Überfluss und Überschreitung: Die kulturelle Praxis des Verausgabens [1. Aufl.] 9783839409893

Das Moment des Verausgabens zeichnet sich in einer Überschreitung ab, die Grenzen und Grenzziehungen zugleich in Frage s

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Überfluss und Überschreitung: Die kulturelle Praxis des Verausgabens [1. Aufl.]
 9783839409893

Table of contents :
INHALT
Die kulturelle Praxis des Verausgabens. Einleitung
Verausgabung, Erschöpfung und andere Müdigkeitszustände. Vom Mythos beständiger Missernten im Weinberg der Geisteswissenschaften
Ökonomie der Vergeudung. Die Figur des Verausgabens bei Georges Bataille
LEBEN IM ÜBERFLUSS
Überflusskultur und Wachstumshunger. Verausgabungen in Arbeits- und Konsumgesellschaft
Kulturindustrie — vermasste Kultur — Jazz
Warenhauskönig und Kinoprinzessin. Konsum- und Kulturkritik in den Warenhaus- und Filmromanen der Kaiserzeit
Christian Krachts Faserland an den Grenzen der Erlebnisgesellschaft
ÜBERSCHREITUNGEN DES KÖRPERS
Dicksein. Armut und Medien. Selbstführungsfernsehen und die Unterschichtendebatte
»Zu Tode erschöpft«. Sportromane als Verausgabungsnarrative (1900—1933)
Sterben im Überfluss: Luxus und Lustmord in Hollywood-Mainstream-Filmen seit den 90er Jahren
Verausgabung und Souveränität. Die Performance Light/Dark von Marina Abramović und Ulay
SPRACHE DER VERAUSGABUNG
»Bin die Verschwendung, bin die Poesie«. Überfluss und Verausgabung in Goethes Faust und seinen Kontexten
»Un drame dans la langue française.« Verausgabungsprozesse im literarischen Theater von Valère Novarina
Die Bändigung der kulturellen Vielfalt. Der Umgang mit dem sowjetischen Kulturerbe in Timur Kibirovs poetischer Collage ›Durch Abschiedstränen‹ (Skvoz’ proščal’nye slëzy)
Die Begrenzungen des Textflusses. Vom Urheberrecht der Gutenberg-Galaxis zur Wissensallmende im World Wide Web?
Autorinnen und Autoren

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Christine Bähr, Suse Bauschmid, Thomas Lenz, Oliver Ruf (Hg.) Überfluss und Überschreitung

Literalität und Liminalität hrsg. v. Achim Geisenhanslüke und Georg Mein | Band 9

2009-06-26 13-17-12 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b9213915645006|(S.

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Christine Bähr, Suse Bauschmid, Thomas Lenz, Oliver Ruf (Hg.) Überfluss und Überschreitung. Die kulturelle Praxis des Verausgabens

2009-06-26 13-17-12 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b9213915645006|(S.

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Gefördert durch das Graduiertenzentrum der Universität Trier.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Prof. Dr. Thomé’s Flora von Deutschland, Österreich und der Schweiz. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage. Bd. III. Gera 1905. Lektorat & Satz: Christine Bähr, Suse Bauschmid, Thomas Lenz, Oliver Ruf Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-989-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2009-06-26 13-17-12 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b9213915645006|(S.

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INHALT

Die kulturelle Praxis des Verausgabens. Einleitung CHRISTINE BÄHR, SUSE BAUSCHMID, THOMAS LENZ, OLIVER RUF Verausgabung, Erschöpfung und andere Müdigkeitszustände. Vom Mythos beständiger Missernten im Weinberg der Geisteswissenschaften GEORG MEIN Ökonomie der Vergeudung. Die Figur des Verausgabens bei Georges Bataille OLIVER RUF

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LEBEN IM ÜBERFLUSS Überflusskultur und Wachstumshunger. Verausgabungen in Arbeits- und Konsumgesellschaft STEPHAN LORENZ Kulturindustrie — vermasste Kultur — Jazz MATTHIAS HOFFMANN UND REBECCA WEBER Warenhauskönig und Kinoprinzessin. Konsum- und Kulturkritik in den Warenhaus- und Filmromanen der Kaiserzeit ANDREA HALLER UND THOMAS LENZ Christian Krachts Faserland an den Grenzen der Erlebnisgesellschaft MARCO BORTH

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ÜBERSCHREITUNGEN DES KÖRPERS Dicksein. Armut und Medien. Selbstführungsfernsehen und die Unterschichtendebatte THOMAS WAITZ

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»Zu Tode erschöpft«. Sportromane als Verausgabungsnarrative (1900—1933) KAI MARCEL SICKS

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Sterben im Überfluss: Luxus und Lustmord in Hollywood-Mainstream-Filmen seit den 90er Jahren IRINA GRADINARI

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Verausgabung und Souveränität. Die Performance Light/Dark von Marina Abramović und Ulay VIOLA VAHRSON

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S P R AC H E D E R V E R A U S G A B U N G »Bin die Verschwendung, bin die Poesie«. Überfluss und Verausgabung in Goethes Faust und seinen Kontexten BERND BLASCHKE

»Un drame dans la langue française.« Verausgabungsprozesse im literarischen Theater von Valère Novarina KERSTIN BEYERLEIN

Die Bändigung der kulturellen Vielfalt. Der Umgang mit dem sowjetischen Kulturerbe in Timur Kibirovs poetischer Collage ›Durch Abschiedstränen‹ (Skvoz’ proščal’nye slëzy) MARION RUTZ

Die Begrenzungen des Textflusses. Vom Urheberrecht der Gutenberg-Galaxis zur Wissensallmende im World Wide Web? THOMAS ERNST

Autorinnen und Autoren

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DIE KULTURELLE PRAXIS DES VERAUSGABENS. EINLEITUNG CHRISTINE BÄHR, SUSE BAUSCHMID, THOMAS LENZ, OLIVER RUF Karl Kraus berichtet im Jahr 1915 in Die Schönheit im Dienste des Kaufmanns von einer Gräfin Berchtold, die vorgibt, aus nationaler Verantwortung heraus konsumieren zu müssen: »Ich und gleich mir viele andere Damen, wir fühlen uns verpflichtet, unsere Schneiderinnen und sonstigen Lieferanten nicht in einer Zeit im Stiche zu lassen, wo sie doch ganz besonders der Aufträge bedürfen, damit sie ihre Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigen können« (Kraus 1915: 103). Der Einkauf erscheint der Gräfin als nationale Pflicht, die Verschwendung als Garant des Wirtschaftswachstum, die Verausgabung als Bedingung der Möglichkeit von Überfluss: Mit der Begründung ihres ausschweifenden Lebensstils steht die Gräfin den Argumenten des Soziologen Werner Sombart nahe, der in seiner 1912 vorgelegten Arbeit über Luxus und Kapitalismus seine Sicht auf die Genese des modernen Kapitalismus formuliert. Der programmatische Untertitel dieser Studie lautet: Über die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der Verschwendung. Der Luxuskonsum stellt für Sombart die treibende Kraft der kapitalistischen Entwicklung dar, denn im Grunde sei es die Verschwendung, die eigentlich erst die Volkswohlfahrt anrege. Er entwirft mithin das Gegenstück zur Kapitalismustheorie Max Webers, der eine protestantische Ethik und die damit verbundene sparsame Anhäufung von Kapital in den Vordergrund stellt (Weber 1904/1995). Die hedonistische Verschwendung, die vor allem von den Mätressen am Hofe praktiziert wurde, sei, so Sombart, die notwendige Voraussetzung für die Entstehung eines kapitalistischen Systems: »So zeugte der Luxus, der selbst, wie wir sahen, ein legitimes Kind der illegitimen Liebe war, den Kapitalismus« (Sombart 1912/1992: 194). Dass Verschwendung paradoxerweise den Wohlstand mehre und erst die Verausgabung von Geld die Geldwirtschaft in Schwung bringe, ist demnach keine neue Idee. Bei Sombart – ebenso wie bei der Gräfin Berchtold – wandert das zum Fenster hinausgeworfene Geld zur Tür wieder hinein. Der Kreislauf des Überflusses wird durch beständige Ausgaben stabil gehalten, wobei es gilt, die Bedürfnisse derart zu verfeinern, dass ihre Deckung prinzipiell nicht mehr möglich wird und die Befriedigung des niedrigeren unmittelbar folgend ein höheres Bedürfnis weckt. Karl Kraus polemisierte gegen die Gräfin Berchtold ebenso wie gegen die Indienstnahme des allgemeinen wie des speziell künstlerischen Bedürfnisses nach fortwährender Steigerung des Überflusses: »Wir essen, damit unsere Gastwirte zu essen haben. Wir trinken, damit die Weinhändler einen Rausch bekommen. Wir kleiden uns, damit die Schneider es warm haben.

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Wir ziehen vor unseren Hutfabrikanten den Hut. […] Wir konsumieren, damit der Produzent konsumieren könne. […] So steht die Kunst im Dienste des Kaufmanns, das heißt, sie ist das verächtliche Ornament seines Geschäfts« (Kraus 1915: 104). Wo die Bedürfnisse nicht um ihrer selbst Willen gestillt werden, sondern ihre Befriedigung vor allem der Befeuerung der Warenwirtschaft dient, muss sogar die Kunst dem Kaufmann dienen. Von der künstlerischen »Verausgabung« bleiben, bei einer Verkürzung der Kunst auf das Ornament, nur noch die »Ausgaben« übrig. Das Geheimnis der Kunst ist aber, so zumindest Peter Hacks in seinen ästhetisch-ökonomischen Fragmenten Schöne Wirtschaft (1997), nicht einfach Ornament, sondern zwar käuflich aber dennoch verschwenderisch zu sein. Das Moment des Verausgabens zeichnet sich in einer Überschreitung ab, die (kulturelle) Grenzen und Grenzziehungen zugleich infrage stellt und (neu) formiert. Als Verausgabung ist wahrnehmbar und beschreibbar, was die Begrenzungen gegebener Ressourcen überwindet und einen vorhandenen Status quo überbietet. Verausgabung verstanden als Bestandteil kapitalistischer Ökonomisierungsprozesse, die sich auf das Moment der Produktion fokussieren und mit der Sphäre des Konsums assoziiert werden, bezeichnet die Überschreitung des Notwendigen und wird einerseits im Überfluss von Gütern und einer auf Luxus und Verschwendung ausgerichteten Bedürfniskultur sichtbar, andererseits jedoch auch, wie die Gegenwart zeigt, in einem Überangebot an Arbeitskraft. Darüber hinaus begegnet der Akt der Verausgabung im Exzess und im Rausch, wie sie in kulturellen Ereignissen, seien es solche des Rituals, des Sports oder der Künste, erlebbar sind. Sich zu verausgaben meint hier die Grenzen des Möglichen oder Vorstellbaren, der Kontrolle oder des Erlaubten neu ausloten. Die nachstehend versammelten Beiträge verfolgen Spuren des Verausgabens entsprechend in Sprache und an Körpern, in den Feldern der Literatur, der Künste und der Medien. Die einzelnen Aufsätze sind aus einer Tagung hervorgegangen, die das Graduiertenzentrum der Universität Trier im November/Dezember 2007 unter dem Titel verausgaben. Sprechen vom/im Überfluss veranstaltet hat. Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, insbesondere jedoch Frank Meyer und Agnes Schindler aus der Geschäftsführung sowie dem Direktorium des Graduiertenzentrums gilt unser herzlicher Dank für ihre kompetente und freundschaftliche organisatorische Unterstützung vor und während der Tagung. Ausdrücklich bedanken sich die Herausgeberinnen und Herausgeber bei dem Graduiertenzentrum für die großzügige finanzielle Unterstützung, die die Drucklegung des vorliegenden Bandes erst ermöglicht hat. Der Band eröffnet mit zwei Beiträgen, die die theoriegeschichtliche Dimension und symptomatisch kulturwissenschaftliche Relevanz der Problemstellung entwickeln: GEORG MEIN reflektiert das Sujet der Verausgabung vor dem Hintergrund der Bataille’schen Theoreme auch und vor allem als literarischen Topos, wobei die Überlegungen von Marcel Mauss, Jacques Derrida und Pierre Legendre mit einbezogen werden. Der Beitrag präsentiert sich als ein Beitrag zu den Diskussionen um die jüngeren und jüngsten Entwicklungen der Geisteswissenschaften, deren Legitimationskrisen auffällig mit Pha-

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sen verstärkter Zweckrationalität zusammenfallen, und enthält ein Plädoyer für die »parasitäre Kraft« und die sich daraus speisende »ursprüngliche und das heißt kathartische Funktion« der Geisteswissenschaften (S. 20). OLIVER RUF untersucht die Figur des Verausgabens mit Blick auf Georges Batailles Überlegungen einer Allgemeinen Ökonomie und rekonstruiert dessen Argumentationsmuster, Topoi und Metaphern, »die die Divergenzen um Überfluss und Überschreitung, wie sie sich in diesem Zusammenhang bewähren, als Variationen einer wiederkehrenden Konstellation erkennbar werden lassen.« (S. 24) Dabei beziehe Batailles Allgemeine Ökonomie universal die Natur mit ein, und zwar nicht nur als einen passiven Gegenstand wirtschaftlicher Verwertung, sondern als virulenten Akteur; es sei die natura naturans, nicht die natura naturata, sozusagen die Natur von ihr selbst, der Gedanke des grundlosen Grundes; Natur sei bei Bataille Ökonomie der Vergeudung, Verausgabung ihrer selbst: Die Grundlosigkeit ihrer Existenz mache sie zu einem ursprünglichen ökonomischen Akteur. Vor diesem Hintergrund ließe sich die Verausgabung außerdem als ein Denk-Bild entziffern, besser noch als eine allegorische Figur, die »als Konstrukt eines universellen menschlichen Schicksals begriffen werden muss.« (S. 33) Im Anschluss widmet sich der erste Teil unter dem Titel Leben im Überfluss sozialtheoretisch inspirierten Perspektiven auf das Phänomen der Verausgabung. Von Interesse sind hier der gesellschaftliche und individuelle Umgang mit Strategien der Produktion und Konsumption von (insbesondere materiellem) Überfluss. Dabei fällt der Blick auch auf deren moralische Implikationen sowie deren geschlechtliche und ethnische Codierungen. Am Beginn des Kapitels steht der Aufsatz von STEPHAN LORENZ, Überflusskultur und Wachstumshunger, in dem er die ambivalente Steigerungslogik moderner Massenkonsumgesellschaften diskutiert und nach deren gesellschaftlichen und kulturellen Triebkräften fragt. Darauf aufbauend skizziert Lorenz ein Überflussverständnis, dass ohne Steigerungsprämisse auskommt und verweist auf die Konsequenzen, die sich für eine potenzielle Soziologie des Überflusses ergeben. In ihrem Beitrag Kulturindustrie – vermasste Kultur – Jazz beschäftigen sich MATTHIAS HOFFMANN und REBECCA WEBER mit der Kulturindustrie-These Adornos und Horkheimers, wobei ihre Ausführungen auf eine Umkehr des postulierten Zusammenhangs zwischen Jazz und Kulturindustrie zielen. Adorno lasse sich nicht auf den Jazz als musikalisches Phänomen ein, so die These, weshalb er sich eine Perspektive verbaue, die gerade in improvisierter Musik eine Möglichkeit sähe, der »Verstümmelung« der Individualität durch die Kulturindustrie zu entgehen. ANDREA HALLER und THOMAS LENZ widmen sich den Darstellungen von Konsum und Konsumenten/innen in Warenhaus- und Kinoromanen der Kaiserzeit, beispielsweise in Max Freuds Der Warenhauskönig (1912) oder Franz Scotts Die Kinoprinzess (1913). Mit Rekurs auf Georg Simmels Theorie der Moderne und Werner Sombarts Studien zum Kapitalismus fokussieren sie auf die interdiskursiven Verknüpfungen von Literatur, Film, Medizin, Kriminologie, Wirtschaft und Gesellschaftspolitik. Dabei kristallisieren sich insbesondere Weiblichkeit und Judentum als konstante Vorzeichen der von den Romanen aufgegriffenen Diskussionen um das Phänomen der Konsumgesellschaft, um die »›verderb-

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lichen‹ Folgen der Warenhäuser und Kinos« (S. 69), heraus. In der Beurteilung der »sich rapide entwickelnden Massen-, Konsum- und Mediengesellschaft« (S. 82), so sei festzustellen, unterschieden sich die beiden analysierten Genres dahingehend, als dass das Warenhaus »überwiegend kritisch«, das Kino dagegen als Errungenschaft für die »moderne[ ] Kulturlandschaft« (S. 81) betrachtet werde. Die Auseinandersetzung mit einer literarischen Darstellung von Konsum und Überfluss geht auch MARCO BORTH in seiner Lektüre von Christian Krachts Faserland (1995) ein. Wohlstand und Konsumverhalten werden in der »außerordentlichen ökonomischen Ausstattung« (S. 87) des Romanhelden wie auch in dessen erzählerischem Habitus nachgezeichnet. Bezug nehmend auf Gerhard Schulzes Konzept der Erlebnisgesellschaft verfolgt Borth die Frage nach der Differenz »der Grenzverwischung zwischen Marke und Gebrauchswert« (S. 89) sowie der »Unterscheidung zwischen dem Handeln als solchem und der Tatsache, dass gehandelt wird« (S. 89). Im zweiten Teil, Überschreitungen des Körpers, gilt das Interesse vorzüglich den Akten der Verausgabung, die sich am Körper und mittels dessen vollziehen. Zur Verhandlung steht die Frage, wie Phänomene von auf den Körper bezogenen Transgressionen in medialen, literarischen und künstlerischen Auseinandersetzungen zum Ausdruck kommen. Ein Untersuchungsaspekt bilden hierbei die Macht- und Kontrollmechanismen, die auf den Körper einwirken, ihn formen und durch ihn manifest werden. THOMAS WAITZ untersucht in seinem Aufsatz Dicksein. Armut und Medien am Beispiel des Diskurses des so genannten »Unterschichtenfernsehens« (Harald Schmidt), wie mit der Instrumentalisierung des Körpers durch Disziplinartechniken eine Subjektivierung verbunden ist, die »auf Sichtbarmachung und Kontrolle des Individuums durch sich selbst beruht« (S. 109), und wie sich hierbei Effekte einer produktiven Form der Macht herausbilden. Waitz problematisiert, wie und mit welchen Konsequenzen Dicksein gegenwärtig thematisch wird und wie Medien- und Selbsttechniken bei diesem Prozess vor allem in zeitgenössischen Fernsehformaten ineinander greifen. Dem Genre des Sportromans, das sich insbesondere um 1900 großer Popularität erfreut, wendet sich KAI MARCEL SICKS in seinem Beitrag Zu Tode erschöpft zu. Er verfolgt die Narrative der Erschöpfung und der körperlichen Verausgabung, die sich in Texten wie Der Läufer von Marathon nachvollziehen lassen. Dabei verbindet Sicks die Topoi körperlicher Exzesse mit den physiologischen und psychologischen Debatten des frühen 20. Jahrhunderts und eruiert das Bedingungsverhältnis von Überfluss und Verausgabung in den Sportnarrativen der Jahrhundertwende. Auf die ›lebensgefährliche‹ Komponente von Akten der Verausgabung geht auch der Beitrag Sterben im Überfluss von IRINA GRADINARI ein. Gradinari fragt nach den kulturellen Prozessen, die »den Lustmord als Ausdrucksform des Luxus imaginieren« lassen und »als neues Paradigma seit den 1990er Jahren in den Mainstream-Filmen entstehen« (S. 135). Hierfür analysiert sie exemplarisch Eli Roths Film Hostel aus dem Jahr 2005, in dem der Lustmord als Signifikant des Globalisierungsdiskurses erscheint und der die konstitutive Verzahnung von kapitalistischer Ökonomie und Begehren deutlich macht. Den Fokus jenseits gesellschaftspolitischer Deutungsmuster

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setzt VIOLA VAHRSON, die in ihrem Beitrag Verausgabung und Souveränität Momente physischer und psychischer Verausgabung thematisiert, wie sie sich in der Aktionskunst der 1960er und 1970er Jahre finden lassen. Ihrer Auseinandersetzung mit der Performance Light/Dark von Marina Abramović und Ulay liegt die Frage nach dem »symbolischen Wert der Performance« (S. 160) zugrunde, der sich im Wechselspiel von Ordnung und Chaos, Regel und Überschreitung abzeichnet. Der Vergleich mit David Leans Film Lawrence von Arabien, der den Akt der Verausgabung in den Kontext kolonialpolitischer Kalküle stellt, findet seinen Angelpunkt in der Problematisierung der (Un-)Möglichkeiten und der Bedeutung von Souveränität. Der dritte Teil widmet sich der Sprache der Verausgabung und beleuchtet die Positionen jener Verausgabungsprozesse, in denen, wie BERND BLASCHKE in seiner Lektüre von Goethes Faust-Dichtung demonstriert, beispielsweise die Poesie und die in ihr zugrunde liegende Einbildungskraft als »anti-ökonomische Operationen markiert werden« (S. 171). Blaschke exploriert, wie ein ›Poet‹ wie Goethe als Nehmender und Gebender, als Vereinnahmender und Verausgabender Konturen gewinnt. KERSTIN BEYERLEIN wirft ebenfalls ein Schlaglicht auf das literarischee Feld der Dramatik, wenn sie den Prozess der Verausgabung als tertium comparationem zwischen den Theatertexten Valère Novarinas und deren szenischer Realisation verhandelt. Den Hintergrund ihrer Überlegungen bildet die Frage nach »Idee der Ebenbürtigkeit zwischen Text und Aufführung« (S. 192), wie sie die zeitgenössische Rede vom ›postdramatischen Theater‹ (Hans-Thies Lehmann) zur Diskussion stellt. Ausgehend von Novarinas Textverständnis, das den Übergang des schriftlichen Wortes in die gesprochene Sprache metaphorisch als Transformation in einen anderen Aggregatzustand fasst, folgt Beyerlein der Spur, die der Überfluss der Aufzählungen von Hunderten von Namen oder Ausdrücken in Novarinas Texten wie auch die exzessive Schreibarbeit des Autors legen. Ins Blickfeld rücken dabei eine in Text und Aufführung praktizierte »Verausgabung des Symbolischen« (S. 200) und die Literarizität der Theatertexte Novarinas. Um das Literarische als Ort kultureller Erinnerung ist es dem Beitrag von MARION RUTZ zu tun. Rutz geht hier der Frage nach, wie sich in Timur Kibirovs poetischer Collage Durch Abschiedstränen (Skvoz’ proščal’nye slëzy) die sowjetische Kultur in ihrer Vielfalt ausdrückt, und verfolgt die Genese eines Erinnerungs-Textes, der kulturelle Realien insbesondere durch die Strategien und Konstellationen von Überfluss und Überschreitung nachhaltig konservieren könnte. THOMAS ERNST fragt in seinem den Band abschließenden Beitrag nach den Begrenzungen des Textflusses, die das postmoderne Zitieren und Collagieren bereits vorhandener Kunstwerke zu neuen Artefakten kanalisieren, einschränken und verhindern. Er geht dabei davon aus, dass durch das Medium Internet Konzepte von Autorschaft, ohne die das Urheberrecht und das geistige Eigentum nicht denkbar wären, noch problematischer werden. Ernst verweist auf die Autorschaft als historisch und sozial problematische und widersprüchliche Konzeption, die als heterogene Kategorie geschichtlich jeweils neu zu fassen sei.

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Literatur Kraus, Karl (1915): Die Schönheit im Dienste des Kaufmanns. In: Die Fackel, Heft 413–417. Wien, S. 99–106. Sombart, Werner (1913/1992): Liebe, Luxus und Kapitalismus. Über die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der Verschwendung. Berlin: Wagenbach. Weber, Max (1904/1995): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Weber, Max: Schriften zur Soziologie. Stuttgart, S. 315–418 Hacks, Peter (1997): Schöne Wirtschaft. Ästhetisch-ökonomische Fragmente. Frankfurt a. M.: Nautilus.

VERAUSGABUNG, ERSCHÖPFUNG UND ANDERE MÜDIGKEITSZUSTÄNDE. VOM MYTHOS BESTÄNDIGER MISSERNTEN IM WEINBERG DER GEISTESWISSENSCHAFTEN GEORG MEIN Der Kampf gegen einen Feind, dessen Struktur einem unbekannt bleibt, endet früher oder später damit, daß man sich mit ihm identifiziert. Giorgio Agamben

I Der wunderbare Aphorismus von den Zwergen, die auf den Schultern von Riesen sitzen und daher weiter schauen können als diese (vgl. Merton 2004), ist im wissenschaftlichen Diskurs weit verbreitet. Das Gleichnis wird in der Regel so übersetzt, dass jegliche Innovation, wie ambitioniert sie sich auch verkaufen mag, doch stets den Pionierleistungen der Tradition geschuldet bleibt. Negativ formuliert: Egal, wie kleingeistig man sein mag, auf den Schultern von Riesen erfreut man sich doch eines größeren Blickfeldes als diese. Und weil es wenig Sinn macht, solche Abhängigkeit zu leugnen, positionieren sich die folgenden Ausführungen gleich am Anfang auf ziemlich breiten Schultern, indem sie mit einem Zitat von Friedrich Nietzsche aus seinem bekannten Text Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben beginnen: Wollt ihr die Wissenschaft möglichst schnell fördern, so werdet ihr sie euch möglichst schnell vernichten; wie euch die Henne zugrunde geht, die ihr künstlich zum allzuschnellen Eierlegen zwingt. Gut, die Wissenschaft ist in den letzten Jahrzehnten erstaunlich schnell gefördert worden; aber seht euch nun auch die Gelehrten, die erschöpften Hennen an. Es sind wahrhaftig keine »harmonischen« Naturen; nur gackern können sie mehr als je, weil sie öfter Eier legen: freilich sind auch die Eier immer kleiner (obzwar die Bücher immer dicker) geworden. (Nietzsche 1988)

Wenn Nietzsche schon 1874 die wissenschaftlichen Gelehrten als erschöpfte Hennen bezeichnet, stellt sich die Frage, was er wohl im Jahr 2007, dem Jahr der Geisteswissenschaften in Deutschland, zu der gelehrten Zunft gesagt hätte. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat das Thema des vorliegenden Bandes auf den Verfasser sofort einen gewissen Reiz ausgeübt: Verausgaben: Sprechen vom/im Überfluss. Bei diesem Thema, so sollte man meinen, stehen die Chancen gut, dass man hier vielleicht Auskunft über sich und seinesgleichen

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erhält, über die Größe unserer Eier und vor allem über den jeweiligen Erschöpfungs- und Verausgabungszustand. Dass das Sujet der Verausgabung auch und vor allem ein literarischer Topos ist, braucht nicht eigens betont zu werden, weist doch der Werdegang des Helden in aller Regel auch die Insignien der Verausgabung auf. Häufig liegt das eigentliche Geheimnis, die literarische Existenzberechtigung möchte man sagen, gerade darin, die Fülle des Daseins bis auf den letzten Brosamen zu verschleudern, aufzubrauchen, um dann – erschöpft zwar – aber mit der noblen Geste dessen, der weiß, dass er alles gegeben hat, aus dem Diesseits zu scheiden. Adrian Leverkühn etwa, aus Thomas Manns Doktor Faustus, kann nach der erkauften, teuflisch-genialen Zeit von 24 Jahren von sich behaupten: Vielleicht auch siehet Gott an, daß ich das Schwere gesucht und mirs habe sauer werden lassen, vielleicht, vielleicht wird mirs angerechnet und zugute gehalten sein, daß ich mich so befleißigt und alles zähe fertig gemacht – ich kanns nicht sagen und habe nicht Mut, darauf zu hoffen. (Mann 1990: 662)

Symptomatisch ringen auch die Helden Kafkas mit Erschöpfungs- und Verausgabungszuständen, sind bedroht von einer gleichsam existenziellen Müdigkeit, wie etwa der Landvermesser K. im Roman Das Schloß. In Literatur und Kunst sind indes nicht nur die Menschen von der Erschöpfung bedroht; selbst die Götter, die doch aus dem Unendlichen, dem Unerschöpflichen schöpfen, geraten mitunter in eine Position der Leere, des Sinnverlusts, der Verausgabung, wie Wagners Wotan in der Walküre, dem zweiten Teil des vierteiligen Epos Der Ring des Nibelungen. Fahre denn hin, / herrische Pracht, / göttlichen Prunkes / prahlende Schmach! / Zusammen breche / was ich gebaut! / Auf geb’ ich mein Werk, / Nur Eines will ich noch, / Das Ende – – / das Ende! – (Wagner 2004: 120)

Doch wie spricht jemand, der sich verausgabt (hat)? Kann sich nur der verausgaben, der in einer wie auch immer gearteten Position des Überflusses steht? Wäre das Verausgaben dann quasi der Modus des Überflusses? Gleichzeitig aber – und das ist doch zumindest erstaunlich – schreibt man demjenigen, der sich verausgabt hat, einen Mangel zu. Ihm fehlt etwas, dem Langläufer zum Beispiel Kohlenhydrate und Mineralstoffe nach einem Marathonlauf, dem Wissenschaftler vielleicht die Ideen für neue Projekte. Wer sich verausgabt, hat alles aufgebraucht, so jedenfalls definiert das Grimmsche Wörterbuch den reflexiven Gebrauch. Verausgabung meint hier, über das normale Maß hinaus zu investieren, seine Ressourcen angreifen und seine Kapazitäten gänzlich erschöpfen. Es lassen sich somit zwei Assoziationen mit dem Begriff verknüpfen, eine positive und eine negative: Verschwenderisches schöpfen aus dem Überfluss ebenso wie das Ausschöpfen der letzten Reserven.

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II Der Begriff Verausgaben indiziert aber auch, dass es sich um eine Gabe handelt, also um etwas, was gerade nicht getauscht wird, wofür man keinen direkten materiellen oder pekuniären Gegenwert erhält – etwas, was sich dem ökonomischen Kalkül entzieht, es nachgerade subvertiert. Jacques Derrida hat darauf hingewiesen, dass die echte Gabe sich dem zirkulierenden Gestus des Tauschprozesses – der ja auch und vor allem ein zyklischer Prozess in der Zeit ist – notwendig verweigern muss: »Wenn die Figur des Kreises für die Ökonomie wesentlich ist«, schreibt Derrida, »muß die Gabe anökonomisch bleiben.« (Derrida 1993: 17) In seinem Klassiker Essai sur le don aus dem Jahre 1925 analysiert der französische Soziologe und Ethnologe Marcel Mauss die in archaischen Gesellschaften existierende Verpflichtung, auch über den engeren Familienkreis hinaus Geschenke zu machen, sie anzunehmen und zu erwidern. Und natürlich ist es naheliegend, diesen systematischen Austausch von Geschenken als fundamentales Vergesellschaftungsprinzip zu deuten. Mauss schreibt: [I]n vielen […] Kulturen finden Austausch und Verträge in Form von Geschenken statt, die theoretisch freiwillig sind, in Wirklichkeit jedoch immer gegeben und erwidert werden müssen. (Mauss 1990: 17)

Soziale Systeme stellen sich daher für Mauss als Netzwerke von reziproken Verpflichtungen dar, die sich im rituellen Austausch von Gütern und Dienstleistungen realisieren. Anders formuliert: Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen können entweder durch Kriege oder durch Geschenke geregelt werden. Noch einmal Mauss: [I]ndem die Völker die Vernunft dem Gefühl entgegenstellen und den Willen zum Frieden gegenüber plötzlichen Wahnsinnstaten geltend machen, gelingt es ihnen, das Bündnis, die Gabe und den Handel an die Stelle des Kriegs, der Isolierung und der Stagnation zu setzen. (Mauss 1990: 181)

Wo also keine Gaben mehr gegeben werden, weil man sich im wahrsten Sinne des Wortes ›veraus-gabt‹ hat, herrscht latent die Gefahr der Isolierung, der Stagnation, des Krieges. Doch wer kann beständig geben, ohne dass sich die Ressourcen erschöpfen? Man denkt sofort an die Speisung der 5.000 (Matthäus 14.13–20), wo Jesus mit fünf Broten und zwei Fischen fünftausend Männer satt bekam, ohne sich zu verausgaben – denn am Ende blieben noch zwölf Körbe übrig.1 Ganz offensichtlich lässt sich eine Position beständigen Überflusses nur dann konstruieren, wenn man auf messianische Strukturmuster rekurriert. Man kann die Frage aber auch umgekehrt formulieren: Wer nimmt so lange, bis der Geber erschöpft ist? Wo bleibt die Struktur des Ga-

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Der jüdische Witz bewertet das Ereignis freilich anders, indem er einem Rabbiner die Worte in den Mund legt: »Ich zweifle nicht, dass er sie gespeist hat, ich zweifle, dass sie satt geworden sind.«

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bentauschs konsequent einseitig? Wer erwidert nie ein Geschenk? Auch hier fällt die Antwort leicht, es ist – natürlich – der Parasit. Die Geste der Verausgabung oszilliert demnach nicht nur zwischen Fülle und Mangel, sondern auch zwischen einer messianischen und einer parasitären Struktur. Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob sich dieses binäre Muster als beobachtungsleitende Unterscheidung nutzen lässt, um im Jahr der Geisteswissenschaften vielleicht etwas Erhellendes über den Zustand derselben, ihren Ort und ihren Redegestus beispielsweise herauszufinden. Der Begriff der Verausgabung assoziiert ja nicht nur die Logik einer auf beständigen Konsum-Überfluss programmierten, ökonomisch verwalteten Warenwelt und ihrem naturwissenschaftlichen Fortschrittsoptimismus, sondern eben auch ihre Erschöpfungszustände. Verausgabung lässt sich hier vor allem im Sinne einer zunehmenden Abnahme symbolisch starker Codierungen begreifen. Eine Diagnose, die insbesondere mit dem Namen Pierre Legendre verbunden ist, der die Aufgabe der Geisteswissenschaften mit elegischen Worten beschreibt: Es gelte den Zweifel wieder in sein Recht zu setzen und die Anordnung des Nichtwissens zu analysieren, welche die zeitgenössischen Naturwissenschaften im Gefolge führen, denn die Fabrikation des Menschen sei keine Reproduktionsmaschinerie von Genkulturen, so Legendre. »Eine Gesellschaft wird sich niemals ohne Gesang und Musik, Choreografien und Riten, große religiöse oder dichterische Monumente der menschlichen Einsamkeit regieren lassen.« (Legendre 1999: 8 f.) Anders formuliert: Erst die Geisteswissenschaften geben den sprachlosen Naturwissenschaften eine Sprache und damit zugleich der Gesellschaft ein Bewusstsein ihrer selbst. Man könnte auch sagen: Alle Neuerungen (und mehr noch: alle Vergangenheit) werden erst durch ihre Tätigkeit begreifbar und politisch wirksam. An dieser Deutungsmacht liegt es, wenn Geisteswissenschaftler bewundert oder angefeindet werden. (Jessen 2007)

III Zugleich aber wird den geisteswissenschaftlichen Deutungsinstanzen eine gewisse Stagnation und Müdigkeit attestiert. So fasst Thomas E. Schmidt seine Replik auf den Germanistentag 2004 in der Zeit unter der Überschrift Die erschöpften Germanisten zusammen und konstatiert: »Erst warfen sie sich dem Zeitgeist an den Hals, jetzt verkriechen sie sich.« (Schmidt 2004) Und drei Jahre später, anlässlich des Germanistentages in Marburg, konstatiert Oliver Jungen in der FAZ: Weit fataler ist die immense Verunsicherung der Disziplin, zumindest ihres literaturwissenschaftlichen Zweigs. Auf eine erste Sinnkrise nach der Entkopplung von der Philologie hatte man mit einer resoluten Öffnung der Disziplin reagiert, unzählige Paradigmen umarmt – Sozialgeschichte, Mentalitätsgeschichte, Konstruktivismus und Dekonstruktivismus, Gendertheorie, Systemtheorie, Diskursanalyse, Performativitätskonzepte –, sich gänzlich überfordern lassen durch die Pantheorien Kultur-

VERAUSGABUNG, ERSCHÖPFUNG UND ANDERE MÜDIGKEITSZUSTÄNDE | 17 und Medienwissenschaft. Heute muss man feststellen, dass ebendies zum Verlust der eigenen Mitte geführt hat. (Jungen 2007)

Angesichts eines konstanten Überflusses an Diskurs- und Theorieformationen, an Paradigmen und Erlebnisangeboten, so könnte man den Tenor solcher und ähnlicher Bestandsaufnahmen zusammenfassen, fehlt den Geisteswissenschaften schlichtweg die Kraft, ihre Stimme mit der notwendigen, zeitgemäßen Modernität und damit eben auch Autorität auszustatten. Dieser Verlust wird nun von vielen Vertretern der Zunft genau deshalb als ungerecht empfunden, weil man sich eben nicht nur als Reflexionsinstanz sondern auch als Hüter von Kultur ansieht. Wir haben das Spiel erfunden, wir haben alles darin investiert, wir haben uns dabei verausgabt – und jetzt spielen wir nicht mehr mit, weil man unter der Hand die Spielregeln geändert hat. Was ist schief gelaufen? Die melancholische Klage operiert zumeist in konkreter Anlehnung an das bekannte Schillerzitat aus seiner Jenaer Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, wo Schiller das wissenschaftliche Zerrbild des Brodgelehrten skizziert: »Beklagenswerter Mensch«, schreibt Schiller über ihn, »der mit dem edelsten aller Werkzeuge, mit Wissenschaft und Kunst, nichts Höheres will und ausrichtet als der Taglöhner mit dem schlechtesten! der im Reiche der vollkommensten Freiheit eine Sklavenseele mit sich herumträgt!« (Schiller 1962, 751) Wahre Wissenschaft, so müsste man wohl übersetzen, muss in ihrem Kern autonom bleiben, darf sich also nicht von Nützlichkeitserwägungen leiten lassen. Aus der vorgeblich konsequenten Verweigerung eines utilitaristischen Kalküls schreiben sich die Geisteswissenschaften jene spezifische Dysfunktionalität zu, die sie, nicht zuletzt nach wirtschaftspolitischen Kriterien bemessen, doch wohl überflüssig macht. Mit anderen Worten: Der Geisteswissenschaftler sucht exklusives Außenseitertum, indem er – qua Gegenstandsbereich – die Differenz zur Gesellschaft selbst nobilitiert. Dass dieses Modell letztlich eine Überlieferung der akademischen Kämpfe des ausklingenden 19. Jahrhunderts ist, einer Situation also, die nur bedingt auf die Gegenwart appliziert werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Doch gerade im Kontext der Diskussionen rund um den Bologna-Prozess knüpfen viele Geisteswissenschaftler zur Schärfung und Legitimation der eigenen Position wieder an die geläufigen diltheyschen Topoi an. »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir« (Dilthey 1957: 144), heißt es bei Dilthey kurz und bündig. Während Zusammenhänge in den Naturwissenschaften nach einem Ursache-Wirkung-Schema und mithilfe von abstrakten Begriffen erfasst würden, ließen sich Zusammenhänge in der geistigen Welt nur durch einen lebendigen Nachvollzug herstellen. Der Nachvollzug erweist sich dabei als eine Form der Rückübersetzung bzw. der Rückführung von Erscheinungen der historisch-sozialen Menschenwelt auf ihre geistigen Ursprünge. Diese Rückführung ist möglich, weil das erkennende Subjekt selbst Teil dieser Erscheinungswelt ist. Dilthey macht dies am Beispiel der Geschichtswissenschaft deutlich: »Die erste Bedingung für die Möglichkeit der Geschichtswissenschaft liegt darin, daß ich selbst ein geschichtliches Wesen bin, daß der welcher die Geschichte erforscht, derselbe ist, der die Geschichte macht« (Dilthey 1958: 278). Allgemeiner formuliert

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kann man sagen, dass der Mensch, insofern er anthropologisch bestimmt ist, zumindest theoretisch einen Zugang zu allen menschlichen Lebens- und Erscheinungsformen finden kann. Erst aufgrund dieser strukturellen Gleichartigkeit von erkennendem Subjekt und seinem Gegenstand wird Erkenntnis überhaupt möglich: »Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er«, stellt Dilthey apodiktisch fest (Dilthey 1958: 148). Dieses wirkungsmächtige Theorem hat den entscheidenden Vorteil, dass es über eine nachgerade anthropologische Evidenz und damit über ein ungeheures Suggestions- und Sinnstiftungspotenzial verfügt. Es scheidet nicht nur das eine (die Naturwissenschaften) vom anderen (den Geisteswissenschaften), sondern authentifiziert die wahren Arbeiter im Weinberg des Herrn und auratisiert sie auf diese Weise nachhaltig.

IV Überblickt man die historische Entwicklung, so fallen die Legitimationskrisen der Geisteswissenschaften jeweils auffällig zusammen mit Phasen verstärkter Zweckrationalität. Immer dann, wenn nach dem Praxisbezug der Wissenschaften gefragt wird, wenn ihr Beitrag für politische, soziale und ökonomische Ansprüche geprüft und über ihre Anwendungsorientierung gestritten wird, sehen sich die Geisteswissenschaften direkt genötigt, ihre Daseinsberechtigung zu verteidigen (vgl. Frühwald 1991: 85). Denn in einer Gesellschaft, die ihre Zuflucht primär in technologischem Fortschritt und wirtschaftlicher Expansion sucht, in der Menschen als Humanressourcen definiert werden und dies alles durch die vorgeblichen Zwänge der Globalisierung legitimiert wird, muten die Geisteswissenschaften schon per definitionem anachronistisch an (vgl. Mein 2004). Und eben dieser Anachronismusvorwurf ist auch Ausgangspunkt für fachinterne Diskussionen darüber, ob man sich unter dem »Akzeptanzangebot der Stunde«, dem Oktroy aktueller Dysfunktionalität beugen und seine Gegenstände, Fragestellungen und Aufgaben gemäß den von außen angetragenen zweckrationalen Verwendungsansprüchen zurichten solle (vgl. Förster & Neuland 1989: 7). Hans Ulrich Gumbrecht spricht mit Blick auf solche Argumentationsmuster allerdings von einer regelrechten »Paranoia« die insbesondere die philologischen und philosophischen Fächer befallen habe, und er fragt: Warum tragen wir solche Unmengen von Material zu einem Diskurs bei, der mit zunehmender Lautstärke offenbar immer schlimmer wird? Vielleicht besteht das Problem zumindest teilweise darin, daß es gar kein echtes Problem gibt. Ständig setzen wir uns »gegen« staatliche Verwaltung und »gegen« eine Öffentlichkeit zur Wehr, die eigentlich nicht unsere Feinde sind, denn sie beabsichtigen überhaupt nicht, unsere Größe oder unsere Bedeutung ernsthaft zu beschneiden. Vielmehr sind sie, was doch irgendwie grotesk ist, eifrig darauf bedacht, allen Argumenten zuzustimmen, die wir zu unseren eigenen Gunsten vorbringen. (Gumbrecht 2003: 111)

Vielleicht also funktioniert das alte Schema zweckfreie Wissenschaft auf der einen versus neokonservative Verwertungsfetischisten auf der anderen Seite

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überhaupt nicht mehr. Denn bei Licht betrachtet sieht eigentlich niemand die Geisteswissenschaften in der Rolle einer parasitären Zecke im Fell der Leistungsgesellschaft. Und wahrscheinlich braucht man die Unvermeidbarkeit der Geisteswissenschaften auch nicht mehr aus dem Selbstaufklärungsbedürfnissen von Gesellschaften ableiten. Denn bei Licht betrachtet sind die Geisteswissenschaften schon auf allen Ebenen marktförmig geworden. Längst haben sie den Schulterschluss mit dem hochprofitablen Wirtschaftszweig namens ›Kulturindustrie‹ vollzogen und ihre neuen BA und MA-Studiengänge auf deren vermeintliche Bedürfnisse und Anforderungen zugerichtet. Dies geschieht nicht ohne Grund. So rechnet der Soziologe Harald Welzer in seinem Feuilleton-Artikel Schluss mit nutzlos! vor, dass in Deutschland allein die Kulturwirtschaft – also Galerien, Agenturen, Verlage, Theater et cetera – eine jährliche Wertschöpfung von 35 Milliarden Euro erzeugt, »womit sich dieser volkswirtschaftliche Sektor knapp vor der Software-Industrie und knapp hinter der Energiewirtschaft einreiht« (Welzer 2007). Nun könnte man dies noch mit einem Achselzucken zur Kenntnis nehmen und darauf verweisen, dass man doch auf der Ebene von Forschung und Lehre dem utilitaristischen Kalkül erfolgreich widerstehe. Allerdings spricht die Eilfertigkeit, mit der die Geisteswissenschaften den Bologna-Prozess nutzten, um ihr ergrautes Antlitz in den diversen Spielarten der Kultur- und Medienwissenschaften zu verjüngen, eine ganz andere Sprache. Die Technik mittels derer solche Studiengänge in den Geisteswissenschaften konzipiert werden, lässt sich wie folgt beschreiben: Zuerst wird unter Absingen von Hymnen auf die Interdisziplinarität ein altes Gebiet aufgespalten. Dann werden die Spaltprodukte mit Worten wie »Kommunikation« […] »Medien« […] »Kultur« [und neuerdings auch »Europa«] wieder angereichert, um schließlich als Ausbildungsgänge für phantastische Karrieren offeriert zu werden. (Kaube 2002: 37)

Dabei scheint vor allem die programmatische Unschärfe dieser Begriffe attraktiv zu sein, denn die frei flottierenden Theorieansätze, die mit Medien, Kultur oder Kommunikation assoziiert sind, zeichnet zudem aus, dass sie in aller Regel kaum aufeinander Bezug nehmen. Auf der Ebene der Forschung sieht es häufig nicht viel besser aus – hier heißen die Zauberworte international und vor allem interdisziplinär. Allerdings muss, wer forciert auf Interdisziplinarität setzt, zunächst einmal klären, was die eigene Disziplinarität ausmacht. Denn allzu oft wird doch übersehen, dass zwischen den Disziplinen nicht nur die Macht des besseren Arguments herrscht, sondern auch eine Konkurrenz regiert, die sich nicht nur auf materielle Ressourcenverteilung beschränkt (vgl. Wegmann 1994: 336). Ungeachtete dessen sind fach- und grenzüberschreitende Kooperationen zu europäischen Themen momentan besonders gefragt. Wenn beispielsweise Soziologen, Romanisten, Germanisten und Politologen aus Trier, Luxemburg, Metz und Liège über Sprachwandelprozesse als Folge zunehmender Arbeitsmigration im europäischen Binnenmarkt und ihre Auswirkungen auf mediale Integrationsangebote forschen wollten, dann hätte dieser Antrag mit ziemlicher Sicherheit die allerbesten Chancen … Was damit zum Ausdruck

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gebracht werden soll, ist Folgendes: Längst haben sich die Geisteswissenschaften den Marktmechanismen ausgeliefert und in einem Maße dem Mainstream an den Hals geworfen, dass die Diskussion über ihre Nützlichkeit einen seltsamen Beigeschmack bekommen hat. Der Kardinalfehler lag darin, sich überhaupt auf diese Diskussion einzulassen und der Kategorie des Nutzens somit schon durch die Geste der Ablehnung eine wie auch immer geartete Relevanz zuzusprechen. Georges Bataille hat es in seinem Essay Der Begriff der Verausgabung auf den Punkt gebracht: Jedesmal, wenn der Sinn einer Diskussion von dem grundlegenden Wert des Begriffs nützlich abhängt, das heißt jedes Mal, wenn wichtige Probleme der menschlichen Gesellschaft behandelt werden, kann man sagen, daß eine solche Diskussion grundsätzlich verfehlt ist und die entscheidende Frage umgangen wird, ganz gleich, wer sich dazu zu Wort meldet und welche Meinungen dabei vertreten werden. (Bataille 2001: 9)

Diese symptomatische Verzerrung des Diskurses hat ihren Grund vor allem darin, dass zum einen die Kategorie des Nutzens viel zu tief in unserer Semantik verwurzelt ist, als dass man ohne weiteres auf sie verzichten könnten, zum anderen aber der Schluss vom individuellen auf den allgemeinen Nutzen zwar äußerst beliebt aber in hohem Maße problematisch ist. Wer also vom gesellschaftlichen Nutzen spricht, muss, bei vollständiger Neutralität gegenüber der eigenen Interessenlage, ein wie auch immer geartetes, abstraktes Allgemeinbewusstsein als hypothetische Summe aller Individualbewusstseins konstruieren. Das funktioniert in der Praxis natürlich nur unzureichend und ist in der bis heute andauernden Diskussion um eine utilitaristische Ethik in der Nachfolge von Jeremy Bentham und John Stuart Mill erschöpfend reflektiert worden. Für die Geisteswissenschaften lässt sich somit ein paradoxer Befund formulieren: Je mehr sie sich nützlich machen, desto mehr verlieren sie an Wert (vgl. Seel 2007). Dies liegt vor allem daran, dass die Geisteswissenschaften, wie Martin Seel betont, eine denkende Betrachtung historischer Lebensverhältnisse vollziehen, »deren vorrangiges Ziel ein gesteigertes Bewusstsein der Möglichkeiten menschlicher Orientierung ist« (Seel 2007). Diese Orientierung über unsere Orientierungen wird indes verfehlt, zurrt man die Geisteswissenschaften auf diesen oder jenen konkreten Zweck fest. Schon Immanuel Kant hat in seiner letzten von ihm veröffentlichten Schrift Der Streit der Fakultäten aus dem Jahre 1797 das Spannungsverhältnis von zweckrationaler Berufsausbildung und vernunftgeleiteten Bildungsbemühungen aufgezeigt. Das Problem, das Kant in erster Linie beschäftigte, war die herkömmliche Hierarchie der Universität, derzufolge die philosophische Fakultät als die untere galt, wohingegen die theologische, juristische und medizinische Fakultät als die oberen Fakultäten bezeichnet wurden. Da die Regierung sich nach Kants Auffassung am meisten dafür interessiert, was ihr den »stärksten und daurendsten Einfluß auf das Volk verschafft« (Kant 1996: 281), behält sie sich folgerichtig auch das Recht vor, die Gegenstände der oberen Fakultäten zu sanktionieren, die somit von ihr abhängig bleiben. Kant gelangt daher zu der berühmten Forderung, dass es in der Republik der Ge-

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lehrten zumindest eine Fakultät geben müsse, welche, »in Ansehung ihrer Lehren vom Befehle der Regierung unabhängig, keine Befehle zu geben, aber doch alle zu beurteilen, die Freiheit habe« (Kant 1996: 282). Eine Fakultät also, die ihre Lehren nicht aus der Bibel, dem Landrecht und der Medizinalordnung, sondern aus der »Vernunft des gelehrten Volkes« schöpft und deren Zweck nicht, wie bei den oberen Fakultäten, die Nützlichkeit, sondern die Wahrheit ist.2 Mit Blick auf die ganze Diskussion um den vermeintlichen Nutzen der Geisteswissenschaften soll an dieser Stelle daher eine alternative Argumentation vorgeschlagen und das utilitaristische Kalkül sowie die daraus resultierende, ökonomische Logik von Geben und Nehmen ganz grundsätzlich infrage gestellt werden. Zu diesem Zweck wird noch einmal auf die spezielle Struktur des Gabentauschs bei Marcel Mauss rekurriert.

