mississippi ............................................. 221 5.2.1.2 Der Mitmacher .................................................................. 222

10 Inhalt 5.2.1.3 Die Strukturdimension Legitimation in der diachronen Betrachtung ...................................................................... 224 5.2.2 Sympathielenkung als Experiment in den Komödien ...................... 225 5.2.2.1 Die Ehe des Herrn Mississippi ............................................. 226 5.2.2.2 Der Mitmacher .................................................................. 226 5.2.2.3 Diachrone Betrachtung der Sympathielenkung ................. 227 5.2.3 Poetische Gerechtigkeit als Experiment in den Komödien .............. 228 5.2.3.1 Die Ironisierung der poetischen Gerechtigkeit in Die Ehe des Herrn Mississippi ............................................. 228 5.2.3.2 Erneute Problematisierung der poetischen Gerechtigkeit in Der Mitmacher .............................................................. 229 5.2.3.3 Diachrone Betrachtung der poetischen Gerechtigkeit als Experiment........................................................................ 230 5.2.4 Die Ehe des Herrn Mississippi und Der Mitmacher: Neue Erkenntnisse aus den theatralisch dargestellten Systemen ................ 231 5.3 Die geschlossene Form als Experiment in den Komödien Frank der Fünfte, Der Mitmacher und Die Frist .......................................... 237 5.3.1 Vom System Staat zum System Firma: Metaphernwechsel in der Komödie Frank der Fünfte ............................................................... 238 5.3.2 Klassisches Theater als Experiment: Anagnorisisverweigerung und weitere formale Folgen in der Komödie Der Mitmacher .................. 244 5.3.3 Die Unmöglichkeit zur Konspiration: Zufall und Paradoxie in der Komödie Die Frist .................................................................... 248 5.3.4 Neue soziopolitische Erkenntnisse aus den Komödien Frank der Fünfte, Der Mitmacher und Die Frist ............................... 251 5.4 Zwischenfazit ............................................................................................. 257 6. Schlusswort ....................................................................................................... 265 7. Bibliografie ........................................................................................................ 273 8. Anhang ............................................................................................................. 287 9. Personenregister ................................................................................................. 299

Einleitung: Soziopolitische Systemdynamiken in Friedrich Dürrenmatts Werk „Politik findet der bei mir überall, der politisch denkt.“ F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 3. 1996, S. 216.

Im Essay Tschechoslowakei 1968 erläutert Friedrich Dürrenmatt, dass er sich als dramaturgischen Denker versteht, der in seinem theatralischen Werk die Welt und somit auch die Politik in ihren Konflikten und Paradoxien analysiert und diagnostiziert: Ich bin kein politischer, ich bin ein dramaturgischer Denker, ich denke über die Welt nach, indem ich ihre Möglichkeiten auf der Bühne und mit der Bühne durchspiele, und mich ziehen demgemäss die Paradoxien und Konflikte unserer Welt mehr an als die noch möglichen Wege, sie zu retten. Ich bin Diagnostiker, nicht Therapeut […]. Wenn ich darum heute als Schriftsteller im Theater […] das Wort ergreife, so nicht, um zu protestieren, sondern um zu analysieren.1

Um Dürrenmatts Diagnosen zu Gesellschaft und Politik in den Komödien zu verstehen, hilft die Aufarbeitung seines in Essays und Gesprächen entworfenen soziopolitischen Diskurses2, dessen Reflexionen sich auch in den Theaterstücken wiederfinden. Bis anhin sind diese gesellschaftspolitischen Gedanken Dürrenmatts wissenschaftlich jedoch weitgehend unbeachtet geblieben, obwohl das Forschungsdesiderat mehrfach thematisiert wurde.3 Dies mag einerseits darauf zurückzuführen sein, dass Dürrenmatts Reflexionen zu Gesellschaft und Politik auf der Aneignung des mathematischen Gesetzes der grossen 1 F. Dürrenmatt: Politik. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 35f. 2 Unter soziopolitischem Diskurs werden in dieser Arbeit die von Dürrenmatt im essayistischen und dramatischen Werk veröffentlichten gesellschaftlichen Reflexionen verstanden und zudem seine spezifischer auf die Politik bezogenen Gedanken hervorgehoben. „sozio..., Sozio... (in Zus.) gesellschaftlich, Gesellschafts..., auf eine soziale Gruppe bezogen [zu lat. socius „Genosse, Gefährte; der mit der Gesellschaft verbundene“]“. G. Wahrig et. al. (Hgg.): Brockhaus Wahrig. Deutsches Wörterbuch. Bd. 5. P-STD. 1983, S. 817. Soziopolitisch wird zudem als Synonym zu gesellschaftspolitisch verstanden. 3 Diese „Vernachlässigung“ der politischen Reflexionen Dürrenmatts betont Elsbeth Pulver bereits zu Lebzeiten Dürrenmatts. Und auch Peter von Matt spricht im derzeit wohl aktuellsten Beitrag zu diesem Thema von einer noch immer ungeklärten Position Dürrenmatts zur Politik. Vgl. E. Pulver: Literaturtheorie und Politik. Zur Dramaturgie Friedrich Dürrenmatts. In: H. L. Arnold (Hg.): Text und Kritik. Friedrich Dürrenmatt I. H. 50/51. 1980, S. 78, vgl. P. von Matt: Der Liberale, der Konservative und das Dynamit. Zur politischen Differenz zwischen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. In: E. Pellin und U. Weber (Hgg.): »Wir stehen da, gefesselte Betrachter«. Theater und Gesellschaft. 2010, S. 70.

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Zahl als Gleichnis für soziopolitische Systemdynamiken4 beruhen. Dieser komplexe interdisziplinäre Ansatz erschwert den Zugang für die Literaturwissenschaft erheblich. Andererseits kann die fehlende Aufarbeitung dieser Reflexionen auch darauf zurückzuführen sein, dass Dürrenmatt sich ein Leben lang weigerte, einer Partei beizutreten:5 Aus diesem Grund wurden der Schriftsteller und sein Werk von Kritik und Forschung6 während vielen Jahren vorschnell als wenig politisch interessiert dargestellt. 7 In jüngster Zeit jedoch sind vor allem in der öffentlichen Debatte vermehrt Versuche festzustellen, eine verkürzte politische Zuordnung von Friedrich Dürrenmatts Denken vorzunehmen.8 Umso dringlicher erscheint es daher, diesen Versuchen eine fundierte, kontextorientierte Analyse von Dürrenmatts Reflexionen zu Politik und Gesellschaft auf Basis seiner Aneignung des Gesetzes der grossen Zahl gegenüberzustellen. Das mathematische Gesetz der grossen Zahlen9, welches vom Schweizer Jakob Bernoulli (*1654 – †1705) entdeckt wurde, wird zur Untersuchung von Massenerscheinungen beispielsweise in der Thermodynamik beigezogen. Es besagt – verkürzt ausgedrückt –, dass 4 Der Begriff System wird hier nicht im Sinne der Systemtheorie Luhmanns verwendet. Die Systemdynamiken werden, wie später erläutert wird, mit Giddens’ Strukturationstheorie durchleuchtet. 5 Vgl. F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 275. Vgl. zu dieser Thematik auch F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 2. 1996, S. 81f., T. Lengborn: Schriftsteller und Gesellschaft in der Schweiz. Zollinger, Frisch, Dürrenmatt. 1972, S. 263 sowie A. Mingels: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kategorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. 2003, S. 114. 6 Ulrich Profitlich thematisiert diese Vorwürfe, dass Dürrenmatt politisch unbekümmert ist und teilt sie mehrheitlich. Vgl. U. Profitlich: Friedrich Dürrenmatt. Komödienbegriff und Komödienstruktur. Eine Einführung. 1973, S. 8. In einem Gespräch im Jahr 1975 mit Heinz Ludwig Arnold wird Dürrenmatt zudem selbst auf seine scheinbar unpolitischen Stücke angesprochen. Vgl. F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 2. 1996, S. 166f. Und auch Blum/Mühlemann werfen Dürrenmatt in einem Gespräch 1979 vor, dass sein politischer Standpunkt unklar ist. Vgl. F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 2. 1996, S. 274. 7 Peter Rüedi sieht noch einen dritten möglichen Grund: „Die Legende vom apolitischen Dürrenmatt hielt sich lange und zäh. Einer ihrer Gründe war die siamesische Konstruktion, in welcher die sogenannte literarische Öffentlichkeit das Paar Dürrenmatt und Frisch verhaftete und […] in eine absurde und für beide beleidigende Polarität trieb […].“ P. Rüedi: Politik als Versuch, den Menschen zu entschärfen. Die praktische Vernunft und die poetische. In: Die Weltwoche. Nr. 11. 14. März 1991, S. 55. Rüedi spricht sich aber ganz klar dagegen aus, Dürrenmatt als apolitisch zu charakterisieren. Vgl. P. Rüedi: Dürrenmatt oder die Ahnung vom Ganzen. Biographie. 2011, S. 401ff. 8 Vgl. C. Blocher: Warum wählen Schweizer SVP?. 2011, S. 14ff. http://www.blocher.ch/artikel/ warum-waehlen-schweizer-svp/c266494d84b954f4e74c20cf69f96ad7.html und R. Köppel: Dürrenmatt und die Schweiz. In: Die Weltwoche. Nr. 38. 22. September 2011, S. 35. 9 Dürrenmatts eigenwillige Aneignung zeigt sich bereits in der Tatsache, dass er Zahl im Singular und nicht im Plural verwendet. Zudem spricht er erst in Der Winterkrieg in Tibet korrekterweise von einem mathematischen Begriff und nicht von einem thermodynamischen Gesetz. Vgl. beispielsweise F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 108ff. sowie F. Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe I–III. 1998, S. 101f. Vgl. R. E. Krebs: Encyclopedia of Scientific Principles, Laws, and Theories. Vol. 1. A-K. 2008, S. 49f. Dürrenmatts eigenwillige Verwendung von Zahl im Singular wird in dieser Arbeit durchgehend übernommen.



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über das Verhalten einer grösseren Anzahl von Gasmolekülen statistische Aussagen gemacht werden können, während sich das einzelne Gasmolekül unberechenbar bewegt.10 Dieses Gesetz eignet sich Dürrenmatt nun als Gleichnis für soziopolitische Systemdynamiken an: Zu Beginn geht er davon aus, dass in Gesellschaftssystemen die Handlungen vieler Menschen statistisch prognostizierbar und somit steuerbar sind, der Einzelne sich jedoch unberechenbar verhält. Die zunehmende Imponderabilität der modernen Welt führt Dürrenmatt aber dazu, diese Aneignung vermehrt zu modifizieren. Die vorliegende Studie widmet sich erstmals ausführlich dieser Aneignung des mathematischen Gesetzes, die Dürrenmatt über mehrere Jahrzehnte hinweg in Essays und Gesprächen immer wieder erläutert. Wie relevant diese Aufarbeitung von Friedrich Dürrenmatts politischem Denken ist, wird durch Peter von Matts Ausführung, dass bis heute ein Forschungsdesiderat in Bezug auf Dürrenmatts politische Position besteht, eindrücklich unterstrichen.11 Aufgrund des interdisziplinären Ansatzes Dürrenmatts stellt sich die Frage, weshalb der Schriftsteller in seinem soziopolitischen Diskurs ein Gesetz aus der Statistik mit thermodynamischen, quantenphysikalischen und gesellschaftspolitischen Aspekten synthetisiert. Dürrenmatt reagiert mit dieser Vorgehensweise auf eine naturwissenschaftliche/mathematische Entwicklung im 20. Jahrhundert. In der modernen Physik kommt es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu schwerwiegenden Veränderungen: Bis dahin gründet die klassische Physik vor allem auf den Erkenntnissen von Newtons Mechanik und Maxwells Theorie des Elektromagnetismus.12 Sie entwickelt die Vorstellung einer totalen, minuziösen Berechenbarkeit der Natur. Pierre-Simon de Laplace geht davon aus, dass lediglich einmal die genauen Positionen und Geschwindigkeiten aller Materieteilchen des Universums gekannt werden müssen, um jede Entwicklung in der Zukunft unfehlbar prophezeien zu können: Diese Auffassung der vollständigen Berechenbarkeit der Natur wird auch Laplace’scher Dämon genannt. Dieses Weltbild besagt, dass die Zukunft durch den jetzigen Zustand determiniert wird und somit berechenbar ist.13 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird diese klassische Physik nun durch die Quantentheorie entscheidend verändert. Die moderne Physik findet zudem in der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung ihr Äquivalent.14 In den statistischen 10 Vgl. B. Leiner: Einführung in die Statistik. 1996, S. 192. 11 Vgl. P. von Matt: Der Liberale, der Konservative und das Dynamit. Zur politischen Differenz zwischen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. In: E. Pellin und U. Weber (Hgg.): »Wir stehen da, gefesselte Betrachter«. Theater und Gesellschaft. 2010, S. 70. 12 Vgl. J. Polkinghorne: Quantentheorie. Eine Einführung. 2006, S. 13ff. 13 Vgl. B. Auge: Friedrich Dürrenmatts Roman „Justiz“. Entstehungsgeschichte, Problemanalyse, Einordnung ins Gesamtwerk. 2004, S. 359f., E. Emter: Literatur und Quantentheorie: die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren. 1995, S. 23 sowie W. Heisenberg: Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft. 1949, S. 74. 14 Vgl. E. Emter: Literatur und Quantentheorie: die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren. 1995, S. 43.

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Berechnungen der Quantenmechanik geht es nun insbesondere um Häufigkeitsdeutungen, sie muss jedoch anerkennen, dass sich im mikrophysikalischen Bereich die kleinsten Teile einer konkreten Prognostizierbarkeit entziehen. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung also vermag nur noch Allgemeinbeziehungen zu formulieren, sie kann nur sagen, dass in soundsoviel Fällen mit der und der Wahrscheinlichkeit dies und das eintreten wird; sie kann aber nicht sagen, dass gerade der eine Fall, der interessiert, unter die in der Allgemeinbeziehung formulierte Häufigkeit fällt oder nicht. […] Übersetzt man diese Einsicht in andere Worte, so heisst das: das Individuelle geht nicht in der Allgemeinheit auf, es bleibt bewahrt, der Einzelfall bleibt unbestimmt und unbestimmbar; der Einzelfall unterliegt keiner Notwendigkeit, er ist frei und zufällig.15

Die Statistik, welche bereits in der klassischen Physik bei der Thermodynamik genutzt wird, übernimmt nun in der modernen Quantenmechanik eine entscheidende Funktion.16 Der gravierende Unterschied zwischen der klassischen Thermodynamik und der modernen Quantenmechanik besteht nun aber darin, dass in der modernen Mikrophysik nicht mehr „messtechnisches Unvermögen“17 zur statistischen Berechnung zwingt, sondern die Phänomene der Natur selbst.18 Dies lässt sich auch in der Formulierung der Heisenbergschen Unschärferelation erkennen: Sie besagt, dass im Mikrobereich der Natur nicht unzureichende Messinstrumente oder ungenügendes Wissen den Menschen daran hindern, den Weg eines einzelnen Atoms bis ins Detail zu berechnen, sondern die Eigenschaften der Natur selbst.19 Aber an der scharfen Formulierung des Kausalgesetzes: „Wenn wir die Gegenwart genau kennen, können wir die Zukunft berechnen“, ist nicht der Nachsatz, sondern die Voraussetzung falsch. Wir k ö n n e n die Gegenwart in allen Bestimmungsstücken prinzipiell nicht kennenlernen.20

15 J. Knopf: Friedrich Dürrenmatt. 1988, S. 48. 16 Wünsches Ausführungen zufolge wird gerade der Begriff Wahrscheinlichkeit in der Thermodynamik zum ersten Mal in die Naturwissenschaft eingeführt: Dies ist der Grund, weshalb Heisenberg die atomistische Wärmelehre als Vorgeschichte der modernen Physik, der Quantenmechanik, welche vorwiegend auf statistischen Berechnungen beruht, bezeichnet. Vgl. T. Wünsche: Dürrenmatts stereoskopisches Denken. Die Erkenntniskritik oder Der „Versuch zu einem Grundriss“. 1996, S. 179f. Vgl. dazu auch: E. Emter: Literatur und Quantentheorie: die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren. 1995, S. 43. 17 E. Emter: Literatur und Quantentheorie: die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren. 1995, S. 43. 18 Vgl. ebd.: S. 43f. Emter verweist dabei insbesondere auf die Begriffe Doppelnatur, Wahrscheinlichkeit und Unstetigkeit, die die moderne Physik prägen. 19 Vgl. ebd.: S. 42. 20 W. Heisenberg: Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik. In: K. Scheel (Hg.): Zeitschrift für Physik. Bd. 43. 1927, S. 197.



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Dadurch wendet sich die Quantenmechanik von einer vollständigen Berechenbarkeit der Welt gemäss der klassischen Newtonschen Mechanik ab: Die modernen mathematischen und physikalischen Entwicklungen lassen statistische Aussagen über Massenphänomene zwar zu, müssen aber die Imponderabilität der Einzelfälle in mikrophysikalischen Untersuchungen anerkennen. In diesen Erkenntnissen findet sich nun eine Analogie zu Dürrenmatts systemischem Denken und seiner zentralen gesellschaftspolitischen Prämisse: Der Mensch ist einerseits sowohl Teil einer berechenbaren Allgemeinheit, eines Gesellschaftssystems, dessen Strukturen er (meist) handelnd reproduziert. Andererseits kann der Mensch in diesen Strukturen auch ein unberechenbar handelndes, freies Individuum sein. Dürrenmatt legt im Folgenden den Fokus, wie ein Blick in sein Werk zeigt, auf die Systembedingungen der modernen Kollektive: Er will die Steuerbarkeit sozialen Wandels im soziopolitischen Diskurs erforschen, ohne dabei den unberechenbaren Einzelfall, das Individuum, zu vernachlässigen. In seinem soziopolitischen Diskurs versucht Dürrenmatt somit sowohl systemische als auch auf das Individuum fokussierte Denkansätze miteinander zu vereinen: Er folgt weder ausschliesslich der in der Nachkriegszeit aufkommenden Strömung der Kybernetik, welche sich vor allem auf die Steuerung und Regelung von Systemen konzentriert,21 noch dem wieder aufblühenden Existenzialismus, welcher sich hauptsächlich auf das Individuum konzentriert.22 Dürrenmatt äussert sich im essayistischen Werk mehrfach zur Systemthematik und setzt sie oft in Bezug zu seiner Arbeit als Theaterautor. Bereits 1959 zeigt er im Essay Vom Schreiben sein Interesse an Strukturen und Gesetzmässigkeiten in theatralisch dargestellten Systemen23 und in den 1960er-Jahren betont er in Bezug auf das Theaterstück Frank der Fünfte mehrfach die aus seinem Interesse an den Systemen der modernen Kollektive resultierenden theatralischen Darstellungsprobleme.24 Explizit erörtert

21 Als Kybernetik wird die „Wissenschaft von den kybernetischen Systemen [verstanden], in der von der besonderen Beschaffenheit der untersuchten Systeme abstrahiert [wird] und die Gesetzmässigkeiten ihrer Zustandsänderungen und Prozessabläufe unter Aspekten der Regelungstechnik, Informationstheorie, Algorithmentheorie, Automatentheorie und Spieltheorie untersucht werden“. Die Kybernetik geht historisch auf eine Arbeit von Norbert Wiener aus dem Jahre 1948 zurück. Vgl. J. Mittelstrass (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2. H-O. 1984, S. 515. 22 Die Existenzphilosophie baut „im wesentlichen auf einem subjektivistischen, individualistischen Begriff der Existenz“ auf. Sie knüpft philosophiehistorisch an die Lebensphilosophie des 19. Jahrhunderts an. Es lassen sich insgesamt drei Richtungen unterscheiden „deren Hauptvertreter (1) Kierkegaard und Jaspers, (2) Heidegger, (3) Sartre und die französischen Existentialisten sind“. Insbesondere nach dem Nationalsozialismus erlebte der Existenzialismus in den 1940er-Jahren ausgehend von Frankreich eine neue Blütezeit. Vgl. J. Mittelstrass (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 1. A-G. 1995, S. 620. 23 Vgl. F. Dürrenmatt: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 77. 24 Vgl. F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 121f. und S. 248f.

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Dürrenmatt dies beispielsweise auch in einem Gespräch im Jahre 1973 mit Dieter Bachmann: FD Es gibt auch bei uns immer mehr Zusammenballungen, Machtkollektive. Ob Sie das nun politisch darstellen oder nicht, spielt die gleiche Rolle. Frank der Fünfte war wie eine Abkürzung. Es ist ein System zu zeigen; nun zeigen Sie mal ein System auf der Bühne.25

Im Fokus dieser Studie stehen aus diesem Grund erstmals Dürrenmatts Erläuterungen zu modernen Gesellschaftssystemen und ihren Dynamiken im essayistischen Werk sowie der Versuch, diese Reflexionen in den Komödien 26 darzustellen: Dabei gilt es, Entwicklungen und Veränderungen in den Systemdarstellungen und deren Steuerbarkeit aus einer soziopolitischen Perspektive zu analysieren und zu untersuchen, welchen Einfluss der unberechenbare Einzelne auf diese Systeme hat. Insbesondere aus der Betrachtung der gesellschaftspolitischen Systeme in den Komödien kann reflexiv erkannt werden, dass der Einzelne in Dürrenmatts Theaterexperimenten erst aus negativen systemischen Bedingungen heraus entsteht: Er reproduziert die dargestellten korrupten Strukturen nicht, sondern negiert sie. Dürrenmatt selbst bestätigt dieses Ergebnis im Vorwort zum Nachwort des Theaterstücks Der Mitmacher: Wird das Allgemeine ungerecht, negativ, dann wird der Einzelne geboren, wird sich der Einzelne als Einzelner bewusst.27

Dürrenmatt setzt den Einzelnen damit offensichtlich in Relation zur Gesellschaft, die Entstehung des Einzelnen ist bedingt durch ein ungerecht gewordenes System. Dieser in den 1970er-Jahren prägnant ausformulierte Gedankengang lässt sich in Dürrenmatts Werk jedoch bereits früher finden.28 25 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 2. 1996, S. 87. 26 Dürrenmatt erläutert beispielsweise in seinem theatertheoretischen Essay Anmerkung zur Komödie bereits im Jahre 1952 seine Wahl der Komödie im Sinne Aristophanes’, weil diese Distanz schafft. Dabei merkt Dürrenmatt an, dass es sich bei Aristophanes’ Komödien um politische Komödien handelt. Dürrenmatts Ausführungen werden durch das Buch Einführung in das antike Theaterwesen von Blume bestätigt. Blume führt weiter aus, dass der Typus der politischen Komödie allein durch die Werke des Aristophanes’ repräsentiert wird, von dessen ursprünglich geschriebenen 44 Stücken der Nachwelt noch ein Viertel erhalten geblieben ist. Vgl. H.-D. Blume: Einführung in das antike Theaterwesen. 1991, S. 7 sowie F. Dürrenmatt: Theater. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 20–25. 27 F. Dürrenmatt: Der Mitmacher. 1998, S. 197. 28 Der mutige Mensch, der im Essay Theaterprobleme 1954 von Dürrenmatt als zentrale Figur der Komödien eingeführt wird, erweist sich als Einzelner, der aus negativen systemischen Bedingungen entsteht. „In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weissen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. […] Wir sind zu kollektiv schuldig […].“ F. Dürrenmatt: Theater. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 62f. In Gesprächen führt Dürrenmatt weiter aus, dass in Frank der Fünfte ein gaunerisches Kollektiv repräsentiert wird, das durch den Einzel-



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Damit erfasst nun aber beispielsweise Mingels partielle Sicht auf den Einzelnen in Dürrenmatts Werk,29 die dessen Systembedingtheit nicht berücksichtigt, lediglich eine Seite eines bedeutend komplexeren Phänomens. Die Interpretation des Einzelnen – des mutigen Menschen oder ironischen Helden – als Botschafter einer verlorenen Weltordnung beschränkt zudem das Wirkungspotential der Figuren: Der Dürrenmattsche Einzelne ist nicht eine moralische, sondern primär eine systembedingte soziopolitische Kategorie. Er wählt seine Rolle als Einzelner nicht, er wird durch die systemischen Bedingungen zum Einzelnen gemacht. Dieser Hauptbefund erklärt auch Dürrenmatts bereits 1965 geäusserte Kritik an der Beurteilung seiner Komödien: FD Und es gibt etwas, was man viel zu wenig untersucht hat: Was kommt anstelle des Helden? Immer mehr das Kollektive. […] MAYER Sie sagten eben, dass wir zu einer Art Kollektivität auf dem Theater kommen, die an die Stelle des Helden treten würde. […] FD Ein Kollektiv ist ja an und für sich keine Masse. Meistens lebt der Mensch heute in Kollektiven, er ist angestellt, sitzt in einem Büro. Es fällt der Kritik sehr schwer, ein Kollektiv-Drama zu beurteilen, meistens wird es behandelt, als wenn es wie vom Helden her gebaut wäre.30

In der Dürrenmatt-Forschung führt die einseitige Fokussierung auf den Einzelnen dazu, dass das komplexe Phänomen der Darstellung soziopolitischer Systemdynamiken und damit verbunden die Analyse möglicher gesellschaftspolitischer Wirkungspotentiale der Komödien bis anhin in keiner Weise adäquat analysiert wurden. In den Fokus gerückt wird aus diesem Grund Dürrenmatts Aneignung des mathematischen Gesetzes der grossen Zahl als Gleichnis für Systemdynamiken der Moderne. Die folgende Hauptthese liegt dieser Studie zugrunde: Dürrenmatt missversteht das Gesetz der grossen Zahl produktiv: Er eignet es sich als Gleichnis für soziale Systeme und ihren dynamischen Wandel an. Um systemischen Wandel oder dessen Ausbleiben zu erklären, überträgt Dürrenmatt das mathematische Gesetz anfänglich eins zu eins auf die Gesellschaft. Das exponentielle Bevölkerungswachstum und damit verbunden die zunehmende Unüberschaubarkeit der modernen Gesellschaft führen Dürrenmatt jedoch dazu, auf Basis des mathematischen Gesetzes auch die kritischen Folgen dieses Wachstums, das heisst die zunehmende Imponderabilität, für die Steuerung der Systeme und für ihre Systemdynamiken zu reflektieren. Der langfristige Einfluss des unberechenbaren Einzelnen auf die Systeme und die Steuerung des sozialen Wandels bleibt vorwiegend gering. nen, der keine Angst vor der Aufdeckung der Missetaten hat, bedroht wird. Den Bastard in König Johann schildert er als Aussenseiter in einem negativen ideologischen System. Vgl. F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 248f., S. 316. 29 Vgl. A. Mingels: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kategorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. 2003. 30 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 186ff.

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Wie kann Dürrenmatts eigenwillige Rezeption des mathematischen Gesetzes der grossen Zahl nun im essayistischen und dramatischen Werk methodisch untersucht werden? In der Literaturwissenschaft wird seit dem Ende des 20. Jahrhunderts vermehrt von der kulturalistischen Wende gesprochen. Wie Wilhelm Vosskamp in seinem Aufsatz Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft ausführt, wird Kultur in diesem Wissenschaftskonzept als Inbegriff aller menschlichen Lebens- und Arbeitsformen verstanden: Sie schliesst dabei auch die Entwicklungen und Entdeckungen der Naturwissenschaften mit ein.31 Aus diesem Grund wird ein kulturwissenschaftlicher Ansatz vorgeschlagen, um Dürrenmatts interdisziplinäre Verfahrensweise bei der Ausarbeitung des soziopolitischen Diskurses zu analysieren: Da der New Historicism auf der Inhaltsebene als eine der zentralen Fragestellungen die Diskurse der Politik und der Ideologien in Texten untersucht, wird er als übergreifende kulturwissenschaftliche Methode ausgewählt, die vielfältigen soziopolitischen Reflexionen Dürrenmatts im essayistischen und dramatischen Werk aufzuarbeiten und zu rekontextualisieren. Die weiteren methodologischen Überlegungen gliedern sich in drei Schwerpunkte: Zuerst erfolgen einige Ausführungen zur Analyse der soziopolitischen Gedanken Dürrenmatts in den essayistischen Texten. Dürrenmatts Reflexionen zu Gesellschaft und Politik im essayistischen Werk bestehen nicht nur aus dialektisch-argumentierenden Passagen, sondern auch aus literarisch-gleichnishaften Textstellen. Auf den Umgang mit dieser teilweisen Poetisierung der Essays wird ausführlich eingegangen. Anschliessend wird das methodologische Instrumentarium erarbeitet, welches für die Analyse der soziopolitischen Reflexionen in Dürrenmatts Komödien notwendig sein wird: Dabei wird einerseits, um Dürrenmatts eigenwillige Aneignung des mathematischen Gesetzes der grossen Zahl im dramatischen Werk zu analysieren, auf Anthony Giddens’ soziologische Theorie der Strukturierung zurückgegriffen. Der Vorzug dieser Theorie liegt in ihrer genauen Betrachtung von gesellschaftlichen Systemen und deren Dynamiken, ohne den einzelnen Menschen jedoch aus der Analyse auszuschliessen. Durch die Theorie der Strukturierung kann der Fokus auf die in den Komödien dargestellten modernen Systemdynamiken gelegt werden, wobei der Einzelne als unberechenbare Kategorie mitberücksichtigt wird. Andererseits werden textuelle Strukturen und Strategien der Sympathielenkung in Theaterstücken erläutert. Im abschliessenden methodologischen Teilkapitel werden zusätzlich interferierende Elemente erläutert, die sowohl in der Analyse der essayistischen als auch der dramatischen Texte von Relevanz sein werden. Bis heute gibt es keine monographischen oder essayistischen Beiträge, die sich explizit mit Dürrenmatts Aneignung des mathematischen Gesetzes der grossen Zahl beschäf31 Vgl. W. Vosskamp: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. In: A. Nünning und V. Nünning (Hgg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. 2008, S. 75. Diese Umwandlung der historischen Geisteswissenschaften in systematische Kulturwissenschaften ist keine neue Entwicklung, wie der Aufsatz von Vosskamp ebenfalls belegt, sondern geht auf die 1920er-Jahre zurück.



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tigen. In verschiedenen Aufsätzen von Rudolf Käser32 wird jedoch die Frage aufgeworfen, ob für Dürrenmatt das Gesetz der grossen Zahl ein Naturgesetz der Politik ist. Und auch in Hans Wolfgang Bellwinkels Essay Friedrich Dürrenmatt und die Naturwissenschaften wird mehrfach auf die enge Verbindung zwischen den naturwissenschaftlichen – insbesondere den physikalischen und astronomischen – und den politischen Reflexionen Dürrenmatts verwiesen.33 Zu diversen Themenschwerpunkten, die im Folgenden betrachtet werden, lassen sich jedoch teilweise einige Vorarbeiten finden, die sich am Rande und punktuell mit einzelnen Aspekten beschäftigen. Der im Folgenden dargestellte Forschungsstand erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Er betrachtet zudem nicht nur Beiträge, die erst nach Dürrenmatts Tod entstanden sind und somit einen ausgewogeneren Überblick geben, sondern geht, auch aus Gründen der Rekontextualisierung der Dürrenmattschen Reflexionen bis zu Beginn der 1970er-Jahre zurück. Der Forschungsstand wird aus Gründen der Übersichtlichkeit in zwei Teile gegliedert: Zuerst wird auf Werke eingegangen, die sich mit Dürrenmatts soziopolitischen Reflexionen beschäftigen, anschliessend werden diejenigen Arbeiten betrachtet, in denen Dürrenmatts Interesse an den Naturwissenschaften nachgegangen wird. Einige Vorarbeiten zur Rekontextualisierung von Dürrenmatts soziopolitischen Reflexionen an das Gedankengut Karl Poppers finden sich Ende der 1980er-Jahre vor allem bei Joseph A. Federico: Im Essay The Political Philosophy of Friedrich Dürrenmatt der Zeitschrift German Studies Review des Jahres 198934 verweist Federico insbesondere auf die Wichtigkeit der Denker Kant, Vaihinger, Popper, Wittenberg und Dahrendorf35 für Dürrenmatts politischen Diskurs der 1960er- und 1970er-Jahre:36 Karl Popper gewinnt gemäss Federico insbesondere durch seine wissenschaftliche try 32 Vgl. R. Käser: „Der grosse Beobachter fühlte seinen Puls...“ Albrecht von Haller im Spätwerk Friedrich Dürrenmatts. Vortrag an der Universität Zürich am 29.11.2000. Vgl. R. Käser: Friedrich Dürrenmatt: Texte im Spannungsfeld von Literaturtheorie und Wissenschaftsgeschichte. Vortrag an der Universität Basel am 18.05.1999. Vgl. R. Käser: ‚Fernsehkameras ersetzten das menschliche Auge’. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk im Spannungsfeld von Wissenschaftsgeschichte und Medientheorie. In: H. L. Arnold (Hg.): Text und Kritik. Friedrich Dürrenmatt. 2003, S. 176f. URL: http://www.rudolfkaeser. ch/duerrenmatt2.htm und http://www.rudolfkaeser.ch/vortrag_basel.htm. 33 Vgl. H. W. Bellwinkel: Dürrenmatt und die Naturwissenschaften. In: M. Bickel et. al. (Hgg.): Gesnerus – Swiss Journal of the History of Medicine and Sciences. Vol. 52, Nr. 3/4. 1995, S. 210, S. 226 sowie S. 245. 34 Vgl. J. A. Federico: The Political Philosophy of Friedrich Dürrenmatt. In: G. Kleinfeld (Hg.): German Studies Review. Vol. 12, Nr. 1. 1989, S. 91–109. 35 Ralf Dahrendorf ist wie Karl Popper ebenfalls ein Vertreter des Kritischen Rationalismus und zugleich deutscher Politiker zuerst der SPD, dann der FDP. Vgl. U. Schlitzberger: Kritischer Rationalismus. Die philosophisch-analytische Konzeption Karl R. Poppers und ihre Wirkung in der Bundesrepublik Deutschland. 1973, S. 160ff. 36 Vgl. J. A. Federico: The Political Philosophy of Friedrich Dürrenmatt. In: G. Kleinfeld (Hg.): German Studies Review. Vol. 12, Nr. 1. 1989, S. 92ff. Teile dieses Aufsatzes wurden später als Kapitel 1 in Federicos Buch Confronting Modernity. Rationality, Science, and Communication in German Litera-

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and error Methode und sein kritisches Denken für Dürrenmatts politische Reflexionen an Bedeutung.37 Federicos Essay aus demselben Jahr, Political Thinking in a Nuclear Age: Hochhuth’s Judith and Dürrenmatt’s Achterloo, führt zu Beginn ebenfalls kurz einige Analogien zwischen Poppers und Dürrenmatts politischen Reflexionen auf, begrenzt sich dann jedoch vermehrt auf die Analyse der Theaterstücke.38 Auch Irmgard Wirtz’ im Jahre 1996 in Quarto veröffentlichter Essay Dürrenmatts ungeschriebenes Drama Der Tod des Sokrates betont, dass Dürrenmatts Interesse an Platon stark durch seine Rezeption des Werks Die offene Gesellschaft und ihre Feinde von Karl Popper geprägt ist: Wirtz merkt an, dass Dürrenmatts Spätwerk Stoffe „primär eine Kritik am Konzept idealistischer Herrschaft und seiner totalitären Ausformung in der Realität“39 ist. In ihrer Dissertation aus dem Jahre 2003 beschäftigt sich Annette Mingels mit dem Einzelnen, welchen sie als gemeinsame Denkform des Philosophen Kierkegaard sowie des Schriftstellers Dürrenmatt analysiert. Der Einzelne wird sowohl bei Kierkegaard als auch bei Dürrenmatt in religionsphilosophischem und politischem Kontext betrachtet: In einer exemplarischen Analyse untersucht sie Dürrenmatts Werk Zusammenhänge/Nachgedanken und verweist dabei, wie bereits Federico und Wirtz, auf Poppers Relevanz für Dürrenmatts ideologiekritisches Denken,40 ohne dabei aber in der politischen Analyse die Systembedingtheit des Dürrenmattschen Einzelnen zu erkennen. Die ideologiekritische Haltung Dürrenmatts wird auch von Peter Rüedi in seinem 1995 in Die Weltwoche erschienenen Artikel Politik als Versuch, den Menschen zu entschärfen hervorgehoben, allerdings ohne Verweis auf Karl Popper. Er unterstreicht jedoch, dass Dürrenmatts politisches Denken insbesondere auf Strukturanalysen zielt.41 Einzelne, eher konträre Ausführungen finden sich auch zu Dürrenmatts parteipolitischer Ausrichtung: Im Jahr 1985 erscheint in der Zeitung Vorwärts der Artikel Voraussetzung der Freiheit: Ökonomische Gerechtigkeit von Iring Fetscher. Darin würdigt ture of the 1980s veröffentlicht. Vgl. J. A. Federico: Confronting Modernity. Rationality, Science, and Communication in German Literature of the 1980s. 1992. 37 Federico erwähnt in seinem Aufsatz gar zum Schluss einmal das Gesetz der grossen Zahl, um Dürrenmatts Primat der (sozialen) Gerechtigkeit auszuführen, geht aber nicht weiter auf das mathematische Gesetz ein. Vgl. ebd.: S. 102. 38 Vgl. J. A. Federico: Political Thinking in a Nuclear Age: Hochhuth’s Judith and Dürrenmatt’s Achterloo. In: The German Quarterly. Vol. 62, Nr. 3. 1989, S. 335–344. Derselbe Aufsatz wird später in Federicos Buch Confronting Modernity. Rationality, Science, and Communication in German Literature of the 1980s als Kapitel 2 veröffentlicht. Vgl. J. A. Federico: Confronting Modernity. Rationality, Science, and Communication in German Literature of the 1980s. 1992. 39 I. Wirtz: Dürrenmatts ungeschriebenes Drama Der Tod des Sokrates oder Die Geburt der Lebens„Stoffe“ aus dem Sterben der Komödie. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 7. 1996, S. 88. 40 Vgl. A. Mingels: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kategorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. 2003, S. 163ff. 41 Vgl. P. Rüedi: Politik als Versuch, den Menschen zu entschärfen. Die praktische Vernunft und die poetische. In: Die Weltwoche. Nr. 11. 14. März 1991, S. 55ff.



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Fetscher den neuen Jean-Paul-Preisträger Dürrenmatt und bezeichnet ihn aufgrund seiner Essays Über Toleranz, Sätze aus Amerika und Der schwierige Nachbar oder Exkurs über Demokratie als Antreiber für die demokratischen Sozialisten.42 Dem widerspricht Peter von Matt im Essay Der Liberale, der Konservative und das Dynamit aus dem Jahre 2010.43 Von Matt erläutert, dass weder Dürrenmatt noch Frisch Sozialisten oder Sozialdemokraten waren:44 Diese Beurteilung von Matts muss durch die in dieser Arbeit vorliegenden Befunde jedoch in Bezug auf Dürrenmatt präzisiert werden: Dürrenmatt hat sich zwar als Person nie öffentlich der Sozialdemokratischen Partei angeschlossen, doch in seinen essayistischen soziopolitischen Reflexionen finden sich zahlreiche Analogien zum gemässigten deutschen SPD-Parteiflügel in der Nachkriegszeit. Wie diese Studie weiter zeigt, gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs im essayistischen und im dramatischen Werk, die es zu berücksichtigen gilt: Aus diesem Grund muss der in von Matts Essay unternommene Versuch, Dürrenmatt vorwiegend über sein literarisches Werk als politisch Konservativen zu positionieren, ohne seine Aufsätze genauer in die Analyse miteinzubeziehen, als problematisch betrachtet werden. Seine Hauptargumente, um Dürrenmatt und dessen Werk im Konservativismus zu verorten, „[d]ie Grundbeschaffenheit der Welt, der Gesellschaft, des Einzelnen ändert sich nicht“45 und es gibt keinen „Prozess der fortlaufenden Verbesserung“46, sind zu schematisierend: In der Essayistik vertritt Dürrenmatt die Auffassung, dass der Staat durch vernünftige Politik schrittweise verbessert werden kann und auch in der Komödie Die Frist wird mit einem Demokratisierungsprozess ein positiver systemischer Wandel dargestellt. Im Fokus der Forschungsbeiträge stehen auch immer wieder einzelne essayistische Werke Dürrenmatts, in denen er seine soziopolitischen Überlegungen äussert: Der Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht wird in Paul K. Kurz’ Essay Wölfe und Lämmer. Friedrich Dürrenmatts Dramaturgie der Politik47 aus dem Jahre 1971 analysiert. Er beschränkt sich jedoch auf eine stark verkürzte Wiedergabe der Reflexionen des Schriftstellers, ohne sie in einen erweiterten soziopolitischen Kontext zu setzen. Der Essay Recht – Gerechtigkeit – Politik von Mona und Gerhard P. Knapp, welcher 1977 veröffentlicht wurde, geht insbesondere auf die Ausarbeitung verschiedener Gerechtigkeitskonzepte im literarischen Werk sowie die Relevanz des Wertes Gerechtigkeit in der Politik ein. Dabei stellen die Autoren im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht Analogien fest zwischen Karl Poppers Falsifikationstheorie und Dürrenmatts Versuch, 42 Vgl. I. Fetscher: Voraussetzung der Freiheit: Ökonomische Gerechtigkeit. In: Vorwärts. Nr. 42. 12. Oktober 1985, S. 20. 43 Vgl. P. von Matt: Der Liberale, der Konservative und das Dynamit. Zur politischen Differenz zwischen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. In: E. Pellin und U. Weber (Hgg.): »Wir stehen da, gefesselte Betrachter«. Theater und Gesellschaft. 2010, S. 69–85. 44 Vgl. ebd.: S. 71. 45 Ebd.: S. 78. 46 Ebd.: S. 78. 47 Vgl. P. K. Kurz: Über moderne Literatur III. Standorte und Deutungen. 1971, S. 73–88.

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aus der „existenten Umwelt“48, die er in das Wolfsspiel und das Gute-Hirte-Spiel verwandelt, induktiv zu Begriffsbestimmungen zu gelangen, die durch ihre Anwendung in den beiden ideologisch gewordenen Spielen bereits wieder verworfen wurden.49 Dieser kurze Verweis auf Karl Popper wird jedoch nicht weiter ausgeführt: Mona und Gerhard Knapp bringen Dürrenmatts Ideologiekritik und sein Streben nach Vernunft im selben Essay nicht weiter mit Karl Poppers soziopolitischen Reflexionen in Verbindung.50 In ihrem kurzen Essay Literaturtheorie und Politik untersucht auch Elsbeth Pulver Dürrenmatts politischen Diskurs.51 Sie geht zuerst auf literatur- und dramentheoretische Essays Dürrenmatts ein, bevor sie ebenfalls den Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht betrachtet und die darin enthaltene Ideologiekritik betont. Pulver führt aus, dass die Rede neben analytischen auch spielerische52 Passagen enthält. Gerade diese teilweise spielerische Form ermöglicht es Pulver zufolge, dass stilistisch dem „Schematismus der ideologischen Argumentation“53 entgangen werden kann. Interessant ist, dass Pulver Dürrenmatts Dramaturgie sowohl gegen die klassisch-humanistische als auch gegen die progressiv-revolutionäre Tradition, welche davon ausgeht, durch Literatur „die Welt direkt verändern, das Publikum belehren und bestimmen, die Revolution entfachen“54 zu können, abgrenzt. In der Analyse der Komödien wird auf diese Abgrenzungen ausführlich Bezug genommen. Auf Dürrenmatts soziopolitische Essayistik, insbesondere Dürrenmatts Rede Die Schweiz – ein Gefängnis. Rede auf Václav Havel und die Bezüge Dürrenmatts zu Havel, der Tschechoslowakei sowie dem Landesring der Unabhängigen konzentriert sich Eliana Grafs an der Universität Zürich 2010 entstandene Lizenziatsarbeit mit dem Titel Auf der Suche nach dem ,dritten Weg‘. Friedrich Dürrenmatt im politischen Raum.55 Erst seit Mitte der 1990er-Jahre werden, wie Jürgen Meyer bestätigt, in verschiedenen Aufsätzen und Monographien vereinzelt Aspekte des Dürrenmattschen Interesses an den Naturwissenschaften beleuchtet:56 Verwiesen werden kann beispielsweise auf Marc Eichelbergs Aufsatz, der 1994 im Buch Friedrich Dürrenmatt – Schriftsteller und Maler erschien. Eichelberg, ein langjähriger Freund Dürrenmatts und Professor für Physik sowie Mathematik am Lehrerausbildungsinstitut in Chur, 48 M. Knapp und G. P. Knapp: Recht – Gerechtigkeit – Politik. Zur Genese der Begriffe im Werk Friedrich Dürrenmatts. In: H. L. Arnold (Hg.): Text und Kritik. Friedrich Dürrenmatt II. H. 56. 1977, S. 32. 49 Vgl. ebd.: S. 32. 50 Vgl. ebd.: S. 34. 51 Vgl. E. Pulver: Literaturtheorie und Politik. Zur Dramaturgie Friedrich Dürrenmatts. In: H. L. Arnold (Hg.): Text und Kritik. Friedrich Dürrenmatt I. H. 50/51. 1980, S. 68–79. 52 Vgl. ebd.: S. 78. 53 Ebd.: S. 78. 54 Ebd.: S. 70. 55 Vgl. E. Graf: Auf der Suche nach dem ‹dritten Weg›. Friedrich Dürrenmatt im politischen Raum. 2010. 56 Vgl. J. Meyer: Allegorien des Wissens. Flann O’Briens The Third Policeman und Friedrich Dürrenmatts Durcheinandertal als ironische Kosmographien. 2001, S. 108f.



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beschreibt in seinem Essay Dürrenmatts Interesse an populärwissenschaftlichen Büchern und die Diskussionen, die zwischen ihm und Dürrenmatt daraus entstanden. Eichelberg betont insbesondere Dürrenmatts primäres Interesse am Beobachtungsvorgang in den Naturwissenschaften: „Er beobachtete, wie die Wissenschaft ihren Gegenstand beobachtet“57. Der bereits erwähnte Aufsatz Friedrich Dürrenmatt und die Naturwissenschaften von Hans Wolfgang Bellwinkel, welcher 1995 in Gesnerus veröffentlicht wurde, beschreibt hingegen Dürrenmatts fruchtbare Synthese der zwei Kulturen Natur- und Geisteswissenschaft. Er betont zwar die Verbindung zwischen den naturwissenschaftlichen und politischen Reflexionen Dürrenmatts, knüpft dabei jedoch nicht an Popper an.58 Zu Dürrenmatts naturwissenschaftlichem Interesse und der Übertragung von naturwissenschaftlichen Denkmustern in literarische beziehungsweise literaturtheoretische Arbeiten gibt es zudem drei Monographien: Elisabeth Emters Studie Literatur und Quantentheorie aus dem Jahr 1995 widmet Friedrich Dürrenmatt ein Kapitel, beschränkt sich dabei jedoch auf seine literaturtheoretischen Essays.59 Viele Hinweise auf Dürrenmatts Rezeption naturwissenschaftlicher Erkenntnisse finden sich in der Dissertation Dürrenmatts stereoskopisches Denken von Thomas Wünsche. Wünsche untersucht Dürrenmatts Formulierung einer Erkenntniskritik unter Berücksichtigung von Popper, Heisenberg, Kierkegaard, Kant, Aristoteles sowie Platon, beschränkt sich jedoch vor allem auf die Analyse des erzählerischen Werks Dürrenmatts. Wünsche charakterisiert Dürrenmatts frühes Denken als ein dualistisches – ein objektives Denken geprägt durch Popper sowie ein subjektives Denken geprägt durch Kierkegaard. Gerade das objektive Denken erachtet er als relevant für Dürrenmatts politischen Diskurs, führt diese Feststellung jedoch nicht weiter aus.60 Jürgen Meyer analysiert in seinem Buch Allegorien des Wissens im Jahr 2001 unter anderem, wie Dürrenmatt seine „eigenwillige Rezeption von naturwissenschaftlichen […] Inhalten und deren Kritik für fiktionale Zusammenhänge fruchtbar macht“61. Er thematisiert dabei Dürrenmatts Umsetzung verschiedener Aspekte der modernen Naturwissenschaft – beispielsweise Heisenbergs Unschärferelation oder die Wechselwirkungen von Materie und Antimaterie, wenn sie miteinander in Verbindung gebracht werden. Doch auch in den Texten, die vorwie57 M. Eichelberg: F. D. und die Naturwissenschaften. In: Schweizerisches Literaturarchiv Bern und Kunsthaus Zürich (Hgg.): Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und Maler. 1994, S. 226. 58 Vgl. H. W. Bellwinkel: Dürrenmatt und die Naturwissenschaften. In: M. Bickel et. al. (Hgg.): Gesnerus – Swiss Journal of the History of Medicine and Sciences. Vol. 52, Nr. 3/4. 1995, S. 210, S. 226 sowie S. 245. 59 Vgl. E. Emter: Literatur und Quantentheorie: die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren. 1995, S. 218–270. 60 Vgl. T. Wünsche: Dürrenmatts stereoskopisches Denken. Die Erkenntniskritik oder Der „Versuch zu einem Grundriss“. 1996, S. 3, S. 14, S. 76, S. 96 und S. 324f. Wünsche führt aus, dass Dürrenmatts dualistisches Denken sich im Spätwerk zu einem stereoskopischen Denken wandelt. 61 J. Meyer: Allegorien des Wissens. Flann O’Briens The Third Policeman und Friedrich Dürrenmatts Durcheinandertal als ironische Kosmographien. 2001, S. 131.

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gend Dürrenmatts naturwissenschaftliches Interesse beleuchten, finden sich keine vertieften Erläuterungen zu Dürrenmatts auf der Aneignung des Gesetzes der grossen Zahl basierenden soziopolitischen Reflexionen. Der Forschungsstand zeigt, dass in einzelnen Arbeiten die enge Verbindung zwischen den naturwissenschaftlichen beziehungsweise mathematischen und den soziopolitischen Reflexionen Dürrenmatts zwar thematisiert wird, bis heute jedoch eine minuziöse Ausarbeitung dieser Beziehung ausbleibt. Diese bestehende Forschungslücke soll nun geschlossen werden: Ein erstes Kapitel widmet sich umfangreichen methodologischen Vorüberlegungen: Um Dürrenmatts soziopolitischen Diskurs, welcher auf der Aneignung eines mathematischen Gesetzes beruht, übergreifend sowohl im essayistischen als auch im dramatischen Werk zu analysieren und zu rekontextualisieren, wird auf den kulturwissenschaftlichen Ansatz des New Historicism zurückgegriffen. Zudem erfolgen einzelne methodische Erläuterungen zu den Analysen der essayistischen und dramatischen Texte, bevor abschliessend auf interferierende Elemente eingegangen wird (vgl. Kap. 1). Im zweiten Kapitel wird eingehend Friedrich Dürrenmatts Experimentbegriff betrachtet. Es wird erläutert, dass eine Akzentuierung der theatralisch dargestellten systemischen Bedingungen vor allem über die experimentelle Verwendung ursprünglich klassischer Theaterelemente – beispielsweise über Experimente mit der Sympathielenkung – erreicht wird (vgl. Kap. 2). Anschliessend steht im dritten Kapitel Dürrenmatts soziopolitischer Diskurs im essayistischen Werk im Fokus: Durch die erstmalige Analyse der über Jahrzehnte hinweg erfolgten Aneignung des mathematischen Gesetzes der grossen Zahl als Gleichnis für gesellschaftliche Systemdynamiken wird ein ausführlicher Einblick in Dürrenmatts komplexen Diskurs zu Gesellschaft und Politik gegeben. Diese Ergebnisse werden in einem weiteren Schritt rekontextualisiert: Insbesondere die Analogien zwischen Friedrich Dürrenmatts soziopolitischen Reflexionen und Karl Poppers Kritischem Rationalismus sowie Dürrenmatts Bezüge zur Sozialdemokratischen Partei in Deutschland werden dabei hervorgehoben (vgl. Kap. 3). Das vierte Kapitel beinhaltet eine mögliche soziopolitische Neuinterpretation des Stücks Der Besuch der alten Dame. Exemplarisch werden in dieser Komödie die aufgestellte Hauptthese der Studie sowie weitere spezifische Thesen analysiert und Analogien sowie insbesondere Differenzen zu Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs der Essays aufgezeigt (vgl. Kap. 4). Nach dieser vertieften Analyse an einem einzelnen Stück wird der Fokus anschliessend auf die Komödien Die Ehe des Herrn Mississippi, Frank der Fünfte, Der Mitmacher und Die Frist ausgeweitet. Die bereits in Der Besuch der alten Dame bearbeitete Hauptthese wie auch zusätzliche neue Thesen werden nun in diesen Theaterstücken untersucht. Die diachrone Betrachtung der Komödien ermöglicht es, Entwicklungen und Veränderungen in Dürrenmatts Theaterwerk festzustellen (vgl. Kap. 5). Im Schlusswort werden die wichtigsten Ergebnisse abschliessend nochmals zusammengefasst und in einen erweiterten Kontext gesetzt (vgl. Kap. 6). Das interdisziplinäre Forschungsinteresse der Studie nimmt somit eine bereits zu Lebzeiten Dürrenmatts brisante Thematik auf: Charles Percy Snow erläutert im Jahr



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1959 in seiner Rede-Lecture The two cultures and the Scientific Revolution die These der Kluft zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft.62 Wie Bellwinkel ausführt, geht Snow provokativ davon aus, dass „die Vertreter der einen Richtung zu eingebildet, die der anderen zu beschäftigt seien“63, um diese Kluft zu überbrücken. Diese Studie versteht jedoch, im Gegensatz zur These Snows, Friedrich Dürrenmatts dramatisches und essayistisches Werk als Spur eines lebenslangen Dialogs mit den Geistes- sowie den Naturwissenschaften. Dürrenmatts Versuch, den Graben zwischen den beiden Wissenskulturen insbesondere in seinem soziopolitischen Diskurs zu überbrücken, soll im Folgenden kritisch geprüft und die Tragfähigkeit und Belastbarkeit dieser Brücke begutachtet werden.

62 Wie brisant diese These der Kluft der zwei Wissenskulturen von Snow ist, zeigt sich an den zahlreichen und weltweiten Reaktionen auf diese Rede, welche 1960 als Buch veröffentlicht wurden. Im Jahr 1969 wird durch Helmut Kreuzer zudem ein Sammelband mit verschiedenen Aufsätzen zum Thema sowie den Übersetzungen der am stärksten beachteten Dokumente der angelsächsischen Diskussion veröffentlicht. Vgl. beispielsweise: H. Kreuzer: Literarische und Szientifische Intelligenz. In: H. Kreuzer (Hg.): Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Dialog über die »zwei Kulturen«. 1969, S. 128–142, F. R. Leavis: Zwei Kulturen? Die >Bedeutung< von C. P. Snow. In: H. Kreuzer (Hg.): Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Dialog über die »zwei Kulturen«. 1969, S. 34–46 sowie C. P. Snow: Die zwei Kulturen. In: H. Kreuzer (Hg.): Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Dialog über die »zwei Kulturen«. 1969, S. 11–25. 63 H. W. Bellwinkel: Dürrenmatt und die Naturwissenschaften. In: M. Bickel et. al. (Hgg.): Gesnerus – Swiss Journal of the History of Medicine and Sciences. Vol. 52, Nr. 3/4. 1995, S. 245.

1. Methodologische Vorüberlegungen „Obwohl ich nie geglaubt habe, dass die Toten mich hören könnten, und mir stets bewusst war, dass sie nicht sprechen konnten, war ich mir sicher, ein Gespräch mit ihnen wieder aufleben lassen zu können.“ S. Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. 1990, S. 7.

Wenn in der Analyse von Dürrenmatts Essays und Komödien der methodologische Fokus auf die dargestellten systemischen Mechanismen und deren dynamischen Wandel gelegt wird, stellt sich, so die hier vertretene These, heraus, dass Dürrenmatt das mathematische Gesetz anfänglich eins zu eins auf die Gesellschaft überträgt. Das exponentielle Bevölkerungswachstum und damit verbunden die zunehmende Unüberschaubarkeit der modernen Gesellschaft führen Dürrenmatt jedoch dazu, auf Basis des mathematischen Gesetzes auch die kritischen Folgen dieses Wachstums, das heisst die zunehmende Imponderabilität, für die Steuerung der Systeme und ihre Systemdynamiken zu reflektieren. Der unberechenbare Einzelne resultiert dabei stets als ein Epiphänomen 64 des Systems: Er ist kein Botschafter einer verlorenen Weltordnung und aus diesen Gründen keine moralische Figur, wie in der Sekundärliteratur bis anhin angenommen wurde, sondern eine systembedingte, soziopolitische Kategorie. Er entsteht, wenn das Gesellschaftssystem negativ wird, sich zur Ideologie wandelt. In diesem Kapitel werden konzentriert die methodologischen Instrumentarien und Begriffe erläutert, welche für die Analyse dieser These notwendig sind: Nach einem einführenden Teilkapitel zur kulturwissenschaftlichen Methode des New Historicism werden zuerst die methodischen Vorüberlegungen zur Analyse von Dürrenmatts essayistischem Werk präsentiert. Danach erfolgen die methodischen Erläuterungen für die Analyse von Dürrenmatts Komödien: Es werden Instrumente und Begriffe ausgeführt, die zur Durchleuchtung der theatralisch dargestellten Gesellschaftssysteme beitragen und helfen, die Sympathielenkung in den dramatischen Texten zu untersuchen. Abschliessend werden Grundelemente thematisiert, die sowohl im essayistischen als auch im dramatischen Werk Dürrenmatts vorkommen.

64 „epi..., Epi...vor Vokalen meist ep..., Ep... (gr. epí „darauf, auf, an, während, durch, bei“) Präfix mit der Bedeutung „darauf (örtlich u. zeitlich), daneben, bei, darüber““. Duden. Das Fremdwörterbuch. Bd. 5. 2007, S. 282. Der Einzelne als Epiphänomen ist in dieser Studie nicht wertend gebraucht, sondern verweist auf seine Entstehung bei negativen systemischen Bedingungen und sein sich wieder Eingliedern in positive Gesellschaftssysteme.



Der New Historicism als kulturwissenschaftlicher Ansatz

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1.1. Der New Historicism als kulturwissenschaftlicher Ansatz Die Analyse des interdisziplinären soziopolitischen Diskurses Friedrich Dürrenmatts verlangt einen kulturwissenschaftlichen Ansatz, welcher es ermöglicht, die folgende These zu bearbeiten: Durch die Analyse der Intertextualität von Dürrenmatts über Jahrzehnte hinweg geführtem soziopolitischen Diskurs gelingt es, sein essayistisches und dramatisches Werk zu rekontextualisieren. Dadurch wird es möglich, die vielfältigen soziopolitischen Wirkungspotentiale seiner Theaterstücke eingehend zu analysieren. Aufgrund der Wahl des New Historicism als kulturwissenschaftliche Methode situiert sich die Studie in einem Problemfeld, auf das Oliver Jahraus in seinem Essay Die Differenz von Kulturwissenschaft und Philologie als literaturtheoretisches Problem eingeht: „Wer sich zum Verhältnis von Kulturwissenschaft und Philologie äussert, steht in einer bereits länger andauernden Diskussion“65, in der die verschiedenen Positionen unterschiedlicher nicht sein könnten. Seit Beginn der 1990er-Jahre wird in den Literaturwissenschaften vermehrt von der kulturalistischen Wende gesprochen. Kultur wird in diesem Wissenschaftskonzept, wie Wilhelm Vosskamp in seinem Aufsatz Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft ausführt, als Inbegriff aller menschlichen Arbeits- und Lebensformen verstanden, einschliesslich der naturwissenschaftlichen Entwicklungen.66 Die Aufgabe der Literaturwissenschaft zielt dabei nicht mehr allein auf die Interpretation der Texte, „sondern auf den Gesamtbereich der kulturellen Kommunikation“67. Diese Möglichkeit, transdiziplinär zu arbeiten, erweitert den Gegenstandsbereich der kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft. Vosskamp wie auch Jahraus grenzen die Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft von der Philologie im engen Sinne ab: Jahraus versteht unter Philologie „eine methodische und literaturtheoretische Grundkonzeption der Literaturwissenschaft, deren Gegenstand nicht nur Literatur, sondern gerade das Spezifische der Literatur ist“68. Das Spezifische wird dabei häufig als das Ästhetische definiert.69 Aus der Sicht kulturwissenschaftlicher Anstrengungen muss der Rekurs auf spezifische Eigenqualitäten der Literatur als Selbsteinkapselung, als Selbstbeschneidung und […] als 65 O. Jahraus: Die Differenz von Kulturwissenschaft und Philologie als literaturtheoretisches Problem. In: J.-M. Valentin (Hg.): Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005. „Germanistik im Konflikt der Kulturen“. Bd. 5. 2008, S. 119. 66 Vgl. W. Vosskamp: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. In: A. und V. Nünning (Hgg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. 2008, S. 75. Diese Umwandlung der historischen Geisteswissenschaften in systematische Kulturwissenschaften ist keine neue Entwicklung, wie der Aufsatz von Vosskamp ebenfalls belegt, sie geht auf die 1920er-Jahre zurück. 67 Ebd.: S. 75. 68 O. Jahraus: Die Differenz von Kulturwissenschaft und Philologie als literaturtheoretisches Problem. In: J.-M. Valentin (Hg.): Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005. „Germanistik im Konflikt der Kulturen“. Bd. 5. 2008, S. 120. 69 Vgl. ebd.: S. 121.

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Methodologische Vorüberlegungen Selbstverabschiedung der Literaturwissenschaft, als Rückzug in den mehr oder weniger elitären Elfenbeinturm erscheinen. Stattdessen greift diese (die kulturwissenschaftliche PK) Perspektive auf so etwas wie einen erweiterten Textbegriff zurück, der alle kulturellen Phänomene als Text und schliesslich sogar die gesamte Kultur als Text erfasst. Dies erfordert es dann wiederum, den Text in seiner kulturellen Funktion zu lesen und zu analysieren. […] Aus der Perspektive einer radikalen Philologie würde das aber bedeuten, dass gerade das Zeichenhafte und das Textuelle des literarischen Textes dasjenige ist, was ihn nicht spezifisch auszeichnet.70

Vosskamp zählt in seinem Essay drei systematische Aspekte von Literatur- als Kulturwissenschaft auf, die über diesen Kernbereich der Philologie hinausgehen: Erstens führt Vosskamp die Analyse literarischer Texte „als Gegenstände der kulturellen Selbstwahrnehmung“71 auf, zweitens die Betrachtung von „Medien und Medialität als konstitutive Elemente kultureller Kommunikation“72 und drittens die „Rekonstruktion und Konstruktion der Geschichte der Literatur als historisches Problem des Zusammenhangs von Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft“73.74 Er sieht „die Chance für eine >Poetik der Kultur< […] in der Wechselbeziehung zwischen einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Literaturwissenschaften und einer textwissenschaftlichen Orientierung der Kulturwissenschaften“75. Als zu lösendes Problem erweisen sich dabei insbesondere fächerübergreifende verknüpfungs- und prozesstheoretische Fragen.76 Jahraus sieht gar die Möglichkeit einer Versöhnung: Er plädiert dafür, dass Philologie ein integraler Bestandteil der Kulturwissenschaft ist und nimmt darin eine ähnliche Position wie der New Historicist Montrose und der Literaturwissenschaftler Bassler ein.77 Ein transdisziplinäres, kulturwissenschaftliches Vorgehen scheint für die Analyse und Rekontextualisierung des soziopolitischen Diskurses Friedrich Dürrenmatts eine 70 Ebd.: S. 121f. 71 W. Vosskamp: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. In: A. und V. Nünning (Hgg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. 2008, S. 77. 72 Ebd.: S. 78. 73 Ebd.: S. 80. 74 Der New Historicism als Literaturtheorie fällt gemäss Vosskamp sowohl in den ersten als auch in den dritten Bereich. Vgl. ebd.: S. 77 und S. 80. 75 Ebd.: S. 82. 76 Vgl. ebd.: S. 82. 77 Vgl. O. Jahraus: Die Differenz von Kulturwissenschaft und Philologie als literaturtheoretisches Problem. In: J.-M. Valentin (Hg.): Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005. „Germanistik im Konflikt der Kulturen“. Bd. 5. 2008, S. 123. Eine ähnliche Forderung ist bei Montrose zu lesen: Er fordert nicht eine Gegenüberstellung sondern eine Betonung der Reziprozität der beiden Bereiche kulturorientierter Interpretation (Diskurse von Geschichte, Kultur, Politik etc.) und Lektüre (Theorie). Vgl. L. Montrose: Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur. In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 60f. Und auch Bassler führt aus, dass im New Historicism das close reading nicht aufgeben wird. Vgl. M. Bassler: New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies. In: A. und V. Nünning (Hgg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. 2008, S. 134. In dieser Studie wird diese Auffassung ebenfalls vertreten.



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äusserst ergiebige Zugangsweise zu sein: Denn zur Ausarbeitung seiner Reflexionen synthetisiert Dürrenmatt das mathematische Gesetz der grossen Zahl mit gesellschaftspolitischen, thermodynamischen und quantenphysikalischen Aspekten. Der kulturwissenschaftliche Ansatz des New Historicism ist in der anglo-amerikanischen Literaturwissenschaft insbesondere für sein Interesse an historischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen und Folgen literarischer Produktion und Reproduktion bekannt.78 Der Literaturwissenschaftler beschäftigt sich auf inhaltlicher Ebene, wie Kaes ausführt, beispielsweise mit folgenden Fragestellungen: „Wie werden zu einem konkreten Zeitpunkt Krankheit, Seuchen und der Tod dargestellt? Wie werden […] Macht, Strafsystem und Krieg […] repräsentiert? Wie stellt sich die Politik dar?“79 Ein weiteres zentrales Thema für den New Historicism sind diejenigen Prozesse, in denen Ideologien hergestellt und erhalten werden.80 Da die Fragestellungen des New Historicism durch ihre Fokussierung auf Politik, Macht, Gerechtigkeit und Strafe zentrale Themen des soziopolitischen Diskurses Friedrich Dürrenmatts betreffen, wird er für die folgende Analyse ausgewählt. Aus diesem Grund werden nun zuerst die wichtigsten Prämissen des New Historicism erklärt. Anschliessend wird auf seine dringendsten Probleme verwiesen und es werden mögliche Lösungsansätze skizziert, bevor abschliessend zwei Ebenen thematisiert werden, auf welchen in der Studie neue Impulse durch den New Historicism erwartet werden.

1.1.1 Der New Historicism81 Der New Historicism hat seinen Ursprung in den frühen 1980er-Jahren an der University of California in Berkeley. Ein Dozentenzirkel um Stephen Greenblatt und Louis 78 Vgl. L. Montrose: Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur. In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 60. 79 A. Kaes: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 263. 80 Vgl. L. Montrose: Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur. In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 67. 81 Gemäss Bassler hat der Cultural Materialism von Raymond Williams, welcher als eine frühe britische kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft gilt (1950er- bis 1980er-Jahre), Einfluss auf die Cultural Studies und den New Historicism genommen. Bassler führt weiter aus, dass der Begriff Cultural Studies mehrdeutig ist: Erstens steht er als Oberbegriff für ein breit gefächertes Spektrum kulturwissenschaftlicher Ansätze im angelsächsischen Raum (z. B. den New Historicism und den Cultural Materialism). In einem zweiten engeren Sinn stehen Cultural Studies auch für Fragestellungen, deren Fokus nicht mehr auf textuelle oder historische, sondern auf aktuelle Probleme gerichtet ist, wie die Gender oder die Black Studies. Wichtiger Ausgangspunkt für den New Historicism ist die Feststellung des amerikanischen Anthropologen Geertz in den 1960er- und 1970er-Jahren, dass nicht nur hochkulturelle Texte, sondern auch Kulturen selbst komplexe textuelle Geflechte sind. Vgl. M. Bassler: New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies. In: A. und V. Nünning (Hgg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. 2008, S. 132f. und S. 142f.

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Methodologische Vorüberlegungen

Montrose befasst sich damals mit der Problematik, dass ihre lineare Geschichtsauffassung, welche bis dahin auf einer marxistisch geprägten Literaturwissenschaft beruht, durch Foucault, der zeitweise in Berkeley lebt, grundlegend erschüttert wird.82 Dennoch sind sie nicht gewillt, ihr historisches Interesse am Forschungsgegenstand einfach einem „ahistorisch-dekonstruktiven Verfahren [zu] opfern“83. Louis Montrose formuliert dieses entstandene Problem folgendermassen: Die poststrukturalistische Ausrichtung auf Geschichte, die jetzt in der Literaturwissenschaft aufkommt, kann mit einem Chiasmus bezeichnet werden als ein reziprokes Interesse an der Geschichtlichkeit von Texten und der Textualität von Geschichte.84

Er gibt damit gemäss Bassler eine bis heute gültige Definition des New Historicism. Die Geschichtlichkeit von Texten, die schon immer ein wichtiger Bestandteil der Literaturgeschichte war, soll nun mit der poststrukturalistischen Prämisse der Textualität von Geschichte vereinbart werden.85 Oder mit den Worten von Louis Montrose bedeutet der New Historicism „eine Neuausrichtung der Achse der Intertextualität: Der diachrone Text einer autonomen Literaturgeschichte wird ersetzt durch den synchronen Text eines kulturellen Systems“86. Was genau bedeutet jedoch Textualität von Geschichte? Die Textualität der Geschichte grenzt sich vom früheren Historismus, dem Old Historicism, ab: Geschichte wird im New Historicism nicht mehr als eine monologische Wahrheit aufgefasst, der man sich annähern kann.87 Die New Historicists zweifeln die Rekonstruktion des historischen Kontextes und sein ursprüngliches Verhältnis zwischen Literatur und Geschichte als eine einfache Gegenüberstellung von Text und Hintergrund an: Der geschichtliche Background fungiert nicht mehr als fixiertes, kohärentes, nicht hinterfragbares Faktum, auf das sich der literarische Text wie auf einen Fixpunkt bezieht.88 Der New Historicism sieht Geschichte „als historisch kontingentes Ergebnis einer selbst immer historischen 82 Vgl. M. Bassler: Einleitung: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 7f. sowie S. Greenblatt: Grundzüge einer Poetik der Kultur. In: D. Kimmich et. al. (Hgg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. 2008, S. 259f. 83 M. Bassler: Einleitung: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 8. 84 L. Montrose: Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur. In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 67. 85 Vgl. M. Bassler: Einleitung: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 8. 86 L. Montrose: Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur. In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 63. 87 Vgl. M. Bassler: Einleitung: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 10. 88 Vgl. A. Kaes: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 255. Vgl. auch S. Greenblatt:



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und historisch je verschiedenen Vertextung“89. Lentricchia betont, dass die Geschichte im New Historicism durch Heterogenität, Fragmentierung, Widersprüchlichkeit und Differenz gekennzeichnet ist.90 Geschichte ist neuerdings nicht mehr Bedingung, sondern Teil eines „texte général“91. Das Problem, das dabei entsteht, ein Vertextungsproblem, lautet: „Wie verknüpfe ich die Fakten zu einem legitimen Zusammenhang, der sie erst zu »historischen« Fakten macht?“92 Der Poststrukturalismus bricht also mit der Tradition der temporalen, linearen Strukturen und beschäftigt sich neu mit spatialen, netzartigen Mustern. Dieser Paradigmenwechsel muss im New Historicism auch auf die Geschichte angewendet werden. Die Frage des New Historicism ist dabei, wie sich Geschichte sinnvoll in den texte général einfügen lässt.93 Geht man nun davon aus, dass uns der sogenannte historische background nur mittels überlieferter Texte zugänglich ist, wird der Hintergrund notwendigerweise selbst zum Interpretandum; er kann darum keine privilegierte Autorität haben, die ausserhalb des Textes zu lokalisieren wäre: Der background eines Textes ist selbst ein Komplex von Texten, ein Teil dessen, was Derrida »le texte général« nennt.94

Wird die Berücksichtigung des historisch-kulturellen Umfeldes nicht mehr als Antwort, sondern neu als Frage begriffen, erweitert sich der Aufgabenbereich der Literaturwissenschaft, es wachsen aber auch die Anforderungen an sie: Die traditionellen Grenzen zwischen den Fächern werden durchlässig. Dadurch wächst die Anzahl der möglichen, herstellbaren Bezüge ins Unermessliche, Vollständigkeit anzustreben, kann nicht mehr das Ziel sein: „[E]s muss ausgewählt werden“95. Wie können diese theoretischen Erläuterungen nun in der Praxis umgesetzt und wie kann das oben erläuterte Vertextungsproblem, die Repräsentation des komplexen Gewebes aus Diskursen, gelöst werden? Das wichtigste Werkzeug, um derartiges Material zu strukturieren, ist gemäss Bassler der Diskursbegriff. Er kann helfen, Gegenstände aus

Die Formen der Macht und die Macht der Formen in der englischen Renaissance. In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 33. 89 M. Bassler: Einleitung: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 11. 90 Vgl. F. Lentricchia: After the New Criticism. 1980, S. XIV. 91 M. Bassler: Einleitung: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 12. 92 Ebd.: S. 11. 93 Vgl. ebd.: S. 12. 94 A. Kaes: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 255. 95 M. Bassler: Einleitung: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 12.

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Methodologische Vorüberlegungen

verschiedensten Medien (z. B. Gattungen, Disziplinen oder sonstige Arten der Darstellung innerhalb einer Kultur) zu vergleichen.96 Die Diskurse sind nun das Verbindende zwischen diesen Medien, sie werden in verschiedenen Medien geführt und stellen damit die Fäden dar, die auch den Historiker von einem Medium in das andere leiten. Aufgabe einer Diskursanalyse ist es dementsprechend, die >Repräsentationsformen< eines Diskurses zu beschreiben, die spezifischen Gestalten und Funktionen, die er im jeweiligen Medium innehat.97

Texte bestehen also aus Diskursen und Diskurse aus Texten. Durch den Diskursbegriff wird nun die Beschreibung von Intertextualität ermöglicht. Der literarische Text wird damit ein Teil dieses texte général, dieser kulturellen Textur. Diskursfäden laufen in den Text hinein und aus dem Text hinaus, sind innerhalb und ausserhalb des Textes vielfältig verwoben. Der an diesen Verbindungen und den dabei getätigten Tauschhandlungen (»negotiations«) interessierte Interpret befindet sich immer an den Grenzen, den Fransen des Textes, dessen Konturen somit verschwimmen.98

Greenblatt verspricht sich von dieser Arbeitsweise ein teilweises Wiederaufladen des literarischen Textes mit seiner kulturellen Energie:99 Ziel des New Historicist ist es, einzelne Diskursfäden aufzugreifen und zu betrachten, wie sie in anderen Medien verarbeitet werden. Gemäss Greenblatt lässt sich nun die kulturelle Energie nur indirekt und zwar durch ihre Auswirkung feststellen. „Sie manifestiert sich in der Fähigkeit gewisser sprachlicher, auditiver und visueller Spuren, kollektive physische und mentale Empfindungen hervorzurufen, und diese zu gestalten und zu ordnen.“100 Die Repräsentation einer solchen Arbeitsweise im eigenen Text ist nicht unproblematisch: Einen Text auf der Grundlage des New Historicism zu schreiben, heisst, Sinn herstellen. Dies erfordert den Mut zur Auswahl und die Kunst der Darstellung, wie Bassler ausführt. Der New Historicist verzichtet einerseits auf jeden universalistischen Zugriff auf das enorme Stoffreservoir des texte général, andererseits auch auf eine umfassende Interpretation eines einzelnen Textes.101 Ein im Sinne des New Historicism prä96 Vgl. ebd.: S. 14. 97 Ebd.: S. 14. 98 Ebd.: S. 16. 99 In Anlehnung an Bassler wird für diese Arbeit dessen deutsche Übersetzung kulturelle Energie für Greenblatts englische Bezeichnung social energy verwendet. Vgl. M. Bassler: New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies. In: A. und V. Nünning (Hgg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. 2008, S. 135. 100 S. Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. 1990, S. 12. 101 Vgl. M. Bassler: Einleitung: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 18f.



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sentierter Text steht immer für einen als wesentlich erachteten Teil des Archivs, er steht synekdochisch für gewisse historische Zusammenhänge. Daher eignen sich bestimmte literarische oder rhetorische Grundmuster wie die Eröffnungsanekdote, der Chiasmus, die Synekdoche sowie Parallelismen am besten für die Arbeitsweise der New Historicism Vertextung.

