Peter Lotar (1910−1986): Kulturelle Praxis und autobiographisches Schreiben [1 ed.] 9783412515492, 9783412515478

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Peter Lotar (1910−1986): Kulturelle Praxis und autobiographisches Schreiben [1 ed.]
 9783412515492, 9783412515478

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PETER LOTAR

(1910–1986)

Kulturelle Praxis und autobiographisches Schreiben

MICHAELA KUKLOVÁ

:: Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert

Herausgegeben von Steffen Höhne (Weimar-Jena), Alice Stašková (Jena) und Václav Petrbok (Prag)

Band 14

Michaela Kuklová

PETER LOTAR (1910–1986) Kulturelle Praxis und autobiographisches Schreiben

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Die Umschlagabbildung und alle Abbildungen im Innenteil stammen aus Peter Lotars Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA), Bern. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Lektorat: Sven Lüder, Berlin Korrektorat: Vera Schirl, Wien Satz: Reemers Publishing Services, Krefeld

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51549-2

Inhaltsverzeichnis

Danksagung......................................................................................................... 7 1. Einleitung........................................................................................................ 9 1.1 Peter Lotar als Grenzgänger zwischen den Kulturen....................... 9 1.2 Methodische Grundlagen und Fragestellungen................................ 14 1.2.1 Literaturwissenschaftliches Gedächtniskonzept.................... 16 1.2.2 Kulturtransfer............................................................................. 21 1.2.3 Kulturwissenschaftlich orientierte Exilforschung................. 23 1.3 Aufbau der Arbeit und Quellen........................................................... 24 2. Lotars Heimaten............................................................................................. 27 3. Theater als Verhandlungsort persönlicher und ­kollektiver Identität in der Autobiographie................................................................... 51 3.1 Theater als Verhandlungsort nationaler Identität............................. 59 3.2 Theater als Verhandlungsort religiöser Identität............................... 70 3.3 Theater als Verhandlungsort politischer Identität............................. 77 4. Kriegserfahrungen und Kriegsdeutungen in den ­dramatischen Texten............................................................................................................... 94 4.1 Bedeutung von Schuld und Sühne für die Erinnerung.................... 99 4.1.1 Das Bild des Menschen................................................................... 103 4.1.2 Aller Menschen Stimme.................................................................. 114 4.2 Die Suche nach der Wahrheit als Grundlage der ­Identitätsbildung..................................................................................... 120 4.2.1 Die Wahrheit siegt.......................................................................... 121 4.2.2 Das leere Kreuz.............................................................................. 128 5. Biographische Hörspiele als Verhandlungsort p ­ ersönlicher und kollektiver Identität................................................................................ 137 5.1 Denker der praktischen Philosophie................................................... 145 5.1.1 Albert Schweitzer....................................................................... 149 5.1.2 Tomáš Garrigue Masaryk.......................................................... 151 5.2 Literarische Propheten.......................................................................... 155 5.2.1 Racine, Shaw und Tolstoj.......................................................... 158 5.2.2 Friedrich Schiller......................................................................... 163 5.3 (Natur-)Wissenschaftler zwischen Ethik und Fortschritt................ 166

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Inhaltsverzeichnis

6. Kulturvermittlung als Strategie zur Gestaltung k­ ultureller Identität...... 171 6.1 Theater als Medium kultureller Vermittlung...................................... 175 6.2 Presse als Medium kultureller Vermittlung........................................ 184 6.2.1 Beiträge zum Münchner Abkommen und dessen Folgen.............................................................................. 185 6.2.2 Beiträge zum Prager Frühling.................................................. 187 6.2.3 Beiträge über die tschechische Kultur in der Schweizer Presse......................................................................... 192 6.3 Lyrikübersetzungen als Politisierung des Kulturtransfers............... 197 7. Fazit.................................................................................................................. 202 Quellen- und Literaturverzeichnis.................................................................... 208 Archivquellen.................................................................................................. 208 Literaturverzeichnis........................................................................................ 210 Namensregister.................................................................................................... 225

Danksagung Die Monographie über Peter Lotar stellt eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar. Daher möchte ich mich zunächst bei meinem Betreuer Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Wynfrid Kriegleder für seine Unterstützung und geduldige Begleitung meiner Arbeit bedanken. Er war immer entgegenkommend und hilfsbereit. Das Schweizerische Literaturarchiv Bern ermöglichte mir einen unkomplizierten Zugang zum Nachlass von Peter Lotar und bot mir tolle Arbeitsbedingungen im Lesesaal. Mein Dank gebührt vor allem dem ehemaligen, in der Zwischenzeit verstorbenen Leiter Dr. Thomas Feitknecht und der jetzigen Leiterin PD Dr. phil. Irmgard Wirtz Eybl, dem ehemaligen Nachlassbetreuer Huldrych Gaspar sowie dem jetzigen Betreuer Dr. Ulrich Weber für ihre uneingeschränkte Hilfe und ihr Entgegenkommen bei jedem meiner Forschungsaufenthalte. Ich danke ebenfalls Dr. Rudolf Probst, der stets bereit war, mir weiterzuhelfen, wenn ich Fragen hatte. Ohne das Forschungsstipendium der Schweizerischen Eidgenossenschaft wäre mein Forschungsaufenthalt im Schweizerischen Literaturarchiv nicht möglich gewesen. Der Christoph-Geiser-Stiftung danke ich dafür, dass sie mir durch ihre Stipendien Gelegenheit bot, den Nachlass Peter Lotars zu erschließen und dazu eine Ausstellung zu realisieren. Auch die Drucklegung dieses Buches wurde zum größten Teil durch die Stiftung getragen. Finanzielle Unterstützung dazu bekam ich ebenso von der Stadt Solothurn, dem Lotteriefonds Kanton Solothurn und dem Tschechisch-Deutschen Zukunftsfonds. Dass meine Arbeit schließlich in der Reihe „Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert“ des Böhlau Verlags aufgenommen wurde, freut mich besonders und ich danke den Herausgebern für das entgegengebrachte Vertrauen. Viel bedeutet hat mir der Kontakt zu Jana Schmidt-Lotar und Jean-Chris­ tophe Lotar, die nicht nur bereit waren, mir ausführlich von ihrem Vater und dessen Leben zu erzählen, sondern mich auch in dessen alten Freundeskreis eingeführt haben. Sie ermöglichten mir dadurch zahlreiche unvergessliche Begegnungen. Die Freundschaften mit Thomas Grießen, Martin Bienlein und Valérie Gysi, die ich in Bern geknüpft habe, sind von großem Wert für mich. Bei jedem Aufenthalt konnte ich mich dank ihrer großzügigen Gastfreundschaft völlig auf meine Forschung konzentrieren. Dafür, dass sie mir das Gefühl gaben, bei ihnen zu Hause zu sein, danke ich ihnen sehr. Ihr ehrliches Interesse

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Danksagung

an meiner Arbeit und den damit zusammenhängenden Projekten bestärkte mich in meinem Vorhaben. Auf dem Weg haben mich meine Freundinnen Manuela Schwärzler und Katharina Wessely begleitet, mit denen ich regen wissenschaftlichen Austausch pflegte und deren Feedback mir immer von großem Nutzen war. Für ihre wertvollen Anmerkungen und Anregungen – insbesondere in der Endphase – bin ich beiden sehr dankbar. Ines Spieker und Sven Lüder haben die Arbeit mit größter Sorgfalt und viel Geduld Korrektur gelesen. Meiner Mutter und meiner Großmutter, die mir mit ihrer liebevollen Zuversicht ausdauernd und optimistisch Mut zugesprochen haben, möchte ich einen großen Dank aussprechen. Ohne meinen Mann und meinen Sohn hätte diese Arbeit nicht entstehen können, denn sie sind es, die mir die Energie und Motivation für den Schreibprozess und den Sinn dahinter gegeben haben. Ihnen widme ich diese Arbeit.

1. Einleitung

1.1 Peter Lotar als Grenzgänger zwischen den Kulturen Als Peter Lotar im Jahre 1954 das Angebot bekam, dem verstorbenen Leo Delsen als Direktor des Städtebundtheaters Biel-Solothurn nachzufolgen, lehnte er dies nach reiflicher Überlegung ab: Anderseits habe ich mich vor fünf Jahren entschlossen, meine praktische Tätigkeit am Theater vollständig aufzugeben, um meine ganze Kraft der Mission zu widmen, die ich glaube als Schriftsteller zu haben.1

Zu diesem Zeitpunkt war er bereits einer der meistgespielten Hörspielautoren im deutschsprachigen Raum und feierte große Erfolge mit seinem Ideendrama Das Bild des Menschen, das den deutschen Widerstand thematisiert. Nicht nur mit diesem Theaterstück profilierte sich Lotar als überaus engagierter und gesellschaftspolitisch sensibler Schriftsteller.2 In den künstlerischen Evolutionsphasen seines Werks und in seiner schöpferischen und ideellen Entwicklung spiegeln sich zweifellos die zahlreichen politischen und gesellschaftlichen Umbrüche des 20. Jahrhunderts wider. Der 1910 in Prag geborene Lotar erlebte den ersten Weltkrieg, den Zerfall der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, die Entstehung der Ersten Tschechoslowakischen Repu­ blik, den Aufbau des neuen Staates, die große Wirtschaftskrise, den Aufstieg des Nationalsozialismus, das Münchner Abkommen und das Ende der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Im Jahre 1939 flüchtete er in die Schweiz, nachdem er aufgrund seiner zunehmenden antifaschistischen Aktivitäten im Protektorat Böhmen und Mähren per Haftbefehl gesucht wurde. Aus der als vorübergehend gedachten Flucht wurde ein lebenslanges Exil. Lotars Wunsch nach einer Rückkehr in die Tschechoslowakei scheiterte an der Nachkriegs1 2

Brief von Peter Lotar (PL) an Paul Renggli, den Präsidenten der Theaterkommission, 17.12.1954 (Schweizerisches Literaturarchiv, Nachlass Peter Lotar (SLA, NPL), Sign. SLA-Lotar-B-2-d-2-SBI). Lotar grenzt sich in einem Brief an Freya von Moltke vom 18.12.1952 als Autor explizit vom Konzept einer ‚l’art pour l’art‘ ab: „Es ist keine Zeit für l’art pour l’art und elfen­ beinerne Türme. Mein Entschluss wird immer stärker, alles in mir auszumerzen, was ich nicht durch eine wahrhafte Mission rechtfertigen kann.“ (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1MOL)

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Einleitung

entwicklung. Er erkannte schnell, dass die Heimkehr mit einem Verlust an geistiger Freiheit verbunden wäre. Da er diesen Preis nicht zahlen wollte, entschied er sich dafür, in der Schweiz zu bleiben. Bereits im Jahre 1950 erhielt er die schweizerische Staatsbürgerschaft. Erst im Frühjahr 1968 konnte er wieder in die Tschechoslowakei einreisen. Der Verlust der Heimat und eine Existenz in der Emigration zählen im Leben jedes Exilanten zu den fundamentalen existenziellen und für die Kon­ struktion der personalen Identität3 konstitutiven Erfahrungen. Damit eng verbunden ist auch die Frage, inwiefern es dem Einzelnen – wie im Falle Lotars – im Gastland möglich ist, seine künstlerische Laufbahn fortzusetzen. Lotars ganzes Leben war mit dem Theater verbunden. Als Schauspieler war er zuerst an deutschen, später an tschechischen Bühnen tätig. Durch die tragischen Ereignisse in der damaligen Tschechoslowakei wurde seine steile Theaterlaufbahn abrupt unterbrochen. Im Schweizer Exil bekam er jedoch bald ein Engagement am Städtebundtheater Biel-Solothurn. Hier war es ihm nicht nur möglich, wieder als Schauspieler tätig zu werden, sondern er konnte erstmals auch als Dramaturg und Theaterregisseur arbeiten. Zu dieser Zeit begann auch seine Karriere als Dramatiker und Hörspielautor. Hörspiele machten in den 50er-Jahren den Großteil seines Schaffens aus.4 Weil er zweisprachig aufwuchs, die deutsche Sprache eine seiner Muttersprachen war und er sich in beiden Kulturräumen heimisch fühlte, kam es bei ihm im Exil zu keinem Sprachwechsel. Für viele emigrierte Künstler hatte die Sprachbarriere oft katastrophale Folgen (Kliems/Trepte 2004). Lotar indes war sich der Tatsache bewusst, dass die Bedingung für eine erfolgreiche kulturelle Integration auch der Erwerb der Landessprache ist, und so eignete er sich den Schweizer Dialekt rasch und vollständig an. In seinem umfangreichen und vielfältigen Werk, zu dem neben Dramen und Hörspielen auch zwei autobiographische Romane zählen, reagierte Lotar auf die politischen Umwälzungen und gesellschaftlichen, sozialen und kulturel3

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Die personale Identität wird in dieser Arbeit im Sinne von Jürgen Straub verstanden als „Konstrukt, das durch das symbolisch und soziokulturell vermittelte, bedeutungsstrukturierte und Bedeutungen schaffende Handeln der betreffenden Personen konstituiert ist.“ Der Identität vorausgesetzt sind „Differenzierung und Bewahrung von Differenzen ebenso […] wie die Synthetisierung oder Integration des Unterschiedenen.“ (Straub 1998: 94 f.) – Ein wichtiger Aspekt der Identitätskonstruiertheit ist ihre Prozessualität. Dies gilt gleichermaßen für zahlreiche Autoren, die in den 50er-Jahren, d. h. der Blütezeit des Hörspiels, tätig waren. Zu den bekanntesten unter ihnen gehören Heinrich Böll, Günter Eich, Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch. Bei den meisten Autoren stehen die Arbeiten für den Hörfunk im Schatten des prosaischen oder dramatischen Schaffens, was nicht zuletzt an ihrer engen Bindung zum Medium Radio liegt.

Peter Lotar als Grenzgänger zwischen den Kulturen

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len Strömungen und Veränderungen, die sein Zeitalter prägten. Er reflektierte das faschistische Regime, nach Kriegsende die ideologische Teilung der Welt, ebenso die wenig später einsetzende dauerhafte Verletzung der demokratischen Ideale und die Missachtung ethischer Grundsätze in den Beziehungen zwischen Menschen und Völkern im Zuge der allgemeinen Ausbreitung materialistischen Denkens und der zunehmenden Säkularisierung. Als Sinnbild für das selbstzerstörerische Verhalten der Menschheit galt ihm die Atombombe. Die existenzielle Situation und die ethischen Pflichten des Menschen leitete er aus einem religiösen Weltbild ab. Demnach solle der Mensch nach Einheit, nach der Übereinstimmung von Geist und Glauben, von Ethik und Tat streben. Nur durch die Kraft des Geistes könnten das Böse und die Gewalt besiegt werden. Vor diesem Hintergrund sah er die wesentliche Aufgabe des Schriftstellers darin, „im Vergänglichen das Bleibende festzuhalten, im scheinbar Sinnlosen den Sinn aufzuzeigen“ (Lotar 1968b: 50). Den Schriftstellerberuf verstand Lotar als Berufung, die mit der Übernahme von Verantwortung bei der Suche nach Wahrheit einhergeht. Diese Auffassung ist auch die entscheidende Erklärung dafür, dass sich Lotar ab dem Jahr 1950 ausschließlich dem Schreiben widmete. Er sah sich als Vermittler einer orientierungsstiftenden, christlich-humanistischen Botschaft mit ethischen und moralischen Intentionen. Die ideellen Prämissen seines Schaffens knüpften an das geistige Erbe der tschechischen Reformation und deren humanistisches und demokratisches Ideal an (Jan Hus, Petr Chelčický, Jan Amos Komenský) und fügten sich damit in eine Traditionslinie, an deren Ende der erste tschechoslowakische Präsident Tomáš Garrigue Masaryk mit seinen philosophisch-politischen Grundsätzen und seiner kontinuierlichen Geschichtsauffassung steht. Zu den konstitutiven Kategorien der tschechischen Reformation zählen u. a. die Suche nach Wahrheit, das Streben nach Frieden und Toleranz in religiösen Fragen (um einiges früher als bei der westeuropäischen Reformationsbewegung). Zudem schätzte Lotar Albert Schweitzer und dessen Prämisse ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘, der seine Forderung nach Nächstenliebe und nach einer Übereinstimmung von Glauben und praktischem Handeln entsprach – Werte und Ideale, die er auch in seiner Freundschaft mit dem Priester Přemysl Pitter5 fand.6 5

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Přemysl Pitter war ein tschechischer Pädagoge, christlicher Denker und Humanist, der in den 50er-Jahren aus der kommunistischen Tschechoslowakei fliehen musste. Im Jahr 1963 kam er in die Schweiz, wo er die Tschechoslowakische Gesellschaft für Wissenschaften und Künste, die Johannes-Hus-Gemeinde der Tschechen und Slowaken und die Exilzeitschrift Hovory s pisateli [Gespräche mit Schreibern] gründete. Beitrag von Peter Lotar (1975a: 154) zur Autorenumfrage: Mittel und Bedingungen schriftstellerischer Arbeit: „Indem ich klassische Autoren zitiere, anerkenne ich bereits

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Einleitung

Gemeinsam ist beiden die Betonung von Kontinuität (im transnationalen und allgemein menschlichen Sinne), die für Lotar bedeutungs- und identitätsstiftend war. Eine extratextuelle Kontinuität, die durch den bewussten, auch literarisch umgesetzten Erinnerungsprozess gewährleistet wird, sollte nicht nur seine biographische Kontinuität – vor allem in Hinblick auf die Exilerfahrung – sicherstellen, sondern auf der individuellen und kollektiven Ebene auch eine Orientierungs- und Stabilisierungsfunktion übernehmen (Neumann 2005). Dem Theater schrieb er neben der unterhaltenden Dimension ein gewisses erzieherisches und argumentierendes Anliegen zu, dem auch seine eigene Dramatik folgte. Angesichts verschiedener Äußerungen Lotars, die diese Sichtweise verdeutlichen, ist anzunehmen, dass er sich, mit Schiller, ‚die Schaubühne als moralische Anstalt‘ vorgestellt hat. Die literaturwissenschaftliche Forschung der 50er-Jahre belegt, dass Lotar sich innerhalb der zeitgenössischen Tendenzen bewegte. Seine Stücke entsprechen dem, was etwa in Wilfried Barners Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart als Charakteristikum der Nachkriegsdramatik beschrieben wird: Von dieser statischen Grundkonstellation sind auch die in den ersten fünfzehn Jahren geschriebenen Dramen in der Regel geprägt: Im Zentrum steht meistens ein einzelner, ein Außenseiter, ein Repräsentant des Geistes und der Humanität, der gekommen ist, um die durch Krieg, kalten Krieg, die Zündung von Atom- und Wasserstoffbomben und durch die deutsche Teilung aus den Fugen geratene Welt wieder einzurichten, die böse Machtgeschichte zu überwinden und die unmoralische Gesellschaft zu verwandeln. (Barner 1994: 102)

Lotar positionierte sich eindeutig als religiös gesinnter Autor humanistischer Tradition. Zugleich reflektierte er intensiv die Randposition christlicher Künstler in der zunehmend säkularisierten Gesellschaft der 50er-Jahre. Bestärkt durch Walter Muschgs (1948) Tragische Literaturgeschichte äußerte Lotar, es freue ihn, dass er nicht „allein gegen den Strom des Zeitungeistes“7 stehe. Ein Jahr später, 1958, formuliert er diesen Gedanken in einem Brief an Helmut Schilling von der Gesellschaft schweizerischer Dramatiker nochmals ausführlicher:

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die Tradition. Schriftsteller, die sich von jeder Tradition unabhängig erklären, sind wie Schnittblumen, die leugnen, je Wurzeln gehabt zu haben. Bewußt habe ich keine Vorbilder, wohl aber Anreger, Befruchter. Ich sehe sie in jenen Künstlern, Denkern, Wissenschaftlern, welche sowohl die dekadente Selbstzerstörung wie den barbarischen Terror der materialistischen Gesellschaftsordnung überwinden, indem sie die Synthese zwischen Glauben und Denken, Ethos und Handeln vollziehen. (Albert Schweitzer, Teilhard de Chardin, Albert Einstein, u. a.).“ Brief von PL an Walter Muschg, 26.2.1957 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-MUS).

Peter Lotar als Grenzgänger zwischen den Kulturen

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Sie wissen jedoch zweifellos, dass der christliche Künstler nicht nur einsam, sondern vor allem auch auf dem heutigen Theater, wie in der Welt überhaupt, seiner Natur nach ein Fremdling ist. Darum halte ich es für umso notwendiger, wenn wir uns zusammenschließen, um, sei es im Rahmen der Kirchen, oder auch nur im losen Kontakt mit ihnen, uns selbst den Rahmen unseres Wirkens zu schaffen.8

Peter Lotar war ein Mann des Theaters, und auch seine kulturgeschichtlichen Publikationen in der Presse kreisten um dieses Medium. Darüber hinaus sind seine Arbeiten aber auch Zeugnisse des Ringens um eine christliche Haltung in einem Leben voller (Schaffens-)Brüche in einer politisch geteilten Welt. Die so unterschiedlichen Bekenntnisse zum Theater und zum Christentum beeinflussten wesentlich, wenn auch auf verschiedene Weise, die Rezeption seines Werks. Obwohl Lotar – im Zeugnis der zeitgenössischen Kritiken – als Dramatiker auf der Bühne Erfolge feierte und für seine literarische Tätigkeit mit Preisen und Stipendien geehrt wurde, blieb er nicht nur für die deutschsprachige, sondern auch für die tschechische Theater- und Literaturgeschichte in mancher Hinsicht ein Unbekannter. Seine spätere Rezeption verlief in eher bescheidenem Rahmen. Lotar geriet mit seiner vielfältigen Tätigkeit und seinen zahlreichen Werken mehr oder weniger in Vergessenheit. Die fehlende langfristige Resonanz hat mehrere Ursachen, wobei soziale, literarisch-historische, literarisch-ästhetische, nationale und politische Aspekte eine Rolle spielen. In Publikationen zum Deutschschweizer Theater wurde Lotar aufgrund seiner Biographie zu den Exilautoren gezählt, weshalb seine Stücke keine sonderliche Beachtung fanden. Nur das Stück Die Wahrheit siegt wurde ausführlicher behandelt. Zum deutschsprachigen Hörspiel der 50er-Jahre, zu dem Lotar als produktiver Radiokunstschaffender einen großen Beitrag leistete, gibt es wiederum nur sehr wenige Forschungsarbeiten. Über den spezifischen Gattungsbereich hinaus müssen auch die Besonderheiten des Sprach- und Kulturraums, in dem sich Lotar bewegte, berücksichtigt werden. Lotar wurde wegen seines multikulturellen Hintergrunds und seiner mehrfachen Zugehörigkeit von der national orientierten tschechischen Theater- und Literaturforschung lange nicht wahrgenommen. Erst nach der politischen Wende 1989 eröffneten sich den tschechischen Geisteswissenschaften neue Forschungsmöglichkeiten. Im Anschluss an die wissenschaftliche (Wieder-)Entdeckung der deutschsprachigen Literatur aus Böhmen und Mähren und mit dem wachsenden Forschungsinteresse am literarischen Exil wurden

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Brief von PL an Helmut Schilling, Gesellschaft schweizerischer Dramatiker, 30.1.1958 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-2-b-SCHIH).

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Einleitung

Lotars autobiographische Romane wahrgenommen. Der wissenschaftliche Wert der entsprechenden Arbeiten wird allerdings durch den Ansatz eingeschränkt, diese Gattung in erster Linie als historisches Zeugnis und Quelle biographischer Evidenz zu lesen, ohne die ästhetischen Qualitäten dieser Texte genauer in den Blick zu nehmen. Lotars Werk lediglich als Ergebnis der Bemühungen eines Humanisten und Demokraten im Kontext der Exilforschung und vor dem biographischen Hintergrund zu betrachten und zu interpretieren, wie es die Sekundärliteratur zu Lotar vermittelt, erzeugt jedoch ein reduziertes Bild, das wesentliche Aspekte des Gesamtwerks vernachlässigt und vor allem das Schaffen ab Mitte der 50er-Jahre größtenteils ausblendet. Unbeachtet bleiben dabei nicht zuletzt die Darstellungsverfahren (Mosaik, Figurenkonzeption, Multiperspektivität) und Topoi (gebrochene Identitäten), mit denen Lotar in mancher Hinsicht an die literarische Moderne anschließt.

1.2 Methodische Grundlagen und Fragestellungen Unter dem Einfluss der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts und vor dem Horizont seiner Lebenserfahrung bildete Lotar in seinen autobiographischen Romanen, Dramen, Hörspielen sowie in publizistischen Artikeln historische Ereignisse, Prozesse und Personen ab, die seine Weltanschauung zum Ausdruck bringen. Das soziale, religiöse und ethische Gefüge wird durch Ideale wie Wahrhaftigkeit, Toleranz, Demokratie, Freiheit, Ehrfurcht vor dem Leben und (Nächsten-)Liebe geschaffen. Die Relationen, die in diesem semantisch abgegrenzten Raum zu Wort kommen sollen, sind Übereinstimmung, Harmonie, Zusammenspiel, Synthese, Einheit und Annäherung. Im Mittelpunkt der auf den persönlichen Erinnerungen beruhenden Vergangenheitsdarstellungen steht das menschliche Schicksal, eine menschliche Existenz, die sich in ihrem Streben und Irren in verschiedenen Grenzsituationen mit kulturellen, ethischen und religiösen Werten und Traditionen auseinandersetzt. Fokussiert wird, wie die Konsequenzen des eigenen Handelns getragen werden und welche Auswirkungen das auf die persönliche Identität hat. In Bezug auf die Deutung der Vergangenheit war Lotar daher an Gedanken, Ideen, Emotionen, Erfahrungen und Erlebnissen der Einzelnen interessiert, die in Form individueller Erinnerun-

Methodische Grundlagen und Fragestellungen

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gen in autobiographischen Texten tradiert worden sind. Nicht zuletzt legte er Wert auf die Bearbeitung der eigenen Erinnerungen.9 Zentraler Gegenstand dieser Arbeit ist die ästhetische Repräsentation von Erinnerungs- und Identitätskonstruktionen in Lotars vielfältigem und gattungsreichem Werk. Hiermit sind mehrfache Prozesse der retrospektiven Sinnkonstitution und der Verallgemeinerung von identitätsrelevanten Erfahrungen verbunden. Ziel ist es, die Selbstbilder und pluralen Vergangenheitsdeutungen mit ihren Funktionen für die Erinnerungskultur zu erforschen. Lotar begriff seine facettenreiche kulturelle und schriftstellerische Praxis vor allem als Vermittlungstätigkeit, was auch anhand einer seiner bevorzugten Schreibtechniken, der literarischen Montage, deutlich wird. Er schrieb sich explizit die Rolle eines Vermittlers10 im individuellen und kollektiven Erinnerungs- und Identitätsprozess zu.11 Die Vermittlung des Wertesystems ist bei Lotar einerseits durch die Auswahl bestimmter Geschichtsbilder und Vergangenheitsversionen mit erinnerungskulturellen Funktionen – Gedächtnisbildung und Gedächtnisreflexion – verbunden (Erll 2011: 196–198). Diese Auffassung korrespondiert mit dem mehrdimensionalen literaturwissenschaftlichen Gedächtniskonzept, das sich darüber hinaus mit dem Verhältnis von Gedächtnis bzw. Erinnerung und Literatur auf der binnenliterarischen und textinternen Ebene beschäftigt (Erll/ Gymnich 2003; Erll/Nünning 2004, 2005; Oesterle 2005). Nicht zuletzt wird

Ausnahmen von diesem Konzept bilden die zwei Theaterstücke Das leere Kreuz und Die Wahrheit siegt, die zwar aktuelle Ereignisse behandeln, jedoch nicht mit (auto-)biographischen Texten arbeiten. Dafür wird auf die einzelnen Schicksale und deren Identitätskon­ struktionen unter dem Wahrheitsanspruch fokussiert. 10 Vgl. hierzu eines seiner zahlreichen Bekenntnisse zu den Wertvorstellungen, Leitbildern und schriftstellerischen Strategien, vor allem in der Korrespondenz mit seinen Kollegen, Freunden sowie teilweise in öffentlichen Auftritten bzw. Vorträgen. Als Beispiel dient ein Brief von PL an Freya von Moltke vom 30.6.1952: „Wenn mein Name trotzdem in den letzten Jahren auch in Deutschland durch zahlreiche Aufführungen meiner Werke an den deutschen Rundfunksendern eine gewisse Bedeutung erlangte, so deshalb, weil ich versuche, im Rahmen meiner Hörspiele nicht zu unterhalten, sondern die christliche Botschaft einer Welt zu vermitteln, die ihrer dringend bedarf.“ (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1MOL) 11 Die kollektive Identität wird laut Jan Assmann verstanden als Konstrukt, als „Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. [...] Eine kollektive Identität ist nach unserem Verständnis reflexiv gewordene gesellschaftliche Zugehörigkeit. Kulturelle Identität ist entsprechend die reflexiv gewordene Teilhabe an bzw. das Bekenntnis zu einer Kultur.“ (Assmann 2007: 132, 134) 9

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Einleitung

der Begriff der Vermittlung auch auf die literarische und kulturelle Tradition bezogen, in der Lotar schrieb und der er sich zugehörig fühlte. Andererseits fungierte Lotar als Akteur kultureller Transferprozesse zwischen dem tschechischen und deutschsprachigen Raum, wobei „die kulturelle Vermittlung hier als eine Form der Grenzüberschreitung verstanden [wird], die in transnationalen Zwischenräumen entsteht und diese zugleich konstituiert.“ (Koeltzsch 2012: 14) Lotars zahlreiche Aktivitäten machen ihn gleichsam zu einem paradigmatischen Grenzgänger zwischen verschiedenen Kulturräumen und den territorialen Grenzen im 20. Jahrhundert. Anhand konkreter Beispiele wird gezeigt, wie Lotar allmählich seine Identität als Kulturvermittler konstruierte. Die Analyse und Beschreibung seiner literarischen Darstellungsverfahren werden mit den methodischen Konzepten der literaturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung sowie mit der kulturwissenschaftlichen Analyse von Identitätskonstruktionen vertieft. Von diesen Aspekten ausgehend wird auch Lotars kulturvermittelnde, durch die Exilerfahrung geprägte Tätigkeit bewertet und mit der neuen Exilforschung kontextualisiert. Im Folgenden sollen methodische Zugänge umrissen und in ihrem Bezug auf Lotar erläutert werden.

1.2.1 Literaturwissenschaftliches Gedächtniskonzept Die normative Vermittlung eines Wertesystems ging bei Lotar mit intensiver Erinnerungsarbeit und vielfältigen Gedächtnisprozessen einher, in denen sich sein profundes Interesse an der Geschichte, also an historischen Ereignissen, Vorgängen und Persönlichkeiten sowie an Phänomenen des kommunikativen Gedächtnisses12 widerspiegelt. Die von der christlich-humanistischen Weltanschauung abgeleiteten Werte und Normen werden vermittels bestimmter Geschichts- und Selbstbilder – „Lebenserfahrungen bis zur Nationalgeschichte“ (Erll/Nünning 2005b: 6) – dargestellt und reproduziert. Ausgehend von der grundlegenden Prämisse, dass „Identität über Erinnerung konstruiert,

12 Aleida und Jan Assmann folgend wird zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis als zwei Formen der kollektiven Erinnerung unterschieden. Das kommunikative Gedächtnis bezieht sich auf die „Erinnerungen, die sich auf die rezente Vergangenheit beziehen.“ – Das kulturelle Gedächtnis hingegen ist „die Tradition in uns, […] die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewußtsein, unser Selbst- und Weltbild prägen.“ (Assmann 2006: 70)

Methodische Grundlagen und Fragestellungen

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modelliert, verändert, aber auch destabilisiert und schließlich dekonstruiert werden kann“ (Erll/Gymnich 2003b: iii), was nicht nur auf individueller, sondern auch auf kollektiver Ebene gilt, zeigen die nachfolgenden hermeneutisch strukturierten Kapitel, wie sich in Lotars Werk Elemente des individuellen Gedächtnisses und der Erinnerungskulturen mit Identitätskonstrukten verbinden. Ein transkulturelles Verständnis von Erinnerung bestätigt Lotars Position als Akteur im tschechischen und deutschsprachigen Zwischenraum. Mit dem literaturwissenschaftlichen Gedächtniskonzept, das Astrid Erll und Ansgar Nünning in einem synthetisierenden und systematisierenden Beitrag unter Berücksichtigung der bisherigen Ergebnisse literaturwissenschaftlicher Gedächtnisforschung erarbeiteten, lassen sich die Relationen zwischen Erinnerung und Identität beschreiben (Erll/Nünning 2003; Erll/Nünning 2005b; Erll 2011: 73–94).13 Ihr Konzept, das von Paul Ricœurs dreidimensionalem mimetischen Modell der Präfiguration, Konfiguration und Refiguration (Erll 2011: 180–186) ausgeht, deckt eine große Bandbreite von Fragestellungen ab: vom Bezug literarischer Texte auf die außerliterarische Wirklichkeit über die textinterne Inszenierung kollektiver Erinnerung und Identität bis hin zu möglichen gesellschaftlichen Rückwirkungen solcher Inszenierungen (Gymnich 2003). Innerhalb der einzelnen Grundrichtungen ‚Gedächtnis der Literatur‘, ‚Gedächtnis in der Literatur‘ und ‚Literatur als Medium des Gedächtnisses‘ ist wiederum ein breites methodisches Spektrum zu erkennen, das literaturwissenschaftliche Ansätze mit soziologischen, psychologischen, geschichtstheoretischen und kulturgeschichtlichen zusammenführt (Erll/ Gymnich 2003b: iv). Somit stellt dieses Konzept ein geeignetes Instrumentarium für die Erfassung von erinnerungskulturellen Prozessen und der Identitätsbildung in literarischen Texten dar. In den folgenden Ausführungen sollen besonders die Selektionsmechanismen und die Auswahlkriterien für die eigenen und fremden Erinnerungen wie auch für die dargestellten Geschichts- und nationalen Selbst- und Fremdbilder in Lotars Werk berücksichtigt werden. Ebenso wichtig ist sein Anspruch, mit dem eigenen Schaffen an der Formierung individueller und kollektiver Identität mitzuwirken. Mit dem zuvor skizzierten Gedächtniskonzept und mit Blick auf die drei genannten Aspekte sollen die textinternen Darstellungsverfahren in Lotars Texten sowie ihre gesellschaftlichen und

13 Erll und Nünning geben einerseits einen strukturierenden Überblick über Grundannahmen und methodische Ansätze, andererseits zeigen sie weitergehende Forschungsper­ spektiven auf.

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Einleitung

erinnerungskulturellen Funktionen14 bei der Norm- und Wertevermittlung analysiert, klassifiziert und geordnet werden. Dabei wird sich zeigen, dass in Lotars Werk alle drei Spielarten des von Erll und Nünning beschriebenen Gedächtniskonzepts relevant sind und dass sie sich in einzelnen Werken15 überlagern und gegenseitig ergänzen können (Erll/Gymnich 2003b: vi). Sie basieren auf ähnlichen literaturwissenschaftlichen methodischen Zugängen, fokussieren aber unterschiedliche inhaltliche Ebenen der analysierten Werke. Dadurch eröffnet sich ein breiteres Spektrum an interpretativen Herangehensweisen für eine kontextbewusste Analyse von Lotars literarischen Verfahren, die zur Konstruktion, Reflexion und gegebenenfalls Transformation kultureller Wahrnehmungsmuster und ihren eingelassenen Wertehierarchien inklusive Machtrelationen (Nünning/Nünning 2010: 274) beitragen. Aufgrund der Tatsache, dass sich Lotar in seinen Hörspielen und Theaterstücken intensiv mit medienkulturellen Prozessen auseinandersetzte und explizit eine gesellschaftliche Wirkung seines Werks anstrebte, wird auch das medienspezifische Wirkungspotenzial der einzelnen ästhetischen Verfahren untersucht. Im Folgenden soll kurz dargestellt werden, welche Rolle das von Erll und Nünning beschriebene Gedächtniskonzept für die Analyse von Lotars Texten spielt, wobei das ‚Gedächtnis der Literatur‘ den meisten Raum einnimmt, da hier die Zusammenhänge komplexer sind als bei den anderen. Den Ausgangspunkt der Überlegungen zum ‚Gedächtnis der Literatur‘ bildet Lotars evidentes Interesse am (auto-)biographischen Schreiben, das seiner Auffassung nach spezifische intertextuelle Merkmale aufweist. Lotar beschäftigte sich intensiv mit (auto-)biographischen Werken, um aus ihnen überwiegend audiophone Biographien oder dramatische Texte zu gestalten. In der Gedächtnisforschung gelten (Auto-)Biographien als Gedächtnisgattungen par excellence und als „Orte des – individuellen und kulturellen – Gedächtnisses“ (Erll/Nünning 2003: 13). Der schriftstellerische Prozess in diesen Gattungen wird dem Akt des individuellen Erinnerns gleichgestellt. Nicht zuletzt sind die meisten Topoi dieser Arbeiten mit ihrem Bezug auf einen breiteren kulturellen und politischen Kontext fest im kollektiven Gedächtnis

14 Zu den wichtigsten zählt Erll „die Herausbildung von Vorstellungen über vergangene Lebenswelten, die Vermittlung von Geschichtsbildern, die Aushandlung von Erinnerungskonkurrenz und die Reflexion über Prozesse und Probleme des kollektiven Gedächtnisses.“ (Erll 2011: 174) 15 Der folgende Überblick über die theoretischen Konzepte erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, was hinsichtlich des thematischen Umfangs und der methodischen Breite nicht nur kaum möglich, sondern im Sinne dieser Arbeit auch nicht zielführend wäre.

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verankert. Nikola Herweg fasst die Vergangenheitsregister, an denen (Auto-) Biographien beteiligt sind, wie folgt zusammen: Ähnelt die Arbeit des Biographen in Perspektivität, Selektivität und Subjektivität dem Akt des individuellen Erinnerns, so stützt sie sich doch auf kollektive Wissensspeicher wie Archive und Bibliotheken, die fertige Biographie wiederum wirkt auf das kollektive Bewusstsein ihrer Leser ein. (Herweg 2003: 207)

Unter den angeführten Voraussetzungen ist festzuhalten, dass es in Lotars Werk zu einem mehrfachen Erinnerungsakt kommt, bei dem die personale sowie kollektive Identität in einem mehrfachen De- und Rekonstruktionsprozess inszeniert wird. Dies geschieht in zweierlei Hinsicht: Es geht nicht nur um die Identitätskonstruktion der Biographierten, sondern auch des Biographen. Somit müssen auch jene individuellen Erfahrungen bzw. Erinnerungen untersucht werden, die für die Gestaltungsmethode des Biographen prägend sind, da sie auf dessen eigene Identität zurückwirken. Mit Blick auf Lotars Auffassung der Autorenrolle wird auch die Intertextualität als Schreibstrategie genauer untersucht, da diese auf die textexternen Faktoren der literarischen Gedächtnisbildung abzielt. Lotar definierte sich als Diener seines Werkes, was sich im Schreibprozess niederschlug. Der direkte Bezug auf die Prätexte soll nach Funktion und Intention strukturiert werden. Lotars Hörspiele und teils auch seine Theaterstücke sind Mosaike, die aus thematisch gegliederten und zusammengestellten Zitaten aus diversen (auto-)biographischen Quellen bestehen und die im Falle der biographischen Hörspiele über Schriftsteller durch literarische oder philosophische Quellen ergänzt werden. Die zahlreichen individuellen Zeugnisse und multiplen persönlichen Erfahrungen, die ein Ereignis, das eigene Handeln oder den Lebenslauf einer Person de- und rekonstruieren, sollen die Authentizität, Wahrhaftigkeit und Vollständigkeit des Gesamtbilds verbürgen. Lotar wollte historische Geschehnisse aus dem kommunikativen Gedächtnis oder aus Biographien nicht als bereits durch andere Vermittlungsinstanzen interpretiertes und kanonisiertes Material vorlegen, sondern beabsichtigte, sie als Prozesse darzustellen, indem er vermittels des Primärmaterials einen direkten Dialog zwischen Akteuren und aktiv beteiligten Rezipienten anstößt. Auffallend ist, dass die aus den autobiographischen Werken ausgewählten Zitate von den entsprechenden historischen Figuren des jeweiligen Werkes gesprochen und dadurch ihre Erinnerungen und ihre Identität (wieder-)gebildet werden. In die Biographien von Schriftstellern integriert Lotar wiederum deren literarische Figuren. Die zahlreichen Zitate aus Werken von George Bernhard Shaw, Jean Racine und Friedrich Schiller untermauern Lotars Auf-

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fassung, dass das literarische Werk Ausdruck des Lebens seines Autors sei.16 Vor allem bei Schiller betrachtet er diese Art der Intertextualität als Erinnerungsarbeit, die zur Aktualisierung der Prätexte beiträgt (Erll 2009: 79 f.). Er kritisiert die literarische Praxis, die keine Lektüre der ‚Klassiker‘ mehr betreibe und statt eigener Leseerfahrungen nur aus der Übernahme fertiger Meinungen bestehe.17 Gattungen und Intertextualität werden der Kategorie ‚Gedächtnis der Literatur als Symbolsystem‘ zugerechnet. Während das ‚Gedächtnis der Literatur‘ mit seinem Fokus auf Gattungsanalyse und Intertextualität diachron orientiert ist, basiert das synchron geprägte ‚Gedächtnis in der Literatur‘ auf hermeneutischen Untersuchungen der textinternen Ebene und fokussiert die literarische Repräsentation von Erinnerung und Gedächtnis. Zentral für diese Arbeit ist die Frage, mit welchen Mitteln das Verhältnis zwischen Erinnerung und Identität in Lotars Werk inszeniert wird. Anhand ausführlicher Analysen der narrativen und dramatischen Formen und Strukturen wird die Vielfalt der von Lotar verwendeten Darstellungsmittel aufgezeigt, die den verschiedenen Gedächtnisinhalten und den unterschiedlichen Funktionen des Erinnerungsaktes in den autobiographischen Romanen, Hörspielen und Dramen entsprechen. Die dritte Spielart des Gedächtniskonzeptes, die ‚Literatur als Medium des Gedächtnisses‘, untersucht Vergangenheitsversionen aus funktionsgeschichtlicher Perspektive. Hier geht es darum, welche erinnerungskulturellen Funktionen die Literatur als Medium für die Konstruktion von Erinnerung und Identität haben kann. Die oben erwähnte Vermittlung von Geschichts- und Selbstbildern, die Aushandlung von biographischer Evidenz und die darin implizit enthaltene Reflexion über Prozesse des kollektiven Gedächtnisses sind Dominanten von Lotars Werk. Deren Analyse zeigt, dass Lotar vor allem auf die Dekonstruktion und Revision verschiedener Vergangenheitsdarstellungen abzielte (Erll 2011: 197).

16 Lotar übernimmt diese Auffassung von der hermeneutischen Theorie Wilhelm Diltheys. 17 „So kam es zu jenem Zerrbild Schillers, das uns von der Schule her eingeprägt ist, so sehr und so tief, dass es um ein Haar gelang, ganzen Generationen einen der erleuchtendsten und beglückendsten Genien der Menschheit zu einem peinlichen Alpdruck werden zu lassen. […] Wir mussten sie [die Balladen Schillers – Anm. der Autorin] auseinandernehmen, ‚vergleichen‘ und ‚analysieren‘; an die Stelle des einzigartigen, in anderer Form nicht wiederholbaren Dichterwortes trat die vorgeschriebene, banale Prosa-‚Deutung‘. Nachdem man bewußt oder unbewußt in einen völligen Gegensatz zu Schillers Gedankenwelt geraten war, schien es nicht mehr möglich, sie unmittelbar wirken zu lassen.“ (Schiller 9 f.)

Methodische Grundlagen und Fragestellungen

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1.2.2 Kulturtransfer Die Werke von Kulturschaffenden wie Peter Lotar, die sich durch eine intensive vermittelnde und übersetzerische Tätigkeit auszeichneten, wurden von der Migrations- und Exilforschung sowie im Rahmen der Rezeptionsgeschichte zwar wahrgenommen, zumeist aber nicht eingehend untersucht. Sie wurden mit ihren brüchigen, nicht linearen Biographien und mit ihrer Zugehörigkeit zu mehreren Kulturräumen im Konzept der national orientierten Literaturund Geschichtsschreibung zum größten Teil außer Acht gelassen und für nicht „biographiewürdig“ gehalten (Keller 2013: 129). Erst mit den methodischen Ansätzen der inter- und transkulturellen Forschung, denen ein anderes Kulturverständnis zugrunde liegt, werden sie aufgewertet und „als wesentliche Akteure von Transferprozessen (wieder)entdeckt.“ (Koeltzsch 2011: 9 f.) Kulturtransfer – eine Art der interkulturellen Kommunikation – bezieht sich auf die Übertragung von „kulturelle[n] Artefakten (wie Texte, Diskurse, Medien, Praktiken)“ aus einem Kulturraum in den anderen (Lüsebrink 2003: 318). Die Untersuchungen der Transferprozesse, die sowohl inter- als auch intrakulturell verlaufen könnten, fokussieren drei Feldbereiche: die Selektion, Vermittlung und Rezeption der transferierten Güter. Die Komplexität der Fragestellungen – nach den Vermittlern und ihrer Motivation, nach ihren Auswahlkriterien und den Aneignungsprozessen – erfordert eine interdisziplinäre Herangehensweise. Um die dynamischen und wandelbaren Transferprozesse in ihrer Breite erfassen zu können, bedient man sich neben geschichts- und literaturwissenschaftlichen auch soziologischen Ansätzen. Des Weiteren ergibt sich mit dem Forschungsgegenstand auch eine Schnittstelle zur Gedächtnisforschung (Lüsebrink 2008). Der ethnologisch bzw. kulturanthropologisch ausgerichteten Forschung zum Kulturtransfer liegt ein besonderes Interesse an Lebensgeschichten zugrunde, wobei deren diskursive Dimension hervorgehoben wird. In den Vordergrund rücken dabei die Vermittler und ihre sozialen Netzwerke, die Medien, aber auch die Vermittlungssituation selbst, sodass „viele Personen und Menschen, die für unbedeutend gehalten wurden, dem Vergessen [entrissen wurden].“ (Keller 2006: 105) Den Vermittlern wird nicht nur eine kulturelle und gesellschaftliche, sondern auch eine politische Funktion zugeschrieben, da sie mit ihrer Tätigkeit Einfluss auf die kulturelle Wechselseitigkeit ausüben, vor allem zu Zeiten, in denen die politische Lage nicht optimal war. In Lotars Fall geht es um tschechisch-deutsch-schweizerische Kulturkontakte, die bis 1989 Verbindungen zwischen politisch gegensätzlich orientierten Ländern aufrechterhielten.

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Lotar nahm an den Transferprozessen in mehrfachen Rollen teil: als Publizist, Biograph, Übersetzer, Dramaturg und nicht zuletzt als Rezensent. Er arbeitete mit vielfältigen Mitteln und nutzte unterschiedliche Medien. Seine Motivation, die laut Kortländer unter ,ideologischen Interessen‘ zu verorten ist, präsentiert sich in und durch die Normen und Werte der importierten Güter (Kortländer 2011: 7). Lotars Auswahlkriterien und -vorgänge hängen eng mit seiner transkulturell und -national aufgefassten Erinnerungsarbeit zusammen. Bei der Analyse der Transferprozesse sind neben der Vermittlungsfigur mit ihren Motivationen die Rezeptionsprozesse bedeutsam (Lüsebrink 2003: 318). Die interkulturelle Aneignung kann von einer Imitation und Nachahmung bis zur völligen Transformation reichen. Kulturelle Praktiken wie das Übersetzen, das Dramatisieren von Romanvorlagen oder das Berichten gehen mit bestimmten, kulturspezifischen Formen der Rezeption einher. Wie Lotar in konkreten Fällen vorgeht, wird individuell besprochen. Im Kontext der kulturellen Wechselbeziehungen wird nicht zuletzt das Augenmerk auf die Situation des multinationalen und multiethnischen Prags der 20er- und 30er-Jahre gerichtet. Die Analyse von Lotars Selbstinszenierungen und Identitätsentwürfen als Grenzgänger soll einen Beitrag zur Erforschung der Vermittlungsphänomene in diesem Sprach- und Kulturraum leisten. Zu Lotars vielgestaltiger Vermittlungstätigkeit ergeben sich in Bezug auf die oben erwähnten Punkte noch folgende übergreifende Fragestellungen: In welchem Verhältnis stehen die Vermittlungspraktiken und -prozesse einerseits zu den politischen Entwicklungen in der damaligen Tschechoslowakei, andererseits zu den Veränderungen von Lotars öffentlicher Position in der Schweiz (zunächst als Exilant, später als Schweizer Bürger)? Was für ein Bild der tschechischen (Kultur-)Geschichte wird vermittelt und welche Vermittlungsstrategien lassen sich dabei erkennen? Wie stellt Lotar die historischen Ereignisse dar, die heute bereits im kollektiven Gedächtnis als Gedächtnisorte fungieren? Welche Prinzipien des Ein- und Ausschlusses ergeben sich aus der Charakteristik von Lotars persönlichen Netzwerken? Im Kontext dieser Fragen ist es auch spannend, Lotars eigene Reflexion seiner Vermittlungstätigkeit zu untersuchen.18 Anhand seiner vielfältigen Tätigkeit wird gezeigt, wie er sich als Kulturvermittler und Grenzgänger inszenierte.

18 Den Bekanntheitsgrad der Vermittler und Übersetzer thematisiert in ihrem Beitrag auch Schahadat (2016).

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1.2.3 Kulturwissenschaftlich orientierte Exilforschung Peter Lotar gehörte zu den Exilanten, die sich in ihrem Gastland niederließen und bei denen „nicht nur die soziale, sondern auch die sprachliche, kulturelle und literarische Integration“ (Becker/Krause 2010: 9) erfolgreich verlief. Die damit verbundenen Prozesse, die alle wesentlich zum Verständnis und zur Veränderung von kultureller Identität beitragen, werden unter dem kulturanthropologischen Begriff der Akkulturation (Behring/Brandt 2004: 287–348) subsumiert. Dadurch eröffnen sich der Exilforschung, die sich früher eher auf die Aspekte der kulturellen Abgrenzung und der Anbindung an nationale Modelle konzentriert hat, neue Perspektiven, sodass sie sich nun verstärkt den akkulturativen Wechselbeziehungen zwischen Vertretern unterschiedlicher Kulturen im literarischen Exil widmen kann. Die transkulturelle Neuorientierung wurde durch kulturwissenschaftliche Ansätze der 80er-Jahre initiiert, die Kulturen nicht als homogene, festgelegte Entitäten begreifen, sondern sie in ihrer prozessualen, konstitutiven und hybriden Dimension betrachten. Neben Eingliederungsvorgängen werden die interaktiven Kulturkontakte, die mannigfaltigen Austauschprozesse und der Kulturtransfer im Exil fokussiert. In dieser Perspektive rücken Persönlichkeiten in den Vordergrund, die im Exil als Grenzgänger und Vermittler fungierten. Solche Figuren mit ihren transnational geprägten Biographien wurden von der an national ausgerichteten Heimat- und Literaturkonzepten anschließenden Exilforschung lange nicht beachtet (Keller 2013; Schahadat 2016). Peter Lotar ist ein Musterbeispiel für eine solche Figur, blieb er doch der Rolle des Grenzgängers sein Leben lang treu. Wurde schon seine Selbst- und Fremderfahrung von der Multikulturalität der Tschechoslowakei entscheidend geprägt, so steht Lotar zugleich mit seinem vielfältigen und zu seiner Zeit erfolgreichen Werk und seiner Tätigkeit nicht nur als Kulturvermittler exemplarisch für eine erfolgreiche Exilexistenz. Mit der Frage nach der kulturellen Identität im Exil werden seine vermittelnden und grenzüberschreitenden Aktivitäten als Teil von Akkulturationsprozessen interpretiert. In den literarischen Werken werden vor allem die transkulturellen Phänomene reflektiert, die unmittelbar durch die Exilerfahrung geprägt sind oder sich mit dem Exil auseinandersetzen. Sie werden als Aushandlungsorte der kulturellen Identität betrachtet. Im Mittelpunkt der Darstellungen stehen insbesondere (hybride) Identitäten mit Brüchen und Transformationen, die aus

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der Selbst- und Alteritätserfahrung im Exil resultieren.19 Die Untersuchungen zu Lotars Werk konzentrieren sich auf Fragen der „Aufwertung des kreativen Potentials der Exilerfahrung […] als Gegenpol zur existentiellen Verunsicherung“ (Bannasch/Rochus 2013: XIV).

1.3 Aufbau der Arbeit und Quellen Erstmals wird das Leben und Werk des Schriftstellers Peter Lotar in seiner Gesamtheit vorgestellt. Seine autobiographischen Romane, die Theaterstücke und Hörspiele sowie seine (kultur-)vermittelnde Tätigkeit werden unter dem zentralen Aspekt von individuellen und kollektiven Identitätskonstruktionen im konstitutiven Zusammenhang mit dem Erzählen und Erinnern untersucht. Im Rahmen der Fragestellung hat die Identitätskonstruktion drei Dimensionen, die hier erarbeitet werden: die Selbstdarstellung in Lotars autobiographischem Schreiben, die Konstruktion von Figuren im Rückgriff auf deren (auto-)biographische Texte im Kontext bestimmter Geschichtsbilder, und die personale Identitätsbildung eines Kulturvermittlers. Diese drei Dimensionen geben der Monographie ihre Struktur, die sich gleichzeitig mit einer thematischen und gattungsspezifischen Gliederung deckt. Im ersten Kapitel werden Lotars Heimaten, die Sprach- und Kulturräume vorgestellt, in denen er sich bewegte und tätig war. Gewürdigt wird dabei ­gleichermaßen die Zeit in Prag wie auch jene im Exil und sein späteres Leben in der Schweiz. Insbesondere wird auf Lotars Erfolge als Schauspieler hingewiesen. Aus den detaillierten Untersuchungen zu Lotars Leben ergab sich auch die Entscheidung, die Wohnortswechsel als bedeutende Zäsuren in seinem Leben anzunehmen. Es wird gezeigt, in welcher Korrelation der Ortswechsel (politisch erzwungen/freiwillig) mit der jeweiligen Schaffensphase steht. Lotars Biographie wird durch zahlreiche Zitate aus seiner Korres­ pondenz ergänzt. Da Lotar die Schreibmaschinendurchschläge seiner Briefe aufbewahrte, können seine Gedanken, Überlegungen und Erläuterungen zu seinem Privat- und Berufsleben nachvollzogen werden. 19 Charakteristisch für die vom Exil geprägte Literatur sind „Strategien der interkulturellen Abgrenzung, doch zugleich der Vermittlung, eben zwischen dem Erleben des Fremden und des Sich-Versicherns der früheren Identität, des zu diesem Zeitpunkt Eigenen und der neuen kulturellen Zugehörigkeit, sie spiegelt kulturelle Veränderungen, Brüche und den Wandel von Identitäten.“ (Becker 2013: 58)

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Im zweiten Kapitel werden die autobiographischen Romane Eine Krähe war mit mir und Das Land, das ich dir zeige behandelt. Das Augenmerk liegt auf der konstruktiven Dimension des Erinnerungsprozesses im autobiographischen Schreiben. Gezeigt wird, wie die nationale, religiöse und politische Identität des Protagonisten beider Romane Marek Truntschka am, im und durch das Theater vor dem politischen Hintergrund konstruiert wird. Das Theater fungiert in beiden Romanen als Aushandlungsort der Identitäten und als kultureller Zwischenraum. In dem Erinnerungsprozess wird insbesondere auf die Grenzgänger- und Exilerfahrung des Erzählers fokussiert. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit Hörspielen und Theaterstücken über den Zweiten Weltkrieg. Als engagierter Autor beabsichtigte Lotar, mit der Wahl zeitkritischer Themen zu einer allgemeinen gesellschaftspolitischen Diskussion beizutragen. In seinen dramatischen Texten stellte er Individuen und ihre Schicksale in den Mittelpunkt, die sich mit dem (Nach-)Kriegsgeschehen auseinandersetzen. Zu den zentralen Topoi zählen Schuld und Sühne, Wahrheit und Lüge. Gezeigt wird, wie Grenzsituationen den Einzelnen beeinflussen und wie dieser die Konsequenzen der eigenen Taten tragen kann. Im vierten Kapitel wird näher auf Lotars biographisches Schreiben eingegangen. Er verfasste mehr als drei Dutzend Hörspiele, die die Biographien von Schriftstellern, Philosophen und Wissenschaftlern zum Inhalt haben. Durch die Montage von Zitaten aus historischen (auto-)biographischen Texten kommt es zu einem mehrfachen De- und Rekonstruktionsprozess. Bei den Philosophen verfolgte Lotar das Ziel, ihre auf dem christlichen Glauben beruhende humanistische Weltanschauung anhand ihrer Taten zu veranschaulichen. Die Schriftstellerbiographien sollten die kanonisierten Versionen ihrer Lebensläufe unter den Aspekten Glaube, Liebe und Hoffnung revidieren. Der Hörspielzyklus über die Entwicklung der Medizin mit mehreren Forscher- und Ärztebiographien stellte vorbildliche Wissenschaftler und deren ethische Überzeugungen vor. Lotar als unermüdlicher Akteur des Kulturaustausches zwischen der damaligen Tschechoslowakei und der Schweiz bzw. den deutschsprachigen Ländern wird zum Thema des fünften Kapitels. In der ausführlichen Rekonstruktion seiner kulturvermittelnden Tätigkeit geht es nicht nur um deren Auswertung, sondern es wird veranschaulicht, wie die Persönlichkeit eines Grenzgängers bzw. eines Vermittlers kontinuierlich gebildet und vielfältig gestaltet wird. Die unterschiedlichen Medien der Kulturvermittlung – Theater, Presse, Übersetzung – werden dabei zum Gliederungsprinzip. Die vorliegende Arbeit basiert auf einer intensiven und detaillierten Auseinandersetzung mit Lotars umfangreichem Nachlass, der im Schweizeri-

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schen Literaturarchiv in Bern aufbewahrt wird und der von der Autorin dieser Monographie erstmals bearbeitet, katalogisiert und ausgewertet wurde. Da es sich überwiegend um unveröffentlichte Primärquellen handelt, die, ebenso wie auch die wertvolle Korrespondenz, als Manuskript oder Typoskript lediglich im Nachlass liegen, werden die analytischen und interpretativen Schlussfolgerungen durch zahlreiche Zitate belegt. Die Zitate aus den tschechischsprachigen Quellen wurden von der Autorin ins Deutsche übersetzt.

2. Lotars Heimaten

1910–1939 Peter Lotar wurde am 10. Februar 1910 als Lothar/Lotar Chitz in Prag geboren. Er ist in einer gemischten Familie aufgewachsen. Sein Vater war Österreicher jüdischen Ursprungs, seine tschechische Mutter Otylie, geb. Paschová, stammte aus Štěrboholy, einem Dorf in der Nähe von Prag (Prag-Sterbohol).20 Lotar war der Jüngste von drei Geschwistern. Seine Schwester Käthe (geb. 1899) war die Älteste, das mittlere Kind war der Bruder Walter (geb. 1903). Die wohlhabende Familie betrieb eine Farben-, Lack- und Firnis-Fa­ brik, die zum väterlichen Vermögen gehörte. Zuerst besuchte Lotar deutschsprachige Schulen. Im Jahre 1921 begann er an der deutschen Prager Handelsakademie in Masná ulice (Fleischmarktgasse) zu studieren. Schon damals zeigte sich sein Interesse an dramatischer Kunst, als er bei einem Festabend Gedichte von Heinrich Heine aus Die Nordsee vortrug. Wegen des Umzugs der Familie nach Vysočany (Prag-Wysotschan) wechselte Lotar auf die tschechische Handelsakademie in Resslova ulice (Resselgasse). Dort kam er in Kontakt mit dem tschechischen Milieu und der tschechischen Sprache, die er so gut erlernte, dass er die Matura im Tschechischen ausgezeichnet bestand. Wie er zu seiner Zweisprachigkeit stand und wie die Familie die Multinationalität erlebte, thematisierte er mehrmals: Mein Vater war stolz auf sein Deutschtum, meine Mutter fühlte ganz böhmisch, und an mich ergingen beide Ansprüche. Aber mein Wesen anerkannte kein Entweder – Oder, kein feindseliges Gegeneinander, mich zog es zur Einheit in der Vielfalt, zum fruchtbaren Miteinander. Dem bin ich treu geblieben. (Lotar 1985c: 20)

Die Atmosphäre in der Familie litt unter der Tatsache, dass der Vater, statt wie gewünscht Opernsänger zu werden, in den Betrieb der Fabrik einsteigen

20 In der Geburtsurkunde als Lotar Chitz. Auszug aus der Jüdischen Matrik für das Böhmische und Mährischschlesische Land, Band R/Jh. 1910, Blatt 12, Praha, am 24.3.1947 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-C-1-9). Geburts- u. Taufschein. Auszug aus dem Geburts- und Taufbuch der deutschen evangelischen Pfarrgemeinde Praha, Band VX., Blatt 14, Zahl 0, am 7. Oktober 1938. Am 26. Oktober 1924 wurde in der deutschen evangelischen Kirche Lothar Chitz, geb. 10.2.1910, Vater Emil Chitz – der Kaufmann, Mutter Otilie, geb. Paschová, getauft. Als Pate Valter Chitz, Studierender in Prag (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar -C-1-8).

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musste.21 Der Vater kompensierte das mit den Besuchen von Kulturveranstaltungen im Deutschen Haus und vor allem des Neuen Deutschen Theaters. Bei Lotar pflegte er von klein auf die Beziehung zum Theater. Lotars erstes Theatererlebnis verband sich mit dem Auftritt von Ernst Deutsch, einem der bedeutendsten expressionistischen Schauspieler jener Zeit. An meinem vierten Geburtstag das erste Mal im Theater. Ich möchte der ‚Gestiefelte Kater‘ sein. Wui! wie der pfauchte, krallte, kletterte, miaute, sprang. Sie behaupten, es ist ein als Katze verkleideter Mensch, er heißt Ernst Deutsch und wohnt um die Ecke, in der Tuchmachergasse. Aber wo hat er die riesigen traurigen dunklen Katzenaugen her? Ich werd hingehen und nachschauen. Ich glaub, es ist eine als Mensch verkleidete Katze. (Lotar 1969a:17)

Nach dem Abitur wollte er zum Theater.22 Sein Wunsch erfüllte sich. 1928– 1930 besuchte Lotar die im Jahre 1905 von Max Reinhardt gegründete Schauspielschule des Deutschen Theaters in Berlin, die er 1930 mit Diplom abschloss. Außerdem studierte er Kulturgeschichte bei Julius Petersen, Julius Bab und Egon Friedell und sammelte in Berlin die ersten schauspielerischen Erfahrungen. Im Januar 1929 wurde Lotar die Szene Zueignung aus Goethes Faust anvertraut. Die Vorstellung der Schauspielschule fand zum hundertsten Jubiläum der Uraufführung dieses Stückes statt. Der gesamte Faust wurde dann von der ‚Bühne der Jugend‘ einstudiert und im März 1929 im Hause der Kammerspiele des Deutschen Theaters aufgeführt. Lotar trat im zweiten Teil als Doctor Marianus auf. Ende Januar feierte die Schule den 200. Geburtstag von Lessing mit der Aufführung von Der Freigeist, in der Lotar Theophans Vetter Araspe spielte. Die Rolle eines der Studenten im englischen Internat übernahm Lotar im Mai 1929 im Stück von John Van Drutens Jung Woodley. Im November 1929 folgte die Titelrolle in Florian Seidls Aufführung von Der verlorene Sohn und bei der Gedenkfeier zu Ehren Hofmannsthals spielte er Orest in der Tragödie Elektra. Schon im Folgejahr feierte die Schule das 25. Jubiläum ihres Bestehens, zu dem viele Abende stattfanden, an denen auch Lotar auftrat – 21 Dieses Thema verarbeitete Lotar 1983 im Hörspiel Vater (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A3-n). 22 „Matura bestanden. Zum Teufel mit der Schule! Jetzt geh ich zum Theater. Die Familie verlangt, das müssen Franz Werfel und Ernst Deutsch entscheiden. Das hab ich davon, dass es so berühmte Prager gibt. Unsere Väter spielen jeden Nachmittag von 6 bis 8 miteinander Tarock, im Café Continental. Der Werfel ist jetzt in Marienbad mit seiner Schwester, der Theaterdirektorin aus Zürich. Aber der Deutsch ist gerade zu Besuch bei seiner Mutter in der Tuchmachergasse. Komisch, dass er dort wohnt, wenn er in Prag ist, wo doch seine Schwiegereltern ein feudales Palais auf der Kleinseite haben.“ (Lotar 1969a: 17)

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immer noch unter seinem Geburtsnamen Lothar Chitz. Inzwischen wurde er für die Saison 1929/30 bei Victor Barnowsky und Erwin Piscator in Berlin für das Stück Revolte im Erziehungshaus (Theater in der Königgrätzer Str., Komödienhaus/Theater an dem Nollendorfplatz) engagiert. Nach dem Abschluss kehrte Lotar für kurze Zeit nach Prag zurück und ging von dort aus ins Engagement bei dem Intendanten der Vereinigten Theater zu Breslau (Wrocław), Paul Barnay, wo er die Saison 1930/31 verbrachte und zwischendurch auch Abende der tschechischen Poesie vorbereitete. Hervorzuheben sind folgende Rollen: als Mario in Katharina Knie von Carl Zuckmayer oder als Lakai in Mrs. Cheney’s Ende von Frederick Lonsdale (beide aufgeführt im Herbst 1930). Trotz des zweijährigen Vertrags wechselte Lotar für die Spielzeit 1931/32 ins Deutsche Theater Mährisch-Ostrau (Moravská Ostrava), wo er z. B. in der Hauptrolle in Das Grabmal des unbekannten Soldaten von Paul Raynal herausragte. Für die folgende Saison ging er ins Stadttheater Reichenberg (Liberec), in dem er für das Rollenfach ‚jugendlicher Charakterspieler, jugendlicher Charakterliebhaber, jugendliche Helden und Bonvivant‘ engagiert wurde. Nach Hitlers Machtergreifung im Jahre 1933 wurde dann das politische Klima für Lotar unerträglich und er kehrte nach Prag zurück. In den Jahren 1933–1939 war er am Prager Stadttheater in den Königlichen Weinbergen (Městské divadlo na Královských Vinohradech) verpflichtet und gastierte zudem im Nationaltheater (Národní divadlo). An beiden Bühnen spielte er in tschechischer Sprache. Seinen Erfolg bezeugt unter anderem ein Brief von Karel Hugo Hilar, dem Schauspielleiter am Prager Nationaltheater, an Lotar: Děkuji Vám za ochotu a obratnost, s níž jste se tak dobrým způsobem zhostil role Davida ve hře Mladá láska v neděli 25.6. t. h., v níž jste projevil mnoho vkusu a herecké citlivosti.23 [Vielen Dank für die Bereitwilligkeit und zugleich Kunstfertigkeit, mit der Sie auf so gute Weise die Rolle von David im Stück Junge Liebe am Sonntag den 25.6.1933 darstellten, in der Sie viel Schauspielgeschmack und Empfindsamkeit bewiesen haben.]

Auf dem Theaterzettel zu diesem Stück wird er noch als Lotar Chic [sic!], zu dem Gastspiel Sen noci svatojánské (Ein Sommernachtstraum)24 von William Shakes­peare schon unter seinem Künstlernamen als Peter Lotar aufgeführt. Boten zunächst beide Theater Lotar ein Engagement an, so konnte er aufgrund seines ungeschickten Verhandelns zum Schluss froh sein, dass er überhaupt einen Vertrag für nur eine Spielzeit am Prager Stadttheater in den Königlichen Weinbergen im Rollenfach ‚des Liebhabers des klassischen und modernen 23 Brief von Karel Hilar an PL, 27.6.1933 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-D-8-1). 24 Bei den bekannten Stücken werden die deutschen Titel angeführt, bei den anderen werden sie in der Originalsprache angegeben.

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­ epertoires‘ bekam25. Der Vertrag wurde dann mehrmals verlängert. Sein WirR ken im Engagement verlief auch abgesehen von den unangenehmen Arbeitsbedingungen nicht problemlos. Sogar in den Theaterkritiken wurde angemerkt, dass er nicht genügend besetzt wurde, und die Empörung über die Verschwendung finanzieller Mittel sowie des schauspielerischen Potenzials geäußert.26 Auf der anderen Seite spielte er sehr erfolgreich einige Rollen: Nikolka Turbin in Bílá garda (Die Tage der Turbins) von Michail Bulgakov (1933), Judas in České pašije [Böhmische Passionsspiele] von Jan Port und Bohuš Stejskal (1935), Josef Josserand in Kokosový ořech (Noix de coco) von Marcel Achard (1936), ­Simpty in Newyorský přístav (Dead End) von Sidney Kingsley (1937), Silvio in Sluha dvou pánů (Der Diener zweier Herren) von Carlo Goldoni (1938). Des Weiteren stammen die Regie und Bühnenbearbeitung für Modrý pondělek (The Shoe­ maker’s Holiday) von Thomas Dekker (1937) ebenfalls von Lotar.27 In Ottův slovník naučný [Ottos Enzyklopädie] (1935), der bedeutendsten tschechischen Enzyklopädie, wird das Rollenfach von Peter Lotar (damals noch unter dem Namen Lothar Chitz) charakterisiert: Svědčí mu zejména postavy poznamenané chorobou, především postavy nervově slabé, potácející se z extrému do extrému (např. Orlík), ač na svém místě je i v rolích salonních, jimiž dává uhlazenost chování i konversace. [Zu ihm passen vor allem von Krankheit gezeichnete Rollen, besonders nervenschwache Gestalten, die von einem Extrem zum anderen wanken, wie z. B. der Orlík; doch ist er auch in Salonrollen am richtigen Platz, denen er Eleganz in Verhalten und Konversation verleiht.]

Lotar etablierte sich nicht nur im tschechischsprachigen Theater, sondern auch im Film. Seine Filmerfahrungen sammelte er in folgenden Filmen: Kvočna [Die Gluckhenne] (als Jan Průša, 1937), Cech pannen kutnohorských [Zunft der Kuttenberger Jungfrauen] (als Labuška, 1938), Krok do tmy [Tritt in die Dunkelheit] (als Detektiv, 1938), Včera neděle byla [Gestern war der Sonntag] (als Pardal, 1938). In der Presse wurde ab und zu Lotars Tschechisch als ungenügend kritisiert.28 Die zahlreichen Danksagungen von Regisseuren oder Direktoren sprechen indes gegen ein solches Manko. Während er sowohl im Theater als auch vor der Kamera Erfolge feierte, wurde sein Privatleben von mehreren Tragödien überschattet. In der Wirtschaftskrise kam die Familie um ihr Vermögen. Die radikalisierten nationa25 Brief von Jan Bor, dem künstlerischen Leiter, an PL, 30.6.1933 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-D-8-1). 26 Theaterkritiken (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-D-8-1). 27 Zum Theater, Repertoire und Peter Lotar vgl. Černý (1983). 28 Theaterkritiken (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-D-8-1).

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listischen Strömungen und die daraus resultierenden Aktionen waren Vorzeichen der sich allmählich nähernden Katastrophe. Lotars Eltern sahen keinen Ausweg mehr und begingen am 10.7.1934 gemeinsam Selbstmord.29 In dieser schwierigen Situation stand der Freundeskreis, insbesondere seine engen Freundinnen Eva Svobodová und Olga Scheinpflugová, Lotar zur Seite. In der angespannten Atmosphäre der 30er-Jahre bezogen viele Schauspieler politisch Stellung. Im Jahre 1935 gründeten antifaschistisch denkende deutsche und tschechische Schauspieler den Klub der deutschen und tschechischen Bühnenangehörigen (Klub českých a německých divadelníků),30 dem auch Lotar beitrat. Sie bereiteten die tschechisch-deutsche Aufführung von Jan Nepomuk Štěpáneks Lustspiel Čech a Němec [Der Tscheche und der Deutsche] aus dem Jahre 1816 vor (Premiere im Stavovské divadlo [Ständetheater] am 23.5.1936). Die tschechischen Schauspieler übernahmen die Rollen der deutschen Figuren und umgekehrt. Dadurch sollte demonstrativ die tschechisch-deutsche Zusammengehörigkeit dem gesteigerten Hass in der Tschechoslowakei entgegengehalten werden. In dem exponierten Zeitraum um das Münchner Abkommen engagierte sich Lotar außerhalb des Theaterbetriebs. Am 24.9.1938 stellte er sich hilfsbereit dem tschechoslowakischen Rundfunksender Radiojournal als Dolmetscher vor, um Nachrichten in beide Sprachen zu übertragen.31 Oder er trat bei politischen Veranstaltungen auf, wie dem Brief vom Zemský svaz kinematografů v Čechách [Landesverein der Kinematographen in der Tschechoslowakei] im Namen des Prager Primators zu entnehmen ist.32 29 Nachricht in der Zeitung Národní listy [Nationale Blätter], 11.7.1934, 3. Der Vater erschoss sich, die Mutter nahm Gift. 30 Zweigstellen des Klubs entstanden auch in anderen Städten mit deutscher Bevölkerung. Vgl. Ludvová (2012: 507–513); Schneider (1979, 2005); Becker-Cajthamlová (1973a, b). 31 „Dávám své služby plně k  disposici Československému rozhlasu, kdyby potřeboval německého hlasatele, reportéra apod. Byl jsem několik let v  engagement na předních německých scénách a ovládám němčinu právě tak dokonale jako češtinu. Jsem schopen mluvit do mikrofonu extempore. Jsem také schopen okamžitě překládat československé zprávy do německého jazyka před mikrofonem.“ [Ich stelle mich dem Tschechoslowakischen Rundfunk voll zu Diensten, falls er einen deutschen Ansager, Reporter etc. bräuchte. Ich war einige Jahre an den wichtigen deutschen Bühnen im Engagement und beherrsche die deutsche Sprache gerade so vollkommen wie die tschechische. Ich kann extempore ins Mikrophon sprechen. Ich kann auch unmittelbar tschechoslowakische Nachrichten ins Deutsche vor dem Mikrophon übertragen.] Brief von PL an die Direktion des Radiojournals Praha, 24.9.1938 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-D-8-1). 32 „Žádáme Vás zvořile, abyste co nejvíce usnadnili vážný úkol dramatickému umělci, který se k Vám dostaví dne s 12. t.m. během představení o 20 hod., aby k přítomnému

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Aufgrund seiner antifaschistischen Aktivitäten wurde er im neu errichteten Protektorat Böhmen und Mähren per Haftbefehl gesucht. Durch den Primator, den Oberbürgermeister von Prag, erhielt er ein Ausreisevisum. Er flüchtete aus der Tschechoslowakei in die Schweiz und es gelang ihm, die Grenze in Basel zu überqueren, wo er sich aufgrund eines Empfehlungsbriefs ein Engagement erhoffte. Was ihm das Theater bedeutete, charakterisierte Lotar im Jahre 1938, kurz bevor er seine fünfte Saison an den Städtischen Bühnen in Prag begann, die er jedoch nicht mehr beenden konnte: Není jiného vztahu k divadlu, nežli citového. Alespoň pro herce ne. Platí-li pro každé povolání, že skutečného úspěchu v něm dosáhneš jen tehdy, miluješ-li je a sloužíš-li mu tělem i duší jest to pro herce nezbytným předpokladem, neboť hrát divadlo není povoláním, ale posláním.Nikdy nebude skutečným hercem ten, kdo k divadlu přišel jen z touhy po slávě, úspěchu a penězích. Je-li u obchodníka středem jeho zájmů a hybnou pákou jeho počínání finanční efekt, jest umělec hnán pudy tajemnějšími a hlubšími.33 [Man kann kein anderes Verhältnis zum Theater haben als ein emotionales. Zumindest nicht die Schauspieler. Falls es für jeden Beruf gilt, dass man wahren Erfolg darin erst dann erreicht, wenn man ihn mit Leib und Seele liebt, ist dies erst recht für den Schauspieler eine unabdingbare Voraussetzung, denn das Theaterspielen ist kein Beruf, sondern eine Berufung. Nie kann zu einem wahren Schauspieler derjenige werden, den zum Theater nur Sehnsucht nach Ruhm, Erfolg und Geld führt. Während beim Geschäftsmann der Gewinn im Mittelpunkt steht, treiben den Künstler geheimnisvollere und tiefere Motive.]