V Im Zentrum seines Essai sur le don steht eine archaische Form des rituellen Tausches, die bei den Indianern des amerikanischen Nordwestens verbreitet war und von ihnen als Potlatsch bezeichnet wurde. Den Potlatsch kann man vielleicht am besten als ein Fest des Schenkens beschreiben, das ein Stammeshäuptling z. B. anlässlich der Geburt des ersten Sohnes abhielt und das durch drei Komponenten reglementiert wird: die Pflicht des Gebens, die Pflicht des Nehmens und die Pflicht des Erwiderns. Mauss beschreibt den Potlatsch als ein System der totalen Leistungen, das seine Teilnehmer in ein agonistisches, also in ein wettkampfähnliches Verhältnis zueinander setzt. Totale Leistung meint, dass es sich bei dem, was ausgetauscht wird, nicht ausschließlich um Güter und Reichtümer, bewegliche und unbewegliche Habe und wirtschaftlich nützliche Dinge handelt. Vor allem mit Blick auf Höflichkeiten, Festessen, Rituale, Militärdienste, Frauen, Kinder, Tanz, Feste und Märkte kann man sagen, dass Handel und Zirkulation von Gütern nur ein Moment bzw. nur eine Seite eines weit umfassenderen Gesellschaftsvertrags darstellen – Gesellschaftsspiel sollte man vielleicht sagen, denn im Mittelpunkt steht natürlich der Prestige-Gewinn. Ziel ist es, den Rivalen durch die Schenkung beträchtlicher Werte bewusst zu demütigen, weil dieser sich jetzt mit einem größeren Geschenk revanchieren muss. Das zentrale Moment des Potlatsch ist somit nicht der ökonomische Erwerb, sondern vielmehr »eine Form der Souveränität, die sich in dem Verhältnis des Menschen zu den Dingen ausdrückt, die dem Tausch unterworfen bleiben« (Geisenhanslüke 2005: 70).3 2

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Worum es Kant im Streit der Fakultäten im Kern geht, ist die Entwicklung eines modernen, liberalen und effizienten Diskurs-Modells einer künftigen Universität. Er wollte »weder eine bloß fiktive Gelehrtenorganisation entwerfen noch die historisch gewordene Universität kopieren, sondern eine ›Idee‹ der Universität […] begründen, in der sich die existierenden Universitäten wiedererkennen lassen und der sie angepaßt werden können und sollen.« (Brandt 1987: 33). Mauss schreibt zu den sozialen und weiteren Funktionen des Potlatsch: »In diesen […] ›totalen‹ gesellschaftlichen Phänomenen kommen alle Arten von Institutionen gleichzei-

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Nun könnte man argumentieren, dass diese archaische Form des Gabentauschs eigentlich gar nicht so weit vom ökonomischen Kalkül moderner Industriegesellschaften entfernt ist, da ja die Teilnehmer des Potlatsch damit rechnen können, dass der momentanen Herausgabe ihrer Güter stets eine Erwiderung folgt, welche die Negativ-Bilanz mehr ausgleichen wird. Anders formuliert: Kann man eine Gabe im emphatischen Sinne des Wortes wirklich tauschen? Wird die Gabe dann nicht zur ›Leih-Gabe‹, weil doch immer schon auf die ›Rück-Gabe‹ spekuliert wird? (Vgl. Derrida 1993: 54 ff.) Ist der Begriff Gabentausch, den Mauss relativ unbekümmert als zentrale Eigenschaft des Potlatsch ausmacht, also in Wahrheit ein Oxymeron? Dieser Einwand würde zutreffen, gäbe es nicht noch eine weitere Variante des Potlatsch, die darauf abzielt, seinen Rivalen durch eine Aufsehen erregende Vernichtung von Reichtümern zu demütigen. In regelrechten Vernichtungsorgien werden Kupferbarren und Münzen von beträchtlichem Wert im Meer versenkt, Schiffe zerstört, ganze Dörfer niedergebrannt, Hundemeuten und sogar Sklaven getötet. Es ist genau dieser verschwenderische Aspekt, dieses Moment ostentativer Verausgabung, das Georges Bataille zu seiner Allgemeinen Ökonomie und in deren Rahmen zu seiner Theorie der Verausgabung inspiriert hat. Den gängigen ökonomischen Modellen wirft Bataille vor, sich lediglich auf den Aspekt der Akkumulation von Ressourcen zu konzentrieren und dabei die ebenso essentielle Frage, wie diese Ressourcen tatsächlich verbraucht werden könnten, mehr oder minder auszublenden. Das klingt zunächst paradox, allerdings setzt Bataille den Begriff der Ökonomie auch nicht erst beim Handel von Gütern an, sondern sehr viel basaler, wie das folgende Zitat deutlich macht: Ich gehe von einer elementaren Tatsache aus: Der lebende Organismus erhält, dank des Kräftespiels der Energie auf der Erdoberfläche, grundsätzlich mehr Energie, als zur Erhaltung des Lebens notwendig ist. Die überschüssige Energie (der Reichtum) kann zum Wachstum eines Systems (zum Beispiel eines Organismus) verwendet werden. Wenn das System jedoch nicht mehr wachsen und der Energieüberschuß nicht gänzlich vom Wachstum absorbiert werden kann, muß er notwendig ohne Gewinn verloren gehen und verschwendet werden, willentlich oder nicht, in glorioser oder in katastrophischer Form. […] Daß man schließlich die Energie, die den Reichtum ausmacht, ohne Berechnung (ohne Gegenleistung) ausgeben muß, daß so manche gewinnversprechenden Tätigkeiten eindeutig keinen anderen Effekt haben als die nutzlose Vergeudung der Gewinne, das ist es, was alle zurückweisen, die in der Entwicklung der Produktivkräfte den idealen Zweck der menschlichen Tätigkeit sehen. Wer behauptet, es sei notwendig, einen beträchtlichen Teil der nutzbar gemachten Energie in Rauch aufgehen zu lassen, der verstößt gegen die Auffassungen, die einer rationalen Ökonomie zugrunde liegen. (Bataille 2001: 45)

tig und mit einem Schlag zum Ausdruck: religiöse, rechtliche und moralische – sie betreffen Politik und Familie zugleich; ökonomische – diese setzen besondere Formen der Produktion und Konsumation oder vielmehr der Leistung und Verteilung voraus; ganz zu schweigen von den ästhetischen Phänomenen, in welche jene Tatsachen münden, und den morphologischen Phänomenen, die sich in diesen Institutionen offenbaren« (Mauss 1990: 17).

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Man kann hinter diesem Modell, das auf der Notwendigkeit der Energieverschwendung insistiert, umrisshaft Freuds Gedanken der Spannungsreduktion erkennen, demzufolge auch der psychische Apparat die in ihm zirkulierende Triebenergie möglichst vollständig zu reduzieren trachtet (vgl. dazu Wiechens 1995: 32). Bataille geht es nun aber nicht nur um den psychischen Apparat, sondern um einen sehr viel umfassenderen Ansatz, der ausgehend von den kosmischen Energieumläufen auf der Erde eine »Totalperspektive des Lebens« entwickelt. Insbesondere das Moment der notwendigen Verausgabung, der Verschwendung von Energie sucht er für die klassische Ökonomie fruchtbar zu machen, was eine »Umkehrung aller ökonomischen Grundsätze« erfordere – ein Vorhaben, das er selbst als »kopernikanische Wende« (Bataille 2001: 50) bezeichnet. Und in der Tat zielt die klassische Ökonomie eher auf wirtschaftliche Ausgaben, Effektivitätssteigerung, Energieeinsparung, zielgerichteten Ressourceneinsatz, Gewinnmaximierung und Akkumulation von Reichtum. Gleichzeitig gerät auf diese Weise auch die Ebene der Konsumtion von erwirtschafteten Gütern unter das Diktat der Nützlichkeit. Unproduktive Verausgabung wird in unserer Gesellschaft in der Regel ausgeschlossen. Das Prinzip des beständigen Überschusses an Energie gilt allerdings auch für das Wirtschaftssystem, wäre dies nicht so, hätte es sich längst ad absurdum geführt. Gleichzeitig erlangt man Ruhm und Ehre nicht durch das bloße Anhäufen von Reichtümern, sondern allein durch ihre Verschwendung. Die Frage ist also nicht, ob wir verschwenden wollen, sondern nur wie. Die Möglichkeiten sind tendenziell unbegrenzt: Luxus, Kriege, Kulte, Sex oder eben: Kunst. Dabei stehen wir nach Bataille am Scheideweg der Kultur: Entweder verwendet man den größten Teil der verfügbaren Ressourcen – und also auch der verfügbaren Arbeitskraft – dazu, neue Produktionsmittel herzustellen, was der Logik kapitalistischer Ökonomie entsprechen würde; oder aber man vergeudet den Überschuss und hat die Ökonomie des Festes. Im ersten Fall ist der menschliche Wert eine Funktion der Produktivität [eine Humanressource]; im zweiten verbindet er sich mit den schönsten Errungenschaften der Kunst, mit der Poesie, mit der vollen Entfaltung des menschlichen Lebens. (Bataille 2001: 299)

Gelingt es nicht, die überschüssigen Ressourcen aktiv zu verausgaben, so werden sie sich früher oder später passiv entladen: in Arbeitslosigkeit und Kriegen beispielsweise. Mit Blick auf die Frage nach dem Nutzen der Geisteswissenschaften steht damit die Antwort klar vor Augen: Sie lässt sich nur im Horizont einer Allgemeinen Ökonomie sinnvoll beantworten, und zwar im Sinne einer notwendigen, aktiven Verausgabung. Wie aber lässt sich diese Ökonomie des Festes, die als Logik der Verausgabung mit den Gegenständen der Kunst und Poesie assoziiert ist, auf die Ebene der Reflexionsinstanzen, also etwa der Geisteswissenschaften, applizieren? Um diese Frage zu beantworten muss noch einmal auf die Unterscheidung zwischen einem messianischen und einem parasitären Gestus eingegangen werden, in deren Spannungsfeld die Figur der Verausgabung positioniert wurde. Die Theorie sucht sich als Stimme gemeinhin eher in der

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Nähe des Messianischen zu positionieren – das hat eine lange Tradition, die nicht erst bei Paulus Römerbriefen einsetzt, sondern sich bis in die griechische Antike nachweisen lässt. Allerdings kann es durchaus unbequem sein, den Messias ständig im Rücken zu haben – »ihn aber stets vor sich zu haben, kann sich als ebenso unbequem erweisen« (Agamben 2006: 11), hat Giorgio Agamben zu Recht bemerkt. Daher soll hier der umgekehrte Weg eingeschlagen werden, indem beim negativen Gegenpol des Messianischen, beim Parasiten angesetzt wird. Dabei war die ursprüngliche Bedeutung des griechischen parasitos nicht notwendig pejorativ. Als eingeladener Tischgast ist der parasitos zunächst ein Mitessender im besten Sinne, und in diesem Sinne wären alle Gäste Parasiten. Seit Michel Serres’ trockener Studie über den Parasiten ist bekannt, dass dem Parasiten eine durchaus positive Funktion zugesprochen werden kann: Als Auslöser momentaner Inkonsistenzen bewirkt er einen Lernfortschritt im System und kann somit die Ursache von (überfälligen) Verhaltensmodifikationen, Richtungswechseln und Neuformierungen sein. In verkrusteten Strukturen wäre der Parasit gleichsam das infizierende Initiationsmoment für kathartische Effekte. Mit anderen Worten: Parasiten erzeugen Asymmetrien, und der Trick wäre, diese als Chance zu begreifen: »Die neue Ordnung erscheint durch den Parasiten, der die Nachricht stört«, schreibt Serres (Serres 1987: 283). Sein innovatives Potenzial blitzt dort auf, wo der Parasit die alte Reihe und die gewohnte Botschaft verwirrt und eine neue komponiert.4 Sucht man diese Theoriefigur nun für den hier verhandelten Problemzusammenhang fruchtbar zu machen, so dürfte der nächste Argumentationsschritt unmittelbar einleuchten: Es geht darum, die ursprüngliche und das heißt kathartische Funktion der Geisteswissenschaft wieder stark zu machen, indem sie sich auf ihre parasitäre Kraft besinnt. Nicht umsonst schließt Niklas Luhmann, wenn er über die Figur des Beobachters als die des ausgeschlossenen Dritten seiner Beobachtung nachdenkt, direkt an Michel Serres’ Theorie des Parasiten an (vgl. Luhmann 1998: 69). Der Beobachter ist selbst in der Rolle des Parasiten, er lebt von seiner Unterscheidung. Wir brauchen aber unsere spezifische Beobachtungslogik – die Beobachtungslogik der Geisteswissenschaften – nicht nur deshalb so notwendig, um den bornierten Anspruch des neoliberalistischen Kalküls als Verblendungszusammenhang zu entlarven, sondern vor allem auch deshalb, um den Teilnehmern des großen Spiels, das wir Gesellschaft nennen, in einer ostentativen Geste etwas von dem Überfluss an aufgestauter Energie zurückzugeben. Der Anachronismusvorwurf, der immer wieder an die Geisteswissenschaften herangetragen wird, läst sich dann als Kompliment begreifen, nämlich als notwendige Verausgabung von Ressourcen – insbesondere der Ressource Zeit – für die zweckfreie Auseinandersetzung mit nur vermeintlich ›alten‹ Texten und Theorien.5 Denn in erster Linie, so Georges Bataille, habe 4

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Nicht umsonst sucht Jacques Derrida dieses Potenzial des Parasiten medial zu reformulieren, wenn er in Signatur Ereignis Kontext darauf hinweist, dass insbesondere die Schrift von der philosophischen Tradition stets als Parasit behandelt worden ist (vgl. Derrida 1999: 345). Schon Nietzsche setzte der »unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit« seiner Zeit, die »mit Allem gleich ›fertig werden‹ will« die »Goldschmiedkunst und -kennerschaft

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der Mensch die Aufgabe, ruhmvoll zu verausgaben, was die Erde anhäuft, was die Sonne verschwendet. In erster Linie ist er ein Lachender, ein Tanzender, ein Festgeber. Diese Sprache ist eindeutig die einzig seriöse. […] Die menschliche Natur ist von vornherein auf gewaltige Freigaben von Energie eingestellt. Die, die dessen inne werden, sollten sich diesen Freigaben zuwenden. (Bataille 2001: 298)

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ÖKONOMIE DER VERGEUDUNG. DIE FIGUR DES VERAUSGABENS BEI GEORGES BATAILLE OLIVER RUF Die reine Verausgabung […] hat bereits damit begonnen, die Präsenz des Präsenten aufbewahren zu wollen. Jacques Derrida

I Die Vergeudung, die Verschwendung im Überfluss, ein Zustand, in dem alle Bedarfsartikel überreichlich vorhanden sind, ist ein Konzept der ökonomischen Ordnung. Georges Bataille, für dessen Denken nicht nur in diesem Zusammenhang der Begriff der Überschreitung eine zentrale Rolle spielt1, hat in den Schriften La notion de dépense (1933), L’économie à la mesure de l’univers (1946) und La part maudite (1949) ihre spezifische Dynamik durch die Entwicklung einer Allgemeinen Ökonomie aufgezeigt.2 Dabei bildet die Figur des Verausgabens einen konstanten Bezugspunkt der Ausführungen Batailles, wenngleich sein Name als Inspirationsquelle auf die im Umkreis des französischen Strukturalismus entstandenen, neueren Denkströmungen (seien sie poststrukturalistisch, dekonstruktivistisch oder postmodernistisch motiviert3) auch abseits ökonomisch perspektivierter Fragestellungen auffallend häufig fällt. Die Auseinandersetzung mit Batailles Werk allerdings auf eine solche, einseitige Rezeption zu reduzieren, greift zu kurz und würde – so auch Michael Richardson (1994: 3ff.) – sein Denken allein unter einem verkürzenden, partikularen Blickwinkel zur Geltung bringen. Auch deshalb erscheint es mir angebracht, im vorliegenden Beitrag einen Hinweis von Andreas Hetzel und Peter Wiechens (1999b: 10) aufzugreifen, die angemerkt haben, dass sich Batailles Philosophie gerade für kulturwissenschaftlich ori-

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Bataille führt aus: »Die Überschreitung zur Grundlage der Philosophie zu machen (das ist das Unterfangen meines Denkens), heißt, die Sprache durch eine schweigende Kontemplation ersetzen. Es ist die Kontemplation des Seins auf dem Gipfel des Seins. Die Sprache ist keineswegs verschwunden. Wäre der Gipfel zugänglich, wenn der Diskurs nicht die Zugänge erschlossen hätte? Aber die Sprache, die sie beschrieb, hat im entscheidenden Augenblick keinen Sinn mehr, wenn die Überschreitung selbst, als Bewegung, an die Stelle der diskursiven Darstellung der Überschreitung tritt.« (Bataille 1994: 266 f.) Ich zitiere die genannten Arbeiten nach der deutschen Übersetzung, die alle drei Texte unter dem Titel Die Aufhebung der Ökonomie in einem Band versammelt, mit den Siglen BV (= Der Begriff der Verausgabung), VT (= Der verfemte Teil) und ÖRU (= Die Ökonomie im Rahmen des Universums). Einführend in Batailles Denken sind u. a. Mattheus 1984; Wiechens 1995; Scholz 2008. Insbesondere Michel Foucault und Jacques Derrida haben auf Bataille in diesem Zusammenhang rekurriert. Vgl. Foucault 1987; Derrida 1976.

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entierte Untersuchungen lohnen dürfte.4 Da aber Bataille keine Standpunkte formuliert, die sich als Positionen beziehen ließen, sondern ein »fließendes, gleitendes, sich nicht zuletzt selbst permanent überschreitendes Denken« (Hetzel & Wiechens 1999b: 10) hinterlassen hat, erachte ich es als opportun, über De- und Rekontextualisierungen, vor allem aber über close readings neuralgische Punkte herauszuarbeiten, an denen die für Bataille so wichtige Verausgabung zum Thema wird. Es geht in meiner Lektüre mithin nicht darum, Verausgabung als fest stehenden Begriff zu definieren; vielmehr soll im Folgenden den sich bei Bataille abzeichnenden Argumentationsmustern, Topoi und Metaphern nachgegangen werden, die die Divergenzen um Überfluss und Überschreitung, wie sie sich in diesem Zusammenhang bewähren, als Variationen einer wiederkehrenden Konstellation erkennbar werden lassen. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass eine Darstellung von Batailles Kerngedanken mit den Ideen des Collège de Sociologie gedacht werden sollte5, die, nach Stephan Moebius (2006: 3250), sich u. a. darauf konzentrierten, kollektive Repräsentationen eines bipolaren Sakralen und vor allem Praktiken der Verausgabung zu untersuchen. Jene können mit einer Theorie des Festes in Verbindung gebracht werden, da eine sakrale Verausgabung, die zu kollektiver Efferveszenz und damit zur Erneuerung sozialer Bindungen führt, in nahezu allen Kulturen jenes denn auch darstellt. Das Sakrale steht hier für die affektgeladenen und Grenzen überschreitenden Bereiche des Lebens, mit denen die Menschen neben den rationalen Bereichen ihre sozialen Beziehungen herstellen, verändern und vertiefen; es zeigt sich etwa in Symbolisierungen des Todes oder der Träume, in der unproduktiven Verschwendung, in kollektiven Verausgabungen und anderen Schwellenübergängen (vgl. Moebius 2006: 3251). Die Erforschung des Sakralen verband sich am Collège de Sociologie also mit der Analyse von Verausgabungen und allgemein mit den Arbeiten von Marcel Mauss (vgl. Moebius 2006: 3253).6 In dessen Essay über die Gabe, auf den noch zurück zu kommen sein wird, analysiert dieser das Phänomen des intertribalen Gabentauschs, bei dem Geschenke, Rituale, Festessen etc. in Form von Geschenken getauscht werden, wobei die freiwillige Gabe immer auch eine verpflichtende Wirkung hat und erwidert werden muss (vgl. Mauss 1999: 17). Beim Gabentausch handelt es sich um etwas, was Mauss in Rekurs auf die Tradition nordamerikanischer Indianer-Völker Potlatsch nennt, eine Konstellation, in der Rivalität und Antagonismen vorherrschen, die bis zum offenen Kampf und zu Tötungen führen können, und bei der man »bis zur rein verschwenderischen Zerstörung der angehäuften Reichtümer« (Mauss 1999: 24) geht. Auf diesen Aspekt weist Bataille in seiner Theorie der Verausgabung hin, gleichwohl er eine andere Stoßrichtung als Mauss favorisiert. Während für letztgenannten der verschwenderische, risikofreudige und luxuriöse Gabentausch mit dem Interesse nach Prestige und symbolischer Macht 4 5 6

Vgl. dazu auch die Ausführungen von Georg Mein im vorliegenden Band. Siehe dazu u. a. auch Hollier 1995; Moebius 2005. Roger Caillois hat zum Beispiel angemerkt: »Niemand war so berufen wie Marcel Mauss, ein Buch über das Heilige zu schreiben. Jedermann ist davon überzeugt, daß ein solches Buch für lange Zeit das Buch über das Heilige gewesen wäre. Man zögert, sich dieser Aufgabe an seiner Stelle zu unterziehen.« (Caillois 1988: 14)

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verknüpft ist, theoretisiert erstgenannter die Verausgabung weitestgehend als interessenlose Beschäftigung und als eine Form der Selbstüberschreitung. Die Auseinandersetzung mit einer Ökonomie der Vergeudung im Sinne Batailles bildet den Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags, der die große Leistung von Batailles ökonomischem Werk in seinem kritischen Beitrag zu einer »Archäologie der Wirtschaftsformen und des ökonomischen Denkens« (Wex 1999: 210) sieht.

II Womit wird Batailles Begriffsbestimmung der Verausgabung angestoßen? Man könnte lapidar sagen: mit einer Auseinandersetzung, die sich an der »Unzulänglichkeit des klassischen Nützlichkeitsprinzips« stört, d.h. an dem Mangel des »Prinzips angeblich materiellen Nutzens« (BV: 9), der sich reduzieren lässt einerseits auf die Erwerbung bzw. Produktion und Erhaltung von Gütern, anderseits auf die Fortpflanzung und Erhaltung von Menschenleben. Bataille widerstrebt es, dass (aus seiner Sicht) jedes Urteil über eine soziale Tätigkeit stillschweigend davon ausgeht, dass der Einsatz nur dann einen Wert hat, wenn er auf die grundlegenden Erfordernisse von Produktion und Erhaltung zurückführbar ist, und dass dadurch »die Lust« – sei es in Form von Kunst, Ausschweifung oder Spiel – in den geläufigen Vorstellungen als bloßes Zugeständnis betrachtet wird, als »Entspannung, die unterstützend hinzutritt« (BV: 10). Bataille spaltet die Auffassung von ›Nützlichkeit‹ auf, er dissoziiert sie in den Widerspruch zwischen den geläufigen Auffassungen und den wirklichen Bedürfnissen der Gesellschaft. Man könne daher die historische Notwendigkeit von verschwommenen und enttäuschenden Vorstellungen zum Nutzen der Mehrheit annehmen, da der Einzelne unfähig sei, sein Verhalten als nützlich zu rechtfertigen, und gar nicht auf die Idee komme, dass die menschliche Gesellschaft ebenso wie er selbst ein Interesse an erheblichen Verlusten und Katastrophen haben könnte, die, bestimmten Bedürfnissen gemäß, leidenschaftliche Depressionen, Angstkrisen und letztlich einen gewissen orgiastischen Zustand hervorrufen (vgl. BV: 11, 10). Die menschliche Tätigkeit erscheint als nicht vollständig zu reduzierbar auf Prozesse der Produktion und Reproduktion. Während Bataille die »erbärmliche Auffassung« (BV: 10) des klassischen Nützlichkeitsprinzips zurückweist, operiert er mit der Figur einer spezifischen Polarisierung der Konsumtion in zwei verschiedene Bereiche. Der erste umfasst den für die Individuen einer Gesellschaft notwendigen Minimalverbrauch zur Erhaltung des Lebens und zur Fortsetzung der produktiven Tätigkeit; der zweite beinhaltet die so genannten unproduktiven Ausgaben wie Luxus, Trauerzeremonien, Kriege, Kulte, die Errichtung von Prachtbauten, Spiele, Theater, Künste, die von der Genitalität losgelöste Sexualität (also Tätigkeiten, die ursprünglich ihren Zweck in sich selbst haben). Für diese unproduktiven Formen behält Bataille den Namen der Verausgabung vor, und zwar explizit unter Ausschluss aller Arten der Konsumption, die der Produktion als Mittel

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dienen. Eine Einheit bilden diese Formen durch den Umstand, dass in jedem Fall der Akzent auf dem Verlust liegt, der »so groß wie möglich sein muss, wenn die Tätigkeit ihren wahren Sinn erhalten soll« (BV: 12). Das Prinzip des Verlust wird somit gleichgesetzt mit der bedingungslosen Verausgabung, die zwar dem ökonomischen Prinzip der ausgeglichen Zahlungsbilanz, bei dem jede Ausgabe durch die Einnahme kompensiert wird, widerspricht, die Bataille aber mit einer Reihe von Beispielen aus der täglichen Erfahrung einsichtig macht. Das erste Beispiel steht im Zusammenhang mit dem symbolischen Wert von Gütern, die als funktionalen Charakter eine enorme materielle Geltung haben: Bataille wählt hierfür Juwelen, deren Faszination sich daraus ergibt, dass man, um sie zu besitzen, ein Vermögen opfern muss; das zweite Beispiel betrifft jene Kulte, die in ähnlicher Weise eine »blutige Vergeudung von Menschen und Tieren als Opfer« verlangen, eine Verlusthandlung, durch die überhaupt erst »heilige Dinge« erzeugt werden (BV: 13). Drittens vollzieht sich der Verlust für Bataille bei den verschiedenen Wettspielen; hier toben ungeheure Menschenmengen ihre Leidenschaften im Zuschauen ungehemmt aus, wobei in Gestalt von Wetten irrsinnige Geldsummen eingesetzt werden – eine Geldzirkulation, die zwar nur einer kleinen Zahl von professionellen Wettern zugute kommt, aber als tatsächlicher Einsatz für die vom Wettkampf entfesselten Leidenschaften angesehen werden kann (vgl. BV: 14). Viertens teilt Bataille unter dem Aspekt der Verausgabung die Kunstproduktion in zwei große Kategorien ein, zu denen auf der einen Seite Architektur, Musik und Tanz zählen und auf der anderen Seite Literatur und Theater. Dem ersten Fall weist Bataille dabei tatsächliche Ausgaben zu, dem zweiten die symbolische Verausgabung, für die schließlich der Begriff der Poesie eine herausragende Bedeutung erhält: Dieser, der »die am wenigsten verdorbenen, am wenigsten intellektualisierten Ausdrucksformen eines Verlorenseins bezeichnet«, kann als »Synonym von Verschwendung angesehen werden« (BV: 15).7 Der Sinn der Poesie ist demnach nicht weit entfernt von dem des Opfers und deshalb kann Bataille darauf hinweisen, dass für diejenigen Menschen, die über dieses Element verfügen, die poetische Verschwendung in ihren Folgen aufhört, symbolisch zu sein: Die Aufgabe der Darstellung bedeutet für den, der sie übernimmt, sozusagen den Einsatz seines Lebens. Sie verurteilt ihn zu trügerischen Aktivitäten, zu Elend, Verzweiflung, zur Jagd nach flüchtigen Schatten, die nur Taumel oder Wut hervorrufen können. Oft verfügt man über Worte nur zu seinem eigenen Verderben, und man ist gezwungen, zwischen einem Los zu wählen, das einen zum Ausgestoßenen macht, der von der Gesellschaft abgesondert ist wie die Exkremente vom sichtbaren Leben, und einem Verzicht um den Preis einer mittelmäßigen Tätigkeit, die vulgären und oberflächlichen Bedürfnissen gehorcht. (BV: 15f.)

Mir scheint, dass die Figur der poetischen Verschwendung bei Georges Bataille in dieser Bezugnahme im Übrigen auf ein Leben besteht, das man mit Giorgio Agamben (2002: 18) ›nackt‹ nennen kann, insofern es ein Leben ist, 7

»Poesie heißt nämlich nichts anderes als Schöpfung durch Verlust.« (BV: 15)

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das eine soziale Ausschließung in Kauf nimmt und daher, anders als bei Agamben, eine Opferung mit einschließt.8 Nachdem Bataille die soziale Funktion des Verausgabens formuliert hat, untersucht er ihr Verhältnis zu Produktion und Erwerb, die ihr entgegenstehen, und findet es in der Nützlichkeit und des Zwecks. Entscheidend ist jedoch, dass Produktion und Erwerb als zentrale Koordinaten eines ökonomischen Systems »doch immer nur Mittel« darstellen, die »der Verausgabung untergeordnet sind« (BV: 16). Am Klarsten erweist sich dies, so Bataille, bei den ökonomischen Einrichtungen des Primitiven, weil der Tausch hier noch als kostspieliger Verlust der abgetretenen Gegenstände empfunden wird: »er hat seine Grundlage in einem Verschwendungsprozess, aus dem sich dann ein Erwerbsprozess entwickelt hat.« (BV: 16) Den Tausch als Vorläufer des wirtschaftlichen Handels anzusehen, lehnt Bataille ab und nimmt Bezug auf die bereits erwähnten Ausführungen von Marcel Mauss, der ja die archaische Form des Tausches vielmehr in dem besagten, bei den Indianer des amerikanischen Nordwestens beobachteten Potlatsch sieht.9 Bataille erklärt diesen wie folgt: Die betroffenen nordamerikanischen Indianerstämme praktizieren ihn bei Gelegenheit einer Veränderung in der persönlichen Situation – Initiation, Heirat, Bestattung –, und selbst in entwickelterer Form ist er niemals von einem Fest abzulösen, dessen Anlass er entweder ist oder aus dessen Anlass er stattfindet; er schließt jedes Feilschen aus und besteht im Allgemeinen in einem beträchtlichen Geschenk von Reichtümern, das ostentativ gemacht wird mit dem Ziel, »einen Rivalen zu demütigen, herauszufordern und zu verpflichten.« (BV: 17) Hierbei ergibt sich der Tauschwert des Geschenks daraus, dass der Beschenkte, um die Demütigung aufzuheben und die Herausforderung zu erwidern, der mit der Annahme des Geschenkes eingegangen Verpflichtung nachkommen muss, sich durch ein noch größeres Geschenk zu revanchieren, d. h. es mit Zinsen zurückzuzahlen. (Vgl. BV: 17 f.) Hinzu kommt eine weitere mögliche Dimension: Man kann Rivalen außerdem durch Aufsehen erregende Zerstörung von Reichtümern herausfordern. So realisiert ähnelt der Potlatsch dem religiösen Opfer, da die zerstörten Güter »theoretisch den mythischen Ahnen der Beschenkten dargebracht werden.« (BV: 18) In seiner Abhandlung über den Begriff der Verausgabung erkennt Bataille letztendlich, dass hier die Konstitution eines positiven Vermögens zum Verlust etwa Ehre und Rang ihren bezeichnenden Wert verleiht. Das Geschenk müsse, so führt er aus, als Verlust, und damit als partielle Zerstörung angesehen werden, wobei die Zerstörungslust zum Teil auf den Beschenkten übertragen werde (vgl. BV: 19). Die Folgen für den Erwerb sind symptoma8

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Agamben exemplifiziert, dass das »nackte Leben« das »Leben des homo sacer« sei, »der getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf«, eine »obskure Figur des archaischen römischen Rechts, in der das menschliche Leben einzig in der Form ihrer Ausschließung in die Ordnung eingeschlossen wird«. (Agamben 2002: 18 f.) Vgl. dazu auch die Beiträge des von mir herausgegebenen Bandes Ästhetik der Ausschließung bzw. insbesondere dessen einleitenden Beitrag über »Mechanism[en] der Ausnahme« (vgl. Ruf 2009 a u. b) sowie den theoretischen Teil meiner Ausführungen zum Phänomen der »Einschließenden Ausschließung« (vgl. Ruf 2009 c). Der Potlatsch wurde insbesondere von den Tlingit, Haida, Tsimshian und Kwakiutl von der amerikanischen Nordwestküste ausgeübt. (Vgl. BV: 17)

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tisch: Reichtum ist vollständig für den Verlust bestimmt, insofern diese Macht eine »Macht des Verlustes ist«: »Nur durch den Verlust sind Ruhm und Ehre mit ihm verbunden.« (BV: 19) Das Vermögen hat nicht die Funktion, seinen Besitzer frei von Bedürfnissen zu machen, sondern beide bleiben, wie Bataille schreibt, »dem Bedürfnis nach einem maßlosen Verlust ausgesetzt« (BV: 20), das in endemischem Zustand die soziale Gruppe beherrscht. Bataille fasst die Verausgabungsformen, wie sie den eigentlichen Potlatsch bedingen, als Elemente primitiver Handlungsmotive auf, die im Zuge der Entwicklung einer merkantilen Ökonomie einem Wandel unterzogen sind: »die Verausgabung ist zwar immer noch dazu bestimmt, einen Rang zu erwerben und zu erhalten, aber sie hat nicht mehr grundsätzlich zum Ziel, einem anderen seinen Rang zu nehmen.« (BV: 21) In der Gegenwart sind die großen freiwilligen sozialen Formen der unproduktiven Verausgabung für Bataille verschwunden, nicht jedoch das Prinzip der Verausgabung als Ziel der ökonomischen Tätigkeit. So herrscht für ihn in der Umgebung der modernen Banken ebenso wie vor den Totempfählen der Kwakiutl bei den Individuen der Wunsch, »Eindruck zu machen«, was sie »nach einem System kleiner Paraden« auftreten lässt, mit denen sie einander blenden wie mit einem Licht, das zu grell ist« (BV: 22 f.)10 – Batailles (ungebrochene) Aktualität ist nicht mehr von der Hand zu weisen. Mit Blick auf die jüngste, weltweite Banken- und Finanzkrise 2007/0811 kann Georges Batailles Theorie der Verausgabung auch als Matrix postmoderner Ökonomie gelten. Ich gehe mit Thomas Wex (1999: 199) davon aus, dass Batailles Allgemeine Ökonomie grundlegend in die Tradition sozialökonomischen Denkens einzureihen ist, insofern sie das Ökonomische in seiner Totalität zu erfassen sucht; nicht Zahlungsströme oder einzelne Produktionsfaktoren werden betrachtet, sondern die sozialen, historischen und psychischen Faktoren, auf denen Wirtschaften beruhen (vgl. Richardson 1994: 67). Seine Begriffsbestimmung kann als Beitrag zu einer Genealogie der Wirtschaftsformen und des ökonomischen Denkens betrachtet werden (vgl. Goux 1990: 208).12 Sie bildet das Gerüst einer Ökonomie der Vergeudung, prinzipieller: ein »Werk über politische Ökonomie« (VT: 35) schlechthin.13 Bataille resümiert, ganz allgemein seien Menschen, einzeln oder gruppenweise, ständig in Verausgabungsprozesse verwickelt und der Wechsel in den Formen bedinge keinerlei Änderung in den Grundmerkmalen dieser Prozesse, deren Prinzip der Verlust sei (vgl. BV: 30). Eine »gewisse Erregung«, deren Grad bei allen Unterschieden auf einem spürbar gleichen Stand gehal10 »Wenige Schritte von der Bank entfernt warten Juwelen, Kleider und Autos hinter den Schaufenstern auf den Tag, wo sie dazu dienen werden, den wachsenden Glanz eines sinistren Industriellen und seiner noch sinistreren alten Gattin darzustellen. Eine Stufe tiefer erfüllen vergoldete Wanduhren, Vertikos und künstliche Blumen die gleichen uneingestehbaren Zwecke für Spießerpaare. Der Neid zwischen den Menschen macht sich mit der gleichen Brutalität Luft wie bei den Wilden: nur Generosität und Noblesse sind verschwunden und mit ihnen die spektakuläre Gegenleistung, die die Reichen den Armen anboten.« (BV: 23) 11 Siehe dazu u. a. Bischoff 2008; Bloss & Häcker 2008; Münchau 2008; Zeise 2008. 12 So steht etwa der oben erklärte Potlatsch für eine lebensfähige Gesellschaft, die gerade zwar den Tausch, nicht jedoch Handel und Erwerb kennt. Vgl. Bergfleth 1985: 12. 13 Leander Scholz liest diese sogar als ›politische Ökologie‹. Vgl. Scholz 2007.

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ten wird, beherrscht für Bataille diese Gruppen wie die Einzelnen und in ihrer extremen Ausgestaltung können solche Erregungszustände als »unwiderstehliche alogische Antriebe zur Verwerfung der rational (entsprechend dem Prinzip des Zahlungsausgleichs) verwendbaren materiellen und geistigen Güter definiert werden.« (BV: 30) Verausgabung ist für Bataille, darauf kommt es mir an, mit dem oben heraus gestellten Prinzip des praktizierten Verlusts kurzgeschlossen, durch den in der Tat unproduktive Werte geschaffen werden, »deren absurdester und zugleich begehrtester der Ruhm[14] ist.« (BV: 30) Dieser Rum, »der den Gegenstand der freien Verausgabung umgibt oder symbolisiert (ohne ihn zu erschöpfen)«, trägt, so ein erstes Bataille’sches Fazit, dazu bei, dass die Menschen ihren Lebensunterhalt sichern, um zu der »insubordinierten Tätigkeit der freien Verausgabung zu gelangen.« (BV: 31) Bataille stellt sich also mit seinem Zugang zu wirtschaftlichen Phänomenen in deutliche Opposition zu zweckrationalen, produktivistischen und utilitaristischen Vorstellungen des Ökonomischen (vgl. Wex 1999: 199).

III Aber hat die Verausgabung (oder die Verzehrung) der Reichtümer wirklich Vorrang vor der Produktion? Eine differenzierende Antwort findet sich im ersten Teil der theoretischen Einführung von Batailles Buch Der verfemte Teil15, wenn er auf die Tatsache zu sprechen kommt, dass es, allgemein gesehen, kein Wachstum gibt, sondern »nur eine luxuriöse Energieverschwendung in vielfältiger Form«, einen »wahnwitzigen Überschwang«, die »Entwicklung des Luxus« als »Erzeugung immer kostspieligerer Lebensformen« (VT: 59). Diesen Luxus bestimmt er näherhin in drei Arten, die einer metaphorischen Dramaturgie unterliegen und die sich entsprechend klassifizieren lassen in • das gegenseitige Sichauffressen (als einfachste Form des Luxus) • den Tod (als in seiner Fatalität und Unerbittlichkeit kostspieligsten Luxus) und • die geschlechtliche Fortpflanzung (als einer der großen luxuriösen Umwege, die die intensive Verzehrung der Energie sichern): Zunächst steigert sie, was in der Zellteilung schon angelegt war: die Spaltung, durch die das Einzelwesen für sich selbst auf Wachstum verzichtet und dieses durch Vermehrung der Einzelwesen auf die Überindividualität des Lebens überträgt. Von Anfang an unterscheidet sich nämlich die Sexualität vom habgierigen Wachstum: obwohl sie von der Gattung her gesehen ebenfalls als Wachstum erscheint, so ist sie doch in ihrem Wesen nach ein Luxus der Einzelwesen. […] Sie scheint die größte augenblickliche Verschwendung zu sein, zu der das Einzelwesen die Kraft hat. (VT: 61)

14 Durch Rückgriff auf Batailles Theorie der Verausgabung ließen sich dementsprechend auch literarische Texte lesen, die explizit jenen Ruhm verhandeln, so beispielsweise Daniel Kehlmanns gleichnamigen Roman aus dem Jahr 2009. 15 Ich überspringe einige einführende und überleitende Unterkapitel des Buches, die für den vorliegenden Darstellungszusammenhang außer Acht gelassen werden können.

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In dem Augenblick allerdings, in dem der Überschuss an Reichtümern größer ist als je zuvor, nimmt er für Bataille »endgültig die Bedeutung an, die er in gewisser Hinsicht schon immer hatte, die Bedeutung des verfemten Teils.« (VT: 65) Die Verzehrung der Reichtümer verlangt in letzter Konsequenz die Ächtung der luxuriösen Verschwendung – ein Mechanismus, durch den, nach Wolf Dieter Enkelmann (2004: 1), der »gesamte ökonomische Betrieb buchstäblich verkehrt« wahrnehmbar wird.16 Die Atmosphäre der Verfemung setzt dabei Angst voraus: »Angst kommt auf, wenn der Geängstigte nicht selbst vom Gefühl eines Überschwangs ergriffen ist.« (VT: 66) Bataille geht in diesem Kontext von einer Bewegung aus, die die Verschwendung hervorruft und bei der im Zuge eines Überschusses der Ressourcen gegenüber den Bedürfnissen jener nicht zwangsläufig dem reinen Verlust preisgegeben wird; wächst die Gesellschaft, wird der Überschuss bewusst dem Wachstum vorbehalten, während aber dieses Wachstum von Natur aus ein Übergangszustand ist: Es kann nicht unendlich lange andauern (vgl. VT: 72). Batailles Anstrengung, eine sich verzehrende Gesellschaft zu denken und damit globale Beschreibungen sozialer Tatsachen zu geben, macht es für ihn notwendig, historische Gegebenheiten zu rekapitulieren; dazu führt er eine Fülle von Beschreibungen an, die sich zunächst auf die Opfer und Kriege der Azteken konzentrieren (vgl. VT: 72–92), sich wiederum dem Rivalitätsgeschenk, dem Potlatsch, zuwenden (vgl. VT: 93–119), um sich mit der militärischen und der religiösen Gesellschaft auseinander zu setzen, d.h. mit dem Islam als der erobernden Gesellschaft (vgl. VT: 112–124) und mit dem Lamaismus als waffenlose Gesellschaft (vgl. VT: 125–145). Bataille liest außerdem die Industriegesellschaft u. a. unter Aspekten der protestantischen Ethik (vgl. VT: 148 f.) und beschreibt aus seiner speziellen Perspektive die sowjetische Industrialisierung (vgl. VT: 182–207) ebenso wie den Marschallplan unter dem Blickwinkel des dynamischen Friedens (vgl. VT: 228 bis 230). So sehr Bataille hier im Zuge seiner Überlegungen ins Detail geht, so sehr ist er gleichzeitig bemüht, allgemeine Aussagen vorzubereiten. Auch aus Platzgründen möchte ich nur einige wenige dieser Passagen fokussieren, die Batailles Figur des Verausgabens weiterhin erhellen. Eine Stelle findet sich im Kontext seiner Darstellung der Opferriten: Das Opfer, schreibt Bataille, ist der Überschuß, der aus der Masse des nützlichen Reichtums gezogen wird. Es kann ihm nur entnommen werden, damit es profitlos verzehrt, d. h. für immer zerstört wird. Sobald es erwählt ist, ist es der verfemte Teil, der für die gewaltsame Verzehrung bestimmt ist. Aber die Verfemung entzieht es der Dinglichkeit; sie macht seine Gestalt erkennbar, die von nun an die Intimität, die Angst und die Tiefe der lebenden Wesen ausstrahlt. (VT: 90)

Batailles Buch über diesen verfemten Teil ist der Versuch, Eckpunkte im Zyklus von Verschwendungen (vgl. VT: 93) zu finden, die wiederum gleich16 Ziel der Ökonomie ist für Bataille, so Enkelmann (2004: 2), nicht Reproduktion und Selbsterhaltung, nicht die Beseitigung des Hungers oder sonstiger Mängel und Schwierigkeiten. Nicht die Armut an sich, sondern die Unfähigkeit, reich zu sein und mit dem Reichtum der Welt etwas anfangen zu können, die Verarmung nicht der Armen, sondern des Reichtums ist das Problem.«

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sam unter dem Brennglas der Gesetze des Potlatsch an Konturen gewinnen. Wenn in uns, so Bataille, im Bereich unseres Lebensraumes, eine Bewegung der Energie wirksam ist, die wir zwar benutzen, die jedoch nicht auf eine Nützlichkeit reduzierbar ist, so können wir sie verkennen oder aber unsere Tätigkeit der unabhängig von uns sich erfüllenden Bestimmung anpassen (vgl. VT: 100). Die Lösung dieses Problems erfordere ein Handeln in zwei entgegen gesetzte Richtungen: einerseits die engen Grenzen, in denen wir uns bewegen, zu überschreiten, andererseits eben diese Überschreitung wieder in unsere Grenzen herein zu holen: Es geht eben um die »Verausgabung des Überschusses« (VT: 100), die darin besteht, dass etwas verschenkt, verloren oder vernichtet werden muss, wobei das Geschenk unsinnig wäre, wenn es nicht die Bedeutung eines Erwerbs hätte: Schenken wird also heißen, eine Macht erwerben. Im Geschenk vermag sich das schenkende Subjekt zu überschreiten, aber im Austausch gegen den verschenkten Gegenstand eignet sich das Subjekt die Überschreitung an: es betrachtet diese Fähigkeit, zu der es die Kraft gehabt hat, als Reichtum, als eine Macht, die es von jetzt an besitzt. Es bereichert sich um die Verachtung des Reichtums, und was es jetzt hütet wie einen Besitz, ist die Wirkung seiner Freigebigkeit. Aber eine Macht, die aus dem Verzicht auf eine Macht besteht, kann es nicht für sich allein erwerben: Wenn es den Gegenstand einsam und in aller Stille vernichtete, so wüchse ihm daraus keinerlei Macht zu, das wäre nur eine Aufgabe von Macht ohne Entschädigung. Wenn es aber einen Gegenstand in Anwesenheit eines anderen vernichtet oder verschenkt, so hat der, der ihn hingibt, für den anderen effektiv die Macht, zu verschenken oder zu vernichten. Er ist jetzt reich, weil er vom Reichtum den Gebrauch gemacht hat, der in dessen Wesen liegt: er ist reich, weil er ostentativ verzehrt hat, was nur, wenn es verzehrt wird, Reichtum ist. Der […] Reichtum – in der Konsumtion für andere – besteht faktisch nur insoweit, wie der andere durch die Verzehrung modifiziert wird. Eine echte Verzehrung müsste zwar eigentlich einsam geschehen, aber sie erreichte dann nicht die Vollendung, die die Einwirkung auf den anderen ihr ermöglicht. (VT: 100f.)

Aus Batailles derart charakterisiertem Diskurs von Überfluss und Überschreitung folgt für seinen Begriff der Verausgabung, dass das Wachstum (der Erwerb von etwas) sich auf den Moment einstellen muss, wo es sich in reinen Verlust auflöst. Ein solcher Zustand hat für Bataille schlussendlich den Wert einer »Einrichtung der sozialen Existenz« und diese Einrichtung wäre »in gewisser Hinsicht dem Übergang vom Tier zum Menschen vergleichbar (oder genauer gesagt: sie wäre dessen letzter Akt).« (VT: 233) Bataille versucht also nichts anderes, als die Anthropologie an eine Ökonomie zu knüpfen, eine »Ökonomie«, wie er sie nennt, »im Rahmen des Universums« (ÖRU: 289). Sie ist für Bataille Topologie, Lehre der menschlichen Lebenswelt, da die menschliche Subjektivität in dieser Hinsicht für ihn Merkmale aufweist, die »im Einklang mit den Grundlagen der allgemeinen Ökonomie stehen.« (ÖRU: 291) Dies hat das Apriori des Vergeuden-Könnens zur Voraussetzung und Bataille setzt dieses ins Bild, wenn er schreibt: Angenommen, eine bestimmte Menge an Kalorien wird jeden Tag von mir absorbiert und assimiliert, dann ist ein gewisser Anteil notwendig zur Fristung meines

36 | OLIVER RUF Lebens, während der Überschuß, wenn ich nicht dicker werde, vollständig verausgabt werden muß. Ich kann kommen und gehen, reden, pfeifen, arbeiten oder lachen. Mein Geld kann ich auf die Seite legen, aber nicht meine Lebensenergie. Nur eine kleine Weile trennt mich von dem Termin, an dem ich den Überschuß notgedrungen verlieren oder verloren haben werde. Mein Wille entscheidet über die Modalität, nicht über die Quantität des Verlusts. (ÖRU: 294 f.)