1.1.2 Die Problematik des New Historicism und mögliche Lösungsansätze Bassler führt aus, dass der New Historicism bis heute keine fertige Methode, keine abgeschlossene Theorie, sondern eher ein Spektrum an Lösungsversuchen zu den skizzierten Problemkreisen ist.102 Folgende Probleme müssen seines Erachtens durch den New Historicism in Angriff genommen werden: Erstens die Vorwürfe der theoretisch unzureichenden Fundierung, zweitens die Frage nach der Repräsentativität der intertextuellen Verbindungen, die aufgezeigt werden und drittens muss eine Antwort gegeben werden auf die wohl grundsätzlichste Frage, was das Verbindende zwischen dem Text und seinem historischen beziehungsweise kulturellen Kontext sei, wenn es nicht die Geschichte ist. Gemäss Bassler gibt es zur Lösung dieser Probleme zwei verschiedene Wege: Die eine Option wäre der Versuch einer theoretischen Fundierung des New Historicism und somit der konsequente Weg in die Textualität. Als andere Option wird der Weg aus der Theorie angesehen, womit eine Anknüpfung an die politisch-interventionistische Praxis der Cultural Studies im engeren Sinn ermöglicht wäre.103 Beide Optionen sollen kurz erläutert werden. Den Weg in die Theorie, den Bassler als „möglich und wünschenswert“104 bezeichnet, und der auch in dieser Studie bevorzugt wird, möchte die Textualität der Kultur auf der Basis des poststrukturalistischen Intertextualitätsbegriffs formalisieren und gleichzeitig pragmatisieren. Das Text-Kontext-Problem und die Frage nach dem Verbindenden könnte nach Bassler folgendermassen gelöst werden: Intertextuelle Beziehungen, die Diskurse ausmachen, müssen auf semantischer Ebene betrachtet werden, sind gemäss Bassler also paradigmatischer Natur.105 „Das Mitlesen kulturell möglicher Paradigmen beim Lesen eines Textes (eines Syntagmas) macht diesen allererst verständlich, indem er »its place in a network of framing intentions and cultural meanings« […] bestimmbar macht.“ 106 Bassler erläutert, dass diese kulturellen Paradigmen, das heisst die potentiell möglichen Bedeutungen des Textes, aus dem 102 Vgl. ebd.: S. 20. 103 Vgl. M. Bassler: New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies. In: A. und V. Nünning (Hgg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. 2008, S. 146f. 104 Ebd.: S. 149. 105 Vgl. M. Bassler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv: Eine literaturwissenschaftliche TextKontext-Theorie. 2005, S. 189f. 106 M. Bassler: New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies. In: A. und V. Nünning (Hgg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. 2008, S. 149.

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Methodologische Vorüberlegungen

Archiv107 gewonnen werden.108 Wenn bei Texten die paradigmatische Achse des material vorhandenen Archivs als Summe aller Äquivalenzstrukturen betrachtet wird, dann lassen sich Diskurse und Texte auf demselben Tableau analysieren.109 Damit ist die paradigmatische Achse mit ihrem Prinzip der Äquivalenz, die als Achse des Vergleichs und damit der Kultur neu zu definieren wäre, das Verbindende zwischen Text und Kontext, zwischen synchronen Texten derselben Kultur. In Bezug auf die Frage nach der überprüfbaren Repräsentativität können gemäss Basslers Vorschlägen Volltextdatenbanken, Suchbefehle und Hypertext-Vernetzungen eine computertechnische Lösung darstellen.110 Doch Basslers Vorschlag einer computertechnischen Lösung scheint insofern ergänzt werden zu müssen, da der Kontext nicht nur aus einem real vorhandenen Archiv, sondern immer auch aus der zeitgenössischen Aktualität zu rekonstruieren ist. Der Weg aus der Theorie und somit die Annäherung an die Cultural Studies im engeren Sinn wird dadurch begünstigt, dass die „überwiegend marxistisch oder doch jedenfalls politisch links sozialisierten Wissenschaftler“ 111 des New Historicism Foucaults Machtanalyse als problematisch empfinden. Den New Historicists um Greenblatt fehlt in Foucaults Machtbeschreibung die politische Kritik am Falschen. Eine solch politisch-interventionistische Praxis wird von den Cultural Studies im engeren Sinne jedoch gerade betont. Daher könnte sich der New Historicism gemäss Bassler den Cultural Studies im engeren Sinne annähern, obwohl bis anhin die aktuellen Bezüge durch den New Historicism eher erst am Rande thematisiert wurden. Dieser Anschluss an die politisch orientierten Cultural Studies wäre jedoch Bassler zufolge aus akademischer Sicht problematisch, da diese weniger an wissenschaftlichen Objektivitätskriterien gemessen werden, sondern vermehrt an ihrer politischen Wirksamkeit.112

107 Bassler versteht das Archiv als real existierender Textkorpus und grenzt sich damit gegen Foucaults Archivbegriff ab. Vgl. M. Bassler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv: Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. 2005, S. 177f. und S. 196. 108 Vgl. M. Bassler: New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies. In: A. und V. Nünning (Hgg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. 2008, S. 149. 109 Vgl. M. Bassler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv: Eine literaturwissenschaftliche TextKontext-Theorie. 2005, S. 178. 110 Vgl. M. Bassler: New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies. In: A. und V. Nünning (Hgg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. 2008, S. 149. 111 Ebd.: S. 150. 112 Vgl. ebd.: S. 150ff. Dabei gilt es zu bedenken, dass nicht nur neu historische Interpretationen im Sinne der Cultural Studies, sondern bereits deren Gegenstände auf Wirkung zielen.



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1.1.3 Der New Historicism: Material- und Inhaltsebene Der New Historicism vermag gemäss Anton Kaes der Literaturgeschichtsschreibung auf mehreren Ebenen neue Impulse zu geben:113 Auf der Materialebene wird die textuelle Quellenbasis stark vergrössert und Wert auf eine interdisziplinäre Ausrichtung gelegt. Dies führt zu einer Rekontextualisierung der Texte durch die Vernetzung mit anderen zeitgleich entstandenen Dokumenten, „so dass sie wieder mit jenen Bedeutungen aufgeladen werden, die durch die unvermeidlich selektive Überlieferung verlorengegangen sind“114. Dies bedeutet, dass Dürrenmatts auf der Aneignung des Gesetzes der grossen Zahl basierender soziopolitischer Diskurs in verschiedenen Medien rekontextualisiert und vernetzt werden soll. Dies kann durch Archivarbeit und den Einbezug der zeitgenössischen Aktualität erreicht werden. Für die vorliegende Analyse relevant sind insbesondere das Schweizerische Literaturarchiv in Bern, das den Nachlass Dürrenmatts verwaltet,115 sowie das Archiv des Forum Alpbach in Wien. Insbesondere die online zugängliche Privatbibliothek Dürrenmatts lässt erkennen, welche Bücher er während seines Lebens studiert hat. Dürrenmatts Lesespuren in den Büchern geben Aufschluss über seine Reflexionen und die Schwerpunkte seines Denkens. Als relevant für die vorliegende Arbeit erweist sich insbesondere Dürrenmatts Interesse am Werk von Karl Popper. Aber auch Bücher von Hans Albert, Hermann Bondi, Fred Hoyle, Sören Kierkegaard sowie Manfred Eigen und Ruthild Winkler ermöglichen neue Erkenntnisse, die sich als wertvoll herausgestellt haben. In dieser Form der Intertextualitätsforschung muss jedoch bedacht werden, dass Dürrenmatts Privatbibliothek nicht vollständig sein muss: Es können Bücher fehlen, die verschenkt oder ausgeliehen worden sind. Zudem kann oft keine endgültige Angabe darüber gemacht werden, wann ein Buch von Dürrenmatt gelesen wurde. Er könnte frühere Ausgaben gekannt oder besessen haben. Zu beachten gilt es zudem, dass bei der Eingabe von ähnlichen Suchbegriffen zum Teil ganz unterschiedliche Ergebnisse resultieren können. Auf der Inhaltsebene sollen nun gemäss dem New Historicism Bereiche thematisiert werden, die eine textuelle wie auch eine soziale Dimension haben: Die Darstellung der Politik in der Literatur, die als zentraler Forschungsbereich des New Historicism gilt, steht hier im Fokus. In diesem Zusammenhang erweisen sich Montroses Erläuterungen im Essay Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur als interessant: Er erläutert, dass in den Gesellschaftstheorien zur Zeit des Aufkommens des New Historicism ein Gegensatz zwischen Subjekt und Struktur herrscht. Dies führt in der neu historischen Renaissance-Forschung dazu, dass das Problem der Ideologie nicht in 113 Vgl. A. Kaes: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 262f. 114 Ebd.: S. 262. 115 Vgl. URL: https://www.helveticarchives.ch/suchinfo.aspx.

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Methodologische Vorüberlegungen

seiner vollen Komplexität behandelt wird: Entweder werden subversive Handlungen von Einzelnen gegen die Ideologien des politischen Systems oder aber die alles vereinnahmende Machtstruktur des Tudor-Stuart-Staates thematisiert. Hierin zeigt sich eine problematische Verschränkung des Verhältnisses von Ideologie und Axiologie, sobald eine Perspektive stärker gewichtet wird. Montrose plädiert aus diesem Grunde dafür, das Subjekt und die Struktur in einer modernen Gesellschaftstheorie nicht als einander entgegengesetzte, sondern als sich wechselseitig bedingende Phänomene sozialer Systeme zu betrachten. Er verweist dabei unter anderem auf den britischen Soziologen Anthony Giddens und dessen Arbeit Central Problems in Social Theory.116 Diese Überlegungen von Montrose thematisieren ein Problem, das auch in Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs von zentraler Bedeutung ist: Das Verhältnis zwischen systemischen Bedingungen und einzelnen Handelnden. Da durch Giddens’ Theorie der Strukturierung diese Problematik berücksichtigt werden kann, wird sie zur Durchleuchtung von Dürrenmatts theatralischen Gesellschaftssystemen beigezogen.

1.2 Die Analyse der essayistischen Texte Die folgenden methodologischen Vorüberlegungen sind notwendig, um die von Dürrenmatt veröffentlichten Reflexionen zu Gesellschaft und Politik im essayistischen Werk zu analysieren. Die Essays dienen als Grundlage für die anschliessende Interpretation verschiedenster soziopolitischer Wirkungspotentiale in den Komödien. Christian Schärf definiert den Essay im Handbuch der literarischen Gattungen folgendermassen: Ein >Essay< ist eine literarische Form der nicht-fiktionalen Prosa von überschaubarer Länge, in der ein frei gewähltes Thema in offenem Stil und allgemein verständlicher Sprache behandelt wird.117

Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft wird der Begriff Essay auf eine ähnliche Art bestimmt: Der Essay ist der schriftliche Diskurs eines empirischen (d. h. nicht-fiktionalen) Ich über einen kulturellen Gegenstand […].118

Auch Manfred Pfister unterscheidet in seinem Buch Das Drama aufgrund des Kriteriums Geschichte zwischen argumentativen beziehungsweise deskriptiven Texten auf der einen 116 Vgl. L. Montrose: Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur. In: M. Bassler (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2001, S. 69f. und S. 88. 117 C. Schärf: Essay. In: D. Lamping (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. 2009, S. 224. 118 K. Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. A-G. 1997, S. 522.



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Seite und dramatischen sowie narrativen Texten auf der anderen Seite. Unter die argumentativen und deskriptiven Texte, welche ohne Geschichte auskommen, ordnet Pfister exemplarisch den Essay, das Traktat oder die Reflexionslyrik. Geschichte selbst wird von Pfister als „das Vorhandensein […] eines oder mehrerer menschlicher bzw. anthropomorphisierter Subjekte, einer temporalen Dimension der Zeiterstreckung und einer spatialen Dimension der Raumausdehnung“119 definiert.120 In Kapitel 3 werden Dürrenmatts soziopolitische Reflexionen im essayistischen Werk untersucht: Der Oberbegriff essayistisches Werk muss dabei präzisiert werden, da er nebst Aufsätzen auch aus Reden121 entwickelte Essays und Interviews beinhaltet. Zudem werden auch die soziopolitischen Gedanken in der Erzählung Der Winterkrieg in Tibet zu diesem umfassenden Komplex des essayistischen Werks mitgezählt. Aus welchen Gründen werden alle diese Texte unter dem Oberbegriff essayistisches Werk zusammengefasst? In Dürrenmatts Essays, Reden und Interviews finden sich nicht-fiktionale, argumentative Gedanken zu Politik und Gesellschaft, womit eine Abgrenzung zur fiktionalen Prosa möglich ist. Zudem kann sowohl im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft als auch im Handbuch der literarischen Gattungen bezüglich der Begriffsdefinition des Essays eine gewisse Nähe zur gesprochenen Rede festgestellt werden. Die Analogien beziehen sich etwa auf deren monologischen Charakter und den in etwa gleichen Umfang der Texte.122 Weiter kann, trotz Unterschieden, von einer gewissen Ähnlichkeit auch bezüglich der Inhalte der beiden Gattungen gesprochen werden,123 womit Dürrenmatts oft aus Reden entstandene Aufsätze in dieses essayistische Werk eingeordnet werden können. Doch in Dürrenmatts soziopolitischen Essays finden sich nebst nicht-fiktionalen Gedanken auch gleichnishafte literarische Passagen zu Politik und Gesellschaft. Dürrenmatt selbst bezeichnet sich denn im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht124 auch als dramaturgischen und nicht als politischen Denker: Damit grenzt er sich deut119 M. Pfister: Das Drama. 2001, S. 265. 120 Vgl. ebd.: S. 265. 121 Die Rede wird mündlich vor einem Publikum vorgetragen, sie ist ein auf einen Anlass bezogener Prosatext. Zu ihren Zielen gehört der Versuch einer Veränderung im Denken oder Handeln des Zuhörers. Vgl. J.-D. Müller: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. P-Z. 2003, S. 233. 122 Vgl. K. Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. A-G. 1997, S. 522. Vgl. auch C. Schärf: Essay. In: D. Lamping (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. 2009, S. 227 und S. 233. 123 Ähnlichkeiten im Inhalt können beispielsweise der Wunsch sein, bestehende Meinungen zu korrigieren und Menschen zu überzeugen. Die Rede ist aber durch eine face-to-face Kommunikationssituation charakterisiert, der Essay nicht. Vgl. J.-D. Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. P-Z. 2003, S. 233 sowie K. Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. A-G. 1997, S. 522. 124 Im Folgenden werden in Bezug auf den Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht und alle anderen Reden die beiden Begriffe Rede und Essay synonym verwendet.

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lich von einer rein politisch-theoretischen, nicht-fiktionalen Essayistik ab. 125 Diese Poetisierung der Essays hebt jedoch die Trennschärfe zwischen fiktionaler Prosa und nicht-fiktionalen Essays mehrheitlich auf. Dies ist nun in Bezug auf Dürrenmatt insofern relevant, da neben den literarischen Passagen in den Essays auch die Erläuterungen in den Stoffen mit zu dem im essayistischen Werk geäusserten soziopolitischen Diskurs gezählt werden können. Die Erzählsituationen in den Stoffen sind, wie der Schlussbericht Die Entstehung von Dürrenmatts Stoffen zeigt, höchst komplex: Binnenfiktionen werden nicht nur als einst geplante und damals nicht realisierte Stoffe eingeflochten, sondern sie bilden eine alternative Darstellungsmethode zur Thematisierung von autobiographischen, existentiellen Komplexen und bilden modellhafte Parabeln über philosophische Problemstellungen […], die in engem Wechselverhältnis mit den autobiographischen und essayistischen Passagen der Stoffe stehen.126

Da gerade die modernen Essays, wie Simon Jander127 ausführt, oft Tendenzen zu einer Poetisierung der ursprünglich nicht-fiktionalen Gattung aufweisen, scheint es möglich, all diese auf vielfältige Arten geäusserten soziopolitischen Reflexionen zusammenfassend als Dürrenmatts essayistisches Werk zu bezeichnen. Aus diesem Grund werden dazu auch seine in der Erzählung Der Winterkrieg in Tibet durch einen Ich-Erzähler präzisierten soziopolitischen Gedanken gezählt. Diese Problematik der Annäherung des essayistischen Werks an fiktionale Genres soll im Folgenden weiter betrachtet werden. Als Basis für die theoretischen und essaygeschichtlichen Reflexionen der Moderne dient das Buch Die Poetisierung des Essays von Simon Jander. Janders Ausführungen zufolge ist seit Ende des 19. und Beginn des 20.  Jahrhunderts ein Aufkommen fiktionaler Essayformen zu beobachten. 128 Diese „Poetisierung der Gattung“129 Essay, wie sie Hannelore Schlaffer bezeichnet, bezieht insbesondere den Dialogessay mit ein. Jander selbst, in dessen Buch neben dem Dialogauch der Brief- und Monologessay betrachtet werden, spricht diesen fiktionalen Essays eine gattungsübergreifende Stellung zwischen Essay und fiktionaler Literatur zu, die nicht unproblematisch ist. Die Schwierigkeit besteht zum einen darin, dass sich die genannten Essayformen nicht ohne weiteres im Rahmen ‚etablierter‘ Gattungen und ihrer Poetiken (Essay, Dialog, Brief, Ich-Erzählung

125 Vgl. F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 91ff. 126 URL: http://www.nb.admin.ch/org/organisation/00783/00669/00677/index.html?lang=de. Vgl. Pdf.: S. 4. 127 Vgl. S. Jander: Die Poetisierung des Essays. 2008, S. 9f. 128 Vgl. ebd.: S. 9f. 129 H. Schlaffer: Der kulturkonservative Essay im 20. Jahrhundert. In: H. und H. Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus. 1975, S. 146.



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usw.) untersuchen lassen, da sie zu ihnen jeweils signifikante textstrukturelle Differenzen aufweisen, und zum anderen darin, dass für fiktionale Essayformen bisher keine systematischen poetologischen Bestimmungen vorliegen.130

Jander zufolge stellt sich damit für die Textanalysen die Frage, welche Konsequenzen zu berücksichtigen sind, wenn ein zunächst zur nicht-fiktionalen Prosa gehörender Reflexionstext durch die Übernahme von literarischen Mustern nun als poetisch-fiktionaler Text auftritt.131 Diese Form der poetisch-fiktionalen Essays wird in der Essayforschung bis anhin oft als Randphänomen betrachtet, das Werk von Jander jedoch versucht, sie als eigenständiges, vielschichtiges Textphänomen der Moderne zu begreifen, „dessen spezifischer poetologischer Ort in der Schnittfläche von Essay und fiktionaler Literatur zu untersuchen ist“132. Jander spricht von einer Poetisierung des Essays, „wenn seine Reflexionen in einem fiktionalen Rahmen an Figuren gebunden sind, also in bestimmten fiktiven Situationen ausgesprochen, geschrieben oder gedacht werden“133. Diese Bindung an eine Figur, Jander bezeichnet das als „Personalisierung der Reflexion“134, ist verbunden mit der „Transformation des Essays“135 von einem nicht-fiktionalen Reflexionstext zu einem fiktionalen Text. Sobald die im Essay geäusserten Gedanken durch eine literarische Figur übernommen werden, hat dies Jander zufolge Konsequenzen: Einerseits kommt dem Essaytext somit der Status der Fiktionalität zu, was auch Auswirkungen auf die Rezeption hat. Andererseits gilt es zu klären, inwieweit „der Topos der ,Subjektivität‘“136, welcher in der klassischen Essaytheorie eine bedeutende Rolle spielt, auch auf poetisch-fiktionale Essayformen zu übertragen ist.137 Jander führt weiter aus, dass die Personalisierung der Reflexionen durch eine literarische Figur die „Gleichsetzung von Reflexion und Autor“ problematisiert: Damit ist das Verhältnis zwischen Autor und Essay, beziehungsweise den im Essay veröffentlichten Reflexionen, nicht mehr länger ein sicherer Ausgangspunkt für das Textverständnis: Und da die Rezeptionsweise fiktionaler Texte strukturell eine andere ist als bei nicht-fiktionalen, ist davon auszugehen, dass auch unabhängig von der Problematisierung des Autorbezugs die Interpretations- und Rezeptionsprozesse bei fiktionalen Essays komplexer und ambivalenter sind als bei nicht-fiktionalen ,Meinungstexten‘.138

130 S. Jander: Die Poetisierung des Essays. 2008, S. 15. 131 Vgl. ebd.: S. 29. 132 Ebd.: S. 31. 133 Ebd.: S. 30. 134 Ebd.: S. 30. 135 Ebd.: S. 30. 136 Ebd.: S. 31. 137 Vgl. ebd.: S. 31. 138 Ebd.: S. 33.

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Diese Folgen der Personalisierung von Reflexionen bedeuten somit eine Zunahme an Ambivalenz und Mehrdeutigkeit, sie können auch widersprüchliche Tendenzen erzeugen.139 In Dürrenmatts essayistischem Werk zeigt sich zudem ein Phänomen, welches auch in Janders Buch nicht behandelt wird: In Dürrenmatts Essays gehen die philosophischen und soziopolitischen Argumentationen mehrheitlich fliessend in literarische Allegorisierungen oder fiktionale Geschichten über, die Poetisierungstendenzen beschränken sich nicht auf die von Jander analysierten Dialog-, Monolog- oder Briefessays. Trotzdem können Janders Erläuterungen auch für Dürrenmatts essayistisches Werk nützlich gemacht werden. Interessant sind in Zusammenhang mit Dürrenmatts Genrewechsel innerhalb der Essays Janders historische Betrachtungen zu den Poetisierungstendenzen in der Essayistik der Moderne: Jander zufolge thematisiert Georg Lukács in seinem Essayband Die Seele und die Formen die für ihn wichtigsten Essayisten, nämlich Platon, Montaigne und Kierkegaard und führt aus, dass in ihrer Essayistik eine „unmittelbare Nähe zur poetischen Literatur“140 besteht.141 Dürrenmatt ist mit Platons und Kierkegaards Texten seit dem Studium vertraut,142 gerade Janders Ausführungen zu Kierkegaards indirekter Mitteilung sind von besonderer Relevanz: Ein philosophischer Text, der objektives Wissen vermitteln will, muss logisch und nachvollziehbar sein, benötigt aber keine besondere literarische Form. Anders ist dies nach Kierkegaard bei Texten, die existentielle Themen behandeln und subjektive Erkenntnisse und Einsichten des Lesers ermöglichen sollen. Hier geht es nicht um Wissensvermittlung und Überzeugung, sondern um einen je subjektiven Reflexionsprozess, den der philosophische Text initiieren soll. Das kann nach Kierkegaards Wirkungspoetik aber nur dann gelingen, wenn dieser Text indirekt, als subjektivexistentielle Äusserung einer oder mehrerer Figuren inszeniert wird.143

Diese Kierkegaardsche literarisch-philosophische Textpraxis kann Jander zufolge beispielsweise in dessen Buch Entweder-Oder betrachtet werden: Dort versucht Kierkegaard anhand mehrerer Figuren beim Rezipienten einen subjektiven Reflexionsprozess in Gang zu setzen. Für Dürrenmatt spielt Kierkegaards Konzept der indirekten Mitteilung in den Komödien, wie beispielsweise anhand von Ill in Der Besuch der alten Dame oder anhand von Cop in Der Mitmacher erkennbar wird, eine bedeutende Rolle: Diese beiden vereinzelten Figuren können nicht mehr direkt kommunizieren und werden damit für das innere wie das äussere Kommunikationssystem schwer verständlich. Gemäss der 139 Vgl. ebd.: S. 34. 140 Ebd.: S. 107. 141 Vgl. ebd.: S. 107. 142 Vgl. F. Dürrenmatt: Turmbau. Stoffe IV-IX. 1998, S. 125 und S. 129. 143 S. Jander: Die Poetisierung des Essays. 2008, S. 98.



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Kierkegaardschen Wirkungspoetik sollte gerade durch die nicht mehr direkt mögliche Mitteilbarkeit der Figuren ein Reflexionsprozess auf Zuschauer- oder Leserseite gestartet werden. Diese Erläuterungen zur indirekten Mitteilung in Dürrenmatts Komödien lassen auch die folgende These naheliegend erscheinen: Die literarischen Formen in Dürrenmatts Essayistik dienen ebenfalls dazu, beim Rezipienten einen Reflexionsprozess auszulösen. Dürrenmatt folgt hierin Kierkegaard und geht davon aus, dass dieser subjektive Reflexionsprozess auf Rezipientenseite nur durch indirekte Mitteilung erzeugt werden kann. Dürrenmatt selbst thematisiert im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht die Poetisierung seines Essays: Die erzählerische Technik dieser Geschichten besteht darin, aus einer Geschichte eine zweite und aus der zweiten eine dritte Geschichte sich entwickeln zu lassen und so fort […]. So schob ich die Geschichte vom Propheten an der einsamen Quelle die Geschichte vom Wolfsspiel und vom GuteHirte-Spiel ein, […].144

Interessant sind auch seine Ausführungen zum dramaturgisch-dialektischen Denken im Unterschied zum politisch-dialektischen Denken. Dürrenmatt, der sich mehr als Vertreter des ersten Denkens sieht, erkennt in ihm den Vorteil, dass es die Paradoxien ausleben kann und auf die Politik bezogen versucht, hinter ihre Regeln zu kommen, wohingegen das zweite Denken mehr am Inhalt interessiert ist.145 Diese Regeln und Systemmechanismen der Politik werden im essayistischen Werk denn auch oft in literarischer Form durchgespielt: Damit soll beim Rezipienten ein Prozess des Nachdenkens über die Systemdiagnosen angeregt werden. Auf Basis von Janders Erläuterungen können somit nun auch die Textstellen in Der Winterkrieg in Tibet, welche Dürrenmatts soziopolitischen Diskurs in den 1980er-Jahren ergänzen, als personalisierte Reflexionen, welche in einem transformierten fiktionalen Text stehen, aufgefasst werden. Bei der Analyse müssen aus diesem Grund die Ambivalenz und Mehrdeutigkeit dieser Textstellen bedacht werden. Die Befunde aus der Untersuchung der Dürrenmattschen Essays unterstützen Janders These, dass den fiktionalen Essays eine Schnittfläche zwischen Essays und fiktionalen Texten zukommt: Die poetisch-fiktionalen Stellen in Dürrenmatts Essays übernehmen ebenfalls eine Art Scharnierfunktion zwischen seinem essayistischen Werk und seinen Theaterstücken. Durch den Ich-Erzähler und dessen Reflexionen über einen potentiellen Dritten Weltkrieg in Der Winterkrieg in Tibet sowie durch die fiktionalen Geschichten über die emotionalen Gesellschaftsordnungen Marxismus und Faschismus im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht werden dem Leser soziopolitische Schreckensszenarien präsentiert, die ihn beunruhigen und zum Reflektieren anregen sollen. Dürrenmatts Oszillieren zwischen den Polen der dialektisch-argumentierenden 144 F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 64ff. 145 Vgl. ebd.: S. 92.

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sowie der gleichnishaft-fiktionalen Essayistik muss beachtet werden, stellt sich jedoch in Bezug auf die methodologischen Instrumente der Analyse als wenig problematisch heraus: Denn Gamper zufolge legt es seine konstatierte Affinität zwischen Wissenschaft und Literatur nahe, wissenschaftlich-theoretische Texte ebenfalls mit den Analyseinstrumenten der Literaturwissenschaft zu untersuchen.146 Hierin kann somit eine Legitimation gesehen werden, Dürrenmatts gesamtes essayistisches Werk, auch seine dialektisch-argumentativen Passagen, mit dem methodologischen Instrumentarium der Literaturwissenschaft zu analysieren.

1.3 Die Analyse der dramatischen Texte Die Hauptthese der Studie besagt, dass Dürrenmatts Einzelner – in seinen Komödien der mutige Mensch oder ironische Held – eine Figur ist, die erst aus negativen systemischen Bedingungen heraus entsteht. Aus diesem Grund liegt der Fokus in den Analysen der dramatischen Texte in Kapitel 4 und 5 auf den dargestellten systemischen Bedingungen. Im Folgenden wird das methodologische Instrumentarium erarbeitet, welches hilft, die in Dürrenmatts Komödien dargestellten Gesellschaftssysteme zu durchleuchten.

1.3.1 Allgemeine Anmerkungen zur Analyse dramatischer Texte Auch wenn der Fokus in der Analyse der Theaterstücke auf den dargestellten Gesellschaftsstrukturen und -mechanismen liegt, muss eine systematische MetaSprache zur Analyse und Beschreibung der dramatischen Texte gefunden werden. Als Basis für die gesamte Theateranalyse dient aus diesem Grund Manfred Pfisters umfangreiches und detailliertes Buch Das Drama.147 Es wird beispielsweise beigezogen, um das Kommunikationsmodell in dramatischen Texten zu verdeutlichen: Pfister unterteilt das dramatische Kommunikationsmodell in ein inneres und ein äusseres Kommunikationssystem. Das innere Kommunikationssystem umfasst die dialogisch miteinander kommunizierenden Figuren, das äussere Kommunikationssystem umfasst sowohl den implizierten und den realen Autor sowie den implizierten und den realen Rezipienten. Diese Unterteilung in inneres und äusseres Kommunikationssystem wird in der Theateranalyse insbesondere bei der Informationsvergabe eine wichtige Rolle spielen:148 Durch die Informationsvergabe kann eine diskrepante Informiertheit, die 146 Vgl. M. Gamper: Zur Literaturgeschichte des Experiments, eine Einleitung. In: M. Gamper et. al. (Hgg.): »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I, 1580–1790. 2009, S. 13f. 147 Vgl. M. Pfister: Das Drama. 2001. 148 Vgl. ebd.: S. 20f.



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Zuschauer weisen gegenüber den Figuren entweder einen Informationsvorsprung oder -rückstand auf, eine kongruente Informiertheit oder dramatische Ironie entstehen.149 Gerade die dramatische Ironie wird für die Interpretation der Komödie Der Besuch der alten Dame von zentraler Bedeutung sein. Dramatische Ironie tritt gemäss Pfister immer dann auf, wenn die sprachliche Äusserung oder das aussersprachliche Verhalten einer Figur für den Rezipienten als äusseres Kommunikationssystem aufgrund seiner überlegenen Informiertheit eine der Intention der Figur widersprechende Zusatzbedeutung erhält.150 Pfisters systematische Meta-Sprache erweist sich für die Beschreibung der dramatischen Texte als geeignet. Doch für die spezifische Analyse der theatralisch dargestellten Gesellschaftssysteme muss auf eine soziologische Theorie sowie ein wirkungsästhetisches Konzept zurückgegriffen werden.

1.3.2 Die Durchleuchtung der theatralisch dargestellten Gesellschaftssysteme: Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung Dürrenmatts soziopolitische Reflexionen konzentrieren sich auf Gesellschaftssysteme, deren Wandel und das Verhältnis des Einzelnen zu solchen systemischen Bedingungen. Dieses Interesse lässt sich auch in seinen Komödien erkennen. Im Hinblick auf die Analyse dieser Mechanismen in den Theaterstücken wird folgende These aufgestellt: Dürrenmatts soziopolitischer Diskurs referiert auf Probleme, welche später in ähnlicher Weise vom Soziologen Anthony Giddens in der Theorie der Strukturierung behandelt werden. Da Giddens’ Theorie zudem hilft, wie die Ausführungen von Montrose gezeigt haben, Ideologien adäquat zu untersuchen, erweist sie sich als hilfreich, um die theatralisch dargestellten Gesellschaftssysteme in Dürrenmatts Komödien zu durchleuchten. Im Folgenden wird zuerst Giddens’ abstrakte soziologische Theorie erläutert, bevor dargestellt wird, wie sie zur Analyse der Komödien eingesetzt werden kann. Da Giddens’ soziologische Theorie das Gesellschaftssystem als Ganzes untersucht, wird zusätzlich in einem Exkurs eine aus der Politologie stammende Unterscheidung eingeführt, um politische Mechanismen in den dargestellten Systemen noch eingehender zu betrachten. Auf Anthony Giddens’ Beraterfunktion des ehemaligen Premierministers Tony Blair und von New Labour sowie seine im Buch The Third Way: The Renewal of Social Democracy vertretene Auffassung von Sozialdemokratie wird in Kapitel 3 im Exkurs über die Sozialdemokratie in Europa eingegangen.

149 Vgl. ebd.: S. 79ff. 150 Vgl. ebd.: S. 88.

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1.3.2.1 Die Theorie der Strukturierung: Struktur, Interaktion, soziales System und sozialer Wandel Anthony Giddens erläutert im Buch The Constitution of Society, welches 1984 in englischer und 1988 in deutscher Sprache erschien, ausführlich seine Theorie der Strukturierung.151 Giddens’ soziologische Theorie kann im Folgenden nicht in ihrer vollen Komplexität erklärt werden, daher wird der Fokus auf das Verhältnis der Merkmale Struktur, Interaktion der Handelnden und systemische Form sowie auf die Möglichkeit von sozialem Wandel gelegt. Durch diese Erläuterungen sollte es anschliessend möglich sein, die Durchleuchtung von Dürrenmatts theatralisch dargestellten Gesellschaftssystemen und ihre dynamischen Mechanismen besser zu verstehen. In Anthony Giddens’ Werk Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung findet sich die folgende Abbildung, welche das Verständnis der Bezüge zwischen den drei genannten Hauptmerkmalen Struktur, Interaktion und systemische Form erleichtern soll.

Abbildung 1: Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 1995, S. 81.

Anthony Giddens’ Grundannahme ist, dass Struktur, bestehend aus Signifikation152, Herrschaft153 und Legitimation154, den Akteuren das Handeln einerseits ermöglicht, durch die Handelnden in ihren Interaktionen andererseits aber auch reproduziert wird. Damit ist das zentrale Paradigma der Theorie Giddens’, die Dualität von Struktur,

151 Vgl. W. Jäger und H.-J. Meyer: Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart. 2003, S. 87. 152 Signifikation: Symbolische Ordnungen/Diskursformen. A. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 1995, S. 84. Vgl. auch P. Walgenbach: Giddens’ Theorie der Strukturierung. In: A. Kieser (Hg.): Organisationstheorien. 2002, S. 361f. 153 Herrschaft: Politische und ökonomische Institutionen. A. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 1995, S. 84ff. Vgl. auch P. Walgenbach: Giddens’ Theorie der Strukturierung. In: A. Kieser (Hg.): Organisationstheorien. 2002, S. 361f. 154 Legitimation: Rechtliche Institutionen. A. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 1995, S. 84ff. Vgl. auch P. Walgenbach: Giddens’ Theorie der Strukturierung. In: A. Kieser (Hg.): Organisationstheorien. 2002, S. 361f.



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bestimmt.155 Struktur bestimmt die Interaktion der Akteure, ohne sie jedoch vollständig zu determinieren:156 „Struktur darf nicht mit Zwang gleichgesetzt werden: sie schränkt Handeln nicht nur ein, sondern ermöglicht es auch.“157 Giddens führt nun weiter aus, dass, sobald durch die Strukturen soziale Praktiken über unterschiedliche Spannen von Raum und von Zeit als identisch reproduziert werden, systemische Formen resultieren.158 Unter Struktur versteht Giddens Regeln und Ressourcen: Regeln beziehen sich einerseits auf die Sinnkonstitution (Signifikation), sie werden als Interpretationsschemata oder Stereotypen herangezogen, um Sinn aus dem Handeln der Akteure zu konstituieren. Andererseits betreffen Regeln aber auch Rechte und Verpflichtungen (Legitimation): In diesem Fall sind Regeln mit der Sanktionierung von bestimmten Verhaltensweisen der Menschen verknüpft. Weiter geht Giddens auch von zwei Arten Ressourcen aus, die den Strukturbereich der Herrschaft betreffen: Allokative Ressourcen beziehen sich auf die Herrschaft über Objekte beziehungsweise materielle Phänomene. Autoritative Ressourcen ergeben sich aus der Herrschaft des Menschen über andere Personen.159 Diese drei Strukturdimensionen Signifikation, Legitimation und Herrschaft, die in der Abbildung separat aufgeführt sind, können Giddens zufolge aber nicht getrennt aufgefasst werden, sondern müssen beim Betrachten von Struktur immer miteinander in Verbindung stehend gedacht werden. Das gleiche gilt für die Handlungsdimensionen Kommunikation, Macht und Sanktion.160 Giddens’ Theorie der Strukturierung kann auch für die Analyse von sozialem Wandel eingesetzt werden, wie Jäger und Meyer in ihrem Buch Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart erläutern.161 Der Begriff sozialer Wandel wird im Jahr 1922 von William F. Ogburn erstmals in die Theoriediskussion eingeführt und bezieht sich auf verschiedenste Ordnungs- und Wandlungsprozesse auf allen Ebenen der Gesellschaft.162 Eine der wenigen Definitionen von sozialem Wandel findet sich im Buch Einführung in die Soziologie von Helmut Grau:

155 Vgl. P. Walgenbach: Giddens’ Theorie der Strukturierung. In: A. Kieser (Hg.): Organisationstheorien. 2002, S. 357f. 156 Vgl. ebd.: S. 360. 157 A. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 1995, S. 78. 158 Vgl. P. Walgenbach: Giddens’ Theorie der Strukturierung. In: A. Kieser (Hg.): Organisationstheorien. 2002, S. 363. 159 Vgl. A. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 1995, S. 45 und S. 69f. sowie P. Walgenbach: Giddens’ Theorie der Strukturierung. In: A. Kieser (Hg.): Organisationstheorien. 2002, S. 361f. 160 Vgl. W. Jäger und H.-J. Meyer: Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart. 2003, S. 94f. 161 Vgl. ebd.: S. 86–105. 162 Vgl. ebd.: S. 16.

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Methodologische Vorüberlegungen Sozialer Wandel bedeutet das Insgesamt von Veränderungen einer Gesellschaft in Hinblick auf: ihre Struktur, ihre Umwelt, das Gefüge von Positionen, Rollen und Status, das Interaktionsnetz der Mitglieder, die Rangskala der herrschenden Werte, etc. Den Veränderungen einzelner Phänomene und Teilbereiche steht der Wandel eines sozialen Systems als Ganzes gegenüber.163

Bei genauerer Betrachtung des Zitats fällt auf, dass Grau eher von soziokulturellem Wandel spricht, da die Veränderungen sowohl die systemische Ebene als auch kulturelle Werte und Normen umfassen.164 Anthony Giddens seinerseits „konzeptionalisiert sozialen Wandel als diskontinuierliche, kontingent bestimmte und sich überlappende Transformationen, die keiner übergreifenden Entwicklungslogik folgen“165. Wahrnehmbarer sozialer Wandel erfolgt Giddens zufolge primär durch externe Einflüsse, die eine Entroutinisierung bewirken: Als Beispiele, die dazu führen können, listet Giddens Naturkatastrophen, ökologische Veränderungen oder die Entstehung von Konflikten respektive Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Gesellschaften verschiedener kultureller Ausstattung auf.166 Entroutinisierungen definiert Giddens als Einflüsse, welche darauf ausgerichtet sind, „den selbstverständlichen Charakter alltäglicher Interaktion zu konterkarieren“167. Giddens erläutert weiter, dass die Analyse des sozialen Wandels folgende vier Faktoren berücksichtigen muss: 1. Autonomie- und Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Gesellschaften oder Nationalstaaten. Dies ist eine abstrakte Formulierung dessen, was meiner Auffassung nach für alle Sozialsysteme charakteristisch ist, dass sie nämlich Machtbeziehungen kennen. […] 2. Die ungleiche Entwicklung verschiedener Sektoren oder Regionen des sozialen Systems. […] 3. Kritische Phasen radikalen Wandels, in deren Verlauf das bisherige Verhältnis der zentralen Institutionen transformiert wird, unabhängig davon, ob dabei politische Revolutionen eine Rolle spielen oder nicht. […] 4. Die Idee, dass einzelne Gesellschaften bei der Inszenierung des Wandels eine Art »Vorreiterrolle« übernehmen können, die ihnen allerdings spätere Veränderungen versperrt, während bislang »retardierte« Bereiche späterhin einen raschen Fortschritt erfahren.168

163 H. Grau: Einführung in die Soziologie. 1973, S. 48. Zit. nach W. Jäger und H.-J. Meyer: Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart. 2003, S. 17. 164 Vgl. W. Jäger und H.-J. Meyer: Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart. 2003, S. 17. 165 Ebd.: S. 100. 166 Vgl. A. Giddens: Strukturation und sozialer Wandel. In: H.-P. Müller und M. Schmid (Hgg.): Sozialer Wandel. 1995, S. 177f. Es gibt gemäss Giddens auch inkrementeller Wandel, der jedoch als unintendiertes Ergebnis sozialer Reproduktion resultiert: Als Beispiel dafür gibt Giddens den Sprachwandel an. 167 Ebd.: S. 178. 168 Ebd.: S. 183ff.



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Auf Basis dieser Ausführungen soll nach einem kurzen Exkurs über Demokratie und Diktatur erklärt werden, wie Giddens’ Theorie der Strukturierung helfen kann, wichtige Beleuchtungspunkte zu setzen, um die Gesellschaftssysteme und ihre Dynamiken in den Theaterstücken Dürrenmatts zu analysieren. Zudem wird auf Schnittstellen eingegangen, welche zwischen Dürrenmatts soziopolitischen Reflexionen und der Theorie der Strukturierung bestehen. Auch wenn Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung in ihrer Komplexität, wie Peter Walgenbach ausführt, keine benutzerfreundliche Arbeit ist169 und auch wenn eine Gesellschaftstheorie nicht eins zu eins auf ein literarisches Werk übertragen werden kann, hilft sie dennoch, die theatralischen Gesellschaftssysteme in Dürrenmatts Komödien zu durchleuchten.

1.3.2.2 Exkurs: Demokratie und Diktatur als zwei unterschiedliche Formen politischer Systeme Unter Punkt 3 der Thematisierung des zeitgenössischen sozialen Wandels geht Giddens auf „[k]ritische Phasen radikalen Wandels“ 170 ein, in denen das Verhältnis der Institutionen untereinander umgebaut wird. Dabei erwähnt er explizit auch politische Revolutionen, welche nicht nur das Moment der Machtübernahme, sondern auch die vor- und nachrevolutionären Phasen der politischen Restrukturierung betreffen.171 Giddens führt in seinem Aufsatz Strukturation und sozialer Wandel jedoch nicht aus, welche Konsequenzen der soziale Wandel aufgrund von politischen Umwälzungen auf die Form der politischen Institutionen haben kann, da damit nur ein Teilbereich des Gesellschaftssystems eingehender beleuchtet werden würde und nicht die Gesellschaft insgesamt.172 Doch gerade der radikale soziale Wandel, der zu einer Reorganisation auch der politischen Institutionen führen kann, spielt beispielsweise in der Analyse der Komödien Der Besuch der alten Dame und Die Frist eine bedeutende Rolle. Aus diesem Grund scheint es erforderlich, ein zusätzliches, spezifisch politisches Hilfskonstrukt einzuführen, das bei der Theateranalyse eben diese Restrukturierungen spezifisch der politischen Institutionen, darunter werden in dieser Arbeit die theatralisch dargestellten Demokratisierungsprozesse oder die Entwicklung zu einer Diktatur verstanden, beleuchten kann. 169 Vgl. P. Walgenbach: Giddens’ Theorie der Strukturierung. In: A. Kieser (Hg.): Organisationstheorien. 2002, S. 369. 170 A. Giddens: Strukturation und sozialer Wandel. In: H.-P. Müller und M. Schmid (Hgg.): Sozialer Wandel. 1995, S. 187f. 171 Vgl. ebd.: S. 187. 172 Jäger und Meyer zufolge liegt die Aufgabe von modernen soziologischen Gesellschaftstheorien darin, „inhaltliche Aussagen über alle Bereiche und Entwicklungen der gesellschaftlichen Realität“ zu machen. W. Jäger und H.-J. Meyer: Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart. 2003, S. 212.

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Diese Restrukturierungen der politischen Institutionen rekurrieren Werner Patzelt zufolge auf die Grundformen politischer Systeme. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der vom Politologen Patzelt verwendete Begriff des politischen Systems in etwa den politischen Institutionen in Giddens’ Theorie der Strukturierung entspricht.173 Patzelt erläutert in seiner Einführung in die Politikwissenschaft zwei mögliche Extremformen eines politischen Systems: Das eine System, der liberale, demokratische Verfassungsstaat, weist eine gewaltenteilende Herrschaftsstruktur, eine konkurrierende Willensbildung unter möglicher Einbeziehung der Bürger und begrenzten politischen Gestaltungsanspruch auf. Der andere Extrempol lässt sich an einer weitgehend monistischen Herrschaftsstruktur, einer monopolisierten Willensbildung und einem zeitweise unbegrenzten politischen Gestaltungsanspruch erkennen: Diese Beschreibung entspricht der totalitären Diktatur.174 Im Rahmen der Durchleuchtung der theatralisch dargestellten Gesellschaftssysteme kann durch Patzelts politikwissenschaftliche Hilfskonstruktion zusätzlich die von Giddens nicht weiter ausgeführte Restrukturierung der politischen Institutionen aufgrund von sozialem Wandel, von der Demokratie zur Diktatur oder der Diktatur zur Demokratie, erläutert werden. Bei der Theateranalyse muss jedoch bedacht werden, dass die konkreten politikwissenschaftlichen Unterscheidungskriterien von Patzelt nicht eins zu eins auf Giddens’ soziologische Theorie der Strukturierung übertragen werden können: Gerade das von Patzelt aufgelistete Konzept der Gewaltentrennung kann nicht in Giddens’ institutionenlogisch aufgebaute Gesellschaftstheorie transferiert werden. Dennoch können auf Basis von Giddens’ Theorie der Strukturierung Aussagen darüber gemacht werden, ob die Macht im theatralisch dargestellten Gesellschaftssystem von einer Person innegehalten wird oder ob sie auf mehrere Organe verteilt ist. Zudem ist erkennbar, ob Opposition und Kritik im theatralisch dargestellten Gesellschaftssystem zugelassen ist oder nicht. Auf diese Weise kann die zusätzliche Analyse der Form des politischen Systems im Sinne Patzelts mithelfen, den von Giddens nicht weiter erläuterten sozialen Wandel durch politische Revolutionen in den theatralisch dargestellten Gesellschaftssystemen genauer zu kennzeichnen.

1.3.2.3 Die Durchleuchtung der theatralisch dargestellten Gesellschaftssysteme in Dürrenmatts Komödien Manfred Pfister gibt in seinem Werk Das Drama an, dass eine Kommunikationstheorie wie beispielsweise diejenige von Luhmann, „auch einer differenzierteren Analyse dramatischer Kommunikationsabläufe nützen“175 kann, sofern die Unterschiede zwischen der Kommunikation in der Realität und auf der Bühne mitbedacht werden. Hier soll, analog 173 Vgl. W. Patzelt: Einführung in die Politikwissenschaft. 2001, S. 216f. 174 Vgl. ebd.: S. 246. 175 M. Pfister: Das Drama. 2001, S. 259.



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zu Pfisters Auffassung, die soziologische Theorie der Strukturierung auf die Dramenanalyse übertragen werden, ohne jedoch die Unterschiede zwischen einer soziologischen Gesellschaftstheorie und einer fiktionalen Gesellschaft auf der Bühne ausser Acht zu lassen. Gerade in den Theaterstücken müssen die Institutionen der einzelnen Strukturdimensionen durch einzelne Figuren personalisiert dargestellt werden. Zugleich sind nicht immer alle drei gesellschaftlichen Strukturdimensionen aus Giddens’ Theorie vertreten: Teilweise werden Repräsentanten einzelner Strukturen nur als backstage characters erwähnt. Manche der Figuren verkörpern hingegen gleich mehrere gesellschaftliche Strukturdimensionen in Personalunion und weisen damit auf eine zunehmend komplexere176, im Sinne von entdifferenziertere, theatralische Gesellschaft hin. Die Überschaubarkeit der Bezüge im System reduziert sich durch die Entdifferenzierung. Trotz dieser Unterschiede kann Giddens’ Theorie, wie im Folgenden gezeigt wird, helfen, die Mechanismen in den theatralischen Gesellschaftssystemen genauer zu durchleuchten und Zusammenhänge zu spezifizieren. Sowohl Anthony Giddens’ soziologische Theorie der Strukturierung als auch die theatralischen Darstellungen von fiktiven Gegenwelten 177 in Friedrich Dürrenmatts Komödien beinhalten abstrakte Modellierungen von Gesellschaften: In der soziologischen Theorie Giddens’ wie auch in den Komödien Dürrenmatts werden gesellschaftliche Systemmechanismen vereinfacht repräsentiert. Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung untersucht dabei die Funktion sozialer Systeme, indem sie subjektivistische und objektivistische Ansätze integriert. 178 Der grosse Vorteil der Theorie der Strukturierung ist, dass sie sich sowohl gegen objektivistische Positionen (Strukturalismus und Funktionalismus) als auch gegen subjektivistische Ansätze (interpretative Ansätze, Hermeneutik) wendet. Giddens versucht in seiner Theorie eben diesen Dualismus zwischen Struktur und Handlung zu überwinden, indem er sie nicht als konkurrierend

176 Komplexität wird hier nicht im Sinne der Systemtheorie Luhmanns gebraucht: Bei Luhmann entstehen in einem Ausdifferenzierungsprozess aus der Umwelt verschiedene Systeme (zum Beispiel das Wirtschaftliche oder das Politische) mit dem Zweck, dadurch Komplexität zu reduzieren. Eine mögliche Mehrsystemzugehörigkeit durch das Handeln der Personen wird bei Luhmann zwar bedacht, die Systeme bleiben jedoch durchgehend getrennt voneinander bestehen. Vgl. D. Krause: Luhmann-Lexikon. 2005, S. 10ff., S. 193ff. und S. 236ff. In den betrachteten theatralischen Gesellschaftssystemen in Dürrenmatts Komödien gibt es diese Ausdifferenzierung im Sinne Luhmanns in verschiedene Systeme auch. Doch repräsentieren die Figuren, welche in den Komödien stellvertretend für ein Luhmannsches System stehen müssten, nun vermehrt in Personalunion zur gleichen Zeit verschiedene Systeme. Damit tritt eine Entdifferenzierung ein, welche zu schwer durchschaubaren und – in dieser Argumentation – somit zu komplexen systemischen Bezügen führt. 177 Vgl. F. Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe I–III. 1998, S. 69. 178 Vgl. A. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 1995, S. 34 und S. 41.

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einander gegenübersetzt, sondern davon ausgeht, dass sie sich wechselseitig bedingen.179 Er sieht eine Lösung dieses Dualismus in seinem Konzept der Dualität von Struktur. Auch Dürrenmatt äussert sich im Jahre 1966 in einem Gespräch mit Alfred Häsler über seine Theaterarbeit zum Dualismus der Theorien: FD Die Soziologie behandelt den Menschen innerhalb der Gemeinschaft, die Psychologie hat den Einzelmenschen zum Gegenstand. Es ist bemerkenswert, dass wir in der Dramaturgie noch weitgehend den Menschen als Einzelwesen verwenden, es gibt sogar eine Dramatik des Einzelnen, Einsamen, zum Beispiel jene Ionescos und noch deutlicher jene Becketts. […] Dem gegenüber steht die anonyme Masse, doch nicht nur sie, auch der Mensch, der in ein System gezwungen ist, steht dem Einzelnen gegenüber. Die Menschen leben heute in Kollektiven, leben nach den Gesetzen, die das Kollektiv bestimmen, leben somit in einem Staat im Staat.180

In Dürrenmatts essayistischem Werk kommen nun existentialistische Theorieansätze – der Kierkegaardsche Einzelne181 – vor, welche auch in den literarischen Werken, insbesondere in den Komödien eine Rolle spielen. Doch in Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs und seinen Theaterstücken werden, so die hier aufgestellte These, verstärkt gesellschaftliche Strukturen und Systeme durchdacht. Stromsik erläutert dies in Bezug auf die Komödien folgendermassen: Sein (Dürrenmatts PK) Lebensthema als Bühnenautor ist die Freilegung von Konstellationen und Mechanismen der Machtausübung, und er geht ihm mit einer Beharrlichkeit nach, die an Besessenheit grenzt […].182

Da Dürrenmatt zufolge der Einzelne erst aus den negativen systemischen Bedingungen heraus entsteht, sollen im Folgenden erstmals die Systemdynamiken in den theatralisch dargestellten Gesellschaftsmodellen der Dürrenmattschen Komödien untersucht werden.183 Die soziologische Theorie Giddens’ scheint dafür besonders geeignet zu sein, weil sie sich auf Strukturen sozialer Systeme konzentriert, ohne die einzelnen Menschen und ihre Interaktionen aus der Analyse auszuschliessen: Konstitution von Handelnden und Strukturen betrifft nicht zwei unabhängig voneinander gegebene Mengen von Phänomenen – einen Dualismus –, sondern beide Momente stellen eine Dualität dar.184 179 Vgl. P. Walgenbach: Giddens’ Theorie der Strukturierung. In: A. Kieser (Hg.): Organisationstheorien. 2002, S. 357f. 180 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 248. 181 Vergleiche dazu auch Annette Mingels’ Buch. 182 J. Stromsik: Apokalypse komisch. In: G. P. Knapp und G. Labroisse (Hgg.): Facetten. Studien zum 60. Geburtstag Friedrich Dürrenmatts. 1981, S. 44. 183 Vgl. F. Dürrenmatt: Der Mitmacher. 1998, S. 197. 184 A. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 1995, S. 77.



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Damit referiert Giddens’ Theorie der Strukturierung ebenfalls auf das Grundproblem in Dürrenmatts soziopolitischem Denken: Die Dualität von Einzelnem und Gesellschaft. Wie können auf Basis von Giddens’ Theorie der Strukturierung nun die theatralisch dargestellten Gesellschaftssysteme analysiert werden? Die Strukturdimension Signifikation besteht aus symbolischen Ordnungen beziehungsweise Diskursformen. Sie kann in den theatralischen Gesellschaftssystemen beispielsweise durch den Lehrer, den Pfarrer oder den Wissenschaftler dargestellt werden. Diese Figuren übernehmen die von Giddens aufgeführte Interpretation und Sinnkonstitution.185 In der Komödie Der Besuch der alten Dame wird die Funktion der Sinnkonstitution insbesondere durch den Lehrer ausgeübt. Problematisch erscheint jedoch, dass die Funktion der Medien in Giddens’ Theorie der Strukturierung nicht spezifisch thematisiert wird, wohingegen die Medien in Dürrenmatts dramatischem Werk eine bedeutende Rolle einnehmen. Die Medien, welche in Giddens’ Gesellschaftsmodell wohl in der Strukturdimension der Signifikation anzusiedeln sind, werden beispielsweise in den Komödien Der Besuch der alten Dame und Die Frist vorwiegend kritisch beleuchtet: Ihnen gelingt es nicht, die spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts beanspruchte Unabhängigkeit von Regierung, Justiz und Wirtschaft umzusetzen und sich als „vierte[r] Stand“ oder „vierte Gewalt“186 im theatralisch dargestellten Gesellschaftssystem zu etablieren. Die Strukturdimension Herrschaft umfasst Giddens zufolge die politischen und die ökonomischen Institutionen. Als Repräsentanten politischer Institutionen können im theatralischen System beispielsweise Politiker wie der Bürgermeister in Der Besuch der alten Dame oder die Parlamentsmitglieder in Herkules und der Stall des Augias auftreten. Laut Giddens besitzen die politischen Institutionen autoritative Ressourcen, das heisst, sie herrschen über Menschen. Die ökonomischen Institutionen können in den Theaterstücken durch Unternehmer dargestellt werden. Als Beispiel kann der Bankbesitzer Frank der Fünfte im gleichnamigen Theaterstück angeführt werden. Die ökonomischen Institutionen besitzen gemäss Giddens die allokativen Ressourcen, die Macht über Materielles.187 Die Strukturdimension Legitimation wird aus den rechtlichen Institutionen gebildet. Die rechtlichen Institutionen können im theatralisch dargestellten Gesellschaftssystem beispielsweise durch den Polizisten, wie in Der Besuch der alten Dame und in Der Mitmacher, oder den Staatsanwalt repräsentiert werden. Die Funktion der rechtlichen

185 Vgl. A. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 1995, S. 84. Vgl. auch P. Walgenbach: Giddens’ Theorie der Strukturierung. In: A. Kieser (Hg.): Organisationstheorien. 2002, S. 361f. 186 V. Wyss et. al.: Journalismusforschung. In: H. Bonfadelli et. al. (Hgg.): Einführung in die Publizistikwissenschaft. 2005, S. 319. 187 Vgl. A. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 1995, S. 84ff. Vgl. auch P. Walgenbach: Giddens’ Theorie der Strukturierung. In: A. Kieser (Hg.): Organisationstheorien. 2002, S. 361f.

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Institutionen besteht gemäss Giddens in der Beachtung und Anwendung der Regeln des Rechts.188 Interessant unter dieser Perspektive erscheint nun, dass Dürrenmatt, ähnlich wie Giddens, davon ausgeht, dass die politische und die ökonomische Ebene untrennbar miteinander verknüpft sind.189 Giddens betont, dass im 19. und 20. Jahrhundert die ökonomischen Entwicklungen meist die politischen Veränderungen nach sich ziehen. Dies zeigt, dass die Politik und die Ökonomie über die Herrschaft eng miteinander verbunden sind. Da in Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs zur Ausgestaltung der gesellschaftlichen Systemdynamiken die Werte Freiheit und (institutionelle) Gerechtigkeit190 von zentraler Bedeutung sind, wird Giddens’ Strukturbereich Legitimation bei der Analyse der theatralischen Gesellschaftssysteme besondere Berücksichtigung geschenkt. Wird nun Giddens’ Auffassung des Strukturbereichs Legitimation mit Dürrenmatts Darstellung des Rechts auf Gerechtigkeit verglichen, liegt eine durchaus vergleichbare Problemlage vor: Bei Giddens restringiert die Struktur, beispielsweise die Legitimation, das Handeln der Individuen, ohne es vollständig zu determinieren. Gleichzeitig ermöglicht die Struktur den Individuen das Handeln. In Dürrenmatts Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht wird das Recht der Gesellschaft, die institutionelle Gerechtigkeit, folgendermassen definiert: Das Recht der Gesellschaft besteht dagegen darin, die Freiheit eines jeden einzelnen zu garantieren, was sie nur vermag, wenn sie die Freiheit eines jeden einzelnen beschränkt. Dieses Recht nennen wir Gerechtigkeit […].191

In Dürrenmatts Essay findet sich die Einschränkung und Ermöglichung der Freiheit durch die institutionelle Gerechtigkeit und damit eine zur Struktur Giddens’ vergleichbare Problemlage. Doch auch Dürrenmatt geht davon aus, dass der Mensch nicht vollständig determiniert ist, spielt doch der unberechenbare Einzelne und der Zufall in seinen systemischen Betrachtungen ebenfalls eine Rolle. Gemäss Giddens erhalten Strukturen nun systemische Form, wenn durch sie soziale Praktiken über unterschiedliche Spannen von Raum und Zeit hinweg als identisch reproduziert werden. Interessant ist, dass Giddens einen breiten Systembegriff akzeptiert. Für Giddens können Systeme einzelne Gesellschaften, zum Beispiel 188 Vgl. A. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 1995, S. 84ff. Vgl. auch P. Walgenbach: Giddens’ Theorie der Strukturierung. In: A. Kieser (Hg.): Organisationstheorien. 2002, S. 361f. 189 Vgl. F. Dürrenmatt: Politik. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 132. Vgl. A. Giddens: Strukturation und sozialer Wandel. In: H.-P. Müller und M. Schmid (Hgg.): Sozialer Wandel. 1995, S. 180. 190 Vgl. O. Höffe: Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. 2001, S. 30f. Von institutioneller oder politischer Gerechtigkeit wird im Zusammenhang mit Systemen und sozialen Institutionen gesprochen. 191 F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 57.



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Industriegesellschaften, oder auch kleinere Einheiten wie Organisationen und Unternehmen darstellen.192 Dies ist insofern von Bedeutung, da sich im Dürrenmattschen Werk der Systembegriff ebenfalls wandelt: Unter anderem definiert Dürrenmatt im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht: Wir können ein wirtschaftliches, politisches und gesellschaftliches System, das einen Staat ausmacht, als eine Organisation betrachten.193

Und auch in den Komödien findet sich der Wechsel der Systemmetapher: Anstelle der klassischen Darstellung der soziopolitischen Strukturen über den Staat wird beispielsweise in den Theaterstücken Frank der Fünfte und Der Mitmacher eine Firma gewählt. Dies beeinträchtigt jedoch die Analyse nicht. Ein weiterer Vorteil von Giddens’ Theorie der Strukturierung liegt in der Tatsache, dass durch sie auch der soziale Wandel in gesellschaftlichen Systemen analysierbar ist. In Dürrenmatts Theaterstücken werden auch Systemmodelle dargestellt, die sich im Wandel befinden. Diese können mit der Theorie der Strukturierung ebenfalls durchleuchtet werden. Für die Analyse der theatralisch dargestellten Systemdynamiken sind die Punkte 1 und vor allem 3 in Giddens’ Auflistung zum zeitgenössischen sozialen Wandel relevant: Durch sie wird der Fokus auf die auf der Bühne dargestellten Machtkonstellationen und die Versuche, die Verhältnisse der Institutionen radikal zu transformieren, gelegt. Diese Fokussierung erweist sich beispielsweise für die Komödien Der Besuch der alten Dame oder Die Frist als relevant. Die von Giddens aufgelisteten Punkte 2 und 4 hingegen können in der Analyse der Theaterstücke nur bedingt eine Rolle spielen, da jeweils ein einzelnes Gesellschaftssystem in einer bestimmten Phase betrachtet wird, welches selten in Bezug zu anderen Gesellschaftssystemen oder zu seiner langjährigen geschichtlichen Entwicklung gesetzt werden kann. In seiner Definition des sozialen Wandels führt Wiswede weitere Kriterien aus, um ihn zu beschreiben. Eines dieser Kriterien umfasst die Steuerung des sozialen Wandels. Folgende Fragen stehen dabei im Zentrum seines Interesses: Wie ist der soziale Wandel geplant, treten ungewollte Nebenwirkungen auf?194 Da auch in Dürrenmatts soziopolitischen Reflexionen die Frage nach der Berechenbarkeit und Steuerbarkeit von dynamischen Gesellschaftsprozessen der Moderne von grosser Bedeutung ist, wie seine Aneignung des Gesetzes der grossen Zahl zeigt, soll dieses Kriterium in die Analyse der Komödien zusätzlich miteinbezogen werden. Die Ausführungen zeigen, dass Dürrenmatt in seinem soziopolitischen Diskurs ähnliche Problembereiche in gesellschaftlichen Systemen skizziert, wie sie von Giddens später in seinem soziologischen Werk thematisiert werden. Dürrenmatts soziopolitische 192 Vgl. P. Walgenbach: Giddens’ Theorie der Strukturierung. In: A. Kieser (Hg.): Organisationstheorien. 2002, S. 363. 193 F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 98. 194 Vgl. G. Wiswede: Soziologie. 1998, S. 320.

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Reflexionen sind sehr abstrakt, seine Theater als Denkmodelle von gesellschaftlichen und politischen Mechanismen sind äusserst komplex. Giddens’ moderne Theorie der Strukturierung hilft, sie zu durchleuchten. Die Theorie stellt ein fein auflösendes Analyseinstrument zur Verfügung, um Aspekte dieser theatralischen Modellmechanismen besser explizieren zu können.

1.3.3 Sympathielenkung in Theaterstücken In der Analyse von Dürrenmatts Komödien soll ein spezieller Fokus auf der institutionellen Gerechtigkeit und somit auf den Repräsentanten der Strukturdimension Legitimation liegen. Dabei soll anhand der Analyse der Sympathielenkung untersucht werden, ob das Publikum sich mit ihnen und den von ihnen vertretenen Werten identifizieren kann.

1.3.3.1 Textuelle Strategien und Strukturen der Sympathielenkung in Theaterstücken Unter einem wirkungsästhetischen Fokus erläutert Manfred Pfister im Essay Zur Theorie der Sympathielenkung im Drama195 Strategien und Strukturen in Theaterstücken, welche die möglichen Wirkungspotentiale des Textes gestalten. Roy Sommer, der sich mit einer ähnlichen Problemstellung beschäftigt, führt ebensolche Strategien und Strukturen für literarische Texte allgemein aus.196 Pfister betrachtet nun die Sympathielenkung im Drama auf folgenden zwei Ebenen: Geschichte (Tiefenstruktur) und Darstellung der Geschichte (Oberflächenstruktur). Zu den Strategien der Sympathielenkung auf der Ebene der Geschichte gehören: der Handlungsverlauf, die Figurenkonzeption, die Figurenkonstellation sowie das Einbeziehen früherer Fassungen. Zu den Strukturen der Sympathielenkung auf der Ebene der Darstellung der Geschichte gehören: der Fokus, die Informationsvergabe, der Perspektivismus sowie der Publikumsbezug. Gerade diese formal-strukturellen Einheiten sind jedoch, wie Pfister ausführt, weniger eindeutig in ihrer Sympathielenkung.197

195 Vgl. M. Pfister: Zur Theorie der Sympathielenkung im Drama. In: W. Habicht und I. Schabert (Hgg.): Sympathielenkung in den Dramen Shakespeares. 1978, S. 20–34. 196 Vgl. R. Sommer: Funktionsgeschichten. Überlegungen zur Verwendung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft und Anregungen zu seiner terminologischen Differenzierung. In: T. Berchem et. al. (Hgg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. Bd. 41. 2000, S. 328ff. 197 Vgl. M. Pfister: Zur Theorie der Sympathielenkung im Drama. In: W. Habicht und I. Schabert (Hgg.): Sympathielenkung in den Dramen Shakespeares. 1978, S. 27ff. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf diesen Essay Pfisters.



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1.3.3.2 Techniken der Sympathielenkung auf der Ebene der Geschichte Im Handlungsverlauf wird gemäss Pfister eine Figur, welche in einer schlimmen, nicht oder nur teilweise selbstverschuldeten Situation dargestellt wird, eher Mitleid und damit auch Sympathie erregen. Dagegen wird einer Figur, die in ihren Handlungen nicht oder nur teilweise verdient reüssiert, Sympathie entzogen. Zur Figurenkonzeption führt Pfister aus, dass sie eher identifikations- und sympathiefördernd wirkt, wenn die Figur menschlich dargestellt ist. Hinderlich für die Sympathielenkung ist hingegen, wenn die Zuschauer die Figuren auf der Bühne und deren Fühlen und Denken nicht mehr nachvollziehen können: Damit wird eher distanziertes bewunderndes oder verabscheuendes Erstaunen verursacht. Die Figur ist jedoch identifikationsfördernd konzipiert, wenn sie für den Rezipienten rätselhaft ist und dadurch „der Rezipient „sogartig“ in die Figur hineingezogen wird“198. Auch durch die Figurenkonstellation kann gemäss Pfister Sympathie oder Antipathie hergestellt werden: Aufgrund des sprachlichen und aussersprachlichen Verhaltens werden den Figuren bestimmte Wertvorstellungen und auch Handlungsmotivationen zugeordnet, die das Publikum in Perspektivenübernahme teilen kann oder nicht. Dabei entstehen zwischen den Figuren auf der Bühne Kontrastund Korrespondenzbezüge, die oft sichtbar machen, welche Figuren aufeinander sympathisch oder antipathisch reagieren. Oft wirkt die Sympathie, welche eine positiv exponierte Figur einer anderen Figur auf der Bühne entgegenbringt, auch beim Zuschauer sympathiefördernd. Abschliessend kann das vergleichende Einbeziehen früherer Fassungen als wichtiges Kriterium für die Sympathielenkung angeführt werden. Durch den Vergleich können Veränderungen an der Geschichte und den Figuren aufgezeigt werden, wodurch Umgestaltungen in Bezug auf die Sympathielenkung aufgedeckt werden können.

1.3.3.3 Techniken der Sympathielenkung auf der Ebene der Darstellung der Geschichte Der Fokus ist gemäss Pfister die wichtigste Kategorie der Sympathielenkung auf der Ebene der Darstellung der Geschichte. Durch den Fokus auf einzelne Figuren können diese in den Vorder- oder in den Hintergrund gerückt werden. Gerade dadurch, dass eine Figur ihre Ansichten und Vorstellungen besonders lange und umfangreich auf der Bühne vertreten kann, wird das Engagement des Rezipienten für die Figur positiv beeinflusst und es kann meist eine Sympathielenkung zugunsten dieser Figur ausgemacht werden. Als weiteres zentrales Moment der Sympathielenkung auf der Ebene der Darstellung einer Geschichte wird von Pfister die Informationsvergabe aufgeführt. Durch die Informationsvergabe wird das Wissen der Rezipienten über die Figuren, aber auch der Informationsstand der Figuren auf der Bühne festgelegt. Generell kann die Richtung 198 Ebd.: S. 28.

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der Sympathielenkung durch die Informationsvergabe gemäss Pfister nicht vorhergesagt werden: Ein Informationsdefizit einer Figur, aber auch der Informationsvorsprung der Rezipienten können sowohl sympathiefördernd als auch -hemmend sein. Doch Pfister führt aus, dass der Informationsvorsprung der Zuschauer bei einer tragischen Ironie der Verblendung oder der Selbsttäuschung oft die Intensität eines positiven Engagements auf Rezipientenseite steigert. Als dritten wichtigen Faktor für die Sympathielenkung auf der Ebene der Darstellung der Geschichte zählt Pfister den Perspektivismus auf. Eine Figur wird nicht nur durch ihr sprachliches sowie ihr aussersprachliches Verhalten charakterisiert. Auch die Fremdkommentare der anderen Figuren sind dafür bedeutsam. Ein Teilaspekt der Sympathielenkung über den Perspektivismus, so erläutert Pfister, betrachtet, ob eine Figur hauptsächlich durch Selbst- oder aber durch Fremdkommentare charakterisiert wird. Die Innenschauen fördern die Sympathie für eine Figur oft, während hingegen durch eine dominante Aussenschau einer Figur eher Sympathie entzogen wird, womit sie distanziert wird. Ein zweiter Teilaspekt sind die unterschiedlichen Techniken epischer Kommentierung. Meist steht das Subjekt des epischen Kommentars ausserhalb der Situation und dadurch werden diese Kommentare von den Rezipienten als verbindlicher aufgenommen. Sie helfen zu klären, welchen Figuren aufgrund ihrer vertretenen Werte Sympathie oder Antipathie zukommt. Abschliessend wird mit dem Publikumsbezug ein letzter Aspekt der Sympathielenkung erläutert. Wendet sich eine Figur häufig ans Publikum, so steigert dies das Engagement des Rezipienten für die Figur, da der Zuschauer in eine Art Komplizenschaft mit der Figur gerät.199

1.4 Interferierende Elemente in der Analyse des essayistischen sowie des dramatischen Werks In den methodologischen Vorüberlegungen zur Analyse von Dürrenmatts essayistischem Werk wurde erläutert, dass eine teilweise Poetisierung seiner Essays festgestellt werden kann: Dialektisch-argumentierende Passagen wechseln sich mit gleichnishaft-literarischen ab. Aus diesem Grund gibt es Elemente, die sich sowohl im essayistischen als auch im dramatischen Werk finden lassen. Die folgenden methodologischen Reflexionen sollen zeigen, um welche sich überschneidenden Elemente es sich handelt und welche Bedeutung sie für die vorliegende Studie haben.

1.4.1 Gleichnis Da in Dürrenmatts Werk der Gleichnisbegriff eine zentrale Rolle spielt, soll im Folgenden erläutert werden, was Dürrenmatt unter Gleichnis versteht. Als problematisch erweisen

199 Vgl. ebd.: S. 29ff.



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sich diese Erörterungen insofern, da Dürrenmatt den Begriff zwar selbst mehrfach verwendet, ohne jedoch anzugeben, woher seine Definition des Gleichnisses stammt. Thomas Wünsche führt in seiner Dissertation Dürrenmatts stereoskopisches Denken. Die Erkenntniskritik oder Der „Versuch zu einem Grundriss“ zwar aus, dass Dürrenmatts Verwendung des Gleichnisbegriffs stark durch Werner Heisenberg geprägt ist: Heisenberg erläutert im Buch Ordnung der Wirklichkeit aus dem Jahre 1942, dass „[ü]ber den letzten Grund der Wirklichkeit […] nur im Gleichnis gesprochen werden“200 kann. Weiter erläutert Wünsche, dass der Physiker dabei als Synonym zu Gleichnis auch bewusst „ungenaue Analogien“201 verwendet. Doch er belässt seine Ausführungen zur Thematik bei diesen Feststellungen, womit sie insgesamt zu vage bleiben. Eine weiterführende Forschung zum Gleichnisverständnis bei Heisenberg und Dürrenmatt wäre wünschenswert, konnte im Rahmen dieser Studie jedoch nicht geleistet werden. Dennoch soll Dürrenmatts Begriff des mehrdeutigen Gleichnisses, den er unter anderem in den Stoffen und auch in Interviews wiederholt verwendet, im Fokus der folgenden Ausführungen sein.202 Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft wird das Gleichnis als „[r]hetorisch oder auch erzählerisch erweiterter Vergleich“203 definiert. In der rhetorischen Tradition wird das Gleichnis bis in die Gegenwart oft als Technik des Erklärens, Beweisens und der Veranschaulichung verstanden. Bei Schopenhauer dient es der Erkenntnisfindung.204 Dürrenmatt selbst betont mehrfach, unter anderem in seinem Essay Über Kulturpolitik von 1969, dass seine Theaterstücke nicht eindeutig interpretierbar, sondern mehrdeutig sind. Er führt zudem im Essay Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit im Jahre 1956 aus, dass die moderne Welt aufgrund der Entwicklungen in den modernen Naturwissenschaften sowie aufgrund des Bevölkerungswachstums immer komplexer und unübersichtlicher sowie weniger verständlich wird.205 Das mehrdeutige Gleichnis ist aus diesem Grund Dürrenmatt zufolge eine adäquate Möglichkeit geworden, diese immer stärkere Verwobenheit der modernen Welt noch darzustellen. Dies führt er im Aufsatz Über Kulturpolitik bezogen auf die Menschheit folgendermassen aus: Das Theater ist nicht eindeutig, sondern mehrdeutig, weil die Menschheit ihrer politischen Struktur nach und in ihrer wirtschaftlichen Verflochtenheit nur mehrdeutig und nicht eindeutig darzustellen ist;206

200 W. Heisenberg: Ordnung der Wirklichkeit. 1990, S. 167. 201 T. Wünsche: Dürrenmatts stereoskopisches Denken. Die Erkenntniskritik oder Der „Versuch zu einem Grundriss“. 1996, S. 71. 202 Vgl. beispielsweise F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 4. 1996, S. 136 sowie F. Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe I–III. 1998, S. 65ff. 203 K. Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. A-G. 1997, S. 724. 204 Vgl. ebd.: S. 725. 205 Vgl. F. Dürrenmatt: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 63ff. 206 F. Dürrenmatt: Politik. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 52.

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Methodologische Vorüberlegungen

Damit wird eine eins zu eins Abbildung der Welt auf der Bühne für Dürrenmatt unmöglich. Für Dürrenmatt bedeutet dies, dass er soziopolitische Systemmechanismen nicht mehr direkt zeigen, sondern nur noch in den Gegenwelten seiner mehrdeutigen Gleichnisse darstellen kann. Damit kommt seinen Theatergleichnissen wohl primär die Funktion der neuen Erkenntnisfindung zu. In den Stoffen erläutert Dürrenmatt weiter, dass er ausgehend vom Höhlengleichnis Platons zum ersten Mal begann, sich über Politik Gedanken zu machen. Zum ersten Mal sah ich einen Weg, die Welt darzustellen. Durch Gleichnisse. Sie entsprachen dem, was mir in der Malerei die Vision bedeutete: […] Gleichnisse sind wie Visionen, nie eindeutig, die Deutung, die ich dem >Höhlengleichnis< gab, war subjektiv, erkenntnistheoretisch stellt sich die Frage: Ist es für die Gefesselten überhaupt möglich, von den Schattenbildern auf die Wirklichkeit zu schliessen, politisch: Wer hat die Gefesselten gefesselt, wissenschaftlich: Sind die physikalischen Interpretationen der Wirklichkeit mit Schattenbildern zu vergleichen, soziologisch: Hat Platon mit dem >Höhlengleichnis< sein Modell eines idealen Staates parodiert? […] Doch gefesselt wie ich damals war, begann ich zum ersten Mal über Politik nachzudenken. Nicht von Platons Staatskonzeption aus, sondern von seiner Höhle.207

Diese für Dürrenmatts Gleichnisbegriff zentrale Textstelle soll im Folgenden genauer betrachtet werden: Das Zitat kann als eine Art Interpretationsaufforderung gedeutet werden, in der Friedrich Dürrenmatt angibt, wie seine Texte gelesen werden können. Explizit erwähnt er dabei, dass eine der Deutungsmöglichkeiten des Gleichnisses, neben anderen, die politische ist. Ausdrücklich soll hier jedoch daran erinnert werden, dass es sich bei den in den Analysen der Theaterstücke erläuterten soziopolitischen Interpretationen lediglich um eine der verschiedenen (politischen) Interpretationsmöglichkeiten handelt, die aus den Theatergleichnissen Dürrenmatts expliziert werden können. Gerade die politischen Wirkungspotentiale seiner Theatergleichnisse scheinen gemäss Dürrenmatt zu wenig Beachtung gefunden zu haben, wie er 1983 in einem Interview mit Peter Rüedi betont: „Ich versuchte immer, Welttheater zu machen, das, was man immer behauptet hat, ich machte es nicht: politisches Theater.“208 Bis heute wurden eben diese soziopolitischen Aussagen der Komödien in der Dürrenmatt-Forschung vernachlässigt. Dafür können verschiedene Gründe geltend gemacht werden: Einerseits die Schwierigkeit, sich Dürrenmatts Aneignung des ursprünglich mathematischen Gesetzes der grossen Zahl als Gleichnis für den soziopolitischen Diskurs und die darauf basierenden Systemdynamiken zu erschliessen. Andererseits seine Weigerung, sich einer parteipolitischen Linie anzuschliessen, die auch zur Legende vom politischen Max Frisch und vom apolitischen Friedrich Dürrenmatt

207 F. Dürrenmatt: Turmbau. Stoffe IV-IX. 1998, S. 130f. 208 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 3. 1996, S. 196.