1939–1945 Peter Lotar rettete sein Leben am 28. Mai 1939 durch die Flucht in die Schweiz. Er kam zu einer Zeit, als die Asylpolitik über Aufenthalt und Niederlassung von Ausländern in der Schweiz bereits nach rigorosen Gesetzen geregelt wurde. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 hatten sich die Bedingungen für die Aufnahme von Flüchtlingen und Emigranten verschärft.34 návštěvnictvu promluvil jménem p. primátora k akci na obranu státu.“ [Wir bitten Sie höflich, dass Sie dem dramatischen Künstler die ernsthafte Aufgabe bestmöglich erleichtern, der bei Ihnen am 12. dieses Monats während der Vorstellung um 20 Uhr eintrifft, um den anwesenden Besuchern im Namen des Primators zu der Aktion für die Staatsverteidigung zu sprechen.] Brief von der Verwaltung des Landesvereines der Kinematographen an Kinos z. H. PL, 7.9.1938 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-D-8-1). 33 Ročenka Kruhu sólistů Městských divadel pražských 1939 [Jahrbuch des Solistenkreises der Städtischen Bühnen Prag vom Jahre 1939], 87. 34 „Wie allgemein üblich, werden auch hier die Begriffe ‚Emigranten‘ und ‚Emigration‘ verwendet, dennoch sei darauf verwiesen, dass die schweizerische Gesetzgebung ‚Emi­

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Für die Ankömmlinge aus Österreich wurde die Visumspflicht eingeführt, die nach dem Kriegsausbruch auf alle ein- und durchreisenden Ausländer ausgeweitet wurde. Die Schweiz wollte nur als Transitland fungieren. Aufgenommen wurden lediglich die politisch Verfolgten. Für diejenigen, die bleiben durften, galten zugleich Arbeitsverbot und Verzicht auf politische Tätigkeit. Die jüdischen Flüchtlinge wurden nicht „als politische Emigranten“ (Mittenzwei 1981) anerkannt. Gegen ‚Überfremdung und Verjudung‘ wurde die Einführung des J-Stempels akzeptiert, um die jüdischen Flüchtlinge direkt an der Grenze abweisen zu können. Viele Asylbewerber wurden aus dem Land ausgewiesen. Alle Abläufe der Bewilligungs- und Entscheidungsprozesse liefen über die Fremdenpolizei, die sich zu einem starken Machtapparat entwickelte. Vor dem Hintergrund dieser restriktiven Maßnahmen gegen Ausländer war Lotars Ausgangsituation in der Schweiz nicht sehr erfreulich. Mit einem Arbeitsvertrag und dem fast abgelaufenen Einreisevisum beantragte er die Aufenthaltsbewilligung bei der Berner Fremdenpolizeiabteilung. Nur dank seiner Freunde in Bern wurden ihm die Arbeits- und die Aufenthaltsgenehmigung erteilt. Seine Dankbarkeit gegenüber der Malerfamilie Viktor und Marguerite Frey-Surbek äußerte Lotar auch noch viele Jahre später: Aber der ‚sacro egoismo‘ des Künstlers tut Ihnen keine Genüge. Immer setzen Sie sich für andere ein: durch die ‚Arbeitsbeschaffung für Künstler‘ in den schweren Krisenjahren, in der ‚eidgenössischen Kunstkommission‘ der ‚Gesellschaft schweizerischer Malerinnen‘ bei der Erhaltung der Berner Altstadt. Am tiefsten aber glüht Ihr Herz, oft auch Ihr Zorn, wenn Sie, gemeinsam mit Ihrem Gatten, den Verfolgten der Tyrannei beistehen, den Flüchtlingen und wäre es gegen die Einsichtslosigkeit der eigenen Bürokratie. Auch ich, der vor über dreißig Jahren als Flüchtling in dieses schöne Land gekommen bin, habe es Ihnen beiden mitzuverdanken, dass ich hier bleiben, eine zweite Heimat finden durfte. In Ihnen hat sich mir etwas vom Echtesten, Besten schweizerischen Wesen offenbart.35

Die Schweiz war als Zufluchtsort insbesondere für die deutschsprachigen Kunstschaffenden die erste Wahl. Die Folgen der politischen Entwicklung im granten‘ und ‚Flüchtlinge‘ diskriminiert. Bereits am 31.3.1933 erklärt das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement, Flüchtlingen könne nur ein vorübergehender Aufenthalt gewährt werden, man habe sich gegen die Festsetzung ‚wesensfremder Elemente‘ mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu wehren. Eine Erwerbstätigkeit wird den Flüchtlingen untersagt. Als nach dem so genannten Anschluss Österreichs die Zahl der Flüchtlinge sprunghaft zunimmt, werden die Grenzorgane am 29.3.1938 über die Einführung der Visumspflicht für Österreicher orientiert; Flüchtlinge, die zum Zwecke des Aufenthalts einreisen wollen, seien abzuweisen.“ (Blubacher 2004: 394, Anm. 35.) 35 Brief von PL an die Redaktion des Berner Tagblattes, 18.2.1971 (SLA, NPL, Sign. SLALotar-B-1-BER). Begleitbrief des Beitrags zum 85. Geburtstag von Marguerite Frey-Surbek am 23.2.1971.

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Deutschland des Jahres 1933 hatten weitgreifende Auswirkungen auch auf das Schweizer Theater. Zahlreiche Schauspieler und Schauspielerinnen, die aus politischen oder anderen Gründen an der Arbeit in Deutschland gehindert wurden, kamen in die Schweiz. Dabei hatten nicht viele so ein Glück wie Lotar. (Auto-)biographische Berichte von Flüchtlingen, die wegen ihrer jüdischen Herkunft oder aus anderen Gründen aus- oder zurückgewiesen wurden, standen im Kontrast zum Bild der Schweiz als traditionellem Exilland36 mit humanitärer Ausrichtung. Aber wo immer Menschen über ihre Flucht nachdachten, spielte die Schweiz eine besondere Rolle. Allein schon durch ihre kulturelle, sprachliche und konfessionelle Vielgestaltigkeit galt sie als das Land, in dem der Flüchtling am ehesten auf Schutz und ein Gefühl für Humanität hoffen durfte. Eben weil seit Jahrhunderten politisch und religiös Verfolgte mit Vorliebe in der Schweiz Schutz und Asyl suchten, hatte man sich ein bestimmtes Bild gemacht. Die Schweiz galt als das klassische Exilland. Diese Tradition führte aber auch dazu, dass man sich über kein Land mehr Illusionen machte als über die Schweiz. (Mittenzwei 1981: 17)

Neben den zahlreichen prominenten Namen der Schauspieler vor allem am Zürcher Schauspielhaus war Lotar ein eher unbekannter Künstler (Mittenzwei 1979; Ries 1988). In seinen Reden vor der Schweizer Öffentlichkeit thematisierte er immer wieder seine Dankbarkeit, eine neue Heimat gefunden zu haben, und die Möglichkeit, sich künstlerisch zu betätigen, verschwieg aber auch nicht, wie schwierig dieser Prozess war: An der Grenze zurückgewiesen zu werden, bedeutete für Unzählige den sicheren Tod. Wer hier bleiben durfte, kam in Arbeitslager. Vielleicht jeder Hundertste erhielt eine Arbeitsbewilligung. Ich gehörte zu diesen Bevorzugten. Aber ich war Oberspielleiter eines Theaters, das durch sein Repertoire den Geist des Widerstandes repräsentierte. Es gab Leute, denen das nicht passte. Ich wurde denunziert, bekam von Bern die Einweisung in ein Arbeitslager. Doch ich hatte hier, in Solothurn einen Schutzengel. Er hiess Xaver Jäggi, war Adjunkt der Fremdenpolizei. Er sagte: ‚Ich sorge dafür, dass Sie in dieser Stadt, diesem Kanton, niemand antastet.‘ So wurde Solothurn zu meiner Zitadelle.37

Sein Weg ins Engagement führte wie bei allen ausländischen Schauspielern nicht nur über die Zustimmung der Theaterleitung und über die Bewilligung der Fremdenpolizei. Für die Einstellung an einem bestimmten Theater musste noch eine weitere Behörde zustimmen: 36 Zum Thema Schweiz als Exilland vgl. u. a. Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den Bundesrat zuhanden der eidgenössischen Räte von Professor Dr. Carl Ludwig vom 7. März 1957; Mittenzwei (1981); Kreis (2004); Schöll (2004); Schulz (2012). 37 PL in einer Festrede 1978 bei der Verleihung des Kulturpreises des Kantons Solothurn (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-6-35).

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Will das Theater einen Emigranten neu- oder reengagieren, so wird das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit in Bern die Arbeitsbewilligung verweigern, wenn die Kartothekstelle der Ansicht ist, ein einheimischer Schauspieler sei ebenso gut einzusetzen. (Blubacher 2004: 27)

Einem anderen Gesetz zufolge musste jeder in der Schweiz angestellte Ausländer jedes Jahr für sechs Wochen das Land verlassen. Lotar verbrachte diese vorgeschriebene Zeit, die in die Monate Juni und Juli fiel, im benachbarten Italien. Aus dem nazistischen Land kehrte er am 31.7. wieder in die Schweiz zurück und eröffnete die neue Saison 1939/40 am Städtebundtheater Biel-­ Solothurn, wo es ihm dank des Direktors Delsen gelang, ein festes Engagement zu erhalten. Lotar war nicht der einzige Emigrant auf dieser Bühne. Das Zürcher Schauspielhaus wird zwar traditionell als die bekannteste Emigrantenbühne genannt, aber auch an kleineren Theatern der Schweiz wie am Städtebundtheater Biel-Solothurn bildeten die Emigranten, die in unterschiedlichen Wellen in die Schweiz kamen, einen großen Teil der engagierten Schauspieler. Außer Peter Lotar fanden unter anderen der Regisseur Vasa Hochmann und der Sänger Egon Karter Zuflucht. Das Städtebundtheater Biel-Solothurn gehört zu den kleinsten Stadttheatern in der Schweiz. Die beiden an Theatertradition reichen Häuser vereinigten sich im Zeitraum 1924–1926 zum Vereinigten Stadttheater Solothurn-Biel.38 Nach einem Jahr Pause initiierte Leo Delsen, der Opernsänger des Berner Stadttheaters, eine neue Vereinigung. Verwaltungsdirektor war der Mitbegründer Hans Kennedy. Nicht nur an diesen zwei Bühnen wurde gespielt. Im Laufe der Jahre dehnten sich die Spielorte auch auf die Städte und Dörfer Langenthal, Burgdorf, Grenchen und Olten, Neuchâtel und Aarau aus. Um Lotars umfangreiche und vielfältige Theatertätigkeit ganzheitlich einzuordnen, ist zu erwähnen, dass die organisatorischen Entscheidungen, nicht zuletzt über das Repertoire, den Vorschriften und Genehmigungen der Theaterkommission unterlagen, was aus der Tatsache resultierte, dass das Städtebundtheater von beiden Städten subventioniert wurde. Einerseits steht er [Delsen – Anm. der Autorin] aus finanziellen Gründen unter Erfolgsdruck, und volle Häuser garantieren am ehesten Operetten und Schwänke. Andererseits ist er vertraglich dazu verpflichtet, in jeder Spielzeit mindestens vier Klassiker im Repertoire zu haben, auch wenn deren Aufführung oft zu bedrohlich geringen Einnahmen führt. (Blubacher 2004: 15)

38 Zu der Geschichte des Städtebundtheaters vgl. Gojan/Krafka (2004).

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Am Städtebundtheater wurde es Lotar ermöglicht, seine künstlerische Karriere fortzusetzen, die sich von der schauspielerischen Tätigkeit bis zum Regisseur, Dramaturgen und sogar Dramatiker ausdehnte.39 Seine erste Rolle war die des Orsino in Was ihr wollt von Shakespeare, mit dem das Städtebundtheater trotz des ausgebrochenen Krieges eine neue Theatersaison 1939/40 eröffnete (Premiere am 7.10.1939). Als festes Ensemblemitglied spielte er in den meisten am Theater aufgeführten Stücken. Zu den bedeutenden Rollen gehörten sicherlich die des Untersuchungsrichters Petrowitsch in Schuld und Sühne von Fëdor M. Dostoevskij (Premiere am 15.10.1940), des Lazarus in Der Bürgermeister von Zürich von Hermann Ferdinand Schell (Premiere am 26.10.1940), des Wilhelm Cecil, Baron v. Burleigh und Großschatzmeister in Maria Stuart von Friedrich Schiller (Premiere am 12.11.1940) und des Mephisto in Johann Wolfgang von Goethes Faust (Premiere am 13.4.1941). Obwohl er bereits seit längerer Zeit Regie führte, bekam Lotar die offizielle Bewilligung als Oberspielleiter erst im Jahre 1942 und die Spielzeit 1942/43 eröffnete er mit George Bernhard Shaws Komödie Pygmalion. In dieser neuen Tätigkeit, die es ihm langfristig ermöglichte, seine schauspielerische und inszenatorische Arbeit miteinander zu verflechten, fühlte er sich wohl und oft hat er selbst in den Stücken mitgespielt, die er aufführen ließ. Hervorzuheben wäre seine Regiearbeit an Liebelei von Artur Schnitzler (als Schauspieler in der Rolle von Hans Weiring beteiligt, Premiere am 6.2.1942), Der Mond ging unter von John Steinbeck (als Oberst Lanser, Premiere am 17.12.1943), Kaiser Diokletian von Jean Mussard (als Papst Marcellin, Premiere am 28.10.1944). Aufmerksamkeit verdient auch seine Aufführung von Das heilige Experiment des im Schweizer Exil lebenden österreichischen Dramatikers Fritz Hochwälder, dem er damit aus einer finanziellen Not­ situation half (Lotar zugleich in der Rolle des Don Pedro de Miura, Premiere am 24.3.1943). Ebenso setzte sich Lotar für tschechische Dramatiker (Karel Čapek, František Langer und Olga Scheinpflugová) ein. Parallel dazu betätigte er sich auch als Dramatiker. Sein erstes Stück, die Kriminalkomödie Zwei ­Minuten nach Mitternacht, erlebte seine Premiere am 23.2.1941. Lotar spielte den komischen Kriminalinspektor Teichmann. Bei seinem Stück Die Wahrheit siegt (Schweizer Premiere erst am 17.3.1945) führte er nicht nur Regie, sondern spielte auch die Hauptrolle, den Anwalt Robert Suchy. Lotars Sinn für Demokratie und Humanismus erlaubte es ihm nicht, nach seiner Ankunft in der Schweiz der Entwicklung in seinem Heimatland nur 39 In diesem biographischen Abriss werden nur die allgemeinen Ereignisse im Zusammenhang mit dem Theater erwähnt. Unter dem Aspekt der Vermittlung wird Lotars Theatertätigkeit im sechsten Kapitel noch genauer behandelt.

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passiv zuzuschauen. Er verband sich mit dem tschechoslowakischen Widerstand im Ausland, und stellte sich dem tschechoslowakischen Nationalkomitee in Paris (Mai 1940) zur Verfügung. Zuerst bemühte er sich um den Eintritt in die tschechoslowakische Armee im Ausland (als Soldat wäre er nach England gegangen), allerdings überzeugte ihn Jaromír Kopecký, der ständige Delegierte der Tschechoslowakei bei den Vereinten Nationen in Genf, dass er in der Schweiz nützlicher für seine Heimat sei. Damit begann ihre ergiebige Zusammenarbeit vor allem im kulturellen, aber auch im publizistischen Bereich. Wenn man bedenkt, was für eine rigorose Flüchtlingspolitik die Schweiz damals gegen Emigranten anwendete, erscheint sein Mut, öffentlich aufzutreten, besonders bewundernswert, übertrat er doch damit wiederholt das Verbot der politischen Aktivität. Über die Zusammenarbeit mit Kopecký gab Lotar in seinem öffentlichen Auftreten nach Kriegsende ein aufschlussreiches Zeugnis ab: Es gab keinen besser geeigneten Ort auf der Welt, um Nachrichten zu sammeln und zu vermitteln, als hier, wo wir in der ersten und letzten Phase des Krieges uns zwischen den Fronten Deutschlands und des Westens befanden, und vom Jahre 1940 bis 1944 mitten in der Höhle des Löwen, umzingelt vom Deutschland Hitlers, dem faschistischen Italien und dem geknechteten Frankreich. In der Küche von Frau Kopecký, der Gattin unseres heutigen Gesandten, konnte man nicht nur über heissem Wasserdampfe tschechische Pässe von den überklebten ‚Protektorats‘-Vermerken befreien, dort wurden noch viele weit wichtigere Dinge ausgekocht. Meist über Bratislava führten dorthin die Fäden aus der Heimat nach Paris und später nach London und wieder zurück in die Heimat. Hier wurden geheime Nachrichten vermittelt und auf diesem Weg erfuhr nicht nur die Schweizer Presse, sondern die ganze demokratische Weltöffentlichkeit einen Teil der Wahrheit darüber, was sich in Wirklichkeit im sogenannten ‚Protektorat‘ und in Deutschland selber abspielte.40

Lotar trat ebenfalls den tschechoslowakischen Vereinen in der Schweiz bei, wie z. B. dem Kroužek přátel Československa [Verein der Freunde der Tschechoslowakei] in Neuenburg (Neuchâtel)41 und nahm aktiv an ihren Veranstaltungen teil. Zu unterschiedlichen Anlässen rezitierte er tschechische Poesie

40 Dies schrieb Lotar im Vortrag Země, která napadena nebyla über die Situation der Schweiz während des Krieges, den er am 6. Oktober 1945 im tschechoslowakischen Rundfunk bei seinem Besuch in der Tschechoslowakei hielt. In seinen zahlreichen Danksagungen an die Schweiz erklang nicht nur Lob, sondern er bemühte sich darum, die Situation objektiv aufzufassen und nicht nur seinen Enthusiasmus aufklingen zu lassen. Der ins Deutsche übersetzte Vortrag Das Land, das nicht überfallen wurde wurde auch in der Schweiz gesendet (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-6-27). 41 In Lotars Nachlass sind noch seine Ausweise zu finden (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-C-1-1.7).

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oder hielt Vorträge z. B. über Jan Hus oder Tomáš Garrigue Masaryk, in denen er zugleich eine thematische Anbindung an die Schweiz suchte.42 Lotar konnte sich im Exil zwar künstlerisch betätigen, aber der Preis, den er für die Freiheit zahlen musste, war hoch. Er verlor nicht nur seine Heimat, sondern auch seine Geschwister. Die Schuldgefühle insbesondere seiner Schwester Käthe gegenüber brachten ihn bis zum Selbstmordversuch. Sie war in Frankreich in ein Lager in Gurs gebracht und von dort nach Auschwitz verschleppt worden. Lotars Bruder überlebte zwar die Konzentrationslager in Theresienstadt und Ravensbrück, starb aber früh, 1960, an den Folgen der erlebten Entbehrungen. Lotars Freundin und spätere Ehefrau Eva Lübbert43 aus Berlin, die am Städtebundtheater als Tänzerin engagiert war, half ihm, die schwierigen Zeiten zu überstehen.

1945–1949 Das Kriegsende eröffnete den Emigranten die Möglichkeit einer Rückkehr in ihre Heimat, der jedoch nicht alle nachgegangen sind oder nachgehen konnten. Im Juli 1945 verließ Lotar die Schweiz mit gemischten Gefühlen in einem 42 Wie in seinem Vortrag von 1945: „Der erste Halt unseres ‚Präsident Befreiers‘, nachdem er im Jahre 1916 die Heimat verliess, war die Schweiz. Die erste Etappe seines auswärtigen Befreiungskampfes ist durch Masaryks berühmte Rede im Zürcher ‚Plattengarten‘ gekennzeichnet, durch die er für immer die Bande zwischen dem tschechoslowakischen Volke und der Herrschaft der Habsburger zerriss. Am 7. März 1940 gedachten wir Tschechen und Slowaken in der Schweiz dieses geschichtlichen Augenblickes, während sich über der Heimat bereits der dunkle und schmerzliche Schatten einer neuen Knechtschaft und tausendfach schlimmeren Leidens erhob. In dem gleichen ‚Plattengarten‘ gelobten wir dem Vermächtnis Masaryks Treue, während die Schweiz wiederum zu einem wichtigen Zentrum wurde, wo stille, unauffällige, aber umso wichtigere Arbeit geleistet wurde.“ (Lotar, Peter: Das Land, das nicht überfallen wurde. SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-6-27) 43 Eva Lübbert wurde am 7.10.1917 in Berlin geboren. Ihr Vater, Martin Lübbert, war am Stadttheater Berlin als Schauspieler engagiert, ihre Mutter, Berta Lübbert, gebürtige Wienerin, arbeitete als Sekretärin bei Max Reinhardt am Deutschen Theater in Berlin. Diese unglückliche Ehe wurde 1926 geschieden. Eva wuchs im Theatermilieu auf und ihre tänzerische Begabung brachte sie auf die Idee, Tanz zu studieren. In der Schule bei der Berliner Staatsoper widmete sie sich dem akrobatischen Tanz (verbunden mit Komik und Gesang) sowie den Volkstänzen. Nach der Abschlussprüfung im Jahre 1937 wurde ihr als Halbjüdin entsprechend dem neuen Rassengesetz jegliches Auftreten in Deutschland untersagt. Schließlich bekam sie für den Zeitraum 1939–1946 ein Engagement im Städtebundtheater Biel-Solothurn. Hier feierte Eva viele Erfolge in Rollen, die mit dem akrobatischen Tanz verbunden waren, oder in komischen Rollen in Operetten. Besonders hervorragende Kritiken bekam ihre Leistung in den Slawischen Tänzen von Antonín Dvořák.

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Taxi. Seine Vermutungen über eine unerfreuliche Entwicklung in der Tschechoslowakei aufgrund der Kriegsfolgen wurden leider bestätigt. Gerade aus diesem Grund nahm er seine deutsche Freundin nicht mit. In einem autobiographischen Text aus dem Jahre 1985 fasste er zusammen: 1945 – Deutschland in Trümmern, Elend, Erniedrigung, in vier Stücke zerrissen, die Zonen. Ich drang hindurch, bis nach Prag. Was fand ich hier? Statt des Hakenkreuzes den Sowjetstern. Blinde Rache. Sportplätze als Konzentrationslager. Darin, anstelle von Juden und Tschechen, jetzt die Deutschen – solange bis sie in Viehwagen verladen, deportiert wurden. Alle, auch die, welche mit uns gewesen waren, gegen die Tyrannei. Es galt, sich zu entscheiden, zwischen Verladern und Verladenen, die steilste Mauer zu überwinden. Davor lag, sehr bequem, der persönliche Vorteil, dahinter verbarg sich das Gewissen. Auch ich bin fort, freiwillig. (Lotar 1985c: 20)

Die Vertreibung der Deutschen aus Prag bzw. aus der Tschechoslowakei bedeutete für Lotar einen Bruch in der tschechischen historischen und kulturellen humanistischen Tradition. Er interpretierte sie nicht nur im Rahmen der tschechoslowakischen, sondern allgemein der Nachkriegsgesellschaft. Durch das tragische Schicksal seiner nächsten Angehörigen hielt ihn in Prag nicht einmal das Familienband. Die Eltern starben vor dem Krieg, die Schwester kam aus dem KZ nicht mehr zurück. Immerhin ein glückliches Treffen erlebte er mit seinem schwer erkrankten Bruder, der hoffte, auswandern zu können. Von Lotars Freundeskreis überlebten nicht viele. In der Entwicklung der Tschechoslowakei zum Kommunismus mit Ausrichtung auf die Sowjetunion nahm er klar die undemokratischen Tendenzen wahr, weshalb er sich für die Rückkehr in die Schweiz entschied. Solange es das Regime zuließ, förderte er den Kulturaustausch zwischen den beiden Ländern und stattete Prag bis zum Jahre 1947 noch ein paar Besuche ab. Nach dem kommunistischen Putsch im Februar 1948 wurden die Grenzen geschlossen. In zahlreichen Briefen an seine Kollegen äußerte er diesbezüglich Bedenken wie zum Beispiel im Brief an Urs Dietschi44 oder an den bedeutenden tschechischen Schriftsteller, Dramatiker und Publizisten Ferdinand Peroutka, der 1948 nach England, später in die USA emigrierte. In diesem Text wird deutlich, dass sich Lotar der Gefahr seitens der Sowjetunion von Anfang an bewusst war. In seinen Äußerungen trat er sehr kritisch gegenüber der Nachkriegsentwicklung auf und wunderte sich über die politische Kurzsichtigkeit vieler Intellektueller:

44 „Meine letzthin geäußerte Ansicht, dass meine Heimat einer neuen Tyrannei entgegengeht, scheint sich leider noch schneller zu bewahrheiten, als ich befürchtete.“ Brief von PL an Urs Dietschi, 18.2.1948 (Familienarchiv Urs Dietschi, Solothurn).

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Lotars Heimaten Nejsmutnější byl návrat do Prahy r. 1945, o němž jsem se domníval, že to bude opravdový návrat. Ale poznal jsem okamžitě, jak to záhy dopadne a že nebude možno, v třetí Republice žít svobodně. Proto jsem opět odjížděl do Švýcar, přesto, že bych v Praze byl měl daleko větší možnosti kariéry. Kroutil jsem hlavu nad Vámi nad všemi, v první řadě nad presidentem Benešem. Jaká bláhovost, domnívat se, že pravidla demokratické hry zachová strana, jejíž jediný zájem jest rozbití parlamentární demokracie a dostat se k moci totální, tak jak to vždy otevřeně hlásala. Vždyť i každý komunista Vám v důvěrném rozhovoru otevřeně řekl, že pouze metoda NÁSTUPU K MOCI BUDE V ČSR odlišná, totiž ‚evoluční‘. Byli jste v Praze jako slepí, asi proto, že jste neměli patřičný odstup.45 [Am traurigsten war die Rückkehr nach Prag 1945, von der ich dachte, es wird eine richtige Rückkehr. Aber ich habe gleich gesehen, wie es bald ausgeht und dass es nicht möglich sein wird, in der dritten Republik frei zu leben. Deshalb fuhr ich wieder in die Schweiz, obwohl ich in Prag größere Möglichkeiten für meine Laufbahn gehabt hätte. Ich habe den Kopf über sie alle geschüttelt, in der ersten Reihe über den Präsidenten Beneš. Welche Torheit, zu glauben, dass die Regeln des demokratischen Spiels von einer Partei bewahrt würden, deren einziges Interesse die Zerstörung der parlamentarischen Demokratie und die Durchsetzung der totalen Macht ist, so, wie sie es immer offen erklärte. Doch jeder Kommunist wird in einem vertrauten Gespräch offen gestehen, dass nur die Methode des MACHTANTRITTES IN DER TSCHECHOSLOWAKEI unterschiedlich sein werde, nämlich ‚evolutionär‘. Sie waren in Prag wie blind, wohl deswegen, weil Sie keinen richtigen Abstand hatten.]

Nachdem er die Tschechoslowakei im Jahre 1945 erneut verlassen hatte, setzte Lotar seine Theatertätigkeit am Städtebundtheater Biel-Solothurn fort. Er wurde mit zahlreichen neuen Aufgaben betreut, sollte Franz Moor in Die ­Räuber von Friedrich Schiller spielen und Romeo und Julia inszenieren. Nichts davon wurde verwirklicht, denn Lotar erlitt eine heftige Gallenentzündung.46 Dazu hatte die anstrengende zweitägige Fahrt aus der Tschechoslowakei (bei Regen auf einem Lastwagen) beigetragen, von der Lotar erschöpft zurückkam.47 Es folgten drei Monate im Krankenhaus und zwei Operationen. Erst im Februar 1946 konnte er wieder arbeiten. Am 12.3.1946 hatte Noël ­Cowards Komödie Fröhliche Geister Premiere, die Lotar inszenierte und in der er als Charles mitwirkte. Darauf folgte die Premiere eines Stücks der tschechischen Schauspielerin, Autorin und Lotar-Vertrauten Olga Schein­pflugová, die Teufelsinsel (am 7.4.1946). Lotar übernahm die Regie und die Hauptrolle Lukas.

45 Brief von PL an Ferdinand Peroutka vom 2.8.1948 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-2-cPER). 46 Brief von PL an Realistické divadlo [Realistisches Theater], 30.10.1945 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-REA). 47 Brief von PL an Ministerstvo informací [Informationsministerium], 20.10.1945 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-MIN).

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Das Stück wurde von František Glaser übersetzt, der von Scheinpflugovás Bruder beauftragt wurde. Nach der Saison 1945/46 beendete Lotar das Engagement im Städtebundtheater. Das hieß jedoch nicht, dass er sich vollkommen aus dem Theaterbetrieb zurückzog. Seine umfangreiche und vielfältige Tätigkeit hing nach wie vor eng mit dem Theater zusammen. Diese Arbeitsphase ist mit dem Umzug nach Dornach bei Basel verbunden, wo Lotar bis 1950 lebte. In diesem Zeitraum wechselte Eva vom Städtebundtheater ans Stadttheater St. Gallen und dann nach Bern, wo sie einen Vertrag als Solotänzerin bekam. Im August 1946 begann Lotar im Theaterverlag Reiss in Basel als Chefdramaturg zu arbeiten.48 Dort gehörte Lotar zu den frühesten Förderern von Friedrich Dürrenmatt und der Aufführung von dessen Stück Es steht geschrieben.49 In seinem Aufgabenbereich bei Reiss erkannte Lotar eine weitere, in­ stitutionell gestärkte Möglichkeit für seine Vermittlungstätigkeit zwischen der Tschechoslowakei und der Schweiz. Auf offiziellem Wege konnten in Prag Stücke von Max Frisch, Cäsar von Arx und Fritz Hochwälder aufgeführt werden. Dabei gestalteten sich die Verhandlungen mit tschechischen Agenturen für den Literatur- und Theaterbetrieb und mit einigen tschechischen Theatern oft langwierig. Im Jahre 1948 schränkte Lotar seine Aktivitäten beim Reiss-Verlag ein. Er blieb Dramaturg, kümmerte sich aber nicht mehr um die ökonomischen Aspek48 Im Reiss-Verlag arbeitete Lotar im Zeitraum 1.8.1946–1.1.1950. Seine Leistungen beschrieb der Verlagsbesitzer Kurt Reiss in einem Empfehlungsbrief an die Fremdenpolizei, bei der Lotar ein Gesuch um die Erteilung und später um die Verlängerung der Arbeitsbewilligung stellte: „Es war zu einem Grossteil der Verdienst Herrn Lotars, dass während der Kriegsjahre das Städtebundtheater Solothurn-Biel zu einem Institut anerkannten Ranges wurde, das vorwiegend Uraufführungen schweizerischer Autoren pflegte. Dadurch kam ich mit Herrn Lotar in Kontakt und berief ihn im Jahre 1946 als Dramaturgen an unseren Verlag. Durch seine Initiative und hingebende Tätigkeit trug er wesentlich zu dem Ausbau unseres Unternehmens zu einem der bedeutendsten auf diesem Gebiet in Europa bei. Insbesondere pflegte Herr Lotar die Entdeckung und Beratung junger schweizerischer Autoren und trug durch seine persönlichen Beziehungen vielfach dazu bei, sie auf den Bühnen der Schweiz und des Auslandes durchzusetzen. Wir möchten davon vor allem Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt nennen. Einen Überblick über die umfangreiche Tätigkeit Herrn Lotars auf dem Gebiet unseres Verlages gewinnen Sie am besten durch das von ihm redigierte Verlagsbulletin.“ Empfehlung von Kurt Reiss für Peter Lotar gerichtet an Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes vom 4.10.1948 (SLA, NPL, SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-C-1-7). 49 Diese Geschichte wird ebenfalls von Egon Karter in seinem Buch nacherzählt (Karter 1991: 28–37). – Zum Dank bekam Lotar von Dürrenmatt das Manuskript Pilatus geschenkt.

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te, was ihm zwar weniger Geld brachte, dafür aber mehr Zeit für sein eigenes Schaffen. Er hatte das Gefühl, in den vergangenen beiden Jahren seine schriftstellerische Arbeit vernachlässigt zu haben. Dafür produzierte er im folgenden Jahr nun gleich zwei Hörspiele und erstellte eine Bearbeitung von Friedrich Glasers Roman Wachtmeister Studer greift ein (Uraufführung in Basel am 7.10.1948). Eine Dialektbearbeitung hatte Premiere am 23.10.1948 in Solothurn. Als Regisseur gastierte Lotar am Stadttheater Luzern und inszenierte Der öffentliche Ankläger von Fritz Hochwälder (Premiere am 15.2.1949) und Schuld und Sühne von Fëdor Dostoevskij (Premiere am 24.11.1948). Ferner bereitete er einen Vortragszyklus über Shakespeare und Schiller (1948) vor. Als Referent einiger Lokalzeitungen berichtete er über bedeutende kulturelle Veranstaltungen, etwa über die Auftritte tschechischer Künstler (wie des Dirigenten und Musikers Rafael Kubelík). Später kamen noch Bühnenbearbeitungen wie Hansi (Lustspiel in drei Akten) von Stefan Békeffi und Stella Adorján (Premiere am Städtebundtheater Biel-Solothurn 17.1.1950) oder Mary Rose und Zurück zur Natur von James Barrie hinzu. Seitdem Lotar bewusst war, dass er nicht mehr in die Tschechoslowakei zurückkehren würde, bemühte er sich um eine Niederlassung in der Schweiz und machte sich immer mehr Gedanken darüber, wie er seine Anwesenheit hier legimitieren könnte.50 Parallel dazu stellte Lotar, immer noch tschechoslowakischer Staatsbürger, das Gesuch um die Heiratsbewilligung bei den tschechischen Behörden,51 um seine Freundin Eva Lübbert ehelichen zu können. Im März 1947 suchte er auch um eine offizielle Namensänderung von Lothar Chitz auf Peter Lotar an. Ein Jahr später, 1948, bekam er die Nachricht aus Prag, dass das tschechoslowakische Innenministerium tschechoslowakischen Bürgern verboten habe, Personen deutscher Nationalität zu ehelichen. Lotar durfte Eva Lübbert also zunächst nicht heiraten, obwohl ihr die deutsche Staatsbürgerschaft im Jahre 1943 entzogen worden war. Dank Regierungsrat Urs Dietschi wurde Lotar allerdings am 29.11.1949 schließlich das solothurni50 Wie frustrierend und langwierig der bürokratische Weg war, beschrieb Lotar in einem Brief: „Ich bemühe mich momentan um die Erhaltung der sog. Niederlassung, d. h. Recht an Daueraufenthalt und vor allem der allgemeinen Arbeitsbewilligung, ohne die meine alle Arbeit erschwert ist. Bisher brauchte ich für sämtliche kleinste Arbeit – sei es ein kleiner Artikel in der Zeitung, Vortrag, Rezitation usw. eine Sonderbewilligung, die mit nur großen Schwierigkeiten zu ersuchen war.“ Brief von PL an Jaroslav Fahoun, Mitbegründer der Tschechoslowakisch-schweizerischen Gesellschaft (Československo-švýcarská společnost), 31.1.1946 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-FAH). 51 Dazu bemühte sich Lotar zum Ende der Vierzigerjahre darum, die Möbel seiner Familie, die bei den Familienfreunden deponiert waren, nach dem Krieg von den tschechoslowakischen Behörden zurückzubekommen. Trotz der Zahlung hoher Gebühren gelang ihm dies nicht.

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sche Kantonbürgerrecht für die Gemeinde Flumenthal erteilt.52 Danach stand der Heirat nichts mehr im Wege. Ende der 40er-Jahre setzte sich Lotar als gläubiger Mensch und Autor immer stärker mit der Stellung des Glaubens im Alltagsleben und in der Kunst sowie allgemein mit der Wertehierarchie in der Gesellschaft auseinander. Intensiv suchte er nach gleichgesinnten Kollegen und Kolleginnen und einem ebensolchen Umfeld. Aus diesem Grund bemühte er sich auch darum, einen Kontakt zur ‚Moralischen Aufrüstung‘ in Caux zu knüpfen, wie er in einem Brief an deren Gründer Frank Buchman erläuterte. [...] dass auch ich an eine Lösung unserer heutigen Nöte und Probleme ganz allein von der Seite des christlichen Glaubens her hoffe. Aber dieser Glaube muss sich freimachen von all den Verfälschungen und Bequemlichkeiten, in die ihn Kompromissbereitschaft und Opportunismus geworfen hat, um wieder mit seiner ursprünglichen Kraft die Menschheit auf den rettenden Weg zu führen. Ich meine damit durchaus nichts Konfessionelles – im Gegenteil, wahre christliche Liebe muss alle konfessionellen Gruben überbrücken. Sehr wesentliches scheint mir in dieser Richtung die Bewegung von Caux (Moralische Aufrüstung) zu leisten. Während ich für das bedeutendste Beispiel einer wahrhaft christlichen Lebensgestaltung in unserer Zeit Denken und Tat Albert Schweitzers halte.53

Der Besuch in Caux erfüllte seine Erwartungen. Er kehrte motiviert und auf eine mögliche Gesellschaftsänderung hoffend zurück.54 52 Seinen Dank sprach Lotar noch zehn Jahre später aus: „Heute ist bei uns ein großes Fest. Genau vor zehn Jahren wurde ich eingebürgert und erhielt die Gewissheit, wieder eine echte neue Heimat zu besitzen. Wir feiern diesen Jahrestag zwar in aller Beschaulichkeit und Stille im Kreise unserer kleinen Familie und unserem bescheidenen Heim, aber gerade dies ist die Art und Weise, wie es unserem Herzen entspricht. Erst meine Einbürgerung im heimeligen und geliebten Solothurn gab mir den Mut, eine Familie zu begründen und die innere Sicherheit, ein stilles Leben im Geiste, fernab von aller Geschäftigkeit und beruflichen Hetze zu führen. Wir haben es nie bedauert und sind voller Dankbarkeit, wenn auch als steter Schatten der Gedanke an das traurige Los der Menschen in der alten Heimat darüber gebreitet ist.“ Brief von PL an Urs Dietschi, 29.11.1959 (Familienarchiv Urs Dietschi, Solothurn). 53 Brief von PL an Frank Buchman, 11.1.1949 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-BUCHM). 54 „Ich bin gegenwärtig in Caux sur Montreux [sic] […] und ich darf sagen, dass ich hier nicht nur das größte Erlebnis meines eigenen Lebens gefunden habe, sondern fest überzeugt davon bin, dass sich hier das gewaltigste Ereignis unseres Jahrhunderts vollzieht, wahrscheinlich das für die Geschichte der Menschheit bedeutsamste seit der Reformation. Sie werden hier Menschen von 37 Nationen finden, strahlende, begeisterte Jugend und Menschen aus allen Berufen und aller sozialen Stellungen, vom einfachen Bergarbeiter bis zu den Präsidenten der größten Trusts, Botschaftern und Ministerpräsidenten. Sie alle werden hier gepackt und vereint durch die uralte, aber von einem begnadeten Menschen neu entdeckte Idee, nämlich die Grundgebote des Christentums kompromisslos im Leben des einzelnen und von ihm ausgehend im Leben seiner Familie, seines Volkes und der ganzen Welt zu verwirklichen.“ Brief von PL an Urs Dietschi, 25.6.1949 (Familienarchiv Urs Dietschi, Solothurn).

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1950–1956 Die Jahre 1949/1950 brachten für Peter und Eva die lang ersehnte Legalisierung. Nach zehn Jahren heirateten sie, Peter bereits als Schweizer Staatsbürger. Die Trauung fand am 5.5.1950 in Sils Maria statt.55 Zugleich zogen sie nach der Heirat von Dornach nach Unterseen/Interlaken, wo sie bis zum Jahre 1956 wohnten. Lotar gab jede aktive Zusammenarbeit mit dem Theater auf und trat in die Laufbahn eines freiberuflichen Schriftstellers. Eva hingegen musste ihre Karriere als Tänzerin beenden. Im Stadttheater Bern warteten noch ansprechende Rollen auf sie, aber ihre Hüftenbeschwerden wurden schmerzhafter, sodass sie ihren Traumberuf aufgeben musste. Sie entschied sich dazu, keine neuen Aktivitäten zu beginnen und sich ganz der Familie zu widmen. Im Jahre 1951 wurde ihr Sohn Jean-Christophe, 1956 ihre Tochter Jana geboren. In Berner Oberland erlebte Lotar eine enorm produktive Arbeitsphase. Auch dank seiner Frau Eva, die ihn unterstützte, konnte er sich ausschließlich auf das Schreiben konzentrieren. Eva half ihm zudem bei seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Sie diskutierten viel über damit zusammenhängende Probleme und er las ihr aus seinem Werk vor. Sie übernahm den größten Teil der Korrespondenz und anderer Formalitäten. Lotar setzte sich in dieser Phase intensiv mit biographischen Hörspielen über jene Persönlichkeiten auseinander, die für ihn von großer Bedeutung waren und die in seinen Augen ein bestimmtes Wertesystem und eine kulturelle Tradition repräsentierten. So entstanden die Sendungen über Albert Schweitzer, durch dessen Denken und Lehre Lotar in mancherlei Hinsicht beeinflusst wurde. Schweitzers Freundschaft half Lotar mit seinen eigenen Schuldgefühlen besser zurechtzukommen. Das Hörspiel wurde oft als Lesetheater aufgeführt und später sogar als Buch erarbeitet, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Die Hörspiele über Racine und George Bernhard Shaw aus den späten 40er-Jahren ergänzte eine sechsteilige Sendung über Lotars Lieblingsautor Friedrich Schiller. Im Jahre 1950 entstand das Hörspiel Der 55 „Wie ich Ihnen erzählte, kennen wir uns schon seit elf Jahren – davon waren wir sechs Jahre gemeinsam in Solothurn –, aber es dauerte lange, bis wir uns zu dem Gedanken einer dauernden Verbindung durchrangen. Weiters spielte, nebst Papierschwierigkeiten auch die Frage eine Rolle, ob es uns möglich sein würde, ein gemeinsames Heim und eine Familie zu gründen, ohne die eine Ehe nicht wirklich erfüllt und sinnvoll ist. Zu unserem Entschluss hat nicht wenig die Tatsache beigetragen, dass meine beruflichen Angelegenheiten sich in den letzten Monaten überaus erfreulich entwickelt haben und Anlass zu guten Hoffnungen geben.“ Brief von PL an Max Obrecht, den Regierungsrat im Departement des Inneren Solothurn, Dornach, 22.3.1950 (Familienarchiv Urs Dietschi, Solothurn).

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unbekannte Befehl, in dem Lotar Napoleons Gespräche mit Papst Pius VII. verarbeitete. Erfolgreich war auch der Zyklus Kampf gegen den Tod, der die grundsätzlichen ethischen Topoi der Medizingeschichte auf einer abstrakten Ebene behandelt. Den größten Erfolg feierte Lotar mit seinem Werk Das Bild des Menschen über den deutschen Widerstand, das 1954 mit dem Gerhart-Hauptmann-Preis ausgezeichnet wurde. Das Hörspiel wurde auch als Bühnenfassung publiziert, die mehrere Auflagen erlebte. Lotar glaubte an ein anderes Deutschland. Die Beherrscher Deutschlands hatten meine ganze Familie ausgerottet. Ich beschloss, die Mauer der Bitterkeit zu übersteigen. Ich schrieb ‚Das Bild des Menschen‘, ein Requiem auf die Männer des Deutschen Widerstands. Eine Elite der deutschen Bühnenkünstler führte es auf, an den Berliner Festwochen, den Ruhrfestspielen, im Rundfunk, später im Fernsehen, Deutschland begann, das Beste seines Wesens wieder zu finden. (Lotar 1985c: 21)

Sein mit aufwändigen Recherchen und einer intensiven Auseinandersetzung verbundenes Interesse mit dem Thema führte bis zu den Familienmitgliedern der Widerstandskämpfer. So stand Lotar etwa in Briefkontakt mit der Ehefrau von Helmuth James Graf von Moltke und dem Bruder von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Alexander Stauffenberg: Sollten Sie mich nach der Lektüre meiner Arbeit für würdig erachten, auf eine von Ihnen für richtig gehaltene Weise Näheres über die Persönlichkeit Ihres hochverehrten Herrn Bruders erfahren zu dürfen, so würde ich mich sehr glücklich schätzen. Ich betrachte meine Arbeit [als] noch keineswegs abgeschlossen. Die vielen hunderte von Dankesbriefen, die dem Sender und mir zugehen, und die echte Erschütterung, die aus diesen Zeugnissen spricht, hat mir gezeigt, dass ich nicht auf dem falschen Wege war, wenn ich versuchte, über die Gräber der Märtyrer hinweg, abseits von jeder platten Tagespolitik, den entscheidenden ethischen Kern ihrer unvergänglichen Botschaft für die Überlebenden fruchtbar werden zu lassen.56

Neben seinem dramatischen Schaffen hielt Lotar kontinuierlich zahlreiche Vorträge, die thematisch mit seiner Arbeit zusammenhingen und seinem politischen Engagement und moralischen Prämissen entsprachen. Der unmittelbare Kontakt mit dem Publikum während der öffentlichen Auftritte bedeutete ihm viel.57 Die intensive Arbeitsweise und die damit verbundene existenzielle Angst um die finanzielle Sicherung der Familie hatte Lotar mehrmals an die Grenze 56 Brief von PL an Alexander Stauffenberg, 22.8.1952 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1STAU). 57 „Ich lebte in den vergangenen Jahren auf dem Lande recht abseits von kulturellen Kontakten und litt zuweilen stark unter dem Mangel von Resonanz.“ Brief von PL an Arnim Juhre, 7.6.1956 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-JUH).

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seiner physischen Kräfte gebracht und er litt öfter unter einer totalen Erschöpfung. Seine angegriffene Gesundheit tat ein Übriges. Im August 1953 brach Lotar hauptsächlich infolge von Überarbeitung zusammen und musste sich für mehrere Wochen in eine Zweigstelle des bekannten Sanatoriums der Dr.-Otto-Buchinger-Klinik für biologische Heilweise in Bad Pyrmont begeben.58 Danach fuhr er jedes Jahr zur Kur. Seine angegriffene Gesundheit störte und behinderte seine Arbeitspläne immer wieder.

1956–1963 Im Jahre 1956 zog Lotars Familie nach Locarno in den italienischsprachigen Kanton Tessin. Wie jeder Neubeginn brachte auch dieser Umzug neue Impulse ins Leben der Familie.59 Im Nachhinein bewertete Lotar die ersten zwei Jahre aber nicht gerade als ergiebig und erfolgreich. Er fühlte sich von seiner Unproduktivität sowie durch gesundheitliche Probleme unter Druck gesetzt.60 Das Drama Sokrates blieb unvollendet. Die Ursachen der Krise glaube ich heute bereits zu erkennen und mir fruchtbar machen zu können, so dass ich sie vielleicht einmal als echte Inkubationszeit werde ansehen dürfen. Sokrates: Mein Sokrates-Drama habe ich nach fast einjährigem Ringen nicht zu Ende führen können. Ich weiß heute warum: es erschien auf den ersten Blick bestechend, diese überzeitlich gültige Gestalt in die Gegenwart zu versetzen und mit ihr zu konfrontieren. Aber die Schwierigkeiten, die sich ergaben, waren ungeheuer. Es gibt allzu viel, was dennoch an Sokrates zeitgebunden und von seiner Epoche untrennbar ist. Aber das Entscheidende – ich konnte sein Denken nicht mit den heutigen religiösen und ethischen Strömungen in Einklang bringen, vor allem nicht mit meinem eigenen christlichen Glauben, dessen Verkündigung immer als Antrieb hinter allem steht, was mich bewegt, das Wort zu ergreifen.61

58 Brief von PL an Gladys Arnold, 27.11.1953 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-ARN). 59 „Auch gibt es hier unverhältnismäßig mehr geistig schaffende Menschen und Anregung als im Berner Oberland. Auch der Lebensstil ist ein ganz anderer, die italianitá macht sich segensreich bemerkbar, hier leben die Menschen nicht nur, um zu arbeiten und so löst sich langsam die Starre, in welche uns die langen Jahre im materialistischen Norden zu versetzen drohte. Wir blühen langsam wieder auf und ich arbeite deshalb auch mit neuer Lust und Freude.“ Brief von PL an Eberhard Müller, Pfarrer und Direktor der Evangelischen Akademie, Bad Boll, 20.8.1956 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-MULE). 60 „Leider hatte daran vor allem auch meine unzulängliche Gesundheit ihren Anteil, die mich weiterhin durch periodisch wiederkehrende Anfälle und Zeiten schwer geminderter Arbeitsfähigkeit mancherlei Prüfungen unterwirft.“ Brief von PL an Arnim Juhre, 13.8.1957 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-JUH). 61 Brief von PL an Hans Buchinger, 2.1.1958 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-BUCHI).

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Danach hatte Lotar wieder eine erfolgreiche Phase. Insgesamt legt seine Themenwahl nahe, dass Lotar sich in diesem Zeitraum vor allem mit der Stellung eines religiösen Schriftstellers in der Gesellschaft auseinandersetzte, als den er sich selbst erkannte. Im Auftrag der Familienkommission der Reformierten Kirche hatte Lotar den Rezitationsabend Das Hohelied der Liebe vorbereitet, an dem er Dichtungen verschiedener deutschsprachiger Autoren vortrug. Später bearbeitete Lotar dieses Material für eine zweiteilige Radiosendung, um nicht nur in den Gemeinden „durch das Instrument der Dichtung dem Ethos der Liebe und Ehe zu dienen“62, und trat mit dem Thema auch an vielen Orten auf. Sein biographisches Schaffen erweiterte sich um Hörspiele über Tomáš Garrigue Masaryk, Leo Tolstoj und Mahatma Gandhi. Das über den katholischen Antisemitismus verfasste Theaterstück Das leere Kreuz blieb jedoch ohne Inszenierung. Diese Arbeitsphase schloss Lotar mit dem Antikriegshörspiel Aller Menschen Stimme ab.

1963–1970 Der Umzug der Familie 1963 nach Baden im Kanton Aargau nahe bei Zürich brachte Lotar sowohl neue Arbeitskontakte als auch neue Anregungen. In Locarno wohnte er eher abseits vom deutschsprachigen kulturellen und literarischen Leben und vernachlässigte seine Verbindungen zu tschechischen Landsleuten teilweise, was er mit der Zeit als Verlust empfand. In Zürich kam er nun mit tschechischen Emigranten aus den Exilwellen 1948 und 1968 in Kontakt, die sich nach Jahren der Entbehrung und Demütigung dafür entschieden hatten, die Tschechoslowakei zu verlassen. Die wichtigste Freundschaft schloss Lotar mit Přemysl Pitter, der die Jan-Hus-Gemeinde in Zürich (Husův sbor Českobratrské církve husitské) gründete und dort predigte.63 Pitter gehörte zu den Schlüsselfiguren des tschechischen Exils in der Schweiz. Neben Albert Schweitzer beeinflusste er mit seiner Lehre und geistigen Überzeugung Lotars Denken und Glauben am stärksten und stand Lotar in seinen schwersten Lebensmomenten bei. Auch mit Pitters enger Freundin Olga Fierz war Lotar befreundet. In der tschechoslowakischen evangelischen Ge62 Brief von PL an Eduard Abel, 30.1.1958 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-ABE). 63 Die im Jahre 1969 gegründete Gemeinde diente nach dem Prager Frühling den neu angekommenen Emigranten aus der Tschechoslowakei als Anlaufstelle. Dadurch setzte Pitter seine soziale und humanitäre Tätigkeit fort. In den 30er-Jahren kümmerte er sich in Prag um sozial gefährdete Kinder und nach 1945 um deutsche Waisenkinder.

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meinde erweiterte Lotar seinen Freundes- und Arbeitskreis, z. B. um Prof. Jan Milíč Lochman, den damaligen Rektor der Universität Basel. Zwanzig Jahre später würdigte Lochman Lotars Stärke, seiner Herkunft und der kulturellen Tradition des multikulturellen Prags im Exil treu geblieben zu sein und sie in seinem Privat- sowie Berufsleben intensiv zu pflegen (Lochman 1986). Das beeindruckte nicht nur Lochman, sondern auch weitere Exilanten. Im Jahre 1966 schrieb Lotar das Theaterstück Der Tod des Präsidenten, in dem er das Thema der Legitimation des politischen Mordes aufgreift. Es wurde am 17.12.1966 gleichzeitig am Deutschen Theater Göttingen und am Staatstheater Karlsruhe aufgeführt. Das von Lotar verfasste Drehbuch verfilmte der österreichische Regisseur und Schauspieler Walter Davy; das ZDF und das SRF strahlten den Film 1967 aus. Dank der Verleihung des Dramenpreises der Schweizerischen Schillerstiftung am 1. Juli 1967 kam es zu internationalen Inszenierungen wie z. B. am Nationaltheater Helsinki im Januar 1968 – in der Schweiz wurde das Stück hingegen nicht gezeigt. Die für Lotar wichtigste Aufführung fand am Brünner Theater (Premiere am 6.4.1968) statt, zu der Lotar eingeladen wurde. Anlässlich dieser Reise kam es zum Wiedersehen mit einigen seiner Freunde und Kollegen in Prag. Möglich wurde dies durch die veränderte politische Situation in der Tschechoslowakei durch den Prager Frühling. Der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei am 21.8.1968 und die gewaltsame Unterbindung des Demokratisierungsprozesses bedeuteten für Lotar nicht nur im Kontext seiner privaten Geschichte einen schweren Schlag. Nach den Ereignissen im August 1968 nahm Lotars politisches und gesellschaftliches Engagement an Intensität zu. Er publizierte vermehrt in der Schweizer Presse und berichtete in seinen öffentlichen Auftritten von den Ereignissen in der Tschechoslowakei. Einigen Emigranten von 1968, etwa dem Schriftsteller Marek Vejvoda, half er, indem er ihnen bei sich Zuflucht gewährte.

1970–1986 Im Jahre 1970 kaufte Lotar ein kleines, idyllisch in den Weinbergen gelegenes Häuschen in Ennetbaden bei Baden. Die daran noch zu verrichtenden Arbeiten führten jedoch zu physischen wie finanziellen Belastungen.64 Ein 64 Insbesondere hob Lotar das Verdienst seiner Frau hervor, die das Haus fand und sich wesentlich um die Renovierung verdient machte: „Es war unendlich mühsam, denn – wie das heutzutage hier ist – ließen uns die Handwerker im Stich, und wir mussten in einen

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Jahr nach dem Umzug begann Lotar mit der Arbeit an seinem ersten autobiographischen Roman,65 was eine erneute Auseinandersetzung mit der Heimat und seinen Schuldgefühlen bedeutete: Ich habe nun gelernt, das Heimweh im geographischen Sinne zu überwinden, indem ich versuche, den Begriff der Heimat im geistigen Sinne zu verwirklichen. Der wesentliche Schritt dazu besteht eben darin, das Verlorene wiederzugebären.66

Um sich ganz diesem Projekt widmen zu können, das ihn insgesamt fünf Jahre beschäftigte, lehnte er andere Arbeitsangebote ab.67 Trotz der ernsthaften Gesundheitsprobleme, mit denen er und seine Frau kämpften, gelang es ihm, den Roman zu beenden.68 Lotar wurde dafür mit zahlreichen Preisen69 ausgezeichnet und unternahm eine Lesereise.

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wahren Trümmerhaufen einziehen. Das Haus ist sehr klein und bedürfte einigen kleinen Umbauten und Investitionen, die erst viele Wochen nach dem Einzug notdürftig abgeschlossen waren, wobei besonders Babuska sich als erfolgreicher Maurer, Betonner, Malermeister und Installateur erwies. Überhaupt hat sie das Haus entdeckt und mit ungeheurem Einsatz dafür gekämpft, zuerst auch gegen mich, der vor dem finanziellen Abenteuer und allem, was damit zusammenhängt, zurückschreckte. Doch nun bin ich sehr dankbar, denn es ist ein wirklich ruhiges und idyllisches Plätzchen, das mir nach unendlich langen Jahren wieder das Gefühl der Geborgenheit gibt. Auch die Kinder haben große Freude daran.“ Brief von PL an Francis Schiller, 23.1.1971 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1SCHIF). „Ich habe vor einem Vierteljahrhundert aufgehört, selbst Theater zu machen und schreibe nur noch, ein kleiner Außenseiter, von der fixen Idee des Schriftstellers besessen, der darin einen Sinn zu finden vermeint, seine kleinen Erfahrungen und Einsichten an andere weiterzugeben.“ Brief von PL an Manfred Inger, 31.1.1974 (SLA, NPL, Sign. SLA-LotarB-1-ING). Brief von PL an Francis Schiller, 23.1.1971 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-SCHIF). „Dennoch versetzt mich Ihre freundliche Anfrage in einen schmerzlichen Zwiespalt, leider nicht zum ersten Mal. Seit dem Jahre 1969 werde ich geradezu überwältigt durch die Bitten geflüchteter intellektueller Landsleute ihre Manuskripte zu lesen und zu übersetzen. Zwei Jahre habe ich mich fast ausschließlich diesen Anliegen und dem Einsatz für unsere Sache sowohl in menschlicher wie publizistischer Beziehung gewidmet. Aber ich musste damit aufhören, wollte ich nicht meine eigene Existenz vernichten. […] Zudem bin ich nicht hauptberuflich Übersetzer wie mein Freund Künzel, sondern muss mit einer angegriffenen Gesundheit mein eigenes umfangreiches Werk bewältigen.“ Brief von PL an Ivan Diviš, 22.5.1974 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-DIVI). Lotar litt unter Herzbeschwerden (Angina Pectoris) und Eva unterzog sich wegen ihres Hüftgelenkleidens (Coxarthrose) einer Operation. Später wurde Lotar durch einen Motorradunfall am Schreiben gehindert, bei dem er sich seine rechte Hand brach (1974). U. a. erhielt er den Literaturpreis des Kantons Zürich und den Kulturpreis des Kantons Solothurn aus dem Jahre 1978.

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Weiterhin engagierte sich Lotar für die tschechischen Schriftsteller. Im Auftrag des Artemis-Verlags verfasste er zahlreiche Buchbesprechungen zu Kinderbüchern. Auch die Vortragstätigkeit gab er nicht auf.70 Besonders reich an öffentlichen Auftritten war das Jahr 1975, in dem er sich wieder Albert Schweitzers Leben und Werk zuwandte.71 Zehn Jahre nachdem er mit seinem ersten Roman angefangen hatte, begann Lotar mit der Arbeit an seinem zweiten biographischen Roman. Außer­ dem standen die 80er-Jahre bei Lotar im Zeichen der Texte zu diversen tschechischen Themen. Aus dem Jahre 1985 stammt der auf Wunsch der Redaktion der Kulturpolitischen Korrespondenz entstandene, bedeuten­ de Text Die Mauer geht mitten durch mich: Eine kleine Selbstbetrachtung. In ­diese ­Periode fielen auch seine Reisen nach Norwegen und Amerika, zu denen ­Lotar Reportagen verfasste.72 Lotar starb am 12. Februar 1986 nach einem Motorradunfall.

70 „Nach der Rückkehr (Oktober denke ich) war ich gleich ‚mittenmang‘. Drei Vorträge in der ersten Woche: ‚Der Christ und die Gewalt‘, ‚die Sendung der böhmischen Kunst‘ (Feier des tschechischen Nationalfeiertags in Zürich) und schließlich eine Fernsehdiskussion über ‚Emigration, Integration, Konfrontation‘, die am 5. November, 8 Uhr gesendet wird.“ Brief von PL an Wolfgang Schwarz, 2.11.1972 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1SCHWARZ). 71 Brief von PL an Francis Schiller, 16.1.1975 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-SCHIF). 72 Tagebuch aus Norwegen. In: Neue Zürcher Zeitung, I. Teil am 20.4.1973, 34; II. Teil am 24.4.1973, 32; III. Teil am 25.4.1973, 36; IV. Teil am 26.4.1973, 34. – Kalifornische Geschichten. In: Neue Zürcher Zeitung, Die Seejungfrau und die Hydra am 10./11.12.1983, 84; Ein kleiner Vorgeschmack von Paradies am 24./25.12.1983, 50; Wiedersehen in Hollywood am 7./8.1.1984, 68; Wie aus einem Irrtum das noch Bessere wird, als es das Richtige gewesen wäre am 14./15.1.1984, 80.

3. Theater als Verhandlungsort persönlicher und ­kollektiver Identität in der Autobiographie A přece – neustávalo to ve mně žít, ovládat mě ve snách: kouzlo i rané rány mládí, objevování zázraku, jemuž se říká umění, hlas kamarádů i odpůrců, prudké boje o vytváření zítřků, vše rostoucí z živné půdy města ze všech měst nejtajuplnějšího, nejkrásnějšího, nejživelnějšího a nejnešťastnějšího. Nepřestávalo mě volat, bolestně se drát z povědomého temna na světlo. Proto jsem musel napsat román svého pražského mládí. (Lotar 1993: 10 f.) [Und doch – es hat nicht aufgehört, in mir zu leben, mich in meinen Träumen zu beherrschen: der Zauber und die Wunden der frühesten Jugend, die Entdeckung des Wunders, das man Kunst nennt, die Stimmen von Freund und Feind, ungestüme Kämpfe um die Gestaltung des Morgen, alles wachsend auf dem Nährboden der geheimnisvollsten, schönsten, spontansten und unglücklichsten Stadt aller Städte. Es hat nicht aufgehört, mich zu rufen, sich schmerzlich aus vertrauter Dunkelheit ans Licht zu drängen. Deshalb musste ich den Roman meiner Prager Jugend schreiben.]

In seinem 1978 erschienenen Roman Eine Krähe war mit mir schilderte Lotar die Erfahrungen des jungen Schauspielers Marek Truntschka als Grenzgänger im tschechisch-deutsch-jüdischen Kulturmilieu im Prag der 1920er- und 1930er-Jahre. Die Hauptfigur wird wegen ihres Familienhintergrunds und ihres Engagements an einem tschechischen Theater permanent mit Hass und Feindseligkeit auf beiden Seiten konfrontiert. Für den Protagonisten zeichnet sich dieses heterogen wahrgenommene Beziehungsgeflecht vor allem durch nationale Rivalität aus, die der verschärften politischen Lage entsprechend zunimmt. Die Flucht in die Schweiz rettet ihn vor der Verhaftung durch die Nazis. Seine demokratische Gesinnung und das Gedankengut der tschechischen humanistischen Tradition werden ihm zur Leitlinie, an die sich Marek auch im Schweizer Exil weiterhin hält. Der sieben Jahre später publizierte Roman Das Land, das ich dir zeige besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil stellt die Schweiz als Exilland dar und schildert Mareks Engagement an einem Provinztheater. Zudem liefert er intime Einblicke in die Gefühlswelt eines Menschen im Exil, der sich unaufhörlich mit dem Verlust von Heimat und Familie sowie seinen Schuldgefühlen auseinandersetzt. Der literarischen Verarbeitung der Exilerfahrung werden im zweiten Teil die Probleme der Rückkehr und die erfolgreiche Integration an das kulturelle Umfeld des Gastlandes gegenübergestellt. Die Kraft beider Romane beruht auf intimen Bekenntnissen und rückhaltlosen Selbstreflexionen. Nicht nur die eingangs zitierte Stelle aus dem Vorwort zur tschechischen Übersetzung von Eine Krähe war mit mir deutet

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darauf hin, dass beide Prosatexte starke autobiographische Züge aufweisen. Lotar entschied sich allerdings dafür, seine Erinnerungen, die jeder autobiographischen Reflexion vorangehen (Wagner-Egelhaaf 2005: 12), mittels präzis ausbalancierter fiktionalisierender Erzählverfahren zu gestalten. Im breiten Spektrum autobiographischer Schreibweisen lassen sich beide Bände als autobiographische Romane73 verorten. Diese ‚spielerische‘ Variante autobiographischen Schreibens ist zwischen Autobiographie und Roman angesiedelt. Unter den zahlreichen theoretischen Ansätzen zur Abgrenzung von Autobiographie und autobiographischem Roman74 bewährte sich das rezeptionsästhetische Konzept von Philippe Lejeune, der vom Hauptstrukturmerkmal der Autobiographie, dem Kriterium der Identität bzw. Nichtidentität von Erzähler, Protagonist und Autor, ausgeht. Der ‚autobiographische Pakt‘, in dem es unter allen drei Personen Namensidentität gibt, unterscheidet sich vom Romanpakt „durch die Namensverschiedenheit zwischen Autor und Protagonist und/oder durch den expliziten Untertitel Roman“ (Wagner-Egelhaaf 2005: 69). Dieser Pakt gilt auch für Lotars Romane, in denen die Hauptfigur den Namen Marek Truntschka trägt. Der Roman mit seinem Wechselspiel von Wirklichkeit, Fiktion und Imagination bietet Lotar im Umgang mit seinen Erinnerungen die erwünschte, seiner Intention entsprechende dichterische Freiheit. Um den Haupthandlungsstrang herum, welcher der künstlerischen Entwicklung der Hauptfigur von der Kindheit bis zur erfolgreichen Schauspieler- und Schriftstellerkarriere folgt, versucht Lotar den Zeitgeist des 20. Jahrhunderts einzufangen und exemplarisch den Einfluss des zeitgeschichtlichen Kontexts auf die Persönlichkeitsbildung eines jungen Menschen zu zeigen. Vor diesem Hintergrund 73 Lotar spricht selbst von autobiographischen Romanen, im Buchtitel steht jedoch nur ‚Roman‘. Die Rezensionen verwenden unterschiedliche Bezeichnungen. 74 Die vielstimmige Diskussion ist durch die spezifischen Merkmale und Charakteristika des autobiographischen Schreibens bedingt. In der Forschung oszilliert man zwischen der Wahrnehmung der Autobiographie als wahrheitsgetreuem Abbild (ältere Ansätze) und dem als literarischem Kunstwerk (neuere Ansätze). Ausführlicher zum autobiographischen Roman siehe in den Standardwerken: Lejeune (1994: 13–51); Wagner-Egelhaaf (2005: 49–52); Holdenried (2000: 28–33); Niggl (1998: 21–258). Exemplarisch beschäftigt sich Winfried Adam (2005) mit dem autobiographischen Roman. Eine grundsätzliche Definition des autobiographischen Romans liefert Gero von Wilpert: „Fiktionale Gestaltung biograph. Erlebnisse des Autors, der das stoffl. Material nicht unter dem Aspekt der Wahrheit um ihrer selbst willen, sondern nach künstler. Struktur, Sinn- und Symbolkraft gestaltet, stilisiert, umstrukturiert, wegläßt oder ergänzt, entweder in Ich-Form oder in perspektiv. Brechung der 3. Person, meist als Künstler-, Bildungs- oder Zeitroman.“ (Wilpert 2001: 61 f.)

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verwundert es nicht, dass gerade das politische Geschehen und seine Auswirkungen auf den Einzelnen sowie dessen Auseinandersetzung mit einer veränderten bzw. zugespitzten politischen Situation im Mittelpunkt stehen. Die Universalisierung und Verankerung der individuellen Erfahrungen und Erinnerungen in einem größeren gesellschaftspolitischen und kulturellen Kontext entsprechen den Gattungskonventionen des autobiographischen Romans (Wagner-Egelhaaf 2005: 50 f.). Dem Drang, seine Erinnerungen literarisch zu verarbeiten, gibt Lotar Ende der 70er-Jahre nach. Das zweibändige Prosawerk, das den Abschluss seiner Schriftstellerlaufbahn markiert, verfasste er somit als erfahrener und erfolgreicher Dramatiker und vor allem Hörspielautor, der sich der Grenzen und Gefahren autobiographischen Schreibens bewusst ist und der seine autobiographische Methode reflektiert. Lotar hat Zweifel bezüglich der Zuverlässigkeit des Erinnerungsprozesses und bestimmt vor diesem Hintergrund sein Verhältnis zur (auto-)biographischen Wahrheit und somit zum Kernproblem: dem Spannungsverhältnis zwischen Fiktion und Faktizität,75 das aus der Referenzialität des (Auto-)Biographischen hervorgeht und die gattungstheoretische Reflexion des autobiographischen Verfahrens bewirkt. Er artikuliert sein Desinteresse am autobiographischen Faktum und nennt zwei wesentliche Gründe, weswegen er seine Erinnerungen in Romanform verfasste: zum einen das Bewusstsein der Konstruiertheit der Erinnerung und zum anderen den Anspruch an die Modellhaftigkeit des Dargestellten. Eines der schwierigsten Kriterien ist die Abgrenzung von Dichtung und Wahrheit. Authentische Erinnerungen reizen mich wenig, schon mein schlechtes Gedächtnis steht dem entgegen. Ich muss die Gestalten und Ereignisse ‚zu Ende dichten‘, bezw. wirklich neu aus mir gebären, um sie exemplarisch zu machen. Ich gehe dabei mit allem Privaten sehr frei um, stelle es aber in einen ganz authentischen lokalen und historischen Rahmen, damit glaube ich, einen höheren Grad der Authentizität zu erreichen.76

Die Auswahl der identitätsrelevanten Erinnerungen sowie der formalästhetischen Darstellungsmittel folgt dem Anspruch auf Beispielhaftigkeit des narrativen Erinnerungsprozesses. Dies zeigt sich vor allem in der Erzählperspektive und auf der Figurenebene. Während der erste Roman in der Er-Form geschrieben ist, liegt im zweiten der Fokus auf dem Ich-Erzähler, wobei der Name der Hauptfigur – Marek Truntschka – der gleiche bleibt. Die private Sphäre wird fiktionalisiert, die öffentliche nur zum Teil. Obwohl sie oft so gelesen werden, handelt es sich bei Eine Krähe war mit mir und Das Land, das ich dir zeige jedoch 75 Zum Wahrheits- und Authentizitätsanspruch siehe Wagner-Egelhaaf (2005: 41–47). 76 Brief von PL an Francis Schiller, 23.1.1971 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-SCHIF).

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nicht um Schlüsselromane. Neben historischen Persönlichkeiten, die entweder ihren Namen tragen oder durch ihren Beruf bezeichnet werden, gibt es typenhaft gezeichnete Repräsentanten verschiedener politischer Haltungen und sozialer Schichten in opponierenden Paarkonstellationen, was Lotar das Treffen allgemeingültiger Aussagen und die Darstellung beispielhafter Situationen ermöglichte. Großen Raum nimmt entsprechend Lotars Biographie die Schilderung des Theatermilieus mit einem Fokus auf den unterschiedlichen Berufen (Regisseure, Schauspieler, anderes Theaterpersonal) ein. Der komplexe und interdisziplinäre Begriff der Wahrheit bildet die höchste Prämisse in Lotars Leben und nimmt in seinem umfangreichen Werk verschiedene Bedeutungen an. Im Falle seiner autobiographischen Romane zielte Lotar auf eine ‚höhere Wahrheit‘ ab, das heißt auf die vorbildhafte Inszenierung seiner Lebensaufzeichnungen, was mit dem Hinweis auf Goethes Dichtung und Wahrheit korreliert (Wagner-Egelhaaf 2005: 3). Dem Begriffspaar Dichtung und Wahrheit fügte Lotar den Begriff des Traums als Vorstufe der Dichtung hinzu, der die Triade abschließt. Der Schöpfungsprozess entspricht dem Romankonzept: Wie der Traum überschreitet Dichtung die Grenzen von Zeit, Raum, Individuum, sie umfasst die Totalität des Seins. Ihr geht es um das Wesen des Menschen, nicht um Namen, sie bedient sich ihrer allenfalls als eines stellvertretenden Signums. […] Traum und Dichtung vermögen ein Schicksal zu vervielfachen oder mehrere Schicksale in einer Gestalt zu vereinen, um der umfassenden Wahrheit willen. Alles hier Berichtete ist geschehen, unbewusst wird es empfangen, ausgetragen und neugeboren. Der Träumende wird zum Dichter. (Land 287)

Den Erinnerungen und dem Erinnern stellte Lotar den Traum und das Träumen gegenüber. Das Vergangene kehrte bei ihm in Träumen zurück, mit denen der innere Drang zum Festhalten des Erlebten erwacht und in denen das Vergangene in der Schwebe und episodisch auftaucht. Die Erinnerungen waren ihm zu konkret und zu fest in einem raumzeitlichen Kontext verankert. In den Eingangs- und Schlusskapiteln des Romans Das Land, das ich dir zeige wird der Traum als mehrdimensionaler Zwischenraum behandelt, der die Vergangenheitsaufarbeitung initiiert, eine adäquate Herangehensweise offeriert und zugleich den langwierigen Identitätsfindungsprozess in Gang setzt. Betont werden unter anderem die Bedeutung des Begreifens und Aufarbeitens der Vergangenheit für die Zukunft – ein Topos, der bei Lotar immer wieder auftaucht.77 Das Authentische gilt hier den allgemein für autobiographische 77 „Mein Leben vollzieht sich im Wachen, im Schlafen, im Traum. […] Der Tag zeugt, die Nacht empfängt. Der Traum ist ihre Schwangerschaft. Taten und Versäumnisse, Freuden und Leiden befruchten sie, und aus ihnen wächst das Neue: Neues Tun, Erleben, Erlei-

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Texte zentralen Begriffen des Wahren, Wahrhaftigen und Wirklichen äquivalent. Ihm wird – insbesondere in den im Exil entstandenen und das Exil reflektierenden Texten – das Exemplarische gegenüberstellt, das didaktische und appellative Funktionen erfüllt. Vereinfachend gesagt ging es Lotar darum, Wissen über die vorangegangene Epoche zu vermitteln und eine politische Botschaft zu formulieren (Seifener 2005: 88; Adam 2005: 183). Lotar füllte den historischen und territorialen Deutungsrahmen mit bestimmten beispielhaft dargestellten Erlebnissen, Handlungen und Emotionen. Die Diskursvermittlung und die Vergangenheitsversionen entsprechen der rückblickenden Erzählperspektive, der eine gründliche, zielgerichtete und reflektierte Arbeit mit dem kulturellen Gedächtnis unter starker Beachtung des Gegenwartsbezuges vorausging. Die für die übergreifende Fragestellung nach der Konstruktion von Identität wenig ergiebigen gattungstheoretischen Einordnungsdebatten sowie systematische Überlegungen etwa zur Kategorie der Wahrheit werden hier nicht weiter vertieft. Das Augenmerk liegt stattdessen auf der identitätsstiftenden konstruktiven Dimension des Erinnerungsprozesses im autobiographischen Schreiben. Im Folgenden wird zwar über die Autobiographie im Singular gesprochen, der Begriff wird aber in einem breiteren Sinne verstanden, der alle autobiographischen Formen inklusive des autobiographischen Romans umfasst. Die Gedächtnisforschung betrachtet die Autobiographie als die Gedächtnisgattung par excellence und bezeichnet sie als Ort des individuellen Gedächtnisses. Dies entspricht der These, dass Autobiographien als Aushandlungsorte fungieren, in denen personale und kollektive Identitäten im narrativen Erinnerungsprozess konstruiert werden. Die Tatsache, dass sich individuelle Identität und individuelle Erinnerung gegenseitig durchdringen und bedingen, findet in der Autobiographie ihre höchste Verdichtung. Die individuelle Erinnerung und die individuelle Identität stehen in größeren kulturellen und kollektiven Zusammenhängen, auf die sie selbst wiederum zurückwirken können (insbesondere Gymnich 2003; Neumann 2003). Das Verhältnis von Identität und Erinnerung kann in literarischen Texten vielfältig gestaltet werden. Für Lotars autobiographische Romane ist es relevant, sich auf der Ebene des Diskurses die Wahl der Erzähler näher anzuschauen, die die Perzeption der Identitätskonstruktion im narrativen Erinneden. […] So tragen wir im Traum aus Vergangenem das Kommende aus, bevor es endlich mühsam ans Licht tritt.“ (Land 11) – Das geschichtliche Erkenntnisinteresse und dessen Bedeutung ist als Leitthema von Lotars gesamtem Schaffen auch in diesem Werk durchgängig präsent.