Der Mensch gibt für Bataille die entscheidende Antwort auf das allgemeine Problem des Überschusses; er bringt der Lebenstätigkeit einerseits die Möglichkeit einer beträchtlichen Ausdehnung, wozu er einen Teil der verfügbaren Energie benutzt, andererseits zieht er zahlreiche und bedeutende Ausgaben von dem provisorischen Ziel der Ausdehnung ab (vgl. ÖRU: 296). Der Mensch ist so ein Ergebnis des Energieüberschusses: vor allem der extreme Reichtum seiner höheren Aktivitäten darf als glanzvolle Freigabe des Überflusses definiert werden (vgl. ÖRU: 296). In erster Linie hat der Mensch die Aufgabe, das ist eine Schlussfolgerung Batailles, »ruhmvoll zu verausgaben, was die Erde anhäuft, was die Sonne verschwendet.« (ÖRU: 298)

IV In den Studien zur Aufhebung der Ökonomie begibt sich Bataille an einen Einsatzort, den etwa auch Benjamin im Passagen-Werk abgesteckt hat, da zu dessen »Schlüsselattitüden«, nach Jochen Hörisch (1983: 19) die Verschränkung von Tausch und Verausgabung in den Phantasmagorien des 19. Jahrhunderts zählt. Es handelt sich um die Freisetzung konstitutiver Kategorien des rationalen Bewusstseins, indem Äquivalenzen bzw. Relationen von Identität und Differenz zwischen ansonsten beziehungslosen Dingen allererst verbindlich hergestellt werden. Sohn-Rethel (1971: 34) hat dazu angemerkt, dass die in ihrer gebrauchswerten Qualität inkommensurablen Waren im Akt ihres Austauschs die Kommensuration als Werte erfahren, worin sie der Form nach identisch gesetzt werden: Es ist also im genauen Kantischen Sinne eine ›Synthesis‹. Die dem gesellschaftlich entfalteten Warentausch seiner Formkonstitution nach zugrundeliegt, und diese Synthesis gründet in der obersten Einheit, die die Waren in, ja kraft ihrer allseitigen relativen Wertbeziehung auf die ihnen gemeinsame, gesellschaftlich allgemeingültige Äquivalenzform haben, aufs Geld. Die Grundgesetze des Warentauschs, die im Kapitalismus das Apriori der Möglichkeit der Produktion bilden, fließen somit aus einer ursprünglichen, im Tausch erst gestifteten, rein formalen Synthesis aller Waren nach Funktionen der identischen Einheit ihrer durchgängigen Beziehung aufs Geld.17

17 Siehe dazu auch Hörisch 1983: 19 f.; ders. 1978. Bei Sohn Rethel (1971: 41) heißt es außerdem: »Die Ware ist identisch existierendes Ding. Im Geld ist diese Formbestimmtheit endgültig fixiert. Das Geld bezieht sich auf Waren in der Form ihrer identischen dinglichen Existenz. Identität, Dinglichkeit und Dasein sind ihrer Genesis nach gesellschaftliche Formcharaktere der Ware und sind Verbindungsformen des Menschen.«

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Benjamin hingegen unterläuft den Versuch, eine Vermittlung zwischen Ware und Preis, Preis und Arbeit, Arbeit und Produktion, Produktion und Distribution nachzuweisen (vgl. Hörisch 1983: 27), insbesondere in der Schlusswendung einer zentralen Stelle des Passagen-Werkes, die lautet: »Eine Hölle tobt in der Warenseele, die doch scheinbar ihren Frieden im Preise hat.« (Benjamin 1982: 466) Damit ist auf Batailles »obsessives Thema« verwiesen: auf »jenen Mehrwert an Energie, der Makro- und Mikrokosmos überbordet und zur verzehrenden Verausgabung [sich] verhält«; auf »jenen Überschuß entgrenzter Ökonomie, gegen den der Kapitalismus seine beschränkte Ökonomie des Äquivalenztauches setzt, die dort einen Mangel konstituiert, wo ansonsten Überfluß in jedem Wortsinne herrschte.« (Hörisch 1983: 27 f.)18 Anstatt sich wie z. T. Sohn-Rethel dem rein geldvermittelnden Äquivalenztausch19 oder sich wie Benjamin dem Versuch einer Dechiffrierung der Sozio-Textur des 19. Jahrhunderts zuzuwenden, konstruiert Bataille eine ökonomisch-anthropologische Theorie, die ihre ökonomischen und anthropologischen Argumentationen verwischt. Die Allgemeine Ökonomie bezieht universal die Natur mit ein, und zwar nicht nur als einen passiven Gegenstand wirtschaftlicher Verwertung, sondern als virulenten Akteur; es ist »die natura naturans, nicht die natura naturata, sozusagen die Natur von ihr selbst, der Gedanke des grundlosen Grundes.« (Enkelmann 2004: 3) Natur ist bei Bataille Ökonomie der Vergeudung, Verausgabung ihrer selbst; die Grundlosigkeit ihrer Existenz macht sie zu einem ursprünglichen ökonomischen Akteur und es ist daher wiederum »sehr verständlich und nahe liegend«, dass Bataille auch den Menschen als Verschwendung zu begreifen versucht, »nicht als einer, der da und dort zur Verschwendung neigt«, sondern der selbst nichts anderes ist als ein Inkarnat der Verschwendung, das sich demgemäß auch nur, »indem er sich verschwendet, verwirklichen und bewahrheiten kann.« (Enkelmann 2004: 3) Vor diesem Hintergrund lässt sich die Verausgabung als ein Denk-Bild entziffern, besser noch als eine allegorische Figur, die als Konstrukt eines universellen menschlichen Schicksals begriffen werden muss. Diese Figur der Verausgabung bei Bataille legt deutlich die theoretische Bedeutung ebenso wie die praktische Tragweite der mit ihr eingeführten Grundsätze nahe (vgl. VT: 43), ein anderes Verständnis von Ökonomie, die »als Gesamtphänomen gesehen wird« (VT: 46) und somit die heute diskutierte Globalisierung vorweg nimmt, aber auch zeigt, welche Folgen dies hat: 18 Dabei ließe sich mit Rückgriff auf Derrida (1976) sagen, dass sich Benjamins Passagen-Werk selbst einem Potlatsch im Sinne Batailles angleicht, dass es sich bei diesem um einen ›potlatsch des signes‹ handelt: »Benjamins Theorie der Verausgabung hat die Form einer Verausgabung von Groß- und Totaltheorie. So enträt sie den Verblendungen, die der Theorie mit ihrem tiefenstrukturalen anderen Schauplatz, dem Äquivalententausch, gemeinsam sind. Und weil sie derart entrinnt, kann sie jenes grübelnde Erstaunen kultivieren, das Kinder- und Dichterfragen charakterisiert, seitdem Theorie das Erstaunen verdrängte und der Tausch mit allem vertraut machte.« (Hörisch 1983: 29) Siehe dazu auch Häflinger 1981: 168; Gasché 1978: 32 f. 19 Dieser ist für Hörisch (1983: 22) dreierlei zugleich und ineins: erstens Konstituens dinghafter Identität mit sich selbst; zweitens Möglichkeitsbedingung von reflexiver Relationalität; drittens Garant rationaler intersubjektiver Verbindlichkeit und also »primäre gesellschaftliche Synthesis zwischen den einzelnen Subjekten, die die Einheit und Einheitlichkeit ihrer transzendentalen Apperzeption der ›Einheit des Geldes‹ danken.«

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Die Konzeption der Allgemeinen Ökonomie schafft Aufmerksamkeit für die Grenzbereiche des gewöhnlichen »partikulären ökonomischen Sachverstandes.« (Enkelmann 2004: 4). Das hängt wesentlich von der Praxis der Überschreitung ab, für die zu Recht konstatiert werden kann, dass eine Auseinandersetzung mit dem Denken Batailles immer eine vorläufige, niemals abschließbare Form behalten wird (vgl. Hetzel & Wiechens 1999b: 11). Die Vergeudung im Überfluss sowie das Moment der Überschreitung scheinen, so dürfen die vorliegenden Überlegungen zusammengefasst werden, für die ›Kultur‹ elementar – zumindest was deren Ränder anbelangt.

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LEBEN IM ÜBERFLUSS

ÜBERFLUSSKULTUR UND WACHSTUMSHUNGER. VERAUSGABUNGEN IN ARBEITS- UND KONSUMGESELLSCHAFT STEPHAN LORENZ Spricht man von der Überflussgesellschaft, dann ist in der Regel die Massenkonsumgesellschaft gemeint, mit ihrer ungeheuren Vielzahl an Angeboten und Optionen. Konsum ist dabei das Mittel der Statusrepräsentation, der Identitätsbildung für Individuen wie Gruppen, der Freiheit und des guten Lebens, ja sogar des nonkonformistischen Protests. Freilich wurden auch Schattenseiten des Konsumüberflusses bemerkt. Die Produktion des Überflusses verschlingt zahlreiche Energien und Ressourcen, soziale wie ökologische. Die Optionenvielfalt ist zwar in vieler Hinsicht reizvoll, führt aber auch zu Entscheidungszwängen und Überforderung bis zum Überdruss. So fand es Timothy Garton Ash (1997) bei seinen Aufenthalten in der DDR sehr erholsam, einfach ein Brot kaufen zu können, weil es im Laden schlicht nur eine Sorte gab – damit stand er in der DDR vermutlich recht allein. Schließlich muss man feststellen, dass, wenn man denn seine Entscheidungen getroffen hat, immer etwas übrig bleibt. Was eben noch die Auswahl garantierte ist nun überflüssig, Abfall, unnütze, aber in ihrem bloßen Vorhandensein häufig nicht zu ignorierende Altlast. Den Konsumüberfluss konnten immer nur einige, in der industrialisierten Welt allerdings immer mehr Menschen in Anspruch nehmen. Und eine zeitlang war ›Mutter Natur‹ gütig genug, die Kosten zu übernehmen – sich zu verausgaben. Es konnte die Hoffnung bestehen, dass bei weiterer Entwicklung in dieser Richtung dereinst alle in den Genuss des Überflusses gelangen könnten. In den 1960er Jahren war die Integration in die »Lohnarbeitsgesellschaft« (Castel 2000) besonders hoch, die Arbeitslosigkeit relativ gering und in aller Regel temporär. Die Armut, die neben den zunehmenden Konsummöglichkeiten bestand, schien durch weiteren Forschritt überwindbar. Seitdem wuchs allerdings neben der ökonomischen Leistungsfähigkeit auch die Arbeitslosigkeit über einzelne konjunkturelle Hochs und Tiefs hinweg immer weiter an. Diejenigen, die den Reichtum produzierten, konnten aus der Produktion zunächst so weit freigesetzt werden, dass Zeit genug blieb, das erarbeitete Geld für Konsum und Freizeit auszugeben. Heute zeigt sich, dass bei weiter wachsendem ökonomischem Reichtum nicht nur weniger Menschen für die Produktion benötigt werden, sondern dass ein Teil auch für den Konsum entbehrlich ist.1 Offenbar, so muss man folgern, geht es dem Wachstum 1

Die Rede ist hier von westlich-industrialisierten Gesellschaften. Ein Blick über diesen Tellerrand zeigt: »It is the biggest consumer boom ever known in such a short time. It is […] occuring […] in certain developing and transition countries where over 1 billion

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besser ohne diese Menschen. Daraus speist sich die Debatte um die ›Überflüssigen‹, die nicht einfach nur armen, sondern für Arbeit und Konsum nutzlosen Menschen. Exkludiert, ›überflüssig‹ wird, wer die hohen Inklusionsanforderungen der Arbeits- und Konsumgesellschaft nicht erfüllen oder durchhalten kann, und das sind heute v.a. Aktivitäts- und Flexibilisierungsanforderungen. Je höher die Anforderungen, desto größer wird der Leistungsdruck ›innen‹ und gleichzeitig die Fallhöhe nach ›außen‹. Dieselbe ökonomische Wachstumsdynamik erzeugt also Konsumüberfluss als Wohlstand und Optionenvielfalt einerseits und Abfälle, Nutzloses, Überflüssiges andererseits; sie bringt ebenso ›wohlständige‹ Menschen in großer Zahl hervor wie sie für ihre Dynamik nutzlose, ›überflüssige‹ Menschen entlässt. Eine Soziologie des Überflusses müsste deshalb so umfassend konzipiert werden, dass sie all diese Phänomene einbeziehen und in ihrer Erzeugungsdynamik zusammen denken kann. Im vorliegenden Aufsatz konzentriere ich mich auf die Fragen: Was macht die Steigerungslogik so attraktiv, dass ihre problematischen Konsequenzen ›in Kauf‹ genommen werden? Was sind kulturelle Triebkräfte dieser gesellschaftlichen Entwicklungen? Gibt es Alternativen? Ich beginne damit, am Beispiel Hunger noch einmal zuzuspitzen, inwiefern Überflussprobleme in ihrer Logik von Mangelproblemen zu unterscheiden sind, dabei gleichwohl ähnlich destruktive Konsequenzen zeitigen können (1). Die gewählten Beispiele sollen dabei die eingangs bereits angedeutete Heterogenität und Variationsbreite solcher Probleme illustrieren. Das wird dadurch unterstrichen, dass sich die diskutierten Phänomene auf ganz unterschiedliche soziologische Debatten, nämlich die zum Konsumismus und die zu den ›Überflüssigen‹ beziehen lassen (2). Gleichwohl sind es Phänomene, die – wie oben eingeführt – aus gesellschaftlichen Steigerungsprozessen resultieren. Deshalb werden soziologische Konzepte kultureller Wachstumsdynamiken referiert (3). Kontrastierend werde ich dann ein Überflussverständnis anführen, dass ohne Steigerungsprämisse auskommt (4). Schließen möchte ich mit Thesen dazu, welche Konsequenzen für eine potenzielle Soziologie des Überflusses aus den angestellten Überlegungen folgen sollten (5).

Vom Hunger im Überfluss Überfluss lässt sich nur in Relation zu Mangel bestimmen und so formulierte Galbraith (1998 [1958]) seine These der »Affluent Society« als eine vom Übergang der Mangel- in die Überflussgesellschaft. Überfluss und seine Erzeugung bieten nun selbst den wesentlichen Bezugspunkt gesellschaftlicher people now possess the financial muscle to enjoy a consumerist lifestyle. This is not to overlook that there are also 2.8 billion people in the world who subsist on less than $ 2 a day […]. Poverty remains the lot of almost half of humankind« (Myers & Kent 2004: 3). Die Fair Future-Studie des Wuppertal Institut (Hg. 2005) spricht von einer entstandenen transnationalen Verbraucherklasse. »Und gleichzeitig wird deutlich, wie in Zeiten der Globalisierung auch im Norden mehr als jeder Zehnte vom Wohlstand der transnationalen Verbraucherklasse ausgeschlossen ist« (Wuppertal Institut 2005: 86).

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Problemlagen, nicht mehr die Beseitigung von Mangel. Die bloße Steigerung der Nahrungsmittelproduktion wird sinnlos, wenn die meisten Ernährungsprobleme nicht mehr im ungenügenden Angebot, sondern in der Art und Weise des Lebensmittelkonsums liegen. Es entstehen im Überfluss also Probleme eigener Qualität, die nicht mehr einfach mit den Mitteln weiterer Überflusserzeugung beseitigt werden können. Spricht man vom Mangel, dann erzeugt dies in seinen elementaren Formen Bilder des Hungers. Die Mangelgesellschaft steht dafür, dass das tägliche Leben eine Mühsal ist, dass in üblicherweise schlechten Zeiten zu wenig auf dem – sofern vorhandenen – Tisch steht, dass der Nahrungsmangel an den Kräften zehrt, die Gesundheit und im Extremfall das physische Überleben bedroht. Hat die ›Überflussgesellschaft‹ zumindest dies überwunden, bei allen sonstigen Problemen, die sich dann aufdrängen? Die Antwort lautet ja und nein, denn ähnliche Phänomene haben ganz andere Ursachen. Denkt man vom Extremfall, dem Hungertod her, dann lassen zwei Pressemeldungen aufhorchen. Im November 2006 stirbt eine junge Frau von 21 Jahren. Soweit bekannt, ernährte sie sich zuletzt nur noch von Äpfeln und Tomaten. Ana Carolina Reston war ein brasilianisches, international für bekannte Marken tätiges Model, die die Verausgabungen ihres Berufes mit dem Leben bezahlte. Im April 2007 verhungert ein junger Mann von 20 Jahren in Speyer. Nachdem er auf behördliche Schreiben nicht mehr reagierte und nicht zu Terminen auf dem Amt erschien, waren ihm alle Leistungen des Arbeitslosengeldes II, auch Hartz IV genannt, gestrichen worden. Die Extremfälle verweisen, wie in der Mangelgesellschaft auch,2 auf breitere Problemlagen im Überfluss. Im ersten Beispiel geht es um Zwänge der Konsumwelt selbst, die ihren hohen Tribut verlangen. Einerseits wird für ein immer neues, besseres und vielfältigeres Angebot an Lebensmitteln geworben; das Glück liegt im ebenso vielfältigen Konsum, also auch im Essen und Trinken. Doch die Forderungen des ›schönen Scheins‹ der Konsumwelt gehen weiter und sind widersprüchlicher. Der Körper selbst muss diesen Schein ausstrahlen – nicht nur, aber erst recht, wo man sein Geld gerade damit verdient. Die Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit der Optionen sorgt für Orientierungsprobleme und hinterlässt eine Spur von Diäten3 und Essstö2

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In europäisch-historischer Perspektive schreibt Montanari (1999: 156): »Alles in allem scheinen die ›schweren Jahre‹ im 18. Jahrhundert häufiger denn je gewesen zu sein, mit Ausnahme vielleicht des 11. Jahrhunderts. Allerdings soll dies nicht bedeuten, daß die Menschen hätten verhungern müssen. Hätte es sich so verhalten, wäre die gewaltige demographische Entwicklung der damaligen Zeit gelinde gesagt unverständlich. Wir stehen vielmehr einem verbreiteten Unwohlsein, einem Zustand permanenter Unterernährung gegenüber, der sozusagen physiologisch und kulturell als normale Lebensbedingung ›assimiliert‹ wurde«. Wenn der Hunger selbst nur wenigen den Tod brachte, so doch häufig die Krankheiten und Epidemien in dessen Folge und dies in vervielfachten Zahlen (Paczensky & Dünnebier 1997: 406 ff.). Noch einmal Montinari (1999: 203): »Die Gefahr und die Angst vor dem übermäßigen Essen haben die Gefahr und die Angst vor dem Hunger abgelöst. Man denke nur an den Bedeutungswandel, der sich mit dem Wort ›Diät‹ vollzogen hat: Von den Griechen erfunden, um damit die tägliche Ernährung (mehr aber noch die Lebensweise) zu bezeichnen, die ein jedes Individuum den eigenen, persönlichen Erfordernissen und Eigenschaften entsprechend zu organisieren hat, bezeichnet dieser Begriff nunmehr in der

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rungen bis hin zu den scheinbaren Absurditäten der Magersucht und des Hungertods im Überfluss. Anders der junge Mann in Speyer, der nicht im Rampenlicht stand, sondern zuhause, zusammen mit seiner Mutter, vereinsamte. Dabei geht es nicht einfach um Armut als Mangelphänomen, »nicht um die ewige Wiederkehr des Unglücks, sondern um eine völlige Metamorphose, die heute in gänzlich neuer Form das Problem aufwirft, dass wir uns einer Verwundbarkeit vor dem Hintergrund von Sicherungen stellen müssen«, kann man mit Castel (2000: 401) schließen. Nicht eine Hungersnot traf einen der Armen. Was man physiologisch weiterhin als Mangel beschreiben wird, hat doch eine andere Qualität, wenn kein verbreiteter Nahrungsmittelmangel, sondern Überproduktion (mit folgender Lebensmittelvernichtung) charakteristisch ist. Das Problem ist hier das Herausfallen aus Gemeinschaft und Gesellschaft, auch noch aus elementaren Formen sozialer Absicherung und Bindung. Die Ursachenkonstellation ist immer komplex.4 Der Übergang von der Sozialhilfepraxis zu Hartz IV bedeutete jedenfalls u. a., dass die aktive Rolle der Sozialbürokratie, das rechtlich verbindliche Zugehen auf die Klientel, zurückgenommen bzw. die Aktivität i.W. den Klienten selbst aufgetragen wurde.5 Wer amtliche Forderungen ablehnt, sich nicht selber kümmert, d. h. wenigstens die Anträge verlängert und Termine einhält, wird nicht weiter berücksichtigt. Dabei können Menschen für die Konsumwelt, den Arbeitsmarkt und auch für die neue, ›aktivierende‹ Sozialbürokratie (vgl. Lessenich 2008) ganz irrelevant, eben überflüssig werden.

Konsumismus und ›Überflüssigkeit‹ in Konsum- und Arbeitsgesellschaft Fragt man nach soziologischen Deutungen gesellschaftlicher Entwicklungen, die Hinweise für Erklärungen solcher Phänomene bieten, dann stößt man auf zwei Debatten. Zum einen ist das die Konsumismusdebatte, die sich mit Konsequenzen der Optionenvielfalt und Orientierungsproblemen im Überfluss der Konsumwelt beschäftigt (vgl. Bauman 2003; Hellmann 2008). Das zugrunde liegende konsumgesellschaftliche Paradigma generalisiert Konsum dabei zur zentralen gesellschaftlichen Integrationsformel überhaupt. Zum anderen wird eine Diskussion zur gesellschaftlichen Erzeugung ›Überflüssiger‹ geführt (vgl. Castel 2000; Kronauer 2002; Bude & Willisch (Hg.) 2006).6 Sie

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5

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Umgangssprache die Einschränkung, den Entzug von Nahrung und hat somit eine eher negative Bedeutung«. Deshalb besteht selbstredend kein Anspruch, die aufgeführten Beispiele als Einzelfälle zu erklären. Für das zweite Beispiel soll der Hinweis nicht fehlen, dass eine strafrechtlich relevante Schuld nicht festgestellt wurde. Die Überprüfungen der Staatsanwaltschaft dazu wurden im Februar 2008 eingestellt. Sprachlich findet dies zum Beispiel seinen Ausdruck in der Rede von Arbeitsagentur (statt Arbeitsamt) und entsprechend vom ›Kunden‹ (statt Klienten) – der bekommt dort freilich bekanntermaßen nichts zu kaufen, kann keine Preise und schon gar keine Anbieter vergleichen oder sich unsanktioniert gegen einen ›Kauf‹ entscheiden. ›Überflüssige‹ ist nur eine Bezeichnung innerhalb dieser Debatte; üblich sind ebenso Überzählige, Ausgegrenzte, Entbehrliche oder auch der Exklusionsbegriff.

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folgt in ihrer Analyse einem arbeitsgesellschaftlichen Paradigma, nach dem der Erwerbsarbeit nach wie vor die zentrale Integrationsbedeutung zukommt, von der die ›Überflüssigen‹ aber ausgeschlossen werden. Exemplarisch für die genannten Paradigmen stehen die folgenden Zitate. Für Castel (2000: 13) gilt »Arbeit […] als Hauptstütze für die Verortung in der Sozialstruktur«. Bauman (2003) dagegen meint, »dass die postmoderne Gesellschaft ihre Mitglieder in erster Linie als Konsumenten und nicht als Produzenten in die Pflicht nimmt«. Und: »Arbeit hat … inzwischen in erster Linie ästhetische Bedeutung. […] Was zählt, ist der Spaßfaktor …« (Baumann 2003: 164f.). In Lohnarbeits- und Konsumgesellschaft haben sich die Menschen sozusagen an soziale Sicherheit und Wahlfreiheiten gewöhnt. Es scheint ganz so, als ob wir, an Wirtschaftswachstum, Quasi-Vollbeschäftigung, an den Fortschritt der Integration und an die Ausweitung der sozialen Sicherung gewöhnt, mit ängstlichem Gefühl eine gebannt geglaubte Realität wiederentdecken: die erneute Existenz von […] überzählig gewordenen Subjekten und Gruppen […] (Castel 2000: 19). Längst haben wir uns daran gewöhnt, stets und überall eine Auswahl aus einer unübersichtlichen Fülle von Erzeugnissen und Konsumartikeln treffen zu können und, wenn man so sagen will, zu müssen. (Kneer 2001: 422)

Die Diskussion um die ›Überflüssigen‹ wurde bislang v. a. aus der Perspektive der Arbeitsgesellschaft geführt. Arbeitslosigkeit ist dabei der zentrale Bezugspunkt dafür, dass Menschen von gesellschaftlicher Teilhabe, insbesondere Erwerbseinkommen, damit verbundener sozialer Sicherung, aber auch von Sozialbeziehungen, ausgeschlossen werden. Noch zu wenig wurde beachtet, dass die ›ökonomische Nutzlosigkeit‹ sich ebenso aus der Perspektive der Konsumgesellschaft beschreiben lässt. Beides, Erwerbsarbeit und Konsummöglichkeiten, stehen natürlich in einem engen wechselseitigen Verhältnis. Dennoch gibt es unterschiedliche Gesellschaftsbeschreibungen, die sich entweder zentral auf Arbeit oder zentral auf Konsum beziehen. Aus Sicht der Konsumgesellschaft ist es jedenfalls nicht die soziale Anerkennung und Absicherung durch Erwerbsarbeit, die den Dreh- und Angelpunkt ökonomischer und gesellschaftlicher Teilhabe ausmacht. Vielmehr sind es die Konsummöglichkeiten, die die adäquate Statusrepräsentation realisieren lassen, die individuelle wie kollektive Identitätsbildungen organisieren, die ästhetischen, moralischen wie religiösen Überzeugungen Ausdruck verleihen oder auch subkulturellen und politischen Protest praktizieren lassen. Dabei ist mit Konsum nicht mehr nur der Erwerb von Gütern und Dienstleistungen gemeint, sondern ebenso der von ›Erlebnissen‹ und Sinnangeboten. Es geht um eine eigene Form der Weltdeutung, des Weltverhältnisses (Schrage 2003). Arbeit ist darauf gerichtet, an einem Schaffensprozess für etwas gesellschaftlich Nützliches beteiligt zu sein, damit Anerkennung für erbrachte Leistungen zu gewinnen, selbst nützlich zu sein und dafür eine – moralische wie sachliche – Berechtigung sozialer Absicherung zu erwerben. Konsum dagegen orientiert sich v.a. an der prinzipiell zukunftsoffenen, nie erreichbaren Wunscherfüllung. Dies steht immer im Vergleich zu dem verfügbaren Angebot und dem,

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was andere ›sich leisten können‹. Der Konsumstandard ist der Standard der Zugehörigkeit; die Wünsche, die die immer neuen Angebote immer noch überflügeln können, bestimmen die Individualität. Letztlich ist der Konsum ohne Einkommen nicht realisierbar, der Einkommenserwerb ohne die Frage danach zu klären, wie es ausgegeben werden soll und kann, unvollständig. Die Lage der ›Überflüssigen‹ zu verstehen, kommt jedenfalls ohne eine Bezugnahme auf »Konsumstandards« (Kronauer 2000) und Konsumwünsche nicht aus, kann sich freilich nicht darin erschöpfen. Ebenso wenig lassen sich Probleme des Konsumüberflusses analysieren, wenn man nicht sowohl die Arbeit, also das Streben nach Mangelbeseitigung durch Überflusserzeugung, als auch die Bedeutung der Verwendungsmöglichkeiten des Überflusses in den Blick nimmt. Es wäre die Aufgabe einer Soziologie des Überflusses, eine solche integrierende Perspektive anzubieten, die die gesellschaftliche Erzeugung wie den Umgang mit Überflussphänomenen erfasst. Zentral dafür wird es sein, Wachstumsprozesse zu analysieren. Denn dies setzen in der Regel sowohl arbeits- wie konsumgesellschaftliche Perspektiven voraus: die permanente Steigerung, ein Immer-Mehr an Produktion bzw. Konsum. Die Arbeitsgesellschaft braucht Wachstum, um genügend Arbeitsplätze sowie Mittel für sozialstaatliche Ausgaben zur Verfügung stellen – und so ihre Integrationsleistungen für Anerkennung und Sicherung anbieten zu können. Die Konsumgesellschaft bedarf für ihre Integrationsleistungen der Anerkennung und Selbstentfaltung ständig sich ausweitende Angebote und Wünsche.

Überfluss und kulturelle Wachstumsdynamiken Um Wachstumsprozesse zu analysieren, bedarf es mehr, als hier möglich ist. So kommen sie nicht zustande, wenn es dafür keine leistungsfähigen sozioökonomischen Strukturen gibt. Seit A. Smith wird dazu auf die ›unsichtbare Hand‹ des Marktes, seit K. Marx insbesondere auf Kapitalakkumulation verwiesen. Schon diese bedarf der Rechtfertigung, wie die Arbeiten zum ›Geist des Kapitalismus‹ zeigen (vgl. Boltanski & Chiapello 2003; Weber 2005). Ich möchte mich hier aber auf einige kulturelle Dynamiken konzentrieren, die sich nicht vordergründig, jedenfalls nicht allein auf den kapitalistischen Produktionsprozess beziehen, sondern von vornherein die Bedeutung des Konsums berücksichtigen oder sogar betonen. Dazu werden einige, in der Soziologie bekannte, kulturelle Entwicklungsmuster moderner Gesellschaften diskutiert. Geht man davon aus, dass Überflussprobleme v.a. aus ungebrochenen Steigerungsprozessen resultieren, stellen sich folgende Fragen: Liegt die Lösung von Überflussproblemen im qualitativ richtigen Wachstum? Oder sind absolute Begrenzungen notwendig? Welche Entwicklungsmuster befördern oder relativieren das (v. a. technischökonomische) Wachstum? Gibt es nachhaltige Entwicklungsoptionen für die Überflussgesellschaft? Ich beginne mit Bourdieus Unterscheidung in Notwendigkeits- und Luxusgeschmack (Bourdieu 1999; vgl. Berger 1990; Barlösius 1995) und die

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damit verbundenen Steigerungslogiken. Der Notwendigkeitsgeschmack der unteren Klassen verfolgt die Strategie quantitativer Steigerung. Überfluss etwa im Bereich Ernährung heißt hier, mehr von dem auf den Tisch stellen zu können, was man auch sonst auf den Tisch stellt (Mehr-vom-selben). Der Luxusgeschmack verlangt dagegen nach neuen, ausgewählten und verfeinerten Speisen. Er ist qualitativ orientiert. Welche ist nun die nachhaltigere dieser Strategien? Aus der ökologischen Lebensstilforschung ist bekannt, dass der Ressourcen- und Energieverbrauch technisch hochgerüsteter und reiseaktiver ›Ökos‹ deutlich höher sein kann als der von armen und/oder traditionell sparsamen Haushalten. Entscheidender ist aber m. E., dass es der ›Überflussgesellschaft‹ der letzten Jahrzehnte offensichtlich gelungen ist, beide Strategien erfolgreich zu verbinden und damit die Steigerungen zu potenzieren. Ein Beispiel ist die ›Demokratisierung des Fleischkonsums‹ (Eder 1988: 240 ff.). Wie auch die Zivilisationstheorie argumentiert, sind die unteren Gesellschaftsschichten bestrebt, die oberen zu imitieren. In der Folge gibt es einen sich ausbreitenden Fleischkonsum, der zuvor lange Zeit den gesellschaftlichen Eliten vorbehalten war. Dabei nimmt der Fleischkonsum insgesamt massiv zu. Gefragt ist sowohl mehr als auch Neues, Distinguierendes und Individuierendes. Der soziale Motor dieses ›qualitativen‹ Wachstums ist zunächst die Distinktion. Sie treibt die aufstiegsorientierten unteren Schichten dazu an, den oberen nachzueifern, die oberen wiederum, sich immer erneut abzuheben. Ein weiterer Antrieb ist das, was man die zum Prinzip erhobene Alteritätsorientierung (vgl. Gill 2003) nennen kann, also die permanente Suche nach ›dem Anderen‹ als Individuierungsstrategie. Die Amalgamierung beider Strategien präferiert schließlich das immer Neueste nach dem Prinzip shopping (Bauman 2003), das bei allem Neuen strukturell letztlich Mehr-vom-selben ist (Lorenz 2005: 118ff., 240ff.). Dies funktioniert kurzfristig immer wieder als Möglichkeit der Unterscheidung, sowohl vertikal distinguierend als auch horizontal individuierend. Folglich muss ständig Neues produziert und konsumiert werden und daran teilhaben zu können wird zu einer Frage von Status, Anerkennung, Gerechtigkeit und individueller Freiheit, kurz: von Sicherheit und Freiheit. Die bisherigen qualitativen Wachstumsmuster sind also weiter auf quantitative Steigerungen, ein Immer-Mehr an distinguierendem bzw. individuierendem Status oder die permanente Suche nach Neuem, verwiesen. Ähnlich verhält es sich beim nächsten Entwicklungsmuster, dem der Naturbeherrschung durch rationale Planung und Technisierung. Es ist die Vorstellung, dass man die Kultur gegen die Natur stellen müsse und je mehr man diese, die menschliche wie die äußere, beherrsche, desto humaner werde die Gesellschaft. Auch darin ist offensichtlich eine grenzenlose Steigerung, das ImmerMehr an Naturbeherrschung als zivilisatorischer Fortschritt, angelegt. Die kulturelle Erfolgsgeschichte dazu schreibt, bei allen Kosten der Affektunterdrückung, die Zivilisationstheorie (Elias 1998). Dieses Verständnis hat kulturell offensichtlich wenig von seiner Überzeugungskraft verloren, wenngleich es dazu einiger sozialer Vorkehrungen bedurfte, die den Herrschaftsanspruch verdecken und dadurch stärken (vgl. Lorenz 2005: 211ff., 242ff.). Die Ästhe-

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tisierungen, die Elias beschreibt, also etwa das Verbergen der ›Tierproduktion‹ hinter einer idyllischen Verkaufspräsentation fleischlicher Speisen, ermöglichen Gegensätzliches zugleich: eine instrumentell effektive Naturausbeutung und ein sensibles Gewissen. Die destruktiven Seiten solcher Entwicklungen bis hin zum Holocaust, basierend auf einer sozialen Trennung von rationaler Organisation und Moral, betont Bauman (2002). In ökologischer Hinsicht führt Latour (1995) das unkontrollierte Wachstum von Hybriden, insbesondere Technik, auf die Illusion von deren Kontrollierbarkeit zurück.7 An eine weitere Variante kultureller Steigerungsmuster, wieder am Beispiel Ernährung, knüpfen Barlösius und Manz (1988) an. Die Rede ist von einer Verfeinerung der Esskultur, die in Anlehnung an Webers Rationalisierungskonzept differenzierter Wertsphären historisch rekonstruiert wird. Diese Überlegung zielt letztlich auf (geschmackliche) Bildungsprozesse, die weitgehend frei von äußeren, v.a. instrumentellen Einflüssen, allein der ästhetischen Entfaltung verpflichtet sind. Auf diese Weise lassen sich in der Tat esskulturelle Bildungsprozesse von industriellen Geschmacksreizungen unterscheiden (Barlösius 1987) und damit die Erzeugung von Neuem qualifizieren. Dennoch sind drei skeptische Anmerkungen nötig. Erstens kann auch von dieser ungebrochenen, weil immer weiter rationalisierenden Form nicht selbstverständlich eine nachhaltige Entwicklung erwartet werden, gerade weil sie keine Rücksicht auf andere Rationalitäten nimmt. Zweitens wird, wenn man die Freiheit in der separierten Kunstsphäre sucht, genau damit deutlich gemacht, dass derartige Rationalisierungen in der Gesellschaft sonst eben keine Rolle spielen. Ein Ausweg aus Überflussproblemen ist damit nicht gewiesen, zumal diese Art Zweckfreiheit, wie Bourdieu zeigte, selbst wieder zweckhaft eingeholt wird: Wenn die Freiheit in dieser abgegrenzten Sphäre wohnt, stellt sich die Frage, wer die ›Miete‹ dort zahlen kann. Fasst man dagegen, drittens, Ästhetisierung als Prinzip allgemeinerer Gültigkeit, so muss man heute feststellen, dass der ›schöne Schein‹ ein wesentliches Schwungrad für die forcierte Konsumgesellschaft abgibt (Bolz 2002). Die Frage ist nun, ob vergleichbare Bildungs- oder Gestaltungsprozesse, die nicht sofort in eine steigernde Distinktions-, Alteritäts- oder Ordnungslogik überführt werden, aber auch nicht auf marginale Gesellschaftsbereiche beschränkt bleiben, möglich sind. Eine Soziologie des Überflusses kann zwar eine kritische Funktion übernehmen, indem sie auf Überflussprobleme aufmerksam macht, die auf derartigen Wachstumsdynamiken gründen. Aber sie hat damit erst eine Gestaltungsaufgabe postuliert, der noch keine tatsächlichen Optionen entsprechen. Bevor ich daran im letzten Abschnitt mit Kon7

Kultur ist nicht gleich Kultur. Aus Sicht der rationalistischen Kultur ist die traditionale Kultur viel mehr Natur als Kultur. Dennoch ist heute nicht mehr zu übersehen, dass bestimmte Probleme erst durch enttraditionalisierende Rationalisierung entstehen, traditionale Kultur also durchaus angemessenere Problemlösungen bieten kann – was nicht heißt, dass man diese einfach (wieder) übernehmen könnte. Sich heute ›richtig‹ zu ernähren, bei der Angebotsvielfalt an Lebensmitteln, Verbraucherberatung und ernährungswissenschaftlichem Erkenntniszuwachs, ist nicht zu bewältigen und man kann sich unversehens auf traditionale Ernährungsweisen, wie die »Kreta-Diät« als »Speerspitze der Innovation«, zurückverwiesen sehen (Kaufmann 2006: 26 f ., 72; vgl. Barlösius 1999).

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zepten der Reflexivität noch einmal anknüpfe, wird in einem historischen Exkurs aufgezeigt, dass Überfluss nicht zwangsläufig an Wachstum gebunden sein muss.

›Original Affluence‹ In der Regel wird angenommen, dass Überflussphänomene in vorindustriellen Zeiten nicht das industrielle Niveau erreichten und nur wenigen Eliten vorbehalten waren. Dem widersprechen teilweise Untersuchungen zu Jägerund Sammlergesellschaften, die hier »eine Überflussgesellschaft für alle Menschen« (Paczensky & Dünnebier 1997: 27) vermuten lassen. Sahlins (1974) setzt sein Verständnis dieser »original affluent society« gegen die Konzeption Galbraith’s (1998). Für diese Positionierung werden zunächst zwei Argumente stark gemacht. Zum einen wird aufgezeigt, dass insbesondere die Nahrungsbasis sehr vielfältig und, zumindest periodisch, reichlich vorhanden war. In diesem Sinne herrschte tatsächlich Überfluss, und es wird vorgerechnet, dass der durchschnittliche Arbeits- und Zeitaufwand für die Reproduktion tendenziell niedriger war als in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Das zweite Argument zielt auf eine andere Zweck-Mittel- bzw. Bedürfnis-Produktions-Relation: »There are two possible courses to affluence. Wants may be ›easily satisfied‹ either by producing much or desiring little« (Galbraith: 1998). Während die Industriegesellschaft auf ständig gesteigerte Produktion setzt, begrenzten Jäger und Sammler die Bedürfnisse. Während dort trotz hoher Produktivität ökonomisch induzierte Knappheit herrscht, regiert da trotz im heutigen Verständnis geringer Produktivität Wohlstand. Pointiert: weniger Arbeit plus weniger Konsum gleich mehr Überfluss. Dies wird durch zwei weitere Befunde untermauert. Einmal prämiert die nomadische Lebensweise nicht die Anhäufung von materiellem Eigentum, sondern die Fähigkeit des Lebens an verschiedenen Orten, unter verschiedenen Bedingungen, mit ›leichtem Gepäck‹. Zum anderen sind dies »simplicity of technology and democracy of property« (Galbraith 1998). Die relative Einfachheit der Mittel, d.h. die grundsätzliche Möglichkeit der Handhabung ohne besonders ausgeprägte Spezialisierungen, und der Zugang aller dazu befördern die Einflussnahmemöglichkeiten auf das gemeinschaftliche Leben. Dies ist Sahlins schlussendliche Aussage, dass Armut eine Frage sozialer Ungleichheit, des sozialen Status ist. Sie ist »an invention of civilisation« und nimmt mit der Zivilisation zu, nicht ab. Diese Sichtweise ruft ein völlig anderes Überflussverständnis auf und v.a. eine andere Umgangsweise, als dies in der modernen Industriegesellschaft praktiziert wird. Daraus zu folgern, dass von einer Überflussgesellschaft heute nicht gesprochen werden könne (Gronemeyer 2003: 73 ff.), vergibt m. E. die Chance zum Kontrast. Sinnvoller als heutigen Überfluss zu bestreiten, da faktisch ökonomische Knappheit dominiere, scheint es, nach den qualitativen Unterschieden des Überflusses zu fragen und etwas über unterschiedliche Umgangsweisen damit zu lernen. Überfluss kann so grundsätzlich als (gelingende oder scheiternde) Gestaltungsaufgabe begriffen werden – und zwar entgegen einer romantisierenden Kritik genauso für Jäger und Sammler.

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Bei allen Sympathien, die man als spätmoderner gestresster Städter für das ›gute, einfache Leben‹ entwickeln mag, ist die Rückkehr in quasi-steinzeitliche Verhältnisse kein Rezept zur Problembearbeitung strukturell differenzierter und kulturell pluralisierter Gesellschaften. Die Fortschreibung bisheriger moderner Entwicklungen bietet aber angesichts ökologischer und sozialer Problemlagen auch keine nachhaltige Option. Kritiken am Wachstum müssen sich deshalb mit Fragen nach Möglichkeiten der Begrenzung und Qualifizierung von Wachstum auseinandersetzen. So sah beispielsweise Illich (1998) im medizinischen Bereich ab 1913 tatsächlich Fortschritte in der Behandlung von Krankheiten. Die Fortschrittsdynamik führte allerdings nach seinen Analysen bereits ab Mitte der 1950er Jahre zu gegenläufigen Effekten. Sie produzierte mehr Krankheit und Leid als sie zur Linderung beitrug. Das Beispiel der Jäger und Sammler kann zeigen, dass Begrenzungen zu mehr Wohlstand führen können. Wie diese heute zu gestalten und durchzusetzen sind, ist damit noch nicht gesagt. Interessanterweise ist auch die Diskussion nomadischer Lebensweisen in die neueste gesellschaftstheoretische Zeitdiagnostik zurückgekehrt. Sie tritt nicht nur als ökonomischer Flexibilisierungszwang an die Individuen heran (Sennett 2000), sondern besitzt auch verbreitete kulturelle Anerkennung im Sinne unabhängiger Lebensführung. Die »flüchtige Moderne« bietet ihren globalen Eliten, die »mit leichtem Marschgepäck reisen«, ein Leben nach nomadischen Prinzipien (Bauman 2003: 20 ff.; vgl. Boltanski & Chiapello 2001: 466 f.). Hier wird nicht mehr territorialer und materieller Besitz gegenüber ›primitiven‹ nomadischen Lebensweisen präferiert. Die Verfügung über fluide Arten des Überflusses führt aber auch nicht in eine steinzeitliche Egalität. »Leichtigkeit wird zum Vorteil im Machtkampf« (Bauman 2003: 21). Wer dem Tempo der konsumistischen Lebensweise nicht folgen kann, ist von den Flexibilitätszwängen nicht entbunden, sondern diesen tendenziell ohnmächtig ausgesetzt. Diese Menschen »haben den Zug der Modernisierung verpasst und bleiben mit ganz wenig Gepäck auf dem Bahnsteig zurück« (Castel 2000: 359). Damit ist das zeitgenössische Spannungsfeld zwischen dem Überfluss der Konsumgesellschaft und den ›Überflüssigen‹ der Arbeitsgesellschaft wieder eröffnet.

Konsequenzen für eine Soziologie des Überflusses Der Hungertod, so wurde argumentiert, ist ein Phänomen extremer Situationen, das aber zugleich auf breitere Problemlagen verweist. Diese sind allerdings, bei gleicher Konsequenz im Ausnahmefall, in Mangel- und Überflussgesellschaft ganz unterschiedlich begründet. Überflusserzeugung kann eine Reihe von Mangelproblemen beseitigen, führt aber ungebremst in neue Probleme eigener Qualität. Diese können wiederum stark variieren. Die eingangs angeführten Beispiele zeigen, dass selbst elementare Handlungen (wie Essen) im Überfluss keineswegs gesichert sind. Zum einen kann der Inklusionsdruck in die Konsumgesellschaft so groß werden, dass die Widersprüchlichkeiten in deren Dynamik ein gesundes Essverhalten massiv beeinträchtigen. Umge-

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kehrt kann gerade das Herausfallen aus dieser Inklusionsdynamik die sozialen Bindungen soweit schwächen, dass auch hier elementares Essverhalten nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Es wurde eine Reihe von kulturellen Orientierungen diskutiert, die verdeutlichen kann, was die Attraktivität von Wachstum ausmacht, was dieses antreibt: das Streben nach Anerkennung über distinktive Statusgewinne oder über Individuierung, das Streben nach dem unbegrenzt Neuen und ästhetisch immer Besseren, aber auch übersteigerte Kontrollillusionen der ›Machbarkeit‹, sei es des eigenen Körpers (häufig bei Essstörungen) oder der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse. All dies liefert Motive dafür, an tendenziell unbegrenzten Steigerungen festzuhalten. Die Problemanalyse nimmt dabei immer eine Mangelperspektive ein, hofft also, dass noch vorhandene Mängel bei weiteren Steigerungen letztlich doch zu beseitigen seien. Ausgeblendet wird dabei, dass diese Dynamik Probleme eigener Qualität selbst erzeugt: dass es schlicht zuviel werden kann, dass also Grenzen überschritten werden, nach der die Chancen des Überflusses zur überfordernden Last werden; dass systematisch Reste, Abfälle o. ä., im weiteren Sinne Nebenfolgen (vgl. Beck 1996), permanent mit erzeugt werden. Eine Soziologie des Überflusses müsste sich diesen Phänomenen in ihrer ganzen Breite widmen. Während Überflussphänomene eine gesellschaftliche Präsenz erreichen konnten, die ›Überflussgesellschaft‹ in den letzten Jahrzehnten zum selbstevidenten Deutungsbegriff westlicher Industriegesellschaften werden ließ, ist die Soziologie bislang nicht zu einer systematischen Analyse vorgedrungen. Noch im aktuellsten Lexikon zur Soziologie (FuchsHeinritz et al. (Hg.) 2007) wird unter »Überflussgesellschaft« nur die bereits vor fünfzig Jahren erschienene ökonomische Arbeit von Galbraith (1998) ausgeführt. Kneer (2001) reiht »Überflussgesellschaft« zwar in den Band Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie ein. Er verweist aber gerade auf die gesellschaftstheoretische Seltenheit der Begriffsverwendung und versucht eher selbst, Theorien auf Potenziale für eine Überflussperspektive zu prüfen. Überfluss ist in jedem Fall als ambivalent und relational zu bestimmen: ambivalent, weil er ebenso Wohlstand, Reichtum, Schlaraffenland, überfließendes Füllhorn etc. bezeichnet als auch Überflüssiges, das als Last, Sinnlosigkeit, Destruktion etc. erscheint; relational, weil er nur im Verhältnis zu Mangel, Notwendigem (und Überflüssigem) erscheint. Schließlich wäre es zu eng, Überfluss von vornherein auf Konsumüberfluss festzulegen. Man schließt dann bereits im voraus aus, dass auch Menschen, nicht nur Dinge, für gesellschaftliche Prozesse ›überflüssig‹ werden können und dass beides im Zusammenhang, statt getrennt (Arbeit vs. Konsum), zu analysieren ist. Außerdem gibt man ohne Not Vergleichsoptionen dafür auf, wie alternative Überflusskonzepte aussehen könnten. Als historisches Beispiel wurde der Überfluss der Jäger und Sammler diskutiert, der ohne Wachstumsprämisse auskommt. Gleichwohl bieten solche Gesellschaften nicht umstandslos Lösungen für Überflussprobleme moderner industrialisierter Gesellschaften. Sucht man aktuell nach Nachhaltigkeitspotenzialen in kulturellen Entwicklungsmustern, ist

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es m. E. weiterführend, an Konzepte der Reflexivität anzuschließen.8 Diese werden über verschiedene theoretische Ansätze hinweg – von der französischen Ungleichheitsforschung (Boltanski 1976) über die neuere Zivilisationstheorie (Dreitzel 1992; Wouters 1999) bis zur Theorie reflexiver Modernisierung (Beck, Giddens & Lash 1996) – über die letzten Jahrzehnte verstärkt thematisiert. So sieht etwa Dreitzel die neuen Anforderungen kapitalistischer Ökonomie, aber auch die gute materielle Absicherung als Bedingungen zur Ausbildung flexibler, informalisierter Orientierungen. Bei allen Unterschieden im Verständnis von Reflexivität ist doch als grundlegendes Merkmal anzusetzen, dass eindimensionale Orientierungs- und Entwicklungslinien gebrochen werden. Wenn aber permanentes Wachstum als treibende Kraft für Überflussprobleme gilt, dann ist mit dieser inhärenten Brechung von Steigerungen das entscheidende Moment benannt, das eine Soziologie des Überflusses aufgreifen kann, die Anschlüsse für eine nachhaltige Überflusskultur sucht. So kommen weitere Gestaltungsoptionen, v.a. Begrenzungen und Balancierungen in den Blick. Darin liegen freilich zugleich die nächsten Schwierigkeiten begründet. Denkt man an das Beck’sche (1996) Konzept reflexiver Gesellschaftsentwicklung, so führt diese gerade zu (meist unerwünschten) Nebenfolgen. Sie werden durch Reflexivität erzeugt und gerade nicht vermieden. Allerdings darf nicht von der allgemeinen Gesellschaftsdiagnose auf die Handlungsebene (oder die politischer Steuerung) kurzgeschlossen werden. ›Reflexive Modernisierung‹ führt auf Handlungsebene zu Verunsicherungen, die sich in anspruchsvollem Sinne reflexiv bearbeiten lassen, aber ebenso auch auf fundamentalisierte Weise beantwortet werden können (vgl. Lorenz 2007). Letztere will über absolute Begrenzungen zur Handlungssicherheit kommen, funktioniert aber im Wesentlichen nur als Gegenideologie zum produktivkonsumtiven Wachstum (vgl. Lorenz 2005: 149 ff., 240 ff.). Der Anspruch, negative Nebenfolgen gar nicht erst entstehen zu lassen, ist jedenfalls absurd. Reflexivität bedeutet hier vielmehr anzuerkennen, dass eine völlige Beherrschung von Entwicklungen weder möglich noch erstrebenswert ist, woraus die Fähigkeit der frühzeitigen Bearbeitung von Nebenfolgen erst resultieren kann.9 Gravierender ist sicher der Einwand, den etwa Bauman (2003: 61 ff.) gegenüber den Vorstellungen der life-politics bei Giddens formuliert. Bauman nimmt eine enorme Überforderung an. Die Brechung eindimensionaler Steigerungslogiken steigert ihrerseits die – individuellen wie gesellschaftlichen – Bearbeitungsanforderungen in hohem Maße; die Probleme werden komplexer, wenn man sie nicht mehr auf Wachstum reduzieren kann. Damit verbin-

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Wie bereits in Abschnitt 3 markiert, stütze ich mich dazu u. a. auf meine Studie zum Biokonsum (Lorenz 2005;Lorenz 2007). Darin werden kulturelle Orientierungsmuster rekonstruiert, die jeweils bestimmte Steigerungs- und Entwicklungsoptionen verfolgen. Es werden sowohl die konsumistische als auch die ambivalente sowie schließlich die reflexive (2005: 182 ff., 242 ff.) Option herausgearbeitet. Als Konzepte der politischen Theorie lassen sich hier prozedurale Modelle anschließen (vgl. Habermas 1994; Latour 2001), die wesentlich eine Form der Gestaltung konzeptualisieren, die weder absolute Begrenzungen setzen noch deshalb in Beliebigkeit münden.