Interferierende Elemente in der Analyse

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führte, womit Dürrenmatts literarisches und essayistisches Werk ebenfalls implizit als apolitisch charakterisiert wurde.209 Dürrenmatt seinerseits erklärt sich die fehlende politische Wirkung seiner Theatergleichnisse 1970 dadurch, dass das Publikum in Deutschland zu unpolitisch ist, um die soziopolitischen Aspekte seiner Dramen erkennen zu können, wie er im Gespräch mit Hans Fröhlich ausführt. FD Die Schwierigkeit des deutschen Theaters liegt in der Struktur der deutschen Gesellschaft. Das heisst, je unpolitischer eine Gesellschaft ist, desto schwieriger ist es für sie, ein Kunstwerk als eine politische Aussage zu begreifen.210

Daher stellt Dürrenmatt bezogen auf seine Theaterstücke nicht zu unrecht in einem Gespräch im Jahre 1971 die Frage, „inwieweit das Publikum ihre politische Wirkung wahr[nimmt]“211, denn gemäss Dürrenmatt würden doch gerade die politischen Aussagen in den Theaterstücken Rückschlüsse auf die Wirklichkeit zulassen: Wenn auch meine komödiantischen Überlegungen nur eine grobe Zeichnung der politischen Wirklichkeit darstellen, so lässt doch diese Zeichnung gewisse Schlüsse auf die politische Wirklichkeit zu, […].212

Durch die Aufarbeitung von Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs in seinem essayistischen Werk in Kapitel 3 sollte es möglich sein, verschiedenste politische Wirkungspotentiale der Dürrenmattschen Theatergleichnisse und ihr explorativer Charakter für die Zuschauer erschliessen zu können.

1.4.2 Allegorie In dieser Studie werden in essayistischen und dramatischen Texten verschiedentlich allegorische Strukturen aufgezeigt: Im Essay Der Winterkrieg in Tibet werden diese anhand der Staat-Stern-Allegorie ausgearbeitet, im Aufsatz Überlegungen zum Gesetz der grossen Zahl lassen sich in der Übertragung des Gesetzes der grossen Zahl auf die Menschheit allegorische Strukturen erkennen. Und auch in den Dürrenmattschen Komödien lässt sich beispielsweise anhand der dargestellten Unberechenbarkeiten einzelner Figuren eine Allegorie auf die moderne Quantenphysik erblicken. 209 Vgl. F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 2. 1996, S. 274 sowie P. Rüedi: Politik als Versuch, den Menschen zu entschärfen. Die praktische Vernunft und die poetische. In: Die Weltwoche. Nr. 11. 14. März 1991, S. 55. 210 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 348f. 211 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 2. 1996, S. 24. 212 F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 96.

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Methodologische Vorüberlegungen

Zur Analyse der allegorischen Strukturen in Dürrenmatts Werk wird auf die Erläuterungen von Gerhard Kurz im Buch Metapher, Allegorie, Symbol zurückgegriffen.213 Diese werden ergänzt durch Kants im Buch Kritik der Urteilskraft veröffentlichte Gedanken zu den Regeln, über Dinge und ihre Kausalität zu reflektieren.214 Gerhard Kurz führt aus, dass ein allegorischer Text „zwei Deutungen [erlaubt] und zwar zwei systematisch an allen relevanten Textelementen durchgeführte Deutungen“215. Dabei wird unterschieden zwischen einer wörtlichen, initialen und einer allegorischen Bedeutung.216 Die allegorische Bedeutung wird als eine zur initialen Bedeutung nicht identische, sondern als eine zweite, zusätzliche Bedeutung rekonstruiert.217 Dabei ist es laut Kurz hilfreich, die Unterscheidung zur Metapher auszuführen. Die allegorische Struktur wird mittels „semantischer Ambiguitäten [konstruiert]. Sie bedient sich Polysemien.“218 Anders als bei der Metapher also, wo eher von einer Bedeutungsverschmelzung gesprochen wird, gibt es bei der Allegorie einen Bedeutungssprung. Im Gegensatz zur Metapher, welche eindeutig ist, ist die Allegorie zweideutig.219 Trotz dieser Unterschiede kann einer Allegorie beispielsweise eine Metapher zugrunde liegen, Kurz führt exemplarisch das Staatsschiff an. Daraus können zwei mehrheitlich eigenständige Bedeutungszusammenhänge entwickelt werden: Somit entsteht aus einer eindeutigen Metapher eine doppeldeutige Allegorie.220 „Die Metapher verschmilzt zwei Bedeutungen zu einer, die Allegorie hält sie nebeneinander.“221 In Bezug auf die Gattungen gibt es Kurz zufolge für die Allegorien keine Beschränkungen.222 Wie können allegorische Muster in Texten nun erkannt werden? Einerseits kann der Leser aufgefordert werden, sich nicht einfach mit der wörtlichen Bedeutung zufrieden zu geben. Andererseits kann die allegorische Bedeutung durch „analogische und identifikatorische Reflexionen aus dem Text rekonstruiert“223 werden. In Der Winterkrieg in Tibet wird die allegorische Bedeutung zwischen der Staats- und der Sternentwicklung teilweise explizit erläutert: Man braucht hier nur die Variablen auszutauschen, um die Schreibweise des dürrenmattschen Söldners zu erkennen. Seine Allegorie »Stern = Staat« wird detailliert ausgesponnen.224 213 Vgl. G. Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. 2004. 214 Vgl. G. Lehmann (Hg.): Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, 1976. 215 G. Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. 2004, S. 33. 216 Vgl. ebd.: S. 33ff. 217 Vgl. ebd.: S. 35. 218 Ebd.: S. 35. 219 Vgl. ebd.: S. 35f. 220 Vgl. ebd.: S. 39. 221 Ebd.: S. 40. 222 Vgl. ebd.: S. 55. 223 Ebd.: S. 68. 224 R. Käser: ‚Fernsehkameras ersetzten das menschliche Auge’. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk im Spannungsfeld von Wissenschaftsgeschichte und Medientheorie. In: H. L. Arnold (Hg.): Text und Kritik. Friedrich Dürrenmatt. 2003, S. 177.



Interferierende Elemente in der Analyse

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Dann ist es ohne Schwierigkeiten möglich, horizontale Analogien zwischen der Entwicklung der Staaten und Sterne zu ziehen. Teilweise müssen Leerstellen in der Allegorie jedoch durch den Leser auch selbst geschlossen werden, was die Analyse immer wieder erschwert. Hier sei auch an Kants symbolische Darstellung erinnert, welche er im Buch Kritik der Urteilskraft unter § 59 erläutert: So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine blosse Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen aber nur symbolisch vorgestellt. Denn, zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen den Regeln, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren.225

Genau dies lassen auch die Dürrenmattschen Allegorien erkennen: Zwischen einem Staat und einem Stern beziehungsweise zwischen dem Gesetz der grossen Zahl und der Menschheit bestehen zwar keine direkten Ähnlichkeiten. Doch sobald in zwei Bedeutungssträngen über ihre Systemdynamiken reflektiert wird, lassen sich Analogien erkennen. Damit führt Kant eigentlich eine Regel des Allegorisierens aus.226 Da Kant jedoch von „symbolischer Vorstellung“ spricht, muss kurz erläutert werden, was ein literarisches Symbol für Kant ist. Kant sieht die symbolische Vorstellungsart als intuitive Vorstellungsart an. Sie beruht im Unterschied zu logischen Symbolen, die auf arbiträr festgelegten Zeichen begründen, auf einer analogen Reflexion.227 Damit betont Kant einen Teil der klassischen Symboldefinition, wie Kurz’ Ausführungen zeigen, stärker: Als Grundfigur des klassischen Symbolbegriffs kann Kurz zufolge die Verbindung von Synekdoche – ein Teil, ein Besonderes steht stellvertretend für ein Ganzes, ein Allgemeines – und Analogie gesehen werden.228 Die Position des Symbols in der Geschichte unterscheidet es Kurz zufolge von der Allegorie: „Das Symbol ist ein immanentes Element einer Geschichte. Zwischen Symbol und Symbolisiertem herrscht eine notwendige Kontiguität, beide gehören demselben Geschehenszusammenhang an, demselben raumzeitlichen Erfahrungsfeld.“229 In einer Allegorie hingegen werden zwei Bedeutungszusammenhänge nebeneinander erzählt. Dennoch können im Text der Allegorie Symbole vorkommen.230 Abschliessend soll noch kurz eine Erläuterung Dürrenmatts zum Allegoriebegriff aus den Stoffen thematisiert werden. Interessant ist dabei insbesondere Dürrenmatts 225 G. Lehmann (Hg.): Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. 1976, S. 307. 226 Vgl. R. Käser: ‚Fernsehkameras ersetzten das menschliche Auge’. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk im Spannungsfeld von Wissenschaftsgeschichte und Medientheorie. In: H. L. Arnold (Hg.): Text und Kritik. Friedrich Dürrenmatt. 2003, S. 177. 227 Vgl. G. Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. 2004, S. 71ff. 228 Vgl. ebd.: S. 76. 229 Ebd.: S. 81. 230 Vgl. ebd.: S. 81.

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Methodologische Vorüberlegungen

Abgrenzung zum Gleichnis: „Kein Gleichnis geht eindeutig auf, sonst wäre es eine Allegorie, eine verkleidete Sentenz.“231 In dieser Reflexion kann somit Dürrenmatts Unterscheidung zwischen einem in seinem Sinne mehrdeutig interpretierbaren Gleichnis, wie Platons Höhlengleichnis, und einer in der Bezugnahme eindeutig aufgehenden Allegorieinterpretation, wie der Staat-Stern-Allegorie, erkannt werden.

1.4.3 Referenzproblematik Die in den Theaterstücken dargestellten gesellschaftlichen Systemmechanismen sind keine Abbilder der Welt, sie repräsentieren Modelle in fiktiven Extremsituationen. Dennoch soll der Zuschauer zwischen den abstrakten Systemmechanismen auf der Bühne und der Wirklichkeit Bezüge herstellen können und damit neue Erkenntnis gewinnen. Die Figuren in Dürrenmatts Komödien thematisieren diese Referenzproblematik gleich selbst, beispielsweise der Personalchef Egli in Frank der Fünfte: EGLI Und dann, ihr lieben Leut Ist’s wieder Henkerszeit Für alle, die wie wir in Machtsystemen nisten Und sich mit Mörderlogik selber überlisten Sei’s hier, sei’s dort, sei’s anderswo Setzt Namen, Daten, Länder nach Belieben ein Es stimmt ja leider sowieso.232

Auch Saint-Claude und Mississippi thematisieren in der Komödie Die Ehe des Herrn Mississippi mögliche Wirklichkeitsbezüge: SAINT-CLAUDE Immer kehren wir wieder, wie wir immer wiederkamen MISSISSIPPI In immer neuen Gestalten, uns sehnend nach immer ferneren Paradiesen233

Interessant an beiden Zitaten ist, dass die Möglichkeit der Bezugnahme der dargestellten Systeme offen gelassen wird: Es wird nicht explizit auf ein historisches Ereignis referiert, sondern auf verschiedenste mögliche in der Vergangenheit, aber auch in der Zukunft liegende hingewiesen. Hierin zeigt sich, dass die in den Komödien dargestellten Systemmechanismen auf Überzeitliches referieren: Die fiktiven theatralischen Systemdarstellungen können, obwohl sie Extremsituationen durchspielen, sowohl soziopolitische Erkenntnisse über vergangene Ereignisse, als auch über zukünftige Entwicklungen liefern. Die Referenz 231 F. Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe I–III. 1998, S. 82. 232 F. Dürrenmatt: Frank der Fünfte. 1998, S. 129. 233 F. Dürrenmatt: Die Ehe des Herrn Mississippi. 1998, S. 112f.



Interferierende Elemente in der Analyse

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entspricht damit den Variablen einer Strukturgleichung234, es entsteht ein mehrdeutiges Strukturgleichnis. Auch in den soziopolitischen Essays Dürrenmatts finden sich nebst dialektisch-argumentierender Rede literarische Passagen, in denen Dürrenmatt ebenfalls politische Extremsituationen durchspielt: Dies geschieht beispielsweise in Dürrenmatts Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, wo ein Erzähler mittels spielerischen Modellen die beiden emotionalen Gesellschaftsordnungen Faschismus und Marxismus durchdenkt. Diese können ebenso als soziopolitische Schreckensszenarien betrachtet werden, wie der in Der Winterkrieg in Tibet prognostizierte Dritte Weltkrieg. Diesen poetisch-literarischen Passagen in der soziopolitischen Essayistik Dürrenmatts kommt wie auch die Ausführungen von Jander belegen, eine Scharnierfunktion zwischen der dialektisch-argumentierenden Essayistik und den Theaterstücken zu: Auch wenn in der Essayistik die Referenz bedeutend expliziter durchgeführt wird als in den Theaterstücken, ist doch interessant, dass beide allegorischen Modelle sowohl einen Bezug auf ein vergangenes, wie auch auf ein mögliches zukünftiges Ereignis darstellen. Als soziopolitische Warnmodelle, die zum Reflektieren anregen sollen, zielen auch sie auf Überzeitliches.

234 Strukturgleichungsmethoden sind in der Wirtschaftswissenschaft „Prognoseverfahren, die auf Strukturgleichungsmodellen aufbauen“. E. Dichtl und O. Issing (Hgg.): Vahlens Grosses Wirtschaftslexikon. Bd. 2. L-Z. 1993, S. 2029.

2. Der Experimentbegriff235 in Friedrich Dürrenmatts Werk „Das Komödiantische ist meine dramaturgische, […] meine wissenschaftliche Methode, mit der ich mit dem Menschen experimentiere […].“ F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 118.

In Friedrich Dürrenmatts Werk nimmt der Begriff „Experiment“ eine zentrale Bedeutung ein:236 Dies unterstreicht Dürrenmatts prägnante Aussage während eines Gesprächs im Jahre 1990, dass alle seine Geschichten „Gleichnisse oder literarische Experimente“237 darstellen. Der Begriff Experiment kommt bei Dürrenmatt einerseits in den Theaterstücken selbst vor: Im 1956 uraufgeführten Stück Der Besuch der alten Dame bezeichnen die angereisten Medienvertreter die Vorkommnisse in Güllen als „eines der grössten sozialen Experimente“238 der Epoche und in Der Mitmacher aus dem Jahr 1973 will Bill ein wissenschaftliches Experiment, das seinen Vater einst berühmt gemacht hat, in der Politik wiederholen.239 Der Begriff Experiment wird andererseits aber auch in Dürrenmatts theoretischen Anmerkungen zu den Theaterstücken immer wieder aufgegriffen: Im Essay Theaterprobleme von 1954 erörtert Dürrenmatt, dass für die Kunst allgemein und auch das Theater das Experimentieren bedeutsam ist 240 und in der Standortbestimmung zu Frank der Fünfte äussert er sich 1960 ebenfalls dazu: Der Autor ist weder Zyniker noch Moralist. Er stellt weder seine Person zur Diskussion noch seinen Glauben, weder seine Überzeugungen, noch seine Zweifel, obgleich er weiss, dass dies alles unbewusst mitspielt. […] Allein seine Versuche und Experimente in einem schwierigen Metier zählen.241 235 In dieser Arbeit werden die Begriffe Experiment und Experimentalsystem als Synonyme verstanden. 236 Dürrenmatt reiht sich dadurch in eine moderne Theaterentwicklung ein, die bereits im Jahr 1939 durch Bertolt Brechts Vortrag Über experimentelles Theater erläutert wird. Brecht führt dabei aus, dass sich das europäische Theater bereits „seit zwei Menschenaltern“ in einer Phase des Experimentierens befinde und erörtert insbesondere Piscators experimentelles Theaterschaffen. Dürrenmatt bezieht sich in seinen Ausführungen zum Experiment aber nicht direkt auf Brecht. Vgl. B. Brecht: Gesammelte Werke. Schriften zum Theater I. Bd. 15. 1967, S. 285–305. 237 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 4. 1996, S. 83. 238 F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. 1998, S. 120. 239 Vgl. F. Dürrenmatt: Der Mitmacher. 1998, S. 60f. 240 Vgl. F. Dürrenmatt: Theater. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 41f. und 70f. 241 F. Dürrenmatt: Frank der Fünfte. 1998, S. 159.



Der Experimentbegriff in Dürrenmatts Werk

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Dürrenmatt thematisiert den Experimentbegriff über mehr als 40 Jahre. Dabei geht es in seinen Ausführungen primär um literarische Experimente. Eine genauere Analyse lässt aber erkennen, dass in seinen literarischen Experimenten immer wieder explizit naturwissenschaftliche242, politische243, soziale/sozialpsychologische244 und humanmedizinische245 Versuche durchgeführt oder erläutert werden. Auch von Seiten der Literaturwissenschaftler werden Dürrenmatts Theaterstücke immer wieder als Experimente charakterisiert, jedoch ohne den Begriff Experiment in diesem Zusammenhang ausführlich zu analysieren.246 Eine Ausnahme stellt Rudolf Probsts Essay Die Komödie Der Mitmacher: Abschied vom Drama? aus dem Jahre 1996 dar:247 Der Essay wird in Kapitel 5 daher auch betrachtet und ergänzt werden. Diese kurzen Erläuterungen legen nahe, den Begriff Experiment spezifisch in Bezug auf Dürrenmatts (Theater-)Schaffen genauer zu betrachten: In dieser Studie wird von der These ausgegangen, dass Dürrenmatt in seinen Theaterexperimenten das Experimentverständnis von Fleck, Rheinberger und Gamper teilt und sich hierin von Karl Popper, der für sein soziopolitisches Denken bedeutsam ist, abwendet. Aus Dürrenmatts Theatergleichnissen soll der Rezipient demnach neue Erkenntnisse über soziopolitische Systemmechanismen gewinnen, sie dienen nicht zur Verifizierung oder Falsifizierung seiner Reflexionen zu Politik und Gesellschaft. Zusätzlich wird aufgezeigt, wie über die experimentelle Verwendung von klassischen Theaterelementen eine Fokusverlagerung der Zuschauer von den Figuren auf die systemischen Bedingungen erreicht wird, wodurch der explorative Charakter in Bezug auf die Systemdarstellungen zusätzlich gefördert wird. Zuerst erfolgt nun aber eine allgemeine Einführung sowohl zum Experiment in der Naturwissenschaft als auch etwas ausführlicher zum Experiment 242 Vgl. beispielsweise Der Mitmacher. 243 Vgl. beispielsweise Es steht geschrieben, Der Mitmacher. 244 Vgl. beispielsweise Die Ehe des Herrn Mississippi, Der Besuch der alten Dame, Achterloo III. 245 Vgl. beispielsweise Der Verdacht, Die Frist. 246 Vgl. beispielsweise H. C. Angermeyer: Zuschauer im Drama. Brecht – Dürrenmatt – Handke. 1971, S. 26, R. Käser: Friedrich Dürrenmatt. Auf der Suche nach dem verlorenen Publikum. Vortrag zur Ausstellung ‚Hanny Fries. Dürrenmatt am Schauspielhaus Zürich. Theaterzeichnungen 1954–1983’, Stadthaus Zürich. 28.03.2007, S. 6, G. Neumann et. al.: Dürrenmatt, Frisch, Weiss. Drei Entwürfe zum Drama der Gegenwart, 1969, S. 27–59, V. Obad: Zwei „heilige Experimente“ der deutschsprachigen Dramatik: Fritz Hochwälders >Das heilige Experiment< und Friedrich Dürrenmatts >Es steht geschriebenExperiment< in der Literatur. Eine Einleitung. In: R. Calzoni und M. Salgaro (Hgg.): „Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment“. Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert. 2010, S. 11. 249 Vgl. H.-J. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. 2001, S. 21f. sowie H.-J. Rheinberger: Epistemologie des Konkreten. 2006, S. 351. Auch in Der Brockhaus. Naturwissenschaft und Technik werden dem naturwissenschaftlichen Experiment generell verschiedene Funktionen zugeschrieben: Einerseits dient das Experiment zu Prüfzwecken, andererseits erfüllt es aber auch die Funktion der Beobachtung und Entdeckung. Weiter wird darauf hingewiesen, dass neben naturwissenschaftlichen Experimenten auch anthropologische, also solche mit Menschen als Teil der Versuchsanordnung, existieren. Diese Art Experimente finden sich vor allem in den Bereichen Medizin, Psychologie und Soziologie. Vgl. Der Brockhaus. Naturwissenschaft und Technik. Bd. 1. A-Gd. 2003, S. 622. 250 H.-J. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. 2001, S. 22.



Das Experiment in Naturwissenschaft und Literatur

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Wissenschaftler als vielmehr im Experimentalsystem selbst ereignet.251 In einem Experimentalsystem der Naturwissenschaft wird weiter unterschieden zwischen epistemischen Dingen, denen die Anstrengung des Wissens gilt und den vorhandenen technischen Dingen, der stabilen Umgebung, die aus Instrumenten und Apparaten besteht. Natürlich ist bei einem Experiment immer bereits vorhandenes Wissen da: Als vorhandenes Wissen führt Rheinberger dabei die Instrumente, Vorrichtungen und Apparate des Experimentalsystems auf.252 Der Wissenschaftshistoriker Rheinberger geht davon aus, dass in den naturwissenschaftlichen Experimenten zudem der Zufall von grosser Bedeutung ist. Wissenschaftler sind gemäss Rheinberger in diesem Sinne vor allem „Bastler, Bricoleure, weniger Ingenieure“253. In seinem Vortrag Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen wendet Rheinberger sich nun Analogien zwischen dem modernen wissenschaftlichen Experiment und dem Schreibprozess zu.254 Rheinberger stellt nun in seinem Vortrag die Frage, wie es in den Geisteswissenschaften mit der Kunst, Unbekanntes zu erforschen, aussieht. Geisteswissenschaftler stehen im Gegensatz zu Naturwissenschaftlern, welche auf materielle Experimentalsysteme zurückgreifen können, nicht im Labor. Rheinberger expliziert jedoch, dass das Schreiben auch als Experimentalsystem betrachtet werden kann. Das Schreiben, so behaupte ich, ist selbst ein Experimentalsystem. Es ist eine Versuchsanordnung. Es ist nicht nur ein Aufzeichnen von Daten, Tatbeständen oder Ideen. Es ist auch nicht einfach der billige Ersatz für die lebendige Rede. […] Es vollzieht sich also durch das Niederschreiben, wie man mit Edmund Husserl sagen kann, nicht nur eine Verwandlung der Existenzweise von Sinngebilden, sondern es entstehen auch neue, die sich, wie alle neuen Erwerbe, „wieder sedimentieren und wieder zu Arbeitsmaterialien werden“.255

Rheinberger bezeichnet das Schreiben als Grundbedingung für die Entstehung von neuem Wissen, er erläutert insbesondere den produktiven Charakter des Schreibens.256 Seines Erachtens ist es möglich, die Aussage Heinrich von Kleists in Über das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Reden auf den Schreibvorgang zu übertragen: Damit bedeutet Schreiben in Rheinbergers Sinn nicht nur verfertigen, sondern auch verfestigen und verändern, womit der explorative Charakter der wissenschaftlichen Experimentalsysteme auch im Schreiben festzustellen ist.257 Doch nicht nur der Geisteswissenschaftler als Forschender nutzt das Experimentalsystem Schreiben, auch der Schriftsteller gebraucht es. Friedrich Dürrenmatt 251 Vgl. H.-J. Rheinberger: Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen. 2006, S. 2. 252 Vgl. H.-J. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. 2001, S. 24ff. 253 Ebd.: S. 30. 254 Vgl. H.-J. Rheinberger: Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen. 2006, S. 1–5. 255 Ebd.: S. 5. 256 Vgl. ebd.: S. 4. 257 Vgl. ebd.: S. 4f.

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Der Experimentbegriff in Dürrenmatts Werk

nutzt das Experimentalsystem Schreiben als produktionsästhetische Vorgehensweise. Der Geisteswissenschaftler nimmt dabei durch das schriftliche Interpretieren der literarischen Experimente konstitutiv an der Wissensbildung teil. Rheinberger aber begrenzt seinen Vergleich auf die Labor-Experimentalsysteme der Naturwissenschaftler und die Schreib-Experimentalsysteme der Geisteswissenschaftler. Somit erläutert er nicht, dass zwischen dem Schreiben als Experimentalsystem der Naturwissenschaftler und demjenigen der Schriftsteller ebenfalls Analogien bestehen: Dies führt Christoph Hoffmann in seinem Essay Schreiben als Verfahren der Forschung kurz aus. Hoffmann erläutert drei Zweckbestimmungen naturwissenschaftlichen Schreibens: Das Aufzeichnen, das Durcharbeiten und das Veröffentlichen.258 Diese Vorgehensweisen sind analog zu jenen der Schriftsteller. Ein Unterschied ist jedoch, wie Hoffmann ausführt, in der (Wirkungs-)Absicht der Texte festzustellen.259 Damit verweist er auf eine wirkungsästhetische Kategorie literarischer Texte. Die Schriftsteller zielen bereits während des Schreibens auf die Empfindungen der impliziten Leserschaft: Umberto Eco führt diesbezüglich aus, dass der Autor als Werkproduzent sich einen impliziten Leser vorstellt, der in der Lage ist, den Text auf die Art zu aktualisieren, wie dies vom Autor gewünscht wird. Er postuliert damit einen Modell-Leser als hypothetisches Konzept. 260 Roy Sommer ordnet nun eben dem empirischen Autor als Werkproduzent die Wirkungsabsicht zu.261 Bei den Naturwissenschaften jedoch verhält sich dies Hoffmann zufolge anders: Das naturwissenschaftliche Schreiben ist an keinen Adressaten, als an sich selbst, gerichtet. Es soll primär dem eigenen Denken weiterhelfen und besitzt somit keine auf ein spezifisches Publikum gerichtete Wirkungsabsicht.262 Aus literaturwissenschaftlicher Sicht befasst sich Michael Gamper in seinem Aufsatz Zur Literaturgeschichte des Experiments, eine Einleitung damit, seit dem 17. und 18. Jahrhundert Analogien zwischen wissenschaftlichen Experimenten sowie der Literatur als Experiment aufzuzeigen. Gamper selbst bestimmt das Experiment, analog zu Fleck und Rheinberger, als eines der wichtigsten Instrumente der Wissensproduktion in der Neuzeit. Er erläutert in einem kurzen historischen Abriss über das Experiment, dass bereits in der Antike verschiedenste Versuche zur Nachahmung, Beschleunigung, Veränderung und auch Optimierung der Natur durchgeführt wurden. Erst jedoch zu Beginn des 17. Jahrhunderts entwickelt sich durch die Alchemie in einem dauerhaften Prozess das wissenschaftliche Experiment. Doch das Experiment ist nicht nur in der 258 Vgl. C. Hoffmann: Schreiben als Verfahren der Forschung. In: M. Gamper (Hg.): Experiment und Literatur: Themen, Methoden, Theorien. 2010, S. 189ff. 259 Vgl. ebd.: S. 206. 260 Vgl. U. Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. 1987, S. 67, S. 71f. 261 Vgl. R. Sommer: Funktionsgeschichten. Überlegungen zur Verwendung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft und Anregungen zu seiner terminologischen Differenzierung. In: T. Berchem et. al. (Hgg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. Bd. 41. 2000, S. 327f. 262 Vgl. C. Hoffmann: Schreiben als Verfahren der Forschung. In: M. Gamper (Hg.): Experiment und Literatur: Themen, Methoden, Theorien. 2010, S. 206.



Das Experiment in Naturwissenschaft und Literatur

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Alchemie ein zentraler Bestandteil: Personen wie Galileo Galilei oder Robert Boyle bilden in jener Zeit das Programm der Experimentalwissenschaft mit einer objektiven und naturwissenschaftlichen Ausrichtung aus. Interessant ist, dass die meisten Menschen, welche sich in der Experimentpraxis betätigen, in jenen Jahren nicht an den Universitäten angestellt sind. Erst in einem langwierigen Prozess kann sich die experimentelle Naturlehre in Folge gegen die heterogenen Praktiken der Alchemisten durchsetzen und an den Universitäten etablieren.263 Diese „Heterogenität und Polyvalenz des Experimentellen“ legen es gemäss Gamper „nahe, bei der Konzeptualisierung des Experiment-Begriffs gerade nicht davon auszugehen, dass die Definitionsmacht prinzipiell der Wissenschaft und ihren Praktiken zukomme“264. Die Ausführungen Gampers belegen, dass der Begriff Experiment im Sinne einer allgemeinen Kunst des Versuchs im 17. und 18. Jahrhundert in verschiedensten Bereichen des Wissens gebraucht wurde, womit von einem „relativ offenen Experimental-Paradigma“265 gesprochen werden kann. Gerade in jenen beiden Jahrhunderten zeigt sich, dass das Experiment in mehreren Bereichen und Wissenskulturen von zentraler Bedeutung ist. Hierin lässt sich eine Differenz zu Raul Calzonis Experimentbegriff feststellen: Gemäss Calzoni lässt sich „das Experiment in der Literatur nur differenzial definieren“266: Einerseits hängt das literarische Experiment immer vom naturwissenschaftlichen Experimentbegriff ab. Andererseits grenzt sich das literarische Experiment seinerseits immer von einer klassischen literarischen Tradition ab.267 Relevant an Calzonis Definition ist für diese Studie im Folgenden lediglich der zweite Teil, die explizite Abgrenzung der literarischen Experimente von einer klassischen Tradition. Bezüglich der naturwissenschaftlichen Experimente wird jedoch kein Abhängigkeitsverhältnis vertreten. Gemäss Gamper wird ein Experiment stets unter der Beteiligung der Einbildungskraft erfunden und durch handwerkliche Kunstfertigkeit und mittels Instrumenten und Maschinen inszeniert. Weiter wird das Experiment anschliessend durch rhetorische, narrative und mediale Praktiken erläutert, repräsentiert und distribuiert. Wissen entsteht Gamper zufolge unter experimentellen Bedingungen, die „unhintergehbar an Technik, Werkzeug und Geschicklichkeit, aber auch an Ästhetik, Fiktion, Rhetorik und Narrativik gebunden“268 sind. Gerade in diesen letztgenannten Elementen sieht Gamper eine 263 Vgl. M. Gamper: Zur Literaturgeschichte des Experiments, eine Einleitung. In: M. Gamper et. al. (Hgg.): »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I, 1580–1790. 2009, S. 11ff. 264 Ebd.: S. 13. 265 Ebd.: S. 13. 266 R. Calzoni: Das >Experiment< in der Literatur. Eine Einleitung. In: R. Calzoni und M. Salgaro (Hgg.): „Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment“. Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert. 2010, S. 22. 267 Vgl. ebd.: S. 16 und S. 22. 268 M. Gamper: Zur Literaturgeschichte des Experiments, eine Einleitung. In: M. Gamper et. al. (Hgg.): »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I, 1580–1790. 2009, S. 13.

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Der Experimentbegriff in Dürrenmatts Werk

Affinität und somit auch eine Gemeinsamkeit zwischen Experiment und Literatur:269 Diese Ausführungen legen nahe, auch wissenschaftliche Texte mit den Analyseinstrumenten der Literaturwissenschaft zu untersuchen. Hierin kann somit eine Legitimation gesehen werden, Dürrenmatts gesamtes essayistisches Werk mit dem methodologischen Instrumentarium der Literaturwissenschaft zu analysieren. Doch nicht nur das Experiment wendet sich in jener Zeit vermehrt der künstlerischen Praxis zu. Auch in der Literatur lässt sich gemäss Gamper eine Nähe zum Experiment erkennen: Denn auch die Literatur hat ihrerseits eine Tendenz zum Experiment, und zwar hat sie dies als eine Redeweise, die nicht zwingend über das Wahre und Wirkliche, sondern unter definierten Bedingungen über das Wahrscheinliche und Mögliche spricht, die also unter Bezugnahme auf die Vorgaben der Überlieferung, auf die Erfahrungen einer äusseren Lebenswirklichkeit und auf die epistemologischen Paradigmen ihrer Zeit ein Neues entwirft.270

Da durch die wissenschaftlichen Experimente ebenfalls eine Kontinuität zwischen dem bereits Bestehenden und dem Entdecken neuer Erkenntnisse gesucht wird, zeigen sich hier Analogien zwischen dem literarischen und dem wissenschaftlichen Experiment. Ihren Erfolg und ihre Durchsetzung verdanken Experiment und Literatur dabei auch komplexen gesellschaftlichen Veränderungen: Im 18. Jahrhundert geschieht die Umstellung auf eine „ergebnisoffene Weltordnung, die sich nicht mehr auf Providenz, also die im Hinblick auf das Heilsgeschehen geordneten Geschichtsereignisse, sondern auf Kontingenz, also die Zufälligkeit der Vorfälle“271, ausrichtet. Dadurch wird gerade die Fiktion als antizipierende, zukunftsgerichtete Literatur von grosser Relevanz und erweist sich als eine zum Experiment adäquate Technologie des Wissensgewinns. In der Literatur, wie auch in anderen Tätigkeitsbereichen, beschreibt der Begriff Experiment gemäss Gamper das Analysieren und auf die Probe stellen von Sachverhalten und Gegenständen: „Experimentieren präsentiert sich dann zugleich als eine von mehreren produktionsästhetischen Vorgehensweisen der Literatur.“272 Interessant ist dabei, wie Gamper ausführt, dass den literarischen Erzeugnissen im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen Experimenten ein Bedeutungsreichtum, nicht eine eindeutige Erkenntnis, zugrunde liegt und dass im literarischen Experiment der Rezipient beziehungsweise der Geisteswissenschaftler konstitutiv an der Wissensbildung teilnimmt.273 Diese beiden Differenzen müssen, wie Hoffmanns Hinweis auf die Appellstruktur der literarischen Experimente, mitbedacht werden, wenn Analogien zwischen naturwissenschaftlichen und literarischen Experimenten erörtert werden. 269 Vgl. ebd.: S. 13f. 270 Ebd.: S. 14. 271 Ebd.: S. 14. 272 Ebd.: S. 9. 273 Vgl. ebd.: S. 16.



Dürrenmatts Komödien als literarische Experimente

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Durch diese kurzen vor allem historischen Erläuterungen sollte deutlich geworden sein, dass das Experiment einen „Indifferenzbereich“274 bildet, in dem sich die beiden Kulturen Wissenschaft und Literatur treffen. Im Fokus des folgenden Kapitels liegt nun Friedrich Dürrenmatts Experimentbegriff: In Analogie zu Gampers Ausführungen lässt sich in der Analyse dieses Experimentbegriffs in Dürrenmatts Werk eine erneute Überbrückung der Kluft zwischen Literatur und Naturwissenschaft erkennen.

2.2 Friedrich Dürrenmatts Komödien als literarische Experimente Bereits die kurze Einführung hat deutlich gemacht, welche bedeutsame Stellung der Experimentbegriff in Dürrenmatts Werk einnimmt. In diesem Kapitel geht es darum, die eingangs aufgeworfene These zu belegen, wonach Dürrenmatts Komödien eher dem von Seiten Flecks, Rheinbergers und auch Gampers vertretenen explorativen Charakter des Experimentalsystems folgen, womit den Theaterstücken die Aufgabe zukäme, neue Erkenntnisse zu soziopolitischen Systemmechanismen zu generieren.275 In den folgenden Erörterungen geht es nun darum, Dürrenmatts produktionsästhetisches Experimentverständnis im Kontext seiner Theaterkonzeption genauer zu betrachten. Der Rheinbergersche Begriff Experimentalsystem beschreibt in der Wissenschaft jene komplexen Vorgänge, mit deren Hilfe es gelingen sollte, „unbekannte Antworten auf Fragen [zu] geben, die der Experimentator ebenfalls noch nicht klar zu stellen in der Lage ist“276. Experimentalsysteme sind also nicht zur Überprüfung da, sondern zur Materialisierung neuer Fragen.277 Interessant ist, dass Rheinberger den Forschenden in den Wissenschaften dabei als Suchenden, der sich auf der Grenze zwischen Wissen und 274 Ebd.: S. 10. 275 Dabei muss natürlich stets bedacht werden, dass es sich bei Dürrenmatts dramatischen Experimenten um Versuche handelt, die „mit Menschen durchgeführt werden“ und bei denen „die Natur des Menschen Gegenstand der Untersuchung“ ist, wohingegen bei den Experimenten Poppers, Rheinbergers und Flecks die Versuche „mit Gegenständen“ im Fokus stehen. Auf diese Unterscheidung weist Ulrich Stadler in seinem Essay zum Experimentbegriff des Dramatikers Calderon und des Philosophen Wolff hin. Vgl. U. Stadler: »Den Weg zur richtigen Erkenntnis der Natur bahnen«. Experimente im Umkreis der Royal Society, bei Christian Wolff und bei Calderon. In: M. Gamper et. al. (Hgg.): »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I, 1580–1790. 2009, S. 238. Daher kann die Definition des Experiments mit Menschen als Teil der Versuchsanordnung in Der Brockhaus. Naturwissenschaft und Technik als zu eng betrachtet werden. Auch in der Literatur und nicht nur in der Medizin, der Psychologie und der Soziologie gibt es Versuche, in denen Menschen eine zentrale Rolle spielen. Vgl. zu dieser Thematik auch: N. Pethes: Einleitung. In: N. Pethes et. al. (Hgg.): Menschenversuche. Eine Anthologie 1750–2000. 2008, S. 715–725 sowie N. Pethes: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2007. 276 H.-J. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. 2001, S. 22. 277 Vgl. ebd.: S. 22.

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Der Experimentbegriff in Dürrenmatts Werk

Nichtwissen bewegt, charakterisiert. Weiter geht Rheinberger davon aus, dass bei Experimenten in der modernen Wissenschaft nicht mehr alle Variablen bekannt sind. Dennoch gelingt es dem Forscher, sich mit dem Experiment eine empirische Struktur zu schaffen, die es ihm erlaubt, trotz dieses vorhandenen Nichtwissens, handlungsfähig zu bleiben und Neues zu entdecken.278 Indem Rheinberger die moderne wissenschaftliche Forschung als nicht bis ins Detail erkennbar und planbar skizziert, thematisiert er eine Gegebenheit der modernen Welt, welche auch in Dürrenmatts soziopolitischen Reflexionen stets präsent ist: Dürrenmatt zufolge ist die Realität der modernen Welt aufgrund der konstanten Verflechtung in verschiedensten Bereichen derart komplex, dass sie nicht mehr bis ins Detail durchschaubar ist. Diese Unüberschaubarkeit der modernen Welt führt Dürrenmatt dazu, sich dramaturgisch von der klassischen aristotelischen Tragödie zu lösen und sich der Dramenform der Komödie, die gemäss Dürrenmatt der Moderne einzig adäquate Dramenform, zuzuwenden.279 Diese Dürrenmattsche Beurteilung der modernen Welt kann als Analogie zu Rheinbergers Ausgangspunkt der modernen wissenschaftlichen Forschung begriffen werden: Damit haben sowohl die wissenschaftlichen Experimente Rheinbergers sowie die theatralischen Experimente Dürrenmatts eine vergleichbare Ausgangslage. Dürrenmatt selbst kann aufgrund der zunehmend unüberschaubaren Welt keine Abbilder der Realität im Theater mehr geben, er versucht, Gegenwelten darzustellen. In den Dramaturgischen Überlegungen zu den Wiedertäufern erläutert Dürrenmatt, seine Theaterstücke sollen den Rezipienten dazu führen, durch die Betrachtung der theatralischen Gegenwelten Reflexionen über die eigene Wirklichkeit anzustellen. Das Theater als Gleichnis soll „immer wieder neu er[dacht] [werden], für die Tendenzen der Wirklichkeit“280. In Dürrenmatts literarischen Experimenten können nun, wie Angermeyer ausführt, Gesetze der realen Welt scheinbar ausser Kraft gesetzt oder erstmalig erfunden werden.281 Gelingt es dem Rezipienten, aus dem dargestellten theatralischen Gesellschaftsmodell und dessen Systemmechanismen einen möglichen Wirklichkeitsbezug herzustellen, das heisst, im Theaterstück Konstellationen, welche trotz Verfremdungen der Wirklichkeit ähnlich sind, zu entdecken, so ist es möglich, dass der Rezipient über das dargestellte fiktive Theaterexperiment auf neue Erkenntnisse stösst. Dürrenmatt erläutert nun, dass es ihm insbesondere durch das Darstellen von theatralischen Extremsituationen gelingt, neue Aspekte im fiktiven Gesellschaftsmodell auf der Bühne sichtbar zu machen. Dazu äussert er sich in einem Gespräch im Jahre 1975 folgendermassen:

278 Vgl. H.-J. Rheinberger: Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen. 2006, S. 3. 279 Vgl. F. Dürrenmatt: Theater. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 60f. 280 F. Dürrenmatt: Die Wiedertäufer. 1998, S. 136. 281 Vgl. H. C. Angermeyer: Zuschauer im Drama. Brecht – Dürrenmatt – Handke. 1971, S. 22.



Dürrenmatts Komödien als literarische Experimente

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FD Die Frage ist: Kann man das überhaupt, kann man überhaupt unpolitische Stücke schreiben? Meine Stücke haben mit dem Alltag insofern nichts zu tun, als sie sehr verfremden. Es sind alles Extremlagen, in die man kommt. Ich glaube aber, gerade in diesen Extremlagen stellt sich auch extrem das Politische dar, viel genauer als im sogenannten Alltag.282

Relevant in diesem Zusammenhang ist, dass Dürrenmatt davon ausgeht, dass sich gerade die politischen Aspekte seiner fiktiven Theatermodelle in Extremlagen deutlicher darstellen lassen. Diese aussergewöhnlichen theatralischen Konstellationen können somit als Test für die soziopolitischen Systemmechanismen betrachtet werden. Dabei bleibt es jedoch dem Zuschauer überlassen, einen möglichen Wirklichkeitsbezug zwischen fiktivem Theatermodell und Realität herzustellen.283 Dass Dürrenmatt in seinen Theaterexperimenten Extremsituationen repräsentiert, wird durch seine Dramaturgie der schlimmstmöglichen Wendung unter anderem im Essay Ist der Film eine Schule für Schriftsteller? im Jahre 1968 verdeutlicht: Ein künstlerisches Experiment beweist nichts. Der Schriftsteller kann es sich leisten, nichts zu beweisen. Gerade seinen tollsten Hirngespinsten gibt der Lauf der Weltgeschichte oft genug recht. Mit einer gewissen Boshaftigkeit, möchte man fast behaupten, neigt doch die Wirklichkeit bisweilen dazu, den schlimmstmöglichen Weg einzuschlagen. Unbequemerweise.284

In diesen durch die schlimmstmögliche Wendung herbeigeführten theatralischen Extremsituationen können die Rezipienten285 neue soziopolitische Systemzusammenhänge und somit neue Tendenzen zur Wirklichkeit aufdecken. Die Theaterexperimente können mögliche systemische Bedrohungen sichtbar machen und damit Dürrenmatt zufolge auch als Warnrufe interpretiert werden. Darum müssen Sie sich jetzt auch einen Schriftsteller wie mich gefallen lassen, der nicht von dem redet, was er mit den Augen, sondern von dem, was er mit dem Geiste gesehen hat, der nicht von dem redet, was einem gefällt, sondern von dem, was einen bedroht. […] Ich bin verschont geblie-

282 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 2. 1996, S. 166f. 283 Vgl. H. C. Angermeyer: Zuschauer im Drama. Brecht – Dürrenmatt – Handke. 1971, S. 20. 284 F. Dürrenmatt: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 133. Dieses Zitat Dürrenmatts erinnert an Murphy’s Law „If anything can go wrong, it will.“ Dieses Gesetz wurde 1949 im Rahmen des durchgeführten Air Force Projekts MX981 aufgestellt. Ziel des Forschungsvorhabens war zu untersuchen, eine wie starke plötzliche Geschwindigkeitsverringerung der Mensch ohne Schäden überleben kann. Vgl. N. Lobkowicz: Die tertia via und Murphy’s Law. In: L. R. Waas (Hg.): Politik, Moral und Religion – Gegensätze und Ergänzungen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Karl Graf Ballestrem. 2004, S. 24. 285 Die Bedeutsamkeit des Rezipienten für die literarischen Experimente führt auch Gamper aus, da dieser für die Interpretation und damit für die Wissensbildung zuständig ist.

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Der Experimentbegriff in Dürrenmatts Werk ben, aber ich beschreibe den Untergang; denn ich schreibe nicht, damit Sie auf mich schliessen, sondern damit Sie auf die Welt schliessen. Ich bin da, um zu warnen.286

Im Konzept des Zufalls, welches sowohl für das wissenschaftliche Experiment Rheinbergers als auch für Dürrenmatts theatralische Experimente von grosser Bedeutung ist, kann abschliessend eine letzte Analogie entdeckt werden: Rheinberger betont in seiner Rede Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen, wie wichtig für die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft der Zufall ist.287 Auch für die Darstellung der modernen Gesellschaftssysteme in Dürrenmatts Komödien spielt der Zufall eine zentrale Rolle. Erst durch den Zufall288 wird gemäss Dürrenmatt, wie er unter dem vierten Punkt der 21 Punkte zu den Physikern erläutert, die schlimmstmögliche Wendung erreicht. 4 Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein.289

Der Zufall nimmt in Dürrenmatts Theaterkonzeption aufgrund der Entdeckungen in den modernen Naturwissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle ein: Er weist in den komplexen theatralischen Gesellschaftssystemen auf diese neuen Bedingungen der Moderne hin. Diese Ausführungen belegen, dass Dürrenmatts Theaterexperimente als explorative Versuche im Sinne Rheinbergers zu verstehen sind: Die literarischen Experimente, in welchen teilweise zusätzliche Versuchsanordnungen aus verschiedensten Bereichen wie beispielsweise der Sozialpsychologie290 und der Politik dargestellt werden, lassen das Publikum durch die Darstellung der Extremsituationen und der schlimmstmöglichen 286 F. Dürrenmatt: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 32. 287 Vgl. H.-J. Rheinberger: Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen. 2006, S. 4. 288 Ulrich Stadler führt in seinem Essay aus, dass durch Experimente, in welchen Menschen im Zentrum des Interesses stehen, auch „das Unvorhergesehene, Unvorhersehbare“ und somit der Zufall bedeutsam für die Versuchsanordnung wird. Vgl. U. Stadler: »Den Weg zur richtigen Erkenntnis der Natur bahnen«. Experimente im Umkreis der Royal Society, bei Christian Wolff und bei Calderon. In: M. Gamper et. al. (Hgg.): »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I, 1580–1790. 2009, S. 238f. 289 F. Dürrenmatt: Die Physiker. 1998, S. 91. 290 Aus kulturhistorischer Perspektive ist zu unterstreichen, dass die Sozialpsychologie ab 1950 vermehrt auch im Bereich des kreativen Schreibens von Skripten tätig wird, wie Pethes ausführt: „Sozialpsychologische Experimente beruhen auf elaborierten Drehbüchern, die nicht nur zumeist den Versuchsausgang im Modus der Platzierung der Variablen vorwegnehmen, sondern auch gezielt literarische Muster – wie etwa Bibelgleichnisse (»Der barmherzige Samariter«) oder Kriminalgeschichten (E. A. Poe: »The Purloined Letter«) – reinszenieren. Diese Nähe sozialpsychologischer Versuche zu narrativen Szenerien zeigt sich auch aus der Perspektive der Literatur und Populärkultur selbst, wenn man etwa Romane wie William Goldings Lord of the Flies oder TVFormate wie Survivor betrachtet, die laboranaloge Plots verwenden, um die Verhaltensdynamik von Menschengruppen zu veranschaulichen.“ N. Pethes: Einleitung. In: N. Pethes et. al. (Hgg.): Menschenversuche. Eine Anthologie 1750–2000. 2008, S. 722f.



Experimentelle Verwendung theatralischer Mittel

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Wendung bis anhin in der Wirklichkeit unerkannte soziopolitische Systemmechanismen entdecken und somit neue Erkenntnis gewinnen. Dies drückt Dürrenmatt in einem Gespräch mit Horst Bienek im Jahre 1961 folgendermassen aus: FD Das Komödiantische ist meine dramaturgische, ich möchte fast sagen, meine wissenschaftliche Methode, mit der ich mit dem Menschen experimentiere, um oft Resultate zu erhalten, die mich allerdings oft selber verblüffen.291

Damit wendet sich Dürrenmatt in diesem Bereich von Karl Popper und dessen Philosophie, die für Dürrenmatts soziopolitischen Diskurs bedeutsam ist, ab. Dürrenmatt geht es in den Theaterexperimenten nicht um ein Überprüfen beziehungsweise Verifizieren oder Falsifizieren seiner Reflexionen zu Gesellschaft und Politik im Sinne Poppers. Die Rezipienten sollen durch die Bühnenexperimente und die teilweise darin enthaltenen weiteren Versuchsanordnungen neues Wissen über soziopolitische Systemdynamiken generieren.292 Damit den Theatergleichnissen dieser explorative Charakter zukommt und die Zuschauer neue Erkenntnisse über die soziopolitischen Systemmechanismen gewinnen, wird der Fokus der Zuschauer durch Experimente mit klassischen theatralischen Mitteln gezielt von den Figuren weg auf die systemischen Bedingungen verlagert. Wie dies geschieht, zeigen die folgenden Erläuterungen.

2.3 Experimentelle Verwendung theatralischer Mittel zur Akzentuierung der dargestellten Systeme Dürrenmatts Experimentverständnis soll nun durch die Betrachtung einzelner theatralischer Kategorien weiter vertieft werden. Sobald in Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs der Essays die Ausgestaltung der modernen Gesellschaftssysteme thematisiert wird, stehen die beiden zentralen, untrennbar miteinander verknüpften Werte Freiheit und (institutionelle) Gerechtigkeit im Fokus. Es stellt sich daher die Frage, wie diese Werte in den Theaterstücken zusätzlich zur Untersuchung von Giddens’ Strukturdimension Legitimation, die für die Herstellung der institutionellen Gerechtigkeit und die Einschränkung der Freiheit zuständig ist, analysiert werden können. 291 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 118. 292 Auf den zentralen Unterschied zwischen Experiment im Sinne Karl Poppers und des Kritischen Rationalismus, in welchem kein neues Wissen produziert wird, sowie dem „Neuen Experimentalismus“ im Sinne Hans-Jörg Rheinbergers, wo in der neuen Wissensgenerierung die wichtigste Bedeutung liegt, verweist auch Benjamin Specht. Vgl. B. Specht: Der Traum als Laboratorium. Traumerzählungen der Aufklärung zwischen Literatur und Experiment. In: M. Gamper et. al. (Hgg.): »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I, 1580–1790. 2009, S. 394.

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Der Experimentbegriff in Dürrenmatts Werk

Susanne Kaul zufolge geben insbesondere zwei theatralische Mittel, die figurale Sympathielenkung und die Umsetzung des Konzepts der poetischen Gerechtigkeit, Aufschluss darüber, wie der Wert der Gerechtigkeit in den Theaterstücken umgesetzt wird.293 Die folgende These steht im Zentrum dieses Kapitels: Der Fokus des Publikums wird einerseits durch Experimente auf der Ebene der Axiologie und andererseits durch eine weitere experimentelle Verwendung klassischer Theaterelemente von den einzelnen Figuren weg auf die theatralisch dargestellten Systemmechanismen gelenkt. Dadurch wird der explorative Charakter der theatralisch dargestellten Gesellschaftssysteme akzentuiert. Im Fokus der folgenden Teilkapitel stehen daher die experimentelle Umsetzung der Sympathielenkung als Teil der Wirkungsästhetik, der poetischen Gerechtigkeit sowie weiterer klassischer Theaterelemente. Diese methodologischen Vorüberlegungen sind notwendig, um die dadurch verursachte Fokusverlagerung der Zuschauer auf die systemischen Bedingungen in der Analyse der Theaterstücke erkennen zu können.

2.3.1 Sympathielenkung als Experiment Da die Sympathielenkung Teil der Wirkungsästhetik ist, werden zuerst kurz die zentralen Fragestellungen der Wirkungsästhetik und ihre wichtigsten Begriffe erläutert. Danach werden Dürrenmatts wirkungsästhetische Reflexionen in den theatertheoretischen Essays und die Folgen der experimentellen Umsetzung der Sympathielenkung in den Dramen erörtert. In der Literaturwissenschaft findet im 20. Jahrhundert eine Interessensverschiebung statt: Gemäss Wolfgang Iser endet in den 1960er-Jahren die „naiv[e] Hermeneutik in der Literaturbetrachtung“294. Immer stärker rückt die Frage nach der Wirkung der Texte in den Fokus und verdrängt die bis anhin zentrale Frage nach der Bedeutung der Texte.295 Folgende zwei Fragen stehen gemäss Iser im Zentrum der Wirkungsästhetik: 1. Inwiefern lässt sich der literarische Text als ein Geschehen ermitteln? 2. Inwieweit sind die vom Text ausgelösten Verarbeitungen durch diesen vorstrukturiert?296

Wirkungsästhetische Fragestellungen beschäftigen sich also einerseits mit der Interaktion zwischen Text und Kontext, andererseits mit der Interaktion zwischen Leser und Text.297 Die Wirkung ist daher gemäss Iser „weder ausschliesslich im Text noch ausschliesslich

293 Vgl. S. Kaul: Poetik der Gerechtigkeit. 2008, S. 275. 294 W. Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 1994, S. I. 295 Vgl. ebd.: S. III. 296 Ebd.: S. IV. 297 Vgl. ebd.: S. IV.



Experimentelle Verwendung theatralischer Mittel

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im Leserverhalten zu fassen“298. Aus diesem Grund werden in der Wirkungsästhetik Strategien und Strukturen im Text gesucht und analysiert, welche die Rezipienten bei der Verarbeitung lenken:299 Dazu gehört beispielsweise die Sympathielenkung. Wolfgang Iser geht weiter davon aus, dass die Kunst der Moderne nicht mehr als Abbild der Welt verstanden werden kann. Aufgabe der modernen Literatur ist es gemäss Iser nicht, sich auf die Wirklichkeit zu beziehen. Der fiktionale Text soll Defizite aufdecken. Eine zentrale Funktion der Literatur der Moderne ist Iser zufolge die Verdeutlichung von systemischen Schwächen.300 Indem der Text einen defizitären Aspekt des Systems verdeutlicht, stellt er mögliche Einsicht in das Funktionieren des Systems bereit. Das heisst, er deckt auf, worin wir befangen sind.301

Damit geht Iser auf eine Eigenschaft der modernen Welt ein, die auch in Dürrenmatts Werk von zentraler Bedeutung ist: die Nicht-Abbildbarkeit der modernen Welt. Dennoch führt Iser auf, dass die fiktionalen literarischen Modelle gewisse neue Erkenntnisse über Systemmechanismen für den Rezipienten beinhalten können. Zu prüfen sein wird in der Theateranalyse, ob Iser mit seiner Auffassung von modernen literarischen Modellen in Bezug auf Dürrenmatts theatralisch dargestellte Systeme Recht behält. Die Aufgabe der Interpretation ist auf Basis dieser Erläuterungen nun nicht mehr, den Sinn eines Textes zu entschlüsseln,302 sondern verschiedenste Wirkungspotentiale, die der Text bereithält, herauszuarbeiten. Durch den Leser wird jedoch das Wirkungspotential eines Textes nie in seiner ganzen Bandbreite realisiert, sondern kann immer nur partiell aktualisiert werden. Diese partielle Realisation des Wirkungspotentials eines Textes kann in Zusammenhang mit Dürrenmatts Gleichnisbegriff gebracht werden. In Dürrenmatts Gleichnisbegriff lässt sich eine zur wirkungsästhetischen Aktualisierung möglicher Wirkungspotentiale durchaus vergleichbare Struktur sehen: Die Interpretation eines möglichen soziopolitischen Wirkungspotentials entspricht einer Interpretation der mehrdeutigen Dürrenmattschen Gleichnisse. Roy Sommer versucht nun in seinem Essay Funktionsgeschichten „eine begriffliche Trennung zwischen auktorialer Wirkungsabsicht, textuellem Wirkungspotential und historischer Wirkung literarischer Texte sowie dem ihnen zugeschriebenen Funktionspotential“303 zu entwickeln. Bevor das Wirkungspotential erläutert wird, scheint es jedoch von Nutzen zu sein, zuerst kurz auf Umberto Ecos Unterscheidung von empiri298 Ebd.: S. 7. 299 Vgl. ebd.: S. IV. 300 Vgl. ebd.: S. 28f. und S. 118ff. 301 Ebd.: S. 124. 302 Vgl. ebd.: S. 42. 303 R. Sommer: Funktionsgeschichten. Überlegungen zur Verwendung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft und Anregungen zu seiner terminologischen Differenzierung. In: T. Berchem et. al. (Hgg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. Bd. 41. 2000, S. 322.

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Der Experimentbegriff in Dürrenmatts Werk

schem Autor und Modell-Autor sowie empirischem Leser und Modell-Leser, welcher auch in Roy Sommers Essay besondere Bedeutung zugemessen wird, einzugehen.304 Umberto Eco führt in seinem Buch Lector in fabula die Terminologie des ModellAutors und des Modell-Lesers ein. Ziel ist es, das in den frühen Informationstheorien verbreitete stark vereinfachte Kommunikationsmodell (ein Sender, eine Nachricht, ein Empfänger) zu problematisieren.305 Eco geht nun davon aus, dass der empirische Autor, als Werkproduzent, beim Schreiben einen Modell-Leser voraussetzt, der in der Lage ist, an der Aktualisierung des Textes genau auf die Art und Weise mitzuwirken, wie es der Autor gewollt hat.306 Der Autor entscheidet, „bis zu welchem Punkt er die Mitarbeit des Lesers kontrollieren muss, wo diese ausgelöst, wo sie gelenkt wird und wo sie sich in ein freies Abenteuer der Interpretation verwandeln muss“307. Demgegenüber steht gemäss Eco der empirische Leser, der sich aus den Daten der Textstrategie einen hypothetischen Autor, einen Modell-Autor entwirft. Damit sollte deutlich geworden sein, dass mit den beiden Begriffen Modell-Autor sowie Modell-Leser stets zwei Arten von Textstrategien gemeint sind.308 Interessant ist jedoch, wie Umberto Eco ausführt, dass die Bildung eines Modell-Autors von Seiten des empirischen Lesers die weniger gewagte Variante ist, da der Leser seine Vorstellung vom Text, der präsent ist, ableiten kann. Der empirische 304 Dabei müssen zum Teil ähnliche, aber doch unterschiedliche Terminologien beachtet werden: Roy Sommer übernimmt in seinem Aufsatz für die Präzisierung des Funktionspotentials in den drei getrennten Bereichen Wirkungsabsicht, textuelles Wirkungspotential und historische Wirkung literarischer Texte von Umberto Eco die Unterscheidung zwischen einerseits dem empirischen Autor, welcher sich einen Modell-Leser als impliziten Adressaten konstruiert und andererseits dem empirischen Leser, der aus eben den Daten der Textstrategie einen hypothetischen Modell-Autor deduziert. Pfister macht die oben ausgeführte Unterscheidung in seinem Buch Das Drama ebenfalls: Der Modell-Autor entspricht bei Pfister dem impliziten Autor (= S3) und der Modell-Leser dem impliziten, idealen Rezipienten (= E3). Iser seinerseits führt im Buch Der Akt des Lesens ebenfalls das Konzept des idealen Lesers ein. Wichtig ist, dass durch diese Unterscheidung die klassische Gleichsetzung von Funktion literarischer Texte mit der Wirkungsintention ihrer Autoren gemäss Sommer aufgegeben wird. Vgl. U. Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. 1987, S. 74ff., W. Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 1994, S. 50ff., M. Pfister: Das Drama. 2001, S. 20f. und R. Sommer: Funktionsgeschichten. Überlegungen zur Verwendung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft und Anregungen zu seiner terminologischen Differenzierung. In: T. Berchem et. al. (Hgg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. Bd. 41. 2000, S. 328. 305 Vgl. U. Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. 1987, S. 64f. Nicht nur Umberto Eco, sondern auch Wolfgang Iser in seinem Buch Der Akt des Lesens und Manfred Pfister in Das Drama wenden sich vom vereinfachenden Kommunikationsmodell Sender und Empfänger ab. Vgl. W. Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 1994, S. 39f., M. Pfister: Das Drama. 2001, S. 20f. Das Modell von Pfister beinhaltet zudem auch die Unterschiede zwischen narrativen und dramatischen Texten. Hier wird jedoch aus Gründen der Ausführlichkeit und damit der besseren Verständlichkeit dasjenige von Eco ausgeführt. 306 Vgl. U. Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. 1987, S. 67. 307 Ebd.: S. 71. 308 Vgl. ebd.: S. 76f.



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Autor hingegen postuliert in der Bildung eines Modell-Lesers etwas, das gar noch nicht besteht.309 Die vom empirischen Leser entwickelte Hypothese über seinen Modell-Autor scheint eher abgesichert zu sein als jene, die der empirische Autor im Hinblick auf seinen Modell-Leser formuliert.310

Roy Sommer ordnet nun, basierend auf den Erläuterungen Umberto Ecos, dem empirischen Autor, welcher sich einen Modell-Leser als idealen Leser konstruiert, die Wirkungsabsicht, die Intention zu. Unter einem textuellen Wirkungspotential versteht Sommer hingegen „eine vom Text her begründbare Annahme über die möglichen Effekte der narrativen Strategien, die den nacherzählbaren Inhalt eines literarischen Textes strukturieren und organisieren und damit für den Sinn entscheidend sind“311. Diese textbezogenen Funktionen beziehen sich nun nicht auf die auktoriale Wirkungsabsicht, sondern auf die „Annahmen über die Relationierung der Textelemente“312 durch die Rezipienten, die jeweils einen Teil des Wirkungspotentials des Textes, das bedeutet einen Bruchteil der Gesamtheit der denkbaren Lesarten des Textes, realisieren. Erst durch den Rezeptionsprozess wird durch den Leser oder Zuschauer ein bestimmter Teil des Wirkungspotentials aktualisiert, während andere mögliche Interpretationen verworfen werden.313 In dieser Arbeit liegt der Fokus nun auf dem impliziten Leser, dem Modell-Leser, welcher versucht, ein mögliches soziopolitisches Wirkungspotential aus den Theaterstücken zu erschliessen. Für die Analyse des Wertes Gerechtigkeit übernehmen dabei die durch den hypothetischen Leser interpretierten textuellen Strategien und Strukturen der Sympathielenkung eine zentrale Rolle. Diese werden jedoch in Dürrenmatts Theaterstücken, wie die folgende Analyse zeigen wird, experimentell verwendet. Die einleitenden Ausführungen zur Wirkungsästhetik haben ergeben, dass der Fokus der Literaturwissenschaft sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Bedeutung des Textes hin zur Wirkung des Textes verschoben hat. 309 Hierin wird auf ein Problem verwiesen, dass Niklas Luhmann als doppelte Kontingenz beschreibt. Doppelte Kontingenz bezeichnet bei einem Treffen von „Ego und Alter“ das Einrichten von „Erwartungserwartungen“ auf beiden Seiten: Diese beidseitige „unsichere oder enttäuschungsanfällige Erwartbarkeit von Erwartungen“ ist eine grundsätzlich unauflösbare Ausgangssituation. D. Krause: Luhmann-Lexikon. 2005, S. 17f. 310 U. Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. 1987, S. 77. Hier ist anzumerken, dass Dürrenmatt in seinen Überlegungen zum Publikum radikal in Frage stellt, ob das Publikum noch steuerbar ist, wie später noch ausgeführt werden wird. 311 R. Sommer: Funktionsgeschichten. Überlegungen zur Verwendung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft und Anregungen zu seiner terminologischen Differenzierung. In: T. Berchem et. al. (Hgg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. Bd. 41. 2000, S. 328. 312 Ebd.: S. 330. 313 Vgl. ebd.: S. 330f.

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Der Experimentbegriff in Dürrenmatts Werk

Eine vergleichbare Entwicklung lässt sich auch für das Theater des 20. Jahrhunderts feststellen: Gemäss Erika Fischer-Lichte wird der Zuschauer als wichtige Komponente des Theaterstücks entdeckt.314 Zu Beginn unseres Jahrhunderts wurde die Struktur der theatralen Kommunikation im europäischen Theater einer grundlegenden Veränderung unterzogen. Während seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert sich das Interesse auf die Personen auf der Bühne und ihre interne Kommunikation konzentriert hatte, verlagerte sich nun der Schwerpunkt auf das Verhältnis zwischen Bühne und Zuschauern: Die externe Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauern wurde markiert.315

Diese Verschiebung des Interesses vom inneren Kommunikationssystem auf die Beziehung zwischen Rezipient und Bühne ist auch für Friedrich Dürrenmatt bedeutsam, wie die folgenden Erläuterungen erkennen lassen: Rudolf Käser hebt in seinem Vortrag Friedrich Dürrenmatt. Auf der Suche nach dem verlorenen Publikum die Wichtigkeit des äusseren Kommunikationssystems für Dürrenmatts Theaterkonzeption hervor. Zugleich weist er jedoch darauf hin, dass sich während Dürrenmatts Theaterarbeit durch das Aufkommen neuer Medien die Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des Theaters stark verändert haben.316 Käser erläutert, dass Dürrenmatt in seinen Essays festhält, wie sich das Theaterpublikum im Zuge des Strukturwandels der Öffentlichkeit verändert: Es entwickelt sich von einer ständisch-stratifikatorisch strukturierten hin zu einer funktional differenzierten, heterogenen, unberechenbaren Masse. Diese Wandlung hat natürlich Konsequenzen für Dürrenmatt und dessen Appell- und Darstellungsfunktion im Theater: Durch den Strukturwandel der Öffentlichkeit entzieht sich das empirische Theaterpublikum immer mehr der Adressierbarkeit, wie Dürrenmatt mehrfach in seinen theatertheoretischen Schriften ausführt:317 Dürrenmatt thematisiert diese Veränderung bereits im Essay Theaterprobleme 1954. Er stellt die Frage, wer das Publikum des modernen Theaters ist, und erläutert, dass der Autor der Moderne das anonym gewordene Publikum nicht mehr kennt.318 Dürrenmatt realisiert, dass das empirische Publikum für ihn nicht mehr direkt zugänglich ist, wie er wiederholt, unter anderem in einem Gespräch mit Dieter Bachmann und Peter Rüedi im Jahre 1977, betont:

314 Vgl. E. Fischer-Lichte: Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts. 1997, S. 9. 315 Ebd.: S. 9. 316 Vgl. R. Käser: Friedrich Dürrenmatt. Auf der Suche nach dem verlorenen Publikum. Vortrag zur Ausstellung ‚Hanny Fries. Dürrenmatt am Schauspielhaus Zürich. Theaterzeichnungen 1954–1983’, Stadthaus Zürich. 28.03.2007, S. 3. 317 Vgl. ebd.: S. 7f. 318 Vgl. F. Dürrenmatt: Theater. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 42.



Experimentelle Verwendung theatralischer Mittel

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FD Das Publikum ist eine amorphe Masse. Wie soll ich den Hintergrund kennen, wo etwas von mir ankommt? Das ist heute individueller denn je geworden.319

Damit stellt sich wirkungsästhetisch die Frage, inwieweit die Reaktion eines unberechenbaren Publikums beispielsweise mittels textuellen Strategien und Strukturen der Sympathielenkung noch zu steuern ist. Da Dürrenmatt das Publikum trotz dieser schwerwiegenden Veränderung für sein Theaterschaffen als konstitutive Voraussetzung begreift, entsteht eine paradoxe Situation, die sich in Dürrenmatts ambivalentem Publikumsverständnis ausdrückt: Einerseits ist das empirische Theaterpublikum nicht mehr berechenbar und kann zu nichts gezwungen werden, andererseits ist das Publikum nach wie vor ein konstitutiver Faktor seines Theaters. Dies ist ein im Grunde paradoxes Resultat: Aus wirkungsästhetischen Überlegungen heraus kommt Dürrenmatt hier zum Ergebnis, dass die Poetologie seines Theaterschaffens nicht länger wirkungsästhetisch sein kann, weil das Publikum nicht mehr berechenbar ist, sondern frei.320

Hier grenzt sich Dürrenmatt, wie Käser ausführt, von Brecht ab, der nach wie vor von einer berechenbaren und somit lenkbaren Reaktion des Publikums ausgeht, damit es kollektiv gesellschaftliche Probleme durch die marxistische Dialektik lösen soll.321 Den Ausweg aus dieser Situation sieht Dürrenmatt nun gemäss Käser in der „Komödie der Handlung“, in der „Fiktion von Gegenwelten, deren Entwurf man riskiert“ 322: Dürrenmatt geht nicht mehr von einer Abbildbarkeit der Welt aus, sondern versucht, mögliche Systemmodelle auf die Bühne zu bringen, welche er als Gegenwelten zur Realität versteht. Somit wendet sich Dürrenmatt von rein wirkungsästhetischen Fragen nach der Steuerbarkeit des Publikums ab und verschiebt den Fokus auf die Darstellung fiktiver Systemmodelle und -mechanismen auf der Bühne. Um diese Verlagerung des Interesses auch mit theatralischen Mitteln umzusetzen, wird in Dürrenmatts Komödien, so die These, mit dem wirkungsästhetischen Konzept der Sympathielenkung experimentiert: Bereits in den 1950er-Jahren wird in Dürrenmatts Theaterstücken auf eine durchgehende Sympathielenkung verzichtet. Mittels Ambivalenzsignalen auf der Ebene der Geschichte sowie auf der Ebene der Darstellung der Geschichte323 wird eine identifikatorische Rezeption durch das Publikum blockiert, 319 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 2. 1996, S. 224. 320 R. Käser: Friedrich Dürrenmatt. Auf der Suche nach dem verlorenen Publikum. Vortrag zur Ausstellung ‚Hanny Fries. Dürrenmatt am Schauspielhaus Zürich. Theaterzeichnungen 1954–1983’, Stadthaus Zürich. 28.03.2007, S. 10. 321 Vgl. ebd.: S. 9. Auf Brechts Lehrstück-Theorie und die Differenz zu Dürrenmatts Theaterverständnis wird in der Analyse der Komödien eingegangen. 322 Ebd.: S. 10. 323 Pfisters Ausführungen zur Sympathielenkung in Dramen auf zwei Ebenen – der Geschichte und der Darstellung der Geschichte – erinnert an jene Zweiteilung der Narratologie in Fabeltheorie, welche beispielsweise von Greimas vertreten wird, und in Diskurstheorie, welche vermehrt

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Der Experimentbegriff in Dürrenmatts Werk

keine Figur und ihre Werthaltung durchgehend positiv dargestellt.324 Somit wird der Fokus von den Figuren weggerückt und zunehmend auf die im Rücken der dargestellten Figuren wirksamen Systemdynamiken gelegt. Auf diese Weise sollen mögliche soziopolitische Wirkungspotentiale aus den Theaterstücken sichtbar gemacht werden. Dabei nimmt das empirische, unberechenbare Publikum jedoch erneut eine bedeutende Stellung in Dürrenmatts Komödie der Handlung ein: Ihm kommt nun die wichtige Funktion zu, den Wirklichkeitsbezug zwischen den fiktiven Systemmechanismen und der Realität herzustellen, wie Dürrenmatt beispielsweise in der Standortbestimmung zu Frank der Fünfte 1960 erläutert:325 Vertrauen ins Publikum: […] Seiner Fantasie ist zu vertrauen. Es erblickt von selbst in der Frankschen Privatbank das Grundmodell des Staates oder in der nächtlichen Zusammenkunft der Bankangestellten eine Kremlsitzung. […] Ohne Vertrauen ins Publikum ist keine Dramatik möglich.326

Hier zeigt sich in Dürrenmatts aktiver Publikumskonzeption eine weitere Abgrenzung von der klassisch-aristotelischen Tradition: Dürrenmatts Publikum soll sich als Mitspieler begreifen. Damit unterscheidet es sich von der alten Dramatik, in der vom Publikum lediglich ein Mitfühlen und Identifizieren verlangt wurde.327 Aus diesem Grund ist es gemäss Dürrenmatt denn auch die Aufgabe des Publikums und nicht des Autors, das politische Theater herzustellen, wie er in einem Gespräch 1976 ausführt.328 Dürrenmatt geht es in seinen Gegenwelten nicht primär um das Wiedererkennen der Realität in der Fiktion, seine Dramen sind keine Lehrstücke: Er will in seinen Gegenwelten neue Aspekte der systemischen Bedingungen der Wirklichkeit, die bisher übersehen oder nicht bedacht wurden, in Extremsituationen sichtbar machen von Stanzel und Genette vertreten wird. Sie erfüllt damit Taehwan Kims Forderung, dass in der Betrachtung der Axiologie beide Ebenen stets zusammen betrachtet werden sollten. Vgl. T. Kim: Vom Aktantenmodell zur Semiotik der Leidenschaften. Eine Studie zur narrativen Semiotik von Algirdas J. Greimas. 2002, S. 3f. und S. 230. 324 Greimas hat sich in seinen Werken Sémantique structurale und Semiotik der Leidenschaften vertieft dem Problem der Axiologie, der Beschreibung des Wertsystems in narrativen Texten, gewidmet. Taehwan Kim erläutert dabei in seiner Untersuchung des Greimasschen Werkes Entwicklungen bezüglich der Axiologie im modernen Roman, die auch für die Betrachtung des Wertes Gerechtigkeit in Dürrenmatts Komödien von Interesse sind: „Die weitere Entwicklung des modernen Romans bringt ein neues Idealbild des Erzählers hervor, der sich nicht einmal mit moralisierenden Kommentaren wie Balzacs Erzähler einmischt und sich verschiedenen Axiologien und Meta-Axiologien seiner Figuren gegenüber „neutral“ und „objektiv“ verhält.“ Vgl. ebd.: S. 18ff. und S. 164. 325 Vgl. R. Käser: Friedrich Dürrenmatt. Auf der Suche nach dem verlorenen Publikum. Vortrag zur Ausstellung ‚Hanny Fries. Dürrenmatt am Schauspielhaus Zürich. Theaterzeichnungen 1954–1983’, Stadthaus Zürich. 28.03.2007, S. 11f. 326 F. Dürrenmatt: Frank der Fünfte. 1998, S. 159. 327 Vgl. K. Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. A-G. 1997, S. 468. 328 Vgl. F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 2. 1996, S. 180.



Experimentelle Verwendung theatralischer Mittel

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und analysieren. Diese Theaterkonzeption Dürrenmatts erinnert stark an die von Iser erläuterte Funktion der modernen Literatur. In der Theateranalyse soll anhand der Sympathielenkung untersucht werden, wie sich Dürrenmatts Skepsis an der Lenkbarkeit des empirischen Publikums in den Komödien manifestiert.