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rungsakt beeinflusst. Durch die Wahl des extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähltyps entsteht die personale Identität von Marek Truntschka im ersten Band Eine Krähe war mit mir erst während des Erzählens. Im zweiten Band Das Land, das ich dir zeige wird sie dagegen durch die Wahl des homodiegetischen Erzähltyps als Resultat der zurückliegenden und retrospektiv sinnstiftenden Erfahrungen verstanden (Gymnich 2003: 40–42). Diese Deutung wird durch die einleitenden bzw. abschließenden Kapitel gestützt, in denen die Art des Erinnerungsaktes reflektiert und der Charakter beider Romane bewertet wird. Der Ich-Erzähler in Das Land, das ich dir zeige beabsichtigt, seine durch den Traum initiierte Vergangenheitsaufarbeitung endlich in einem psychologisch motivierten Prozess des Festhaltens offenzulegen. Der Er-Erzähler in Eine Krähe war mit mir indes möchte beim Betrachten einer alten verblassten Fotografie aus seiner scheinbar unbeteiligten Position mit der Vergangenheit abrechnen und ‚die guten alten Zeiten‘ rekonstruieren. Neben der Erzählerkategorie und der Figurenkonzeption spielt auch die Kategorie des Raumes für die „Inszenierung des Zusammenhangs von individueller Identität und Erinnern“ eine bedeutende Rolle (Gymnich 2003: 44). Der Erinnerungsprozess zeichnet sich allgemein dadurch aus, dass Erinnerungen in Abhängigkeit vom Raum abrufbar sind. Das zentrale Darstellungskonzept der Identitätskonstruktion eines Individuums gründet auf dem Prinzip der Konfrontation: Nationalen Kulturräumen, religiösen Traditionen und politischen Überzeugungen wird die Überschreitung räumlich-semantischer Grenzen entgegengesetzt. Jurij Lotman beschreibt in seinem strukturalistischen Modell der Raumdarstellung binäre semantische Opposition als inneres Organisationsprinzip narrativer Texte, deren Bedeutung durch das Überschreiten der klassifikatorischen Grenze zwischen entgegengesetzten (und vor allem metaphorisch definierten) Räumen hervorgebracht wird.78 In dieser Arbeit wird das Wirkungspotential der Erzählstrukturen im Kontext der Identitätsbildung interpretiert, konkret im Hinblick auf die Selbstverortung des Individuums zwischen nationalen, religiösen und politischen Kollektiven. 78 „Die allerallgemeinsten sozialen, religiösen, politischen, ethischen Modelle der Welt, mit deren Hilfe der Mensch auf verschiedenen Etappen seiner Geistergeschichte den Sinn des ihn umgebenden Lebens deutet, sind stets mit räumlichen Charakteristiken ausgestattet, sei es in Form der Gegenüberstellung […], sei es in Form einer sozial-politischen Hierarchie mit der Zentralen Opposition der ‚Oberen – Niederen‘, sei es in Form einer ethischen Merkmalhaftigkeit in der Opposition ‚rechts – links‘.“ (Lotman 1972: 313) Vgl. Nünning/Nünning (2010: 93); Martínez/Scheffel (2005: 140–144); Dennerlein (2009: 164–195). Eine klassifikatorische Grenze ist topologisch, semantisch und topographisch gegeben (Martínez/Scheffel 2005: 140–144).

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Das Ziel der Untersuchung von Lotars autobiographischen Romanen, die auch als Künstler- oder Entwicklungsromane gelesen werden können,79 ist in Anlehnung an literaturwissenschaftliche Gedächtnis- und Identitätsforschung die Analyse der Inszenierung der nationalen, religiösen und politischen Identität des Künstlers. In einzelnen Teilkapiteln wird der These nachgegangen, dass das Theater als Aushandlungsort der Identitäten fungiert. Das Theater spielt auf mehreren Bedeutungs- und Funktionsebenen eine wichtige Rolle. In beiden Romanen wird Theater begriffen „als Ort künstlerischer Umsetzung dramatischer Texte, als Interaktionsraum zwischen Bühne und Publikum, als Betrieb und Organisationsform sowie schließlich als Topos, an dem sich Diskurse über gesellschaftliche Probleme festmachen lassen.“ (Wessely 2011: 9) Das Theater übernimmt bei Lotar auch die Funktion des transkulturellen Zwischenraumes, in dem die Angehörigen der verfeindeten Nationen einander unvoreingenommen begegnen können. Nicht zuletzt erscheint das Theater als Institution, die ein festes topographisches Charakteristikum des jeweiligen Stadtraums bildet und als Erinnerungsort80 angesehen werden kann. Außerdem arbeitet Lotar in beiden Texten ausführlich mit der (ursprünglich auf Calderón zurückgehenden) Metapher der ‚Welt als Theater‘.81 Die gegenseitige Durchdringung von Rollenspielen am Theater und den Le79 Lotars Romane weisen Merkmale mehrerer Untergattungen des Romans auf. Insofern die Entwicklung der Hauptfigur in ihrem sozialen Umfeld (in diesem Fall: Mareks Werdegang zum Schauspieler) verfolgt wird, liegt das zentrale Charakteristikum des Künstlerromans als Form des Bildungsromans vor; insofern auch die geistig-seelische Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt als eigenständiger Handlungsstrang erscheint, das des Entwicklungsromans. Das Individuum wird durch die transkulturellen Phänomene (Multikulturalität, Mehrsprachigkeit etc.) wesentlich beeinflusst. Diesen Zusammenhang untersucht auch Schamma Schahadat in ihrem Beitrag zu zwei Schriftstellern und Übersetzern. Anhand der Autobiographien von Karl Dedecius und Ilma Rakusa zeigt sie, wie sich ein bürgerlicher Bildungsroman in einen transkulturellen umwandelt und wie sich das Individuum mit mehrfachen Brüchen und Abweichungen in der Biographie zu einem Grenzgänger und Vermittler zwischen mehreren Kulturräumen entwickelt. Trotzdem sind in den Texten auch Merkmale des bürgerlichen Bildungsromans vorhanden wie die Schilderungen einer idyllischen Kindheit oder eines früheren Kunstkontaktes. Wie im Haupttext dieser Arbeit belegt wird, ist dies auch für Lotars Romane zutreffend (Schahadat 2016). 80 Das Konzept der Erinnerungsorte stammt von dem Historiker Pierre Nora und bezieht sich auf Kristallisationspunkte des kollektiven Gedächtnisses einer bestimmten sozialen (früher nationalen) Gruppe. 81 Ein Beispiel dafür: „Die Froschperspektive, aus der ein Schauspieler in einer kleinen Stadt wie durch ein Fernrohr im Kosmos eine Welttragödie verfolgt, hat auch ihr Gegenstück. Das globale Drama wirkt wie durch ein Brennglas auf jedes der ameisengleich tätigen, kämpfenden, flüchtenden, sich verbergenden und dennoch sterbenden, ‚Mensch‘ genannten Lebewesen.“ (Land 153)

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bensrollen außerhalb gründet auf der theologischen Ansicht, nach der Gott den Menschen ihre Rollen auf Erden zuweist und das Geschehen beobachtet. Gegenstand des ersten Teilkapitels ist der individuelle Selbstentwurf der multinationalen Identitätskonstruktion und dessen literarische Darstellung. Die Untersuchung der transkulturellen Geschichte der multiethnischen tschechoslowakischen Gesellschaft konzentriert sich auf einen Repräsentanten der in diesem Diskurs noch nicht systematisch untersuchten Berufsgruppe der Schauspieler, wobei die Schauspieler als Akteure der Mobilität ebenfalls zu den Grenzgängern und bedeutenden Kulturvermittlern gehörten. Nach Kateřina Čapková und Ines Koeltzsch werden nationale Identitäten eher durch individuelle soziale Kontakte und Kontexte geprägt als durch die allgemeinen Einflüsse des öffentlichen Lebens.82 Das zweite Teilkapitel widmet sich der Suche nach Gott, die mit dem Bedürfnis des jungen Menschen nach Orientierung und der Auseinandersetzung mit der Familientradition beginnt: Marek hat einen säkularisierten Vater, der nur an Fortschritt und menschliche Vernunft glaubte, und eine christliche Mutter, die ihn konfirmieren ließ. Die mit tiefgehenden Schuldgefühlen sowie mit Heimat- und Familienverlust verbundene existenzielle Erfahrung des Exildaseins führt zur Sehnsucht nach einer neuen Verankerung, Sicherheit und vor allem Hoffnung. Die Exilerfahrung ist jeweils durch die Lebensumstände des Exillandes, etwa durch die Möglichkeit der weiteren Berufsausübung geprägt. Der methodische Ansatz über die Wahrnehmung und Auffassung der Schauspielerarbeit unterstützt die Annahme, dass über die Arbeit an Rollen religiöse Identität formiert werden kann. Die Tatsache, dass praktizierte Religiosität ein fester Bestandteil des bürgerlichen Lebens war, ruft vor dem Hintergrund von Mareks Familiengeschichte ein Interesse an den Fragen hervor, ob die Darstellungen des Schauspielerberufs bürgerliche oder unbürgerliche Aspekte aufweisen und welche Rolle der Glaube dabei einnimmt. Das Theater, das in spielerischer Umkehrung der aus der Barockzeit stammenden Metapher der ‚Welt als Theater‘ nun unter politischem Aspekt als ‚Welt im Kleinen‘ dargestellt wird, bildet den Gegenstand des dritten Teilkapitels. Die durchgängige Gegenüberstellung der beiden konträren politischen Richtungen lässt beide als gefährlich und mächtig erscheinen. Die persönliche Formierung von Mareks politischer Haltung, die sich durch das und am Theater vollzieht, wird von Gedanken zur Weltsituation begleitet sowie von Reflexionen über den rechts oder links orientierten Extremismus und die sich 82 Ines Koeltzsch und Kateřina Čapková vertreten in ihren Publikationen ‚das Konzept der situativen Ethnizität‘, das den Charakter der Kollektive relational bedingt und kontextabhängig bestimmt (Koeltzsch 2012; Čapková 2005).

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vertiefende politische Spaltung Mitteleuropas. Mareks Selbstcharakterisierung als Antiheld wird der Darstellung seines Handelns und Verhaltens in der Öffentlichkeit und im Privatleben gegenübergestellt.

3.1 Theater als Verhandlungsort nationaler Identität Die tragische Geschichte der vornehmen Familie Truntschka, die direkt von den politischen und kulturgesellschaftlichen Ereignissen in der Zwischenkriegszeit betroffen war, steht zugleich symbolisch für den Verfall der multikulturellen Großstadt Prag. Bereits der Titel Eine Krähe war mit mir, übernommen aus einem Lied Franz Schuberts,83 verspricht kein gutes Ende. Das konflikthafte Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen, das Lotar vor dem gemeinsamen geschichtlichen Hintergrund reflektiert, eskalierte nach der Besetzung des Sudetenlandes durch das nationalsozialistische Deutschland. Der Roman Eine Krähe war mit mir erweiterte die Reihe der Erinnerungsliteratur, die auf der individuellen Erfahrungsebene nationale, kulturelle und soziale Identitätskonstruktionen widerspiegelt und zugleich widersprüchliche Deutungen des tschechisch-deutsch-jüdischen Beziehungsgeflechts bietet.84 Im Jahre 1918 war Prag zur Hauptstadt des neu gegründeten tschechoslowakischen Staates geworden, in dem bis zur Errichtung des Protektorats im Jahre 1939 allmählich demokratische Prozesse etabliert wurden. Prag war, traditionell und historisch bedingt, eine multikulturelle und multiethnische Stadt, deren spezifischer Charakter durch die Existenz von drei mit-, neben-, gegeneinander lebenden Sprach- und Kulturräumen (des tschechischen, deutschen und jüdischen Kulturraumes) mit eigenen Traditionen, „Mischungen, Doppelungen und Interferenzen“ (Demetz 2016: 7) geprägt war. In literarischen Texten wurde sie oft mit Attributen wie mystisch, magisch, legendär und widersprüchlich versehen. Der sogenannte Prag-Text, in dem Prag als Stadt ‚dreier Kulturen‘, als ‚Dreivölkerstadt‘ oder ‚Tripolis‘ imaginiert wird,85 verfolgt zwei antagonistische Narrative und bedient sich in der Darstellung der multiethnischen Großstadt vielfältiger metaphorischer Bezeichnungen, 83 Das Zitat entstammt dem im Jahre 1827 komponierten Liederzyklus Winterreise. 84 Vgl. Schauspielerautobiographien von Klinger (1992); Ehre (1985); Reichert (1986). Eine aufschlussreiche Autobiographie ist außerdem von Flusser (1992). 85 Den Prager Text formuliert Susanne Fritz „als die Summe aller Aussagen, die in der Kunst über die jeweilige Stadt getroffen werden.“ (Fritz 2005: 16)

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die Ines Koeltzsch in ihrem Buch über die deutsch-tschechisch-jüdischen Beziehungen in Prag 1918–1938 zusammenfasst: Die Texte sind reich an Metaphern, die zwischen einer positiven und negativen Überhöhung der Stadt changieren. Oft ist in ein- und demselben Text sowohl von den ‚Brücken‘, der ‚Symbiose‘, ‚Durchdringung‘ oder ‚Befruchtung‘ als auch von den ‚(chinesischen) Mauern‘, ‚der Trennung‘, der ‚Abkapselung‘, der ‚Isolation‘, dem ‚Ghetto‘, der ‚Insel‘ oder der ‚Kolonie‘ die Rede. Die Autoren beschreiben einerseits die Nähe im Alltag, andererseits betonen sie die Separation im politischen und gesellschaftlichen Leben der Stadt. (­Koeltzsch 2012: 3)86

Das in den Mittelpunkt des Interesses gerückte soziale Gefüge, das durch die national-sprachliche und ethnisch-kulturelle Opposition bestimmt ist, bildet das Organisationsprinzip sowohl der Raumstruktur des historischen Prags als auch der Komposition des Romans Eine Krähe war mit mir. Die deutsch-tschechische Dichotomie wird im öffentlichen wie im privaten Bereich dargestellt. Für die Untersuchungen der Darstellung von Mareks Identitätskonstruktionen gilt wiederum diejenige These, die von der interaktiven Stadtgeschichte ausgeht und die Stadt als einen Vermittlungsraum betrachtet, in dem die Akteure unterschiedlicher kultureller, sozialer und sprachlicher Zugehörigkeiten ihre Identitäten durch direkte und indirekte Interaktionsprozesse immer wieder aufs Neue verhandeln (Koeltzsch 2012: 16). Bezüglich der Identitätsdefinition ist auch bei Marek die individuelle Umwandlung der nationalen Identität im Laufe des Lebens zu beobachten. Im Roman Eine Krähe war mit mir wird die Grenze zwischen den Kulturräumen als ‚unsichtbare Mauer‘, ‚Wand‘, ‚Fluss‘ oder als ‚Graben‘ angesprochen. In Prag gab’s eine Mauer, unsichtbar, darum unüberwindlich. Sie machte aus einer einzigen Stadt zwei Welten verschiedenen Namens, Prag und Praha. Für jede von ihnen war jenseits die andere Hälfte des Mondes, eisige Finsternis. (Krähe 79)

Mit solchen Metaphern verbinden sich die entsprechenden Verben: nicht ‚überschreiten‘ oder ‚überqueren‘, sondern ‚überwinden‘, ‚kämpfen‘ und ‚springen‘.87 Mauer, Wand und Fluss sind Hindernisse von eindeutig trennendem Charakter, ohne jegliche verbindende Qualität. Das Überwinden einer realen Mauer verlangt vor allem körperliche Voraussetzungen; auf der abstrakten Ebene kann solch ein unsichtbares Hindernis nur von einem 86 Die Monographie von Koeltzsch führt ein umfangreiches Verzeichnis der essayistischen Beiträge sowie der Forschungsliteratur über Prag an. (Koeltzsch 2012: 1–27) – Aus den neueren Veröffentlichungen ist zu erwähnen: Becher/Höhne (2017); Lahl (2014); Schneider (2009). Bedeutend war auch der Ausstellungskatalog von Schmitz/Udolph (2001). 87 Das Thema bearbeitete Lotar (1985) in seinem essayistischen Text Die Mauer ging mitten durch mich.

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Menschen bezwungen werden, der bereit und offen ist, eigene Vorurteile abzubauen. Das Zusammenleben beider Nationen wird nicht als idyllisch betrachtet und es ist auch keine Rede von einer friedlichen Symbiose oder Bemühungen in dieser Richtung: Denn undurchdringlich schien die unsichtbare Mauer des Mißtrauens, des Hasses zwischen Deutschen und Tschechen. Man kannte sich kaum, wollte es auch gar nicht. Welcher Tscheche ging ins Deutsche Theater, welcher Deutsche ins tschechische Nationaltheater; nur nicht als Renegat verschrien zu werden. (Krähe 60)

Die Stadt selbst ist ebenfalls territorial getrennt: Die gewaltsame Wegnahme des Landestheaters hatte den Graben zwischen Tschechen und Deutschen noch vertieft. […] Ist der Graben mit dem Kasino und ‚Café Continental‘ die Domäne der Deutschen, so die ‚Narodní‘ mit dem ‚Nationaltheater‘ und ‚Café Slavia‘ das Reich der Tschechen. Die Einmündung des Wenzelsplatzes und die kurze Obstgasse trennen die Feinde […]. (Krähe 43 f.)88

Die Teilung der Stadt in zwei Bereiche ist nicht nur in der Welt der Erwachsenen manifest, auch die Kinder haben sich bereits Hass und Vorurteile angeeignet: Marek schienen die Tschechen etwas Unheimliches, plebejisch Bedrohliches. Die gehässigen Kämpfe der Großen hatten ihre Entsprechung bei den Kleinen und Kleinsten. Schon als Knirps, im vertrauten Stadtpark, der Domäne der deutschen Kinder, erlebte er auf dem Spielplatz, wie vom großen Rieger-Park her, dem Feldlager der tschechischen Jugend, kriegsmäßig organisierte Trupps von Buben einbrachen, mit hussitischer Begeisterung. Wollte man auf die deutschen ‚Jugendspiele‘, jenseits der Moldau, Fußball spielen, dann musste man sich in Gruppen zusammenschließen, um die Vorstadt Holeschowitz zu durchqueren. (Krähe 80)

Die jüdische Bevölkerung, die größtenteils zweisprachig war, wird mehr oder weniger aus diesem Konflikt im Roman ausgeschlossen. Mit dem Judentum setzt sich Marek nur vereinzelt durch individuelle Bekanntschaften und durch persönliche, familiäre Erfahrungen auseinander. Es wird ein Bild von Juden gezeichnet, die von allen Seiten angefeindet werden, wobei ihre enge und jahrhundertelange Anbindung an die Stadt- wie Kulturgeschichte betont wird. Den Juden werden unter anderem Rollen als Mäzene und Vermittler89 zwischen den Deutschen und Tschechen zugeschrieben:

88 Das Zitat dürfte auf Egon Erwin Kisch (1953: 95) zurückgehen. Vgl. auch Krolop (2005). 89 Das Bild entspricht den Forschungsergebnissen, dass „die Mehrheit der ‚vermittelnden‘ Schriftsteller, Übersetzer und Journalisten jüdischer Herkunft war.“ (Koeltzsch 2012: 21)

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Theater als Verhandlungsort von Identität ‚Sowas bringt nur der Maxl Taussig fertig, ein Jud, natürlich.‘ Verschmitzt sagten’s die einen, hämisch die anderen. Sie waren die Nutznießer und doch nicht fähig, die jüdischen Grenzgänger zu begreifen, deren Anliegen es war, Hohn und Anfeindungen zum Trotz, Mittler zu sein zwischen Deutschen und Tschechen. Vielleicht muss einem durch Jahrhunderte der Haß entgegengeweht haben, der Atem des Mordes, damit man Versöhnung bringen will, Frieden. (Krähe 61)

‚Die Mauer ging mitten durch mich‘ – die Hauptfigur Marek ist unfreiwillig und gewaltsam dem Druck der beiden oppositionellen Räume ausgesetzt, was sie als äußerst schmerzhaft empfindet (Krähe 81). Das Spannungsfeld, in dem Marek aufwächst, wird durch kontrastierende Figurenpaare gezeichnet. Illustriert wird das auch auf der Sprachebene: Das Prager Deutsch wird dem Prager Tschechisch, das jedoch seinerseits immer ins Deutsche übersetzt wird, gegenübergestellt.90 Für das Deutschtum in der Familie stehen der nostalgische Vater und die verklemmte preußische Erzieherin. Die deutsche Welt wird durch den Namen Prag signalisiert und verbindet sich vor allem mit dem Element des Männlichen. Im starren Wesen des Vaters wird diese Welt als streng, gehemmt, traditionsverhaftet und teilweise langweilig charakterisiert. Die tschechische Welt wird schon durch den Namen der Stadt – Praha –, der im Tschechischen weiblichen Geschlechts ist, mit dem Element des Weiblichen konnotiert. Diese Welt wird so auch durch die Mutter und die Köchin der Familie symbolisiert, die als Gegenpart von Vater und Erzieherin verstanden werden können. Zusätzlich wird sie durch Mareks beste Freundin Pavlitschka und die Schauspielkollegin Olga Scheinpflugová in den Rollen der Begleiterinnen und Beschützerinnen verkörpert. Praha erscheint als üppige, spontane, offene Stadt, in der viel gelacht und in der eine dynamische, überströmende slawische Lebensfreude gelebt wird. Im kulturellen Kontext kommen typische Personalisierungen zum Tragen. Mit Jaroslav Hašeks Bravem Soldaten Schwejk – eng mit dem Stereotyp der tschechischen Verschmitztheit verbunden – ist die tschechische literarische Tradition vertreten. Der Schriftsteller Karel Čapek ist wiederum Vertreter einer demokratisch und politisch engagierten Strömung. Aus der deutschen Tradition sind Namen wie Rainer Maria Rilke, Franz Werfel und Johann Wolfgang von Goethe vertreten, die als Repräsentanten des hohen deutschen Geistes kanonisiert wurden. Besonders bei der Darstellung nationalistisch geprägter Kämpfe wird prinzipiell auf die gemeinsame Geschichte verwiesen, um einerseits die Sinnlosigkeit der Auseinandersetzungen aufzuzeigen und 90 Z. B.: „Počkej, já z tebe udělám zas pražského Pepíka. – Wart nur, ich mach’ wieder einen Prager Pepi aus dir!“ (Krähe 147)

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andererseits nach ihren Wurzeln zu suchen. Entsprechend werden für Marek viele Orte in Prag, die klassischerweise national tschechisch konnotiert sind, zu einem Symbol für beide Kulturen. Die typologisch unterschiedlichen Erinnerungsorte (Persönlichkeiten, Orte, Jubiläen, Mythen, Ereignisse) übernehmen mehrere Funktionen in beiden Romanen. Zum einen bilden sie den kulturgeschichtlichen Hintergrund, vor dem sich der Verfall der multikulturellen und -nationalen Gesellschaft abspielt, zum anderen dienen sie zur Festigung der inneren Stabilität bei der Suche nach Heimat. Truntschkas tragische Familiengeschichte wird nicht nur mit dem Fokus auf die deutsch-tschechische Dichotomie am Vorabend des Krieges erzählt. Spezielles Augenmerk wird auf die künstlerischen Neigungen der Familienmitglieder und deren Einfluss auf Mareks Entscheidung, Schauspieler zu werden, gelegt. Die Familie Truntschka besitzt eine ambivalente Beziehung zum Theater. Der Vater gab seine Opernsängerkarriere wegen des Familienbetriebs auf und trägt den Gram über dieses Opfer mit sich. Trotz seiner Verbitterung wendet er sich jedoch nicht vom Theater ab. Mehr noch, mit Nachdruck fördert er bei seinen Kindern ein Interesse für die dramatische Kunst. Zu Hause wird gesungen. Besuche des deutschen Theaters gehören zum festen Familienprogramm. Das Neue Deutsche Theater wird gar als „das eigentliche Zuhause der Familie“ (Krähe 57) bezeichnet und damit der Villa in Vysočany (Wysotschan), genannt Schlösschen, gleichgestellt. Für den Vater, Vertreter einer der wohlhabendsten bürgerlichen Familien Prags, steht das Theater für seine leidenschaftliche Liebe zur Kunst und zugleich für sein Deutschtum, seine nationale Zugehörigkeit. Vor allem bei Marek entwickelt sich allmählich ein starkes Interesse am Schauspiel, jedoch auch am tschechischen. Die Auseinandersetzung mit dem deutschen und tschechischen Umfeld nicht nur in der privaten, sondern auch in der öffentlichen Sphäre erfolgt für Marek gerade durch das Theater, am Theater und im Theater. Es fungiert für ihn als transkultureller Zwischenraum zum Aushandeln nationaler Identität. In Prag lernt er die bedeutendsten deutschsprachigen Schauspieler seiner Zeit wie den Expressionisten Ernst Deutsch kennen. Seine Freundin, die tschechische Schauspielerin Pawlitschka bringt ihn ins Nationaltheater. Auf der Avantgarde-Bühne, wo sie ihn mit den Schauspielern Jiří Voskovec und Jan Werich bekannt macht, wird ihm die soziale Bedeutung des Theaters bewusst, was ihn in dem Entschluss bestärkt, Schauspieler zu werden. Seine Mutter organisiert daraufhin in der Überzeugung, dass ihr Mann seinen Traum im Sohn erfüllen könne (Krähe 97), für Marek ein Vorsprechen bei Franz Werfel und Ernst Deutsch. Obwohl Marek dabei nicht überzeugen kann, bekommt er eine Einladung nach Berlin zu den Aufnahmeprüfungen

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an Max Reinhardts Schauspielschule. Von Anfang an formuliert Marek für sich den Sinn der Kunst: Ja, in jenem frühen Jahre 1927 hoffte man noch auf den Fortschritt der Vernunft, der Toleranz, des Friedens. War auch dies nur Narretei? Es war dieser Glaube an die Sendung der Kunst, durch den Marek seine Zweifel überwand. In ihm erwachte der Drang zur Selbstverwirklichung des Künstlers durch das Kunstwerk, das wiederum anderen zu sich selbst verhilft, zur Freiheit des Geistes. (Krähe 92)

Mareks daraus abgeleitetes Selbstverständnis als Grenzgänger und Vermittler zwischen diesen beiden Welten zeigt sich unter anderem darin, dass er sowohl die deutsche als auch die tschechische Schule besucht und beide Sprachen beherrscht. Später wird die Grenzüberschreitung zum konkreten biographischen Faktum: Zur Schauspielausbildung geht er von Prag nach Berlin. Als die politische Lage dort unerträglich wird, kehrt er nach einem Zwischenstopp in Breslau nach Prag zurück und bekommt ein Engagement an einem der wichtigsten tschechischen Theater. Die einwandfreie Beherrschung der tschechischen Sprache ermöglicht Marek eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der tschechischen Kultur und Mentalität. Dadurch erkennt er die Sinnlosigkeit gegenseitigen Hasses, Misstrauens, von Vorurteilen und Gleichgültigkeit. Er wehrt sich dagegen, die Trennlinie zwischen den Nationen zu akzeptieren und zu kultivieren. Marek vertritt eine fruchtbare kulturelle Symbiose, die auf Toleranz, Versöhnung und Menschenliebe beruht. Er verkörpert den gleichberechtigten Zugriff auf die jeweils besseren Seiten der Geschichte und Kulturtraditionen beider Nationen. Seine Kräfte und Bestrebungen richtet er darauf, Brücken zu bauen, Mauern niederzureißen oder Breschen zu schlagen. Marek versucht, die Feindseligkeit zwischen den beiden Kulturwelten auf der Theaterbühne – das heißt, durch die kulturelle Institution und durch den Raum des Wortes bzw. der Sprache – zu überwinden. Das Theater mit seiner verbindenden Qualität soll als transkultureller Zwischenraum fungieren. Im Theater soll es zu einer wirklichen Zusammenarbeit bzw. zu einem Aufeinandertreffen ohne den „Albdruck der Zwietracht“ (Krähe 61) kommen, der sowohl seine Familie als auch die Öffentlichkeit prägt. Drei Beispiele sollen das verdeutlichen: 1) Bei einer Aufführung im Deutschen Haus muss einmal ein tschechischer Sänger spontan für einen deutschen einspringen. 2) Als Marek in seiner ersten Rolle im Nationaltheater unter der Regie von Karel Hilar91 gastiert, stellt er fest: 91 Der Vergleich von Hilar mit Reinhardt wurde nicht vermieden: „Der Chef: das ist K. H. Hilar. Was Reinhardt für Berlin, das ist er für Prag. […] Reinhardt? Nein, kein Feldherrenblick, keine mythische Aura. Schräg gestellte Augen, alles wie verrutscht in diesem Satyrgesicht, eine weinende und lachende Maske ineinandergeflossen.“ (Krähe 155)

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Sie [die Köchin – Anm. der Autorin] scheint die absurde Situation zu genießen. Da sitzt in dem ehemals deutschen, heute tschechischen Theater, eine deutsche Familie mit dem urtschechischen Namen Truntschka, und die böhmische Köchin im Nationalkostüm nimmt den Erfolg in Anspruch, der errungen wird vom Sohn eines Erzdeutschen. Das ist Prag: die Frucht des Widerspruchs. (Krähe 158)

3) Es kommt zu einer von tschechischen und deutschen Künstlern gemeinsam erarbeiteten Theatervorstellung: Čech a Němec – Tscheche und Deutscher. […] Die erste Aufführung, eine Nachtvorstellung, fand im Ständetheater statt, auf der Bühne also, deren gewaltsame Wegnahme die Deutschen nie verwunden hatten. Das erste Mal seitdem standen dort wieder deutsche Schauspieler, zusammen mit denen, die als ihre Feinde galten, und es waren die Tschechen, die in diesem Hause deutsch sprachen. In der Loge applaudierte der Präsident der Republik. (Krähe 205)

Marek Truntschka tritt als Typ eines demokratischen Intellektuellen auf, wie er bei vielen deutschsprachigen Schriftstellern dieser Zeit begegnet. So schreibt der tschechoslowakische Germanist Eduard Goldstücker im Vorwort zu Max Brods Prager Kreis: V  době Brodova dospívání si Království české vysloužilo pochybný titul klasické země národních bojů. Zatímco mnozí z literární generace těsně předcházející zaujímali jak na německé, tak na české straně stanovisko militantního nacionalizmu, propracovalo se Brodovo mladší pokolení k neutrálnímu postoji v národních šarvátkách a začalo k sobě nacházet cestu z obou stran dělící čáry. (Goldstücker 1993: 9) [In der Zeit von Brods Heranwachsen verdiente das Böhmische Königreich den fragwürdigen Titel eines klassischen Landes der Nationalkämpfe. Während viele von der vorangehenden Literaturgeneration sowohl auf der deutschen als auch auf der tschechischen Seite die Einstellung des militanten Nationalismus eingenommen hatten, erarbeitete sich die Brod’sche jüngere Generation eine neutrale Stellungnahme im Nationalstreit und begann den Weg zueinander von beiden Seiten der Trennlinie zu finden.]

Einzelnen Persönlichkeiten der durchaus heterogenen Gruppe kultureller Vermittler, von Goldstücker als „Inbegriff einer humanistischen Haltung“ (Weinberg 2014) verstanden, in der vor allem die jüdischen Intellektuellen überwogen, widmet Ines Koeltzsch ein separates Kapitel in ihrem Buch. Obwohl die Vermittler sich sehr für einen kulturellen Austausch engagierten, konnten sie „die nationalistischen Diskurse und politischen Machtverhältnisse ihrer Zeit nur bedingt [...] transzendieren.“ (Koeltzsch 2012: 251) Dennoch sind ihre Aktivitäten von großer Bedeutung für das gesamte kulturelle und gesellschaftspolitische Umfeld. Konstitutiv für die oben genannten Trennlinien in Lotars Roman waren die entgegengesetzten politischen Ideologien. Nun trennten die Mauern nicht einzelne kulturelle Welten, sondern gingen mitten durch die Nationen und

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grenzten die demokratisch Denkenden von den Faschisten ab. Der Sieg der letzteren bedeutete den tragischen und endgültigen Untergang des multikulturellen Prags. Damit scheitern im Roman endgültig Mareks Vermittlungsaktivitäten. Er steht eindeutig auf der Seite „des kleinen durch Jahrhunderte überwältigten Volks“ (Krähe 222).92 Er meldet sich beim tschechischen Rundfunk und übersetzt die Nachrichten je nach Bedarf ins Tschechische, Deutsche, Französische und Englische.93 Im Figurenensemble des Romans treten nun die Repräsentanten der deutschen Seite mit ihren unterschiedlichen Haltungen in den Vordergrund, die sich unter den ändernden Umständen neu formen. Marek wird der lebenslange Gegner Fleischer, ein fanatischer Anhänger der SS, gegenübergestellt, der ihn für einen Überläufer und Verräter hält. Fleischer stammt aus einer sozial schwächeren deutschen Familie, die in einem industriellen Teil Prags unter „jüdischer Herrschaft“ (Krähe 186) arbeitet und lebt. In diesem Zusammenhang wird die Frage nach der Determinierung eines Individuums durch das dominante soziale Umfeld explizit thematisiert. Obwohl der Einzelne natürlich von seiner Umwelt beeinflusst wird, liegt die Entscheidung – und damit auch die Verantwortung –, welches politische Profil er unterstützt, laut Lotar, letztendlich bei ihm selbst und nicht bei der Gesellschaft. Mareks Vater wiederum, der aus einer wohlhabenden österreichischen Familie stammende Siegmund Truntschka, setzt sich im Protektorat grundsätzlich mit seinem Deutschtum und seiner jüdischen Herkunft auseinander, was ihn zu einigen unfreiwilligen Umwertungen zwingt. Er wird als eleganter, gerechter, ehrlicher Mann und Familienvater dargestellt, der sich im Deutschen Haus engagiert und eine Schwäche für das Theater und die Oper hat. Die Hinwendung seines Sohnes zur tschechischen Welt duldet er nur wegen dessen Bühnenkarriere. Unter dem Druck der ökonomischen und politischen Entwicklungen, die sowohl seinen Glauben an die deutsche Idee und die 92 Der Begriff der ‚kleinen Nation‘ gehört zu der zentralen Wahrnehmung in Masaryks geopolitischem Konzept Mitteleuropas als Raum der kleineren und nationalgemischten Staaten. Das Autostereotyp der kleinen Nation war jedoch von Anfang an wichtig für die tschechische nationale Bewegung. Näheres: Holý (2010). – Im Roman wird die nationale Identität der kleinen Nation über die Musik und Sprache gebildet: „Marek fing an zu begreifen, was in all den Jahrhunderten, da die Tschechen ihr Schicksal nicht selbst zu bestimmen vermochten, die Substanz des Volkes bewahrte: seine Musik und Sprache.“ (Krähe 90) Hier könnten auch Werfels Essays (Das Geschenk der Tschechen an Europa, Die kulturelle Einheit Böhmens) ein Vorbild sein (Werfel 1975). 93 „[Marek] war glücklich, der guten Sache dienen zu dürfen, nicht nur als Sachwalter der Tschechen. […] Für Verständigung und Gerechtigkeit hoffte er einzustehen.“ (Krähe 252)

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deutschen Werte erschüttern als auch sein Vermögen ruinieren, begeht er mit seiner Frau Selbstmord. Aber das, was in Deutschland vor sich ging, vermochte er nicht in Humor umzusetzen, denn Deutscher war er nach der Wahl seines Herzens. Der Verfall des deutschen Geistes erschütterte Siegmunds existentielles Fundament. (Krähe 188)

Die Ende der 1930er-Jahre vom Nationalsozialismus diktierten ideologischen Grenzen, die sukzessiv und gewaltsam auch zu neuen geographischen Grenzen führen sollten, bringen für Marek eine neue Raumaufteilung mit der Zentralopposition offen – geschlossen mit sich,94 was ebenfalls einen dynamischen Rollenwechsel beider Räume bedeutet. Infolge der zunehmenden Repressionen im Protektorat Böhmen und Mähren verliert die Stadt für ihn die Merkmale, die einen geschlossenen Raum ausmachen: Prag stellt für ihn kein sicheres Zuhause mehr dar; Marek verliert nahezu seine ganze Familie (Selbstmord seiner Eltern, endgültiger Weggang seiner Schwester ins Ausland). Aufgrund seiner politischen Aktivitäten und jüdischen Wurzeln ist sein Leben bedroht und er kann sich nur durch die Flucht retten. Der Roman endet mit dem Überschreiten einer territorialen Grenze, der Staatsgrenze zur Schweiz, wo er nicht nur eine Zuflucht, sondern eine neue Heimat sucht. Mit der Heimatlosigkeit der Exilanten und ihrer nostalgischen Überhöhung der verlassenen Heimat sind die Hoffnungen auf eine Rückkehr verbunden, die oft misslingt.95 Indem Marek die neue Machtaufteilung in Europa reflektiert, wird die Vorahnung unheilvoller Konsequenzen im Gegensatz zur Euphorie der Mehrheit offen ausgesprochen. Die Politik verschlingt erneut das ganze Leben. Unmittelbar nach Kriegsende fährt Marek mit seinem ehemaligen Schauspielkollegen Vládja per Taxi über Deutschland nach Prag zurück. Die Vorfreude wird schon dadurch getrübt, dass er seine deutsche Freundin aufgrund der angespannten Beziehungen zwischen den Tschechen und Deutschen schweren Herzens nicht mitgenommen hat. Die verwüstete Landschaft, die er auf dem Weg sieht, Städte in Trümmern, erneute Gewalt und Demütigungen, bescheren ihm ein böses Erwachen. Aus seiner Sicht gibt es keine Sieger, sondern nur Verlierer. In Prag erwartet ihn eine weitere Ernüchterung. Er erlebt das definitive Ende des multikulturellen Zusammenlebens: 94 „Der geschlossene Raum, im Text unter verschiedenen vertrauten Bildern wie Haus, Stadt, Heimat vertreten und mit bestimmten Merkmalen ausgestattet wie: ‚heimisch‘, ‚warm‘, ‚sicher‘ – steht dem ‚äusseren‘ Raum gegenüber und dessen Merkmalen: ‚fremd‘, ‚feindlich‘, ‚kalt‘.“ (Lotman 1972: 327) 95 Die Rückkehrthematik gehört auch zu den Schwerpunkten der Exilforschung. Vgl. dazu das Kapitel in Seifener (2005: 331–371); Strelka (1983: 51–66).

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Theater als Verhandlungsort von Identität Wo sind unsere deutschen Mitbürger? Seit siebenhundert Jahren haben sie mit uns gelebt, mitgewirkt an den Herrlichkeiten dieser Stadt. Noch hat man sie nicht fortgeschafft. Wo sind sie? ‚Im KZ‘, sagt man mir. ‚Sie haben das ja erfunden. Für uns. Jetzt sind sie an der Reihe.‘ […] ‚Haben wir dafür gekämpft, für das Gesetz der Rache?‘ ‚Nicht wir‘, ist die Antwort, ‚haben den Felsblock in Bewegung gesetzt, der jetzt zu Tal stürzt. Wir müssen warten, bis der Staub sich verzieht.‘ (Land 195 f.)

Die neue Trennlinie, die durch Prag sowie die ganze Tschechoslowakei geht, scheidet diejenigen, die trotz der Kriegsverbrechen den Deutschen keine kollektive Schuld zuschreiben, die human und demokratisch gesinnt bleiben, von denjenigen, die in der Euphorie der Machtergreifung unter der Führung der Kommunistischen Partei mit den gleichen Waffen kämpfen und den „Kreislauf des Hasses“ (Land 199) fortsetzen. Die Antwort auf die Frage, woher die Gewalt kommt, sucht Marek wieder in der Geschichte und wendet sich Gedächtnisorten zu, die für ihn jedoch nicht von nationaler Qualität, sondern mit bestimmten Werten und Ideen aufgeladen sind. Die von Karl IV. gebaute Karlsbrücke mit ihren Statuen erinnert Marek an dessen Gedankengut, das seit dem Bau der Brücke kontinuierlich ‚zertreten‘ wurde: Wir haben sein Vermächtnis verraten, wir alle, immer wieder. Sein Welttraum von der Einheit des Wissens, des Glaubens, des Reiches erstickte in nationalem und religiösem Hader. (Land 188)

Die Brücke hat für Marek durch ihre verbindende Qualität eine starke symbolische Kraft, auch dadurch, dass sie die Stadt mit der Burg verbindet, wo die Könige, Kaiser, Präsidenten regierten. Von den Statuen auf der Brücke ist Marek vor allem von der Persönlichkeit des Johannes Nepomuk fasziniert, die nicht nur in der tschechischen Geschichte von Bedeutung ist. An seinem Charakter könnte sich auch eine neue kollektive Identität orientieren: Das Schweigen überdauert die Lüge, seine Wahrheit ist wortlos, darum nicht zu widerlegen. Im Tod wird der Schweiger unbesiegbar. In dir überlebt unsere Hoffnung, unser Mut, unser Glaube. (Land 193)

Sein Misstrauen der kommunistischen Ideologie gegenüber und seine Kritik an den Schauprozessen in der UdSSR in den 30er-Jahren spricht Marek bereits im ersten Band aus, als er die Anmeldung für die Partei ablehnt. In der Nachkriegsentwicklung hin zum Kommunismus und mit der Orientierung der Tschechoslowakei an der Sowjetunion sah er eindeutig neue undemokratische Tendenzen. Unterstützt von seinem Bruder entscheidet er sich dafür, die Tschechoslowakei endgültig zu verlassen und in die Schweiz zurückzukehren.

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Was für ein Haus? Ob es Teufel mit schwarzem oder rotem Fell sind, ob sie das Hakenkreuz oder Sichel und Hammer schwingen und ob des Teufels Grossmutter in Berlin sitzt oder in Moskau – Hölle bleibt Hölle. (Land 205)

Wenn im ersten Band das multikulturelle Prag am Schicksal der Familie Truntschka vorgestellt wird, werden im zweiten Band die politischen Verhältnisse in der Tschechoslowakei nach Kriegsende über die Machtübernahme der kommunistischen Partei im Februar 1948 hinweg bis zum sog. Prager Frühling exemplarisch am Schicksal Vládjas und seiner Familie, die Marek noch aus dem Schweizer Exil sehr gut kennt, dargestellt. Obwohl Marek Vládja als Theatermenschen schätzt, haben sie sehr unterschiedliche Überzeugungen und bewerten die politische Situation grundlegend anders. Vládja präsentiert den Typ des überzeugten kommunistischen Künstlers, der zur Zeit des Nationalsozialismus gemeinsam mit seiner Frau seine Heimat verlassen musste. Nach der Rückkehr aus dem Exil wird er zu einem mächtigen Funktionär, der in den Schauprozessen der 50er-Jahre zum Tode verurteilt und während des Tauwetters in den 60er-Jahren posthum wieder rehabilitiert wird. Der erzählerische Fokus wird auf seinen Sohn Jirka gerichtet, der die jüngere Generation repräsentiert. Diese muss sich mit der Geschichte und vor allem mit der Lüge auseinandersetzen, auf der sie ihre Identität aufbaute. Jirka ist eine von den typischen jungen Figuren in Lotars Werk, die diesen Prozess durchmachen müssen, aber die Wahrheit nicht immer verkraften. Jirka spürt die Mitverantwortung am Tod seines Vaters. Unter dem Einfluss seiner Mutter, einer eingefleischten Kommunistin, fordert er vor Gericht das Todesurteil für seinen Vater. Im Jahre 1968 emigriert er aus der Tschechoslowakei in die Schweiz, wo er in Zürich bei einer Protestveranstaltung gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes Marek begegnet. Diesmal ist Marek derjenige, der versucht, jemandem seine Wahrheit zu offenbaren. Er führt eine Parallele zwischen ihren Schuldgefühlen an, versucht, Jirka seine Idee von Heimat zu vermitteln, die auf einem Bild der Menschlichkeit aufbaut, und dadurch letztlich beiden die Hoffnung auf Erlösung schenken soll. Der junge, an der Wahrheit zerbrochene Mensch, der durch eine väterliche Figur gefördert wird, gehört zu Lotars grundsätzlichen Figurenkonstellationen, die sich in seinem dramatischen Werk wiederholen.

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3.2 Theater als Verhandlungsort religiöser Identität Das Ringen um die jüdische Herkunft und seine entschlossene Gottessuche verlaufen bei der Hauptfigur Marek in beiden Romanen am und im Theater. Der innerliche Prozess der religiösen Bekehrung wird bedeutend durch die existenziellen Erlebnisse geprägt – den Tod seiner Eltern und die Exil­erfahrung. Als er die Rolle des Judas für die Passionsspiele einstudiert – noch am Stadttheater in den Königlichen Weinbergen in Prag, das im ersten Roman geschildert wird (Krähe 193–199) –, setzt bei Marek durch intensive Bibellektüre eine erste Auseinandersetzung mit der jüdischen Familientradition ein, die in einem tiefsinnigen Selbsterkennungsprozess resultiert. Die Rollenauffassung wird auf der einen Seite wahrgenommen als „die totale Entleerung des Schauspielers, der geboren hat für andere, etwas, von dem ihm selbst nichts mehr bleibt als Erschöpfung und schale Vergänglichkeit.“ (Krähe 159) Und auf der anderen als „das Mysterium der künstlerischen Transsubstantiation. Die private Schranke des Ich war gefallen, nun war er Judas, der Jesus folgte, Schritt für Schritt.“ (Krähe 199) In beiden Romanen wird die Relevanz der Arbeit an Rollen bei der persönlichen Identitätskonstruktion von Schauspielern hervorgehoben, wie dies auch Katharina Wessely feststellt: Denn Schauspieler_innen definieren sich ganz wesentlich über ihre Arbeit. […] Persönlichkeitsentwicklung und Karriere gehen gleichsam natürlich miteinander einher. Die Arbeit am Selbst ist untrennbar mit der Arbeit an der nächsten Rolle verbunden, strukturell sind Arbeit und Nicht-Arbeit kaum voneinander zu unterscheiden. (Wessely 2018: 55 f.)

Bei Marek durchdringen sich die Rollen im Leben und am Theater. Durch die Verkörperung von Judas kommt er zu einer wichtigen Erkenntnis, die für ihn auch während des Exildaseins wesentliche Konsequenzen hat: Wer vordringt zum Verständnis des Schuldigen, kommt zur Frage, was ihn dazu gemacht hat. Wie, wenn es der selbstgerecht Gute war, vielleicht man selbst? Wer ehrlich ist, entdeckt in sich nicht nur die Möglichkeit, er könne gleiches begehen, er fühlt, dass er letztlich teilhat an jeglicher Schuld. (Krähe 199)

Das Exil wird als existenzieller Bruch in der biographischen bzw. beruflichen Kontinuität verstanden. Für die künstlerischen Berufsgruppen, die stark an die Sprache gebunden sind (wie die Schauspielerei oder das Schriftstellertum), wurde die Ausübung des Berufs im Exil in vielen Fällen bedeutend eingeschränkt oder ganz verunmöglicht. Die „Wahrnehmung des Exils als Einschnitt“ und „die Gleichsetzung der Flucht ins Ausland mit dem Beginn eines neuen Lebens“ sind Bilder, die sich in autobiographischen Texten der

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meisten exilierten Schauspieler wiederholen, wie den Forschungsergebnissen von Christoph Seifener (2005: 105) zu entnehmen ist. Auch Lotar gehört zu den zahlreichen Schauspielern, für die das Exildasein das zentrale Thema ist.96 Der Titel des zweiten Romans Das Land, das ich dir zeige kündigt bereits an, dass die transzendente Aufarbeitung des Exils die zentrale Handlungslinie darstellt. Der Roman ist als offene Beichte eines Menschen konzipiert, der durch das Exil seine Heimat, seine Nächsten, Hoffnung und Sicherheit verliert, sich zum doppelten Schuldgefühl bekennt und eine innere Krise durchmacht, als er seine jüdische Herkunft leugnet. Marek Truntschka bietet einen Einblick in die tiefsten Ecken seiner Seele und in seine innersten Gedanken. Der biographische Bruch beeinflusst auch den äußeren Aufbau beider Bände. Mit der Flucht aus Prag endet der erste, mit der Ankunft in Basel beginnt der zweite Roman. Doch nicht nur die thematische Trennung ist damit verbunden. Der biographische Markstein wird auch auf der Erzähl- und Stilebene durch signifikante Änderungen im Vergleich zum ersten Roman Eine Krähe war mit mir gekennzeichnet.97 Während der Zugfahrt von Prag nach Basel wandelt sich der Er-Erzähler in den Ich-Erzähler. Dadurch ändert sich die Stellung des Erzählers zum Geschehen (Martínez/Scheffel 2005: 80–89). Den Erzählerwechsel begründet Lotar mit der Ausrichtung auf den Rezipienten, der sich mit dem Ich-Erzähler bzw. der sich erinnernden Erzählerinstanz identifizieren und auch das Erinnerte intensiver rezipieren kann (Gymnich 2003: 40–42; Adam 2005): Ein Ich-Roman. Das heisst, dass die Regeneration einer eigensüchtigen, hasserfüllten menschlichen Gesellschaft sich niemals nur durch Kritik am anderen bewerkstelligen lässt. Sie hat bei jedem von uns zu beginnen. Darum ist es die erste Aufgabe des Künstlers, sich selbst zu reinigen, damit die Wahrheit in seinem Werk unentstellt offenbar wird.98

Der Perspektivenwechsel ist durch die moralische Prämisse motiviert und hängt mit dem ganzen Charakter des zweiten Bandes zusammen. Die Tatsache, dass „eine aufklärerische Intention den größten Teil der Texte bestimmt, 96 „Von nun an war er gezeichnet, hatte sich ihm eine unauslöschliche Verantwortung eingebrannt: den Geist weiterzutragen und zu behaupten gegen die physische Gewalt. Die Flucht war zu einem Aufbruch geworden. Nie träge werden, nie mit sich selbst zufrieden sein, nie aufgeben, das, fühlte er, heißt leben.“ (Krähe 291) – Andere Schauspieler, denen es ähnlich erging, sind Adrienne Gessner, Egon Karter, Ruth Klinger, Fritz Kortner und Salka Viertel, die wie Peter Lotar an deutschsprachigen Bühnen der tschechischen Länder tätig waren. 97 Seifener stellte jedoch fest, dass in von ihm untersuchten Autobiographien kein Bruch in der äußeren Form der Texte zu beobachten ist (Seifener 2005: 212). – Lotars Roman gehörte nicht zum Korpus von Seifeners Untersuchung. 98 Lotar, Peter: Freie Blätter (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-1-b).

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die einhergeht mit einem dokumentarischen, didaktischen und oft auch appellativen Gestus“ (Seifener 2005: 88), ist auch in Lotars Romanen zu beob­ achten. Es ist interessant zu verfolgen, dass sich viele Schauspieler bzw. Schriftsteller auf der geistigen Ebene auch noch nach Kriegsende mit der Exilerfahrung befassen, deren gewichtiger Teil auch die Auseinandersetzung mit den Folgen und Nachwirkungen darstellt. Dies belegt auch die zweite Hälfte des Romans Das Land, das ich dir zeige, die auf die Nachkriegszeit fokussiert. Sie wird mit Georges Bernanos’ Zitat eingeleitet: „Das Buch, in dem du dich ohne Erbarmen hinrichtest, wird das sein, das dich erlöst“ (Land 179), das im Kontext dieses Romanteils signalisiert, dass die typischen Topoi des Exildaseins wie Heimatsuche und Schuldfrage mit dem Kriegsende nicht abgeschlossen wurden. Neben dem Heimatverlust, dem Sprachwechsel und der kulturellen Integration ist, je nach Zielland, die Auseinandersetzung mit den exilspezifischen Schaffensumständen ein weiteres wichtiges Thema, das dann auch mit den Charakteristika des jeweiligen Exillandes zusammenhängt. In den Texten der Schauspieler, die Zuflucht in der Schweiz fanden, handelt es sich laut Christoph Seifener um die Vereinbarung „zwei[er] gegensätzlich[er] Erfahrungen“: das Ringen mit den Schweizer Behörden einerseits und die Möglichkeit des künstlerischen Wirkens auf den Schweizer Bühnen andrerseits (Seifener 2005: 326). Diese Erfahrungen arbeitet auch Lotar literarisch auf. Seine Darstellung der Schweiz als Exilland schwankt einerseits zwischen detaillierten Beschreibungen der Asylpraxis und des Verhaltens unterschiedlicher Behörden (wie z. B. der Fremdenpolizei), deren undurchsichtige Amtswege, zahlreiche Stempel und widersprüchliche Verordnungen von kantonalen und eidgenössischen Beamten hervorgehoben werden. Andererseits zeugt sie von der unglaublichen Dankbarkeit, dass er sein Leben retten konnte. Die Schweiz wird als Inbegriff der Demokratie und Freiheit inszeniert, die auf langen Traditionen beruhen und die auch in Harmonie mit der Natur gepflegt werden. Verallgemeinerungen bekommen dabei keinen Platz, in den Mittelpunkt der Darstellung rücken immer konkrete Menschen. Am Schicksal einiger Figuren werden die Folgen der schweizerischen Flüchtlingspolitik detailliert veranschaulicht: von der Ausweisung oder der Internierung im Flüchtlingslager über das ‚harmlose‘ Verfangen im sinnlosen bürokratischen Apparat durch die skurrilen Vorschriften bis hin zu heldenhaften Taten einzelner Mitglieder der Fremdenpolizei. Als beschrieben wird, wie jüdische Pässe durch ein ‚J‘ ergänzt werden, oder wie Mareks Stück zum Münchner Abkommen abgelehnt wird – es wurde erst aufgeführt, als man „die verreckende

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Bestie“ (Land 159) nicht mehr fürchtete –, klingt auch sarkastische Kritik am ängstlichen Verhalten der Schweiz mit. Mit speziellem Nachdruck wird einer der Vertreter der Schweizer Behörden, Veraguth, der die Aufenthaltsbewilligungen für Künstler erteilt, als Figürchen mit Schwächen ausgemalt, die für sein kompromissloses Verhalten verantwortlich sind. In seinem Büro spielt eine der zentralen Szenen des Romans, wo Marek seine jüdische Herkunft verleugnet, was später ein Schuldgefühl bei ihm aufkommen lässt: Veraguths Ton wird geschäftsmäßig. ‚Der Vertrag bedeutet noch gar nichts. Erst wird geprüft, ob für die Vakanz kein Schweizer Künstler in Frage kommt. Wenn wider Erwarten kein Einwand bestehen sollte, geht die Sache an die Kantone, in denen das Städtebund­ theater spielt. Erst wenn sämtliche Instanzen zustimmen, befassen wir uns damit. Das braucht alles Zeit. Sie erhalten daher den Bescheid nach Prag.‘ ‚Prag…?‘ Meine Lippen werden trocken. ‚Aber wenn man aus der Hölle draußen ist, geht man doch nicht zurück…‘ ‚Nicht zurück… Dann sind Sie ein Emigrant!‘ In Veraguths Augen sehe ich mich als Ungeheuer. ‚Dann wollen wir Sie hier nicht haben.‘ Und plötzlich, wie ein Messer: ‚Sind Sie etwa Jude?!‘ Ich erstarre. Wo bin ich hingeraten?... Ist das die Schweiz?! Kein Mensch daheim würde die Frage in den Mund nehmen. Sie ist das Kainsmal der Henkersknechte. ‚Nein.‘ Sehr hart kam’s mit fremder Stimme. (Land 20 f.)

Lotars Darstellung der restriktiven Aufenthaltsbestimmungen wie die „Einführung einer allgemeinen Visumspflicht und eines Arbeitsverbots wie die Zurückweisung von Flüchtlingen“ und „die Errichtung gesonderter Arbeitslager für Flüchtlinge“ (Trepte 2004: 97) entspricht denen der meisten Exilanten, wenngleich unterschieden wird zwischen den Personen, die die Institutionen vertreten, und der Schweizer Bevölkerung, die im Gegensatz dazu sehr entgegenkommend präsentiert wird.99 Das Spannungsfeld der Schweizer Gesellschaft während des Zweiten Weltkrieges wird in Lotars Roman wiederum anhand typisierter Figuren gezeigt, die vor allem aus den Künstler- und Theaterkreisen stammen, wie z. B. die Familie Moor, die im folgenden Teilkapitel vorgestellt wird. Vor dem Hintergrund des Exilantenalltags ändert sich Mareks Wahrnehmung von seinem Beruf wesentlich. Seine erfolgreiche Karriere wird anhand der existenziellen Situation neu betrachtet und bewertet. Das Exilerlebnis fungiert als ambivalentes Element in der von Marek ständig infrage gestellten Theaterkarriere. Am Städtebundtheater Biel-Solothurn kann er seine Theatertätigkeit nahtlos fortsetzen und sich künstlerisch weiterentwickeln. Er führt sogar Regie und übernimmt die Dramaturgie bei einigen Stücken. Außerdem 99 Als Beispiele zum Thema der Schweiz als Exilland werden diejenigen ausgesucht, die sich direkt auf die Lage der Schauspieler beziehen: Trepte (2004: 97–100); Seifener (2005: 326–330); Blubacher (2004: 20–26).

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ist er bei dem großen Sommerfest der Freilichtspiele aktiv (Land 113). Nicht zuletzt beginnt er, eigene Theaterstücke zu schreiben. Allerdings reflektiert er sein Engagement vor dem Kriegshintergrund und die von seinem Überleben hervorgerufenen Schuldgefühle erlauben ihm nicht, seine Erfolge ernst zu nehmen und seine Bemühungen unpolitisch zu betrachten. Er leidet am Heimatverlust sowie am Zwiespalt, sich selbst zu retten, während seine Nächsten der Todesgefahr ausgesetzt bleiben. Angesichts der aktuellen Kriegsberichte und Analysen der bedrohlichen Weltsituation reflektiert er ständig und kompromisslos seine (Theater-)Existenz: Eines morgens, früh, packe ich meinen Rucksack, breche auf in die Berge. Ich steige und steige, so schnell ich kann, als wolle ich das Belastende hinter mir lassen. Aber die Gedanken steigen mit. Ich sehe nicht das großartige Bild, das der Aufstieg darbietet. Ich sehe nur die Menschen, die ich zu Hause zurückgelassen habe. Mein ganzer Antifaschismus, welch ein Hohn! Hatte irgend etwas irgendwem genützt? Ich war davongekommen, hierher. (Land 37)

oder: Ich werde zerrissen von der Diskrepanz zwischen meiner wenig sinnvoll scheinenden Existenz in diesem theatralischen Froschteich und der ungeheuren Realität der Weltbühne. (Land 52)

Die Konfrontation des eigenen Exildaseins mit dem Schicksal „der ermordeten jüdischen Freunde und Verwandten“ führte bei vielen Schauspielern zu der grundsätzlichen Frage, ob es noch möglich ist, „sinnhafte, individuelle Kontinuität bezogen auf ihr Leben als Ganzes [zu] verteidigen“ (Seifener 2005: 211). Diese Überlegung wird Marek Truntschkas Leitgedanke. Marek ringt mit Schuldgefühlen seinen Nächsten gegenüber, die in der Tschechoslowakei geblieben sind. Das gilt etwa für seinen Bruder Leo, der später ins Konzentrationslager deportiert wird. Pawlitschka, seine Geliebte, die ihn von sich ‚befreien‘ will und sogar das ungeborene Kind abtreiben lässt, wird im Konzentrationslager ums Leben kommen. Die schwerste Schuld spürt er seiner Schwester Katja gegenüber. Ihre tragische Geschichte ist gleichsam trauriges Sinnbild für die gesamte Familiengeschichte. Aus ihrer unglücklichen Ehe flüchtet sie nach Frankreich. Nach der Besetzung des Landes bittet sie Marek vor der Deportation um Geld, um sich in die Schweiz überführen zu lassen. Das Geld kommt jedoch zu spät. Bei dem Prager Besuch erfährt er in der ­Synagoge, dass seine Schwester nicht mehr nach Hause zurückkommt. Bis zum Lebensende wird er sich an ihrem Tod schuldig fühlen. Die Väter haben mich heimgeholt. Aus Feigheit und Todesangst. Als der Polizeibeamte in der Schweiz mich fragte: ‚Sind Sie etwa…‘, antwortete ich nein. Darum habe ich dein Kommen gefürchtet, Schwester. Die Wahrheit ist am Tage. (Land 204)

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Die Erinnerung, sich in die Figur von Judas einzufühlen (Land 193), durch die Exilerfahrung noch intensiviert, begleitet ihn bis zu der Rolle Franz Moors in Schillers Räubern, in der er ganz den Abstand verliert und der Bitte um Gnade verfällt. Der unter anderem durch eine Gallenentzündung verursachten Ohnmacht folgen Fiebernächte, in denen immer wieder die Szenen aus dem letzten Abendmahl mit Judas und aus Franz’ Albtraum über das Jüngste Gericht zurückkehren. Nach der Genesung ist er entschlossen, seinen Beruf aufzugeben. Sein Ringen mit den Schuldgefühlen ist damit aber nicht beendet. Er identifiziert sich weiterhin mit Judas und verurteilt sich selbst zum Tode: Das blasse Antlitz meiner Schwester sieht mich an, meine stille, beharrliche Gefährtin. Sie war ein Geschöpf Gottes. Ihn hab ich in ihr verraten. Sie wurde zu Tode gemartert – wie Er. Das kann nicht rückgängig gemacht, nie vergeben werden. Auch Judas ward nicht vergeben. Nichts blieb ihm, als sich selbst zu richten. Die Sache ist klar. Es gibt nur eine Sühne: mein Leben für das ihre. (Land 253)

Beim Selbstmordversuch wird er von seiner Freundin und späteren Ehefrau gerettet, der er nur symbolische Spitznamen, für Marek eindeutig sprechende Namen, gibt: zuerst Türkenkind, später Světluška.100 Das Leben in der Lüge über seine jüdische Herkunft und die Zerrissenheit zwischen der Familientradition und seinem praktizierten Glauben führen bei ihm bis zur Identitätskrise.101 Das Ringen um den Glauben bedeutet für ihn zugleich die Suche nach der mehrfach verlorenen Heimat mit allen Werten und Traditionen, die er für sich auf der transzendenten Ebene ohne jegliche räumliche Charakteristika neu definiert. Während des Einbürgerungsverfahrens im Kanton Solothurn beharrt er auf der bis in die bizarrsten Details gehenden Wahrheit über sich selbst und seine Familie und ist bereit, den fast absurden Abwicklungen des bürokratischen Apparats und daraus folgenden Konsequenzen standzuhalten. Er wird sich amtlich als Jude bekennen. Sein Neuanfang als Schweizer Staatsbürger soll nicht auf einer Lüge aufgebaut sein. Nicht zuletzt eröffnet die grundsätzliche Überlegung der Hauptfigur Marek – „Merkwürdig, dass ich an Gott glaube. […] Wer erwartet das, von einem Schauspieler, heutzutage…“ (Land 90 f.) – die Diskussion über die sozialgesellschaftliche Stellung und (Selbst-)Wahrnehmung der Schauspieler, die sich vor allem durch ihre Arbeit definieren. Die Untersuchungen der autobiogra100 In der Originalfassung wird der Name in tschechischer Form Světluška zugleich mit der deutschen Übersetzung Lichtchen angeführt (Land 217). 101 Der Zusammenbruch eines Individuums, das sich mit einer enthüllten Wahrheit nicht abfinden kann, ist ein Leitmotiv in Lotars Theaterstücken, das vor allem im vierten Kapitel dieser Arbeit behandelt wird.

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phischen Texte von Schauspielern durch die Theaterhistorikerin Katharina Wessely zeigen, dass die Abgrenzung zum Bürgertum mit seinen Berufen ein Charakteristikum des Schauspielerberufs vom Ende des 19. Jahrhunderts und bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allgemein darstellt. Festzustellen ist auch, dass der Schauspielerberuf nicht eindeutig als bürgerlich oder unbürgerlich eingeordnet wird, sondern die Zuordnung davon abhängt, wie die einzelnen Aspekte des Berufs inszeniert werden (Wessely 2018). Der Glaube ist zwar als schichtunabhängig zu betrachten, „die Teilnahme am religiösen Leben zählte aber fraglos zu den bürgerlichen Gewohnheiten“ (Molthagen 2007: 373). So nimmt es auch Marek wahr. Die reiche Familie seines Vaters, die bis in die 30er-Jahre eine Ziegelfabrik besaß, gehörte zu den aktiven Mitgliedern der jüdischen Gemeinde. Vor diesem Familienhintergrund und dem durch das Unternehmen erzwungenen Verzicht seines Vaters auf eine eigene Künstlerkarriere reflektiert er seinen Habitus.102 Gerade die Rolle der Religiosität im Leben eines Schauspielers ist offensichtlich der Punkt, an dem offenbar wird, dass in der Darstellung des Schauspielerberufs in Lotars Text vor allem die Aspekte überwiegen, die ihn von den bürgerlichen Berufen unterscheiden. Zuerst wird die Berufswahl als Berufung thematisiert, aber zugleich in Anbetracht der tragischen Weltsituation oft infrage gestellt. Weiterhin wird auf Faktoren wie die nicht ganzjährige Finanzierung eingegangen, die ständigen Ortswechsel und nicht zuletzt den unregelmäßigen Tagesablauf. Je nach Theaterlandschaft wird dieser oder jener Aspekt besprochen. Am ausführlichsten wird das Engagement am Städtebundtheater Biel-Solothurn, einer der Emigrantenbühnen, beschrieben. Zu den durch die Finanzierung bedingten Besonderheiten gehören zwei feste Bühnen in Biel und Solothurn und die damit verbundene Verpflichtung, jedes halbe Jahr den anderen Spielort auch bewohnen zu müssen. Nicht nur über den erzwungenen Umzug, auch über die zahlreichen Vorstellungen an allen möglichen Orten im Kanton freut sich das Ensemble weniger. Die Schilderung des Berufsalltags deutet die anstrengende Arbeit an, wobei das Engagement nur über einen Teil des Jahres erfolgte: Bis halb zwei wird geprobt, dann, nach aufgewärmtem Essen und zwei kurzen Stunden Zeit zum Lernen neuer Rollen, bestieg man an vier bis fünf Tagen der Woche schon nachmittags den Theaterautobus. (Land 50)

102 „Ich, wohlerzogener Bürgersohn, und Hardenberg, mein aristokratischer Freund, wir hatten den krähwinkligen Betrieb zwar ironisiert, uns aber doch seufzend gefügt.“ (Land 86)

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oder: Dem Gemeinplatz gemäss ‚geht das Leben weiter‘, auch im Theater der kleinen Stadt. Alle vierzehn Tage Première, sie muss erarbeitet, zum Erfolg geführt werden. Und auch all die kleinen Intrigen, Bosheiten, Lächerlichkeiten des Metiers, müssen bestanden werden. Wo es was zu belachen gibt, lache ich mit. Aber diese Heiterkeit ringt sich durch den Schleier einer fortschreitenden Verdüsterung, und zuweilen scheint mir dieses Theaterleben ein Tagtraum über der nachts aufbrechenden Wirklichkeit. (Land 141)

Die verlorene Distanz und zu intensive Identifikation mit bestimmten Rollen gemeinsam mit den Gedanken an Heirat und Familiengründung (Merkmale einer bürgerlichen Existenz), führen bei Marek allmählich zur Sehnsucht nach Sesshaftigkeit und zum Beenden seiner Schauspielerlaufbahn.103 Mit dem Erhalt der Schweizer Staatsbürgerschaft begibt er sich nicht nur auf einen neuen Arbeitsweg, auch sein Status als Exilant wird offiziell beendet. Erlösung fand er in der Lehre von Albert Schweitzer. Marek beginnt auch in seinem Sinne tätig zu sein. Die neue Lebens- und Arbeitsphase ist weiterhin mit dem Theater verbunden. Seine feste Verankerung im christlichen Glauben vermittelt Marek als Dramatiker in seinen Theaterstücken.104 Das Theater bleibt bei ihm weiterhin Verhandlungsort der religiösen Identität.

3.3 Theater als Verhandlungsort politischer Identität Im Folgenden bilden die Wechselbeziehungen zwischen den politischen Verhältnissen und der Theaterlandschaft den Schwerpunkt, wobei gerade die gesellschaftspolitische Rolle des Theaters in den Mittelpunkt der Darstellungen rückt. In beiden Romanen benutzte Lotar das Theater als Folie für die Beschreibung der Realität, als Ausgangspunkt, um über die politische 103 Dieses Bedürfnis wird als Topos auch in weiteren Schauspielerautobiographien dargestellt (Wessely 2018). 104 Neben der eigenen dramatischen Tätigkeit setzt sich Marek auch die kulturelle Vermittlung zum Ziel. Nicht nur für die Schweizer Literaturgeschichte sind Passagen interessant, in denen Marek als Lektor im Theaterverlag schildert, dass er hinter den Theateranfängen und dem Durchbruch von Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch und Fritz Hochwälder stand. Die Episoden werden anekdotenhaft erzählt. Die Theaterlandschaft wird aus einer anderen Perspektive präsentiert. Spannend sind die Verhandlungen mit der Theaterleitung um die Aufführungen der jungen Autoren. Dazu gehört auch der Besuch der Tschechoslowakei mit Max Frisch und seinem eigenen Stück Der Tod des Präsidenten. – Sämtliche Details bis hin zum Titel eines Theaterstücks verstehen sich autobiographisch.

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Situation zu reflektieren, als konkretes Beispiel, um politische, soziale und andere Vorgänge in der Gesellschaft zu beschreiben. Er schilderte das Theater, die Gemeinschaft der Schauspieler, der Direktoren, aller anderen am Theater Arbeitenden, wie eine Welt im Kleinen: Dinge, die sich in der realen Welt abspielen, gibt es auch in der ‚kleinen Welt‘ des Theaters, wie z. B. verschiedene politische Richtungen, sodass abstrakte politische Ideen und Vorgänge fassbar werden. Es wird der Zusammenhang zwischen den Prozessen, die am Theater in Bezug auf seine unterschiedlichen Funktionen verlaufen, und der Konstruktion der persönlichen sowie kollektiven bzw. politischen Identität hergestellt. Das Theater als öffentlicher Ort sollte politisch engagiert auftreten, aber nicht im Dienst einer der radikal links oder rechts orientierten Parteien stehen, sondern als ‚moralische Anstalt‘ die Werte und Traditionen einer humanistisch und demokratisch hochentwickelten Gesellschaft vertreten und weitervermitteln. Aus diesem Grund wird in den Romanen der Fokus auf diejenigen Inszenierungen gelegt, die entweder zum politischen Theater zu rechnen sind oder von außertheatralischen Einflüssen geprägt und mit Blick auf die politischen Ereignisse interpretiert wurden. Auf jeden Fall handelt es sich um solche Theaterstücke, die in der Theatergeschichte wegen der Inszenierungsmittel, der Regie oder anderen Merkmalen eine bedeutende Stellung einnehmen. Die Verflechtung des Theaters mit der aktuellen politischen Situation stellt die Hauptperspektive von Schilderungen der Theaterpraxis in Städten dar, in denen Marek ein Engagement hatte. Als erstes soll das Augenmerk auf die räumliche Widerspiegelung der politischen Situation in der Stadt gerichtet werden und daran anschließend auf den Theaterbetrieb im Kontext der Theatertradition, die eng an die Stadtgeschichte gebunden ist. Das Theater wird im Folgenden als Teil der integrierten Stadtgeschichte105 betrachtet. Das ästhetische Gestaltungsprinzip, nach dem Lotar die Theaterlandschaften, den Theaterbetrieb und die Theaterpraxis in einzelnen Städten schilderte, funktioniert mit Gegenüberstellungen. Prag wird als Stadt mit einer deutlich historischen und traditionsbewussten Ausrichtung beschrieben, die für Marek als unantastbare Vergleichsentität und Maßstab fungiert. Obwohl er in diesem Vertrauensgefühl, das auf dem berühmten und durch Jahrhunderte geprägten Genius Loci Prags beruht, seine Inspiration findet, ersehnt er auf der anderen Seite neue Anstöße. Aus diesem Blickwinkel erscheint ihm Berlin als Gegenpol zu seiner Heimatstadt: 105 Theater wird also als ein Ort verstanden von „wechselseitigen Beziehungen und Verflechtungen zwischen den als Mehr- beziehungsweise Minderheiten vorgestellten ‚Kollektiven‘“ (Koeltzsch 2012: 7).

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Marek genoss jetzt die trockene, frische Luft Berlins. Die Stadt war spröde abweisend, solange man mit ihr nur flirtete. Aber wenn man sich mit ihr ernsthaft einließ, dann passierte es: In der Umarmung Berlins war nichts vom Dunkel Prager Mystik, von barockem Überschwang – und doch geriet man in einen Rausch. Statt zu benebeln, ernüchterte er, machte nicht müde, sondern wach, so überwach, dass es schon wieder Trunkenheit wurde: die Ekstase der Arbeit. Auf den Kopf gestelltes Österreich: Man arbeitete nicht, um dann zu genießen, man genoss, indem man arbeitete. (Krähe 110 f.)