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den sich v.a. Durchsetzungsschwächen – und in den dominierenden, technisch-ökonomischen Subsystemen der Gesellschaft kann man sich diese Schwächen kaum leisten.10 So berechtigt der Einwand vor überzogenen Gestaltungsanmaßungen warnt, so stellt sich doch die Frage, ob nicht gegebenenfalls ein reflexives Scheitern an Gestaltung einem ungebremsten Weiter-so mit absehbar destruktiven Konsequenzen in soziokultureller wie ökologischer Hinsicht vorzuziehen ist. Verausgaben heißt vor dem Hintergrund ungebrochener Wachstumsdynamiken, dass die permanenten Steigerungen in destruktive Übersteigerungen führen. Reflexive Verausgabungen wären dann Gestaltungsbemühungen, die anerkanntermaßen auch scheitern können.

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KULTURINDUSTRIE — VERMASSTE KULTUR — JAZZ MATTHIAS HOFFMANN UND REBECCA WEBER Einleitung Der Begriff der ›Kulturindustrie‹, wie er von Adorno und Horkheimer im vierten Kapitel der Dialektik der Aufklärung entworfen wird, provozierte die Kritik von Anfang an. Fatalistisch und übertrieben sei die These von der Kulturindustrie, ihr universeller Anspruch irreal, ihre ausweglose Totalität einer Verschwörungstheorie nahe. Über sechzig Jahre später findet sich jener Begriff der »Kulturindustrie« wieder. Und zwar in offiziellen regierungsamtlichen Verlautbarungen. Präzise im Sinne eines lückenlosen Systems hat sich die kommunistische Partei Chinas die Überführung »aller Kulturressourcen« des Landes in »Kulturprodukte« als oberstes Ziel auserkoren (vgl. Siemons 2007). Es werden staatlicherseits gezielt solche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen installiert, die einer marktmäßigen Verwertung von Kultur förderlich sind. Mit planmäßigen Kampagnen wie »Mode-, Auto- und Computerbeilagen« der Parteizeitung lanciert die kommunistische Partei die Entdeckung des Kulturkonsums. Siemons interpretiert denn auch die systematische Umwandlung der chinesischen Kulturlandschaft ganz im Sinne Adornos und Horkheimers. Die Vielfalt des Marktes biete nur den Schein einer Auswahlmöglichkeit. Der Überfluss des Massenkonsums diene der Propaganda dazu, das chinesische Volk mit Leib und Seele zu vereinnahmen. Das Volk verausgabe sich im Markt, ohne dieser Verausgabung gewahr zu werden. Siemons sieht in dem von der Parteiführung postulierten »Recht des Volkes auf Kulturkonsum« lediglich ein ideologisches Feigenblatt, das über die erwachende und erweckte Konsumnachfrage die Zugänglichkeit und Lenkbarkeit der Massen als dem eigentlichen Ziel der »Kulturpolitik« verdecken soll. Es geht hier also um Überflussproduktion zum Zwecke der Lenkung von Massen. Kulturindustrie im Sinne Horkheimers und Adornos bedeutet gerade das: Die Beherrschung der Menschen dadurch, dass man sie zu Konsumenten macht. Der Untergang der Individualität ist für sie das Ergebnis. Dargestellt wird die Kulturindustrie in der Dialektik der Aufklärung unter anderem an der Jazzmusik. Bevor Adorno nämlich das Kulturindustriekapitel in der Dialektik der Aufklärung schrieb, hatte er die Kulturindustriethese schon mehr oder weniger fertig ausgearbeitet: Und zwar in seiner frü-

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hen Arbeit Über Jazz (Adorno 1982).1 Adorno »dechiffriert« dort den Jazz, interpretiert ihn im Sinne seiner Gesellschaftstheorie und platziert diese These dann später mit Horkheimer zentral in der Dialektik der Aufklärung als das Kapitel Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug (vgl. Horkheimer & Adorno 2003: 128 ff.), in welchem die Situation des Individuums als ein recht lichtloses Szenario erscheint. Der Jazz ist das »ausgeführte Modell« der Kulturindustriethese (vgl. Paetzel 2001: 68ff.). Demzufolge gibt es also für Adorno eine (fatale) Verbindung zwischen Überfluss und Jazz. Unsere Kritik am «ausgeführten Modell«, der Jazztheorie, bedeutet indes nicht, dass wir die Kulturindustriethese als solche für falsch hielten. Der Diagnose von der zur Warenförmigkeit zugerichteten Welt und Adornos Kapitalismuskritik stimmen wir zu, wenn wir auch die von ihm verwendete psychoanalytische Interpretation und die damit verquickten Implikationen nicht für überzeugend halten. Mag die Dialektik der Aufklärung auch im Ton schrill sein, so halten wir sie doch mit Heinz Steinert für ein insgesamt »radikales, böses und tiefschwarz trauriges Buch und dadurch (für) so realistisch« (Steinert 2002: 28). In Bezug auf den Jazz wollen wir nun aber einen anderen Zusammenhang zum Überfluss darstellen, der gerade die gegenteilige Diagnose zulässt: Jazz als genuine Möglichkeit, Individualität zu bewahren. Jazz ist wesentlich improvisierte Musik und Improvisieren bedeutet, aus einem ungemein großen Reservoir an Möglichkeiten im Akt des Spielens verschiedene Möglichkeiten zu realisieren. Ganz wörtlich verstanden: Improvisationsmöglichkeiten gibt es im Überfluss. Aber für ihre Auswahl, und d. h. für die künstlerisch wertvolle Kombination, sind die individuellen Musiker beim Improvisieren verantwortlich. Der Archetyp der Kulturindustrie, die Jazzmusik, offenbart somit eine Kehrseite, deren Potenzial für die Erhaltung von Individualität Adorno und Horkheimer für ihre These von der Kulturindustrie ungenutzt lassen.

Kulturindustrie Das zentrale Bestimmungsmerkmal der Kulturindustrie ist das Kriterium der Warenförmigkeit (vgl. Steinert 2002: 30). Kultur wird als Ware gefasst oder zugerichtet oder, mit der Intention des Handelns mit ihr, hergestellt. Aber nicht nur »Kultur«, sondern die »ganze Welt wird durch das Filter der Kulturindustrie geleitet« (Horkheimer & Adorno 2003: 134). Die Kulturindustrie ist für Adorno total. Allerdings ist der Begriffsteil »Industrie« nicht wörtlich zu nehmen, sondern er bezieht sich auf »die Standardisierung der Sache selbst […] und auf die Rationalisierung der Verbreitungstechniken, nicht aber streng auf den Produktionsvorgang« (Adorno 1970: 339). Unter Kulturin1

Das Kulturindustriekapitel der Dialektik der Aufklärung stammt wohl aus der Feder von Adorno. Vgl. Steinert (2003: 26 und 2002: 39) sowie Paetzel (2001: 36). Wir sprechen deshalb von »Adornos Kulturindustriethese«.

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dustrie ist daher auch keine materiale Industrie zu verstehen, hinter der eine Clique von Dunkelmännern stünde, die man verantwortlich machen könnte, wie dies für die Kulturpolitiker in China gilt. Kulturindustrie gilt Adorno als (zentrale) Eigenschaft der heutigen Gesellschaftsverfassung: Die Menschen sind eingebunden in die Gesetzmäßigkeit des Warenaustauschs, der sie beherrscht (vgl. Steinert 2002: 42;91). Die Kulturindustriethese beschreibt daher nichts weniger als die Bedingungen der Menschen im Kapitalismus (Steinert 2002: 151; Cook 1996: ix: »Adorno pioneered the exploration of many problems currently treated today in theories of mass culture while undertaking a comprehensive appraisal of mass societies under late capitalism.«2). Als Herrschaftsform und Integrationsinstanz ist die Kulturindustrie für Adorno deshalb so wirkungsvoll, weil sie über ihre Produkte die Menschen zu Konsumenten macht und dadurch lenkbar (vgl. Paetzel 2001: 38 f.). Für die Kunst bedeutet das, dass sie nunmehr nur noch Ware sein kann. Kunst, deren Gebrauchswert einstmals gerade darin lag, nutzlos zu sein, und Kultur selbst sind nun einem Marktgeschehen unterworfen, das sie als solche zerstören muss. Kunst wird vermasst, aber dadurch wird zugleich auch die Masse um die Kunst betrogen. Das notwendige Moment des Sich-Aneignens von Kunstwerken dadurch, dass man sich mit ihnen beschäftigt und auseinandersetzt wird ersetzt durch das pure Erwerben von Kunstwerken. Die Lüge der Kulturindustrie besteht in der Gleichsetzung von Aneignung mit Kauf (vgl. auch Steinert 2002: 32 f.). Was der Kunst als ihr Sein bleibt, ist ihr Tauschwert, der fetischisiert wird. Die Perfidie der Kulturindustrie liegt für Adorno nun darin, dass sie diese Reduktion der Welt auf Warenförmigkeit zu verschleiern vermag. Die Kulturindustrie weiß mittels Ideologie zu verhindern, dass die Menschen wissen oder erkennen können, um was sie betrogen werden: »Anpassung tritt Kraft der Ideologie der Kulturindustrie anstelle von Bewusstsein […]« (Adorno 1977: 343).3 Adorno spricht gar von einem »kategorischen Imperativ der Kulturindustrie«: »Er lautet: du sollst dich fügen, ohne Angabe worein; fügen in das, was ohnehin ist, und in das, was, als Reflex auf dessen Macht und Allgegenwart, alle ohnehin denken« (Adorno 1977: 343). Das Individuum ist nur noch Konsument und alles was der Konsumenten-Mensch sich wünscht, kann ihm die Kulturindustrie erfüllen; er weiß bloß nicht mehr, dass er sich nur noch wünschen kann, was die Kulturindustrie ihn sich wünschen lässt. Auf diese Art und Weise redet die Kulturindustrie dem Konsumenten ein, ihr Betrug wäre die Befriedigung (vgl. Horkheimer & Adorno 2003: 150). Bei Adorno gewinnt diese ganze Situation eine psychoanalytische Dimension: Die Kulturindustrie gewährt niemals wahre Befriedigung, sondern exponiert das Begehrte bloß, versagt aber stets die Lust, so dass schließlich die Versagung selbst den Menschen zur masochistischen Lust wird (vgl. Horkheimer & Adorno 2003: 148). Kulturindustrie organisiert also die lustvolle Unterwerfung. Die Menschen unterwerfen sich selbst und feiern ihre 2 3

Zum Themenkomplex Kulturindustrie, Populärkultur und Massenmedien vgl. Kausch (1988). Vgl. auch im ersten Exkurs der Dialektik der Aufklärung die Interpretation der Lotophagen Passage der Odysee: Auch dort wird eine Scheinrealität für die Realität gehalten.

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Unterwerfung als Freiheit. Die industrialisierte Kultur ist für Adorno wesentlich geprägt durch die »Kastrationsdrohung« (vgl. Horkheimer & Adorno 2003: 150). Indem diese Drohung permanent aufrechterhalten wird, werden die Individuen gefügig gemacht: Wer sich nicht einfügt, soll das heißen, der wird »kastriert«. Nur wer sich einfügt, gehört dazu. Es ist die Selbsterniedrigung, die den Zugang zum Kollektiv, zur großen Masse eröffnet.4 In diesem Mechanismus der Selbstaufgabe um des vermeintlich Höheren willen ist die Kulturindustrie dem Faschismus gleich (vgl. Horkheimer & Adorno 2003: 163). Der Einzelne verschwindet in der Masse, soll es auch, wichtig ist nur sein Funktionieren und sofern dies gesichert ist, kann er mühelos ersetzt werden. »Jeder ist nur noch, wodurch er jeden anderen ersetzen kann: fungibel, ein Exemplar. Er selbst, als Individuum ist das absolut Ersetzbare, das reine Nichts […]« (Horkheimer & Adorno 2003: 154). Das Individuum ist in der Kulturindustrie untergegangen.

Exkurs: Pasolini Rund dreißig Jahre nach der Dialektik der Aufklärung erscheinen 1975 die Freibeuterschriften von Pier Paolo Pasolini (Pasolini 2006).5 Was bei Adorno und Horkheimer »Kulturindustrie« heißt, taucht bei ihm als »Konsumgesellschaft« nahezu unverändert auf. Auch für Pasolini trägt dieses Phänomen apokalyptische Züge. Er sieht eine »kulturelle Gleichschaltung« (Pasolini 2006: 50), die durch eine Diktatur des Konsums sowohl Körper als auch Köpfe betreffe und so für ihn zu einem neuen, viel schlimmeren Faschismus wird. Ebenso wie die Dialektik der Aufklärung eine dunkle Kehrseite eben dieser Aufklärung beschreibt, ist für Pasolini der Zusammenhang zwischen Demokratie und Massenkultur kein »Fortschritt«, sondern eine aufklärerischfortschrittlich getarnte Nivellierung der Einzigartigkeit und Zerstörung des Einzelnen im Dienste eines radikalisierten Konsumismus. Pasolini spricht von einem »unausgesprochnen Befehl«, der die Menschen zu konsumieren dränge (Pasolini 2006: 60), von »dem entwürdigenden Zwang, so zu sein wie die anderen: Im Konsumieren, im Glücklichsein, im Freisein; denn das ist der Befehl, den er (i. e. der Mensch der Konsumgesellschaft, Hoffmann & Weber) unbewusst empfangen hat und dem er gehorchen ›muss‹, will er sich nicht als Außenseiter fühlen« (Pasolini 2006: 60). Die Nähe zu Adornos kategorischem Imperativ der Kulturindustrie ist mit Händen zu greifen. Die Scheinfreiheit der Kulturindustrie und deren Zusammenhang mit dem Faschismus ist auch für Pasolini unzweifelhaft gegeben, sei doch der Konsumismus nichts anderes als eine neue Form des Totalitarismus, seine Liberali4

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Zur überaus problematischen Verquickung von Sozialwissenschaft und psychoanalytischer Terminologie, speziell unser Thema betreffend, s. das Kapitel »Adornos Psychoanalyse des Jazz« in Steinert (2003). Wir sparen diese Dimension der Kulturindustriethese weitestgehend aus. Wenn sich auch kein expliziter Beleg für Pasolinis Rezeption der Dialektik der Aufklärung in ihnen findet, so kann man von ihr doch recht sicher ausgehen: Als linker Intellektueller und seit Ende der vierziger Jahre durchgehend politisch aktiver Marxist kann ihm diese Lektüre nicht entgangen sein.

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tät also bloß eine vorgetäuschte (vgl. Pasolini 2006: 98 f.). Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft heißen die Freibeuterschriften im Untertitel. Sie beschreiben die Zerstörung von Individualität durch Massenkonsum und den produzierten Willen der Individuen, sich konform zu verhalten, sich also selbst zu zerstören. Die Zurichtung der Welt zur Warenförmigkeit hat das Individuum für Adorno und Horkheimer zum reinen Nichts werden und untergehen lassen. Die gleiche Lichtlosigkeit der Zustandsbeschreibung findet sich auch in den Freibeuterschriften.

Jazz als Ur-Phänomen der Kulturindustrie: Adornos Über Jazz 1936 meldete Adorno an Walter Benjamin, dass es ihm gelungen sei, den Jazz vollständig zu »dechiffrieren« (vgl. Adorno 1995: 175), und damit war impliziert, dass der Jazz stellvertretend für ein Anderes betrachtet würde.6 Dass der Jazz aber auch überhaupt nicht als Jazz betrachtet werden kann, macht Adorno in Über Jazz zum Ausgangspunkt: »Jazz ist nicht, was er ›ist‹, […], er ist, wozu man ihn braucht, und das freilich stellt vor Fragen, die zu beantworten weitgreifende Untersuchung nötig machte« (Adorno 1982: 77). Das Ergebnis der weitgreifenden Untersuchung ist die gerade dargestellte Kulturindustriethese. Jazz wird von Adorno als soziales Phänomen verstanden und diesem gilt seine Kritik (vgl. auch Paetzel 2001: 78). Stilbegrifflich bestimmt ist der Jazz für Adorno eine Kombination von Salonmusik und Marsch. Von der Salonmusik erbe er die Repräsentation einer Individualität, die in Wahrheit keine sei und vom Marsch die Illusion einer Gemeinschaft, die doch nur »Gleichrichtung von Atomen unter auf sie ausgeübtem Zwang« sei (vgl. Adorno 1982: 92). Das musikalische Prinzip des Marsches sei im Jazz evident wegen der historischen Verwandtschaft des Jazzorchesters mit der Militärkapelle, und darum auch »will der Jazz zum faschistischen Gebrauch gut sich schicken« (Adorno 1982: 92). Was ihn aber vor allem auszeichnet, warum er für Adorno zum sozialen Phänomen von Interesse wird und warum Adorno von ihm zur Kulturindustriethese gelangt, sei seine Warenförmigkeit: »Jazz ist Ware im strikten Sinn« (Adorno 1982: 77). Die Gattung wird für ihn deswegen nicht von einem autonomen Formgesetz bestimmt, sonst gehörte sie zur Sphäre der Kunst, sondern sie wird bestimmt über ihre Funktion, weil sie immer schon Ware ist (vgl. Adorno 1982: 76). Und zwar eine Ware, die in einem immergleichen »Produktionsprozess« (z. B. Adorno 1982: 88) massenhaft hergestellt wird: Durch Synkopentrick und starr durchgehaltene Taktsequenzen, genau vorgeschriebene Variationen und genau vorbestimmter harmonischer Struktur (Adorno 1982: 82). Versehen wird dies mit variablen modischen Beigaben, um die wesentliche Immergleichheit der verschiedenen Produkte zu kaschieren (vgl. Adorno 1982: 84). Jazz zeichnet sich geradezu durch seine »Eignung zum Massenartikel« aus (Adorno 1982: 77), weil »alle Formelemente des Jazz durch die kapitalis6

Für die Frage, welchen Jazz Adorno kannte, über welchen er sich lesend informierte und welchen er zu seinen Lebzeiten hätte kennen können vgl. Steinert (2003: 64 ff.).

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tische Forderung nach seiner Tauschbarkeit völlig abstrakt vorgeformt sind« (Adorno 1982: 82). Es sind also auch hier schon die kapitalistische Verfasstheit der Gesellschaft und die Gesetzmäßigkeit des Warentausches, die Freiheit und Individualität ersetzen durch Genormtheit und Stereotypie, wobei aber dieser Austausch von den Menschen unbemerkt bleibt. Um zu erklären, warum die Menschen sich diesem System fügen, greift Adorno auch schon in Über Jazz massiv auf psychoanalytisches Instrumentarium zurück. Speziell an der rhythmischen Figur der Synkope, die sich an dem zugrundeliegenden Rhythmus reibt, diesen aber nie durchbricht, arbeitet Adorno heraus, dass sich das Jazz spielende Individuum, ebenso wie der begeisterte Jazzhörer, immer nur erfolglos gegen eine Ordnung (den zugrundeliegenden Rhythmus) auflehnt, die versprochene Freiheit einer wirklich anderen Ordnung aber nie erreicht. Durch einen von Anfang an unverrückbar feststehenden Grundrhythmus werde die Synkope relativiert, zurückgenommen und, als der zum verfrühten Orgasmus führenden Impotenz gleich, verhöhnt. Den Grundrhythmus parallelisiert Adorno mit dem gesellschaftlichen Gesetz, das für die Individuen als Kastrationsdrohung erlebbar werde und sie zu ihrer Unterwerfung treibe, um verschont, d. h. aber auch: aufgenommen zu werden ins Kollektiv (vgl. Adorno 1982: 98). Die Argumentation wird, wie gesehen, so wieder im Kulturindustrie-Kapitel auftauchen. Horkheimer lobte an der Arbeit Über Jazz ausdrücklich, dass Adorno »in der strengen Analyse dieses scheinbar so belanglosen Phänomens die ganze Gesellschaft mir ihren Widersprüchen sichtbar« mache (Horkheimer 1995: 691 f.), sträubte sich aber gegen die Kastrationspassagen und mahnte Streichungen und Änderungen an. Adorno beharrte aber auf dem Kastrationskomplex als zentral für die Arbeit (vgl. Jäger 2003: 173). Dass die Jazztheorie Adornos empirisch zu mager sei, um in ihrem vernichtenden Urteil Anspruch auf Gehör zu haben, ist nicht selten gesagt worden. So schon direkt im Anschluss an die Veröffentlichung von Über Jazz von Joachim-Ernst Behrendt (Behrendt 1953). Überhaupt zeige Adornos Ästhetik eine »erstaunlich schmale empirische Basis« und gehe »weder beim Jazz noch in anderen Fällen von Quellenanalyse aus« (Franke 1994: 81). Die Jazztheorie wird mittlerweile gemeinhin als misslungen angesehen und entweder gar nicht erwähnt, oder aber als zu korrigieren von der Kulturindustriethese getrennt diskutiert. 7 Aber selbst ein Verfechter von Adornos Jazztheorie wie Paetzel gesteht zu, dass es »zumindest intensiv diskutiert« werden müsse, ob die für die 30er und 40er Jahre geltenden Ausführungen Adornos auch für eine Stilistik wie Free Jazz gelten und ob solcherart Musik »umstandslos unter das Paradigma der Kulturindustrie« zu fassen sei (Paetzel 2001: 85). Nun ist es einigermaßen müßig, darüber zu räsonieren, dass Adornos Kritik schon an der damaligen Musik der 30er und 40er Jahre vorbeigeht und dass er auch in seinen späten musiksoziologischen Schriften, etwa Zeitlose Mode 7

Siehe dazu und für einen guten Überblick über die Rezeptionsgeschichte Steinert (2003: 19 ff.).

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(Adorno 1955) oder Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens (Adorno 1973) zu der er noch 1963 die dritte Auflage mit einem Vorwort versieht, sofern sie den Jazz verhandeln, nicht nur keine Änderung an seinen Thesen vorgenommen hat, sondern keinerlei Hinweis darauf erkennen lässt, dass er sich mit den stattgehabten Entwicklungen dieser Musik seit 1936 auseinandergesetzt hätte. In der Einleitung zu diesem Band werden zwar »swing, bebop, cool jazz« genannt, ohne aber weiter charakterisiert oder gegeneinander abgegrenzt zu werden. Und noch in der Neuauflage seiner Einleitung in die Musiksoziologie von 1968, ein Jahr vor seinem Tod, ist der Jazzbereich durch die Schlager an die kommerzielle Musik gekettet (vgl. Adorno 1973: 192). Interessanter ist die Frage, was es für die Kulturindustriethese und die in ihr dargestellte Situation der Individuen bedeuten könnte, wenn man sich auf Jazz und improvisierte Musik generell als musikalische statt als soziale Phänomene einließe. In dieser Perspektive spielen dann alle Formen eine gleichbedeutende Rolle, die der Jazz bisher ausgeprägt hat.

Komponierte Musik und improvisierte Musik »Die kollektiven Mächte liquidieren auch in Musik die unrettbare Individualität, aber bloß Individuen sind fähig, ihnen gegenüber, erkennend, das Anliegen von Kollektivität noch zu vertreten.« (Adorno 1973: 50.) Adorno scheint also doch eine von Individuen ausgehende Widerstandsmöglichkeit anzunehmen (vgl. auch Paetzel 2001: 40). Improvisierte Musik, Jazzmusik kann eine solche Möglichkeit sein. Wenn Überflussproduktion, Massenanfertigungen, Massenkonsum die Charakteristika der Kulturindustrie sind, dann ist es interessanterweise gerade auch eine Form von »Überfluss«, von Unüberschaubarkeit, die das Individuum nicht unter sich begräbt, sondern ihm Handlungsmöglichkeiten aufzwingt, es zu Äußerungen nötigt, die ihm gerade als Individuum Kontur verleihen. Die Rede ist von der Improvisation. Die gestellten Forderungen an einen Musiker sind unterschiedlich, je nachdem, ob er auskomponierte oder improvisierte Musik spielt. Auskomponierte Musik liegt als »Werk« vor, das dann jeweils ohne Änderungen aufgeführt wird. Das Ideal ist die werktreue Aufführung, die Umsetzung der Partitur. Die Ausführungsbezeichnungen sind im Laufe der Zeit immer detaillierter geworden sind, so dass in der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts so gut wie kein Interpretationsspielraum mehr für den Musiker bleibt, den man konsequenterweise dann auch eher »Ausführer« oder »Umsetzer« denn Interpret nennen sollte.8 Ein Werk in dieser Konzeption klingt folglich immer 8

Dass »die Vortragsbezeichnungen der neuen Musik keinerlei Raum für reproduktive Freiheit (lassen), ja die Interpretation ganz hinter der mechanischen Wiedergabe verschwinden (will)« hat Adorno schon in seiner Jazz Arbeit gesehen (Adorno 1982: 86). In einer, bezeichnenderweise Fragment gebliebenen Schrift, notiert er 1957 sogar: »Von hier fällt Licht auf eine wirkliche Funktion des Jazz: nämlich solche Differenzierungen, die sonst verschwinden, zu bewahren. Wie übrigens überhaupt die Interpretation manches vom Jazz zu lernen hat« (Adorno 2001: 182).

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relativ gleich, egal wann, wo und von wem es aufgeführt wird. Die Unterschiede, die zwischen den Interpretationen verschiedener Dirigenten unbestreitbar und vor allem ja beabsichtigt vorhanden sind, bewegen sich absolut gesehen in recht engen Grenzen, einfach deshalb, weil die Grundparameter Rhythmik (nicht Tempo!), Melodik und Harmonik von interpretatorischen Veränderungen nicht betroffen werden. Ganz anders sieht die Lage in der improvisierten Musik aus. Die festgelegten Teile der Musik nehmen einen sehr viel geringeren Raum ein. Auch hier gibt es unter Umständen noch eine Melodie und eine vorgegebene harmonische Grundstruktur, auch der Rhythmus bzw. der Takt ist vorgegeben. Aber im Gegensatz zu einem klassischen Werk sind diese Parameter in viel größerem Maße interpretatorisch veränderbar. Im Laufe der Entwicklung des Jazz nimmt die Bedeutung der Melodie ab, sie wird meistens nur einmal am Anfang und einmal am Ende gespielt, und verschiebt sich das Gewicht auf die Improvisation. Es wird daher schwieriger, von der Identität eines Stückes zu sprechen. Identität liegt hier in Bezug auf die Ausgangspunkte vor. Der Anfangspunkt, von dem aus sich die Improvisation entwickeln soll, kann als Identitätsmarke angesehen werden. In mehr oder weniger weitem Maße ist auch die harmonische Struktur noch zu erkennen oder zu erahnen, da sie als Folie dient, von der sich die Improvisation abhebt. Inwieweit die Parameter »gedehnt« werden, hängt von den Musikern und den von ihnen vertretenen Stilrichtungen ab. Wichtig in der Betrachtung der Jazz-Praxis ist auch die von Steinert (2002 und 2003) in diesem Zusammenhang getroffene interessante Unterscheidung zwischen »Kunst als Werk« und »Kunst als Ereignis«. »Kunst als Ereignis« ist nicht mehr primär auf die Schaffung dauerhafter Artefakte aus, sondern schafft diese lediglich als Spuren des Ereignisses einfach mit (vgl. Steinert 2002: 100). Die Ereignishaftigkeit steht im Vordergrund. Bei Adorno gibt es eine zarte Ahnung davon, wenn er in Bezug auf die »hot music« des Jazz schreibt, dass »die vermittelte Wiedergabe durchs Radio doch weit weniger eindringlich bleibt als die der leibhaftigen Kapelle zu ihrem Ort und ihrer Stunde« (Adorno 1982: 79). Dennoch steht Adorno einem solchen Kunstverständnis vollkommen fremd gegenüber, was sich nirgendwo eindrücklicher zeigt als in seiner Überlegung, »einem Gipfelpunkt dieser zerebralistischen Ästhetik, […] die wahre Musik ließe sich eventuell nur noch in der Lektüre der Partitur ›erleben‹, jede Aufführung bedeute demgegenüber schon Verlust« (Franke 1994: 89). Adornos Ästhetik ist eine eindeutige Werk-Ästhetik (vgl. Steinert 2002: 100).

»Depravation«: Das Ausgeliefertsein als »Werk« an die Kulturindustrie Kulturindustrie, die bestrebt ist, alles zur normierten Ware zu machen, um es massenhaft tausch- und verkaufsgängig zu machen, hat es mit Kunst – »Werken« einfach. Diese Zurichtung zum Produkt bezeichnet Adorno mit dem Begriff der Depravation. Depraviert werden können Werke, weil sie eine im

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obigen Sinne beschriebene Identität haben: Festgelegte Teile, die durch alle Aufführungen hindurch unverändert beibehalten werden (sollen) und die in ihrer Gesamtheit eben das Werk sind. Eine Isolierung einzelner Stellen ist daher leicht zu bewerkstelligen. Kompilationen der »schönsten Opernarien«, der »schönsten Duette« sind problemlos zusammenstellbar. Die Werke werden auf Etiketten verkürzt und diese wiederum für das Wahre gehalten. Mit der Zeit existieren nur noch die Etiketten und die Erkennungsmelodien und vom ursprünglichen Ganzen ist ansonsten nichts mehr übrig. Auf diesen Mechanismus spielt Adorno an, wenn er das Beispiel des in der U-Bahn Brahms pfeifenden Mannes gibt: »Der Mann, der in der Untergrundbahn das Thema des Finales der Ersten von Brahms laut triumphierend pfeift, hat es bereits nur mehr mit deren Trümmern zu tun« (Adorno 1973: 27). Wenn jemand das Finale der Ersten von Brahms in der U-Bahn pfeift, dann pfeift er unbestreitbar einen Teil eines Stückes von Brahms. Adorno sagt an der gleichen Stelle im vorhergehenden Satz: »Eine Beethovensche Symphonie als ganze, spontan mitvollzogen, ließe nie sich aneignen« (Adorno 1973: 27). Das Ganze, das das Wahre ist, kann nicht gepfiffen werden, der Teil der gepfiffen werden kann ist nur mehr ein Trümmerstück des Ganzen: er ist eben kein Wahres mehr. Das destruktive Potenzial liegt aber darin, dass man an dem Trümmerstück erkennen kann, was zertrümmert wurde. Wenn zwar der Teil gerade nicht für’s Ganze stehen kann, so steht doch der verstümmelte Teil für das verstümmelte Ganze. Wiederum liegt hingegen im Falle eines Stückes improvisierter Musik die Sache entscheidend anders. Wenn auch hier zu Anfang und Ende die Melodie gespielt wird, könnte man sagen: Auch in diesem Fall kann doch unser bewusster Herr die Melodie pfeifen. Sicher kann er das, nur hat er eben dann nicht nur nicht das Ganze gepfiffen wie in der E-Musik auch, sondern er hat gerade das gepfiffen, auf das es eben nicht ankommt. Was dieses Jazzstück ausmacht ist nicht das Thema, sondern die Improvisation. Und diese orientiert sich zwar zu einem unbedeutend geringen Prozentsatz, wenn man es des Argumentes halber einmal quantifizieren will, an der Melodie, aber zu einem entscheidenden Anteil an der Harmoniefolge des Stückes. Tatsächlich könnte jede Melodie, die sich auf die gleiche Art harmonisieren ließe, genauso gut am Anfang und am Ende unseres Beispielstückes gespielt werden. Man würde dann natürlich sagen: Es wurde nicht das Stück »XY« gespielt, sondern das Stück »YZ«, aber was die Musiker in der entscheidenden Hauptsache hatten mitteilen wollen, haben sie mitgeteilt: Ihr improvisatorisches Zusammenspiel nämlich. Wenn unser Herr X also die Melodie pfeift, hat er nicht ein Stück Jazz gepfiffen, wie er in Adornos Beispiel ein Stück Brahms gepfiffen hat, sondern er hat (nur) eine Melodie gepfiffen. Wer das Finale der Ersten von Brahms kennt und irgendwo das Thema ihres Finales hört denkt: aha, Brahms! Im gleichen Sinne denkt aber niemand, der eine Melodie hört, die auch von Jazzmusikern gespielt wurde: aha, Jazz. Der absolute Schwerpunkt beim Jazz liegt auf der Improvisation. Und diese Improvisation kann nicht spontan mitvollzogen angeeignet werden. Spontan mitvollzogen werden kann lediglich das, auf was es beim improvi-

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sierten Jazz nicht ankommt. Der improvisierende Musiker reproduziert also nicht Musik, sondern ist als Spielender auch ihr Schöpfer. Er trägt Verantwortung nicht nur für das »Wie«, sondern auch für das »Was überhaupt« dessen, was das Ohr des Hörers erreicht.

Improvisation Beim Improvisieren müssen spontan Tonfolgen in einer sinnvollen und gewollten Weise hervorgebracht werden. Der Musiker ist hier nur für sein Instrument verantwortlich, das unterscheidet ihn vom Komponisten. Im Verlauf der Improvisation muss er auf die Mitmusiker hören und sich zu ihnen verhalten, wobei aber prinzipiell nicht vorhergesagt werden kann, was der Andere spielen wird. Die Improvisationssituation ist also kontingent: Bezüglich des eigenen, wie des Spiels der Mitmusiker. Die Situation bei der Aufführung eines Werkes ist dagegen eine Situation radikal reduzierter Komplexität. Das gesamte Material ist durchgeformt und letztgültig geordnet. In der Aufführung einer klassischen Symphonie gibt es in diesem Sinne sogar weder Doppelkontingenz noch einfache Kontingenz. Sofern der Mitmusiker, wie ich, auch die Neunte von Beethoven spielt und sich nicht entscheidet, plötzlich das Finale der Ersten von Brahms zu intonieren, weiß ich eben sehr genau, was er als nächstes spielen wird; das musikalische Verhalten der Mitmusiker ist vollständig vorherbestimmt. Darin liegt der fundamentale Unterschied. Der Improvisator und der Komponist unterscheiden sich in bezug auf die von ihnen geleistete Komplexitätsreduktion darin, dass im Falle des Komponierens die Zurücknahme einer getroffenen Wahl möglich ist, im Falle des Improvisierens nicht. Beide müssen aus dem Universum möglicher Tonverbindungen auswählen, aber dem Komponisten bleiben alle Verknüpfungsmöglichkeiten solange virtuell verfügbar, bis er sich für eine definitiv entscheidet, die dann als seine Komposition firmiert. Der Kompositionsprozess, während dem andere Möglichkeiten ausprobiert werden und gegeneinander abgewogen und verändert werden können, ist potenziell unendlich lange und ist dem späteren Werk nicht anzusehen. In diesem Sinne kann der Komponist die Zeit anhalten. Der Reiz, aber auch die Gefahr für die Improvisation liegt gerade darin, dass die Zurücknahme einer getroffenen Wahl nicht möglich ist. Das heißt, die Improvisation kann jederzeit künstlerisch scheitern. Wenn die Neunte Beethovens aufgeführt wird, dann ist klar, dass ein großartiges Stück Musik erklingt. Wenn sich aber Musiker dazu entscheiden, zusammen zu improvisieren, dann ist damit noch in keiner Weise gesichert, dass dieses Unterfangen große »Moments musicaux« hervorbringt. Wenn Adorno Jazz mit Synkopentrick und durchgehaltenem Grundmuster gleichsetzt, ist das zu kurz gegriffen. Was die Improvisation ausmacht, ist der Akt der Kombination der Elemente. Wie beim Erwerb einer Sprache muss man daher als Bedingung der Möglichkeit des Improvisierens die Bestandteile der Improvisation lernen: die kleinen Partikel; die melodischen, rhythmischen und harmonischen »Patterns«. Betrachtete man nur die Muster

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als solche, bekäme man durchaus den Eindruck von etwas Starrem und Stereotypem. Aber diese Muster sind in einer unendlichen Vielfalt miteinander kombinierbar: wie in einer Sprache, bei der auch ohne Wortneuschöpfungen mit dem gegebenen Wortmaterial unendlich viele neue Sätze gebildet werden können. Das Risiko des Scheiterns muss der Improvisator in actu meistern. Er ist aber dafür in seinem Ausdruck so frei wie in keiner anderen musikalischen Situation. Im Free Jazz etwa, dem radikalsten Bruch in der Jazzgeschichte, stehen ihm alle denkbaren Ausdrucksweisen zur Verfügung. Der jazzgeschichtliche Bruch, der darin bestand, sich von den Normen des Beat, [den] Formschemata und [dem] überkommenen jazzspezifischen Klangideal zu lösen hieß also nicht, dass all dies nun nicht mehr sein durfte, sondern nur, dass es nicht mehr sein musste. Free Jazz als Stilbegriff ist deshalb nur dann tauglich, wenn die durch das Wörtchen free versprochene Freiheit als eine Freiheit der Wahl zwischen einer quasi grenzenlosen Zahl von Alternativen begriffen wird […] (Jost 1997: 241, Hervorhebungen im Original).

Aber auch dort, wo es nicht um absolute Freiheit geht, sondern wo vielfach abgenutzte Melodien von Schlagern als Ausgangsmaterial verwendet werden, schafft der Improvisator Neues und eben Eigenes daraus: Alles, womit er umgeht, ist schon da. Er nimmt es hin in der Gestalt seiner Depravation; seine Themen sind enteignete. Dennoch klingt keines, wie man es gewohnt war: alle sind durch einen Magneten abgelenkt. Gerade das Ausgeleierte gibt der improvisierenden Hand schmiegsam nach; gerade die vernutzten Stellen gewinnen ihr zweites Leben als Varianten. Wie die Kenntnis des Chauffeurs von seinem alten, gebraucht gekauften Wagen ihn befähigen kann, diesen pünktlich und unerkannt zum vereinbarten Ziel durchzusteuern, so kann der Ausdruck einer ausgefahrenen Melodie, angespannt unterm Hebel von Es-Klarinette und Oboen in hoher Lage, an Stellen ankommen, welche die gewählte Musiksprache ungefährdet niemals erreichte. Solcher Musik schießt das Ganze, worein sie die depravierten Fragmente fügt, wirklich zum Neuen zusammen, aber ihren Stoff übernimmt sie vom regressiven Hören […] (Adorno 1973: 49 f.).

Stünden statt der Oboen und Es-Klarinetten Saxophone und Bassklarinetten und fehlten die charakteristischen Termini »depraviert« und »regressiv«, man wüsste zum einen nicht direkt, wer der Verfasser dieser Passage ist und man wüsste auch nicht, wer »Er« ist. Seine improvisierende Hand, der das Ausgeleierte so schmiegsam nachgibt: Könnte sie nicht ebenso gut zu einem Jazzmusiker gehören? Was verbirgt sich hinter dem Magneten, der den depravierten Themen als Variante ein zweites Leben schenkt? Vielleicht das Moment des Improvisatorischen, das spielerisch interpretierend mit den Schlagermelodien umgeht? Der Chaffeur des gebraucht gekauften alten Wagens: eine brillante Metapher für den Improvisator, der die Grundmuster seiner Musik inkorporiert hat? Schließlich die Musik, der das Ganze, worein sie die depravierten Fragmente fügt, zum wirklich Neuen zusammenschießt: der Jazz? Hätte die Passage ein Anderer geschrieben, wäre das eine nicht so unwahrscheinliche In-

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terpretation. Aber aus der Feder von Adorno kann diese Passage nur Gustav Mahler meinen.

Fazit Improvisierte Musik, und als solche gilt uns wesentlich der Jazz, ist auf den Improvisator notwendig angewiesen. Es gibt sie nur in der Form als Musik, sie existiert nicht als gedankliches Gebilde, das in eine Partitur notiert werden könnte. Natürlich kann man jede Improvisation, zumindest nährungsweiße, aufschreiben. Aber dafür muss sie zuerst improvisiert worden sein. Es gibt folglich nichts, dem der Improvisierende einfach nur zu folgen hätte, um eine gute Improvisation zu schaffen. Er ist nicht in der Situation, etwas Gegebenes reproduzieren zu sollen, sondern er muss es selbst »erfinden«. Allerdings, und darin lauert die allgegenwärtige, ungemein große Gefahr: Er ist ständig bedroht, Klischees zu produzieren, bereits Bekanntes, Abgenutztes und Verbrauchtes eben nicht durch die Improvisation zu einem »zweiten Leben« zu erwecken, sondern es einfach zu wiederholen, zu reproduzieren. Und zwar, im Gegensatz zur Reproduktion einer Symphonie in einem Konzert: Ohne es reproduzieren zu sollen. Das ist gemeint mit der Möglichkeit des Scheiterns einer Improvisation. Diese kann auch schlicht von der Tagesform abhängen. Berühmt ist die Episode über den Pianisten Keith Jarrett, der ein völlig frei gespieltes Konzert nach zwanzig qualvoll-uninspirierten Minuten des Stolperns von einem Klischee ins nächste völlig entnervt abbrach mit der Frage an das Publikum, ob es jemanden gäbe, der das Konzert an seiner Stelle weiterspielen wolle. Vieles von dem, was improvisiert wird, ist künstlerisch wertlos. Etwas ist nicht allein deswegen wertvoll, weil es improvisiert wird. Und so paradox es klingen mag: Auch »Spontaneität und Freiheit im Jazz sind immer erst zu verwirklichen; sie können dann jeweils einem konkreten Werk zu eigen sein« (Franke 1994: 91). Die schiere Verwendung jazztypischer Partikel und Ausdruckstechniken allein garantiert keineswegs das Entstehen von Kunst. Das hieße ja gerade, sich der Lüge der Kulturindustrie zu bedienen: Etiketten (»Improvisation«) für das Ganze zu halten. Dass »selbst das Schönste und Höchste […] der Gefahr der Regression ausgesetzt [ist]«, das sei der Ausgangspunkt von Adornos Ästhetik, resümiert Franke (1994: 92). Und zum Beleg zitiert er aus einer der lichtlosesten Passagen der Minima Moralia: »Es gibt nichts Harmloses mehr« (Adorno 2003: 26). Diese anzitierte Passage beginnt freundlich: »Herr Doktor, das ist schön von Euch.« Kurz danach aber die entsetzliche Aussage: »Noch der Baum, der blüht, lügt in dem Augenblick, in welchem man sein Blühen ohne den Schatten des Entsetzens wahrnimmt […]« (Adorno 2003: 26). Wenn man diese Aussage vom »beschädigten Leben« im Allgemeinen, auf das sie sich bezieht, auf die Kulturindustrie anwendet, dann kann man daraus die Mahnung ableiten, nicht kritiklos etwas für das zu halten, was es zu sein vorgibt. Weder als Konsument/Rezipient von Kunst noch als Schöpfer von Kunst, etwa als improvisierender Jazzmusiker. Als Konsument/Rezipient bleibt einzig die konkrete empirische Analy-

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se der Produkte, um Ware von Kunst zu unterscheiden, und als Kunstschaffender bleibt nur die dauernde Anstrengung im Bemühen, sich dem Klischee zu verweigern. An keinen außer an das handelnde Individuum selbst kann diese Verantwortung abgegeben werden und zu keinem Zeitpunkt wird diese Anforderung obsolet werden. »Ein Ethos der kritischen Wachheit, […] Renitenz gegen die Beruhigung« (Franke 1994: 93) ist das, was diese für das Individuum so wertvolle Kunstform der Improvisation und des Jazz aus der harschen Kritik Adornos gewinnen kann.

Literatur Adorno, Theodor W. (1955): Zeitlose Mode. In: Ders.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1970): Kulturkritik und Gesellschaft I. In: Gesammelte Schriften. Bd. 10. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1973): Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens. In: Ders.: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie. Frankfurt a. M: Suhrkamp. Adorno; Theodor W. (1982): Über Jazz. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 17. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (19952): Briefwechsel Adorno-Benjamin 1928–1940. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (2001): Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Aufzeichnungen, ein Entwurf und zwei Schemata. Herausgegeben von Henri Lonitz. In: Ders.: Nachgelassene Schriften, Abteilung I: Fragment gebliebene Schriften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (2003): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Berendt, Joachim-Ernst (1953): Für und Wider den Jazz. In: Merkur (September Ausgabe), S. 887–890. Cook, Deborah (1996): The Culture Industry Revisited: Theodor W. Adorno on Mass Culture. Boston: Rowman & Littelfield. Franke, Berthold (1994): Jazz gegen seine Liebhaber verteidigt. In: Greven et al. (Hg.): Politikwissenschaft als Kritische Theorie. Baden-Baden: Nomos Verl.-Ges., S. 81–97. Horkheimer, Max (1995): Briefwechsel 1913–1936. Frankfurt a. M.: Fischer. Horkheimer, Max & Theodor W. Adorno (2003): Dialektik der Aufklärung. 14. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer [1944]. Jäger, Lorenz (2003): Adorno – Eine politische Biografie. München: Deutsche Verlags-Anstalt. Jost, Ekkehard (1997): Free Jazz. In: Klaus Wolbert (Hg.): That’s Jazz – Der Sound des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins, S. 241 bis 255. Kausch, Michael (1988): Kulturindustrie und Populärkultur. Kritische Theorie und Massenmedien. Frankfurt a. M.: Fischer.

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Paetzel, Ulrich (2001): Kunst und Kulturindustrie bei Adorno und Habermas. Perspektiven kritischer Theorie. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag. Pasolini, Pier Paolo (2006): Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. 2. Aufl. Berlin: Wagenbach. Siemons, Mark (2007): Rote Kulturindustrie. Partei, Markt, Volk – Chinas Planspiele um Kunst, Konsum und Zensur. In: Lettre International (deutsch) Nr. 79, 40–45. Steinert, Heinz (2002): Kulturindustrie. 2. Aufl. Münster: Westfälisches Dampfboot. Steinert Heinz (2003): Die Entdeckung der Kulturindustrie oder: Warum Professor Adorno Jazz-Musik nicht ausstehen konnte. Münster: Westfälisches Dampfboot [1992].