2.3.2 Poetische Gerechtigkeit als Experiment Wie Susanne Kaul ausführt, wird die Darstellung des Wertes Gerechtigkeit in den Theaterstücken durch die Sympathielenkung und die poetische Gerechtigkeit geprägt. Da davon ausgegangen wird, dass in Dürrenmatts Komödien mit dem Konzept der Sympathielenkung experimentiert wird, womit die Zuschauer keiner Figur und der von ihr vertretenen Werte mehr nur Sympathie oder Antipathie entgegenbringen, wird analog dazu die Ansicht vertreten, dass auch das Konzept der poetischen Gerechtigkeit experimentell erprobt wird: So kann erneut eine explizite Wertübernahme der Zuschauer verhindert werden. Der Begriff der poetischen Gerechtigkeit, der im späten 17. Jahrhundert in den literaturkritischen Schriften Thomas Rymers und John Drydens eingeführt wird, ist gattungsübergreifend, obgleich er, wie Susanne Kaul ausführt, ursprünglich an der Tragödie gewonnen wird. Mit poetischer Gerechtigkeit wird die im literarischen Werk kompositorisch gestaltete Gerechtigkeit bezeichnet, welche Verbrechen nicht ungestraft und gute Taten nicht ohne Lohn lässt. Die poetische Gerechtigkeit ist im europäischen Klassizismus noch mehrheitlich unumstritten, seit dem 19. Jahrhundert ist der Begriff jedoch einem Wandel unterlegen: Die Gründe für den Niedergang der poetischen Gerechtigkeit sind vor allem in der Abkehr von einem religiösen Weltbild zu suchen. In der Moderne lässt sich die Gerechtigkeit als dichterisches Ideal, wie Kaul weiter erläutert, nur noch schwer auf eine Vorstellung göttlicher Ordnung zurückführen.329 In den analysierten Theaterstücken Dürrenmatts wird die poetische Gerechtigkeit denn auch nicht eins zu eins umgesetzt, ihre Darstellung wird, wie die Theateranalyse zeigt, seit den 1950er-Jahren auf unterschiedlichste Weise erprobt. Dieses Experimentieren mit dem klassischen Konzept der poetischen Gerechtigkeit und die Abwendung von einer expliziten Sympathielenkung führen dazu, dass in Bezug auf die Axiologie auf beiden Ebenen festgestellt werden kann, dass den Zuschauern keine explizite Wertübernahme einer Figur mehr empfohlen wird. Das Publikum wird auf beiden Ebenen irritiert, distanziert und freigesetzt. Dies soll dazu führen, dass der Fokus der Zuschauer von den Figuren auf die in Extremsituationen dargestellten Systemmechanismen verlagert wird.

329 Vgl. S. Kaul: Poetik der Gerechtigkeit. 2008, S. 12f.

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Der Experimentbegriff in Dürrenmatts Werk

2.3.3 Weitere Experimente mit klassischen Theaterelementen In Dürrenmatts theatralischen Experimenten wird das Publikum zum Reflektieren aufgefordert: Es soll sich nicht als passiv wahrnehmender Zuschauer mit den handelnden Figuren identifizieren wie im klassischen Drama, sondern aktiv neue Erkenntnis aus den dargestellten Systemzusammenhängen ziehen. Aus diesem Grund wird weiter davon ausgegangen, dass die unüberschaubaren systemischen Bedingungen in Dürrenmatts Stücken dazu führen, dass ursprünglich klassische Theaterelemente und -strukturen nicht mehr umgesetzt werden können und daher experimentell erprobt werden müssen. Auch auf diese Weise soll der Zuschauer irritiert und zum Nachdenken über die dargestellten Mechanismen angeregt werden. Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft wird der Begriff Plot als „Handlungsstruktur eines erzählenden oder dramatischen Textes“330 definiert. Dennoch zeigt der Lexikoneintrag auf, dass sich eine international einheitliche Begriffsdefinition nicht herausgebildet hat331 und aus diesem Grund einige Erörterungen zum Plotbegriff in dieser Arbeit notwendig sind. Diese stützen sich weitgehend auf das Buch Das Drama von Manfred Pfister. Pfister führt aus, dass den dramatischen und narrativen Texten eine Geschichte zugrunde liegt, er definiert Geschichte als das Vorhandensein von drei Elementen: erstens eines oder mehrere menschliche Subjekte, zweitens eine zeitliche sowie drittens eine spatiale Dimension.332 Die Geschichte siedelt Pfister auf der Ebene der Geschichte an. Sie ist somit „allgemeiner und weniger konkret als jede ihrer Repräsentationen in einem dramatischen oder narrativen Text“333. Die Geschichte, so erläutert Pfister weiter, enthält die rein chronologisch geordnete Abfolge der Vorgänge und Ereignisse und wird in der angelsächsischen Literaturtheorie „story“ genannt.334 Der Geschichte entspricht auf der Ebene der Darstellung die Fabel. Die Fabel beinhaltet bereits bedeutende Aufbaumomente, das heisst, „kausale und andere sinnstiftende Relationierungen, Phasenbildung, zeitliche und räumliche Umgruppierungen usw.“335. Die Fabel ist in der englischsprachigen Literaturtheorie nun gleichbedeutend mit „plot“, Fabel und Plot entsprechen bei Aristoteles dem Begriff „Mythos“.336 Pfister zufolge werden im Begriff Mythos von Aristoteles die „Ganzheit, Einheitlichkeit und kausale Geschlossenheit“337 gefordert, welche jedoch aufgrund ihrer historischen Begebenheit nicht verabsolutiert werden dürfen. Gerade im modernen Drama ist diese klassischaristotelische Dramaturgie oft zugunsten eines experimentellen Umgangs mit klassischen Theaterelementen verworfen worden. Das von Pfister angeführte Max Frisch-Zitat 330 J.-D. Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. P-Z. 2003, S. 92. 331 Vgl. ebd.: S. 94. 332 Vgl. M. Pfister: Das Drama. 2001, S. 265. 333 Ebd.: S. 266. 334 Vgl. ebd.: S. 266f. 335 Ebd.: S. 266. 336 Vgl. ebd.: S. 267. 337 Ebd.: S. 268.



Experimentelle Verwendung theatralischer Mittel

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zu diesem Thema zeigt deutlich, wie Frisch sich von der aristotelischen MythosForderung distanziert: Insbesondere kritisiert er die Dramaturgie der Fügung sowie die Dramaturgie der Peripetie und betont die Wichtigkeit des Zufalls.338 In der folgenden Analyse der Dürrenmattschen Komödien wird somit ein weiterer Fokus auf die experimentelle Verwendung von ursprünglich klassisch-aristotelischen Theaterelementen und die Zusammensetzung und Anordnung dieser Elemente zu einer Fabel, zu einem Plot gelegt werden: Dem Zufall kommt in Dürrenmatts Werk dabei eine zentrale Rolle zu. Es werden aber auch klassische Handlungsstrukturen wie beispielsweise die Anagnorisisszene oder die Peripetie verweigert und es wird mit den Funktionen der klassischen Monologe, Dialoge oder Chöre gespielt.

338 Vgl. ebd.: S. 268.

3. Friedrich Dürrenmatts soziopolitischer Diskurs im essayistischen Werk „Aber […] der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeugt stets die Hölle.“ K. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 2. 1992, S. 277.

Um Friedrich Dürrenmatts soziopolitischen Diskurs, seine Reflexionen über moderne dynamische Systemmechanismen, deren Steuerbarkeit und das Verhalten des Einzelnen in solchen systemischen Bedingungen zu verstehen, muss der Fokus auf Dürrenmatts Erläuterungen zum Gesetz der grossen Zahl gelegt werden. Dürrenmatt, so lautet die These, missversteht das ursprünglich mathematische Gesetz produktiv und arbeitet es immer mehr zu einem evolutionären Gleichnis für soziale Systeme und ihren dynamischen Wandel aus: Anfänglich überträgt er dieses mathematische Gesetz eins zu eins auf die Gesellschaft, um systemischen Wandel oder dessen Ausbleiben zu erklären. Das exponentielle Bevölkerungswachstum im 20. Jahrhundert und damit verbunden die zunehmende Unüberschaubarkeit der modernen Gesellschaft führen Dürrenmatt jedoch dazu, auf Basis des Gesetzes der grossen Zahl auch die kritischen Folgen dieses Wachstums, das heisst die zunehmende Imponderabilität, für die Steuerung der Systeme und ihre Systemdynamiken zu reflektieren. Ziel dieses Kapitels ist die Erarbeitung und Rekontextualisierung von Friedrich Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs: In einem ersten Teilkapitel erfolgen allgemeine Erläuterungen zum mathematischen Gesetz der grossen Zahl, bevor in einem zweiten Unterkapitel diejenigen essayistischen Texte Dürrenmatts betrachtet werden, in welchen er sich das Gesetz der grossen Zahlen aneignet. Im abschliessenden dritten Teilkapitel wird auf die vielfältigen Analogien zwischen den (soziopolitischen) Reflexionen Karl Poppers und Friedrich Dürrenmatts eingegangen.

3.1 Allgemeine Vorüberlegungen zum mathematischen Gesetz der grossen Zahl339 Das Gesetz der grossen Zahl stammt ursprünglich aus der Mathematik.340 Es wurde durch Jakob I. Bernoulli 341 entdeckt und im Werk Ars Conjectandi 339 Woher der Schriftsteller das Gesetz der grossen Zahl kennt, kann nicht angegeben werden. Dürrenmatt verwendet Zahl im Singular, wohingegen Zahl in den Lexikas im Plural steht. 340 Vgl. R. E. Krebs: Encyclopedia of Scientific Principles, Laws, and Theories. Vol. 1. A-K. 2008, S. 49. 341 Vgl. ebd.: S. 49f.



Das Gesetz der grossen Zahl als Gleichnis

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1713342, acht Jahre nach Bernoullis Tod, veröffentlicht. Dem Thesaurus der exakten Wissenschaften zufolge wird das Gesetz der grossen Zahl folgendermassen definiert: „Der Zufall ist nur im Einzelfall unvorhersehbar. Mit wachsender Zahl der Fälle bringt er nach und nach eine Ordnung hervor […], die so viel Ordnung aufweist, dass man sie durch eine mathematische Formel beschreiben kann.“343 Das mathematische Gesetz wird beispielsweise bei der statistischen Berechnung von Münzwürfen angewandt:344 Wird ein Ereignis unter gleichen Bedingungen hinreichend oft wiederholt, führt es dazu, „dass die relative Häufigkeit des Auftretens eines bestimmten Ereignisses bei diesen Versuchen nur beliebig wenig von der Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses abweicht“345. Das ursprünglich stochastische Konzept, welches sich zur Berechnung von Massenphänomenen eignet, etablierte sich bald auch in der Physik und den Wirtschafts- beziehungsweise den Sozialwissenschaften. So kann, wie Bernd Leiner in seinem Buch Einführung in die Statistik schreibt, in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, in denen das Individuum als unberechenbar gilt, eine zuverlässige Aussage über das Verhalten einer grösseren Menschenmasse zum Beispiel auf der Autobahn, bei Wahlen oder im Konsumverhalten gemacht werden. Das Gesetz kann auch in physikalischen Versuchen angewandt werden: Dort kann Leiner zufolge über das Verhalten einer grösseren Anzahl an Gasmolekülen eine Aussage getroffen werden, wohingegen das einzelne Atom nicht berechnet werden kann: Er verweist beispielsweise auf die Reaktion des Gases bei Temperaturzunahme.346

3.2 Das Gesetz der grossen Zahl als Gleichnis moderner soziopolitischer Systeme und ihrer Dynamiken Dürrenmatt beginnt seine soziopolitischen Gedanken in den 1950er-Jahren zu veröffentlichen, während der Kalte Krieg, dieser Systemkonflikt zwischen Ost und West, bereits im Gange ist. Der Kalte Krieg bestand nicht nur aus geopolitischer Rivalität und atomarem Wettrüsten, […]. Es ging um die beste Organisationsform der menschlichen Gesellschaft.347

342 Vgl. J. Bernoulli: Wahrscheinlichkeitsrechnung (Ars conjectandi), hg. v. R. Haussner. 1899 sowie Lexikon der Mathematik in sechs Bänden. Bd. 2. Eig bis Inn. 2001, S. 289. Vgl. auch URL: www.uni-due.de/imperia/md/content/didmath/ag_jahnke/jakob_ber01.pdf. 343 M. Serres und N. Farouki (Hgg.): Thesaurus der exakten Wissenschaften. 2001, S. 341. 344 Vgl. A. Woll (Hg.): Wirtschaftslexikon. 2000, S. 290. 345 Ebd.: S. 290. 346 Vgl. B. Leiner: Einführung in die Statistik. 1996, S. 192. 347 J. L. Gaddis: Der Kalte Krieg. 2007, S. 109.

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Dürrenmatts soziopolitischer Diskurs im essayistischen Werk

Dürrenmatt geht es in seinem soziopolitischen Diskurs jedoch nicht darum, im Konflikt zwischen Kapitalismus im mehrheitlich freiheitlich-demokratischen Westen und Sozialismus sowie kommunistischer Weltrevolution im Osten, Partei für eine Seite zu ergreifen.348 Im Fokus seines soziopolitischen Diskurses steht die Frage, welche Gesellschaftsordnung in dieser modernen Welt die gerechteste ist. Dürrenmatt versucht diese Frage durch die Aneignung des Gesetzes der grossen Zahl zu beantworten. In seinen Fokus geraten dabei soziale Systemdynamiken und die Frage nach ihrer Berechenbarkeit und Steuerbarkeit. Friedrich Dürrenmatts Aneignung des Gesetzes der grossen Zahl in sein soziopolitisches Denken erfolgte über mehrere Jahrzehnte: Durch die erstmalige Aufarbeitung dieser soziopolitischen Reflexionen in chronologischer Reihenfolge soll aufgezeigt werden, wie Dürrenmatt sich das mathematische Denkmuster als Gleichnis seines Systemdenkens zunutze macht. Dürrenmatts soziopolitische Reflexionen werden in dieser Arbeit zuerst im essayistischen Werk analysiert, weil er hier die zentralen Begriffe und Überlegungen formuliert, welche anschliessend in den Theaterstücken untersucht werden. Der Aufbau der Arbeit beinhaltet jedoch keine Aussage zur Chronologie der Dürrenmattschen Textgenese.

3.2.1 Dürrenmatts Aneignung des Gesetzes der grossen Zahl349 Bevor auf Dürrenmatts soziopolitische Reflexionen im essayistischen Werk eingegangen wird, soll seine Aneignung des Gesetzes der grossen Zahl kurz thematisiert werden. Die dazu notwendigen Textstellen befinden sich in verschiedenen Essays. Sie werden, um die Erarbeitung des soziopolitischen Diskurses im Folgenden zu erleichtern, hier vorweggenommen. Im mathematischen Gesetz der grossen Zahl findet Dürrenmatt, so die These, ein Gleichnis für sein soziopolitisches Systemdenken. Durch seine Aneignung des Gesetzes der grossen Zahl, welche auf der Konstatierung von analogen Systemmechanismen in der Thermodynamik350, der Astronomie und der Gesellschaft beruht, gelingt es ihm, in 348 Vgl. C. Gasteyger: Europa zwischen Spaltung und Einigung 1945–1990. Eine Darstellung und Dokumentation über das Europa der Nachkriegszeit. 1990, S. 111. 349 Dürrenmatt kennt das Gesetz der grossen Zahl aus der Thermodynamik. Dies zeigt sich darin, dass Dürrenmatt erst in Der Winterkrieg in Tibet korrekt von einem mathematischen Gesetz spricht, es vorher aber immer als physikalisches Denkmuster bezeichnet. Vgl. F. Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe I–III. 1998, S. 101. 350 „Die Thermodynamik befasst sich mit der Untersuchung bestimmter physikalisch beobachtbarer Eigenschaften von Materie, wie zum Beispiel der Temperatur, des Drucks, und des Volumens beziehungsweise der Dichte und deren Beziehungen zueinander. Gemeinsames Merkmal dieser Grössen ist es, dass sie die ”makroskopisch messbare“ Auswirkung von Bewegungen der Atome oder Moleküle beschreiben, aus denen Gase, Flüssigkeiten und Feststoffe zusammengesetzt sind. Die genaue Bewegung der einzelnen Teilchen ist dabei nicht bekannt; ihre Beschreibung wäre



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seinem essayistischen Werk die systemischen Bedingungen und deren Dynamiken zu reflektieren. Schreibt Dürrenmatt im Aufsatz Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit (1956) noch etwas vorsichtig, dass „[d]ie Menschheit […], um einen Ausdruck der Physik anzuwenden, aus dem Bereich der kleinen Zahlen in jenen der grossen Zahlen getreten“351 ist, stellt er im Essay Überlegungen zum Gesetz der grossen Zahl (1976/77) die Analogie gleich zu Beginn des Essays prägnant fest: Gesetz der grossen Zahl: Wie in der Thermodynamik gewisse Gesetze erst auftreten, wenn >sehr viele< Moleküle beteiligt sind […] – während die Bewegungen der einzelnen Moleküle dem Zufall unterworfen sind –, so werden gewisse Gesetze erst bei >sehr vielen< Menschen wirksam (Erdbevölkerung 4 Milliarden), etwa jenes des Primats der Gerechtigkeit vor der Freiheit.352

Dieses Zitat, welches zu den zentralen Textstellen des soziopolitischen Denkens Dürrenmatts gehört, ist jedoch ohne weitere Erklärungen nicht verständlich. Ersichtlich ist, dass in der Thermodynamik gewisse Gesetze erst bei einer grossen Anzahl an Molekülen erkennbar werden. Dürrenmatt zufolge kann das Gesetz der grossen Zahl nun auf die Gesellschaft, die aufgrund des starken Bevölkerungswachstums im 20. Jahrhundert vor ganz neuen Bedingungen steht, angewendet werden. Um Dürrenmatts Aneignung des Gesetzes im obenstehenden Zitat jedoch in seinem vollständigen Umfang zu verstehen, muss auf den Essay Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht aus dem Jahre 1969 zurückgegriffen werden. In Dürrenmatts Aufsatz Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht wird der Mensch als „Doppelbegriff“353 bezeichnet.354 Dieser „Doppelbegriff“ des Menschen wird verdeutlicht durch die Dualität Individuum – Allgemeinheit. Auf Basis dieser Erläuterungen kann sich Dürrenmatt das Gesetz der grossen Zahl als Gleichnis seines soziopolitischen Denkens aneignen: Er transferiert nun dieses Gesetz aus der Thermodynamik auf einzelne Individuen (= Einzelatome) und das gesellschaftliche System (= grosse Menge Gasmoleküle). Da das einzelne Atom, wie das Gesetz der grossen Zahl zeigt, nicht berechenbar ist, ordnet Dürrenmatt ihm das Individuum und dessen Streben nach Freiheit zu. Über grosse Mengen an Gasmolekülen sind jedoch statistische Berechnungen möglich. Diese grossen Mengen setzt Dürrenmatt mit der Allgemeinheit, der Gesellschaft gleich, welche nach Gerechtigkeit sucht. Diese Zuordnungen ermöglichen es Dürrenmatt, die beiden auch aufgrund der grossen Zahl der Teilchen viel zu kompliziert.“ C. Eck et. al.: Mathematische Modellierung. 2008, S. 71. 351 F. Dürrenmatt: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 63. 352 F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 108. 353 Ebd.: S. 56. Anstelle von Doppelbegriff würde sich Dualität besser eignen. 354 Das Teilchen-Welle-Paradoxon der modernen Physik widerspiegelt sich beispielsweise in Dürrenmatts paradoxem Begriff des Menschen.

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Dürrenmatts soziopolitischer Diskurs im essayistischen Werk

zentralen Werte seines soziopolitischen Denkens, Freiheit und Gerechtigkeit, in sein Dualitätsbild des Menschen einzufügen. So entstehen die Begriffspaare des soziopolitischen Diskurses, mit denen Dürrenmatt spielt: Dem einzelnen Atom entspricht das Individuum, welches nach Freiheit strebt und nicht berechenbar ist. Dem Verhalten einer grossen Menge von Atomen entspricht das Verhalten einer grossen Anzahl Menschen, einer Gesellschaft, welche nach Gerechtigkeit strebt und statistisch prognostizierbar ist. Immer stärker rückt in Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs jedoch auch das Überschreiten von kritischen Grenzen des Wachstums und dessen Folgen für die Steuerung von Systemdynamiken in den Fokus. Auf Basis der Aneignung des Gesetzes der grossen Zahl versucht Dürrenmatt in seinen Essays nun eine soziopolitische Lösung zu finden, die weder kommunistisch noch kapitalistisch ist, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden. Interessant ist, dass diese Verknüpfung zwischen Mensch und Atom im Vergleich zum Staat, der Gesellschaft bereits in Adrien Turels Werk Von Altamira bis Bikini, die Menschheit als System der Allmacht aus dem Jahre 1947 feststellbar ist. Normalerweise glaubt man, der Mensch als Individuum, die Persönlichkeit, sei im Raum ein kleiner Teil, ein atomales Element seiner sozialen Gruppe, seines Staats, und in der Zeit viel «kürzer», kurzlebiger, nur der minime Teil eines viel grösseren und bedeutsameren Ganzen.355

Dies ist für Dürrenmatts Aneignung des Gesetzes der grossen Zahl insofern bedeutsam, da aufgezeigt werden kann, dass Dürrenmatt dieses Buch zu Hause in der Privatbibliothek besass.356 Anschliessend werden nun in chronologischer Folge die Essays betrachtet, in denen Dürrenmatt seine Aneignung des Gesetzes der grossen Zahl ausführt.

3.2.2 Das Gesetz der grossen Zahl im Essay Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit357 1956 Dürrenmatt äussert zu Beginn des Aufsatzes persönliche Gedanken über die Dichtung in der Nachkriegszeit. Das Denken ist Dürrenmatt zufolge aus „der Domäne des Wortes 355 Turel thematisiert in seinem Buch zudem die Avogadrosche Zahl sowie die Problematik des Mitregierens, wenn Bürger „in zu grosser Zahl“ und „von zu weit her“ mitbestimmen sollen. A. Turel: Von Altamira bis Bikini, die Menschheit als System der Allmacht. 1947, S. 46 sowie S. 161f. 356 Vgl. URL: https://www.helveticarchives.ch/detail.aspx?ID=166337. 357 Vgl. F. Dürrenmatt: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 60–69. Erwähnt wird das mathematische Gesetz der grossen Zahl in Dürrenmatts literarischem Werk zwar bereits früher, beispielsweise im Kriminalroman Der Verdacht von 1951, jedoch ohne die Übertragung auf die Menschheit zu erläutern. Vgl. F. Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Der Verdacht. 1998, S. 251.



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herausgetreten und mathematisch abstrakt geworden“358. Dabei spricht Dürrenmatt auf einen Prozess an, welcher bereits durch Galileo Galilei, der als erster empirisches Wissen mit Mathematik kombinierte, in Gang gesetzt wurde: Die Mathematik tritt zwischen den menschlichen Geist (den Beobachter) und die Natur (das Beobachtete).359 Das abstrakte Denken in Formeln hat sich in unserer Welt, in der die Naturwissenschaften immer bedeutender werden, weiter verfestigt. Sobald der Mensch eine mathematische oder eine physikalische Formel durch die Sprache wiedergibt, wird sie umständlich und „verliert so ihre wichtigste Bestimmung: die der Unmittelbarkeit“360. Die Mathematik benötigt, so erläutert Dürrenmatt weiter, das Bild nicht mehr. Sie kann als ein „Operieren mit reinen Gedankendingen“361 angesehen werden, da sie eine sichere immanente Logik besitzt. Die Entwicklung der modernen Physik, erklärt Dürrenmatt nun, vollzieht diese Tendenz ebenfalls und ist dazu übergegangen, „das Bild, das Modell […] fallen zu lassen“362. Gemäss Dürrenmatt ist es ein falscher Trost, diesen Verlust, die Welt abbilden zu können, in die Naturwissenschaften zu verbannen, sie in den Geisteswissenschaften, welche sich noch immer in der Domäne des Wortes aufhalten, jedoch zu ignorieren. Es folgt daher Dürrenmatts radikale Infragestellung der alten Philosophie, welche noch immer auf dem Wort basiert. Doch möchte ich hier einmal den Verdacht anmelden, ob nicht die Form der heutigen Philosophie die Naturwissenschaft sei, ob wir uns nicht einer Täuschung hingeben, wenn wir glauben, immer noch die alte Philosophie des Worts in irgendeiner Form aufrechterhalten zu können, ob es nicht einfach so sei, dass wir bei Einstein oder Heisenberg die Ansätze einer neuen Philosophie finden und nicht bei Heidegger.363

Dies kann als explizite Aufforderung betrachtet werden, die Philosophie als Disziplin kritisch zu überdenken und die Fragestellungen und Theorien der modernen Naturwissenschaften als Ansätze einer neuen Philosophie anzuerkennen. Für Dürrenmatt stellt sich nun das Problem, dass die moderne Physik durch ihre Verbindung zur Mathematik für die Mehrzahl der Menschen nicht mehr verständlich ist. Gerade aber die Entwicklung, dass durch die Naturwissenschaften immer neue Erfindungen wie „Radar, Fernsehen, Heilmittel, Transportmittel, elektronische Gehirne“364 in die Welt gesetzt werden, die der Mensch zwar bedienen kann, in ihrer Komplexität aber nicht versteht, empfindet Dürrenmatt als problematisch. 358 F. Dürrenmatt: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 61. 359 Vgl. auch E. Emter: Literatur und Quantentheorie: die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren. 1995, S. 21f. 360 F. Dürrenmatt: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 61. 361 Ebd.: S. 61. 362 Ebd.: S. 62. 363 Ebd.: S. 62. 364 Ebd.: S. 63.

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Dürrenmatts soziopolitischer Diskurs im essayistischen Werk

Zu diesem an sich bereits schwierigen Verhältnis zwischen Mensch und moderner Naturwissenschaft gesellt sich die Tatsache, dass die Weltbevölkerung im 20. Jahrhundert drastisch anwächst. Die Menschheit ist, um einen Ausdruck aus der Physik365 anzuwenden, aus dem Bereich der kleinen Zahlen in jenen der grossen Zahlen getreten. So wie in den Strukturen, die unermesslich viele Atome umschliessen, andere Naturgesetze herrschen als im Innern eines Atoms, so ändert sich die Verhaltensweise der Menschen, wenn sie aus den relativ übersichtlichen und, was die Zahl ihrer Bevölkerung betrifft, kleineren Verbänden der alten Welt in die immensen Grossreiche unserer Epoche geraten.366

Hier eignet sich Dürrenmatt zum ersten Mal das für sein soziopolitisches Denken zentrale Gesetz der grossen Zahl an: Er erläutert ohne weiter zu präzisieren, dass gewisse Gesetzmässigkeiten in einer Gesellschaft – analog zum Gesetz der grossen Zahl – erst erkennbar werden, wenn die grosse Zahl berücksichtigt wird: Dürrenmatt verweist dabei auf die Entwicklung der Erdbevölkerung von den überschaubaren „Verbänden“ der früheren Zeit zu den bevölkerungsreichen Staaten von heute. Anschliessend erörtert er, dass in der modernen Welt die Unübersichtlichkeit gefördert wird: Es herrscht gerade in Bezug auf die Länder oft das Gefühl, einem „boshaften, unpersönlichen, abstrakten Staatsungeheuer gegenüberzustehen“ 367. Das Ansteigen der Bevölkerung bewirkt, dass eine Politik, wie sie früher ausgeübt wurde, kaum mehr umsetzbar ist. Die moderne Welt in ihrer Komplexität wird vom Menschen nicht mehr verstanden. Er wird dadurch der Möglichkeit der Mitbestimmung beraubt. Weitere Folgen dieser Zunahme an Unübersichtlichkeit für die gesellschaftlichen Systeme werden von Dürrenmatt jedoch nicht expliziert. Er (der Mensch PK) spürt, dass ein Weltbild errichtet wurde, das nur noch dem Wissenschaftler verständlich ist, und er fällt den Massenartikeln von gängigen Weltanschauungen und Weltbildern zum Opfer, die auf den Markt geworfen werden und an jeder Strassenecke zu haben sind.368

Bereits hier wird Dürrenmatts Ablehnung der ideologischen Weltanschauungen, die während des Kalten Krieges die Welt teilen, erkennbar. Als Schriftsteller realisiert Dürrenmatt, dass die Wirklichkeit aufgrund der neuesten Entwicklungen der 365 Hier muss Dürrenmatts Aussage präzisiert werden: Das Gesetz der grossen Zahl stammt ursprünglich aus der Mathematik, wird jedoch häufig in der Physik angewandt. Vgl. R. E. Krebs: Encyclopedia of Scientific Principles, Laws, and Theories. Vol. 1. A-K. 2008, S. 49f. sowie B. Leiner: Einführung in die Statistik. 1996, S. 192. 366 F. Dürrenmatt: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 63f. 367 Ebd.: S. 64. 368 Ebd.: S. 64f.



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Naturwissenschaften ausserhalb der Sprache liegt. Die Bildlosigkeit der Welt, das abstrakte Denken der Menschheit ist seines Erachtens nicht mehr zu umgehen. In solchen systemischen Bedingungen wird für Dürrenmatt der Einzelne369 bedeutsam. Die Chance liegt allein noch beim Einzelnen. Der Einzelne hat die Welt zu bestehen. Von ihm aus ist alles wieder zu gewinnen.370

Es folgt die Aufforderung an den Menschen, sich wieder ein Bild von der Welt zu formen. Wie dies geschehen soll, beantwortet Dürrenmatt gleich selber. Er verlangt von den Schriftstellern, die Welt als „Steinbruch“371 zu betrachten, aus welchem „der Schriftsteller die Blöcke zu seinem Gebäude“372 schneidet. Dabei trennt sich Dürrenmatt jedoch, analog zu den modernen Naturwissenschaften, von der Vorstellung, die Welt abbilden zu wollen. Er plädiert für „ein Neuschöpfen, ein Aufstellen von Eigenwelten, die dadurch, dass die Materialien zu ihrem Bau in der Gegenwart liegen, ein Bild der Welt geben“373. Zum Schluss des Essays erläutert Dürrenmatt einen seines Erachtens wichtigen, bestehenden Unterschied zwischen der Naturwissenschaft und der Kunst. Den Sinn dieser beiden Haltungen, oder besser – dieser beiden Tätigkeiten, stelle ich dahin. […] In der Wissenschaft zeigt sich die Einheit, in der Kunst die Mannigfaltigkeit des Rätsels, das wir Welt nennen.374

Für Dürrenmatt besteht jedoch keine definitive Separation zwischen Kunst und Naturwissenschaft. Er sieht eine Möglichkeit für die Überwindung der Kluft, indem der Konflikt ausgehalten wird: Diese Einstellung ermöglicht es Dürrenmatt, eine interdisziplinäre Arbeitsweise zu verfolgen und widerspricht der 1959 aufgestellten These von Charles Percy Snow.

369 Dürrenmatt reflektiert den Einzelnen aber auch kritisch. Im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht erläutert er, dass der Einzelne insbesondere für die Politik gefährlich werden kann, sobald er seinen existentiellen Begriff generalisiert und zu einem „Wir“ erweitert, welches er dem Feind entgegenstellt. 370 F. Dürrenmatt: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 67. 371 Ebd.: S. 67. 372 Ebd.: S. 67f. 373 Ebd.: S. 68. 374 Ebd.: S. 68f.

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3.2.3 Weiterentwicklung des Gleichnisses in Manuskripten375 und einem Interview in den Jahren 1960 und 1966 Manuskripte In den Manuskripten zum Essay Überlegungen zum Gesetz der grossen Zahl finden sich bereits im Jahr 1960 sechs Seiten, welche als Vorarbeit zum 16 Jahre später vollendeten Aufsatz betrachtet werden können. Da die Textstellen nicht in sich zusammenhängen, sollen nur kurz die wichtigsten Themen daraus erläutert werden. Dürrenmatt zufolge befindet sich die moderne Welt in einer Krise. Er betont gleich zu Beginn, dass die Angst, „die Privilegien zu verlieren, deren man sich erfreut“376, grösser ist als die Furcht vor dem Untergang der Welt. Die Angst, die Freiheit zu verlieren und in Knechtschaft zu enden, ist allgegenwärtig. Weiter geht Dürrenmatt auf das Wesen der Politik ein und kritisiert, dass noch immer mit Schlagwörtern gearbeitet wird. Er wendet sich daraufhin der Schweiz und ihrem Verhältnis zur Armee zu, wobei er den Glauben kritisiert, dass mit dem Ende der Schweizerischen Armee auch das Ende des Staates herbeigeführt werden würde. Erst ganz am Schluss der sechs Seiten thematisiert Dürrenmatt im Zusammenhang mit der stark wachsenden Bevölkerung das „Gesetz von Avogadro“. Die Avogadrosche Konstante377 ist eine sehr grosse Zahl an Atomen oder Molekülen, welche für Berechnungen in der Thermodynamik eingesetzt wird und auch als Loschmidtsche Zahl bekannt ist. Die Menschheit entwickelt sich unabhängig von der jeweiligen Politik. Anzeichen sind vorhanden, dass die Kriege ihren Sinn verloren haben, nur zufällige Wellen sind vor dem Hintergrund einer ständig anwachsenden Menschheit. Die Physiker mögen mir verzeihen, doch angenommen es beschäftigte sich einer mit den Bewegungen der Moleküle eines grotesk dünnen Gases. Er wird das Gesetz von Avigadro [sic] nicht feststellen können, das besagt, das Gas übe auf jede Fläche eines Behälters den gleichen Druck aus.378

Mit diesem Zitat endet 1960 Dürrenmatts Vorarbeit zum Aufsatz Überlegungen zum Gesetz der grossen Zahl abrupt. Bereits hier finden sich jedoch die in seinem soziopolitischen Diskurs später so zentralen Denkmotive der stark wachsenden Menschheit und der Freiheit. Doch bleibt die von Dürrenmatt begonnene Reflexion hier fragmentarisch. 375 Das Manuskript des Essays Überlegungen zum Gesetz der grossen Zahl von 1960 befindet sich im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern. 376 Schachtel 28 m251 VII, keine Seitenzahl. 377 Die Avogadrosche Konstante „gibt die Anzahl der Atome oder Moleküle an, die in einem Mol eines beliebigen Stoffs enthalten sind: NA = 6,0221367 · 1023 mol-1 […]. Die Avogadro-Konstante wurde in der dt.-sprachigen Fachliteratur auch loschmidtsche Zahl“ genannt. Als Avogadro-Zahl werden die Anzahl Atome oder Moleküle pro cm3 eines idealen Gases unter Normalbedingungen bezeichnet. Heute hat sich für die Anzahl Atome oder Moleküle eines idealen Gases pro m3 der Begriff Loschmidt-Konstante durchgesetzt. Der Brockhaus. Naturwissenschaft und Technik. Bd. 1. A-Gd. 2003, S. 190f. 378 Schachtel 28 m251 VII, keine Seitenzahl.



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Interview von Alfred A. Häsler379 1966 Am Ende eines Gesprächs zwischen Alfred Häsler und Friedrich Dürrenmatt kommt das Thema Schriftstellerei und Politik zur Sprache. Dürrenmatt grenzt sich dabei von der Politik ab, gibt jedoch zu bedenken, dass „jede Schriftstellerei ihre politischen Seiten hat“380. Er betont die Relevanz politischer Statements durch Nichtpolitiker und bezieht dabei auch die Schriftsteller mit ein. FD Was mich betrifft, so scheue ich mich nicht, mich politisch zu äussern. Das tue ich jedoch als Privatmann und nicht als Schriftsteller, der sich irgendeiner Partei verpflichtet hat.381

Im Anschluss nimmt Dürrenmatt die Problematik der Unüberschaubarkeit moderner Staaten erneut ins Visier. Diese systemischen Bedingungen bezeichnet er nun als „Staatsmaschinerie im Osten und im Westen“382, die kaum zu überblicken und aus diesem Grund nur schwer zu steuern sind: Damit thematisiert Dürrenmatt im essayistischen Werk hier erstmals seine Skepsis in Bezug auf die Lenkbarkeit von komplexen modernen Staaten. FD Der Staat ist zu gross, zu unübersichtlich geworden, er reagiert an sich und ohne wirksame Kontrolle.383

Dürrenmatt geht davon aus, dass durch die Staatsmaschinen384, welche mittels Computern verwaltet und organisiert werden, erneut zwei Klassen geschaffen werden: 379 Vgl. F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 246–279. 380 Ebd.: S. 275. 381 Ebd.: S. 274. 382 Ebd.: S. 275. 383 Ebd.: S. 275f. 384 In den Jahren 1950 bis 1975 ist zudem ein allgemeines Aufkommen der Kybernetik zu konstatieren. Es lassen sich einige Differenzen, aber auch Analogien zwischen der Kybernetik und Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs feststellen: In beiden Ansätzen wird versucht, naturwissenschaftliche Denkmuster in die Humanwissenschaften einzuführen, was zu einem ähnlichen terminologischen Gebrauch von Wörtern wie „Staatsmaschinen“ führt. Zudem gestaltet sich der Zugang zur Wirklichkeit gemäss der Kybernetik immer mehr durch vermittelte Informationen, an Stelle persönlicher Erfahrung. Eine Tendenz, die auch Dürrenmatt bei seinen Besuchen des Mt. Palomar oder des Cern feststellt. Weiter versteht die Kybernetik ihre Theorie als Versuch, die beiden Wissenschaftskulturen zu vereinen. Auch Dürrenmatt versucht, die Kluft zwischen den beiden Kulturen zu überbrücken und die Tragfähigkeit der Brücke zu prüfen. Zu diesen Analogien bestehen aber auch gewichtige Unterschiede zwischen der Kybernetik und dem soziopolitischen Diskurs Dürrenmatts. In der Kybernetik wird der Mensch als komplexer Funktionsmechanismus aufgefasst, der sich nicht prinzipiell von Maschinen unterscheidet. Dürrenmatt hingegen versteht den Menschen auch als individuellen Einzelnen, der unberechenbar handeln kann. Die Kybernetik als Disziplin entsteht nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie zielt auf einen umfassenden Steuerungsgedanken von Gesellschaften, der in dieser Art wohl auch historisch bedingt ist. Eine totale

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jene, die verwalten und jene, die verwaltet werden. Seines Erachtens kann ein moderner Staat ohne Bürokratie nicht bestehen, gemäss Dürrenmatt fürchtet der Mensch das Leben ohne Bürokratie sogar. Dabei braucht jede Bürokratie eine Ideologie. FD Jeder Bürokratismus braucht eine Ideologie. Der unsrige und der Westdeutschlands den Antikommunismus.385

Dürrenmatts im Anschluss daran entworfene Konzeption des modernen Staats als „Verwaltungsmaschine“ 386 unterscheidet sich stark von derjenigen des Staats als Vaterland. Der Begriff Verwaltungsmaschinerie weist auf einen unpersönlichen, abstrakten, mechanischen Staat hin, zu dem keine emotionale Verbindung aufgebaut wird. Dürrenmatt drückt dies lakonisch aus, indem er sagt: „für eine Maschine stirbt es sich weniger gut“387. Doch muss gemäss Dürrenmatt in diesem Zusammenhang auch gefragt werden, ob der Mensch in einem derartigen Staat überhaupt leben will, denn Dürrenmatt zufolge handelt er alles andere als nur vernünftig. FD Der reine Wohlstands- und Verwaltungsstaat reizt den Menschen zur Rebellion an sich; der Mensch will nicht immer bevormundet sein, er will nicht immer das Vernünftige, er will auch das Zerstörerische!388

Wie bereits der Philosoph Sören Kierkegaard betont Dürrenmatt das existentielle Nebeneinander von rationalen und irrationalen Komponenten im Menschen. Somit ist eine die Vernunft verabsolutierende Geschichtsprognose seines Erachtens nicht möglich.389 Dürrenmatt zufolge reizt der Verwaltungsstaat denn auch zu Unordnung, zu Korruption, ja zu Verwaltungszynismus. In diesem Zusammenhang nimmt Dürrenmatt das Gesetz der grossen Zahl wieder auf, bezieht es aber diesmal explizit auf die Schweiz. Steuerung und Berechenbarkeit der Menschheit ist für Dürrenmatt hingegen nicht möglich. Unberechenbarkeiten spielen in Dürrenmatts Werk wie diese Arbeit sichtbar macht, in Anlehnung an die moderne Quantenphysik und die Thermodynamik, eine bedeutsame Rolle. Vgl. F. Dürrenmatt: Versuche. Kants Hoffnung. Essays und Reden. 1998, S. 90ff., M. Hagner: Vom Aufstieg und Fall der Kybernetik als Universalwissenschaft. In: M. Hagner und E. Hörl (Hgg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik. 2008, S. 38–71, E. Hörl und M. Hagner: Überlegungen zur kybernetischen Transformation des Humanen. In: M. Hagner und E. Hörl (Hgg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik. 2008, S. 7–37, K.-D. Opp: Kybernetik und Soziologie: zur Anwendbarkeit und bisherigen Anwendung der Kybernetik in der Soziologie. 1970 sowie C. Pias: Zeit der Kybernetik – Eine Einstimmung. In: C. Pias (Hg.): Cybernetics – Kybernetik. The Macy-Conferences 1946–1953. Bd. 2. 2004, S. 9f. 385 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 277. 386 Ebd.: S. 277. 387 Ebd.: S. 277. 388 Ebd.: S. 277f. 389 Vgl. A. Mingels: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kategorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. 2003, S. 175.



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Dürrenmatt führt aus, dass auch sein Heimatland unter das mathematische Gesetz geraten und zu einer Grossmaschinerie geworden ist. Doch bleibt für Dürrenmatt der Kleinstaat der „lohnendste Kampfplatz“390, weil in einem Kleinstaat womöglich noch etwas mehr Übersicht gegeben ist als in einem Grossstaat. Zum Schluss des Interviews geht Dürrenmatt nochmals auf das Wesen der Politik ein und bezeichnet es als widersprüchlich. FD Sie haben mich gefragt, und ich habe geantwortet. Spontan. Manchmal wich ich aus. Ich weiss, dass ich mir in vielem widersprochen habe: weil es ohne dieses Widersprüchliche kein politisches Denken gibt.391

Mit dieser Einschätzung lässt Dürrenmatt erkennen, dass ihm nichts an einfachen politischen Konzepten, an Scheinordnungen liegt, welche dem Vergleich zur Wirklichkeit nicht Stand halten können. Er versucht, die Politik in ihrer Komplexität, in ihren Widersprüchen zu begreifen.

3.2.4 Eine kleine Dramaturgie der Politik, der Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht392 als zentraler Essay des soziopolitischen Diskurses 1969 Im Jahre 1969 wird Dürrenmatts Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht nebst einem helvetischen Zwischenspiel veröffentlicht. Bereits der Untertitel Eine kleine Dramaturgie der Politik weist darauf hin, dass Dürrenmatt in diesem Essay auf die Politik und ihre Gesetzmässigkeiten eingeht. Interessant am Titel des Essays ist, dass er zusätzlich zum Politischen auch das Recht, die Strukturdimension Legitimation, beinhaltet. Dies lässt erkennen, dass es sich verstärkt um soziopolitische Reflexionen handelt. Ursprünglich ist der Essay als Rede konzipiert, die Dürrenmatt im Januar 1968 in Mainz an der juristischen Fakultät der Universität zum Thema Gerechtigkeit und Recht hält. Erst nachträglich erweitert sie Dürrenmatt zum vorliegenden 70-seitigen Essay.393 Dürrenmatt übernimmt darin verschiedene Rollen: Einerseits finden sich dialektisch-argumentierende Analysen Dürrenmatts394, andererseits finden sich literarische Passagen, in denen eine erste Geschichte395 erzählt wird, aus der spielerisch zwei Modelle 390 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 278. 391 Ebd.: S. 279. 392 Vgl. F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 36–107. 393 Vgl. ebd.: S. 36. 394 Folgende These soll hier aufgestellt werden: Dürrenmatt wendet sich jeweils direkt an das Publikum, sobald er beginnt, dialektisch zu argumentieren und die erzählerisch vorgetragenen Reflexionen zu analysieren. 395 Durch Genettes Modell können in diesem Fall die narrativen Ebenen, die Dürrenmatt einnimmt, gut verdeutlicht werden: Beim Erzähler der ersten und zweiten Geschichte handelt es sich um

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entwickelt werden: Der Kapitalismus im Westen und der Sozialismus im Osten – die beiden Wirtschaftsformen, die während des Kalten Krieges, als der Aufsatz geschrieben wurde, vorherrschend waren. Die in allegorischer Form als Schachtelgeschichten aus der ersten Erzählung ausgearbeiteten Reflexionen zu den beiden Wirtschaftsordnungen sollen im Folgenden wiedergegeben werden. Die dabei von Dürrenmatt angewandte und auch thematisierte Erzähltechnik der Schachtelgeschichten396 erinnert an die Erzählungen Tausendundeine Nacht: […] um jedoch diese Anmerkungen dennoch anbringen zu können, wende ich die erzählerische Technik aus Tausendundeiner Nacht an und arbeite mit Schachtelgeschichten. So schob ich in die Geschichte vom Propheten an der einsamen Quelle die Geschichte vom Wolfsspiel und vom GuteHirte-Spiel ein, und nicht nur das: […] Ich erzählte eine abstrakte Geschichte: die Geschichte nämlich, der Mensch bilde von sich zwei Begriffe.397

Gemäss den Ausführungen von Jander müssen damit auch in diesem Essay die Mehrdeutigkeit und Ambivalenz der literarisch-gleichnishaften Reflexionen mitbedacht werden.

3.2.4.1 Exkurs: Die bürgerliche Welt – Das Wolfsspiel Der Kapitalist versteht dem Erzähler398 zufolge, dass ein klassischer Bürger seinen Besitz und seine Macht auf Kosten anderer vermehren will: „Homo homini lupus.“399 Doch damit die egoistischen Züge der klassischen Bürger (= Wölfe) nicht zum Krieg aller gegen alle führen, wurden Regeln eingeführt, die die Bürger und ihren Besitz (= Spielsteine) schützen. Jeder Bürger und sein Besitz wird gesichert, so dass ein Bürger über andere nur zu herrschen vermag, wenn er sich an die Spielregeln hält. Das gleiche gilt auch für den Besitz. Es ist somit offensichtlich, dass das Wolfsspiel an das Kapital gebunden ist. Es liegt zwar im Interesse aller, die Spielregeln einzuhalten, doch die Kompliziertheiten des Spiels verführen einerseits die raffinierten Spieler zu Mogeleien, welche die weniger raffinierten Spieler zu

einen extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler. Vgl. G. Genette: Die Erzählung. 1994, S. 178. Die erste und die zweite Geschichte des Essays werden damit als Rahmenhandlung betrachtet. 396 Bei der Schachtelgeschichte spricht ein intradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler. Vgl. ebd.: S. 178. 397 F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 65f. 398 Im Folgenden wird von einem Erzähler gesprochen, sobald die literarisch-gleichnishaften Passagen des Essays betrachtet werden. Es wird jedoch darauf verzichtet, diese Erzählinstanzen jeweils genau zu definieren. Eine eingehende Analyse der verschiedenen Erzählsituationen könnte Gegenstand weiterer Forschung sein. 399 F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 45.



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spät bemerken, verleiten andererseits die spielsteinarmen Spieler dazu, wieder freie Wölfe zu werden und die spielsteinreichen Spieler zu überfallen […].400

Es stellt sich nun die Frage, wer eigentlich das kapitalistische Spiel kontrolliert. Weil das Wolfsspiel selbst die Ungleichheit unter den einzelnen Spielern nicht ausmerzt, erzwingt es einen Schiedsrichter (= bürgerlicher Staat), der das Spiel überwacht. Da der Schiedsrichter auch entlöhnt werden muss, kriegt er von den Spielern einige Abgaben. Dies fördert jedoch die Gefahr, dass der Schiedsrichter bald zum mächtigsten Spieler wird. Weiter muss nun in dieses Modell des Wolfsspiels die Staatsgewalt (= Polizei) eingeführt werden. Diese kann in Fällen, wo gegen die Spielregeln verstossen wird, Bestrafungen aussprechen: Geldstrafen in Form der Abgabe einiger Spielsteine oder zeitliche Spielverbote (= Gefängnis).

3.2.4.2 Exkurs: Die sozialistische Welt – Das Gute-Hirte-Spiel In der sozialistischen Ordnung hingegen, führt der Erzähler aus, verteilt sich der Besitz nicht auf die Einzelnen, sondern gehört allen. Die Kritik des sozialistischen Bürgers richtet sich gegen den Besitz und somit gleichzeitig gegen das Wolfsspiel der bürgerlichen Gesellschaft, da dieses amoralische Spielzüge enthalte. Soll nun aber das Wolfsspiel abgeschafft werden, muss ein anderes Spiel vorgeschlagen werden. Der Wolf soll in Lämmer umprogrammiert werden, „homo homini agnus“401. Der sozialistische Bürger setzt dem Wolfsspiel das Gute-Hirte-Spiel entgegen. Analog zum Wolfsspiel ist der Spieler gesichert, aber die Spielsteine, welche durch die Produktion in der sozialistischen Welt erzeugt werden, gehören allen. So ideal jedoch dieses Lämmerspiel auch zu sein scheint, so schwierig ist es zu verwirklichen. Es führt zwangsläufig dazu, dass nur ein Teil der Lämmer, wenn auch der weitaus grössere Teil, Lämmer bleiben dürfen, während der andere Teil Wölfe spielen müssen, […]. Die Wölfe haben die Beute der Lämmer zu verwalten und sie gegen fremde Wölfe zu verteidigen, solange es noch fremde Wölfe gibt.402

Die Wölfe im sozialistischen System sind daher Wölfe auf Zeit, gute Hirten. Zwar braucht es im Gute-Hirte-Spiel keinen Schiedsrichter, weil die Wölfe diese Rolle übernehmen können, doch müssen die Wölfe Lämmer, welche auch Wölfe werden wollen, dazu zwingen, Lämmer zu bleiben. Zudem entbrennt oft auch unter den Wölfen ein Kampf um die Etablierung an der Macht. Dies bedeutet eine Annäherung an das Wolfsspiel, denn die Lämmer haben bald nur noch die etablierte Klasse der Wölfe gegen 400 Ebd.: S. 46. 401 Ebd.: S. 50. 402 Ebd.: S. 50.

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sich. Dies kann mit der Situation Schiedsrichter – Spieler im Wolfsspiel verglichen werden. Als Fazit aus den beiden Exkursen lässt sich feststellen, dass die beiden wirtschaftlichen Spiel-Modelle und ihre systemischen Mechanismen sich derart angenähert haben, dass sie kaum mehr zu trennen sind: „[D]er Staat ist in beiden Spielbereichen zu mächtig geworden.“403 Im Wolfsspiel entstehen spielsteinarme und spielsteinreiche Spieler, im Gute-Hirte-Spiel Bewachte und Wächter: Es lässt sich eine Konvergenz der Thesen konstatieren.404 Nach diesem spielerischen Exkurs in die kapitalistische und sozialistische Wirtschaftswelt, in welchem beide Modelle durch den Erzähler als ungerecht entlarvt werden, beschäftigt er sich mit dem Menschen: Dabei versucht er die Frage zu beantworten, „ob sich eine gerechte Gesellschaftsordnung ebenso konstruieren lasse wie etwa eine Maschine“405. Der Begriff Mensch ist ein Doppelbegriff. Er bezeichnet ein Besonderes und ein Allgemeines. […] In seinem besonderen Begriff von sich selbst sieht sich der Mensch als etwas Einmaliges, mit einem besonderen Schicksal behaftet, mit der Sicherheit sterben zu müssen und sich im Unbewussten verlierend, das die Vernunft nur zum Teil erhellt: Er sieht sich als Individualität. Ist der besondere Begriff Mensch ein existentieller Begriff, so ist der allgemeine Begriff Mensch ein logischer Begriff.406

Der Erzähler führt aus, dass aufgrund des Doppelbegriffs Mensch zwei gerechte Gesellschafts-Konstruktionen möglich sind: Ausgehend vom besonderen und vom allgemeinen Begriff des Menschen können zwei Gerechtigkeitsideen entwickelt werden: Das Recht des Einzelnen betont mehr dessen Freiheit. Das Recht der Gesellschaft hingegen besteht darin, die Freiheit des Individuums zu ermöglichen, was sie jedoch nur kann, wenn sie die Freiheit eines jeden einschränkt. Dieses Recht betont mehr die Gerechtigkeit, „sie ist der allgemeine Begriff der Gerechtigkeit, eine logische Idee“407. Diese beiden Begriffe Freiheit und Gerechtigkeit stellen für den Erzähler nun die zentralen Werte dar, mit welchen die Politik operiert:

403 Ebd.: S. 51. 404 Dieses Konstatieren einer Konvergenz zwischen den Systemen im Osten und Westen findet sich in jenen Jahren öfters. Ebenfalls 1968 erscheint zum Beispiel das Buch Wie ich mir die Zukunft vorstelle. Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit von Sacharow auf Deutsch, mit einem Nachwort von Max Frisch. Darin geht Sacharow auf die Konvergenztheorie ein. Vgl. Deutscher Bundestag, wissenschaftliche Dienste: Konvergenztheorie. Angleichung der ökonomischen, sozialen und politischen Systeme von Ost und West. Bibliographie mit Annotationen. 1971, S. 25. 405 F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 55. 406 Ebd.: S. 56. 407 Ebd.: S. 57.



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Die unmögliche Kunst der Politik besteht darin, die emotionale Idee der Freiheit mit der konzipierten Idee der Gerechtigkeit zu versöhnen; das ist nur auf der Ebene des Moralischen möglich und nicht auf der Ebene des Logischen. Anders gesagt: Die Politik vermag nie eine reine Wissenschaft zu sein.408

Der Versuch, ein politisch gerechtes Gesellschaftssystem vom Individuellen zu erreichen, kann dem Erzähler zufolge mit der Wirtschaftsordnung des Wolfsspiels gleichgesetzt werden. Er erläutert, dass in den Modellmechanismen des Wolfsspiels sich Freiheit und Gerechtigkeit jedoch nur für die spielsteinreichen Spieler decken. Die spielsteinarmen Spieler hingegen sind zwar frei, können diese Freiheit jedoch nicht nützen, womit sie sich unfrei und ungerecht behandelt fühlen. Falls nun der Schiedsrichter die Spielsteinabgaben für die spielsteinreichen Spieler erhöht, um das Spiel gerechter zu gestalten, so kann er zu mächtig werden, womit das ursprünglich kapitalistische Modell Wolfsspiel sich gemäss dem Erzähler zum versteckten Gute-Hirte-Spiel entwickelt. Diese Schwierigkeiten, in die das Wolfsspiel immer wieder gerät, zwingen es dazu, die Idee von einer gerechten und freien Gesellschaftsordnung, die es ursprünglich verwirklichen wollte und die zu einer ungerechten und unfreien Ordnung führte, als Argument einzusetzen, die ungerechte Gesellschaftsordnung beizubehalten. Das Wolfsspiel wird ideologisch.409

In diesem Zitat lässt sich die Genealogie von Ideologien erkennen: Sobald eine Gesellschaftsordnung nicht mehr stimmt, wird gemäss dem Erzähler die Ideologie zwingend. Er führt jedoch aus, dass auch das Erreichen eines politisch gerechten Gesellschaftssystems auf Basis des sozialistischen Gute-Hirte-Spiels ebenfalls in Schwierigkeiten gerät, es steht vor einem Verteilungsproblem. Als problematisch erweist sich die Tatsache, dass das Spiel für die Lämmer reizlos wird, da die Beute allen gehört. Da die Spielbeute im Gute-HirteSpiel zudem oft durch viele Mitspieler, die an der Produktion beteiligt waren, aufgeteilt werden muss, fällt sie niedrig aus. Die Arbeiter geraten in ein Abhängigkeitsverhältnis vom freien Endspieler (= Unternehmer), welcher das Produkt verkauft. Auch das Modell GuteHirte-Spiel vermag dem Erzähler zufolge den unfreien Spieler nicht zu befreien, es muss ihm jedoch das Gefühl von Freiheit geben. Aus diesem Grund kommt auch das GuteHirte-Spiel nicht ohne Ideologie aus. Damit drängt sich die Frage auf, weshalb jene, welche die Macht innehaben, ob sie nun als Wölfe über Wölfe oder als Wölfe über Lämmer regieren, überhaupt eine Ideologie benötigen, ihre Macht auszuüben, und weshalb jene, die an die Macht streben, sie mit einer Ideologie begründen.410

408 Ebd.: S. 58. 409 Ebd.: S. 60. 410 Ebd.: S. 63.

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Anhand der Verknüpfung der beiden wirtschaftlichen Modelle Wolfsspiel und GuteHirte-Spiel mit den politischen Ideen Freiheit und Gerechtigkeit wird die Notwendigkeit politischer Ideologien in beiden Systemen sichtbar gemacht: Politische Ideologien sind, so der Erzähler, Versuche, durch Anwendung irgendeiner ausgewählten Philosophie auf die Macht einzuwirken. Ideologische Denkweisen dienen dazu, sich an der Macht halten zu können oder als Vorwände dafür, an eine systemische Machtposition zu kommen.411 Nachdem der Erzähler mit den Modellen vom Wolfsspiel und vom Gute-Hirte-Spiel zwei wirtschaftliche Gesellschaftsordnungen mit der Politik verknüpft hat, zeigt er die Errichtung zweier emotionaler Gesellschaftsordnungen auf, da Politik seines Erachtens nie ohne Emotionen auskommt: die eine ebenfalls vom Existentiellen, Individuellen, die andere ebenfalls vom Logischen, Allgemeinen her. Zuerst betrachtet er die emotionale Gesellschaftsordnung vom Individuellen her: Er führt aus, dass der Mensch dazu tendiert, den existentiellen Begriff zu erweitern, während er den allgemeinen Begriff eher einengt. Der Mensch erweitert sein Ich zu einem Wir, mit dem er sich identifiziert, und reduziert die Menschheit, zu der er doch auch gehört, zu den Andern, mit denen er sich nicht identifiziert: im Gegenteil, er vermag die Andern, wenn er sie hasst, in den Feind zu verwandeln.412

Dadurch werden gemäss dem Erzähler emotionale Realitäten aufgestellt: Zum Wir werden die Frau, die Familie, die Freunde gezählt, zu den Andern der fremde Stamm, das fremde Volk. Diese Tatsache ist seines Erachtens insofern wichtig, als damit auch gesellschaftliche Organisationen, die eigentlich nur Verwaltungsfunktionen ausüben sollten, in emotionale Realitäten verwandelt werden können, mit welchen sich der Einzelne nun identifiziert. Darum fällt der Mensch denn auch immer wieder auf die Politik herein. Die emotionale Seite der Politik ist ebenso mächtig wie ihr ökonomischer Aspekt: Aus dem Staat wird die Heimat, das Vaterland.413

Es bleibt jedoch ein Problem für das Vaterland: der Friede. In Friedenszeiten ist die emotionale Bindung schwächer als in Kriegszeiten, wo die Identifikation mit dem Vaterland zentral für den Einzelnen wird. Da im Wolfsspiel gemäss dem Erzähler auf der ökonomischen Ebene stets Krieg herrscht, wird im Kapitalismus die emotionale Bindung ans Vaterland denn auch gestärkt. Dem Erzähler zufolge entsteht denn der Faschismus aus dem Wolfsspiel. Seine Gefährlichkeit liegt in der durchwegs emotionalen Art, wie die Trennung Wir – Andere absolut gesetzt wird. 411 Vgl. ebd.: S. 63f. 412 Ebd.: S. 67. 413 Ebd.: S. 67.



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Das Wir wird zum absoluten Vaterland, […]. Der Andere wird zum absoluten Feind: zum Juden, zum Bolschewiken, zum Untermenschen usw. Die Freiheit des Einzelnen wird der Unabhängigkeit des Vaterlandes geopfert.414

In einer kurzen Zwischenanalyse bilanziert Dürrenmatt aus diesen literarischen Passagen, dass der natürliche Konflikt zwischen der Freiheit des Einzelnen und dem Staat zugunsten des Staates ausgeht. Gemäss Dürrenmatt ist der Faschismus „das zu Ende geführte Wolfsspiel, sein Schachmatt“415. In spielerischer Form führt darauf ein Erzähler die emotionalen Differenzen zwischen dem Gute-Hirte-Spiel und dem Wolfsspiel aus: Unterscheiden sich die verschiedenen Formen des Wolfsspiels in Machtsystemen, so die verschiedenen Formen des Gute-Hirte-Spiels in Glaubensfragen; und Glaubenskriege pflegen oft unerbittlicher zu sein als Machtkämpfe.416

Der Erzähler erläutert die Konstruktion einer emotionalen Gesellschaftsordnung vom Allgemeinen, vom Logischen her: Beim Gute-Hirte-Spiel kritisiert er bereits dessen Grundannahme, dass der Mensch vom Allgemeinen her betrachtet, ein vernünftiges Wesen sei. Da der Mensch gemäss dem Erzähler vom Allgemeinen her keine emotionalen Realitäten aufzubauen vermag, wie dies der Wolf tut, ist das Gute-Hirte-Spiel gezwungen, „einen existentiellen, logischen Begriff zu konstruieren, ein besonderes Allgemeines“ 417. Um dies zu erreichen, ist der Marxsche „Genie“ 418streich, die Menschheit in zwei Klassen einzuteilen, in eine, die ausbeutet und eine, die ausgebeutet wird, bedeutsam. Der Erzähler folgert nun, dass der Einzelne die Ausbeuter verkörpert, während die Menschen vom Allgemeinen aus gesehen die Ausgebeuteten repräsentieren. Die Ausgebeuteten zusammen nehmen sich nun als Gemeinschaft wahr, womit sie sich zu „identifizieren vermögen“419. Für ihn ist daher die marxistische Dialektik eine „zwischen dem existentiellen und dem logischen Begriff“420. Durch den Klassenkampf werden die Ausbeuter zum Feind, die Forderung der Ausgebeuteten ist eine Gesellschaft ohne Klassen. Dieser Zustand kann aber nicht ohne Gewalt erreicht werden. Der Vorschlag, die Diktatur des Proletariats zu errichten, dient taktisch zur Errichtung einer kommunistischen Partei, die den existentiellen dem logischen Begriff des Menschen gleichsetzt. […] so

414 Ebd.: S. 80. 415 Ebd.: S. 80. 416 Ebd.: S. 82. 417 Ebd.: S. 83. 418 Ebd.: S. 83. 419 Ebd.: S. 83. 420 Ebd.: S. 83.

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ist die Gleichsetzung vom existentiellen mit dem logischen Begriff des Menschen ein Dogma, das nicht bewiesen, sondern nur geglaubt werden kann […].421

Das Dogma des Marxismus besteht darin, so folgert der Erzähler, dass der existentielle Begriff des Menschen (Ausbeuter) in der Diktatur des Proletariats mit dem logischen Begriff des Menschen (Ausgebeutete) gleichgesetzt wird: In der Diktatur des Proletariats würde der existentielle Begriff des Menschen dem logischen Begriff entsprechen. Zwar ist über diese eher wirre Verschränkung des Erzählers nun die Emotionalität auch ins Gute-Hirte-Spiel einführbar, doch stellt der Marxismus somit keine Wissenschaft, sondern eine Dogmatik dar, da die Gleichsetzung nur geglaubt, nicht aber bewiesen werden kann. Mit dem Faschismus und dem Marxismus hat der Erzähler nun nach den ökonomischen und politischen auch die emotionalen Strukturen der Welt durchgespielt. Er erläutert, dass sowohl das Wolfsspiel wie auch das Gute-Hirte-Spiel aufgrund der Emotionen, die untrennbar mit den Spielen verknüpft sind, Ideologien benötigen, um an der Macht zu bleiben. Der einzige Unterschied besteht in ihrer Ausrede: „[D]as Wolfsspiel [benutzt] mehr die Freiheit, das Gute-Hirte-Spiel mehr die Gerechtigkeit.“422 Um die Frage nach einer gerechten Gesellschaftsordnung wieder aufzunehmen, kann festgehalten werden, dass beide „ungerechte und unfreie Ordnungen [sind], die wir errichten müssen, um überhaupt Ordnungen zu haben, weil wir zu einer rein vernünftigen Politik durch die Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur nicht fähig sind“423. Nach dieser eher düsteren Zwischenbilanz aus den erzählten Geschichten thematisiert Dürrenmatt seine Art und Weise des Denkens. Als Dramatiker reflektiert er über die Welt, indem er sie durchspielt. Er zieht das Fazit, dass das Wolfsspiel sowie das Gute-Hirte-Spiel nicht irgendwelche liberalen Theorien oder den Marxismus darstellen, sondern „komödiantische Repetitionen von politischen Strukturen [sind], in denen wir und andere leben“424. Dieses Oszillieren Dürrenmatts zwischen dialektisch-argumentativen und literarischen Passagen zeigt sich in seinen Essays mehrfach: Durch seine Ausführungen, sich als dramatischer und nicht als politischer Denker zu verstehen, legitimiert er diese Poetisierungstendenzen in den Essays. Dürrenmatt gibt an, dass er durch das dramaturgische Denken in den Essays versucht, die Regeln der politischen Systeme, welche eng mit wirtschaftlichen und emotionalen Mechanismen verbunden sind, aufzudecken. Dieses dramaturgische Durchdenken von verschiedensten Systemmechanismen, das Aufzeigen der Diskrepanz zwischen Denken und Handeln in den Essays425 wird insbesondere in der Analyse der Theaterstücke erneut untersucht 421 Ebd.: S. 84. 422 Ebd.: S. 86. 423 Ebd.: S. 86. 424 Ebd.: S. 91. 425 Vgl. ebd.: S. 93.



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werden. Gerade in diesen dramatischen Reflexionen über Systeme und ihre Mechanismen sieht er jedoch eine Chance. Doch diese Tatsache könnte das dramaturgische Denken für die Politik brauchbar machen. Es ist ein Korrektiv. […] Es ist eine Anleitung, spielerisch über die Wirklichkeit kritisch nachzudenken, ein Vorschlag, wie vielleicht auch die Politik bisweilen über die Wirklichkeit reflektieren sollte: Unideologisch und mit Phantasie […].426

Dürrenmatt traut dem dramaturgischen Denken einiges zu: Es könnte seines Erachtens die Politik hindern, ihre Ziele und ihre Gegenspieler absolut zu setzen, das heisst, ideologisch zu denken. Anders als das ideologische Denken sucht das dramaturgische Denken ihm zufolge nach den Gründen, die nicht nur im Wirtschaftlichen und Machtpolitischen, sondern auch im Emotionalen liegen. Und erneut nimmt er die Frage, was zu tun bleibt, auf: Dürrenmatt erläutert dies anhand eines Schiffsgleichnisses, in welchem die Erde mit einem Schiff gleichgesetzt wird. Er geht davon aus, dass bei einem normal belegten Schiff in der ersten Klasse das Prinzip der Freiheit herrscht. Die zweite und dritte Klasse jedoch unterliegen eher dem Primat der Gerechtigkeit. Steigt nun aber die Anzahl der Passagiere, können Einzelkabinen nicht mehr gewährleistet werden. Die Gerechtigkeit hängt daher von der Anzahl der Menschen an Bord ab: Je mehr Passagiere an Bord sind, desto kleiner wird die Freiheit der Einzelnen. Bezogen auf unseren Planeten: Je grösser seine Bevölkerung, desto entscheidender wird die Gerechtigkeit, desto grösser wird ihr Primat. Die Bevölkerungsexplosion führt zum Gute-HirteSpiel, zum Sozialismus, das Wolfsspiel vermag sich der Mensch nicht mehr zu leisten.427

Das Schiffsgleichnis wird von Dürrenmatt explizit mit seinen soziopolitischen Reflexionen und dem Gesetz der grossen Zahl in Verbindung gebracht. In einer Welt, in der die Bevölkerung exponentiell anwächst, entstehen neue Ordnungen und Strukturen: Das Primat der Freiheit und somit das Wolfsspiel unterliegt seines Erachtens notwendigerweise dem Primat der Gerechtigkeit: Der Sozialismus wird, so analysiert Dürrenmatt, in einer durch das immense Bevölkerungswachstum immer unübersichtlicheren modernen Welt zunehmend bedeutender. Er führt aus, dass durch das exponentielle Wachstum der Bevölkerung einmal die Grenze erreicht sein wird, wo der Kapitalismus als Wirtschaftsordnung nicht mehr möglich ist.428 Gleichzeitig ist Politik für Dürrenmatt jedoch ohne Opposition nicht möglich.429 Und ganz zum Schluss erfolgt Dürrenmatts Antwort auf die oben aufgeworfene Frage. Die Welt driftet ihm zufolge nach links. Es gibt 426 Ebd.: S. 92f. 427 Ebd.: S. 98. 428 Vgl. ebd.: S. 98. 429 Vgl. ebd.: S. 101.

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daher für Dürrenmatt nur eine Möglichkeit, aktiv zu sein: Indem der Marxismus neu überdacht wird. Und Dürrenmatt schliesst mit der Hoffnung, dass die Not, in die die Menschheit aufgrund ihrer Entwicklung gerät, den Menschen zur Vernunft zwingt.430

3.2.5 Intensive Weiterarbeit am soziopolitischen Denken in den Jahren 1976 sowie 1977 Im Vorwort zum Nachwort431 (1976) des Mitmacher-Komplexes wird das Gesetz der grossen Zahl ebenfalls thematisiert. Die Textstellen über das Gesetz der grossen Zahl befinden sich im Kapitel über Cop. Erwähnenswert ist, dass sich im Vorwort zum Nachwort an verschiedensten Stellen – im Folgenden eine davon – immer wieder Dürrenmatts Zweifel am rational handelnden Menschen offenbaren, womit das Durchspielen der emotionalen Gesellschaftsordnungen im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht erneut an Relevanz gewinnt. Es scheint, als sei die Rolle des kontrollierbaren Verstandes im ganzen Weltgeschehen nur oberflächlich, zeitlich begrenzt und wenig in die Tiefe gehend; als seien Masseninstinkte und Massenneurosen viel tätiger, indem sie das Gesamte unterwühlen, ein Verdacht, der das Vertrauen in jede Politik zu lähmen droht und lähmt, […]; ein durchaus zeitgemässer Verdacht.432

Bevor Dürrenmatt im Kapitel über Cop auf das Gesetz der grossen Zahl zu sprechen kommt, erfolgt eine detaillierte Schilderung der korrupten Welt, in der sich sein Theaterstück Der Mitmacher abspielt. Alles mündet in die Korruption aller, ins Chaos, und zwar aufgrund der scheinbaren Ordnungen, scheinbar, weil das Gesetz der Korruption, dass eine Hand die andere wäscht, kein Recht ergibt, sondern nur eine Einrichtung, bei der man sich eben einrichtet. […] Da das Allgemeine in diesem Stück als das Korrupte, Negative erscheint, kann Cop diesem negativen Allgemeinen bloss dienen, indem er als Störfaktor verschwindet, stirbt.433

Cop als der Einzelne, so erläutert Dürrenmatt explizit, wird aus diesen negativen systemischen Bedingungen „geboren“434. Damit resultiert der Einzelne, als mutiger Mensch oder ironischer Held, aus einem korrupten negativ gewordenen Gesellschaftssystem.435 430 Vgl. ebd.: S. 101f. 431 Vgl. F. Dürrenmatt: Der Mitmacher. 1998, S. 97–221. 432 Ebd.: S. 163f. 433 Ebd.: S. 195. 434 Ebd.: S. 197. 435 Dass der Einzelne aus negativen systemischen Bedingungen entsteht, wird von Dürrenmatt bereits früher mehrfach betont, hier jedoch erstmals prägnant formuliert. Bereits im Essay Theaterprobleme von 1954 jedoch schildert Dürrenmatt, dass der heutigen Welt, in der wir „kollektiv schul-



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In den darauffolgenden Ausführungen wird der Begriff Freiheit als ironisch charakterisiert: Freiheit bedeutet einerseits, das zu tun, was notwendig erscheint. Doch die Freiheit wird ihrerseits wieder eingeschränkt durch die Tatsache, dass sie andererseits der Allgemeinheit nicht schaden darf. Dürrenmatt schreibt, dass „[d]ie politische Freiheit ein Regulativ zwischen verschiedenen Notwendigkeiten, zwischen jener des Individuums und jener des Staates [ist], weshalb es sinnvoll ist, sich für die politischen Freiheiten einzusetzen“436, nicht aber für die philosophische. Die philosophische Freiheit ist die Legende, dass es etwas gäbe, das ohne Grund sei. Man kann sich darunter Gott vorstellen. Oder eine Welt, in der alles zufällig, ohne Grund geschehe, wobei das Kausale sich nachträglich rein statistisch einstelle, als statistisches Phänomen also, nach dem Gesetz der grossen Zahl. Doch sind sowohl dieser Gott als auch diese Welt des Zufalls logische Taschenspielereien […].437

Gemäss Dürrenmatt muss die Philosophie die Auffassung, dass es die Determination gibt, anerkennen, wenn sie sich nicht endgültig mit der Wissenschaft überwerfen will. Obwohl der Zufall auch in der Naturwissenschaft vorkommt, wie auch das Gesetz der grossen Zahl belegt, stösst die Wissenschaft doch immer wieder auf Notwendigkeiten. Sie schliesst somit gemäss Dürrenmatt eine rein zufällige Welt aus. Dürrenmatts Argumentation belegt auch hier die Relevanz der Naturwissenschaften für sein Denken.

3.2.6 Der Essay Überlegungen zum Gesetz der grossen Zahl438 1976/77 In den Jahren 1976/1977 entsteht Dürrenmatts Aufsatz über das Gesetz der grossen Zahl. Der Untertitel des Essays Ein Versuch über die Zukunft (Fragment) zeigt, dass Dürrenmatt eine erkenntnistheoretisch verantwortbare Rede über die Zukunft wiedergibt, dass dieser Versuch aber bruchstückhaft bleibt. Gleich zu Beginn stellt Dürrenmatt eine explizite Analogie zwischen der Thermodynamik und dem Bevölkerungswachstum her: So wie in der Thermodynamik gewisse Gesetze erst bei sehr vielen Molekülen sichtbar werden, „so werden gewisse Gesetze erst bei >sehr vielen< Menschen wirksam (Erdbevölkerung 4 Milliarden), etwa jenes des Primats der Gerechtigkeit vor der Freiheit“439. Bereits in dieser Analogie verbindet Dürrenmatt die Übertragung des Gesetzes der grossen Zahl auf die Menschheit mit seinen soziopolitischen Reflexionen dig“ sind, nur noch die Komödie beikommt. Diesem negativen Bild der Welt setzt Dürrenmatt die Heldenfigur des Einzelnen, des „mutigen Menschen“ entgegen. Vgl. F. Dürrenmatt: Theater. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 58ff. 436 F. Dürrenmatt: Der Mitmacher. 1998, S. 203. 437 Ebd.: S. 204. 438 Vgl. F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 108–124. 439 Ebd.: S. 108.