In Berlin lernt er auch eine andere Auffassung und Wahrnehmung von der Theaterarbeit kennen.106 Er denkt nicht an die künstlerischen Praktiken in Berlin und Prag, da er zu dieser Zeit noch keine eigenen Arbeitserfahrungen hat, sondern er stellt sie den bürgerlichen Berufen gegenüber (Wessely 2018), mit denen er aus seinem familiären Umfeld vertraut ist. Das Engagement in Breslau dauert nicht lange, wobei er vor allem die Intimität der Stadt heimelig findet und wertschätzt: Nach dem ungeheuren Berlin wieder etwas Übersehbares, endlich empfing ihn, seltsam bekannt, ein von der Geschichte geprägtes Antlitz. Unbeirrt legte inmitten der Stadt das großartige gotische Rathaus Zeugnis ab vom Geist des Mittelalters. Und wenn Marek hinüberschritt über die Oder, um einzutauchen in die Stille der Dominsel, dann war er ganz umfangen von heimatlichem Wesen. (Krähe 131)

Die unverwechselbaren Stadtbilder mit ihrer eigenen Atmosphäre tragen zu stark differenzierten Theaterlandschaften mit unterschiedlichen Anforderungen an die gesellschaftskulturelle Funktion des Theaters bei: Eher ein Hof, dem die Vorderfront fehlt. Schon von außen ein Bühnenbild. In der Mitte die symbolisch bedeutsame Akazie, als Rückwand die beiden aneinander gebauten Theater. Keine pompöse Auffahrtsrampe wie in Prag, mit Säulen und flatternden Musenhühnern. Bisher nur genährt von barockem Gefühlsüberschwang, begann er zu ahnen, dass die daheim als barbarisch verschriene preußische Zucht manches für sich hat, nicht nur in der Architektur. (Krähe 105)

Was das Theater angeht, ist Berlin in jeder Hinsicht anregend für Marek: Das beginnt bei der Inszenierungspraxis, geht weiter bei der Improvisationsarbeit und mündet schließlich in die innovativen Ansätze in den von Max Reinhardt und Erwin Piscator geleiteten Aufführungen,107 denen Marek beiwohnt oder in denen er selbst mitspielt. Neben der ausverkauften studentischen Vorstellung von Revolte im Erziehungshaus vom Dramatiker Peter Martin Lampel ist 106 Zum Wandel der Auffassung der Theaterarbeit seit dem Jahr 1800 vgl. Matzke (2012). 107 Reinhardt wurde als „ein unsichtbar wandelnder Mythos“ beschrieben, Piscator als „Ingenieur, Konstrukteur, umschwärmt von seinen Assistenten und Technikern. Durch die Schauspieler sieht er hindurch, ihn scheint nur die Maschinerie zu beschäftigen.“ (Krähe 105–116)

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für ihn das Erleben von Piscators Regiekunst prägend. Seine Inszenierung von Walter Mehrings Kaufmann von Berlin, einem Stück über die Inflation, löst einen großen Skandal aus. Nicht nur künstlerisch wächst Marek. Er kommt zur Zeit des Aufstiegs des Nationalsozialismus an Max Reinhardts Schauspielschule in Berlin und soll seine Karriere aufbauen, während die östlichen Nachbargebiete nicht nur ideologisch, sondern auch physisch usurpiert werden. „Das ganze Leben wurde von der Politik verschlungen“ (Krähe 136), so reflektiert Marek die Zeit. Bei der Ensemblecharakteristik, Mareks Schauspielkollegen, überwiegt die Perspektive der politischen Überzeugung oder sozialen Herkunft, durch die ihre Künstleridentität und ihr Privatleben definiert und beeinflusst wurden. Es wird nicht zwischen den Rollen auf der Bühne und den Rollen im Leben unterschieden. Die Freundschaft zwischen den einzelnen Akteuren wird durch die politische Meinung gegeben und erst dann rückt das künstlerische Verständnis ins Blickfeld. Beim Prozess der (Selbst-)Inszenierung wird die Leidenschaft als grundsätzliche (Handlungs-)Emotion und Triebkraft nicht nur am Theater betont. Mareks politische Bewusstseinsentwicklung wird durch die in den vorangegangenen Kapiteln analysierte Strategie dargestellt. Die oft ungewollten Konfrontationen mit den polarisierten Seiten des politischen Spektrums, denen er vor allem im Theaterbetrieb ausgesetzt ist, führen zur allmählichen Abgrenzung von jeglichen gefährlichen Denkweisen und zur Verankerung kultureller Werte durch die Suche nach geschichtlicher Kontinuität und Wahrheit. Durch das politisch extrem gespaltene Umfeld nicht nur am Theater wird ihm die Gewalt auf beiden Seiten zuwider und widerspricht zunehmend seiner humanistischen Weltanschauung. In Berlin bewegt er sich zwischen „seltsamen Dioskuren“: „Der proletarische Autodidakt, der Freud las, und der Aristokrat, der sein Wissen taktvoll unterspielte.“ (Krähe 111) Die kontrastierende Figurenkonzeption, die ein komplementäres Gefüge der gegensätzlichen Weltanschauungen bildet, bewirkt einen speziellen Effekt. Den thematischen Rahmen von Mareks Aufenthalt in Berlin bilden zwei Inszenierungen. Bei der Ankunft sieht er die erste berühmte Aufführung von Brechts Dreigroschenoper, die er für bedeutsam hält, weil sie die bürgerliche Moral entlarvt.108 Mit dem Besuch von Goethes Iphigenie auf Tauris schließt er symbolisch seinen Aufenthalt in Berlin ab und geht, in seiner Überzeugung 108 „Alles war anders als im vertrauten Prager Theater. Keine Entrückung durch ein beginnendes Fest. […] Weder Schönheit oder Größe, noch Tragik oder Heiterkeit. Nur Lüge, Gaunerei, Verbrechen.“ (Krähe 101)

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gestärkt, dass das Theater eine entscheidende Funktion hat, ins Engagement nach Breslau: ‚Die Stimme der Wahrheit und Menschlichkeit… es hört sie jeder.‘ Jeder? Marek schämt sich des gleichgültigen stumpfen Publikums. […] Er sieht die öden Straßen, welche SA und Rotfront mit Hass erfüllen, er sieht das Blut, das sie vergießen. (Krähe 129)

Im Gegensatz zu den Berliner Bühnen bemüht sich Paul Barnay, der Direktor des Theaters in Breslau, um ein unpolitisches Theater: Hier in Breslau war es umgekehrt. Die Stadt schien politisch wenig interessiert, da war genug Sorge mit dem Fortkommen, und hatte man all die Plackerei hinter sich gebracht, so wollte man, provinziell anspruchslos, ‚seine heilige Ruhe‘ haben. Dafür wetterleuchtete es im Theater selbst. (Krähe 135)

Das Ensemble trennt sich jedoch in zwei antagonistische politische Lager, das nationalsozialistische und das kommunistische, was zu Spannungen auf der Bühne führt wie in den Matrosen von Cattaro von Friedrich Wolf. In Prag brodelt es zwar auch, aber mehr als in politische Streitigkeiten wird Marek hier aufgrund seiner Naivität in Intrigen verwickelt, was schließlich dazu führt, dass er im Stadttheater in den Königlichen Weinbergen keinen günstigen Vertrag bekommt.109 Als Sohn eines prominenten Deutschen auf einer tschechischen Bühne ist Marek nicht nur den üblichen Konkurrenzkämpfen im Theater, sondern zudem auch der Hassbeziehung zwischen Deutschen und Tschechen ausgesetzt, die unter dem Einfluss der politischen Ereignisse im Deutschland der 1930er-Jahre zunehmend an politischer Schärfe gewinnt. Der Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland und die folgenden aggressiven Eingriffe in die politische Ordnung der souveränen Nachbarstaaten vertiefen die Animosität beider Welten und schaffen neue Grenzen und unüberwindbare Mauern: Die gewaltsame Verzerrung aller Maßstäbe machte an der böhmischen Grenze nicht Halt. Anpassung oder Widerstand? Auch die Tschechen mussten sich entscheiden. Die Politik drang überallhin. Marek erlebte die gespenstische Wiederholung seiner Breslauer Erfahrungen. Wie dort gab’s jetzt im Weinberger Theater Garderoben der fanatischen Rechten und der radikalen Linken oder jener mit der unerschütterlichen Überzeugung, man komme am besten ohne Überzeugung aus. (Krähe 189)

109 Der Regisseur Jan Bor in den Königlichen Weinbergen wurde folgend charakterisiert: „Jan Bor, der Chef, war ein Vollblutkomödiant. Er regierte wie ein Fuhrknecht, mit Peitsche und Zuckerbrot.“ (Krähe 189)

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Nicht nur das Bewahren der Besonnenheit in diesen Zeiten, in denen nach einer eindeutigen Stimme geschrien wird, lässt Marek als Figur der Alterität erscheinen. Während Städte und sogar Länder seines Engagements sich ändern, nimmt er auch sein sprachlich-nationales, ethnisch-kulturelles Fremdsein unterschiedlich wahr. Die verschiedenen Aufenthaltsorte prägen die Entwicklung von Mareks Denken und Wertesystem auf dynamische Weise und spielen eine konstitutive Rolle bei der Suche nach Identität und Heimat. Das Zugehörigkeitsgefühl kann er nicht einmal in den eingeschobenen Anekdoten110 aus der Praxis am jeweiligen Theater, die von karikierten Bildern von Direktoren, Regisseuren oder Schauspielkollegen begleitet werden, bilden. Die Anekdoten (in den autobiographischen Texten, der Theatergeschichtsschreibung etc.) werden allgemein nicht als Teil der linearen Erzählung betrachtet (Matzke 2012: 25 f.). In Lotars Romanen stellen sie ebenfalls einen Bruch zum Erzählten dar und bieten einen anderen, parallelen Blick auf den Theaterbetrieb außerhalb des politischen Geschehens und fokussieren insbesondere auf das Menschliche und Künstlerische. Der Mikrokosmos des Theaters wird als eine Welt für sich mit eigenen spezifischen Regeln und intriganten Beziehungen geschildert. In den Anekdoten wird Marek auch seine oft peinlichen Erlebnisse und komischen Szenen nicht aussparen, die ihren Ursprung in seinem unbeholfenen Umgang mit dem teilweise hinterhältigen Theaterumfeld haben und wiederum seine Identifikation mit den anderen Kollegen erschweren. Die Anekdoten zeichnen sich durch einen eigenen freimütigen Erzählstil aus. Da es sich vor allem um Erlebnisse hinter den Kulissen handelt, fehlt es nicht an Ironie und Humor. Mareks Engagement am Städtebundtheater Biel-Solothurn wird von den Kriegsgeschehnissen eingerahmt. Marek beschreibt und entfaltet seine Gedanken, Kommentare über die fortschreitenden Gebietsbesetzungen durch die deutschen Truppen, die Kämpfe an den Fronten, kontextualisiert die ‚Vergewaltigung‘ der Tschechoslowakei nach dem Münchner Abkommen, verfolgt das Fortschreiten der deutschen Truppen durch Europa, nimmt die Konzentrationslager und das Schicksal der Flüchtlinge wahr. Er wundert sich von Anfang an, dass die Machtübernahme durch Hitler, die zunehmenden Verhandlungen und seine Propaganda von Anfang an nicht ernst genug genommen wurde. Nicht zuletzt beschäftigt er sich mit dem deutschen Widerstand. 110 Die Anekdote stellt in Schauspielerautobiographien ein bedeutendes Genre zur Ensem­ blecharakteristik und zur Charakterisierung des Theaterbetriebs dar.

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Die typisierten Figuren decken mit ihrer politischen Überzeugung, ihrem unterschiedlichen sozialen Empfinden und ihren menschlichen Veranlagungen alle möglichen Varianten des gesellschaftlichen Spektrums ab. Für Marek ist der Grad ihrer Menschlichkeit oder ihrer Unmenschlichkeit entscheidend ebenso wie ihr Sinn für Demokratie. Dieses zentrale Differenzierungsmerkmal entspricht der grundlegenden Wertung Gut-Böse. Der Kriegsausbruch, die Besetzung der Nachbarländer, die Ausdehnung der Kampffronten und die sich nähernde Gewalt zwingt sie zur Stellungnahme. Schließlich muss jeder von ihnen seine Schuld und Sünden bekennen, egal ob vor dem bürgerlichen Gericht oder vor seinem Gewissen. Dem unbarmherzigen Beamten Veraguth, der über die Künstlerschicksale entscheidet, werden die Künstlerfamilie Moor und Valerie Grandcour gegenübergestellt, die Marek immer zur Seite stehen. Sie sind Schweizer Patrioten, stammen aus den französischsprachigen Kantonen mit einer kritischen Einstellung zur Schweizer Asyl- und Auslandspolitik. Zu den Vertrauenspersonen gehört außerdem Mareks Schauspielkollege Herr von Hardenberg, ein demokratisch gesinnter Deutscher, der sich vom Nationalismus distanziert und alle Arten des Widerstandes befürwortet. Er schreibt dem höheren Adel die Kollektivschuld für Hitlers Aufstieg zu: Hardenberg ist mir eine Bestätigung des Glaubens an ein ‚anderes Deutschland‘. Mag ich mich auch mit der Sache des vergewaltigten tschechischen Volkes solidarisch fühlen, ich bin in zwei Kulturen daheim. Was habe ich vom Vater doch an deutschem geistigem Erbe mitbekommen! Ihm war das Versinken des deutschen Volkes in die jetzige Geisteskrankheit etwas Unerträgliches. Aus diesem Strudel ragt ein Hardenberg wie eine Klippe, an die man sich hält, eine neue Hoffnung knüpft. (Land 43)

Ihm wiederum werden die Schweizer gegenübergestellt, Sympathisanten mit dem deutschen Regime wie z. B. der Schauspielkollege Xaver Strub, der der SS beitritt, nach dem Krieg der Schweiz ausgeliefert und vor Gericht für die Kollaboration verurteilt wird. Durch Xavers Schwester Lena, die als Krankenschwester mit dem Roten Kreuz an die Ostfront geht, erfährt man von den erschütternden Kriegsgräueln und der Vernichtung der Juden. Ihre Erlebnisse werden mehr in Form des Nichtgesagten und des schlicht Angedeuteten und vor allem durch ihre große Erschütterung vermittelt. Später heiratet Lena Vládja Grossmann, einen tschechischen Emigranten und überzeugten Kommunisten, der als Schauspieler und Regisseur ebenfalls am Städtebundtheater Biel-Solothurn engagiert wurde. Seine revolutionären Ideen in Bezug auf das Bühnenbild und manche künstlerischen Ansichten werden von Marek bewundert, doch was die Weltanschauung angeht, herrschen zwischen ihnen erhebliche Meinungsunterschiede. Marek distanziert sich bereits in Prag

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von der Kommunistischen Partei. Er betrachtet die revolutionären Gedanken von Anfang an skeptisch und wegen der nicht nur immanent präsenten Gewalt auch ablehnend. Seine vorwiegend implizit ausgedrückten Beurteilungen des Theaterbetriebs schwanken zwischen den nachsichtigen Bewertungen des kleinen Provinztheaters, das er als biedermeierlichen Anachronismus ironisiert, und der unermesslichen Dankbarkeit, engagiert zu werden und dadurch überleben zu können. Einiges an seiner Kritik drückt er nur ex negativo aus. Zwischen dem Ausgesprochenen kommen zugleich das Nichtgesagte und das Verschwiegene ans Licht. Zum Beispiel erklingt in der Vorfreude, auf der Großstadtbühne Zürich zu gastieren, allgemeiner der Wunsch, den provinziellen Rahmen zu verlassen und zu übersteigen. Natürlich tragen die finanziellen Verhältnisse zum niedrigen Gesellschaftsstatus der Schauspieler im Vergleich zu den begehrten Operettensängern bei. Dies stellt zugleich eine Aussage über den wenig anspruchsvollen Geschmack des Lokalpublikums und die vor allem unterhaltende Rolle des Theaters dar. In den Stücken und in seinen Rollen sucht er nach einem Gegenwartsbezug, der seiner Arbeit mehr Sinn verleiht. Auch die Inszenierungen des klassischen Repertoires (Shakespeare, Lessing, Dostoevskij) sollten nicht nur unterhalten, sondern durch Aktualisierungen eine Bedeutung für den politischen Diskurs bekommen (Fischer-Lichte 1999: 373–410). Der geschätzte deutsche Schauspielkollege Hardenberg interpretiert seine Rolle ebenfalls aus der sozialgesellschaftlichen Perspektive und vor der politischen Entwicklung in seinem Heimatland: Was kann ein kleines Häuflein gerade noch Geduldeter im umzingelten Land anderes tun, als auf den Brettern, die uns nun wahrhaft die Welt bedeuten, die Flagge des Widerstandes hissen, ein Zeichen setzen: In Tyrannos. Steinbecks Der Mond ging unter ist das Drama des besetzten Landes, aber auch das seiner Besetzer. (Land 105 f.)111

Erwähnenswert ist in diesem Kontext Mareks Rollenfach: Schon als blutjunger Bursche, immer habe ich versagt, wenn ich ‚Liebhaber‘ spielen musste. Mein Künstlertum habe ich erst in der Darstellung des Zwielichtigen, Gebrochenen, Dämonischen gefunden. Einer meiner Regisseure liess das Wort fallen, es sei meine Nachtseite, die ich ans Licht bringe. (Land 41)

Neue Ideen und wesentliche Änderungen in Regie und Bühnenbild bringt erst der neu angekommene tschechische Flüchtling Vládja und er setzt sie 111 Ähnlich sieht Marek auch die Rolle des Marinelli in Emilia Galotti: „Ich erspüre darin die bestürzende Aktualität: den Handlanger der Macht, der dem Gewalthaber nicht nur skrupellos dient, sondern ihn mit dämonischer Beflissenheit zum Verbrechen führt.“ (Land 51)

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auch tapfer gegen die ältere Theatergeneration durch. Vládja sieht die ästhetische Funktion des Theaters unter anderem in der Genesung der Gesellschaft. Obwohl Marek dem Theater erstmal eine moralisch-ethische Funktion zuschreibt, zweifelt er später selbst daran. Die steigende Inszenierungsqualität und das gehobene Prestige des Provinztheaters reißen nicht nur das mitmachende Ensemble mit: ‚Kunststück‘, sagt sein Adlatus, der kleine Washington. ‚Seit wann hat das Schauspiel so einen Besuch? Selbst die Snobs fahren nicht mehr nach Bern und Zürich ins Theater, die kommen jetzt zu uns. Und am Stehplatz sind’s wie die Sardinen, die ganze Jugend.‘ Ja, das Theater beginnt zu blühen und ich mit ihm. […] Die Aufführung von Schuld und Sühne ist ein Ereignis. (Land 88 f.)

Im Exil kommt die Entwicklung von Mareks politischer Überzeugung zu ihrem Ende. Er grenzt sich von jeder Ideologie ab. Die Basis stellt das humanistische Vermächtnis von Tomáš Garrigue Masaryk dar. Sein Neubeginn im Exil bedeutet für ihn, nicht der Passivität zu unterliegen, sondern Verantwortung allen gegenüber zu übernehmen, die sein Leben gerettet haben. Obwohl es den Flüchtlingen verboten war, politisch tätig zu sein, übt er viele Aktivitäten aus. Trotz all seiner Bemühungen, einschließlich seines politischen Engagements am Theater, nimmt er sich nicht ernst und hält dies für sinnlos und ungenügend. Er spricht spöttisch und sarkastisch über sich. Marek stellt fest, „dass er nicht zum Helden berufen war, weder im Leben, noch auf der Bühne.“ (Krähe 106) Marek ist eine stark kontrastierte Figur: Einerseits werden seine moralischen und humanistisch orientierten Prinzipien dargestellt, sein konkretes Handeln und Reagieren in Alltagssituationen – andererseits erscheint er durch seine artikulierte Selbstreflexion aber auch als Antiheld.

Lotar als jüngstes von drei Geschwistern, mit seiner Schwester Käthe und seinem Bruder Walter (Prag, undatiert)

Titelrolle in Der verlorene Sohn von Florian Seidl mit Ilse Winter (Berlin, 1930)

Titelrolle in Orlík (Der junge Aar) von Edmond Rostand (Prag, 1934)

Rolle des Judas in Böhmische Passionsspiele (České pašije) von Jan Port und Bohuš Stejskal (Prag, 1935)

Regie und Bühnenbild Lotars für Modrý pondělek (The Shoemaker’s Holiday) von Thomas Dekker (Prag, 1937)

Rolle des Silvio in Sluha dvou pánu° (Der Diener zweier Herren) von Carlo Goldoni mit Eva Svobodová (Prag, 1938)

Regie und Rolle des Don Pedro de Miura in Das Heilige Experiment von Fritz Hochwälder (Biel-Solothurn, 1943)

Rolle des Robert Suchy im eigenen Stück Die Wahrheit siegt mit Gritli Schell (Biel-Solothurn, 1945)

Lotars Ehefrau Eva Lotar (geb. Lübbert) im Engagement am Städtebundtheater Biel-Solothurn (undatiert)

Lotar nach der Lesung aus seinem Roman Eine Krähe war mit mir (Solothurn, 1979)

4. Kriegserfahrungen und Kriegsdeutungen in den ­dramatischen Texten Neben dem leidenschaftlichen Interesse am (auto-)biographischen Schreiben stellt die ideelle Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Aspekten des politischen Geschehens um den Zweiten Weltkrieg einen wichtigen thematischen Schwerpunkt in Lotars Schaffen dar. Er fühlte sich mit dem Themenkomplex eng verbunden, weil er persönlich davon betroffen war. Dass die Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit zu seinen intensivsten gehörten, zeigt sich vor allem in seinen autobiographischen Romanen, wo ihnen ausnehmend viel Raum zugestanden wurde. Die Erfahrung von Krieg und Exil hat Lotars Gedankengut, seine politische Überzeugung und nicht zuletzt die ideellen Ausgangspunkte für sein Gesamtwerk bestimmt. Lotar selbst war es wichtig, diesen Zusammenhang immer wieder zu verdeutlichen. Er äußerte sich dazu, dass er sich vor seinem Lebens- und Familienhintergrund dazu berechtigt fühlte, sich als Schriftsteller auch mit solchen ‚heiklen‘ Themenbereichen zu befassen, denen die Nachkriegsgesellschaft noch nicht gewachsen ist. Trotz ästhetischer Vorbehalte wurden seine Themenwahl und -aufarbeitung hervorgehoben und positiv rezipiert. Im Hörspiel Das Bild des Menschen thematisierte er den deutschen Widerstand: Wie es möglich ist, dass gerade ein Schweizer diese schwere Berufung auf sich nahm? Er verlebte seine Jugend in Prag. Gleich unzähligen anderen verlor er durch Okkupation und Krieg, in der Sturmflut des Hasses, seine alte Heimat, Hab und Gut, und viele seiner Nächsten. Leid kann verhärten oder zu Gnade werden. Aus ihr erwächst die Erkenntnis, dass der Hass zutiefst nur durch die Liebe überwunden werden kann. So ist vielleicht niemand so sehr berufen, für Menschen zu zeugen, wie der, der durch sie viel Leid erfuhr.112

Wie zahlreiche Zeitgenossen war Lotar ein politisch engagierter Schriftsteller, für den Theater und Rundfunk neben der Unterhaltungsfunktion auch politisch-gesellschaftliche Aufgaben haben sollten, um den Zuschauer bzw. den Zuhörer zu bewegen und zu verwandeln.113 Lotar verglich die „tiefere und nachhaltigere“ Wirkungskraft des Theaters mit der „breiteren“ des 112 Freie Blätter, undatiert (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-2-e). 113 Marek Adamski bestätigte in seiner Studie zur Darstellung der Kriegsgeschehnisse im westdeutschen Hörspiel der 50er-Jahre, dass zahlreiche Hörspielautoren mit ihren Werken genauso engagiert wie Lotar auftraten und der allgemeinen Tendenz folgten, „die Hörer mit zeitnahen Problemen zu beunruhigen.“ (Adamski 1971: 64)

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Rundfunks.114 Seine Schreibstrategie folgte der Erkenntnis, dass Theater und Rundfunk als Medien fungieren, die bestimmte Geschichtsbilder, Normen und Werte vermitteln und dadurch einen Beitrag zur Konstruktion unterschiedlicher Identitätskonzepte leisten könnten. Als Aufgabe jedes Schriftstellers sah er die Vermittlung christlicher Werte, humanistischer Einstellungen und demokratischer Ansichten an. In einem Brief an Frank Buchman aus dem Jahre 1949 bekräftigte Lotar seine Intention, Geschichtsbilder und Identitätsentwürfe in Bezug auf sein eigenes Wertesystem zu gestalten, ließ aber zugleich auch eine gewisse Skepsis den Publikumserwartungen gegenüber spürbar werden: Bei meiner ganzen Arbeit, die sich u. a. auch auf literar-historische Vorträge im Radio etc. erstreckt, versuche ich, das Problem einer Gesundung unserer kranken Welt durch die Kraft eines aufrichtigen und tätigen Glaubens in den Mittelpunkt zu stellen. Leider bringt es mein Beruf – der vom Publikum vielfach weit oberflächlicher aufgefasst wird – mit sich, dass ich diese zentralen Probleme der Menschheit nicht so oft und ausschließlich behandeln kann, als es mein Wunsch wäre.115

Die Kritik am Nachkriegspublikum spiegelte die gesellschaftliche Atmosphäre der späteren 40er- und 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts wider, die durch Werteverfall und beginnende Säkularisierung gekennzeichnet ist. Obwohl das Publikum erwartete, von Theater und Rundfunk unterhalten und somit von den alltäglichen Sorgen in der ‚materiell‘ ausgerichteten Aufbauphase abgelenkt zu werden, bearbeitete Lotar das Thema des deutschen Widerstandes bereits Anfang der 50er-Jahre – lange vor Beginn jener kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die von der jüngeren Autorengeneration und der Studentenbewegung in den 60er-Jahren angestoßen wurde. In den Werken aus den 50er-Jahren wird nicht direkt auf die Kriegsgeschehnisse eingegangen; es werden vielmehr die Grundlagen und Folgen des Krieges wie Totalitarismus, Antisemitismus und Heimkehrproblematik sowie die Schweizer Militärdienstverweigerung thematisiert. Mit seinem religiös-humanistischen Weltbild und seinem gesellschaftspolitischen Engagement vertrat Lotar als Autor tschechoslowakischer Herkunft, der sich seit 1949 als Schweizer Autor bezeichnete, jene Vor- und Nachkriegshaltung, die vor allem der älteren Schriftstellergeneration zugeschrieben wird und die quer durch den deutschsprachigen Raum zu finden war. In Deutschland klang noch das Programm der Reeducation nach, das den Wiederaufbau der demokratischen Entwicklung und die Förderung entsprechender Werte 114 Brief von PL an Walter Jacobson, von der Bundeszentrale für Heimatdienst, 20.5.1954 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-BUNH). 115 Brief von PL an Frank Buchman, 11.1.1949 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-BUCHM).

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zum Ziel hatte. In der Schweiz hingegen waren noch die Nachwirkungen der ‚Geistigen Landesverteidigung‘ zu spüren. Dieses kulturpolitische Programm mit seinen Wurzeln in den 30er-Jahren sollte durch die Vermittlung nationaler Bilder und Traditionen das nationale Bewusstsein der Schweizer Bevölkerung in der Zeit der Bedrohung stärken. Unbestritten waren beide Richtungen mit lehrhaften Tendenzen und moralischen Appellen verbunden (Schild/Siegfried 2009: 42–67; Amstutz 2000; Stern 1993). Dementsprechend reflektierte Lotar insbesondere in seinem dramatischen Werk, das in diesem Kapitel untersucht wird, vor dem geschichtlichen Hintergrund aktuelle zeitgenössische Probleme, die er zur Diskussion stellen wollte. Die aktuellen Kriegsereignisse und -folgen bilden in Lotars Werk Grenzsituationen, die als Prüfsteine der menschlichen Überzeugungen und der Unnachgiebigkeit ihrer Glaubenssätze fungieren.116 Diesen Gedanken setzte er meisterlich im Hörspiel und dem Theaterstück Das Bild des Menschen um, einem seiner bedeutendsten und erfolgreichsten Werke. In diesem Ideenwerk behandelte er den (deutschen) Widerstand über die politische Ebene hinaus aus einer ethisch-moralischen Perspektive. Dieser Ansatz lässt sich als Reaktion verstehen, insofern die Enthistorisierung und Entpolitisierung der historischen oder zeitgenössischen Themen mit Brückenschlag zu überzeitlichen Fragestellungen übergreifende Merkmale der Rundfunk- und Theaterproduktion der 50er-Jahre sind.117 Lotars lebenslanges Interesse an der Geschichte, der jüngsten Vergangenheit und den aktuellen Geschehnissen folgte dem Gedanken, dass man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen muss, um die Gegenwart zu verstehen, ihre Gefahren rechtzeitig zu erkennen und die Zukunft dementsprechend zu gestalten. Insbesondere seine Hörspiele, und hier in erster Linie die biographischen, die vor allem in der Schweiz und in Deutschland Resonanz fanden, übernahmen die Sinngebungs- und Orientierungsfunktion 116 Diese Beobachtung machte auch Adamski: „Ein allgemein festzuhaltendes Merkmal dieser Hörspiele bildet das Sich-Vertiefen der Autoren in die bestimmten Menschenschicksale, wobei mehr ein psychologisches Grübeln nach den absoluten moralischen Werten im Zentrum steht, als dass die Aufmerksamkeit den Ursachen der Missstände geschenkt wird, deren Einfluss der Mensch unterworfen wurde.“ (Adamski 1971: 75 f.) 117 Zu diesem Schluss kam auch Margret Bloom in ihren Untersuchungen zu der Hörspielproduktion dieser Zeitspanne: „Auf dem Hintergrund des aktuellen Zeitbezugs werden menschliche Überzeugungen und Glaubenssätze überprüft, die die konkrete Historie in keiner Weise spezifizieren, sondern eher anthropologische Dimensionen der menschlichen Existenz aufdecken. [...] Dem deutschen Hörspiel war die Situation der Kriegsgefangenen vielmehr ein Anlass, über das menschliche Wesen per se nachzudenken.“ (Bloom 1985: 257)

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für die junge Nachkriegsgeneration, die am schwersten vom Krieg betroffen war und sich mit unterschiedlichen Vergangenheitsversionen auseinandersetzen musste. Die Ausrichtung auf jene Menschen bzw. Rezipienten, die sich nach der Kriegserfahrung in einer Identitätskrise befanden, sich mit diversen Verlusten abfinden mussten und nach Vorbildern suchten, kennzeichnet so manche Nachkriegsproduktion. Zu den zentralen Motiven, die in den Identitätsprozessen eine bedeutende Rolle spielten und insbesondere in der Nachkriegsgesellschaft von hohem Wert waren, gehört die Wahrheitserkenntnis, die auf differenzierte Weise an das Schuldbekenntnis gekoppelt ist. In Lotars Werk wird die tiefschürfende Wahrheitssuche als die höchste ethische Prämisse sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben betrachtet. Der zentrale Topos bezieht sich bei Lotar auf die Losung ‚Die Wahrheit siegt‘, die in der tschechischen Kulturgeschichte eine lange Tradition hat und eine bedeutende Rolle spielt (Deutschmann 2009). Diese Losung führten die Hussiten unter Jan Hus (im 15. Jh.) mit einer religiösen Konnotation ein. Der erste tschechoslowakische Präsident, zugleich Philosoph und Soziologe, Tomáš Garrigue Masaryk, zitierte die Losung im Staatswappen. Masaryk verknüpfte als unermüdlicher Kämpfer für die Wahrheit zwei verschiedene Auffassungen mit dem Begriff: einerseits „den Wahrheitsbegriff der empirischen Wissenschaften“, andererseits „das christliche Vertrauen auf eine transzendente Wahrheit“ (Deutschmann 2009: 5). Die humanistische und pazifistische Botschaft Lotars, die von Schweitzers ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ beeinflusst wurde und großes Interesse am Menschenschicksal zeigte, könnte zu simplifizierenden Abwertungen und zur Betonung der didaktischen Ziele verführen. Dabei ist die Frage nach der Darstellung der innerlichen Veränderungsprozesse eines Individuums vor dem Hintergrund der erlebten Kriegsgeschehnisse ebenso zentral wie die Frage nach den ästhetischen Mitteln Lotars, mit welchen er sein Erinnerungskonzept umsetzte. Aber auch die Geschichtsbilder, die er durch die literarische Verarbeitung persönlicher Erinnerungen entstehen ließ, enthüllen weitere literarische Qualitäten seiner Hörspiele. Das folgende Kapitel untersucht vier Theater- und Hörspieltexte, um zu zeigen, wie Lotar den „metaphysisch und christlich fundierten Wahrheitsbegriff“ (Deutschmann 2009: 6) unterschiedlich darstellt und mit welchen formalästhetischen Mitteln er den unerschütterlichen Anspruch auf Wahrheit im Identitätsbildungsprozess umsetzt. Basierend auf den Untersuchungen des thematischen Bezuges auf die Kriegsgeschehnisse, der stilistischen Charakteristik, der dramaturgischen Vorgangsweise und vor allem der Erinnerungsarbeit werden die ausgewählten Texte in zwei Gruppen behandelt. In der ers-

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ten Gruppe wird neben dem Hörspiel und Theaterstück Das Bild des Menschen (1952) auch das Antikriegshörspiel Aller Menschen Stimme (1963) behandelt. In beiden Texten stehen die persönlichen Kriegserinnerungen einzelner Akteure im Vordergrund. Durch die Dokumentarmethode, die auf sorgfältigem Quellenstudium und der Montage unterschiedlicher autobiographischer Quellen beruht, wird die persönliche Identität der einzelnen Protagonisten neu (re-)konstruiert. Diese Montagetechnik entspricht Lotars Anspruch, Vermittler der Vermächtnisse derer zu sein, deren Schicksale oder Biographien in unserem kollektiven Gedächtnis bewahrt bleiben sollten. Mit dem Motiv von Wahrheit und Lüge in Bezug auf die religiöse und ethnische Toleranz setzte sich Lotar in zwei seiner Dramen auseinander. Die der zweiten Gruppe zugeordneten Theaterstücke beziehen sich auf die nationalen und religiösen Feindseligkeiten, die während der Kriegsgeschehnisse eskalierten. Die deutsch-tschechischen Beziehungen werden in Die Wahrheit siegt (1943), der katholische Antisemitismus in Das leere Kreuz (1960) thematisiert. Hier arbeitete Lotar nicht mit konkreten Erinnerungen, sondern ging von einem realen Ereignis bzw. einer realen Geschichte aus. Zentrales Thema ist die Identitätssuche junger Menschen, die zu Opfern historisch belasteter Konfliktbeziehungen werden. Gezeigt wird, inwieweit das individuelle Gedächtnis durch das kollektive beeinflusst wird. In beiden Texten wird veranschaulicht, dass Hass als grundsätzliche Emotion keine kollektive Identität stiften kann. Am stärksten kommt hier Lotars Leitgedanke zum Tragen, dass man dem anderen Menschen generell unvoreingenommen und unabhängig von Nation, Religion oder Geschlecht begegnen sollte. Sein Bemühen um eine allgemeingültige Darstellung des Eigenen und des Anderen kann trotzdem punktuell als zu starke Schwarzweißmalerei und damit als stereotypisch empfunden werden. In Anbetracht des großen Zeitraums, in dem die einzelnen Texte entstanden sind, werden sie in unterschiedlichen literaturgeschichtlichen sowie gattungstheoretischen Kontexten verortet. Die literaturgeschichtlichen und gattungsspezifischen Überlegungen zu den vier ausgewählten Werken, die den Zweiten Weltkrieg thematisch aufgreifen, sind durch die Spezifika der zwei unterschiedlichen Medien- und Theaterlandschaften mit ihren differenzierten, sich laufend verändernden Bewältigungsstrategien bedingt. Die Kriegsdarstellungen der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die 60er-Jahre in Deutschland und in der Schweiz folgen voneinander abweichenden Entwicklungslinien. Die unterschiedliche Intensität der Auseinandersetzung mit den ausgewählten Aspekten der Kriegsgeschehnisse ist auch im engen Zusammenhang mit der gesellschaftspolitischen Lage zu sehen. Trotz der gemeinsamen klaren Ablehnung des Krieges und des Faschismus

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unterscheiden sich Theaterstücke bzw. Hörspiele durch die Tiefe und Breite des analysierenden Blickes und die Perspektive der kritischen Einstellungen. In den Ausführungen zu den einzelnen Werken Lotars wird überdies auf die unterschiedliche ästhetische Qualität, die Aufführungs- und die Rezeptionsgeschichte hingewiesen.

4.1 Bedeutung von Schuld und Sühne für die Erinnerung Beide Hörspieltexte Lotars, Das Bild des Menschen (1952) und Aller Menschen Stimme (1963), stehen mit ihrer thematischen Auffassung, Darstellungsweise, formalästhetischen Charakteristik und Funktion trotz der zehnjährigen Distanz teilweise im Zeichen des traditionellen Hörspiels der 50er-Jahre. Das Hörspiel wurde zu dieser Zeit als literarische Wortkunst betrachtet. Von der Kritik der 60er-Jahre wurde ihm „eine enge Bindung an das traditionelle Literatur- und Theaterverständnis“ (Barner 1994: 244) attestiert. Diesem pauschalen Urteil lassen sich zwar Werke von Autoren entgegenhalten, die schon damals sprachkritisch auftraten (Barner 1994: 245). Es stimmt jedoch, dass grundsätzlich vor allem Wert auf das Wort gelegt wurde und die Anwendung der akustischen Elemente wie Geräusche, Musik, Klänge etc. dem literarischen Anspruch und der etablierten Innerlichkeitskonzeption unterlag. Die dominierende Dramaturgie der Innerlichkeit wurde in den 50er-Jahren vor allem mit dem Namen Heinz Schwitzke verbunden, der bei einem der größten und bedeutendsten Sender, nämlich dem Nordwestdeutschen Rundfunk in Hamburg, beschäftigt war. Während seiner Leitung setzte er die Innerlichkeitskonzeption konsequent durch: Die Sprache im Rundfunk, wenn man das Instrument redlich anwendet, hat nichts Kollektives und pathetisch Mitreißendes, läßt sich kaum aufschminken und zu falschen Tönen mißbrauchen. Immer kann sie den Einsamen, den Einzelnen nur aus sich selbst und auf die Auseinandersetzung mit sich selbst, auf den inneren Schauplatz verweisen. Innere Handlung, innerer Monolog, imaginärer Dialog, Dialog mit sich selber: das sind die Begriffe, von denen her man auch die Form des Hörspiels verstehen muß. Stets hat es – merkwürdig viel mehr als jede andere literarische Form – unmittelbar mit dem Gewissen des Menschen zu tun, der da lauscht. (Schwitzke 1963: 80)

Nach den Prinzipien der Innerlichkeit richtete sich die Dramaturgie des Deutschschweizer Hörspiels in dem Maße, „dass abweichende Entwürfe oder gar Experimente keine Aussicht auf Verwirklichung mehr hatten.“ (Weber

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1995: 22) Zurückführen lässt sich dieses Prinzip bis ins Werk Horoskop des Hörspiels von Richard Kolb mit seinem viel zitierten Zentralmotiv: ‚nicht der Mensch, sondern die Bewegung im Menschen‘ (Kolb 1932). Die ästhetischen Merkmale dieser Dramaturgie fasste Margret Bloom in ihrer Arbeit zum westdeutschen literarischen Originalhörspiel118 so zusammen: eine einprägsame Fabel, eine leichtverständliche Handlungsführung, Verzicht auf Nebenhandlungen, spezielle Figurendarstellung und der auf Einfühlung und Identifikation beruhende Illusionscharakter des traditionellen Hörspieltyps. Durch die einzelnen Darstellungsmittel wird eine innere Bühne in der Phantasie des Rezipienten erzeugt, wo es zur Verinnerlichung des Geschehens kommt. Die Handlung selbst verläuft vor allem im Inneren der einzelnen Figuren und hat „Gedanken, Gefühle und Vorstellungen“ (Bloom 1985: 114) zum Gegenstand. Die Lösung des Konflikts kommt nicht von außen, sondern ist durch die inneren Beweggründe und eine Änderung der Denkweise bedingt. Nicht zuletzt maß man der emotionalen Wirkung auf den Hörer großen Wert bei. Dem traditionellen Hörspieltypus wurde teilweise die Funktion der ‚moralischen Anstalt‘ zugeschrieben. Aus einer umfassenden Untersuchung des Hörspielrepertoires schlussfolgerte Bloom, dass nicht jedes Hörspiel aus den 50er-Jahren „völlig dem Innerlichkeitsschema entsprach, wohl aber Tendenzen der hier herauskristallisierten Dramaturgie in sich trug.“ (Bloom 1985: 128) Ein wesentlicher Teil der Originalhörspiele aus den 50er-Jahren widmet sich direkt dem Krieg und seinen Folgen (Bloom 1985; Adamski 1971). Sie schließen teilweise an die vorhergegangene Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit an, die laut Barner „durchweg im Zeichen der Schuldfrage [stand], der verzweifelten Ortssuche in mehrfachem Sinne nach der Zerschlagung Europas durch den Nationalsozialismus wie durch den Krieg und der Angst vor dessen Fortsetzung in dem größeren Umfang, den die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki andeuteten.“ (Barner 1994: 91 f.) Diese Kriegsdarstellungen werden jedoch heute sehr kritisch bewertet. Vorgeworfen wird ihnen die einseitige, wenig komplexe und rein oberflächliche Reflexion ohne Interesse an Ursachen und Zusammenhängen, wie Bloom feststellt: Nirgends wird der Krieg als ein in sich zusammenhängendes Ganzes begriffen, das bestimmte Gründe und Ursachen hatte und das auf bestimmte Bedingungen und Verhältnisse aufbauen konnte; nur en detail und in Ausschnitten werden schreckliche Vorfälle und 118 Die Arbeit von Margret Bloom stellt zum Hörspiel der 50er-Jahre die bedeutendste Quelle dar. Eine weitere umfangreiche, auf Tschechisch verfasste Publikation von Tereza Semotamová (2014) mit Fokus auf den Hörspielen der 50er-Jahre basiert größtenteils auf Blooms Forschungsergebnissen.

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Ereignisse aus der Vergangenheit rekapituliert. […] Ohne auf historisch soziale Bedingungen einzugehen, wird an Hand dieses Schemas die allgemeine und globale Unmenschlichkeit des Krieges an den Pranger gestellt. Der Krieg ist ein factum brutum, aber nicht ein historisches Phänomen, das zu erhellen und aufzuklären wäre.119 (Bloom 1985: 229 f.)

Nicht nur bei der Abhandlung der historischen, sondern auch der zeitgeschichtlichen Themen wird die Handlungslinie zumeist mehr auf die allgemein menschliche Ebene mit religiösen und existenziellen Fragestellungen gelegt und von moralischem Impetus begleitet.120 Eine offenere kritische Phase brachten erst die 60er-Jahre, wobei das Theater, das in den 50er-Jahren stagnierte, die Initiative übernahm. Die Gründe liegen in der sich wandelnden Position beider Medien. Das Theater festigte seine gesellschaftliche Funktion auch durch die rekonstruierten Theaterhäuser, der Rundfunk musste sich hingegen eine neue Rolle neben dem sich ausbreitenden Fernsehen erkämpfen (Hausmann 1985: 153–157). Lotars Hörspiele unterscheiden sich vom traditionellen Hörspieltypus auch durch die erwähnte Montage, mit der vor allem im Feature, einer anderen in den 50er-Jahren ebenfalls beliebten Rundfunkgattung, gearbeitet wurde.121 Als Beispiel dieser Gestaltungstechnik kann Ernst Schnabel mit seiner Sendung Der 29. Januar (Nordwestdeutscher Rundfunk Hamburg 1947) angeführt werden. Er forderte die Hörer dazu auf, ihm Notizen über den Tagesablauf an diesem Januartag zukommen zu lassen. Die daraufhin eingesandten Briefe, die vor allem die Alltagsatmosphäre der Nachkriegsbevölkerung widerspiegelten, wurden so montiert, dass sie eine kollektive Erfahrung aus verschiedensten Perspektiven vermittelten (Bloom 1985: 95). Die Gestaltungsmethode, die Lotar auch in seinen (insbesondere biographischen) Hörspielen entwickelte und anwandte, wurde für ihn zu einer festen schriftstellerischen Schreibstrategie. Sie basierte auf einem intensiven Quellenstudium vorwiegend autobiographischer Texte (ein ausführliches 119 Zu den gleichen Schlussfolgerungen, nämlich dass „eine tiefergehende Analyse des Zweiten Weltkrieges, die ohne eine konkrete Stellungnahme zum Kalten Krieg, zur DDR und zur bundesrepublikanischen Restaurationspolitik [...] erst in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren“ passierte, kam auch Jost Hermand, der sich allerdings mit dem westdeutschen Roman der 1950er-Jahre beschäftigte (Hermand 2001: 440). 120 „Historisch konkrete und gesellschaftliche Problematiken wurden in einen Bereich der irrationalen Heteronomie verdrängt, entweder ins Moralisch-Religiöse, ins Ahistorisch-Existentielle hochstilisiert oder zum Individuellen hin abstrahiert. Der Einzelne erfährt das Leid der Welt in der Konfrontation mit Grenzsituationen und befindet sich auf einer gleichsam existentiellen Wahrheitssuche.“ (Bloom 1985: 36 f.) 121 In der damaligen Produktion wurde zwischen den Bezeichnungen Feature und Hörspiel nicht streng getrennt.

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Verzeichnis der Primärliteratur wurde der schriftlichen Fassung seiner Werke beigelegt). Seine Herangehensweise weichte jedoch von der klassischen Dokumentarmontage ab. Lotar ging es nicht um eine genaue Wiedergabe der Dokumente, sondern er nahm sich die Freiheit, die der Textintention entsprechenden und themenbezogenen Zitate mit literarischen Mitteln zu einem dramatischen Text zu verdichten. Daher stehen zwei Dialogtypen nebenei­nander: deklamatorische, oft mit appellativer Funktion (Pfister 2001: 196–215) verbundene und durch innere Geschlossenheit gekennzeichnete Passagen, die entsprechend pathetisch klingen können, wechseln sich mit dynamischer aufgebauten und handlungsintensiveren Dialogen ab. Diese abwechslungsreiche Komposition der Dialoge bewirkt eine gewisse dramaturgische Leichtigkeit und führt zu einem gelungenen Spannungsaufbau. Für die Untersuchung von Identitätskonstruktionen in den Werken sind die Gattungen der zitierten Texte von Bedeutung. Für Das Bild des Menschen konzentrierte sich Lotar vor allem auf Autobiographien, Korrespondenzen und publizierte Memoiren der Akteure des deutschen Widerstandes, d. h. literarische Konstruktionen von persönlichen Erinnerungen mit verschiedenen Gedächtnisnarrativen. Durch diese Darstellungsmethode – seine Erinnerungsarbeit – kommt es zu mehrfachen (Re-)(De-)Konstruktionsprozessen der personalen und kollektiven Identitäten. Wie an mehreren Stellen in dieser Arbeit betont wurde, sind (auto-)biographische Texte mit ihren verschiedenen Funktionen ein fester Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses. Unter diesem Aspekt lässt sich an Lotars Erinnerungspraxis beobachten, wie er mit Einzelschicksalen umgeht und welche Art der Vergangenheitsbilder er anbietet. Dem traditionellen Hörspieltypus entsprechend sind die Konfliktsituationen auf die metaphysische und existenzielle Ebene verschoben. Jedoch gilt es zu hinterfragen, ob die Pluralität der Stimmen mit vielfältigen sozialen Zugehörigkeiten eine einseitige schematische und unvollständige Interpretation der gegebenen Ereignisse wirklich verhindern und einen komplexeren Blick auf das Problemfeld stiften. Durch die Exemplarität der typisierten Figuren kommt es leicht zu Verallgemeinerungen oder gar erneuten Schematisierungen. Die Pluralität der persönlichen Erinnerungs- und Erzählperspektiven kann als Merkmal der Moderne angesehen werden. Durch die Analyse von Lotars Hörspielen lässt sich veranschaulichen, inwieweit sie sich dem traditionellen Hörspieltypus annähern. Fokussiert wird auf die inneren, durch die Schuldgefühle ausgelösten Konflikte und die subjektiven Vergangenheitsdeutungen. Die Motive der Wahrheitssuche und des Schuldbekenntnisses treten häufig miteinander verbunden auf, wobei deren Beziehung unterschiedlich ausfällt. Manchmal geht das Schuldbekenntnis der

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Wahrheitssuche voran, manchmal ist es der darauffolgende, logische Schritt. Lotar berief sich dabei auf Jaspers’ Schuldfrage, bei dem die „bedingungslose Grundhaltung“ als „das Bekenntnis des Einzelnen zu seiner Schuld: aktives Schuldbekenntnis als ethisch und politisch adäquate Haltung“ (Marschall 2010: 125) zu verstehen ist. Von den vier Jaspers’schen Schuldtypen arbeitete Lotar vor allem mit den Bekenntnissen zur moralischen und zur metaphysischen Schuld, die sich auf die Taten jedes Einzelnen beziehen (Jaspers 1996). Ähnlich wie Jaspers bestritt auch Lotar die Existenz einer kollektiven Schuld. Man solle Verantwortung für seine eigenen Handlungen übernehmen und, falls die Situation es erfordert, gegen Ungerechtigkeiten, die unseren Mitmenschen passieren, einschreiten. Auch im Falle von führenden politischen Persönlichkeiten, die ebenfalls in seinem Figurenrepertoire vorkommen, ließ er die Behandlung der Schuldfrage nicht außer Acht.

4.1.1 Das Bild des Menschen Das vom deutschen Widerstand angeregte Hörspiel Das Bild des Menschen über die Stärke der menschlichen Überzeugung und seines Glaubens angesichts des nahenden Todes wurde ab 1952 durch deutsche und auch schweizerische Sender wiederholt ausgestrahlt.122 Der große Erfolg veranlasste Lotar, das Hörspiel zu einem Theaterstück auszuarbeiten.123 Die Uraufführung fand am 4. Oktober 1954 auf den Berliner Festwochen im Schlosspark-Theater Steglitz, in der Inszenierung von Karl Heinz Stroux durch das Schillertheater, statt. Das Stück wurde in Deutschland mit großem Interesse aufgenommen und von vielen deutschen Thea122 Die Radiopremiere fand am 21.7.1952 durch den Nordwestdeutschen Rundfunk Köln in der Regie von Wilhelm Semmelroth mit den folgenden Schauspielern statt: Mathias Wieman, Bernhard Minetti, Werner Hinz, Ullrich Haupt, Hans Schalla, Alfred Schieske, Hans Mahnke, Heinz Klevenow, Kaspar Brüninghaus, Helmut Dickow. Wiederholt am 1.11.1952, im Hessischen Rundfunk Frankfurt am 15.10. und 19.11.1952. Weiters gesendet durch Süddeutschen Rundfunk, Südwestfunk, Radio Bremen, Rias Berlin, Sender Freies Berlin, Bayrischer Rundfunk, Radio Hilversum, Radio Basel. Der schweizerische Landessender Beromünster strahlte es erst am 8.1.1953 aus. Insgesamt wurde es rund zwanzigmal gesendet. Der Hörspieltext erschien 1953 im Verlag von Felix Meiner in Hamburg im Druck. Es folgten Übersetzungen ins Englische, Französische, Italienische und Niederländische. 123 Die Praxis ist zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich. Das erfolgreiche Hörspiel Draußen vor der Tür von Wolfgang Borchert thematisierte die Heimkehrproblematik. Erfolgreich waren auch Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch und Leopold Ahlsens Philemon und Baukis, die später zu Theaterstücken überarbeitet und zum Teil bis heute aufgeführt werden.

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tern, auch von Laienbühnen, nachgespielt. Im Druck erreichte das Werk drei Auflagen und wurde in insgesamt 75 000 Exemplaren verkauft124 sowie durch die Verleihung mehrerer Preise ausgezeichnet.125 Am 20. Juli 1964 brachte der Sender Freies Berlin zum zwanzigsten Jahrestag des missglückten Hitler-Attentats die Premiere der Fernsehverfilmung von Das Bild des Menschen.126 In einem Brief an Hans Brunner beklagte Lotar die kaum vorhandene Rezeption in der Schweiz.127 Das Werk zählt mit Abstand zu Lotars bedeutendsten Erfolgen. Ausschlaggebend dafür dürfte auch die damalige gesellschaftspolitische Situation in Deutschland gewesen sein, die sich der Vergangenheitsaufarbeitung, den Fragen von Widerstand, Schuld und Sühne geöffnet hat, die auch im Rahmen des politischen Diskurses in den 50er-Jahren erörtert wurden. Die öffentliche Wahrnehmung des deutschen Widerstandes, noch lange nach Kriegsende durch die weiterwirkende nationalsozialistische Propaganda als negativ gebrandmarkt, wandelte sich allmählich dank des zunehmenden historischen Forschungsinteresses, das sich für eine gesellschaftliche Rehabilitierung der Widerstandskämpfer einsetzte (Temming 2016: 44–50). In der Literatur gab es zu dieser Zeit eine Reihe gattungsunterschiedlicher Werke, die den deutschen Widerstand thematisierten. Lotar selbst wurde durch die Lektüre der letzten Briefe von Helmuth James Graf von Moltke inspiriert, in denen eine klare Aufforderung an die kommenden Generationen anklang. Deren ethi124 Die gedruckte Theaterfassung wurde auch vom Verlag Felix Meiner in Hamburg 1955 und 1964 von der Bundeszentrale für politische Bildung Hamburg herausgebracht. 125 1954 erhielt Lotar für Das Bild des Menschen den Gerhart-Hauptmann-Preis in Berlin und 1960 den 1. Preis der Gesellschaft Schweizer Dramatiker. 126 Der Film entstand 1964 unter der Regie von Wilhelm Semmelroth. 127 Die Schweizer Premiere fand am 21.2.1956 am Stadttheater Bern statt. Am 31.10.1961 folgte noch eine Inszenierung am Stadttheater Luzern. Über seine Erfolge berichtet Lotar Hans Heinrich Brunner, Pfarrer und Chefredaktor des Kirchenboten für den Kanton Zürich: „Es wird Ihnen wohl ebenso unbekannt sein wie der breiteren schweizerischen kulturellen Öffentlichkeit. Und doch ist es eine Art von Kuriosum. Denn es geht um das einzige zeitgenössische religiöse Drama, ja eines der im Ausland meistaufgeführten Theaterstücke eines Schweizer Autors. Es wurde im Rahmen der Berliner Festwochen 1954 durch das Ensemble des Schillertheaters uraufgeführt und stürmisch diskutiert, erhielt anschließend einen Gerhart-Hauptmann-Preis, erschien im Jahr darauf im Programm der Ruhrfestspiele und ging über zahlreiche große Bühnen, wie Düsseldorf, das Wiener Volkstheater, Bonn, Mannheim, Bremen, Lübeck und wurde wiederholt von fast allen deutschsprachigen Radiosendern gebracht, wirkt in vielen Aufführungen durch kirchliche und weltliche Laienspieler in die Breite und hat eine ungewöhnlich hohe Buchauflage erreicht.“ Brief von PL an Hans Heinrich Brunner, 29.9.1958 (SLA, NPL, Sign. SLA-LotarB-1-BRU).

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sche Botschaft sprach Lotar an, und er machte sie zu seinem allgemeinen höheren Anliegen.128 Wie oben erwähnt intensivierte sich in den 50er-Jahren die Aufarbeitung der Vergangenheit und einzelner Aspekte des Kriegsgeschehens auch in der Hörspielproduktion. Bloom behandelt in ihrer nach den vielfältigen Themenbereichen der Kriegsproblematik gegliederten Monographie das Hörspiel Das Bild des Menschen im Teilkapitel „Menschen in Gefangenschaft“ (Bloom 1985: 257) und gibt eine kurze Interpretation.129 In diesem Kapitel finden sich auch die Hörspiele Kasan liegt an der Strecke nach Sibirien (Süddeutscher Rundfunk 1952) von Otto Heinrich Kühner über eine Gruppe deutscher Soldaten in russischer Gefangenschaft und Auswahl der Opfer von Rolf Schroers (Radio Bremen/Süddeutscher Rundfunk 1961), das im Konzentrationslager spielt. In allen drei Hörspielen bildet die Gefangenschaft den Rahmen, „Überlegungen über die Motivation menschlicher Verhaltensweisen und über die Stärke menschlicher Überzeugungen anzustellen.“ (Bloom 1985: 260) Nicht zuletzt könnte Das Bild des Menschen auch mit dem Telefonisten von Walter Jens (Norddeutscher Rundfunk/Süddeutscher Rundfunk 1957) in Beziehung gesetzt werden. Im Telefonisten lösen die Ereignisse um den 20. Juli in der Hauptfigur einen inneren Konflikt aus, sich dem Widerstand anzuschließen oder nicht. Der Entscheidungsprozess ist durch persönliche Beweggründe – die Rettung der eigenen Familie – motiviert (Bloom 1985: 252; Semotamová 2014: 92–94). Es geht ebenfalls nicht um die Erläuterungen der historischen Ereignisse, sondern um die konkreten Auswirkungen auf den Einzelnen. Der thematisch-stilistischen Gliederung der Hörspiele in der Arbeit von Tereza Semotamová folgend könnte in diesem Zusammenhang auch das Hörspiel Klopfzeichen von Heinrich Böll (Norddeutscher Rundfunk/Westdeutscher Rundfunk 1960) genannt werden. Böll gilt als einer der produktivsten und zugleich engagiertesten Hörspielautoren der Zeit; Bölls humanistischer Orientierung und seinem ideellen Hintergrund stand Lotar sehr nahe. In Klopfzeichen erinnert sich der Protagonist an seine Gefangenschaft und es werden retrospektiv Szenen nachgespielt. Semotamová betont, dass der Gefängnisaufenthalt als menschliches Erlebnis von ungewöhnlicher Warmherzig128 „Zu diesem Stück wurde er [der Autor – Anm. der Autorin] durch die Lehre ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ von Albert Schweitzer und durch die Briefe von Grafen Helmuth von Moltke inspiriert, in denen unter anderem gesagt wird: Europa nach dem Kriege ist die Frage: wie kann das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger wieder aufgerichtet werden?“ (Bild 3) 129 Eine einseitige und vereinfachte Interpretation des Stückes unter dem Aspekt der Humanität verfasste auch Petra Koňaříková, die sich mit Peter Lotar in ihrer Diplomarbeit beschäftigte (Koňaříková 1997: 42–61).

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keit, im Glauben an Gott dargestellt wird (Semotamová 2014: 96–100). Hier drängt sich der Vergleich zu einigen von Lotars Figuren in Das Bild des Menschen auf, die während ihrer letzten Stunden im Gefängnis ebenfalls menschliche Nähe und das Verständnis anderer suchen.130 Bei der Bühnenfassung könnten thematische Parallelen zu zwei um einige Jahre früher entstandenen Theaterstücken angeführt werden. In Carl Zuckmayers 1946 uraufgeführtem Drama Des Teufels General gerät die Hauptfigur Luftwaffengeneral Harras in den Gewissenskonflikt zwischen Anpassung und Widerstand (Temming 2016: 134–165). Im gleichen Jahr wurde auch das Theaterstück Die Illegalen von Günther Weisenborn uraufgeführt. Anders als bei Lotar und Zuckmayer gehören die Widerstandkämpfer Weisenborns nicht der politischen Elite, sondern einer kleinen Untergrundgruppe an. In den Vordergrund rücken nicht ihre konkreten Taten, sondern vielmehr die Gefühle der einzelnen Mitglieder, ständig verfolgt oder bedroht zu werden. Der Autor konzentriert sich auf die persönliche Tragik der Widerständler. Die Hauptfigur Walter rettet die kleine Gruppe durch seinen Selbstmord vor dem Verrat. Das Drama wird in der Forschungsliteratur als expressionistisches Stationendrama interpretiert (Niefanger 1997). Insgesamt ist allen drei Texten eine starke moralisch didaktische Intention mit der Ausrichtung auf das junge Publikum gemeinsam. Die Aufführung von Das Bild des Menschen bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen 1955 brachte die Theaterkritik nicht nur zu einem Vergleich mit thematisch gleichen Filmproduktionen, sie hob auch die wesentlich andere dramatische Konzeption des Werkes hervor: Was den beiden Filmen um den ‚20. Juli‘ nicht recht gelang, hatte Lotar schon viel früher erfüllt: den geistigen Hintergrund der Vorgänge anzuleuchten, das Thema von der politischen Ebene hinweg auf den reinen Diskussionsboden der Ethik und der moraltheoretischen Problematik zu führen. […] So hat er in seinen ‚Gesprächen einer letzten Nacht‘ aus einem Bündel dokumentarischer Geschehnisse mit erlaubter dichterischer Freiheit eine Hymne auf den christlichen Heroismus geformt.131 130 In einer Dokumentation zu Hörspielen aus den Sendejahren 1952–1953 werden neben Lotar noch weitere Hörspiele aufgeführt, die den Krieg als Thema aufgriffen: Die Gefangenen von Stefan Barcava, das bereits erwähnte Hörspiel Kasan liegt an der Strecke nach Sibirien von Otto Heinrich Kühner oder Sie klopfen noch immer von Emil Gurdan und nicht zuletzt Günter Eichs Die Mädchen aus Viterbo (Schlieper 2004: 13). – Eine Parallele zu Lotars Werken weisen noch zwei andere Hörspiele auf: Max Frischs Hörspiel Herr Biedermann und die Brandstifter und Eduard Reinachers Narr mit der Hacke, wo die Figuren sich selbst verhören, verteidigen und verurteilen und dadurch die Zuhörer dazu auffordern, ihr Gewissen zu überprüfen (Siegert 2002: 292 f.). 131 B. m.: ‚Das Bild des Menschen‘ in Recklinghausen. In: Düsseldorfer Nachrichten, 29.6.1955. Ebenfalls inszeniert von Karl Heinz Stroux.

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In Das Bild des Menschen132 reflektierte Lotar die ethischen, moralischen und geistigen Beweggründe, die die sozial und politisch unterschiedlichsten Gruppierungen zum Widerstand gegen die herrschende gewalttätige politische Macht brachten. Im Angesicht des Todes müssen sie sich zwei potenziellen Richtern stellen: dem eigenen Gewissen und den anderen Widerständlern. Die Weltanschauungen und Wertesysteme der unterschiedlichen Figuren werden mit der christlichen Tradition konfrontiert, wobei die Orientierung an den christlichen Tugenden Glaube, (Nächsten-)Liebe, Hoffnung und Toleranz als einziger Weg zur geistigen Erlösung und zum inneren Frieden nicht nur für die letzte Nacht vor der Hinrichtung angeboten wird. Reflexionen über den Sinn der persönlichen Aufopferung bilden den Ausgangspunkt für die allgemeiner formulierten Fragen nach der Notwendigkeit von Widerstand gegen Gewalt, dem Kampf gegen das Böse und dessen Umsetzung, nach der Berechtigung des Tyrannenmordes. Nicht zuletzt wird im Stück die Frage erörtert, ob und inwiefern man den Idealen der Menschlichkeit treu bleibt. Im Vorwort zum Stück präzisierte Lotar sein Schuldverständnis, wobei er die Verantwortung für alles, was dem Zweiten Weltkrieg vorausging, ganz Europa zuschrieb. Die ideelle Auseinandersetzung mit dem deutschen Widerstand war für Lotar bei der Neukonstruktion der kollektiven Identität der Nachkriegsgesellschaft(en) und der ethischen Vergangenheitsbewältigung von grundlegender Bedeutung – nicht nur innerhalb Deutschlands. In diesem Zusammenhang wurde Lotars Ideendrama Das Bild des Menschen als wesentlicher dramatischer Beitrag der Erinnerungskultur rezipiert. Darauf weisen nicht nur alle (Theater-)Kritiken, sondern auch das Interesse der Verlage hin; die Bundeszentrale verteilte die Druckausgabe an die Schüler. Im dramatischen Umgang mit dem nach Themenkomplexen geordneten und in fiktiven Dialogen montierten Material stilisierte sich Lotar als Vermittler der Vermächtnisse gestorbener Widerstandsakteure. Im Prozess der

132 Im Folgenden wird die erweiterte Bühnenbearbeitung von Das Bild des Menschen untersucht, die als dritte Auflage 1955 publiziert wurde. Die Hörspielfassung wurde nach der Theateraufführung nicht mehr abgedruckt. Der Theatertext gehört zu jenen wenigen dramatischen Werken Lotars, die der interessierten Leserschaft in gedruckter Form zugänglich sind. Die Bühnenfassung ist der Hörspielkonzeption treu geblieben. In diesem Sinne kann das Hörspiel als Vorarbeit des Theaterstückes betrachtet werden. Im Theatertext kommt es zu detaillierteren Ideenausführungen, die erst durch die Erweiterung des Figurenensembles möglich wurden. Auch deshalb wird auf die erweiterte, komplexere Version eingegangen. Auf die thematischen und dramaturgischen Unterschiede zwischen beiden Fassungen und deren Rezeption wird, sofern relevant, an entsprechender Stelle verwiesen.

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ästhetischen Umsetzung marginalisierte er die (kreative) Rolle des Autors.133 Durch diesen distanzierten Gestus verlieh er dem Material einen unantastbaren, fast pietätvollen Status, was die Gattungsbezeichnung als ‚Requiem‘ noch unterstreicht: Das Stück endet mit einem Gebet des Grafen und einer kurzen Trauerrede des Gefängnisgeistlichen und unterbindet den Schlussapplaus, wie Lotar im Vorwort anmerkt.134 Dort reflektiert Lotar auch, wie sich die Dokumentarmontage in seine dramaturgische Konzeption fügt und unter welcher Prämisse die ausgewählten authentischen Zitate aus den Quellen verwertet wurden: Unser Stück steht auf dem Boden der Tatsachen, aber es wächst über sie hinaus. Es ist die Aufgabe des Dichters, vom Einzelfall zum Typus, vom realistischen Detail zum gültigen Zeichen zu gelangen. So sind in jeder unserer Gestalten viele Schicksale zusammengefasst, jede von ihnen steht für unzählige andere da, damit das, was sich scheinbar zufällig und unübersichtlich unserem Auge darstellt, nun durchleuchtet wird zu jener Klarheit, die Bestand haben soll. (Bild 3)

Der multiperspektivische Erinnerungsprozess bietet ein facettenreiches Geschichtsbild des deutschen Widerstandes. Es handelt sich dabei um eine Form aktueller Wirklichkeitsaufarbeitung, in der die Allgemeingültigkeit im Vordergrund steht. Die Figurenkonzeption und -konfiguration, Ungebundenheit von Zeit und Ort sowie die Auslassung von historischen Zusammenhängen dienen dazu, ein konkretes Ereignis im größeren Nachkriegskontext zu behandeln. Nicht um Rekonstruktion, sondern um exemplarische Darstellung geht es. Das Bild des Menschen ist ein Ideendrama. Die Figurenkonstellation ist dabei besonders wichtig. In der letzten Nacht vor der Hinrichtung, im Angesicht des Todes, treten zehn bzw. vierzehn Figuren auf, „verschieden nach An133 Lotar betrachtete sich „als der anonyme und unwichtige Vermittler des großen Vermächtnisses derer, die selbst zu sprechen nicht mehr imstande sind.“ (Lotar, Peter: Das Werk. In: Rheinelbe Bergbau, 4/3 (1955), 54) 134 Der Graf spricht im Stück mehrere Gebete. Als Beispiel wird das vorletzte zitiert, in dem der Hauptgedanke des Stückes noch einmal erklingt: „Wir hoffen auf Dich, geopfert, nicht erschlagen zu werden. Oh, Herr, laß uns unser Sterben nicht vergeblich sein. Laß das Sterben der Millionen an den Fronten, in den Häusern der Städte und in den Kerkern Deiner Feinde nicht das Ende unseres ganzen Volkes sein, sondern gleich dem unseren, die Geburt eines neuen Lebens im Angesicht der Wahrheit. Du, durch den allein alles wächst, blüht und dahingeht, laß die Saat des Bösen nicht wieder aufgehen in den Herzen unserer Kinder. Laß sie sehen, daß die Welt zur Hölle wird, aus der wir Dich vertreiben. Laß sie erkennen, o Gott, daß die Welt nach diesem Krieg nicht abhängt von Soldaten, Grenzen, Plänen oder Organisationen, sondern von dem einen ganz allein: daß wir das Bild des Menschen wieder aufrichten nach Deinem Ebenbild.“ (Bild 57)

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lage, Herkunft, Beruf und Zielsetzung“.135 Sie tragen keine Namen, sondern sind nach ihren gesellschaftlichen Status und sozialen Rollen bezeichnet (z. B. Graf, General, Student, Frau eines Verhafteten etc.). Einige Figuren sind trotz der allgemeinen Benennung als konkrete Personen erkennbar, andere stellen trotz eines authentischen Kerns typisierte Figuren dar, was partikulär die didaktische Tendenz und die grundlegende Konzeption des Stückes unterstreicht, die keine Handlung, sondern innere Spannung aus der Dialektik der Ideen fordert. Die Figurenkonstellation näherte Lotar der Form des mittelalterlichen Tanzes an: „Zwei- oder dreimal erscheint der Reigen der Gestalten, um Abrechnung zu halten, unter sich und zugleich mit uns.“136 Beim Reigen mit und um den Tod kommen während dieser Nacht alle Häftlinge, einer nach dem anderen, zu Wort, wobei der Tod überall mehrfach präsent ist. Sie ringen mit der mehrfachen Todesgefahr, nicht nur mit dem Todesurteil, sondern auch mit dem drohenden Bombenangriff. Die nach politischer oder sozialer Zugehörigkeit ausdifferenzierten Figuren der Gerichteten, die sich entweder von Anfang an direkt am Widerstand beteiligten oder durch ihre politische oder religiöse Überzeugung mit dem System in Widerspruch gerieten, sind paarweise vertreten, bilden jedoch keine Held-Gegenspieler-Konstellationen. Als Paar stehen sie auf den einander gegenüberliegenden Seiten des ideologischen Spektrums. In Anbetracht der unterschiedlichen Ursachen ihrer Verhaftung setzen sie sich auf der politisch-sozialen, auf der moralisch-ethischen oder der theologischen Ebene mit folgenden grundsätzlichen Fragen auseinander: Muss man Widerstand leisten gegen die Herrschaft der Gewalt? Wer von uns ist dazu imstande und berufen? Lohnt es sich, dafür zu sterben – auch wenn der Tod ein vergeblicher scheint? (Bild 3)

Die Bekenntnisse und Reflexionen werden als Gespräch vermittelt, das sich durch die Merkmale eines platonischen Dialoges auszeichnet und von der Zentralfigur des Grafen initiiert wird, der auch die religiöse Dimension in die Argumentation hineinbringt. Vor dem angekündigten Bombenanschlag lässt die Gefängniswache ihn sich frei im Gebäude bewegen. Auf dem Weg zur Zelle des Obersten hält er bei den Zellen der anderen Häftlinge an. Ausgehend von ihrer gesellschaftlichen Position und ihrer ideologischen Überzeu135 In der Bühnenfassung wird das Figurenregister im Vergleich zur Hörspielfassung um die Figuren des Vaters, der Frau, um einen anderen Arbeiter und nicht zuletzt um den Gefängnisgeistlichen erweitert (Bild 3). 136 Zur Figurenkonstellation äußerte sich der Autor des Stückes bereits im Nachwort Für Helfer auf der Bühne (Bild 61).

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gung suchen sie Antworten auf die Fragen, die der Graf ihnen stellt. Er wird mit unterschiedlichen Stellungnahmen, Zielen und Motivationen konfrontiert und bemüht sich, die zerstrittenen Seiten im Geiste seiner christlichen Überzeugung zu versöhnen, weil man doch für die gemeinsame Sache – gegen das Böse – kämpfte und dafür sterben wird und im Sinne des christlichen Glaubens vor dem Tod alle gleich sind. Seine Vermittlerrolle bezieht sich auch auf die Versöhnung der Einzelnen mit Gott und der eigenen Seele, weil viele ihren Tod als sinnlos und wahnsinnig empfinden. Der Vertreter der kommunistischen Partei, der Arbeiter Paul, überwindet seinen Klassenhass nicht einmal im Gefängnis; er will nicht einsehen, dass man die grundlegenden Fragen nicht nur aus der politisch-sozialen Perspektive reflektieren kann, und dass im Kampf für eine gemeinsame Sache noch andere Qualitäten als die politische Zugehörigkeit von Bedeutung sind. Das wird durch den Arbeiter Otto bewiesen, der von Paul als Verräter an seinen Kollegen entlarvt wird. Zwischen dem Professor und seinem Studenten spielen sich ein akademischer Streit und ein ethischer Generationskonflikt ab. Beide wollten ihren Verpflichtungen für ihr Vaterland nachkommen. Jedoch erreichten sie den Punkt, wo sie dem Regime nicht mehr vertrauen konnten und eine Glaubenskrise erlebten, als sie sahen, wie unbarmherzig unbequeme Individuen liquidiert wurden. Ihre ethischen Überzeugungen waren damit nicht vereinbar. Bei dem jungen Studenten löst dies den Bruch mit der persönlichen Identität aus. Typisch für Lotar ist, dass er der jungen Generation häufig solche hoffnungslosen Worte in den Mund legt: STUDENT: Auch ich glaubte nicht an die Notwendigkeit des Krieges. Aber ich kann mich nicht an der Niederlage meines Vaterlandes freuen, ich kann nicht zu ihr beitragen und damit Millionen Kameraden in den Rücken fallen, die nichts anders tun als ihre Pflicht. Für mich gab’s keinen anderen Weg, als an die Front. […] Es ist unsinnig, sich einer unbarmherzigen, toten Maschinerie entgegenzuwerfen. Ich hab’s eingesehen: Ich sterbe für nichts. (Bild 42 f.)

Einen Rückschlag versetzt ihm auch sein Professor, der geglaubt hatte, durch seine hohe Position in der Regierung sein Wissen einbringen und seine pazifistische Weltanschauung durchsetzen zu können. Seine fragwürdige Strategie scheitert: PROFESSOR: Ich trat als Berater ins Außenministerium ein. […] Ich hatte ja den Minister oft genug als präpotenten Dummkopf bezeichnet. Gerade darum beschwor man mich, durch meinen Einfluss diesen Krieg noch zu verhüten. Aber meine Ratschläge waren unwillkommen. […] Aber ich wollte jetzt erst recht der Sache des Friedens dienen. Das Hindernis auf diesem Wege war unser eigenes Regime. Und darum bekämpfe ich es. Mit allen Mitteln und aus der geeignetsten Position. […] Fazit: der Widerstand will nichts von mir wissen, weil ich im Dienst des Regimes stand, und das Regime hängt mich auf, weil ich es verraten habe. (Bild 26)

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Das dritte Figurenpaar stellen zwei Soldaten dar, der General und der Oberst, die beide im Dienst des Regimes standen. Der sich widersprechende und heuchlerische General verweigerte Befehle, als er mit der militärischen Strategie des obersten Kriegsherrn nicht mehr einverstanden war; die „Aufopferung unserer Mannschaften, die man zwingt, in Positionen zu verharren, die längst verloren sind“ (Bild 39), erschien ihm sinnlos. Er empfindet keinerlei Schuld. Im Gefängnis glaubt er lange Zeit, dass es sich in seinem Fall um ein Missverständnis handelt, und bettelt um eine Begnadigung. Im Gespräch mit dem Gefängnisgeistlichen zeigt sich sein tiefes Verständnis von Frieden und Krieg, Ehre und Lüge und nicht zuletzt Mord. GENERAL: Sie glauben wohl, der Berufssoldat hat nichts anderes im Sinn, als die Furie des Krieges zu entfesseln, nicht? Aber ein echter Soldat ist Pazifist. Zum Unterschied von denen, die ihn herbeiführen, kennen wir nämlich den Krieg. (Bild 18)

Der Oberst wurde für das (misslungene) Attentat auf den Machthaber verurteilt. Die ethische Frage nach der Art des Widerstandes und die moralische Dimension des Mordes an einem Verbrecher wird zum Zentralthema zwischen dem Oberst und dem Grafen. In diesem Punkt prallen zwei unterschiedliche Anschauungen aufeinander. Der Graf als tief religiöser Mensch, Friedenskämpfer und Gewaltverächter, war mit dem nationalistischen Regime nicht einverstanden, findet jedoch keine Rechtfertigung für ein Attentat, obwohl es gegen einen Tyrannen gerichtet war. Das Gespräch zwischen beiden verläuft im traditionellen theologischen Diskussionsrahmen. Der Oberst ist vom Nutzen seiner Tat für die Zukunft überzeugt; seine Hoffnung liegt auf der jungen Generation, die sein Handeln zur Konstruktion der eigenen Identität und zur Geschichtsbewältigung benötigen wird: OBERST: Es gibt eine Tiefe der Schuld, in der es keine Umkehr, nur noch ein Ertrinken gibt. Um einem Volk dieses Äußerste zu ersparen, müssen manche seiner Söhne sich selbst zum Opfer bringen. Das war mir auferlegt und meinen Kameraden. Es ist nötig, daß wir sterben, damit unser Volk in uns aufersteht und wir in seinem Herzen. (Bild 51)

Im Gespräch zwischen dem Grafen und dem Studenten wird dem eigenen Tod ein Sinn abgerungen. Durch das Opfer wird das ‚Bild des Menschen‘ gerettet. GRAF: Wie können wir die Zukunft bauen, wenn wir mit der Vergangenheit nicht fertig werden? Wie sollen wir die alten Fehler vermeiden, wenn wir sie nicht einmal erkennen? Wir haben die Wahl: Wollen wir in der Selbsttäuschung beharren? Oder wollen wir an uns selbst die Reinigung vollziehen und damit uns und unseren Kindern ein volles, neues Leben schenken? […] Wenn Sie darin zur Klarheit kommen, bekommen Tod und Leben einen neuen Sinn. […] Das Leben als Probe der Bewährung. Der Tod als Anfang, nicht als Ende. (Bild 44)

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Über die geistige Stärke im Glauben auch angesichts des Todes tauschen sich der Graf und der katholische Pfarrer aus, der trotz seines Berufs mit Angst zu kämpfen hat. Der Graf ist Gott dankbar, dass er seinen Lebensweg gefunden und sich an christliche Werte und moralische Prämissen, etwa bei der Bekämpfung des gewalttätigen Regimes, zu halten imstande war: GRAF: Er [Gott – Anm. der Autorin] pflanzte in mich jenen sozialistischen Zug, der mich von dem Verdacht befreite, Vertreter einer Kaste zu sein. Als die Gefahr bestand, dass ich in eine aktive Verschwörung hineingezogen würde, da wurde ich herausgenommen, damit ich frei von jedem Zusammenhang mit der Gewaltanwendung bin und bleibe. (Bild 23)

Dagegen macht er sich Vorwürfe, nicht ausreichend und erst zu spät gegen das Regime gehandelt und eingegriffen zu haben: GRAF: Ich klage mich der Herzensträgheit an, weil ich das Unrecht und Leid, das anderen geschah, nur verdammte, ohne mich dagegen zu erheben. Ich klage mich des Treubruchs an, dass ich das Böse nicht von Anfang an bekämpfte, sondern erst als es schon im Begriffe war, uns alle zu überwältigen. So hab’ ich selbst zu seinem Sieg beigetragen. (Bild 56)

Das Theaterstück weist einen doppelten Rahmen auf. Die Erinnerungen des Gefängnisgeistlichen bilden den äußeren Erzählrahmen mit Einführungsund Abschlussmonolog. Er ist der Einzige, der die letzten Nächte der Verhafteten, die er begleitet, um ihnen Erlösung anzubieten, erlebte und überlebte. Er fungiert als Träger des kollektiven Gedächtnisses, das aus den einzelnen individuellen Erinnerungen der Toten im Gefängnis erwächst. Er sorgt dafür, dass ihre Erinnerungen und die Erinnerungen an sie nicht in Vergessenheit geraten. DER MANN [Gefängnisgeistlicher – Anm. der Autorin]: Es gibt Dinge, die man nicht vergessen kann… gewiß… in jedem Leben gibt es Erinnerungen. Aber manchmal ergreift dieses Unvergessliche so ganz und gar Besitz von uns, als ob nichts anderes mehr Platz darin hätte. (Bild 9)

Neben den Einleitungs- und Abschlussworten des Gefängnisgeistlichen fungiert der Brief des Grafen an seine Frau, die er wohl nicht mehr sehen wird, als zweiter Rahmen für die Handlung. Die Briefteile veranschaulichen, über die Liebeserklärung an seine Frau hinaus, seine innerliche allmähliche Versöhnung mit Gott und die Annahme seines Schicksals. Im ersten Teil begründet er das Todesurteil, das prinzipiell wegen seines Glaubens gefallen ist: GRAF: Dein Mann, Dein schwacher, feiger, ‚komplizierter‘, sehr durchschnittlicher Mann, der hat das erleben dürfen: zu einem Instrument Gottes zu werden. Nicht als Verschwörer hat man mich verurteilt: denn es ist vom Gericht festgestellt, dass ich gegen jede Gewalt war, nichts organisiert, nichts geplant hatte. Nein, man tötet mich, weil ich meine Befehle von Gott empfangen, an Stelle von den Machthabern. (Bild 11)

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Die Häftlinge kommen noch mit zwei weiteren Personen, die durch das Haus gehen, in Kontakt. Die diabolische Gestalt des Gefängnisdirektors bemüht sich, die Verhafteten vor Vollstreckung ihrer Todesurteile noch grundsätzlicher zu erschüttern. In diesem Fall unterlag Lotar der allgemeinen Tendenz der Dämonisierung der NS-Mitglieder (Bild 61). Der Direktor ahnt jedoch nicht, dass es sich auch um seine letzte Nacht handelt. Bei einem Bombenangriff kommt auch er ums Leben, früher als die Verurteilten. Im Bewusstsein seiner Macht über Leben und Tod versucht er, die Gefangenen im letzten Moment zu brechen und zum Verrat zu verführen. So spielt er mit der einzigen Frau, die vor Kurzem Mutter geworden ist. Diese verkörpert die höchsten moralischen Eigenschaften und lässt sich nicht auf einen Teufelspakt ein. Als Einzige denkt sie nicht über den Sinn ihres Opfers nach. Sie handelt und hat den direkten Zugang zum Leben. Um das Leben ihres ebenfalls verhafteten Mannes zu retten und ihr neugeborenes Kind einer fremden Erziehung zu entziehen, ist sie bereit, ihr Leben ohne Zögern zu opfern. So nimmt sie hier Stellung zum Erinnern: FRAU: Oh, nein. Vieles Schwere vergessen wir durchaus nicht. Wir dürfen es gar nicht, weil wir es brauchen. Leid, Schmerz, Tod, das gehört zu unserem Leben, so wie Geburt, Liebe, Frühling. (Bild 14)

Als sie das hinterhältige Versprechen des Gefängnisdirektors durchschaut, überlässt sie ihr Kind ‚dem Vater‘ in der Hoffnung, dass es den Großeltern überreicht wird. Der alte Mann ist die zweite Person, die die Häftlinge besucht. Er tritt als Todesbote auf, eine Symbolfigur, die im Gegensatz zum Geistlichen die letzten praktischen Dinge vor dem Tod der Verurteilten regelt; sein Erscheinen steht für die Unausweichlichkeit des nahenden Todes. Die Schlussfolgerungen der Gespräche führen zur Erkenntnis, dass Sittlichkeit vor der Gewalt scheitert, wenn sie keine tiefere Verankerung hat. Die religiöse Dimension, die sich bei grundsätzlichen christlichen Fragen als entscheidend zeigt, wird durch die führende Stimme des Grafen verkörpert. Nicht nur im Vorwort zum Theaterstück artikulierte Lotar sein gesellschaftliches und politisches Engagement.137 Er verfolgte durch seine Ästhetik und Dramaturgie ein Anliegen, nämlich das Publikum zur Reflexion der eigenen politischen Position zu bringen.138 Dies erreichte er durch den Aufbau des 137 „Dieser Kampf [um die Würde des Menschen – Anm. der Autorin] ist nach innen wie außen zu führen, durch alle Völker, Rassen und Klassen hindurch. Zunächst aber wird er immer in uns selbst entschieden.“ (Bild 4) 138 Bernhard Siegert erhellte in seiner Studie am Beispiel von Max Frischs Hörspiel Herr Biedermann und die Brandstifter im Anschluss an Kants Metaphysik der Sitten die innere Bühne als Schauplatz eines inneren Gerichtshofes des Gewissens. Zusammen mit der negativen

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Stückes (Totentanz), basierend auf der Wiedergabe der Erinnerungen der einzelnen Figuren, indem er den Eindruck einer brennenden persönlichen Beichte in der Todesstunde vermittelte. Das rückblickende Sich-selbst-Verhören-und-Verurteilen entspricht dem Konzept der inneren Bühne, die sich zum Gerichtshof, dem letzten Gericht, wandelt.