WARENHAUSKÖNIG UND KINOPRINZESSIN. KONSUM- UND KULTURKRITIK IN DEN WARENHAUS- UND FILMROMANEN DER KAISERZEIT ANDREA HALLER UND THOMAS LENZ Um 1900 erobert der Konsum zusehends den öffentlichen Raum des deutschen Kaiserreichs und besetzt die privaten Vorstellungswelten des deutschen Bürgertums. Milieugrenzen werden – entsprechende Kaufkraft vorausgesetzt – durchlässiger und von sozialen Aufsteigern kann der Warenkonsum zur Symbolisierung des angestrebten oder bereits erreichten Status genutzt werden: Statt eine präexistente soziale Klassifikation widerzuspiegeln, wird der Tausch selbst, über den Umweg des Reichtums, zum Motor der sozialen Klassifikation. (Dumouchel 1999: 44)

Aus den festen Milieugrenzen traditionaler Gesellschaften werden somit durchlässigere, moderne Schichtdifferenzierungen, ihr erfolgreiches Durchschreiten ist mithilfe von Warenkonsum demonstrierbar geworden: Konsum ist und macht modern. Doch die neue Kultur des Überflusses weckt auch ein Unbehagen, das sich als Konsumkritik in Zeitschriften und Romanen, in Aufsätzen und Pamphleten Luft verschafft. Insbesondere die Waren- und die Lichtspielhäuser gerieten damals ins Zentrum populärer Kritik. Auf Warenhaus und Kino wurden alle Befürchtungen projiziert, die sich mit der entstehenden Konsumgesellschaft verbinden ließen. Die Arenen dieser Auseinandersetzung lagen dabei sowohl in den Wissenschaften als auch in der Literatur: In medizinischen, juristischen, soziologischen, betriebswirtschaftlichen Blättern und Pamphleten wurden die »verderblichen« Folgen der Warenhäuser und Kinos ebenso diskutiert wie in der Massenpresse und den – oftmals in großer Auflage erscheinenden – (Trivial-)Romanen, die im Warenhaus- bzw. Kinomilieu spielten. Mit diesen Trivial- und Groschenromanen liegen historische Dokumente vor, die die Umbrüche und Veränderungen der Konsumgesellschaft verhandeln, reflektieren und kommentieren. (Trivial-)Romane werden von uns – im Sinne Katherine Ropers – als Dokumente verstanden, die einen besonderen Einblick in den Zeitgeist erlauben: While historians would be foolhardy to treat any novel as an exact mirror of the society attempts to portray, they should not ignore the novel´s role as repository of social

74 | ANDREA HALLER UND THOMAS LENZ discourse. Behind the fictioal creation lies a network of social perspectives, both conscious and unconscious, that the novelist communicates to the readers through myriad means. (Roper 1991: 2)

Eine Analyse dieser Romane und deren Einbettung in einen wissenschaftlichpopulären Diskurs kann Aufschluss über die Modernitäts- und Moralvorstellungen der Kaiserzeit liefern. Es ist kein Zufall, dass um 1900 der Konsum als eigenes Arbeitsfeld für Soziologen entdeckt und von herausragenden, frühen Vertretern des Faches bearbeitet wird. Georg Simmel und Werner Sombart wären hier an erster Stelle zu nennen. Georg Simmel entwirft eine frühe Theorie der Modernisierung, die er mit konsumsoziologischen Ideen verknüpft. Weiblichkeit, Technik, Kultur und Großstadt sind die Themengebiete, mit deren Hilfe er den von ihm als ambivalent erlebten Zeitenumbruch zu strukturieren und in ein entwicklungshistorisches Telos zu stellen versucht. Sombarts Ideen von der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus lassen sich als sozialwissenschaftlich-philosophische Fundierung und Umschreibung eines Diskurses um Moderne und Konsum lesen, der die technische und wirtschaftliche Modernisierung des Kaiserreiches einerseits begrüßte, andererseits kulturell-gesellschaftlich vor allem antimodern ausgerichtet war. Das Sombart’sche Denken kann als ein Schlüssel zu den kollektiven politischen Phantasien einer ganzen Epoche verstanden werden. Die bei Simmel und Sombart behandelten Topoi – Technik, Großstadt, Weiblichkeit, Judentum, Moderne – werden im literarischen Diskurs um das Warenhaus und um das Kino, der im Folgenden skizziert wird, wieder aufgegriffen und politisch aufgeladen (vgl. Lenz 2007).

Warenhausromane Um 1890 entwickelte sich mit der Ausbreitung des Warenhaussystems in Deutschland ein Diskurs, der um die Frage kreiste, warum und unter welchen Bedingungen in Warenhäusern gestohlen wurde. Im Medizinsystem bildete sich recht schnell der Begriff der »Klausucht« – der Kleptomanie – heraus, ein Begriff, der dann hauptsächlich auf stehlende Frauen Anwendung fand. In der deutschen Diskussion um das Warenhaus und insbesondere beim Thema Diebstahl wurde immer wieder auf Emile Zolas Roman Im Paradies der Damen rekurriert. Zola diente als Gewährsmann einer realistischen Beschreibung der Warenhauswirklichkeit, sein Roman wurde zum literarischen Hintergrund der Debatte um die sogenannte »unerwünschte Betriebsform«. Bei Zola zieht sich das Thema Diebstahl als roter Faden durch den gesamten Roman. Franziska Schößler (2005) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Kaufhausdetektiv in Zolas Das Paradies der Damen vor allem schwangere Frauen verfolgt:

WARENHAUSKÖNIG UND KINOPRINZESSIN | 75 Mit dieser Passion für Schwangere illustriert Zola einen gängigen Argumentationszusammenhang seiner Zeit, nämlich die Überzeugung, dass schwangere Frauen in besonderem Maße anfällig für die Verlockungen der Waren seien, dass Schwangere zum Diebstahl neigen. (Schößler 2005: 262)

In diesem Zusammenhang kann auch auf den Kriminologen Hans Gross verwiesen werden, der den französischen Diskurs über den Zusammenhang von »weiblichen Zuständen« und Diebstahl in die deutsche Kriminalpsychologie einführt: Wenn wir zugeben, dass sich die Frau zur Zeit der Menses in einem erregteren und minder widerstandsfähigem Zustande befindet, so wird uns auch klar, dass sie dann von den Verlockungen schöner Gewandstücke und sonstigen Tandes leichter überwältigt wird. (Gross 1905: 407)

Paul Möbius spricht in seiner Schrift Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (1905) gar von rauschhaften Zuständen, in die Frauen in Zeiten der Menstruation und Schwangerschaft geraten könnten und die den Warenhausdiebstahl physiologisch erklären würden. Der Roman Arbeit (1912) von Oscar T. Schweriner beschreibt bildhaft diesen »Kaufrausch«, in den das weibliche Warenhauspublikum gerät: Langsam füllten sich die Räume mit Menschen. Meistens Damen, die gekommen waren, um ›etwas‹ zu kaufen; – ganz gleich was. Als handele es sich um die Befriedigung irgend einer sinnlichen Begierde. […] Wie ein Heuschreckenschwarm überfluteten sie die Gänge. […] Gesehen von der oberen Galerie […] machte es den Eindruck, als ob riesige Bienenschwärme sich den Blütenstaub einer einzigen Blume streitig machten; drängelnd, hastend, lüstern. (Schweriner 1912: 7)

Die Käuferinnen erfüllen sich eine »sinnliche Begierde«, sind »lüstern«, der Akt des Kaufens wird von Schweriner sexuell aufgeladen dargestellt, der männliche Blick der Rayonchefs taxiert von oben herab aus der »Galerie« die »Bienenschwärme« der einkaufenden Frauen. Schweriner bedient sich zur Beschreibung der Vorgänge im Warenhaus des Bildes von einer Flut, die die Gänge überschwemmt, und von einem Bienenschwarm, der sich um die Ware drängelt. Er benutzt damit Metaphern, die um 1900 populär waren, Metaphern, die soziales Verhalten biologisieren (vgl. z. B. Theweleit 1995: 235ff.). Die entstehende Konsumgesellschaft wird von Schweriner und anderen als »krankhaft« bewertet, Diebstahl war dabei ein Indikator für eine insgesamt »kranke« Gesellschaft. Das Glücksversprechen des Warenhauses lautete, alles jederzeit zum Kauf anbieten zu können. Diese Ausweitung der Käuflichkeitszone machte in den populären Phantasien der Kaiserzeit selbst vor den Verkäuferinnen nicht halt. Zola zeigt, dass jede Verkäuferin im Paradies der Damen auf einen Geliebten angewiesen war, um trotz des geringen Angestelltengehalts leben zu können; die Verkäuferinnen tauschen ihre Sexualität gegen finanzielle Sicherheit: »Sie alle sind elende Geschöpfe, genauso käuflich wie ihre Waren« (zitiert nach Schößler 2005: 258).

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Bei Paul Göhre findet sich die Schilderung der unglaublichen Verkaufsfertigkeiten des Warenkönigs Whiteley, der in der Lage gewesen sein soll, seinen Kunden Elefanten, gebrauchte Särge und eben auch Frauen zu besorgen: Selbst eine – Frau hat er eines schönen Tages einem Besucher verschafft, als dieser zu ihm sagte: ›Sie können mir alles besorgen, nur keine Frau‹. ›Kommen Sie mit‹, war Whiteleys Antwort, ›ich habe auch Bräute auf Lager‹. Er führte darauf den Herrn in eine Verkaufsabteilung, rief dort eine Verkäuferin heran und stellte ihr den Herrn vor mit dem Bemerken, er suche eine Ehefrau. Aus dieser eigenartigen Vorstellung entspann sich eine Bekanntschaft zwischen den beiden, die schließlich zu einer glücklichen Ehe führte. (Göhre 1907: 119)

Auch der deutschnationale Mittelstandspolitiker Henningsen behauptet in seiner Schrift Beiträge zur Warenhausfrage!, der geringe Lohn, der von den Warenhausbesitzern gezahlt werde, zwinge die Warenhausverkäuferinnen in die Prostitution. Entsprechende Topoi finden sich – in abgeschwächter Form – dann auch in der Warenhaustrivialliteratur. So beschreibt Kurt Münzer (1914) in Der Ladenprinz. Oder: Das Märchen vom Kommis das Schicksal der verheirateten Verkäuferin Rosa Anna Flamm, die sich einem wohlhabenden Käufer hingibt und unweigerlich ins Elend gestürzt wird. Bei Münzer treibt allerdings nicht der geringe Lohn, sondern eine Mischung aus Habgier und Langeweile die Verkäuferin in ein außereheliches, geldwertes Liebesverhältnis. Auch in Oscar T. Schweriners Roman Arbeit (1912) ist die Liebe der Verkäuferin eine käufliche, zumindest geht der »Schurke« des Romans davon aus: Schweriner erzählt die Geschichte vom Straßenmädchen Elsa Bodenstedt, das den gesellschaftlichen Aufstieg schafft, weil sie als Verkäuferin im Warenhaus mit einem guten Kunden anbandeln kann. Sperber, der Rayonchef, schlägt Elsa allerdings unverblümt vor, den Kunden fallen zu lassen und stattdessen seine Geliebte zu werden, nur so könne sie ihre Stellung im Warenhaus behalten: »Er hatte mit ihrer Not gerechnet« (Schweriner 1912: 98). Sperber macht klar, dass Elsa nur aus diesem Grund überhaupt eingestellt worden ist: »Haben Sie sich noch nie darüber gewundert, weshalb ich Sie engagiert habe? Sie müssen doch einsehen, dass für Sie hier wirklich nichts zu tun ist und Sie eigentlich doch ganz überflüssig sind« (Schweriner 1912: 93). So wie die Ware in Fülle vorhanden ist, so verhält es sich auch mit der weiblichen Arbeitskraft, entsprechend günstig sind beide zu haben. Waren Frauen potenziell von den Verführungen des Warenhauses bedroht, galten Juden als Verführer. In der deutschnationalen und bürgerlichen Presse wurden – zur Verteidigung des »Mittelstandes« – antisemitische Klischees bemüht, die sich auch in der Warenhaus-Trivialliteratur wiederfinden: Und wenn man diejenigen Spekulanten mustert, die diese Geschäfte ins Leben rufen, so muß man sagen, daß hier auf orientalische Art ein Raubzug unternommen wird, wie er so dreist und umfangreich kaum jemals versucht worden ist. Deutschfremde Emporkömmlinge, unersättliche Spekulanten, nach Angabe Sachverständiger nur etwa 20 bis 30 Gründer, fast ausschließlich Juden sind es, die dahinter stehen, und

WARENHAUSKÖNIG UND KINOPRINZESSIN | 77 unterstützt von der Kapitalskraft sog. Erster Banken mit erstaunlicher Skrupellosigkeit planmäßig und gewerbsmäßig das deutsche Geschäftsleben revolutionieren. (Dehn 1899: 5)

Das Warenhaus wird zum Ort der Verführung. Willenlose Käuferinnen verlieren die Kontrolle über ihre Konsumwünsche, einfache Mädchen werden zu Prostituierten und die warenhausbesitzenden Juden sind die Profiteure dieser Amoralität. So unterminieren die jüdischen Warenhäuser in der Vorstellungswelt ihrer Gegner die gesellschaftliche Moral und die bürgerlichen Geschlechterverhältnisse. Da tatsächlich viele der großen Warenhäuser von jüdischen Unternehmern geleitet wurden, fiel es antisemitischen Warenhausgegnern leicht, antijüdische Klischees zum Kampf gegen die verhasste Betriebsform zu bemühen. Der berüchtigte Antisemit Theodor Fritsch gab in seiner Hetzschrift »Handbuch der Judenfrage« den Ton und die Argumentationsstränge vor. Fritsch kontrastiert den »ehrlichen deutschen Kaufmann« mit dem »Warenhausjuden« (Fritsch 1887: 187), der durch »tausend Schliche und Kniffe« (Fritsch 1887: 187) den Käufer zu täuschen versuche. Mittel der Täuschung sei dabei insbesondere die Reklame, derer sich der deutsche Kaufmann nur vorsichtig bediene, während sie beim »Warenhausjuden« die Hauptsache sei. Die günstigen Preise der Warenhäuser seien nur durch mindere Qualität der Waren zu erreichen, ein Trick, auf den vor allem Frauen hereinfielen. Die Verknüpfung von Warenhaus und Judentum, Konsum und Weiblichkeit, die Pathologisierung des weiblichen Einkaufverhaltens und ein mehr oder weniger deutlich hervortretender Antisemitismus zieht sich demnach durch den literarisch-polischen Diskurs um die Warenhäuser. Besonders eindringlich zeigen sich diese Motive in dem damals populären Trivialroman Der Warenhauskönig (1912) von Max Freund. Freund skizziert die Geschichte von Otto Stauff, dem »Warenhauskönig«, der als Vertreter des ehrlichen Kaufmannstums gegen die Entstehung eines jüdischen Warenhaustrustes kämpft – und verliert. Der Roman verbindet eine schematische äußere Handlung mit kolportagenhaften politisch-weltanschaulichen Einschüben. Max Freund versucht dabei den politischen Spagat zwischen einer Ablehnung der »Warenhaustrusts« (da diese aus seiner Sicht die alte Ordnung bedrohen, ohne selbst eine neue anzubieten) und der prinzipiellen Begrüßung rationaler Betriebsführung. Er entwirft den guten, deutschen Kaufmann Otto Stauff, der sich zum Warenhausbesitzer hochgearbeitet hat, und stellt ihm einen Warenhaustrust entgegen, der von dem Juden Cohen und der Macht der Banken gelenkt wird. Der Kaufmann Stauff wird als Gegentypus des »jüdischen Schacherers« entworfen. Unheil droht dem deutschen Kaufmann von den konkurrierenden Warenhausbesitzern Walters, Cohen und Rietze. Walters wird in dem Roman als eigentlich ehrlicher, deutscher Kaufmann eingeführt, der sich zur Trustgründung überreden lassen muss und bleibt das »schlechte Gewissen« des Trusts, auch wenn er als »der Goy mit dem jüdischen Kopf« (Freund 1912: 53) bezeichnet wird. Rietze ist als Figur in Anlehnung an Hermann Tietz, den Besitzer des Warenhauses Wertheim angelegt, der sich gerne amerikanischer Redewendungen bedient. Der Jude Cohen wird als ehemaliger Angestellter

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Stauffs vorgestellt. Stauff hatte ihn entlassen, da er Geschäftgeheimnisse in sein Notizbuch eintrug. Cohen steht hier stellvertretend für alle jüdischen Warenhausbesitzer, die nur auf die Rendite sehen und sich mit der verhassten »Macht der Banken« verbünden. Für Max Freund war der Warenhaustrust ein Übergangsphänomen auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft, die letzte Verschärfung der Auseinandersetzung zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Freund propagiert dabei einen deutsch-nationalen Sozialismus, der erreichbar sei, wenn die Macht der Juden und die der Banken gebrochen werde. Max Freund zeigt hier, in der Gesamtschau des Romans, eine im Wortsinne national-sozialistische politische Grundhaltung, die auf der Suche nach einem »deutschen« Weg zum Sozialismus ist. Er begeistert sich einerseits für die Vorteile der modernen Betriebsführung, für technische Neuerungen und für gute Organisation, glaubt aber gleichzeitig, dass unter diesen modernen Umständen ein moralisch anständiges Leben nicht mehr zu führen sei. Er setzt seine Hoffnungen deshalb auf eine sozialistisch-eschatologische Lösung des Konfliktes zwischen Tradition und Moderne. Der Faszination der Warenhausarchitektur konnten sich aber auch die Warenhausgegner anscheinend nicht erwehren. So beschreibt Max Freund das Geschäft des Warenhauskönigs Stauff folgendermaßen: Was für Hallen! Welche Pracht! Gewaltige Marmorpfeiler schnellen empor. Die Kuppeln blitzen und funkeln in wunderbarer Beleuchtung. Das Licht ergießt sich breit und gewaltig über die Räume. Man kann es kaum fassen, daß diese wunderbaren Lichthallen zu prosaischen Verkaufszwecken ausersehen sind. Ein gewaltiger Strom Menschen durchflutet dieses Haus. Ein unablässiges Tosen, das sich zeitweise zu einem donnernden Brausen erhebt, durchstürmt die kaum zu übersehenden Räume. (Freund 1912: 36)

Uwe Lindemann spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von einer »Entgrenzung des Blicks«, den das Warenhaus inszeniere. Die Innenarchitektur der Häuser erlaubte dem Besucher weite Blicke durch den Innenraum und ließ die Grenzen zwischen den einzelnen Abteilungen verschwimmen (Lindemann 2008: 197). Diese Entgrenzung ermögliche das »sich Verlieren« im Warenangebot, das Eintauchen in die Welt des Konsums und sei zugleich einer der Gründe für die massive Ablehnung, auf die das Warenhaus teilweise stieß. Schließlich gebe es nicht nur keine Grenzen zwischen den einzelnen Abteilungen, auch die geschlechtsspezifischen Zugangsbeschränkungen zur Damen- und Herrenabteilung, die noch im alten Einzelhandel galten, seien gefallen. Der Amoralität der Blicke werde so Tür und Tor geöffnet.

Filmromane In gleichem Maße wie vornehmlich Frauen als Kundinnen und Konsumentinnen der Warenhäuser angesprochen wurden, wurden sie auch als potenzielle Zielgruppe des Kinos wahrgenommen. In diesem Sinne weisen Warenhäuser und Lichtspielhäuser als Institutionen und Erlebnisräume der neu aufkommenden Freizeit- und Konsumgesellschaft strukturelle Ähnlichkeiten

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auf. Warenhäuser und Kinos seien, so Thomas Elsaesser, seien zwei Varianten einer neuen »world of make-believe«. Darauf gründe sich auch die besondere Vorliebe des frühen Kinos zum Konfektions– und Warenhausmilieu (Elsaesser 1996: 25). Auch boten das Warenhaus und das Kino den Frauen jener Zeit eine der wenigen Möglichkeiten, in die Öffentlichkeitssphäre überzutreten. Sie waren einige der wenigen öffentlichen Orte, die eine Frau zum Beginn des Jahrhunderts ohne männliche Begleitung aufsuchen konnte, ohne sogleich unter den Generalverdacht der Prostitution gestellt zu werden. Dieses Auftreten jenseits der häuslichen Sphäre wurde jedoch sowohl hier als dort oftmals mit Misstrauen beobachtet. Von den Frauen hingegen wurden das Warenhaus und das Kino als willkommene Abwechslung vom oft eintönigen häuslichen Alltag und als Möglichkeit zur Teilhabe an der »großen Welt« betrachtet (vgl. Altenloh 1914: 78 und 91). Kritiker sahen bei beiden Institutionen jedoch das Problem der Verführbarkeit und Beeinflussbarkeit der Frauen, die sie für anfälliger für die Verlockungen der Waren und Bilder, die ausgestellt wurden, hielten. Ein großer Teil der Kritik an Warenhäusern und Kinos gründet sich denn auch auf der Sorge, welchen Einfluss diese Institutionen auf das geistige, körperliche und vor allem das moralische Wohl ihrer weiblichen Konsumenten haben könnten. Bei dieser angeblichen »Verführung« spielte der Aspekt des Schauens eine große Rolle. Das Vergnügen, das Frauen sowohl beim Besuch eines Warenhauses als auch eines Kinos empfanden, beruhte zu einem entscheidenden Teil auf einem Akt des Schauens, das ihnen nach der herrschenden Geschlechterökonomie ansonsten untersagt war. Waren es hier Gegenstände, die zum Objekt des Blickes wurden, waren es dort Bilder und Handlungen anderer Menschen. Das Kino des Kaiserreiches bot den weiblichen Zuschauern zum ersten Mal die Möglichkeit, sich selbst und ihresgleichen zu sehen (vgl. Schlüpmann 1990); und dies umso mehr, als dass im frühen Kino die Blickökonomie des klassischen Hollywoodkinos – der Mann als Subjekt, die Frau als Objekt des Blickes (vgl. Mulvey 1975) – noch nicht vollständig ausgebildet war. Diese Befriedigung einer spezifisch weiblichen Schaulust wurde von den überwiegend männlichen Kritikern der Waren- und Lichtspielhäuser als Problem wahrgenommen. Wie die Warenhausromane so setzen sich auch die Filmromane mit der Stellung des Menschen, vornehmlich der Frauen, in der modernen Konsumgesellschaft auseinander. Alle Romane1 behandeln dabei letztlich die Frage, wie man als Frau Teil dieser neuen Konsum- und Freizeitgesellschaft werden konnte. Eine Filmschauspielerin oder besser noch, ein Filmstar zu werden, schien eine probate Möglichkeit, sich diese Teilhabe zu sichern. Vor allem die Groschen- und Heftromane, die im Filmmilieu spielen, bedienten die Phantasien von wohl tausenden jungen Mädchen, die davon träumten, selbst auf der großen Leinwand zu erscheinen. Sie thematisieren aber nicht nur die 1

So zum Beispiel Arnold Höllriegel: Die Films der Prinzessin Fantoche (1913), Franz Scott: Die Kinoprinzess. Geschichte eines armen Mädchens (1913), Ludwig Hamburger: Durch den Film. Ein sozialer Künstlerroman (1914), Balder Olden: Schatten (1914), Edmund Edel: Das Glashaus (1917), Walter Frenssdorff: Kinostern (1917).

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soziale und monetäre Aufstiegsphantasie durch den Film, sondern zeigen auch die Kehrseite der modernen Massen-, Vergnügungs- und Konsumgesellschaft; einer Gesellschaft, in der auch der Mensch konsumierbar und somit austauschbar geworden ist und sich den Gesetzen des Marktes anpassen muss. Daher wird auch die Liebe, die letztendlich das große Grundthema dieser Romane bildet, fast immer im Zusammenhang zur Warenwelt und zum Tauschhandel gesehen. Liebe und die Welt der Konsumgüter scheinen untrennbar verbunden, wobei die Liebe und ihre Mechanismen des gegenseitigen Austausches – von Gefühlen, Geschenken oder Gefallen – als Mittel zur Teilhabe an der modernen Konsumgesellschaft begriffen wird. Diese Romane legen nahe, dass sich die Protagonistinnen auf die ein oder andere Weise »verkaufen« müssen, um Teil der Konsumgesellschaft zu werden. Wird das Kino in diesen Geschichten oft als Institution begriffen, die es Frauen und Mädchen ermöglichen konnte, der Armut und dem Elend zu entfliehen und finanziell unabhängig zu werden, so erfahren eben jene Mädchen, die den Aufstieg geschafft haben, oft schmerzlich, dass sie den Mechanismen von Konsumierbarkeit und Käuflichkeit, die sie zu fliehen suchten, letztendlich nicht entkommen konnten: Als einfache Schauspielerin bleibt man »menschliche Massenware« und muss manchmal mehr als nur sein schönes Gesicht verkaufen. Und auch als großer Filmstar ist man weiterhin gezwungen, sein Selbst zu veräußern, um erfolgreich zu sein. Ähnlich wie in den Warenhausromanen, wo der Beruf der Verkäuferin eine gewisse Käuflichkeit zu beinhalten scheint, wird in einigen der Filmromane, vor allem aus dem Kolportage- und Heftromansektor, die Schauspielerin mit Prostitution assoziiert, beiden scheint der Aspekt des Verkaufens innezuwohnen. Beide verkaufen – tatsächlich oder im übertragenen Sinne – nicht nur ihren Körper, sondern auch Illusionen, Träume und Geschichten. Es sollen nun exemplarisch zwei Romane vorgestellt werden, die sich mit dem Zusammenhang von moderner Konsumgesellschaft, Weiblichkeit, Liebe und Kino beschäftigen.2 Der Roman Die Kinoprinzess. Geschichte eines armen Mädels von Franz Scott von 1913 erzählt eben jene Aufstiegsphantasie eines armen Mädchens. Nach dem Tod ihrer Mutter versucht die junge Grete Schuster sich und ihren trunksüchtigen Vater durchzubringen und ihrem proletarischen und ärmlichen Milieu zu entkommen, indem sie sich durch Fleiß und Ehrlichkeit nach oben zu arbeiten versucht. Als sie von einem Verehrer bedrängt wird, wird sie von einem »Referenten zur deutschen Schauspielkunst« gerettet, der sofort ihr Talent erkennt und sie nach seinem Ermessen zu einer großen Schauspielerin formt. Da Grete ehrlich und einfach ist und sich selbst treu bleibt, endet der Roman mit Happy End: Grete debütiert in dem Film »Puppchen«, der ihr eigenes Schicksal erzählt. Die Verbindung von Liebe, Käuflichkeit und Konsum zieht sich als Grundthema durch den ganzen Roman: Schon früh lernt die naive Grete von ihren Freundinnen, dass die Gesetze der zwischenmenschlichen Beziehungen 2

Für eine eingehendere Analyse der hier besprochenen und anderer Filmromane der Kaiserzeit siehe auch Andrea Haller (2008).

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Gesetze des Marktes sind und man seinen »Verehrern« im Austausch für deren Aufmerksamkeiten etwas bieten muss. Auch erfährt sie, dass jedes Geschenk, jede Leistung, sei es eine neue Pleureuse für den Hut, ein Essen oder ein Kinobesuch eine Gegenleistung erfordert. Doch Grete will nicht wahrhaben, dass ihre Beziehung zu ihrem Verehrer letztendlich auf einer Art Tauschhandel beruht. Ihre abgebrühte Freundin Lotte klärt sie daher mitleidlos über die wahre Natur ihrer beider Beziehungen zu jungen, meist sozial höher gestellten Männern auf. Als Grete Lottes neues Kostüm bewundert, entgegnet diese: Hundert Emm hat’s gekostet. Sehr komfortabel ausstaffiert. Wozu hat man schließlich den Schatz, wenn er einem nicht ein so harmloses Vergnügen bereiten will? Und meiner sorgt wenigstens dafür, dass sein Puppchen schick aussieht. (Scott 1913: 32)

Als Grete sich an der Bezeichnung »Puppchen« stößt wird Lotte ärgerlich: Was? Tu’ doch nicht, als wärest du ein Bählamm. Heißt eben Puppchen. Oder glaubst du, wenn dein Referendar mit seinen Freundinnen zusammen ist, er nennt dich etwa seine Braut, seinen Schatz, oder auch nur seine Grete? So was wie wir ist ein »Puppchen». Puppchen ist eine Sache von vorübergehendem Gebrauchswert, nicht etwa ein richtiger, »gutgehender« Mensch. (Scott 1913: 33)

Lotte benutzt in ihren Ausführungen den Jargon der Geschäftswelt, sie spricht von »Gebrauchswert«, und unterstreicht so den Ding- und Warencharakter der Mädchen für ihre Liebhaber. Ihre Sicht auf die Liebe ist geprägt von den Vorstellungen des Marktes und sie spielt das Spiel der Liebe nach den Regeln eben jenes Marktes: Siehst du, und weil sie mich eben so behandeln, als wäre ich eine Sache, kein Mensch, deshalb kann ich so grimmig sein, so – so. Ich nehme von ihnen allen zusammen, was sie nur vermögen. Das ist so das richtige Leben, einer nützt den anderen aus. Aber richtig, sage ich dir! (Scott 1913: 33)

Gretes Arbeit als Filmschauspielerin und ihre Förderung durch ihren Gönner Dr. Schalek, der als einziger Mann keine Gegenleistung von ihr zu verlangen scheint, wird als Ausweg aus einem Leben als menschliche »Massenware« gesehen. Dass Dr. Schalek die Förderung ihres Talentes Lohn genug ist, kann sie jedoch nur schwerlich glauben, denn, so heißt es am Schluss des Buches »Die Erziehung ihres Lebens hatte sie stets auf alles einen Preis setzen lassen.« (Scott 1913: 106) Das Happy End dieses Romans, die Karriere als Filmstar als Ausweg zu sehen, ist jedoch eher ungewöhnlich. Eine andere Sichtweise auf das Kino bietet der Roman Kinostern von 1917, der eine ähnliche Geschichte erzählt. Der Autor Walter Frenssdorff schildert die Karriere von Lene Rieger, die von den dunklen Hinterhöfen Berlins einen Aufstieg in die Helle der Filmstudios

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schafft, jedoch ihr altes Selbst nicht ablegen kann und wieder in die Gosse zurückkehrt. Dabei nutzt er das Kinomilieu, um den Sensations- und Schauwert der Erzählung zu steigern und den erotischen Ausschweifungen, die recht explizit beschrieben werden, einen geeigneten »exotischen« und »riskanten« Hintergrund zu geben. In einem konservativen Tenor mit modernitätskritischen Zügen und eindeutig misogynen Untertönen reproduziert Kinostern die Auffassung, dass der Mensch, die Frau, eine Ware ist und verbindet diese mit einer latenten Kritik am Filmgewerbe. Schon als junges Mädchen verkauft Lene Rieger, einerseits aus materieller Not, andererseits aus dem Wunsch, an der Konsumgesellschaft teilzuhaben, ihren Körper in einem Hinterzimmer eines Altkleiderladens im Wedding. Von dem verdienten Geld kauft sie abgelegte, elegante Kleider, in denen sie jedoch seltsam und deplaziert aussieht. Auch achtet sie nicht auf die Kleider, pflegt und näht sie nicht und, hat sie eins erstanden, richtet sich ihre Sehnsucht sofort auf ein anderes. Mit diesen Kaufakten, bei denen es eher ums Erwerben, denn ums Besitzen und Behalten geht, versucht sie ihren Hunger und ihre Sehnsucht nach einer anderen Welt, der Welt der Reichen und Besitzenden, zu stillen. Durch Zufall steigt sie von der Telefonistin einer Filmfirma zur Statistin auf und der Meisterregisseur Ernst Münchhausen wird ihr Mentor, der aus ihr einen Stummfilmstar und schließlich seine Geliebte macht. Doch auch auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs kann sie ihre Herkunft nicht vergessen und bietet sich des Nachts immer noch fremden Männern an. Die Parallelen zwischen Schauspielerei und Prostitution, die hier mehr als implizit gezogen werden, werden noch untermauert durch die Beschreibung der Beziehung zwischen Lene und Münchhausen: Auch privat lässt er sie in verschiedene Kostüme schlüpfen und verführt sie in immer ausgefalleneren »Settings«. Er scheint nicht sie zu lieben, sondern die Illusionen, die sie ihm bietet und die eigenen Sehnsüchte, die er in sie projizieren kann. Zum Schluss des Romans verlässt Lene Münchhausen und das Filmmilieu und steigt wieder hinab in die Welt der Nachtclubs und Spelunken. Der Roman endet dann auch mit der lapidaren Feststellung: »Sie war eben eine Dirne.« (Frenssdorff 1917: 126). Andere Romane, die das Filmmilieu mit etwas mehr Realitätsnähe schildern, so u. a. Glashaus (1917) von Edmund Edel beschreiben aber noch eine andere differenziertere, filmspezifischere Variante der menschlichen Kommodifizierung. Am Beispiel der Statistenbörsen, auch »Filmbörsen« genannt, d. h. der Cafés, in denen Schauspieler und Statisten ihre Zeit verbrachten, um engagiert zu werden, zeigen sie, dass die Filmindustrie selbst massenhaft Menschenware produzierte und konsumierte. In diesen Cafès der Berliner Friedrichstadt, dem »Café Admiral« oder dem »Café Trocadero«, die Ludwig Hamburger, der Autor des Romans Durch den Film von 1914 als »moderne Sklavenmärkte« (Hamburger 1914: 61) bezeichnet, trugen die unzähligen Möchtegernstars sprichwörtlich ihre Haut – ihr Gesicht, ihren Körper – zu Markte, und hofften, zumindest für eine kleine Rolle engagiert zu werden. Die Szenen in den Romanen, die in den Filmcafés spielen, zeigen noch einmal sehr deutlich, in welchen Maße der Wert eines Menschen nach seinem Marktwert bemessen wird. In dieser »täglichen Börse der Menschenschicksa-

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le«, so der Titel eines Artikels in der Fachzeitschrift Lichtbildbühne von 1913, galt ein Mann im Besitz eines Fracks als »wertvolle Akquisition für die Filmbranche« (Edel 1917: 57), und eine Frau, die dort ihr Talent anbot, wurde sogleich verdächtigt, mehr als das zu bieten zu haben (Edel 1917: 40–41). In diesem Sinne werden die Schauspieler, die dort auf ein Engagement warten, von Edmund Edel auch als »Eintagsfliegen der Arbeit« bezeichnet (Edel 1917: 36): »Man arbeitet an der großen Maschine, die die Filmindustrie in Bewegung setzte, indem man an dem Räderwerk mitdrehte und es fleißig mit Schmieröl versorgte.« (Edel 1917: 41). Der kleine Statist in der Filmbörse und mit ihm implizit auch der Mensch in der modernen Industrie- und Massengesellschaft wird hier entmenschlicht und als Teilchen einer großen Gesellschaftsmaschinerie imaginiert. Diese Sichtweise auf den Menschen als Ressource und als Ware, deren Wert von Angebot und Nachfrage bestimmt wird, prangert auch der eben zitierte Artikel Das Cafè Trocadero. Die tägliche Börse der Menschenschicksale an und benutzt ein ähnliches Vokabular. Hier heißt es: Diese Menschen, die da auf Bestellung Lachen oder Weinen markieren müssen, oft aber nur »statistisches« Füllmaterial bilden, werden zum großen Teil aus dem Café Trocadero in der Friedrichstraße geholt, wo nachmittags von 5 bis 8 Uhr ein solches Überangebot von Menschenmaterial auf Beschäftigung wartet, dass Angebot und Nachfrage […] in einem argen Missverhältnis zu einander stehen. (Edel 1917: 41)

So setzen sich die Filmromane auf unterschiedliche Weise mit den Auswirkungen der Ökonomisierung der persönlichen Beziehungen und der Haltung, die den Wert des Menschen nach seinem Marktwert bemisst, auseinander. Warum gerade das Kino- und Filmmilieu für diese Überlegungen den geeigneten Hintergrund abgab, soll im Folgenden thematisiert werden. Neben einem Überfluss an »Menschenmaterial«, den die prosperierende Filmindustrie hervorbrachte, brachte das neue Medium Film auch einen Überfluss an »Bildmaterial« hervor. Eben dieser Status als »Branche«, als Industriesektor, der Kulturgüter in Massenproduktion »herstellte«, macht das neue Medium Film suspekt für die Inhaber der Kulturhoheit des Kaiserreiches. Die Produktionsbedingungen des Films unterstrichen seinen Warencharakter und damit sein Image als eine Massenware, die arbeitsteilig und technisiert produziert wurde und von einem Massenpublikum im eigentlichen Sinne des Wortes »konsumiert« wurde. Anders als ein »echtes« Kunstwerk, so die Kritik der Kinogegner, entstand der Film nicht durch Inspiration, Gefühl und Genie und auch die Art der Filmkonsumption stand der Kunsttradition entgegen, die ein kontemplatives Versenken in ein Kunstwerk verlangte. Der Film hingegen verlangte kein tieferes Verstehen, sondern ein aktives, zuweilen recht lebhaftes, schnelles Konsumieren von Eindrücken. Der Roman, der dies am ausführlichsten und differenziertesten thematisiert ist Das Glashaus von 1917 von Edmund Edel. Er reflektiert ganz explizit den zeitgenössischen Diskurs um das Kino und seinen Status zwischen Kunst und Kommerz: Der Lebemann Büchner gründet mit Freunden bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Filmproduktionsgesellschaft. Während

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für seine Freunde der Film, dieser »Kunstbastard«, ein bloßes Spekulationsobjekt bleibt, ist Büchner, der hier als Sprachrohr für Edels eigene Ansichten auftritt, der Meinung, dass der Film vermag, Inspiration und Technik und Kunst und Kommerz zu verbinden. Daher ist es Büchners Bestreben, künstlerische Filme zu produzieren und diese erfolgreich zu vermarkten, um so den »Kampf gegen das Banausentum im Film« antreten zu können (Edel 1917: 81) Seine künstlerischen Filme sind auch zunächst erfolgreich. Als er jedoch den Versuch unternimmt, Goethes »Faust« zu verfilmen, scheitert er bei Kritik und Publikum, denn, so legt der Roman nahe, er entfernt sich dabei zu sehr von dem, was Kino eigentlich ist: Vergnügen, Zerstreuung und Abwechslung. Der Roman definiert den Film zunächst implizit und ohne Wertung als Massenmedium und grenzt ihn somit von Theater und Literatur ab. Edel verweist hier auf die seit 1910 geführt Kino-Debatte der Autoren, die um 1913 ihren Höhepunkt erreichte (vgl. Güttinger 1984; Kaes 1978; Schweinitz 1992), in der es vor allem um das Verhältnis des Films zu den traditionellen Künsten ging. Auch verweist Edel auf die Bemühungen um den Autorenfilm, den ersten Versuch, Film selbst durch die Mithilfe von Schriftstellern und namhaften Theaterschauspielern als Kunst zu etablieren (vgl. Müller 1998: 153–192). Doch ebenso wenig wie Büchners »Faust« im Roman, war dem Autorenfilm von 1913 in der Realität ein langfristiger Erfolg beschieden. Die Schnelligkeit der Filmbranche und auch die Ästhetik des Films standen, wie Grisko treffend bemerkt, der langfristigen und kontinuierlichen deutschen Kulturtradition entgegen (Grisko 2004: 5). Edel jedoch legt nahe, dass das Kino trotz allem auf seine Eigenständigkeit und seinem Status als Massenmedium beharren sollte, denn er war der Ansicht, dass Kunst und Kommerz, Massenvergnügen und Kultur, und somit auch Moderne und Tradition im Kino eine erfolgreiche Allianz eingehen könnten: Am Ende des Romans brennt zwar das Glashaus, d. h. das Filmatelier von Büchners Produktionsfirma, ab, d.h. der reine Kunstfilm ist gescheitert. Doch Büchner bleibt im Geschäft und fusioniert mit der Konkurrenzfirma und produziert fortan erfolgreich gehobene Massenware. Der Roman Das Glashaus zeigt somit eine Mischung aus Faszination und Skepsis gegenüber dem neuen Medium, die typisch für die Zeit zwischen 1910 und 1920 ist. Film und Kino werden als Inbegriff von Massenkunst und Massenkonsum und als Verkörperung der Konsumgesellschaft betrachtet. Die Haltung zu diesem neuen Phänomen, das als Symptom einer neuen Geisteshaltung identifiziert wird, ist nicht nur bei Edel, sondern auch in anderen Romanen, zumeist ambivalent und reicht von versteckter ironischer Distanzierung bis zu hin offen geäußertem Unbehagen. Eine generelle Ablehnung des neuen Mediums findet sich selten, denn sein Potenzial bleibt unbestreitbar.

Zum Schluss Plakativ formuliert scheinen die Filmromane eher die Haltung Simmels zur Moderne und ihren gesellschaftlichen Veränderungen zu reflektieren, wäh-

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rend die Warenhausromane in ihrer Beurteilung der neuen Phänomene der Konsumgesellschaft eher eine Sombart’sche Sichtweise an den Tag legen. Während Simmel die sozialen Veränderungen als ambivalent zu beurteilenden Modernisierungsprozess begriff, dachte Sombart eher in den Kategorien von Niedergang und Zerfall. Und während Simmel sich zwar gegenüber den politischen Heilsversprechungen seiner Zeit eine gewisse Skepsis bewahrte, stand Sombart mit seiner »kulturpessimistischen« Haltung den Veränderungen der Moderne vornehmlich ablehnend gegenüber. Die Ideenwelten von Simmel und Sombart – und mit ihnen die Warenhaus– und Filmromane – markieren die Grenzen, in denen sich der Diskurs um Moderne, Konsum und Warenhaus und Kino nach 1900 entfaltete; ein Diskurs, der die kapitalistische Moderne insgesamt verhandelte. Anders als dem Warenhaus, das in den Romanen überwiegend kritisch betrachtet wird, wird dem Kino in den Filmromanen eine Berechtigung in der modernen Kulturlandschaft zugestanden. Dies mag zum Teil daran liegen, dass die Autoren der Filmromane selbst oft aus dem näheren Umkreis der Filmindustrie stammten. Einige von ihnen arbeiten auch als Drehbuchautoren und Filmjournalisten oder hatten zumindest mittelbar mit dem Filmmilieu zu tun. Das Fehlen antisemitischer Tendenzen in den Filmromanen kann dadurch erklärt werden, dass viele, die in der neu entstehenden Filmindustrie arbeiteten, zudem selbst jüdisch waren. Edmund Edel, der Autor von Das Glashaus und selbst jüdischer Herkunft, ist ein gutes Beispiel für die oben aufgezeigten Verbindungen: Er schrieb nicht nur Filmdrehbücher, sondern inszenierte auch selbst als Regisseur, so zum Beispiel einen Film mit dem Titel Abenteuer im Warenhaus (1917).3 Wie groß die Affinität des neuen Mediums Film zum Milieu des Warenhauses und der neu entstandenen Berliner Konfektion war, zeigen die zahlreichen Filmproduktionen, die nicht nur in diesem Bereich angesiedelt waren, sondern auch das »Warenhaus« im Titel trugen: Das Warenhausmädchen (1913), Arme Maria. Eine Warenhausgeschichte (1915, mit Hanni Weisse und Ernst Lubitsch, Regie: Max Mack) oder Die Warenhausgräfin (1915, mit Aud Egede Nissen) und eben Abenteuer im Warenhaus (1917).4 Wie sehr sich die Haltung Edels zu den Errungenschaften der modernen, urbanen Kultur von der Sombarts unterschied, zeigt der Disput, den Edel und Sombart in der Zeitschrift Morgen zum Thema Reklame ausfochten, und dem ein völlig divergierendes Kulturverständnis zu Grund lag (vgl. auch Jazbin3

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Für biographische Angaben und eine detaillierte Filmografie Edmund Edels siehe Edmund Edel. Autobiographische Notiz (1926). In: Kurt Mühsam& Egon Jacobsohn: Lexikon des Films: Verlag der Lichtbildbühne. Und: Edmund Edel. In: Bock, HansMichael (Hg.): CineGraph – Lexikon zum deutschsprachigen Film. München: edition text + kritik. »Edmund Edel« in CineGraph – Lexikon zum deutschsprachigen Film. Hg. v. HansMichael Bock. München: edition text + kritik. Und »Autobiographische Notiz«. In: Lexikon des Films (1926). Hg. v. Kurt Mühsam u. Egon Jacobsohn. Berlin: Verlag der Lichtbildbühne. In den 20er Jahren folgten noch Die Warenhausmieze (1920), Das Mädel aus dem Warenhaus (1923), Warenhausmädchen (1925), Die Warenhausprinzessin (1926) und Ein Lieb, ein Dieb, ein Warenhaus (1927). Auf zahlreiche sog. Konfektionskomödien, wie zum Beispiel Die Firma heiratet (1914), Der Stolz der Firma (1914), Der Blusenkönig (1917) oder Schuhpalast Pinkus (1916), alle mit Ernst Lubitsch, sei hier nur kursorisch verwiesen.

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sek & Thies 1999). Sombart hatte dort in einem Aufsatz die Reklame als typischen Ausdruck der Moderne, des Kapitalismus und des Amerikanismus gegeißelt und sie der Verwüstung des Stadtbildes und der Verrohung des Geschmacks bezichtigt. Auch ästhetische Bemühungen seien hier vergebens: »Die Kunst im Dienste der Reklame ist eine der vielen gründlichen Verirrungen unserer Kultur.« (Sombart 1908: 284–286) Edel, selbst Plakatmaler und Werbetexter, kritisiert unter dem Titel »Kunst, Kultur und Reklame« den Sombart’schen Kulturbegriff aufs Schärfste und entgegnete: Heutzutage wird das Wort Kultur bei jeder Gelegenheit im Munde geführt. Was ist Kultur? Ist ein rauchender Fabrikschlot nicht ebenso wertvoll für unsere Kultur, wie die polierten Fingernägel oder die seidenen Unterbeinkleider eines Westenschnittästheten? (…) Und die paar Leutchen, die den Rauch der Fabrikschlote nicht ertragen können oder die Schnapsplakate, müssen sich wie Schmetterlingspuppen in sich selbst zurückziehen oder mit zugehaltener Nase durch die Straßen gehen. Auch durch die Straßen der Großstadt, die ja für feineres Kulturleben sowieso verloren ist,

wie Sombart sagt. (Edel 1908: 603) Die moderne Reklame, die nun überall im Stadtbild zu finden war, hatte eine ähnlich hohe Symbolkraft wie die Warenhäuser und das Kino. Sombart nimmt sie wahr als Zeichen von Kulturverfall, für Edel ist sie dagegen ein »Kulturfaktor« (Edel 1908: 603) und Ausdruck lebendiger Urbanität und Modernität. Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Auch wenn die Geschichten, die die Warenhaus- und Filmromane der Kaiserzeit erzählen, zuweilen belanglos und kolportagehaft erscheinen, spiegeln sie gerade aufgrund ihres Status als »Gebrauchsliteratur« die »großen Themen« ihrer Zeit wider und setzen sich mit den Auswirkungen der sich rapide entwickelnden Massen-, Konsum- und Mediengesellschaft auseinander. Sie erweisen sich bei genauerem Lesen geradezu als Illustrationen soziologisch inspirierter Modernisierungstheorien und sie spiegeln auf eindrückliche Weise die Widersprüche und Brüche im Kulturverständnis ihrer Zeit.

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CHRISTIAN KRACHTS FASERLAND AN DEN GRENZEN DER ERLEBNISGESELLSCHAFT MARCO BORTH Zur Rezeption Bei seinem ersten Erscheinen 1995 und in der Folge immer wieder spaltet Christian Krachts Roman Faserland die Rezensenten und zwar quer durch die literarische Öffentlichkeit: Kritik, Autoren und Literaturwissenschaft. Krachts Faserland gilt als zentrales Moment einer literarischen Strömung oder einer Reihe von Texten, deren Autoren zum (Um-)Kreis des »popkulturellen Quintetts«1 gezählt werden. Entsprechend wird die deutsche Popliteratur der 1990er Jahr gerne en gros verhandelt. Zunächst vom Feuilleton häufiger zerrissen als gelobt, melden sich bald auch andere Gegenwartsautoren zu Wort, um ihr Unbehagen mit der neuen Autorengeneration kundzutun, oder aber, um Krachts Text in den eigenen Werken geradezu zu feiern. Dann nimmt sich – zunächst nicht minder gespalten und wertend – auch die Literaturwissenschaft den jungen Texten an. Gemeinsam ist den konträren Besprechungen vieles: Das Vokabular2, die Gleichsetzung von Autor und Erzähler, der Hinweis auf die laxe Sprache des Textes und die Diagnose ausbleibender Sozialkritik. Stellvertretend für diese Befunde kann hier Mathias Polityckis harsche Kritik in Kalbfleisch mit Reis! angeführt werden, der befürchtet, man werde es bald mit noch mehr Autoren und Figuren zu tun haben […] vom Schlage eines Christian Kracht, die sich, begnadet durch eine noch spätere Geburt, um überhaupt nichts mehr scheren, am allerwenigsten um die Frage, was ein vollgeschwalltes Stück Papier von einem literarischen Text unterscheide. (Politycki 1997: 6)

Für diese Betrachtungen besonders von Interesse aber ist eine weitere Gemeinsamkeit der Besprechungen. Durchgängig werden nämlich die ökonomischen Verhältnisse der Popautoren und des Faserland-Helden betont: Jene seien »Schnösel« oder »Dandys«, Krachts Held ein »Wohlstandsbubi« (Ernst 2001: 72) mit dem »eliteschulgestählten Blick reicher Erben« (Ullmaier 2001: 32). Und in der Tat tritt die »noch spätere Geburt« der Autoren und des 1

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»Das popkulturelle Quintett vereint mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre ›five infamous rile German literati‹ (The Observer, London)« (Bessing 2001: Umschlag). Kaum eine Besprechung verzichtet auf die Begriffe »Schnösel« bzw. »Dandy«.