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über die Zukunft im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht: Neben weiteren Details über das Gesetz der grossen Zahl erläutert er, dass die Bewegung einzelner Moleküle vom Zufall bestimmt wird. Dürrenmatt kommt durch die Übertragung des Gesetzes auf die Erdbevölkerung zur soziopolitischen Einsicht, dass die Gerechtigkeit aufgrund der stark anwachsenden Bevölkerung bedeutender wird als die Freiheit. Anhand verschiedener Systemmetaphern, beispielsweise der Schweiz und dem Bauwesen, erläutert er im Essay seine Aneignung: Im Folgenden wird ein solches Beispiel – das Verkehrssystem – explizit erklärt. Die Entwicklung der Eisenbahn hält Dürrenmatt für vernünftig, weil sie seines Erachtens im Transportwesen die Gerechtigkeit der Freiheit überordnet. Im Gegensatz zur Eisenbahn, welche die Massen befördert, stellt die Entwicklung des Autos das Primat der Freiheit vor das Primat der Gerechtigkeit, dient es doch dem Transport des Einzelnen. Bereits hier findet sich die allegorische Darstellungsweise des Kollektivs und des Individuums wieder. Das Auto, zu Beginn seiner Entwicklung als Fahrzeug für die Reichen gedacht, verbreitet sich schnell, bald folgt der Wunsch eines jeden, ein eigenes Fahrzeug zu besitzen. Doch wirkt sich das falsche Prinzip, das Primat der Freiheit vor der Gerechtigkeit, das zur Erfindung des Autos führte, verhängnisvoll aus, paradoxerweise, je mehr nachträgliche Gerechtigkeit hinzukommt: […] Die Anzahl der Wagen wächst. Das Gesetz der grossen Zahl wird wirksam.440

War das Auto einst für die Freiheit konzipiert, schränkt die grosse Anzahl Fahrzeuge auf den Strassen diese Freiheit nun ein: Der exponentielle Anstieg der Bevölkerung und das Anrecht eines jeden auf einen eigenen Wagen führen gemäss Dürrenmatt zu einer paradoxen Situation: Auf den Strassen ist immer weniger Platz vorhanden und die Zunahme an Fahrzeugen führt zu Staus und Unfällen. Die ursprünglich durch das Auto verkörperte Freiheit wird dadurch ad absurdum geführt, sie muss, so Dürrenmatt, neu durch Gesetze reguliert werden: Die Gerechtigkeit wird folglich gewichtiger als die Freiheit. Dürrenmatts Wunsch wäre nun, wie er vorsichtig formuliert, „dass wir uns […] im Politischen der Gerechtigkeit und der Freiheit anzunähern“441 versuchen, „wobei das Primat des Suchens nach Gerechtigkeit vor dem Suchen nach Freiheit bedeutet, dass die noch mögliche Freiheit nur über den Weg der möglichen Gerechtigkeit gefunden werden kann“442. Es scheint Dürrenmatt bewusst zu sein, dass er hier nahe an der marxistischen Argumentation formuliert. Doch liegt Marx’ Hauptirrtum Dürrenmatt zufolge in der Annahme, die Freiheit werde sich von selbst entwickeln, sobald die Gerechtigkeit eingetreten ist.443 Diese Auffassung widerspricht dem Bild, welches Dürrenmatt sich

440 Ebd.: S. 109. 441 Ebd.: S. 113. 442 Ebd.: S. 113f. 443 Vgl. ebd.: S. 114.



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vom Individuum und von der menschlichen Geschichte macht. Eine solch rationale Geschichtsentwicklung wird von Dürrenmatt abgelehnt. Als paradoxes Ergebnis aus dem Marxismus folgt, so Dürrenmatt, dass aus dem Versuch, ihn zu verwirklichen, der Klassenstaat geschaffen wurde.444 Dürrenmatt fordert daher, den marxistischen Staat ohne Marxismus zu realisieren, „Marx ernst zu nehmen, aber nicht dogmatisch, ihn endlich zu überwinden, statt ihn immer noch umzuinterpretieren“445. Explizit erläutert Dürrenmatt gegen Ende des Essays, dass aufgrund des Gesetzes der grossen Zahl der Sozialstaat erforderlich wird: „[…] das Gesetz der grossen Zahl fordert den Sozialstaat. Er ist auch bei uns nicht zu umgehen.“446 Das Problem des Massenelends aufgrund der stark steigenden Weltbevölkerung führt dazu, dass dringend eine gerechtere gesellschaftliche Lösung gefunden werden muss, auch in der Schweiz. Dies ist gemäss Dürrenmatt nur über das Primat der Gerechtigkeit zu erreichen. Doch birgt die Sozialdemokratie, welche Dürrenmatt hier explizit fordert, ein Dilemma. Zwar bietet die Sozialdemokratie den Sozialstaat an, aber dies bedeutet immer „mehr Staat“447, was auch der bürgerliche Staat anbietet, wenn auch aus anderen Gründen: „Die >Bürgerlichen< fürchten die Volksdemokratie, die Sozialdemokraten die Diktatur.“448 Dieses Dilemma liegt gemäss Dürrenmatt im Gesetz der grossen Zahl selber. Das Primat der Suche nach Gerechtigkeit vor der Suche nach Freiheit, welches das Gesetz impliziert, fordert einerseits a priori >mehr StaatMehr< an Staat muss ein >Mehr< an Demokratie entsprechen […].449

Ein Mehr an Staat, so Dürrenmatt, erfordert daher immer die demokratisierende Tendenz als notwendige Gegenbewegung. Die Gefahr, welche aus diesem mehr Staat entsteht, ist eine Diktatur des Staates. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, müssen Dürrenmatt zufolge die demokratisierenden Mittel gestärkt werden. Dürrenmatts Konzept von Sozialdemokratie wird in einem historischen Exkurs zur Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert in Kapitel 3 vertiefter erläutert und dessen Abgrenzung zum Marxismus dort weiter präzisiert. Auch Dürrenmatts Reflexionen über die Kriminalität, welche, wie er ausführt, durch das Gesetz der grossen Zahl grösser wird, führen ihn zum selben Fazit. Die derzeitige 444 Vgl. ebd.: S. 114. 445 Ebd.: S. 114. 446 Ebd.: S. 118f. 447 Ebd.: S. 120. 448 Ebd.: S. 120. 449 Ebd.: S. 120f.

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Wirtschaftsform Kapitalismus stellt das Primat der Freiheit über das Primat der Gerechtigkeit. Die Bevölkerungsexplosion verstärkt den Konkurrenzkampf im bereits instabilen System und der Kampf um Geld, um Profit wird grösser. Der verstärkte Egoismus führt vermehrt zu Aggressionen und Kriminalität. Das Gesetz der grossen Zahl wird wirksam: Es werden Gesetze zur Regulierung und Lenkung der Massen nötig, die die Freiheit stark einschränken. Das Bedürfnis nach Sicherheit wird über alles andere siegen. Der Sozialismus, wenn auch ein demokratisierter, wird gemäss Dürrenmatt aus diesen Gründen, wenn er eintritt, ein harter werden.450 Doch ist sich Dürrenmatt nicht sicher, ob wir diesen Weg gehen werden. Es ist, in Anlehnung an den Untertitel des Essays, ein möglicher Versuch über die Zukunft. Vorstellbar ist seines Erachtens jedoch auch, dass „irgendeine rigorose Ideologie siegt“451, eine weitere Hypothese ist der Untergang der Menschen, welche für die Menschen zwar die schlimmste, für den Planeten jedoch vielleicht die beste Wendung darstellen würde.452

3.2.7 Wiederaufnahme des Gleichnisses in Gesprächen und dem Essay Über Toleranz 1977 Interview453 von Dieter Fringeli 1977 Dieter Fringeli thematisiert zu Beginn den Umstand, dass Dürrenmatt sich schon länger nicht mehr zur Schweiz geäussert hat. Dürrenmatt ist damit nicht einverstanden und gibt an, dass er sich ausführlich über die Politik geäussert und sich dabei auch mit der Schweiz auseinander gesetzt habe: Dürrenmatt gibt offen zu, dass es viele unerfreuliche Aspekte an der Schweiz gibt. Einen Vorteil der Schweiz sieht er jedoch in der Tatsache, dass sie ein Kleinstaat ist. FD [I]m Gegenteil, ich finde, die kleinen Staaten sind weitaus glücklichere Erfindungen als die grossen Staaten. Allerdings glaube ich, dass die Schweiz nur noch ein scheinbarer Kleinstaat ist, dass auch die Schweiz unter das Gesetz der grossen Zahl gekommen ist, das heisst, diese Überdimensionierung unserer Wirtschaft, auch unserer Bevölkerung, zwingt die Schweiz zu einem ganz anderen Staatswesen zu werden, als sie es jetzt noch ist.454

Dürrenmatt erläutert erneut, dass das Gesetz der grossen Zahl auch der Schweiz den Sozialstaat aufzwingt, der Trend zu einer sozialen Schweiz nicht mehr aufzuhalten ist. In der Schweiz wird seines Erachtens nicht mehr die Freiheit das „grösste der Güter“455 450 Vgl. ebd.: S. 122f. 451 Ebd.: S. 123. 452 Vgl. ebd.: S. 123. 453 Vgl. F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 2. 1996, S. 207–214. 454 Ebd.: S. 213. 455 Ebd.: S. 213.



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sein, sondern die noch mögliche Freiheit, die Freiheit, die wir in einer gerechteren Schweiz noch haben können. Doch wenn das gesellschaftliche System geändert werden soll, bedingt dies auch eine Entwicklung des Menschen. Er muss gemäss Dürrenmatt das Soziale lernen, da der jetzige Wohlstand nicht immer möglich sein wird. Dadurch wird der Mensch vor ganz neuen Bedingungen stehen, welche es zu bewältigen gilt.456

Interview457 von Mathias Schreiber 1977 Mathias Schreiber befragt Dürrenmatt zuerst zu dessen Meinung über den Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF) in Deutschland und zur aktuellen politischen Situation. Er thematisiert die Frage, ob der Staat der von der RAF geforderten Freilassung von elf inhaftierten Mitgliedern nachgeben soll, damit das Leben der Geisel Hanns Martin Schleyer zu retten ist. Dürrenmatt hält es für problematisch, wenn eine Demokratie wie Deutschland auf eine solche Forderung eintritt und somit erpressbar wird.458 Weiter wird Dürrenmatts Theaterstück Romulus der Grosse, in dem der römische Kaiser Romulus seinen eigenen Staat zum Untergang führt, thematisiert. Dabei wird auf die Frage eingegangen, ob die 1970er-Jahre eine ähnliche Endzeit darstellen. Für Dürrenmatt ist die moderne Zeit eine undurchschaubare Zeit, seines Erachtens nähert sich die Menschheit „einem Wendepunkt – jenem Punkt, an dem so viele Menschen gleichzeitig leben, wie insgesamt in der bisherigen Geschichte gelebt haben. Bald herrscht das Gesetz der grossen Zahl.“459 Wieder führt Dürrenmatt aus, dass durch das Gesetz der grossen Zahl das Primat der Freiheit der Gerechtigkeit unterliegen wird. Seines Erachtens wird zudem durch die Bevölkerungsexplosion die Katastrophenanfälligkeit der Menschheit immer grösser und auch die Verbrechensrate steigt: Dadurch betont er die steigende Instabilität im System. Die ergriffenen Gegenmassnahmen müssen aus diesem Grund härter werden, die Frage, wie viel Freiheit noch möglich ist, rückt in seinen Fokus. Es ist für ihn durchaus denkbar, dass nur noch die Freiheit des Geistes möglich bleibt. In diesem Fall bleibt der Politik nur noch die Aufgabe, das „Selbstverständliche“ zu realisieren. FD Dabei vermag die Politik nur das Selbstverständliche zu verwirklichen, etwa die Menschenrechte. Sie muss die Frage lösen, wie Freiheit und Gerechtigkeit, Demokratie und Sozialismus eine Synthese eingehen können. Aber dieses Selbstverständliche ist noch nicht das Glück. […] Die Politik kann den Menschen auch künftig nicht das Glück bringen […].460

456 Vgl. ebd.: S. 213f. 457 Vgl. ebd.: S. 214–218. 458 Vgl. ebd.: S. 214f. 459 Ebd.: S. 217. 460 Ebd.: S. 218.

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Dürrenmatt ist sich durchaus bewusst, dass das Glück nicht durch die Politik herstellbar ist. Die Politik kann nur systemische Veränderungen bewirken, die in ihrem Einflussbereich liegen: Beispielsweise eine gerechtere Gesellschaftsordnung herstellen. Für das Glück ist der Mensch selbst zuständig.

Interview461 von Dieter Bachmann/Peter Rüedi 1977 Im Gespräch mit Dieter Bachmann und Peter Rüedi geht Dürrenmatt auf sein damaliges Arbeiten an seinen Stoffen ein. Dabei thematisiert er auch seine politischen Reflexionen: FD Ich schreibe auch an einer längeren politischen Sache, ziemlich schwierig: Ich versuche, das politische Geschehen vom Gesetz der grossen Zahl her zu verstehen.462

Er erklärt, dass aufgrund des grossen Bevölkerungswachstums die Welt der Freiheit nicht mehr länger bestehen kann und erläutert dies nochmals am Beispiel Verkehr und Schweizer Armee. Es wird ersichtlich, wie sehr die Argumentation sich an den Essay Überlegungen zum Gesetz der grossen Zahl anlehnt. Für Dürrenmatt steht fest, dass es durch das Gesetz der grossen Zahl unmöglich ist, die Politik wie üblich weiter zu betreiben. Dürrenmatt fordert, dass die Politik beginnt, naturwissenschaftlicher zu denken. Dabei sollen politische Ideologien nicht als wahr anerkannt werden, sondern als „Arbeitshypothesen“463, welche weiter entwickelt und modifiziert werden können. Somit soll die Vernunft in die Politik eingeführt werden, eine Forderung, welche Dürrenmatt bereits im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht thematisiert. Auch in diesen Argumenten wird erkennbar, dass Dürrenmatts Diskurs über soziopolitische Systeme und deren Dynamiken nicht primär von soziologischen, sondern von naturwissenschaftlichen Überlegungen geprägt sind. Zum Schluss des Gesprächs geht Dürrenmatt explizit auf den Philosophen Karl Popper ein. Dürrenmatt erklärt, dass er mit seinen Kunstwerken immer nur ganz bestimmte Aspekte genauer beleuchtet, dass er aber niemals die Welt in ihrer Ganzheit erfassen kann. Dies sieht er analog zu Karl Popper, der die Erkenntnis als Scheinwerfer beschreibt, welcher im Dunkeln gewisse Winkel beleuchtet.464

Essay Über Toleranz465 1977 Der Essay Über Toleranz entsteht aus einer Rede, die Dürrenmatt anlässlich der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille 1977 hielt. Für die Veröffentlichung im Band

461 Vgl. ebd.: S. 218–231. 462 Ebd.: S. 220. 463 Ebd.: S. 221. 464 Vgl. ebd.: S. 229. 465 Vgl. F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 125–149.



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Philosophie und Naturwissenschaft schrieb er nachträglich einige Vorbemerkungen. In diesen einleitenden Sätzen umreisst er seine „geistige Landschaft“466. Was mich in meiner Studienzeit am meisten beschäftigte und seitdem nie losliess, war die Kritik der reinen Vernunft. In der Folge wurden für mich wichtig: Vaihingers Philosophie des Als Ob, Eddingtons genialische Philosophie der Naturwissenschaft, Alexander Wittenbergs Denken in Begriffen und zuletzt natürlich Karl Popper.467

Diese geistige Landschaft Dürrenmatts ist wichtig, da der Schriftsteller angibt, von seinem Denken aus immer auch politische Schwerpunkte setzen zu wollen. Daher ist diese Verortung in die philosophische Herkunft unerlässlich für die Rekonstruktion und Kontextualisierung der soziopolitischen Reflexionen. Dürrenmatt gibt in seinen Vorbemerkungen zur Rede explizit die Werke, zum Teil mit Seitenzahlen, an, welche er beizieht. Er erläutert, dass er „[a]m Schluss […] mehrfach Popper, Objektive Erkenntnis, Hoffmann und Campe, 1973“468 zitiert469. Zu Beginn seiner Rede geht Dürrenmatt auf die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Der von ihm erhoffte Neubeginn fand nicht statt, es bleibt die bedrückende Einsicht, dass lediglich die Protagonisten gewechselt haben.470 In einem ausführlichen Diskurs über den Begriff Toleranz im religiösen und politischen Kontext soll die Frage beantwortet werden, ob die Toleranz auch im Bereich der Politik ihre Gültigkeit hat, ob es eine Toleranz zwischen „den Mächtigen und den Ohnmächtigen […] und […] den Besitzenden und den Nichtbesitzenden“471 gibt. Sobald der besitzlose Einzelne die Welt, wie sie ist, anerkennt, ohne sich gegen die Ungerechtigkeit zu wehren, kapituliert er Dürrenmatt zufolge. Die politische Intoleranz, die Unterteilung in Besitzende und Nichtbesitzende, wird somit vom Einzelnen toleriert. Denkt der Einzelne aber weiter, zum nächsten und übernächsten Einzelnen, realisiert er, dass jeder Einzelne „existentiell ohnmächtig und existentiell besitzlos“472 ist, weil ihm Macht und Besitztum nur durch ein politisches oder wirtschaftliches System zufallen können. In diesem Fall müsste der Einzelne, so Dürrenmatt, jedes System hinterfragen, welches gewisse Individuen privilegiert oder unterdrückt.

466 Ebd.: S. 127. 467 Ebd.: S. 127. 468 Ebd.: S. 128. 469 Das Buch Objektive Erkenntnis von Karl Popper ist in der Privatbibliothek des Schriftstellers in der Ausgabe von 1974 vorhanden (vgl. URL: https://www.helveticarchives.ch/detail. aspx?ID=278849). 470 Vgl. F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 130. 471 Ebd.: S. 141. 472 Ebd.: S. 142.

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Der Einzelne protestiert gegen die Welt, aber er kommt nicht über den Protest hinaus, er ist als Einzelner ein Protest. Will er mehr sein als ein Protest, will er statt Rebellion Revolution, muss er der Macht Macht, einem System ein anderes System entgegensetzen.473

Dürrenmatt fragt sich nun, welche Erkenntnisse der Einzelne aus diesen systemischen Bedingungen politisch zu ziehen hat. Vor allem wohl, dass uns ein neues Zeitalter der Aufklärung nottut, dass wir aus unseren politischen Systemen den Anspruch auf Wahrheit, auf Gerechtigkeit und Freiheit fallen lassen und ihn durch das Suchen nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit und nach Freiheit zu ersetzen haben, durch die Vernunft. Wir müssen unsere politischen Systeme danach prüfen, wie vernünftig sie sind.474

In diesem Zusammenhang bezieht Dürrenmatt explizit Karl Poppers kritisch rationale Wissenschaftstheorie in die Politik ein. Denn von der Politik fordert Dürrenmatt, dass aufgrund der Vernunft die Fehler, die zu „weltanschaulichem Fanatismus, religiöser Intoleranz, Rassendiskriminierung, sozialer Unterdrückung und politischer Unduldsamkeit“475 führen, eliminiert werden. Er verlangt, dass Institutionen stets kritisch revidierbar sind. Wenn aber die Wissenschaft ein grandioses Abenteuer des Geistes ist, das nicht auf die Entdeckung absolut sicherer Theorien ausgeht, sondern auf die Erfindung immer besserer Theorien, die immer strengeren Prüfungen unterworfen werden können, wie Karl Popper meint, so sollten wir dieses Abenteuer auch für unsere Institutionen entdecken und es auf sie anwenden, indem wir sie immer gerechter und vernünftiger machen […].476

Zum Schluss dieses Essays thematisiert Dürrenmatt erneut das mathematische Gesetz der grossen Zahl. Durch die explosionsartige Bevölkerungszunahme wird die Menschheit gemäss Dürrenmatt „ins Reich der immer grösseren Notwendigkeit“477 gelangen. Die Menschen werden in ihren Freiheiten eingeschränkt, es werden Bereiche davon tangiert werden, welche bis anhin noch als unantastbar gegolten haben. Dürrenmatt wiederholt, dass für ihn gar eine Menschheit vorstellbar wird, in der nur noch die geistige Freiheit möglich ist: Dann aber wird die Toleranz gemäss Dürrenmatt zur wichtigsten Komponente, die die Welt noch lebenswert zu gestalten vermag.

473 Ebd.: S. 142. 474 Ebd.: S. 144f. 475 Ebd.: S. 146. 476 Ebd.: S. 147. 477 Ebd.: S. 147.



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3.2.8 Der Winterkrieg in Tibet478 als fiktionale personalisierte Präzisierung479 des soziopolitischen Diskurses 1981 In der Erzählung Der Winterkrieg in Tibet erfolgt eine Präzisierung dieses soziopolitischen Diskurses. Dies ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert: Dürrenmatt nimmt die Präzisierung seiner Reflexionen über Gesellschaft und Politik nicht als dialektisch-argumentierender Essayist vor, dies übernimmt der fiktive Ich-Erzähler. Gemäss Jander bedeutet diese Personalisierung der Reflexionen eine Zunahme an Ambivalenz und Mehrdeutigkeit. Im Sinne Kierkegaards wird der Leser jedoch gerade durch die Poetisierung der soziopolitischen Reflexionen zum Nachdenken angeregt. Dürrenmatt bezeichnet seine Stoffe, welche unter anderem die Erzählung Der Winterkrieg in Tibet beinhalten, als Schreiben über ihn selbst: Nicht über die Geschichte seines Lebens, sondern die Geschichte seines Denkens.480 Aus diesen Gründen wird es als wichtig erachtet, Dürrenmatts soziopolitischen Diskurs auch in den Stoffen als einen weiteren Versuch, den Rezipienten zum Reflektieren über Politik und Gesellschaft anzuregen, zu betrachten. In Der Winterkrieg in Tibet ist jedoch nicht nachvollziehbar, wie Burkard im Buch Dürrenmatts „Stoffe“ korrekt ausführt, welche Figur die Textstellen der Präzisierung niederschreibt. Das erscheint alles plausibel – aber es gibt unbestreitbar auch gute Gründe, für die Abschnitte 7–9 (Exkurs über die analogen Gesetzmässigkeiten von Sternen und Staaten PK) die Urheberschaft Jonathans in Betracht zu ziehen. Denn ganz offensichtlich kommen in diesen mit den astronomischen und politischen Exkursen plötzlich völlig neue Themen zur Sprache, die so gar nicht zu den blutrünstigen und vulgären Erlebnissen passen, die der Oberst in den Abschnitten 1–6 hauptsächlich geschildert hatte.481

Ob Jonathan oder der Oberst nun die Passagen über die Analogie zwischen Sternen und Staaten verfasst und damit die Gedanken zu Politik und Gesellschaft präzisiert, lässt sich gemäss Burkard nicht definitiv klären. 478 Vgl. F. Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe I–III. 1998, S. 13–170. Die für den soziopolitischen Diskurs relevanten Textstellen finden sich vor allem auf den Seiten 99–115. 479 Es darf nicht vergessen werden, dass Dürrenmatt in der Gedankenfuge nochmals kurz auf das Gesetz der grossen Zahl eingeht. Da die Gedankenfuge jedoch, wie Bellwinkel ausführt, unredigiert und posthum veröffentlicht wurde sowie in ihr keine neuen Entwicklungen zum Gesetz der grossen Zahl mehr erkennbar sind, wird Der Winterkrieg in Tibet als ausführlicher und komplexer Endpunkt der soziopolitischen Reflexionen betrachtet. Vgl. F. Dürrenmatt: Gedankenfuge, Essays. Der Pensionierte, Fragment eines Kriminalromans. 1998, S. 72f. sowie H. W. Bellwinkel: Dürrenmatt und die Naturwissenschaften. In: M. Bickel et. al. (Hgg.): Gesnerus – Swiss Journal of the History of Medicine and Sciences. Vol. 52, Nr. 3/4. 1995, S. 223. 480 Vgl. F. Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe I–III. 1998, S. 13. 481 P. Burkard: Dürrenmatts „Stoffe“. Zur literarischen Transformation der Erkenntnistheorien Kants und Vaihingers im Spätwerk. 2004, S. 131f.

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Dürrenmatts soziopolitischer Diskurs im essayistischen Werk

Die Erzählung beginnt mit einem Ich-Erzähler, der Inschriften in Stollenwände eines Bergmassivs schreibt. Er bezeichnet seinen eingeritzten Text nicht als „mystisches Gleichnis“482 sondern als Versuch, das Verwaltungswesen zu schildern. Das Ich gibt an, zum apriorischen Denken gezwungen zu sein und folgert weiter, dass er sich die Gesetze, denen die Menschen unterworfen sind, nur als Naturgesetze denken kann, „[d]ie Gesetze, die der Dialektische Materialismus entdeckt haben will, sind für mich Unsinn: als ob sich irgendein Naturgesetz mit der Hegelschen Logik darstellen liesse“483. Auch die Auffassung der Kausalität lehnt der Erzähler ab, was als Abwendung von der klassischen Physik verstanden werden kann. Es folgt darauf eine für Dürrenmatts soziopolitisches Denken zentrale Textstelle, welche als fiktionale personalisierte Präzisierung seines Diskurses über Gesellschaft und Politik betrachtet werden kann. Der Ich-Erzähler geht auf eine einst gelesene These ein, wonach das Gesetz der grossen Zahl, analog zum soziopolitischen Diskurs Dürrenmatts, zum Primat der Gerechtigkeit führen soll. Diese These verneint der Inschriften-Schreiber jetzt. Aber auch die These, die ich bei einem alten vergessenen Schriftsteller gelesen habe, das Gesetz der grossen Zahl bedinge das Primat der Gerechtigkeit, ist falsch: Von einem mathematischen Begriff kann nicht auf ethische Bereiche geschlossen werden […].484

Die Problematik dieses Zitats wird zusätzlich erhöht, da im bis anhin ausgeführten soziopolitischen Diskurs dargestellt wird, dass Dürrenmatt nicht „geschlossen“ hat, wie der Ich-Erzähler hier ausführt, sondern anhand von Allegorien und Gleichnissen über analoge Mechanismen reflektiert hat. Aus diesem Grund bleibt unklar, ob der IchErzähler mit „alten vergessenen Schriftsteller“485 einen Bezug zu Dürrenmatt herstellen möchte. Dies erhöht die Mehrdeutigkeit der Textstelle erneut. Die Stelle wird weiter präzisiert, indem der Ich-Erzähler erläutert, dass mathematische Begriffe „nur auf physikalische, oder, im Humanen, auf Institutionen“486 übertragen werden können. Er gibt an, dass ihm die Loschmidtsche Konstante als Einziges aus dem Studium in Erinnerung geblieben ist, obgleich er nicht Physik studierte. Auf sie geht er nun ausführlich ein: Mit anderen Worten, die Loschmidtsche Konstante drückt genau das Verhältnis von Volumen, Masse, Druck und Temperatur eines Gases aus: Erhöht sich die Masse und bleibt das Volumen gleich, erhöhen sich Druck und Temperatur, erweitert sich das Volumen und bleibt die Masse gleich, verringern sich der Druck und die Temperatur.487

482 F. Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe I–III. 1998, S. 100. 483 Ebd.: S. 101. 484 Ebd.: S. 101. 485 Ebd.: S. 101. 486 Ebd.: S. 101f. 487 Ebd.: S. 102.



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Der Erzähler erläutert weiter, dass, analog zum Gesetz der grossen Zahl, die Bewegungen einzelner Atome nicht berechenbar sind, aber Sterne wie Institutionen von Atomen berechnet werden können. Nach diesen physikalischen Ausführungen erfolgt hier zum ersten Mal ein Hinweis auf die später teilweise ausführlich erläuterte Allegorie Staat – Stern, womit die physikalischen Erörterungen in die Politik und auf die Gesellschaft übertragen werden: Der Ich-Erzähler erklärt, dass Sterne Institutionen von Atomen darstellen und dass die dort herrschenden Gesetze die Atome verformen. Diese Feststellung kann auch auf den Staat übertragen werden. Staaten sind Institutionen von Menschen, die vorherrschenden Gesetze schränken den Menschen ein, verformen ihn teilweise.488 Der Erzähler folgert daraus, „[w]enn ich daher im Innern des Himalaja über die Sterne nachdenke, denke ich über die Staaten nach“489. Bereits in den oben aufgezeigten Textstellen erfolgt also eine Einschränkung oder vielmehr eine Präzisierung der Aneignung des Gesetzes der grossen Zahl. Nur noch Institutionen, nicht mehr das Verhalten sehr vieler Menschen – wie noch im Essay Überlegungen zum Gesetz der grossen Zahl – unterliegen dem mathematischen Gesetz und können statistisch berechnet werden. Dieser Hinweis lässt erkennen, dass in Systemen mit sehr vielen Menschen andere Gesetzmässigkeiten herrschen als in überschaubaren Institutionen. Weiter lassen die Ausführungen erkennen, dass sich der Einzelne den systemischen Gesetzmässigkeiten nicht mehr durch unberechenbares Verhalten entziehen kann, sondern durch die vorherrschenden Bedingungen deformiert wird. Die entscheidenden Unterschiede zum bisherigen soziopolitischen Diskurs werden hier zwar angedeutet, aber erst in der später folgenden Allegorie zwischen Staat und Stern expliziter ausgeführt. Die Präzisierung des Ich-Erzählers lässt jedoch erkennen, dass mit der Gegenüberstellung von Institution und sehr vielen Menschen eine kritische Grenze des Wachstums thematisiert wird. Zuerst folgt jedoch eine längere astronomische Erläuterung über die Sternentwicklung: Von der Ursonne beziehungsweise der Protosonne über den Roten Riesen zum Gelben Zwerg weiter zum Blauen Stern und zum Weissen Zwerg. In der Phase des Weissen Zwerges hat die Gravitation über die Expansion gesiegt, die Sonne erkaltet und wird zum unsichtbaren Schwarzen Stern.490 Diese Sternentwicklung wird anschliessend erneut aufgegriffen, um die Allegorie zwischen Staat und Stern zu verdeutlichen. Der Ich-Erzähler – welcher „weder Astronom noch Physiker“491 ist – begründet seinen Exkurs über die Sternentwicklung, indem er mittels „explizite[n] textinterne[n] Aufforderungen“492 die allegorische Bedeutung seiner Inschriften betont: Unmissverständlich verweist der Ich488 Vgl. ebd.: S. 102. Die Deformation der Menschen durch die Gesetzmässigkeiten im Staat kann in den Theaterstücken beispielsweise anhand der Figur Cop in Der Mitmacher betrachtet werden: Der nach Gerechtigkeit strebende Polizist wird auf seinem Weg, sie im System zu verwirklichen, selber zum Mörder. 489 Ebd.: S. 102f. 490 Vgl. ebd.: S. 103ff. 491 Ebd.: S. 107. 492 G. Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. 2004, S. 65.

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Erzähler darauf, dass eine extraterrestrische Intelligenz irgendwann in der Zukunft den Code aufschlüsselt, welcher hinter seinen Inschriften steckt. Ich hatte eine Inschrift zu finden, aus der heraus das Schicksal der Menschheit zu lesen ist. […] Mit diesen Wesen lässt sich nicht über uns, sondern nur über etwas reden, das sie und uns gemeinsam angeht: über die Sterne.493

Die Sterne werden hier als kleinster uns und den „fremden Wesen“494 gemeinsamer Nenner betrachtet. Durch das Verständnis der Allegorie Staat und Stern sollen diese fremden Wesen die politischen Systemmechanismen auf der Erde begreifen, die ihnen durch die Inschriften des Erzählers anhand der Sternentwicklungen erläutert werden. Der Ich-Erzähler geht weiter davon aus, dass die fremden Wesen realisieren, dass auf der Erde „mit Intelligenz begabte Wesen existierten, die in ihrer Gesamtheit die Grenze Chandrasekhars495 überschritten“496. Interessant ist hier die Anspielung auf das Überschreiten dieser astrophysikalischen Grenze, die in der Endphase der Sternentwicklung eine bedeutende Rolle einnimmt: Liegt die Sonnenmasse des Vorgängersterns unter der Chandrasekhar-Grenze (1,4), entsteht ein Weisser Zwerg, liegt die Sonnenmasse des Vorgängersterns jedoch zwischen der Chandrasekhar-Grenze (1,4) und der Oppenheimer-Volkoff-Grenze497 von 3,0 Sonnenmasse, so entsteht ein Neutronenstern. Schwarze Löcher hingegen bilden sich erst bei einer Sonnenmasse über 3,0.498 Da der Ich-Erzähler davon ausgeht, dass die Menschen diese astrophysikalische Grenze Chandrasekhars überschritten haben, ist zu erwarten, dass die Menschheit das gleiche Endstadium wie das eines Neutronensterns ereilen wird. Hier wird in allegorischer Weise sowohl für die Menschheits- als auch für die Sternentwicklung das Überschreiten einer kritischen Grenze des Wachstums nun ausgeführt: Instabilitäten in den jeweiligen Systemen sind, wie anschliessend aufgezeigt wird, die Folge. Doch soll hier nicht vorgegriffen werden. Zuerst soll die Allegorie der Entwicklung eines Sterns und eines Staats in Der Winterkrieg in Tibet analysiert werden: Indem der Ich-Erzähler in der Ausarbeitung der Allegorie nicht immer eine minuziöse Trennung zwischen der Staats- und der Sternentwicklung unternimmt, wird das Verständnis der Textstellen teilweise erschwert. 493 F. Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe I–III. 1998, S. 109. 494 Ebd.: S. 109. 495 Subrahmanyan Chandrasekhar war (Astro-)Physiker indischer Herkunft. Er berechnete die Chandrasekhar-Grenze, nach der die Masse eines Weissen Zwerges nicht mehr als 1,4 Sonnenmassen betragen kann. Mit dieser Berechnung stand er im Widerspruch zu Sir Arthur Stanley Eddington. Vgl. T. Bührke: Sternstunden der Astronomie. 2001, S. 195ff. 496 F. Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe I–III. 1998, S. 110. Dürrenmatt gibt in seiner Erzählung die Chandrasekhar-Grenze mit 1,44 an. Vgl. ebd.: S. 106. 497 Vgl. R. A. Matzner (Hg.): Dictionary of Geophysics, Astrophysics, and Astronomy. 2001, S. 69. 498 Vgl. J. A. M. Bleeker et. al. (Hgg.): The Century of Space Science. Vol. 1. 2001, S. 721.



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Die Auseinanderdividierung der Entwicklungen müssen selbst erledigt, Leerstellen selbst gefüllt werden: Dadurch wird der Leser, wie dies auch Kierkegaard in seinem Konzept der indirekten Mitteilung fordert, aktiv zum Mitdenken bewegt. Dies soll nun anhand des Druckgleichgewichts kurz thematisiert werden. Dieses Gleichgewicht wird offensichtlich am Staat erläutert, es werden jedoch stillschweigend Begriffe aus der (Astro-) Physik eingeflochten: Das Druckgleichgewicht eines stabilen Staates besteht darin, dass sich der Einzelne möglichst frei bewegt, so frei nämlich, wie es den anderen Einzelnen gegenüber möglich ist; je grösser deren Masse, desto beschränkter wird die Freiheit des Einzelnen: der Druck auf den Einzelnen ist angestiegen und damit die Temperatur innerhalb der Masse;499 (Hervorhebungen PK)

Die unterstrichenen Begriffe gehören zur Physik: Die Textstelle könnte daher folgendermassen auch auf den Stern angewendet werden: Das Druckgleichgewicht eines stabilen Sternes besteht darin, dass sich das einzelne Atom möglichst frei bewegt, so frei nämlich, wie es den anderen Atomen gegenüber möglich ist; je grösser deren Masse, desto beschränkter wird die Freiheit der Atome: der Druck auf das Atom ist angestiegen und damit die Temperatur innerhalb der Masse.

Im Folgenden wird diese Allegorie zwischen der Stern- und der Staatentwicklung des Ich-Erzählers detailliert erläutert. Zum Verständnis der Passagen über die Gleichgewichte bei Sternen wurde das Werk Das grenzenlose All von Fred Hoyle hinzugezogen. Dürrenmatt besass dieses Buch aus dem Jahre 1957 in seiner Privatbibliothek und hat es aufmerksam studiert, wie Markierungen im Text zeigen.500 Der Ich-Erzähler erläutert die Allegorie, indem er meist „horizontale Analogie[n] der relevanten Beziehungen“501 zwischen Sternen und Staaten rekonstruiert. Der Ich-Erzähler setzt die Sonne, welche eine Ansammlung aus Wasserstoff ist, mit dem Staat, welchen er als eine Ansammlung von Menschen charakterisiert, gleich. Gemäss den Erläuterungen des Ich-Erzählers gehorchen sowohl der Staat als auch die Sonne den gleichen Gesetzmässigkeiten. Beide sind den gleichen Gesetzen unterworfen. Beide sind stabil, wenn ein Druck-, Energie- und Oberflächengleichgewicht besteht. Bei beiden wirkt die Gravitation.502

499 F. Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe I–III. 1998, S. 111. 500 Vgl. URL: https://www.helveticarchives.ch/detail.aspx?ID=166222. Die Erläuterungen können dennoch nur vereinfacht wiedergegeben werden und allfällige moderne Entwicklungen und Entdeckungen in der Sternentwicklung nicht thematisiert werden. 501 G. Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. 2004, S. 68. 502 F. Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe I–III. 1998, S. 110.

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Eine Sonne im stabilen Zustand des Druck-, Energie- und Oberflächengleichgewichts entspricht dem Erzähler zufolge dem Gelben Zwerg. [D]ie Sonne ist auf den zehnbillionsten Teil ihrer einstigen Grösse zusammengefallen, sie ist ein Gelber Zwerg geworden, […] ihr Zustand ist stabil geworden.503

Der Erzähler führt aus, dass sowohl bei einem Stern als auch bei einem Staat die Gravitation wirkt. Dadurch entstehen, in physikalischen Begriffen ausgedrückt, ein Kern sowie eine Konvektionszone um den Kern. Diese Entwicklung auf den Staat übertragen bedeutet, dass sich analog dazu ein Volk (= Kern) und eine Behörde (= Konvektionszone) ausbilden. Darauf erfolgen – wohl um die Analogie zu verdeutlichen – die Gleichsetzungen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation mit einer Protosonne sowie des Dritten Reiches mit einer instabilen Sonne. Die erste Analogie wird noch geringfügig erläutert, die zweite jedoch lässt der Ich-Erzähler ohne jegliche Erklärungen stehen: Die Protosonne kennzeichnet die erste Phase in einer Sternentwicklung. Dabei sind der Kern sowie die Konvektionszone noch nicht vollständig ausgebildet, die Temperatur ist tief.504 Dies lässt sich auch im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation feststellen, die Zweiteilung in Behörde und Volk ist dem IchErzähler zufolge noch nicht richtig entwickelt: Einst zog ein Kaiser mit seinem Kanzler auf einem Ochsenkarren von Kloster zu Kloster und von Reichsstadt zu Reichsstadt, um sich verköstigen zu lassen. Der Kaiser und sein Kanzler waren die Behörde.505

Das Volk wird noch nicht als Masse im Sinne eines Nationalstaates dargestellt, welche unter Druck Emotionen gegen den Staat schürt, und die Behörde besteht aus nur zwei Personen. Eine instabile Sonne hingegen tritt erst gegen Ende der Sternentwicklung auf, dieser Zustand soll jedoch später expliziter erläutert werden. Nun wendet sich der Erzähler den Funktionen des Staates zu. Die Gleichsetzung der Funktionen des Staates mit dem Druck-, dem Energie- und dem Oberflächengleichgewicht ermöglicht es dem Erzähler, das Verhältnis des Staates zu den Individuen sowie das Verhältnis dieser Individuen als Gemeinschaft darzustellen. Dies erläutert der Erzähler nun anhand der einzelnen Gleichgewichte und beginnt mit demjenigen des Drucks. Gemäss Fred Hoyles Ausführungen im Buch Das grenzenlose All würde ein Stern zusammenstürzen, wenn der Kern der Sonne nicht einen enorm hohen Druck und eine solch hohe Dichte besitzen würde, um das unvorstellbare Gewicht der darüberliegenden

503 Ebd.: S. 104. 504 Vgl. ebd.: S. 103 und S. 110. 505 Ebd.: S. 110.



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Schichten (= Konvektionszone) auszuhalten.506 Das Druckgleichgewicht wird vom IchErzähler in Der Winterkrieg in Tibet nun auf den Staat übertragen. Im Staat soll dem Individuum möglichst viel Freiheit zugestanden werden. Wächst nun die Anzahl Menschen in einem Staat stark an, so wird – analog zum Innern des Sterns, wo die Dichte und der Druck sehr hoch sind – die Freiheit des Individuums immer stärker eingeschränkt. Das Volk erfährt immer mehr Einengungen, die Emotionen im Volk steigen. Als zweites Gleichgewicht wird das Energiegleichgewicht thematisiert. Dieses beschreibt gemäss Hoyle, „wieviel Energie die Sonne in Form von Strahlung“507 durch die Konvektionszone verliert und wie dieser Energieverlust durch die Kernprozesse im Innern der Sonne wieder kompensiert werden kann. Er erläutert, dass bei einem instabilen Energiegleichgewicht der Druck im Innern der Sonne in einem ersten Fall absinken könnte, da durch die Konvektionszone mehr Energie in den Raum entweicht. Dieser Vorgang hätte eine Schrumpfung der Sonne zur Folge, wodurch die Energieproduktion im Innern wieder wächst. In einem zweiten Fall aber könnte die Energie, welche im Innern produziert wird, grösser sein als die Strahlung in den Raum, wodurch die Sonne langsam expandiert.508 Der Ich-Erzähler folgt auch hier den Erläuterungen in Hoyles Buch. Das Energiegleichgewicht der Sonne reguliert seines Erachtens die Umsetzung von Materie in Energie. Um die Sonne im ausgeglichenen Zustand zu halten, soll nicht mehr Materie in Energie umgewandelt werden, als sie auszustrahlen vermag. Ist die Konvektionszone zu schwach – wie beispielsweise beim Blauen Riesen im ersten Fall – sinkt der Druck im Sonneninnern, da die Sonne mehr abstrahlt. Dadurch schrumpfen diese Sonnen, der Druck im Innern steigt wieder. Der Ich-Erzähler betrachtet das Zusammenbrechen des Energiegleichgewichts in der Sonne als Zusammenbrechen des ökonomischen Gleichgewichts im Industriestaat: Das Angebot im Volk übertrifft dessen Nachfrage, die Behörden sind zu schwach, um regulierend einzugreifen, es beginnt ein erbitterter Kampf der Konkurrenten untereinander: Die Emotionen und der Druck im Volk steigen.509 Es gibt dem Ich-Erzähler zufolge bei Staaten aber auch die Entwicklung, dass die Behörde zu stark wird. Dies wurde oben im zweiten Fall erläutert. Bei den meisten freilich, vor dem Dritten Weltkrieg, siegte die Konvektionszone: die Behörde. Die Macht des Staates stieg an. Besonders die überschweren Staaten begannen weniger abzustrahlen, als sie umsetzten. Sie wurden die Gefangenen ihrer Behörde.510

506 Vgl. F. Hoyle: Das grenzenlose All. Der Vorstoss der modernen Astrophysik in den Weltraum. 1957, S. 151. Dürrenmatt hat das Buch gekannt und insbesondere die Seiten der verschiedenen Gleichgewichte der Sonne bearbeitet. Vgl. URL: https://www.helveticarchives.ch/detail.aspx?ID=166222. 507 Ebd.: S. 152. 508 Vgl. ebd.: S. 153. 509 Vgl. F. Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe I–III. 1998, S. 111ff. 510 Ebd.: S. 111.

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Bei überschweren Sonnen kann der Druck und die Dichte im Innern nur noch zunehmen, da zuwenig Energie abgestrahlt wird. Auf die überschweren Staaten übertragen bedeutet dies, dass die Nachfrage im Volk das Angebot übertrifft. Damit werden die Emotionen im Volk immer grösser. Die Behörde kann diesem zunehmenden Druck des Volkes nur eine Ideologie entgegensetzen, daher zieht der Ich-Erzähler das Fazit, dass „[ü]berschwere Staaten durchgeplant [sind]“511. In diesem Zustand waren die Staaten gemäss dem Erzähler vor dem Dritten Weltkrieg. Die überschweren Sterne wollten die Welt nicht erobern, aber sie erpressten sie dank ihrer Schwere. Ihre Gravitation saugte gleichsam die zerstrahlte Materie der Blauen Riesen in sich auf. Dadurch schrumpften diese, und nun nahm auch ihr Druck zu; aus dem ökonomischen Gleichgewicht gebracht, >sozialisierten< sie, wurden nun ihrerseits zu überschweren Sonnen […].512

Damit entstehen sowohl auf Stern- als auch auf Staatsebene zusehends zwei verschiedene instabile Systeme: Sowohl die Industriestaaten als auch die überschweren (sozialistischen) Staaten sind aus dem Druck- und Energiegleichgewicht gebracht. Es beginnt ein Wettrüsten, wie der Ich-Erzähler erläutert, denn jeder Staat produziert jetzt aufgrund seiner Entwicklung mehr, als er abgibt. Der Innendruck in den Staaten steigt ins Unerträgliche und lässt die Gesellschaften „entarten“513. Dem IchErzähler zufolge entstehen in solchen Staaten zwei Klassen: Diejenige Klasse, welche in der Konvektionszone angesiedelt ist und diejenige Klasse, welche der Konvektionszone schutzlos ausgesetzt ist. Von der Behörde werden, damit diese den Druck im Innern überhaupt noch bändigen kann, immer höhere Abgaben gefordert. Der Staat wird in beiden Fällen zu mächtig.

511 Ebd.: S. 112. 512 Ebd.: S. 112. 513 Friedrich Dürrenmatt verwendet hier das Wort „entarten“ sorglos sowohl für die Stern- als auch für die Staatentwicklung. Der Begriff „Entartung“ wird denn in den Naturwissenschaften auch oft verwendet, beispielsweise in der statistischen Physik für die Gasentartung. Vgl. Der Brockhaus. Naturwissenschaft und Technik. Bd. 1. A-Gd. 2003, S. 582f. Im gesellschaftlichen Kontext wird er beispielsweise nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Zusammenhang „mit der systematischen Vertreibung des >entarteten Literatentums< aus Deutschland“ gebraucht. Vgl. U. Amrein: Avantgarde und Antimoderne. Spielarten des Politischen im Theater der Geistigen Landesverteidigung. In: E. Pellin und U. Weber (Hgg.): »Wir stehen da, gefesselte Betrachter«. Theater und Gesellschaft. 2010, S. 39. Weiterführende Informationen zum Begriff „entartete Kunst“, welcher Kashapova zufolge „eines der bekanntesten Schlagwörter der „Sprache des Nationalsozialismus““ ist, finden sich im Buch Kunst, Diskurs und Nationalsozialismus. Sie erläutert weiter, dass das Wort entartet im Allgemeinen „ein negativ wertendes Potential“ besitzt. Der Begriff wurde jedoch bereits im 18. Jahrhundert für die Kunst seit der Spätantike benutzt: Schlegel gebraucht den Ausdruck aber als gänzlich unpolemisch. „Der Verfall der griechischen und römischen Dichtkunst liegt für Schlegel in der Natur, es ist eine „notwendige Entartung“[…]. D. Kashapova: Kunst, Diskurs und Nationalsozialismus. Semantische und pragmatische Studien. 2006, S. 1, S. 45f.



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Diese Staat- beziehungsweise Sternentwicklung erinnert an das Durchspielen der Wirtschaftsordnungen Wolfsspiel (Kapitalismus) und Gute-Hirte-Spiel (Sozialismus) in Dürrenmatts Essay Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht: Auch da wurde der Staat gegenüber den einzelnen Spielern zu mächtig und den Emotionen kam eine grosse Bedeutung zu. In der hier ausgeführten Allegorie zwischen Stern und Staat werden somit erneut modellhaft soziopolitische Systemmechanismen durchdacht. Die Staaten geraten dem Ich-Erzähler zufolge nun immer mehr ausser Kontrolle, verlieren immer mehr ihre Stabilität. Es wird entweder der sozialistische Klassenkampf oder der Liberalismus propagiert, ohne zu bedenken, dass sich ein Volk, welches zur Masse wird, unberechenbar verhält. Solch überschwere Staaten sind gemäss Ich-Erzähler ebenso gefährliche Gebilde wie überschwere Sterne, der Dritte Weltkrieg bricht aus. In beiden Fällen wird so das dritte Gleichgewicht, das Oberflächengleichgewicht, ausser Kraft gesetzt. Gemäss Hoyle strömt beim Oberflächengleichgewicht der Sterne die Energie aus dem zentralen heissen Kern nach aussen zu den kälteren Schichten.514 Die Sonnenoberfläche wird dabei so heiss, dass – wie dies bei einigen besonderen Sternen, den Supernovae, der Fall ist – die äusseren Teile in Form von enormen Explosionen ausgestossen werden. Genau diesen Endzustand eines massereichen Sternes beschreibt der Ich-Erzähler in Der Winterkrieg in Tibet, wo er die Explosionen von Ölfeldern in Staaten während des Dritten Weltkrieges mit Supernovae-Explosionen gleichsetzt. Der Innendruck und damit die Innentemperatur waren zu gewaltig geworden, das Oberflächengleichgewicht gab nach, die riesigen Konvektionszonen […] fegten in den Raum: […]. Nach der Supernova der Endzustand: die Menschheit als Neutronenstern.515

Der Systemwandel hat sich somit vollzogen: Der Staat besteht nur noch aus einer Behörde, er wird „zu einer total verwalteten Masse, zur >Verwaltung< eben, wobei Verwalter und Verwaltete nicht mehr unterschieden werden können“516: In einem solchen System sind die in Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs geforderte Freiheit, auch nur die geistige Freiheit517, sowie die Gerechtigkeit illusorisch geworden. Kurz vor Schluss nimmt der Ich-Erzähler nochmals die Grenze von Chandrasekhar, welche für die Endphase der Sternentwicklung relevant ist, auf und bestätigt, dass dessen Berechnung aufgegangen ist. Hier nun zeigt sich der eigentliche Unterschied zum soziopolitischen Diskurs vor der Erzählung Der Winterkrieg in Tibet. Bis anhin geht Dürrenmatt davon aus, dass das Verhalten sehr vieler Menschen, analog zu demjenigen grosser Mengen an Molekülen, 514 Vgl. F. Hoyle: Das grenzenlose All. Der Vorstoss der modernen Astrophysik in den Weltraum. 1957, S. 155. 515 F. Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe I–III. 1998, S. 114. 516 Ebd.: S. 114. 517 Vgl. F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 148.

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statistisch prognostizierbar ist. In Folge der stark ansteigenden Bevölkerung soll das Primat der Gerechtigkeit notwendigerweise über das Primat der Freiheit siegen. Dies führt dazu, dass sich die Sozialdemokratie durchsetzen wird, wobei die Rechte der Menschen stark eingeschränkt werden. Diese Entwicklung ist jedoch nur möglich, wenn die Menschenmasse durch den Staat gebändigt und gelenkt werden kann, wenn sie durch ein Mehr an Demokratie in den Sozialstaat integriert wird und bereit ist, den Verlust an Freiheit zu ertragen. Doch bereits im Gespräch mit Häsler 1966 zeigt sich Dürrenmatts Skepsis diesbezüglich und auch im Essay Überlegungen zum Gesetz der grossen Zahl aus den Jahren 1976/77 tönt er an, dass er sich nicht sicher ist, dass die Menschheit diese Entwicklung einschlägt. Doch es kann uns auch zustossen, dass irgendeine rigorose Ideologie siegt. […] Zum Schluss droht immer noch der Untergang der Menschheit. Nicht mehr eine blosse Hypothese, technisch ist er möglich geworden. Für uns die schlimmste Wendung, aber für das Leben und für diesen Planeten die vielleicht beste. Wir haben vielleicht doch zu viele Chancen vertan, um den Ablauf der Geschichte noch zum Vernünftigen hin zu wenden. Die Saurier mussten nach sechzig Millionen Jahren Herrschaft abtreten, die zwei Millionen Jahre, die seit dem ersten Auftreten unserer Gattung vergangen sind, reichen möglicherweise schon. Ein kurzes Intermezzo, […]: wir sprachen auf der Welt vor und fielen durch.518

In Der Winterkrieg in Tibet verläuft die Entwicklung nicht nach dem in den soziopolitischen Reflexionen aufgezeigten Muster in Richtung Sozialdemokratie. Die Bevölkerungsexplosion ist zwar auch hier Grund dafür, dass das Gesetz der grossen Zahl eintritt. Interessant ist aber die Einschränkung, dass das mathematische Gesetz im Humanen nur noch für Institutionen gilt, nicht mehr aber für sehr viele Menschen (= Masse). Zwar geht der Ich-Erzähler ebenfalls davon aus, dass durch die grosse Anzahl an Menschen die Freiheit stark eingeschränkt wird. Dies führt jedoch soweit, dass der Unmut in der Bevölkerung und die Emotionen gegen den Staat steigen. Das Volk wird sowohl im kapitalistischen als auch im sozialistischen Staat zur Masse und kann vom Staat nur noch durch starken Druck gebändigt werden. Dieser Druck kann jedoch nicht für immer aufrecht erhalten werden: Die Masse wird unberechenbar, der Dritte Weltkrieg bricht aus, vergleichbar mit einer Supernova-Explosion. Damit ist der Weg zum Endzustand der Menschheit, zur schlimmstmöglichen systemischen Wendung, eingetreten, der bereits im Essay Überlegungen zum Gesetz der grossen Zahl angedacht wurde. Die unberechenbar gewordene Masse Menschheit endet als „total verwaltete[n] Masse“519, als Neutronenstern. Für den Einzelnen bedeutet dies, dass die Freiheit illusorisch wird, er wird in die Masse aggregiert. Die eingehende Betrachtung von Dürrenmatts äusserst komplexen, vielschichtigen, soziopolitischen Reflexionen, welche in ihren ungenauen oder fehlenden Begriffs518 Ebd.: S. 123. 519 F. Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe I–III. 1998, S. 114.



Die Rekontextualisierung des soziopolitischen Diskurses

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definitionen sowie den oftmals nur ansatzweise ausgeführten Allegorien schwierig zu verstehen ist, bestätigt die eingangs aufgestellte These: Die Aneignung des Gesetzes der grossen Zahl als Gleichnis für soziopolitische Systemdynamiken ermöglicht es Friedrich Dürrenmatt, eine der zentralen Thematiken seines Schaffens, die Frage nach der Steuerbarkeit und Berechenbarkeit soziopolitischer Systeme der Moderne sowie des individuellen Handelns in solchen Systemen zu reflektieren. Auf Basis dieser Ausführungen gelingt es nun, in den anschliessenden Analysen der Komödien systemischen Wandel oder dessen Ausbleiben zu erklären. Dürrenmatt geht davon aus, dass einzelne Individuen sich, analog zur Imponderabilität einzelner Atome, durch unberechenbares Handeln den Systemzwängen zu entziehen vermögen. Über viele Jahre betrachtet Dürrenmatt zudem, analog zum mathematischen Gesetz, das Verhalten einer grossen Anzahl Menschen ebenfalls als statistisch berechenbar. Interessant ist, dass gerade die Binnenerzählung Der Winterkrieg in Tibet sich diesbezüglich jedoch durch vermehrte Skepsis auszeichnet: In der Erzählung erfolgt eine Einschränkung beziehungsweise eine Präzisierung durch einen fiktionalen personalisierten Ich-Erzähler: Dieser führt aus, dass nicht mehr die Masse, sondern nur noch gesellschaftliche Institutionen, also beispielsweise Staaten, statistisch berechenbar sind. Zudem wird davon ausgegangen, dass systemische Bedingungen die Einzelnen deformieren können.520 In der Allegorie des Ich-Erzählers werden somit Grenzen kritischen Wachstums sowohl für Staaten als auch für Sterne reflektiert. Aus den analogen Systemmechanismen, welche der Ich-Erzähler expliziert, wird erkennbar, dass die Berechenbarkeit und Lenkbarkeit der Systemdynamiken im gesellschaftlichen Bereich durch die Zunahme an Menschen erschwert, sogar verhindert wird. Analog zu Kierkegaards indirekter Mitteilung soll der Rezipient dadurch zum Nachdenken angeregt und für moderne systemische Bedingungen sensibilisiert werden.

3.3 Die Rekontextualisierung des soziopolitischen Diskurses Friedrich Dürrenmatts In Friedrich Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs scheinen Karl Poppers Fallibilismus, seine Kritik an Marxismus und Faschismus sowie seine Forderung nach einer StückwerkSozialtechnik immer wieder aufzublitzen. Friedrich Dürrenmatt hat das Werk des Philosophen gekannt, wie ein Blick in die Dürrenmattsche Privatbibliothek und seine Äusserungen über ihn zeigen. In der Privatbibliothek Dürrenmatts stehen folgende Bücher Karl Poppers: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (beide Bände 1970), Das Elend des Historizismus (1974), Objektive Erkenntnis: ein evolutionärer Entwurf (1974), 520 Diesen Systemzwängen können sich in den Theaterstücken nicht mehr alle Einzelnen auf Dauer entziehen: Dies lässt sich beispielsweise in den Theaterstücken Der Mitmacher und Die Frist anhand der Figuren Cop und Goldbaum betrachten.

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Dürrenmatts soziopolitischer Diskurs im essayistischen Werk

Logik der Forschung (1976), Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie (1979), Das Ich und sein Gehirn (1982), Auf der Suche nach einer besseren Welt (1984) sowie Offene Gesellschaft – offenes Universum: ein Gespräch über das Lebenswerk des Philosophen (1986).521 Die frühesten Ausgaben der Bücher Poppers in Dürrenmatts Privatbesitz stammen zwar aus den 1970er-Jahren, die expliziten Äusserungen des Schriftstellers zu Popper von Ende der 1970er- sowie Anfang der 1980er-Jahre. Die Ähnlichkeiten zwischen Karl Poppers Wissenschaftstheorie und dessen politischen Forderungen mit Dürrenmatts Schaffen lassen jedoch die Vermutung zu, dass Dürrenmatt den Philosophen bereits früher rezipiert haben könnte. Auch Heinz Ludwig Arnold geht in seinem Essay Der gläubige Zweifler davon aus, dass Karl Popper für die Reflexionen Dürrenmatts von zentraler Bedeutung war. Eine frühe Lektüre Dürrenmatts war Arthur Eddingtons Buch Philosophie und Naturwissenschaft gewesen, und stets war auch Karl Poppers Falsifikationstheorie in Logik der Forschung Dürrenmatts Denken nahe.522

Weiter bekräftigt auch Annette Mingels in ihrem Buch Dürrenmatt und Kierkegaard die Wichtigkeit des kritischen Rationalisten Poppers für Friedrich Dürrenmatt. Sie bezieht sich jedoch, anders als Heinz Ludwig Arnold, mehr auf die politischen Reflexionen. Dass Dürrenmatt mit seinem ideologiekritischen Ansatz den Ideen des Kritischen Rationalismus näher steht als jenen der Kritischen Theorie, wird schnell ersichtlich.523

Und auch Joseph Federico erkennt bereits Ende der 1980er-Jahre die Wichtigkeit des Popperschen Denkens sowohl für Friedrich Dürrenmatts soziopolitische als auch dessen naturwissenschaftliche Reflexionen. Er ist der Ansicht, dass Dürrenmatt Popper seit den 1960er-Jahren rezipiert hat.524 Dass Dürrenmatt den Philosophen Popper bereits früh gekannt haben könnte, wird beispielsweise durch das Buch Das Weltall und wir von Hermann Bondi aus dem Jahr 1960 verdeutlicht. In diesem Buch, welches in Dürrenmatts Privatbibliothek steht, erläutert der Karl Popper-Schüler Bondi gleich zu Beginn auf einigen Seiten Poppers Falsifikationstheorie.525

521 Vgl. URL: https://www.helveticarchives.ch/suchinfo.aspx. 522 H. L. Arnold: Der gläubige Zweifler. In: Schweizerisches Literaturarchiv Bern und Kunsthaus Zürich (Hgg.): Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und Maler. 1994, S. 215. 523 A. Mingels: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kategorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. 2003, S. 166. 524 Vgl. J. A. Federico: The Political Philosophy of Friedrich Dürrenmatt. In: G. Kleinfeld (Hg.): German Studies Review. Vol. 12, Nr. 1. 1989, S. 92ff. 525 Vgl. H. Bondi: Das Weltall und wir. Entdeckungen und Theorien der Kosmologie. 1960, S. 14ff., URL: https://www.helveticarchives.ch/detail.aspx?ID=200390.



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Die in dieser Arbeit vertretene These lautet nun: Für die Rekontextualisierung von Friedrich Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs an Karl Poppers Reflexionen ist das Europäische Forum Alpbach von zentraler Bedeutung. Dürrenmatt kommt durch das Forum Alpbach entweder bei seinem erstmaligen Besuch im Jahre 1951 oder durch seinen Cousin Peter Dürrenmatt, welcher 1949 und 1954 in Alpbach mitwirkt, erstmals mit Karl Poppers Gedankengut in Kontakt. Die internationalen Hochschulwochen geben Dürrenmatt zudem entscheidenden Input für seine interdisziplinären systemischen Reflexionen zu Gesellschaft und Politik. Das Europäische Forum Alpbach wird 1945 von Otto Molden und Simon Moser gegründet und ist seit Beginn der 1950er-Jahre „der jährliche Mittelpunkt übernationaler und interfakultativer intellektueller Auseinandersetzung auf höchstem Niveau“526. Auch Karl Popper zählt seit 1948 zu den regelmässigen Besuchern des Europäischen Forum Alpbach und hält Vorträge oder leitet den Arbeitskreis Philosophie. 527 Zwar nimmt Karl Popper 1951 nicht an den Hochschulwochen zum Thema Formprobleme – Strukturen und Modelle in Alpbach teil528, doch kommen in Alpbach Jahr für Jahr bekannte Persönlichkeiten, welche zum Teil in den 1930er-Jahren insbesondere wegen der politischen Entwicklung aus Österreich und anderen europäischen Ländern emigrieren mussten und inzwischen internationale Anerkennung gefunden haben, zusammen. Ihr Gedankengut prägt das Europäische Forum in Alpbach stark. So mancher Teilnehmer wurde das erste Mal mit Jean-Paul Sartre, Antoine de Saint Exupéry, Jacques Maritain, Sir Karl Popper, Friedrich von Hayek, Heidegger oder den Denkern von jenseits des Ozeans bekannt.529

Eine zweite Möglichkeit, wie Friedrich Dürrenmatt das Werk Karl Poppers früh kennengelernt haben könnte, führt über dessen Cousin: Friedrich Dürrenmatts Cousin Peter Dürrenmatt, Chefredaktor der Basler Nachrichten, ist in den Jahren 1949 und

526 A. Auer: Einführung. In: A. Auer (Hg.): Das Forum Alpbach 1945–1994. Die Darstellung einer europäischen Zusammenarbeit. 1994, S. 8 527 Vgl. verschiedenste Programmhefte im Archiv des Forum Alpbach. 528 Vgl. H. Pfusterschmid-Hardtenstein: 1945–1955 Österreichs Weg von der Befreiung zur Freiheit. Alpbach als erstes Tor zur freien Welt. In: A. Auer (Hg.): Das Forum Alpbach 1945–1994. Die Darstellung einer europäischen Zusammenarbeit. 1994, S. 64. Recherchen im Archiv des Forums ergaben jedoch, dass zu Beginn der Planung des Forums 1951 auch Karl Popper als Teilnehmer vorgesehen war. 529 H. Pfusterschmid-Hardtenstein: 1945–1955 Österreichs Weg von der Befreiung zur Freiheit. Alpbach als erstes Tor zur freien Welt. In: A. Auer (Hg.): Das Forum Alpbach 1945–1994. Die Darstellung einer europäischen Zusammenarbeit. 1994, S. 49. Wie Karl Popper beispielsweise am Forum Alpbach 1948 seine Reflexionen einem breiten Publikum vermittelt hat, kann im Buch Gesetz und Wirklichkeit nachgelesen werden: K. Popper: Naturgesetze und theoretische Systeme. In: S. Moser (Hg.): Gesetz und Wirklichkeit. Alpbach-Tirol 21. August bis 9. September 1948. 1949, S. 43–60.

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1954 zweimal zeitgleich mit Karl Popper am Europäischen Forum Alpbach.530 Dass Friedrich Dürrenmatt mit seinem Cousin in jenen Jahren in engem Kontakt steht, belegt ein Artikel des Beobachters aus dem Jahre 2000: Cousin Peter Dürrenmatt ist zusammen mit Beobachter-Gründer Max Ras massgeblich beteiligt an Friedrich Dürrenmatts schriftstellerischer Förderung durch den Beobachter, in welchem seit 1950 die zwei Kriminalromane Der Richter und sein Henker sowie Der Verdacht als Fortsetzungsgeschichte veröffentlicht werden.531 Es kann weiter davon ausgegangen werden, dass Friedrich Dürrenmatts Bücher auch nach seinem ersten Besuch im Jahr 1951 auf den Buchausstellungen des Forum Alpbach präsent sind und er eventuell nur als Besucher und nicht als offiziell Mitwirkender, wie erneut im Jahr 1989532, am Forum teilnimmt. Dass diese Möglichkeit besteht, belegt einerseits ein Foto im Buch Das Forum Alpbach 1945–1994. Die Darstellung einer europäischen Zusammenarbeit, auf welchem Dürrenmatt 1986 mit dem Präsidenten der Caritas Wien, Leopold Ungar, zu sehen ist, obwohl Dürrenmatt in jenem Jahr kein offiziell Mitwirkender ist. 533 Andererseits offenbart ein Blick in Dürrenmatts Korrespondenzen, dass Otto Molden im Jahre 1980 mit Dürrenmatt brieflich in Kontakt steht.534 Offiziell belegt sind jedoch zwei Besuche Dürrenmatts in den Jahren 1951 und 1989 im Tiroler Bergdorf.535 Aus diesen Gründen liegt die Schlussfolgerung nahe, dass das Europäische Forum Alpbach für Dürrenmatt ein Leben lang ein wichtiger Treffpunkt mit internationalen Persönlichkeiten in einem interdisziplinären Umfeld darstellt. Sein Bezug zum Forum Alpbach wird weiter unterstrichen durch die Tatsache, dass sogar nach Dürrenmatts Tod Charlotte Kerr eingeladen wird, Texte Friedrich Dürrenmatts am Forum vorzulesen. Im Folgenden sollen nun Analogien und auch Differenzen zwischen den Reflexionen Karl Poppers und Friedrich Dürrenmatts herausgearbeitet werden. 530 Vgl. Programmhefte 1949 und 1954 im Archiv des Forum Alpbach. 531 Vgl. URL: http://www.beobachter.ch/leben-gesundheit/artikel/duerrenmatt-jubilaeum-der-dichterund-sein-helfer/. 532 Im Jahre 1989 nahm Dürrenmatt neben Karl Popper und Hans Albert am Europäischen Forum Alpbach zum Thema Geschichte und Gesetz teil. Vgl. H. Pfusterschmid-Hardtenstein: 1989 und danach. Unterwegs zum Jahrtausendwechsel. In: A. Auer (Hg.): Das Forum Alpbach 1945–1994. Die Darstellung einer europäischen Zusammenarbeit. 1994, S. 182. 533 Vgl. H. Pfusterschmid-Hardtenstein: 1980–1989 Konservative Realpolitik und soziale Marktwirtschaft bringen das Imperium des erstarrten Sozialismus zu Fall. In: A. Auer (Hg.): Das Forum Alpbach 1945–1994. Die Darstellung einer europäischen Zusammenarbeit. 1994, S. 180. Leider fehlen im Archiv die Listen der Bücher, welche ausgestellt wurden. 534 Vgl. Schweizerisches Literaturarchiv: FD-B-2-Allg. 1980. Brief von Otto Molden. 535 Vgl. H. Pfusterschmid-Hardtenstein: 1945–1955 Österreichs Weg von der Befreiung zur Freiheit. Alpbach als erstes Tor zur freien Welt. In: A. Auer (Hg.): Das Forum Alpbach 1945–1994. Die Darstellung einer europäischen Zusammenarbeit. 1994, S. 64 sowie H. Pfusterschmid-Hardtenstein: 1989 und danach. Unterwegs zum Jahrtausendwechsel. In: A. Auer (Hg.): Das Forum Alpbach 1945–1994. Die Darstellung einer europäischen Zusammenarbeit. 1994, S. 182.



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3.3.1 Karl Poppers Logik der Forschung In diesem Kapitel soll anhand der Logik der Forschung, welche 1934536 zum ersten Mal auf deutsch erschien, und einem Gespräch Karl Poppers mit Franz Kreuzer von 1982 dargestellt werden, dass Popper und Dürrenmatt einen durchaus vergleichbaren wissenschaftstheoretischen Weg verfolgen: Die Unterscheidung zwischen subjektivem Einfall und dessen Umsetzung in der Forschung. Zudem soll aufgezeigt werden, wie Dürrenmatt Poppers wissenschaftliche Methode des „trial and error“537 in seinem Schaffen anwendet. Popper selbst definiert zu Beginn seines Buches Logik der Forschung die Erkenntnislogik als Forschungslogik, indem er die beiden Begriffe gleichsetzt. Wir wollen festsetzen, dass die Aufgabe der Forschungslogik oder Erkenntnislogik darin bestehen soll, dieses Verfahren, die empirisch-wissenschaftliche Forschungsmethode, einer logischen Analyse zu unterziehen.538

Karl Popper entwickelt eine Lehre der Nachprüfung auf deduktiver Basis, blendet dabei jedoch den eigentlichen Vorgang des Entdeckens, des Auffindens von neuer Erkenntnis, wie Rheinberger in seinem Buch Historische Epistemologie ausführt, ganz aus. Popper konzentriert sich auf die Überprüfung von Hypothesen, von deren Bestehen er einfach ausgeht. Rheinberger führt diese Poppersche Besonderheit folgendermassen aus: Erfahrung im Sinne von Empfindung und Wahrnehmung ist ein Modus des erkennenden Subjekts. Das Gleiche gilt von der Phantasie und dem Einbildungsvermögen, die benötigt werden, um eine Hypothese auszudenken. Alle diese Aktivitäten des erkennenden Subjekts gehören nach Popper in den Bereich der Erkenntnispsychologie, die scharf vom Bereich der Erkenntnislogik geschieden werden muss. Letztere definiert Popper streng als Forschungslogik.539

Rheinberger spricht hier auf die wichtige Trennung von Erkenntnispsychologie und Erkenntnislogik in Poppers Werk an. Die Einordnung der Phantasie beziehungsweise des Einbildungsvermögens in die Erkenntnispsychologie ist insofern bedeutsam für Poppers Werk, da durch diese Trennung die Frage nach dem Vorhandensein oder dem Zustandekommen von Hypothesen, Theorien und Einfällen nicht weiter problematisiert wird. Diese subjektive Aktivität wird in den Bereich der Erkenntnispsychologie540 verbannt. 536 Alle Daten zu Karl Poppers Veröffentlichungen entstammen dem Buch: M. Lube: Karl R. Popper Bibliographie 1925–2004. 2005. 537 U. Schlitzberger: Kritischer Rationalismus. Die philosophisch-analytische Konzeption Karl R. Poppers und ihre Wirkung in der Bundesrepublik Deutschland. 1973, S. 21. 538 K. Popper: Logik der Forschung. 2005, S. 3. 539 H.-J. Rheinberger: Historische Epistemologie. 2007, S. 59. 540 Auch Hans Vaihingers Buch Die Philosophie des Als Ob ist eine Erkenntnispsychologie. Dürrenmatt besass eine Ausgabe des Buchs aus dem Jahr 1918, in der er unter anderem folgende

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Die erste Hälfte dieser Tätigkeit, das Aufstellen der Theorien, scheint uns einer logischen Analyse weder fähig noch bedürftig zu sein: An der Frage, wie es vor sich geht, dass jemandem etwas Neues einfällt – sei es nun ein musikalisches Thema, ein dramatischer Konflikt oder eine wissenschaftliche Theorie –, hat wohl die empirische Psychologie Interesse, nicht aber die Erkenntnislogik.541

Bereits das obenstehende Zitat thematisiert den Einfall, ein Konzept, das für Dürrenmatt von grosser Wichtigkeit ist, wie weiter unten zu sehen sein wird. Die nachfolgende Textstelle aus einem Gespräch zwischen Franz Kreuzer und Karl Popper beschäftigt sich ebenfalls mit dem Einfall, der in beiden Fällen aufgrund des Einbildungsvermögens, der Phantasie entsteht. Popper: Was Kepler getan hat, war, dass er eben, wie seine Vorgänger, versucht hat, die Welt als Ganzes zu sehen und zu erklären. […] Er konnte tatsächlich zeigen, dass die Beobachtungen, die er von seinem Lehrer Ticho geerbt hatte, unvereinbar waren mit der Theorie der kreisförmigen Bewegung der Planeten. So hat er also versucht, andere Figuren zu verwenden. Und nach verschiedenen Fehlschlägen kam er zu den Ellipsen. Kreuzer: Und Sie meinen: Die Ellipse muss einem als Lösungsvorschlag einfallen, sie kann sich nicht aus dem Kreis durch Induktionsschritte ergeben. Sie muss als Einfall vorgegeben sein – und wird dann überprüft.542

Bedeutsam sind diese Textstellen, da sich in Dürrenmatts Werken ein ähnlicher Vorgang feststellen lässt: „Einfall“, „Idee“ und „Vision“ sind für Dürrenmatt ebenfalls zentrale Begriffe der künstlerischen und wissenschaftlichen Produktion, es sind für ihn Begriffe, deren Herkunft ebenfalls im Bereich der Erkenntnispsychologie liegt. Zuerst Einfälle […], später Visionen, endlich Ideen. […] Diese Gedankensplitter sind auf einmal da, keiner weiss einen Erfinder derselben anzugeben, sie sind wie Sternschnuppen in den sichtbaren Teil der Noosphäre eingeschossen und aufgeleuchtet, […]. Wenn wir die Einfälle der Technik zuteilen, die Visionen der Kunst und die Ideen der Wissenschaft, so ist das eine Arbeitshypothese, nichts weiter. Weder die Technik noch die Kunst und auch nicht die Wissenschaft kommt ohne Einfälle, Visionen und Ideen aus.543

Textstelle auf S. 130 angestrichen hatte: „Insofern die Mythologie als gemeinsame Mutter von Religion, Poesie, Kunst und Wissenschaft zu betrachten ist, tritt in ihr zuerst die freigestaltende Tätigkeit der Einbildungskraft hervor, der Imagination, der Phantasie. […] Indessen ist die psychologische Genesis aller Fiktionen aus allen Gebieten dieselbe.“. H. Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. 1918, S. 130. 541 K. Popper: Logik der Forschung. 2005, S. 7. 542 F. Kreuzer und K. Popper: Offene Gesellschaft – offenes Universum. 1986, S. 24. 543 F. Dürrenmatt: Versuche. Kants Hoffnung. Essays und Reden. 1998, S. 76ff.



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In diesem Zitat nimmt Dürrenmatt eine Reflexion auf, die er bereits 1954 im Aufsatz Theaterprobleme ausführt, als er die Wahl der Komödie als Form der Moderne erläutert: Aristophanes dagegen lebt vom Einfall. Seine Stoffe sind nicht Mythen, sondern erfundene Handlungen, die sich nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart abspielen. Sie fallen in die Welt wie Geschosse, die, indem sie einen Trichter aufwerfen, die Gegenwart ins Komische, aber dadurch auch ins Sichtbare verwandeln.544

Einfälle, die zu Hypothesen führen, liegen also sowohl für Popper, als auch für Dürrenmatt im Bereich der Erkenntnispsychologie. Dies ist insofern bedeutsam, als Dürrenmatt dem Leser keinerlei Angaben vermittelt, woher er das mathematische Gesetz der grossen Zahl, welches er zu einem Evolutionsgesetz seiner soziopolitischen Reflexionen ausarbeitet, kennt. Einzig in den Manuskripten zum Essay Überlegungen zum Gesetz der grossen Zahl aus dem Jahr 1977 thematisiert Friedrich Dürrenmatt seine Aneignung des mathematischen Gesetzes: Das Gesetz der grossen Zahl: Wo und bei wem ich das aufgeschnappt habe, kann ich leider nicht angeben.545

Bedeutend ist zudem, dass sowohl Popper als auch Dürrenmatt den Einfall für beide Kulturen – Wissenschaft und Kunst – als zentral betrachten, wie die Zitate oben eindrücklich beweisen. Weiter führt Popper im Buch Logik der Forschung aus, dass eines der Grundprobleme der Erkenntnislogik in der Unterscheidung zwischen induktiver oder deduktiver Methode besteht. Karl Popper plädiert seinerseits klar für die deduktive Vorgehensweise. Die Methode der kritischen Nachprüfung, der Auslese der Theorien, ist nach unserer Auffassung immer die folgende: Aus der vorläufig unbegründeten Antizipation, dem Einfall, der Hypothese, dem theoretischen System, werden auf logisch-deduktivem Weg Folgerungen abgeleitet; diese werden untereinander und mit anderen Sätzen verglichen, indem man feststellt, welche logischen Beziehungen (z. B. Äquivalenz, Ableitbarkeit, Vereinbarkeit, Widerspruch) zwischen ihnen besteht.546

Bereits hier zeigt sich eine weitere ähnliche Art des Reflektierens zwischen Popper und Dürrenmatt: Dürrenmatts Einfall, das mathematische Gesetz der grossen Zahl auf die Menschheit zu übertragen und sich aus dieser Aneignung einen soziopolitischen Diskurs zu erarbeiten, ist ein Gleichnis. Ähnlich zu den Folgerungen in Poppers Deduktion ist es nun auch für Dürrenmatt möglich, gewisse Voraussagen aus der Aneignung des 544 F. Dürrenmatt: Theater. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 61f. 545 Schachtel 25 m219 I: Keine Seitenzahl. 546 K. Popper: Logik der Forschung. 2005, S. 8.

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mathematischen Gesetzes zu prognostizieren. Dadurch kann Dürrenmatt in seinem soziopolitischen Diskurs die Thematik der Steuerbarkeit von modernen Systemdynamiken und die Möglichkeit von sozialem Wandel thematisieren. Popper geht davon aus, dass Theorien auf verschiedenste Weisen überprüft werden können. Eine Möglichkeit der Prüfung besteht in der „>empirische[n] Anwendung< der abgeleiteten Folgerungen“547. Das bedeutet, dass aus dem System empirisch möglichst leicht überprüfbare Folgerungen in Form von Prognosen abgeleitet werden. Fallen nun die Überprüfungen positiv aus, wird eine Theorie gemäss Popper vorläufig verifiziert, fallen sie hingegen negativ aus, so werden die Folgerungen falsifiziert. Wichtig ist gemäss Karl Popper, dass eine Verifizierung immer nur vorläufig sein kann. Dürrenmatt übernimmt diesen Fallibilismus Poppers für weite Teile seines Werks, wie die nachfolgenden Erläuterungen zu den Ideologien belegen. Es wird jedoch in dieser Arbeit die These vertreten, dass die Theaterexperimente, da sie keine Abbilder der Welt sind, keine Verifikation oder Falsifikation der soziopolitischen Reflexionen darstellen, sondern neue Erkenntnisse generieren sollen. Angemerkt werden muss, dass sich in Karl Poppers Logik der Forschung unter dem Kapitel Wahrscheinlichkeit etliche Seiten über das Gesetz der grossen Zahl finden.548 Den bisherigen Recherchen zufolge wird das mathematische Gesetz einzig in diesem von Dürrenmatt gekannten Werk als Gesetz der grossen Zahl benannt und nicht als Bernoulli Theorem aufgelistet oder als Avogadrosche Konstante beziehungsweise Loschmidtsche Zahl umschrieben. Damit sollte die Möglichkeit, dass Dürrenmatt das mathematische Gesetz aus einer frühen Ausgabe der Logik der Forschung kannte, in Betracht gezogen werden.