4.1.2 Aller Menschen Stimme In zahlreichen Hörspielen wurde der Krieg, ausgehend von der aktuellen politischen Machtverteilung, aus der Perspektive des Kalten Krieges dargestellt. Das gilt auch für Lotars Hörspiel Aller Menschen Stimme.139 Die warnende Stimme des japanischen Arztes Nagai erinnert an Hiroshima und erhebt sich gegen weitere militärische Aufrüstung und Gewalt. Dem Thema der „Warnung vor der gefährlichen Entwicklung des militärischen Potentials“ widmet sich auch Bloom und weist auf zwei weitere Antikriegshörspiele hin: Oskar Wessels Hörspiel Hiroshima (Nordwestdeutscher Rundfunk Hamburg 1947) und Die japanischen Fischer von Wolfgang Weyrauch (Bayrischer Rundfunk 1955) haben die Folgen des Atombombenabwurfes auf Japan im Sinne des Innerlichkeitskonzeptes zum Thema (Bloom 1985: 285–291). Im Mittelpunkt des Anti-(atom-)kriegshörspiels Aller Menschen Stimme stehen, anders als in Das Bild des Menschen, keine zu entschlüsselnden ‚prominenten‘ historischen Persönlichkeiten, sondern Reihensoldaten oder unbekannte Zivilisten. Lotar rückte den einfachen Menschen in den Vordergrund, der das kriegerische Geschehen direkt an der Front des Zweiten Weltkrieges miterlebt hat und mit alltäglichen absurden Situationen konfrontiert wurde. Das Hörspiel erweitert die Reihe der Antikriegswerke, die mit authen­ tischen Kriegserinnerungen von Zeitzeugen arbeiten, um so eindringlicher zu zeigen, wie die Kriegsmaschinerie das Menschenleben ohne nationale Unterschiede rücksichtslos zerstört. Nicht zuletzt stehen diese Zeugnisse im Gegensatz zu den offiziellen Propagandaberichten über die jeweiligen Kampf­ erfolge auf beiden Seiten. Wie Lotar in einem Brief an Albert Schweitzer erwähnte, ist es ihm wichtig, dies im kollektiven Gedächtnis aufzufangen und als Warnung vor weiteren menschenvernichtenden Handlungen vorzulegen.

Radioästhetik (Ausschließung der akustischen Mittel) betrachtete er das Hörspiel als „Mittel der Vergangenheitsbewältigung in den 50er Jahren“ (Siegert 2002: 292 f.). 139 Gearbeitet wird mit dem Typoskript vom Jahre 1963 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-3-i).

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Verehrtester und liebster Freund, als Zeichen meiner steten Verbundenheit mit Ihrem Ringen und als kleine weihnachtliche Aufmerksamkeit sende ich Ihnen heute meine neueste Arbeit, an die ich nach langen Monaten der Gestaltung des gewaltigen Stoffes letzte Woche den Schlusspunkt gesetzt habe. ALLER MENSCHEN STIMME ist eine Schilderung des Leidens der Menschen aller Nationen im vergangenen Kriege und zugleich ein Memento vor der uns bedrohenden endzeitlichen Katastrophe des Atomkrieges. Um möglichst Viele zu erreichen, habe ich wieder die Form des Hörspiels gewählt und trotz der gegenteiligen Tendenz in der Bundesrepublik, haben sich bis jetzt schon München und Frankfurt bereit erklärt, das Manuskript zu senden. Möge es offene Herzen und Geister finden.140

Aller Menschen Stimme basiert hauptsächlich auf den Briefen und Aufzeichnungen von Kriegsbeteiligten, die Hans Walter Bähr (1952, 1961), mit dem Lotar auch das Interesse an der Lebensphilosophie von Albert Schweitzer teilte, zusammengetragen hatte.141 Lotar montierte diesmal mehrere Menschenschicksale ineinander. Die typisierten Figuren, deren Namen austauschbar sind, präsentieren jedoch keine Ideenträger wie in Das Bild des Menschen. Stattdessen sollen sie es ihm ermöglichen, in bestimmten Szenen, wie etwa der Schlacht um Stalingrad, ein komplexes und plastisches Bild aufzubauen und die erlebten innerlichen Brüche bei allen Akteuren zu demonstrieren wie zu dekonstruieren. Zugleich sind sie Vertreter der verschiedenen Nationalitäten, die an den wichtigsten Fronten des Zweiten Weltkrieges mitkämpften oder in das Kriegstoben hineingezogen wurden. Der Fokus liegt vor allem auf dem wahrhaftigen und jungen Menschen, dessen Gefühle, Gedanken und Werte sich durch das Erlebte formen. Obwohl die Chronologie der einzelnen Kämpfe eingehalten wird, d. h. vom Kriegsbeginn im Jahre 1939 bis zum Abwurf der Atombomben, und die Fronten auch namentlich genannt werden,142 140 Brief von PL an Albert Schweitzer, 22.11.1962 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-SCHWEA). 141 Lotar suchte jedoch nach vielfältigen Dokumenten, um seine Intention zu erfüllen: „[…] fehlt mir doch noch etwas sehr Wichtiges. In all diesen Werken kommt fast ausschliesslich eine charakterlich wie geistig hochstehende Elite zum Wort. Ein umfassendes Bild, vor allem jedoch eine dramatische Gestaltung, die ihre Funken aus dem Zusammenprall des Gegnerischen, aus Verstrickung in Schuld und Erlösung durch Sühne, schlägt, bedarf jedoch der Gegenstimmen. Es fehlen mir ganz die Vertreter des Nationalismus und Hurra-Patriotismus, wie er vor allem bei den Nazis, aber auch den anderen Völkern zu finden ist, ebenso die ewigen Landsknechtsnaturen, kurz alle diejenigen, die aktiv oder passiv immer wieder die Mitverantwortung für das Zustandekommen des Menschenmordes tragen. Auch für sie möchte ich nicht etwa offizielle Verlautbarungen von Staatsmännern sprechen lassen, vielmehr soll alles im Bereich des scheinbar Privaten und darum gerade auf alle Bezüglichen verbleiben.“ Brief von PL an Hans Walter Bähr, 27.2.1962 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-3-l-6). 142 Es wird auf die wichtigsten Fronten des Zweiten Weltkrieges wie Polen, die russische Front, Flugkrieg in England und Afrika, den Überfall von Pearl Harbor und nicht zuletzt auf die Atombombenabwürfe auf Hiroshima eingegangen.

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spielen die zeitlichen und räumlichen Verortungen keine größere Rolle. Sie akzentuieren bloß die Darstellung der Vielstimmigkeit der Welt, um als Gesamtbild die Reflexion aller Menschen zu komplementieren und eine von der Nationalität unabhängige Parallele zwischen dem Erleben der Menschen zu ziehen. Die Chronologie ermöglicht es, den psychologischen Prozess der innerlichen Wandlungen zu veranschaulichen, nachdem die eigene Existenz bis auf den Grund erschüttert wurde. Unabhängig von ihrer Ausgangsposition erleiden alle Beteiligten einen mehrfachen Vertrauensverlust (zum System, zur Menschheit, zu sich selbst) und den Verlust der Ideale und des Lebenssinns. Sie stürzen in bodenlose Verzweiflung und suchen anschließend den Weg zu Gott, der allein die moralische Sicherheit und Aussicht auf mögliche Vergebung bietet. Wie im Stück Das Bild des Menschen sind Glaube, (Nächsten-)Liebe, Hoffnung und Toleranz die Voraussetzungen für Erlösung und Versöhnung. Das Kompositionsprinzip zeichnet sich dadurch aus, dass mehrere ursprünglich monologische Erinnerungen vom Autor zu einer gemeinsamen montiert und darüber hinaus untereinander dialogisch gestaltet werden, um ein komplexes Gesamtbild anzubieten. Zur Figurenkonstellation meinte Lotar: Aus allen Völkern stammen sie und die Szene des Dramas ist der ganze Erdball. Sie kennen sich nicht und werden dennoch zu Gegenspielern. Sie hören sich nicht und führen trotzdem einen gewaltigen Dialog. Ihn gilt es aufzuschreiben für uns und unsere Nachgeborenen.143

Die schnell wechselnde Perspektive entspricht dem ästhetischen Prinzip der lebendigen Dramaturgie. Dadurch kommt es zur Konfrontation der einen Figur und ihres psychischen Zustands mit ihrem Gegenüber sowie mit anderen Akteuren. Auch unter den Mitkämpfern tauchen ganz unterschiedliche Realitätswahrnehmungen auf. Im Folgenden soll anhand einiger Beispiele auf die Modellhaftigkeit der Gegenüberstellungen eingegangen werden. An der Zentralfront von Polen bis nach Russland treten zwei deutsche Soldaten auf, die sich durch ihre Ansichten unterscheiden und bei denen die wechselnden Lebensziele und der sich ändernde Blick auf den Sinn des Lebens reflexiv verfolgt werden. Beide sind aus unterschiedlichen Gründen in den Krieg gezogen. Der Patriot Gernot überdenkt seine idealisierende Kampfbegeisterung und den unbegrenzten Glauben an den Führer nicht, äußert seinen Stolz auf Kriegserfolge und Fortschritte der deutschen Armee, bis ihm endlich im harten russischen Winter Zweifel an der Unbesiegbarkeit 143 Ein Exposé zum Hörspiel. Lotar, Peter: Eine Prise Tod, ein Gramm Ewigkeit. Typoskript, undatiert (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-3-l-6, 1 u. 3).

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aufkommen. Die Frustration, vom Führer im Stich gelassen zu werden, führt allmählich zur Hinwendung zu Gott. Wo Gernot begeistert eine Kolonne von Maschinen sieht, sieht sein Kamerad, Andreas, Kolonnen von Menschen. Der Generalssohn, ein überzeugter Pazifist, reflektiert die unerträglichen Folgen des fortgeschrittenen Krieges auf beiden Seiten der Front: Elend, Leid und Schmerz. Idyllische Landschaftsbilder werden durch vernichtende Bombenschläge und tausende Tote ersetzt. Seine Verzweiflung über den Tod seiner Kameraden und über den Glaubensverlust offenbart Andreas einem verletzten Russen namens Kotik, den er verhaften soll. Kotik verhilft ihm durch seine Überzeugung und Hoffnung zur inneren Versöhnung. Der Deutsche Martin und der Franzose Luc waren von Kindheit an befreundet. Beide sind begeisterte Hobbyflieger. Bei Kriegsausbruch waren sie sich über die Stupidität des Krieges einig, doch ihrer Überzeugung zum Trotz wurden sie in der Luft gegeneinandergestellt. MARTIN: Oh, Luc, wir vermögen uns dem Schicksal unseres Volkes ebenso wenig zu entziehen wie dem Wirken der Sonne und ihrer Jahreszeiten. Wir können nur versuchen, wider alles Verhängnis, zu glauben und zu lieben, als Opfer einer Ordnung, die nicht die unsere ist. Vielleicht bringt uns diese Not der Erkenntnis der Wahrheit näher. (Stimme 7)

In einer Messerschmitt, zu dieser Zeit einer der besten Flugzeugtypen, spürt Martin die Überlegenheit gegenüber der Ausrüstung von Lucs Armee und zugleich den Zwiespalt, für etwas zu kämpfen, woran er selbst nicht glaubt. Seine völlige Konzentration auf die Arbeit geht über in die Beschreibung der ungeheuerlichen Taten beim Überfall auf die wehrlosen Städte und er fühlt sich mehr und mehr verloren und einsam, bis er den Glauben an die Menschheit und Wahrheit verliert. Luc hingegen wendet sich gleich Gott zu und bemüht sich, wieder ein Leben im Geiste zu finden. Zum Schluss stehen sie im Kampf gegeneinander und stürzen gleichzeitig ab. Die Zentralfigur des Frontkampfes der Italiener gegen die Partisanen in Montenegro ist der Italiener Giacomo. Den Krieg betrachtet er als Konsequenz der eigenen Passivität. Er hilft dem gefangenen und gefolterten Partisanen Duschan, weil nicht die Menschen, sondern der Krieg sein Feind ist. Als er selbst in Gefangenschaft gerät, glaubt ihm keiner der Partisanen, dass er Duschan geholfen hat. Er ist bereit, die kollektive Schuld auf sich zu nehmen und persönliche Opfer für das ganze Volk zu bringen: GIACOMO: Oh, Herr, Herr… willst du mich prüfen…? Wie könnten Menschen mich richten, da ich in Wahrheit von dir gerichtet werde. Bei dir liegen meine Protokolle und Beweise. Ich glaube, den Jugoslawen kein Übel angetan zu haben. Aber jeder von uns war, wie alle anderen, an einer gemeinsamen Sünde beteiligt: am Egoismus der Völker. Immer

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wieder verwüstet er die Welt. Ihre Heilung verlangt nach Buße. Wenn ich hier hingerichtet werde, so sterbe ich nicht dafür, was ich persönlich tat, sondern dafür, was wir alle im Krieg begangen haben. Mir ist ein Werk auferlegt, das weit über den einzelnen Menschen hinausgeht. (Stimme 39)

An der russischen Front begegnen einander zwei Pianisten, leidenschaftliche Musikliebhaber, die im Frieden in einem Konzerthaus nebeneinandersitzen könnten, hier jedoch auf den verfeindeten Seiten aufeinanderstoßen. Bei der Besetzung eines Hauses entdeckt der deutsche Kommandant einen Flügel, der einem auf dem Dachboden versteckten Juden gehört. Die Musik stellt für den Kommandanten einen Ausweg aus der trostlosen Lage dar. Seine Aussagen, die inneren Gesprächen mit seiner Frau gleichen, nähern sich einer Beichte: KOMMANDANT: Was bleibt jetzt noch zu tun? Für mich leider nichts mehr, als für diese nutzlose, verbrecherische Sache zu sterben. Schuld erkannt – Schuld gesühnt. (Stimme 23)

In der Reaktion des im Versteck erblindeten Juden, der schließlich ins Ghetto geschickt wird, erklingt der Appell an die Menschheit: DER EINGEMAUERTE: Ich sehe es nicht, ich höre es nur. Aber Ihr anderen, Ihr Menschen in der Welt, die Ihr verschont geblieben und frei seid – Ihr seht es doch?! Was werdet Ihr tun für Eure Mitmenschen? (Stimme 14)

Die Aufforderung zu handeln spricht der dänische Pfarrers Kaj aus, der die Rolle der Kirche im Zweiten Weltkrieg zur Sprache bringt. Seine offene Stellungnahme kostete ihn das Leben: KAJ: Es gibt eine Religion, die heisst Gotteslästerung. Sie meint, das Christentum solle unpolitisch sein, die Kirche solle sich mit nichts befassen als mit der Erlösung unserer Seelen. Wenn nur der kleine Meier in den Himmel kommen kann, die übrige Welt lass zur Hölle fahren. Ss! Sch! Pss! heisst die Losung des Tages, sonst kann es die ernstesten Folgen haben. Ganz richtig. Aber Verstellung und Doppelspiel haben noch ernstere Folgen: durch Heuchelei, Schweigen und Lüge kommt das Verderben über ein Volk. […] So gehet hin und beweist, dass Ihr Christen seid! (Stimme 14 f.)

Auch die Französin Denis sieht die einzige Möglichkeit der Menschheitsgenesung in der Wiedergeburt des Glaubens. Ihre Stimme ist von Anfang an besonnen, sicher und opferbereit. Nicht einmal nach dem Tod ihres Verlobten John verliert sie etwas von ihrer Stärke. Er wurde in seinem Flugzeug bei einem Luftangriff auf England abgeschossen. Seinem verletzten Freund, dem Piloten Geoffrey, erläutert Denise nach dem erschütternden Erlebnis ihre Sicht des Krieges144 und zeigt ihm den Ausweg in der Religion. Sie ver144 „Denise: Wer ist unser Zwingherr? ‚Hitler!‘ so tönt es aus allen Lautsprechern. Aber auch in unseren Jungen werden uralte barbarische Instinkte wach – Machtwahn, Aggressions-

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körpert für ihn die Liebe, die ihn am Leben hält. Mit ihren Charakterzügen lässt sich Denise den für Lotar typischen Frauenfiguren145 zuordnen. DENISE: Ich möchte die Sache, für die er [John – Anm. der Verfasserin] gefallen ist, bis zum Ende verfechten: Die Idee der Freiheit von Furcht und Unterdrückung. GEOFFREY: Ich muss gestehen, mich interessierte früher nur eine einzige Freiheit: die eigene. Heute sind wir alle von der Idee besessen, diesen Krieg zu gewinnen. Aber danach – werden wir dann nicht wieder die gleichen Egoisten sein? DENISE: Dann hätten wir den Sinn dieses Kampfes verfehlt: die Erkenntnis, dass es keine Erfüllung des Lebens gibt, ohne Rücksicht auf den Anderen. […] GEOFFREY: Opfern und opfern! Ist denn das Leben zu gar nichts anderem da? DENISE: Das Leben Jesu ist die Antwort. GEOFFREY: Was hat denn dieser Krieg mit Religion zu tun? DENISE: Alles. Deutschland lebt aus einem Götzendienst – Russland aus einem anderen. Ganz Europa leidet an einer inneren Krankheit. Nur wenn aus diesem elenden Erdteil wieder ein Glaube erwächst, ist der Friede von Dauer. (Stimme 12 f.)

Wie der Gefängnisgeistliche in Das Bild des Menschen gibt es auch hier eine Erinnerungsinstanz in der Figur des japanischen Arztes Nagai, die vor allem eine dramaturgische Funktion erfüllt. NAGAI: Und doch ist mir noch etwas aufgetragen, bevor ich stumm bin für immer… stumm wie diese Blätter… die doch sprechen wollen, alle… denn darum wurden sie beschrieben in vielen Sprachen und an allen Enden der Welt. […] Ich kann die Blätter mit meinen Händen nicht mehr halten, aber die sie schrieben, … alle ihre Worte, leben in mir, alle. Still jetzt… dass Ihr sie hört… denn auch in Euch wollen sie auferstehen. Aus der Tiefe steigt das Vergangene, das wir für tot hielten und das doch in uns allen auf seine Stunde wartet. (Stimme 2)

Nagai wird außerdem die Rolle des Kommentators zugeteilt. Er steigt in die Dialoge anderer Figuren ein und treibt die Handlung aus seiner durch die Inhalte der Briefe beschränkten ‚allwissenden Erzählperspektive‘ zeitraffend voran. Zugleich gehört seine tragische Lebensgeschichte zu den erschütterndsten. In seinen Erinnerungen, die mit dem freiwilligen Einsatz als Arzt trieb, die Lust zu töten! […] Dann hätten wir den Sinn dieses Kampfes verfehlt: die Erkenntnis; dass es keine Erfüllung des Lebens gibt, ohne Rücksicht auf den Anderen. Was ausgetilgt werden muss – es geht nicht um die Deutschen – es ist das ‚Böse an sich‘.“ (Stimme 11–12) – Damit hängt eine von Nagai vermittelte Kernaussage des Hörspiels zusammen: dass „über den Nationen der Mensch steht, über den Sprachen das Verstehen.“ (Stimme 7) 145 Die typischen Frauenfiguren werden im Fazit dieser Arbeit charakterisiert.

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beginnen, mit dem begeisterten Erzählen über den Sieg seines Vaterlandes bei Pearl Harbor fortgesetzt werden und mit der Schilderung der tragischen Folgen des Atombombenabwurfs – seine Familie lebte in Hiroshima – enden, wird der gebrochene und kranke Arzt mit seinem jüngeren Alter Ego, dem idealistischen und kampfbereiten Nagai (Nagai II), konfrontiert. Diese Figurenkonzeption, die Lotar vor allem in seinen biographischen Hörspielen (wie z. B. über G. B. Shaw) verwendete, zählt zu den modernen Gestaltungsmitteln. Aus mehreren Perspektiven wird über die Existenz jedes einzelnen Menschen berichtet, ungeachtet dessen, auf welcher Seite er kämpft. Die Gegenüberstellung der gegensätzlichen Ausgangspositionen zeigt, dass sich, unabhängig von der jeweiligen Nationalität, jeder mit den grundsätzlichen Fragestellungen nach dem Sinn des Lebens, des eigenen Opfers und des Glaubens in Bezug auf das Erlebte im Angesicht des kommenden Todes beschäftigt. Die direkte Auseinandersetzung mit dem Feind gehört zu den stärksten Momenten. In den Konfrontationen und der Verfolgung persönlicher Entwicklungen vor und nach den Brüchen liegt die Kernaussage des Hörspiels: Im Zeichen des omnipräsenten Todes wird der Krieg nebensächlich und zu Wort kommen Menschenwürde, Respekt und das empfundene Mitleid.

4.2 Die Suche nach der Wahrheit als Grundlage der ­Identitätsbildung Ausgehend von Masaryks Wahrheitsbegriff betrachtete Lotar Wahrheitssuche als den wichtigsten Aspekt bei der Konstruktion sowohl der persönlichen als auch der kollektiven Identität. Sie darf nicht auf einer Lüge aufgebaut sein. In mehreren Texten, in denen jeweils ein junger Mensch im Mittelpunkt steht, spielte Lotar durch, welche Auswirkungen die Konfrontation mit der Wahrheit über die eigene Herkunft auf das Individuum haben kann. Zwei davon werden in diesem Kapitel behandelt. Im Stück Die Wahrheit siegt wurde das Augenmerk auf das Bild der tschechischen Gesellschaft, insbesondere der tschechisch-deutsch-jüdischen Verhältnisse und deren Machtänderungen während der politischen Turbulenzen im Vorkriegseuropa geworfen. In Das leere Kreuz untersuchte er das Verhältnis zwischen dem Christentum und Judentum nach den erschütternden Ereignis-

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sen des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit. Beide Stücke gehören zu jenen Werken, die zwar nicht explizit auf den Zweiten Weltkrieg eingehen, aber wesentliche Aspekte des Kriegsgeschehens wie den die Demokratie bedrohenden Totalitarismus und den Antisemitismus verarbeiten. In den folgenden Ausführungen mit Schwerpunkt auf der Figurenkonzeption werden beide Stücke in den literaturgeschichtlichen und gattungstheoretischen Kontext eingeordnet. Auch die unterschiedliche Aufführungsgeschichte soll dabei beleuchtet werden.

4.2.1 Die Wahrheit siegt Neben der Kriminalkomödie Zwei Minuten nach Mitternacht146 verfasste Lotar im Jahre 1941 auch noch das zeitgeschichtliche Theaterstück Die Wahrheit siegt.147 Hier werden die Ereignisse in der Tschechoslowakei zwischen September 1938 und März 1939, von der Unterzeichnung des Münchner Abkommens bis zur Besetzung der Tschechoslowakei, am Beispiel einer verwobenen Familiengeschichte behandelt. Das Stück spielt auf zwei Ebenen, der öffentlichen und der privaten. Vor dem historischen Hintergrund wird einerseits die angespannte Atmosphäre in der tschechoslowakischen Gesellschaft geschildert, die Bereitschaft der Menschen, sich zu wehren, im Gegensatz zur späteren politischen Entscheidung, die Mobilisation zu beenden; andererseits werden die tragischen Folgen dieses politischen Aktes auf das Zusammenleben in der multiethnischen Gesellschaft anhand eines privaten Vater-Sohn-Konflikts veranschaulicht, der unaufhaltsam bis zur Eskalation fortgeführt wird. Entsprechend des politischen Status eines aus der Tschechoslowakei geflohenen Emigranten wird das Drama in der Theatergeschichte über die Deutschschweiz zur Exildramatik148 gerechnet sowie im Kontext des Schwei-

146 Näheres zu dieser Komödie im sechsten Kapitel. 147 Das Stück wurde im Zeitraum von Anfang August 1939 und Ende August 1941 geschrieben. Die Uraufführung fand am 11.11.1943 auf der Kleinkunstbühne ,Blue Danube Club‘ in London statt. Großen Anteil an der Vermittlung des Stückes hatte Berta Lübbert, die Mutter von Lotars Freundin und späterer Ehefrau Eva Lübbert, die aus Deutschland nach England emigriert war (Kuklová 2002: 60–69). 148 Vgl. zur Situation an den Schweizer Bühnen während des Krieges mit dem Schwerpunkt auf der Exildramatik: Amstutz/Käser-Leisibach (2000: 481–509); Stern (2002); Blubacher (2004). – Martin Stern betonte in seinen Texten, dass Lotars Name im Band Exil in der Schweiz von Werner Mittenzwei fehlt. Den Grund dafür sieht er in Lotars politischem Engagement im Jahre 1968 und auch danach.

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zer Zeitstückes149 behandelt. In Bezug auf das Schaffen der Schweizer Autoren werden eher die Wahl des Themas und dessen Aktualität als die formalästhetischen Bestrebungen hervorgehoben. Wertzuschätzen ist auch Lotars Mut, sich als Exilant hinsichtlich der rigorosen Schweizer Exilpolitik politisch zu äußern und eindeutig zu positionieren. Formal hebt sich Lotars Zeitgeschichtsdrama nicht aus der Masse der damals produzierten Dramatik hervor. […] Der Handlungsverlauf wirkt konstruiert, die Figuren von dem ihnen abverlangten Aktivismus immer leicht überfordert; thematisch hingegen stellt das Stück einen Sonderfall dar, indem es der Handlung einen konkreten historisch-politischen Rahmen gibt: So oft und gern die gebürtigen Schweizer Autoren die historische Einordnung ihrer Schauspiele auch betrieben – mit dem entsprechenden naturalistischen Kolorit –, dem Nationalsozialismus mochten sie sich, mit nur wenigen Ausnahmen, nicht stellen. (Amstutz/Käser-Leisibach 2000: 225)

Das Stück ist – ungeachtet seiner literarischen Qualität – ein aktuell-politisches und das zu einer Zeit, als auf den Schweizer Bühnen historische Stoffe überwogen. Der Bezug zur unmittelbaren Gegenwart und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hatten großen Einfluss auf die Aufführungsgeschichte. Der Schweizer Premiere im März 1945 am Städtebundtheater Biel-Solothurn war die Uraufführung 1943 in London vorangegangen.150 Das Schicksal der verspäteten Uraufführung betraf mehrere Theaterstücke, wie Hans Am­ stutz, der sich mit dem Zeitstück beschäftigte, belegt. In einer Übersichtstabelle der von den deutschschweizerischen Stadttheatern gespielten Zeitstücke 1930–1950 wies er auf die Lücke zwischen den Saisons 1940–1943 hin, die auf die betonte Zurückhaltung der Berufsbühnen, sich im Krieg mit brisanten sozialen oder politischen Themen zu exponieren, zurückzuführen [ist]. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Es galt, Rücksicht zu nehmen auf die gleichzeitig isolierte und exponierte Lage der Schweiz nach 1940 und im Innern, auf die Wahrung und Stärkung des sozialpolitisch wichtigen eidgenössischen Burgfriedens. Das führte zu einer Entpolitisierung der Spielpläne. (Amstutz/Käser-Leisibach 2000: 210) 149 Im Zeitstück werden aktuelle Themen kritisch behandelt. Die Konfrontation mit den Tatsachen sollte beim Publikum zu einer Stellungnahme und Bewusstseinsänderung oder zumindest zum Nachdenken führen. Vgl. z. B. Wilpert (2001: 918 f.). Näheres zum schweizerischen Zeitstück: Amstutz/Käser-Leisibach (2000: 205–239); Stern (1993). – Das schweizerische Zeitstück der 30er- und 40er-Jahre wurde als Debattierstück mit starkem didaktisch-pädagogischen Anspruch charakterisiert. Das Kriegsgeschehen wird nicht direkt thematisiert, jedoch einzelne Aspekte wie Totalitarismus und das Verhältnis zum Nationalsozialismus, Krieg und Pazifismus, Waffenexport und Moral, später auch Flüchtlingspolitik und Antisemitismus (Amstutz/Käser-Leisibach 2000: 216 f.). 150 Bei der Schweizer Premiere waren Vertreter der Tschechoslowakei sowie der Schweizer Ämter anwesend. Das Stück erlebte mehrere Aufführungen und war auf vielen Schweizer Bühnen erfolgreich, z. B. in Biel, Lausanne, Langenthal und Burgdorf.

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Nicht nur aus der schweizerischen, sondern auch aus der tschechischen Perspektive nimmt das Stück mit thematischen Komponenten wie seinem historischen Rahmen (Münchner Abkommen), der tschechisch-deutschen Figurenkonstellation und der Figur eines bekehrten Nazijungen, eine besondere Stellung ein.151 Der im Münchner Abkommen beschlossene Abtritt der strategischen Schutzgebiete der Tschechoslowakei an Deutschland gehört zu den wichtigsten geschichtlichen Ereignissen, die tief im kollektiven tschechischen Gedächtnis verankert sind; sie stellen einen Themenkomplex dar, der einen großen Beitrag zur Identitätsstiftung der tschechischen Nation leistet. In Lotars (dramatischem oder journalistischem) Werk kommt dem Münchner Abkommen eine große Bedeutung zu. Die Historikerin Hildegard Schmoller unterschied in ihrer Arbeit über das Münchner Abkommen als Gedächtnisort vier zentrale Selbstbilder: das Selbstbild der verratenen Nation, der geopferten Nation, der bedrohten Nation und der kampfbereiten bzw. feigen Nation, die alle miteinander verflochten sind und je nach weltpolitischer Situation unterschiedlich konnotiert werden. Anhand zahlreicher Beispiele zeigte Schmoller, dass der Themenkomplex bei der Identitätsstiftung der tschechischen Nation von großer Bedeutung ist (Schmoller 2008, 2010). In Die Wahrheit siegt vermischen sich alle vier Selbstbilder, was für die Entstehungszeit des Stückes typisch ist. Das Münchner Abkommen beendete die Existenz der Ersten Tschechoslowakischen Republik, in der sich die nationale Selbstständigkeit und die Identität im Zeichen der Masaryk’schen demokratischen und humanistischen Ideale formten, und leitete eine Phase der Spannung und Angst vor der Zukunft ein; zugleich weckte es aber den starken Willen, sich nicht zu ergeben. An diese Entschlossenheit des tschechischen Volkes sollte der Titel des Stückes erinnern: Trotz der drohenden Liquidation die geistigen Werte nicht aufzugeben, sondern im Gegenteil die Hoffnung zu stärken, dass die Wahrheit siegt. Auf diese Weise führte die Bedrohung der Nation während der Besetzung zur Verfestigung der nationalen Traditionen und zu einer Stärkung des Nationalbewusstseins (Holý 1998a: 683).

151 Es konnte kein anderes auf Tschechisch verfasstes Theaterstück zu diesem Thema ausfindig gemacht werden. Das Bild des Deutschen war in der tschechischen Literatur und dem Theater eindeutig negativ konnotiert. Im Kontext der Nachkriegsentwicklung spricht das Theaterstück insofern ein auch für die Tschechoslowakei heikles Thema an.

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Das humanistisch geprägte Selbstbild der tschechischen Nation hat Jaromír Kopecký im Vorwort zur Druckausgabe des Stückes unterstrichen: Sie [die tschechoslowakische Nation – Anm. der Autorin] hat der Menschheit nur die Lichtgestalten wie den heiligen Böhmenherzog Wenzeslaus, den Fanatiker der Gerechtigkeit Johannes Hus, den Fanatiker der Friedlichkeit, Peter Chelcicky [sic], den Schöpfer der modernen Pädagogie und Künder der pansophischen Ideale, Jan Amos Comenius geschenkt. Die Weltgeschichte kennt keine Namen tschechoslowakischer Tyrannen.152

Auch Lotar vertrat diese Auffassung, die er später noch in seinem Essay Geist macht Geschichte verarbeitete.153 In einer solchen Tradition erhielt die Exilliteratur ihr politisches Gewicht und ihre nationale Bedeutung noch vor jeder rein künstlerischen Funktion: Sie hatte die Mission, Nationales zu bilden und zu bewahren (Holý 1998a: 680). Diesen Erwartungen entsprach auch Lotars Theaterstück, das der traditionellen Dramenkomposition folgte. Die Handlung, die konstruiert wirkt, wird aus der tschechischen Perspektive erzählt und beleuchtet die tschechische Gesellschaft. Die Dialoge sind zeitlich und räumlich präzise situiert. Die historischen Ereignisse und die Schilderungen der Atmosphäre bilden einen festen Rahmen. Die Figuren sind durch soziale Merkmale komplex bestimmt. Sie repräsentieren verschiedene soziale Schichten (Herkunft, Beruf, Lebensziel), sind unterschiedlicher politischer und ideeller Meinungen und geben verschiedene religiöse Bekenntnisse. Die psychologische Charakteristik ist angesichts der typenhaften Darstellung eher nachrangig. Es werden einzelne Typen auf der tschechischen wie auch auf der deutschen Seite gezeigt, wie sie sich in den entsprechenden Jahren entwickelt und welche Haltung sie eingenommen haben. Auf der deutschen Seite treten auch Anhänger der NSDAP auf.154 In den Dialogen, die heute teils pathetisch wirken, überschreiten die Protagonisten nicht den Rahmen ihres Typus. Die Hauptperson des Stückes, Robert Suchy, strebt nach Gerechtigkeit, nicht nur für einzelne Personen, sondern auch zwischen Nationen. Zu seinen Lebensmaximen gehören gegenseitige Verständigung und persönlicher Einsatz für Demokratie und Freiheit. In seiner Überzeugung folgt er der Geschichtsauffassung und den ethischen Idealen von T. G. Masaryk und 152 Wahrheit, Vorwort vom April 1945 von Jaromír Kopecký, dem Vertreter der Exilregierung von Edvard Beneš und bevollmächtigtem Minister der Tschechoslowakischen Republik. 153 Vgl. das sechste Kapitel dieser Arbeit. 154 „Češi reagovali na nacistický totalitarismus různě: od ozbrojeného odboje, jenž v daných podmínkách neměl naději na větší úspěch, přes odpor, ‚dvojí hru‘, pasivitu až ke kolaboraci.“ [Die Tschechen reagierten auf den nazistischen Totalitarismus unterschiedlich: von dem bewaffneten Widerstand, der unter den gegebenen Umständen keine Chance auf Erfolg hatte, über Protest, ‚Doppelspiel‘, Passivität bis zur Kollaboration.] (Holý 1998a: 676)

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übernimmt auch die entsprechende Terminologie. So spricht er z. B. über das ‚kleine tschechische Volk‘. Er argumentiert gegen rassistischen und nationalen Hass. Als Anwalt vertritt er jedoch jeden, unabhängig von dessen Ansichten oder seiner Zugehörigkeit. Suchy wirkt ausgeglichen, unbeugsam und stark. Seine Einstellungen und sein Engagement radikalisieren sich erst als Reaktion auf die ungünstige Entwicklung der politischen Situation. Der Figur von Suchy wird die Figur des Arztes Kolenaty gegenübergestellt. Die Distanz zu dieser Figur wird schon formal angedeutet: Er wird mit Nachnamen angeführt. Kolenaty repräsentiert den Typ des kollaborierenden Tschechen, der zur Zeit der Münchner Konferenz als überzeugter Patriot auftritt, und im Gegensatz zu Suchy den Deutschen gegenüber radikal auftreten will. Er ist Opportunist. Verständnis oder Versöhnlichkeit liegen ihm fern, wie in folgendem Dialog zwischen Suchy und Kolenaty erkennbar wird: KOLENATY: Ich war weniger sentimental. Was ich empfand, das war vor allem Wut. Elende, ohnmächtige Wut. Hinauswerfen hätten wir sie sollen, oder ausrotten. Aber statt dessen hat man sich bei den Herren Deutschen Liebkind machen wollen, mit deutschen Universitäten und Theatern und tausenden deutschen Schulen und weiß der Teufel was noch allem. Und heute, heute haben wir den Dank dafür! ROBERT: Was du sagst, ist sehr kurzsichtig, lieber Heini. Wenn wir so gehandelt hätten, wären wir ja um kein Haar besser als die Nazis. Ein kleines Volk, das sich dem Faustrecht verschreibt, spricht sein eigenes Todesurteil. Wenn wir uns als freie Kulturnation behaupten wollen, so müssen wir den sittlichen Grundlagen treu bleiben, denen wir unsere Freiheit verdanken. KOLENATY: Ja, ja – die schönen Phrasen Masaryks. […] Heutzutage kann ein Land nicht von idealistischen Träumern regiert werden. ROBERT: Und doch waren es immer die sogenannten Träumer, die die weltbewegenden Ereignisse der Menschheitsgeschichte ausgelöst haben. […] KOLENATY: Was helfen uns heute alle schönen Worte? Heute, da unsere Herren Freunde und Verbündete vor der erhobenen Faust Hitlers in die hintersten Winkel kriechen und uns verlassen und verraten haben? ROBERT: Unsere Verbündeten mögen das tun. Aber wir selbst dürfen uns nicht verraten und verlassen. Dann erst wäre alles verloren. (Wahrheit 30)

Als die Mobilisierung abgebrochen und das Sudetenland besetzt wird, kommt Kolenaty in Suchys Büro, um ihn mit Erpressung von seiner journalistischen Tätigkeit abzuhalten. Suchys demokratisch ausgerichtete Texte hält er für „unverantwortlich und volksvergiftend“ (Wahrheit 57). Deswegen fordert er ihn auf, sich Deutschland anzupassen. Die zwei Stimmen der tschechischen Intelligenz ergänzt eine dritte Figur, Karel Prokop, der den Typus des demokratisch besonnenen, kompromisslosen, jedoch emigrationsbereiten Tschechen

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vertritt. Allerdings verlässt er sich nach dem Münchner Abkommen noch auf das Bündnis mit Russland und teilt die auf dem geopolitischen slawischen Konstrukt begründete Gesinnung. Schließlich entscheidet er sich aber, nach Paris zu emigrieren, wo er als Maler ein altes Atelier bewohnen darf. Mit Robert Suchy diskutiert er über Kolenaty: KAREL: Nein! Also auch Kolenaty! Das ist die Sorte Überpatrioten, die auf einmal ihren Unflat auf den gleichen Leuten abladen, denen sie früher Gott weiss wohin gekrochen sind. ROBERT: Chauvinisten sind in entscheidenden Stunden immer das größte Unglück ihres Volkes. Sie glauben, dass man über ihrem Geschrei ihre Charakterlosigkeit vergisst. KAREL: Weisst du, manchmal glaube ich zu ersticken. Es ist, als ob die Amoralität in der Politik eine Ermutigung für alle Lumpen wäre. Aus allen Ecken und Winkeln kriechen sie plötzlich hervor wie die Wanzen. Alle Gescheiterten und Verkannten, die Unfähigen und Kriminalen, jetzt verlangen sie plötzlich schreiend ihr Recht. Im Unglück der Nation wittern sie ihre große Chance. ROBERT: Die Tyrannei wird sie zu gebrauchen wissen. Auf wen anders sollte sie bauen, da der freie menschliche Geist ihr Todfeind ist! […] ROBERT: Wenn alle aufrichtigen Demokraten jetzt von zuhause davonliefen, dann wäre unsere Heimat schließlich kampflos gerade jenen Individuen ausgeliefert, vor denen wir sie schützen wollen. (Wahrheit 58 f.)

Die Frauen greifen in den gesellschaftspolitischen Diskurs wenig ein. Zu den Schlüsselfiguren gehören zwei, die Suchys Privatleben wesentlich prägen. Die Gräfin Clara Modransky, Roberts erste Liebe, missbraucht seine tiefe Zuneigung. Seine Sekretärin Jana, eine naive junge Frau, bewundert und liebt ihn dagegen aufrichtig. In seinen Beziehungen zu Frauen tritt er als unerfahrener, zurückhaltender und unsicherer Mann auf, was im Kontrast zu seiner öffentlichen Rolle und seinem öffentlichen Auftreten steht. Robert Suchys Figur wird als Antiheld konstruiert, der in seinen Eigenschaften Marek Truntschka aus dem Roman Das Land, das ich dir zeige ähnelt. Der zentrale Konflikt des Stückes geht auf ein Ereignis zurück, das der eigentlichen Handlung 19 Jahre vorausliegt. Die Gräfin, deren Mann todkrank war, traf damals eine folgenschwere Entscheidung: Robert soll den Fortbestand des adeligen Geschlechts sichern. Dieser geht auf ihren Wunsch ein und aus dieser Vereinigung entsteht Georg, dessen wahre Abstammung ein Geheimnis bleiben soll. Nach 20 Jahren treffen sich Robert und Georg, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass sie sich als Vater und Sohn gegenüberstehen. Das Treffen verläuft nicht friedlich, sie gehören feindlichen poli-

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tischen Lagern an. Während Robert die Interessen des tschechischen Volkes verteidigt, wurde Georg als ‚echter‘ Deutscher erzogen und trägt die Uniform der sudetendeutschen Partei. Damit steht Demut auf der einen, Stolz und Borniertheit auf der anderen Seite, steht der Humanismus der Naziideologie gegenüber. Das erste Treffen findet im Schloss statt, wo Robert als Oberleutnant eine Durchsuchung durchführen soll: GEORG: Ermorden Sie mich doch – wenn Sie es wagen! Aber verschonen Sie mich mit Ihren läppischen Fragen! ROBERT: Weder ich noch sonst jemand will Sie ermorden. Bitte, betrachten Sie meine Fragen nicht als Verhör. Ich möchte mit Ihnen als Mensch zum Menschen sprechen. GEORG: Wozu? Ich habe mit Ihnen nichts zu sprechen. ROBERT: Wirklich? Sollte es zwischen gebildeten Menschen kein anderes Verständigungsmittel geben als Schüsse und Blutvergießen? GEORG: Es gibt nur ein einziges Verständigungsmittel zwischen uns: Dass Ihr uns heimkehren läßt zu unseren Brüdern ins Reich. ROBERT: Wir hindern niemanden, unser Land zu verlassen. Aber wir können nicht zugeben, dass es dadurch in Stücke gerissen wird. GEORG: Wir Deutsche haben dieses Land kolonisiert und zur Blüte gebracht, wie überall, wo wir mit tieferstehenden Völkern in Berührung kommen. Dadurch haben wir auch einen Anspruch auf diesen Lebensraum. Da ist das natürliche Recht eines Herrenvolkes. ROBERT: Glauben Sie wirklich, dass ein Volk anderen Völkern als Kulturvorbild dienen kann, dessen jede Äußerung von so maßloser Selbstüberhebung zeugt? Muss nicht vielmehr ein solcher Hochmut auf der ganzen Welt Widerwillen und Hass erzeugen? GEORG: Es ist uns lieber, gehasst zu werden, als verachtet. ROBERT: Das alles haben Sie aus fremdem Munde. Wäre es nicht schöner, selbständig zu denken? (Wahrheit 45)

Georg wird mit der Tatsache konfrontiert, dass sein bisheriges Leben auf einem doppelten Betrug aufgebaut wurde. Alle seine Erwartungen und Träume von einer Zukunft in der SS-Uniform zerfallen, da kein deutsches Blut in den Adern seines biologischen Vaters fließt. Es kommt zur Desillusionierung und Desorientierung. Durch die Entdeckung seiner deutsch-tschechischen Herkunft verliert er Sicherheit, Halt und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer einzigen Nation. Er zerbricht an der Wahrheit. Er verkraftet sie nicht, gerät in eine Krise und sieht den einzigen Ausweg in einem Selbstmordversuch, den er jedoch überlebt. Im lebensentscheidenden Augenblick wird er vom Familienfreund Dr. Körber enttäuscht, indem dieser seine Herkunft und seine Ideale als

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Fremdaneignung enthüllt. Er wird der Nazimacht ausgeliefert und erlebt die damit verbundenen Konsequenzen am eigenen Leib. In diesem Augenblick spürt er eine Art Sympathie für Robert; er vertraut ihm, weil er sich aufrichtig benimmt und alle Menschen gleich behandelt. GEORG: Ich möchte ihn [Robert, seinen Vater – Anm. der Autorin] gerne wiedersehen. Das wäre ein Grund zum Weiterleben. (Wahrheit 80)

Das Drama klingt positiv aus, was im Jahr der Entstehung 1941 und zum Zeitpunkt der Aufführung von Bedeutung war, um den Menschen Hoffnung zu geben. In der insgesamt eher düsteren Endszene lässt Roberts junge Sekretärin, die eine ‚echte Tschechin‘ ist, Georg Hoffnung schöpfen, als sie ihn tröstet, dass nicht die Herkunft den Wert eines Menschen ausmacht und das Glück des Lebens nicht in Überheblichkeit und Hass, sondern in Güte und Liebe zu finden ist. Diese beiden jungen Menschen, die ‚feindlich gesinnten‘ Nationen angehören, weisen damit den Weg, den die ganze Welt gehen muss, wenn sie nicht untergehen will: Den Weg aus Hass zu gegenseitigem Verständnis, zu Achtung und Liebe.

4.2.2 Das leere Kreuz Auch Das leere Kreuz ist Teil der diskursiven Aushandlung über den tätigen Glauben im Sinne von Albert Schweitzers Gedanken zur Religionstoleranz, die Lotar mit und in seinem Werk führte. 1960 hat Lotar ein Exposé unter dem Arbeitstitel Die Spinne für einen Wettbewerb des Theaters in der Josefstadt (Wien) erstellt,155 das ausgezeichnet wurde. Auf Basis dieses Exposés hat Lotar sodann das Theaterstück Das leere Kreuz verfasst, das jedoch nicht aufgeführt wurde. Die Spinne war als Metapher für das Verhalten einer der Hauptfiguren – der Mutter – gedacht. Das leere Kreuz als Symbol für Auferstehung und Hoffnung weist auf Lotars heilsgeschichtliche Interpretation des Stückausgangs hin. Nach eigener Aussage schloss Lotar damit an die deutsche Klassik an, indem er die deistische Linie von Lessings Nathan der Weise fortsetzte und um eine heilsgeschichtliche Lösung156 ergänzte. Nicht zuletzt soll 155 Lotar, Peter: Die Spinne. Exposé zum dramatischen Wettbewerb des Theaters in der Josefstadt (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-2-f-08/1-3). 156 Das Theaterstück basiert wie Die Wahrheit siegt auf einem konkreten geschichtlichen Ereignis: „Zu meinen heutigen Zeilen bewegt mich vor allem ein konkreter literarischer Anlass. Schon seit Jahren liegt es mir auf dem Herzen das heisse, besonders brennend gewordene Eisen des christlich-jüdischen Verhältnisses anzufassen und in dramatischer Form zu gestalten. Als Ausgangspunkt möchte ich jene ‚Affaire Finaly‘ nehmen, die im

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im textanalytischen Teil gezeigt werden, wie Lotar sich auch mit diesem Drama Schillers Auffassung des Theaters als ‚moralischer Anstalt‘ anschloss.157 Lotars Stück gehört zu den engagiert zeitkritischen Problemdramen mit humanistisch-religiöser Weltanschauung und behandelt das Verhältnis von Judentum und Christentum. Seine Intention erläuterte Lotar im Exposé: Der Jude ist die Feuer- und Wasserprobe auf die Wahrheit und Echtheit allen Christentums. An ihm erweist sich, ob nicht der Wurm im Kern verborgen ist, ja ob der Wurm den Kern nicht längst verzehrt hat. (Spinne 24)

Das Ideendrama über den christlichen Antisemitismus war als Beitrag zur Diskussion der Rolle der Kirche während der NS-Zeit in den 1960er-Jahren intendiert. In einem verspäteten Prozess der Vergangenheitsbewältigung wurden die kirchlichen Mechanismen auf literarischer Ebene thematisiert. Ausgelöst wurde die Diskussion von Rolf Hochhuths 1963 aufgeführtem Dokumentardrama Der Stellvertreter, in dem das Verhalten des Papstes während des Zweiten Weltkrieges angeklagt wird. Im Zentrum der intensiven Auseinandersetzung steht der Gedanke, dass „jeder Mensch […] in das eigene Innere hinabsteigen, sich der Gewissenserforschung aussetzen müsse, geistige und seelische Prüfung werden als Fundament der Selbstprüfung und jeder möglichen Erneuerung postuliert.“ (Marschall 2010: 125) Thematisch lässt sich Lotars Ideenstück einigen ungleich erfolgreicheren Stücken wie dem Dokumentardrama Frances Goodrichs und Albert Hacketts Tagebuch der Anne Frank (1956) und nicht zuletzt Max Frischs Modellstück Andorra (1961) zuordnen (Marschall 2010: 123 f.), von denen sich Das leere Kreuz, das am klassischen Dramenaufbau orientiert ist, jedoch durch formalästhetische Merkmale unJahre 1953 vor allem ganz Frankreich bewegte und von der Sie wohl auch gelesen haben werden. Es handelt sich um zwei jüdische Kinder, die vor dem Tode ihrer geflüchteten Eltern einem weiblichen Mitglied der Widerstandsbewegung übergeben wurden und von ihm, nach vollzogener Taufe, streng christlich und katholisch erzogen wurden. […] Was mich, nach mehreren Jahren des Nachdenkens und Reifenlassens, zur Gestaltung dieses Stoffes drängt, sind weniger die eminenten ihm innenwohnenden dramatischen Konflikte und menschlichen Verstrickungen, obzwar diese die unabdingbaren Voraussetzungen des echten Dramas darstellen. Worauf ich im Tiefsten hinaus will, das ist – noch über die Botschaft der religiösen Toleranz im Sinne von Lessings herrlichem ‚Nathan‘ hinausgehend – das Heilsgeschichtliche und Eschatologische.“ Brief von PL an Pfarrer Albin Flury, 1.4.1957 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-FLUA). 157 Nicht nur in diesem Fall schloss Lotar an die deutsche Klassik an. In seiner Ausrichtung folgte er einer allgemeinen Tendenz des engagierten Theaters. Brigitte Marschall stellte in ihren Ausführungen zum politischen Theater fest, dass „die Vergangenheitsbewältigung über die Absicherung durch die bildungsbürgerliche, ästhetische Klassikerdebatte geführt [wurde].“ (Marschall 2010: 129)

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terscheidet. Noch stärker als beim Zeitstück Die Wahrheit siegt wirkt die Handlung konstruiert und die Figurenkomposition starr. In Das leere Kreuz158 wird die Beziehung zwischen Judentum und Christentum anhand einer tragischen Familiengeschichte behandelt. Die Handlung des Werks spielt auf zwei Ebenen und umfasst eine lange Zeitspanne. Sie beginnt während der Judenverfolgungen im Zweiten Weltkrieg und endet erst in den 50er-Jahren. Der eigentlichen Handlung geht eine Vorgeschichte voraus: Die drei Kinder einer jüdischen Familie wurden durch die strenggläubige katholische Leiterin Dalland eines Waisenhauses gerettet, die Eltern jedoch starben. Von ihrem alten Freund, im Stück als ‚Professor‘ bezeichnet, ließ Dalland sich davon überzeugen, die Kinder taufen zu lassen und ihnen ihre jüdische Herkunft zu verschweigen. Mehr noch: Sie wurden zum Hass gegen Juden erzogen. Nach dem Krieg, in den 50er-Jahren, bemüht sich ihr Verwandter – der Onkel Jaroschy –, die Kinder zu finden und mit ihnen nach Israel auszuwandern. Frau Dalland, im Stück vorwiegend als Mutter bezeichnet, hindert ihn mit allen möglichen Mitteln daran, deren moralische Fragwürdigkeit sich immer mehr steigert. Nicht einmal einem Gerichtsbeschluss beugt sie sich und lässt die Kinder, nachdem man sie ihr entzogen hatte, entführen. Sie werden jahrelang versteckt gehalten. Die ganze Angelegenheit löst einen großen (politischen) Skandal aus und endet tragisch. Das Thesenstück über den christlichen Antisemitismus erinnert an ein altes Motiv: die Geschichte vom Kind, bei dem nach dem wahren und besseren Erzieher gesucht wird. Beide zerstrittenen Parteien behaupten, im Sinne der Kinder zu handeln und beharren auf ihren Überzeugungen. Die grundsätzliche Frage, wer tatsächlich im Interesse der Kinder handelt, bleibt offen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema spielt einerseits auf der privaten und andererseits auf der öffentlichen Ebene. Dem entsprechen auch die drei Figurengruppen. In der einen treten Typen auf, die durch ihre soziale Rolle oder ihren Beruf definiert sind, wie z. B. der Bürgermeister, der Kardinal und der Professor.159 Die zweite Gruppe bilden Jaroschy und Dalland, die um die Vormundschaft der Kinder miteinander kämpfen. Zu der dritten Gruppe zählen die Kinder, die zu Opfern und Objekten des Streites wurden. Sie tragen sprechende biblische Namen und erleben ein mit diesen verbundenes Schicksal: Jakob, Maria und der Jüngste, Stephan, der am Ende des Stückes den Märtyrertod auf sich nimmt. 158 Gearbeitet wird mit dem Typoskript vom Jahre 1960 (SLA, NPL, Sign. SLA-LotarA-2-f-12). 159 Die Figurenkonzeption Lotars ist mit der von Frisch in Andorra vergleichbar.

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Wie in früheren Theaterstücken Lotars wird auch hier die Figurenkonstellation nach dem Prinzip von einander gegenüberstehenden Paaren gebildet.160 Auch dieses Stück zählt weniger zum naturalistischen Handlungs-, als vielmehr zum ortlosen Diskussionstheater, was auch die folgende Regieanweisung unterstreicht: Nicht das Milieu, sondern das Wort entscheidet alles in diesem Drama. Daher wäre eine realistische Inszenierung, mit umständlichen Umbauten, durchaus falsch, sie würde von der geistigen Auseinandersetzung ablenken. (Kreuz 1)

Die Analyse der Figurendarstellung soll die einzelnen Typen und ihre Prinzipien veranschaulichen sowie die Hintergründe der unausweichlichen Kata­ strophe ausleuchten. In modellhaften Konfrontationen wird auf das Schlüsselthema eingegangen, das Lotar in seinem Nachwort zum Stück formulierte: Was ist der Jude dem Christen? Ein Objekt der Bekehrung? Oder ist er nicht der Bruder, an dem, ohne jeden Vorbehalt, das Wort zur Tat werden soll: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst? (Spinne 25)

Auf der privaten Ebene werden Dalland und Jaroschy anhand ihrer religiösen Weltanschauungen gegenübergestellt. Einerseits zeichnet sich die Mutter als Prototyp der Mütterlichkeit aus: Betont wird ihre endlose Liebe nicht nur zu Jaroschys Kindern, sondern auch zu allen anderen Kindern im Waisenhaus; hinsichtlich ihrer kämpferischen und schützenden Instinkte wird sie mit einem Drachen, einer Löwin, einem Menschenfresser oder einem Felsblock verglichen. Andererseits repräsentiert Frau Dalland den traditionellen christlichen Glauben: Aufgrund ihrer lebenslangen Hingabe an das Waisenhaus und ihres Muts während des Nationalsozialismus verkörpert sie das Vorbild für christliche Tugenden und Gebote, was ihr auch aufrichtige Anerkennung in der Stadt einbringt. Nach ihrem Vorgehen gegen die Familie Jaroschy und die Pflegekinder wird diese Autorität jedoch zunehmend angezweifelt. Die Tatsache, dass sie, um ihren Willen durchzusetzen, mehrere Grenzen überschreitet – nicht nur die religiösen, sondern auch die allgemeinen menschlich-moralischen – lässt die Leute ihre bisherigen Verdienste hinterfragen. Sie gerät auf die andere Seite der Wertschätzungsskala. Im festen Glauben, zugunsten der Kinder zu handeln, manipuliert sie Menschen in ihrem Umfeld, lässt Dokumente fälschen und verleumdet Jaroschy. Durch diese unmoralischen Handlungen verstößt sie gegen alles, wozu sie sich immer bekannte und was sie 160 Eine Veränderung im Vergleich zu Lotars früheren dramatischen Texten fällt auf: Die Figuren werden nicht mehr nur durch ihre Handlungen und Charakterzeichnungen in den Dialogen beschrieben, sondern auch durch längere Nebentexte mit zusätzlicher Charakteristik, was an die ästhetische Praxis von G. B. Shaw erinnert.

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verkündete. Ihr Umgang mit Kindern, den sie als Liebe bezeichnet, soll als Gleichnis für das ambivalente Verhältnis vom Christentum zum Judentum verstanden werden. Obwohl sie mit der Hetze gegen Juden nicht einverstanden war, hörte sie auf die antisemitischen Ratschläge des Professors. Sie versorgt die Kinder, ohne auf deren Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen, und ließ sie in einer Lüge aufwachsen. Sie meint, das volle Recht an den Kindern erworben zu haben, als sie sie vor dem Naziterror rettete. Nicht einmal nach dem Gerichtsurteil ist sie bereit, den Kontakt zwischen den Kindern und ihrem Onkel zuzulassen. Ihr Egoismus führt zu einem erneuten Heimatverlust, der wiederholte Wohnortwechsel erlaubt den Kindern nicht, irgendwo Wurzeln zu schlagen. Erst nach dem tragischen Tod des Jüngsten erkennt sie ihre Schuld, die sie in der Sehnsucht nach dem Besitz der Kinder sieht. Der Kardinal gibt ihr die Absolution. Sie wird ihrer Nachfolgerin zur Buße als Helferin im Waisenhaus beigegeben. MUTTER: (geht hin, sieht den Revolver) Wer? KARDINAL: Er selbst. MUTTER: (ungläubig) Mein kleiner Stephan… warum?! KARDINAL: Er hat erfahren, dass er Jude ist. MUTTER: (in immer größerer Verwirrung, erkennt plötzlich den Revolver, nimmt ihn in die Hand) Aber das ist ja mein… sie müssen ihn heimlich mitgenommen haben… wozu…?! KARDINAL: Das wissen Sie nicht? Um sich zu verteidigen gegen die bösen Juden. (Pause. Immer ganz ruhig). Was ist ihm übrig geblieben, als ihn gegen sich selbst zu kehren? MUTTER: Mit meinem eigenen… […] Ich habe sie gelehrt, sich selbst zu hassen. (Pause) KARDINAL: Wie ist das möglich? Sie liebten sie doch. MUTTER: (verloren) Habe ich das? (als horche sie auf eine Stimme) … Warum wollte ich sie besitzen? ... Mich hab’ ich geliebt in ihnen – mich allein! (Sie sinkt in sich zusammen). (Kreuz 48–50)

Jaroschy bleibt stärker im Hintergrund und bekommt nicht viel Raum. Mit seinem fast ärmlichen Äußeren und seinem bescheidenen Auftreten wirkt er nicht wie ein ernstzunehmender Gegner der herrischen Mutter, wodurch seine Hartnäckigkeit unterschätzt wird (Kreuz 9). Durch seine Ankunft werden die Ereignisse in Bewegung gesetzt. Jahrelang hatte er sich bemüht, über das Rote Kreuz Kontakt mit den Kindern aufzunehmen, was ihm aber nicht gelang. Als er genug Geld gespart hatte, kehrte er aus der Emigration in Aus­

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tralien zurück, um den Wunsch seines toten Bruders zu erfüllen und sich um die Kinder zu kümmern. Jaroschy ist ebenfalls keine primär psychologisch motivierte Figur. Seine Rolle als liebender Bruder erinnert an das Schicksal und die Familientragödien der Juden während des Holocausts; im kollektiven Gedächtnis werden die Erinnerungen an das Grauen, dem sie ausgesetzt waren, wachgerufen. Nachdem Jaroschy die Kinder in der Obhut von Frau Dalland gefunden hat, dankt er ihr für die Rettung, beharrt aber auf dem Wunsch, sie nach Israel mitzunehmen. Frau Dalland hingegen verteidigt die Taufe und will die Kinder nicht verlieren. In diesem starren Rahmen spielen sich die theoretischen Disputationen ab. Durch die Konfliktsituation, die im ersten und zweiten Akt eröffnet wird, wird aus einer privaten Familiengeschichte eine öffentliche Angelegenheit mit weitreichenden Auswirkungen. Im dritten Bild diskutieren Vertreter der offiziellen Institutionen – Kardinal, Bischof, Generalvikar, Professor und Bürgermeister – im Büro des Kardinals über grundsätzliche Fragen: was die Zugehörigkeit zum Glauben ausmacht, inwieweit sie durch Rituale wie Taufe und Beschneidung bestimmt werden kann und, nicht zuletzt, was die eine Religion der anderen bedeutet. Thematisiert wird vor allem der Judenhass. Die Konfrontation aller Teilnehmenden ist dabei durch mehrfache Wiederholungen, das bloße Aufzählen von Tatsachen und stereotype Argumentationsfloskeln aus theologischen Disputationen belastet. Die typisierte Figur des fanatisch-christlichen Professors entlarvt sich durch seine antisemitischen bis feindlich-xenophoben Einstellungen. Er findet Unterstützung beim Bischof, der seine Heuchelei und Dogmatik hinter gewaltigem Pomp versteckt. Der Bischof weigert sich, sich dem Gerichtsurteil zu fügen und wird schließlich mit anderen in den Fall involvierten Priestern verhaftet. Der Bürgermeister wird in den Regieanweisungen als Kämpfernatur, couragierter Politiker für diejenigen, denen Unrecht passiert, charakterisiert. Er tritt als Atheist auf, handelt aber als Einziger nach christlichen Prinzipien. BÜRGERMEISTER: Zu unserem maßlosen Erstaunen vernahmen wir plötzlich, dass ein ganz anderes Motiv die Rückgabe der Kinder unmöglich macht: ihre Taufe! BISCHOF: So ist es! BÜRGERMEISTER: Sie selbst bestätigen also, dass es hier nicht um einen bemitleidenswerten Menschen geht, sondern um aggressivsten religiösen Fanatismus. BISCHOF: In Ihren Augen, Herr Bürgermeister, ist der legale Akt der Heiligen Taufe also religiöser Fanatismus?

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BÜRGERMEISTER: Und in Ihren Augen, Exzellenz, ist es ein legaler Akt, wenn aus der Taufe von Kindern das Recht auf ihre Entführung abgeleitet wird? Wenn man sie jahrelang vor den Behörden unter falschem Namen in geistlichen Instituten versteckt, um sie schließlich sogar ins Ausland zu verschleppen? […] PROFESSOR: Das Sakrament der Taufe kann nicht abgewaschen werden, wie ein Flecken. Geschehen ist geschehen. Diese Kinder gehören der Kirche. […] PROFESSOR: (scheinbar unterwürfig) Wollen Eure Eminenz uns damit bedeuten, dass wir freudig die Hand Jesu bieten sollen, wenn man aus diesen Kindern wieder Juden machen will? Soll das Licht wieder der Finsternis weichen? KARDINAL: Waren Sie nicht Missionar im Heiligen Lande? Wenn Sie so viel Licht in die Finsternis brachten, warum musste man Sie von dort als unerwünscht abberufen? PROFESSOR: (an der empfindlichsten Stelle getroffen) Warum? Weil dieses Volk lieber stirbt, als sein Heil anzunehmen. KARDINAL: (still) Auch ich möchte lieber sterben, als das annehmen, was Sie anzubieten haben: den Hass. PROFESSOR: Ich maße mir nicht an, der Erfinder des Hasses gegen das Volk zu sein, das den Heiland kreuzigen ließ. KARDINAL: Es hat ihn uns zugleich geschenkt. Er war ein Sohn dieses Volkes. PROFESSOR: (sein Fanatismus durchbricht alle Dämme) Der Sohn Gottes habe ich gelernt! Jüdisch an ihm ist nur, was man ihm unterschoben hat. KARDINAL: unterschoben PROFESSOR: ‚Liebet Eure Feinde! Wiedersteht nicht dem Übel!‘ Das ist das Rezept zur Selbstvernichtung aller Christen. […] KARDINAL: Wir haben Ihnen kein rühmliches Schauspiel geboten. BÜRGERMEISTER: Aber ein sehr heilsames, Eminenz. Ich wünschte, jedermann könnte es so klar sehen, wie wenig die Menschen Religion besser macht. GENERALV.: Nicht in der Religion, die Sie verloren haben, in der menschlichen Schwäche liegt die Wurzel des Judenhasses: im Vorurteil, im Neid und in der Annehmlichkeit, das eigene Versagen einem anderen, Schwächeren, aufzubürden. KARDINAL: Vielleicht hat der Herr Bürgermeister viel weniger Religion verloren, als er selbst meint. Könnte es nicht scheinen, daß der einzige Christ unter uns derjenige ist, der es durchaus ablehnt, einer zu sein? (Kreuz 28–32)

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Der Bischof und der Kardinal sind alte Freunde, aber sehr unterschiedliche Charaktere. Der bescheidene Kardinal stellt einen intelligenten Vorgesetzten mit viel Lebenserfahrung dar, der Demut und Respekt kennt. Das dritte Bild endet mit einem symbolischen Versöhnungsversuch. Der sich vor Jaroschy verneigende Kardinal bittet um Verzeihung: KARDINAL: (mit äußerster Schlichtheit) Ich ehre in Ihnen das Volk, dem wir das höchste verdanken: die Offenbarung des einen, einzigen Gottes, die heilige Mutter, die den Erlöser gebar, und die erleuchteten Geister, die uns als Zeugnis dessen die Heilige Schrift schenkten. Ich verneige mich vor allen, die dafür von uns seit zweitausend Jahren Verfolgung, Schmach und Tod empfangen haben. (Kreuz 33)

Den Kardinal und Bürgermeister verbindet Sinn für Humor bis zur bissigen Ironie. Humor ist für den Kardinal ein Signal für einen ausgewogenen und gebildeten Charakter und Mittel, um zur Wahrheit zu gelangen. KARDINAL: (Humor ist dem unbestechlichen Seelenkenner das Mittel, um ins Innerste der menschlichen Wesenheit vorzustoßen, die Schale der Konvention aufzubrechen und den Kern frei zu machen, für die Erkenntnis der Wahrheit.) (Kreuz 22)

Die Kinder, die erst im vierten Bild auftreten, bekommen eine symbolische Rolle zugewiesen. Das leere Kreuz im Erzbischofpalais betrachtend, überzeugt Stephan seine Geschwister davon, ein Passionsspiel anzufangen. Ihm selbst wird die Rolle des Jesus übertragen, die er wenige Minuten darauf vollkommen erfüllt. Schonungslos werden die Kinder mit der Tatsache konfrontiert, dass sie aus einer jüdischen Familie stammen. Diese neue Situation gefährdet ihre bisherige Identitätskonstruktion. Aufgrund ihrer antisemitischen Erziehung müssen sie sich – ähnlich wie Georg im Stück Die Wahrheit siegt – plötzlich damit abfinden, dass sie nun zu den ‚Feinden‘, zu den ‚Bösen‘ gehören. Wenn die persönliche Identität auf einer Lüge aufgebaut wird, geht sie im Angesicht der Wahrheit verloren. Am schlimmsten setzt die Wahrheit Stephan, dem Jüngsten, zu. Die Vorbereitung der biblischen Szenen mit den entsprechenden Metaphern und Gleichnissen kündigt bereits die sich nähernde Katastrophe an. Stephan zerbricht an der Feststellung „Ich bin also… einer von denen, die Gott ermordet haben, dann…“ (Kreuz 40) Sie bringt ihn dazu, den Revolver, den sie dabei hatten, um sich gegen die Juden zu wehren, gegen sich selbst zu richten. Sein Tod sollte wie der Tod Jesu die Schuld der anderen aufnehmen und ihnen Erlösung bringen.

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MARIA: So sind die… so sind wir kein böses Volk? KARDINAL: Das auserwählte Volk seid Ihr. Weisst du das nicht? MARIA: Wozu – auserwählt? KARDINAL: Gott zu verkündigen und den Menschen ein Spiegel zu sein. MARIA: Warum hasst man uns dann so? KARDINAL: Wer ertrüge den Spiegel, der zeigt, wie entstellt der Mensch durch seinen Ungehorsam ist. (Kreuz 43)

Das Stück endet mit einem Gedanken des Kardinals, der das Symbol von Jesus am Kreuz in Erinnerung ruft, und eine Botschaft an die Christen richtet: GENERALV.: Sollten wir also aufhören uns Christen zu nennen? KARDINAL: Wir sollten endlich beginnen, welche zu sein. GENERALV.: Und wenn wir es wären, können wir sie dann bekehren? KARDINAL: Wir können viel mehr: sie lieben. Das macht uns zu Christen. In diesem Augenblick enthüllt sich dem jüdischen Bruder zum erstenmal das Antlitz Jesu, fühlt er, dass dieser Jesus auch sein Erlöser ist. (Kreuz 51)

5. Biographische Hörspiele als Verhandlungsort ­persönlicher und kollektiver Identität Die Vermittlung ausgewählter Lebenskonzepte durch die Montage präzise aus einem heterogenen Quellenkorpus ausgewählter Zitate stellt eine Neuausrichtung von Lotars künstlerischem Schaffen in den 50er-Jahren dar. Nachdem Lotar seine Theaterarbeit im Jahre 1949 abrupt beendet hatte, widmete er sich mit unermüdlicher Leidenschaft der audiophonen Biographik. Es handelte sich dabei jedoch nicht um einen künstlerischen Bruch mit seiner bisherigen schriftstellerischen Tätigkeit. In die dramatische Arbeit für das Radio brachte er seine vielfältigen Erfahrungen von der Bühne mit ein. In den folgenden zehn Jahren, in denen Hörspiele im Programm der Radiosender ihre Blütezeit erlebten, gehörte Lotar zu den meistgespielten Autoren im deutschsprachigen Raum. Seine drei Dutzend Hörspiele161 wurden nicht nur von schweizerischen, sondern vor allem von deutschen Rundfunksendern aufgeführt.162 Über seine innersten Beweggründe und seine Erfolge auf dem Feld der Radiokunst berichtete Lotar ausführlich in einem Brief an den Intendanten Friedrich Schramm: Nachdem ich vor fünf Jahren den nach Ansicht meiner meisten Bekannten selbstmörderischen Absprung von jedem gesicherten Broterwerb zum freien Schriftsteller wagte, habe ich mich nicht nur in die Stille und Sammlung des Landlebens zurückgezogen, sondern mir auch bewusst gerade den Kontakt mit den früheren Kollegen und Bekannten vom Theater untersagt. Es war nicht nur mein Ehrgeiz, sondern vor allem der Prüfstein, den ich mir selbst auferlegte, mich keineswegs durch irgendwelche ‚Beziehungen‘ durchzusetzen, son161 Die genaue Zahl ist schwer eindeutig zu bestimmen. Einige Hörspiele wurden mehrmals bearbeitet oder neu gestaltet und einige sind mehrteilig. – Im Gattungsbereich der biographischen Sendungen wird ähnlich wie bei den historischen zwischen zwei ‚medienspezifischen Domänen ‚radioeigener‘ Gestaltung‘ unterschieden: dem Hörspiel und der eher dokumentarisch ausgerichteten Hörfolge, die dann oft mit englisch-deutschen Features in Beziehung gesetzt wurde. Die Zuordnung von Lotars Manuskripten oszilliert zwischen beiden Genres. Unsystematisch wird ebenfalls in den Pressestimmen vorgegangen. Man hielt sich wahrscheinlich an die angekündigten Informationen zu der Sendung. Ausgehend von den textanalytischen Untersuchungen wird in diesem Buch einheitlich von Hörspielen gesprochen. Näheres zu der Gattungsentwicklung und -bezeichnung mit Schwerpunkt auf den schweizerischen Spezifika vgl. Weber (1995: 253–255). 162 Insbesondere ist die produktive Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen des Nordwestdeutschen Rundfunks Wilhelm Semmelroth zu erwähnen.