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Protagonisten in einer Situation des allgemeinen ökonomischen Wohlstands ein: »Das Volkseinkommen stieg pro Kopf real von 850 DM (1950) über 1.480 DM (1960) auf 2.300 DM im Jahre 1973« (Schröter 2005: 359). Und auch wenn die folgende »Talfahrt der Wirtschaft« – Kandidat um den Titel Wort des Jahres 1982 – Spuren hinterlässt, ist auch für Deutschland spätestens seit der Kohl-Ära mit Kenneth Galbraith von einer Gesellschaft im Überfluss zu sprechen.3 Am menschheitsgeschichtlichen Maßstab gemessen, handele es sich wegen der Verbreitung und Stabilität des Überflusses dabei um einen Ausnahmezustand, in dem sich – Galbraiths Befund für die USA der 1950er also auf die Bundesrepublik der 1990er übertragen – nur die »letzten zwei, drei Generationen« befinden (Galbraith 1959: 11–12). Vor diesem Hintergrund muss man Illies resp. dem Inspektor der Generation Golf eine kulturanthropologisch scharfsinnige Faserland–Lektüre zubilligen: »Im Jahre 1995 erschien sein Roman Faserland. […] Zum anderen aber las man hier erstmals von einem Sohn aus sehr gutem Haus« (2000: 154). Dieser neue Zustand »Jenseits der Not«, so Peter Sloterdijk (2004: 671) in Schäume, dem letzten Band seiner Sphären-Trilogie, zeitige Irritationen und Erklärungsbedarf. Es fehle nämlich »eine authentische Theorie der Entspannung und Entarmung«, um dem menschheitsgeschichtlich neuen und ungewohnten »Affluenz-Phänomen« gerecht zu werden (Sloterdijk 2004: 688). Stattdessen bestimme eine nach wie vor »scharf eingestellte Mangel-Optik« (Sloterdijk 2004: 681) den Blick auf die Gegebenheiten, und führe entsprechend zu einem Bild, das der faktischen Überflusssituation und der allgemeinen Verwöhntheit widerspreche. Den philosophischen und anthropologischen Diskursen des 20. Jahrhunderts, sowie in psychosozialer und individueller Hinsicht diagnostiziert Sloterdijk einen »endogene[n] Ernstfallappetit«: das Widerstreben, sich »auf Dauer mit [der] Befreiung in die Beliebigkeit« abzufinden (Sloterdijk 2004: 726). Ursächlich dafür seien zum einen die politische Korrektheit, die es verbiete, sich im Angesicht des Elends außerhalb (und innerhalb) der Ersten Welt, zum eigenen Verwöhntsein zu bekennen. Zum anderen käme ein solches Bekenntnis der Erklärung gleich, nichts mehr von dem zu begreifen, »was für die meisten Angehörigen der Menschengattung […] die Koordinaten des Wirklichen bestimmt« (Sloterdijk 2004: 688). Psychosozial ließe sich die Leugnung des westlichen Wohlstands und Luxus, deren (Um-)Deklaration »als Abdeckung des Mindestbedarfs« (Sloterdijk 2004: 690), so begründen, dass sie ihren Fortbestand sichert, insofern dann von den Möglichkeiten des Umverteilens und Verausgabens abgesehen werden kann. Ferner sei es die menschheitsgeschichtliche Neuheit der Situation, die nicht zuletzt durch die Berichte der älteren Generationen immer wieder als Neuheit aktualisiert werde. Es darf hier dahingestellt bleiben, wieweit Sloterdijks umfassende Klage über die Klage auf hohem Niveau zutrifft – wenigstens die Debatte um die Popliteratur und insbesondere um Krachts Faserland bestätigt seinen Befund. Ganz explizit Max Billers Tutzingrede Feige das Land. Schlapp die Literatur: Wenn Biller Kracht von seinem Angriff auf die Popliteraten der 1990er, 3

Die zeitliche Versetzung gegenüber der Situation in den USA rechtfertigen u. a. die beiden Weltkriege.

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»die es sich in der kapitalistischen Warenwelt intellektuell bequem [machen], um sie bloß nicht zu verlieren«, ausnimmt, dann, weil er dem Helden des Faserland einen »Hass auf unser Luxusdeutschland« attestiert (Biller 2000). Und Polityckis impliziter Bezugspunkt liegt eben jenseits der Gnade der späten Geburt und also diesseits der Not, während sich der Inspektor der Generation Golf, wie es der Beginn des Textes will, Krachts Faserland aus einem Zustand exo-uteraler Verwöhnung, nämlich aus der »warmen Wanne, im Schaum« nähert, »als hätte der Postbote gerade das Rundum-sorglos-Paket abgegeben« (2000: 9). Die Debatte um die Popliteratur der 1990er kreist also auch und besonders um den Komplex Überfluss. Ihre Differenzen – Ablehnung vs. Zustimmung – darf als Hinweis für die Irritationen und den Klärungsbedarf (in) der jungen Überflussgesellschaft verstanden werden. Inwiefern Krachts Text für eine Theorie des Reichtums fruchtbar gemacht werden kann, wird später in einem Ausblick angedeutet. Die Mitglieder der Gesellschaft im Überfluss indes scheinen auch ohne theoretisches Gerüst eine Form des Umgangs mit dem Überfluss gefunden zu haben, die Gerhard Schulze in seiner Theorie und empirischen Studie Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart beleuchtet, die 1992 erscheint. Schulze zufolge wenden sich die Menschen der Überflussgesellschaft dem Genuss zu, woraus neue Formen der Vergesellschaftung entstehen. Die Möglichkeiten, Irritationen und Grenzen, die daraus resultieren können, werden im Folgenden mit Krachts Faserland auszuloten sein. Krachts Held ist nämlich nicht nur Mitglied der Überflussgesellschaft, sondern gehört auch zur »Jugend der oberen Zehntausend« (Baßler 2002: 112). Dies markiert schon der Beginn des Romans deutlich, beginnt die Reise des Erzählers durch Deutschland doch am geographisch wie sozial oberen Ende der Republik, nämlich auf Sylt. So vertritt Anke Biendarra (2002: 167) die Ansicht, Faserland werfe »ein Schlaglicht auf die Beschaffenheit einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht, auf daß dahinter das Gewebe Deutschland und die es zusammenhaltenden Fasern transparent würde«. Allerdings sind diese die obere »Schicht« auszeichnenden Ressourcen, Zeit und Geld, über die Krachts Erzähler ausreichend verfügt, in den 1990ern und heute einem großen Teil der Bevölkerung zugänglich: »was gestern den Upper Ten vorbehalten war, wird heute zum Standard der ökonomischen Mittellage« (Schulze 2000: 57). Damit sei nun nicht gesagt, dass Krachts Held den deutschen Durchschnittsbürger der 1990er gebe, wohl aber darf er wegen seiner außerordentlichen ökonomischen Ausstattung als experimenteller Idealfall eines Vertreters einer Gesellschaft im Überfluss gelten. Dass sich das Leben in einer Überflussgesellschaft durchaus problematisch ausnehmen kann, wie bereits der Blick auf die Faserland-Rezeption andeutete, bestätigt auch die komplexe Eröffnung des Textes.

Der zwei- und dreifache Beginn Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke. Fisch-Gosch, das ist eine Fischbude, die deshalb so berühmt ist, weil sie die nördlichste Fischbude Deutschlands ist. Am oberen Zipfel von Sylt

92 | MARCO BORTH steht sie, direkt am Meer, und man denkt, da käme jetzt eine Grenze, aber in Wirklichkeit ist da bloß eine Fischbude. Also, ich stehe da bei Gosch und trinke ein Jever. Weil es ein bißchen kalt ist und Westwind weht, trage ich eine Barbourjacke mit Innenfutter. Ich esse inzwischen die zweite Portion Scampis, obwohl mir nach der ersten schon schlecht war. Der Himmel ist blau. Ab und zu schiebt sich eine dicke Wolke vor die Sonne. Vorhin hab ich Karin getroffen. Wir kennen uns noch aus Salem, obwohl wir damals nicht miteinander gesprochen haben, und ich habe sie ein paar mal im Traxx in Hamburg gesehen und im P1 in München. (Kracht 2001: 15; Hv. M.B.)

Mit dem ersten resümierenden »Also« und besonders mit »es fängt damit an« wird der Gestus des Erzählens ausgestellt. Der zweite Absatz nun scheint näher am Geschehen auf der Insel als der erste, da dieser von Erklärungen zu »Fisch-Gosch« dominiert wird. Man mag also meinen, dies sei der Unterschied zwischen den beiden Absätzen, »da käme jetzt eine Grenze«, und der zweite schildere das Geschehen. Tatsächlich, »in Wirklichkeit«, schildert aber bereits der erste Absatz, dass der Held Bier trinkend an einer Fischbude steht, und der zweite Absatz expliziert mit der Wiederholung von »Also« den Erzählvorgang ebenfalls. Diese beachtenswerte Verdopplung lenkt zum einen das Augenmerk auf das Verhältnis von Geschehen und Erzählvorgang und evoziert so die Frage nach dem Erzählzeitpunkt. Zum anderen legt dieser doppelte Anfang nahe, dass ein Unterschied besteht, zwischen der Tatsache, dass man handelt – »daß ich bei Fisch-Gosch stehe« – und dem Handeln als solchem – »ich stehe da bei Gosch«. Ansonsten wäre die Wiederholung des berichteten Geschehens im zweiten Absatz unnötig und der Text könnte ohne den Satz »Also ich stehe da bei Gosch und trinke ein Jever« fortfahren. Weiter entspricht der gedoppelte Beginn der zweifachen Beschreibung der fiktiven Umgebung: »In Wirklichkeit ist da bloß eine Fischbude«, so der Erzähler. Auf diesen Teil der Wirklichkeit aber bezieht er sich zunächst mit der Wortkombination »Fisch-Gosch«, um im zweiten Absatz dann lediglich von »Gosch« zu sprechen. In ein semiotisches Dreieck übertragen, kann man von einem Referenten in der Wirklichkeit sprechen, der Fischbude, dem dann zwei Signifikanten zukommen, womit sich die Frage nach dem Signifikat oder eben den Signifikaten stellt. Und mit der Reduzierung von »FischGosch« auf »Gosch« wird ein weiterer Aspekt von Zweifachheit deutlich: die von Marke und Gebrauchswert einer Ware. An dieser Fischbude kann man eben Bedürfnisse befriedigen, die, mit Marx (1968: 49) gesprochen, »dem Magen […] entspringen«. Ermöglicht wird die Bedürfnisbefriedigung durch die Materialität der Ware, ihren »Warenkörper« (1968: 50), hier Fisch, der im ersten Absatz in der Kombination »Fisch-Gosch« noch angesprochen ist, im zweiten Absatz dann aber hinter dem Markennamen der Fischbude zurücktritt4. So überblendet der Text hier zwei Formen des Weltbezugs – durch Sprache und durch Konsum –, die man vermittels einer »Grenze« auch in das Symbolische und das Materielle unterscheiden könnte. Zum Gebrauchswert und der Materialität der Dinge – und wie später deutlich wird auch zur Sprache – scheint der Erzähler zudem ein sehr eigenes 4

Man könnte hier auch von Eigen- und Gattungsnamen sprechen.

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Verhältnis zu haben, isst er doch bereits die »zweite Portion Scampis«, obwohl ihm »nach der ersten schon schlecht war«. Zwischen der Wirklichkeit, wie sie der Erzähler wahrnimmt, und seinem wirklichkeitsrelevanten Handeln besteht also eine ungewöhnliche Diskrepanz. Ferner wird in der Eingangspassage – wohlgemerkt nach dem Komplex Marke vs. Gebrauchswert – das Ausbleiben verbaler Kommunikation thematisiert: »obwohl wir damals nicht miteinander gesprochen haben«. Im Folgenden soll also der These nachgegangen werden, dass das merkwürdige Verhalten des Erzählers zum einen aus der Grenzverwischung zwischen Marke und Gebrauchswert eines Dings resultiert, zum anderen aus der Unterscheidung zwischen dem Handeln als solchem und der Tatsache, dass gehandelt wird, sowie aus dem Ausbleiben verbaler Kommunikation. Es gilt nach Analyse wichtiger Textpassagen dann zu sehen, wie sich der Erzähler verhält, wenn am Ende des Romans das Geschehen den Erzählzeitpunkt einzuholen scheint. Dass dies auch erfolgt, mag die Doppelung des erzählten Geschehens andeuten. Blickt man aber noch einmal auf den Beginn der Erzählung des Helden – das erste »Also« – scheint dies fraglich. Dieser Begriff markiert nämlich auch, dass die folgenden Schilderungen des Ich-Erzählers eine Auswahl darstellen, und verweist so implizit auf das Geschehen davor, so dass es ebenso plausibel erscheint, einen Erzählzeitpunkt außerhalb des erzählten Geschehens anzunehmen.

Alltagssoziologie im Faserland Die Lektüre dorthin wird sich wie angekündigt mit Gerhard Schulzes Konzept der Erlebnisgesellschaft auseinandersetzen. Unter »Erlebnisgesellschaft« versteht Schulze (2000: 736) eine Gesellschaft, deren Mitglieder ihr »Handeln an dem Ziel aus[…]richten, vorübergehende psychophysische Prozesse positiver Valenz (›schöne Erlebnisse‹) bei sich selbst herbeizuführen«. Als konstitutives Element einer Handlung gilt Schulze (2000: 108) entsprechend das »Streben […] nach Genuss«. Diese Setzung ist jedoch nur möglich für (und in) Sozialstrukturen, in denen sozial verbindliche Handlungsrichtlinien so flexibel sind, dass abweichendes Verhalten nicht zur (sozio-)existenziellen Bedrohung wird, und zudem eine ökonomische Situation des Überflusses besteht. Bei einer solchen Vermehrung der Möglichkeiten für einen Großteil der Gesellschaft kann »Erlebnisorientierung zur normalen existenziellen Problemdefinition« werden (Schulze 2000: 736). Die Frage »Wie erreiche ich X?« wird, wie auch schon Galbraith festgestellt hat, abgelöst von der Frage »Was will ich?« (Schulze 2000: 68; Galbraith 1959: 12). Die Mitglieder der Überflussgesellschaft sehen sich nicht mehr wie die älteren Generationen vor der Schwierigkeit, Bedürfnisse vor dem Hintergrund der Not und des Mangels und nach Maßgabe der Realisierbarkeit, also auf Basis äußerer Umstände, zu befriedigen, sondern können aus einem Überangebot frei wählen. Und Schulze zufolge werden sie sich dabei dem Angebot zuwenden, von dem sie den höchstmöglichen Genuss, ein »schönes« Erlebnis erwarten. Schulze (2000: 426) konstatiert entsprechend einen Wandel »von außenorientiertem zu innenorientiertem Konsum«; erster orientiert sich am Gebrauchswert,

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zweiter an der Erlebnisqualität eines Produkts. Im menschheits- und generationengeschichtlich neuen Zustand des Überflusses sind es also nunmehr nicht – um in Schulzes begrifflichem Rahmen zu bleiben5 – die »Lebensphilosophie« als »grundlegende Wertvorstellungen und handlungsleitende Wissensmuster über Natur und Jenseits, Mensch und Gesellschaft« (Schulze 2000: 112), die das sozialrelevante Handeln motivieren, und auch nicht mehr die Distinktion, »die Unterscheidung des Subjekts von anderen« (Schulze 2000: 109), um vermittels Statussymbolen soziale Unterschiede zu markieren und damit die eigene soziale Position zu festigen. Gemäß Schulze motiviert das Streben nach Genuss. Gleichwohl können Distinktion und Lebensphilosophie eine Wahl mitmotivieren. Schulze versteht sie aber dem Handeln als nur fakultativ, nicht konstitutiv eigen (Schulze 2000: 108). So werden in einer Überflussgesellschaft alltägliche Handlungen zu gewählten, »alltagsästhetischen Episoden«, die in ihren Kombinationen und »Wiederholungstendenzen« (Schulze 2000: 103) den persönlichen Stil eines Menschen bilden. »Der Handelnde selbst erlebt seinen Stil als Konkretisierung von Identität, während er den anderen, den Beobachtern, als Anhaltspunkt alltagssoziologischer Typisierung dient«, so Schulze (2000: 104). Stil und alltagästhetische Episoden sind also Zeichen, die für Außenstehende Rückschlüsse auf (bei Schulze) insbesondere ein bestimmtes Genussmuster, aber auch auf lebensphilosophische Einstellungen und Distinktionen eines Handelnden zulassen. Ebenso gelten ihm Erlebnisangebote für den Handelnden in spe als Zeichen (quasi als Versprechen und zur Orientierung), deren Gehalt Erlebnisse sind (Schulze 2000: 96), und alltagsästhetische Episoden als angeeignete Zeichen, deren Bedeutung eine bestimmte Wirkung im eigenen Inneren ist (Schulze 2000: 101). Insofern unterliegt der Ich-Erzähler zu Beginn des Romans einer Fehlinterpretation. Und da er offenbar nicht genussorientiert handelt, stellt sich, sofern man in Schulzes Rahmen bleibt, die Frage, ob der Erzähler dann distinktions- und/oder lebensphilosophisch motiviert handelt. Das auf den oben besprochenen Romananfang folgende Geschehen an der Fischbude belegt nun zunächst die Distinktionsmotivation: Andauernd ruft jemand von Gosch über das Mikrophon irgendwelche bestellten Muschelgerichte aus und das lenkt mich immer wieder ab, weil ich mir vorstelle, daß eine der Muscheln verseucht ist und heute Nacht irgendein chablistrinkender Prolet ganz schlimme Bauchschmerzen kriegt und ins Krankenhaus gebracht werden muß mit Verdacht auf Salmonellen oder irgendsowas. Ich muß grinsen, wie ich mir das vorstelle […] (Kracht 2001: 16)

Wer auf Sylt Chablis trinkt, ist in den Augen des Erzählers – anders als er selbst, der gegen seinen Geschmack Jever trinkt – also ein Prolet. Die dem Proleten angedichteten Bauchschmerzen, die der Ich-Erzähler ob der Scampi wohl selbst empfindet, liefern die Verbindung, die die Vermutung erlaubt, 5

Denkbar wären auch andere Bedeutungsebene, so etwa die Verherrlichung von Eliten in der griechischen Antike. Schulze wählt Genuss, Distinktion und Lebensphilosophie, weil sie für eine Untersuchung der kultursoziologischen Situation ab dem 19. Jahrhunderte unerlässlich sind (Schulze 2000: 114–115). Diese Betrachtungen folgen Schulze, da diese drei Bereiche für eine personale Identitätskonstitution zentral sind.

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sein Verhalten als Distinktionsbemühen zu verstehen. Andererseits bereitet dem Protagonisten diese Distinktion offenbar auch Genuss, sonst müsste er nicht grinsen. Zwar wäre mit Schulze (2000: 62) hier von der Reflektion eines Ursprungserlebnisses, Übelkeit, zu sprechen, das sich »auf Grund von Perspektiven, Kriterien, Modi der Selbstbeobachtung« wandelt, so dass dem Erzähler im Nachhinein seine Wahl auch Genuss bereitet. Es ist aber die zeitliche Differenz, die diese Art von Genuss von Schulzes Annahme des unmittelbaren Strebens nach Genuss unterscheidet. Und ferner stellt sich auf die Reflektion des Erzählers nur sehr selten ein solch vermittelter Genuss ein. In aller Regel liefern die Reflektionen auf sein unangenehmes Ursprungserlebnis ein weiteres, ebenso unangenehmes Erlebnis. Nun basieren das Schließen des Erzählers wie auch Schulzes Untersuchung darauf, dass eine stabile Verbindung zwischen einer gewählten Episode und der Bedeutungsebene besteht, dass, mit Schulzes Rekurs auf Peirce, »Stil [wie auch Alter und Bildung] ein probalistischer Index für eine bestimmte Existenzform ist« (Schulze 2000: 185). Wie als klassisches Beispiel Rauch ein Index für Feuer ist, sind dem Erzähler Chablis und Muscheln indexikalische Zeichen für eine proletenhafte Existenzform. Es gilt also zu unterscheiden zwischen der Handlung, »Ich stehe da bei Gosch«, und der Zeichenhaftigkeit der Handlung als interpretierbarer Tatsache, »daß ich bei Fisch-Gosch stehe«. Erstes kann genuss- oder distinktions- oder lebensphilosophisch motiviert sein und die entsprechenden Wirkungen – Genuss, Distinktion, Aktualisierung grundlegender Werte – erzielen; zweites zeigt an, dass die entsprechenden Wirkungen erzielt werden sollen, wobei diese Unterscheidung im Fall Distinktion hinfällig ist, weil hier die Bedeutung der Handlung dem Handeln vorausgeht. In den Bereichen Genuss und Lebensphilosophie kann ein indexikalisches Schließen vom Stil eines Menschen auf entsprechende Bedeutungen nur Gültigkeit und Zuverlässigkeit beanspruchen, wenn erstens das zu interpretierende Handeln tatsächlich entsprechend motiviert ist, wenn ein (zwar nicht physisches, so doch aber) kausales Verhältnis zwischen Zeichen und Bedeutung besteht, und wenn gleichzeitig zweitens der Handelnde eine Unterscheidung aufrecht erhält, eine »Grenze« (Kracht 2001: 14) besteht, um die Eingangspassage zu strapazieren, zwischen dem spezifisch motivierten Handeln und dem Wissen um die damit verbundenen Bedeutungen. Ansonsten besteht die Möglichkeit der Inszenierung, so dass die Schlüsse auf die Bedeutungsebenen fragwürdig werden, womit die Grenzen des Konzepts Erlebnisgesellschaft markiert sind. Die Tatsache, dass der Erzähler aus welchen Gründen auch immer distinktionsmotiviert und im Widerspruch zu den Daten seiner Wahrnehmung handelt, zeigt an, dass er sich der Zeichenhaftigkeit seines Handelns nicht nur bewusst ist, sondern dass er seine alltäglichen Episoden intentional und also als symbolische Zeichen setzt. Nicht von ungefähr führt die Eingangspassage die Interpretationsmöglichkeit des Handelns: »daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe« (Kracht 2001: 15) zuerst an. Im Falle genuss- bzw. lebensphilosophisch orientierten Handelns käme dies einer Inszenierung gleich, mit der der Erzähler im Faserland auch rechnet: »Karin studiert BWL in München. Das erzählt sie wenigstens. Genau kann man so was ja nicht wis-

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sen« (Kracht 2001: 15). Folgerichtig ist ihm bezüglich seiner Umwelt eher an der Signifikantenseite der Episoden seiner Mitmenschen gelegen: Sergio, das ist so einer, der immer rosa Ralph-Lauren-Hemden tragen muß und dazu eine alte Rolex, und wenn er nicht barfuß wäre, mit hochgekrempelten Hosenbeinen, dann würde er Slipper tragen von Alden, das sehe ich sofort. (Kracht 2001: 20)

Aus dem, was der Erzähler aber »sofort« sieht, kann der Leser über die Geschehnisse am Strand lediglich erfahren, dass Sergio barfüßig ist und die Hosenbeine hochgekrempelt hat. Dass er gerade ein »rosa Ralph-Lauren-Hemd und dazu eine alte Rolex« trägt, scheint der Erzähler nur gesagt zu haben, was auch durch den Gebrauch des Konjunktivs für das tatsächliche Geschehen unterstrichen wird. Der Erzähler schließt hier also nicht auf die Lebensphilosophie oder ein bestimmtes Genussmuster Sergios, sondern bleibt auf der Oberfläche der Zeichen und schließt von einem Signifikanten auf den nächsten. Für eine alltägliche Situation mag dies auch zu abstrakt oder zu viel erwartet sein, der Erzähler hegt offenbar aber überhaupt kein Interesse an Sergios Persönlichkeit. Als Sergio sagt, er käme aus Kolumbien, was ja durchaus Möglichkeiten zur Anschlusskommunikation eröffnet, konstatiert der Erzähler: »Dann geht uns irgendwie der Gesprächsstoff aus« (Kracht 2001: 21).6 Vor dem Hintergrund alltagssoziologischen Schließens lassen sich auch die hohe Anzahl, angeblich 76 (Jähner 2001), und Frequenz der Markennamen im Text lesen. Denn die Marke stellt quasi die reziproke Synthese alltagssoziologischen Schließens dar: Mit Werbung und Marke versehen, weisen Waren einen semantischen Überschuss auf, der mit dem Produkt assoziiert wird und nicht notwendig und immer seltener mit dem Gebrauchswert in Verbindung steht. »Was wir heute auf dem Markt kaufen, sind immer weniger Produkte und immer mehr Lebenserfahrungen wie Essen, Kommunikation, Kulturkonsum, Teilhabe an einem bestimmten Lebensstil«, so Slavoj Žižek (2002: 120). Es wäre aber verfehlt anzunehmen, Krachts Held generiere seine personale Identität mittels der Übernahme von Werbebotschaften, wie sie etwa der Werbespot Frieslandgänger (Jung von Matt 1995) von Jever transportiert, der auffallend gut nach Sylt passt. Der IchErzähler, nimmt man den Text beim Wort, hat keinen Kontakt zu Werbeflächen7: »und schalte den Fernseher ein und drehe den Ton ab und lege mich auf das frisch bezogene Bett und schließe die Augen« (Kracht 2001: 75). Indem also die Markennamen ohne die Explikation ihrer Werbebotschaften und zudem »so beiläufig und künstlerisch unambitioniert in den Text« (Drügh 2007: 35) implantiert sind, wirken sie gewissermaßen als natürliche 6

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In diesem Zusammenhang sei auf die Barbourjacke hingewiesen, die, wie häufig festgestellt wird, leitmotivischen Charakter hat: Wie deren wachsversiegelte Oberfläche keinen Regen durchlässt, bleibt der Erzähler auf der Zeichenaußenseite seiner Mitmenschen. Die Entwicklung des Helden ließe sich auch an seinem Verhältnis zu seiner »Barbour« (Kracht 2001: 16), später »Jacke« (Kracht 2001: 163) nachzeichnen. Für weitere Belege ausbleibender verbaler Kommunikation vgl.: Schwander 2002: 77. Ausgenommen die Reklameschilder von »Mannesmann und Brown Boveri und Siemens« am Frankfurter Flughafen (Kracht 2001: 69). Allerdings handelt es sich hier um, wie er zuvor sagt, »richtige Firmen« (2001: 34) und nicht um Lifestyleprodukte.

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Gegebenheiten in einer fortgeschrittenen Überflussgesellschaft, wie eben auch das alltagssoziologische Schließen hier so selbstverständlich ist wie die Nutzung des Gebrauchswerts einer Ware jenseits einer Überflussgrenze. Der Sicherheit solchen Schließens innerhalb einer Signifikantenkette, die der Ich-Erzähler in der Begegnung mit Sergio unter Beweis stellt, steht ein frappierend freies Schließen auf die lebensphilosophischen Konzepte seiner Mitmenschen gegenüber. Am Hamburger Flughafen etwa raunt er einem vermeintlichen Betriebsratsvorsitzenden »SPD-Nazi« (Kracht 2001: 57) ins Gesicht und stellt damit eine Signifikantenkombination her, die widersprüchlich erscheint, wenn man sie mit den allgemein assoziierten Signifikaten verbindet. Und ferner scheint der Referenzbezug vernachlässigbar. Dass sein Gegenüber nämlich Betriebsrat mit Affinität zur SPD ist, folgert der Erzähler aus der Annahme, dass heutzutage jeder Betriebsratsvorsitzende fliege (Kracht 2001: 56). Der Referenzbezug wird an anderer Stelle dann als unwichtig ausgewiesen, gar geleugnet: In Heidelberg stellt der Erzähler verwundert fest, dass »ab einem gewissen Alter alle Deutschen [aussehen] wie komplette Nazis«, obwohl sie explizit »fünfzig Jahre« zuvor, also in den 1940ern, »schöne Menschen waren«: »Früher sahen sie nicht aus wie Nazis« (Kracht 2001: 98–99).8 Es sind hier also die Äußerlichkeiten seiner Mitmenschen und nicht etwa die historische Referenz, die seinen Urteilen zu Grunde liegt. Der Ich-Erzähler »begibt sich [als flüchtender Milieubeobachter] immer nur bis zu den Zehenspitzen in die soziale Wirklichkeit« (Frank 2000: 83), und zwar weil sich die alltagssoziologischen Milieus im Sinne Schulzes zu seiner primären Wirklichkeit verfestigt haben, auf die er entsprechend alltagssoziologisch reagiert: Nicht, daß ich kompliziert bin, aber es gibt so bestimmte, völlig ineinander verschachtelte Muster, die ich anwenden muß, um mit Menschen umzugehen. Na ja, Muster ist vielleicht nicht das richtige Wort. Ich kann das nicht so genau beschreiben, was ich meine. Es ist wie so ein Rädchen, das sich dreht, und wenn das richtige Gegenstück auf einem anderen Rädchen gefunden ist, dann rastet das erste Rädchen ein, und es kann losgehen. Das ganze kann man, glaube ich, sich ein bißchen wie in einem Trickfilm vorstellen. (Kracht 2001: 107)

Die »vollkommene Anti-Haltung« Das richtige Rädchen rastet allerdings nur sehr selten ein. Und wenn er sich in ein soziales Umfeld begibt und sein Handeln auf Genuss ausrichtet, stellen sich zügig Enttäuschungen im Erleben des Helden ein, worin Schulze zufolge (Schulz 2000: 63–67) ein zentrales Problem des Angebotsüberflusses besteht. So schließt der Erzähler in Heidelberg von einem «gute[n] Jackett» auf einen Menschen, »der in Ordnung zu sein scheint« (Kracht 2001: 102) und findet sich wenig später entgegen seinem allgemeinen Genussschema von eben die8

Auf diese Stelle weist auch Georg Mein (2008) hin, der den Wirklichkeitsverlust des Helden in der Folge des Judenmords als Mord an der Referenz erklärt.

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sem Menschen belästigt. Diese permanenten Erlebnisenttäuschungen lassen sich sicherlich auch als Antrieb seiner Reise verstehen: Wo Schulze (2000: 62) »Stil und Stiltypen, alltagsästhetische Schemata« als Orientierungshilfen ansieht, um in Anbetracht der Fülle von Möglichkeiten die Auswahl zu erleichtern und Unsicherheit und Enttäuschung zu umgehen, sind es bei Krachts Erzähler gerade diese Instrumente, die ihm Enttäuschungen bereiten, was ihn wiederum zur Distinktion und Weitereise zu bringen scheint. Der Erzähler selbst weist aber noch einen weiteren und wichtigeren Grund für sein Distinktionsbestreben aus: Ich weiß, daß es mit Deutschland zu tun hat und auch mit dem grauenhaften NaziLeben hier und damit, daß die Menschen, die ich kenne und gern habe, so eine bestimmte Kampfhaltung entwickelt haben und daß es für sie [Nigel und Alexander] nicht mehr anders möglich ist, als aus dieser Haltung heraus zu handeln und zu denken. Das verstehe ich ja noch. Aber manchmal verstehe ich den Ansatz dieser Haltung nicht, die Herangehensweise, und dann frage ich mich, ob das schon immer so war und ob ich nicht vielleicht auch so bin, eben für die anderen überhaupt nicht mehr nachvollziehbar. (Kracht 2001: 70)

Und in der Tat setzt sich der Held häufig mit Verweisen auf NaziDeutschland von seiner Umgebung ab. Damit ist ein Grund für die beständige Distinktion angegeben, dem auch lebensphilosophische Aspekte zukommen. Einen eigenen positiven Gegenentwurf zu diesem Nazi-Leben präsentiert der Erzähler indes nicht. Vielmehr versteht er die Herangehensweise seiner Freunde nicht, was die Vermutung erlaubt, dass er selbst einer solchen entbehrt. Offenbar reicht ein alltagssoziologisches Schließen, das bei ihm ohnehin zumeist auf der Signifikantenseite bleibt, nicht aus, um grundlegende lebensphilosophische Einstellungen zu entwickeln und damit einen Halt abseits der Signifikantenketten zu finden. Ex negativo scheint der Text adäquatere Möglichkeiten vorzuschlagen: zum einen das Lesen: »obwohl ich nicht viel lese« (Kracht 2001: 63), zum anderen Mediennutzung und ferner Gespräche. Anders formuliert: Kommunikationsformen, die auch jenseits der Überflussgesellschaft als solche funktionieren. Diese Möglichkeiten nicht genutzt habend, flieht der Protagonist schließlich in die Schweiz. Dass sich sein Distinktionsstreben gegen Nazi-Deutschland richtet, scheint sich dort auch gleich zu bestätigen. Das Feine an der Schweiz sei nämlich, »daß hier nichts plattgebombt worden ist« (Kracht 2001: 157). Als er sich vorstellt, in der Schweiz zu leben und seinen Kindern vom verhassten Deutschland zu erzählen, wird dann aber der Nationalsozialismus nicht zuvorderst angeführt: […] von dem großen Land im Norden, von der großen Maschine, die sich selbst baut, da unten im Flachland. Und von den Menschen würde ich erzählen, von den Auserwählten, die im Inneren der Maschine leben, die gute Autos fahren müssen und gute Drogen nehmen und guten Alkohol trinken und gute Musik hören müssen, während alle dasselbe tun, nur eben ein ganz klein bißchen schlechter. Und daß die

CHRISTIAN KRACHTS FASERLAND | 99 Auserwählten nur durch den Glauben weiterleben können, sie würden es ein bißchen besser tun, ein bißchen härter, ein bißchen stilvoller. (Kracht 2001: 161)

Damit beschreibt er zum einen sein voriges Verhalten, zum anderen weist er den Problemkern »im Inneren« einer fortgeschrittenen Überflussgesellschaft aus: Wenn alle »dasselbe tun« können, das zentrale Problem also nicht mehr die Realisierbarkeit der Bedürfnisbefriedigung darstellt, entsteht ein neues, dem Erzähler ebenso existenzielles Problem: die stilistische Positionierung im Raum alltagsästhetischer Semantik. Es handelt sich dabei gewissermaßen um eine Außenorientierung zweiter Ordnung: eine Außenorientierung auf den Stil und nicht auf grundlegende Bedürfnisse. Sie entsteht im sozialen Miteinander anscheinend notwendig aus der überflussgenerierten, allgemeinen Innenorientierung des Handelns. Diese Außenorientierung scheint dem Erzähler offenbar der interne Mechanismus der Maschine zu sein, als die er Deutschland begreift und in der die »Auserwählten« nicht anders leben können als mittels der Distinktion. Die Tragik des Erzählers besteht also in dem Versuch, sich mittels Distinktion von einer Gesellschaft abzugrenzen, deren interne Operationsweise eben die Distinktion ist. Erst nach diesem Befund würde er von den Deutschen erzählen und zunächst »von den Nationalsozialisten mit ihren sauber ausrasierten Nacken« (Kracht 2001: 161). Und diese Wendung setzt die Nationalsozialisten mit den Auserwählten gleich. Als der Erzähler nämlich in Hamburg seinen Freund Nigel besucht, ist zu lesen: »ich sehe auf Nigels Nacken, der immer sauber ausrasiert ist, wie mein Nacken auch« (Kracht 2001: 35). Der Nazi-Vorwurf ist mithin kein bloßes 68er-Zitat, wie Dirk Frank (2003: 224) vorschlägt, und zudem inhaltlich höchst plausibel, allerdings nicht im Sinn strenger historischer Angemessenheit: Er zielt auf die Erlebnisgesellschaft; besser: auf eine bestimmte Art des Umgangs mit den Möglichkeiten einer Überflusssituation.9 Es mag nun den Anschein haben, als sei des Erzählers Form der Außenorientierung schlicht die falsche und seien also Erlebnisorientierung und Überfluss per se die Wurzel seines Unbehagens. Und als sich der Erzähler auf Rollos Abschiedsparty – der Abschied des Erzählers aus Deutschland und Rollos Abschied aus dem Leben10 – befindet, scheint dies im Text zunächst auch so angelegt: Rollo und seinen Eltern attestiert der Erzähler eine »furchterregende Leere«, deren Grund »vielleicht« darin liegt, dass »sie alles […] schon gesehen und erlebt haben und sich alles kaufen können« (Kracht 2001: 128). Um diese Leere aufzufüllen, schließt sich Rollos Vater in »innere[r] Abkehr vom Geldausgeben« einem indischen Ashram an. Rollo seinerseits

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Damit sei nicht gesagt, dass sich die Passage allein in diese Richtung lesen lässt, sich der Held nicht mit Nazi-Deutschland auseinandersetze. Explizit verhandelt der Text ja die Frage nach der Schuld an den »Nazi-Verbrechen« (Kracht 2001: 150). In einer solchen Lektüre dann wäre die Gleichsetzung der Auserwählten mit den Nationalsozialisten etwa Indiz für die These faschistischer Elemente der Überflussgesellschaft. 10 Rollo begeht am Abend seiner Party im Valium- und Alkoholrausch Selbstmord im Bodensee. In Anlehnung an Georges Bataille ließe sich hier von einer absoluten Verausgabung sprechen und die Party als ein ultimativer Potlatsch verstehen, insofern der Gastgeber die Verpflichtung zur Gegengabe in Form von Freundschaft durch seine Selbstsopferung aufhebt. (Bataille 2001: insbesondere 12–20).

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begibt sich in die Rolle des Gastgebers – dem ersten Anschein nach, um Freundschaft zu finden: Ich meine, ich habe das natürlich geahnt, daß Rollo todtraurig ist die ganze Zeit. Er kennt einfach zu viele Menschen, und diese Menschen haben es zu leicht mit ihm. Freunde sind das ja nicht, obwohl sie ihn alle doch zu mögen scheinen. Es liegt wohl in Rollos Familie, daß sie diese innere Leere haben, die daher kommt, daß alle das Beste wollen und sich dann irgendwo festfahren. Rollo will ja nur, daß sich seine Gäste amüsieren. Da kommt keiner mehr heraus, aus diesem Zwang, Rollos Vater nicht und Rollo selbst auch nicht. (Kracht 2001: 152)

Mit der unbestimmten Wendung »das Beste wollen« reduziert der Erzähler den Umgang von Rollo und seinem Vater mit der überflussgenerierten Leere auf seine Funktion, nämlich ein stabiles, externes Ziel zu haben, das eigene Handeln im Außen zu verankern, wie es der Erzähler eben selbst durch seine stilistische Distinktion tut. Dieses Engagement aber weist der Erzähler hier deutlich als Zwang aus, dem er nicht ausgesetzt sein will. Es lässt sich mit Sloterdijk als Reaktion auf die allgemeine Entlastung erklären und quasi als künstlicher Ernstfall verstehen. In Anlehnung an Heideggers Überlegungen zur Langeweile (1983: 243–249) schreibt Sloterdijk: Weil im abgerüsteten Dasein das innere Ernstfall-Urteil ausbleibt, fühlt sich das Subjekt einer schalen Entlastung ausgesetzt. Seine Leichtigkeit tut ihm auf merkwürdige Weise weh – oder besser, es fühlt sich von dem, was weh tun könnte, beunruhigend abgeschnitten. Es ist sich selber gleichgültig – und das zu Recht, da es ihm so, wie es gegenwärtig lebt, bei allem, was es unternimmt um nichts Wirkliches gehen kann. Das unterergriffene Leben langweilt sich. Langeweile, das heißt: man erfährt die eigene Zeit als innere Dehnung, die übermäßig auffällt, weil sie sich nicht in sinnvollen Handlungen erfüllt. (Sloterdijk 2004: 729)

Damit scheint der häufig konstatierte »Ennui« des Helden erklärt, der wiederum als Grund für seine rastlose Reise durch Deutschland verstanden werden kann. Zugleich stellt sich aber die Frage, wie es dann um das Ende der Reise bestellt ist: wie der Held dort mit seiner Langeweile umgeht, ob es ihm fortan gelingt, sinnvoll zu handeln, und woher er gegebenenfalls Sinn nimmt.

Zu den Enden des Romans und Ausblick Oben wurde dem Text bereits unterstellt, er biete das Lesen und zwischenmenschliche Kommunikation als sinnstiftende Instanzen an. Zwischenmenschliche Kommunikation aber bleibt auch in Zürich aus oder interessiert den Erzähler nicht. Lediglich eine Tageszeitung liest der Erzähler, um darin vom Selbstmord Rollos im Bodensee zu erfahren und den Artikel in seinem Jackett aufzubewahren (Kracht 2001: 158). Als er sich daraufhin in eine Kirche begeben will, ist diese verschlossen. Und so gehen auch die Sinnangebote Kirche, Buchladen und Elektrofachgeschäft (Kracht 2001: 158–159) quasi in der Reihenfolge ihrer historischen Hegemonie an ihm vorüber. Man kann

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also plausibel vertreten, der Erzähler begehe wie Rollo sinnentleert Selbstmord. Nachdem der Ich-Erzähler zuvor das Grab von Thomas Mann sucht, es »ernsthaft Abend« (Kracht 2001: 164) wird, und er schließlich einen Fährmann bezahlt, endet die Reise nämlich mit einer Bootsfahrt auf dem Zürichsee, als deren Ziel der Erzähler nicht etwa das gegenüberliegende Ufer bestimmt, sondern die »Mitte des Sees« (Kracht 2001: 166). Der Text erlaubt aber auch die gegensätzliche Interpretation: Die Schilderungen in Zürich nehmen sich nämlich auffällig optimistisch aus, insofern sie den Befund der Eingangspassage invertieren: Anders als auf Sylt und entgegen der oben geschilderten Beschreibung Deutschlands bemüht sich der Erzähler nicht um Distinktion, sondern um Assimilation. In einem Café bestellt er in Nachahmung zweier »halber Banker« »so ein Bier mit dieser roten Brause drinnen« (Kracht 2001: 156, 157). Dabei erfährt er, dass es sich um »Bier mit Grenadine« handelt und der konventionelle Signifikant zu diesem Referenten »Panache« lautet (Kracht 2001: 157). Auch stehen seine Handlungen in Einklang mit den Daten seiner Wahrnehmung: Als er sich ob der schönen Schweiz vornimmt, das Rauchen aufzugeben, gibt er bald seinem Genussstreben nach und kauft sich »eine neue Schachtel Zigaretten« (Kracht 2001: 156). So fehlen Markennamen in den Schilderungen zu Zürich fast völlig: Nur auf dem Weg nach Kilchberg spricht der Erzähler von der vergessenen »Barbourjacke« und stellt fest, dass rechter Hand »tatsächlich die LindtSchokoladenfabrik« steht, um unmittelbar darauf die Materialität der dort produzierten Ware zu unterstreichen: es rieche »nach dicker, brauner Schokoladenmasse« (Kracht 2001: 163). Offenbar überblickt er die Zweifachheiten, die der Text am Beginn des Romans eröffnet hat. Anders formuliert: Die beiden Formen des Weltbezugs – Sprache und Konsum – werden ihm plausibler: Sprachlich orientiert sich der Erzähler an der Konvention referentieller Sprache und bezüglich seines Konsums an den Daten seiner Wahrnehmung. So soll wie angekündigt ein Ausblick auf weitere Anschlusspunkte von Krachts Faserland und Sloterdijks Entwurf zu einer Theorie des Reichtums erfolgen. In der Alternative philosophischer Anthropologien – »der Mensch als armes oder reiches Wesen« (Blumenberg 1981: 104) – setzt Sloterdijk auf die zweite Variante, um dem Überflussphänomen gerecht zu werden. Über eine »affirmative Fassung des Begriffs Verwöhnung« (Sloterdijk 2004: 676) entwickelt er eine »nicht-pauperistische Anthropologie« (Sloterdijk 2004: 748) und setzt dabei bei der menschlichen, biologisch verfrühten Geburt an. Auf die Endo- folgt entsprechend eine Exoschwangerschaft, die die biologische Mutter des Kindes akzeptieren kann, was in der Folge die Form eines exo-uteralen Fürsorgeraumes basaler Verwöhnungen – zunächst: Wärme und Nahrung – annimmt. In dem Maß, in dem Ressourcen nicht mehr knapp sind, wächst die Bereitschaft einer Gesellschaft im Falle einer Ablehnung durch die Mutter, die entsprechenden Allomutterfunktionen zu übernehmen (Sloterdijk 2004: 754). So kann man mit Sloterdijk die gegenwärtige Juvenalisierung der Kultur als »psychosoziale Spur der Überfluß›gesellschaft‹« verstehen (Sloterdijk 2004: 758). Betrachtet man nun Krachts Faserland bzw. Fa(th)erland, so fällt auf, das die einzige durchweg positiv gezeichnete Begegnung des Helden die mit ei-

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ner »sehr alten [und reichen] Frau« (Kracht 2001: 59) und mütterlichen Figur ist, die auf dem Flug von Hamburg nach Frankfurt neben ihm sitzt. In einer späteren Drehbuchbearbeitung zu Faserland spielt der dortige Held in ähnlicher Szene den »Lieblingsenkel« (Kracht 2006: 298). Aus ihrer »CartierUhr« und den »Altersflecken« imaginiert der Erzähler im Flugzeug, sie sei auf dem Weg, um ihren Nachlass – eine postmortale Verwöhnung der Erben – zu regeln (Kracht 2001: 59–60). Und hier liegt der Erzähler mit seinen riskanten Wirklichkeitsinterpretationen richtig: »ich kann nur Zahlen erkennen, ziemlich hohe, und davor schreibt sie verschiedene Namen« (Kracht 2001: 68). Ungeachtet des Buches von Ernst Jünger, das die Dame liest und von dem der Protagonist Grund zur Annahme hat, sein Autor sei ein »halber Nazi« (Kracht 2001: 63), belegt er sie nicht mit einem Nazi-Vorwurf. Es darf also vermutet werden, dass das Kriterium, das sie von dieser sonst gängigen Beschimpfung ausnimmt, eben ihr (allo)mütterliches Verwöhnpotenzial ist. Betrachtet man die Gleichsetzung des Nazi-Vorwurfs mit dem Distinktionsbestreben des Helden als künstlichen Ernstfall im Sinne Sloterdijks, kann man vermuten, dass er in Zürich seine Verwöhntheit im Überfluss akzeptiert hat. Dies geht offenbar einher mit dem nunmehr plausiblen Weltbezug des Erzählers, der ihm zudem ausreichend erscheint, sein Handeln sinnvoll zu begründen. Und offenbar konstituiert der Erzähler diesen Sinn selbst oder in Anlehnung an Schulze innenorientiert, passiert er doch die Sinnstiftungsangebote Religion, Literatur und Medien völlig ungerührt. Der Text allerdings scheint diesem Konzept zu widersprechen: An den Stellen nämlich, an denen der Erzähler auf seiner Reise in die Schweiz widersprüchlich handelt oder schlicht falsch liegt, trifft der Text die Umstände präziser als sein Erzähler: So passt Jever eben auffällig gut nach Sylt und bereichert der entsprechende Werbespot die schlichten Schilderungen des Erzählers. Und als der Erzähler die Physiognomie seines Freundes Alexander beschreibt – »wie auf einem Bild von Bernard von Clairvaux« (Kracht 2001: 71) –, der nach dem Tod seiner Eltern als reicher Erbe einer Beschäftigung nachgeht, »die es heute eigentlich gar nicht mehr gibt: dem Müßiggang« (Kracht 2001: 141)11, evozieren die Verweise des Erzählers auf Thomas Mann12 den »Bernhard von Clairvaux«, den Naphta anführt, um Castorps Lebensstil zu rechtfertigen (Mann 1981: 523). Dem historischen Bernhard von Clairvaux, der sich als Befürworter der Kreuzzüge hervorgetan hat (Clairvaux 1990), kommt Alexander insofern nahe, als er sich in Afghanistan mit einem Mudjahedin samt Kalaschnikow ablichten lässt (Kracht 2001: 72). Mit diesen Verweisen und Anspielungen scheint der Text dem Leser das Angebot zu unterbreiten, den fragwürdigen Erzählerbericht im Außen medialer, literarischer oder theologischer Sinnangebote zu stabilisieren und dort gewissermaßen die adäquatere Alternative zu finden. Die historische wie inhaltliche Weite dieser Bezüge zeigt den Überfluss an Möglichkeiten solcher Orientierungen an, aus der sich der Text bedienen kann, und schlägt gleichzeitig eine 11 Zu diesem Befund kommt auch Galbraith (1959: 358) in seinen Überlegungen zur gesellschaftlichen Situation der USA in den 1950er Jahren. 12 Auf S. 162, 164, 165 verweist Krachts Erzähler explizit auf Thomas Mann. Als Verweis auf Der Zauberberg kann man den Begriff »Flachland« (Kracht 2001: 161) verstehen.