3.3.2 Karl Poppers und Friedrich Dürrenmatts soziopolitische Reflexionen im Vergleich Friedrich Dürrenmatt beginnt seine auf dem mathematischen Gesetz der grossen Zahl beruhenden soziopolitischen Reflexionen im Jahre 1956 und intensiviert diese Arbeit vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren, was die Anzahl der dazu veröffentlichten Essays und Interviews deutlich belegt. Dies ist insofern bedeutsam, da diese Zeit auch als Blütezeit von Karl Poppers philosophischem Gedankengut (= Kritischer Rationalismus) in der Deutschen Politik betrachtet werden kann, was bereits Ullich Günther in seinem Buch Kritischer Rationalismus, Sozialdemokratie und politisches Handeln im Jahre 1984 betont. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat vermutlich keine Philosophie in West-Deutschland ein so breites parteipolitisches Interesse gefunden wie der Kritische Rationalismus.549 547 Ebd.: S. 9. 548 Vgl. ebd.: beispielsweise S. 160ff. 549 U. Günther: Kritischer Rationalismus, Sozialdemokratie und politisches Handeln. 1984, S. 174.



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Udo Schlitzberger geht in seiner Dissertation Kritischer Rationalismus – Die philosophisch-analytische Konzeption Karl R. Poppers und ihre Wirkung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1973 auf die Verbreitung des Popperschen Gedankenguts in Deutschland ein: Ihm zufolge soll diese seit Ende der 1950er-Jahre, insbesondere durch den Popper-Schüler Hans Albert, eingetreten sein. Denn obwohl die erste Auflage seines frühen Hauptwerks ‚Logik der Forschung’ 1934 in deutscher Sprache erschien, blieben seine erkenntnistheoretischen Aussagen wie seine gesellschaftsphilosophischen Ansichten im deutschen Sprachraum lange Zeit unbeachtet. Erst Ende der fünfziger Jahre beginnen bundesrepublikanische Wissenschaftler vereinzelt Poppers Werke zur Kenntnis zu nehmen, um sich in der Folgezeit kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Die Bemühungen von Poppers Freund und Schüler Hans Albert um eine Rezeption der Popperschen Konzeption in der Bundesrepublik haben diesen Prozess initiiert und befruchtet.550

In der Privatbibliothek von Friedrich Dürrenmatt stehen zwei Bücher von Hans Albert: Kritische Vernunft und menschliche Praxis (1984) sowie Das Elend der Theologie: kritische Auseinandersetzung mit Hans Küng (1979).551 In beiden Büchern stehen Widmungen des Autors an Friedrich Dürrenmatt: Eines der Bücher ist Dürrenmatt in Erinnerung an die Alpbacher Tage des Jahres 1989 gewidmet. Es kann somit davon ausgegangen werden, dass Friedrich Dürrenmatt diesen wichtigen Vertreter des Kritischen Rationalismus in Deutschland gekannt hat.552 In der Folge sollen nun einige vergleichbare Reflexionen der (sozio-)politischen Diskurse Karl Poppers und Friedrich Dürrenmatts erläutert werden. Anhand von Textstellen wird aufgezeigt, welche Analogien die Vermutung zulassen, dass Dürrenmatt die politischen Reflexionen Poppers bereits früh, teilweise vor den 1960er-Jahren, gekannt haben könnte.

3.3.2.1 Die Kritik an totalitären Lehren Interessant ist, dass sowohl Karl Popper als auch Friedrich Dürrenmatt in ihren Werken eine Abneigung gegen dieselben politischen und philosophischen Theorien hegen: Im Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde tadelt Popper den Faschismus und den Marxismus als totalitäre Lehren und versucht, in den Philosophien Platons, Hegels und Marx’ die Wurzeln davon blosszulegen. 550 U. Schlitzberger: Kritischer Rationalismus. Die philosophisch-analytische Konzeption Karl R. Poppers und ihre Wirkung in der Bundesrepublik Deutschland. 1973, S. 2. 551 Vgl. URL: https://www.helveticarchives.ch/detail.aspx?ID=166621. Vgl. URL: https://www.helveticarchives.ch/detail.aspx?ID=166175. 552 Vgl. URL: https://www.helveticarchives.ch/detail.aspx?ID=166621. Vgl. URL: https://www.helveticarchives.ch/detail.aspx?ID=166175.

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Ich verabscheute die Namen beider (Hitler und Stalin PK) so sehr, dass ich sie in meinem Buch nicht erwähnen wollte. So ging ich auf Spurensuche in der Geschichte; von Hitler zurück zu Platon: dem ersten grossen politischen Ideologen, der in Klassen und Rassen dachte und Konzentrationslager vorschlug. Und ich ging von Stalin zurück zu Karl Marx.553

Popper kritisiert die Werke Platons, Hegels und Marx’ als Ursprung von Ideologien und grenzt sich klar von ihnen ab. Auch Dürrenmatt wendet sich – sehr ausführlich in seinem zentralen Aufsatz Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht 1969 – vom dogmatisch verstandenen Marxismus und vom Faschismus ab. Weiter gibt Dürrenmatt offen zu, dass er mit dem Philosophen Hegel Mühe bekundet. Mit Hegel kam ich nie zu Rande. Auch mit dem allergrössten Optimismus konnte ich seine Ansicht, in der Weltgeschichte verwirkliche sich der Geist, nie teilen, es sei denn, dieser Geist sei besonders blutrünstig. Was Hegel schrieb, ist eine Dramaturgie, die er der Geschichte unterstellte.554

Neben dieser beidseitigen Abneigung gegen totalitäre Lehren und die Philosophie Hegels gibt es eine weitere Parallele: Sowohl Popper als auch Dürrenmatt betonen, wie wichtig Kants Werk für ihr Arbeiten ist. Für Dürrenmatt war Kants Kritik der reinen Vernunft seit der Studienzeit das Buch, das ihn „am meisten beschäftigte“555, Popper definiert sich im Aufsatz Woran glaubt der Westen? gleich zu Beginn als Anhänger der Aufklärung. Ich möchte mich daher zuallererst als einen ganz altmodischen Philosophen vorstellen – als einen Anhänger jener längst überwundenen und verschwundenen Bewegung, die Kant »Aufklärung« nannte […].556

Sowohl Popper als auch Dürrenmatt entstammen, bezüglich ihres politischen Diskurses, einem ähnlichen geistigen Hintergrund. Es lassen sich in den (sozio-)politischen Reflexionen Poppers und Dürrenmatts jedoch noch weitere Ähnlichkeiten finden.

3.3.2.2 Der Fallibilismus in der Naturwissenschaft und der Politik Ein wichtiges Konzept in Poppers Wissenschaftstheorie ist der Fallibilismus, welcher besagt, dass Theorien kritisiert werden müssen, so dass aus Fehlern gelernt werden kann.

553 K. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 1. 1992, S. IX. 554 F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 126. 555 Ebd.: S. 127. 556 K. Popper: Woran glaubt der Westen? In: K. Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreissig Jahren. 1984, S. 232.



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Mit dem Namen ‚Fallibilismus‘ bezeichne ich hier die Auffassung, oder die Anerkennung der Tatsache, dass wir uns irren können, und dass das Streben nach Gewissheit […] ein falsches Bestreben ist. […] Jede Entdeckung eines Irrtums bedeutet einen wirklichen Fortschritt in unserem Wissen. […] Wir können aus unseren Fehlern lernen. Diese grundlegende Einsicht ist in der Tat die Grundlage meiner Erkenntnistheorie und Methodologie […]. Mit anderen Worten, wir müssen versuchen, unsere Theorien zu kritisieren – zu widerlegen.557

Diese Art des Fallibilismus ist für den Philosophen Popper nicht nur auf naturwissenschaftliche sondern auch auf politische Theorien anzuwenden.558 Udo Schlitzberger führt dies explizit aus, indem er erläutert, „dass man politische Problemlösungen oder soziale Verbesserungsvorschläge […] einer kritischen Prüfung unterwirft, wobei sie stets als Hypothesen zu behandeln sind, auch wenn sie in der herrschenden Ideologie für sakrosankt erklärt und daher dogmatisiert werden“559. Damit wird deutlich, dass politische Theorien analog zu wissenschaftlichen behandelt werden sollen und sie immer wieder kritisch überprüft werden müssen. Für den politischen Diskurs Karl Poppers relevant ist ferner, dass im freien Gedankenaustausch, im Diskutieren von Fehlern ein gewisses Hindernis für die Herausbildung ideologischer Konzepte gesehen werden kann. Prinzipielle Offenheit der wissenschaftlichen Entwicklung und grundsätzliche Bereitschaft zur Revision wissenschaftlicher Theorien lassen die Wissenschaftslehre des kritischen Rationalismus fruchtbar und gegenüber jeder Art von wissenschaftlichem Dogmatismus resistent erscheinen.560

Auf die Politik übertragen bedeutet dies, dass unterschiedliche Theorien und Ansichten diskutiert und kritisch hinterfragt werden können, solange die Meinungsfreiheit vorhanden ist. Dies ist nur in demokratischen und nicht in Zeiten totalitärer Systeme möglich. Zentral für Karl Popper ist sowohl in der Naturwissenschaft als auch in der Politik, „dass es keine Theorie und keine Hypothese geben kann, die nicht in diesem Sinn eine Arbeitshypothese (Hervorhebung PK) ist und bleibt“561, wie er in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde explizit schreibt. Damit stellt er klar, dass seiner Ansicht nach keine Theorie auf ewig besteht: Alle Theorien existieren nur bis zu ihrer Falsifikation. Dürrenmatt kämpft ein Leben lang gegen Ideologien und benutzt, so die hier aufgestellte These, als Argumentationshilfe Karl Poppers Fallibilismus: Bereits im Aufsatz Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit 1956 kritisiert Dürrenmatt die politischen Ideologien als die „gängigen Weltanschauungen und Weltbilder[n]“ 562, denen der 557 K. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 2. 1992, S. 468. 558 Vgl. B. Magee: Karl Popper. 1986, S. 11f. 559 U. Schlitzberger: Kritischer Rationalismus. Die philosophisch-analytische Konzeption Karl R. Poppers und ihre Wirkung in der Bundesrepublik Deutschland. 1973, S. 72f. 560 Ebd.: S. 95. 561 K. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 2. 1992, S. 306. 562 F. Dürrenmatt: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 65.

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Mensch zum Opfer fällt, weil er die Welt aufgrund der Komplexität nicht mehr versteht: Der Mensch wendet sich, um sich überhaupt noch zurechtzufinden, vereinfachenden Denkschemata zu. Im Gespräch mit Alfred A. Häsler von 1966 kritisiert Dürrenmatt ideologisches Denken als „Scheinordnung“563, welche mit der komplexen Realität nichts zu tun hat, da sie zu stark banalisiert ist. Dürrenmatt selber sieht die Politik als widersprüchlich, er ist aus diesem Grund überzeugt, dass es keine einfachen politischen Lösungen geben kann. Dürrenmatts wie auch Poppers Ideologieskepsis widerspiegeln jedoch keinen allgemeinen Trend, sie führen ihren ideologiekritischen Kurs jedoch zeitlebens weiter, auch als sich gegen Ende der 1960er-Jahre das ideologische Gedankengut, wie Arnold ausführt, bereits wieder ausbreitet. Die zweite Hälfte der sechziger Jahre war ja auch eine Zeit, in der sich vieles in Bewegung setzte und viele auf Umbruch sannen und drangen. Den rasanten Wiederaufbau Westdeutschlands stoppte eine wirtschaftliche Rezession, […], die auf Faschismus und Stalinismus antwortende Ideologiefeindlichkeit der Nachkriegszeit wurde abgelöst von unzähligen ideologischen Konzepten.564

Auch Friedrich Dürrenmatt stellt dieses erneute Aufkommen von ideologischen Reflexionen fest und kommentiert es in einem Aufsatz im Jahr 1974 folgendermassen. Die Neigung zum politischen Glauben hin ist auch in der Schweiz offensichtlich, Ideologie ist überall wieder Mode.565

Ideologien sind zur Zeit des Kalten Krieges im politischen Geschehen also nach wie vor aktuell, der von Dürrenmatt erhoffte Neustart nach dem Zweiten Weltkrieg bleibt aus. Im Aufsatz Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht erklärt der Schriftsteller nun anhand des Wolfsspiels und des Gute-Hirte-Spiels die Funktion der ideologischen Denkweisen in der Politik, die seines Erachtens dazu dienen, an die Macht zu gelangen oder an der Macht zu bleiben. Dürrenmatt konstatiert diese Funktionsweise jedoch nicht nur, sondern entwickelt im selben Aufsatz den Ideologiebegriff weiter: Das dramaturgische Denken könnte die Politik hindern, sich ihren Massstab, ihr Ziel und ihre Gegner absolut zu setzen. Möglicherweise. Es könnte dazu führen, die Ideologien als blosse Arbeitshypothesen zu begreifen, die leichter durch andere Arbeitshypothesen ersetzbar wären, erwiese es sich als notwendig.566 563 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 279. 564 H. L. Arnold: Der gläubige Zweifler. In: Schweizerisches Literaturarchiv Bern und Kunsthaus Zürich (Hgg.): Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und Maler. 1994, S. 214. 565 F. Dürrenmatt: Meine Schweiz. Ein Lesebuch. 1998, S. 158f. 566 F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 93.



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Diese begriffliche Entwicklung nimmt Dürrenmatt in der Folge mehrfach wieder auf: Er plädiert dafür, die Ideologien nicht als unveränderlich und gegeben zu akzeptieren, sondern sie als Arbeitshypothesen zu verstehen. Die Ähnlichkeiten zum Fallibilismus des Philosophen Popper sind deutlich: In ähnlicher Weise hängt eine wissenschaftliche Theorie zum Grossteil von unserem Standpunkt, von unseren Interessen ab, und diese sind in der Regel mit der Theorie oder der Hypothese verbunden, die wir überprüfen wollen […]. Man könnte eine Theorie oder eine Hypothese sehr gut als die Kristallisation eines Gesichtspunktes oder einer Ansicht zeichnen. Sobald wir nämlich unsere Ansichten zu formulieren versuchen, erhalten wir in der Regel so etwas wie eine Arbeitshypothese; […] Aber wir sollten uns darüber im klaren sein, dass es keine Theorie und keine Hypothese geben kann, die nicht in diesem Sinn eine Arbeitshypothese ist und bleibt.567

Wie relevant der Fallibilismus insgesamt für Dürrenmatt ist, zeigt ein weiterer Blick in seine Gespräche. Bereits in einem Interview im Jahre 1966 fordert er, dass es wichtig ist, die „soziologischen Lehren“ wissenschaftlich zu betrachten. FD Der Marxismus brachte wichtige Erkenntnisse, die wir integrieren müssen, und setzte ebenso wichtige Irrtümer in die Welt, die zu vermeiden sind. Wir haben uns allen soziologischen Lehren gegenüber als Wissenschaftler zu verhalten. Was ist richtig, und was ist falsch, das ist entscheidend.568

Vier Jahre später wird in einem Gespräch noch deutlicher, wie relevant gemäss Dürrenmatt auch Irrtümer für das Forschen sein können. Er führt aus, dass, um „die Wirklichkeit in den Griff [zu] bekommen“569, „die falschen Wege so wichtig [sind] wie die richtigen“570, weil durch falsche Wege die richtigen gefunden werden können. Weiter bemerkt er, dass vielleicht die Irrtümer bedeutsamer sind als die Wahrheit. Häufig äussert sich Dürrenmatt auch in den 1980er-Jahren zum Fallibilismus: Er definiert in einem Gespräch 1981 die Irrtümer als „Hypothesen, die sich als falsch herausgestellt haben“571, in einem weiteren Interview desselben Jahres erläutert er, dass Urteile immer wieder bezweifelt werden müssen, da sie nie der Wahrheit entsprechen. Er bezeichnet seine Urteile als „Annäherungsversuche“ oder „Entfernungsbewegungen“572. Auch in seinem Vorwort zum Nachwort des Mitmacher-Komplexes setzt sich Dürrenmatt intensiv mit dem Fallibilismus im soziopolitischen Denken auseinander,

567 K. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 2. 1992, S. 306. 568 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 250. 569 Ebd.: S. 351. 570 Ebd.: S. 351f. 571 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 3. 1996, S. 23. 572 Ebd.: S. 80.

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indem er ihn explizit auf Ideologien bezieht. Seines Erachtens sollten Ideologien wie naturwissenschaftliche Konzeptionen als Arbeitshypothesen betrachtet werden. In einem gewissen Sinn ist über die Theorien und Hypothesen hinaus auch die Konzeption ihr (der Naturwissenschaft PK) Ziel, die Konzeption einer Kosmologie zum Beispiel, aber als Konzeption, als Entwurf, als Arbeitshypothese, nicht als >Wahrheitdramatische Denken< […]. Wenn die Mathematiker und Physiker die Natur befragen, so tun sie es immer nur auf einem Teilgebiet. Sie stellen dazu heute immer öfters Arbeitshypothesen auf […].575

Die Analogien zwischen dem Popperschen Fallibilismus und Dürrenmatts Werk sind offensichtlich. Sie reichen, im Fall des Ausdrucks „Arbeitshypothese“, von gleichen Begriffsverwendungen bis zur Dürrenmattschen Übernahme des Konzepts des Fallibilismus auf wissenschaftliche und politische Diskurse. Bemerkenswert ist, dass diese Parallelen bereits seit Beginn der 1960er-Jahre zu entdecken sind. Besonders eindrucksvoll lässt sich die politische Forderung nach einer unideologischen Staatsform, 573 F. Dürrenmatt: Der Mitmacher. 1998, S. 156f. 574 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 2. 1996, S. 221. 575 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 101f.



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welche beide durch den Fallibilismus erreichbar glauben, in folgendem Zitat Karl Poppers darstellen. Damit ermöglicht es letzten Endes, dass an unserer Stelle unsere Hypothesen sterben.576

Ziel einer derartigen Politik ist für beide, dass Menschenleben nicht für irgendwelche Ideologien geopfert werden, sondern dass durch das kritische Reflektieren von Hypothesen die politischen Theorien und Diskurse schrittweise verbessert werden.

3.3.2.3 Die Stückwerk-Sozialtechnik Karl Popper fordert in seinem Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde eine „Sozialtechnik“, die sich Schritt für Schritt für eine gerechtere Gesellschaftsordnung einsetzt und sich klar von der „utopischen Sozialtechnik“ Platons abgrenzt. Die Platonische Methode, an die ich hier denke, kann man die Methode des Planens im grossen Stil, die utopische Sozialtechnik, die utopische Technik des Umbaus der Gesellschaftsordnung oder die Technik der Ganzheitsplanung nennen; ihr steht eine andere Art von Sozialtechnik gegenüber, die ich für die einzig rationale halte, und die man von Fall zu Fall angewendete Sozialtechnik, die Sozialtechnik der Einzelprobleme, die Technik des schrittweisen Umbaus der Gesellschaftsordnung oder die Sozialtechnik der kleinen Schritte nennen könnte.577

Popper plädiert für einen Umbau der Gesellschaftsordnung, der in kleinen Etappen erfolgt, da dieser relativ überblickbar ist, im Gegensatz zu einer „utopischen Sozialtechnik“, wo eine ganz neue Gesellschaftsordnung angestrebt wird. Hier entwickelt Popper ein Argument, das für Dürrenmatts soziopolitischen Diskurs ebenfalls von grosser Bedeutung ist: die (Un-)Überblickbarkeit der modernen Welt. Dieser Aspekt der Komplexität der modernen Gesellschaftssysteme wird weiter sowohl bei Popper als auch bei Dürrenmatt unter der Verwendung gleicher Begriffe thematisiert. Beide sprechen in diesem Zusammenhang des Öfteren von Staatsmaschinerien und zunehmendem Bürokratismus. 578 Einen zentralen Vorteil der StückwerkSozialtechnik sieht Popper in der Tatsache, dass im Falle des Scheiterns einer Reform „der Schaden nicht allzu gross und eine Wiederherstellung des früheren Zustandes nicht allzu schwierig“579 ist. Daher gelten solche Entwürfe gemeinhin als weniger gewagt. Der 576 K. Popper: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. 1974, S. 271. 577 K. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 1. 1992, S. 187. 578 Vgl. U. Schlitzberger: Kritischer Rationalismus. Die philosophisch-analytische Konzeption Karl R. Poppers und ihre Wirkung in der Bundesrepublik Deutschland. 1973, S. 6. sowie F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 275f. 579 K. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 1. 1992, S. 189.

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Philosoph hofft, dass die Stückwerk-Sozialtechnik „wiederholte Experimente zu[lässt]“ und somit zu „schrittweise[n] Verbesserungen“580 führt. Sie (die Stückwerk-Sozialtechnik PK) kann vielleicht wirklich zu der glücklichen Situation führen, dass die Politiker auf ihre eigenen Fehler zu achten beginnen, statt zu versuchen, sie hinwegzuerklären oder zu beweisen, dass sie immer recht hatten. Dies – und nicht utopisches Planen oder historisches Prophetentum – würde die Einführung wissenschaftlicher Methoden in die Politik bedeuten; denn das ganze Geheimnis der wissenschaftlichen Methode liegt in der Bereitschaft, aus begangenen Fehlern zu lernen.581

Im Aufsatz Tschechoslowakei 1968 aus dem Jahr 1968 erläutert Dürrenmatt, dass „[d]er Mensch, der die Natur entmythologisierte“, „auch die Politik entmythologisieren“582 sollte. Dürrenmatt thematisiert dabei die wichtige Übertragung naturwissenschaftlicher Denkweisen auf die Politik, welche auch im oben aufgeführten Zitat Poppers ersichtlich ist. Die rationale naturwissenschaftliche Forschung soll ihren Geltungsanspruch auch in den politischen Theorien erhalten und die irrationalen mythologischen Konzepte oder Staatsutopien eliminieren. Im selben Aufsatz erläutert Dürrenmatt wenig später die Gefahren, der sich die nicht naturwissenschaftlich konzipierte Politik aussetzt. Ist dagegen die Partei mehr als eine bewusste Fiktion, mehr als eine Arbeitshypothese der Politik, ist sie eine Fiktion, an die man glaubt, statt sie als Fiktion zu erkennen, wird sie absolut, eine heilige Kirche, mythologisch.583

Auch im Essay Über Toleranz von 1977 plädiert Friedrich Dürrenmatt dafür, den Popperschen Fallibilismus auf Institutionen anzuwenden. Dadurch erhofft er sich, dass Institutionen, analog zu den Theorien der Wissenschaft, immer wieder überprüft werden, um sie so schrittweise zu verbessern. Somit wendet er den Fallibilismus auf soziale und politische Einrichtungen an, um diese gerechter und rationaler zu gestalten. Wenn aber die Wissenschaft ein grandioses Abenteuer des Geistes ist, das nicht auf die Entdeckung absolut sicherer Theorien ausgeht, sondern auf die Erfindung immer besserer Theorien, die immer strengeren Prüfungen unterworfen werden können, wie Karl Popper meint, so sollten wir dieses Abenteuer auch für unsere Institutionen entdecken und es auf sie anwenden, indem wir sie immer gerechter und vernünftiger machen, indem wir in ihnen nicht Zwangssysteme sehen, sondern Kunstwerke, die für den Menschen da sind, nicht der Mensch für sie.584

580 Ebd.: S. 194. 581 Ebd.: S. 194. 582 F. Dürrenmatt: Politik. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 37. 583 Ebd.: S. 40. 584 F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 147.



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Ziel der Übertragung dieser Lehre Poppers auf die Institutionen ist die Einführung der Vernunft. Dürrenmatt führt im selben Aufsatz weiter aus, dass es darum geht, die „politischen Systeme danach [zu] prüfen, wie vernünftig sie sind“585. Sein angestrebtes Ziel ist, aus den „mythischen“ Staatengebilden Einrichtungen zu schaffen, die schrittweise gerechter werden. Stellen wir aber unsere Politik unter die so verstandene Vernunft, unter eine Vernunft, die es wagt, die Fehler auszumerzen, die sie beging, […] verwandeln sich auch unsere Staaten aus den mythischen Gebilden, die sie immer mehr werden, in die Institutionen, die sie sein sollten, aber in immer verbesserungsfähigere, die sie nur sein können, wenn sie stets kritisierbar, überprüfbar und veränderbar sind […].586

Die Einführung der Vernunft in die Politik ist nicht nur ein Anliegen Dürrenmatts, auch Popper strebt eine möglichst rationale Politik an. Ähnlich wie Popper in seiner Stückwerk-Sozialtechnik eine schrittweise Verbesserung der Gesellschaftsordnung fordert, geht es auch Dürrenmatt darum, durch konstante Veränderungen einen demokratisierteren Staat zu erreichen. Da Dürrenmatt sich für die Sozialdemokratie einsetzt, bestehen für ihn diese schrittweisen Veränderungen darin, dass dem „>Mehr< an Staat ein >Mehr< an Demokratie entsprechen [muss]“587, wie er 1976/77 im Essay Überlegungen zum Gesetz der grossen Zahl erläutert. Dies ist insofern interessant, als Poppers Kritischer Rationalismus und damit die Forderung nach der Stückwerk-Sozialtechnik von vielen Autoren auch als eine Philosophie der Sozialdemokratie angesehen wird: so zum Beispiel 1975 im Sammelband Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie von Georg Lührs et. al.588. Diese Überlegungen finden ihren Anstoss, wie Ullich Günther in seinem Buch Sozialdemokratie und politisches Handeln darlegt, wahrscheinlich in Bryan Magees 1973 veröffentlichten Karl Popper Biographie.589 Magee zufolge ist Karl Popper, der 1902 in Wien zur Welt kommt, in seiner Jugend zuerst Marxist, sein Interesse verlagert sich zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg jedoch zu den Sozialdemokraten.590 Enttäuscht vom geringen Widerstand, welcher seine Partei vor dem Zweiten Weltkrieg den Nationalsozialisten entgegenbringt, wendet sich Karl Popper laut Magee zwar immer mehr von den Sozialdemokraten in Österreich ab. Dennoch bleibt er insgesamt zwanzig Jahre lang mit aktiven Mitgliedern der Partei in Kontakt. Diese Ausführungen Magees lassen seine These, dass Poppers Werk Die offene 585 Ebd.: S. 145. 586 Ebd.: S. 146f. 587 Ebd.: S. 121. 588 Vgl. G. Lührs et. al. (Hgg.): Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie. 1975. 589 Vgl. U. Günther: Kritischer Rationalismus, Sozialdemokratie und politisches Handeln. 1984, S. 14 sowie B. Magee: Karl Popper. 1986, S. 92. 590 Vgl. B. Magee: Karl Popper. 1986, S. 3.

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Gesellschaft und ihre Feinde als eine Antwort auf die Bedürfnisse der Sozialdemokraten betrachtet werden kann, naheliegend erscheinen.591 Sicher ist, dass die Demokratie sowohl für Dürrenmatt als auch für Popper die einzig mögliche Staatsform der Moderne darstellt. Gemäss Fred Eidlin „idealisiert [er] (Popper PK) die westliche liberale Demokratie nicht, aber er betrachtet sie – wie Winston Churchill – als die beste und gerechteste Regierungsform, die je existiert hat in einer Welt […]“592. Eine ähnliche Auffassung vertritt auch Friedrich Dürrenmatt in einem Gespräch im Jahre 1989. FD Wie Churchill sage ich, Demokratie ist die beste der schlechten Gesellschaftsordnungen, aber eine bessere Gesellschaftsordnung kann ich mir schwer vorstellen. […] Die ideologische Politik wird in den Hintergrund treten gegenüber einer Politik, die vor Zwängen steht.593

Die Ähnlichkeit der schrittweisen politischen Veränderung sowie die Forderung nach einer analog zu naturwissenschaftlichen Theorien entworfenen vernünftigen Politik sind in Poppers und Dürrenmatts Reflexionen von grosser Wichtigkeit. Auch diese Parallelen lassen sich in Dürrenmatts Werk bereits Ende der 1960er-Jahre nachweisen.

3.3.2.4 Exkurs: Die Sozialdemokratie594 im Europa des 20. Jahrhunderts Die Sozialdemokratie ist nicht nur für Dürrenmatts soziopolitischen Diskurs von zentraler Bedeutung. Auch in anderen Teilen dieser Studie wird der Begriff immer wieder aufgenommen: Karl Poppers Kritischer Rationalismus wird von den deutschen Sozialdemokraten im parteiinternen Machtkampf gegen den marxistischen Flügel genutzt und seine Reflexionen werden teilweise als eine Philosophie der Sozialdemokratie ausgelegt. Und auch Anthony Giddens, welcher dem ehemaligen britischen Premierminister Tony Blair 591 Vgl. ebd.: S. 92f. Es muss jedoch bedacht werden, dass Magee, wie er offen zugibt, selbst Mitglied der Sozialdemokratischen Partei ist und sich in dieser Frage als „befangen“ erklärt. 592 F. Eidlin: Popper und die demokratische Theorie. In: K. Salamun (Hg.): Moral und Politik aus der Sicht des kritischen Rationalismus. 1991, S. 209. 593 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 4. 1996, S. 62f. 594 Thomas Meyer erläutert in seinem Buch Demokratischer Sozialismus – Soziale Demokratie dass „[i]n der Geschichte des Demokratischen Sozialismus von Anbeginn drei Namen gleichwertig für die Sache benutzt [wurden]: Sozialdemokratie, Demokratischer Sozialismus, Soziale Demokratie.“ T. Meyer: Demokratischer Sozialismus – Soziale Demokratie. 1991, S. 125. Im Handbuch Politikwissenschaft wird unter dem Begriff demokratischer Sozialismus insbesondere dessen „internationale Bewegung“ hervorgehoben. A. Görlitz, R. Prätorius (Hgg.): Handbuch Politikwissenschaft. 1987, S. 498. Die Begriffe Sozialdemokratie, Demokratischer Sozialismus und Soziale Demokratie werden auch in dieser Arbeit als Synonyme verstanden, es wird jedoch, in Anlehnung an Dürrenmatts soziopolitische Reflexionen, der Begriff Sozialdemokratie bevorzugt.



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und New Labour beratend zur Seite gestanden hat, beschäftigt sich mit der Sozialdemokratie. Aus diesen Gründen ist es notwendig, in einem kurzen historischen Abriss auf die Sozialdemokratie und auf unterschiedliche Entwicklungen innerhalb der Sozialdemokraten in Europa einzugehen. Dies ermöglicht es, Dürrenmatts Sozialdemokratie-Diskurs zu positionieren und ihn durch die Rekontextualisierung wieder mit kultureller Energie aufzuladen. Dürrenmatts Tilgung der Rede über den ehemaligen SPD Politiker Oskar Lafontaine aus seinem Werk soll dabei ebenfalls kurz betrachtet werden.595 Im späten 19. Jahrhundert beginnt sich Eduard Bernstein mit einigen Gesinnungsgenossen immer mehr gegen die Marxistische Theorie in der deutschen SPD zu wenden. Sheri Berman zufolge setzen sie sich für einen Prämissenwechsel in der Partei ein. Social democracy’s foundations were laid in the late nineteenth century when Eduard Bernstein and other democratic revisionists began attacking the main pillars of orthodox Marxism, historical materialism, and class struggle, and arguing for an alternative based on new principles, the primacy of politics, and cross-class cooperation.596

In diesen ersten revisionistischen Positionen um Eduard Bernstein sieht Berman die Geburtsstunde der Sozialdemokraten. Sie fordern insbesondere ein klassenübergreifend ausgerichtetes politisches Programm und eine starke Politik, die die Ökonomie beschränken kann. Doch erst die immensen strukturellen und politischen Veränderungen, welche durch den Ersten Weltkrieg entstehen, ermöglichen es Berman zufolge, dass sich die revisionistischen sozialdemokratischen Positionen gegen die marxistischen durchsetzen können.597 In der Zwischenkriegszeit wird von den Sozialdemokraten ein „Dritter Weg“598 gesucht, der sich zwischen den Extrempositionen des Laissez-faire-Liberalismus und des 595 Vgl. L. Tantow: Friedrich Dürrenmatt: Moralist und Komödiant. 1992, S. 246ff. 596 S. Berman: The Primacy of Politics. Social Democracy and the Making of Europe’s Twentieth Century. 2006, S. 200. Vgl. auch U. Günther: Kritischer Rationalismus, Sozialdemokratie und politisches Handeln. 1984, S. 19. 597 Vgl. S. Berman: The Primacy of Politics. Social Democracy and the Making of Europe’s Twentieth Century. 2006, S. 203. 598 Das Konzept des „Dritten Weges“ wird in verschiedensten historischen Phasen und von unterschiedlichsten Parteien genutzt. Wie Graf erläutert, wird es nach dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise verwendet, um die Entwicklungen in der Tschechoslowakei während des Prager Frühlings zu beschreiben. Vgl. E. Graf: Auf der Suche nach dem ,dritten Weg‘. Friedrich Dürrenmatt im politischen Raum. 2010, S. 83 und S. 98f. Und auch Anthony Giddens braucht den Begriff in seinem Buch The Third Way, The Renewal of Social Democracy. Vgl. A. Giddens: Der dritte Weg: die Erneuerung der sozialen Demokratie. 1999. Da Dürrenmatt selbst den Begriff „Dritter Weg“ nie verwendet, wird hier der Fokus im Weiteren auf die Sozialdemokratie gerichtet. Die Analyse der Analogien und Differenzen

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Kommunismus bewegt und in dem die Politik kontrollierend über den Kapitalismus wachen soll. Ähnliche Forderungen nach einem „Dritten Weg“ werden in jener Zeit Berman zufolge aber auch von Seiten der Faschisten und Nationalsozialisten laut: During the interwar period, social democrats, fascists, and national socialists championed a “third way” in economics that avoided the extremes of free-market liberalism and communism, insisting that the state could and should control capitalism without destroying it.599

Der grosse Unterschied zwischen den Sozialdemokraten einerseits und den Faschisten sowie den Nationalsozialisten andererseits zeigt sich Berman zufolge in der Umsetzung dieser Ziele: Die Sozialdemokraten, wie bereits der Name erkennen lässt, gehen davon aus, dass ihre Ziele nur in einer demokratischen Staatsform erreicht werden können. Sie setzen auf Solidarität zwischen den Menschen und einen Staat, der diese unterstützen soll.600 Die Nationalsozialisten hingegen versuchen ihren „Dritten Weg“, wie Berman ausführt, über die Zerstörung der demokratischen Weimarer Republik und die Einsetzung einer Diktatur zu erreichen.601 Zudem interpretieren sie den Solidaritätsbegriff in unterschiedlicher Weise: National Socialists in Germany translated it into a biological and exclusionary view of national identity, as well as policies that aimed at eliminating a host of internal and external enemies.602

Nach dem Zweiten Weltkrieg ereignet sich Berman zufolge nun ein bedeutender Bruch mit den politischen Systemen der Zwischenkriegszeit: Nicht irgendeine modifizierte Form des Liberalismus sondern die Sozialdemokratische Bewegung übernimmt in vielen westeuropäischen Ländern die Herrschaft.603 Auch in Deutschland findet dieser Machtwechsel statt: Doch die Sozialdemokraten haben sich laut Berman, wie auch in anderen Ländern Westeuropas, beispielsweise in Frankreich und Italien, wieder mit innerparteilichen Flügelkämpfen auseinanderzusetzen.604 In Deutschland zeigt sich erst mit dem SPD Parteiprogramm von Bad Godesberg im Jahr 1959, dass sich die moderateren Kräfte gegen den radikalen marxistischen Flügel durchzusetzen vermögen:605 zwischen den verschiedenen Konzepten des „Dritten Weges“ in Bezug zu Dürrenmatts Forderung der Sozialdemokratie könnte jedoch Gegenstand weiterer Forschung sein. 599 S. Berman: The Primacy of Politics. Social Democracy and the Making of Europe’s Twentieth Century. 2006, S. 126. 600 Vgl. ebd.: S. 126 und S. 206. 601 Vgl. ebd.: S. 126. 602 Ebd.: S. 206. 603 Vgl. ebd.: S. 179. 604 Vgl. S. Berman: The Primacy of Politics. Social Democracy and the Making of Europe’s Twentieth Century. 2006, S. 188f. sowie S. 192f. Vgl. U. Günther: Kritischer Rationalismus, Sozialdemokratie und politisches Handeln. 1984, S. 11. 605 Vgl. A. Gebauer: Der Richtungsstreit in der SPD. 2005, S. 14.



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The ultimate outcome was a full reconsideration of the SPD’s course in German politics, the famed Bad Godesberg program. Essentially, it committed the SPD to the two main pillars of a modern social democratic program – a people’s party strategy and a commitment to reform capitalism rather than destroy it.606

Dieser Beschluss der deutschen Sozialdemokraten in Bad Godesberg, „dem Kapitalismus beizutreten“607, wird von Michel Albert in seinem Buch Kapitalismus contra Kapitalismus als Ursprung des „rheinische[n] Modell[s] des Kapitalismus“608 bezeichnet. Er ordnet dieses rheinische Modell den Ländern Deutschland, Schweiz, Österreich, den Niederlanden, teilweise auch den skandinavischen Ländern sowie, von einigen kulturell bedingten Unterschieden abgesehen, auch Japan zu und grenzt es vom neo-amerikanischen Kapitalismusmodell ab.609 Hier ist eine genauere Betrachtung der politischen Situation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aus zweierlei Gründen notwendig: Erstens kann dadurch der historische Kontext, in welchem Dürrenmatt intensiv an seinem soziopolitischen Diskurs und den Gedanken zur Sozialdemokratie arbeitet, beleuchtet werden. Zweitens kann die Relevanz von Karl Poppers Kritischem Rationalismus für Dürrenmatts Sozialdemokratie-Reflexionen erläutert werden. Udo Schlitzberger führt in seinem Buch Kritischer Rationalismus. Die philosophischanalytische Konzeption Karl R. Poppers und ihre Wirkung in der Bundesrepublik Deutschland aus, dass verschiedenste610 politische Parteien auf den Kritischen Rationalismus von Karl Popper zugreifen, so beispielsweise die deutschen Sozialdemokraten. Er geht davon aus, dass sich der Einfluss von Poppers Kritischem Rationalismus auf die SPD mindestens seit dem Dortmunder Parteitag von 1966 nachweisen lässt.611 Auch Ullich Günther betont, dass sich die SPD in jenen Jahren mit dem Popperschen Gedankengut auseinandersetzt. Er geht davon aus, dass der Kritische Rationalismus in der Partei insbeson606 S. Berman: The Primacy of Politics. Social Democracy and the Making of Europe’s Twentieth Century. 2006, S. 190. 607 M. Albert: Kapitalismus contra Kapitalismus. 1992, S. 25. 608 Ebd.: S. 25. 609 Vgl. ebd.: S. 24f. 610 Aber auch die FDP beschäftigte sich mit der Philosophie Poppers, wenn auch erst gegen Ende der 1960er-Jahre. In der FDP stützte sich vor allem ein Vertreter, Ralf Dahrendorf, auf dieses Gedankengut. „Das von Dahrendorf in Freiburg 1968 aufgezeigte Modell einer offenen Gesellschaft, das sich eindeutig auf gesellschaftspolitische Vorstellungen Poppers zurückführen lässt, wurde zur programmatischen Grundlage der FDP-Wahlplattform von 1969.“ Bereits Dahrendorfs Verwendung des Begriffs „offene Gesellschaft“ lässt an Poppers Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde denken. Da sich Friedrich Dürrenmatt ebenfalls in den 1960er- und 1970er-Jahren intensiv mit seinem politischen Diskurs beschäftigt, wie Essays und Gespräche aus jenen Jahren belegen, ist die Vermutung naheliegend, dass er diese Entwicklung in Deutschland mitverfolgt haben könnte. U. Schlitzberger: Kritischer Rationalismus. Die philosophisch-analytische Konzeption Karl R. Poppers und ihre Wirkung in der Bundesrepublik Deutschland. 1973, S. 159ff. 611 Vgl. ebd.: S. 167.

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dere dafür eingesetzt wird, dass sich der gemässigte Parteiflügel vom radikalen linken Marxismus-Flügel, der trotz dem Bad Godesberg Parteiprogramm stark blieb, distanzieren kann. Meine These lautet: Der KR (speziell Popper und Albert) wurde in der innerparteilichen Theorieauseinandersetzung als Argumentationshilfe oder -arsenal des nichtmarxistischen Parteiflügels gegen den marxistischen eingesetzt.612

Diese These von Günther ist insofern bedeutsam, als sie im Folgenden hilft, Dürrenmatts Sozialdemokratie-Begriff und seine Abgrenzung vom dogmatisch verstandenen Marxismus zu durchschauen. Friedrich Dürrenmatt, der versucht, sein naturwissenschaftliches Interesse auch in seine Forderung nach der Sozialdemokratie einfliessen zu lassen, gibt im Aufsatz Der schwierige Nachbar oder Exkurs über Demokratie (1974) zuerst auf naturwissenschaftliche Weise einen Überblick über die aktuelle soziopolitische Situation. [D]er Gegensatz zum Sozialismus ist der Kapitalismus, und den mit dem Faschismus gleichzusetzen oder, umgekehrt, den Sozialismus mit der Diktatur, sind unredliche Taschenspielerkunststücke. Die Demokratie lässt sich komödiantischerweise am besten mathematisch bestimmen. Durch ein Koordinatensystem.613

In diesem Zitat zeigt Dürrenmatt auf, wie wenig er von vereinfachenden Gleichsetzungen hält. Diese Haltung betont er auch im Aufsatz Zwei Reden eines Nicht-Penners an die Penner im Jahre 1975 explizit: Nichts gegen die geistige Auseinandersetzung, alles gegen einen faulen Frieden. Aber vor allem alles gegen die für jeden denkenden Menschen beleidigende Einteilung in links und rechts, in marxistisch und faschistisch, in progressiv und reaktionär, in diese dem Fortschritt des Geistes hohnsprechenden mittelalterlichen Kategorien des Entweder-Oder.614

Ein Jahr später greift er diese simplifizierenden Einteilungen nochmals in einem Gespräch auf und erläutert, aus welchem Grund er versucht, naturwissenschaftliche Denkmuster in seine soziopolitischen Reflexionen einzuführen. 612 U. Günther: Kritischer Rationalismus, Sozialdemokratie und politisches Handeln. 1984, S. 11. 613 F. Dürrenmatt: Politik. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 132. Dies sieht wie ein Widerspruch zu Dürrenmatts Erläuterungen im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht aus, erörtert der Erzähler dabei doch, dass der Faschismus aus dem Kapitalismus, dem Wolfsspiel entsteht. Dürrenmatt betrachtet jedoch in jenem Essay nicht eine einfache Gleichsetzung: Er analysiert die Zusammenhänge von insgesamt drei Dimensionen, neben Politik und Wirtschaft kommt noch eine zusätzliche, die emotionale Dimension hinzu. Somit kann nicht von einer einfachen Gleichsetzung gesprochen werden. 614 Ebd.: S. 139.



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FD Diese idiotische Einteilung in >links< und >rechtslinks< und >rechtsprogressive< Grundtendenzen und zwei >reaktionäre< Grundgefahren gibt“618. Zu den >progressiven< Grundtendenzen zählt er einerseits Länder wie die Schweiz und die Bundesrepublik, welche versuchen, um die politische Achse der Demokratie herum einen Staat zu bilden. In diesem Fall tritt der „Sozialismus als Korrektiv des Kapitalismus“619 auf. Andererseits gehören zu den >progressiven Grundtendenzen< auch diejenigen Länder, welche versuchen, um die ökonomische Achse des Sozialismus einen Staat zu bilden. Hierbei tritt „die Demokratie als Korrektiv der Diktatur (des Proletariats)“620 auf. Welche dieser zwei Grundtendenzen die richtigere sei, ist eine Frage der menschlichen Konzeption, der Empiriker wird der ersten, der politisch Gläubige der zweiten zuneigen […].621

615 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 2. 1996, S. 180. 616 F. Dürrenmatt: Politik. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 132. 617 Ebd.: S. 132f. 618 Ebd.: S. 133. 619 Ebd.: S. 133. 620 Ebd.: S. 133. 621 Ebd.: S. 133.

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Dürrenmatts Betonung der Wichtigkeit demokratischer Strukturen kann gleichzeitig als Distanzierung vom radikalen, dogmatisch verstandenen Marxismus aufgefasst werden. Als Hauptgefahren hingegen definiert Dürrenmatt „jene antiquierten Unternehmen“622, die als Achse ihres Staates entweder die Diktatur oder aber den Kapitalismus sehen würden. Den Weg, den Dürrenmatt im Folgenden ausarbeiten und vertiefen wird, ist bereits vorgezeichnet: Der Schriftsteller wählt, seinen naturwissenschaftlichen Prinzipien folgend, den Weg der Empiriker: Er will um die Achse der Demokratie einen Staat entwerfen, bei dem der Sozialismus das korrigierende Element des Kapitalismus ausmacht, bei dem das Primat der Gerechtigkeit aber über der Freiheit steht. Dabei müssen im Zusammenhang mit Dürrenmatts Forderung der Sozialdemokratie seine Analysen über den Marxismus, welche Dürrenmatt beispielsweise im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht ausgeführt, nochmals vertieft werden. Dürrenmatt geht davon aus, dass der Grundirrtum von Marx in der Annahme liegt, die Freiheit werde sich von selbst entwickeln, sobald die Gerechtigkeit eingerichtet sei. Er fordert daher, dass der Marxismus zwar ernst genommen wird, dass er aber durch ein neues kritisches Durchdenken und Weiterentwickeln, analog zum Kritischen Rationalismus Karl Poppers, überwunden werden muss.623 Dürrenmatt zufolge ist nun die Sozialdemokratie, welche einerseits für demokratische Bedingungen sorgt und andererseits das Primat der Gerechtigkeit über jenes der Freiheit stellt, die einzig mögliche Staatsform der Moderne.624 Er sieht dabei in einer ständigen Demokratisierung des Staates die einzige politische Aufgabe, die uns noch bleibt.625 In seinen soziopolitischen Reflexionen wendet sich Dürrenmatt somit deutlich gegen einen radikalen, dogmatisch verstandenen Marxismus.626 Interessant ist dabei, dass mit den Werten Freiheit und Gerechtigkeit627 sowie der Forderung nach Demokratisierung Schlagwörter der innerparteilichen SPD-Debatte628 Eingang in Dürrenmatts soziopolitische Reflexionen finden. Insbesondere seine Demokratisierungsforderungen grenzen Dürrenmatt dabei vom radikalen linken Parteiflügel629 ab. Die Analogien zwischen den gemässigten Sozialdemokraten, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit Poppers Kritischem Rationalismus argumentieren, und Dürrenmatts Verständnis der Sozialdemokratie sind 622 Ebd.: S. 133. 623 Vgl. F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 101, S. 114. 624 Vgl. ebd.: S. 118ff. 625 Vgl. ebd.: S. 121. 626 Vgl. ebd.: S. 114. 627 Die SPD nennt im Godesberger Grundsatzprogramm 1959 ausdrücklich die Werte Freiheit, Gerechtigkeit sowie Solidarität als Grundwerte der Partei. Gemäss Helmut Schmidt führt die CDU erst im Jahr 1976, und somit 17 Jahre nach der SPD, in ihrem allerersten Grundsatzprogramm dieselben Werte auf. Vgl. H. Schmidt: Vorwort. In: M. Schlei, J. Wagner: Freiheit – Gerechtigkeit – Solidarität. Grundwerte und praktische Politik. 1976, S. VII und S. XI. 628 Vgl. A. Gebauer: Der Richtungsstreit in der SPD. 2005, S. 56ff. 629 Vgl. ebd.: S. 59ff.



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offensichtlich. In den soziopolitischen Reflexionen Dürrenmatts bleibt jedoch unbeantwortet, wie diese theoretischen Vorschläge in die Praxis umgesetzt werden könnten, welche Personen oder Institutionen im politischen System für die Demokratisierung zuständig wären. Weiter bleibt schwer fassbar, wie sich das Konzept der Emotionalität, das, wie Dürrenmatt im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht ausarbeitet, jeder Politik innewohnt, mit der Umsetzung der Sozialdemokratie vereinbaren lässt. Die in der deutschen SPD nach dem Zweiten Weltkrieg auftretenden innerparteilichen Flügelkämpfe, welche sich auch in Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs zeigen, lassen sich auch in anderen europäischen Ländern feststellen: Die parteiinternen Machtkämpfe der Sozialdemokraten zwischen marxistischem und nichtmarxistischem Flügel dauern in Italien und Frankreich indes noch länger an als in Deutschland. Berman zufolge wandelt sich die Partei in Italien erst in den 1970er-Jahren unter Bettino Craxi in eine moderate sozialdemokratische Partei.630 In Frankreich zeigen sich diese parteiinternen Kämpfe bis in die 1980er-Jahre als ebenso schwierig.631 In Deutschland brechen die internen SPD-Probleme nach 1982 erneut aus, als im Zuge des Verlustes der Regierungsbeteiligung der linke Parteiflügel gegenüber dem gemässigten Godesberger Flügel zulegt.632 In den Jahren 1983 bis 1989 vollzog sich der programmatische Rückzug von der Regierungslinie, ohne dass der Godesberger Flügel noch nennenswerten Widerstand dagegen hätte leisten können.633

Auf Seiten des linken Parteiflügels ist es auch Oskar Lafontaine, der sich vermehrt in Szene setzen kann: Gebauer führt in diesem Zusammenhang den Begriff der „‚Lafontainisierung‘“634 ein. In der Folge werden insbesondere der NATO-Doppelbeschluss und die Wiedervereinigung Deutschlands zu zentralen Streitpunkten in der Partei.635 Erst im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands verlieren die parteiinternen Kämpfe an Bedeutung.636 Zugleich kommt eine neue, junge Generation um Schröder, Lafontaine und Scharping bei der SPD an die Macht.637 Lafontaine übernimmt 1995 die Parteiführung,638 Schröder wird 1998 zum sozialdemokratischen Kanzler.639 Doch auch zwischen Schröder und Lafontaine, der unter Schröder Finanzminister wird, kommt es zu parteiinternen 630 Vgl. S. Berman: The Primacy of Politics. Social Democracy and the Making of Europe’s Twentieth Century. 2006, S. 192f. 631 Vgl. ebd.: S. 193ff. 632 Vgl. A. Gebauer: Der Richtungsstreit in der SPD. 2005, S. 210. 633 Ebd.: S. 219. 634 Ebd.: S. 221. 635 Vgl. ebd.: S. 232 sowie S. 241ff. 636 Vgl. ebd.: S. 246. 637 Vgl. H. J. Hennecke: Die dritte Republik. Aufbruch und Ernüchterung. 2003, S. 29. 638 Vgl. ebd.: S. 30. 639 Vgl. ebd.: S. 44ff.

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Problemen:640 Schröder fühlt sich eher zum Programm der New Labour von Tony Blair hingezogen,641 Lafontaine steht politisch bedeutend weiter links. Zwar versucht Lafontaine in den 1980er-Jahren noch teilweise einen Weg mit der Parteimitte zu gehen.642 Doch danach wendet er sich stärker dem linken Parteiflügel zu. Nach zähem Ringen reicht Lafontaine 1999 bereits seinen Rücktritt aus der Regierung Schröder ein.643 Lafontaine tritt 2005 aus der SPD aus, um in der neuen Partei Die Linke mitzuwirken.644 Als Dürrenmatt 1990 seine letzten drei grossen politischen Reden über Lafontaine, Havel und Gorbatschow zu einem Essayband zusammenstellen will, führt ein Interview, welches Dürrenmatts zweite Ehefrau Charlotte Kerr mit Oskar Lafontaine führt und veröffentlicht, zu einem Eklat und veranlasst Dürrenmatt, die Rede über den Deutschen Politiker auf Kerrs Wunsch zu tilgen. Diese Entfernung hat jedoch, wie Tantow aufzeigt, vorwiegend persönliche Gründe und nicht politische.645 Auch in Grossbritannien sind ähnliche Entwicklungen feststellbar. Der britische Soziologe Anthony Giddens beschäftigt sich in seinem im Jahre 1998 veröffentlichten Buch The Third Way, The Renewal of Social Democracy, wie der Titel besagt, mit der Sozialdemokratie. Giddens’ Werke sind für den ehemaligen britischen Premierminister Tony Blair und die New Labour Party von grosser Relevanz, wie er selbst, beispielsweise in einem Interview mit Die Zeit, im Jahr 1997 erörtert.646 Giddens wird im Interview auch mit den Vorwürfen der Parteilinken an New Labour und Tony Blair, sie hätten „sich den Konservativen bis zur Ununterscheidbarkeit angepasst“647, konfrontiert. Auch Berman kritisiert in ähnlicher Weise am sogenannten „Dritten Weg“ von New Labour und Anthony Giddens, dass der Titel zwar eine Kontinuität mit der traditionellen Sozialdemokratischen Politik impliziere, jedoch nicht mehr das Primat der Politik über die ökonomischen Kräfte, welche eine der zentralen Prämissen sozialdemokratischen Denkens ist, fordere.648 Damit wird auch auf die Umwandlung von Old Labour, einer mehr linksgerichteten Sozialdemokratischen Partei, in New Labour, welche in den 1990er-Jahren geschieht, hingewiesen.649 Giddens selbst wehrt sich gegen die Vorwürfe, indem er ausführt, dass in einer globalisierten Welt, die eine andere Lebensführung bewirkt, neue politische Ausrichtungen 640 Vgl. ebd.: S. 55 und S. 95ff. 641 Vgl. ebd.: S. 41 und S. 121. 642 Vgl. A. Gebauer: Der Richtungsstreit in der SPD. 2005, S. 226. 643 Vgl. H. J. Hennecke: Die dritte Republik. Aufbruch und Ernüchterung. 2003, S. 96ff. 644 Vgl. O. Niedermayer: Der Wahlkampf zur Bundestagswahl 2005: Parteistrategien und Kampagnenverlauf. In: F. Brettschneider et. al. (Hgg.): Die Bundestagswahl 2005. 2007, S. 35ff. 645 Vgl. L. Tantow: Friedrich Dürrenmatt: Moralist und Komödiant. 1992, S. 248f. 646 Vgl. URL: http://www.zeit.de/1997/17/giddens.txt.19970418.xml. 647 Vgl. ebd. 648 Vgl. S. Berman: The Primacy of Politics. Social Democracy and the Making of Europe’s Twentieth Century. 2006, S. 211. 649 Vgl. H. Kastendiek: Arbeitsbeziehung und gewerkschaftliche Interessensvertretung. In: H. Kastendiek et. al. (Hgg.): Grossbritannien. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. 1999, S. 349f.



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von Nöten sind und der Rückgriff auf den keynesianistischen650 Sozialismus nicht mehr möglich ist. Der im Herbst 2010 mit der Wahl von Ed Miliband zum neuen LabourChef nun erneut vollzogene Richtungswechsel zu einer „deutlich linkere[n] Politik“651 zeigt, wie schwierig die Positionierung den Sozialdemokraten in Grossbritannien auch heute noch fällt. Es ist wichtig, diese verschiedenen historischen Konzepte von Sozialdemokratie und ihre Entwicklungen zu kennen. Interessant ist dabei, dass trotz der zeitlichen Unterschiede sowohl für Dürrenmatts soziopolitisches Denken als auch für Giddens’ soziologisches Werk die Sozialdemokratie sowie der Fokus auf das System und das Handeln der Einzelnen in solchen Systemen von grosser Bedeutung sind. Es gilt weiter zu berücksichtigen, dass Poppers Kritischer Rationalismus für die Sozialdemokraten in Deutschland als Argumentationshilfe gegen den dogmatischen Marxismus verwendet wurde. Darin ist ebenfalls eine Nähe zu Dürrenmatts Denken festzustellen. Zudem soll abschliessend darauf hingewiesen werden, dass Giddens selbst in den Jahren 1997 bis 2003 Direktor der London School of Economics war. Auch Karl Popper hat früher viele Jahre an dieser Schule gelehrt und dort das Department Philosophy, Logic and Scientific Method gegründet.652 Dies zeigt, trotz verschiedenster Unterschiede, wie eng auf mehreren Ebenen die Verbindungen und die Interessen dieser drei Denker sind.

3.3.2.5 Politik und Emotionalität Die Analogien zwischen Poppers und Dürrenmatts politischen Reflexionen gehen aber noch weiter: Im zweiten Band von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde geht Popper im Kapitel Die orakelnde Philosophie und der Aufstand gegen die Vernunft, auf den Irrationalismus ein. Er erläutert, dass der Irrationalismus Gefühlen eine höhere Priorität einräumt als der Vernunft, dass die Gefühle somit die wichtigste Triebfeder der menschlichen Handlungen sind.653 Im Gegensatz dazu fordert der Rationalismus die Anwendung des Verstandes. Popper selbst, der wie Dürrenmatt für Vernunft plädiert, möchte dem Irrationalismus einen möglichst kleinen Platz einräumen.

650 Der Keynesianismus ist eine wirtschaftswissenschaftliche Theorie, welche für die Sozialdemokraten Berman zufolge insofern wichtig wurde, als sie ähnliche Prämissen verfolgt: „Keynesianism’s significance lay in its rejection of the view that markets operated best when left to themselves and its call instead for substantial state intervention in economic affair.” S. Berman: The Primacy of Politics. Social Democracy and the Making of Europe’s Twentieth Century. 2006, S. 180. 651 URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,719633,00.html. 652 Vgl. A. Giddens: Der dritte Weg: die Erneuerung der sozialen Demokratie. 1999. URL: http://www.lse.ac.uk/collections/philosophyLogicAndScientificMethod/. URL: http://www.lse.ac.uk/Depts/global/stafflordgiddens.htm. 653 Vgl. K. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 2. 1992, S. 273.

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Es ist meine feste Überzeugung, dass dieses irrationale Hervorheben von Gefühlen und Leidenschaften schliesslich zu etwas führen muss, das man nur als ein Verbrechen bezeichnen kann.654

Popper verbindet mit dem Rationalismus „eine Tendenz zur Unparteilichkeit“655, die er erstrebenswert findet. Im Irrationalismus hingegen, der eng mit Gefühlen und Leidenschaften verknüpft ist, teilt das Individuum gemäss Popper die Menschen ein in Personen, die uns nahe stehen und solche, die uns fern stehen: Unsere ‚natürliche‘ Reaktion wird darin bestehen, dass wir die Menschheit in Freund und Feind teilen; in jene Menschen, die unserem Stamme, unserer emotionalen Gemeinschaft angehören, und in jene Menschen, die ausserhalb dieser Gemeinschaft stehen;656

Problematisch erscheint Popper, dass der Mensch, sobald die irrationalistischen Einstellungen dominieren, beginnt, mit dem „Blute [zu] denken“657 oder dem „nationalen Gut“658 oder der „Klasse“659. Durch die Abschaffung der Vernunft geschieht gemäss Popper eine gefährliche Unterteilung der Menschen in Freund und Feind. Diese Einstellung ist insbesondere auf der politischen Ebene riskant, da durch sie die Idee der Gleichberechtigung untergraben wird und somit eine Rechtfertigung für Ungleichheit geliefert wird. Die Ausführungen im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht erinnern an diese Popperschen Erläuterungen: Nachdem zuerst die wirtschaftlichen Gesellschaftsordnungen Kapitalismus und Sozialismus durchgespielt werden, wendet sich der Erzähler der Ausarbeitung zweier emotionaler gesellschaftlicher Ordnungen zu: dem Faschismus und dem Marxismus. Er führt aus, dass im Faschismus der Einzelne dazu tendiert, seinen „existentiellen, besondern Begriff“660 auszudehnen, indem er „sein Ich zu einem Wir“661 erweitert, „mit dem er sich identifiziert“662, während er den Rest zu den Andern einteilt, „mit denen er sich nicht identifiziert“663. Dabei ist es möglich, dass er die Andern, „wenn er sie hasst, in den Feind zu verwandeln“664 vermag. Somit werden nun gemäss dem Erzähler „emotionale Realitäten“665 aufgestellt: Es entsteht ein Wir, zu dem die Frau, die 654 Ebd.: S. 274. 655 Ebd.: S. 275. 656 Ebd.: S. 275. 657 Ebd.: S. 276. 658 Ebd.: S. 276. 659 Ebd.: S. 276. 660 F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 66. 661 Ebd.: S. 67. 662 Ebd.: S. 67. 663 Ebd.: S. 67. 664 Ebd.: S. 67. 665 Ebd.: S. 67.



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Familie, die Freunde gehören, welche von den Andern, dem fremden Stamm, dem fremden Volk abgegrenzt werden. Dies kann gefährliche Folgen für die Politik haben, sind doch für eine emotionale Politik Ideologien von grosser Bedeutung. Diese Vermutung einmal angenommen, setzt die Politik die Ideologie dafür ein, dass sie mit ihrer Hilfe die gesellschaftlichen Institutionen, denen eigentlich nur verwaltungstechnische und schiedsrichterliche Funktionen zukämen, in emotionale Realitäten verwandelt, mit denen sich der Einzelne zu identifizieren vermag.666

Dürrenmatt folgert in seiner Analyse dieser erzählerischen Passagen, dass „jeder Faschismus mit einer Blut-und-Boden-Literatur verbunden“667 ist. Der Faschismus ist Emotion pur und kann daher in Verbindung mit einer rein emotionalen Politik sehr zerstörerisch, gar suizidal sein.668 Dennoch scheint es auch einen zu beachtenden Unterschied zu geben: Während Popper versucht, in seinem Vernunft basierten kritischen Denken den Irrationalismus und die Emotionalität aus der Politik zu verbannen, geht Dürrenmatt davon aus, dass Politik nie ohne Emotionen abläuft, dass Politik nie rein wissenschaftlich betrachtet werden kann. Diese emotionale Komponente, welche Dürrenmatt zufolge im Individuellen verankert ist, versucht er in seinem soziopolitischen Diskurs immer wieder in Rechnung zu stellen, wie das explizite Durchspielen emotionaler Gesellschaftsordnungen im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht zeigt. Damit sind, trotz der aufgeführten Differenz, auch in diesem Kapitel bereits in den 1960erJahren weitere Parallelen zwischen dem Popperschen und dem Dürrenmattschen Denken festzustellen. Bereits die Einteilung in Freund und Feind und deren Erweiterung in einen eigenen und einen fremden Stamm finden sich sowohl in Poppers als auch in Dürrenmatts Werk. Interessant ist zudem, dass in diesem Zusammenhang das Konzept Emotionalität eingeführt wird: Popper schreibt über die emotionale Gemeinschaft, Dürrenmatt über emotionale Gesellschaftsordnungen. Eine weitere Ähnlichkeit findet sich in der Tatsache, dass sowohl Popper als auch Dürrenmatt dabei vom Faschismus sprechen. Popper verwendet als Entsprechung für den Faschismus das Denken in nationalen Schemata, bei Dürrenmatt erfolgt die Gleichsetzung explizit. Dürrenmatt versucht im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht zudem weiter, das Konzept der Emotionalität auch im Marxismus nachzuweisen, Popper spricht auf ähnliche Weise über das irrationale Denken in Klassen. Beide plädieren jedoch für eine vernünftige Politik, welche (möglichst) frei von irrationalen emotionalen Komponenten ist.

666 Ebd.: S. 67. 667 Ebd.: S. 81. 668 Vgl. ebd.: S. 81.

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3.3.2.6 Negativer Utilitarismus – Glück Dürrenmatt erläutert in seinem soziopolitischen Diskurs, dass das Konzept Glück nicht Sache der Politik ist. Eine erste Textstelle zu dieser Thematik findet sich in seiner frühen Prosa Aus den Papieren eines Wärters aus dem Jahr 1952669, in der ein Beamter über die Aufgaben der Politik spricht. »Was der Mensch mehr als Brot und Gerechtigkeit braucht, kann ihm keine Politik und keine Organisation geben«, fuhr er wieder sachlich fort. »Die Politik gibt dem Menschen, was sie vermag, und sie vermag wenig mehr als nichts, nur das Selbstverständliche, dann lässt sie ihn fallen. Sein Glück ist nicht Sache der Politik.«670

Philipp Burkard weist in seinem Werk Dürrenmatts „Stoffe“ darauf hin, dass die Passagen, welche Dürrenmatt bei der Ausgestaltung von Der Winterkrieg in Tibet im Mai 1978 über die Verwaltung schreibt, aus der Erzählung Aus den Papieren eines Wärters stammen. Er gibt dabei einen Teil des oben stehenden Zitats wieder. Interessant ist aber, dass Dürrenmatt nicht erst bei der Ausgestaltung von Der Winterkrieg in Tibet wieder auf diese Passagen der frühen Prosa zu sprechen kommt, sondern bereits in einem Gespräch im Jahr 1977.671 Die unmögliche Verbindung von Politik, Staat und Glück scheint für ihn eine bedeutende Reflexion zu sein, worauf auch die Tatsache hinweist, dass Dürrenmatt diese im Essay Nachgedanken von 1980 erneut thematisiert.672 Solche Gedanken zum Thema Glück und Politik finden sich auch bei Karl Popper, der in der deutschen Ausgabe von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde in den Jahren 1957/58 (englische Ausgabe 1945) schreibt, dass die Politik nicht für das Glück der Menschen verantwortlich ist. Aus diesem Grunde würde ich vorschlagen, die utilitaristische Formel ‚vermehre die Glückseligkeit‘, so sehr du nur kannst’ (‚maximize happiness’) durch die Formel ‚vermindere das Leiden, sosehr du nur kannst’ (‚minimize suffering’) zu ersetzen. Ich halte es für möglich, dass eine so einfache Formel zu einem der Grundprinzipien […] der öffentlichen Politik gemacht werden kann.673

Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Textstellen sind offensichtlich. Beide verneinen, dass das Glück durch die Politik hergestellt werden kann und wehren sich damit gegen überzogene Forderungen an die Politik. Die Politik vermag Dürrenmatt zufolge wenig mehr als „das Selbstverständliche“, Popper plädiert dafür, im politischen Bereich anstelle 669 Die Manuskripte zur Erzählung Aus den Papieren eines Wärters finden sich im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern und stammen aus dem Jahr 1951. 670 F. Dürrenmatt: Aus den Papieren eines Wärters. 1998, S. 177. 671 Vgl. F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 2. 1996, S. 218. 672 Vgl. F. Dürrenmatt: Zusammenhänge. Nachgedanken. 1998, S. 177. 673 K. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 1. 1992, S. 289f.



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der Glückssuche das Konzept der Leidensminimierung einzuführen. Interessant ist, dass diese Parallele bereits sehr früh ersichtlich ist: Dürrenmatt verfasst seine Textstelle über das Glück im Jahr 1952, nur sieben Jahre nach Poppers englischer Veröffentlichung des Buchs Die offene Gesellschaft und ihre Feinde und ein Jahr nach seiner Teilnahme am Forum Alpbach. Dass diese Analogie in Dürrenmatts Werk durch Diskussionen am Forum Alpbach zustande gekommen ist, scheint möglich.

3.3.2.7 Automobilist als Individualist Im Jahr 1958 hält Popper in Zürich einen Vortrag mit dem Titel Woran glaubt der Westen? Das Referat wird sowohl im Buch Erziehung zur Freiheit von Albert Hunold 1959 als auch in der Aufsatz- und Referatsammlung Auf der Suche nach einer besseren Welt 1984 von Karl Popper veröffentlicht. Am Ende des Vortrags geht Popper auf das Verkehrswesen ein und beschreibt den Auto- sowie den Motorradfahrer als Individualisten. Aber der Automobilist und der Motorradfahrer ist ja eben kein Massenmensch. Ganz im Gegenteil: Er ist ein unverbesserlicher Individualist, der, man könnte fast sagen, einen Einzelkampf ums Dasein gegen alle führt. Wenn irgendwo, so ist hier das individualistische Bild »homo homini lupus« anwendbar.674

Bereits in Dürrenmatts Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht wird der Individualist als freiheitsliebend charakterisiert. Diese Eigenschaft entspricht gemäss Dürrenmatt dem kapitalistischen Denken. Interessant ist nun, dass Dürrenmatt in seinem Essay Überlegungen zum Gesetz der grossen Zahl diesen Gedanken mit dem Bild des Autofahrers verknüpft. Dagegen steht die Erfindung des Autos unter dem Primat der Freiheit. Sie dient der Beförderung des Einzelnen.675

Erwähnenswert ist weiter, dass Poppers Zitat von Hobbes, „homo homini lupus“, in Dürrenmatts Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht ebenfalls erwähnt wird und zwar als der Kapitalismus anhand des nach Besitz strebenden Einzelnen erläutert wird. Ob Dürrenmatt allenfalls persönlich an Poppers Vortrag in Zürich anwesend war, konnte nicht abschliessend geklärt werden. Durch diese Rekontextualisierung von Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs an Poppers Wissenschaftstheorie des Fallibilismus und seinen Kritischen Rationalismus gelingt es, Dürrenmatts Reflexionen zu Politik und Gesellschaft wieder mit kultureller 674 K. Popper: Woran glaubt der Westen? In: K. Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreissig Jahren. 1984, S. 252. 675 F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 108.

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Dürrenmatts soziopolitischer Diskurs im essayistischen Werk

Energie aufzuladen. Dürrenmatt erörtert wichtige Fragen seines soziopolitischen Diskurses jedoch nicht nur in den Essays, sondern auch in den Theaterstücken. Wie sich sein Diskurs in den verschiedenen Medien unterscheidet, steht im Fokus der folgenden Theateranalysen.

4. Der Besuch der alten Dame – ein „soziale[s] Experiment“676 „Die Ergebnisse, die wir im Laboratorium erlebten, sind für mich beunruhigend. Sie lassen es möglich erscheinen, dass die menschliche Natur oder – genauer gesagt – der Charakter, den die demokratische Gesellschaft in den USA hervorbringt, keine Garantie dafür bietet, dass Bürger davon abgehalten werden, auf Weisung einer böswilligen Autorität brutal und unmenschlich zu handeln.“ S. Milgram: Einige Bedingungen von Gehorsam und Ungehorsam gegenüber Autoritäten. In: F. Neubacher und M. Walter (Hgg.): Sozialpsychologische Experimente in der Kriminologie. 2002, S. 41.

Friedrich Dürrenmatts Komödie Der Besuch der alten Dame wurde bereits früh „als ausgesprochen politisches Stück aufgefasst“677. Die folgenden drei Thesen, welche für dieses Kapitel aufgestellt werden, sollen mithelfen, die soziopolitischen Mechanismen im dargestellten theatralischen Gesellschaftssystem zu durchleuchten und eine politische Neuinterpretation der Komödie zu wagen. Die erste These lautet: In Der Besuch der alten Dame wird mit der Möglichkeit sozialen Wandels in Gesellschaftssystemen experimentiert: Da die Einwohner von Güllen in ihrem Verhalten als Gesellschaft als berechenbar dargestellt werden, ist es für Claire Zachanassian möglich, die Gesellschaft und somit den sozialen Systemwandel zu steuern und ihre Rachepläne umzusetzen. Dies führt zur zweiten, daraus resultierenden These: In der Komödie liegt der Fokus auf den systemischen Bedingungen, in denen Kollektive leben. Ill, der Einzelne, erweist sich in diesem theatralisch dargestellten Gesellschaftssystem nicht als moralische Figur, sondern als soziopolitische Kategorie. Seine Vereinzelung ist bedingt durch das negativ gewordene Gesellschaftssystem. Und die dritte These, welche dieses Kapitel begleiten wird, heisst: Die Ironie ermöglicht es dem Zuschauer insbesondere im dritten Akt, eine indirekte Kritik an den dargestellten systemischen Bedingungen zu erkennen. Diese Befunde sind durch die folgenden Analysen der Komödie zustande gekommen: In einem ersten Unterkapitel wird das im Theaterstück dargestellte Gesellschaftssystem mittels Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung durchleuch676 F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. 1998, S. 120. 677 M. Durzak: Dürrenmatt, Frisch, Weiss. Deutsches Drama der Gegenwart zwischen Kritik und Utopie. 1972, S. 39. Vgl. auch: K. Haberkamm: Die alte Dame in Andorra. Zwei Schweizer Parabeln des nationalsozialistischen Antisemitismus. In: H. Wagener (Hg.): Gegenwartsliteratur und Drittes Reich. Deutsche Autoren in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. 1977, S. 97ff.

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Der Besuch der alten Dame – ein „soziale[s] Experiment“

tet: Neben dem Gesellschaftssystem als Ganzes stehen die Strukturdimension der Legitimation sowie der dargestellte Systemwandel und dessen Möglichkeit der Steuerung im Fokus. In einem zweiten Teilkapitel wird auf die experimentelle Verwendung theatralischer Mittel eingegangen, welche im Theaterstück Der Besuch der alten Dame dazu führen, dass sich der Fokus teilweise von den einzelnen Figuren auf das dargestellte Gesellschaftssystem verlagert: Analysiert werden insbesondere die Axiologie, das heisst die Sympathielenkung678 im Theaterstück sowie die dargestellte poetische Gerechtigkeit. Daneben wird ein weiterer Fokus auf die Umgestaltung des Chors am Ende des dritten Aktes gelegt. Auf dieser Basis wird in einer Neuinterpretation der Komödie ein mögliches soziopolitisches Wirkungspotential rekonstruiert. Im Zentrum des Interesses stehen dabei die neuen Erkenntnisse, welche für das kritische Publikum durch die dargestellten Systemmechanismen sowie die schlimmstmögliche Wendung sichtbar werden.

4.1 Das theatralisch dargestellte Gesellschaftssystem in Der Besuch der alten Dame Die Durchleuchtung des theatralisch dargestellten Gesellschaftssystems in Der Besuch der alten Dame durch Giddens’ Theorie der Strukturierung wird sowohl für die erste als auch für die zweite These von grosser Relevanz sein.

4.1.1 Struktur, Interaktion und sozialer Wandel im theatralisch dargestellten Gesellschaftssystem Bei Claires Ankunft in Güllen sieht die Aufgabenverteilung der verschiedenen Strukturbereiche wie folgt aus: Die politischen Institutionen (Herrschaft) und somit die autoritativen Ressourcen vertritt im Theaterstück der Bürgermeister. Er übt als Vertreter der politischen Institutionen die Macht über die Menschen in Güllen aus. Den Bereich Legitimation verkörpert der Polizist, seine Aufgabe ist es, auf Basis von Regeln bestimmte Verhaltensweisen der Menschen auf der Bühne zu sanktionieren. Die Signifikation im theatralischen Gesellschaftssystem repräsentiert in erster Linie der Lehrer. Seine Aufgabe ist die Konstitution von Sinn aus dem Handeln der Figuren.679 Zu Beginn des Stücks bleibt jedoch verborgen, wer die ökonomischen Institutionen und somit die allokativen 678 Durch die Analyse der Sympathielenkung ist ein weiteres vertieftes Verständnis des Theaterstücks zu erhoffen: Die Aufarbeitung der im Text implizierten Strategien der Sympathielenkung helfen, das Wirkungspotential des Theaterstücks zu verstehen und denkbare Lesarten des Textes zu verdeutlichen. 679 Vgl. auch P. Pfützner: Friedrich Dürrenmatt. Der Besuch der alten Dame. 2007, S. 59.