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dern einzig und allein durch das, was ich zu sagen hätte. […] So wählte ich auch zunächst den Weg über den Rundfunk, wo ich restlos unbekannt war, der mir aber die verlockende Resonanz einer nach Millionen zählenden Hörerschaft sicherte, von der sicherlich nur ein Bruchteil das Theater besucht. Heute habe ich dort eine große und treue Gemeinde und werde, seitdem ich bereits 1952 von der Jury der westdeutschen Rundfunkanstalten aus Deutschland am Prix d’Italia repräsentierte, zu den führenden Autoren neben Eich, Hildesheimer und Wuttig gezählt. Es entbehrt nicht der Komik, dass ich, als ich vor einem Jahr auf diesem Umweg an meine alte Wirkungsstätte zurückkehrte, von der Presse misstrauisch als ‚der bekannte Rundfunkautor‘ begrüßt wurde.163

Lotars bedeutende Position bestätigte der Leiter der Hörspielabteilung des Nordwestdeutschen Rundfunks, Heinz Schwitzke, der ihn neben Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Walter Oberer und Walther Franke-Ruta zu den wichtigsten Schweizer Autoren rechnete, deren Originalhörspiele in den 50er-Jahren von deutschen Sendern übertragen wurden (Schwitzke 1963: 320). Ähnlich wie bei den Schweizern verraten auch die zahlreichen Namen der vielgespielten deutschen Hörspielautoren wie Leopold Ahlsen, Peter Hirsche, Heinrich Böll, Wolfgang Hildesheimer, Walter Jens, Siegfried Lenz und Martin Walser (Schlieper 2003, 2004, 2007), dass es geläufige Praxis war, sich als Dramatiker oder Literat auch dem Radioschaffen zu widmen. Es war kein Geheimnis, dass der Rundfunk zu dieser Zeit vielen nicht nur Arbeitsgelegenheit, sondern zugleich einen erheblichen Verdienst ermöglichte (Schneider 1991: 203–217). So verwundert es nicht, dass viele Hörspiele auch Auftragsarbeiten waren.164 Der Wechsel vom Theater zum Medium Rundfunk hing bei Lotar mit seiner Orientierung auf die Rezipienten zusammen und mit seinem Anliegen, die breitestmögliche Zuhörerschaft zu erreichen. Lotar setzte sich intensiv mit den Grenzen und Möglichkeiten des Theaters und des Rundfunks in Bezug auf das potenzielle Publikum auseinander und berücksichtigte dabei besonders die gesellschaftspolitische Funktion, die er beiden Institutionen zuschrieb. Die Anzahl der Zuhörer, die eine Radiosendung erreichen konnte, war zu seiner Zeit zum einen erheblich größer als die Anzahl der Zuschauer im Theater. Zum anderen besaßen so gut wie alle Menschen einen Radioapparat, egal welcher sozialen oder gesellschaftlichen Herkunft sie waren. Auch Barner hebt hervor, dass „keine andere Kunstform in den fünfziger Jahren 163 Brief von PL an Friedrich Schramm, den Intendanten des Staatstheaters Wiesbaden, 19.8.1955 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-SCHR). 164 Als Beispiel kann hier Friedrich Dürrenmatt angeführt werden, der zwar im Vergleich z. B. zu Günter Eich bescheiden für Rundfunk schrieb, aber in seinen provokanten Äußerungen über die Radioarbeit die Tatsache anklingen ließ, dass die finanzielle Seite dieser Tätigkeit nicht uninteressant war (Würffel 2000: 61 f.).

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ein so breites und treues Publikum an sich ziehen [konnte].“ (Barner 1994: 244) Prägnant wird die Lage in Deutschland im Vorwort zu Hörspiel 1950– 1951 zusammengefasst: Anfang der 50er Jahre gab es in West- wie in Ost-Deutschland noch immer einen ungeheuren kulturellen Nachholbedarf, dem die vielen zerstörten Theater und Opernhäusern und – nach der Währungsreform von 1948 – kaum noch erschwinglichen Büchern und Zeitschriftenabonnements (noch) nachkommen konnten. (Schlieper 2003: 7)

Auch in der Schweiz war der Rundfunk ein sehr beliebtes und verbreitetes Medium, das allerdings eine andere kulturelle Position innehatte und sich durch spezifische dramaturgische und programmorientierte Charakteristika auszeichnete. Es musste nicht nur auf die veränderte politische Lage des Nachbarlandes und die neue Konkurrenz durch die deutschen Sender reagieren; die Fünfzigerjahre standen auch im Zeichen des Kampfes um die Einführung des Fernsehens. Trotz aller lokalen, politischen und kulturellen Divergenzen kann eine gemeinsame Tendenz in der aufklärenden und belehrenden Funktion des Rundfunks bzw. der Hörspielproduktion festgehalten werden: Lotars Vorliebe für die Gattung Biographie wich nicht von den damaligen Tendenzen in der Hörspielkunst ab. Die biographischen (und historischen) Hörspiele machten einen hohen Anteil der radiophonen Gesamtproduktion aus.165 In der Schweiz reicht diese Tradition bis in die Zwanzigerjahre zurück, wurde in den Dreißigern im Zuge der ‚Geistigen Landesverteidigung‘166 legitimiert und erfuhr auch nach den Aktualisierungsbestrebungen in den Fünfzigerjahren keine Unterbrechung (Weber 1995: 63–69, 252 f.). Im Deutschland der Nachkriegszeit wuchs gleichfalls das Bedürfnis nach „Vermittlung des politischen Bewusstseins und kultureller Werte“ (Schlieper 2004: 7), wofür die Biographien geeignet schienen. Lotars kulturelle Praxis konzentrierte sich dabei auf die Vermittlung von Lebenskonzepten aus christlicher Perspektive. Das Spektrum der biographierten Persönlichkeiten reicht bei ihm von Philosophen über Staatsmänner bis hin zu Schriftstellern.167 Die Auswahl war durch subjektive Motivationen 165 Zu historischen und biographischen Hörspielen vgl. Weber (1995: 255–288). 166 Unter der ‚Geistigen Landesverteidigung‘ versteht man „die von den 1930er bis in die 60er Jahre dauernde polit.-kulturelle Bewegung […], welche die Stärkung von als schweizerisch deklarierten Werten und die Abwehr der faschist., nationalsozialist. und kommunist. Totalitarismen zum Ziel hatte.“ (Jorio 2006) – „In der eigenen nationalen Vergangenheit suchte man vor allem nach Vorbildern, die geeignet waren, Mut zu machen und den Wehrwillen des Schweizervolkes zu stärken.“ (Weber 1995: 266) 167 Eine besondere Stellung nimmt dabei der zwölfteilige Hörspielzyklus Kampf gegen den Tod ein, der ebenfalls der Gattung der biographischen Hörspiele zugeordnet wird. Darin

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geprägt (Runge 2009: 109). Lotar verband ein enges Verhältnis mit den biographierten Personen.168 In seinem Leben fungierten sie als Ideengeber und Vorbilder. Er identifizierte sich mit ihrer humanistisch, demokratisch und pazifistisch geprägten Weltanschauung, deren Wertehierarchie im Geiste religiöser Traditionen stand. Es war ihm ein persönliches Anliegen, die geistigen Ideale sowie die ethischen und kulturellen Werte dieser Persönlichkeiten zu vermitteln, und vor allem deren wirkmächtige Umsetzung anhand ihrer Taten zu demonstrieren. Um diesen Anspruch zu erfüllen, fokussierte Lotar auf die persönlichen Eigenschaften, Charakterzüge und jene Voraussetzungen, die ihnen zu einem erfüllten und fruchtbaren Lebensweg verhalfen. Lotar konstatierte die zunehmende Entfremdung des breiten Publikums von den Traditionen, die die Biographierten repräsentierten, und dass sie infolge dessen auch an sozialer Energie verloren. Die Gründe dafür sah er in zwei Prozessen: Einerseits schreibt er diese Entwicklung der Säkularisierung der Gesellschaft in der Kriegs- und Nachkriegszeit zu. Das Abhandenkommen ethischer Grundsätze in den Beziehungen der Menschen und Völker hatte sich durch die Jahrhunderte vom ausgehenden Mittelalter an vorbereitet und vollzog sich in dem gleichen Maße, als sich der Mensch von dem lossagte, der ihm diese Grundsätze als Lebensgrundlage eingeboren hatte: von seinem göttlichen Schöpfer. (Schiller 7)

Andererseits meinte er, dass der Kanonisierungsprozess daran schuld sei, dass das Bild von diesen Persönlichkeiten immer reduzierter erscheine; darüber hinaus unterstütze der schulische Zugang zum Kanon die passive Aneignung der Kenntnisse durch Übernahme fremder Auslegungen und Interpretationen, ohne durch das selbstständige Studium der Quellen und dadurch erworbene Kenntnisse eigene Gedanken zu entwickeln und sich eine eigene Meinung zu bilden. Im Falle der Autoren verwies Lotar wiederholt auf die Notwendigkeit, das Werk auf sich wirken zu lassen. Die angeführten Intentionen Lotars könnten zum simplen Schluss verführen, Lotars Biographik nur als Werkzeug der Humanität (Fetz/Schweiger werden Lebensabschnitte von Forschern und Ärzten nachgezeichnet, die sich um große medizinische Entdeckungen verdient gemacht haben. Das heterogene Mosaik der unterschiedlichen Lebenswege bildet durch die Gemeinsamkeiten in der Darstellungsweise und die Auswahl der Topoi ein stimmiges Ganzes. 168 Dabei gaben mehrere Kriterien den Ausschlag dazu, diese Persönlichkeiten mit einer Biographie zu würdigen, wie Schweiger zusammenfasst: „Die Frage, nach welchen Kriterien eine Lebensgeschichte für eine Biographie ausgewählt wird, ist eng verbunden mit der Funktionsweise von kulturellem Gedächtnis, mit Kanonisierungsprozessen und ihren Gegenbewegungen sowie mit sozialen, politischen und wirtschaftlichen Machtkonstellationen.“ (Schweiger 2009: 32)

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2006: 8) abzustempeln, ohne weitere formalästhetische Merkmale oder erinnerungskulturelle Funktionen zu berücksichtigen. Die Hörspielbiographien wollen exemplarisches Wissen vermitteln, vor allem in „erzieherischer Funktion wirken“ und „zur Nachahmung eines als modellhaft betrachteten Lebens auffordern“ (Schweiger 2009: 33). Das Medium Rundfunk sollte es Lotar ermöglichen, das breite Publikum, insbesondere seine Zielgruppe – die Jugendlichen – anzusprechen. In seinem Werk der Fünfziger- und Sechzigerjahre wandte er sich an die Nachkriegsgeneration, die in ihrer Kindheit und Jugend noch Kriegsverbrechen erlebte und nun skeptisch in die Zukunft schaute oder erneut unter totalitärem Druck stand.169 Um einen direkten Bezug herzustellen, ließ er in seinen Hörspielen den Figurentyp des Jugendlichen als Studenten oder jungen Menschen auftreten, mit dem sich der junge Zuhörer identifizieren konnte. Durch das Angebot unterschiedlicher Denkmodelle und allgemeinmenschlicher Geschehnisse bieten seine Biographien christlich motivierte Orientierungs- und Stabilisierungsfunktionen für den gesamten Lebensweg. Weiters nimmt die Biographie als Medium der Vermittlung des Wissens, der Sinndeutungen und kulturellen Codes an den Popularisierungsprozessen teil. Popularisierung wird dabei nicht als Vereinfachung der wissenschaftlichen Inhalte, sondern als Sonderform der Kommunikation verstanden (Kretsch­ mann 2009: 33), die den Vorgang von Transformation bis zur Aneignung des Wissens umfasst.170 Im soziokulturellen Kontext leisten Biographien einen Beitrag zur Formung und Stiftung individueller wie kollektiver Identität. Die biographischen Darstellungs- und Gestaltungsprinzipien, die sich gegenseitig ergänzen und auseinander hervorgehen, entsprechen Lotars Auffassung von der Rolle des Biographen als einem Diener am Werk und sind von seinem Verständnis der biographischen Wahrheit171 abgeleitet. In seiner 169 Dies formulierte er in seinem autobiographischen Roman Das Land, das ich dir zeige: „Ein einfacher Satz gab mir Klarheit. ‚Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.‘ […] Das ist die Botschaft, sagte ich mir, die eine von Massenmord, Zerstörung und Elend überwältigte Welt braucht, am meisten eine Jugend, die in der Anbetung der Gewalt aufgewachsen ist. Kaum sind ihre Götter gestürzt, da preist man ihr wieder eine, nur andersfarbene Gewaltherrschaft an.“ (Land 261) 170 Für die Popularisierung bestimmter Bereiche wie z. B. der Literaturgeschichte war das biographische Verfahren maßgeblich (Nieberle 2009: 174). 171 Unscharf und metaphorisch beschrieb Lotar seine Suche nach der biographischen Wahrheit: „Das Leben eines großen Mannes darzustellen, ist immer ein Wagnis. Wir vermeinen, die zeitliche Distanz gebe uns Klarheit und Überblick, so wie wir Gestalt und Größe eines Berges aus der Entfernung beurteilen. Aber bleibt nicht doch immer unser Standpunkt bestimmend, unser Blickwinkel trügerisch, verschwimmt nicht gerade von weither alles

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Reaktion auf eine kritische Stimme zum Hörspiel über Napoleon mit dem Titel Der unbekannte Befehl beschreibt Lotar ausführlich seine Gestaltungsstrategie und seine künstlerischen Ziele, die auch für die anderen biographischen Hörspiele gelten können: Nun im Untertitel meines Werkes wurde angesagt ‚nach zeitgenössischen Dokumenten‘ – ich lasse daher sowohl Napoleon als auch den Papst fast ausschließlich mit ihren eigenen, authentischen Worten sprechen, wie ich sie in ihren Briefen, diplomatischen Notenwechseln, Mémoiren und von Zeugen aufgezeichneten Gesprächen vorfand. Dieses Material goss ich in die Form eines dramatischen Hörspieles. Ich kann darum den historischen Wahrheitsgehalt jeder einzelnen Stelle anhand dieser Quellen nachweisen. […] Dass mein Manuskript trotz des daran verarbeiteten gewaltigen Materials und trotz seiner historischen Treue mehr wurde als eine bloße historisierende Reportage, dass es eben darum neue Erkenntnisse vermittelt und uns Heutigen etwas zu sagen hat, dafür brauche ich mich nicht zu entschuldigen. Die Fähigkeit, die verborgene Aktualität eines Stoffes ans Licht zu bringen, ist eine der wesentlichen Erfordernisse eines Dramatikers.172

In Lotars Charakterisierung der ästhetischen Bearbeitung seiner Hörspiele und seiner Auffassung der biographischen Methode werden zugleich mehrere Aspekte angesprochen, die Astrid Erll als Erinnerungsprozesse der Biographie bezeichnet: „Selektion, Konstruktion und Gegenwartsbezug“ (Erll 2009: 82). Lotar, der sich als Vermittler verstand, strebte danach, die Originalgedanken den Biographierten als authentische Aussprüche in den Mund zu legen und damit beliebigen Deutungen auszuweichen.173 Dieses Vorhaben prädestinierte auch die Quellenwahl, die insbesondere auf autobiographischen Texten basierte. Durch die direkte Wiedergabe der Zitate wird biographische Wahrheit suggeriert. Diesem Leitgedanken entsprechend wird in der Figurenrede auf die Perspektive des Biographierten fokussiert, wodurch dieser in einer aktiven Rolle erscheint. Der Biographierte kann selbst auf sein Leben zurückblicken und erzählen, wobei die zentralen Themen der gestalteten Biographien sich auf die drei theologischen Tugenden Glaube, Liebe und ins Ungewisse? Wir sind gezwungen, je mehr uns der Wille zur Wahrheit bewegt, uns der Gestalt wieder zu nähern und zurückzukehren in die Vergangenheit. Hier leuchten unvergängliche Lichter, die uns den Weg weisen, aber auch zu blenden drohen und, je heller sie strahlen, desto tiefer, undurchdringlicher wird auch der Schatten, den sie werfen. Durch Helle und Finsternis gleichermaßen uns zur Wahrheit tastend, dringen nun die Stimmen der Zeugen auf uns ein, der Toten und der noch Lebenden. Je bedeutender ein Mann ist, desto vielstimmiger und verwirrender der Chor, der sein Lebenslied begleitet.“ (Wahrheit ist einsam I: 1) 172 Brief von PL an ‚Bumerang‘, Autor einer Kritik an der Sendung zu Der unbekannte Befehl, undatiert, freie Blätter (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-3-d-05). 173 Brief von PL an Franz W. Beidler, Sekretär des Schweizerischen Schriftstellerverbandes, 1.10.1975 (SLA, NPL, Sign. Lotar-A-3-c-13/1-3).

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Hoffnung beziehen. Nicht zu bestreiten ist, dass schon die Auswahl der Textstellen und deren Montage durchaus eine Art der Interpretation beinhaltet, die wesentlich bei der jeweiligen Lebensnachzeichnung wirksam wird. Generell rückte das biographische Faktum zugunsten des Fragenkomplexes in den Hintergrund, wie das Wissen über die Persönlichkeiten konstruiert wird. Der Wahrheitsanspruch sollte in der Gestaltungsweise sowie auf der Ebene der Lebensinhalte eingelöst werden. Über die biographische Wahrheit und Lüge in der Kunst stellt Bernhard Fetz fest, dass der Dichter durch die Imagination „die Fakten aus der Zwangsjacke ihres historischen Gebundenseins [befreit] und ihnen die Gnade einer späteren Wiedergeburt unter ganz anderen Umstände als den ursprünglichen“ gibt (Fetz 2009: 56). In seinen Biographien strebte Lotar nicht nur die Transformation der Fakten zu einer höheren Art der Wahrheit an (Fetz 2009: 56), sondern auch eine vollständige Annäherung an die biographierte Persönlichkeit, die durch die Pluralität aller beteiligten Stimmen garantiert werden sollte. Die durch das audiophone Medium ermöglichte Multiperspektivität wird dem Zitierverfahren dabei besonders gerecht. So kann der jeweilige Lebensweg durch unterschiedliche Blicke aus der öffentlichen und insbesondere der privaten Sphäre dargestellt werden. Die Zitate aus den Originalwerken unterschiedlicher Gattung und Qualität werden von ihren Verfassern, die als Figuren in den Hörspielen auftreten, wiedergegeben. Die Figurenkonzeptionen und -konstellationen variieren und werden im Folgenden in eigenen Abschnitten detailliert analysiert. Neben den historischen Persönlichkeiten kommen typisierte Vertreter bestimmter Ideologien und sozialer Gruppen zu Wort.174 Bei den Schriftstellern treten dazu noch ihre literarischen Figuren auf, gemäß Diltheys These, dass das Werk das Leben des Autors widerspiegelt. Gerade in Bezug auf die biographischen Hörspiele wurde in der Presse viel über die Vor- und Nachteile der Gestaltungsmethode diskutiert. Obwohl das Zusammenstellen auf der einen Seite als nicht kreativ genug beurteilt wurde, wurde auf der anderen Seite vor allem die Lebendigkeit der Sendung betont und geschätzt. Zugleich garantierten die intensive Recherche und das sorgfältige Quellenstudium, dass ein fundiertes Mosaik vorgelegt wurde. Wie das Verfahren ästhetisch bewertet wurde, wird später im Einzelnen besprochen. 174 „Viele Figuren Lotars vertreten Wertvorstellungen, verkörpern Auffassungen, Haltungen, fassen Ideen in Sprache. Die Menschen werden, manchmal mit pädagogischer Hartnäckigkeit, vor sittliche Fragen gestellt, müssen sich entscheiden, kommen nicht darum he­ rum, Farbe zu bekennen.“ (Keller 1990)

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Als letzter Punkt wird die Gegenwartsbezogenheit behandelt, die in der Biographie bereits durch die Interpretation und Rekonstruktion des Vergangenen unter Einbeziehung des gegenwärtigen Wissens hergestellt wird. Die auf das geistige Wertesystem ausgelegte Themenauswahl in Lotars Hörspielen ist durch die Autorintention vorherbestimmt und im damaligen politisch-gesellschaftlichen Diskurs als beurteilend und konfrontierend zu betrachten. Zugleich sollte eine zeitlose Allgemeingültigkeit in Form eines Orientierungsmusters gewährleistet werden und dadurch als zeitkritische Stimme wirken. Die Überzeitlichkeit wird auch dadurch erreicht, dass die zeitliche und räumliche Verankerung sowie die biographische Evidenz in den Hintergrund rücken und nur zum grundsätzlichen Kontextverständnis angeführt werden. Vordergründig thematisiert wird dagegen die Biographiewürdigkeit des jeweils Biographierten im aktuellen kulturellen und gesellschaftspolitischen Diskurs. Die Frage nach der Aktualität erklingt oft explizit schon in den Hörspieltiteln, wie bei Hat uns Albert Schweitzer heute etwas zu sagen? Die leicht provokanten rhetorischen Fragen, die die Bedeutung der jeweiligen Person scheinbar anzweifeln, zielen unter anderem darauf ab, mit den Hörern in einen Dialog zu treten. Dies wird durch die Diskontinuität der biographischen Darstellungen ebenfalls beabsichtigt (Runge 2009: 110). In Brüchen und Einschüben wird über die Möglichkeiten und Grenzen des biographischen Schreibprozesses sowie der Lebenskonstruktion diskutiert. Diese Selbstreflexion wird dabei nicht nur textintern verhandelt, sondern auch formal inszeniert. Anhand einzelner Beispiele wird gezeigt, dass Lotars audiophone Biographik zwar im Großen und Ganzen der Traditionslinie folgt, aber auch metaisierende Elemente (Darlegung und Darstellung der Kernfragen des biographischen Schreibens, Montage und Multiperspektivität)175 enthält und dass einige Hörspiele der modernen Biographik sehr nahestehen. Mit ihrer vermittelnden und identitätsstiftenden Funktion nimmt die Biographie einen wesentlichen Stellenwert in der Erinnerungskultur ein (Erll 2009: 79). Die Ansätze der kulturorientierten Gedächtnisforschung sind auch für die weitere Untersuchung von Lotars Hörspielen ausschlaggebend, denn die Biographie ist „eine Gedächtnisgattung par excellence – eine Gattung, die auf verschiedenen Ebenen Gedächtnis prägt und von Gedächtnis geprägt ist. Biographien stiften, kontinuieren, zirkulieren und hinterfragen kulturelles Gedächtnis.“ (Erll 2009: 86) In einzelnen Analysen wird gezeigt, welche Bedeutung Lotar den biographierten Persönlichkeiten im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses zuschrieb, welche Topoi bei der Gestaltung der Hörspiele 175 Vgl. Nünning (2012: 309–348). – Zum metabiographischen Schreiben vgl. auch Hauthal (2007); Nünning (2000: 5–36); Fetz/Schweiger (2006); Nadj (2006).

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in den Vordergrund rückten und welche Themenbereiche unter dem Aktualitätsanspruch reflektiert wurden. Nicht zuletzt wird im vorliegenden Kapitel der These nachgegangen, dass „über andere schreiben immer auch [bedeutet], über sich selbst zu schreiben“ und dass dadurch „in die Biographie Erinnerungen der Verfasser ebenso wie die Inhalte ihres semantischen Gedächtnisses eingehen.“ (Erll 2009: 81, 86) An konkreten Beispielen wird veranschaulicht, dass sich Lotars persönliche Identität und ihre Veränderung sukzessiv durch seine biographischen Darstellungen rekonstruieren lässt. Als Resultat von Denkmodellen, die durch einen bestimmten kulturellen Kontext geprägt waren und schließlich miteinander in Beziehung traten, ergibt sich, wenn schon nicht ein einheitliches Ganzes, so doch ein Identitätspatchwork. Für detailliertere Untersuchungen wurden Lotars Hörspiele in dieser Arbeit, entsprechend der unterschiedlichen Berufe der Biographierten, in drei Gruppen eingeteilt.176 Wie bereits ausgeführt, sind es vor allem die Ansätze der aktuellen Gedächtnisforschung, die hier die theoretische Annäherung an Lotars biographisches Konzept mit entsprechenden Fragestellungen nach spezifischen Textkomponenten ermöglichen. Die Hörspiele werden im Folgenden mit textanalytischen Mitteln analysiert. Aus mehreren Gründen, darunter die fehlende akustische Aufzeichnung und die kaum dokumentierte Rezeption der Hörspiele, wird hier die Untersuchung der Hörspiele als Radiokunstwerke vernachlässigt. Stattdessen wird der bisher umfassendste Überblick über Lotars biographische Hörspiele gegeben, deren Typoskripte in seinem Nachlass ausfindig gemacht werden konnten.

5.1 Denker der praktischen Philosophie In diesem Kapitel liegt der Fokus auf den beiden bedeutenden Philosophen Tomáš Garrigue Masaryk und Albert Schweitzer, die mit ihrer humanistischen Überzeugung und christlichen Gesinnung, mit ihrem philosophisch-politischen Denken und ihrem Engagement Lotars Weltanschauung und seine 176 In die Untersuchung wurden folgende zwei Hörspiele nicht einbezogen: Der unbekannte Befehl (1950) über Gespräche Napoleons mit Papst Pius VII. und Jeder von uns ist Gottes Sohn (1960) (später auch: Die Macht der Gewaltlosigkeit vom Jahre 1968) über die letzten Tage von Mahatma Gandhi. In diesen Hörspielen wiederholen sich die allgemeinen Merkmale von Lotars Hörspielen und im gesamten Werk spielen sie eher eine marginale Rolle.

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Religiosität bedeutend mitprägten. Lotar bemühte sich lebenslang, in ihrem Sinne tätig zu werden und das weiterzuvermitteln, was sein Leben in großem Maß bestimmte. Albert Schweitzers Leitgedanke der ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ (Oermann 2009; Suermann 2012) beeinflusste Lotar grundlegend.177 Schweitzer wurde zu seinem Freund und Lehrer, wovon ihre umfangreiche Korrespondenz zeugt.178 Die Auseinandersetzung mit seiner Kulturphilosophie, dem politischem Engagement und vor allem mit seiner religiösen Maxime, den Glauben in die Tat umzuwandeln, spiegelt sich in Lotars Werk.179 Bis zum Tod ließ ihn das Thema der Versöhnung zwischen Gott und Mensch und den Menschen untereinander nicht mehr los. Zu Schweitzers Ehrentagen initiierte Lotar regelmäßig Veranstaltungen und publizierte zahlreiche Beiträge in der Schweizer Presse: Ich bin so fleißig wie möglich angesichts der Tatsache, dass meine Kräfte auch nicht unbedingt im Zunehmen begriffen sind. Die letzten Monate standen ganz im Zeichen Albert Schweitzers, dessen 100. Geburtstag wir vorgestern durch eine große Reihe von Veranstaltungen begangen haben. Ich organisierte eine ökumenische Feier in der katholischen Stadtkirche, Filmvorführungen in allen Schulen, ein Streitgespräch im Lehrerseminar, das Jana besucht, schrieb ein Hörspiel und auch sonst allerlei, von dem ich dir eine Probe sende.180

Das ursprünglich 1950 verfasste Hörspiel erlebte mehrere Bearbeitungen und wurde wiederholt von deutschen sowie schweizerischen Radiosendern aus177 „Mein Leben trägt seinen Sinn in sich selbst. Er liegt darin, dass ich die höchste Idee lebe, die in meinem Willen zum Leben auftritt, die Idee der E h r f u r c h t v o r d e m L e b e n. So lebe ich mein Leben in Gott in der geheimnisvollen ethischen Gottespersönlichkeit.“ (Sinn 54) So formuliert ‚die Stimme‘ Albert Schweitzers in dem Hörspiel Vom Sinn des Lebens den zentralen ethischen Gedanken, mit dem sich Lotar identifiziert. 178 Die Korrespondenz zwischen Peter Lotar und Albert Schweitzer ist in Lotars Nachlass aufbewahrt (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-4-1). Veröffentlicht von Rinderknecht (1988). 179 Persönliche Erinnerungen an Albert Schweitzer bearbeitete Lotar in Das Land, das ich dir zeige, wo er ihm ein ganzes Kapitel gewidmet hat, in dem die Hauptfigur Marek Truntschka seine Schuldgefühle und sein Versagen mit Schweitzer bespricht: „Meinst du, ich [Albert Schweitzer – Anm. der Autorin] habe nie versagt? Siehst du nicht, dass ich alt und verbraucht bin? Aber Gott hat für jeden seine Aufgabe. In allem, was du sagst und schreibst, denk an die Menschen, für die du’s tust. Gib acht, dass der Mensch nicht zugrunde geht. Geh ihm nach und finde ihn, wo die anderen ihn nicht mehr finden – und steh zu ihm.“ (Land 265) – Lotar lernte Schweitzers philosophisches Werk über seinen Onkel, den Philosophieprofessor Oskar Kraus kennen (geb. 1872 in Prag und gestorben 1942 in Oxford). Kraus hatte 1926 die Schrift Albert Schweitzer zur Charakterologie der ethischen Persönlichkeit und der philosophischen Mystik veröffentlicht. 180 Brief von PL an Francis Schiller, 16.1.1975 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-SCHIF).

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gestrahlt.181 Der Text wurde auch für die Bühne bearbeitet und z. B. in den Stadttheatern Oldenburg, Osnabrück und Hildesheim aufgeführt. Auf persönlichen Wunsch von Albert Schweitzer arbeitete Lotar den Hörspieltext für eine Buchausgabe182 um.183 Es kam zu Übersetzungen ins Französische, Niederländische, Spanische und nicht zuletzt ins Tschechische.184

181 Lotar, Peter: Vom Sinn des Lebens. Gespräch über das Werk und Leben Albert Schweitzers vom Jahre 1950. Ausgestrahlt vom Radio Basel, Nordwestdeutschen Rundfunk Köln, Hessischen Rundfunk, Südwestfunk Baden-Baden, Sender Freies Berlin, Radio Hilversum, Radio Strasbourg. – Ders.: Was hat uns Albert Schweitzer heute zu sagen? Zu seinem 100. Geburtstag am 14. 1. 1975. Gesendet vom Radio Basel am 12.1.1975 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-3-m). 182 Erste Ausgabe: Lotar, Peter: Vom Sinn des Lebens. Ein Gespräch. Aus Werk und Leben Albert Schweitzers mit fünf obligaten Stimmen. Bern: Paul Haupt 1951. Zweite umgearbeitete Ausgabe mit der Gesamtauflage 33.–36. Tausend: Ders.: Vom Sinn des Lebens. Ein Gespräch zu fünft. Aus Werk und Leben Albert Schweitzers. München: C.H. Beck 1961. – Laut beiden Buchumschlägen widmete Lotar den Reinertrag dem Hilfswerk für das Albert-Schweitzer-Spital im Lambarene. Der Hörspieltext wurde auch in Zeitungen publiziert. Zum 90. Geburtstag von Albert Schweitzer erstellte Lotar eine neue Fassung anhand der titelgebenden Frage, was uns Albert Schweitzer noch zu sagen hat. Eine gekürzte Version unter dem Titel Albert Schweitzer. Ein Requiem für vier Stimmen von Peter Lotar erschien in der Illustrierten Sonntagsbeilage zum Oberländischen Volksblatt Interlaken am 14.11.1965. 183 Über die Erfolge des Textes, der nicht nur als Hörspiel seinen Weg zum Publikum fand, berichtete Lotar an seine Kollegen und potenzielle Interessenten von Rundfunkgesellschaften: „Es wird Sie vielleicht interessieren zu erfahren, dass die Drucklegung über ausdrücklichen Wunsch Dr. Schweitzers erfolgte. Bei dieser Gelegenheit erwies sich das alte Vorurteil, wonach das Lesepublikum keine Hörspiele kaufen wolle, als hinfällig. Das Büchlein hat bereits das einundzwanzigste Tausend überschritten.“ Brief von PL an die Redaktion der Verlagsanstalt Ringier und Co., 9.11.1953 (SLA, NPL, Sign. SLA-LotarB-1-RING). Oder: „Die deutsche Ausgabe erreichte innerhalb eines Jahres eine Auflage von fast 18 000. Das ist für heutige Verhältnisse sehr viel. Und was das wichtigste ist – es gab vielen Menschen die Anregung, sich mit Leben und Werk Schweitzers ausführlich zu beschäftigen. Vergangenen Monat brachte sogar eine deutsche Bühne (Hildesheim) mein Gespräch in einer Studioaufführung auf die Szene, die sehr starken Widerhall fand. Auch Schüleraufführungen in verschiedenen Städten sind vorgesehen, und eine Schuldirektorin schrieb mir, sie sei im Begriffe, das Büchlein in ihren Philosophie-Unterricht einzubauen. Das ist eine ermutigende Resonanz. […] Das Gespräch ging in verkürzter Form als Hörspiel über fast alle deutschen Sender sowie Radio Strasbourg und den Schweizerischen Landessender.“ Brief von PL an M. Natannsen, 18.11.1952 (SLA, NPL, Sign: SLA-LotarB-1-NAT). 184 Die tschechische Übersetzung konnte erst nach der politischen Wende entstehen. Herausgebracht und übersetzt wurde sie von Jiří Beneš: Lotar, Peter: O smyslu života. Praha: Primus 1995.

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Neben Albert Schweitzer wurde auch die Auseinandersetzung mit Tomáš Garrigue Masaryk essenziell für Lotars Werk.185 Masaryks Gedankengut bildet den ideellen Ausgangspunkt von Lotars Theaterstücken. Vor allem der Zentraltopos der Wahrheitssuche und die Hauptprämisse ‚Die Wahrheit siegt‘ wurde nicht nur im gleichnamigen Theaterstück über die Folgen des Münchner Abkommens behandelt.186 Masaryk übernahm die Auffassung eines breit angelegten Begriffes der Wahrheit vom religiösen tschechischen Denker und Reformator Jan Hus.187 Für Masaryk war Hus ein unermüdlicher Wahrheitsverteidiger, der die erkannte Wahrheit der offenbarten gleichstellte; Jan Hus markierte den Beginn der humanistischen Linie in der tschechischen Nationalgeschichte, die Masaryk über die Nationale Wiedergeburt bis zur Gegenwart weitergeführt hat. Er war sich bewusst, dass die Kenntnis positiver historischer Beispiele eine bedeutende Rolle im Nationalgedächtnis spielt, über Integrationskraft verfügt und eine identitätsstiftende Funktion besitzt. Unter Humanität verstand er nicht nur das Verantwortungsgefühl für sich selbst, die anderen und die Gesellschaft, sondern auch das selbstständige Denken und Handeln nach bestem Gewissen. Die Hörspiele werden wegen ihres Umfangs und ihrer Bedeutung für Lotars Hörspielproduktion in einzelnen Teilkapiteln behandelt, in deren Zen­ trum jeweils die Taten liegen, durch die die Eigenschaften der Biographierten demonstriert werden. Vorrangig ist es die Kraft, ihre innerste Überzeugung gegen die Meinung der Mehrheit durchzusetzen. Insbesondere wird auch auf die Wahrheiterkenntnis fokussiert, die zu den Zentralbegriffen beider Philosophen gehört.

185 Die zahlreichen überwiegend biographischen Zeitungsartikel über Masaryk und die Kommentare der politischen Lage in der damaligen Tschechoslowakei, die an Masaryks Geschichtsauffassung anschließen, sind im sechsten Kapitel behandelt. 186 Näheres im vierten Kapitel. 187 Mit der Wahrheitsauslegung bei Jan Hus setzt sich u. a. auch der tschechische Emigrant und bedeutende Theologe Jan Milíč Lochman auseinander, der bei Hus fünf Dimensionen der Wahrheit unterscheidet: die philosophische, theologische, kirchliche, soziale und eschatologische (Lochman 1993). – Dem Einfluss von Jan Hus auf das Denken von T. G. Masaryk widmet sich der Sammelband von Kučera/Butta (2013).

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5.1.1 Albert Schweitzer Das Hörspiel Vom Sinn des Lebens188 verfolgt zwei Linien. In Form eines Gesprächs wird einerseits das ideelle Gedankengut von Albert Schweitzer dargelegt. Um ein authentisches Bild seines Denkens und Wirkens zu liefern, nutzte Lotar wieder die für ihn typische Mosaiktechnik, bei der er den Text aus langen und monologischen Zitaten aus Schweitzers Werk zusammensetzte, deren Verzeichnis – wie immer bei Lotar – dem Text angefügt ist. Andererseits wird Schweitzers vielseitiger, beachtlicher Lebensweg im Dialog mit einem jungen Menschen, der nach dem Sinn des Lebens sucht, chronologisch entfaltet. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, übernimmt der Typ ‚junger Mensch‘ mehrere Rollen und Funktionen. Neugierig stellt er unbefangene, offene Fragen, die seiner Jugend entsprechend von einer gewissen Naivität zeugen. Seine Direktheit ermöglicht es, die biographische Evidenz ungezwungen aufzuführen. Die Jugendzeit gilt Lotar als die wichtigste Lebensphase voll von wahrem Idealismus. DIE STIMME: Ich beschwöre Euch Jungen, die Gedanken, die Euch begeisterten, durch das ganze Leben hindurch festzuhalten! Im Jugendidealismus erschaut der Mensch die Wahrheit. In ihm besitzt er einen Reichtum, den er gegen nichts eintauschen soll. (Sinn 11)

Die bildende Funktion der Biographie wird im Hörspiel unmittelbar und vorbildlich realisiert. Die Nachzeichnung von Schweitzers Leben dient im sozialen Rahmen als Orientierungsraster für den Gesprächspartner, mit dem sich das junge Publikum identifizieren kann. Im Gespräch zwischen Albert Schweitzer und dem jungen Menschen wird das Leitmotiv von Schweitzers Leben, den Weg „des unmittelbaren Dienens“ (Sinn 16) zu betreten, mit seiner Studien- und Berufswahl in Beziehung gesetzt. Er studierte im höheren Lebensalter Medizin, um der indigenen Bevölkerung im afrikanischen Urwald medizinische Versorgung zukommen zu lassen: DIE STIMME: Arzt wollte ich werden, weil ich mir das neue Tun nicht als ein Reden von der Religion der Liebe, sondern nur als ein reines Verwirklichen derselben vorstellen konnte. (Sinn 22 f.)

Schweitzers Entscheidung wurde von seinen Nächsten und seinem Umfeld vorerst skeptisch aufgenommen. Niemand verstand, warum Schweitzer seine vielseitigen Tätigkeiten als Bachinterpret, Hochschullehrer und Prediger, in denen er international erfolgreich war, aufgab. Bald zeigte sich jedoch, dass er all das nur scheinbar opferte. Diesem Wendepunkt wurde ein spezieller Platz 188 Gearbeitet wird mit der zweiten Buchauflage: Lotar, Peter: Vom Sinn des Lebens. Ein Gespräch zu fünft. München 1961.

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in dem Hörspiel gewidmet (Sinn 30 f.). Mit Nachdruck wird auf Schweitzers Charakterzüge, wie den starken Willen, seine Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit, auf seine Tugenden wie Humanität, Nächstenliebe, Vertrauen und Verständigung, Verantwortung und Gerechtigkeit, sowie sein Engagement für Umwelt und Tierschutz hingewiesen (Suermann 2012: 21). Mit den Schilderungen des Lebensweges werden die wichtigsten Grundlagen seines philosophischen und ethischen Gedankenguts, das eng mit seiner religiösen Überzeugung verbunden ist, ausgebreitet. Den Schwerpunkt dabei bilden Schweitzers Auffassungen von Wahrheit, Nächstenliebe, Eschatologie sowie der zentrale Gedanke der Ehrfurcht vor dem Leben, verbunden mit der Hingabe gegenüber allem Lebenden. Neben den grundsätzlichen Prinzipien von Schweitzers Weltanschauung, die im christlichen Glauben angesiedelt sind, wird auch sein politisches Engagement (Suermann 2012) portraitiert, seine Kritik an der politischen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg und den totalitären Regimen. Ablehnend stand er dem Nationalismus, Rassismus und der Kolonialpolitik gegenüber und sprach sich gegen atomare Aufrüstung, Zerstörung der Umwelt und Tierquälerei aus. Er vermisste die Einhaltung jeglicher ethischer Verhaltensnormen. Er beschäftigte sich mit der aktuellen Rolle der Philosophie, Ethik und Kultur in der Gesellschaft und dem widersprüchlichen fortwährenden Streben nach Fortschritt: DIE STIMME: Die geistig ethische Vollendung des Menschen ist das höchste Ideal, von dem alle andern Fortschrittsideale erst ihren wahren Wert empfangen. (Sinn 53)

‚Die Stimme‘ repräsentiert die historische Persönlichkeit von Albert Schweitzer, die nicht direkt durch ihn, sondern für ihn spricht. So wirkt sie als Vermittlungsinstanz, was einerseits einen Effekt der Verfremdung erzeugt und andererseits Schweizers Meinungen allgemeingültig erscheinen lässt. Drei weitere Figurentypen (der Realist, der Theologe und der Philosoph) treten mit der ihnen je eigenen Weltauffassung und Lebensphilosophie als Schweitzers Gegner auf. Leider funktioniert diese Figurenkonzeption bzw. Figurenkonstellation nicht uneingeschränkt. Durch die vergleichsweise langen monologischen Passagen von Schweitzers Stimme wirkt das Gespräch zu fünft dramaturgisch unausgeglichen. Zusätzlich bleiben viele Aussagen oberflächlich, die Argumente oft nur Kommentare, die das Gespräch zwar in eine bestimmte Richtung zu lenken suchen, aber nicht essenziell vertiefen. Das eigentliche Ziel, ‚kritisch‘ zu sein, wird verfehlt. Es handelt sich nicht um ein Streitgespräch im platonischen Sinne. Lotars Darstellung vermittelt zwar Schweitzers Ethik und Weltanschauung, setzt sich jedoch nicht kritisch damit auseinander.

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5.1.2 Tomáš Garrigue Masaryk Lotars Beschäftigung mit dem ersten tschechoslowakischen Präsidenten und Philosophen Tomáš Garrigue Masaryk wurde mit einem Hörspiel abgerundet.189 In den fast mystifizierenden und heldenhaften Darstellungen wird Masaryk als unermüdlicher Wahrheitskämpfer portraitiert, dem die Wahrheitssuche kein leeres Wort war, sondern als praktische Aufgabe erschien. Sie wird als entscheidender Erkenntnisprozess beim Aufbau der personalen oder kollektiven Identität verstanden. Im ersten Teil des Hörspiels Die Wahrheit ist einsam190 wird Masaryk mit dem Verdacht konfrontiert, dass die Königinhofer und Grünberger Handschriften, die die alte Herkunft der tschechischen Literatur beweisen sollen, keine mittelalterlichen Handschriften seien. Der Fall wird zu einem Politikum. Masaryk steht im Streitgespräch mit dem Bohemisten und bekannten Sprachwissenschaftler Jan Gebauer, der die Sprache der Handschriften jahrelang untersuchte. Masaryk will nicht, dass das tschechische Volk seine neue Identität auf einem Betrug aufbaut. Er stellt sich gegen die öffentliche Meinung: GEBAUER: Vielleicht wäre es klüger gewesen einfach zu schweigen, wie mir meine Freunde rieten. MASARYK: Ein sehr schlechter Rat. Lieber Kollege, wenn unsere Tätigkeit an der Universität überhaupt einen Sinn haben soll, so einzig in der Verpflichtung, durch Vermehrung von Bildung und Sittlichkeit die Bedingungen für eine Besserung unseres nationalen Charakters zu schaffen. GEBAUER: Was haben Sie an unserem Charakter auszusetzen?

189 „Wenn ich auch in diesem Jahre durch meine schwankende Gesundheit und eine etwas allzu aufreibende Tätigkeit im Dienste der Nächstenliebe behindert war, so konnte ich doch vergangenen Monat eine große Radio-Biographie von Tomáš Masaryk beenden. Sie enthält zugleich das Drama des Untergangs der alten Monarchie und der Tschechoslowakei. Über diese Dinge herrschen heute, vor allem in Deutschland, immer noch so verwirrte Vorstellungen, die eine schwere Hypothek auch für die Zukunft bedeuten, dass es nötig schien, darüber etwas Grundlegendes zu sagen.“ Brief von PL an Urs Dietschi, 29.11.1959 (Familienarchiv Urs Dietschi, Solothurn). 190 Untersucht wird die erste zweiteilige Fassung des Hörspiels: Lotar, Peter: Die Wahrheit ist einsam. Das Leben und Wirken des Thomas G. Masaryk. Typoskript, 1959 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-3-i-3). Gesendet vom Nordwestdeutschen Rundfunk Köln, Südwestfunk, Radio Basel. Die zweite gekürzte bearbeitete Fassung entstand etwas später unter dem Titel Das Vermächtnis des T. G. Masaryk. Typoskript, 1962. Gesendet vom RIAS Berlin, Radio Basel, NCRV Hilversum.

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MASARYK: Dreihundert Jahre Unterdrückung durch die Habsburger haben ihn deformiert. Zur Zeit der Hussiten war die Kraft unserer Waffen so unwiderstehlich wie die unseres Glaubens. Heute sind wir ängstlich, listig, unaufrichtig. Unser Wiederaufstieg kann mit nichts anderem beginnen, als mit der Heilung dieser seelischen Krankheit. […] Vor allem ist es eine Frage der Sittlichkeit. Wenn die Handschriften wirklich gefälscht sind, müssen wir uns vor der ganzen Welt dazu bekennen. Unser Stolz, unsere Erziehung dürfen nicht auf Lüge beruhen. Und dann: Wie sollen wir unsere Vergangenheit begreifen und verarbeiten, wenn sie durch Phantastereien entstellt ist? […] GEBAUER: Aber sind Sie sich auch dessen bewusst, dass Sie im Begriffe sind, eine Lawine auszulösen? MASARYK: Besser eine Lawine der Wahrheit entfesseln, als im Schlamm der Lüge zu ersticken. (Wahrheit ist einsam I: 12 f.)

Masaryk symbolisiert die vorbildliche Stärke und Überzeugung eines Individuums, sich gegen die Mehrheit zu stellen, um einen Betrug zu verhindern. Diesem Geist entspringen Taten, die noch für die nächste Generation Bedeutung haben. MASARYK: Der Streit um die Handschriften schwelte noch lange Jahre. Zwar traten immer mehr Wissenschaftler auf unsere Seite und schließlich mussten die gefälschten Texte aus den Lesebüchern der Schuljugend verschwinden. Aber darum wurde der Hass gegen mich nicht geringer. PLATON: Kann man um der Wahrheit willen zu Lebzeiten etwas anderes heissen, als ein Verderber der Jugend und ein Schmäher der Alten? MASARYK: Sogar der Hass hat sein Gutes: er machte mich bekannt und zur Autorität. (Wahrheit ist einsam I: 15f.)

Obwohl Masaryk durch diesen Streit um die Handschriften bereits einen Teil der tschechischen Gesellschaft gegen sich aufgebracht hatte, scheute er auch eine weitere Auseinandersetzung nicht. Vom Advokaten Auředníček auf den Fall des Juden Leopold Hilsner, der für einen mutmaßlich rituellen Mord zum Tode verurteilt wurde, aufmerksam gemacht, erreichte Masaryk, dass Hilsner freigesprochen wurde, indem er den Prozess als antisemitisch bezeichnete und Hilsners Unschuld bewies. Damit empörte Masaryk einen weiteren Teil der tschechischen wie der deutschsprachigen Gesellschaft. Den Protesten schlossen sich auch seine Studenten an, junge Menschen, Akademiker, von deren Offenheit und Unvoreingenommenheit er bisher überzeugt gewesen war.

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Der zweite Teil des Hörspiels konzentriert sich auf Masaryks politische Karriere vom Abgeordneten bis zum Präsidenten der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Diese Szenen aus dem politischen Leben präsentieren Masaryk nicht nur weiterhin als einen Wahrheitssuchenden, sondern zugleich als Europäer und Demokraten, der für die Freiheit und gegen Nationalismus, Chauvinismus und Antisemitismus kämpft. Dies wird an drei konkreten politischen Verhandlungen veranschaulicht, die nicht ganz frei von historischen Vereinfachungen und Klischees sind. MASARYK: Ich stand allein, wie wohl niemand im ganzen Lande. Ich war gegen den nationalen Chauvinismus und für Oesterreich, somit hatte ich die radikalisierten Tschechen gegen mich. Ich war gegen Pangermanismus und Antisemitismus, daher hassten mich die Deutschnationalen. Ich war aber auch gegen die Vorrechte des Adels, gegen reaktionären Klerikalismus und gegen den rasch um sich greifenden Marxismus. Also hatte ich fast nur Feinde. Die wenigsten begriffen, dass ich in all diesen von Unduldsamkeit und Hass inspirierten, einander entgegengerichteten Kräften das Menetekel der kommenden Kata­ strophe sah. (Wahrheit ist einsam II: 8 f.)

Masaryk war als Politiker ein religiöser Mensch. Sein im christlichen Glauben verankerter Begriff der Wahrheit lässt Masaryk scharfe Kritik an der katholischen Kirche üben. Er wirft ihr vor, nicht dem Glauben entsprechend zu agieren und die Jugend nicht früh genug zum Glauben zu führen. Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen fordert Masaryks, dass der Glaube bereits Kindern und Jugendlichen vermittelt werden soll – und zwar auf eine qualitativ hochwertige, ansprechende Art und Weise. Beispielhaft ist er selbst trotz seiner Herkunft mit Fleiß und Zielstrebigkeit seiner Ausbildung nachgegangen und fand Vorbilder, die sein Denken formten. PLATON: Gib acht, mein Freund. Was wir in der Jugend erfahren, prägt uns für das Leben. […] MASARYK: Der mangelhafte Religionsunterricht und vor allem das Fehlen einer religiösen Praxis ist das brennendste, ungelöste Problem unserer Erziehung. PLATON: Aber schon ich lehrte doch meine Schüler, dass die Wahrheit uns zugleich das Göttlich-Gute offenbare. MASARYK: Wer von uns hat heute einen Platon zum Lehrer? Weder in der Schule, noch daheim hörte ich je ein tieferes Wort über die geistigen Grundlagen des Glaubens. Auch die Bibel las man nicht, nur zuweilen Gebetbücher. […] Ihr Griechen gabt uns Kunst, Philosophie und Wissenschaft, Politik. Die Juden Religion und Theologie. PLATON: Nenne mir einen Juden. MASARYK: Jesus. Du hast mich Wahrheit gelehrt, er Liebe. […] Einst katholischer Priester, trat er aus der Kirche aus, weil er das neue Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes nicht imstande war, gutzuheißen. Auch mir wurde es zum Stein des Anstoßes. […] Weil er

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von mir verlangt, dass ich mich der geistlichen wie weltlichen Obrigkeit unterwerfe, selbst, wenn es meinem Verstand und Gewissen widerspricht. […] Charlottes Wahrhaftigkeit und Kompromisslosigkeit hatten auf mich einen tiefen erzieherischen Einfluss. Durch sie habe ich das Beste des Protestantismus erhalten: die Einheit von Glaube und Leben, eine praktische Religion für jeden Tag. (Wahrheit ist einsam I: 4–10)

Das Hörspiel über Masaryk spielt auf zwei Ebenen. Die erinnerten, vergegenwärtigten Ereignisse aus Masaryks Leben sind durch einen fiktiven Dialog zwischen ihm und Platon, den Masaryk seinen Lehrer nennt, eingeleitet. Im Präsidenten Masaryk wurde Platons Idee verwirklicht, dass das Haupt des Staates ein Philosoph sein soll. Platon als Gesprächspartner und das Thema der Wahrheit wären perfekte Voraussetzungen für einen platonischen Dialog. In diesem Fall handelt es sich aber nicht um ein Streitgespräch. Platon fungiert als erfahrener Moderator, der durch seine Kommentare und Anspielungen wie sein detailliertes Nachfragen die Handlung vorantreibt. Die monologisch angelegten Szenen, in denen Masaryk die ideellen und politischen Hintergründe seines Verhaltens erläutert, stehen in Konkurrenz zu den dramatisch aufgebauten Szenen, die bestimmte historische Geschehnisse darstellen. Neben historischen Persönlichkeiten wie Jan Gebauer, der eine bedeutende Rolle im Streit um die Handschriften spielte, politischen Kollegen und Gegnern treten Familienmitglieder und engste Freunde auf. Insbesondere wird die Rolle von Masaryks Ehefrau Charlotte hervorgehoben, die ihn zum Protestantismus und zum gelebten Glauben brachte. Die Gespräche mit seiner Frau gehören zu den intimsten Passagen. Charlotte Garrigue hat zwar nur wenige Auftritte, dafür wird ihre Stellung in Masaryks Leben besonders betont. Sie wird als starke Frau gezeichnet, die sich nicht nur um die Familie kümmert, um ihrem Mann seine Karriere zu ermöglichen, sondern auch seine politische und ideelle Gesinnung beeinflusst. Im Unterschied zum Hörspiel über Albert Schweitzer, sind die Figuren hier nicht typisiert, gehören keiner speziellen sozialen Gruppe an und präsentieren keine bestimmte Weltanschauung. Ebenso wenig machen sie eine psychologische Entwicklung durch. Um den Zeitgeist einzufangen, wird das Figurenspektrum im ersten Teil noch um vier anonyme Stimmen und drei anonyme Studenten erweitert, die auch stereotypische Äußerungen über Masaryk abgeben. Die Stimme des Autors fungiert als allwissender Kommentar der Handlung. Sie zweifelt die Objektivität des Blickes an und warnt vor der Überzeugung, die Wahrheit zu kennen, worauf auch die Vielstimmigkeit mit widersprüchlichen Aussagen hinweist. Bei dieser Aufforderung zum kritischen Denken und zur Infragestellung einfacher Wahrheiten handelt es sich um ein wichtiges Motiv bei Lotars biographischen Arbeiten.

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Die Darstellung von Masaryks Leben und Werk bleibt nicht ohne aktuellen Bezug zur politischen Situation in der kommunistischen Tschechoslowakei, in der die Ära der Ersten Tschechoslowakischen Republik und Präsident Masaryk verpönt waren. Thematisiert wird auch das tragische Schicksal von Masaryks Sohn Jan, der im Jahre 1948 wahrscheinlich vom kommunistischen Regime umgebracht wurde.191 Die Stellung der Ersten Tschechoslowakischen Republik im kollektiven Gedächtnis und im Prozess der nationalen Identität nimmt in Bedrohungszeiten an Intensität und Symbolkraft zu; dadurch wird das Bild aber auch idealistisch verklärt. Dieser Tendenz kann sich auch Lotar nicht entziehen, wenn er folgende Aussage formuliert: 4. STIMME: Nicht laut darf man von ihm sprechen, gewiss. Denn sein Name ist ein Symbol für die Wahrheit, die todbringend ist unter jeder Tyrannei. Aber ein Grab, das man Tag und Nacht bewachen muss, damit die Liebe nicht Berge von Blumen darauf häuft, birgt keinen vergessen Toten. So wie der Lebende einst auszog, allein einsam, unbekannt, um seinem Volk nach dreihundert Jahren der Knechtschaft die Freiheit zu bringen, so ist sein unsterblicher Geist heute Hoffnung und Unterpfand für alle, die gewiss sind, dass eine unmenschliche Tyrannei nicht ewig dauern wird. (Wahrheit ist einsam I: 1 f.)

5.2 Literarische Propheten Einen großen Teil seines biographischen Schreibens widmete Lotar den Schriftstellern Friedrich Schiller, George Bernhard Shaw, Lew Nikolaevič Tolstoj und Jean Racine. Diese Autoren gehören längst zum internationalen (und nicht nur nationalen) literarischen Kanon. Lotar wählte die Biographierten aus verschiedenen Epochen und Sprachräumen, wobei häufig bestimmte Gedenktage den Anlass für die Entstehung der Hörspiele gaben. Die Biographiewürdigkeit der genannten Autoren machte Lotar – ähnlich wie bei Schweitzer oder Masaryk – vor allem an der Bedeutung ihres ideellen Gedankengutes im kulturellen Gedächtnis fest. In den Hörspielen setzte sich Lotar mit der biographischen Rekonstruktion und der retrospektiven Sinnbildung der Lebensgeschichten auseinander (Nünning 2012: 309–348). Seinen Darstellungen geht dabei jeweils die zentrale Frage voraus, ob und, wenn ja, inwiefern ihr literarisches Vermächtnis für gegenwärtige gesellschaftskritische

191 Die Umstände seines Todes blieben jedoch bis heute ungeklärt.

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Aspekte relevant geblieben ist, wie es auch im Vorwort zum Hörspiel über Tolstoj formuliert ist: In einer Zeit wie der unseren, in der die fortschreitende Missachtung göttlichen Gebotes den Selbstmord des Menschengeschlechtes heraufbeschwört, ist die Stimme dieses Mannes gleich der des Propheten, der zur Umkehr ruft. (Himmelreich: Ansage)

Unter diesem Gesichtspunkt hinterfragte Lotar ihre Position und ihr überliefertes Bild im literarischen Kanon. Solche Kritik wird bereits 1949 in ­Lotars erstem biographischen Hörspiel192 durch die Figur von Racines Sohn Jean-Baptiste ausgesprochen, der allgemein die einseitige und unvollständige Darstellung einzelner Autoren in der Literaturgeschichte rügt, da diese sie nicht als lebendige Persönlichkeiten zeichnet.193 Wie kann der Forderung, die Persönlichkeiten ‚zu lebendigen Menschen‘ zu machen, nachgegangen werden? In der Ansage zum Hörspiel über Tolstoj hat Lotar seine poetische Prämisse angedeutet: Es geht um das Erkennen einer höheren Wahrheit, die hinter allem menschlichen Streben und Irren steht. Das Ringen zwischen Leib und Seele, zwischen Stoff und Geist, ist jedem von uns auferlegt, es macht den Wert und die Würde des Menschen aus. (Himmelreich: Ansage)

Lotar empfahl also, für den Erkenntnisprozess alle Leiden und Irrtümer festzuhalten, die die auf das Podest gestellten Persönlichkeiten wieder ‚menschlicher‘ machten. Die Entstehung eines vollständigen und lebendigen Bildes könnte auch die durch das Rundfunkformat bedingte Montagetechnik gewährleisten, die auf der Vielstimmigkeit und der Zusammensetzung von dokumentarischen und literarischen Quellen – faktischen und fiktiven Texten – in szenischer Darbietungsform basiert. Das Figurenrepertoire umfasst nicht nur historische Figuren aus dem öffentlichen Leben, sondern auch Personen aus der Privatsphäre wie die nächsten Familienmitglieder (Ehefrauen, Lebensgefährtinnen, Kinder, Geschwister), Verwandte und enge Freunde. 192 Das erste Hörspiel Marco aus dem Jahre 1944 wurde nach der Vorlage von Karel Čapek verfasst. Näheres im sechsten Kapitel. 193 „Jean Baptiste: Was mein Bruder hier erzählte, war nicht das Leben meines Vaters, es war eine jämmerliche banale Konstruktion, zurechtgestutzt für die Lesebücher höherer Töchter. Ich werde diese armseligen Fälschungen zerschmettern, eine nach der anderen, und die starre Gipsfigur Jean Racines von ihrem Kothurn hinabstürzen, um sie wieder zum lebendigen Menschen zu machen, der er war.“ (Dichter: 5) Den gleichen Gedanken wiederholt Lotar auch im Hörspiel über Tolstoj: „Dass es [das Leben des Dichters Leo Tolstoj – Anm. der Autorin] ein solches des rastlosen Suchens war, aber auch des Irrens und Leidens, verhindert uns, ihn auf ein Piedestal zu stellen und macht ihn uns nah und vertraut wie einen Bruder.“ (Himmelreich: Ansage)

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Viel Raum wird den Frauenrollen zugestanden, die als unentbehrliche Unterstützerinnen ihrer Männer dargestellt werden, dessen ungeachtet sie im literarischen Kanon entweder gar nicht erwähnt oder herablassend behandelt werden.194 Die biographierten Schriftsteller werden mehrdimensional und in anderen sozialen Rollen gezeigt, wodurch über die offizielle, monologisch angelegte Erzählung hinausgegangen wird. Diese Perspektivierung fügte einen Grad an Intimität hinzu, wodurch die Biographien facettenreicher erschienen. Die Figurenkonzeption zielt drauf ab, die Bedeutung der Familie und des Freundeskreises sowie deren direkten Einfluss auf den kreativen Prozess mit allem, was er mitbringt, zu veranschaulichen. Die Komposition einzelner Hörspiele ruft auch durch die Wahl der Quellen die Erwartung von inoffiziellen Geschichten hervor. Der intime Charakter mancher Szenen lässt beim Hörer die Erwartung wachsen, ein heimlicher Zeuge zu werden. Die zahlreichen literarischen Zitate, die Lotar in die Hörspiele einbaute, beglaubigen die biographischen Nachzeichnungen entsprechend Lotars Auffassung, dass „das Werk derart Ausdruck des Lebens ist.“ (Himmelreich: Ansage) Die intensive Arbeit mit Primärquellen und ihre Verwendung hatte für Lotar einen entscheidenden Vorteil, der in Opposition zu der üblichen literarischen Praxis steht. Er kritisierte eine mechanische Übernahme angeeigneter Muster und Interpretationsweisen, ohne sich überhaupt mit den literarischen Texten auseinanderzusetzen. Dieser ‚höllische‘ Weg hat zwei unterschiedliche, aber gleichermaßen vernichtende Folgen: Banalisierung und Nationalisierung. Darum hielt man sich entweder an Belanglosigkeit oder aber man versuchte, noch schlimmer, sein Wesen ins Gegenteil zu verkehren. So kam es zu dem ungeheuerlichen, bis heute andauernden Bestreben nationalistischer, die Überheblichkeit und den Hass pflegender Kreise, gerade den Dichter für sich in Anspruch zu nehmen […]. (Schiller 10)

Bei der Subjektkonstruktion spielen die biographische Evidenz und die chronologische Ordnung eine marginale Rolle. Sie fungieren lediglich als raumzeitlicher Rahmen. Der Fokus liegt auf den Topoi Glaube, Liebe und Kunst.195 Es wird eine Parallele zu den drei christlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung gezeichnet. Allerdings schien die audiophone Gattung keine tiefer­ gehenden Auseinandersetzungen zu erlauben. Trotz dieses Ziels blieb es 194 Näheres zu den Frauenrollen und zu den Frauenfiguren in Lotars Werk im Fazit dieser Arbeit. 195 Der bei den Dichtern verarbeitete Topos der Liebe ist zu einem eigenständigen Thema von Lotars zweiteiliger Radiosendung aus dem Jahr 1958 geworden, in der Lotar unterschiedliche dichterische Beiträge über Liebe verband und gestaltete. Lotar, Peter: Das ­Hohelied der Liebe. Eine poetische Wanderung. I. Teil; Drum prüfe, wer sich ewig bindet. II. Teil. Stark wie der Tod (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-3-g).

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nämlich zum Teil bei oberflächlichen Feststellungen oder bei der Wiedergabe bereits kanonisierten Grundwissens. Eines der Hauptthemen Lotars war die Unterschiedlichkeit der Auffassungen von Religiosität, religiöser Überzeugung und der Beziehung zu Gott. Bei den Schriftstellern, mit denen er sich beschäftigte, stehen ihr oft ‚komplizierter‘ Weg von und zu Gott zurück, ihre ethischen Ideale und moralischen Werte, beruhend auf ihrem Glauben in Verbindung zur herrschenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung im Mittelpunkt. Spezielles Augenmerk wird auch auf Liebesbeziehungen bzw. Familienverhältnisse unter den Prämissen eines Künstlerlebens gerichtet. Am Schaffensprozess, der von verschiedenen Emotionen geprägt ist, die die einzelnen Schreibphasen begleiten, wird das Zweifeln an den eigenen Fähigkeiten und das Ringen mit dem Stoff am häufigsten thematisiert. Die Schriftsteller reflektieren über die Funktion der Kunst und die Mission des Künstlers, wobei ihr Werdegang in den Kontext der späteren Rezeption gestellt wurde. Im folgenden Teilkapitel wird auf die spezifischen Merkmale der ästhetischen Gestaltung der Hörspiele über Racine, Tolstoj und Shaw separat eingegangen. Dem Hörspiel über Friedrich Schiller wird sodann ein eigenes Teilkapitel gewidmet.

5.2.1 Racine, Shaw und Tolstoj In den Hörspielen über Jean Racine (Der Dichter des Sonnenkönigs) und G. B. Shaw (Die Auferstehung des George Bernard Shaw) wird die Überlegung, wie eine Lebensgeschichte erzählt werden soll, selbstreflexiv thematisiert und es wird gezeigt, dass es keine einzige biographische Wahrheit gibt. Das Grundmuster beruht darauf, dass der von der Figur des Biographen ursprünglich verfolgte Lebensentwurf als ungenügend enthüllt wird. Unter dem Druck der dem Biographierten nahestehenden Personen ist er gezwungen, sein Konzept umzuarbeiten. Insbesondere ist er aufgefordert, auch die mutmaßlich widersprüchlichen Lebenslinien einzufangen. Erwähnenswert ist, dass die Handlung in der Gegenwart spielt und die historischen und literarischen Figuren mit ihr konfrontiert werden. Lotar stellt sie in eine kritisch reflektierende Position, in der sie sich oft mit Ironie behelfen. Mit diesem rhetorischen Mittel arbeitet Lotar häufig, was seine Texte durchaus auch unterhaltsam werden lässt. Diese Lebensgeschichten entstehen nicht nur im Gespräch aller Beteiligten, auch die Hörer werden zu einer aktiven Teilnahme herausgefordert. Stefan Bodo Würffel, der sich mit Dürrenmatts Hörspielen im Vergleich zu der damaligen herkömmlichen Hörspielproduktion beschäftigte, nannte die-

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ses Verfahren eine „Dramaturgie der Distanz, die auf eine antiillusionistische Haltung des Hörers zielt.“ (Würffel 2000: 66) Die genannten Merkmale dieser biographischen Hörspiele weisen darauf hin, dass sie dem Konzept der Innerlichkeit nicht zur Gänze verpflichtet sind. Das multiperspektivische Entfalten der Lebensgeschichte von Jean Racine beginnt im Rundfunkstudio mit einem Konflikt um die Ausstrahlung der bereits einstudierten Sendung, deren Autor als unzuverlässige und einseitige Instanz dargestellt wird. Die biographische Arbeit wird also noch vor Beginn der eigentlichen Sendung stark kritisiert. Als Kritiker tritt Racines Sohns Jean-Baptiste auf, der sich gegen die Darstellung des Lebens seines Vaters nach der biographischen Vorlage von Louis, des zweiten Sohnes von Racine ausspricht, die Jean-Baptiste unzulänglich findet. Im Streitgespräch mit Louis und mit Unterstützung weiterer Zeitgenossen Racines bemüht sich Jean-Baptiste, die Einseitigkeit und Unvollkommenheit der Darstellung zu beheben. Der Dramatiker Jean Racine selbst kommt im Hörspiel nicht zu Wort. Aus seinem literarischen Werk wird in diesem Fall auch eher sparsam zitiert (wie z. B. aus seiner Tragödie Phädra).196 Die zentralen Sequenzen des Hörspiels behandeln das enge Verhältnis Racines zu König Louis XIV., seine Liebe zur Schauspielerin Du Parc, die Tragödie Phädra und seine Umkehr zu Gott. Den Wendepunkt in Racines Leben erklärt sein Sohn Jean-Baptiste: AUTOR: Steht nicht alles, was von Gestalt und Werk der Phädra berührt wird an einer schicksalhaften Grenze von Ende, Tod und Verklärung, übertrug sie nicht Schiller ins Deutsche, als sein letztes Werk, als der Bote der Ewigkeit schon dabei war, ihm die Feder aus der Hand zu nehmen? War die Aufführung der Phädra nicht Schillers Totenfeier? Und bedeutete für Racine der schmerzliche Misserfolg des Werkes nicht für lange Jahre das Ende seiner Kunst? JEAN BAPT.: Dieser Misserfolg war eines jener Ereignisse, die man aus der gebieterischen Hand Gottes empfängt, wie der grosse Pascal sagt. Ficht nicht Phädras vergebliche Liebe den gleichen verzweifelten Kampf gegen das Schicksal, wie Racines Liebe zur sterbenden Du Parc, zur ungetreuen Champsmélé, zur Gattin, die ihn nicht begreift? Es ist nicht Phädra nur, die hier gegen Gott steht, den ihre verbotene Liebe beleidigt. Es ist der Dichter selbst, der sich dem Richter stellt. Oh könntet Ihr seine Stimmer vernehmen, wie ich sie höre und empfange in meiner Seele: […]

196 Ein Quellenverzeichnis wie zu den Hörspielen über Schiller, Tolstoj und Shaw fehlt in den Manuskripten. Dem Text ist aber zu entnehmen, dass die Biographie von Louis Racine über seinen Vater ein Bezugspunkt für Lotar war.

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Durch Phädras Mund fällt der Dichter das Urteil Gottes über sich selbst: ‚Der Tod raubt meinem Aug das Licht Und gibt dem Tag, den ich befleckte Seinen Glanz zurück.‘ Ja, der Jean Racine, den Ihr feiern wollt, er starb mit seiner Phädra zugleich. Aber zu neuem Leben erstand jener, der in der Kindheit durch die Klostermauern den Gesang der unsichtbaren Bräute Gottes hörte, die er die sterblichen Engel nannte und an den nun von Neuem der Aufruf des Ewigen ergangen war. LOUIS: Du behauptest, er sei zu Gott zurückgekehrt. Und dennoch dient er fortan nur noch dem König. JEAN BAPT.: Es war ein Höherer als der König, dem er in Wahrheit diente. (Dichter 10 f.)

Das Hörspiel endet damit, dass der Direktor des Radiosenders die ursprüngliche Hörspielfassung ablehnt und den Autor zur Überarbeitung auffordert. Mit folgenden zusammenfassenden Worten, die die Widersprüchlichkeit in Racines Lebens auf den Punkt bringen, schließt das Hörspiel: DIREKTOR: Was Sie [der Autor – Anm. der Autorin] uns geben wollten, das war die eine Seite nur von Jean Racine, die welche weiterlebte in seinem Sohne Louis, dem Dichter, dem Kinde der Welt. Doch das Erbteil Jean Baptistes, das dem Himmel zugewandte, das blieben Sie uns schuldig. Und deshalb dürfen wir Ihr Manuskript nicht senden. […] Ist ein Mensch, der fehlte, litt und siegte über sich selbst, wirklich nur des Schweigens wert? Wenn es Ihnen, mein lieber Autor, gelänge, das alles zu gestalten, was wir eben hörten, dann wäre es vielleicht doch wert, gesendet zu werden, würdig des großen Racine. Ein Mann, der seinen König so sehr liebte, dass er von ihm verworfen ward, der immer Liebe gab und keine wiederfand, der ein großes Werk schuf, das er verdammte, um dennoch darin fortzuleben und der seinen Gott im Augenblick der Gefahr nicht verleugnete, wie Petrus, sondern gerade da erst wahrhaft zu ihm fand. Versuchen Sie sich an dem ewigen Rätsel Mensch und denken Sie dabei an das Wort Pascals. (Dichter 15)

*** Die Ausgangssituation im Hörspiel Die Auferstehung des George Bernard Shaw197 bildet das emotionell aufgeladene Gespräch des Biographen mit seiner Ehefrau. Er ist von der Menge der unterschiedlichen Quellen, die ihm über und von Shaw zur Verfügung stehen, so überwältigt, dass er keine Idee hat, wie er den 197 G. B. Shaw gehörte eindeutig zu Lotars Lieblingsautoren. Sein Theaterstück Pygmalion inszenierte Lotar noch am Städtebundtheater Biel-Solothurn in der Saison 1942/43. Weiters publizierte er biographische Texte in Zeitungen. Die erste Fassung des Hörspiels vom Jahre 1949: Lotar, Peter: G. B. Shaw. Darstellung von Leben und Werk (SLA, NPL, Sign. SLALotar-A-3-c). Gearbeitet wird mit der zweiten Fassung vom Jahre 1975: Die Auferstehung des George Bernard Shaw (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-3-b).

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in Auftrag gegebenen Nekrolog über den großen Dramatiker verfassen soll. Der Autor ist verunsichert und skeptisch, wie er die dramatischen Durchbrüche und zusätzlich den ganzen ideellen und revolutionären Gehalt seines Schaffens aus dem aktuellen Blickwinkel interpretieren soll, setzt doch ein Nekrolog die Würdigung des ganzen Lebensweges einer Person voraus. Um die folgende Handlung besonders glaubwürdig zu machen, wird dargestellt, wie der Autor vor unkreativer Erschöpfung einschläft und Shaw dabei im Traum begegnet. Seine biographischen Bemühungen werden unbarmherzig und sarkastisch von der kritischen Stimme des neunzigjährigen Shaw kommentiert und verbessert. Kurzsichtig und perspektivenlos sei es, sich nur an biographische Fakten zu halten. Der Schwerpunkt des Hörspiels liegt auf der Konfrontation des 90-jährigen (Bernhard) und des 50-jährigen (George) Shaw und auf der Diskrepanz zwischen seiner intellektuellen und ideellen Entwicklung, in deren Mittelpunkt die Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Christentum steht.198 Durch das Gespräch zwischen dem erinnernden und dem erinnerten Shaw wird die biographische Kontinuität selbstreflektierend inszeniert: GEORGE: Bernhard? Ich will von Dir klare, exakte Antwort. Ich, die Stimme Deiner Vergangenheit, erkläre, dass mich eine unüberbrückbare Kluft von den Propagandisten des Kreuzes trennt. Indem das Christentum aus der Unterwerfung unter das Übel eine Tugend macht, bezeichnet es jene Tiefe des Abgrundes, in welchem selbst das Schamgefühl verloren geht. Ich frage Dich nun klar und offen, bist Du in diesen Abgrund gestürzt, oder bist Du noch, was Du einst warst – ein Kämpfer gegen Armut, Heuchelei und Unwissenheit, ein revolutionärer Schriftsteller? BERNHARD: Ich bin ein Christ, weil ich Kommunist bin. Nachdem ich die Welt und die menschliche Natur mehr als neunzig Jahre betrachtet habe, sehe ich keinen Weg aus dem Elend, ausser dem Weg, den Jesus gegangen wäre, wenn er die Aufgabe eines modernen Staatsmannes auf sich genommen hätte. (Auferstehung 25 f.)

Im Gegensatz zu Der Dichter des Sonnenkönigs wird umfangreich aus dem dramatischen Werk des Biographierten zitiert. Die Figuren seiner Dramen (wie z. B. Doktor Dubedat aus Des Doktors Dilemma oder Johanna aus Die Heilige Johanna) belegen in ihren Reden die Behauptungen und Schlussfolgerungen über Shaws Leben und Denken. In diesem Fall wird Lotars Auffassung, dass der Dichter seine eigenen Gedanken durch die Figuren äußert, besonders intensiv realisiert. Das Hörspiel findet in der letzten Szene, wo Shaw – verlassen von seinem jüngeren Ich – das Gefühl der Einsamkeit mit seiner Figur Johanna teilt, seine Quintessenz. Aufgefordert von Johanna formuliert Shaw zum Schluss selbst die Antwort auf ihre in Die Heilige Johanna gestellte Frage, ob und wann die Erde bereit sein wird, ihre Heiligen zu empfangen, wobei er 198 Brief von PL an Walter Heitler, 1.11.1974 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-HEI).