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Einebnung etwaiger Autoritätsansprüche vor. Zu fragen wäre dann, ob man überhaupt noch von einer Stabilisierung sprechen kann, ließe sich die Kette der Verweise, Anspielungen und Zitate eben unbegrenzt und quasi dekonstruktivistisch soweit fortsetzen, bis sie (sinn)lose materielle Träger, bloße Signifikanten sind. Aber auch als der Erzähler am Ende des Romans in Einklang mit seiner wahrgenommenen Wirklichkeit handelt, findet sich ein solcher Verweis: »Und im See bespiegelt/Sich die reifende Frucht«, wie die Schilderungen des Lyrischen Ichs in Goethes Auf dem See (Goethe 1990: 21) enden. Bevor sich Krachts Held nämlich auf den See rudern lässt, beobachtet er seinen Fährmann: »Die rote Glut leuchtet, wenn er an seiner Zigarette zieht, und das Leuchten spiegelt sich im Wasser des Sees« (Kracht 2001: 166). Man kann also annehmen, dass mit dieser Anspielung eben nicht der Selbstmord des Ich-Erzählers nahe gelegt wird, sondern dem Roman ein gutes Ende und dem gereiften Erzähler ein Neuanfang gegönnt wird. Für diesen Befund wäre die Anspielung auf Goethes Gedicht aber nicht nötig, betrachtet man die Schilderungen des Erzählers vor Rollos Suizid auf dem Bootssteg am Bodensee: »Er sieht auf den See, auf das blinkende grüne Licht da draußen, aber ich glaube nicht, daß er es wirklich sieht« (Kracht 2001: 153). Rollo, der nichts sieht, begeht Selbstmord, so dass man annehmen kann, dass der sehende Erzähler anders handelt. Und auch hier werden etwaige Autoritätsansprüche eingeebnet und eine Vielzahl von Anschlussmöglichkeiten weiterer Bezüge eröffnet, die dann ebenso als stabilisierend wie lösend verstanden werden können. Es besteht gewissermaßen ein Gleichgewicht textexterner und textinterner Bezüge. Somit ist es unentscheidbar, ob das erzählte Geschehen im Außen medialer, literarischer oder theologischer Diskurse stabilisiert oder aufgelöst wird, oder ob die Schilderungen der externen Bezüge im berichteten Geschehen im Faserland stabilisiert oder aufgelöst werden. In der Sprache der Kybernetik wäre von Rückkoppelungen der textexternen und -internen Bezüge zu sprechen, eine Beschreibung der Faktur des Textes, die er selbst anzulegen scheint. Wollte man nämlich trotz des Überflusses an Sinnangeboten und Deutungsmöglichkeiten, das Ende der Reise des Erzählers fixieren und eine Deutung des Textes bestimmen, befände man sich in einem ähnlichen Dilemma wie »die Auserwählten im Inneren der Maschine, die sich selbst baut« (Kracht 2001: 161): Wie die »Auserwählten« aus den Möglichkeiten des materiellen Überflusses einen Ernstfall im Raum alltagsästhetischer Semantik konstruieren, würde ein solcher Leser einen Ernstfall im Überfluss an Sinnangeboten und Bezügen konstruieren. Er müsste nämlich entscheiden, ob und, wenn ja, welchen Bezügen – den textinternen oder den textexternen – die Evaluationsautorität bezüglich des geschilderten Geschehens zukommt. Entscheidet er sich dekonstruktivistisch gegen die Möglichkeit zur Evaluation des berichteten Geschehens, mag man zwar nicht von der Zuschreibung einer Bedeutung sprechen, die Frage nach dem Ende der Reise des Erzählers wäre aber beantwortet: das Ende bleibt offen. Diese Entscheidung nun erfolgte jenseits des Sinnangebotes, das der Text bereitstellen könnte, auf Basis der Signifikanten der Bezüge. Wenn sich der Leser aber für die Möglichkeit der Evaluation des geschilderten Geschehens – entweder

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durch externe oder interne Bezüge – entscheidet und so ein Ende der Reise festlegen kann, verknappt auch er das Überflussangebot an Sinn zum künstlichen Ernstfall. Und auch dies kann nur jenseits des Überflusses an Sinnangeboten erfolgen und diesseits der Materialität der Signifikanten, weil der Überfluss der Bezüge mögliche Autoritätsansprüche bereits nivelliert hat. In beiden Fällen – der Dekonstruktion und der Sinnzuschreibung – befände sich ein Leser »im Inneren der Maschine« Faserland. Wenn auch nicht letztgültig geklärt werden kann, ob und wie es dem Erzähler gelingt, den ausgewiesenen Folgen des materiellen Überflusses zu entkommen, konnte doch festgehalten werden, dass er sein Verhalten in der Schweiz verändert. Ferner durfte vermutet werden, dass dies aus einer Akzeptanz seiner materiellen Verwöhntheit resultiert. Vor diesem Hintergrund nun ließe sich einem entsprechenden Leser des Faserland vorschlagen, den Sinnüberfluss, den die Rückkoppelungen externer und interner Bezüge bereiten, zu akzeptieren und als stabil vorauszusetzen. Stehen Sinnfragen dann nicht mehr zur Disposition, könnte eine solche Lektüre auf die Mechanismen der Rückkopplungen fokussieren und mehrere Enden der Reise gleichzeitig annehmen.13 Gegen eine eindeutige Zuschreibung von Sinn oder Sinnlosigkeit versperrt sich das Ende des Textes ohnehin, und zwar formal. »Bald sind wir in der Mitte des Sees. Schon bald.« (Kracht 2001: 166), endet der Roman. Mit dem Verweis in die Zukunft »Bald« könnte das erzählte Geschehen den Erzählzeitpunkt eingeholt haben, mit »Schon bald« wäre dies aber ebenso möglich, so dass das erste »Bald« noch Teil des abgeschlossenen und erzählten Geschehens ist. Zudem könnten beide Verweise in die Zukunft als Teil des Geschehens in der Vergangenheit des Erzählzeitpunkts liegen. Der Text endet also wie er beginnt, nämlich dreifach.

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ÜBERSCHREITUNGEN DES KÖRPERS

DICKSEIN. ARMUT UND MEDIEN. SELBSTFÜHRUNGSFERNSEHEN UND DIE UNTERSCHICHTENDEBATTE THOMAS WAITZ I »Ist Dicksein eine Krankheit?«, fragte am 11. Juni 2008 die Süddeutsche Zeitung. Eine private Krankenversicherung hatte sich geweigert, einen Kunden, der sich eine Sportverletzung zugezogen hatte, zu entschädigen. Die Begründung, die angeführt worden war, bezog sich auf die Fettleibigkeit des Versicherten, die dieser bei Vertragsabschluß verschwiegen habe. Das Oberlandesgericht Hamm entschied gegen die Versicherung. Die Süddeutsche Zeitung nahm dies zum Anlass, den Soziologen Friedrich Schorb zu befragen. Er äußerte sich wie folgt: Dicksein ist keine Krankheit, sondern eine körperliche Eigenschaft und damit Privatsache. […] In der Gesellschaft wird Krankheit als etwas angesehen, das nicht selbstverschuldet ist. Ob man ganz alleine für den eigenen Körper verantwortlich ist, darüber lässt sich von Fall zu Fall gut streiten.

Der Versuch der Versicherung, den fettleibigen Kunden zu einem Kranken zu machen, aber auch die Antwort Schorbs auf die Frage, ob Dicksein eine Krankheit sei, sind bemerkenswert. Zum einen steht das Handeln der Versicherung im Kontext einer gegenwärtig festzustellenden Tendenz, in deren Folge Dicksein einer gesellschaftlichen Neubewertung unterzogen wird. Das Verhalten der Versicherung, aber auch die Begründung Schorbs verweisen auf einen schleichenden Abschied vom Prinzip der Solidargemeinschaft. Mit der Begründung der Eigenverantwortlichkeit wird »Krankheit« nicht als ›hinzunehmender‹ Schicksalsschlag verstanden, sondern nach dem ursächlichen Anteil des Verhaltens des Einzelnen gefragt. Die weitreichende Konsequenz einer solchen Option wird erst in der Umkehrung des Satzes, Krankheit sei, was nicht selbstverschuldet sei, erkennbar: Denn demzufolge wäre, was selbstverschuldet ist, keine Krankheit (und demzufolge kein Fall für die Krankenkasse). In diesem Sinne regelt das Sozialgesetz in Paragraf 52 des fünften Buches, dass Krankenkassen Patienten bei einer selbstverschuldeten Erkrankung an den Behandlungskosten beteiligen können. Die Frage, ob eine Folgeerkrankung selbstverschuldet sein könnte, ist jedoch im Einzelfall kaum zu beurteilen. Im Zuge der Gesundheitsreform 2007 wurde daher ein Absatz ergänzt, der expliziert, dass die Behandlungskosten bei Folgen von Schönheitsoperationen, Tätowierungen und Piercings von der Erstattungspflicht der

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Krankenkassen explizit ausgeschlossen sind. Wird künftig den Folgen von Dicksein verfahren?1 Dicksein ist eben keine »Privatsache«, wie Schorb zitiert wird. Seine Aussage wird allein dann plausibel, wenn sie als Forderung gemeint wäre. Gerade dann gilt aber umso mehr: Das Dicke ist politisch. Dicksein ist ein gesellschaftlich konstruiertes Phänomen2, und zwar aus mindestens drei Gründen: Erstens sind die Folgen von Dicksein nicht nur für die unmittelbar Betroffenen, sondern die gesamte Gesellschaft relevant. Zweitens geht es beim Dicksein nicht um individuelle Schicksale, sondern um bestimmte soziale Gruppen, die besonders involviert sind. Und drittens werden die Ursachen für Dicksein »nicht allein in Umweltbedingungen oder genetischen Dispositionen verortet, sondern maßgeblich im Verhalten der Betroffenen, bzw. im Verhalten sozialer Risikogruppen.« (Schorb 2006) Indem Dicksein ein gesellschaftlich konstruiertes Problem ist, erhält es als Objektbereich seine Eigenschaften und seine spezifische Rationalität durch Medien. Was Dicksein ›ist‹, steht keineswegs fest, sondern ist der Effekt kultureller Verhandlungen, an denen Medien – etwa das Fernsehen – über Plausibilisierungs- und Vermittlungsstrategien sowie die Bereitstellung und die Erzeugung von Wissen entscheidend beteiligt sind. Im Jahr 2006 behauptete eine viel beachtete Studie des Robert-KochInstituts, dass Kinder armer, ungebildeter Eltern dreimal so häufig dick oder fettsüchtig seien wie Kinder von Reichen und Akademikern (Lange & Ziese 2006). Seitdem ist ein Zusammenhang zwischen sozialer Schichtung und Leibesfülle einer breiten Öffentlichkeit offenkundig geworden. Wörtlich führen die Autoren der Studie aus, Bei steigendem allgemeinem Lebensstandard haben Armutsrisiken zugenommen. Die Gesundheit und Lebenserwartung der Deutschen wird in erheblichem Maße von der sozialen Lage und dem Bildungsniveau, dem individuellen Lebensstil sowie Belastungen aus der Umwelt beeinflusst. Arbeitslosigkeit und armutsgefährdete Lebenslagen, gering ausgeprägtes Gesundheitsbewusstsein, Luftverschmutzung und Lärmbelastung, Tabak- und Alkoholkonsum spielen dabei ebenso eine Rolle wie abträgliche Ernährungsgewohnheiten und mangelnde körperliche Aktivität, Übergewicht, Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen. (Lange & Ziese 2006)

Mit anderen Worten: Arme werden häufiger übergewichtig und sie sterben früher. Das Ergebnis der Untersuchung des Robert-Koch-Institutes wurde durch eine zweite Publikation, die ein bisher nicht wahrgenommenes Ausmaß an Armut und Armutsbedrohung in Deutschland offenbarte, in ihrer politischen Dimension noch verschärft. Denn zeitgleich erschienen 2007 erste Teilergebnisse einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Titel Ge1

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Dass diese Annahme nicht abwegig ist, zeigen etwa die Ergebnisse der jüngsten Folge der Studie Deutsche Zustände, die sogenannte »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« untersucht. Ihr zufolge stimmt etwa ein Drittel der Befragten der Aussage zu, die Gesellschaft könne sich wenig nützliche Menschen und menschliche Fehler nicht mehr leisten. Rund 40 Prozent waren der Ansicht, es werde zuviel Rücksicht auf Versager genommen. (Heitmeyer 2007) Selbstverständlich ist auch das medizinische Krankheitsbild »Adipositas« gesellschaftlich konstruiert. Mich interessiert im Folgenden jedoch nicht der klinische Spezialdiskurs, sondern der Interdiskurs »Dicksein«

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sellschaft im Reformprozess. Rund 3.000 wahlberechtigte Deutsche über 18 Jahre wurden in ihr zu den gesellschaftlichen Reformen in Deutschland befragt. Ziel war es, herauszufinden, welche Wertepräferenzen in der Bevölkerung vorliegen und welche Zuordnungen zu »politischen Typen« diese Präferenzen erlauben. Obwohl in der Studie der Begriff »Unterschicht« nicht benutzt wurde, entzündete sich an ihr eine seit langem schwelende politische Diskussion um Armut und neue gesellschaftliche Schichtungen – die sogenannte »Unterschichtendebatte«. Vor allem die Diagnose, nach der am unteren Drittel der Gesellschaft »autoritätsorientierte Geringqualifizierte«, ein Teil »selbstgenügsamer Traditionalisten« und ein so genanntes »abgehängtes Prekariat« (Friedrich-Ebert-Stiftung 2006: 2) auf Dauer von der sozialen und politischen Abkopplung – oder, mit anderen Worten, von Armut – betroffen oder zumindest bedroht seien, war Gegenstand der öffentlich geführten Auseinandersetzung.3 In einem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Kommentar, der mit dem Titel Das neue Kaloriat überschrieben wurde, äußert sich Christian Schwägerl anlässlich der zeitnahen Veröffentlichung der beiden Studien zum Zusammenhang von »Unterschicht und Übergewicht«. (Schwägerl 2006) Auf eine Einlassung des damaligen Arbeitsministers Franz Müntefering anspielend4, stellt er lakonisch fest: Es möge zwar keine »Unterschicht« mehr geben, aber »Schichten von Fett und Zucker« gebe es sehr wohl. So führt er weiter aus: Wer […] so dick wird, daß er kaum noch von der Couch hochkommt, bringt nicht jene Mobilität auf, die den Deutschen mit den Hartz-Reförmchen nahegebracht werden sollte. […] Fressen ist also so etwas wie das innere Exil der Armen inmitten der Globalisierung. Vielleicht wäre es angezeigt, statt Hartz-IV-Beratern Fitnesstrainer zu bezahlen? (Schwägerl 2006)

Wer aber seinen Körper beherrscht, so das unverhohlene Argument Schwägerls, wer seine Leiblichkeit einem Regime der Selbstkontrolle zu unterwerfen imstande ist, der vermag sich, so wird suggeriert, im Sinne eines ›lean managements‹ den Erfordernissen des Marktes anzupassen. Der Mangel der wachsenden sozialen Unterschicht ist aus der Sicht der vom Abstieg bedrohten Mittelschicht demzufolge ein doppelter: Er liegt im Überfluss der Körper gleichermaßen wie im körperlichen Überfluss.5 Der Zusammenhang in der Thematisierung von Armut und Ernährung aber ist ein wiederkehrender: Kaum ein Fernsehbeitrag kommt ohne ein Bild der Armenspeisung der Tafeln aus. Und der Stern illustrierte seine Titelgeschichte Unterschicht – Das wahre Elend, mit der 2004 die Renaissance des Sprechens von der Unterschicht eingeleitet wurde, mit dem Foto eines Esstisches, auf dem sich Ziga3 4 5

Neuere Studien bestätigen das Ausmaß der Armutsbedrohung. Vgl. etwa Groh-Samberg 2007; Bundesregierung 2008. Müntefering äußerte am 9. Oktober 2006 im Fernsehsender N24: »Es gibt keine Schichten in Deutschland. Es gibt Menschen, die es schwerer haben, die schwächer sind.« In diesem Kontext steht etwa auch die familienpolitische Forderung von Christa Müller, Ehefrau des Die Linke-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, die »Reproduktion des asozialen Milieus [zu] begrenzen« (Rasche 2007).

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retten und Süßwaren finden und auf dem die Unterarme eines Menschen ruhen, dessen Gesicht außerhalb der Kadrierung verbleibt. Die Bildunterschrift lautet: Das süße Leben der Armen: Schokolade, Bonbons, Zigaretten und Geld vernichtende Handys. Die tätowierten Arme gehören Udo Hupa, 44, aus Essen-Katernberg, der trotz Zuckerkrankheit und Übergewicht fleißig nascht. (Wüllenweber 2004)

Die Zeit schließlich versah jüngst ihr Titelthema Abgespeist! Die Armen bleiben arm (Niejahr & Rudzio 2008) mit dem Bild eines von Besteck flankierten, leeren Tellers. Die »Fitnesstrainer« aber, die Schwägerl in seinem Kommentar fordert, gibt es längst. Jeden Nachmittag, in den Boulevardmagazinen des Fernsehens, treten ›Experten‹ auf, die den ›überflüssigen‹ Pfunden zu Leibe rücken. Mit Lebenshilfe und Ratschlägen eilen sie in medialen Versuchsanordnungen prototypischen Betroffenen zu Hilfe. In einer Vielzahl von Beiträgen und in von den Produzenten so genannten »Coaching«-Formaten wird ein Wissen um den Zusammenhang von Dicksein und wirtschaftlicher Lage der Betroffenen prozessiert. »Schwer vermittelbar« heißt es etwa in einer Reihe im Pro Sieben-Magazin SAM. Der Titel gilt in doppelter Hinsicht: Wir werden Zeuge, wie zwei übergewichtige und arbeitslose Menschen mittels von der Kamera beobachteten Übungen und mithilfe eines ›Coaches‹ eine Gewichtsreduktion erreichen und ihnen in Folge die Rückkehr in die Erwerbstätigkeit gelingt. Der Bedarf nach Kandidaten für solche Formate scheint ungebrochen. Auf der Website der Kölner Produktionsfirma Good Times heißt es: Wir suchen zwei mollige Arbeitslose die Lust haben etwas an ihrer Lebenssituation zu verändern! Bei dem neuen Pro Sieben SAM Format haben Sie die einmalige Chance in 15 Wochen, 15 verschiedene Praktika zu absolvieren und dabei auch noch ab zu nehmen. In Aussicht stehen eine Festanstellung und das eigene Gewicht zu reduzieren.

Mit dem Hinweis auf die Konsequenz, in der Armut und Übergewicht stehen, kann die Thematisierung von Dicksein zwar begründet werden. Eine Erklärung für die Art und Weise, in der sie geschieht, ist sie aber nicht. Warum, zu welchem Zweck und in welcher Weise aber findet sie statt?

II Der Körper, dass hat Michel Foucault (1977) gezeigt, ist ein Austragungsort von Macht, und zwar in dem Sinne, dass er geformt ist durch Praxen der Kontrolle. Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. Eine ›politische Anatomie‹, die auch eine ›Mechanik der Macht‹ ist, ist im Entstehen. Sie definiert, wie man die Körper der anderen in seine Gewalt bringen kann, nicht nur, um sie machen zu lassen, was man

DICKSEIN. ARMUT UND MEDIEN | 113 verlangt, sondern um sie so arbeiten zu lassen, wie man will: mit den Techniken, mit der Schnelligkeit, mit der Wirksamkeit, die man bestimmt. Die Disziplin fabriziert auf diese Weise unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper.« (Foucault 1977: 176)

Verbunden mit der Instrumentalisierung des Körpers durch Disziplinartechniken ist eine Subjektivierung, die auf Sichtbarmachung und Kontrolle des Individuums durch sich selbst beruht. Selbst-Bewußtsein und SelbstVerantwortung bilden damit die Effekte einer produktiven Form der Macht. Die Negativbilder dicker und armer Menschen sind »durchdrungen von moralischen Imperativen, die die Verfasstheit der Subjekte in der modernen, individualistischen Gesellschaft zugleich herstellen und ausdrücken.« (Gesing 2006) Dicksein wird thematisiert, weil sich hierin etwas Spezifisches über unsere Gesellschaft ausdrückt, und an der Art und Weise, wie dies geschieht, lässt sich etwas ablesen, das über Dicksein hinausweist6. Wie und mit welchen Konsequenzen dies gegenwärtig geschieht, und wie Medien- und Selbsttechniken bei diesem Prozess ineinandergreifen, soll nachfolgend am Beispiel eines Fernsehprogramms verdeutlicht werden.

III Das Fernsehen und seine gesellschaftliche Rolle sind innerhalb des Diskurses, der mit dem Begriff der »Unterschichtendebatte« adressiert wird, wiederkehrend thematisiert worden – insbesondere auch durch das Fernsehen selbst. Der Begriff des »Unterschichtenfernsehens« ist zwar nicht ursprünglich von dem Fernsehunterhalter Harald Schmidt geprägt worden. Indem er ihn jedoch 2005 in einer Ausgabe seiner in der ARD ausgestrahlten LateNight-Show verwendete, bündelte er affirmativ zahlreiche Vorbehalte, die sowohl gegenüber spezifischen Programmen (etwa Daytime-Talkshows privatkommerzieller Sender), als auch gegenüber dem unterstellten Mediengebrauch spezifischer gesellschaftlicher Gruppen (etwa Menschen, deren Lebensführung sich auszeichne durch »Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Bier am Nachmittag und leere Kassen«; Amend 2005) bestehen. Obwohl selbst Teil des Fernsehens, konnte sich Schmidt des Einverständnisses seines Publikums sicher sein. Das Sprechen vom »Nullmedium« (Enzensberger 1997), die Rede vom Fernsehen als einem »traumlosen Traum« (Adorno 1963) und die Kritik einer »Kulturindustrie« (Adorno & Horkheimer 1969) stehen beispielhaft für die Vorbehalte der deutschsprachigen Kulturkritik dem Fernsehen gegenüber. Und so würdigt auch der Stern in seiner Berichterstattung über die »neue Unterschicht« die ›schädlichen Folgen‹ des Fernsehens: Hier wird das entsprechende Milieu wie folgt beschrieben: 6

Zur historischen Genese des Schlankheitsideals als einer »inneren Regulationsethik«, die auf die Widersprüchlichkeit der Konsumkultur liberaler Gesellschaften antwortet, vgl. Stearns 1997.

114 | THOMAS WAITZ Elf Uhr morgens im Meerkamp. Die zweieinhalbjährige Sydney liegt im Schlafanzug am Fußende ihres Bettes, das Gesicht in Ärmchenweite vor der Mattscheibe. Gebrüll und Explosionen wummern, die typischen Geräusche japanischer Zeichentrickfilme. Unterschichtskinder, das haben Medienwissenschaftler herausgefunden, schauen nicht nur erheblich mehr fern als Gleichaltrige aus der Mittel- und Oberschicht. Sie bevorzugen billige Comics und Werbung. Die ›Sendung mit der Maus‹ überfordert sie oft. Noch nicht in der Schule und schon abgehängt, selbst beim Glotzen. (Wüllenweber 2004)

Diskurse ›über‹ Fernsehen liefern Unterscheidungsmerkmale und Eigenschaften, die sich nicht trennen lassen von seiner vorgeblich ›festen‹, apparativen Struktur und seinen ›Inhalten‹ und ›Programmen‹. Indem bestimmte Programmformen als »Unterschichtenfernsehen« bezeichnet werden, wird es nicht nur möglich, ein Konzept von »Unterschicht« zu visualisieren. Dieses Konzept kann darauf hin zu einem Gegenstand politischer Interventionen werden. Fernsehen ist innerhalb dieser Prozesse nicht ein »Überträger« und »Vermittler« solcher Informationen, sondern – im Foucaultschen Sinne – eine Technologie der Regierung (vgl. Stauff 2005), weil es das Versprechen birgt, spezifische Objektbereiche sicht- und handhabbar zugleich zu machen. In diesem Sinne erhalten Objektbereiche – etwa »Unterschicht« – ihre jeweilige Plausibilität und ihre kennzeichnenden Eigenschaften durch Medien. Dieser Zusammenhang wird im Folgenden zu erläutern sein.

IV 20 Uhr 15, WDR Fernsehen. Die letzte Einstellung der Tagesschau: Die weiteren Aussichten der nächsten Tage, eine Wetterkarte. Ein abrupter Schnitt: das Halbprofil eines Mannes mittleren Alters in naher Einstellung. Er wendet das Gesicht zu einer Gesprächspartnerin, die sich außerhalb des Bildes befindet. Wir hören ihre Stimme, und die nächste Einstellung weitet das Sichtfeld. Der Mann ist untersetzt, sieht angespannt aus und sitzt zusammengesunken auf einer kleinen Mauer. Er trägt eine verwaschene, blaue Jeansjacke, Jeans und ein hellblaues Poloshirt. Ihm zugewandt, auf der linken Seite sitzt eine Frau, die Hände im Schoß gefaltet. Sie scheint Ende Dreißig, ist schlank, trägt einen brauen Hosenanzug. Auf ihren Knien liegt eine schwarze Ledermappe. »Haben Sie schon einmal daran gedacht, nicht mehr leben zu wollen, war das schon mal so schlimm?«, fragt sie. Der Mann, zögerlich, stockend, antwortet mit »Ja«. Musik setzt ein. Wir sehen eine Computersimulation. Eine Portraitaufnahme des Mannes, en face, vor einem weißen Hintergrund. In einer Morphingsequenz verändern sich seine Gesichtszüge. Sein zu Beginn volles, rundes Gesicht, seine hängenden Lieder und seine nach unten gehenden Mundwinkel prägen sich im Laufe der Sequenz immer mehr aus. Innerhalb weniger Frames verändert sich sein Gesicht völlig: Sein Haaransatz geht zurück, ein deutliches Doppelkinn tritt hervor, tiefe Augenhöhlen lassen ihn unvorteilhaft erscheinen. Ein Voice-Over erklärt: »Ihr Lebensstil macht die Agüls krank. Diese Familie braucht dringend Hilfe – seelisch und körperlich«. Eine Hand, die eine rauchende Zigarette hält, das Bild eines schlafen-

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den Kleinkindes und eine Querschnittsillustration von Atemwegen und Lunge werden ineinander überblendet. Die Einstellung einer übergewichtigen Frau in häuslichem Umfeld. Sie nimmt einen tiefen Zigarettenzug. Das folgende Bild – die Einstellung ist in der konventionalisierten Form eines Testimonials gehalten – zeigt sie halbnah zur Kamera. An einen außerdiegetischen Gesprächspartner gewandt, sagt sie mit matter Stimme: »Es gibt fast keine Situation, in der ich nicht rauche« – »Das bleibt nicht ohne Folgen«, ergänzt die Voice-Over-Narration, und weiter heißt es: »Das Team vom Gesundheitscheck ist alarmiert. Und Dr. Kurscheid greift zu drastischen Methoden«. Unterlegt sind diese Äußerungen mit Einstellungen, die zeigen, wie sich die Frau, die mittels Stoffbändern an einen Rollstuhl gefesselt ist, mühevoll durch eine Wohnung bewegt. Schnitt: Das Treppenhaus in einem Mehrfamilienhaus. Ein Mann mittleren Alters, schlank, gekleidet in einen anthrazitfarbenen Anzug. Die obersten Knöpfe seines Hemdes sind geöffnet. Er steht am Fuße eines Treppenabsatzes, auf halbem Weg zwischen der Frau im Rollstuhl und einer offenen Haustür. Ein Bein hat angewinkelt, beugt er sich zur Frau, die zusammengesunken im Rollstuhl kauert, vor. Während er spricht, unterstreicht er mit ausholenden Gesten das Gesagte. »Sie trauen sich noch nicht einmal diese vier, fünf Stufen hinunter. Aber sie trauen sich jeden Tag anderthalb Packungen Zigaretten zu rauchen.« Die Kamera fährt über den Rollstuhl, die Treppe und kadriert schließlich den Mann in einer Halbtotalen. »Mit allen Konsequenzen«, sagt er, und wir hören ein leises Murmeln der Frau. Schnitt: Die Frau sitzt auf einem Sofa, weint, hält die Hand verlegen an den Mund. Die Kamera zoomt an sie heran, kadriert ihr Gesicht in naher Einstellung. »Noch ist es nicht zu spät«, lautet der Voice-OverKommentar. Die folgende Einstellung zeigt erneut eine Morphingsequenz. Diesmal ist es jedoch das Gesicht der Frau, das wir erblicken, und dieses Mal scheint die Sequenz in umgekehrter Folge zu laufen. Ihre Gesichtszüge werden schmaler, ihr Ausdruck fröhlicher. Der letzte Frame zeigt sie lächelnd. »Es ist an der Zeit, etwas zu ändern«, schließt der Voice-Over. Vorspann und Titel folgen. Der große Gesundheits-Check ist der Titel einer Doku-Soap, die 2006 und 2007 in zwei Staffeln im Hauptabendprogramm des WDR Fernsehens ausgestrahlt wurde.7 Die geschilderte Anfangssequenz steht vor dem eigentlichen Beginn der Sendung, der durch die Einblendung des Titels markiert ist. In plakativer Weise wird eine kondensierte Form des Folgenden geboten: Wir sehen die wesentlichen Protagonisten – Familie Agül auf der einen, das »Team vom Gesundheits-Check« auf der anderen Seite. Im Anschluss an die letzten Bilder der gekürzten Tagesschau-Übernahme steht, in reißerischer und drastischer Weise platziert, die Frage nach Selbstmordabsichten von Herrn Agül, die dieser bejaht. Wir werden vertraut gemacht mit dem grundlegenden dramatischen Konflikt, der in den folgenden 45 Minuten entfaltet werden wird: Der Lebensstil der Familie, seine Gründe und Folgen. Zwei der Protagonisten tauchen wiederkehrend in allen Folgen der Serie auf und werden zumeist schlicht als »Experten« bezeichnet: Es handelt sich um Thomas 7

Der große Gesundheits-Check, P: WDR Fernsehen/Together Productions, bisher zwei Staffeln (4 Folgen 2006; 10 Folgen 2007).

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Kurscheid, einen Facharzt für Allgemein- und Sportmedizin, und Silke Brand, eine Psychotherapeutin. Das in allen Folgen stets gleich bleibende Konstruktionsprinzip folgt zwei unterschiedlichen, zum Teil widerstreitenden Logiken: Für das, was man eine Eigenlogik des Medialen nennen könnte, ist die Variation der konventionalisierten ästhetischen und narrativen Elemente des Genres wirksam. Innerdiegetisch hingegen finden sich Formen und Strukturmerkmale einer Gesprächs- und Verhaltenstherapie. Sendungen wie Der große GesundheitsCheck sind per definitionem interventionistisch – das heißt: auf eine Veränderung der vormedialen Situation zielende, medientechnische Versuchsanordnungen, die ihre medialen Voraussetzungen als Teil von Beglaubigungs- und Begründungsstrategien ausstellen. In jeder Folge sehen wir in einer so genanten »Alltagsanalyse« das vorgeblich typische Verhalten der Teilnehmer in Form einer sekundären Inszenierung: Arzt und Psychotherapeutin betrachten und kommentieren Videoaufzeichnungen; die räumliche Situation, in der dies geschieht, erinnert an einen Schnittplatz. Auf diese »Alltagsanalyse« folgt der Hauptteil jeder Folge, in dem, so wird uns suggeriert, die Experten gemeinsam mit den weiteren Akteuren eine mehrstufige Verhaltens- bzw. allgemeinmedizinische Therapie entwickeln, die, so wird zumindest die argumentiert, einem holistischen Ansatz folgt. Einer einführenden Anamnese folgen Gespräche, die den probatorischen Sitzungen einer Psychotherapie entsprechen. Ihr Abschluss ist durch einen dramatisch inszenierten Wendepunkt, an dem die Einsicht der Probanden in die Notwendigkeit einer Verhaltensänderung steht, markiert. Auf diese Erkenntnis folgt eine Therapieplanung mit Einzelmaßnahmen, deren Einübung und Durchführung beispielhaft gezeigt wird. Jede Folge schließt mit einem auf der Bildebene inszenierten ›Abschied‹ der Ärzte und eine auf die außerdiegetische Zukunft gerichtete Sequenz aus Selbstaussagen der Probanden, in denen diese ihrer Zuversicht, das Erlernte weiterhin umzusetzen, Ausdruck verleihen. Formate wie Der große Gesundheits-Check lassen sich aus medienwissenschaftlicher Sicht als »Selbstführungsfernsehen« (Waitz 2008), als »Fernsehen der Mikropolitiken« (Seier 2008) bezeichnen. Kochen und Heimwerken, Dekorieren und Putzen, Gartenarbeit und Kindererziehung, Mode und Partnerwahl, d. h. bislang als privat konnotierte und feminisierte Bereiche der ›Sorge um sich‹ (Foucault) werden seit einiger Zeit mit je eigenen Formaten und Inszenierungsstrategien im Fernsehen thematisiert. (Seier & Surma 2008)

Der Begriff der »Selbstführung« rekurriert auf das theoretische Konzept der »Technologien des Selbst«, die Michel Foucault im Rahmen seiner Machtanalytik entwickelt hat. Foucault beschreibt am Beispiel der Sexualität, wie eine auf normierende Wissensproduktion angelegte »scientia sexualis« zur Vorraussetzung wird für eine Machttechnologie, die eine optimale Verwertung der Körper des Proletariats zum Ziel hat (Foucault 1983: 124). Diese Form der Macht kennzeichnet sich dabei durch positive Machtverfahren der »Selbstführung«, wofür Foucault den Begriff der »Regierung« anwendet: Verfahren, die nicht verbieten, sondern ermöglichen, die nicht passives Er-

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dulden, sondern aktives Öffnen und bejahende Entscheidungen bedeuten (vgl. Foucault 1983: 131). An die Stelle regulativer Verfahren der Außensteuerung tritt die Entwicklung von Selbstregierungsformen. Dieser Prozess wird durch die Bereitstellung von Wissen angetrieben. »Technologien des Selbst ermöglichen Individuen«, so schreibt Foucault: mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihrem Körper, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, dass sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen. (Foucault 1983: 35)

Im Zuge der Durchsetzung einer politischen Rationalität, die Foucault »Gouvernementalität« nennt, werden innere Selbstführung, Selbstdisziplin und Selbstmanagement Kennzeichen von Subjektivierung.8 Selbstdisziplin und Eigenverantwortlichkeit sind auch die zentralen Konzepte, die in Der große Gesundheits-Check aufgerufen werden. Wie die Bereitstellung von Wissen eine entscheidende Voraussetzung hierfür ist, mag ein weiteres Beispiel verdeutlichen. Herr und Frau Agül haben vor der Kamera geäußert, ihr Ziel sei, abzunehmen und gesünder zu leben. In der sich anschließenden Szene sitzen die beiden Protagonisten und die beiden »Experten« im Wohnzimmer der Familie auf dem Sofa. »Ist das wirklich alles, was ihr verändern wollt? Sind wir deswegen hier?«, lautet einleitend die Frage des Arztes, »Oder gibt es da noch Probleme, die ein bisschen tiefer liegen?« – »Ich glaube schon!«, ergänzt die Psychotherapeutin. »Ja, ich habe Depression. Ich möchte verbessern, was da in mir liegt«, antwortet Herr Agül. In einem Zwischenschnitt sehen wir seine beiden Kinder, die mit anwesend sind. Eines der Mädchen nuckelt am Zeigefinger und blickt versunken vor sich hin. Die Kamera schwenkt zum Arzt, der zu einem Vortrag anhebt. »Vielleicht entdecken wir ja, dass die ganzen Probleme […] ja auch irgendwo zusammenhängen. Dass das Essen zusammenhängt damit, dass ihr kein gemeinsames Esszimmer habt, dass ihr nicht zusammen am Tisch richtig sitzt, dass der Fernseher ständig läuft…« – »Hm«, wirft seine Kollegin ein » – eben auch wieder!« – »…und dass die Stimmung auch mit dem Essen zusammen hängt und, und, und. Das werden wir alles gemeinsam entwickeln. Wir haben mal etwas vorbereitet für euch…«. Er greift zu dem vor ihm liegenden Aktenkoffer und entnimmt eine DVD. »Und zwar würden wir euch gerne zeigen, wie es weitergeht, wenn es genauso wie bisher gelaufen ist«. Der Voice-Over ergänzt, »Sobald die Kinder den Raum verlassen haben, gehen Ferih und Erdal per Videomorphing auf eine virtuelle Zeitreise«. Auf die explizite Thematisierung und Ausstellung der medientechnischen Verfahren des Fernsehens folgt eine Sequenz, die abwechselnd die tricktechnische Animation der Gesichter von Herrn und Frau Agül innerhalb der ima8

Im Anschluss an Foucault analysieren die Governmentality Studies – und zwar zumeist als Kritik an einer »Ökonomisierung des Sozialen« – die spezifische Rationalität der gegenwärtigen liberalen Gesellschaftsform und das gesellschaftlichen Leitbild eines »unternehmerischen Selbst«. Vgl. Bröckling et al. 2000; Reichert 2004; Bröckling 2007.

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ginierten »Zeitreise« und die ›reale‹ Reaktion der Protagonisten hierauf zeigen. Im Falle von Frau Agül sind dies Tränen – sie weint. Mit Blick auf ihre bilanziert der Arzt in einem anschließenden Testimonial: »Ferih war geschockt. Das ist auch gut so, dass sie den Handlungsbedarf erkennt und auch endlich etwas tut.« Zurück im Wohnzimmer richtet sich sein Appell an die Einsicht der Protagonistin in ihre Eigenverantwortlichkeit: »Das Gute ist: Jetzt ist es noch nicht zu spät. Wenn Sie jetzt umsteuern, muss das alles gar nicht eintreten«, beschwichtigt er, während die Kamera die beiden sichtlich betroffenen Protagonisten in halbnaher Einstellung kadriert und langsam an das tränenüberströmte Gesicht der Frau heranzoomt. Die Vorstellung, sein Leben tatsächlich ändern zu können, ist die unhintergehbare Voraussetzung eines notwenigen Selbsttransformationsprozesses, an deren Anfang die Einsicht steht, dass, wie es der Arzt ausdrückt, im eigenen Leben »Handlungsbedarf« herrscht. Wir helfen ihnen dabei, »wir entwickeln das gemeinsam«, wie es heißt, signalisieren die Experten des »Coaching«-Formates, ›wollen‹ aber müssen sie selbst. Zu den innerdiegetisch wirksamen, rhetorischen Strategien der Veranschaulichung und Beglaubigung, die den Protagonisten die Notwendigkeit einer Verhaltensänderung vor Augen führen, treten in Formaten wie Der große Gesundheits-Check dezidiert medientechnische Verfahren. Im gezeigten Beispiel ist das die Alterung der Protagonisten, die mittels einer Computersimulation visualisiert wird: »Die Augenringe, das Doppelkinn, Diabetes, Hochdruck und so weiter – das ist ganz dramatisch beschleunigt«, hören wir in im Voice-Over den Arzt. Durch diese Erzeugung, Bereitstellung und rhetorische Beglaubigung normierenden Wissens wird die Art und Weise, wie Menschen von sich selbst sprechen, wie sie sich erkennen und wie sie sich als handelnde Wesen begreifen, entscheidend geformt.

V In einem für die Körpersoziologie klassischen Text hat Mary Douglas bereits vor über zwanzig Jahren untersucht, wie sich die Wahrnehmung des physischen Körpers und Vorstellungen von Gesellschaft als eines symbolischen sozialen Körpers wechselseitig bedingen: »The physical body is a microcosm of society.« (Douglas 1973: 76) Die Adressierung des Subjekts als ›eigenverantwortlich‹ und ›selbstbestimmt‹, wie wir sie in Der große GesundheitsCheck finden, entspricht der neoliberalen Ideologie der Eigenverantwortung, die den Umbau des Sozial- und Gesundheitssystems in den vergangenen Jahren geprägt hat, und die im Sprechen vom »Fördern und Fordern« ein Schlagwort gefunden hat. Vor diesem Hintergrund erscheint Dicksein als verwerflich: In seiner exponierten und nicht hintergehbaren Sichtbarkeit verweist es darauf, dass kulturelle Transformationsfantasien enttäuscht werden können (vgl. Kipnis 1995: 122). Zugleich aber drückt sich im gesellschaftlichen Umgang mit Dicksein der Wandel von Disziplinarmacht zur Gouvernementalität aus.

DICKSEIN. ARMUT UND MEDIEN | 119 Das im 18. Jahrhundert erwachte Staatsinteresse an der Volksgesundheit hat aus zwei Gründen einer heute propagierten Selbstverantwortung Platz gemacht. Zum einen, weil nach dem Ende des Kalten Krieges die Massenmobilisierung gesunder Männer für den Kriegsfall unwahrscheinlich geworden ist. Zum anderen, weil es in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit nicht mehr notwendig ist, alle Produktivkräfte für die Industrie verfügbar zu halten. (Wulf 2004)

Doch auch, wer keine Arbeit hat, dem bleibt die Arbeit an sich selbst. Dass die Angehörigen der sozialen Unterschicht genau diese Einstellung missen lassen, das ist der Kern der gegenwärtigen Debatte um die Unterschicht. Einer, der diese Debatte in den vergangenen Jahren entscheidend geprägt hat, ist Paul Nolte. In seinem 2004 erschienen Buch Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik diagnostiziert er eine »neue Unterschicht« in Deutschland. Den Begriff der Unterschicht definiert er – im sozialwissenschaftlichen Sinne – kulturalistisch: Er fasst unter dieser Gruppe zwar immer noch einkommensschwache und mit geringen Bildungstiteln ausgerüstete Mitglieder der Gesellschaft, entscheidend sei aber, so Nolte, dass diese sich durch einen Mangel an Geschmack und Bildung auszeichneten. In ihren Milieus haben sich, so weiter, »gleichgültige und verwahrloste Lebensarten« herausgebildet, die sich der »bürgerlichen Leitkultur« widersetzten.9 In einem Beitrag des Züricher Tages-Anzeigers führt Nolte wörtlich aus: Das Beispiel des schichtspezifischen Rauchens oder Alkoholkonsums illustriert bereits, dass gerade in materiell prekären Verhältnissen – sagen wir es einmal abstrakt – finanzielle Ressourcen in ein Verhalten investiert werden, das die Grenzen dieser Verhältnisse eher verstärkt als durchbricht. Schließlich sprechen wir von Milieus, in denen die Klienten und Transferempfänger unseres Sozialstaates, um es noch vorsichtiger zu sagen, deutlich überrepräsentiert sind. (Nolte 2004b)

Der Kern einer solchen Argumentation liegt nun gerade darin, dass sie nicht die Existenz sozialer Ungleichheit problematisiert, sondern allein deren Erscheinungsformen in der Form ästhetischer Werturteile kritisiert. Die Wahl dieses Ansatzes bleibt nicht ohne Konsequenzen für die sozialpolitischen Forderungen, die Nolte aus seiner Gegenwartsdiagnostik ableitet. Zu verändern gelte es daher nicht die Kontextbedingungen subjektiver Lebensführung, um den Gesellschaftsmitgliedern Handlungsoptionen zu ermöglichen bzw. ihre beschränkten Handlungsoptionen zu vergrößern. Vielmehr müssten die Mitglieder der ›neuen Unterschicht‹ unabhängig von den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen und Zugangsmöglichkeiten dazu angehalten werden, ihre ›unzivilisierten‹ Lebensführungsweisen wieder der ›bürgerlichen Leitkultur‹ (Nolte) anzupassen. (Kessl 2005)

Als ein solches ›Anpassungsprogramm‹ fungiert Der große GesundheitsCheck. Dabei dienen die dezidierten Werturteile einer bürgerlichen Mittel-

9

Ausführlich zu Noltes Grundlegung einer kulturalistischen Klassentheorie vgl. Kessl 2005.

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schicht zur Beurteilung der abweichenden Lebensführungsweise der Familie Agül. Die so genannte »Alltagsanalyse«, die zu Beginn jeder Folge mit den Protagonisten vertraut machen soll, besteht, so wird suggeriert, aus der Montage kennzeichnender Stationen des Familienlebens eines vermeintlich ›typischen‹ Tages. So heißt es etwa: »Viertel nach Sieben. Die Kinder werden von Ferih geweckt. Während Mama in der Küche Brötchen schmiert, sind D. und L. [die beiden Kinder, Anm. T. W.] ebenfalls beschäftigt.« Die korrespondierende Einstellung zeigt, wie beide Kinder im Wohnzimmer der Familie eine Zeichentrickserie im Fernsehen schauen. Ihre Mutter kommt aus der Küche hinzu und legt jedem der Kinder ein belegtes Brötchen an den Platz. Eines der beiden Mädchen wünscht sich Nutella – »…und das wird schließlich erfüllt«, wie die Voice-Over-Narration ergänzt. »Während Mama sich noch ums süße Schulbrot kümmert, mümmeln die beiden vor sich hin – mit festem Blick auf das Kinderprogramm.« Schnitt: Die Psychotherapeutin im Halbprofil. Sie scheint das zuvor gezeigte zu kommentieren. »Was ich sehr krass finde, ist, dass es keine Teller gibt.« Eine Einstellung zeigt Brötchen, die ohne Unterlage auf dem Couchtisch liegen, dazu lachende, sich auf dem Sofa räkelnde Kinder. Noch einmal die Psychotherapeutin: »Es gibt keinen richtigen Esstisch, es gibt auch keinen Teller, also, für mich: keine Esskultur«. Ihr Kollege, nun im Bild, ergänzt: »Genau«, und fügt kopfschüttelnd an, »Mutter sitzt auch nicht dabei, und das Fernsehen läuft weiter.« Die Zuschreibung »keine Esskultur«, mit der die Psychologin die soziale Praxis der Familie Agül versieht, ist offenkundig nicht ernährungssoziologisch begründet, sondern ein wertendes Urteil. Als solches ist es legitim. Problematisch ist es dennoch, und zwar aus zwei Gründen. Erstes wird seine scheinbare Plausibilität, die Folge eines inkorporierten Habitus’ (Bourdieu 1982) ist, von den Akteuren bewusst nicht reflektiert. Zweitens gründet auf jenem Werturteil ein fürsorgliches Erziehungsprogramm, dass als ›legitimierte‹ Aneignungsweise die distinkten Merkmale einer kulturellen Praxis gleichsam naturalisiert und so hegemonial wirkt. Sind die Probleme der »neuen Unterschicht« nicht materieller, sondern soziokultureller Gestalt? Das zumindest ist die Auffassung von Nolte – und aus dieser Erkenntnis gewinnt er seine sozialpolitischen Forderungen. Wie diese aussehen, formuliert sehr deutlich der Rezensent einer wohlwollenden Besprechung. Er resümiert: Selbstverantwortung und Verantwortung für andere heißt auch, sich Zumutungen zu unterwerfen und Forderungen zu akzeptieren, die im milden Klima sozialer Wohlfahrt zumindest ungewohnt waren. Zumutung kann bedeuten mehr Arbeiten, weniger Verdienen, mehr Leisten, weniger Fernsehen, mehr Anstrengen, weniger Essen. Disziplin, Pünktlichkeit, Aktivismus, Leistungsbereitschaft heißen die Forderungen der Generation Reform. (N. N. 2008)

Dass man gegen Dicksein kämpft, nicht mehr gegen die politischen Ursachen von Armut, die in beschämender Weise in unserer Gesellschaft zunimmt, dass ist das Verdienst von Diskursteilnehmern wie Paul Nolte. Das Veraus-

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gaben, das Mobilisieren letzter körperlicher Ressourcen, das damit einhergeht, das ist die Agenda von Sendungen wie Der große Gesundheits-Check.

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»ZU TODE ERSCHÖPFT«. SPORTROMANE ALS VERAUSGABUNGSNARRATIVE (1900—1933) KAI MARCEL SICKS Werner Scheff, 1888 geborener Autor populärer, nicht selten verfilmter literarischer Texte, veröffentlichte im Jahr 1920 seinen ersten Sportroman unter dem Titel Der Läufer von Marathon.1 Der Band begründet nicht die Gattung, da Sportromane bereits seit 1900 verfasst werden und sich in der Weimarer Zeit zu einem mit hohen Auflagen verbreiteten Genre ausbilden (vgl. Sicks 2008). Er ist aber gleichsam eine Programmschrift: Im Läufer von Marathon verknüpfen sich exemplarisch jene Handlungsfäden, die das narrative Gewebe der meisten Sportromane aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts konstituieren. Obsessiv kreisen die verschiedenen Erzählstränge des Läufers von Marathon um den Topos der Verausgabung: um die Erschöpfung der individuellen Kräfte im Sport und in der Liebe. Dabei unternimmt der fiktionale Verausgabungsdiskurs eine Narrativierung zeitgenössischer Konzepte der Erschöpfung und des Exzesses, deren Pointe in der Re-Adressierung dieser Konzepte und der Erneuerung ihres disziplinierenden Anspruchs besteht. Im Folgenden werde ich das Erzählen von der Verausgabung in Werner Scheffs Marathon-Roman skizzieren und seine Position im Zusammenhang der physiologischen und psychologischen Debatten des frühen 20. Jahrhunderts herausarbeiten. Daran anschließend gilt es, auf verwandte Konstellationen in anderen Sportromanen der Zeit hinzuweisen. An ihnen lässt sich nicht zuletzt das Bedingungsverhältnis von Überfluss und Verausgabung in den Sportnarrativen diskutieren.

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Insgesamt verzeichnet der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek 40 Romane des Autors, die alle zwischen 1917 und 1936 erschienen sind; über Scheffs Tätigkeit während des Zweiten Weltkriegs ist nichts bekannt (er ist erst 1947 gestorben). Einige der Romane sind Sportromane – etwa Die Meisterschaften des Walter Issing (1923), Das weiße Spiel (1928) oder Der Meister von drüben (1936) –, wobei sich Scheffs häufiger Bezug auf den Sport wohl durchaus autobiographisch erklären lässt. Der Läufer von Marathon jedenfalls ist »meinem Bruder Otto gewidmet, dem Sieger im Schwimmen über 400 Meter bei den Olympischen Spielen zu Athen 1906« (Scheff 1920: o. P.). Insbesondere die Sportromane sind auch verfilmt worden, teilweise sogar mit prominenter Besetzung. Der Läufer von Marathon zeigt 1933 Brigitte Helm, die Darstellerin der Maschinen-Maria aus Fritz Langs Metropolis, in der Rolle der Lore. Regie führte Ewald André Dupont, der sich 1925 mit dem Zirkusfilm Variété einen Namen unter den Filmemachern der Weimarer Republik machte. Trotz dieser Prominenz ist die Verfilmung des Läufers von Marathon heute nicht mehr zugänglich.