Das theatralisch dargestellte Gesellschaftssystem

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Ressourcen, das bedeutet die Macht über das Materielle, besitzt. Hier ist bereits eine Parallele zu Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs festzustellen: Die Unüberschaubarkeit der Welt verhindert, dass die Güllener als inneres sowie die Zuschauer als äusseres Kommunikationssystem durchschauen, wer im Besitz der ökonomischen Institutionen ist. Zwar wird angemerkt, dass Güllen ein verarmtes Städtchen ist, doch die Verarmung scheint mysteriös, da das ganze Land – mit Ausnahme von Güllen – prosperiert.680 Erst im dritten Akt erfahren der Lehrer, der Arzt sowie das Publikum, dass Claire alle ökonomischen Institutionen Güllens aufgekauft hat, um deren Ruin bewusst voranzutreiben. Die theatralischen Strukturbereiche ermöglichen mit ihren Regeln und Ressourcen das Leben der Güllener, schränken deren Freiheit jedoch auch ein. Die Güllener reproduzieren ihrerseits in ihren Interaktionen diese Struktur, was bis anhin gut zu funktionieren scheint, auch wenn der Polizist angibt, immer mal wieder ein Auge zuzudrücken.681 Gemäss Anthony Giddens können Strukturen, welche, wie in Güllen, über lange Zeit hinweg reproduziert werden, als systemische Form betrachtet werden. Durch die Ankunft der alten Dame verändern sich die Machtbeziehungen und das Verhältnis der zentralen Institutionen des Gesellschaftssystems im inneren Kommunikationssystem gravierend. Gemäss Giddens führt ein externer Einfluss, in der Komödie ist dies durch die Ankunft von Claire Zachanassian dargestellt, zu einer Entroutinisierung der alltäglichen Interaktionen. Bereits Claires erste Gespräche mit den einzelnen dargestellten Strukturvertretern lassen aufhorchen: Sie befiehlt dem Polizisten, am besten beide Augen zu schliessen. Und der Pfarrer soll auch zum Tode verurteilte Menschen trösten.682 Damit wird einerseits Spannung aufgebaut, andererseits jedoch bereits Claires Überlegenheit im inneren Kommunikationssystem angedeutet. Durch ihr Milliardenversprechen an die Güllener für den Mord an Alfred Ill gelingt es Claire im Verlauf des Theaterstücks zunehmend,683 ihren Einfluss auf die anderen theatralisch dargestellten Strukturbereiche auszudehnen und somit auch die Handlungen der Güllener zu lenken: Während die Einwohner von Güllen im zweiten Akt beginnen, sich durch die Aussicht auf Geld zu verschulden, schafft es Claire parallel dazu, die Macht über die Legitimation und die politischen Institutionen auf der Bühne zu erobern. Der Vertreter des Strukturbereichs Legitimation erweist sich als käuflich: Der Polizist sanktioniert Claires Anstiftung zum Mord nicht und zieht es vor, sich selbst einige Anschaffungen zu leisten.684 Claire Zachanassian gelingt es weiter, sich schleichend auch die Herrschaft über die politische Institution anzueignen: Nicht mehr der Bürgermeister hat die autoritativen Ressourcen, also die Macht über die Menschen in Güllen, inne. Der auf der Bühne dargestellte politische Vertreter wird als käufliche und korrupte Figur entlarvt. Er

680 Vgl. F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. 1998, S. 16f. 681 Vgl. ebd.: S. 28. 682 Vgl. ebd.: S. 28f. 683 Vgl. ebd.: S. 45ff. 684 Vgl. ebd.: S. 63ff.

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Der Besuch der alten Dame – ein „soziale[s] Experiment“

träumt bereits von einem neuen Stadthaus685 und verschuldet sich seinerseits, ohne Claires Machtausdehnung eingrenzen zu wollen. Sowohl der Polizist als auch der Bürgermeister versuchen jedoch, Ill in Sicherheit zu wiegen. Die einzige Figur, die zweimal versucht, den dargestellten Systemwandel zu stören, ist der Lehrer als Vertreter des Strukturbereichs Signifikation. In einem Gespräch im dritten Akt erhofft er sich, unterstützt vom Arzt, Claire zunächst für einen anderen Plan gewinnen zu können: Claire soll die Wirtschaft von Güllen durch einen Kredit unterstützen. Durch die Investition in die Wirtschaft des Städtchens könnte Claire materiellen Gewinn erzielen und auch den Güllenern wäre nachhaltig geholfen. DER LEHRER mutig Frau Zachanassian. […] Öl liegt unter der Niederung von Pückenried, Erz unter dem Konradsweilerwald. Wir sind nicht arm, Madame, nur vergessen. Wir brauchen Kredit, Vertrauen, Aufträge, und unsere Wirtschaft, unsere Kultur blüht. Güllen hat etwas zu bieten: Die Platz-an-der-Sonne-Hütte. DER ARZT Bockmann. DER LEHRER Die Wagnerwerke. Kaufen Sie die, sanieren Sie die, und Güllen floriert. Hundert Millionen sind planvoll, wohlverzinst anzulegen, nicht eine Milliarde zu verschleudern. […] CLAIRE ZACHANASSIAN Nur nicht auszuführen. Ich kann die Platz-an-der-Sonne-Hütte nicht kaufen, weil sie mir schon gehört. DER LEHRER Ihnen? DER ARZT Und Bockmann? DER LEHRER Die Wagnerwerke? CLAIRE ZACHANASSIAN Gehören mir ebenfalls.686

Claire kann auf dieses Angebot des Lehrers nicht eingehen, da sie bereits im Besitz der ökonomischen Institutionen ist. Daher startet der Lehrer wenig später im inneren Kommunikationssystem einen zweiten Versuch, die sich wandelnden systemischen Bedingungen zu verändern: Bereits alkoholisiert versucht er im dritten Akt im inneren System die Medien über die Vorgänge in Güllen zu informieren – ohne Erfolg, er wird von den Güllenern gehindert.687 Der Lehrer gibt nach einem Gespräch mit Ill sein Vorhaben auf. Er realisiert, dass er die theatralisch dargestellte Struktur der Käuflichkeit nicht durchbrechen kann. Diese Einsicht lässt ihn zum Trinker werden. Entmutigt beginnt er, sich wieder in die Struktur einzugliedern und sie sogar zu verteidigen.688 Am Schluss der Komödie schafft es Claire also, ihre Macht auch auf die Signifikation auszudehnen. Der Oppositionsversuch des Lehrers wird von den Güllenern selbst unterdrückt. Claire dominiert alle Strukturbereiche und somit auch die Regeln und

685 Vgl. ebd.: S. 72. 686 Ebd.: S. 88f. 687 Vgl. ebd.: S. 98f. 688 Vgl. ebd.: S. 120ff.



Das theatralisch dargestellte Gesellschaftssystem

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Ressourcen, in welchen sich die Güllener bewegen: „[M]it meiner Finanzkraft leistet man sich eine Weltordnung.“689 Diese Durchleuchtung des theatralisch dargestellten Gesellschaftssystems lässt erkennen, dass die Ankunft von Claire in Güllen einen sozialen Wandel auslöst, in welchem ein Machtwechsel stattfindet und das Verhältnis der zentralen Institutionen transformiert wird: In Güllen werden die demokratischen Strukturen, welche auf Gewaltenteilung und einem begrenzten politischen Gestaltungsanspruch beruhen, durch Claire in eine diktatorische Form umgebaut: Der Bürgermeister, der Polizist und der Lehrer, die Strukturvertreter der Politik, Legitimation und Signifikation lassen sich – fast ohne Widerstand – korrumpieren und treten ihre Funktionen ab. Claire kann ihre Macht von den ökonomischen Institutionen auf alle anderen Strukturen ausdehnen: Aus diesen Gründen kann am Ende der Komödie von einer monistischen Herrschaftsstruktur und einem unbegrenzten Gestaltungsanspruch gesprochen werden. Die Oppositionsversuche des Lehrers werden durch Claire und die Güllener unterbunden und auch die Medien durchschauen die Abläufe in Güllen nicht, können ihre Funktion der „vierten Gewalt“ nicht wahrnehmen. Als wahrer Einzelner in diesem theatralisch dargestellten Gesellschaftssystem entpuppt sich Alfred Ill: Der Krämer ist der einzige, der sich keine zusätzlichen Anschaffungen auf Kredit leistet. Somit kann sein Verhalten als Weigerung aufgefasst werden, die Struktur der Käuflichkeit im theatralisch dargestellten Gesellschaftssystem zu reproduzieren. Seine späte, persönlich motivierte Akzeptanz der Strafe macht ihn seinem Umfeld unverständlich und lässt ihn zum Vereinzelten690 in Güllen werden. Er erweist sich damit als systembedingte soziopolitische Kategorie eines Gesellschaftssystems, das sich durch die Käuflichkeit ins radikal Negative gewandelt hat.

4.1.2 Die Strukturdimension Legitimation im Fokus: Gerechtigkeit und Freiheit im theatralisch dargestellten Gesellschaftssystem Die Begriffe Freiheit und Gerechtigkeit stellen in Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs die zentralen Werte dar. In diesem Kapitel soll analysiert werden, wie und von wem diese beiden Begriffe in Der Besuch der alten Dame aufgegriffen werden und welche Schlüsse daraus für die dargestellte Strukturdimension Legitimation gezogen werden können.691 689 Ebd.: S. 91. Eine interessante Diskussion des Souveränitätsbegriffs findet sich in der Lizenziatsarbeit von Markus Christen. Vgl. M. Christen: Im Namen welcher Gerechtigkeit? Eine begriffsgeschichtliche und wirkungsästhetische Untersuchung der theatralischen Gerichtsdarstellung im „Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt und im „Kaukasischen Kreidekreis“ von Bertolt Brecht. 2008. 690 Weitere Erläuterungen zu Ills Vereinzelung finden sich in Kapitel 4.1.3. 691 Im Gegensatz zu Schmidhäuser wird in dieser Untersuchung davon ausgegangen, dass gerade die Analyse der Begriffe Verbrechen, Strafe und damit auch der Gerechtigkeit zentral für das Ver-

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Der Besuch der alten Dame – ein „soziale[s] Experiment“

Das Konzept der Gerechtigkeit692 wird auf einer personalen, subjektiven Ebene bereits im ersten Akt eingeführt und problematisiert. Es geht um Claires Verhalten als junges Mädchen. ILL Da kann ich dem Bürgermeister dienen. Klara liebte die Gerechtigkeit. Ausgesprochen. Einmal wurde ein Vagabund abgeführt. Sie bewarf den Polizisten mit Steinen.693

Interessant ist einerseits, dass Claire im inneren Kommunikationssystem gleich zu Beginn als gerechtigkeitsliebend eingeführt wird, andererseits erscheint es merkwürdig, dass Claires personale, subjektive Gerechtigkeit über jene des Polizisten, des Vertreters der Legitimation, welcher im institutionellen Sinn für die Gerechtigkeit zuständig ist, gestellt wird. Aber auch der Bürgermeister nimmt Claires „Gerechtigkeitsliebe“ ohne zu Zögern in seine Festrede auf. Gleich im Anschluss an diese Ansprache des Bürgermeisters verspricht Claire ihrer Heimatstadt eine Milliarde zu schenken, sie will sich damit Gerechtigkeit kaufen.694 An ihren Butler delegiert sie die Erläuterung ihres Sanierungsplans für Güllen. Auch wenn der Bürgermeister zuerst noch einwirft, Gerechtigkeit sei nicht käuflich, erklärt der Butler unbeirrt Claires Plan. Sie will, dass ihr in der Jugendzeit vor Gericht erlittenes Unrecht wieder gutgemacht wird und verlangt als Gegenleistung für die Milliarde von den Güllenern Ills Ermordung. Es wird deutlich, dass im theatralischen Gesellschaftssystem Claires personales Gerechtigkeitskonzept mit dem institutionellen, welches durch den Polizisten dargestellt wird, in Konflikt gerät. Immer wieder wird im Folgenden, wie das Publikum erkennt, Claires Forderung nach personaler Gerechtigkeit thematisiert, beispielsweise vom Lehrer, welcher Claire vorwirft, absolute Gerechtigkeit zu verlangen und sie daher mit der mythologischen Figur der „Medea“695 vergleicht. Aber erst im letzten ständnis des Theaterstücks ist. Vgl. E. Schmidhäuser: Verbrechen und Strafe. Ein Streifzug durch die Weltliteratur von Sophokles bis Dürrenmatt. 1995, S. 192. 692 Die Gerechtigkeit hat zwei verschiedene Seiten: Einerseits kann die Gerechtigkeit eine institutionelle, objektive und auch politische sein. Dann betrifft sie soziale Institutionen und Systeme, die Wirtschaft und den Staat. Andererseits gibt es auch eine personale oder subjektive Gerechtigkeit. Sie ist ein Charakter- oder Persönlichkeitsmerkmal, eine moralische Tugend. Vgl. O. Höffe: Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. 2001, S. 30f. In Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs wird die Gerechtigkeit hauptsächlich analog der ersten Bedeutung verwendet. In den Theaterstücken kommen beide Gerechtigkeitskonzepte vor. 693 F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. 1998, S. 19. 694 Die Tatsache, dass Gerechtigkeit nur durch ein Verbrechen erreicht werden kann, erinnert an Dürrenmatts Kriminalroman Der Richter und sein Henker. Vgl. F. Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Der Verdacht. 1998, S. 99f. 695 F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. 1998, S. 90. Iason verlässt Medea (griechisch Medeia) und seine Kinder, um Glauke, eine korinthische Königstochter, zu heiraten. In der Erzählung von Euripides rächt Medea sich an ihrem untreuen Ehemann, indem sie Glauke und anschliessend auch die mit Iason gezeugten Kinder ermordet. Vgl. R. Tetzner und U. Wittmeyer: Griechische Götter- und Heldensagen. Nach Quellen neu erzählt. 2003, S. 220ff. Claire wird vom Lehrer wei-



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Akt des Stücks wird die Gerechtigkeit zum zentralen Motiv: Ill erklärt dem Bürgermeister, dass er das Urteil der Gemeinde als gerecht auffassen werde; nämlich als Strafe für seinen Rufmord und seine Anstiftung zum Meineid. Immer auffälliger wird jedoch gerade in dieser Schlussphase die Umdeutung von Claires personalem Gerechtigkeitsbegriff zum institutionellen Gerechtigkeitsbegriff, welche die Güllener vornehmen: Der Lehrer fordert im Sinne Claires Gerechtigkeit für das Verbrechen, welchem Claire vor 45 Jahren zum Opfer fiel und verkauft die Einrichtung der Stiftung als Zeichen, gegen eine Welt der Ungerechtigkeit anzukämpfen. Die Annahme der Stiftung durch die Güllener bedeutet zugleich Ills Todesurteil. Da die Medien bei der Abstimmung über die Stiftung anwesend sind, muss Ills Verurteilung jedoch für die Medien verdeckt bleiben und darf nur den Güllenern verständlich sein. Die Güllener folgen dem Aufruf des Lehrers: Sie nehmen die Stiftung an und geben vor, durch die Einführung der Stiftung Gerechtigkeit zu üben, ignorieren dabei aber, dass sie selbst durch Ills Ermordung ein weiteres Unrecht begehen. Interessant ist, dass dem Publikum durch das Theaterstück vorgeführt wird, wie die Öffentlichkeit im inneren Kommunikationssystem getäuscht wird. Der kollektive Mord an Ill ist also kein Herstellen von institutioneller Gerechtigkeit: Ills Tod wird nicht vor Gericht oder vor einem Justizapparat, sondern durch die Männer Güllens erwirkt, obwohl Ill den Güllenern gegenüber kein bewusstes Verbrechen begangen hat.696 Claire hat ihre personale, subjektive Definition von Gerechtigkeit697 durchgesetzt, da sie mittlerweile über alle theatralischen Strukturbereiche herrscht. Der Zuschauer erkennt, dass es Claire gelingt, ihre Macht auch auf die Strukturdimension Legitimation, welche für die Rechtssprechung zuständig ist, auszudehnen und ihr personales Konzept von Gerechtigkeit, ihren Racheplan698 umzusetzen. Claire wird zur souveränen Figur, die über den Ausnahmezustand herrscht und, um personale Gerechtigkeit zu erreichen, auch Gewalt als legitimes Mittel ansieht.699 Ihre ausgeführte subjektive ter mit der mythologischen Figur der Schicksalsgöttin Klotho (S. 34), welche den Lebensfaden spinnt, und der Lais (S. 34), einer griechischen Hetäre, verglichen. 696 Ills Vergehen in der Jugendzeit kann zwar als direkte Ursache der Armut der Güllener betrachtet werden. Ill konnte jedoch nicht ahnen, dass seine Straftat derartige Ausmasse zur Folge haben würde und hat diese darum nicht absichtlich verursacht. 697 Interessant ist, dass im Theaterstück keine Angaben darüber gemacht werden, ob Claire in den vergangenen 45 Jahren erneut versuchte, über das Rechtssystem Gerechtigkeit zu erlangen. 698 Zu beachten gilt, dass im Stück Der Besuch der alten Dame das Wort Rache nur einmal benutzt wird. Der Lehrer, als Vertreter der Signifikation zuständig für die Interpretation, definiert Claires Gerechtigkeitsstreben als Rache: „Lassen Sie den unheilvollen Gedanken der Rache fallen, treiben Sie uns nicht zum Äussersten, helfen Sie armen, schwachen, aber rechtschaffenen Leuten, ein etwas würdigeres Leben zu führen, ringen Sie sich zur reinen Menschlichkeit durch!“ F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. 1998, S. 90f. Gemäss Wilda wird Rache als „die erste und rohste Offenbarung des Rechtsgefühls“ bezeichnet. W. E. Wilda: Das Strafrecht der Germanen. 1842, S. 149. 699 Gerade in Claires Übernahme der Richterfunktion, der Strukturdimension Legitimation, können verschiedenste historische Referenzen festgestellt werden: In Deutschland beispielsweise legitimiert nach dem Röhm-Putsch Hitlers Kronjurist Carl Schmitt in der Deutschen Juristen-Zeitung

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Gerechtigkeit verhält sich damit konträr zum kulturen- und epochenübergreifend anerkannten institutionellen Gerechtigkeitskonzept, wonach Justitia die Prinzipien der Unparteilichkeit und der gebührenden Strafbemessung sowie die Funktion von Schutz und Strafe vertritt.700 Die in Der Besuch der alten Dame umgesetzte Gerechtigkeit unterscheidet sich somit auch diametral von der sozialen Gerechtigkeit, die Dürrenmatt im essayistischen soziopolitischen Diskurs fordert. Im Gegensatz zum stets präsenten Konzept der Gerechtigkeit wird die Freiheit701 in der Komödie nur zweimal thematisiert:702 Einmal im dritten Akt durch den Lehrer Hitlers Übernahme der Richterposition und somit die Aufhebung der Gewaltentrennung im Artikel Der Führer schützt das Recht. Zur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13. Juli 1934 folgendermassen: „Der wahre Führer ist immer auch Richter. Aus dem Führertum fliesst das Richtertum. Wer beides voneinander trennen oder gar entgegensetzen will, macht den Richter entweder zum Gegenführer oder zum Werkzeug eines Gegenführers und sucht den Staat mit Hilfe der Justiz aus den Angeln zu heben.“ C. Schmitt: Der Führer schützt das Recht. Zur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13. Juli 1934. In: C. Schmitt (Hg.): Deutsche Juristen-Zeitung. Jg. 39, H. 15. 1. August 1934, S. 946f. Vgl. dazu auch H. Pleticha (Hg.): Deutsche Geschichte. Republik und Diktatur 1918–1945. 1993, S. 211: „Hitler nahm nun vor dem Reichstag die höchste richterliche Gewalt für sich in Anspruch. Damit waren Rechtsstaatlichkeit, richterliche Unabhängigkeit und Gewaltenteilung endgültig aufgehoben.“ Dieses ausser Kraft setzen der Legislative kann jedoch auch in der neueren Zeit, beispielsweise beim Putsch in Uruguay in den 1970er-Jahren, beobachtet werden: „Am 27. Juni 1973 löste Präsident Bordaberry deshalb per Dekret die Legislative auf und besiegelte mit diesem „kalten Staatsstreich“ […] die militärische Hegemonie über die Politik.“ Vgl. V. Strassner: Die offenen Wunden Lateinamerikas. 2007, S. 161. Vgl. dazu auch: A. Porzecanski: Uruguay’s Tupamaros. 1973, S. 73. Dürrenmatts theatralische Modelle weisen eine überzeitliche Struktur auf, einen möglichen Bezug zur Wirklichkeit herzustellen, ist Aufgabe des Publikums. 700 Vgl. O. Höffe: Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. 2001, S. 11. 701 Im Wörterbuch der Soziologie wird Freiheit unterschiedlich definiert. Mit Dürrenmatts Freiheitsbegriff („Das Recht des Einzelnen besteht darin, er selbst zu sein: dieses Recht nennen wir Freiheit.“) lässt sich am ehesten die Willensfreiheit vergleichen. Die Willensfreiheit wird als „prinzipielle Möglichkeit des Menschen, aufgrund eigenen Entschlusses zu handeln“, definiert. In Dürrenmatts soziopolitischen Essays wird die Freiheit der Menschen durch das Recht der Gesellschaft, die Gerechtigkeit, zwar garantiert, aber auch eingeschränkt. Diese Einschränkung der Freiheit durch die institutionelle Gerechtigkeit wird in den Theaterstücken nicht immer umgesetzt. F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 57 und S. 98 sowie K.-H. Hillmann: Wörterbuch der Soziologie. 1994, S. 238. 702 Interessant ist jedoch, dass im Zusammenhang mit dem Ausbruch von Claires Panther ihre Bediensteten zweimal ausrufen: „Der Panther ist frei, der Panther ist frei!“ Der Panther wird nach seinem Ausbruch in die Freiheit aber von der bewaffneten Bevölkerung erschossen. Das Klima in Güllen heizt sich während der Jagd auf den Panther auf. Damit kann eine Parallele zu Ill festgestellt werden: Claire nannte Ill in der Jugendzeit „mein[en] schwarze[n] Panther“ und verlangt jetzt Ills Tod. Ill vereinzelt, bricht aus der Gesellschaft aus und wird von ihr getötet. Die Vereinzelung geht in Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs mit der Freiheit einher. Zugleich erinnert der Panther in Der Besuch der alten Dame auch an jenen Panther Dantes, welcher in der Divina Commedia im ersten Canto der Hölle zusammen mit dem Löwen und der Wölfin den Menschen vom Weg zum Göttlichen abbringt. Vgl. Metzler Lexikon literarischer Symbole. 2008, S. 265f. Der Panther



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sowie am Schluss des Stücks im Chorlied. Interessant ist die Erläuterung des Lehrers, der in seiner Rede zur Einführung der Stiftung vorgibt, dass es „nicht um Wohlstand und Wohlleben, nicht um Luxus“ geht, sondern darum, ob die Güllener „Gerechtigkeit verwirklichen wollen“703. Die Gerechtigkeit kann hier, wie bereits oben erläutert, mit der personalen Gerechtigkeit Claires gleichgesetzt werden. Weiter erläutert der Lehrer: DER LEHRER Die Freiheit steht auf dem Spiel, wenn die Nächstenliebe verletzt, das Gebot, die Schwachen zu schützen, missachtet, die Ehe beleidigt, ein Gericht getäuscht, eine junge Mutter ins Elend gestossen wird.704

Damit nimmt er direkt Bezug auf Claires Schicksal als junges Mädchen, was den Medienvertretern im inneren Kommunikationssystem jedoch verborgen bleibt. In Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs wird die Freiheit des Einzelnen stets durch das Recht der Gesellschaft auf Gerechtigkeit ermöglicht, aber auch eingeschränkt. Wie ist das Konzept der Freiheit nun in Der Besuch der alten Dame zu verstehen? Der Lehrer führt aus, dass die Freiheit gefährdet ist, wenn Claires personale Gerechtigkeitsforderungen nicht umgesetzt werden. Damit kann die Rede des Lehrers folgendermassen aufgefasst werden: Akzeptieren die Güllener die Stiftung und damit die versprochene Milliarde Claires, muss Ill getötet werden. Das bedeutet, dass Claires personale Gerechtigkeit sich durchsetzt, womit den Güllenern ein Leben in Freiheit und Wohlstand ermöglicht wird. Die institutionelle Gerechtigkeit, in der Komödie durch den Polizisten vertreten, welche in Dürrenmatts soziopolitischen Reflexionen die Freiheit einschränkt sowie ermöglicht, wird im theatralischen Gesellschaftssystem durch Claire eliminiert: Durch ihre personale Gerechtigkeit werden auf der Bühne nun totale Freiheit und Wohlstand ermöglicht. Am Ende des dritten Aktes greift der Chor die Reflexionen über die Freiheit nochmals auf: Der Chor übernimmt dabei gemäss Dürrenmatt die Funktion einer „Standortbestimmung“705, die vom Publikum als Verblendung durchschaut werden kann: Die Güllener singen darin vom „freundlich Geschick“706, das ihnen den Reichtum in Der Besuch der alten Dame wird von Claire Zachanassian bei ihrer Ankunft in Güllen mitgebracht. Er ist daher von Anfang an präsent und kann somit als Symbol dafür betrachtet werden, dass die Güllener durch Claires Ankunft vom rechten Weg abkommen. Diese These wird weiter unterstrichen durch Claires Ausspruch: „Und ich bin die Hölle geworden.“ Dass Dürrenmatt die Divina Commedia Dantes gekannt hat, belegen verschiedene Textstellen aus Dürrenmatts Stoffen. F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. 1998, S. 26, S. 38 und S. 69 sowie F. Dürrenmatt: Turmbau. Stoffe IV–IX. 1998, S. 92 und S. 129. Zudem wird der Panther in der Dante-Forschung mit der Sünde der Lussuria, der Wollust, in Verbindung gebracht, womit im Theaterstück ein weiterer Aspekt aus Claires und Ills Jugendzeit aufgenommen wird. Vgl. D. Alighieri: La Divina Commedia. Inferno, a cura di N. Sapegno. 1996, S. 8. 703 F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. 1998, S. 121. 704 Ebd.: S. 121. 705 Ebd.: S. 132. 706 Ebd.: S. 133.

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ermöglichte, von der „Wohltäterin“707, die Güllen wieder verlässt. Darin kann eine Umkehrung der klassischen Chorfunktion erkannt werden. Dass dem Gesang in Dürrenmatts Werk mit Vorsicht begegnet werden muss, führt Dürrenmatt in einem Gespräch mit Horst Bienek im Jahre 1961 gleich selbst aus: FD In Frank der Fünfte singen die Menschen, wenn sie lügen – in der Dreigroschenoper, wenn sie die Wahrheit sprechen.708

Daher wird der Chor in der Komödie noch genauer zu betrachten sein. In den abschliessenden Zeilen wird Gott von den Güllenern aber beschwört, ihnen den Reichtum, „[d]en Wohlstand“, „die heiligen Güter“, „die Freiheit“709 zu bewahren. Dies kann als Sieg des kapitalistischen Denkens auf der Bühne interpretiert werden.

4.1.3 Die Steuerbarkeit des sozialen Wandels im theatralisch dargestellten Gesellschaftssystem Durch die Analyse des dargestellten Gesellschaftssystems wird deutlich, welche Figur des Theaterstücks den Einzelnen repräsentiert und welche Figuren zur Gesellschaft der käuflichen Güllener gehören. In diesem Unterkapitel wird der Fokus auf die Auswirkungen, welche die Berechenbarkeit des Verhaltens der Güllener für die Steuerung des im Theaterstück dargestellten Systemwandels aufweist, gelegt. Dafür muss auf Dürrenmatts Aneignung des Gesetzes der grossen Zahl als Gleichnis seines soziopolitischen Systemwandels zurückgegriffen werden. Ill glaubt zu Beginn, dass sich Claire Zachanassian mit ihren Forderungen verkalkuliert hat: Er geht davon aus, dass die Einwohner von Güllen, wie der Bürgermeister am Schluss des ersten Aktes ausdrücklich deklariert, sich hinter Ill stellen und sich nicht durch Geld in Versuchung führen lassen. ILL Sie hat sich verrechnet. Ich bin ein alter Sünder, Hofbauer, wer ist dies nicht. Es war ein böser Jugendstreich, den ich ihr spielte, doch wie da alle den Antrag abgelehnt haben, die Güllener im >Goldenen Apostelwirkliche< und eine >ironischeExperiment< in der Literatur. Eine Einleitung. In: R. Calzoni und M. Salgaro (Hgg.): „Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment“. Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert. 2010, S. 16 und S. 22. 760 F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. 1998, S. 120. Das in Güllen durchgeführte Sozialexperiment erinnert stark an die sozialen Experimente Stanley Milgrams oder Ron Jones’ (The Third Wave) in den 1960er-Jahren. Bei dieser experimentellen Sozialforschung geht es um Fragen des Autoritätsgehorsams und der Manipulierbarkeit. Damit können, wie Neubacher und Walter erläutern, sozialpsychologische Experimente auch in der Literatur erscheinen. Vgl. F. Neubacher und M. Walter (Hgg.): Sozialpsychologische Experimente in der Kriminologie. Milgram, Zimbardo und Rosenhan kriminologisch gedeutet, mit einem Seitenblick auf Dürrenmatt. 2002. Klappentext.



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siert.761 Durch den Superlativ wird bereits angedeutet, dass die Figuren im Stück in Extremsituationen762 und nicht in Alltagssituationen dargestellt werden. Dadurch glaubt Dürrenmatt die soziopolitischen Aspekte seiner Gegenwelten deutlicher akzentuieren zu können. Da der Begriff Experiment bei Dürrenmatt in einem explorativen Sinn, analog zu Fleck, Rheinberger und Gamper verstanden wird, soll in diesem Teilkapitel herausgearbeitet werden, welche neuen insbesondere soziopolitischen Erkenntnisse der kritische Rezipient auf Basis der bisherigen Erläuterungen aus dem Theaterstück Der Besuch der alten Dame ziehen kann. Im Fokus stehen dabei die Analogien und vor allem die Differenzen zwischen Dürrenmatts soziopolitischen Erläuterungen im essayistischen Werk, insbesondere im fast gleichzeitig erschienenen Aufsatz Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit (1956), und den soziopolitischen Systemmechanismen in seiner Komödie. Besondere Beachtung wird dabei der Korruption geschenkt. Im Essay Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit wird gleich zu Beginn die Relevanz der modernen Naturwissenschaften ausführlich dargestellt. Zudem geht Dürrenmatt in den Erläuterungen zum Gesetz der grossen Zahl darauf ein, dass sich das Verhalten vieler Menschen in der modernen Welt ebenso ändert, wie die Naturgesetze in Strukturen mit vielen Atomen. Interessant ist, dass Dürrenmatt bereits 1954 im Essay Theaterprobleme auf den Staat der Moderne eingeht und angibt, dass dieser nur noch statistisch darzustellen ist.763 Das Gesetz der grossen Zahl, welches sich Dürrenmatt in seinem soziopolitischen Diskurs seit dem Essay Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit als Gleichnis für das Systemdenken aneignet, findet sich in der Komödie nun ebenfalls umgesetzt: Durch die Durchleuchtung des theatralisch dargestellten Gesellschaftssystems mit Giddens’ Theorie der Strukturierung kann auf systemischer Ebene ein sozialer Wandel festgestellt werden. Die Ankunft von Claire Zachanassian in Güllen und ihr Geldversprechen führen zu einer Entroutinisierung, wobei sich nach und nach die Verhältnisse der wichtigsten Institutionen zueinander transformieren: Alle Strukturbereiche der Gesellschaft erliegen der sich ausdehnenden Macht von Claire Zachanassian, die demokratischen Strukturen werden ausser Kraft gesetzt. Die dargestellte Käuflichkeit und die daraus folgende Berechenbarkeit des Verhaltens der Güllener macht sich Claire zunutze, um ihre Rachepläne umzusetzen und den sozialen Wandel erfolgreich zu steuern: Mit dem Mord an Alfred Ill geben die käuflichen Güllener vor, institutionelle Gerechtigkeit herzustellen. Weiter hat die Analyse der dargestellten systemischen Bedingungen ergeben, dass Ill erst als Einzelner aus dem theatralisch dargestellten System resultiert, als es 761 Vergleiche dazu Pethes’ Ausführungen zum Zusammenspiel von Literatur und sozialpsychologischen Experimenten. N. Pethes: Einleitung. In: N. Pethes et. al. (Hgg.): Menschenversuche. Eine Anthologie 1750–2000. 2008, S. 722f. 762 Die Extremsituation, in welcher sich die Güllener mit der durch die Notbremse des Zugs eingeleiteten Ankunft Claire Zachanassians befinden, wird durch die Aussage des Bahnhofvorstands, dass die Naturgesetze ausser Kraft seien, zusätzlich unterstrichen. Vgl. F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. 1998, S. 21. 763 Vgl. F. Dürrenmatt: Theater. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 60.

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beginnt, sich ins Negative zu wenden: Ill erweist sich durch seine Nicht-Käuflichkeit als unberechenbares Epiphänomen eines korrupt gewordenen Gesellschaftssystems und somit als soziopolitische und nicht als moralische Kategorie. Die im Essay Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit dargestellte wachsende Komplexität der modernen Gesellschaften, die zu einer verstärkten Unübersichtlichkeit im Gesellschaftssystem führt, findet sich in der Komödie ebenfalls umgesetzt. Einerseits erkennen die Güllener nicht mehr, wer im Besitz der ökonomischen Institutionen ist. Durch die von Claire zuerst herbeigeführte Verarmung der Güllener gelingt es ihr, dass ihr Geldversprechen seine volle Wirkung entfaltet und ihre Rachepläne durch die korrumpierbaren Güllener ausgeführt werden. Andererseits durchschauen aber auch die im dritten Akt angereisten Medienvertreter, welche in ihrer Funktion die eigentliche vierte Gewalt in einer Demokratie darstellen, die Vorgänge in Güllen nicht: Sie planen eine Berichterstattung über die „alten demokratischen Einrichtungen“764 Güllens, die faktisch durch Claires Rückkehr nicht mehr existent sind. Damit findet sich auf der Bühne nicht der von allen gepriesene Rechtsstaat, sondern ein Reich, in dem eine Person, einem Diktator gleich, die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen kurzfristig abgesetzt hat. Claire wird zur dominanten Herrscherin über das ganze im Theater dargestellte bestechliche Gesellschaftssystem. In dieser Ausgestaltung der Strukturen ist eine erste Differenz zu Dürrenmatts essayistischem soziopolitischem Diskurs zu entdecken: Die von Dürrenmatt für die modernen Staaten geforderten demokratischen Strukturen sind in der Komödie durch die Korruption abgelöst und durch diktatorische ersetzt worden. Die Komplexität der modernen Welt beraubt, wie Dürrenmatt im Essay Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit befürchtet, den Menschen der Möglichkeit der Mitbestimmung und lässt ihn zum „Spielball der Mächte“765 werden. Ähnliche Mechanismen spielen sich in der Komödie ab: Die Komplexität der modernen Welt wird von den Güllenern und den Medienvertretern nicht mehr durchschaut, sie werden bei der Ankunft der alten Dame zu Spielbällen in ihrem von langer Hand vorbereiteten, berechneten Racheplan. Interessant ist dabei, dass am Schluss mit der Abreise Claires offen gelassen wird, wie sich Güllen nach Erhalt der Milliarde längerfristig weiterentwickelt: Claires Geldgeschenk an Güllen ist nicht als die nachhaltige Hilfe zu sehen, die der Lehrer und der Arzt mit einer langfristigen Investition für die Stadt gefordert haben, sondern als einmaliges Geschenk für die Rache an Ill zu werten. Die Fokussierung auf die Strukturdimension der Legitimation lässt weiter erkennen, wie es Claire gelingt, ihr personales Gerechtigkeitskonzept gegenüber dem institutionellen Gerechtigkeitskonzept, welches für soziale Gerechtigkeit sorgen sollte, durchzusetzen: Der Polizist als Vertreter der Strukturdimension Legitimation erweist sich, wie alle anderen Güllener auch, als käuflich. Er sanktioniert Claires Rachepläne nicht. Die Güllener übernehmen Claires personale Gerechtigkeitsdefinition weitgehend, ohne sie zu hinterfragen, geben gegenüber den Medien aber heuchlerisch vor, institutionelle 764 F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. 1998, S. 106. 765 F. Dürrenmatt: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 64.



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Gerechtigkeit verwirklichen zu wollen und tarnen auf diese Weise ihren Mord aus Geldgier. Die in Dürrenmatts soziopolitischen Reflexionen der Essays geforderte soziale Gerechtigkeit, der Sieg des Primats der Gerechtigkeit über die Freiheit, wird im Theaterstück ebenfalls nicht verwirklicht, eine zweite Differenz wird somit sichtbar: In der Komödie siegt das kapitalistische Gedankengut der Güllener. Die Reflexionen zum kapitalistischen Denken bleiben im Essay Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit jedoch noch weitgehend ausgeschlossen. Einen dritten gravierenden Unterschied zum soziopolitischen Diskurs in Dürrenmatts Essays lässt sich im zunehmend ideologisch werdenden Gesellschaftssystem auf der Bühne erkennen, womit die Entwicklung zur Diktatur weiter beschleunigt wird. Der Lehrer als Vertreter der Signifikation wird bei seinem Versuch, gegen den dargestellten systemischen Wandel von der Demokratie zur Diktatur zu opponieren, von den Güllenern an der Meinungsäusserung gehindert. Es gelingt ihm nicht, die Medien über die Vorgänge in der Stadt zu informieren. Meinungsfreiheit wird in diesen neuen systemischen Bedingungen nicht toleriert und sofort unterbunden. Kritik und Opposition, welche Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs zufolge Ideologien in wissenschaftliche Arbeitshypothesen verwandeln würden und als Zeichen eines funktionierenden demokratischen Gesellschaftssystems gedeutet werden könnten, sind auf der Bühne nicht präsent. Die Anfälligkeit für ideologisches Gedankengut wird für die Zuschauer auch am Ende des dritten Aktes im Chorlied erkennbar, als der Kapitalismus durch die Güllener zu einer Quasi-Religion hochstilisiert und mystifiziert wird. Diese irrationalen Verhaltensmechanismen werden im Stück aber schon zu Beginn angedeutet, als die Güllener über ihre Armut diskutieren: Schnell werden ohne erhärtete Beweise die Freimaurer, die Juden, die Kommunisten oder die Hochfinanz für schuldig am Elend befunden.766 Es kann festgestellt werden, dass die von den Güllenern hochgehaltene humanistische Tradition eigentlich nur eine Fassade ist, hinter welcher sie und ihr Demokratieverständnis anfällig für ideologische Denkweisen sind.767 Gerade Kritik und Opposition sind jedoch gemäss Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs die zentralen Faktoren, die ideologische Systeme verhindern könnten. Die Problematik der ideologischen Systeme wird auch im Aufsatz Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit thematisiert. Dort geht Dürrenmatt auf das Wesen der modernen Politik ein, das sich seines Erachtens oft bemüht „Ideen aufrechtzuerhalten, die der staatlichen Wirklichkeit nicht mehr entsprechen“768. Da der Mensch jedoch die Welt in ihrer Komplexität nicht mehr versteht, so Dürrenmatt, kann er folglich keine adäquate Kritik oder Opposition an solchen Systemen mehr üben. Diese drei oben aufgeführten Entwicklungen verlaufen konträr zu Dürrenmatts Vorstellungen in seinem essayistischen soziopolitischen Diskurs.

766 Vgl. F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. 1998, S. 17. 767 Vgl. M. Durzak: Dürrenmatt, Frisch, Weiss. Deutsches Drama der Gegenwart zwischen Kritik und Utopie. 1972, S. 92. 768 F. Dürrenmatt: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 64.

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Eine Analogie zu Dürrenmatts Reflexionen über Gesellschaft und Politik kann jedoch im ethischen Dilemma, in welchem sich die Güllener durch Claires Forderung plötzlich befinden und das durch die Ironisierung der poetischen Gerechtigkeit erkennbar wird, gesehen werden: Durch das ethische Dilemma wird die Gerechtigkeit als komplexes und vielschichtiges Phänomen charakterisiert. Die poetische Gerechtigkeit, welche Kaul zufolge in der Unterhaltungsliteratur und auch in populären Hollywood-Filmen häufig anzutreffen ist,769 greift zu kurz, oft ist Gerechtigkeit kein eindimensionales Phänomen: Wie in Der Besuch der alten Dame dargestellt, können komplexe Vorgeschichten eine vereinfachende Unterteilung in Recht und Unrecht erschweren, insbesondere wenn aus einem Opfer ein Täter wird. Ein adäquates Nachdenken über das komplexe Phänomen der Gerechtigkeit wird aber durch eine Schwarz-Weiss-Darstellung verhindert. Durch das Problematisieren des ethischen Dilemmas wird nun eine Ähnlichkeit zum soziopolitischen Diskurs Dürrenmatts sichtbar: Dürrenmatt wendet sich immer wieder, beispielsweise in einem Essay 1975, gegen die vereinfachende Einteilung in entweder-oder, schwarz-weiss. Er geht davon aus, dass die Welt komplexer ist und fordert daher ein adäquates Denken, um vielschichtige Phänomene, wie beispielsweise die Gerechtigkeit, zu diskutieren. In der Komödie Der Besuch der alten Dame erkennt das Publikum somit, wie Korruption und käufliche Menschen einen Rechtsstaat ausser Kraft setzen, indem Claire Zachanassian aufgrund ihrer finanziellen Mittel die Herrschaft über alle Bereiche des Staates übernimmt. Die Korruption770, welche in Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs durchgehend eine vernachlässigbare Rolle spielt, wird im theatralischen Gesellschaftssystem der Komödie zum strukturprägenden Problem: Als neue Erkenntnis aus dem dargestellten systemischen Wandel offenbart sich dem Publikum, wie Claires Finanzkraft die Güllener korrumpierbar macht und das Leben auf Kredit die demokratischen Strukturen des fiktiven Systems fragil und instabil werden lässt. Im Theaterstück wird sichtbar, wie die Berechenbarkeit des Verhaltens der Güllener Claire die Steuerbarkeit 769 Vgl. S. Kaul: Poetik der Gerechtigkeit. 2008, S. 22. 770 Gemäss Werner Plumpe kann das Wort Korruption wie folgt verstanden werden: „Das Wort corruptio hat im Lateinischen die doppelte Bedeutung von Verderbtheit einerseits, Bestechung andererseits; mit corruptor wird der Verderber, der Bestecher, aber auch der Verführer bezeichnet. Das Verb corrumpere schliesslich umfasst eine Vielzahl von möglichen Bedeutungen, und zwar offensichtlich einerseits im ganz handfesten Sinne des Zusammenbrechens, des Verderbens und des Zugrundegehens, dann aber auch im Sinne von schlecht werden, schlechtmachen, verunstalten. Andererseits wird es metaphorisch verwandt für verderben, verführen, bestechen und verleiten.“ Plumpe führt aus, dass Korruption immer von Perfektion unterschieden wird, womit Korruption immer auch Gegenstand moralischer Kritik wird. Heute ist Korruption nicht mehr ein spezielles Phänomen der Politik, sondern umfasst auch andere Bereiche wie die Wirtschaft. Vgl. W. Plumpe: Korruption. Annäherungen an ein historisches und gesellschaftliches Phänomen. In: J. I. Engels et. al. (Hgg.): Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa. 2009, S. 19–47. In Friedrich Dürrenmatts Theaterstücken ist von einem breiten Korruptionsbegriff, wie Plumpe ihn versteht, auszugehen, der verschiedenste Bereiche umfasst.



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des soziopolitischen Wandels ermöglicht, Claire nutzt eben diese Berechenbarkeit der korrumpierbaren Menschen zu ihrem Vorteil aus. Damit eröffnet sich dem Rezipienten anhand des theatralischen Modells Güllen eine neue Sichtweise auf ein gesellschaftliches Phänomen: Auf der Bühne wird einerseits dargestellt, dass ein Leben auf Kredit und in Verschuldung für die Demokratie gefährlich werden kann: Die Güllener geraten in ihrer Verschuldung in eine Abhängigkeit von Claire. Andererseits wird sichtbar, dass dieses Abhängigkeitsverhältnis durch Claire, welche eine grosse Geldkonzentration besitzt, zur Vollendung von persönlichen Racheplänen ausgenutzt wird. Auf Basis dieser Erläuterungen kann nun ein mögliches soziopolitisches Wirkungspotential der Komödie erschlossen werden:771 Die neuen Erkenntnisse, die der kritische Rezipient im Theatergleichnis aufdecken kann, können als Mahnrufe beziehungsweise Warnungen gedeutet werden. In Der Besuch der alten Dame wird der Rezipient für die Macht des Geldes und für die Gefährlichkeit eines Lebens auf Kredit und in Verschuldung sensibilisiert: Es wird vorweggenommen, zu welch problematischen Auswirkungen dieses menschliche Verhalten in demokratischen Strukturen führen kann. Auch Donald G. Daviau und Harvey I. Dunkle erläutern 1974 in deren Essay Friedrich Dürrenmatt’s Der Besuch der alten Dame. A parable of western society in transition, dass Dürrenmatts Theaterstücke, mit Verweis auf dessen Aufsatz Fingerübungen zur Gegenwart von 1966, als Warnung interpretiert werden können: Dürrenmatt has also stated that an artist has a moral obligation to warn society against dangerous trends. Der Besuch der alten Dame is a parable precisely because of this moral purpose. […] The objective treatment of the final scene does not reveal Dürrenmatt’s ideological, political, or religious stance.772

Doch wie Donald G. Daviau und Harvey I. Dunkle in ihrem Essay korrekt erläutern, liegt es am Rezipienten, in einem dialektischen Akt die Vorgänge in Güllen zu beurteilen: Will the community, which has eagerly sold its collective soul for money, have to atone for its act or will it profit from its crime without retribution? Was the teacher correct in his prediction that an old woman will come for the Gülleners or was he speaking for an outmoded tradition that no longer applies? Dürrenmatt requires the reader to judge for himself.773 771 Analog zu Gamper wird davon ausgegangen, dass den literarischen Experimenten ein Bedeutungsreichtum zukommt. Der Rezipient nimmt an der Konstitution der Wissensbildung, welche nicht eindeutig ist, aktiv teil. Vgl. M. Gamper: Zur Literaturgeschichte des Experiments, eine Einleitung. In: M. Gamper et. al. (Hgg.): »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I, 1580–1790. 2009, S. 16. 772 D. G. Daviau und H. I. Dunkle: Friedrich Dürrenmatt’s Der Besuch der alten Dame. A parable of western society in transition. In: W. H. Matchett (Hg.): Modern Language Quarterly. Vol. 35, Nr. 3. 1974, S. 303. 773 Ebd.: S. 316.

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Der Besuch der alten Dame – ein „soziale[s] Experiment“

Die Ironiesignale auf verschiedenen Ebenen, welche insbesondere im dritten und letzten Akt der Komödie vorherrschend sind, können dem aufmerksamen Zuschauer dabei helfen, die indirekte Kritik an den dargestellten systemischen Bedingungen zu erkennen: Diese indirekte Beanstandung der diktatorischen Gesellschaftsstrukturen, der verhinderten Oppositions- und Kritikmöglichkeit sowie der noch immer vorherrschenden ideologischen Denkweisen über die Ironie hebt somit die Diskrepanz zwischen dem dargestellten theatralischen Gesellschaftssystem und den Forderungen im soziopolitischen Diskurs auf und bringt die Inhalte wieder miteinander in Einklang. Die Ironie als Form der indirekten Mitteilung soll den Zuschauer zudem zum Reflektieren über das dargestellte korrupte Gesellschaftssystem anregen: In der Komödie wird ein soziopolitisches Warnmodell durchgespielt, in dem für die Demokratie gefährliche Systemdynamiken dargestellt werden. Das Stück Der Besuch der alten Dame konzentriert sich dabei insbesondere auf das Phänomen Korruption und dessen soziopolitische Auswirkung. Die in der Komödie dargestellten Systemmechanismen lassen jedoch verschiedene Referenzen auf die Wirklichkeit zu: Es handelt sich um überzeitliche Strukturen, welche als Warnmodelle fungieren und in der Vergangenheit wie auch in der Zukunft in modifizierter Art immer wieder auftreten können. Das Theaterstück offenbart dem Zuschauer somit ein mögliches Schreckensszenario, das mit Dürrenmatts soziopolitisch schlimmstmöglicher Wendung im essayistischen Werk verglichen werden kann: Das dargestellte ursprünglich demokratische Gesellschaftssystem wandelt sich zu einer Diktatur auf politischer Ebene verbunden mit einem radikalen Kapitalismus auf ökonomischer Ebene. Beides wird von den Güllenern mit Begeisterung aufgenommen und von den Medien nicht durchschaut.774

4.4 Zwischenfazit Die Analysen der Komödie Der Besuch der alten Dame lassen erkennen, dass das Gesetz der grossen Zahl, welches sich Dürrenmatt im essayistischen Werk als Gleichnis für sein systemisches Denken aneignet, auch im Theaterstück umgesetzt ist: Die dargestellte Berechenbarkeit des Verhaltens der Güllener hilft Claire, den von ihr von langer Hand geplanten sozialen Wandel in Güllen zu steuern und so ihre Rache zu bewirken. Ill muss dabei als Epiphänomen betrachtet werden: Durch seine Nicht-Reproduktion der käuflichen Strukturen vereinzelt er erst, als sich das auf der Bühne dargestellte Gesellschaftssystem durch die Korruption ins Negative zu wandeln beginnt. Aus diesem Grund ist der Einzelne Ill in erster Linie als soziopolitische Kategorie zu interpretieren. Die in der Komödie dargestellten soziopolitischen Systemmechanismen divergieren stark von Dürrenmatts im essayistischen Werk geäusserten Reflexionen und Forderungen zu Gesellschaft und Politik. Der dargestellte Wandel zu diktatorischen Strukturen, die fehlenden Oppositionsmöglichkeiten im Gesellschaftssystem und das ideologische 774 Vgl. F. Dürrenmatt: Politik. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 133.

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Denken werden im Theaterstück jedoch insbesondere durch die Ironie im dritten Akt indirekt kritisiert und somit wieder in Übereinstimmung mit dem soziopolitischen Diskurs des essayistischen Werks gebracht. Der kritische Zuschauer soll durch die Ironie, die in indirekter Form geäusserte Kritik, zum Nachdenken über die dargestellte systemische Extremsituation angeregt werden. Er soll die Komödie als überzeitliches Warnmodell interpretieren, in dem als neue Erkenntnis die gefährlichen Auswirkungen von Korruption, Verschuldung und Abhängigkeitsverhältnissen für demokratische Strukturen sichtbar werden. Die in Dürrenmatts Komödie bereits früh feststellbare Auseinandersetzung mit soziopolitischen Systemen, Strukturen und Modellen sowie die Experimente mit klassischen Theaterelementen könnten ihren Ursprung in Dürrenmatts erstmaliger Teilnahme am Forum Alpbach haben: Er besucht im Jahre 1951 das Forum mit dem Titel Formprobleme – Strukturen und Modelle.775 Die allen zugänglichen Arbeitskreise beschäftigen sich mit dem „Formenwandel des deutschen Dramas“776, mit „Formprobleme[n] – Strukturen und Modelle in den Sozialwissenschaften, insbesondere in Soziologie und Nationalökonomie“777 und mit der „Beleuchtung der Dynamik des Handelns und Willenslebens durch Modelle, die denjenigen der dynamischen Naturwissenschaften ähnlich sind“778. Es scheint durchaus naheliegend, dass das Forum Alpbach Dürrenmatt einen Input für das modellhafte Durchdenken von soziopolitischen Strukturen und Systemen gegeben hat. Durch diese Rekontextualisierung gelingt es, Dürrenmatts soziopolitischen Diskurs in der Komödie Der Besuch der alten Dame wieder mit kultureller Energie aufzuladen.

775 Vgl. H. Pfusterschmid-Hardtenstein: 1945–1955 Österreichs Weg von der Befreiung zur Freiheit. Alpbach als erstes Tor zur freien Welt. In: A. Auer (Hg.): Das Forum Alpbach 1945–1994. Die Darstellung einer europäischen Zusammenarbeit. 1994, S. 64. 776 Ebd.: S. 64. 777 Ebd.: S. 64. 778 Ebd.: S. 64.

5. Moderne Systemdynamiken als dramatisches Darstellungsproblem Die Theaterstücke Die Ehe des Herrn Mississippi, Frank der Fünfte, Der Mitmacher sowie Die Frist im diachronen Vergleich „Als Mikrokosmos bezeichnen wir die Welt der Elementarteilchen, der Atome und Moleküle. In ihr spielen sich alle physikalischen Elementarprozesse ab. Der Zufall hat seinen Ursprung in der Unbestimmtheit dieser Elementarereignisse. Erst in der grossen Zahl […] kennzeichnen sie das Erscheinungsbild der Materie im Makrokosmos. In der statistischen Überlagerung kann sich die Unschärfe der Einzelprozesse herausmitteln. […] Unter speziellen Bedingungen kann es aber auch zu einem Aufschaukeln der elementaren Vorgänge und damit zu einer makroskopischen Abbildung der Unbestimmtheit des mikroskopischen »Würfelspiels« kommen.“ M. Eigen und R. Winkler: Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall. 1979, S. 35.

Die Auswahl der Komödien Die Ehe des Herrn Mississippi, Frank der Fünfte, Der Mitmacher und Die Frist erfolgte einerseits unter einem politischen Blickwinkel: Die vier Stücke weisen, wie bereits Der Besuch der alten Dame, interessante soziopolitische Konstellationen auf. Andererseits ermöglicht diese Wahl auch die Analyse der diachronen Entwicklungen der betrachteten Problemstellungen. In diesen vier Komödien wird, wie die diachrone Analyse ergibt, der dynamische Systemwandel oder dessen Ausbleiben erforscht. Die immer grössere Entdifferenzierung der gesellschaftlichen Funktionen im dargestellten System führt dazu, so lautet die erste These dieses Kapitels, dass im Gegensatz zu den in den 1950er- und 1960er-Jahren geschriebenen Stücken Der Besuch der alten Dame und Die Ehe des Herrn Mississippi in den mehrheitlich ab den 1970erJahren verfassten Komödien Frank der Fünfte, Der Mitmacher und Die Frist die Auswirkungen der zunehmenden Imponderabilität der Menschen für die Steuerung der Systemdynamiken reflektiert werden. Die zweite These, die aus der ersten These resultiert, besagt, dass der Einzelne als Epiphänomen entsteht, wenn das Gesellschaftssystem auf der Bühne sich ins Negative, Ideologische wandelt. Er integriert sich jedoch wieder ins dargestellte Gesellschaftssystem bei einer gegenläufigen, positiven systemischen Dynamik. In der diachronen Entwicklung des Einzelnen lässt sich zudem feststellen, dass dieser sich von einem vorerst passiv Negierenden zu einem aktiv Kämpfenden wandelt. Dem Stück Frank der Fünfte kommt dabei, so die dritte These, nicht nur von der Chronologie der Veröffentlichung her, sondern auch aufgrund der Analyse der Systemstrukturen die Funktion eines



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Wendepunktes in Dürrenmatts Werk zu. Die Durchleuchtung der theatralisch modellierten Gesellschaftssysteme mit Giddens’ Theorie der Strukturierung im ersten Teilkapitel erweist sich als Grundlage für die Thesen eins bis drei. Anschliessend wird auf die Umsetzung der Werte Gerechtigkeit und Freiheit in den Theaterstücken Die Ehe des Herrn Mississippi und Der Mitmacher eingegangen: Dabei kann ein theoretischer Link zwischen den dargestellten Systemen sowie ihrer Berechenbarkeit, der Axiologie und der Wirkungslenkung konstatiert werden. Auf Basis der bereits erfolgten Durchleuchtung der theatralischen Systeme kann nun durch die zusätzliche Analyse der Axiologie und die Problematisierung der Strukturdimension Legitimation aufgezeigt werden, wie der Fokus der Zuschauer immer stärker auf die negativen systemischen Bedingungen verlagert wird: Die vierte These besagt, dass die Zuschauer insbesondere durch die Experimente auf der Ebene der Axiologie in ein Verhältnis zu den dargestellten Systemen gesetzt werden, welche sie kritisch reflektieren sollen. Die Darstellung immer undurchschaubarerer, das heisst, entdifferenzierterer, theatralischer Gesellschaftssysteme führt in den Theaterstücken Frank der Fünfte, Der Mitmacher und Die Frist dazu, dass ebenfalls mit klassischen Theaterelementen experimentiert wird. Auch diese Experimente in geschlossener Form betonen gemäss der hier vertretenen fünften These die undurchschaubaren negativen Gesellschaftssysteme auf der Bühne. Sie helfen mit, neue soziopolitische Erkenntnisse aus den Theatergleichnissen zu erzielen.779 In einem abschliessenden Teilkapitel wird auf die bedeutendsten Ergebnisse, ihre diachrone Entwicklung sowie auf Differenzen zu Dürrenmatts in der Essayistik aufgestellten soziopolitischen Forderungen eingegangen. 779 Aus forschungsökonomischen Gründen werden für die Werte Gerechtigkeit und Freiheit sowie die experimentelle Verwendung klassischer Theaterelemente nur noch ausgewählte Stücke berücksichtigt. Die Auswahl der Komödien wurde aber so getroffen, dass die Analyse der diachronen Entwicklung möglich ist: Dabei muss bedacht werden, dass es sich bei den Neufassungen der Theaterstücke für die Werkausgabe von 1980 jeweils um umgearbeitete Texte handelt, die inhaltlich stark von der Erstfassung divergieren können. Die Neufassung 1980 von Der Besuch der alten Dame hat Dürrenmatt eigens für die Werkausgabe 1980 geschrieben. Sie ist eine Verbindung der ersten Fassung von 1956 und der zweiten Fassung von 1959. Die zweite Fassung wirkt vor allem auf den zweiten und dritten Akt ein. Vgl. F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. 1998, S. 153ff. In Die Ehe des Herrn Mississippi der Werkausgabe von 1980 entspricht der erste Teil des Stücks der zweiten Fassung von 1957, der zweite Teil hingegen der 1960 für Paris erarbeiteten und 1964 in deutscher Sprache veröffentlichten dritten Fassung. Vgl. F. Dürrenmatt: Die Ehe des Herrn Mississippi. 1998, S. 220ff. Die 1980 veröffentlichte Neufassung des Stücks Frank der Fünfte ist „eine Weiterentwicklung der unpublizierten Fassung von 1974 unter Rückgriff auf den ursprünglichen Schluss“, welcher aus dem Jahr 1958 stammt. F. Dürrenmatt: Frank der Fünfte. 1998, S. 167. Der Mitmacher wird für die Werkausgabe von 1980 fast unverändert in der Fassung der Mannheimer Inszenierung von 1973 abgedruckt. Vgl. F. Dürrenmatt: Der Mitmacher. 1998, S. 331f. Das Stück Die Frist wird für die Ausgabe von 1980 „zur >Neufassung 1980< überarbeitet“. F. Dürrenmatt: Die Frist. 1998, S. 150.

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5.1 Die theatralisch dargestellten Gesellschaftssysteme Die Theaterstücke Die Ehe des Herrn Mississippi780 und Die Frist skizzieren turbulente politische Machtwechsel und fokussieren aus diesem Grund insbesondere auf die Strukturdimension Herrschaft, welche die politischen Institutionen umfasst. In Frank der Fünfte und Der Mitmacher781 hingegen stehen mit der Privatbank und dem Syndikat vor allem die ökonomischen Institutionen der Strukturdimension Herrschaft im Zentrum des Interesses. In den nächsten beiden Teilkapiteln wird erstmals ein Fokus auf die dargestellten systemischen Bedingungen dieser vier Theaterstücke gelegt: Dabei werden mittels Giddens’ Theorie der Strukturierung einerseits die gesellschaftlichen Strukturen der Theaterstücke durchleuchtet, ohne den Einzelnen zu vernachlässigen. Andererseits wird durch die soziologische Theorie auch auf den sozialen Wandel oder dessen Ausbleiben in den dargestellten Systemen eingegangen.

5.1.1 Korrupte782 Systeme und ihre Dynamiken sowie die Entwicklung des Einzelnen vom mutigen Menschen zum ironischen Helden Wie in der Komödie Der Besuch der alten Dame findet sich die Korruption als strukturprägendes Problem auch in den dargestellten systemischen Bedingungen dieser vier Theaterstücke. Doch nicht alle Figuren reproduzieren die theatralisch dargestellten korrupten Strukturen: Es gibt Einzelne, die als Epiphänomen aus den negativ gewordenen 780 Britta Habermann weist in ihrem Essay Friedrich Dürrenmatt: Die Ehe des Herrn Mississippi darauf hin, dass sich die Thematik des Theaterstücks von einer Fokussierung auf Religiöses in der ersten Fassung auf Politisches in späteren Fassungen entwickelt hat. Sie erläutert dies beispielsweise an der Einsetzung der Internationalen, des kommunistischen Kampfliedes, in der zweiten Fassung. Vgl. B. Habermann: Friedrich Dürrenmatt: Die Ehe des Herrn Mississippi. Von der Komödie zur Posse - Ein Vergleich der Fassungen und ihrer Konfiguration. In: K. K. Polheim (Hg.): Die dramatische Konfiguration. 1997, S. 354 und S. 365. In dieser Arbeit wurde kein Fassungsvergleich der Theaterstücke angestrebt, ein solcher erweist sich aber, wie die Arbeiten von Habermann und Böth zeigen, durchaus als ergiebig. Auch Böth konnte in der Umarbeitung des Dramas Es steht geschrieben in die Komödie Die Wiedertäufer eine Akzentverschiebung von religiösen zu politischen Inhalten aufzeigen. Vgl. W. Böth: Vom religiösen Drama zur politischen Komödie. Friedrich Dürrenmatt „Die Wiedertäufer“ und „Es steht geschrieben“. Ein Vergleich. 1979. 781 Rudolf Probst führt aus, dass Dürrenmatt in einer Rede an der ETH Zürich bereits im Jahre 1954 davon sprach, eine Trilogie zu schreiben, in der der zweite Teil eine „moderne, politische Komödie“ mit dem Titel Die Mitmacher sein sollte. Vgl. R. Probst: Die Komödie Der Mitmacher: Abschied vom Drama? In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 7. 1996, S. 44. 782 In Dürrenmatts Theaterstücken wird weiter von einem breiten Korruptionsbegriff ausgegangen. Vgl. W. Plumpe: Korruption. Annäherungen an ein historisches und gesellschaftliches Phänomen. In: J. I. Engels et. al. (Hgg.): Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa. 2009, S. 19–47.



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Strukturen heraus entstehen oder sich wieder in die Strukturen eingliedern, die sich ins Positive wandeln. Wie dies theatralisch dargestellt ist, soll im Folgenden analysiert werden.

5.1.1.1 Die Ehe des Herrn Mississippi In Die Ehe des Herrn Mississippi plant der Politiker Diego einen Machtwechsel: Als Justizminister will er der neue Ministerpräsident werden. Durch einen von ihm angestachelten, jedoch nicht vollständig durchgeführten sozialen Wandel erreicht er sein Ziel: Diegos Engagement des Revolutionärs Saint-Claude783 soll als externer Einfluss im theatralisch dargestellten Gesellschaftssystem zu einer kurzfristigen Entroutinisierung der Interaktionen der Menschen führen. Die Demonstrationen des Volkes gegen den Staatsanwalt Mississippi und die Regierung helfen Diego, seine Pläne umzusetzen: Diego sieht sich nämlich in der Rolle des „Retter[s] der Ordnung“784, der diese Aufstände niederzuschlagen und den vollständigen sozialen Wandel, die Transformation der Institutionen zueinander, zu verhindern vermag, jedoch die Macht im System übernimmt. Das Publikum hat alle Informationen, um diese Pläne Diegos zu durchschauen. Es erkennt, dass Diego sein politisches Amt missbraucht, indem er von seiner kurzfristigen Stellung als einziger Vertreter der Regierung profitiert und sich zum Ministerpräsidenten ausrufen lässt.785 Somit gelingt es den Zuschauern, Diego als korrupten Politiker zu entlarven, der durch die kurzfristige Entroutinisierung im dargestellten Gesellschaftssystem lediglich seinen politischen Konkurrenten, den alten Ministerpräsidenten, aus dem Amt drängen und sich selbst an die Macht des korrupten demokratischen Systems hieven will. Weiter versucht Diego den Staatsanwalt Mississippi, der aufgrund seiner vielen Todesurteile für Diego politisch nicht mehr tragbar ist, aus dessen Position zu entfernen.786 Dies alles gelingt ihm, ohne die Verhältnisse der Institutionen längerfristig zu transformieren. Doch nicht nur Diego erweist sich als korrupte Figur im dargestellten Gesellschaftssystem: Die korrupten systemischen Bedingungen werden von Figuren verschiedenster Strukturdimensionen in ihren Interaktionen reproduziert. Mississippi, als Staatsanwalt ein Vertreter der Legitimation, missbraucht beispielsweise seine Position, indem er seine erste Ehefrau Madeleine „privat“ hinrichtet, ohne für den Mord vor Gericht zu büssen:

783 Vgl. F. Dürrenmatt: Die Ehe des Herrn Mississippi. 1998, S. 46 und S. 78f. 784 Ebd.: S. 79. 785 Vgl. ebd.: S. 63. 786 Vgl. ebd.: S. 41ff.

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MISSISSIPPI Gerade die absolute Gerechtigkeit zwingt mich zu diesem Schritt. Ich richtete Madeleine privat hin, nicht staatlich. Ich habe mich durch diesen Schritt bewusst gegen die heutigen Gesetze vergangen.787

Mississippi kann aus diesem Grund durch die Zuschauer als korrupte Figur entlarvt werden. Und auch der zweite Vertreter der politischen Institutionen erweist sich im dargestellten Gesellschaftssystem als verlogene Figur: Der politische Oppositionsführer Saint-Claude gibt im Gespräch mit Mississippi zu, dass er an gewisse Informationen nur durch die Bestechung des Ministers für Innere Sicherheit gekommen ist.788 Die ökonomischen Institutionen hingegen sind lediglich durch einen backstage character, einen verstorbenen Rübenzuckerfabrikanten, repräsentiert. Auch dieser, so erfahren die Zuschauer, war Teil der verlogenen Welt: Er betrog seine Ehefrau Anastasia, worauf sich diese für seine Untreue rächte, indem sie ihn mit Gift ermordete. Weiter kann das Publikum anhand von Anastasias Gesprächen, beispielsweise mit Übelohe, feststellen, dass diese für ihren eigenen Profit ebenfalls ohne Unterlass lügt und betrügt.789 Einzig der Vertreter der Signifikation, Bodo von Übelohe-Zabernsee, reproduziert als Arzt und Wissenschaftler in seinen Handlungen das negative vorherrschende System nicht. Der Zuschauer realisiert, dass Bodo diese verlogenen Strukturen endlich durchbrechen und Mississippi gestehen möchte, dass Anastasia ihren Ehemann nicht aus Rache für dessen Verhältnis zu Madeleine, sondern aus Liebe zu Bodo getötet hat.790 Nur so sieht er noch eine Chance für die Liebe zwischen der verheirateten Anastasia und ihm. Anastasia ist jedoch nicht dazu bereit und verleugnet vor Mississippi die Liebe zu Bodo.791 Als der neue Ministerpräsident Diego Staatsanwalt Mississippi ins Irrenhaus bringen lässt, wären Anastasia und Bodo zwar frei für ein gemeinsames Leben. Das Publikum erkennt, dass Übelohe gar sein ersehntes „Wunder“792 erlebt, doch es ist sinnlos: Er ist nicht gewillt die Liebe zu Anastasia auf Basis einer Lüge zu leben. ANASTASIA Immer ist es dein Anstand, der uns in das himmelschreiendste Unglück stürzt. […] ÜBELOHE Die Wahrheit ist immer ein Wahnsinn. Die Wahrheit muss man schreien, Anastasia. Ich werde sie in dieses Zimmer schreien, hinein in diese zusammensinkende Welt unserer Sünden. Willst du denn lügen, immer wieder lügen?793

Bodo ist, wie die Zuschauer feststellen können, der Einzelne, der mutige Mensch, der im inneren Kommunikationssystem konsequent auf die Wahrheit setzt und somit nach 787 Ebd.: S. 34. 788 Vgl. ebd.: S. 47. 789 Vgl. ebd.: beispielsweise S. 76 und S. 88. 790 Vgl. ebd.: S. 74. 791 Vgl. ebd.: S. 88. 792 Ebd.: S. 80 und S. 92. 793 Ebd.: S. 75.



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seiner Rückkehr aus den Tropen aus den korrupten, verdorbenen Strukturen des angetroffenen Gesellschaftssystems heraus entsteht. Bodo verliert dabei am Ende des Theaterstücks bis auf sein Leben alles.794 Am negativen System kann er als Einzelner jedoch nichts ändern.

5.1.1.2 Frank der Fünfte In Frank der Fünfte stehen die Machenschaften einer Privatbank im Zentrum des Stücks: Der Fokus dieses auf der Bühne dargestellten „Gewaltsystem[s]“795 liegt somit auf den ökonomischen Institutionen der Strukturdimension Herrschaft. Die Zuschauer erkennen, dass alle Bankmitarbeiter bereits zu Beginn der Komödie ihr Leben nach der beabsichtigten Liquidierung der Frankschen Privatbank planen.796 Es scheint sich im dargestellten theatralischen Gesellschaftssystem damit ein sozialer Wandel abzuzeichnen, das Verhältnis der Institutionen würde durch die Auflösung der Bank, welche die ökonomischen Institutionen repräsentiert, verändert. Böckmann, der Prokurist, beklagt, dass im Rechtsstaat die Bedingungen für die seit Generationen vollzogenen korrupten Machenschaften der Bank nicht mehr ideal sind: Er spielt damit auf externe Einflüsse an, die diesen sozialen Wandel bedingen. BÖCKMANN Die Zeiten sind schlimm. Wir leben, leider Gottes, in einem Rechtsstaat. Uns fehlt durchaus der fördernde Hintergrund einer allgemeinen Korruption, auf die wir uns berufen könnten, unsere Geschäftsmaximen sittlich zu untermauern.797

Diese Perversion von Wertbegriffen durch Böckmann, seine Erläuterungen zur Notwendigkeit der Bank-Liquidierung, sollten das Publikum irritieren. Der Zuschauer erkennt weiter, dass alle Vertreter der ökonomischen Institutionen im inneren Kommunikationssystem Geld aus dem Banktresor zur Seite geschafft haben, um für die Zeit nach dem sozialen Wandel vorzusorgen: Frank und Ottilie möchten den Ruhestand an einem anderen Ort geniessen798, Richard Egli und Frieda Fürst planen ein Leben mit Kindern in einem Häuschen in Maibrugg799, Kappeler will sich nach Teneriffa, Schmalz nach Kanada absetzen800. Bis zur Liquidierung sind alle Angestellten angewiesen, die

794 Vgl. B. Habermann: Friedrich Dürrenmatt: Die Ehe des Herrn Mississippi. Von der Komödie zur Posse - Ein Vergleich der Fassungen und ihrer Konfiguration. In: K. K. Polheim (Hg.): Die dramatische Konfiguration. 1997, S. 357. 795 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 121. 796 Vgl. F. Dürrenmatt: Frank der Fünfte. 1998, S. 23. 797 Ebd.: S. 36. 798 Vgl. ebd.: S. 23. 799 Vgl. ebd.: S. 28. 800 Vgl. ebd.: S. 75.

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Geschäfte der Bank, welche aus Lug, Betrug und vor allem Mord801 bestehen, weiterzuführen, was einer Reproduktion der dargestellten korrupten Strukturen gleichkommt. Auch der Vertreter der Signifikation, Pfarrer Moser, hinterlässt beim Publikum in seinem kurzen Auftritt zu Beginn des Stücks einen eher fragwürdigen Eindruck: Er vergibt Frank dem Fünften alle Sünden, ohne ihm ins Gewissen zu reden. Auch bei Franks letzter Tat, der Einstellung zweier Verbrecher, schweigt der Pfarrer. Damit reproduziert auch er die bedenklichen Gesellschaftsstrukturen auf der Bühne. In diesem dargestellten korrupten System führt nun die Erpressung der Frankschen Privatbank dazu, dass der geplante soziale Wandel, die Liquidierungs- und somit die Zukunftspläne der Bankangestellten, „mit einem Schlag in Frage gestellt“802 werden. Ottilie Frank verlangt nun, um den Erpresser aus Angst vor der Aufdeckung der Missetaten auszahlen zu können, die entwendeten Gelder der Mitarbeiter zurück. Dies führt dazu, wie das Publikum realisiert, dass einzelne Angestellte aus dem Strukturbereich der ökonomischen Institution zunehmend beginnen, sich aus unterschiedlichsten Gründen gegen die Forderungen Ottilies zu wehren: Der Zusammenhalt der Bankangestellten beginnt zu bröckeln, einzelne Figuren lehnen sich auf. Es handelt sich einerseits um Personen, die zwar weiterhin die Gaunerstrukturen auf der Bühne reproduzieren, jedoch die Verbrechen neu zum eigenen Profit begehen und nicht mehr zum Wohl der Bank. Diese werden für die Bank nutzlos und müssen sterben: Im inneren Kommunikationssystem wird Frieda Fürst für ihre Weigerung, das zur Seite gebrachte Geld zurückzugeben, ermordet, Theo Kappeler bei seinem Fluchtversuch mit dem Geld nach Teneriffa beseitigt und Gaston Schmalz nach dem abermaligen Entwenden von Geld aus dem Banktresor erschossen.803 Andererseits gibt es aber mit dem Prokuristen Böckmann und dem Schalterbeamten Häberlin zwei Figuren, die die korrupten Strukturen im theatralischen Gesellschaftssystem durch ihr Handeln nicht mehr reproduzieren. Sie wollen das Schweigen der Angestellten im inneren Kommunikationssystem durchbrechen804 und die Delikte gestehen: Diese Einzelnen, welche aus den negativen Strukturen auszubrechen versuchen, werden für die korrupte Bank und ihr Systemmodell gefährlich und müssen ebenfalls eliminiert werden: Häberlin wird aufgrund seiner Faszination für das Gefängnis getötet, sein Wunsch nach einem „gleichmässige[n] Leben im Zuchthaus“805 weckt das Misstrauen der Bank. Emil Böckmann wird vor der Lebensbeichte seiner schrecklichen Missetaten zur Strecke gebracht. 806 Insbesondere Böckmann wird im Dialog mit Frank im inneren Kommunikationssystem die Möglichkeit zugestanden, seinen Versuch, aus den vorherr801 Vgl. ebd.: S. 78ff. 802 Ebd.: S. 74f. 803 Vgl. ebd.: S. 83ff., S. 99 und S. 115f. 804 Im Schweigen der Bankmitarbeiter im inneren Kommunikationssystem kann der Zuschauer Analogien zum Schweizer Bankgeheimnis feststellen. 805 F. Dürrenmatt: Frank der Fünfte. 1998, S. 31. 806 Vgl. ebd.: S. 82 und S. 91ff.



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schenden negativen Strukturen auszubrechen, zu rechtfertigen: Dies kann als Sympathielenkung des äusseren Kommunikationssystems gegenüber der Figur Böckmann durch den impliziten Autor interpretiert werden. Auch in dieser Komödie bleibt jedoch die Transformation der Institutionen aus, der soziale Wandel findet nicht statt. Ottilies zweiter Versuch, nach der Erpressung die Liquidierung des Geldinstitutes zu erreichen, indem sie die Bank für ihre Machenschaften vor Gericht bringen will, scheitert an der Weigerung des Staatspräsidenten: Die Zuschauer entlarven abschliessend auch den politischen Vertreter, den blinden Traugott von Friedemann, als korrupt: Er zeigt sich am Ende des Stücks nicht gewillt, einen Wandel der systemischen Bedingungen ins Positive zu unterstützen. Obwohl er von Ottilie über die Verbrechen der Bank aufgeklärt wird, zieht er es vor, beide Augen zu schliessen.807 STAATSPRÄSIDENT Ich müsste ja die ganze Weltordnung umstürzen, mein Kätzchen. Ich muss an den Zusammenhang der Dinge denken, allzu subtil greifen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ineinander, nur Kleinigkeiten lassen eine Einmischung zu, doch was du getrieben, geht schon ins Grandiose. Nein, nein, erwarte von mir keine Strafe, erwarte von mir nur noch Gnade.808

Der korrupte Vertreter der politischen Institutionen sorgt gar für die finanzielle Sanierung der Bank: Somit bleibt im dargestellten System das Verhältnis der Institutionen zueinander gleich. Bei den ökonomischen Institutionen übernehmen nur neue Figuren die Führung der Bank. Auch im Stück Frank der Fünfte resultiert der Einzelne Böckmann aus den vorherrschenden negativen Strukturen primär als soziopolitische und nicht als moralische Figur.

5.1.1.3 Der Mitmacher Eine Wirtschaftskrise als äusserer Einfluss ist im theatralisch dargestellten Gesellschaftssystem des Stücks Der Mitmacher Auslöser eines sozialen Wandels. Doc wird zum Angestellten von Boss, dem Chef eines mafiösen Syndikats: Durch Docs Erfindung des „Nekrodialysator[s]“809 zur Leichenbeseitigung und Cops Teilhabe an der Firma beginnen sich die alltäglichen Interaktionen der Figuren zu verändern und die Verhältnisse der Institutionen zueinander radikal zu transformieren: Die grosse Korruption bricht aus und führt zu einem sozialen Wandel auf der Bühne: Die Vertreter der politischen und rechtlichen Institutionen werden im inneren Kommunikationssystem

807 Das Motiv des Augen verschliessen wird durch die Blindheit des Staatspräsidenten zusätzlich verdeutlicht. 808 F. Dürrenmatt: Frank der Fünfte. 1998, S. 122f. 809 F. Dürrenmatt: Der Mitmacher. 1998, S. 21.