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nicht mit Gesellschaftskritik spart. Der Titel des Hörspiels ist gleichfalls eine Anspielung auf den Epilog Shaws Die Heilige Johanna. *** Das Hörspiel Hier ist nicht das Himmelreich über Tolstoj spielt vor dem Hintergrund seiner letzten Tage auf dem Umsteigebahnhof in Astapowo. Im Sterbebett liegend versammeln sich unliebsame Familienmitglieder, engste Freunde, aber auch Fremde bei Tolstoj. Das Figurenrepertoire beschränkt sich auf wenige historische Persönlichkeiten, darunter die beiden wichtigsten: der Dichter selbst und seine Frau Sophia. Es treten keine literarischen Figuren Tolstojs auf. Die Rolle des anonymen Autors übernimmt hier ein Journalist namens Konstantin Orlow, der dem geflohenen Dichter gefolgt ist, um für seine Zeitung Bericht über ihn zu erstatten. Das Hörspiel hat wiederum mehrere, einander abwechselnde Ebenen. Eine schildert das Geschehen auf dem Bahnhof aus Orlows Sicht, der dadurch stilistisch eine Art Nachruf auf Tolstoj abgibt. Orlows Auftritte leiten zugleich fiktive Gespräche Tolstojs mit seiner Frau Sophia ein, in denen beide ihre Empfindungen und ihre innersten Gedanken über die Liebe, die Kunst und den Glauben im Kontext ihrer Beziehung und ihrer komplizierten Ehe äußern. Sophia steht beispielhaft für eine Frau an der Seite eines großen Mannes, die es diesem erst ermöglichte, sich vorwiegend der Arbeit zu widmen, aber zugleich darunter litt, dem abstrakten Denken ihres Mannes nicht gewachsen zu sein. Tolstoj wird demgegenüber als zerrissener, suchender, zweifelnder, gläubiger und gesellschaftskritischer Geist dargestellt. Ihre fiktiven Gespräche finden zu unterschiedlichen Zeiten statt. Sie unterhalten sich sowohl als junges als auch als älteres Paar. Schließlich sprechen sie auch im titelgebenden Himmelreich miteinander: TOLSTOI: Es kam mir vor, als ob mein Leben eine blöde Posse sei, die mir von irgend jemand vorgespielt würde. Vierzig Jahre der Arbeit und alles umsonst! Nichts von mir wird übrig bleiben als Verwesung und Würmer… SOPHIA: Und Deine Familie? Deine Kunst? TOLSTOI: Die Familie lebte so sinnlos wie ich. Die Kunst aber ist ein Spiegel des Lebens. Wenn das Leben keinen Sinn mehr hat, kann das Spiel des Spiegels nicht mehr erheitern – SOPHIA: (gequält) Und was ist denn dieser neue Sinn? Sind wir denn alle um Dich herum so blind, so ohne Verstand? TOLSTOI: Oh, Du bist in vielem klüger als ich. Aber das gesamte Wissen, das die Menschen je errungen haben, gab mir keine Antwort auf meine quälende Frage. Ich suchte und suchte, Tag und Nacht, wie ein Untergehender, der sich retten will – und ich fand nichts.

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SOPHIA: Wodurch denn sollten wir etwas erkennen, wenn nicht durch die Vernunft? TOLSTOI: Erkenntnis ist wie ein Blitz. Eines Tages sah ich, dass ich nur lebte, wenn ich an Gott glaubte. Alles ringsum verwandelte sich, alles bekam einen Sinn. Aber sobald ich nicht mehr an ihn glaubte, stockte plötzlich das Leben. ‚Was suche ich also noch‘, rief es in mir. ‚Er ist es doch, ohne den man nicht leben kann! Gott kennen und Leben ist eins. Gott ist das Leben!‘ (Himmelreich 10)

Das zentrale Gespräch Tolstojs mit Sophia wird ergänzt durch kürzere, thematisch geordnete Dialoge mit Tolstojs Zeitgenossen (z. B. mit dem Schriftsteller Maxim Gorkij), in denen auch über die Gespräche mit Sophia reflektiert wird. Das Quellenverzeichnis des Hörspiels über den russischen Dichter weist auf ein intensives Vorstudium hin. Lotar ließ sich nicht nur von Tolstojs literarischem und essayistischem Werk, seiner Korrespondenz und seinen Tagebüchern inspirieren, er schöpfte auch aus der Memoirenliteratur seiner Freunde und Zeitgenossen.

5.2.2 Friedrich Schiller Dichter zu werden und Dichter zu sein, besonders mit Blick auf den alltäglichen intensiven Schreibakt und auf das ewige und demütige Ringen mit dem Stoff, ist das zentrale Thema des sechsteiligen Hörspiels199 zu Schillers 150. Todestag.200 Bei der Gestaltung dieses Hörspiels tritt Lotars dramaturgische Geschicklichkeit am stärksten zutage. Die szenische Darstellung zitiert aus Quellen diverser Provenienzen, vor allem aber aus der Korrespondenz.201 199 Lotar, Peter: Ein Bürger derer, welche kommen werden. Friedrich Schiller: Leben und Werk als Ganzes dargestellt. I. Teil Pegasus im Joch, II. Teil Freude, schöner Götterfunken, III. Teil Der Menschheit Würde…, IV. Teil Zum Werke, das wir ernst bereiten, V. Teil Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen, VI. Teil Dich schuf das Herz, Du wirst unsterblich leben. Typoskript (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-3-f). Der sechsteilige Hörspielzyklus wurde vom Nordwestdeutschen Rundfunk, Radio Zürich, Radio Basel und dem Südwestfunk Baden-Baden gesendet. Später wurde er auch als Buch umgearbeitet (Lotar 1955). 200 Darüber, was Schiller Lotar persönlich bedeutete, tauschte sich Lotar in zahlreichen Briefen an seine Freunde aus: „[…] dass Dir der gleiche Geist so nahe ist, der mir seit langem ein Trost und Leitstern ist und dem ich selbst ein ganzes Arbeitsjahr gewidmet habe.“ Brief von PL an Hans Buchinger, 2.1.1958 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-B-1-BUCHI). 201 Lotar äußerte sich auch häufig zu der Intention seiner Sendung: „Was mich an Schiller, ganz abgesehen von seiner für uns heute so aktuellen Aussage, so ungemein anzieht, ja mir das Gefühl einer tiefen inneren Beziehung gibt, ist die Tatsache, dass er sein ganzes Schaffen und Leben mit einer so ausschließlichen brennenden Intensität in den Dienst der

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Die präzis ausgewählten Textstellen aus den Briefen von und an Schiller, aus Aufzeichnungen, Tagebüchern oder Memoiren seiner Nächsten und seiner Zeitgenossen werden dynamisch kompiliert; sie funktionieren dialogisch, häufig werden abwechselnd Briefe vom Sender und vom Empfänger zitiert. Die Verarbeitung privater Korrespondenz gibt Schillers Lebensbeschreibung einen intimen Ton mit emotionaler Aufladung und Eindringlichkeit, die auch die Individualität der einzelnen Verfasser widerspiegelt und unterstreicht. Die Reihenfolge der Zitate treibt einerseits die Handlung voran, andererseits wirft sie einen differenzierten Blick auf eine Situation oder ein Ereignis. Das unterstützt Lotars These der Ambivalenz der Auslegung, und lässt Interpretationsmöglichkeiten offen. Mithin gelang es Lotar, den Zeitgeist auf eine feine und spannende Art einzufangen. Die authentischen Zitate werden durch fiktive Monologe ergänzt: Während auch anderen Stimmen von überzeitlich gültiger dichterisch-geistiger Prägung ihre wortgetreue Authentizität gewahrt bleibt, wird die Freiheit größer gegenüber jenen, deren Sendung vor allem im privaten Lebensbereich Schillers liegt. (Schiller 16)

Zu Wort kommen Schillers zahlreiche Freunde, die ihn bewunderten, ihn in seiner Überzeugung, Dichter zu werden, förderten, aber auch finanziell unterstützten, die ihm durch ihre Erzählungen als Inspirationsquelle dienten wie sie ihrerseits durch den regen Gedankenaustausch mit Schiller inspiriert wurden. Die lebenslangen und hingebungsvollen Freundschaften (zu Goethe, Cotta etc.) werden zum Leitmotiv in der Darstellung von Schiller, wobei sich ihre Perspektiven und Stellungnahmen ergänzen, widersprechen oder gleichen. Feinfühlig wird die Annäherung zwischen Schiller und Goethe geschildert sowie die Entwicklung ihrer Freundschaft, die auf Respekt beruhte und gegenseitige Anregungen und kollegiale Zusammenarbeit umfasste. Ähnlich werden auch Schillers Kontakte zu jüngeren Kollegen wie Novalis oder Humboldt geschildert. Besonderes Augenmerk wird auf die Freundschaften zu Frauen gelegt. Das Bedürfnis nach Liebe wird als untrennbarer Teil des Lebens dargestellt. Die Stimme von Schillers Frau Lotte hat im gesamten Hörspielzyklus eine privilegierte Position. An die Bemerkungen zur Rolle der Frau in den Lebensdarstellungen anschließend, kann an dieser Stelle nur wiederholt werden, dass die Bedeutung der unentbehrlichen Ehefrau im Leben eines großen Mannes hervorgehoben und abgebildet wird.202 Lotte tritt als Aufgabe stellte, durch seine Kunst sittlich und erzieherisch zu wirken. Es ist haargenau das gleiche, was man heute als moralische Aufrüstung bezeichnet.“ Brief von PL an Arnim Juhre, 7.6.1956 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-JUH). 202 Die verschiedenen Frauentypen in Lotars Werk werden im Fazit herausgearbeitet.

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unterstützende, fürsorgliche, verständnisvolle und liebevolle Frau auf. Die zahlreichen Zitate aus Schillers dramatischem, essayistischem sowie lyrischem Werk, denen viel Platz eingeräumt wird, ergänzen die jeweiligen Erläuterungen und Kommentare aus den ausgewählten Briefpassagen oder sie untermalen die jeweiligen Lebensabschnitte Schillers.203 Durch die Briefe wird die Unmittelbarkeit des Entstehungsprozesses der ausgewählten Werke Schillers spannungsreich mit Höhen und Tiefen seines Lebens vermittelt. Die unsichere existenzielle Lage des Schriftstellers in Verbindung mit konzentrierten und eifrigen Schreibphasen führte bei Schiller zu einer ungesunden Lebensweise abseits der Gesellschaft. Unter dem andauernden Stress, der nicht nur auf der Verantwortung gründete, die Existenz seiner Familie sicherzustellen, erlitt seine ohnehin fragile Gesundheit weitere Schäden, die etliche seiner Vorhaben gefährden. Der dichterische Beruf ist stark mit der Sehnsucht nach schriftstellerischer Freiheit verbunden, die nicht nur von politischen und bürgerlichen Grenzen, sondern auch durch Hindernisse im Theaterbetrieb eingeschränkt wird. Natürlich ließ Lotar das Zentralthema der Religiosität auch bei Schiller nicht außer Acht und versuchte, es festzuhalten: Auch er, als Kind der ‚Aufklärung‘, vermeinte vorerst ethische Ideale, losgelöst von ihrem göttlichen Urheber, der menschlichen Seele einimpfen zu können – der gleichen Seele, die von Gott und zu Gott lebt. Sein weiterer Weg aber, die erstaunliche Entwicklung seiner Erkenntnis, die ihn aus der dämonisch-faszinierenden Wirrnis der Räuber über die rationale Klarheit der Aesthetischen Briefe bis zum Tell, dem Bekenntnis des allein in Gott gegründeten menschlichen Ethos führte – dieser Weg war nicht der der nachfolgenden Geschlechter. (Schiller 8)

In allen sechs Hörspielteilen stehen in chronologischer Reihenfolge jeweils einzelne literarische Arbeiten im Zentrum. Den vielfältigen Reflexionen zum Werk folgen persönliche Bekenntnisse, philosophische Überlegungen, Auseinandersetzungen mit der politischen Situation und nicht zuletzt die Schilderungen des Alltags. Zeitangaben werden nur sporadisch gegeben, um die überzeitliche Allgemeingültigkeit der Aussagen nicht zu untergraben. Der Zyklus mit sechs Folgen bot Lotar genug Raum, Schillers Lebensgeschichte mit203 „In Schillers Briefen haben wir den kostbaren Schatz, aus dem uns das Bild des Dichters, sein Werden, Denken, Fühlen in vollster Reinheit entgegenstrahlen. […] Dürften wir also versuchen, wieder als untrennbares Ganzes zusammenzufügen, was nur durch den Abgrund der Zeit auseinandergerissen wurde – Schillers Werk und Leben, sein Bekenntnis und die Stimme seiner Zeitgenossen? Wenn es gelänge – es wäre wie ein von allen Schlacken gereinigter, durch seinen Bau zugleich sein Innerstes enthüllender Kristall.“ (Schiller 14) – In der Buchausgabe arbeitete Lotar wissenschaftlich und versah die Zitate mit genauen bibliographischen Angaben.

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hilfe seiner eigenen Methoden zu erzählen. Die Arbeit wirkt trotz ihres Umfangs kompakt und strukturell ausgeglichen. Die Handlung entwickelt sich auf einer Ebene. Die Auszüge aus dem Werk sind zwar Teil der Handlung, werden aber abgegrenzt und unterstützen inhaltlich die Dialoge der Figuren. In einem Brief an Hermann Rinn, Verleger und Schriftsteller, wiederholte Lotar seine fast pathetische Beziehung zu Schiller und stellte dessen Bedeutung heraus: […] dass ich bis gestern bis an den äußersten Rand meiner Zeit und Kräfte an der Beendigung meines großen Werks über Schiller gearbeitet habe. Von meiner Gesamtdarstellung von Schillers Werk und Leben auf Grund authentischer zeitgenössischer Zeugnisse wünsche ich, dass es ein rechtes Volksbuch für die breiteste Leserschaft werden möge. Denn Schillers reinigenden Genius in der Seele aller deutschsprechenden Menschen neu erstehen zu lassen, wäre eine rechte und heilsame Medizin für so manches, das krank darin ist.204

Gemessen an den Rezensionen und Hörerstimmen ist Lotars Vorhaben gelungen. Er erreichte ein breites Publikum, das die lebendige und fesselnde Art der Sendung schätzte.205 Vom Erfolg zeugte auch die auf vierzehn Kapitel erweiterte und um ein Vorwort ergänzte Buchausgabe.

5.3 (Natur-)Wissenschaftler zwischen Ethik und Fortschritt Die Vereinigung von Wissenschaft und Glauben, von Fortschritt und Religion wird zum Thema des zwölfteiligen Hörspielzyklus Kampf gegen den Tod.206 Vereinfacht könnte der Zyklus als eine Geschichte der Medizin bezeichnet werden, die chronologisch von mythischen Zeiten bis zu den modernen Psychoanalytikern des 20. Jahrhunderts reicht, und die sich auf Ärzte und Forscher mit bahnbrechenden Forschungsergebnissen konzentriert. Lotar selbst verstand dieses Projekt jedoch nicht als eine bloße Popularisierung und Vereinfachung der medizinischen Kenntnisse, sondern im Sinne der christlichen Tradition als eine Darstellung „[des] Ringen[s] um Erkenntnis des Lebens, um seine Bewahrung vor Krankheit und um seine Verteidigung gegen den Tod“ 204 Brief von PL an Hermann Rinn, 15.3.1955 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-2-d-3-HRI). 205 Rezensionen: o.V.: Friedrich Schiller. In: Thurgauer Zeitung, 3.12.1955; W.S.: Schiller. In: Schwäbische Donauzeitung, 29.12.1955; Dr. Gri-: Peter Lothar: Friedrich Schiller. In: Aachener Nachrichten, 18.1.1956. (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-3-f-3). 206 Lotar, Peter: Kampf gegen den Tod. Teil I.–XII., Typoskript (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A3-e-17–28). Gesendet 1954–1955.

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(Kampf   I: I). Unterschiedliche Aspekte der Verbreitung und Bekämpfung heimtückischer Krankheiten, die von Anfang an die Menschheit plagten und immer noch plagen, werden im gesellschaftspolitischen Kontext aus religiöser Perspektive behandelt. In Bezug auf den göttlichen Schöpfer wird das grundsätzliche Bestreben angezweifelt: Wird man gesünder, wenn man alles bekämpft? Im ersten Teil Das göttliche Erbe, der die mythischen Anfänge der menschlichen Sehnsucht nach Erkenntnis fokussiert und mit der Ankündigung der Heilkraft von Christus endet, eröffnet ein Kranker den ganzen Zyklus: DER KRANKE: Ich spreche für alle Kranken der Welt, von ihrem Anbeginn bis zu ihrem unabsehbaren Ende, und schleppe durch die Ewigkeit die Gesamtheit der Leider, die untragbar ist. Meine Augen sind erloschen, mein Leib bedeckt mit Beulen und übelriechendem Geschwür, von innen her sind meine keuchenden Lungen zerfressen, an meinen Eingeweiden nagt der Wurm des Schmerzes, meine Knochen zerfallen zu Staub bei lebendigem Leibe, und kaum mehr halten die brandigen Arme die Krücken. Nur meine Stimme ist mir noch geblieben, dass sie durch die Jahrtausende und Unendlichkeiten rufe: Warum? Warum? Warum? Wenn ich schon geboren ward, ohne dass ich es verlangte, warum muss ich wieder sterben? Wenn mir nur die flüchtige Spanne vergönnt ist, zwischen Aufgang und Untergang, warum darf ich sie nicht durchmessen, strahlend und ungetrübt? Warum fallen mich auch hier die Finsternisse an den Seuchen und Gebrechen und des jähen Todes vor der Zeit? Und warum wird mir keine Hilfe zuteil? Warum? (Kampf  I: 1)

Die Figur des Kranken ist das verbindende Element der ersten acht, die Jahrhunderte durchschreitenden Folgen; sie repräsentiert die Kranken der jeweiligen Epoche und hat ein für diese typisches Leiden, auf das in der Folge sodann näher eingegangen wird. In der zweiten Folge Engel mit den schwarzen Schwingen wird gegen die mittelalterlichen Seuchen (Pocken, Aussatz, Pest und Syphilis) gekämpft. Paracelsus als Begründer der neuzeitlichen Medizin wird in der Folge Meister des irdischen Lichtes zum Thema. Mit den medizinischen Durchbrüchen vom Barock bis zur Aufklärung beschäftigt sich der vierte Teil Das vergoldete Kartenhaus. Die Folgen fünf bis zehn fokussieren die Entdeckungen im Bereich der Mikro­ biologie und schildern den dramatischen Kampf mit den Mikroorganismen. Je kleiner der Feind, desto heimtückischer ist er. Die Folgen elf und zwölf stellen psychologische und philosophische Fragen der Medizin in den Mittelpunkt und sind durch lange ausführliche Passagen, Erläuterungen der Theorien und Thesen geprägt. Die chronologische Darstellung akzentuiert zwar

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die kaum fassbare und rasch fortschreitende Entwicklung in der Medizinforschung, eindeutig befürwortet wird sie jedoch nicht.207 Die zwölf Folgen zeigen ein komplexes Mosaik zahlreicher Biographien, die zusammen das Gesamtbild einer Forscherbiographie ergeben. Haupttopos ist der verwickelte Weg zur Erkenntnis, auf dem ein Wissenschaftler hartnäckig sein Forschungsvorhaben verfolgt und wie besessen nach einer Lösung sucht. Dabei werden seine Kräfte im Kampf mit Stolz, Neid, Bosheit, Intrigen, Vorurteilen, Dummheit, Feindseligkeit, Arroganz, aber auch durch nationale Rivalitäten und den Mangel an finanzieller Unterstützung zusätzlich beansprucht. Die Forscher und Ärzte mühen sich darum, diesen Hindernissen entschlossen entgegenzutreten. Disziplin, Ausdauer, Zähigkeit, Hartnäckigkeit, Fleiß, aber auch Demut und nicht zuletzt Ehrgeiz erlauben ihnen, nie aufzugeben. Der Preis dafür ist eine große Selbstaufopferung. Manche geraten bis an die Grenzen der eigenen Kräfte. Mit Nachdruck wird in den Hörspielen gezeigt, wie weit das Privatleben dem Arbeitseinsatz und -tempo untergeordnet wird bis hin zu dessen völliger Vernachlässigung. Bei der Durchführung klinischer Studien und den Veröffentlichungen der Ergebnisse spielen sie oft Vabanque und riskieren viel. Einige tragen ohne großes Zögern ihre eigene Haut zu Markte, einige machen geduldig so lange Experimente, bis ihre These hundertprozentig bestätigt wird. Offiziellen Anerkennungen wird im Gesamtkonzept keine besondere Wichtigkeit beigemessen. Trotz der durchgeistigten Dimension der Darstellungen wird die ethische Frage nach den Tierversuchen erstaunlicherweise nur am Rande angesprochen. Das komplexe Problem wird von den Wissenschaftlern mit der Rechtfertigung abgetan, dass sie solche Versuche zwar ungern, aber für das menschliche Gemeinwohl durchführen. Nicht zuletzt werden die Zusammenhänge und Abhängigkeiten einzelner Forschungsergebnisse hervorgehoben, was auf die zwischenmenschliche Solidarität und Zusammenangehörigkeit abzielt. Im VII. und VIII. Teil des Hörspielzyklus, die gemeinsam Der unvergängliche Zweikampf betitelt sind, wird die verkettete Solidarität betont, die zu produktiven Ergebnissen führt und Leben auf der jeweils anderen Seite retten kann. Die Forschungsergebnisse des einen Arztes retten das Leben eines anderen, der dadurch seine Forschungen zu Ende führen kann. Zeitkritisch wirkt ein anderes Beispiel, wo zwei Ärzte, Vertreter zweier Nationen, der deutschen und der französischen, im gleichen Forschungsfeld arbeiten und die tief verwurzelte nationale Feindseligkeit deutlich zu spüren ist. Im zwi207 Zum Sehen geboren (V. Teil); Der unsichtbare Feind (VI. Teil); Der unvergängliche Zweikampf (VII. u. VIII. Teil); … ein ganz besonderer Saft (IX. Teil); Die magische Kugel (X. Teil); Ordnung des Lebens (XI. Teil); Es werde Licht (XII. Teil) (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-3-e-21–28).

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schenmenschlichen Kontakt verschwindet sie jedoch allmählich und zu Wort kommt allein die Menschenliebe, die sich nicht nach der nationalen Zugehörigkeit richtet. Das Bild einer solchen Zusammenarbeit wird metaphorisch auf die Funktionsweise einzelner Zellen im menschlichen Körper umgelegt und der Körper wird als genialer Mechanismus präsentiert. Im Gegensatz zu den früher behandelten Hörspielen wurde in diesem Hörspielzyklus nur vereinzelt mit der Montage von Originalzitaten gearbeitet. Als Grundlage für die dramatische Umsetzung dienten Lotar naturwissenschaftliche und kulturgeschichtliche Quellen sowie medizinische Abhandlungen. Was die literarische Gestaltung der einzelnen Zyklusfolgen betrifft, lässt schon der thematisch beträchtliche Umfang erwarten, dass sie sich in der Anwendung literarischer Mittel und durch das Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität wesentlich unterscheiden. Tatsächlich agieren die ersten fünf Teile mit Metaphern, Gleichnissen und Bibelbildern. Es treten vorwiegend mythische (griechische Götter) und religiöse (Engel, Teufel) Figuren mit historischen Persönlichkeiten (Ärzte, Forscher, Politiker) in Dialog. In Ausnahmefällen kommen auch Krankheiten als personifizierte Stimmen zu Wort, wie zum Beispiel im zweiten Teil (Engel mit den schwarzen Schwingen), in dem der Teufel die Menschheit durch drei Seuchen vernichten will. Der Kranke fungiert, ähnlich wie die Figur des Biographen in den bereits besprochenen Hörspielen, als erzählende Instanz. Er wird als verbitterter Typ gezeichnet, der zunächst Gefallen an der Position des Anklägers der ungerechten Welt findet, eignet sich im Verlauf aber auch die Aufgabe an, durch ironische Fragen und Kommentare die Handlung voranzutreiben, Hörer anzusprechen und in den Dialog miteinzubeziehen. Die Nutzung der Ironie wird auf der Metaebene doppelt reflektiert: Zum einen rechtfertigt ein Sprecher, der die Sendung ankündigt, „die gutgemeinte Ironie, hinter der wir unsere besten Gefühle zu verbergen pflegen“ (Kampf  I: II.), als Kommunikationsstrategie bei den ‚heutigen‘ Hörern. Andererseits halten die anderen Figuren den kon­ struierten und gezwungen provokativ wirkenden Sprechstil des Kranken für unangebracht. ASKLEPIOS: Ich finde, dass Du nicht nur respektlos bist, Du Kranker – Deine Ironie überschreitet wirklich manchmal die Grenzen des Zulässigen – Du bist auch ungerecht. Wenn es Dir zu schwierig erscheint, in eines meiner Heiligtümer zu kommen – Epidauros ist wahrlich nicht das einzige – um Dich von mir, dem Gott Asklepios selbst heilen zu lassen, warum rufst Du nicht einen guten Arzt, einen Asklepiaden, der in meinem Heiligtum in der Kunst ausgebildet wurde? (Kampf  I: 17)

Die Position des Kranken ändert sich sukzessive und ab der achten Folge kommt er nicht mehr vor. Bereits in der siebten Folge beschränkt sich seine

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Biographische Hörspiele

Funktion auf die Beschreibung der Handlung. Im ganzen Zyklus präsent ist der Tod, nicht personifiziert und auch ohne eigene Stimme, dadurch aber umso allgegenwärtiger und bedrückender. Ab dem sechsten Teil, der bereits im 19. Jahrhundert spielt, kommen vorwiegend historische Gestalten vor. Durch einen häufigen Orts- und Zeitwechsel und die Parallelführung mehrerer Handlungsstränge wirken diese Teile in ihrer dramaturgischen Anlage sehr dynamisch. Nicht unbeachtet sollen schließlich die starken Frauenfiguren als Ehefrauen und Partnerinnen bleiben. Abermals werden sie als wichtigste Unterstützerinnen und Förderinnen ihrer Gatten behandelt, die sich dank ihres Vertrauens ganz der Wissenschaft widmen können. Hervorgehoben werden soll noch der elfte Teil namens Ordnung des Lebens, der stark autobiographische Züge aufweist und sich mit den neuen Ernährungsmethoden des schweizerischen Arztes Max Bircher-Benner auseinandersetzt. Lotar identifizierte sich explizit mit der Autorfigur des Hörspiels und schließt mit den Hörern einen autobiographischen Pakt: AUTOR: Es scheint ungewohnt, ja ungehörig, dass der Autor die bergende Stille verlässt, aus der ihm Werk und Gestalten erwachsen, um für sich selbst zu sprechen. Aber – es ist der Ausdruck einer tiefen inneren Unruhe, der mich dazu treibt. Ich bin krank. Nun – das sind Unzählige, ich weiss. Was das Besondere meiner Lage ausmacht, ist, dass diese Krankheit mich gerade jetzt, in einer Zeit zu überwältigen droht, da ich meine ganze Kraft seit langem einem Werk zuwende, das sich Kampf gegen den Tod nennt. (Kampf  XI: 1)

In seinem letzten Hörspiel über die moderne Psychotherapie Es werde Licht wird erneut darauf hingewiesen, dass Lotars Themenauffassung von einem religiösen Mittelpunkt ausging und auch immer wieder auf ihn hinzielte.208 Die Betonung der christlichen Werte und eine deutliche humanistische Botschaft seiner Hörspiele brachte Lotar in den Fünfzigerjahren großen positiven Widerhall bei den Hörern.209 Geschätzt wurde auch die didaktische Funktion, die Lotar weder aussparte noch in den Mittelpunkt stellte.

208 „Gleichzeitig schließt es den Kreis dort, von wo ich bei meiner Untersuchung über Wesen und Sinn des Leidens und seiner Heilung ausging: beim Göttlichen.“ Brief von PL an Oscar Düby, Praesens-Film Zürich, 21.4.1955 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-3-e-13). 209 Zuschriften zu dem Hörspielzyklus (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-3-e-13).

6. Kulturvermittlung als Strategie zur Gestaltung ­kultureller Identität Lotar war ein bedeutender Akteur im deutsch-tschechischen Kulturtransfer210 des 20.  Jahrhunderts. Seine umfangreiche Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit ist durch sein gesellschaftspolitisches Engagement motiviert und geprägt. Sie bezog sich auf die Vermittlung der tschechischen Kultur im deutschsprachigen Raum; in bestimmten politisch weniger angespannten Phasen suchte Lotar auch deutschsprachige Kultur in der Tschechoslowakei zu vermitteln. Sein Hauptanliegen war, die christlich humanistische Tradition, mit dem Schwerpunkt auf der tschechischen Reformationsbewegung, in seinem schriftstellerischen Werk und durch seine Kulturpraxis zu verbreiten. Im Jahre 1976 schrieb Peter Lotar dem Philosophen Vladimír Neuwirth: Es geht darum, dass ich, der die Heimat schon vor bald vier Jahrzehnten als Antifaschist verlassen habe, meine eigentliche Aufgabe nicht mehr im engen Rahmen des Exils, sondern in der Vermittlung tschechischer kultureller Werte im Umkreis der deutschen Sprache erblickte. […] Ich gelte ja längst als schweizerischer Schriftsteller (bin Vizepräsident des Zürcher Schriftsteller-Vereins), schreibe und rezitiere deutsch und mache deutschsprachiges Theater [...].211

In seinen zahlreichen Selbstreflexionen verwies er auf den prozesshaften Wandel seiner nationalen und kulturellen Identität durch die sozialen, politischen und kulturellen Wechselbeziehungen. Von Anfang an setzt sich Lotar kontinuierlich mit der Geschichte, Literatur, Sprache und insbesondere dem Theater des Gastlandes auseinander. Er zeichnete sich durch ein breites und fundiertes Wissen in den Geisteswissenschaften aus. Dem Dokument über seine Werbetätigkeit zugunsten der Tschechoslowa212 kei, das wahrscheinlich im Jahre 1948 zusammengestellt wurde, ist zu entneh210 Im Bereich des tschechisch-schweizerischen Kulturtransfers gibt es bestimmte Desiderata. Es gibt keine komplexe oder ausführliche Publikation, die sich mit diesem Thema auseinandersetzt. Vereinzelte Informationen gibt es in unterschiedlichen Arbeiten wie Monographien, Tagungsbeiträgen zu bestimmten Literaten und Publizisten. 211 Brief von PL an Vladimír Neuwirth, den Philosophen und Gründer des katholischen Vereins Opus Bonum, 22.4.1976 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-NEUW). 212 Stručný přehled propagační činnosti Petra Lotara ve prospěch Československa za války ve Švýcar­sku [Überblick über die Werbetätigkeit von Peter Lotar zugunsten der Tschechoslowakei während des Krieges in der Schweiz]. Freie Blätter, undatiert (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-C-2-3).

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men, dass Lotar sich bis zum Ende der 1940er-Jahre als tschechischer Künstler positionierte. Nach der endgültigen Niederlassung in der Schweiz und seinem Entschluss, sich als freischaffender Autor zu etablieren, ist in seiner Korrespondenz die Tendenz zu beobachten, dass er sich als Schweizer Schriftsteller mit tschechischen Wurzeln bezeichnet. Bei der Feier im Kunsthaussaal zum 50. Gründungstag der Tschechoslowakei äußerte Lotar – neben seiner Dankbarkeit, als Emigrant in der Schweiz aufgenommen zu werden – seinen Stolz darauf, ein Schweizer Schriftsteller tschechoslowakischer Herkunft zu sein.213 Damit wird sein Zugehörigkeitsgefühl und seine nationale Selbstpositionierung als Schriftsteller mit seiner sozialen Verankerung in Verbindung gesetzt. Dadurch tritt auch ein Wandel in den Vermittlungsprozessen und -praktiken seiner eigenen Werke ein. Exilerfahrung kann bei Lotar jedoch nicht als Bruch in seinem Schaffen interpretiert werden. Mit der Frage nach der kulturellen Identität im Exil werden seine vermittelnden und grenzüberschreitenden Aktivitäten als Teil der Akkulturationsprozesse interpretiert. Den folgenden Überlegungen liegt die These zugrunde, dass die Vermittlungs- sowie Erinnerungsarbeit für Lotar – auch in Bezug auf sein Heimatkonzept – identitätsstiftend ist. Die Biographien der Vermittler zeichnen sich oft durch transkulturelle Erfahrungen und die damit verbundenen Voraussetzungen aus, die sie zu ihren kulturellen Praktiken befähigen und vorprägen, wie auch es bei Lotar der Fall war (Koeltzsch 2011: 15; Keller 2013). Lotars grenzüberschreitende Tätigkeit ist nicht ausschließlich auf seine Exilerfahrung zurückzuführen. Das Erleben des Fremden und Eigenen, der Abgrenzung und Vermittlung gehörte ja bereits zu seinem Alltag im multikulturellen Prag und wurde noch durch seinen Familienhintergrund verstärkt. In ihm verband sich das um das jüdische Erbe bereicherte tschechische mit dem deutschen Element. Dieser national, kulturell und konfessionell vielfältige Hintergrund beeinflusste seine sozialen Einstellungen grundlegend und bewirkte ein starkes Gefühl für gegenseitige Toleranz, Humanismus und vor allem einen Sinn für demokratische Kultur. Demokratie nimmt er – im Masaryk’schen Sinne – als Vereinbarung des praktischen Glaubens mit Toleranz und gelebter Nächstenliebe wahr. Diese Auffassung geht von einem verantwortlichen und humanitätsorientierten Menschen aus. Wie sich immer wieder gezeigt hat, war er stark durch die Erfahrungen in der Ersten Tschechoslowakischen Republik mit all ihren Besonderheiten geprägt. Die Tatsache, dass Lotar sein ganzes Leben lang Anhänger der Masaryk’schen protestantischen – ‚östlich humanistischen‘ – Weltanschauung 213 A.  O.: Der 50.  Gründungstag der Tschechoslowakei. Eine Feier im Kunsthaussaal. In: Neue Zürcher Zeitung, 28.10.1968.

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bleibt und teilweise in literarischer und geistiger Tradition von Karel Čapek schreibt, wurde bereits erläutert. Deren literarische Umsetzung durch die Verwendung bestimmter ästhetischer Mittel und Darstellungsverfahren in seinem dramatischen und (auto-)biographischen Werk wurde in einzelnen Kapiteln veranschaulicht. Hervorzuheben ist, dass dieses Schaffen auch wesentlich an den Prozessen des Kulturtransfers in mehrfacher Hinsicht teilnimmt und die grenz- und kulturüberschreitenden Phänomene abbildet (Schweiger/Holmes 2009: 386). Auf die einzelnen Fälle wird im folgenden Kapitel hingewiesen. Lotars Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit,214 die privat oder öffentlich zwischen dem deutschsprachigen Raum (insbesondere Schweiz und Deutschland) und der damaligen Tschechoslowakei erfolgte, verläuft in Phasen, deren Art und Intensität von der jeweiligen politischen Machtkonstellation abhängt. Durch die politischen Umstände werden auch die Vernetzungen jener Akteure wesentlich beeinflusst, die bei dem Kulturtransfer und der Kulturvermittlung eine zentrale Rolle spielen. Besonderes Augenmerk richtet sich deshalb auf die Charakteristik des Freundes- und Kollegenkreises, der sich nicht nur auf die damalige Tschechoslowakei beziehungsweise die Schweiz beschränkt. Es wird gezeigt, wie sich Lotars Netzwerke im Zusammenhang mit den mehrfachen politischen Umwälzungen und seiner sozialen Situation entwickelten. Bedeutend sind in diesem Kontext auch die institutionellen Anbindungen, ohne die einige Aktivitäten nicht möglich gewesen wären. Der folgende Überblick soll als Orientierungshilfe für die weiteren Ausführungen dienen. Nach der Flucht in die Schweiz blieb Lotar in engem Kontakt mit seiner Heimat, indem er regelmäßig die tschechoslowakische Presse las und sich über die politischen und kulturellen Ereignisse informierte. Zu den bedeutendsten Quellen zählten die persönlichen Nachrichten aus seinem ausgedehnten Freundeskreis. Umfangreiche Korrespondenzen mit Arbeitskollegen oder Freunden belegen nicht nur die gegenseitige Unterstützung, sondern auch die intensive Empfindung des gemeinsamen Schicksals. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bemühte sich Lotar um die Stelle des tschechoslowakischen Kultur­ attachés, um seine vermittelnde Tätigkeit in einem offiziellen Rahmen ausüben zu können. Zu Lotars Bedauern wurde der Posten jedoch an ein prominentes Mitglied der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei vergeben. Ungeachtet dessen widmete sich Lotar weiter dem gegenseitigen Informationsaustausch, auch in Bereichen außerhalb des Literaturbetriebs. Im Februar 1948 214 Lotars Übersetzungsaktivitäten betrafen nicht nur die tschechische Sprache. Zu erwähnen sind in den 50er-Jahren Lotars zahlreiche Übersetzungen von James Matthew Barries Theaterstücken und den Gedichten von Peter Howard aus dem Englischen ins Deutsche (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-10-b).

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kam es allerdings zu einem Bruch in der tschechoslowakischen Außenpolitik.215 Da sich die meisten von Lotars Freunden und Bekannten politisch gegen das kommunistische Regime engagiert hatten, wurde ihnen verboten, öffentlich aktiv zu wirken. Außerdem wurden ihnen Bewilligungen zum Besuch eines der westeuropäischen Länder nun kaum noch erteilt. Lotar setzte sich in der Schweiz für ihr Werk ein, schrieb Gutachten für ihre Bücher an Schweizer Verleger oder referierte in der Presse über ihr Leben und Werk.216 Es ist zu beobachten, dass sich Lotars Einsatz in den Zeiten, in denen die demokratische Entwicklung in der damaligen Tschechoslowakei am stärksten bedroht war, noch steigerte. Nach der kurzzeitigen Lockerung der Verhältnisse in den 1960er-Jahren, die wiederum einen intensiveren Kulturkontakt ermöglichte, brachte die ‚Normalisierung‘ erneute Einschränkungen. Während dieser Migrationswelle kamen viele Intellektuelle – darunter auch Literaten – in die Schweiz, die sich Lotar zu unterstützen bemühte.217 Er war in ständigem Kontakt mit Landsleuten, Emigranten sowie mit offiziellen Institutionen oder privaten Vereinen, die die Tschechoslowakei in der Schweiz vertraten. Regelmäßig beteiligte er sich an Veranstaltungen zum Gedenken tragischer Ereignisse in der Tschechoslowakei, die von tschechoslowakischen Vereinen in der Schweiz organisiert wurden. Bei solchen Anlässen hielt er Vorträge, las aus seinem Werk oder interpretierte Gedichte tschechischer Autoren. Außerdem publizierte er regelmäßig in Zpravodaj. Časopis Čechů a Slováků ve Švýcarsku [Bulletin. Die Zeitschrift der Tschechen und Slowaken in der Schweiz].218 Als Gliederungskriterium für dieses Kapitel waren die Medien der Vermittlung (Theater, Presse und Übersetzung), die jeweils mit bestimmten Inhalten zu verbinden waren, ausschlaggebend. Im ersten Kapitel wird gezeigt, dass sich Lotar nach der Ankunft in der Schweiz 1939 am Städtebundtheater Biel-Solothurn mit seinen Kollegen bemühte, diesen Ort zu einem bedeutenden transnationalen Zwischenraum umzugestalten. Die Stücke der tschechi215 Im Februar 1948 kam es zur Machtübernahme durch die Kommunistische Partei in der damaligen Tschechoslowakei. Der Beginn der 1950er-Jahre steht im Zeichen politischer Schauprozesse und weitgreifender Restriktionen gegen diejenigen, die der Partei nicht beitraten. 216 „Ich beschäftige mich sonst überhaupt nicht mehr mit Verlagsangelegenheiten. Die künstlerische Betreuung Ihrer Stücke, die ich liebe, übernehme ich nur noch als Zeichen alter Freundschaft und Verehrung.“ Brief von PL an František Langer, 17.8.1956 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-LANG). 217 Lotar war mit dem jungen Schriftsteller Jaroslav Vejvoda (mit Eigennamen Jaroslav Marek), der im Herbst 1968 in die Schweiz emigrierte, in engem Kontakt (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-MARE u. B-2-c-MAR). 218 Die Zeitschrift wurde im Jahre 1968 gegründet.

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schen Autoren waren ein fester Teil des Repertoires. Auch auf die Aufführungen der Schweizer Autoren wird hingewiesen, die zwischen dem Kriegsende und der Machtübernahme durch die Kommunistische Partei im Jahre 1948 dank Lotar auf Prager Bühnen inszeniert wurden. Im zweiten Teilkapitel werden Lotars zahlreiche journalistische Beiträge analysiert, in denen er die tschechische Geistestradition – die Tradition der demokratischen Gesinnung und der humanistischen Ideale – zu innen- und außenpolitischen Machtverhältnissen in Beziehung setzt. In seinen kulturgeschichtlichen Abhandlungen versuchte Lotar, Übersichten zu liefern, die einen Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, weil sie auch die in der damaligen Tschechoslowakei inoffizielle, verbotene Kunst einbezogen. Den Schwerpunkt des dritten Teilkapitels stellt die Anthologie der Lyrikübersetzungen mit dem vorangestellten Essay Geist macht Geschichte dar, die die Ereignisse um das Jahr 1968 analysiert und reflektiert. Übergreifend wird gezeigt, was für ein (Selbst-)Bild der tschechischen Kultur und Nation entworfen wird und wie es in Bezug auf die Fremdbilder abgegrenzt und vergewissert wird. Das impliziert die Annahme, dass die nationalen und kulturellen Grenzen durch die Vermittlungsaktivitäten zwar überschritten, aber zugleich auch markiert und gefestigt werden (Schweiger/Holmes 2009: 386, 396).

6.1 Theater als Medium kultureller Vermittlung Nach dem Misserfolg in Basel fand Lotar im Jahre 1939 Zuflucht am Städtebundtheater Biel-Solothurn, wo ihn Direktor Leo Delsen engagierte. Obwohl meistens – und zwar irreführend – lediglich das Schauspielhaus in Zürich als Emigrantenbühne tradiert wird, steht fest, dass auch in Basel, Bern, Luzern, St. Gallen, Aarau-Chur-Rheinfelden und nicht zuletzt Biel-Solothurn „die Emigranten weitgehend in den Theaterbetrieb integriert sind“ (Blubacher 2004: 21). Zusammen mit einem anderen tschechischen Emigranten, Vasa Hochmann, der als Oberspielleiter und Schauspieler in den Jahren 1940–1943 am Städtebundtheater beschäftigt war, gehörte Lotar zu den prägenden Persönlichkeiten an dieser kleinen Provinzbühne.219 Während seines Engage219 Zu Lotars aus der damaligen Tschechoslowakei stammenden Kollegen gehörte auch der Sänger Egon Karter, der zu Lotars engem Freundeskreis gehörte. Am Städtebundtheater Biel-Solothurn war er 1943/1944 und 1945/1946 engagiert.

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ments 1939–1946 setzte sich Lotar nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Regisseur und Dramaturg durch. Dies ermöglichte ihm, aktiv am Theaterbetrieb teilzunehmen und insbesondere auch Theaterstücke tschechischer Autoren aufzuführen. Bedingt durch die spezifischen Rahmenbedingungen des Theaterbetriebs war dies nicht einfach. Wie Thomas Blubacher in seinem Beitrag zur Geschichte des Städtebundtheaters ausführlich beschrieben hat, mussten die Spielpläne von der Theaterkommission genehmigt werden und ihre Zusammensetzung unterlag einem speziellen Reglement. Auch Spieltage und Vorstellungszahl waren geregelt, was Lotars künstlerische Vorhaben maßgeblich beeinflusste (Blubacher 2004: 17). Dennoch ist es ihm gelungen, Theaterstücke von tschechischen Autoren wie Karel Čapek, František Langer und Olga Scheinpflugová auf die Bühne zu bringen.220 Čapek und Langer gehörten zu den führenden Schriftstellern und Intellektuellen in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Weltanschaulich waren beide Vertreter der Masaryk’schen Demokratieentwicklung und des philosophischen Pragmatismus. Engagiert nahmen sie am gesellschaftspolitischen Leben teil (Holý 1998a: 550–552). Ihre Theaterstücke werden zu den Problemdramen gerechnet, in denen sich mehr oder weniger ihre pluralistische Wirklichkeitsauslegung widerspiegelt. Lotars Inszenierungen wurden von der Presse positiv aufgenommen. So schrieb zum Beispiel die Schweizer Regionalzeitung Oltner Tagblatt 1943 über Lotars Inszenierung des Antikriegsdramas Die Mutter (Matka) von Karel Čapek: Der Regisseur des Stückes – Peter Lothar [sic!] – hat in einer intelligenten Rede vor dem Vorhang den Kontakt des Zuhörers zum Dichter und zum Stoff in vorzüglicher Weise hergestellt. Beide, der szenische Interpret und der Dichter, zeigten das hochstehende Niveau und die Künstlerschaft der Tschechen. In diesem Volk lebt nicht nur eine Leidenschaft zur Kunst, sondern auch eine Berufung. In der Musik sowohl, wie im Drama, als ausübende Künstler und als starke Menschen stehen sie in der Spitzengruppe der europä­ ischen Kunst. […] Peter Lothar ist also ein Mensch, der dem Willen Karl Capeks sehr nahe steht und deshalb ist seine Regieführung eine ausgezeichnete. Er verzichtet auf Regieideen im landläufigen Sinn und wird in überzeugender Weise Diener am Werk.221

Auch die Solothurner Zeitung beurteilte Lotars Regie- und Schauspielqualitäten positiv:

220 Es ist jedoch zu erwähnen, dass Lotars Aufführungen von Čapek und Langer nicht zu den ersten gehörten und dass einige Theaterstücke oft in das Repertoire der Schweizer Theater aufgenommen wurden. 221 N. N.: Die Mutter. 2. Gastspiel des Städtebundtheaters Solothurn-Biel. In: Oltner Tagblatt, 20.11.1943 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-D-8-1).

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Peter Lotar hat sich des Dramas seines toten Freundes, Lehrers und tschechischen Landsmannes mit großer Liebe angenommen. Das künstlerische Taktgefühl des Regisseurs zeigt sich namentlich darin, dass er die Idee des Stückes aus den Szenen herausstrahlen ließ und die makabren Umstände nach Möglichkeit dämpfte.222

Die Premiere von Karel Čapeks Die Mutter eröffnete die Saison 1943/44, deren Programm unter dem Motto ‚Stimmen der Völker‘ stand (Premiere am 14.9.1943).223 Čapeks Drama aus dem Jahr 1938 gehört zu denjenigen, die offen vor der Kriegsgefahr warnten.224 Jene Dramen forderten nach dem Münchner Abkommen darüber hinaus zur Nationenvereinigung und zur Landesverteidigung, auch zum Preis von Opfern auf (Holý 1998a: 656). Ein Jahr später folgte die Aufführung des utopischen Dramas R.U.R. (Rosum’s Universal Robots) unter dem Titel Die Welt der Zukunft (Premiere am 14.11.1944). Das utopische, weltweit aufgeführte Stück entstand bereits 1920 und basiert auf der Vorstellung einer weltverändernden technischen Entdeckung. Die künstlichen, menschenähnlichen, als billige Arbeitskraft genutzten Roboter erheben sich gegen die Menschen und rotten sie aus. In die trostlose Handlungsentwicklung bringen die Liebe und Opferbereitschaft zweier Roboter, die offensichtlich menschliche Eigenschaften entwickeln, wieder Hoffnung.225 222 E.: ‚Die Mutter‘. Premiere im Stadttheater. In: Solothurner Zeitung, 16.9.1943 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-D-8-1). 223 Bereits im Jahre 1940 hat Lotar Čapeks Antikriegsdrama Mutter im Stadttheater Schaffhausen inszeniert. Im Herbst 1943 hat er die Aufführung wiederholt, diesmal in Biel-Solothurn, kurz danach auch auf den Bühnen in Burgdorf, Langenthal (Oktober) und Olten (Dezember), die ebenfalls von dem Ensemble des Städtebundtheaters Biel-Solothurn bespielt wurden. Es ist interessant, dass das Drama des tschechischen Pazifisten, Demokraten und von den Faschisten verfolgten Karel Čapek aufgeführt werden konnte, während z. B. das Drama von Lotar Die Wahrheit siegt auf seine Schweizer Premiere fast bis zum Kriegsende warten musste. 224 Kurz zum Inhalt: Die Mutter, die bereits ihren Ehemann und mehrere Söhne durch den Krieg verloren hat, will ihren letzten Sohn schonen. Nachdem sie im Radio gehört hat, dass die Grausamkeiten des Krieges kein Ende nehmen, reicht sie ihrem jüngsten Sohn Toni die Waffe und fordert ihn auf zu gehen. Die Vorahnung des Krieges findet sich bei Čapek schon im Roman Válka s mloky (Krieg mit den Molchen) im Jahr 1936. 225 Lotar bearbeitete außerdem Čapeks Geschichte Povídka starého kriminálníka (Geschichte eines alten Kriminellen) unter dem Titel Marco zu einem Hörspiel (1944), das zu Lotars frühesten Radioarbeiten gehört. Die Geschichte stammt aus dem Sammelband Povídky z jedné a druhé kapsy (Geschichten aus der einen und der anderen Tasche). In den Erzählungen, vorwiegend detektivische Verwicklungen, die oft ein Geheimnis bergen oder eine unerwartete Enthüllung vorbereiten, wird die Frage nach Wahrheit und Lüge, nach Gerechtigkeit und Sühne behandelt. In Povídka starého kriminálníka erzählt der alte Kriminelle Bobek seine geheimnisvollen Erlebnisse im italienischen Gefängnis nach. Lotar fokussiert jedoch auf die zentrale Figur Marco, dessen Geschichte er frei gestaltet. Marco wird in

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Ein lebenslanger Briefwechsel begleitete Lotars Beziehung zu František Langer (2007). Sie verstanden sich nicht nur privat, sondern auch fachlich. Lotar übersetzte Langers Theaterstücke neu ins Deutsche.226 Das Drama Die Gefangene Nr. 72 (Dvaasedmdesátka, Premiere im April 1941) und das Lustspiel Das Kamel geht durch das Nadelöhr (Velbloud uchem jehly, Premiere am 18.1.1942) inszenierte der bereits erwähnte Vasa Hochmann, der allerdings eine der Hauptrollen auch mit Lotar besetzte. Im Drama Gefangene Nr. 72 aus dem Jahr 1937 wird bei der Rekonstruktion eines Kriminalfalls aus der Perspektive der Teilnehmer ein Justizirrtum enthüllt. Durch das ‚Theater am Theater‘ wird die Wahrheitssuche als ein komplexes Problem dargestellt, das nicht durch eine einseitige institutionelle Ermittlung gelöst werden kann, sodass die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Zeugen in den Vordergrund rücken. Die Schauspielerin und Schriftstellerin Olga Scheinpflugová, Ehefrau von Karel Čapek, lernte Lotar während seines Engagements an den Prager Bühnen kennen. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1968 waren sie eng befreundet, was er auch in seinen autobiographischen Romanen dargestellt hat. Durch sie konnte Lotar auch Karel Čapek persönlich kennenlernen. Scheinpflugovás politisches ideelles Drama Teufelsinsel (der ursprüngliche tschechische Titel lautete: einer dunklen Nacht mit einem blutigen Messer von der Polizei festgenommen. Obwohl er sich freiwillig als Mörder bekennt, kann ihn die Polizei keines Mordes überführen, weil ihnen das Opfer fehlt. Marco leidet offensichtlich unter seiner Tat, trotzdem will er nichts Näheres verraten, um niemanden ins Unglück zu bringen. Als Ausweg will ihn die überforderte Polizei mit einem anderen Mord belasten, was Marco ablehnt, da er keinen Meineid vor dem Gericht ablegen kann. Um sich seiner zu entledigen, schicken sie ihn sogar in die Stadt. Mehrere Fluchtmöglichkeiten nutzt Marco nicht aus. Schließlich begeht er Selbstmord, um keinem mehr zu schaden. Seit diesem Zeitpunkt wirkt seine Zelle auf alle Verhafteten als Korrektionsanstalt. Im Abschlussgespräch deuten der Polizist, der Marco verhaftete und glaubte, Marcos Geheimnis zu kennen, und der Pater die Ereignisse aus christlicher Perspektive. In der einleitenden Rede zur Radiosendung werden vom Erzähler das zentrale Motiv des Hörspiels und zugleich auch Čapeks Geschichten angesprochen: „Die Geheimnisse des Lebens aber sind rätselvoll wie sein Ursprung. [...] Bliebe das Leben ganz ohne Geheimnis, könnten wir durch alle Dinge hindurchblicken bis zu ihrem Ursprung, als wären sie durchsichtig, so zerflössen sie ja gleichsam in nichts – und wir mit ihnen. Eine Welt ohne Geheimnis, das wäre das Nichts. Ein Leben ohne Suchen – das ist der Tod.“ Lotar, Peter: Marco. Typoskript, 1944 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-3-a-2, Einleitung). – Ende der Fünfzigerjahre kam Lotar noch mal auf Čapek zurück, angeblich nicht aus Eigeninitiative. Er dramatisierte, ebenfalls für den Rundfunk, 1958 Čapeks dystopischen Roman Krieg mit den Molchen, der bereits im Jahre 1935 publiziert worden war. 226 Lotar übersetzte auch Theaterstücke vom Schriftsteller und Publizisten Ferdinand Pe­ routka ins Deutsche: 1946 das Stück Funken in der Asche (Jiskra v popelu) und 1948 Sulla, der Glückliche (Šťastlivec Sulla).

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Guyana) hatte seine Premiere am 7.4.1946 am Städtebundtheater (mit Lotar in der Rolle des Lukas), bereits ein Jahr nach der Uraufführung am Ständetheater in Prag. Wie bei Langer begegnet man auch hier dem Motiv eines zu Unrecht Verurteilten, der nach 15 Jahren nach Hause kommt. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Freiheit verschwindet nach dem Freispruch nicht und wird durch die Hoffnung und Liebe gestärkt. Hier lassen sich Parallelen zur Stimmung der Kriegsheimkehrer erkennen. Zu den tschechischen Inszenierungen am Städtebundtheater Biel-Solothurn rechnete Lotar damals auch seine eigenen Dramen. Lotars erstes Bühnenwerk, die Kriminalkomödie Der ehrliche Lügner erlebte hier unter dem Titel Zwei Minuten nach Mitternacht am 23.2.1941 die Uraufführung. Der loyale und zuverlässige Buchhalter Claus stellt am Vorabend seiner Pensionierung fest, dass in der Kasse Geld fehlt. Um nicht in den Verdacht der Veruntreuung zu geraten, will er es in der Nacht durch seine Ersparnisse ersetzen. Dabei wird er von einem Einbrecher überfallen, was ihm die Polizei, die von seiner Schuld überzeugt ist, jedoch nicht glaubt. Die offiziellen Ermittlungen leitet der Kriminalinspektor Teichmann, der als komische Figur konzipiert ist. Bei den Ermittlungen verlässt er sich mehr auf Astrologie und die Horoskope der Verdächtigen als auf die Spurensicherung am Tatort. Inzwischen stellt Claus fest, dass die Chefin der Firma sich das Geld aus der Kasse geborgt hatte. Nun droht der Firma noch eine Anklage wegen Versicherungsbetrugs. Eine Wende in die Ermittlungen bringt erst der heimliche Liebhaber von Claus’ Tochter, Charles von Hagen, der sich vor Claus und Eva später als Einbrecher entpuppt. Dieses Gespräch wird als Gerichtsverhör stilisiert, in dem Claus als Staatsanwalt und Charles als Angeklagter auftreten. Charles, Direktor der Versicherungsgesellschaft Vanitas, gesteht regelmäßige Einbrüche in die bei Vanitas versicherten Firmen. Durch die Verluste beabsichtigte er, sich für seine Familie an der Gesellschaft zu rächen und die Gerechtigkeit selbst in die Hand zu nehmen. Viele Jahre zuvor hatte die Vanitas seinem Vater die Entschädigung für ein Versicherungsereignis verweigert. Anschließend ist seine Firma und damit auch die ganze Familie zugrunde gegangen. Das bei den Einbrüchen erbeutete Geld wird der Wohltätigkeit gespendet. In der Gerichtsverhandlung ‚verurteilt‘ Claus Charles zu der Ehe mit Eva. Inzwischen wird der Fall von der Polizei offiziell ad acta gelegt, weil sowohl das Geld aus der Kasse als auch Claus’ Ersparnisse wieder aufgetaucht sind. Im Prinzip werden Charles’ Taten bejaht und dadurch auch die grundsätzlich revolutionäre Idee, dass die Gerechtigkeit durch einzelne Personen hergestellt werden muss, wo das System versagt. Lotars Theaterdebüt wurde insbesondere vorgeworfen, dass die Handlungsstränge zu konstruiert seien.

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Das Schicksal der Tschechoslowakei in den Jahren 1938/1939 wird im Zeitstück Die Wahrheit siegt (auch unter dem Titel Jesus, nicht Cäsar) behandelt, das erst 1945 von Lotar, der auch selbst als Hauptdarsteller mitwirkte, am Städtebundtheater Biel-Solothurn inszeniert wurde; die Uraufführung hatte bereits 1943 in London stattgefunden.227 Die Aufführungsgeschichte des äußerst aktuellen politischen Stoffes illustriert die Bedenken, die das Städtebundtheater hinsichtlich seiner Programmgestaltung hegte. Neben Faktoren wie den verbindlichen Programmvorschriften (mindestens vier Klassiker, Aufführungen von Schweizer Autoren etc.) spielten während der Kriegszeit natürlich auch Überlegungen zur Funktion des Theaters eine Rolle: Ob es unterhalten und vom Alltag ablenken oder doch im Dienste der ‚Geistigen Landesverteidigung‘ stehen und das moralische Bewusstsein fördern sollte. Der damalige Direktor Delsen äußerte sich in seinen Erklärungen eindeutig gegen politische und engagierte Stücke. Er sprach sich dafür aus, überzeitliche Werte zu bewahren und die „Einwohnerschaft auf das hinzuführen, was trotz Not und Krieg bleibend und wertvoll ist“. Etwas später formulierte er direkter: „Das Theater hat den Dienst an reiner Kunst zu versehen.“228 Im Repertoire fanden sich zwar Stücke von (auch jüdischen) Emigranten; diese könnten aber als politisch harmloser bezeichnet werden (Blubacher 2004: 28–34). In der Schweizer Produktion dieser Zeit stellte Lotars aktuelles zeitgeschichtliches Drama, das den Nationalsozialismus noch während des Krieges offen verurteilte, wie bereits erläutert wurde, eher eine Ausnahme dar. Thomas Blubacher, der die Spielpläne des Städtebundtheaters Biel-Solothurn untersuchte, hob insbesondere Lotars Verdienst als Regisseur des Stückes Der Mond ging unter von John Steinbeck hervor. Steinbeck schildert, wie eine kleine Stadt durch eine fremde Armee besetzt wird, die das Ziel verfolgt, Kohle aus den Minen zu fördern. Die Bürger leisten Widerstand, unterstützt vom Bürgermeister, der als moralisch starker Mensch auftritt, sich der fremden Macht nicht ergibt und dafür letztlich sein Leben opfert. Die Parallele zur besetzten Tschechoslowakei nach 1938 ist augenfällig. Nach der Aufführung in Basel, 227 In einer Schweizer Zeitung wurde die Aufführung im Ausland reflektiert: „Peter Lothar [sic!] ist selbst als Dramatiker ein Berufener. In London ist ein vaterländisch tschechisches Schauspiel im ‚Clubtheater‘ mit sehr großem Erfolg aufgeführt worden. Es nennt sich Jesus – nicht Caesar. Er hebt sein Schauspiel ins rein Menschliche und Allgemeingültige hinaus. Das Drama ist ein politisches, es zeigt den Ablauf politischen Geschehens, und doch ist es für die große Menschheit aus einem leidenschaftlichen Herzen heraus für alle geschrieben.“ In: Oltner Tagblatt, 20.1.1943 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-D-8-1). Die Schweizer Premiere fand am 17.3.1945 statt. 228 Leo Delsen im Spielzeitprospekt 1939/40 u. 1940/41(zitiert nach: Blubacher 2004: 31).

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wurde das Stück 27 Mal in Biel und 19 Mal in Solothurn aufgeführt, später dann auch am Schauspielhaus Zürich und am Stadttheater Bern inszeniert. Trotz der Bemühungen der deutschen Gesandtschaft, ein Spielverbot in der Schweiz zu erwirken, wurde das Stück weiterhin aufgeführt und als Beitrag zur ‚Geistigen Landesverteidigung‘ interpretiert (Blubacher 2004: 34). Lotars Produktion am Provinztheater kann jedenfalls, nicht nur während der Kriegszeit, als erfolgreich bezeichnet werden. In seinem Theaterstück ­Miguel – auch bekannt unter dem Titel Stärker als der Tod (1947) – adaptierte den Roman Don Juan seines Freundes Josef Toman. Im Mittelpunkt des im barocken und feudalen Spanien angesiedelten Dramas steht Miguel von ­Mañana. Miguel ist als reicher Adeliger von seinem sündhaften Lebensstil, der ihn nur kurzzeitig befriedigt, gelangweilt und sucht leidenschaftlich nach dem Sinn des Lebens und der ewigen Liebe. Sein Stolz, sein Egoismus und seine Gottlosigkeit hindern ihn jedoch daran, sein Lebensglück zu erreichen und seine wahren Wünsche erfüllt zu sehen. Nach zwei tragischen und gescheiterten Liebesbeziehungen, durch die ihn seine Vergangenheit einholt, versucht er, Selbstmord zu begehen. Völlig erschöpft wird er von einem Bruder ins Kloster der Brüderschaft der Heiligen Liebe gebracht, vor dessen Toren er eine Offenbarung des eigenen Todes und Begräbnisses erlebt. Im Kloster überdenkt er sein Leben und widmet es den Bedürftigen, vor allem den Pestkranken. Der Schwerpunkt dieses Mysterienspiels mit klassischem Dramenaufbau liegt auf den theologischen Gesprächen über Gott und den Glauben, wie z. B. zwischen Miguel und seinem Freund Pader Gregorio. Zum Schluss wird Miguel erlöst und stirbt vereint mit Gott. Psychologisch wird die Figur allerdings nicht überzeugend entfaltet, sodass ihre Bekehrung schematisch wirkt. Um eine umfassende, komplexe Übersicht von Lotars Vermittlungstätigkeit zu geben und den Umfang seines Themenfeldes zu beschreiben, sind noch einige Stücke zu erwähnen, die sich während seiner Emigrantenzeit mit der Schweizer Kultur und Geschichte auseinandersetzen. Einerseits dienen sie als Beweis einer erfolgreichen Akkulturationsphase bei Lotar. Andererseits trugen die erfolgreichen Aufführungen an unterschiedlichen Stätten, die ein breites Schweizer Publikum auch außerhalb des Theatergebäudes erreichten, dazu bei, dass sich Lotars führende Position im Kulturleben festigte und er sich im Laufe der Zeit weitere Tätigkeitsfelder erschließen konnte. Im Jahre 1943 wurde sein Theaterstück St. Urs und St. Victor mit Musik von Richard Flury bei den Freilichtspielen aufgeführt. Das Mysterienspiel über die Märtyrer der legendären Thebaischen Legion widmete er der Stadt Solothurn. Beide Männer, Urs und Victor, gehörten einer römischen Legion im Dienste von Kaiser Maximian an, die sich um den Feldherren Mauritius rekrutiert

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hatte und vorwiegend aus Christen bestand. Als der Kaiser die Legion den römischen Göttern opfern und sie gegen die Christen in den Kampf schicken wollte, weigerten sie sich, flüchteten und fanden schließlich alle einen Märtyrertod. Urs und Victor starben in Solothurn, wo sie von Christen begraben und später zu Stadtpatronen ernannt wurden. Sehr erfolgreich war Lotar im Jahre 1948 mit seinem Theaterstück Wachtmeister Studer greift ein.229 Nach der Premiere folgte eine Tournee mit rund 60 Aufführungen in der ganzen Schweiz. Lotars Produktionen waren nicht nur am Provinztheater erfolgreich; auch außerhalb war er produktiv tätig. Breiten Raum für seine vielfältige Fördertätigkeit bot ihm die Stelle als Dramaturg und künstlerischer Leiter im Reiss-Verlag (1946–1949), die sich nicht nur am Kultur- und Sprachraum orientierte, sondern vor allem auch an Werten, Traditionen und ästhetischen Qualitäten. Einen wesentlichen Faktor der Kulturvermittlung stellt neben der Vermittlung von Texten der Austausch mit den Künstlern dar, der zum großen Teil auf persönlichen Bekanntschaften und Freundschaften basierte. Lotar verhalf nicht zuletzt dem exilierten Fritz Hochwälder, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt zum Durchbruch. Die Uraufführung von Hochwälders Das heilige Experiment am 24. März 1943 in Biel zählte zu Lotars besonderen Erfolgen.230 Beide Theaterleute verband danach eine lebenslange Freundschaft, was ihre umfangreiche Korrespondenz deutlich belegt. Nach Kriegsende gelang es Lotar, Hochwälders Stücke an den Prager Bühnen durchzusetzen. Er trat mit dem Národní divadlo [Nationaltheater], dem Divadlo E. F. Buriana [Theater E. F. Burians] oder dem Divadlo 5. května [Theater des 5. Mai] in Kontakt, wo beispielsweise am 1.2.1946 Hotel du Commerce von Fritz Hochwälder unter dem tschechischen Titel Tlustý anděl z Rouenu aufgeführt wurde (Just 1995). Hochwälder erwirkte, dass bei der Schweizer Uraufführung von Der öffentliche Ankläger Lotar die Regie übernahm (Premiere am 15.2.1949). Max Frisch nahm mit Lotar an der Aufführung seines Stückes Die chinesische Mauer 229 Das Volksstück beruhte auf Friedrich Glausers Roman Krock & Co, der später Die Speiche genannt wurde. Neben einer hochdeutschen Version entstand eine Dialektfassung unter der Mitarbeit von Hans Haeser, die gedruckt wurde: Lotar, Peter: Wachtmeister Studer greift ein. Bern 1949. Die Premiere fand am 7.10.1948 am Küchlin-Theater Basel mit Heinrich Gretler in der Hauptrolle statt. 230 Selbst Hochwälder äußerte Lobesworte für Lotar, nachdem er weitere Aufführungen in St. Gallen und Luzern angesehen hatte: „[...] muss ich Ihnen sagen, dass ich erst in St. Gallen und Luzern gesehen habe, wie gut die Uraufführung war, wie ausgezeichnet und intelligent Ihre Regie, wie nobel und wahr Ihr Don Miura war.“ Brief von Fritz Hochwälder an PL, 13.3.1944 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-2-a-HOC).

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am Prager Stadttheater in den Königlichen Weinbergen am 1.3.1947 teil.231 Diese Aufführung und der Besuch in Prag fanden auch Eingang in Lotars Roman Das Land, das ich dir zeige: Vor meiner Flucht in die Schweiz war mir als Künstler hier Erfüllung gewährt. Alles scheint mir grauer, schäbiger; aber auf der Bühne sprüht die junge Generation urkomödiantische Begabung, mit präzisestem Einsatz realisieren sie des Dichters Vision: des Menschen immerwährende Verlockung und Bedrohung durch den Missbrauch der Macht. Was man in Zürich geniesserisch applaudiert hatte als virtuose Konstruktion eines Phantasiegebäudes, das wird hier zur Provokation, zum Menetekel einer Tyrannis, die sich wieder anschickt, alles zu überwältigen. Während der Aufführung starren, stossen sich die Zuschauer an, spontane Ausrufe der Zustimmung, zynischen Widerspruchs, sich am Ende entladend in einem Chaos von Ablehnung und Begeisterung. (Land 226)

An Prager Bühnen wurden dank Lotar auch Werke des Solothurner Dramatikers Cäsar von Arx inszeniert, wie bereits 1940 Der Verrat von Novara.232 Abschließend soll noch Lotars politisches Schauspiel Der Tod des Präsidenten (1966) erwähnt werden, das eine Sonderstellung in seinem Werk einnimmt. In der Übersetzung von František Kafka und Pavel Kohout wurde das Theaterstück vom Divadlo bratří Mrštíků [Theater der Gebrüder Mrštík] in Brno [Brünn] inszeniert. Lotar war bei der tschechischen Erstaufführung am 6.4.1968 anwesend. Wie bereits erwähnt, war es das einzige seiner Schauspiele, das an einer tschechischen Bühne aufgeführt wurde. Im Vortrag anlässlich der Uraufführung am 17.12.1966 markierte Lotar das Hauptthema des Stückes folgendermaßen: 231 Bei der Aufführung waren der damalige Schweizer Botschafter, Verleger Kurt Reiss, und Max Frisch mit seiner Frau anwesend. Lotar begleitete die Gruppe. Verhandlungen um die Aufführung von Frischs Stück Santa Cruz im Jahre 1946 waren nicht erfolgreich, das Nationaltheater in Prag lehnte es ab. 232 Brief von Cäsar von Arx an PL, 18.1.1940 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar- B-2-b-ARX). – Über die Premiere berichtete der Solothurner Anzeiger: „Wie uns aus Prag gemeldet wird, haben die Städtischen Theater in Prag, die repräsentative tschechische Schauspielbühne, auf Grund einer Empfehlung und des Vorschlags von Peter Lotar, des langjährigen früheren Regisseurs und Schauspielers dieses Theaters, der jetzt am Städtebundtheater Solothurn-Biel tätig ist, vom Berliner Drei Maskenverlag das Aufführungsrecht von Cäsar von Ars [sic] Der Verrat von Novara erworben. Das Werk, das von der Schriftstellerin Lila Bubelova übersetzt worden ist, gelangt noch in dieser Spielzeit in der Inszenierung durch Schauspieldirektor Bohus Stejskal im großen Hause des Prager Stadttheaters zur tschechischen Uraufführung. Damit erwirbt das so überaus erfolgreiche Schweizer Schauspiel, das schon von so vielen Bühnen Europas gespielt wird, zuletzt in Finnland, auch auf der tschechischen Bühne Heimatrecht, wo bisher ein Schweizer Autor noch nicht ausgeführt worden war.“ N. N.: Schweizer Kunst auf der tschechischen Bühne. In: Solothurner Anzeiger, 26.1.1940.

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[…] der politische Mord, die Frage nach Sinn, Zulässigkeit und Ethos des Widerstands gegen die Gewalt. Dabei wurde als bewiesen angesehen, dass diese Gewalt des Menschen unwürdig und ihm feindlich sei, dass sie also Tyrannei ist. Hier aber wird nach ihrem Kennzeichen gefragt, danach, wo Freiheit aufhört und Tyrannei beginnt.233

Lotar war nicht nur bemüht, schweizerische Dramatiker in der Tschechoslowakei bekannt zu machen. In den Zeiten, die sich durch größere politische Freiheit in der Tschechoslowakei auszeichneten, engagierte sich Lotar auch bei den Verhandlungen um Auftritte tschechischer Künstler. Er stellte Kontakte zwischen den Kunstinstitutionen in der Tschechoslowakei und der Schweiz her und ermöglichte es tschechischen Künstlern, im Ausland aufzutreten oder auch Smetanas und Dvořáks Opern bei Schweizer Festspielen aufzuführen. Im internationalen Monatsheft La Coulisse berichtete er über aktuelle Theaterneuigkeiten an den Prager Bühnen.

6.2 Presse als Medium kultureller Vermittlung Masaryk, die Erste Tschechoslowakische Republik, das Münchner Abkommen sowie der Prager Frühling sind jene bedeutenden Gedächtnisorte, die das Selbstbild und die kollektive Identität der Tschechen mitprägen. Die tschechische Nation betrachtet sich „als gewaltlose Nation, die nicht zu den Waffen greift, um ihre Interessen durchzusetzen“, und identifiziert sich mit „der Selbstwahrnehmung als kleine Nation, dem Bild der geopferten Nation und der Kulturnation, die nicht durch den Staat repräsentiert wird.“ (Schmoller 2008: 90–107) Dieses Bild unterstützte auch Lotar in seinen publizistischen Texten aus den 60er-Jahren, sowohl in seinen Essays zu den politischen Verhältnissen in der damaligen Tschechoslowakei wie auch in seinen Beiträgen zur tschechischen Literatur- und Kulturgeschichte.

233 Lotar, Peter: Caesar, Lincoln, Kennedy. Gedanken zu seinem Schauspiel Der Tod des Präsidenten aus Anlass der Uraufführung am 17.12.1966. Vortrag im Studio ‚Die Probebühne‘ des Staatstheaters Karlsruhe, gehalten am 9. Dezember 1966, 3 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A2-g-09). – Mit dem Tyrannenmord beschäftigte sich Lotar auch in seinem Werk Das Bild des Menschen.

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6.2.1 Beiträge zum Münchner Abkommen und dessen Folgen Lotars journalistisches politisches Engagement veranschaulichen bereits seine Artikel aus dem Jahre 1939, in denen er sich zur aktuellen politischen Lage im Protektorat Böhmen und Mähren sowie zum Schicksal der tschechischen Nation äußerte. Zahlreiche nicht nur informativ ausgerichtete, sondern stark emotional aufgeladene Beiträge wurden unter dem Pseudonym Jan Ohneland, mit den Initialen P. L. oder anonym in Schweizer Zeitungen wie z. B. Die Nation, Solothurner Zeitung und National-Zeitung vor allem 1939–1940 publiziert, was allerdings mit einem großen Risiko verbunden war. Hätten die Schweizer Behörden herausgefunden, dass der anonyme Autor Emigrant war, der bei der Einreise seine jüdische Herkunft verborgen hatte, hätte ihm die Ausreise gedroht, da Flüchtlingen in der Schweiz jegliche politische Aktivität untersagt war (Bankowski/Brang 1994; Měšťan 2001). Lotar bemühte sich, fehlerhaft oder absichtlich falsch dargestellte Ereignisse, die an die Öffentlichkeit gelangten, richtigzustellen und insbesondere die bedrückende Lebenslage der Menschen zu vermitteln. Äußerer Anlass für seine Überlegungen waren staatliche tschechische Feier- oder Jahrestage. Zugleich sind sie erste schriftliche Bekenntnisse Lotars zum tschechischen Vermächtnis, das er in seinem Werk weiter pflegte und über den nationalen Rahmen hinaus erweiterte. Unterstützung erhielt er von Jaromír Kopecký, dem ständigen Delegierten der Tschechoslowakei bei den Vereinten Nationen in Genf.234 Zum ersten Beitrag regte ihn das Erlebnis einer prächtigen Schweizer Bundesfeier am 1. August 1939 an: Durch die feierlichen Klänge der Schweizer Hymne hindurch hört der Fremde geisterhaft den weichen Klang der eigenen Hymne und das Schluchzen der tschechischen Frauen, er sieht die Soldaten mit versteinten Gesichtern, über die die Tränen rinnen, zurückgehen, und hinter ihnen die Flut der Eindringlinge hereinbrechen. Und er sieht die zweite, entsetzlichste Nacht des März als ein nunmehr wehrloses kleines Volk zum zweiten Male überfallen und über einem Leichentuch von Schnee vor den Augen der ganzen untätigen Welt zum Kreuze geschlagen wird. […] Der Fremde öffnet die Augen und durch einen Tränenschleier hindurch feiert er dankbaren Herzens mit dem glaubensverwandten, brüderlichen 234 Jaromír Kopecký bestärkte Lotar folgendermaßen: „Naším úkolem není zde ani tak dodávání skutečných zpráv, jako spíše článků, které by vysvětlovaly souvislost a význam těchto událostí, o nichž zprávy listy dostaly prostřednictvím velkých agentur.“ [Unsere Aufgabe liegt nicht im Liefern von realen Nachrichten, eher von Artikeln über die Zusammenhänge und die Bedeutung von diesen Ereignissen, über welche die Presse von den großen Agenturen informiert wurde.] Brief von Jaromír Kopecký an PL, 5.12.1939 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-2-c-KOP).