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als käuflich dargestellt. Sie wollen neu über Cop an den Geschäften des Syndikats mitverdienen und verzichten auf die Einhaltung der rechtsstaatlichen Gesetze.810 Doch auch Figuren aus anderen Strukturdimensionen erweisen sich als korrupt: Jack, als Verlagsleiter ein Vertreter der ökonomischen Institutionen, will nach dem Tod seines Bruders die Spitze der Chemiewerke übernehmen. Um sich die Führungsposition des Chemieunternehmens zu sichern, kämpft er, wie der Zuschauer durch den Dialog zwischen Jack und Doc erkennen kann, mit unlauteren Methoden. Jack beauftragt das Syndikat mit der Ermordung seines Neffen Bill, des rechtlichen Erben der Chemiewerke.811 Bill hingegen, als Student ein Vertreter der Signifikation und durch das Erbe der Chemiewerke auch ein Repräsentant der ökonomischen Institutionen, will die Korruption im Staat gar fördern.812 Als mächtigster Mann im Land will er das vorherrschende politische System radikal bekämpfen und schlägt dem Syndikat vor, auf Basis eines lukrativen Dauerauftrags jeden Staatspräsidenten umbringen zu lassen, um das Land zu destabilisieren.813 Und auch Bills Vater Doc, der Wissenschaftler und Intellektuelle des Stücks und somit unter anderem ein Repräsentant der Strukturdimension Signifikation, schreckt vor Bestechung nicht zurück. Dies erkennt der Zuschauer in Docs Dialog mit Boss zu Beginn des Theaterstücks, als sich Cop auf ein Treffen ankündigt. DOC Nur noch zwei. BOSS Los! Tempo! DOC Bestechen Sie ihn einfach. BOSS Wenn ich nur nicht ein so verteufelt ungutes Gefühl hätte.814

Im Theaterstück Der Mitmacher erscheint für die Zuschauer auf den ersten Blick jede Figur korrupt, auch Cop. Dies betont Boss im ersten Teil des Theaterstücks, als er Cop unterstellt, „die grösste Korruption unserer Kommunalgeschichte“815 zu organisieren. Und auch im zweiten Teil thematisiert dies Doc, als er Cop mitteilt, dass ihn „[k]orrupte Polypen [an]widern“816. Cop selbst steigt, ohne dies für das innere oder äussere Kommunikationssystem im ersten Teil des Stücks zu begründen, ins Syndikat ein und gewinnt sogar den Machtkampf gegen Boss.817 Damit scheinen alle Figuren des Stücks durch ihr Handeln die negativen Strukturen auf der Bühne zu reproduzieren. 810 Vgl. ebd.: S. 84ff. In der „Makame“ der grossen Korruption erkennt das Publikum als äusseres Kommunikationssystem mit Cop, dass der Staatsanwalt, der Bürgermeister, der Gouverneur und der oberste Richter es vorziehen, am Syndikat Geld mitzuverdienen und nicht wie Cop denkt, für Gerechtigkeit zu sorgen. 811 Vgl. ebd.: S. 53. 812 Vgl. ebd.: S. 45f. 813 Vgl. ebd.: S. 58f. 814 Ebd.: S. 24. 815 Ebd.: S. 30. 816 Ebd.: S. 78. 817 Vgl. ebd.: S. 31f., S. 79 und S. 185.



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Doch sowohl Boss als auch Doc täuschen sich im Chef der Polizei,818 wie die Zuschauer feststellen können. Cop, als Repräsentant der Legitimation, ist der Einzelne. Er versucht, das Syndikat von Boss vor Gericht zu bringen. Erfolglos. In Cops Versuch, das Syndikat zu liquidieren und somit einen sozialen Wandel im Gesellschaftssystem ins Positive zu erreichen, wird dem äusseren Kommunikationssystem sichtbar gemacht, dass er als einzige Figur nicht auf Gewinn und Profit aus ist. Cops Morde an Bill und Jack unterstreichen dies. Obwohl minimal am Unternehmen beteiligt, bringt Cop die beiden um, bevor die lukrativen Geschäfte mit ihnen abgeschlossen sind: Irritiert und enttäuscht erkennt Cop jedoch, und anhand seiner Figur auch die Zuschauer, dass in derartig negativen theatralischen Strukturen jede Verbrechensbekämpfung unnütz ist. COP Auch ich trat zu einem wahnwitzigen Alleingang an. Ein Leben lang. Vergeblich? Ich weiss nicht. Wer heute ein Verbrechen aufdeckt, wird vernichtet, nicht der Verbrecher; und weil ich diese Farce819 nicht mitmachen wollte, habe ich Jack und den Jungen getötet.820

Cop als der Einzelne bezeichnet seinen Kampf gegen die korrupten Strukturen als „wahnwitzigen Alleingang“, als höchst unvernünftigen Einzelkampf. Cop ist bereit, im Kampf gegen diese korrupten Strukturen, sein Leben zu lassen:821 „Wer stirbt, macht nicht mehr mit“822, diese Einsicht können die Zuschauer anhand der Figur Cop erlangen, bevor er durch die Handlanger Jim und Sam getötet wird. Auch der Einzelne Cop erweist sich damit als Epiphänomen eines korrupten Gesellschaftssystems. Der in Der Mitmacher dargestellte soziale Wandel eines Gesellschaftssystems lässt das Publikum erkennen, wie sich durch die Entroutinisierung der Interaktionen das Verhältnis der verschiedenen Strukturdimensionen und ihrer Institutionen zueinander transformiert: Der Zuschauer erkennt, dass durch die Korruption und das kapitalistische Gewinnstreben ein mafiöses Geflecht entsteht, welches für die demokratischen Strukturen gefährlich wird: Die Vertreter der Strukturdimension Legitimation, ausser Cop, sowie der politischen Institutionen erweisen sich als geldgierig. Sie wollen an den 818 Vgl. R. Probst: Die Komödie Der Mitmacher: Abschied vom Drama? In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 7. 1996, S. 51. 819 „Die >Farce< ist ein kurzes, komisches Theaterstück oder -element, das durch die Darstellung einer kleinen Personengruppe aus den unteren Schichten, die mit grotesken, häufig konfliktbeladenen und aus niederen Trieben herrührenden Situationen konfrontiert ist, ein befreiendes Lachen hervorzurufen versucht.“ V. Porra: Farce. In: D. Lamping (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. 2009, S. 248. Durch Cops Begriffsverwendung Farce wird im Theaterstück ein Wirklichkeitsmodell als Theatergenre bezeichnet. Dadurch werden die systemischen Bedingungen auf der Bühne gleichzeitig kritisiert. 820 F. Dürrenmatt: Der Mitmacher. 1998, S. 86. 821 Vgl. auch C. Deering: Friedrich Dürrenmatt’s Der Mitmacher. Old Themes and a New Cynicism. In: B. Kratz (Hg.): Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft. Bd. 10. 1976/77, S. 56 und S. 65. 822 F. Dürrenmatt: Der Mitmacher. 1998, S. 90.

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Geschäften des Syndikats, welches die Strukturdimension der ökonomischen Institutionen darstellt, mitverdienen und üben ihre Funktionen nicht mehr aus. Durch die Vertreter von Legitimation und Politik unterstützt, dürfen die ökonomischen Institutionen in ihrem Gewinnstreben jedes Gesetz übertreten und können somit die Macht über das dargestellte Gesellschaftssystem übernehmen.

5.1.1.4 Die Frist In Die Frist führt als externer Einfluss der nahende Tod des schwerkranken Generalissimus zu einer gewissen Entroutinisierung in den Interaktionen der Figuren: Die Nachfolge muss geregelt werden. Exzellenz, als Ministerpräsident823 ein Vertreter der Politik, versucht als zentrale Figur des Stücks das entstehende Machtvakuum zu nutzen und eine Transformation der Verhältnisse, den von ihm geplanten sozialen Wandel von der Diktatur zur Demokratie, in Gang zu setzen. Exzellenz Verhalten ermöglicht es jedoch dem Zuschauer, ihn als korrupte Figur im inneren Kommunikationssystem zu durchschauen:824 Er weiss seit langer Zeit um die Vorgeschichte von Möller und Arkanoff, nutzt die beiden Verbrecher jedoch zuerst für seine Demokratisierungspläne, bevor er Arkanoff dem Kriminalbeamten übergibt und Möller in den Selbstmord treibt. Doch im auf der Bühne dargestellten Gesellschaftssystem erweisen sich noch andere Figuren als korrupt: Der Herzog und die Herzogin Saltovenia, weitere Vertreter der Politik, sowie Möller, der Vertreter der Legitimation, werden ebenfalls als käuflich dargestellt: Der Zuschauer erlebt einerseits, wie Möller, der Chef der Geheimpolizei, im inneren Kommunikationssystem für den Herzog den Fussballspieler Neesenbeuil erwirbt, um sich dessen Unterstützung für die eigenen Pläne zu sichern.825 Andererseits können die Zuschauer die Herzogin, welche ihrerseits ihren Ehemann betrügt, als lügnerische Figur durchschauen: Die Herzogin benötigt den Support des Geheimdienstchefs, um ihren Machtanspruch zu festigen.826 Und auch die Herzogin von Valdopolo versucht, mit Möller gegen Exzellenz zu konspirieren.827 Die Kirchenmänner als Vertreter der Signifikation, welche im zweiten Teil des Theaterstücks die im Fernsehen übertragene letzte Ölung am sterbenden Generalissimus jeden Tag erneut durchführen, haben zudem keine Bedenken, sich ab und an durch den Schauspieler Nostromanni vertreten zu lassen. Damit nutzen sie ihre Vertrauensstellung aus: Sie täuschen skrupellos die Öffentlichkeit, gaukeln Authentizität vor und erweisen sich eben-

823 Vgl. F. Dürrenmatt: Die Frist. 1998, S. 56. 824 Vgl. ebd.: S. 143f. 825 Vgl. ebd.: S. 72. 826 Vgl. ebd.: S. 112. 827 Vgl. ebd.: S. 72.



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falls als betrügerische Personen, die die vorherrschenden theatralischen Strukturen in ihren Interaktionen aufrecht erhalten.828 In diesem sich nun im Umbruch befindenden Gesellschaftssystem blieb den Figuren bis anhin keine andere Möglichkeit, als sich in ihren Handlungen den durch den Generalissimus vorgegebenen Strukturen und Gesetzen unterzuordnen. Versuchte jemand, sich dagegen aufzulehnen, wurde er eliminiert: Dies wird für die Zuschauer im Theaterstück anhand der sechs Menschen, welche für mehr Freiheit kämpften und aus diesem Grund zum Tode verurteilt wurden, ersichtlich.829 Auch die Proteste des Volkes und des Auslandes zeigen im theatralisch repräsentierten Gesellschaftssystem keine Wirkung.830 Einzig Goldbaum, dem Vertreter der politischen Opposition, gelingt es im inneren Kommunikationssystem, in Medienkonferenzen die vorherrschenden korrupten Strukturbedingungen und die Menschenrechtsverletzungen zu kritisieren: EXZELLENZ Dreissig Jahre währt Ihr Kampf schon. GOLDBAUM Vierzig Jahre regiert der Generalissimus schon. […] EXZELLENZ Mutig. Aber jedesmal, wenn Sie eine Ihrer berühmten Pressekonferenzen geben und unser Regime mit unbezwinglicher Logik in der Luft zerfetzen, zittere ich um Ihr Leben.831

Das Überleben des Systemkritikers Goldbaum erfordert daher eine genauere Betrachtung. Goldbaum erweist sich als der Einzelne, der die vorherrschenden theatralischen Gesellschaftsstrukturen öffentlich kritisiert und sie nicht reproduziert. Doch dass Goldbaum nicht ermordet wird, wie andere störende Vertreter des Volkes, verdankt der Arzt und Oppositionspolitiker, der die Strukturen Politik und Signifikation repräsentiert und zweifacher Nobelpreisträger ist, wohl nicht seinem Bekanntheitsgrad: Möller, der Vertreter der Legitimation, würde den Einzelnen Goldbaum eliminieren, wäre er an der Macht.832 Goldbaums Funktion als Einzelner im theatralisch dargestellten System muss jedoch insbesondere in Bezug auf Exzellenz Demokratisierungspläne betrachtet werden. Dazu erweist sich Exzellenz Aussage, dass er um Goldbaums Leben besorgt ist,833 als relevant: Goldbaum spielt in Exzellenz Machtpoker eine wichtige Rolle, er darf aus diesem Grund nicht sterben. Im von Exzellenz geplanten sozialen Wandel, der von der monistischen Diktatur des Generalissimus zur Demokratie führen soll, muss der Einzelne Goldbaum seine Oppositionsrolle aufgeben, da diese ins demokratische System integriert werden soll: In einem sich erstmals ins Positive wandelnden Gesellschaftssystem wird der 828 Vgl. ebd.: S. 93 und S. 111. 829 Vgl. ebd.: S. 55f. 830 Vgl. ebd.: S. 25f. 831 Ebd.: S. 41f. 832 Vgl. ebd.: S. 42ff. und S. 71. 833 Vgl. ebd.: S. 42.

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Einzelne als ehemaliger Systemkritiker wieder in die Strukturen eingegliedert. Da Exzellenz Goldbaums Rolle bei einem sozialen Wandel zur Demokratie als zentral betrachtet, duldet er ihn im diktatorischen System, beschützt ihn gar:834 Damit kommt Goldbaum aus Exzellenz Sicht eine, vom Einzelnen selbst unbemerkte, öffentliche Rolle im System zu:835 Die dargestellten Systembedingungen vermögen den Einzelnen somit zu deformieren. In Die Frist führt dies Goldbaum nach Exzellenz Ermordung sogar an die Spitze der Macht.

5.1.2 Die Steuerbarkeit des sozialen Wandels in den theatralisch dargestellten Gesellschaftssystemen In der Analyse des Stücks Der Besuch der alten Dame konnte aufgezeigt werden, dass Claires geplanter sozialer Wandel aufgeht, da die Einwohner Güllens in ihrem Verhalten – analog zum Gesetz der grossen Zahl – als berechenbar dargestellt sind: Sie nutzt ihr Wissen um die Käuflichkeit der Menschen und setzt ihre Pläne kompromisslos um. Welche Befunde können aus den vier in diesem Kapitel analysierten Theaterstücken über die Berechenbarkeit des Verhaltens der dargestellten Menschen und des Einzelnen für die Systemdynamiken gewonnen werden?

5.1.2.1 Die Ehe des Herrn Mississippi In Die Ehe des Herrn Mississippi versucht der Politiker Diego das Verhalten der Menschen für seine Pläne zu nutzen. Sein Ziel, dies erkennen die Zuschauer, ist die Entmachtung des Ministerpräsidenten, die Absetzung des Staatsanwalts und die Übernahme der politischen Führung des Landes: DER MINISTER Und während diese zwei, Mann und Frau, in ihrem Zimmer warten, bin ich soeben Ministerpräsident geworden. […] Der Pöbel liebt den Blutrausch des Beginns, das Unmass an Hoffnung, das Abenteuer der Kopflosigkeit, doch von einem bestimmten Augenblick des Aufruhrs an dreht sich der Masse Gunst. Erhitzte sie die Gier nach mehr, so kühlt sie nun die Furcht ab, alles zu verlieren: In diesem genau zu berechnenden Punkt als Retter der Ordnung aufzutreten, welche Chance. Händeklatschen. Profitieren wir davon.836

Bereits das obenstehende Zitat lässt ersichtlich werden, dass Diego das theatralisch dargestellte Volk als berechenbar einstuft: Er geht davon aus, dass der „Pöbel“ sich zwar einerseits nach Veränderungen sehnt, dass andererseits jedoch sein Wunsch nach 834 Vgl. ebd.: S. 43f. 835 Vgl. ebd.: S. 125. 836 F. Dürrenmatt: Die Ehe des Herrn Mississippi. 1998, S. 78f.



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Ordnung stets stärker ist.837 Diego schmuggelt, um seine Ziele zu erreichen, den Agenten Saint-Claude ins Land ein, damit dieser eine vermeintliche Revolution gegen die bestehenden Strukturen anzettelt.838 Das auf der Bühne dargestellte Volk verhält sich, wie von Diego erwartet, als berechenbar und unterstützt in einer ersten Phase die Revolution. Dies führt zur Absetzung des alten Ministerpräsidenten und zur Festnahme von Mississippi. In einer zweiten Phase gibt das Volk im theatralischen System aus Angst, alles zu verlieren, den angestrebten sozialen Wandel auf. Diegos Berechnungen gehen erneut auf,839 er übernimmt die Macht. Es kann festgestellt werden, dass das theatralisch dargestellte Volk sich für Diego wie auch für Claire analog zum Gesetz der grossen Zahl als berechenbar und somit steuerbar erweist. Diego drückt diese Möglichkeit zur Lenkung folgendermassen aus: DER MINISTER Regieren heisst steuern, nicht hinrichten.840

Für Diego treten in Die Ehe des Herrn Mississippi keine ungewollten Nebenwirkungen auf, die seine Pläne durchkreuzen könnten. Dies erkennen auch die anderen Figuren. SAINT-CLAUDE Das Ende des Aufstands war jämmerlich, der Sieg des neuen Ministerpräsidenten vollkommen, die Folgen in meiner Karriere peinlich […].841

Diego triumphiert auf ganzer Linie mit seiner Steuerung des Volkes. Übelohe, der Einzelne, der aus den negativen korrupten Strukturen heraus entsteht, erweist sich – analog zum Gesetz der grossen Zahl – als einzige Figur als unberechenbar. Seine Motivation, die korrupten Strukturen nicht zu reproduzieren, liegt im Persönlichen, der Liebe zu Anastasia. Insbesondere auf Anastasia jedoch wirkt Übelohes Wunsch nach Ehrlichkeit unverständlich, könnten sie doch gegen Ende des Theaterstücks endlich gemeinsam fliehen.842 ÜBELOHE steht auf Herr Staatsanwalt! Ich habe Ihnen die Wahrheit zu sagen. In meinem Namen und im Namen Ihrer Frau. Die Wahrheit ist, dass Ihre Frau und ich – es ist die Wahrheit, dass wir uns – dass ich Ihre Frau liebe.843

Der Zuschauer erkennt, dass Übelohe im inneren Kommunikationssystem eine unberechenbare Figur darstellt. Dies zeigt sich vor allem anhand des Gesprächs zwischen 837 Vgl. ebd.: S. 63. 838 Vgl. ebd.: S. 79. 839 Vgl. ebd.: S. 79. 840 Ebd.: S. 44. 841 Ebd.: S. 93. 842 Vgl. ebd.: S. 72ff. 843 Ebd.: S. 82.

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Übelohe, Anastasia und Mississippi: Obwohl Übelohe Anastasia liebt, ist er nicht bereit, zu lügen. Diese Ehrlichkeit macht Übelohe zu einer unberechenbaren Figur, die dem korrupten System jedoch nicht schaden kann. Das Publikum erkennt im Gegenteil, dass Übelohe durch Anastasias Verleugnung zu einem lächerlichen Menschen wird.844

5.1.2.2 Frank der Fünfte Die Mitarbeiter und Kunden im theatralisch dargestellten Gesellschaftssystem in Frank der Fünfte erweisen sich für Ottilie ebenfalls als berechenbar: Sie durchschaut die Pläne von Heini Zurmühl und Päuli Neukomm zu Beginn des Stücks und kennt, wie der Zuschauer feststellen kann, die Profitgier ihrer Kunden. OTTILIE Fünfhundert pro Aktie. Kauft er, machen wir ein Bombengeschäft, das Bergwerk enthält in Wirklichkeit nichts als wertlosen Schwefelkies. Und er wird kaufen. Wo Profit lockt, wird die Handlungsweise des Menschen vorausbestimmbar.845

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Ottilies mehrmalige Verwendung des Begriffs Rechnung, der das Thema der Berechenbarkeit zusätzlich unterstreicht.846 Die Mehrheit der auf der Bühne dargestellten Figuren können durch Ottilie in ihrem Handeln prognostiziert werden: Ottilie gelingt es sogar, im Gegensatz zu Frank dem Fünften847, den Wunsch des Einzelnen Böckmann nach einer Beichte vor seinem Tod vorherzusehen. Auf Böckmanns Bedürfnis zu beichten, reagieren Frank und Ottilie im inneren Kommunikationssystem mit Unverständnis: Frank entgegnet Böckmanns Argumenten, dass das Erbe der Bank nicht ausgeschlagen werden konnte, Ottilie fühlt sich ungerecht behandelt. OTTILIE Wirklich, Böckmann, das ist nicht fair von dir, das haben wir wirklich nicht um dich verdient. Beichten. Man traut seinen Ohren nicht. Kein Aussenstehender darf je von unseren Geschäftsmethoden erfahren, das weisst du genau!848

Dies lässt erkennen, dass Böckmanns plötzliches Negieren der korrupten Strukturen einer persönlichen Motivation entspringt, die vor allem für das innere Kommunikationssystem eher unberechenbar ist: Der Beichtwunsch und seine Skrupel kommen unerwartet und das Aufheben des Schweigens verletzt ein zentrales Prinzip der Bank. Ottilie steht zudem

844 Vgl. ebd.: S. 113f. 845 F. Dürrenmatt: Frank der Fünfte. 1998, S. 49. 846 Vgl. ebd.: S. 21f. 847 Vgl. ebd.: S. 92f. 848 Ebd.: S. 94.



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als Figur des inneren Kommunikationssystems mit ihrem Wunsch nach Geheimhaltung in einem paradoxen Widerspruch zur Theatersituation. Während Frank nun über Böckmanns Wandlung erschrickt, ist Ottilie für alle Fälle gewappnet. Böckmanns Schuldgefühle lassen ihn, den Einzelnen, für Ottilie berechenbar werden. Sie hat dessen Skrupel vorausgeahnt und sorgt, wie die Zuschauer beobachten, mit einer Giftspritze dafür, dass der Prokurist vor der Beichte stirbt.849 Böckmann geht trotz seinen Argumenten im inneren Kommunikationssystem als Unverstandener und vor allem für Frank als Unberechenbarer in den Tod. Es scheint zwar, als könne Ottilie das Handeln aller Kunden und Mitarbeiter problemlos antizipieren. Doch Ottilies Pläne, einen sozialen Wandel herbeizuführen, zuerst die versuchte Liquidierung der Bank und am Ende des Stücks die angestrebte Gerechtigkeit für die Missetaten der ökonomischen Institution, gehen nicht auf: Es gelingt ihr nicht, die Erpressung der Bank durch die eigenen Kinder zu durchschauen, wie Dürrenmatt im Anhang zum Theaterstück ausführt: Ottilie Frank etwa, die Mutter, die Verbrechen begeht, damit ihre Kinder es einmal besser hätten, bei welcher der gute Zweck jedes Mittel heiligt und die vor dem Nichts steht, wie sie ihre Fehlrechnung begreift […].850

Ottilie weiss, dass die menschliche Unberechenbarkeit für die Gangsterbank gefährlich sein könnte. Sie versucht denn, diese wenn möglich frühzeitig zu erkennen und zu eliminieren, damit ihr angestrebter sozialer Wandel reüssiert. Dies gelingt ihr jedoch, wie das Publikum feststellen kann, nur noch teilweise, da das Verhalten der Menschen auf der Bühne nicht mehr durchwegs als berechenbar dargestellt ist. Für eine durchgehende Steuerung ist das auf der Bühne dargestellte System zu undurchschaubar: BÖCKMANN Die tägliche Arbeit in einem Finanzinstitut unserer Art ist fast nicht zu demonstrieren, höchstens anzudeuten, das Wichtigste, Entscheidendste geschieht im geheimen. Der Kampf ist verwickelt, unübersichtlich und grausam.851

Die Undurchschaubarkeit des dargestellten Gesellschaftssystems, welche durch die Figur Böckmann im Theaterstück thematisiert wird, weist somit erstmals kritische Folgen für die Steuerung des sozialen Wandels durch eine Figur auf: In Frank der Fünfte führt Ottilies Kinderliebe dazu, dass sie die Pläne der eigenen Tochter und des eigenen Sohnes nicht berechnen kann, ihre Kinderliebe ist ihr blinder Fleck. Die systemischen Strukturen bleiben, trotz aller Lenkungsversuche durch Ottilie, bestehen. Der unberechenbare Einzelne Böckmann bleibt für das System wirkungslos.

849 Vgl. ebd.: S. 92ff. 850 Ebd.: S. 153f. 851 Ebd.: S. 35.

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5.1.2.3 Der Mitmacher Im Theaterstück Der Mitmacher ist für die Zuschauer weniger deutlich, welche Figur im inneren Kommunikationssystem die Mitmenschen zu berechnen versucht, da in diesem Stück die Unüberschaubarkeit der dargestellten Strukturen weiter zugenommen hat. Diese wird im Vorwort zum Nachwort des Stücks ausführlich erläutert: Wir machen mit, weil wir sind, verstrickt nicht nur durch unzählige gesellschaftliche, kulturelle, politische und wirtschaftliche Fäden mit der Welt als Ganzem, sondern auch als Angehörige eines Staates, den wir als Ganzes nicht zu überblicken vermögen, als Teile eines Volkes, das uns nach aussen prägt, ob wir wollen oder nicht, auch als Glieder einer Gemeinde, die in anderen Gemeinden aufgeht, oder als Angestellte irgendeiner Firma, die ihrerseits wieder mit anderen Firmen verquickt ist: Das Knäuel ist unentwirrbar […].852

Das Publikum wird Zeuge eines auf der Bühne dargestellten Machtkampfes zwischen Boss und Cop, in welchem Boss seine Position verbessern will. Dass Cop bei seinem Eintritt in die Firma insgesamt einen Anteil von 50 Prozent übernimmt, stört Boss.853 Daher versucht er, über Docs 20 Prozent den Rückstand wieder wettzumachen. Die Möglichkeit, seine Pläne umzusetzen, so erfährt der Zuschauer in Boss Monolog, ergibt sich, als Boss begreift, dass Doc ein Verhältnis zu Ann, seiner Geliebten, hat. BOSS Unwichtig, dass ich den Namen meiner Mutter und den meines Vaters nicht weiss, […]. Umstände sind unwesentlich, wesentlich ist nur der Charakter: zum Rechnen, Regieren, Töten, Lieben und zu einer glücklichen Ehe braucht es die gleiche Seelenstärke.854

Boss tötet Ann „aus taktischen Gründen“855. Seine Berechnung, dass Doc sich an Anns Tod schuldig fühlt und Boss seinen Anteil überlassen wird, geht auf.856 Damit haben Boss und Cop je einen Anteil von 50 Prozent am Syndikat. Boss durchschaut zudem richtig, dass sein Angestellter Sam sich auf die Seite von Cop geschlagen hat.857 In Der Mitmacher erkennt das Publikum jedoch, wie bereits in der Komödie Frank der Fünfte, dass die durch Boss berechneten Pläne nur noch teilweise aufgehen: Den sozialen Wandel des dargestellten Systems ins Negative kann er nicht verhindern, da das Verhalten der Menschen nicht mehr durchgehend als berechenbar dargestellt wird. Boss wird am Ende gar, gerade weil er das System nicht mehr durchschaut, in Cops Auftrag ermordet. 852 F. Dürrenmatt: Der Mitmacher. 1998, S. 105. 853 Vgl. ebd.: S. 31f. 854 Ebd.: S. 63f. 855 Ebd.: S. 64. 856 Vgl. ebd.: S. 65 und S. 74f. 857 Vgl. ebd.: S. 75 und S. 79.



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Auch Cop, der Chef der Polizei in Der Mitmacher, versucht, die korrupten Strukturen zu durchbrechen und somit einen sozialen Wandel in Richtung einer positiven Entwicklung voranzutreiben, indem er das Syndikat vor Gericht bringen will. Dafür gibt er Boss und Doc gegenüber vor, am Syndikat mitverdienen zu wollen, in Wahrheit versucht er jedoch, Beweise zu sammeln, um das Unternehmen zu liquidieren. Durch sein geschäftsschädigendes Verhalten wird Cop, der Einzelne, für Boss und Doc unberechenbar. Dies offenbart sich beispielsweise im Dialog mit Doc, als Cop seinen Entscheid erläutert, Bill und Jack umzubringen, bevor diese ihre Aufträge bezahlt haben. DOC Sie liessen beide Geschäfte platzen? COP Nur der Verlust von Riesengeschäften vermag diese Welt noch zu treffen, sonst ist sie durch nichts zu erschüttern. DOC schreit Sie sind beteiligt!858

Doc versteht Cops aktiven Kampf gegen die Korruption trotz dessen Erklärungen nicht. Seine Reaktionen zeigen, wie wütend ihn diese unerwartete Wendung macht. Auch Boss vertraut seinem Geschäftspartner Cop, ohne zu hinterfragen, woher er ihn kennt. Die Gefährlichkeit, die dieses sorglose Verhalten in sich birgt, erkennt der Zuschauer hingegen während Cops Monolog: COP Einer, den er (Boss PK) zerfetzt, den er vergessen, den er nicht einmal mehr erkannt hatte, als er ihm wieder begegnete – […].859

Die Pläne von Cop, das Syndikat und Boss zu liquidieren, hat Boss nicht durchschaut. COP setzt sich Doc gegenüber Doc, ich bilde mir nicht ein, das Unternehmen erledigt zu haben, erst jetzt wird der Kundenstrom einsetzen. Doch eine kurze Weltsekunde lang bot ich dem fatalen Abschnurren der Geschäfte Einhalt. Wozu? Man muss sich schliesslich doch noch irgendwie achten können […].860

Cop ist somit, dies wird erkennbar, der erste Einzelne, der den sozialen Wandel ins Negative zwar nicht aufhalten, den systemischen Bedingungen jedoch zumindest kurzfristig Einhalt gebieten kann. Anhand der Figur Cop wird weiter sichtbar, dass die sys-

858 Ebd.: S. 84. 859 Ebd.: S. 77. 860 Ebd.: S. 87. Cops Wunsch, dem System für eine kurze Zeit Einhalt zu gebieten, erinnert an das Ende des Theaterstücks Romulus der Grosse. Romulus bittet Odoaker, die Herrschaft zu übernehmen: „Herrsche nun du. Es werden einige Jahre sein, die die Weltgeschichte vergessen wird, weil sie unheldische Jahre sein werden – aber sie werden zu den glücklichsten dieser wirren Erde zählen.“ F. Dürrenmatt: Romulus der Grosse. 1998, S. 112.

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temischen Bedingungen ihn zum Mörder werden lassen, den Einzelnen somit zu deformieren vermögen. In Der Mitmacher führt zudem die zunehmende Entdifferenzierung der gesellschaftlichen Funktionen im theatralisch dargestellten System dazu, dass weder Boss noch der Einzelne Cop die Strukturen richtig durchschauen. Boss wird im Auftrag seines Kontrahenten Cop eliminiert, ohne Cop und dessen Rachepläne je erkannt zu haben. Der Einzelne Cop hingegen unterschätzt die durchgehende Käuflichkeit der dargestellten Gesellschaft, die keine Gerechtigkeit will. Er sucht seine Motivation, Gerechtigkeit herzustellen, im Allgemeinen, scheitert aber an der Korrumpierbarkeit der Gesellschaft. Durch dieses unberechenbare, dem negativen systemischen Wandel zuwiderhandelnde Verhalten provoziert Cop seine eigene Ermordung. Weder Cop noch Boss gelingt es aber, langfristig Einfluss auf den systemischen Wandel zu nehmen und ihn zu steuern.

5.1.2.4 Die Frist Im Theaterstück Die Frist erkennt der Zuschauer, dass Exzellenz versucht, die Figuren am Hofe des Generalissimus zu berechnen, ihm dies aber zunehmend schwerer fällt. EXZELLENZ Merkwürdig, Möller. Ich meinte, die politische Bühne zu überblicken und auf ihr spielen zu können wie auf einem Schachbrett861, aber auf einmal platzt das Blutgefäss eines alten Mannes, und ich überblicke keinen Zug mehr.862

Dass für Exzellenz die Mathematik und somit das Rechnen eine besondere Bedeutung im Leben haben, offenbart sich ganz zu Beginn des Stücks in einem Dialog mit Arkanoff. Exzellenz Vater war Mathematiker an der Hofschule, diese Berufswahl hatte in ihrer Familie seit Generationen Tradition. Exzellenz selbst studierte zwar Politologie, seine Verbundenheit zur Mathematik lässt sich aber daran erkennen, dass er angibt, sein Studium als Rechenkünstler in einem Kabarett finanziert zu haben.863 Daher verwendet im inneren Kommunikationssystem fast ausschliesslich Exzellenz die Begriffe rechnen oder Rechnung.864 Seine Faszination für Primzahlen, welche gemäss Dürrenmatt „als ein Sinnbild einer absolut logisch aufgebauten“865 und somit berechenbaren Welt betrachtet werden können, widerspricht jedoch den Darstellungen der undurchschaubaren systemischen Bedingungen der Theaterstücke Frank der Fünfte und Der Mitmacher. 861 Das Schachspiel als Metapher in Dürrenmatts Werk betrachtet Hans Dietrich Irmscher in seinem gleichnamigen Essay. Vgl. H. D. Irmscher: Das Schachspiel als Metapher. Bemerkungen zum «komödiantischen Denken» Friedrich Dürrenmatts. In: H. D. Irmscher und W. Keller (Hgg.): Drama und Theater im 20. Jahrhundert. Festschrift für Walter Hinck. 1983, S. 333–348. 862 F. Dürrenmatt: Die Frist. 1998, S. 31. 863 Vgl. ebd.: S. 20. 864 Vgl. ebd.: S. 24, S. 30, S. 43, S. 59, S. 66 und S. 125. 865 Ebd.: S. 143.



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Eben diese Unmöglichkeit einer totalen Berechenbarkeit und Steuerung komplexer Systeme der Moderne erweist sich im Folgenden auch für Exzellenz in Die Frist als problematisch. Exzellenz versucht zwar trotz aller Vorbehalte, seine Pläne weiter zu verfolgen und die scheinen, wie die Zuschauer erkennen, vorerst aufzugehen: Er versucht die diktatorischen Strukturen in demokratische umzuwandeln und spielt dafür die Hoheit von Saltovenia gegen die Herzogin von Valdopolo aus, so dass beide auf ihren Machtanspruch verzichten müssen.866 Zudem eliminiert er Möller und dessen Herrschaftsansprüche867 und verheiratet Silvia, die Prinzessin von Saltovenia, mit einem bürgerlichen Studenten, damit die Monarchie erlischt868. Damit setzt sich auf der Bühne der soziale Wandel zu einer demokratischen Staatsform durch. Doch auch diese Umwandlung kann durch Exzellenz nicht mehr bis ins Detail gesteuert werden, ungewollte Nebenwirkungen treten auf, da die systemischen Bedingungen zu undurchschaubar und die Menschen in ihrem Verhalten nicht mehr vollständig berechenbar dargestellt werden: Exzellenz hat, wie in Der Mitmacher Boss, nicht damit gerechnet, selbst ermordet zu werden. Dies gesteht er kurz vor seinem Tod ein: EXZELLENZ Ich bin doch sehr verwundert, Goldbaum. Ich stürzte ein unglaubwürdiges System und ahnte nicht einmal, dass ich am unglaubwürdigsten war. Lacht. Goldbaum, möge es Ihnen einmal wie mir ergehen: lachend zu sterben.869

Exzellenz Pläne, den Staat durch einen sozialen Wandel in eine neue demokratische Ära hinüberzuführen und die Macht zu übernehmen, werden durch den Bauern Toto 870 durchkreuzt. Exzellenz muss im Moment seines Todes anerkennen, dass seine Berechnungen über die Menschen nicht restlos funktioniert haben: Er merkt an, dass „[d]ie Geschichte etwas Ungefähres, eine gotteslästerliche Schmiere [ist], von der Fahrlässigkeit, vom Zufall und von der Vergesslichkeit inszeniert“871. Damit erkennt auch das äussere Kommunikationssystem, dass im Stück Die Frist das Volk nur noch ansatzweise berechenbar dargestellt ist: Sichtbar wird dieser Umstand für die Zuschauer insbesondere anhand des Bauern Toto: Toto, welcher im inneren Kommunikationssystem zweimal nicht wahrgenommen wird, quasi als Geist auftritt, ermordet am Ende der Komödie Exzellenz.

866 Vgl. ebd.: S. 107ff. 867 Vgl. ebd.: S. 74ff. 868 Vgl. ebd.: S. 124. 869 Ebd.: S. 125. 870 Ob Bauer Toto den Mord an Exzellenz als Auftrag oder auf eigene Faust ausführt, wird im Theaterstück nicht abschliessend geklärt. 871 F. Dürrenmatt: Die Frist. 1998, S. 122.

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MÖLLER Exzellenz. EXZELLENZ in Gedanken Möller, wie kam der Bauer herein? MÖLLER Welcher Bauer? EXZELLENZ Ponzos Vater. MÖLLER Ponzos Vater liessen Sie vor zwei Jahren erschiessen. EXZELLENZ Ich? MÖLLER Als letzte Instanz – EXZELLENZ Dann war es ein anderer Bauer. MÖLLER Es war kein Bauer da.872

Totos sprechender Name, der für ein Lotteriespiel sowie lateinisch für das Ganze 873 steht, weist zugleich auf die Funktion hin, die Toto im inneren Kommunikationssystem übernimmt: Als unberechenbare Figur aus dem dargestellten Volk zeigt sein Mord an Exzellenz Auswirkungen auf Systemebene: Das äussere Kommunikationssystem erkennt, dass der dargestellte Zwischenfall im inneren Kommunikationssystem, Totos Unberechenbarkeit, Goldbaum an die Macht des Systems hievt: Goldbaum, der nicht nach Macht strebt,874 obwohl er als Führer der Opposition jahrzehntelang gegen das unmenschliche System des Generalissimus gekämpft hat, muss sich im gewandelten demokratischen System wieder in die Strukturen eingliedern und Verantwortung übernehmen.875 Sein Kampf gegen die negativen systemischen Bedingungen zeigt, dass Goldbaums Motivation im Allgemeinen verankert ist. Für alle anderen machthungrigen Figuren repräsentiert Goldbaum im inneren Kommunikationssystem die Rolle des unberechenbaren Einzelnen, da seine zurückhaltende Art, welche die Gunst der Stunde nicht auszunützen versucht, auf Unverständnis stösst. Insbesondere im Gespräch mit Exzellenz erkennt das Publikum, dass der Einzelne Goldbaum für das innere Kommunikationssystem schwer zu berechnen ist: Goldbaum erkennt in Arkanoff und Möller denn auch seine Peiniger aus dem Konzentrationslager nicht wieder, wie Exzellenz erwartet hat.876 Somit erreicht aber in Die Frist zum ersten Mal ein Einzelner eine Position, in der er Struktur verändernd agieren könnte. Doch das Ende wirkt paradox: Goldbaum muss wider seinen Willen die Macht übernehmen: Der Kämpfer für die Menschenrechte wird als Machtinhaber auch unmenschliche Entscheide

872 Ebd.: S. 25. 873 Das Ganze steht im Theaterstück für das repräsentierte Volk. 874 Vgl. F. Dürrenmatt: Die Frist. 1998, S. 43. 875 Hierin lässt sich ebenfalls eine Analogie zum Einzelnen Odoaker in Romulus der Grosse feststellen. Auch Odoaker muss Verantwortung übernehmen: Er kann sich Romulus nicht unterwerfen und wird zum neuen Herrscher über die Germanen und die Römer. Somit wird der Einzelne Odoaker ebenfalls vom System vereinnahmt, welches er nun zu führen hat. Denn auch in Odoakers Reich fehlen, wie am Ende in Die Frist, die negativen systemischen Bedingungen, die den Einzelnen entstehen lassen. F. Dürrenmatt: Romulus der Grosse. 1998, S. 112. 876 Vgl. F. Dürrenmatt: Die Frist. 1998, S. 121f.



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treffen müssen, damit die Menschlichkeit im System erhalten bleibt, dies prophezeit Exzellenz.877 Der unberechenbare Bauer Toto als Vertreter aus dem Volk darf in diesem Stück jedoch nicht als unberechenbarer Einzelner im Sinne des mutigen Menschen oder ironischen Helden interpretiert werden: Seine Ermordung von Exzellenz muss als Reproduktion der alten Strukturen aufgefasst werden, nicht als Kampf gegen die willkürlichen systemischen Bedingungen der Diktatur.878 Totos Motivation für seine Tat muss zudem im Persönlichen gesucht werden: Sie kann entweder als Rache für die Hinrichtung seines Sohnes oder als Auftragsmord betrachtet werden.879

5.1.3 Zwischenfazit Bis anhin liegt der Fokus in der Dürrenmatt-Forschung verstärkt auf dem Einzelnen. Dieser Schwerpunkt ist, basierend auch auf den Äusserungen des Schriftstellers, zwar verständlich, erfasst jedoch nur eine partielle Sicht eines bedeutend komplexeren Phänomens: Der Einzelne, als mutiger Mensch oder ironischer Held, ist in Dürrenmatts Werk, dies lässt sich aus den Analysen der dargestellten Systeme reflexiv erschliessen, immer eine systembedingte soziopolitische Kategorie. Die in der Forschung vorhandene Akzentuierung des Einzelnen übersieht jedoch Dürrenmatts wachsendes Interesse an modernen Systemen, in denen Kollektive leben, welches Dürrenmatt aber selbst immer wieder thematisiert, beispielsweise in Gesprächen und Essays über die Stücke Frank der Fünfte, Der Mitmacher und Die Frist.880 FD Und es gibt etwas, was man viel zu wenig untersucht hat: Was kommt anstelle des Helden? Immer mehr das Kollektive. […] MAYER Sie sagten eben, dass wir zu einer Art der Kollektivität auf dem Theater kommen, die an die Stelle des Helden treten würde. […]

877 Vgl. ebd.: S. 125. 878 Aus diesem Grund darf Toto nicht als Terrorist interpretiert werden. Im Lexikon der Politikwissenschaft wird Terrorismus folgendermassen definiert: „eine Strategie der […] Gewalt, durch die das bestehende Herrschaftssystem ausgehöhlt und primär durch die Verbreitung von Furcht und Schrecken […] eine mehr oder weniger grundlegende polit.-gesellschaftl. Umwälzung erreicht werden soll.“ D. Nohlen, R.-O. Schultze: Lexikon der Politikwissenschaft. Bd. 2. N-Z. 2010, S. 1087. In Die Frist findet der soziale Wandel jedoch bereits vor Totos Ermordung von Exzellenz statt, sein Verhalten führt nicht zu einer soziopolitischen Umwälzung. 879 Vgl. F. Dürrenmatt: Die Frist. 1998, S. 24f., S. 117f. und S. 126. 880 Vgl. F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 121 und S. 248f., F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 11 sowie F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 2. S. 87f. und S. 222.

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FD Ein Kollektiv ist ja an und für sich keine Masse. Meistens lebt der Mensch heute in Kollektiven, er ist angestellt, sitzt in einem Büro. Es fällt der Kritik sehr schwer, ein Kollektiv-Drama zu beurteilen, meistens wird es behandelt, als wenn es wie vom Helden her gebaut wäre.881

Dürrenmatts Interesse an Strukturen und Gesetzmässigkeiten manifestiert sich jedoch bereits in den 1950er-Jahren: Im Aufsatz Vom Schreiben aus dem Jahre 1959 formuliert er, beispielsweise in Anlehnung an die Arbeit der Naturwissenschaftler, präzise seinen Fokus als Theaterschriftsteller: Wenn wir etwa nach dem Sinn der Natur fragen, so wird uns der Naturwissenschaftler in der Regel ausweichen. Seine Aufgabe ist nicht, dem Sinn der Natur nachzuforschen, sondern der Natur selber, ihren Gesetzen, ihrer Verhaltensweise, ihrer Struktur. […] Ähnlich liegt es bei der Frage nach dem Sinn eines Theaterstückes.882

Die in dieser Arbeit erfolgte erstmalige Durchleuchtung der dargestellten theatralischen Strukturen und ihrer Dynamiken scheint, in Anbetracht von Dürrenmatts früh gezeigtem Interesse an dieser Thematik, dringend notwendig zu sein, darf jedoch den Einzelnen als Epiphänomen der negativen systemischen Bedingungen nicht aus der Analyse ausschliessen. In diesem Zwischenfazit sollen nun die Ergebnisse der Durchleuchtung der theatralisch dargestellten Gesellschaftssysteme und die Möglichkeit zur Steuerung sozialen Wandels betrachtet werden. Die diachrone Entwicklung der Theaterstücke wird insbesondere bei der Frage nach der Lenkbarkeit von sozialem Wandel eine zentrale Bedeutung einnehmen. Dadurch können die Befunde, welche zu den Thesen eins, zwei und drei führten, eingehend expliziert werden. Die Durchleuchtung der theatralisch repräsentierten Gesellschaftssysteme mit Giddens’ Theorie der Strukturierung ergibt allgemein, dass oft jeweils eine Strukturdimension nur durch stumme Figuren auf der Bühne vertreten ist oder häufiger in Form von backstage characters lediglich sprachlich thematisiert wird: In Die Ehe des Herrn Mississippi und in Die Frist883 trifft dies die ökonomischen Institutionen, in Frank der Fünfte die Legitimation und in Der Mitmacher die politischen Institutionen. Einzig die Strukturdimension der Signifikation, welcher die Aufgabe der Sinnkonstitution zukommt, ist in allen Theaterstücken vorhanden. Zudem kann in der Betrachtung der Komödien festgestellt werden, dass die Korruption auch in diesen vier untersuchten theatralischen Gesellschaftssystemen, wie bereits in Der Besuch der alten Dame, eine entscheidende Rolle spielt: Sie durchzieht alle Strukturdimensionen und scheint daher die von Dürrenmatt im soziopolitischen 881 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 1. 1996, S. 186ff. 882 F. Dürrenmatt: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 77. 883 Unklar in Die Frist ist, zu welcher Strukturdimension der Bauer Toto gehört: Da er eigentlich bereits seit zwei Jahren tot sein müsste, wie Möller erklärt, und seine Funktion im Stück offen bleibt, kann die Figur keiner Strukturdimension zugeordnet werden.



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Diskurs geäusserten Bedenken, dass der moderne Verwaltungsstaat zur Korruption reizen kann, zu bestätigen. Doch aus der Analyse der theatralisch dargestellten Gesellschaftssysteme resultieren auch Unterschiede, die erkannt werden können: In Die Ehe des Herrn Mississippi und in Frank der Fünfte kann von einer Perpetuierung der korrupten systemischen Bedingungen und somit einem Ausbleiben von sozialem Wandel gesprochen werden: Die Machtinhaber oder Bankbesitzer mögen zwar wechseln, aber die demokratische Staatsform und ihre Funktionen bleiben auf der Bühne, wenn auch durch die Korruption eingeschränkt, erhalten.884 In den Komödien Der Besuch der alten Dame, Der Mitmacher und Die Frist wird hingegen ein sozialer Wandel des Gesellschaftssystems dargestellt: Äussere Einflüsse führen zu einer Entroutinisierung der Interaktionen, das Verhältnis der Strukturdimensionen und ihrer Institutionen verändert sich gravierend: Claire weitet ihren Einflussbereich von den ökonomischen Institutionen auf die Legitimation, die Politik und die Signifikation aus: Die Aufhebung der Funktion der Strukturdimension Legitimation bedeutet in Der Besuch der alten Dame, dass sich demokratische Strukturen an diktatorische annähern. In Der Mitmacher werden ebenfalls alle Strukturbereiche durch die Vertreter der Ökonomie ausser Kraft gesetzt. In der Analyse der ökonomischen Institution kann ein mafiöses Geflecht festgestellt werden, in dem Korruption und Gewinnstreben nach Cops Tod ebenfalls ohne Einschränkungen durch die Strukturdimensionen Legitimation oder Politik möglich sind und das dadurch an diktatorische Verhältnisse erinnert. In Die Frist hingegen wird auf der Bühne der umgekehrte soziale Wandel repräsentiert: Das theatralisch dargestellte System wird von der Diktatur des Generalissimus in eine Demokratie übergeführt. Auf der Bühne wird somit nicht nur auf verschiedenste Weise das Eintreten der systemisch schlimmstmöglichen Wendung – der Diktatur auf politischer Ebene verbunden mit einem radikalen kapitalistischen Denken auf ökonomischer Ebene – erprobt, es werden auch Demokratisierungsprozesse durchgespielt. Die Einzelnen, welche aus den negativen Gesellschaftsstrukturen resultieren und welche diese korrupten Systeme auf der Bühne durch ihr Handeln nicht reproduzieren, haben wenig Einfluss auf die systemischen Bedingungen: Wie der Krämer Ill sterben auch die Einzelnen Böckmann und Cop. Beide haben, auch dies eine Analogie zum Krämer, Verbrechen begangen, nur wiegen ihre – Böckmann deckt den Mord an Herbert Molten und weitere Verbrechen; Cop mordet gar selbst – schwerer als die Anstiftung zu Meineid des Krämers. Übelohe und Goldbaum, beides Vertreter der Signifikation, dür-

884 Der Staatspräsident entscheidet in der Komödie Frank der Fünfte alleine, auf einen Prozess gegen die Bank zu verzichten, weil die Legitimation als Strukturdimension im Theaterstück nicht durch eine zusätzliche Figur vertreten ist. Diese dargestellte Übertretung der Kompetenzen des Repräsentanten der Politik darf jedoch nicht als Annäherung an diktatorische Strukturen interpretiert werden, die demokratischen Strukturen sind in der Komödie durchaus vorhanden. Vgl. F. Dürrenmatt: Frank der Fünfte. 1998, S. 36.

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fen zwar weiterleben, doch Übelohe wird zur lächerlichen Figur, Goldbaum hingegen wird gegen seinen Willen an die Spitze der Politik gehievt.885 Hier ist eine genauere Betrachtung der systemischen Strukturen um den Einzelnen Goldbaum interessant: Da die dargestellten diktatorischen Systembedingungen in Die Frist durch den Tod des Generalissimus durchbrochen sind und sich das System ins Positive wandelt, wird der Kampf des einzelnen Oppositionellen zunehmend obsolet: Goldbaum muss sich wieder ins System integrieren, seine Position kann in einem demokratisierten Gesellschaftssystem nicht mehr ausserhalb, sondern nur innerhalb der soziopolitischen Strukturen liegen. Die Darstellung der Einzelnen, welche aus den negativen korrupten Strukturen entstehen und diese durch ihre Nicht-Reproduktion negieren, ist denn für Dürrenmatt, wie er im Essay Theaterprobleme aus dem Jahre 1954 erläutert und wie in der Forschung schon oft erkannt wurde, ein grosses Bedürfnis und zieht sich durch Dürrenmatts gesamtes Werk: Es ist immer noch möglich, den mutigen Menschen zu zeigen. Dies ist denn auch eines meiner Hauptanliegen. Der Blinde, Romulus, Übelohe, Akki sind mutige Menschen. Die verlorene Weltordnung wird in ihrer Brust wieder hergestellt […].886

Das Zitat erinnert an die zweite Szene im fünften Akt von Friedrich Schillers Die Räuber: RÄUBER MOOR. Aber noch blieb mir etwas übrig, womit ich die beleidigte Gesetze versöhnen, und die misshandelte Ordnung wiederum heilen kann. Sie bedarf eines Opfers – eines Opfers, das ihre unverletzbare Majestät vor der ganzen Menschheit entfaltet – dieses Opfer bin ich selbst. Ich selbst muss für sie des Todes sterben.887

Dürrenmatts mutige Menschen sind jedoch nicht, wie das Zitat suggerieren könnte, in der Tradition Schillers zu sehen. Die Dürrenmattschen Einzelnen unterscheiden sich von Schillers klassischem Helden Karl von Moor gerade in ihrem Verhältnis zum System: Dürrenmatt konstruiert mit dem Einzelnen eine neue Heldenfigur, die, als Epiphänomen, aus einem negativen Gesellschaftssystem heraus entsteht und sich durch die Negierung dieser Strukturen auszeichnet. Ihre Funktion liegt nicht, wie bei Schillers Die Räuber, in der Heilung der „misshandelten Ordnung“, sondern in der Kritik an den negativen 885 Hier lässt sich eine Parallele zur fünften Fassung des Theaterstücks Romulus der Grosse erkennen: Odoaker, der Germanenführer, will sich mit seinem Volk Romulus, dem Kaiser Westroms, unterwerfen. Romulus selbst will das römische Weltreich jedoch liquidieren und überzeugt Odoaker, gegen dessen ursprünglichen Plan, König von Italien zu werden. Sowohl Odoaker als auch Goldbaum werden somit gegen ihren ursprünglichen Willen an die Spitze der Macht gehievt. Vgl. F. Dürrenmatt: Romulus der Grosse. 1998, S. 111f. 886 F. Dürrenmatt: Theater. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 63. 887 F. Schiller: Die Räuber. 1992, S. 139.



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dargestellten systemischen Bedingungen, welche durch den Einzelnen jedoch nicht längerfristig verändert werden können. In Dürrenmatts Komödien ist, wie Habermann ausführt, somit nicht immer auf den ersten Blick zu verstehen, welche Figuren die Helden des Stücks sind. Sie kennzeichnet die Dürrenmattschen Heldenfiguren jedoch korrekt als Randfiguren der Gesellschaft888 und setzt sie somit in ein Verhältnis zum System. Dürrenmatts mutige Menschen sind eigentliche Antihelden, wie Wilhelm Grosse anhand des Einzelnen Romulus der Grosse aus dem gleichnamigen Theaterstück Dürrenmatts erläutert.889 Diese Vereinzelung der Dürrenmattschen Heldenfigur, ihr Negieren der korrupten systemischen Bedingungen, macht sie dem inneren Kommunikationssystem oft schwer verständlich, und auch dem äusseren Kommunikationssystem bleibt der Zugang zu dieser Dürrenmattschen Heldenfigur aufgrund ihrer Innerlichkeit, ihrem nicht mehr Kommunizieren können von persönlicher Erkenntnis, oft erschwert:890 Der Einzelne Cop kann im inneren Kommunikationssystem nicht mehr beweisen, „dass er als einziger in einer Welt, die ohne Gerechtigkeit auszukommen glaubt, die Gerechtigkeit suchte. Cops Gerechtigkeit leuchtet nur ihm selber ein.“891 Hans Dietrich Irmscher führt in seinem Essay Das Schachspiel als Metapher in Dürrenmatts Werk einen ähnlichen Gedankengang aus. Unerreichbar für jedes logische System ist aber vor allem […] der Einzelne in seiner Existenz. Vom System her interpretiert, wird er ein Geheimnis bleiben, da er seinen «Sinn in sich» selbst trägt und allenfalls in der Form der Ironie sich verständlich machen kann.892 888 „Dürrenmatts „mutige Menschen“ sind keine klassischen Helden mehr. Die Schwierigkeit des „Weltbestehens“ findet darin ihren Ausdruck, dass sie – so auch Übelohe – als von der Gesellschaft ausgestossene Narren gezeichnet werden. Sie sind mit dem Makel der Lächerlichkeit behaftet, ihre „Heldenhaftigkeit“ ist erst auf den zweiten Blick zu erkennen.“ B. Habermann: Friedrich Dürrenmatt: Die Ehe des Herrn Mississippi. Von der Komödie zur Posse - Ein Vergleich der Fassungen und ihrer Konfiguration. In: K. K. Polheim (Hg.): Die dramatische Konfiguration. 1997, S. 358. Vgl. auch U. Profitlich: Friedrich Dürrenmatt. Komödienbegriff und Komödienstruktur. Eine Einführung. 1973, S. 58. 889 Vgl. W. Grosse: Friedrich Dürrenmatt, Romulus der Grosse. 1990, S. 70. 890 Darin lässt sich auch ein Unterschied zu den klassischen komischen oder tragischen Helden feststellen, wie Weber ausführt: Basierend auf Zitaten Dürrenmatts zu diesem Thema erläutert er, dass sowohl der tragische wie auch der komische Held von der Allgemeinheit in ihrem Scheitern verstanden werden: Der tragische Held scheitert an der Welt, der komische Held hingegen an seinem Charakter. Die Dürrenmattschen Helden sind der Allgemeinheit aber nur noch schwer zugänglich. Vgl. U. Weber: „Ob man sich selbst zum Stoff zu werden vermag?“ Kierkegaard und die Entwicklung des subjektiven Schreibens im Mitmacher-Komplex. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 7. 1996, S. 71. 891 F. Dürrenmatt: Der Mitmacher. 1998, S. 203. 892 H. D. Irmscher: Das Schachspiel als Metapher. Bemerkungen zum «komödiantischen Denken» Friedrich Dürrenmatts. In: H. D. Irmscher und W. Keller (Hgg.): Drama und Theater im 20. Jahrhundert. Festschrift für Walter Hinck. 1983, S. 340.

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Für die Zuschauer wirkt gerade der Tod der Einzelnen Ill, Böckmann und Cop sinnlos, da er ohne Folgen für die negativen theatralischen Gesellschaftssysteme bleibt. Diese indirekte Kommunikation ist für das Verständnis der Stücke denn auch nicht unproblematisch. Bei der diachronen Betrachtung des Konzepts des Dürrenmattschen Helden ist zudem eine Entwicklung festzustellen, die Ulrich Weber in seiner Analyse des Stücks Der Mitmacher festhält: Er sieht einen Wandel vom mutigen Menschen, welcher beispielsweise in Dürrenmatts früh verfassten Theaterstücken Der Blinde und Die Ehe des Herrn Mississippi repräsentiert ist, zum ironischen Helden Cop im in den 1970er-Jahren geschriebenen Stück Der Mitmacher.893 Diese Entwicklung der Dürrenmattschen Heldenfigur kann an der Haltung, welche der Einzelne zum jeweiligen negativen Gesellschaftssystem einnimmt, genauer spezifiziert werden: Der Einzelne als mutiger Mensch nimmt gegenüber den negativen systemischen Bedingungen noch eher eine passive894 Oppositionsrolle ein: Ill resigniert am Ende des Stücks und betont, er wolle nicht mehr kämpfen.895 Übelohe versinkt im Alkohol, Ill und Böckmann werden umgebracht, die korrupten theatralischen Systembedingungen bleiben bestehen. Die Motivation für das Verhalten dieser Einzelnen liegt zudem durchwegs im persönlichen Bereich: Der Liebe zu Anastasia, der Akzeptanz von Schuld und der Beichte vor dem nahenden Tod. Die ironischen Helden der vorwiegend in den 1970er-Jahren verfassten Werke Der Mitmacher und Die Frist jedoch nehmen aktiv am Kampf gegen das korrupte negative System auf der Bühne teil. Ihre Motivation liegt im Allgemeinen, der Erfolg ist jedoch unterschiedlich: Cop wird für seine System störenden Handlungen, für seinen aktiven Kampf institutionelle Gerechtigkeit zu bewirken, ermordet. Goldbaum hingegen wird nach langem Widerstand als Einzelner gegen die Diktatur und sein Eintreten für mehr Menschenrechte ins System integriert, da es sich in Richtung demokratischer Strukturen verändert. Doch ob Goldbaum in den korrupten Strukturen eine Besserung bewirken kann, bleibt offen. Gerade aber die Figur des aktiv kämpfenden ironischen Helden, wie sie in Der Mitmacher und Die Frist auftritt, kann als verstärkte Kritik an den dargestellten systemischen Bedingungen gedeutet werden.896 Basierend auf diesen Erläuterungen zu den dargestellten systemischen Bedingungen und den Einzelnen steht im Anschluss die Frage nach der Möglichkeit der Steuerung des sozialen Wandels im Zentrum des Interesses. Dabei sollen auch die Auswirkungen der zunehmenden Imponderabilität und damit verbunden das Auftreten ungewollter 893 Vgl. U. Weber: „Ob man sich selbst zum Stoff zu werden vermag?“ Kierkegaard und die Entwicklung des subjektiven Schreibens im Mitmacher-Komplex. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 7. 1996, S. 68. 894 Vgl. A. Mingels: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kategorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. 2003, S. 214ff. 895 Vgl. F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. 1998, S. 102. 896 Im Kapitel 4 wurde anhand des Theaterstücks Der Besuch der alten Dame ausführlich erläutert, dass die Ironie eine Funktion zur Kritik aufweist.



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Nebenwirkungen thematisiert werden. Die Fassungen der Theaterstücke Der Besuch der alten Dame und Die Ehe des Herrn Mississippi sind in den Jahren 1956 bis 1960 fast zeitgleich für die Werkausgabe von 1980 entstanden, die Fassungen der Komödien Frank der Fünfte, Der Mitmacher und Die Frist für die Werkausgabe von 1980 stammen vor allem aus den 1970er-Jahren. Die diachrone Betrachtung der Berechenbarkeit und der Steuerung des theatralisch dargestellten sozialen Wandels ergibt, dass in den Komödien Frank der Fünfte, Der Mitmacher und Die Frist zunehmend von einer verstärkten Imponderabilität ausgegangen werden muss: Wird die auf der Bühne repräsentierte Gesellschaft in den früher verfassten Komödien Der Besuch der alten Dame und Die Ehe des Herrn Mississippi so dargestellt, dass Claire und Diego sie in ihrem Verhalten berechnen können, so scheitern Ottilie, Boss und Exzellenz teilweise mit ihren Berechnungen, was in den meisten Fällen tödliche Folgen nach sich zieht. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass die theatralischen Modelle der Gesellschaftssysteme, wie die diachrone Betrachtung ergibt, in sich vermehrt entdifferenziertere gesellschaftliche Funktionen aufweisen: Diese wachsende Unüberschaubarkeit zeigt sich beispielsweise daran, dass Figuren zunehmend verschiedene Strukturbereiche repräsentieren: Claire Zachanassian ist in Der Besuch der alten Dame zu Beginn des Stücks die Vertreterin der Strukturdimension Herrschaft: Sie dehnt ihren Einfluss von den ökonomischen Institutionen auf andere Bereiche aber erst im Verlaufe des Stücks aus. Auch in Die Ehe des Herrn Mississippi ist die Zuteilung zu den gesellschaftlichen Strukturdimensionen noch weitgehend unproblematisch. Bereits die Komödie Frank der Fünfte erweist sich diesbezüglich als komplexer: Sowohl Frank der Fünfte nach seinem vorgetäuschten Tod, wie auch der Personalchef Egli repräsentieren im Stück verschiedene Strukturdimensionen: Neben den ökonomischen Institutionen vertreten Frank als fingierter Pfarrer897 und Egli als fingierter Chemiker898 zudem die Strukturdimension der Signifikation. In Der Mitmacher hingegen vertritt Bill nicht nur die Signifikation, sondern als Erbe der Chemiewerke auch die ökonomischen Institutionen, wohingegen Cop als Vertreter der Legitimation Teilhaber des Syndikats wird und in die ökonomischen Institutionen einsteigt. Und auch Doc ist als Wissenschaftler sowohl Teil der Signifikation, als Teilhaber am Syndikat aber auch ein Vertreter der ökonomischen Institutionen. In Die Frist repräsentiert der Arzt und Politiker Goldbaum von Beginn weg in seinen Funktionen die Signifikation und die politischen Institutionen. Exzellenz hingegen kann nicht nur als Vertreter der Politik, sondern auch als Rechenkünstler und somit Repräsentant der Signifikation betrachtet werden. Darin lässt sich die wachsende Entdifferenzierung der gesellschaftlichen Funktionen im theatralischen System erkennen. Dies fördert die Unüberschaubarkeit und somit die Katastrophenanfälligkeit der auf der Bühne dargestellten modernen Gesellschaftssysteme. In den Theaterstücken Der Mitmacher und Die Frist wird die Unüberschaubarkeit der Systeme noch durch weitere Aspekte verdeutlicht: In Der Mitmacher wird sie zusätz897 Vgl. F. Dürrenmatt: Frank der Fünfte. 1998, S. 23. 898 Vgl. ebd.: S. 55.

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lich unterstrichen, indem die Linearität der Handlungsabläufe durch die Monologe immer wieder aufgebrochen wird. 899 In Die Frist hingegen erhöht sich die Unübersichtlichkeit des Systems dadurch, dass es Exzellenz gelingt, auch den Oppositionellen Goldbaum in die diktatorischen Systembedingungen zu integrieren. Im Gegensatz zu Möller, der Goldbaum eliminieren möchte, versucht Exzellenz, den Systemkritiker und seine Gegenpositionen einzubinden900. Er legitimiert so einerseits die diktatorischen Strukturen und kann Goldbaum weiter für seine Konspirationspläne nutzen. Durch die diachrone Betrachtung der theatralischen Systemzustände kann weiter eine Radikalisierung im Konzept der schlimmstmöglichen Wendung erkannt werden: Die schlimmstmögliche Wendung, so Dürrenmatt 1962 im Anhang 21 Punkte zu den >PhysikernSprung< von der Wissenschaft zur Politik konstruiert Bill eine Ideologie aus unvereinbaren Gegensätzen und schliesst so von seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen auf ein auch jenseits der Wissenschaft gültiges Prinzip.943

Bereits 1969 wird in Dürrenmatts Essay Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht thematisiert, dass „Politik nie eine reine Wissenschaft zu sein [vermag]“944. Bill erweist sich im Theaterstück jedoch als immun gegen jegliche Form von Kritik an seiner Übertragung und ist vom Funktionieren seines verrückten Planes überzeugt. Dies führt Dürrenmatt im Vorwort zum Nachwort des Stücks aus: Der junge Mann plant sein politisches Handeln ebenso verhaltensblödsinnig wie ein milliardenschwerer Naturforscher ein Experiment, das nur er sich leisten kann, etwa indem er das Finsteraarhorn in die Luft sprengt, um die Genauigkeit seines Seismographen zu prüfen.945

Bill verlangt, um sein Experiment in die Politik übertragen zu können, die Unterstützung des Syndikats. Docs Einwand, „Wissenschaft hat nichts mit Politik zu tun“946, prallt an Bill ab. In seiner Überzeugung und Verblendung übersieht Bill, trotz Hinweisen, die Gefährlichkeit seines Unterfangens und realisiert nicht, dass seine Pläne auf diese Weise nicht umsetzbar sind. Seine Weigerung, Kritik zu hören und abzuwägen, führt denn auf der Bühne auch ins Verderben. Das ideologische Denken dominiert Bills Reflexionen im theatralischen Gesellschaftssystem in Der Mitmacher. Dürrenmatts Forderung in den Essays, das soziopolitische Denken in veränderbare Arbeitshypothesen zu verwandeln, um so zu einer schrittweise gerechteren Gesellschaft zu gelangen, wird auch in diesem Theaterstück nicht umgesetzt.947 Doch auch in Der Mitmacher werden die Zuschauer durch die völlige Auflösung der Sympathielenkung und die experimentelle Erprobung der poetischen Gerechtigkeit an einer Werteübernahme gehindert und in ein Verhältnis zum korrupten System auf der Bühne gesetzt: Die Zuschauer können durch diese Distanzierung und Freisetzung in den dargestellten Strukturen eine Provokation erkennen. Beispielsweise anhand des Kampfes des Einzelnen, des ironischen Helden Cop, ist es ihnen möglich, eine poetologische Kritik an den systemischen Bedingungen festzustellen. Weiter kann in keiner der drei betrachteten Komödien ein Sieg des Primats der Gerechtigkeit über die Freiheit, welcher Dürrenmatt in seinem soziopolitischen Diskurs der Essays fordert und welcher in den theatralischen Gesellschaftssystemen durch die 943 Ebd.: S. 197. 944 F. Dürrenmatt: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte, Reden. 1998, S. 58. 945 F. Dürrenmatt: Der Mitmacher. 1998, S. 162. 946 Ebd.: S. 60. 947 Es handelt sich also nicht um Brechtsche Lehrstücke.



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institutionelle Gerechtigkeit hergestellt werden müsste, erkannt werden. Insbesondere in Der Besuch der alten Dame und in Der Mitmacher siegt auf der Bühne das kapitalistische Gewinnstreben, wodurch die Strukturdimension Legitimation in ihrer Ausübung stark beeinträchtigt wird. Auch in Die Ehe des Herrn Mississippi ist keine Entwicklung zu mehr sozialer Gerechtigkeit festzustellen: Der von Saint-Claude angezettelte soziale Wandel schlägt fehl, das korrupte theatralische Gesellschaftssystem bleibt beim Status quo. Die Schwäche der institutionellen Gerechtigkeit auf der Bühne manifestiert sich zu Beginn in Dürrenmatts Werk weiter in Mississippis und Claires müheloser Durchsetzung von personalem Gerechtigkeitsstreben. Es kann festgehalten werden, dass in allen drei Komödien eine fehlerhafte Strukturdimension Legitimation auf der Bühne dargestellt wird, welche die im soziopolitischen Diskurs geforderte Notwendigkeit einer gerechteren Gesellschaftsordnung, die das egoistische kapitalistische Gewinnstreben einzudämmen vermag, nicht umsetzen kann. In der diachronen Betrachtung lässt sich zudem eine Radikalisierung erkennen: In den beiden fast zur selben Zeit entstandenen Stücken Der Besuch der alten Dame und Die Ehe des Herrn Mississippi existiert noch eine institutionelle Gerechtigkeit, die bemüht ist, ihre Funktion zumindest nach aussen teilweise aufrecht zu erhalten. Im später entstandenen Stück Der Mitmacher geben die beiden Vertreter der institutionellen Gerechtigkeit, ausser Cop, nicht einmal mehr vor, ihre Aufgaben übernehmen zu wollen. Auch die Figuren Diego und Bill, die sich aufgrund ihrer Macht zumindest für eine schrittweise Verbesserung der theatralischen Gesellschaftsordnung in Die Ehe des Herrn Mississippi und in Der Mitmacher einsetzen könnten, erweisen sich als korrupt. Dieses Ergebnis zeugt von einer negativen Gesellschaftsdiagnose, die der Zuschauer als Warnung verstehen soll. Die Verbesserbarkeit moderner soziopolitischer Systeme wird in den Theaterstücken durch Korruption, ideologisches Denken und kapitalistisches Gewinnstreben kontinuierlich in Frage gestellt. Doch die verhinderte Wertübernahme und die Ironie sollen den Zuschauer zum Reflektieren über die negativen dargestellten Systeme anregen.

5.3 Die geschlossene Form als Experiment in den Komödien Frank der Fünfte, Der Mitmacher und Die Frist Dürrenmatt hat sich in den Gesprächen, seinen Essays und Reden sowie auch in den Theaterstücken häufig zum Experiment geäussert. In einem Gespräch im Jahre 1972 mit Peter André Bloch und Rudolf Bussmann betont Dürrenmatt: FD Ich habe auch eine künstlerische Neugier. Mich interessiert nicht immer dasselbe; mich interessiert das Experiment.948

948 F. Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. Bd. 2. 1996, S. 71.

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In diesem Kapitel soll der Fokus erneut auf den Experimenten mit klassischen Theaterelementen liegen:949 Aus der wachsenden Entdifferenzierung der gesellschaftlichen Funktionen im dargestellten System ergeben sich formale und inhaltliche Folgen, welche in den drei Komödien Frank der Fünfte, Der Mitmacher und Die Frist experimentell erprobt werden. Durch die Experimente mit klassischen Theaterelementen, so lautet die fünfte These dieses Kapitels, wird der Fokus der Zuschauer erneut auf die negativen Systembedingungen verlagert, womit diese zum Nachdenken über die Strukturen angeregt werden sollen: In der Komödie Frank der Fünfte führt die Unübersichtlichkeit des modernen auf der Bühne darzustellenden Gesellschaftssystems zu einem Metaphernwechsel: Im Fokus steht nicht mehr das System Staat sondern das System Firma. Im Theaterstück Der Mitmacher bewirkt die wachsende Unüberschaubarkeit des dargestellten Systems, dass mit klassischen Theaterelementen wie der Anagnorisisszene oder der Funktion der Monologe und Dialoge experimentiert werden muss. Und in Die Frist führt die zunehmende Unberechenbarkeit und Entdifferenzierung des modernen Systems auf der Bühne dazu, dass Verschwörungstheorien nicht mehr möglich sind. Abschliessend wird auf die Frage eingegangen, welche neuen Erkenntnisse aus den Dramen in Abgrenzung zu Dürrenmatts soziopolitischem Diskurs der Essays resultieren.

5.3.1 Vom System Staat zum System Firma: Metaphernwechsel in der Komödie Frank der Fünfte Bereits Elisabeth Brock-Sulzer hat in ihrem Buch Friedrich Dürrenmatt. Stationen seines Werkes angemerkt, dass sich mit Frank der Fünfte „einer der grossen Brüche im Schaffen Dürrenmatts [vollzieht]“950. Dürrenmatt selbst gibt in seinen Anmerkungen und Essays zum Stück verschiedene Hinweise zu diesem Bruch. Dabei erläutert er unter anderem im Essay Standortbestimmung ansatzweise, inwieweit sich seine Komödie von der klassischen Theaterform abwendet. Dürrenmatt führt aus, dass es zwei verschiedene Ziele der Dramatik gibt: Einerseits ein klassisches Verfahren, welches auf die „Wiedergabe der Welt“951 zielt,

949 Rudolf Probst merkt in seinem Essay Die Komödie Der Mitmacher: Abschied vom Drama? an, dass Dürrenmatts Verständnis von klassischem Theater weit gefasst ist: von den klassischen griechischen Tragödien des Euripides bis zu den Dramen Shakespeares. Vgl. R. Probst: Die Komödie Der Mitmacher: Abschied vom Drama? In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 7. 1996, S. 58. 950 E. Brock-Sulzer: Friedrich Dürrenmatt. Stationen seines Werkes. 1973, S. 94. 951 F. Dürrenmatt: Frank der Fünfte. 1998, S. 156. Das Ziel der klassischen Dramatik, die Welt wiederzugeben, vergleicht Dürrenmatt mit dem Newtonschen Satz Hypotheses non fingo. Dagegen führt er mit der Mathematik eine Wissenschaft ein, die auf hypothetischem Wissen aufbaut und somit eher dem Satz Hypotheses fingo folgt. Dieses Verfahren setzt Dürrenmatt mit der neuen, experimentellen Dramatik gleich. In Dürrenmatts experimenteller Dramatik kann somit eine Analogie zu Karl Poppers Wissenschaftstheorie der Deduktion gesehen werden.



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und andererseits die Variante, „>mögliche Weltendramatische Denkendas SpieldenktNeufassung 1980< (die keine grundsätzlichen Änderungen am Text bringt) stützt sich Dürrenmatt auf diese praktische Theaterarbeit“, die er insbesondere in den 1970er-Jahren mit dem Stück sammelt. F. Dürrenmatt: Die Physiker. 1998, S. 94f. 1008 Vgl. ebd.: S. 74ff. 1009 Zu betrachten gilt es hier auch Dürrenmatts 21 Punkte zu den >PhysikernStoffeExperiment< in der Literatur. Eine Einleitung. In: Calzoni, Raul und Salgaro, Massimo (Hgg.): „Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment“. Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert. Göttingen 2010, S. 11–28. Christen, Markus: Im Namen welcher Gerechtigkeit? Eine begriffsgeschichtliche und wirkungsästhetische Untersuchung der theatralischen Gerichtsdarstellung im „Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt und im „Kaukasischen Kreidekreis“ von Bertolt Brecht. Zürich 2008. Daviau, Donald G. und Dunkle, Harvey I.: Friedrich Dürrenmatt’s Der Besuch der alten Dame. A parable of western society in transition. In: Matchett, William H. (Hg.): Modern Language Quarterly. Vol. 35, Nr. 3. Seattle 1974, S. 302–316. Deering, Claudia: Friedrich Dürrenmatt’s Der Mitmacher. Old Themes and a New Cynicism. In: Kratz, Bernd (Hg.): Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft. Bd. 10. Tübingen 1976/77, S. 55–72. Deutscher Bundestag, wissenschaftliche Dienste: Konvergenztheorie. Angleichung der ökonomischen, sozialen und politischen Systeme von Ost und West. Bibliographie mit Annotationen. Bonn 1971. Durzak, Manfred: Dürrenmatt, Frisch, Weiss. Deutsches Drama der Gegenwart zwischen Kritik und Utopie. Stuttgart 1972. Eck, Christof et. al.: Mathematische Modellierung. Berlin 2008. Eco, Umberto: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München, Wien 1987 (1979). Eichelberg, Marc: F. D. und die Naturwissenschaften. In: Schweizerisches Literaturarchiv Bern und Kunsthaus Zürich (Hgg.): Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und Maler. Zürich 1994, S. 225– 227. Eidlin, Fred: Popper und die demokratische Theorie. In: Salamun, Kurt (Hg.): Moral und Politik aus der Sicht des kritischen Rationalismus. Amsterdam, Atlanta 1991, S. 203–224. Eigen, Manfred und Winkler, Ruthild: Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall. München, Zürich 1979 (1975). Emter, Elisabeth: Literatur und Quantentheorie: die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren. Berlin 1995 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 2). Europäisches Forum Alpbach (Hg.): Diverse Programmhefte aus dem Archiv des Forum Alpbach.

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