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Schweizer Volk gemeinsam den ersten August, durch den es alljährlich sich selbst und der ganzen Welt die Zuversicht an die Unbesiegbarkeit von Recht, Freiheit und Heimatstreue erneuert.235

Drei Monate später reflektierte er das Jubiläum der Entstehung der Tschechoslowakei am 28. Oktober 1918. Seit dem 16. März 1939 war das Land als Protektorat Böhmen und Mähren Deutschland angeschlossen: Das tschechische Volk darf heute den Tag seiner Freiheit nicht mehr feiern. Statt wehenden Fahnen und leuchtender Blumengirlanden, statt Musik und Jubel, die sonst die Straßen der Städte und Dörfer erfüllten, wird heute i m g a n z e n L a n d e d i e R u h e d e s G r a b e s herrschen. Dafür sorgen hinlänglich die Maschinengewehre, die in jeder Straße auf den Hausdächern installiert sind, sowie die schwerbewaffnete Okkupationsarmee und Zehntausende von SS-Männern und Gestapobeamten. Dennoch wird ein einziges gewaltiges Band des Verstehens das ganze Volk erfassen. In jedem gleichgültigen Wort mitzittern und in jedem festen Händedruck beschlossen sein. Vielleicht werden Tausende trotz der damit verbundenen Gefahr B l u m e n i m K n o p f l o c h tragen und sicher werden sich Hunderttausende zu kleinen geheimen Gedenkfeiern in privatem Kreise zusammenfinden. Die Kirchen, seit Monaten schon überfüllt von Gläubigen, werden an diesem Tage die Massen der Trostsuchenden nicht fassen können und in jedem inbrünstigen Gebet wird sich die flehende Bitte um Freiheit und Erlösung zum Himmel schwingen.236

Bedeutend waren auch die Beiträge über den ersten tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk. Zu seinem 90. Geburtstag widmete ihm Lotar einige biographische Artikel, die den fast unglaublichen Lebensweg vom einfachen Dorfjungen zum anerkannten Philosophen und Politiker sowie Masaryks Taten im Zeichen seiner Grundsätze beleuchten. Außerdem betonte Lotar die demokratische Entwicklung der Ersten Tschechoslowakischen Republik, mit der Masaryk untrennbar verbunden ist. Er stellte als erster verantwortlicher Staatsmann der modernen Historie sein ganzes Denken und Handeln kompromisslos auf den Boden einer ebenso realistisch durchdachten, wie unverrückbar moralisch fundierten Sittlichkeit, auf das Prinzip der unbestechlichen Wahrheit und praktischen Humanität, deren Grundsätze er allein in der Demokratie als durchführbar erkennt.237

235 [Lotar, Peter]: Die Schweizer Bundesfeier, wie sie ein Tscheche erlebte. In: Die Nation, 10.8.1939. 236 [Ders.]: Gedanken eines Tschechen zum 28. Oktober 1939. In: National-Zeitung, 30.10.1939. – Zu erwähnen wäre von Lotar noch der Artikel: Die Wirtschaftliche Lage in Böhmen und Mähren. In: Solothurner Zeitung, 29.9.1939. 237 [Lotar, Peter]: Zum 90.  Geburtstage T.  G. Masaryks. 7.  März 1940. In: Solothurner Zeitung, 7.3.1940, 2. – Vgl.: Thomas Garrigue Masaryk zum Gedenken. In: National-Zeitung, 8.3.1940, 2.

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Es wurde bereits betont, dass sich Lotar mit Masaryks humanistischem Ideal identifizierte und seine Geschichtsauffassung übernahm. Er verfolgte das Ziel, beides in seinem Werk literarisch umzusetzen.

6.2.2 Beiträge zum Prager Frühling Die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts brachten eine Lockerung der politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse in der damaligen Tschechoslowakei mit. Für Lotar begann eine neue politisch engagierte Schaffensperiode mit dem Schwerpunkt auf der Kulturvermittlung. Insbesondere das Jahr 1968 mit seiner als Prager Frühling bezeichneten, kurzen Liberalisierungsphase238 war für ihn privat wie beruflich von großer Bedeutung. Als er im Frühjahr in die Tschechoslowakei einreisen konnte, kam er nicht mehr als Schauspieler, sondern als Dramatiker mit eigenem Werk, das bereits zur deutschsprachigen Produktion zählte. In den unveröffentlichten Erinnerungen Shledání [Wiedersehen] äußert Lotar seine Bedenken vor dem Besuch: V těchto třiceti letech byla domovina stále živou ve mně, myšlenka na shledání nikdy mne neopouštěla. Avšak byl jsem si též vědom neúprosného zákona, jenž panuje nad každým shledáním. My všichni – zde i tam – osudem hněteni, jsme se stali jinými. Poznáme se opět? [...] Dar, který jako host přináším, je plod stromu mého života. Bouřlivé vichry jím zmítaly a přece odolal, dozrál pod cizím nebem, za temných časů se musily větve široko rozprostírat, aby zachytily světlo. Avšak strom stále ještě koření v domácí půdě. Bude jeho plod doma vítán?239 [In den vergangenen dreißig Jahren lebte die Heimat nichtsdestotrotz weiter in mir und die Vorstellung des Wiedersehens verließ mich nie. Mir war allerdings auch das erbarmungslose Gesetz bewusst, das jedes Wiedersehen beherrscht. Wir alle – hier und dort – vom Schicksal Gekneteten sind anders geworden. Werden wir einander wieder erkennen? [...] Die Gabe, die ich als Gast mitbringe, ist eine Frucht vom Baum des Lebens. Dieser wurde von stürmischen Winden hin- und hergerissen, und dennoch hielt er stand. Er wurde unter einem fremden Himmel reif. In finsteren Zeiten musste er seine Äste breit machen, um Licht abzubekommen. Der Baum ist jedoch nach wie vor im heimischen Boden verwurzelt. Wird seine Frucht zu Hause willkommen geheißen?]

Nach seiner Rückkehr trat er mit der Vortragsreihe Geist macht Geschichte auf, in der er über die geistigen und politischen Ereignisse in der Tschechoslowakei,

238 Der Prager Frühling wurde durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes am 21.8.1968 beendet. 239 Lotar, Peter: Shledání [Wiedersehen]. Freie Blätter, Typoskript (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-2-g-17).

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wie er sie bei seinem Besuch erlebt hatte, berichtete.240 Umso schmerzhafter empfand er die Nachricht über die gewaltsame Niederschlagung der Reformprozesse, die er auch als private Tragödie betrachtete, da dadurch seine Hoffnung auf die Wiederbelebung eines demokratischen tschechoslowakischen Staates erneut begraben wurde. Intensiv nahm er in der Schweiz an verschiedenen Protesten gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes und an den Feiern zur Gründung der Tschechoslowakei teil, die als Erinnerungsmanifestationen dienten.241 Auf die politischen Umwälzungen, die die demokratische Entwicklung in der Tschechoslowakei auf unabsehbare Zeit beendeten, reagierte Lotar – zu dieser Zeit bereits Schweizer Staatsbürger und beachtete Persönlichkeit des Schweizer Kulturgeschehens – unmittelbar in zahlreichen journalistischen Beiträgen. Er bemühte sich, der schweizerischen Leserschaft die Auswirkungen zu erläutern und näherzubringen. Lotars Artikel und Essays zu diesem Thema wurden sowohl in der lokalen Presse als auch in der bedeutenden Neuen Zürcher Zeitung publiziert. Lotars Beiträge enthalten jene Elemente der tschechischen Identität, die er nicht nur dem Prager Frühling zuschreibt, sondern als Selbstbild der verratenen Nation umreißt: Es ist zum Trauma des tschechischen Volkes geworden, dass es ihm nicht gestattet war, seine Freiheit zu verteidigen. Nicht 1938 und nicht dreißig Jahre später, weil es einsam da stand, verlassen von allen. (Lotar 1970a)

Im Vergleich zu seinen Vorträgen, in denen er über die aktuelle politische Lage berichtete, suchte er in seinen Essays aus den Jahren 1968–1969 nach dem Wesen des tschechischen Volkes und figurierte ein weiteres Selbstbild der Opfer, nämlich das der Märtyrer:242 Dem kleinen Volk der Tschechen, im Herzen Europas, ist die Aufgabe übertragen, die Kraft des Geistes im ewigen Ringen mit den Mächten der physischen Gewalt zu demons­ trieren. Dieses Thema durchklingt als Leitmotiv seine ganze Geschichte. (Lotar 1968b: 50) 240 Z. B. der Vortragsabend ‚Geist macht Geschichte. Prager Frühling erlebt von Peter Lotar‘ am 28. Mai 1968 im Kirchgemeindehaus Zürich – Witikon. Im Programmheft wurde Lotar „zu den wenigen deutschsprachigen Schriftstellern, die mit ihrem Werk heute ein Zeugnis des Glaubens geben“ gezählt. Vor allem wurden seine mit mehreren Preisen ausgezeichneten Dramen Das Bild des Menschen und Der Tod des Präsidenten erwähnt. (Programmflyer, SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-A-6-13). 241 Von Bedeutung war die Matinee am 8. September 1968 in Basel, an der Peter Bichsel, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Günter Grass und Kurt Marti eine Rede hielten und der Brief von Heinrich Böll verlesen wurde, auf der sich alle Teilnehmer gegen die undemokratischen Vorgänge in der Tschechoslowakei aussprachen. 242 In Lotars Essays sind jene Metaphern und Bilder auffallend, die aus der Grundmetapher ‚Welt als Theater‘ abgeleitet sind und den Texten einen pathetischen Tonfall verleihen.

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In seinen in mehreren Periodika abgedruckten Texten und der gleichnamigen Vortragsreihe Geist macht Geschichte veranschaulichte Lotar anhand kurzer biographischer Abrisse von tschechischen Nationalhelden, dass man „durch den physischen Tod einen Mund zum Schweigen bringen [kann], doch nicht die Wahrheit, die von ihm ausgegangen ist“ (Lotar 1968e), und er zog teilweise Parallelen zu aktuellen Geschehnissen. Seine Darstellungen reichen vom Hl.  Wenzel über Jan Hus und Petr Chelčický bis zu Jan Amos Komenský und schließen mit dem Zitat von Tomáš G. Masaryk: ‚Jesus, nicht Cäsar – so lautet die Losung unserer Geschichte und Demokratie.‘ In der hussitischen Wahrheitssuche und der brüderlichen Humanität243, in den Idealen der großen tschechischen Denker, sah Lotar im Einklang mit Masaryk den Sinn der tschechischen Geschichte. Durchaus unkritisch übernimmt er Masaryks Auffassung von der Kontinuität der tschechischen Geschichte und den Aufgaben, die ‚dem kleinen Volk‘ der Tschechen auferlegt sind (Masaryk 1895).244 Diese Sicht auf die nationalen Traditionen war für die Exilliteratur insgesamt bezeichnend. Ähnlich wie sein enger Freund Přemysl Pitter sah Lotar den Prager Frühling als Rückkehr und direkte Anknüpfung an Masaryk und damit an die christliche und humanistische Tradition. 1968 publizierte Pitter das Buch Geistige Revolution im Herzen Europas,245 das sein lebenslanges Interesse an der Geschichte belegt und gleichzeitig sein ideelles Vermächtnis darstellt. Es besteht aus mehreren Biographien tschechischer Denker; der abschließende Beitrag unter dem Titel Die Wahrheit siegt ist Masaryk gewidmet, dessen Lebenscredo er unterstreicht: Masaryk erkannte deutlich: Die besondere Aufgabe des tschechischen Volkes besteht darin, die Nächstenliebe in alle menschlichen Beziehungen hineinzutragen. Er hebt die Böhmische Brüderunität als schönste Blüte der Reformation hervor, weil sie zu den reinen Quellen des Christentums zurückgeführt und versucht hat, Jesu Gebot der Liebe zu verwirklichen. ‚Die Humanität ist unser letztes nationales und geschichtliches Ziel, die Humanität ist das Programm des tschechischen Volkes.‘ (Pitter 1968: 99)

243 Gemeint sind die Böhmischen Brüder, eine protestantische Gemeinschaft, die sich Ende des 15. Jahrhunderts etablierte. 244 Die Bezeichnung des ‚kleinen Volkes‘ entspricht der zentralen Wahrnehmung im geopolitischen Konzept Mitteleuropas als Raumes der kleinen und national gemischten Staaten. Der Autostereotyp des kleinen Volkes war von Beginn der nationalen Bewegung an von Bedeutung und schloss sich der Nationenkonzeption Johann Gottfried Herders an. 245 Das Vorwort stammt von Peter Lotar.

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Pitters Konzept der ‚Geistigen Revolution‘ folgt seiner Auffassung, dass man Konsequenzen aus den historischen Erkenntnissen für das gegenwärtige Leben ableiten sollte (Štěpán 2002: 29). Lotar identifizierte sich mit Pitters Auffassung der Geschichte.246 Sein Essay Geist macht Geschichte deutet außerdem die These an, dass die bessere Kenntnis und das Verstehen der Geschichte das wirksamste Mittel im Kampf gegen totalitäre Regime und für eine demokratische Entwicklung der Gesellschaft seien. In diesem Prozess des Erkennens und Verstehens und der Wahrheitssuche schrieb Lotar dem Schriftsteller eine wichtige vermittelnde Rolle zu, denn ihm sei „auferlegt, im Vergänglichen das Bleibende festzuhalten, im scheinbar Sinnlosen den Sinn aufzuzeigen“ (Lotar 1968b: 50) – ein Motiv, das sich wie ein roter Faden durch Lotars gesamtes Werk zieht. Das Leben in der Fremde und in der erzwungenen Distanz förderte einen verklärten Blick auf die verlassene Heimat. In Bezug auf die nationale Geschichte schuf Lotar sekundäre Mythen. In seinen Essays und Reden der Jahre 1968 und 1969 lassen sich – gemäß den Typologisierungen der Exilforschung (Kliems 2004: 402) – zwei typische Züge der Heimatdarstellung beobachten: Einerseits die Idealisierung bestimmter Geschichtsepochen (wie der Ersten Tschechoslowakischen Republik), andererseits eine Desillusionierung, die mit einer Erläuterung einhergeht, warum es zum voraussehbaren Misslingen des Liberalisierungsprozesses kommen wird. Ist es wirklich eine solche Überraschung oder ist es nicht logisch und unausweichlich aus dem Wesen unseres eigenen Vorgehens erwachsen? Zwanzig Jahre dienten wir einer fremden Macht. Warum sollte sie nicht gegen uns die gleichen Mittel brauchen, die wir selbst gegen uns angewendet haben: die LÜGE und DIE GEWALT? (Lotar 1968e)

Lotars Überlegungen verlaufen auf zwei Linien und ziehen sich bis zum Zerfall Österreich-Ungarns. Zum einen zeigt er, dass die Regierung des neu gegründeten tschechoslowakischen Staates in der Nationalitätenfrage nicht aus den Fehlern Österreich-Ungarns gelernt hatte,247 was fatale Folgen hatte. 246 Lotars Nekrolog für Pitter zeugt davon: „Pitters Darstellung zeigt die Geschichte der Tschechen in exemplarischer Weise als den ständigen inneren Kampf zweier miteinander ringender Prinzipien: der Gewalt und des Geistes. Im Gegensatz zu den Schlagwörtern vom ‚Reformkommunismus‘, entgegen der naiven Anschauung, die auf Hass und Gewalt gegründete Ideologie des Klassenkampfes könne eine freiheitliche Wendung nehmen, hat Pitter als Historiker in seiner Geistigen Revolution im Herzen Europas einen ganz anderen Ursprung für das ‚Prager Frühling‘ genannte Phänomen nachgewiesen: Die humanitären Ideale der großen tschechischen Denker. Diese aber wurzeln in der Ethik eines konsequenten Christentums.“ (Lotar 1976: 3) 247 „Die tschechische Regierung wiederholte gegenüber den deutschen Bürgern haargenau die Fehler Österreichs, bloss mit umgekehrtem Vorzeichen. Doch Masaryk hörte nicht

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Zum anderen analysierte er, warum die Orientierung nach Russland von Anfang an zum Scheitern verurteilt war; dafür führte er (wiederum) Äußerungen von Masaryk bis zu den aktiven Schriftstellern des Prager Frühlings an und veranschaulichte, dass deren demokratische Anforderungen aus russischer Sicht mit dem Sozialismus unvereinbar waren.248 In völligem Gegensatz dazu gehört die Tschechoslowakei zu den kulturell, industriell und politisch seit langem höchst entwickelten Ländern mit uralten freiheitlichen und demokratischen Traditionen. Daher musste die Anwendung der gleichen Prinzipien und Methoden unter so grundlegend verschiedenen Voraussetzungen schwersten wirtschaftlichen wie moralischen Rückschritt bringen. Dazu kommt noch eine rücksichtslose wirtschaftliche Ausbeutung durch die sozialistische Großmacht, der alle Satellitenstaaten gleich Kolonialvölkern zu dienen haben. (Lotar 1968b: 55)

Eine direkte Bedrohung prophezeite Lotar nicht nur der Gesellschaft im Osten, sondern auch im Westen, wo man der Gefahr des Materialismus hätte widerstehen müssen. Er schlug folgenden Weg vor, wobei er sich vor allem Sorgen um die Jugend machte249 und wiederum die Wahrheit als Hauptprämisse betonte: Es ist der Glaube, dass erst der Geist uns wahrhaft zu Menschen macht und dass er stärker ist als die Gewalt. Die Wahrheit aber ist unteilbar, sie betrifft uns alle. Die volle Wahrheit ist weder im Westen noch im Osten, ihre Frontlinie verläuft quer durch alle Länder, Völker und Klassen, durch jeden einzelnen von uns. Wir dürfen die Wahrheit niemals preisgeben, dürfen nie aufhören, uns einzusetzen für Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde, für jeden einzelnen Menschen. (Lotar 1968b: 57)

Auch nach dem Umsturz 1968 ließ sein Engagement nicht nach. Er hielt weiterhin Vorträge und nahm an Protestveranstaltungen oder Feiern teil, wie z. B. den Gründungsjubiläen der Tschechoslowakei, Gedenkfeiern Masaryks und des Prager Frühlings.

auf, für sein Ideal einzutreten.“ (Lotar 1968b: 54) 248 „In den Konferenzen von Teheran und Jalta werden nicht nur die Tschechen, auch Polen und Ungarn, seit über tausend Jahren der westlichen christlichen Kultur zugehörig, ungefragt den Sowjets als ‚Einflussphäre‘ ausgeliefert. Damit beginnt die Tragödie unserer Tage.“ (Lotar 1968b: 54) 249 Der Gedanke an die Jugend entspricht Lotars Figurenkonzeption in seinem Werk. Näheres im Fazit.

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6.2.3 Beiträge über die tschechische Kultur in der Schweizer Presse In den 1970er- und 1980er-Jahren entstanden Lotars bedeutende literaturhistorische Essays, die in der Neuen Zürcher Zeitung publiziert wurden.250 Er fokussierte das tschechische Kulturerbe und verfolgte die These, dass die Identität ‚der kleinen Nation‘ vor allem durch die Sprache definiert wird. Lotar betonte, dass das tschechische Volk trotz aller historisch ungünstigen Entwicklungen und Schicksalsschläge die eigene Sprache bewahrte und weiter pflegte und dass aus seinen geistigen Kräften hohe kulturelle Werte entstanden waren. Wir wissen es aus der Schweiz: je kleiner eine Volksgruppe, um so hartnäckiger, leidenschaftlicher verteidigt und pflegt sie ihre Sprache. Denn sie ist es, die letztlich ihre Identität garantiert. Die kleinen Völker des östlichen Mitteleuropas, eingeschlossen von der Masse imperialistischer, Unterwerfung fordernder Mächte, werden immer wieder überwältigt, in Stücke gerissen, vom Untergang bedroht, gezwungen, um ihre nackte Existenz zu ringen. Die einzige Waffe, die ihnen verbleibt, ist ihre Sprache. Solange eine Gemeinschaft in der Muttersprache kommuniziert und kulturelle Werte schafft, so lange überlebt ein Volk. (Lotar 1985a: 45)

Entsprechend war die Beherrschung und Bewahrung der tschechischen Sprache ein zentrales Thema für Lotar. Im zweiten Kapitel wurde Lotars Verhältnis und Zugang zu beiden Sprachräumen – dem tschechischen und dem deutschsprachigen – und seine perfekte Zweisprachigkeit detailliert behandelt; sie ermöglichte ihm, seine künstlerische Laufbahn in der Schweiz bruchlos fortzusetzen, was bei Emigranten nicht immer der Fall war. Einer der häufigsten Gründe für das Scheitern im Exil war gerade die Sprachbarriere. Von großer Bedeutung war für Lotar, sein Tschechisch nicht zu verlieren. Seine Briefkontakte sollten ihm dabei helfen: Mein Liebes, wenn Du mir wieder schreibst, kannst Du es selbstverständlich ruhig tschechisch tun. Ich habe unsere von Schmerz gezeichnete Sprache nicht vergessen. Nur das Schreiben fällt mir leichter in den Worten jenes Raumes, in dem ich nun schon weit über die Hälfte meines Lebens zu Hause bin.251

Aus diesem Grund schätzte Lotar insbesondere die Popularisierungsaktivitäten der tschechischen Sprache des vielseitigen Vermittlers und Grenzgängers

250 Mit diesen Texten schließt er an seinen Beitrag zum tschechoslowakischen Theater an in: Hartnoll (1957). – Außerdem schrieb er Beiträge oder hielt Vorträge über die Schriftsteller Ladislav Mňačko, Pavel Kohout, Jaroslav Seifert, František Langer und Antonín Bartušek. 251 Brief von PL an Renata Novel, 11.11.1975 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1-NOVE).

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Pavel Eisner.252 Eisner bekannte sich in der Prager Presse253 zum ethischen Vermächtnis von Petr Chelčický. Für seine Prosa-Übersetzungen ist „das ‚goldene Zeitalter‘ des Humanismus ganz im Sinne des Masaryk’schen Narrativs der tschechischen Geschichte bestimmend“.254 Lotar lernte Eisner erst in den 1970er-Jahren kennen, als ein Teil seines Werks posthum ins ‚symbolische Exil‘ in die Schweiz ging.255 Seine Tochter Dagmar Eisnerová war 1968 in die Schweiz emigriert, wo sie in den 1970er-Jahren die Herausgabe von Eisners Werk im Exilverlag Konfrontace [Konfrontation] betrieb,256 die vom Verlags252 Der Publizist, Übersetzer, Literaturwissenschaftler, Linguist und Dichter Pavel Eisner (1889–1958) gehörte zu den Prager Intellektuellen, die sich intensiv am tschechisch-deutschen Kulturaustausch beteiligten. 253 Die linksbürgerliche, vom Staat geförderte deutsche Tageszeitung Prager Presse erschien 1921–1939. 254 „Eisner übersetzte zu dieser Zeit tschechische Autoren aus der auch von T. G. Masaryk hervorgehobenen nichtkatholischen Tradition: Jan Hus (ca. 1369–1415), Petr Chelčický (ca. 1390 – ca. 1460), Kryštof Harant z Polžic a Bezdružic (1564–1621) und Jan Amos Komenský (1592–1670).“ (Wögerbauer 2011: 228) 255 Im Nachwort ‚Učiň ji vyvolenou mezi dcerami Slova‘ [Mach’ sie zur Auserwählten unter den Töchtern des Wortes] zur Exilausgabe des Buches Chrám i tvrz [Dom und Festung] von Pavel Eisner äußerte sich Dagmar Eisnerová nicht nur zum Schicksal ihres Vaters, sondern fasste auch die gesellschaftliche Stimmung dieser Zeit zusammen: „V této kapitole [o Krakonošově zahradě – pozn. autorky] autor vzpomíná na doby, kdy jako student a začínající překladatel dával kondice. Když tu kapitolu psal, netušil, že se kruh jeho osudu uzavře. Pravda, směl také ještě překládat. S velkými potížemi, ale přece jen. To však nestačilo. A původní autor Pavel Eisner byl umlčen, natolik důkladně, že se ani po jeho smrti nepodařilo prosadit nové vydání jediné z jeho větších prací. Dokonce ani skromný výbor. Nu, je to teď všední úděl.“ [In diesem Kapitel [über Rübezahls Garten – Anm. der Autorin] erinnert sich der Autor an die Zeiten, als er als Student und beginnender Übersetzer Nachhilfe gegeben hat. Als er das Kapitel schrieb, ahnte er nicht, dass sich der Kreis seines Schicksals schließen wird. Immerhin konnte er noch übersetzen. Mit großen Schwierigkeiten, aber dennoch. Das reichte jedoch nicht. Und der ursprüngliche Autor Paul Eisner wurde totgeschwiegen, so gründlich, dass es nach seinem Tod nicht gelang, auch nur eine einzige seiner größeren Arbeiten durchzusetzen. Nicht einmal eine bescheidene Auswahl. Na ja, das ist jetzt das übliche Schicksal.] (Eisner 1974: 664–671) 256 Der Verlag Konfrontace brachte folgende Werke von Eisner heraus: Chrám i tvrz [Dom und Festung]. I./II. Teil, September 1974; Čeština poklepem i poslechem [Das Tschechische abgeklopft und abgehört]. Januar 1976; Sonety kněžně [Sonette an die Fürstin]. Dezember 1976; Bohyně čeká. Traktát o češtině [Die Göttin wartet. Ein Traktat über das Tschechische]. Oktober 1977; Übersetzung von Eisner, Pavel: Pan Kaplan má třídu rád (The Education of Hyman Kaplan). Dezember 1979. – Zur Geschichte und Orientierung des Verlags hält Aleš Zach, ein Kenner des tschechischen Verlagswesens, fest: „Produkce nakladatelství přinesla zejména za Strnadovy spolupráce široké spektrum české básnické a prozaické tvorby posrpnového i poúnorového exilu. Z četných reprintů starších vydání vyniká soubor prací P. Eisnera, jehož dílo Chrám i tvrz patřilo současně k prodejně nejúspěšnějším

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gründer und Sachbuchautor Petr Pašek betreut wurde. Der Schriftsteller und Publizist Jaroslav Strnad257, der sich ebenfalls an der Edition beteiligte, merkte in seinem Artikel Kníže češtiny [Der Fürst des Tschechischen] für die Exilzeitschrift Zpravodaj zu dieser Edition an: Nakladatelství Konfrontace už jen proto získala čestné místo v literatuře tohoto exilu. A překvapení pro mě: knihy šly čile na odbyt: nečekal jsem to. Bylo to však pro mě důkazem, že Eisner má i po létech vzácné místo v českém písemnictví. (Strnad 1989: 32) [Dem Verlag Konfrontace gebührte allein dafür ein Ehrenplatz in der Literatur unseres Exils. Ich war überrascht. Die Bände fanden einen regen Absatz. Das hätte ich nicht erwartet. Dies war für mich jedoch ein Beleg, dass Eisner noch nach Jahren eine außergewöhnliche Stellung in der tschechischen Literatur einnimmt.]

Die Herausgabe von Eisners Werk bedeutete für die tschechischen Emigranten in der Schweiz, deren Zahl nach 1968 in die Zehntausende ging, ein wichtiges kulturelles Ereignis. Der Erfolg lag nicht allein daran, dass die Bände auf Tschechisch verfasst waren, sondern dass sie die tschechische Sprache selbst thematisierten. Dies kommt auch in dem Ankündigungstext auf der Umschlagsseite des Buches Chrám i tvrz [Dom und Festung] – der ‚Bibel der tschechischen Sprache‘, wie sie Jaroslav Strnad nannte – deutlich zum Ausdruck. In diesem Text, der vermutlich von Dagmar Eisnerová stammt, heißt es: Pro nás v exilu má to dílo zvláštní význam: chceme si zachovat svůj díl té Unikavé a hledat pro své myšlenky slova-těla, slova pravdivá duchovní náplní i vtělením v tvar. Aby o ní, té Unikavé, platilo: Učiň, aby byla jazyk hojný a zbrojný a dej, aby tančila v řetězech, a nikdy liběji než v řetězech! (Eisner 1974: Schutzeinband, Klappentext) [Für uns im Exil hat dieses Werk eine besondere Bedeutung: Wir wollen uns Teil der Flüchtigen bewahren und für unsere Gedanken Verkörperungen in Worten suchen, deren Wahrheit die Fülle des Geistes und die verkörperte Gestalt ausmacht. Damit von ihr, der Flüchtigen, gelte: Auf dass sie eine reiche und rüstige Sprache sei, in Ketten tanze, und nie lieblicher als in Ketten!]

Ähnliche Worte wählte Peter Lotar in seiner Rezension des Buches in der Neuen Zürcher Zeitung vom Mai 1975:

titulům Konfrontace.“ [Die Produktion des Verlags brachte vor allem während der Zusammenarbeit mit Strnad ein breites Spektrum tschechischer Dicht- und Erzählkunst aus dem literarischen Exil nach dem Februar 1948 und dem August 1968 heraus. Unter den zahlreichen Reprints älterer Auflagen ragen die Arbeiten von P. Eisner empor, dessen Werk Dom und Festung gleichzeitig zu den erfolgreichsten Titeln gehörte.] (Zach 1995: 73) 257 Strnad war seit 1970 Chefredakteur des Zpravodaj und zugleich Lektor im Verlag Konfrontace.

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Es ist eine wissenschaftliche Großtat in unwissenschaftlicher Gestalt, Roman, Beschwörung, dichterischer Hymnus, durchdrungen von Humor, spannend und lesbar für jedermann. Eisner erforscht das Material der Sprache, ihre verborgendsten Geheimnisse, die unbegrenzten Möglichkeiten der Lautverschiebung, ihre sich kontrapunktisch durchdringenden prosodischen Elemente, die aus tschechischen Texten musikalische Kunstwerke werden lassen. Er deutet dem Leser das Universum dichterischer Bilder, führt ihn auf den Friedhof der vergessenen Wörter, dann zu den Wortkörpern, die aufs unglaublichste Geist und Seele wandelten zu neuer Bedeutung. (Lotar 1975b: 33)

Lotar hob insbesondere die Umstände hervor, unter denen Eisners Text entstanden war, sowie seinen Mut und die Entschlossenheit, die existenzielle Krise zu bewältigen. Diese Überlegungen spiegelten offensichtlich seine eigenen Erfahrungen wider. Die tschechische Neuauflage von Eisners ‚Sprach-Bibel‘ in der Schweiz hatte für Lotar nicht nur eine kulturelle, sondern zugleich eine persönliche Bedeutung, da er sein ganzes Leben mit geradezu übertriebener Vorsicht darauf achtete, dass seine Kenntnisse der tschechischen Sprache nicht durch den langjährigen Aufenthalt im Ausland Schaden nähmen. Gerade dem Dichter schreibt Lotar im Prozess der Bewahrung und Pflege der Sprache eine wichtige Rolle zu: Dem tschechischen Volk, bis in das entlegenste Dorf, ist der ‚básník‘, der Dichter, als Wahrer und Bildner der Sprache, ein verehrter und unentbehrlicher Garant der nationalen Existenz. (Lotar 1985a: 45)

Obwohl Überblicksbeiträge in einem Periodikum keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben können, gelang es Lotar, ein komplexes Bild der tschechischen Theater- und Literaturgeschichte im Kontext der „sich stets erneuernden, kulturpolitischen Katastrophen, die das eben erst Gewachsene in radikalem Kahlschlag vernichten“ (Lotar 1985a: 45), darzustellen: Der Arbeit kommt insofern Bedeutung zu, als es die erste umfassende Übersicht dieser Art nicht nur in deutscher Sprache ist. Auch tschechisch existiert paradoxerweise keine solche Gesamtschau, ganz einfach, weil es bisher aus politischen Gründen nicht möglich war und jetzt erst recht unmöglich geworden ist. Selbstverständlich habe ich darin auch unserem Freund Pavel Kohout und seinen wichtigsten Mitkämpfern gebührenden Raum gewidmet.258

Nicht nur die gewählte sozialgeschichtliche Optik macht Lotars Arbeiten besonders. Auch die Bewertungskommentare und ihre Komplexität weisen auf seine Gelehrsamkeit hin, die im Hinblick auf die Tatsache, dass Lotar aus dem Ausland und in der ungünstigen politischen Lage nur beschränkte Möglichkeiten hatte, an die relevanten Informationen zu gelangen, bewun258 Brief von PL an Bärenreiter Verlag vom 17.8.1970 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-1SPIE).

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dernswert scheint. Besonderer Wert kommt seinen eigenen Erfahrungen mit tschechischen Theaterbühnen aus der Zwischenkriegsperiode sowie seinen persönlichen Kontakten zu vielen tschechischen Autoren auf beiden Seiten der Grenze zu: sowohl zu denjenigen, die emigrierten, als auch denjenigen, die in ihrer Heimat für die offizielle kulturelle Szene mehr oder weniger unzulässig waren. Die Subjektivität seiner Ausführungen kann nicht immer als Vorteil betrachtet werden, hat aber auch ihre Bedeutung. Selbst der große tschechische Dichter, Dramatiker, Schriftsteller, Übersetzer und Kulturvermittler Ludvík Kundera erkannte ihren Wert: Vidím, že jste si i s minimem českých přehledných prací o našem dramatu dovedl poradit a vypracoval úctyhodný ‚podhled z ptačí perspektivy‘. To je to, co nám nejvíc chybí! Však víte sám… budu Vaším článkem mávat před nosem všem divadelním badatelům, které potkám. Aby se káli, že se sami na kloudný přehled nezmohli. Na druhé straně ovšem vím, že… zkrátka že je to těžké.259 [Ich sehe, dass Sie sich trotz der wenigen tschechischen Übersichtsarbeiten über unser Drama zu helfen wussten und einen ehrwürdigen ‚Unterblick aus der Vogelperspektive‘ erarbeiteten. Das ist das, was uns am meisten fehlt! Sie wissen ja selbst… ich werde mit Ihrem Artikel allen Theaterforschern, die ich treffe, vor der Nase winken. Damit sie büßen, dass sie selbst keine vernünftige Übersicht zustande brachten. Auf der anderen Seite weiß ich jedoch, dass… es einfach schwierig ist.]

Sein Beitrag über die tschechische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Aus Grabesnächten neu erstehen, könnte aus heutiger Sicht aus zwei Gründen geschätzt werden. In seinen Ausführungen behandelte Lotar alle drei Ebenen der tschechischen Literatur. Neben der offiziellen verfolgte er die Linie der exilierten Schriftsteller, wobei er das Exil als „immer wiederkehrende Geschichte tschechischer Eliten“ (Lotar 1985a: 45) bewertete. Auch die Namen der Schriftsteller, die unter Publikationsverbot standen und in Samizdat260 publizierten, sind zu finden. Darüber hinaus hob er die Kapitel der Epoche der literarischen Tradition hervor, an der sowohl die tschechisch- als auch die deutschsprachigen Autoren teilnahmen, und betonte vor allem die Rolle der jüdischen, in beiden Sprachräumen stehenden Vermittler.

259 Brief von Ludvík Kundera an PL, 17.11.1970 (SLA, NPL, Sign. SLA-Lotar-B-2-a-KUN). 260 Samizdat hieß die nicht offizielle Verbreitung nonkonformer Literatur, meistens durch Vervielfältigung mit der Schreibmaschine.

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6.3 Lyrikübersetzungen als Politisierung des Kulturtransfers Als Höhepunkt von Lotars Engagement kann die Anthologie Prager Frühling und Herbst im Zeugnis der Dichter (1969) betrachtet werden. Der Sammelband enthält von ihm übersetzte Werke geschätzter Autoren wie etwa ein Gedicht des späteren tschechischen Nobelpreisträgers für Literatur, Jaroslav Seifert, dessen Gedichte Lotar sonst gelegentlich in der Schweizer Presse veröffentlichte. Das Gedicht heißt Ještě v úterý… [Noch Dienstag…] und entstand am 23. August 1968 zwischen 10 und 11 Uhr am Vormittag, also ca. anderthalb Tage nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die damalige Tschechoslowakei (Seifert 1968). Ještě v úterý...

Noch Dienstag…

Chci do vřavy aspoň vychrlit pár zajíkavých slov. Ještě v úterý chtělo se věřit, že něčí ruka smetla lidský strach z těch očí, které vytřeštěné čekaly.

In das Getümmel möcht’ ich nur paar Worte stammeln. Noch Dienstag ließ sich’s glauben, es werde eine Hand die Furcht aus starren Menschenaugen wischen.

Ještě v úterý jsme věřili, že přišel čas, kdy bude možno říci vraždě do tváře Jsi vražda. Že ničemnost zas bude ničemností, Lež lží jak vždycky bývaly A konečně že ruka s pistolí nebude už nikdy otvírat nevinné dveře.

Noch Dienstag glaubten wir, die Zeit sei da, dem Mord ins Angesicht zu sagen, du bist Mord, daß Lumperei zu Lumperei, Lüge wieder zu Lüge werde Und daß die Hand mit der Pistole niemals wieder schuldlose Türen öffnen wird.

Chtěl jsem však příliš mnoho v tomto století a v této nešťastné zemi, kde kvetoucí strom přeludu rychle se mění v písek.

Doch wollte ich zuviel in dem ­Jahrhundert und in dem unglücklichen Land, wo jeder Baum, der Träume blüht, sich jäh in Sand verwandelt.

Das Gedicht, das unmittelbar auf die veränderte politische Lage reagierte, wurde vier Tage später – am 27.8.1968 – in der tschechischen Kulturzeitschrift Literární listy [Literarische Blätter] abgedruckt. Sie erschien von März

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bis November 1968 und schloss an die im Jahre 1967 eingestellte Literaturzeitung Literární noviny [Literarische Zeitung] an. Die Literarischen Blätter dienten Schriftstellern und Philosophen als Publikations- und Diskussionsorgan in der Tschechoslowakei. Bevorzugt wurden aktuelle politische und philosophische Themen. Weniger systematisch, aber doch regelmäßig widmete man sich auch den literarischen Themen und Texten, die die gesellschaftspolitische Situation reflektierten. Publiziert wurden bereits bekannte Autoren wie der oben zitierte Seifert, früher verbotene Autoren wie Jan Zahradníček, aber auch eher unbekannte Autoren der jüngeren Generation. Lotar reagierte ebenfalls unmittelbar auf die politischen Ereignisse; er traf eine Auswahl und veröffentlichte seine deutschen Übersetzungen ausgewählter Gedichte in der Kulturrubrik der prestigereichen schweizerischen Neuen Zürcher Zeitung (Lotar 1968c, d). Ein Jahr später erweiterte er die Reihe der Übersetzungen, bis eine Anthologie entstand. Anthologien stellen eine spezielle Gattung in der Rezeptionsforschung dar, die sich durch spezifische Faktoren und zahlreiche Funktionen auszeichnen. Die Literaturwissenschaftlerin Ute Raßloff fasste zusammen: Sie [die Anthologien – Anm. der Autorin] erfüllen als Mittel der ästhetischen Erziehung, Bildung, Erbauung oder Erheiterung künstlerische, didaktische, moralische und unterhaltende Zwecke, wobei ihr Inhalt vom ästhetischen Werturteil und von den subjektiven Intentionen des Anthologisten ebenso bestimmt werden kann wie von politischen, ideologischen oder Verlagsinteressen. (Raßloff 2010: 357)

Den Übersetzungsanthologien kommt noch eine zusätzliche Aufgabe zu. Sie werden als Medium des Kulturaustausches betrachtet. Die thematisch einheitliche Anthologie Prager Frühling und Herbst im Zeugnis der Dichter erhebt zweifellos den Anspruch, allen Aspekten angemessen nachzugehen. Eindeutig wurden von Lotar als Herausgeber die politischen und ideologischen Texte bevorzugt. Dies war in diesem Rezeptionsbereich schon zur Gewohnheit geworden. Die wechselhaften politischen Umstände, die als außer- und innerliterarische Faktoren fungierten, übten im 20. Jahrhundert einen wesentlichen Einfluss auf die Übersetzungen der tschechischen Literatur ins Deutsche aus, wobei nach den verschiedenen Rezeptionsländern zu differenzieren wäre. Prinzipiell gilt, dass die Kontakte zwischen den einzelnen Akteuren in den Phasen des verschärften totalitären Regimes beschränkt und vom Staat überwacht waren. Oft wurde der ästhetische Wert wegen einer inhaltlichen Reduktion auf politische Affirmation in den Hintergrund gedrängt. Dies änderte sich teilweise in den 1960er-Jahren, in denen sich durch die Liberalisierungs- und Demokratisierungsentwicklung die Rahmenbedingungen des Kulturaustausches erleichterten und die ästhetische Frage bei der Auswahl

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an Relevanz gewann. Die Ereignisse vom August 1968 zeichneten jedoch ein baldiges Ende aller hoffnungsfrohen Erwartungen ab. Mit seiner Anthologie steuerte Lotar einen literarischen Beitrag zur politischen Diskussion der interessierten Öffentlichkeit bei, nicht nur in der Schweiz. Die Anthologie übernahm „die Rolle eines Opponenten“ (Raßloff 2010: 381) des politischen Regimes in der Tschechoslowakei nach dem August 1968, zur Zeit der beginnenden Normalisierung. Lotars Sammelband sollte zu seinen wichtigsten literarischen und übersetzerischen Unternehmungen gerechnet werden. Als Anthologist übernahm er mehrere Rollen gleichzeitig. In der Anthologie Frühling und Herbst im Zeugnis der Dichter veröffentlichte und übersetzte Lotar 38 Gedichte von 29 Autoren. Es sind Dichter aller Generationen vertreten, die die politische Realität in der Tschechoslowakei aus unterschiedlichen Lebensperspektiven und unter diversen sozialen Bedingungen reflektieren. Auch entstanden die Gedichte zu verschiedenen Zeiten. Einige wurden noch in der Ära der früheren Präsidenten Gottwald und Novotný261 geschrieben, zum Beispiel von Jan Zahradníček – dem religiösen Dichter, der in den 1950er-Jahren inhaftiert gewesen war –, einige, wie das zitierte Gedicht von Jaroslav Seifert, als Reaktion auf den Einmarsch. Lotar orientierte sich bei der Gedichtauswahl an den Literarischen Blättern und übernahm zwei Drittel der dortigen Texte. In der Anthologie stellte er sie dabei nicht chronologisch, sondern in einer spannungssteigernden Komposition zusammen: Der erste Teil beginnt mit den erschütterten Jubelrufen der vom Licht der Freiheit geblendeten, sie rechnen ab mit dem frostigen Gespenst der Vergangenheit. Doch bald beginnt Skepsis die Hoffnung anzunagen, zuerst in humoristischer Metapher, dann schreitet die Ahnung fort zur unabweisbaren Weisheit, dass kein Frühling endlos ist. (Lotar 1968c: 53)

Zugleich sollen alle Gedichte das Wesen des tschechischen Volkes erschließen, „das aus der aufgezwungenen Erniedrigung kühn aufsteigt zu geistiger Freiheit, Wahrhaftigkeit und Menschenwürde.“ (Lotar 1969b: 15) Nach Lotars Auffassung konnte gerade die Lyrik als Gattung mit spezifischen poetischen Verfahren, die er selbst häufig auch in seinen essayistischen Arbeiten verwendete, die emotional aufgeladene Frühjahrsatmosphäre 1968 in der Gesellschaft am authentischsten und intensivsten festhalten und vermitteln. An zusätzlichem Wert gewinnt die Anthologie dadurch, dass als Anhang die Kurzbiographien aller Dichter beigegeben wurden, die von Lotars Freund, dem Dichter, Museologen und Übersetzer Antonín Bartušek, verfasst wur261 Die Präsidenten der Tschechoslowakei: Klement Gottwald (Amtszeit 1948–1953), Antonín Zápotocký (Amtszeit 1953–1957) und Antonín Novotný (Amtszeit 1957–1968).

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den. Sie bieten dem Publikum einen aktuellen Überblick über die tschechischen Lyriker in lexikographischer Form. – Mit Antonín Bartušek verband Lotar eine enge Freundschaft, die auch auf der ihnen gemeinsamen christlichen Gesinnung beruhte. Noch im Jahre 1969 konnte Bartušek in die Schweiz ausreisen. Über seine Reiseeindrücke schrieb er einige Gedichte, die Lotar dann ins Deutsche übertrug und in den Schweizer Monatsheften publizierte.262 Im Vorwort zur Anthologie übernahm Lotar einen großen Teil des bereits publizierten Essays Geist macht Geschichte und erweiterte seine These, dass die aktive Rolle der Schriftsteller, Philosophen, Dichter und Studenten während des Prager Frühlings an die traditionelle tschechische Konzeption humanistischer und auf der protestantischen Religion beruhender Werte anschließe. Der Essay, der unter dem geänderten Titel Geist gegen Gewalt publiziert wurde, betont den moralischen Aspekt der gesellschaftlichen Position eines Autors, wonach der Schriftsteller als Gewissen der Nation fungiere.263 Dieses Credo formulierte er auch in einer Trauerrede über seine ehemalige Schauspielkollegin, die Schriftstellerin und Gattin von Karel Čapek, Olga Scheinpflugová: Man kann Schweizern schwer verständlich machen, was der Künstler den Tschechen bedeutet. Hier lebt man wirklich nicht vom Brot allein, Musik, Theater, das dichterische Wort sind Sauerstoff der Seele. Der geistige Arbeiter ist Träger des Selbstverständnisses, des nationalen Bewusstseins, vor allem in Zeiten der Unterdrückung, seit eh und je. Dennoch hat diese Generation noch von niemandem so Abschied genommen wie von Olga Scheinpflugová. Denn sie war mehr als eine Künstlerin. (Lotar 1968f: 15)

Dem Übersetzen von Lyrik widmete sich Lotar auch weiterhin. Gelegentlich übersetzte er einzelne Gedichte von anderen bedeutenden tschechischen Dichtern wie Jan Skácel, oder den erwähnten Jaroslav Seifert und Ludvík Kundera, und publizierte sie begleitend zu seinen journalistischen Beiträgen. Im Laufe der Zeit lehnte er jedoch weitere Aufträge zu Übertragungen ins Deutsche aus Zeit- und Gesundheitsgründen ab.264 262 Bartušek, Antonín: Gedichte aus der Schweiz. In: Schweizer Monatshefte 49/12 (1970), 1108–1111. 263 „In keinem westlichen Lande hat das Wort der Dichter eine solche exemplarische Bedeutung, einen so hohen Einfluss auf die Bewußtseinsbildung wie auf das öffentliche Geschehen.“ (Lotar 1969b: 11) – Diese Auffassung von der Schriftstellerrolle wurzelt in der tschechischen aufklärerischen Tradition. 264 Vergleiche etwa den Brief von PL an Ivan Diviš, 22.5.1974 (SLA, NPL, Sign. SLA-LotarB-1-DIVI), dessen Gedicht Lotar auch für die Anthologie übersetzte: „Dennoch versetzt mich Ihre freundliche Anfrage in einen schmerzlichen Zwiespalt, leider nicht zum ersten Mal. Seit dem Jahre 1969 werde ich geradezu überwältigt durch die Bitten geflüchteter intellektueller Landsleute ihre Manuskripte zu lesen und zu übersetzen. Zwei Jahre habe ich mich fast ausschließlich diesen Anliegen und dem Einsatz für unsere Sache sowohl in

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Zusammenfassend kann Lotars vermittelnde Tätigkeit, seine lebenslang praktizierte Inter- und Transkulturalität als Gewinn bringendes Beispiel der Akkulturationsprozesse, der positiv erfahrenen Alterität interpretiert werden (Becker 2013: 58). Bemerkenswert ist nicht nur die Vielfältigkeit seiner Aktivitäten mittels verschiedener Medien, sondern deren Kontinuität, die eine unermüdliche Überzeugung beweist.

menschlicher wie publizistischer Beziehung gewidmet. Aber ich musste damit aufhören, wollte ich nicht meine eigene Existenz vernichten. […] Zudem bin ich nicht hauptberuflich Übersetzer wie mein Freund Künzel, sondern muss mit einer angegriffenen Gesundheit mein eigenes umfangreiches Werk bewältigen.“

7. Fazit Peter Lotar gehört zu denjenigen Schriftstellern und Dramatikern, die geprägt vom Kriegserleben den politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts engagiert mit ihrem Werk entgegentraten. Lotar war ein überzeugter Vertreter humanistischer und demokratischer Prinzipien wie sie mit den Namen von Masaryk und Schweitzer verbunden sind. Sein besonderes Ethos mit Halt im Glauben und fixer Wertung von Gut und Böse ist größtenteils auf die Entwurzelung im Exil zurückzuführen. Engagiertes Schreiben bedeutete für Lotar die Vermittlung eines auf der christlich-humanistischen Tradition beruhenden Wertesystems. Anhand verschiedener Darstellungen der Kriegsgeschehnisse und der Biographien historischer Persönlichkeiten suchte er wertevermittelnd zu wirken. Solche Geschichtsbilder individueller und kollektiver Art verfügen über eine Orientierungs- und Stabilisierungsfunktion, sind teilweise aber auch von einer lehrhaften Tendenz geprägt. Die Vergangenheitsversionen in Lotars Werk stützen sich auf die individuellen Erinnerungen einzelner Akteure. Die Arbeit an und mit (auto-) biographischen Texten gehörte zentral zu seiner Schreibstrategie und ist mit der Reflexion von individueller und kollektiver Identitätsbildung verbunden. In manchen Hörspielen und Theaterstücken kommt es zu einem zweifachen De- und Rekonstruktionsprozess: Das bezieht sich zum einen auf die Technik der literarischen Montage: Die ausgewählten Textpassagen aus den (Auto-)Biographien wurden ihrem ursprünglichen Kontext entnommen und in einen neuen gesetzt; zum anderen betrifft es historische Ereignisse oder konkrete Lebenszeichnungen, die durch die zusammengefügten Erinnerungen neu konstruiert werden. Eine Ausnahme von diesem Konzept stellen zwei Theaterstücke (Die Wahrheit siegt und Das leere Kreuz) dar, die die Kon­ struktion der persönlichen Identität im Kontext der deutsch-tschechischen Animositäten und des katholischen Antisemitismus zum Thema haben, die sich damit jedoch nichtsdestotrotz auf bestimmte Vergangenheitsversionen aus dem kollektiven Gedächtnis beziehen. Man kann sie als fiktionale Musterbeispiele von Lotars Denkmodellen bezeichnen. Abschließend sollen hier Lotars Darstellungsverfahren und Inszenierungsmittel im Zusammenhang von Erinnerung und Identität zusammengefasst werden. Lotar strebte einen bestimmten Grad an Exemplarität des Erinnerten und der dazugehörigen, in der Gegenüberstellung mehrerer Vergangenheits-

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deutungen ausgehandelten Geschichtsbilder und Identitätskonzepte an. Ihn interessierte die kollektive Dimension des individuellen Erinnerns. Im Grunde genommen handelt es sich um einen Konflikt zwischen zwei divergierenden Prinzipien. Auf der einen Seite steht das Böse bzw. die Gewalt, auf der anderen das Gute bzw. der humanistische Geist. Vor allem die Pluralisierung265 der Stimmen im Zusammenspiel mit der Figurencharakterisierung und -konstellation verhalf ihm zur Gewichtung der Prinzipien. In Lotars Werken über den Zweiten Weltkrieg stehen die typenhaften Figuren unterschiedlicher sozialer Herkunft mit ihren politischen, philosophischen und moralischen Haltungen, ihren individuellen Wertesystemen und Erfahrungen in einem gegensätzlichen Verhältnis zueinander. Während des eigenen Erinnerns geraten die Figuren überdies in einen inneren Konflikt zwischen ihrer Überzeugung und ihrem Handeln. Die Konkurrenz der Erinnerungen dient als Schreibstrategie dazu, „bestehende Gedächtnisnarrative affirmativ zu verstärken oder subversiv zu dekonstruieren und durch andere zu ersetzen“ (Erll 2011: 216). In den Darstellungen von Vergangenheit dominiert eindeutig die geistige Ebene, auf der eine in der christlichen Ethik wurzelnde religiöse Botschaft vermittelt werden soll.266 Die zentrale Prämisse der Konstitution personaler und kollektiver Identität ist die Suche nach Wahrheit. Der vielschichtige Begriff der Wahrheit bildet das höchste Ideal in Lotars Leben und zieht sich als roter Faden auch durch sein gesamtes Schaffen. Wahrheit erscheint bei Lotar nicht nur als christliche Glaubenswahrheit, sondern auch als individuelle Wahrheit in der Geschichte. Dies gilt auch für die ebenfalls nach dem antagonistischen Prinzip gestalteten (auto-)biographischen Arbeiten. Als wesentliche Inszenierungsmittel bei Lotar sind die Erzählinstanz in Prosatexten und die Figurenkonzeption und -konstellation in dramatischen Texten anzusehen. Im Falle der beiden autobiographischen Romane sind entgegengesetzte Pole hinsichtlich der Erzählhaltung und der Erzählebene festzustellen, die eine differenzierte Wahrnehmung und Wirksamkeit der Prozessualität des Erinnerungsaktes bewirken. Im ersten Band Eine Krähe war mit mir wird der extradiegetisch-heterodiegetische Erzähltyp dem homodiegetischen vorgezogen, was den Anschein erwecken kann, dass die personale Identi265 Die Multiperspektivität ermöglicht eine soziale Vielfalt im Figurenrepertoire und dadurch auch differenzierte Vergangenheitsdeutungen. 266 Die ästhetischen Verfahren der Inszenierung konkurrierender Vergangenheitsversionen fasst Erll unter der Bezeichnung „antagonistischer Modus“ zusammen. Die Werke, in denen dieser Modus überwiegt, „vermitteln Identität, Werte und Normen bestimmter sozialer oder kultureller Formationen und desavouieren die Sinnwelten anderer Gruppen und Nationen.“ (Erll 2011: 216)

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tät der Hauptfigur Marek Truntschka erst im narrativen Prozess konstruiert wird. Die Offenlegung der retrospektiv sinnstiftenden Erinnerungen durch den Ich-Erzähler in Das Land, das ich dir zeige kann wiederum den Eindruck vermitteln, dass die personale Identität aus den zurückliegenden Erfahrungen resultiert (Gymnich 2003: 40–42). Den Wechsel der Erzählperspektive begründet Lotar mit der Ausrichtung auf den Leser, der sich mit dem Ich-Erzähler identifizieren und so das Erinnerte intensiver rezipieren könne. Das Repertoire denkbarer Thematisierungen und Inszenierungen des Verhältnisses von Erinnerung und Identität auf der Figurenebene dramatischer Texte bietet zahlreiche Variations- und Kombinationsmöglichkeiten. Das Erinnern bei Lotar wird direkt in der Figurenrede vermittelt und durch spezielle dramatische Mittel dargestellt. Die historischen Figuren de- und rekonstruieren das Leben auf die gleiche Weise wie die Ich-Erzähler im Rahmen des homodiegetischen Erzählens in (auto-)biographischen Werken. Dieser Effekt wird durch die Montagetechnik hervorgerufen. Aus Autobiographien, Memoiren, Dokumenten und Briefen werden je nach Themenbereich Zitate ausgewählt, zusammengestellt und anschließend von den dargestellten historischen Personen interpretiert. Das Mosaik individueller Schicksale weist dabei über den Einzelnen hinaus auf das allgemein Menschliche und zielt auf das kollektive Gedächtnis ab. In vielen Arbeiten führte Lotar zudem eine weitere erinnernde Person ein. Zu Beginn des Dramas Das Bild des Menschen, das vom deutschen Widerstand handelt, tritt ein Gefängnisgeistlicher auf, der seine Rolle nicht nur im letzten Dienst für die Verhafteten sieht, sondern sich selbst auch als Instanz versteht, welche die Erinnerungen an die einzelnen Schicksale bewahrt. Eine ähnliche Funktion erfüllt in den biographischen Hörspielen über Jean Racine und George Bernhard Shaw die Figur eines fiktiven Autors, der an der Biographie bzw. dem Nekrolog des jeweiligen Schriftstellers arbeitet. Andererseits entsteht Spannung durch die Konfrontation einer Figur mit ihrem jüngeren Alter Ego. Im Hörspiel Aller Menschen Stimme, das an den Fronten des Zweiten Weltkrieges angesiedelt ist, warnt der alte und kranke japanische Arzt Nagai, der wie der Gefängnisgeistliche in Das Bild des Menschen als Erinnerungsinstanz fungiert, rückblickend sein jüngeres Ich vor den Konsequenzen seiner Naivität und seiner Kriegsbegeisterung, indem er seine Lebensgeschichte (re-)konstruiert. Auf ähnliche Weise diskutiert der 90-jährige George Bernhard Shaw mit seinem 50-jährigen Alter Ego in dem nach ihm benannten Hörspiel über die Entwicklung seiner politischen Überzeugungen. Innerhalb von Lotars Figurenrepertoire sind es vor allem zwei Typen, die eine bedeutende Rolle für den Akt des Erinnerns und die Konstitution von Identität übernehmen: starke Frauen und junge Männer. Die erste Gruppe

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umfasst moralisch gefestigte Frauengestalten, die hoffnungsvoll, gesellig, entschlossen, hilfsbereit und nicht zuletzt liebevoll sind. In den meisten biographischen Hörspielen stehen sie als Ehefrauen, Partnerinnen oder Freundinnen unerschütterlich an der Seite der Männer, denen sie durch ihre durchgängig positiven Eigenschaften lebensbedrohliche, politisch unsichere Zeiten oder schwierigere Berufsphasen zu überstehen helfen. So charakterisiert sind auch die beiden wichtigsten Frauen im Leben von Marek Truntschka, der Hauptfigur der autobiographischen Romane. Die Schauspielerin Pavlitschka eröffnet ihm die fröhliche tschechische (Theater-)Welt, während Světluška, seine Schauspielkollegin am Theater Biel-Solothurn, ihm mit ihrer Lebensfreude und Leichtigkeit durch die Exilzeit hilft und ihn nach dem Tod seiner Schwester bei der Suche nach einem neuen Lebenssinn unterstützt. Zugleich werden beide als erfahrene und erfolgreiche Künstlerinnen präsentiert. Eine wichtige Untergruppe bilden die aufopferungsvollen und vor allem tiefgläubigen Frauenfiguren, die unauffällig und entschlossen human im Hintergrund agieren. Marie in Das Bild des Menschen würde trotz Lebensgefahr um nichts in der Welt ihren Mann verraten; Denise (Aller Menschen Stimme), deren Freund mit dem Flugzeug abgestürzt ist, geht als Pflegerin an die Front, um sich um verwundete Soldaten zu kümmern; Jana, die junge Sekretärin im Stück Die Wahrheit siegt, will den verlorenen Sohn der Hauptfigur auf seinem Lebensweg begleiten; Marie (Das leere Kreuz) setzt sich mit ihren erst spät entdeckten jüdischen Wurzeln auseinander; Lena (Das Land, das ich dir zeige), deren Tragik darin liegt, dass sie als Krankenschwester auf der falschen Seite steht, rettet Kinder aus dem von deutschen Truppen besetzten Frankreich. Dieser Frauentyp wirkt schematisch und ist auf seine religiösen und politischen Überzeugungen beschränkt. In den Biographien der bedeutenden Literaten und Wissenschaftler treten wiederum Frauenfiguren auf, die auf die Rolle der Ehefrau reduziert wurden.267 Die jungen Männer wiederum sind oft, ohne es zu wissen, mit einer Lüge aufgewachsen. Oft werden sie mit der Wahrheit konfrontiert und müssen ihr Selbstbild und ihre Identität revidieren. Sie bringen die anderen Figuren dazu, sich neu mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und in ihren Erinnerungen nach der Wahrheit zu suchen. Im Theaterstück Die Wahrheit siegt will sich der junge Georg erschießen, als er erfährt, dass er keinen arischen Familienhintergrund hat und sein wirklicher Vater Tscheche ist. Der kleine Stefan aus dem Stück Das leere Kreuz erschießt sich zwar aus Versehen, jedoch in emo267 Eine detaillierte Erarbeitung der Frauen- und Männerfiguren bei Lotar könnte das Thema einer selbstständigen Studie sein.

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tionalem Aufruhr, als er erfährt, dass seine ursprüngliche Familie jüdisch war. In den biographischen Hörspielen ruft der junge Mensch durch seine Wissbegierde bei den anderen Figuren Erinnerungen hervor, initiiert somit einen Gedankenaustausch und konstituiert über Erinnerungen und erworbene Erfahrungen seine Identität. Die Schreibstrategie der Einbeziehung potenzieller Rezipienten und die Ausrichtung auf eine bestimmte Zielgruppe beeinflussen auch die Figurenkonzeption der dramatischen Texte. Ein Beispiel dafür ist die Figur des jungen Menschen, der sich als orientierungsstiftende oder hoffnungsgebende Instanz direkt an Jugendliche oder junge Erwachsene richtet, so etwa im Hörspiel Vom Sinn des Lebens, das von Albert Schweitzer handelt. Das Figurenrepertoire in den biographischen Hörspielen wird vor allem durch Familienmitglieder und enge Freunde der Hauptfiguren erweitert, die untereinander in Opposition stehen, obwohl ihre Funktion nicht zuletzt darin besteht, die fundamentale Bedeutung von Familie und Liebe für die Kon­ stitution personaler Identität zu veranschaulichen. Zugleich soll das private Bild der biographisch dargestellten Figuren durch die Erinnerungen von dem Biographierten nahestehenden Personen – in Konkurrenz oder auch Korrespondenz zu offiziellen Bildern – stärker ins Bewusstsein rücken. Auch der Raum dient als bedeutende Erzählkategorie, weil die Erinnerungen räumlich verankert und abrufbar sind. Der Raum fungiert entweder erinnerungslösend oder erinnerungsgeformt. In Lotars Werk kommen beide Fälle vor. Signifikant wird das in den autobiographischen Romanen, in denen die Atmosphäre der Theatergroßstädte eine wichtige Rolle spielt. Vor allem das Theater als Gebäude und als soziales Umfeld ist ein prägender Ort für Schauspieler. In Prag sucht die Hauptfigur Marek Truntschka geistige Zuflucht an Gedächtnisorten wie der Karlsbrücke mit den Statuen etwa von Jan Nepomuk, die für ihn das humanistische Ideal verkörpern. Er nimmt sie nicht nur im nationalen Sinne wahr, sondern spricht ihnen im aktuellen politischen Kontext (in der Zeit des nationalen Hasses vor und nach dem Zweiten Weltkrieg) eine transnationale Dimension zu. Zum Symbolort wird auch die Synagoge, wo der Name seiner im Konzentrationslager ums Leben gekommenen Schwester in eine Gedenktafel eingraviert wird. In Das Bild des Menschen wird das Erinnern im Gefängnis ausgelöst. Im Hörspiel Aller Menschen Stimme sind die Erinnerungen an die Frontdarstellungen angebunden. Zu nennen wäre in diesem Kontext auch der Bezug auf Israel als Erinnerungsort in Das leere Kreuz. In den biographischen Hörspielen spielt der Raum dagegen eine marginale Rolle. Der Komplex Gedächtnis und Identität wurde vor allem auf zwei Ebenen herausgearbeitet: als Identitätskonstruktion in Lotars autobiographischem

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Schreiben und als Konstruktion von Figuren im Rückgriff auf deren (auto-) biographische Texte. Im sechsten Kapitel wurde außerdem auf die Erinnerungsarbeit im Kontext der kulturellen Vermittlung zurückgegriffen, die als Kulturtransfer zwischen dem tschechischen und dem deutschsprachigen Raum – insbesondere der Schweiz – verstanden wird. Lotars vermittelnde, durch die Medien Theater, Presse und Literatur bestimmte Praktiken fungieren dabei zugleich als Träger seiner weltanschaulichen Botschaften. Dadurch wird der Vermittlung sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene eine identitätsstiftende Funktion zugeschrieben. Mit der ästhetischen und weltanschaulichen Grundposition seines Werks vertrat Lotar eine der bedeutenden literarischen Ausrichtungen der 1950erund beginnenden 1960er-Jahre. Obwohl seine Dramen klassisch aufgebaut sind und seine Hörspiele teilweise im Sinne der Dramaturgie der Innerlichkeit stehen, weist sein Werk moderne Darstellungs- und Inszenierungsmittel auf. Dazu gehören die Schreibtechnik der Montage, die Pluralität der Vergangenheitsversionen, die sich selbst reflektierenden Figuren und nicht zuletzt die Darstellung der gebrochenen Identitäten. Hervorzuheben ist vor allem die Wahl der gesellschaftskritischen und kulturgeschichtlichen Themen, die mit einem starken Gegenwartsbezug verarbeitet werden.

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Namensregister Abel, Eduard 47 Achard, Marcel 30 Adam, Winfried 52, 55, 71 Adamski, Marek 94, 96, 100 Adorján, Stella 42 Ahlsen, Leopold 103, 138 Amstutz, Hans 96, 121f. Arnold, Gladys 46 Arx, Cäsar von 41, 183 Assmann, Aleida 16 Assmann, Jan 15f. Auředníček, Zdenko 152 Bab, Julius 28 Bähr, Hans Walter 115 Bankowski, Monika 185 Bannasch, Bettina 24 Barcava, Stefan 106 Barnay, Paul 29, 81 Barner, Wilfried 12, 99f., 138f. Barnowsky, Victor 29 Barrie, James Matthew 42, 173 Bartušek, Antonín 192, 199, 200 Becher, Peter 60 Becker, Sabina 23f., 201 Becker-Cajthamlová, Anna 31 Behring, Eva 23 Beidler, Franz W. 142 Békeffi, Stefan 42 Beneš, Edvard 40, 124 Beneš, Jiří 147 Bernanos, Georges 72

Bichsel, Peter 188 Bienlein, Martin 7 Bircher-Benner, Maximilian 170 Bloom, Margret 96, 100f., 105, 114 Blubacher, Thomas 33, 35, 73, 121, 175f., 180f. Böll, Heinrich 10, 105, 138, 188 Bor, Jan 30, 81 Borchert, Wolfgang 130 Brandt, Juliane 23 Brang, Peter 185 Brecht, Bertolt 80 Brod, Max 65 Brüninghaus, Kaspar 103 Brunner, Hans 104 Buchinger, Hans 46, 163 Buchinger, Otto 46 Buchman, Frank 43, 95 Bulgakov, Michail 30 Butta, Tomáš 148

Cotta, Johann Friedrich 164 Coward, Noël 40

Čapek, Karel 62, 156, 173, 178f., 200 Čapková, Kateřina 58 Chelčický, Petr 11, 124, 189, 193 Chitz, Emil 27 Chitz, Käthe 27, 38 Chitz, Lothar/Lotar (Peter Lotar) 27, 29, 30, 42 Chitz, Otilie (geb. Paschová) 27 Chitz, Walter 27

Ehre, Ida 59 Eich, Günter 10, 106, 138 Einstein, Albert 12 Eisner Pavel/Paul 193f. Eisnerová, Dagmar 193f. Erll, Astrid 15f., 20, 142, 144f., 203

Davy, Walter 48 Dekker, Thomas 30 Delsen, Leo 9, 35, 175, 180 Demetz, Peter 59 Dennerlein, Kathrin 56 Deutsch, Ernst 28, 63 Deutschman, Peter 97 Dickow, Helmut 103 Dietschi, Urs 39, 42f., 151 Dilthey, Wilhelm 16, 143 Diviš, Ivan 49, 200 Dostoevskij, Fëdor M. 36, 42, 84 Drutens, John van 28 Düby, Oscar 170 Dürrenmatt, Friedrich 10, 41, 77, 138, 158, 182, 188 Dvořák, Antonín 38, 184

Fahoun, Jaroslav 42 Feitknecht, Thomas 7 Fetz, Bernhard 140, 143f. Fierz, Olga 47 Fischer-Lichte, Erika 84

226 Flury, Albin 129 Flury, Richard 181 Flusser, Vilém 59 Franke-Ruta, Walter 138 Frey-Surbek, Marguerite 33 Friedell, Egon 28 Frisch, Max 10, 41, 77, 103, 106, 113, 129f., 138, 182f., 188 Fritz, Susanne 59 Gandhi, Mahatma 47, 145 Garrigue-Masaryková, Charlotte 154 Gaspar, Huldrych 7 Gebauer, Jan 151, 154 Gessner, Adrienne 71 Glaser, František 41 Glaser, Friedrich 42 Glauser, Friedrich 182 Goethe, Johann Wolfgang von 28, 36, 54, 62, 80, 164 Gojan, Simone 35 Goldoni, Carlo 30 Goodrich, Frances 129 Gorkij, Maxim 163 Gottwald, Klement 199 Grass, Günter 188 Gretler, Heinrich 182 Grießen, Thomas 7 Gurdan, Emil 106 Gymnich, Marion 15, 17f., 55f., 71, 204 Gysi, Valérie 7 Hackett, Albert 129 Haeser, Hans 182 Harant z Polžic a Bezdružic, Kryštof 193 Hartnoll, Phyllis 192

Namensregister

Hašek, Jaroslav 62 Haupt, Ullrich 103 Hausmann, Hans 101 Hauthal, Janine 144 Heitler, Walter 161 Herder, Johann Gottfried 189 Hermand, Jost 101 Herweg, Nikola 19 Hilar, Karel Hugo 29, 64 Hildesheimer, Wolfgang 138 Hilsner, Leopold 152 Hinz, Werner 103 Hirsche, Peter 138 Hitler, Adolf 82, 104 Hl. Wenzel 189 Hochhuth, Rolf 129 Hochmann, Vasa 35, 175, 178 Hochwälder, Fritz 36, 41f., 77, 182 Hofmannsthal, Hugo von 28 Höhne, Steffen 60 Holdenried, Michaela 52 Holmes, Deborah 173, 175 Holý, Jiří 123f., 176f. Holý, Ladislav 66 Howard, Peter 173 Humboldt, Wilhelm von 164 Hus, Jan 11, 38, 47, 97, 124, 148, 189, 193 Inger, Manfred 49 Jacobson, Walter 95 Jaspers, Karl 103 Jens, Walter 105, 138 Jorio, Marco 139

Juhre, Arnim 45f., 164 Kafka, František 183 Karl IV. 68 Karter, Egon 35, 41, 71, 175 Käser-Leisibach, Ursula 121f. Keller, Anton 143 Keller, Thomas 21, 23, 172 Kennedy, Hans 35 Kingsley, Sidney 30 Kisch, Egon Erwin 61 Klewelow, Heinz 103 Kliems, Alfrun 10, 190 Klinger, Ruth 59, 71 Koeltzsch, Ines 16, 21, 58, 60f., 65, 78, 172 Kohout, Pavel 183, 192, 195 Kolb, Richard 100 Komenský, Jan Amos 11, 189, 193 Koňaříková, Petra 105 Kopecký, Jaromír 37, 124, 185 Kortländer, Bernd 22 Kortner, Fritz 71 Krafka, Elke 35 Kraus, Oskar 146 Krause, Robert 23 Kreis, Georg 34 Kretschmann, Carsten 141 Kriegleder, Wynfrid 7 Krolop, Kurt 61 Kubelík, Rafael 42 Kučera, Zdeněk 148 Kühner, Otto Heinrich 105f. Kundera, Ludvík 196, 200

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Namensregister

Lahl, Kristina 60 Lampel, Peter Martin 79 Langer, František 36, 174, 176, 178f., 192 Lejeune, Philippe 52 Lenz, Siegfried 138 Lessing, Gotthold Ephraim 28, 84, 128f. Lochman, Jan Milíč 48, 148 Lonsdale, Frederick 29 Lotar, Jean-Christophe 7, 44 Lotman, Jurij 56, 67 Lübbert, Berta 38 Lübbert, Eva (verh. Lotar) 38, 41f., 44, 49, 121 Lübbert, Martin 38 Lüder, Sven 8 Ludvová, Jitka 31 Ludwig, Carl 34 Lüsebrink, Hans-Jürgen 21f. Mahnke, Hans 103 Marschall, Brigitte 103, 129 Marti, Kurt 188 Martínez, Matías 56, 71 Masaryk, Jan 155 Masaryk, Tomáš Garrigue 11, 38, 47, 66, 85, 97, 120, 123f., 145, 148, 151–155, 172, 176, 184–193, 202 Matzke, Annemarie 79, 82 Maximian 181 Mehring, Walter 80 Meiner, Felix 103, 104 Měšťan, Antonín 185

Mittenzwei, Werner 33f., 121 Minetti, Bernhard 103 Mňačko, Ladislav 192 Molthagen, Dietmar 76 Moltke, Freya Gräfin von 9, 15 Moltke, Helmuth James Graf von 45, 104f. Müller, Eberhard 46 Muschg, Walter 12 Mussard, Jean 36 Nadj, Juliana 144 Napoleon 45, 142, 145 Natannsen, M. 147 Neumann, Birgit 12, 55 Neuwirth, Vladimír 171 Nieberle, Sigrid 141 Niefanger, Dirk 106 Niggl, Günter 52 Novalis 164 Novel, Renata 192 Novotný, Antonín 199 Nünning, Ansgar 15–18, 56, 144, 155 Nünning, Vera 18, 56 Oberer, Walter 138 Obrecht, Max 44 Oermann; Nils 146 Oesterle, Günter 15 Pašek, Petr 194 Peroutka, Ferdinand 39f., 178 Petersen, Julius 28 Pfister, Manfred 102 Piscator, Erwin 29, 79f. Pitter, Přemysl 11, 47, 189f. Pius VII. 45, 145

Platon 109, 150, 154 Port, Jan 30 Probst, Rudolf 7 Racine, Jean 19, 44, 155–160, 204 Raßloff, Ute 198f. Raynal, Paul 29 Reichert, Franz 59 Reinacher, Eduard 106 Reinhardt, Max 28, 38, 64, 79f. Reiss, Kurt 41, 182f. Renggli, Paul 9 Ricœur, Paul 17 Ries, Curt 34 Rilke, Rainer Maria 62 Rinn, Hermann 166 Rochus, Gerhild 24 Runge, Anita 140, 144 Schahadat, Schamma 22f., 57 Schalla, Hans 103 Scheffel, Michael 56, 71 Scheinpflugová, Olga 31, 36, 40f., 62, 176, 178, 200 Schell, Hermann Ferdinand 36 Schieske, Alfred 103 Schild, Axel 96 Schiller, Charlotte Luise Antoinette 164 Schiller, Francis 49, 50, 53, 146 Schiller, Friedrich 12, 19f., 36, 40, 42, 44, 75, 129, 155, 158f., 163–166 Schilling, Helmut 12f. Schlieper, Ulrike 106, 138f.

228 Schmidt-Lotar, Jana 7, 44, 146 Schmitz, Walter Schmoller, Hildegard 123, 184 Schnabel, Ernst 101 Schneider, Hansjörg 31 Schneider, Irmela 138 Schneider, Vera 60 Schnitzler, Arthur 36 Schöll, Julia 34 Schramm, Friedrich 137f. Schroers, Rolf 105 Schubert, Franz 59 Schulz, Kristina 34 Schwarz, Wolfgang 50 Schwärzler, Manuela 8 Schweiger, Hannes 140f., 144, 173, 175 Schweitzer, Albert 11f., 43f., 47, 50, 77, 97, 105, 114f., 128, 144– 150, 154f., 202, 206 Schwitzke, Heinz 99, 138 Seidl, Florian 28 Seifener, Christoph 55, 67, 71–74 Seifert, Jaroslav 192, 197–200 Semmelroth, Wilhelm 103f., 137 Semotamová, Tereza 100, 105, 106 Shakespeare, William 29, 36, 42, 84

Namensregister

Shaw, George Bernhard 19, 36, 44, 120, 131, 155, 158–162, 204 Siegert, Bernhard 106, 113f. Siegfried, Detlef 96 Smetana, Bedřich 184 Spieker, Ines 8 St. Urs 181f. St. Victor 181f. Stauffenberg, Alexander Schenk Graf von 45 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 45 Steinbeck, John 36, 84, 180 Stejskal, Bohuš 30, 183 Štěpán, Jan 190 Štěpánek, Jan Nepomuk 31 Stern, Martin 96, 121f. Straub, Jürgen 10 Strelka, Joseph 67 Strnad, Jaroslav 193f. Stroux, Karl Heinz 103, 106 Suermann, Thomas 146, 150 Teilhard de Chardin, Pierre 12 Temming, Tobias 104, 106 Tolstoj, Lew Nikolajevič 47, 155–159, 162f.

Toman, Josef 181 Trepte, Hans-Christian 10, 73 Udolph, Ludger 60 Vejvoda, Marek (Jaroslav Marek) 48, 174 Voskovec, Jiří 63 Wagner-Egelhaaf, Martina 52f. Walser, Martin 138 Weber, Paul 99, 137, 139 Weber, Ulrich 7 Weinberg, Manfred 65 Weisenborn, Günther 106 Werfel, Franz 28, 63, 66 Werich, Jan 63 Wessel, Oskar 114 Wessely, Katharina 8, 57, 70, 76f., 79 Weyrauch, Wolfgang 114 Wieman, Mathias 103 Wilpert, Gero von 52, 122 Wirtz Eybl, Irmgard 7 Wögerbauer, Michael 193 Wolf, Friedrich 81 Würffel, Stefan Bodo 138, 158f. Zach, Aleš 193f. Zahradníček, Jan 198f. Zápotocký, Antonín 199 Zuckmayer, Carl 29, 106