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Die Erschöpfung der Kräfte in Werner Scheffs Der Läufer von Marathon (1920) Der Läufer von Marathon, erst der dritte Roman des Vielschreibers Scheff2, ist eine Zukunftserzählung, deren story im Jahr 1940 angesiedelt ist. Allerdings spielt der Text das Potenzial dieser Konstruktion weniger durch die Schilderung technisch-medialer Utopien aus als vielmehr durch den Hinweis auf die Frieden bringende Kraft des Sports. Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs verfasst, bringt Scheffs Roman den Sport als eine Option ins Spiel, die deutsche Nation wieder zu voller Blüte zu bringen und mit anderen Völkern auszusöhnen: In den Jahren vor 1940 hatte ja der Sport an Bedeutung überall gewonnen und war gerade nach dem Kriege und den inneren Wirren, die bei Sieger und Besiegten gleichmäßig erfolgten, zur wahren Weltmacht gediehen, die den Internationalismus erfolgreich aufrecht erhielt. (Scheff 1920: 12)3

Sport ist eine »friedliche Schlacht[]« (Scheff 1920: 41), ein »unblutige[s] Völkerringen[]« (Scheff 1920: 42) – und dennoch, das zeigt die Handlung des Romans, ein mitunter tödliches Spektakel. Der Text erzählt die Geschichte des jungen deutschen Leichtathleten Georg Cornelius, der ohne seine Verlobte Lore nach Athen reist, um an den Olympischen Spielen teilzunehmen, und der dort eine leidenschaftliche Liaison mit der Amerikanerin Grace Haldan beginnt. Grace ist die Gattin eines berühmten, reichen und alkoholsüchtigen Schwimmstars, vor dessen Drogenexzessen sie in Georgs Arme flüchtet. Nacht um Nacht gibt sich das Paar fortan seiner Leidenschaft hin, die den Helden zunehmend vom Sport ablenkt. Schließlich planen Grace und Georg, am Ende der Spiele gemeinsam nach Amerika zu fliehen. Allerdings ist Lore inzwischen nach Athen gekommen und entdeckt die Beziehung. Dass Georg nun Rechenschaft über sein Handeln ablegen muss, verunsichert ihn; unentschlossen gibt er sich ein-

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Insgesamt verzeichnet der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek 40 Romane des Autors, die alle zwischen 1917 und 1936 erschienen sind; über Scheffs Tätigkeit während des Zweiten Weltkriegs ist nichts bekannt (er ist erst 1947 gestorben). Einige der Romane sind Sportromane – etwa Die Meisterschaften des Walter Issing (1923), Das weiße Spiel (1928) oder Der Meister von drüben (1936) –, wobei sich Scheffs häufiger Bezug auf den Sport wohl durchaus autobiographisch erklären lässt. Der Läufer von Marathon jedenfalls ist »meinem Bruder Otto gewidmet, dem Sieger im Schwimmen über 400 Meter bei den Olympischen Spielen zu Athen 1906« (Scheff 1920: o. P.). Insbesondere die Sportromane sind auch verfilmt worden, teilweise sogar mit prominenter Besetzung. Der Läufer von Marathon zeigt 1933 Brigitte Helm, die Darstellerin der Maschinen-Maria aus Fritz Langs Metropolis, in der Rolle der Lore. Regie führte Ewald André Dupont, der sich 1925 mit dem Zirkusfilm Variété einen Namen unter den Filmemachern der Weimarer Republik machte. Trotz dieser Prominenz ist die Verfilmung des Läufers von Marathon heute nicht mehr zugänglich. Der Roman steht so in der Tradition des Olympismus, wie ihn Pierre Baron de Coubertin geprägt hat und wie er durch die Gründung des Deutschen Reichsausschusses für Olmypische Spiele 1904 im Deutschen Reich eine institutionalisierte Form erhielt, vgl. Alkemeyer 1996.

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zig der Hoffnung hin, dass ein Sieg im Marathonlauf die problematische Konstellation lösen werde. So nimmt der Held das Rennen auf – überspielend, dass die nächtlichen Eskapaden ihn geschwächt haben. Eine unerhörte Kraftanstrengung lässt ihn dennoch sämtliche Gegner niederringen; während der letzten Stadionrunde gelingt es ihm, auch die hartnäckigsten Konkurrenten, die Vertreter Chinas, abzuschütteln: In zwei Stunden und dreiunddreißig Minuten hat er die Strecke siegreich bewältigt. Dann sinkt er nieder, man sieht, bevor sich ihm noch hilfreiche Menschen nahen, wie er an seine Brust greift, wie sich sein schlanker Leib plötzlich zusammenkrümmt und sich dann ausstreckt, als löse sich die Spannung, die in dem Sieger des Marathon-Laufs gelegen. […] Man vernimmt einen Ruf, der wie eine grauenhafte Botschaft klingt. Man glaubt es kaum. Doch gleich darauf verkünden es die Speaker durch die Sprachrohre. […] Georg Cornelius ist tot. (Scheff 1920: 338)

Die zuerst von Plutarch und Lukian kolportierte Legende vom Läufer, der sich nach dem Sieg Athens gegen die Perser in der Schlacht bei Marathon 490 v. Chr. auf den Weg macht, um der Heimat die frohe Nachricht zu überbringen, und der nach vollbrachter Tat tot zusammenbricht, findet hier ihre Transkription in die moderne Unterhaltungsliteratur.4 Der Text ist über die Verknüpfung dreier Exzesserzählungen strukturiert: Indem der Schwimmer Haldan dem Alkoholrausch verfällt, treibt er seine Frau in die Arme eines anderen. Indem Grace sich mit Georg dem sexuellen Vergnügen hingibt, büßt dieser die Konzentration auf den Sport ein. Und indem Georg trotz Trainingsrückstands sich in einen Leistungsrausch hineintreibt, muss er sterben. Exzesse sind – so scheint es – pathologisch und infektiös: Sie zeitigen körperliche und psychische Krankheitssymptome und übertragen sich von den Kranken auf die Gesunden. Ein genauerer Blick offenbart jedoch Differenzen zwischen den einzelnen Exzessen und ihrer narrativen Bewertung. Den Alkoholismus des Schwimmers Haldan charakterisiert der Erzähler explizit als pathologisches Leiden, das den, den es trifft, »wie ein[en] Wahnwitzige[n], für den es keine Grenze, keine Einsicht gab« (Scheff 1920: 105), erscheinen lässt. Georgs Liebestaumel ist einerseits mit Haldans Alkoholexzessen vergleichbar, auch wenn er nur auf metaphorischer Ebene eine Krankheit darstellt. So spricht der Erzähler immer wieder von einem »Leiden« und davon, dass die Liebe Georg von Grace wie ein starkes Getränk »eingeflößt« (Scheff 1920: 121) werde.5 Andererseits hat der Leidenschaftsrausch des Läufers andere Auswirkungen als der Alkoholrausch des Schwimmers: Während letzterer sich nach außen 4

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Der Bezug auf die antike Quelle ist alles andere als Zufall: Immerzu referieren die Sportromane auf den angeblichen Idealsport der Griechen, dabei insbesondere klassizistische Ideale der körperlichen Harmonie und des Maßhaltens ins Feld führend. Vgl. zu diesen Bezügen im körperkulturellen Kontext der Zeit Möhring 2004. Auch sonst prägen Bilder des Flüssigen (die Flut, der Regen, das Meer) das Erzählen von der sexuellen Beziehung zwischen dem Deutschen und der Amerikanerin. Bereits hier ist also der Zusammenhang von Verausgabung und Über-Fluss zu erkennen, auf den ich in etwas anderer Nuancierung im dritten Abschnitt des Beitrages ausführlicher eingehe.

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entlädt, zielt ersterer auf Georgs Inneres, bewirkt er »Leid, Furcht und Ermattung« (Scheff 1920: 304). Die Liebe zehrt Georg aus, ent-leert ihn, macht ihn schlaff, bis er jeglicher Motivation zum Sporttreiben verlustig geht: »Seit jenen […] Stunden kämpfte er matt und ohne sonderliches Bemühen gegen [die] jäh hereinbrechende Leidenschaft« (Scheff 1920: 121). Georgs Liebesleben erzeugt eine tiefe psychische Erschöpfung. Von dieser Erschöpfung schließlich wird Georgs tödliche Verausgabung auf der Marathonstrecke nachdrücklich unterschieden. Denn die Überanstrengung, die den Helden nun tatsächlich und nicht mehr nur metaphorisch »zu Tode erschöpft« (Scheff 1920: 227), präsentiert der Erzähler als heroische, selbstbestimmte Tat – und nicht als Ausfluss einer tückischen Krankheit. Der Zusammenbruch des Athleten wird durch den Sieg vielmehr geadelt. Im letzten Kapitel berichtet der Roman vom Nachleben des Läufers, dem allerorten Denkmäler errichtet werden, die seiner übermenschlichen Leistung – nicht seinem tragischen Ende – gedenken: »Nicht allein in seiner Heimat wurde der Verblichene gefeiert wie kein lebender Sieger, nein, auch fern dem deutschen Boden entstand ein bleibendes Monument, das seine Gestalt, seinen Namen aufwies« (Scheff 1920: 341). So kontrastiert der Läufer von Marathon zwei Formen der Verausgabung, von denen die eine (die sportliche) positiv, die andere (die libidinöse bzw. durch Drogen herbeigeführte) negativ bewertet wird. Im Folgenden möchte ich diese Konstellation mit Blick auf die komplexe Position des Romans im Netzwerk der zeitgenössischen Diskurse über Sport und Erschöpfung analysieren. Der Läufer von Marathon, so die These, weicht mit seiner Erzählung von Georgs doppeltem Exzess erheblich von der dominanten zeitgenössischen Codierung des Sports ab, wie sie vor allem in Physiologie und Sportpublizistik zum Ausdruck kommt. Dabei ist nicht entscheidend, dass der Roman im Zusammenhang mit Sport von (tödlicher) Verausgabung spricht, sondern dass dies auf eine grundsätzlich andere Weise geschieht als in den zeitgleich zirkulierenden wissenschaftlichen und journalistischen Sportdiskursen. Die Rede von der Erschöpfung artikuliert in Scheffs Erzählung eine andere Angst als in der auf den Sport bezogenen Forschungs- und Ratgeberliteratur.

Diskurse der Verausgabung im produktivistischen Zeitalter Wo immer zwischen den 1890er und 1920er Jahren Ärzte aus einer sportphysiologischen Perspektive schreiben, thematisieren sie vor allem eines: die Gefahr der Überbelastung des Körpers im Sport. Sie beschwören immer neue Fälle plötzlichen Todes im Zeichen des Ehrgeizes nach Höchstleistungen und entdecken parallel zur Ausdifferenzierung der Sportdisziplinen immer neue Gefährdungen, die den spielerischen Charakter des Sports in tödlichen Ernst verwandeln können. Mehr als drei Stunden auf dem Fahrrad zu verbringen erscheint beispielsweise im Jahr 1898 dem Physiologen Carl Fressel als leichtfertiges Spiel mit dem Leben, mindestens aber als sicherer Auslöser schwerer organischer Dysfunktionen (vgl. Fressel 1898: 233). Das zu häufige

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Heben einer Fünfkilo-Hantel durch einen Ungeübten, so sein Berliner Kollege August Schmidt, müsse zwangsläufig einen Kollaps des gesamten Kreislaufsystems herbeiführen (vgl. Schmidt 1893) – und so weiter. Frauen seien aufgrund ihrer schwächeren körperlichen Disposition stärker gefährdet, aber Männer tendierten eher zur Jagd nach dem Rekord, um deren Zweckmäßigkeit sich eine heftige Debatte entspinne. Zweifellos wird die Angst vor der sportlichen Überbelastung durch die Unkenntnis der neuen Bewegungsformen und ihrer Auswirkungen auf den menschlichen Körper begünstigt. Die geradezu paranoide Heftigkeit dieser Angst hat aber tiefere Ursachen. Die Erforschung der körperlichen Verausgabung und ihrer Gefahren ist eng mit der Erforschung physikalischer Kräfte und dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik verknüpft, der zwar bereits 1854 von Rudolf Clausius formuliert, aber erst am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts allgemein rezipiert wird (vgl. Neswald 2006: 10). Dieser Zweite Hauptsatz relativiert den Ersten Hauptsatz der Thermodynamik, demzufolge Energie nie verschwinden kann, sondern sich lediglich in immer neue Formen verwandelt. Demgegenüber entdeckt Clausius, dass bei jeder Konversion von Kraft ein gewisses Quantum an nutzbarer Energie verloren geht (durch Reibung, könnte man vereinfacht sagen) und dass die Menge dieser unnutzbaren Energie auf Dauer gegen unendlich tendiert. Entropie lautet die physikalische Kategorie, die diese verlorene Kraft bezeichnet. Energie ist also – diesen Imperativ führt die Entdeckung des zweiten thermodynamischen Gesetzes ein – effizient zu nutzen: so, dass bei ihrem Einsatz möglichst wenig energetischer Abfall anfällt. Unnötige, überflüssige Wärme, der nicht-produktive Rest der Kräfte-Verausgabung, bildet dagegen, mit Anson Rabinbach gesprochen, »die Nemesis eines Europas der Industrialisierung« (Rabinbach 2001: 14): die Bedrohung des Fortschritts durch eine universale Erschöpfung, durch einen letztlich kosmischen Wärmetod. Das thermodynamische Denken erreicht schnell die Lehre vom Körper: Die reduktionistische Physiologie, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsteht, konzipiert den Körper als Dampfmaschine, die durch die Konversion von Licht und Nahrung in chemische und mechanische Energie Arbeit leistet (vgl. Osietzki 1997: 317–332). Hiervon ausgehend, entstehen um 1900 physiologische Anwendungsdisziplinen wie die Arbeitswissenschaft und die Sportphysiologie, die danach fragen, wie die Körper-Maschine möglichst effizient eingesetzt werden kann. In beiden Wissenschaften rückt die Bekämpfung überflüssiger Verausgabung körperlicher Energien ins Zentrum. Französische und italienische Physiologen entwickeln die Vorstellung, dass der Effizienz der Energiekonversionen im menschlichen Körper durch die Ermüdung Grenzen gesetzt seien; je müder der Körper, desto weniger leiste er. Dies bedeutet aber auch: Der trotz Ermüdung ununterbrochen weiter angetriebene Körper wird zum Sinnbild einer rasanten Vermehrung der Entropie und birgt die Gefahr eines vollständigen Produktivitätsverlusts in sich (vgl. Rabinbach 2001: 154–156; Vatin 1998). Überspitzt ausgedrückt: Im transzendental-mechanistischen Weltbild der Thermodynamiker ist jede Überbürdung des Körpers im Sport die apokalyptische Voraussage auf den Tod des Kosmos im Ganzen. Oder weniger apodiktisch: Die dringliche Warnung an

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die Sportler, keine Energien zu verschwenden, ist im Kontext von Bemühungen zu verstehen, deren Sorge die Aufrechterhaltung von ökonomischer Produktivität und Fortschritt gilt. Der Läufer von Marathon gestaltet nun wie die medizinische Literatur eine Szenerie sportlicher Überbelastung – lanciert aber keinesfalls eine Warnung vor ihren Folgen. Im Gegenteil bringt die Romannarration im Diskurs über sportliche Verausgabung eine Gegen-Stimme zur Geltung, die die Überbelastung – selbst wo sie tödlich endet – gutheißt. Verständlich wird dies nur, wenn man sieht, dass der Roman damit eine radikale Kompensation desjenigen Exzesses konzipiert, den er als eigentliche Bedrohung des Menschen betrachtet: der Überreizung der Nerven in der Leidenschaft und im Drogenrausch. Die extreme Anstrengung des Willens im Sport antwortet auf eine Erschöpfung des Willens, die diese Überreizung herbeiführt. Damit gibt sich eine andere Formation des Redens über Verausgabung zu erkennen, in die der Roman den Sport einschreibt: die psychologische und populärpsychologische Debatte über Willensschwäche – Abulie – und Nervosität. Das Verhältnis zwischen dem physiologischen und dem psychologischen Diskurs über Erschöpfung ist komplex, weil sich in ihm Gemeinsamkeiten und Differenzen überlagern. So speist sich die Psychologie des Willens und der geistigen Erschöpfung, zuerst entworfen von Théodule Ribot in den 1880er Jahren (vgl. Cowan 2008), gleichfalls direkt aus dem thermodynamischen Denken. Sie übersetzt die Idee der Energiekonversion in den Bereich des Geistigen, indem sie den Willen als eine Kraft konzipiert, die – analog zur Muskelkraft – die menschliche Arbeit anleitet. Dies gelingt dem Willen, indem er spontane Reizreaktionen unterdrückt, also Kontrolle über die Nerven ausübt. Eine solche Kontrolle könne den Menschen dazu befähigen, zielgerichtet zu handeln und nicht jedem äußeren Reiz instinktiv nachzugeben. Der Wille muss, wie der Muskel, trainiert werden – allzu leicht passiert es sonst, dass bei zu starken Reizen (zu starker Belastung) keine ausreichende Kraft gegeben ist, um die Reaktion zu hemmen. Eine Krankheit des Willens kann dann die Folge sein: Ein völliges Ausschalten jeglichen bewussten Wollens, ein reines Sich-Treiben-Lassen, eine exzessive Verausgabung der Nervenenergie. Dies ist bei Georg der Fall: Grace, die »Teufelin« (Scheff 1920: 279), ist stärker als sein Wille, an ihr zerbricht seine Selbstkontrolle. Die Krankheitssymptome, die Georg zeigt, entsprechen denen des Neurasthenikers: Unlust, Energielosigkeit, Angstgefühle, gleichzeitig Unruhe und Ungeduld. Der willensstarke Romanheld hat sich durch die Begegnung mit einer Frau in einen pathologischen Fall von Abulie verwandelt.6 Hier zeigt sich erstens, dass die Bedrohung in der psychologischen Konstruktion an einer anderen Stelle lokalisiert wird als in der physiologischen: Die Physiologie macht menschliche Unvernunft und zu hohen Ehrgeiz für die Verschwendung körperlicher Energien verantwortlich; ihre Mahnung zielt dementsprechend auf ein vernunftgeleitetes Handeln. Die Psychologie sieht 6

Dass Grace eine Amerikanerin ist, ist dabei wohl kein Zufall. Amerika als Signum der Moderne wird in den 20er Jahren immer wieder mit der Neurasthenie als Krankheit der Moderne zusammengedacht; nicht zuletzt erhält die Neurasthenie auch durch einen amerikanischen Nervenarzt, George Miller Beard, ihren Namen. Vgl. Radkau 1998.

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den Grund für die Erschöpfung dagegen in einer Reizquelle, die außerhalb des Menschen zu finden ist und auf diesen übergreift; sie ruft darum zu Abwehr und Schutz auf. Während die Rekordjagd dabei als männliche Ambition und sportliche Ausprägung eines männlichen Fortschrittsstrebens verstanden wird, ist die den Willen hemmende Reizung weiblich konnotiert; in der Warnung, die Scheffs Sportroman ausspricht, bringt sich eine misogyne Tendenz zur Geltung. Zweitens verbinden sich mit der Rede über Willensschwäche und Neurasthenie weiter reichende kulturelle Ängste als mit dem physiologischen Appell an die maßvolle Anstrengung des Körpers: Die Gefahr psychischer Verausgabung verknüpft sich mit der Angst vor nationaler, wenn nicht »rassischer« Degeneration. Seit Nietzsche hat die Nervosität ihren festen Platz unter den Merkmalen der Dekadenz, und die Theoretiker des Willens überformen diesen Gedanken mit der Idee, dass der schwache Wille ein Zeichen »rassischer Primitivität« sei. Schon in »Ribots evolutionärem Schema der psychologischen Entwicklung vertritt der Wille die höchste Stufe der psychologischen und moralischen Entwicklung« (Rabinbach 2001: 196). Willenlosigkeit ist dann ein Rückfall in vorzivilisatorische Zeiten, ist eine Selbstauslieferung an die Triebe, die nur Kindern und »Wilden« zusteht – nicht aber »deutschen Männern«.7 Der Läufer von Marathon erzählt damit eine Geschichte sportlicher Überbelastung, der es nicht um die Mahnung an die Vernunft, sondern an den Appell einer Abwehr sinnlicher Reize zu tun ist. Die tödliche Verausgabung im Sport ist positiv besetzt, weil sie gegenüber der von der Überreizung bewirkten Abulie einen Akt kompromissloser Wiederherstellung der Selbstmächtigkeit ins Werk setzt: Die vom Willen gesteuerte Erschöpfung des Körpers wird als heroische Entgegnung auf die nervöse Erschöpfung des Willens ins Spiel gebracht und zur Erlösung stilisiert: nicht nur zur Erlösung des Sportlers aus einer Krankheit, an der er sonst noch lange Zeit dahinvegetieren müsste, sondern mehr noch der deutschen Nation aus der Gefahr ihres Niedergangs im Angesicht »primitiver« oder bloß »zivilisierter« Völker.8 Für diese Völker müssen im Roman die antipodisch konstruierten Chinesen und Amerikaner einstehen. Die Chinesen werden als sportliche Gegenspieler der Deutschen mit den folgenden Sätzen eingeführt: Zwölf waschechte Chineslein trotteten da heran, so gemächlich, so unbekümmert um das Interesse, das sie erregten, als seien sie an dergleichen schon lange gewöhnt. Die Gesichter von echt mongolischer Häßlichkeit wurden sichtbar. Schlitzaugen in den gelben Köpfen, dunkle Haare auf den Schädeln. Einer war nicht vom anderen zu unterscheiden. Ganz gleich schienen sie. (Scheff 1920: 71)

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Wenn der »Wille« seit den späten 1920er Jahren zu einer Zentralkategorie des Nationalsozialismus wird – erkennbar an den Titeln wichtiger Propagandainstrumente wie Riefenstahls Parteitagsdokumentation »Triumph des Willens«, der Jugendzeitschrift »Wille und Macht« oder dem »Monatsblatt der Reichspropaganda-Leitung der NSDAP« »Unser Wille und Weg« (vgl. Sicks 2008: 97–100) –, dann bestätigt das die rassistischen Implikationen des Kampfs gegen die Verausgabung der Nervenkraft. Das eingangs zitierte Völkerverständigungspathos erweist sich spätestens hier als bloße Rhetorik.

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Auf wenigen Zeilen vereint sich ein ganzes Arsenal rassistischer Diffamierungsstrategien: Tier-Analogien, Verniedlichungen, Hinweise auf Hässlichkeit und Deindividualisierungen arbeiten einander zu, um von der ersten Schilderung an die grundsätzliche Unterlegenheit der Chinesen unter die Deutschen zu verdeutlichen. Nicht anders werden die Amerikaner zu den Helden des Romans positioniert. Dabei steht die deutsche »Kultur« hier keinen »Primitiven« gegenüber, sondern durchaus zeittypisch der »Zivilisation« (zum dazugehörigen Diskurs vgl. Elias 1997: 95–98). Graces Gatte Rudyard Haldan ist als prototypischer Vertreter der Amerikaner im Läufer von Marathon ein »brutaler Egoist von urwüchsiger Kraft« (Scheff 1920: 54), dessen Sittenlosigkeit auf Schritt und Tritt betont wird (vgl. etwa Scheff 1920: 241). Darüber hinaus mangelt es, wie der Erzähler mit einer etwas schiefen Metapher sentenziös in den Raum stellt, den Amerikanern an Bildung und Bildungswillen: In keinem Land der Erde, so darf man füglich behaupten, ist die Unbildung so groß wie jenseits der Freiheitsstatue, die den von Europa Kommenden im Hafen von New York begrüßt, und übrigens ebenso hohl ist wie die Freiheit des Dollarlandes und das gesamte amerikanische Leben. (Scheff 1920.: 96)

Es wundert dann nicht, dass Rudyard Haldan dem Alkoholismus anheim fällt und sich aus seiner Sucht – anders als Georg – nicht befreien kann. Der Deutsche ist letztlich ein Künstler des Willens, der äußeren Reizen zu widerstehen in der Lage ist; der Amerikaner hat seine Willenskraft demgegenüber unwiederbringlich eingebüßt. Der Weg von der Zivilisation zur Dekadenz ist nicht weit. Mit dem (auf die Erhaltung deutscher Kultur gerichteten) Appell, sinnliche Reize abzuwehren und den Willen zu stärken, lässt sich der Läufer von Marathon also als Medium verstehen, das Wissensbestände aus publizistischen Ratgebern und pseudo- bzw. populärwissenschaftlichen Publikationen narrativiert und popularisiert.9 Dabei ist dieser Vorgang nicht als verfahrensneutrale Umbettung bestimmter Wissens-»Inhalte« von einem Medium in ein anderes zu betrachten. Mit der Readressierung (die Leserkreise von Sportromanen sind nicht identisch mit denen psychologischer Ratgeber) geht vielmehr zugleich eine partielle Resemantisierung einher, die im vorliegenden Fall daher rührt, dass der Roman die herausgearbeiteten Kontrastierungen und Wertungen in das Wissen über die Verausgabung einführt: Überreizung und Überanstrengung werden im Läufer von Marathon auf eine gemeinsame Matrix eingetragen und verglichen; erstere stellt sich dabei als das schlimmere Übel dar. Eine derartige Kontrastierung sucht man in Ratgebern zur Wil-

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Von Popularisierung lässt sich dabei allerdings nur eingeschränkt sprechen, da die Wissensbestände ja schon vorher in populären Medien zirkulieren. Zumindest stellt die Bearbeitung des physiologischen und psychologischen Wissens in der Ratgeberliteratur eine erste Popularisierungsstufe dar, der gegenüber die literarische Fiktionalisierung dann als sekundäre oder Re-Popularisierung beschrieben werden könnte. Zur Theorie der Popularisierung vgl. Blaseio; Pompe & Ruchatz 2005; zur Möglichkeit literarischer Wissensvermittlung vgl. Hörisch 2007.

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lensstärkung (vgl. Cowan 2005) und in den Standardwerken der Sportphysiologie (vgl. Schmidt 1893; Lagrange 1912) vergeblich. Indem die Erzählung diese Wissensbestände dramatisiert und emotionalisiert, legt sie schließlich eine identifikatorische Lektüre nahe. Die Verpflichtung der Hauptfigur auf eine Vermeidung jeder rauschhaften Verausgabung der Nervenkraft überträgt sich damit tendenziell auf den Leser, und der literarische Text wird zu einem subtilen Instrument der (Internalisierung von) Disziplinierung. Ob und inwieweit Leser tatsächlich ein Vorbild in Georg gesehen haben mögen, kann indes nur Gegenstand der Spekulation sein. Vermuten lässt sich, dass die impliziten Ratschläge des Romans im Kontext einer präfaschistischen Mobilmachung, für die Selbstaufopferung eine zentrale Rolle spielt und die Abwehr jeglicher Sinnlichkeit oberste Priorität genießt (vgl. Theweleit 1980), durchaus auf fruchtbaren Boden gefallen sind.

Leben im Überfluss. Der Läufer von Marathon und die Gattung Sportroman Die Erzählung von der Erschöpfung der Willenskraft und dem folgenden Einbruch der sportlichen Leistung ist ein Leitmotiv der Gattung Sportroman im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Dabei unterscheidet sich der Läufer von Marathon von den meisten anderen Texten des Genres in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist die Inszenierung einer tödlichen sportlichen Überbelastung als Reaktion auf die Überreizung ein Unikum. In den meisten Texten der Gattung verausgabt sich der Sportler in der Liebe und büßt so seine Leistungsfähigkeit ein; indem er sich von der Geliebten ab- und einem asketischen Lebensstil zuwendet, gewinnt er seine alte Stärke zurück: Der Sportroman führt einen Therapieverlauf vor Augen. Zum anderen thematisieren die meisten Sportromane eine weitere Dimension der Verausgabung, die sie mit der libidinösen Erschöpfung analogisieren: das Schwelgen im Luxus. Dem Luxus wohnt wie der Leidenschaft die Gefahr nervöser Überreizung, eines Verlusts der Selbstkontrolle und der Willensstärke inne; (materieller) Überfluss bewirkt die Verausgabung der Nervenkraft. Seine Versuchungen gilt es wie die Reize der Libido abzuwehren. Anhand zweier Beispiele möchte ich dies darstellen. In Bruno Winklers Roman Endspurt (1931) wird der Langstreckenläufer Werner Falk von der intriganten italienischen Filmschauspielerin Fanny Tessara in einen Liebesrausch gezogen, der das Paar nach Nizza und Monte Carlo führt. Dort frönt es neben den Leidenschaften einem teuren Lebensstil und gibt sich dem Glücksspiel hin. Seine sportlichen Ambitionen vernachlässigt Falk völlig, »[h]emmungslos«, so heißt es, »überließ er sich der Wonne der Stunde« (Winkler 1931: 51). Und: »Falk geriet in einen Rausch. Die Luft, das Schauen, die Fahrt, der Reiz, mit einer schönen Frau zusammen zu sein, benahmen ihm die Sinne« (Winkler 1931: 41). Körperlich und psychisch ruiniert, bemerkt er schließlich, dass er Opfer eines raffinierten Spiels geworden ist: Die Liebhaberin hat ihn nur verführt, um ihrem Bruder den Sieg bei der Welt-

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meisterschaft zu sichern.10 Erst indem sich der Held in der Zurückgezogenheit der Schweizer Berge therapiert, kann er zu alter Leistungsstärke zurückfinden. Die Therapie besteht dabei in der Beschränkung auf einen asketischen Lebensstil, im Verzicht auf jeglichen Überfluss; die »Reinheit, Unberührtheit der Natur« (Winkler 1931: 107) ist der Rahmen, in dem eine solche Rückbegrenzung der Bedürfnisse gelingen soll (und wird). Schließlich steht Falk Fanny erneut gegenüber, aber nun ist er gerüstet (im wörtlichen Sinne): »Ihre Sinne loderten Falk entgegen, der die Glut fühlte, aber unbewegt blieb. Sein Herz war unangreifbar wie ein Diamant im Feuer« (Winkler 1931: 148). In Hans Richters Der Springer von Pontresina (ca. 1930) fährt eine Gruppe junger Berliner Langläufer und Skispringer zu den Weltmeisterschaften nach St. Moritz – wiederum in einen mondänen Kurort. Dort werden die jungen Sportler mit dem luxuriösen Leben des internationalen jetset konfrontiert – die Folge sind gemeinsame Tanzabende mit berühmten Violinisten, gewagte Bergtouren mit flotten Millionärstöchtern und lange Nächte in fremden, gut gepolsterten Betten. Selbstverständlich führt der Disziplinverfall zu einem rapiden Leistungsabfall der gesamten Gruppe, die »überladene[n] Tische« und »große[n] Feste« (Richter o. J.: 69) gewöhnen die Sportler an ein leichteres Leben, in dem nicht jede Freude hart erarbeitet und erkämpft sein muss. Selbst Uli, der Held des Romans und eiserne Verfechter einer harten Sportdisziplin und strikten Abgrenzung von den dekadenten Schweizer Hotels sowie sämtlicher Reize des Weiblichen, verliebt sich. Sein Über-dieStränge-Schlagen setzt aber wie bei Georg, dem Marathonläufer, eine starke Reaktion in Form einer extremen Willensanstrengung frei: Uli gewinnt das Skispringen mit einem sensationellen Sprung, hat aber seine Kräfte überschätzt und kann den Sprung nicht stehen. Die Willensleistung ist hier neuerlich überzogen, der Körper gehorcht dem Willen nicht mehr, wie in der folgenden rückblickenden Schilderung des Unfalls durch einen Schweizer Bergführer deutlich wird: Den Krach vergess’ ich mein Lebtag nicht, mit dem der arme Mensch aufhauen is. Eh du denken kannst, sind die dicken Bretter – ganz schwere hat der Uli gehabt – zu Bruch. Sechs Stückeln hab’ ich gezählt – und abgebrochen, daß du es nicht für möglich hältst. Und dann – plauz, pardauz! – geht’s immer weiter. Aber jetzt hat der Körper keinen Willen mehr – jetzt schlägt er hin wie ein Sack. […] Und schließlich ist der Uli ganz unten liegengeblieben und hat sich nicht mehr gerührt. Bis oben hin hab’ ich’s gehört, daß ein Frauensmensch geschrien hat: ›Tot ist er! Tot ist er!‹ (Richter o.J.: 163)

Anders als bei Georg erweist sich die Totmeldung hier indes als verfrüht. Uli muss lediglich ins Krankenhaus, wo er während eines mehrwöchigen Auf10 Erneut ist also der Mann, der sich den Leidenschaften hingibt, das Opfer, die Frau dagegen die Täterin, hier sogar mit bösem Willen. Ähnliche Konstellationen finden sich in weiteren Sportromanen der Zeit, beispielsweise in Hanns Lerchs Tim, der Torwart (ca. 1933) oder in Werner Scheffs Die Meisterschaften des Walter Issing (1923). Dass die Frauen dabei meistens Schauspielerinnen sind, zeigt an, dass sie mit den arglosen Sportlern ein doppeltes, maskiertes Spiel treiben, durch das sie ihnen keineswegs Lust verschaffen, sondern sie in den Abgrund reißen wollen.

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enthalts seine Bedürfnisse nach Liebe und seinen sportlichen Ehrgeiz versöhnen kann. Die Verausgabung in Liebe und Luxus ist für die Helden der Sportromane also keine Annehmlichkeit, sondern eine Gefahr. Sie bedroht ihre psychische Konstitution, ihre Willenskraft. Der Sportler muss lernen, Reize abzuwehren, um seine Kräfte im Sport kontrolliert verausgaben zu können – so dass sie sich, ganz im ökonomischen Sinn, stets vermehrt wieder herstellen können.11 Damit wird der Sportler im Sportroman einerseits zur Gegenfigur des Dandys stilisiert, wie ihn paradigmatisch Joris-Karl Huysmans’ Jean Florissac Duc des Esseintes (in A rebours, 1884) oder Oscar Wildes Dorian Gray (in The Picture of Dorian Gray, 1890) verkörpern: Statt sich vom ReizÜberfluss paralysieren, in Lethargie versetzen zu lassen und sich daran zu berauschen (was für die Dandys zum bewusst gewählten Lebensstil wird), befreit sich der Sportler aus ähnlicher »Krankheit« durch eine kontinuierliche oder explosive Selbsttherapie. Statt sich in der Welt des Luxus und der Dekadenz als Meister geistvoller Bonmots und raffinierter Sprache zu etablieren, setzt der Sportler ganz auf den Körper als Medium seines Ausdrucks und hält sich in Gesellschaft betont zurück. Und statt sich einem dandyhaften dolce far niente anheimzustellen, das als Kritik am »Utilitarismus des zeitgenössischen Bürgertums und [der] Herrschaft des Tauschwerts in der sich konsolidierenden Marktgesellschaft« (Zima 2001: 36) aufgefasst werden kann, folgt er einem ökonomischen Prinzip der Kräfte- und Leistungsoptimierung, das jeder Form der Verschwendung und rückhaltlosen Verausgabung entgegentritt. Die populären Sportromane um 1920 sind in diesem Sinn eine verspätete bürgerliche Entgegnung auf die elitäre ästhetizistische Literatur um 1900. Andererseits ist der Sportler des Sportromans aber auch seiner Stilisierung in der tagesaktuellen Sportpublizistik entgegengesetzt, die seit der Jahrhundertwende den Sportler als einen sozialen Aufsteiger in die Kaste einer quasi-aristokratischen Prominenz einschreibt (und damit ihre eigenen Sportnarrative erzeugt). Sportler sind als Objekt der frühen Regenbogenpresse entscheidend am Aufstieg der Kategorie des Stars im frühen 20. Jahrhundert beteiligt. Hans Ulrich Gumbrecht hat zudem darauf hingewiesen, dass in den 20er Jahren von berühmten Sportlern »oft in Bühnenstücken oder Filmen ein fiktives Leben zur Darstellung gebracht [wird], das ihrer privaten Lebensgeschichte mehr oder weniger entspricht. Diese Kunstformen sind im Gegensatz zu Wettkämpfen in Stadien oder Arenen dazu in der Lage, private Themen zu inszenieren« (Gumbrecht 2003: 229), die den Sportler in den boulevardesken Zusammenhang von Liebe, Laster und Luxus einschreiben. Dass die Sportpublizistik den Sportler derart mit Reichtum und Leidenschaf11 Die Idee, dass die muskulären Kräfte im Training und Wettkampf »investiert« werden, um sich mit Rendite wiederherstellen und kontinuierlich steigern zu können, übersetzt einen bereits im 19. Jahrhundert etablierten ökonomischen Diskurs in den Bereich des Sports. Dass »kontrollierte Verausgabung« in einen wahren Überfluss der Produktivkräfte führen kann, zeigt etwa Zolas Romanheld Octave Mouret in Das Paradies der Damen (1893), wenn er sein Kaufhausimperium auf dem Kreislauf von Investition und Vermehrung aufbaut (vgl. zum Warenhausroman auch den Beitrag von Andrea Haller und Thomas Lenz im vorliegenden Band).

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ten zusammendenkt, läuft der fiktionalen Semantisierung des Sports im Sportroman zuwider. Die Einschaltung der Literatur in die Belange des Sports geschieht vielmehr, um gegen eine solche Gleichsetzung von Sport und Luxus Einspruch zu erheben. Die Sportromane werden im Zeichen einer Warnung vor dem Überfluss verfasst.

Literatur Alkemeyer, Thomas (1996): Körper, Kult und Politik. Von der »Muskelreligion« Pierre de Coubertins zur Inszenierung von Macht in den Olympischen Spielen von 1936. Frankfurt a. M.: Campus. Blaseio, Gereon, Hedwig Pompe & Jens Ruchatz (Hg.) (2005): Popularisierung und Popularität. Köln: DuMont. Cowan, Michael (2005): »The Gymnastics of the Will«. Abulia and Will Therapy in 20th Century German Culture. In: Kulturpoetik 2, S. 169–189. Cowan, Michael (2008): Cult of the Will. Nervousness and German Modernity. University Park, PA: Penn State Press. Elias, Norbert (1997): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und phylogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Fressel, Carl (1898): Der Radfahr-Sport vom technisch-praktischen und ärztlich-gesundheitlichen Standpunkte. Illustriertes Handbuch. Neuwied/ Leipzig: Heuser. Gumbrecht, Hans Ulrich (2003): 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hörisch, Jochen (2007): Das Wissen der Literatur. Paderborn/München: Fink. Lagrange, Ferdinand (1912): Physiologie der Leibesübungen. Übertragen und eingeleitet von Ludwig Kuhlenbeck. Jena: Diederichs [frz. Orig. 1888]. Möhring, Maren (2004): Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890–1930). Köln u. a.: Böhlau. Neswald, Elizabeth R. (2006): Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie 1850–1915. Freiburg i. Br.: Rombach. Osietzki, Maria (1998): Körpermaschinen und Dampfmaschinen. Vom Wandel der Physiologie und des Körpers unter dem Einfluß von Industrialisierung und Thermodynamik. In: Philipp Sarasin & Jakob Tanner (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 313–346. Rabinbach, Anson (1990): Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne. Wien: Turia & Kant. Radkau, Joachim (1998): Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München: Hanser.

»ZU TODE ERSCHÖPFT« | 137

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STERBEN IM ÜBERFLUSS: LUXUS UND LUSTMORD IN HOLLYWOOD-MAINSTREAM-FILMEN SEIT DEN 90ER JAHREN IRINA GRADINARI Das 20. Jahrhundert steht im Zeichen einer kontinuierlich wachsenden Konfrontation der westlichen Kultur mit dem Überfluss. Luxus wurde schon in der Vergangenheit als etwas »Überflüssiges« betrachtet (Jäckel & Kochhan 2000: 75–78). Die aktuelle Definition des Begriffs Luxus fasst laut dem Online-Wortkorpus1 der Universität Leipzig neben der Vorstellung von Reichtum, Wohlleben und Wohlstand auch Begriffe der ökonomischen Erscheinungen des späteren 20. Jahrhunderts wie Überfluss, Überfülle, Überladung, Überproduktion, Überreichtum, Unwirtschaftlichkeit, Üppigkeit, Wohlsein und Zuviel zusammen. Für den Luxusbegriff bedeutet dies laut Michael Jäckel und Christoph Kochhan (2000: 88–89) die Verschmelzung von Notwendigkeit und Luxus, die die »Veralltäglichung eines Luxusgutes« oder »Demokratisierung des Luxus« (René König) zur Folge hat. Luxus verliert seine Symbolkraft, soziale Statusmerkmale langfristig zu signifizieren. Trotzdem bleibt Luxus dabei laut der Autoren (Jäckel & Kochhan 2000: 73) ein »aktuelles Phänomen, das sich immer wieder neuer Ausdrucksformen bedient.«2 Aber was bedeutet dies für den Begriff und das Verständnis von Luxus in Hinblick auf Lustmord, selbst wenn es nur um kulturelle Fantasien geht? Welche kulturellen Prozesse lassen den Lustmord als Ausdrucksform des Luxus imaginieren, die als neues Paradigma seit den 1990er Jahren in den Mainstream-Filmen entstehen und die Konstellation von Luxus und Lustmord zu einer konstitutiven Verbindung machen? Für die Literatur ist diese paradoxe Kombination kein neues Phänomen. Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die Luxus1

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Der elektronische Wortschatz der Universität Leipzig existiert seit 1998 und wurde nach dem Vorbild der englischen word corpora wie COBUILD begründet. Im Jahr 1999 geben Uwe Quasthoff und Christian Wolff folgende Angabe zum Aufbau und zur Statistik des Wortschatzes: »Das Wortschatz-Lexikon ist aus einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen aufgebaut, wobei quantitativ der Volltext mehrerer Tageszeitungen im Vordergrund steht; darüber hinaus gehen aber auch Fachlexika, Fachzeitschriften und Monografien aus unterschiedlichen Wissensgebieten (u. a. Medizin, Rechtswissenschaft, Informatik) in den Datenbestand ein. […] Mit 3,8 Millionen Kollokationsangaben zu 260.000 Wörtern ist das Wortschatz-Lexikon die einzige umfassende und online verfügbare Quelle für Kollokationen des Deutschen […]« (Quasthoff & Wolff 1999). Luxus verliert zwar seine Rolle für die soziale (Selbst-)Definition der Individuen als Demonstration von Status und Prestige, jedoch wird der Luxusbegriff nicht aufgelöst, sondern bezieht sich auf symbolisch-kulturelle Qualitäten wie Marken oder differenziertes Konsumverhalten (Jäckel & Kochhan 2000: 88).

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Lustmord-Synthese von einigen französischen und englischen Autoren für den Ausdruck der Kolonialmacht eingesetzt, um die koloniale Expansion Westeuropas der Kritik zu unterziehen.3 In der Gegenwart wird der Geschäftsmann zum Lustmörder. Die Folgen der gegenwärtigen kapitalistischen Entwicklung wie die fast totale Ökonomisierung verschiedener Lebensbereiche, Überflussphänomene in der westlichen Kultur, Entwicklung der Märkte und weltweite Globalisierungstendenzen werden in Mainstream-Filmen in verschiedene Formen des (destruktiven) Begehrens übersetzt. Die vorliegende Lektüre ist wie folgt strukturiert: Zuerst wird der Lustmorddiskurs skizziert, der die männliche Identitätsproblematik in die kapitalistische Thematik einbringt. Danach wird auf die Verbindung von Luxus und Lustmord im Film Anfang der 1990er Jahre eingegangen. Der Hauptteil analysiert exemplarisch den Film Hostel (2005) von Eli Roth, der die LuxusLustmord-Verknüpfung nicht nur auf verschiedenen Ebenen thematisiert, sondern auch gegenwärtige Tendenzen bezüglich dieser Konstellation deutlich macht: eine gegenseitig bedingte Profanierung des Luxus und eine Propagierung des Lustmordes, der Lustmord als Signifikant des Globalisierungsdiskurses und eine konstitutive Verzahnung von kapitalistischer Ökonomie und Begehren. Freud umformulierend wird Ökonomie zum Schicksal des männlichen Subjektes. Dabei kann die Luxus-Lustmord-Verbindung als ein subversives Phänomen betrachtet werden, die die notorischen Differenzen wie Klasse, Ethnizität und Geschlecht auflöst. Gleichzeitig steht sie für die Affirmation der existierenden Machtverhältnisse, indem die Auflockerung der Differenzen als Gewaltexzess, eine Form der Abwehr, präsentiert wird. Es ist bemerkenswert, dass sich am Film Hostel die thematische Verknüpfung von Luxus und Lustmord insbesondere anhand seiner Vermarktung betrachten lässt. Mit einem relativ niedrigen Budget von 4,8 Millionen Dollar gedreht, spielte der Film Hostel ohne »jegliche Stars« und »ohne jegliche Skrupel« 80 Millionen Dollar ein (Araghi 2006: 141), was eine rege Diskussion in der Öffentlichkeit4 anstieß. Lustmord produziert Luxus: »Das Geld, so wissen Produzenten inzwischen, liegt auf der Schlachtbank« (Beier 2006: 128).

Der Diskurs über den Lustmord Der Begriff Lustmord5 entsteht in der Epoche der Kriminalanthropologie Ende des 19. Jahrhunderts, die die Ursache dieses Verbrechens in der menschlichen Physis als Ausdruck der nicht eingedämmten Natur ansieht. Das 3

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Der Roman Der Garten der Qualen (1899) von Octave Mirbeau stellt beispielsweise die lustmörderischen Fantasien der europäischen Kultur in der Gestalt der schönen und reichen Engländerin Clara dar. Die Handlung spielt in China, wo das Gefängnis mit seinem prachtvollen exotischen Blumen- und Pflanzenwuchs zum Ort der Kunst der Folter und des Mordens wird. Clara begeht zwar keinen einzigen Mord, verspürt jedoch das Bedürfnis, die Lustmorde anzusehen. Im Magazin Der Spiegel beispielsweise wurde eine Reihe von Artikeln veröffentlicht, die sich einerseits über die Popularität der Folterfilme echauffierten, andererseits aber selbst minutiös die Handlung der Filme wiedergaben, also als eine Art Werbung fungierten und so durch Anti-Reklame die Aufmerksamkeit auf diese Filme lenkten.

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Verbrechen wird generell zum Kennzeichen der bedrohenden Natur in der Kultur.6 In diesem Zusammenhang bringt der Lustmord »archaische«, »ursprüngliche« und »naturhafte« männliche Sexualtriebe zum Ausdruck, die durch die Kultur gebändigt werden sollen, um die Entstehung einer bürgerlichen »normalen« Männlichkeitsidentität zu ermöglichen. Der Lustmord gehört also explizit dem Männlichkeitsdiskurs7 an und wird zum Beweis der nicht domestizierten »Natur« im Mann, die im Geschlechtsrausch unkontrolliert ausbricht. Werden Sexualität und Identitätskonstruktion laut Gender Studies eng verknüpft, so wird mit dem Thema Lustmord in Literatur und Film die Geschlechtsidentität, in den meisten Fällen die männliche Identität, verhandelt. Das Lustmordsujet hat dabei im Film eine Doppelfunktion: Einerseits markiert der Lustmord eine defizitäre bzw. instabile Männlichkeit, andererseits hat der Lustmord eine kompensatorische Funktion, da er gleichzeitig zur Bewältigung dieses Mangels funktionalisiert wird. Der Zusammenhang zwischen Lustmord und Identitätskonzept in Mainstream-Filmen legt Identität als eine Gewaltkonstruktion frei. Gleichzeitig verrät diese Konstellation kulturelle Ängste vor dem verweiblichten Subjekt als einem Subjekt ohne stabile Identität (ohne die innere Machtinstanz Über-Ich, die mit der Vaterfigur zusammenfällt), das bedrohlich für sämtliche gesellschaftliche Strukturen im Film erscheint. Als Beispiele seien die Filme Psycho (1960) und Frenzy (1972) von Alfred Hitchcock sowie Das Schweigen der Lämmer (1991) von Jonathan Demme genannt.

Luxus und Lustmord in den 90er Jahren Mit dem Kultroman American Psycho (1991) des US-amerikanischen Autors Bret Easton Ellis wird Anfang der 1990er Jahre ein neues kulturelles Paradigma eingeführt: Die Kehrseite des Luxuslebens ist die totale Zerstörung. In Anlehnung an Theweleit (1977) liegt der Verknüpfung von Lustmord und Luxus ein narzisstischer Körperpanzer zugrunde, dessen Produktion nur auf Kosten des Anderen möglich ist. Der Roman American Psycho zeigt eine Konsumgesellschaft, in der sich ein männlicher Körperpanzer als eine phallische Ganzheit mit perfekter Oberfläche herausbildet, der sich auf Grundlage einer lustvollen Zerstörung der Körper der Anderen – bei Ellis: der Frauen 5

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Der Lustmord wird hier in Anlehnung an die feministischen Studien von Deborah Cameron und Elisabeth Frazer (1990) als Sexualisierung des Tötungsaktes an und für sich definiert. Brockhaus definiert den Lustmord als die »vorsätzl. Tötung eines Menschen zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, soweit der Täter in der Tötungshandlung selbst sexuelle Befriedigung sucht« (Brockhaus 1990: 628). Der Kriminalanthropologe Cesare Lombroso entwickelte eine Atavismus-Theorie, die Verbrechen als einen Rückfall in die früheren Entwicklungsstadien der Menschheit beschreibt. Die konkurrierende Theorie ist eine Degenerationstheorie, die die Voraussetzung von Verbrechen mit einer physischen Degeneration zu erklären versucht (Strasser 1989: 593–600). Hania Siebenpfeiffer macht am Beispiel der Gewaltdiskurse in der Weimarer Republik deutlich, dass Verbrechen geschlechtlich semantisiert werden. So werden Giftmord und Kindstötung paradigmatisch als weibliche Verbrechen im Gegensatz zum männlichen Lustmord definiert (Siebenpfeiffer 2005: 150–185).

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und der Afroamerikaner – konstituiert. Es geht also um eine narzisstischdestruktive Subjekt-Objekt-Beziehung, in der Luxus zum Medium der phallischen Fetischisierung des männlichen Subjektes und der Lustmord zum Medium von Partialisierungs- und Zerstückelungsfantasien werden. Dabei ist die Struktur der Psyche nicht von der Struktur des Staates zu trennen: Ellis zeigt deutlich, dass diese konstitutive Verbindung von Lustmord und Luxus keine individuelle Psychose, sondern eine strukturelle Grundlage des entwickelten Kapitalismus ist. Diese Korrelation von Luxus und Lustmord zeigt sich in mehreren gegenwärtigen Mainstream-Filmen, die seit den 1990er Jahren erschienen sind, beispielsweise Basic Instinct (1992) von Paul Verhoeven, The Brave (1997) von Johnny Depp, 8mm – Acht Millimeter (1999) von Joel Schumacher, die Verfilmung von American Psycho (2000) von Mary Harron und seiner Fortsetzung American Psycho II: Der Horror geht weiter (2002) von Morgan Freeman. Dabei zeichnet sich die bei Ellis dargestellte narzisstischdestruktive Subjekt-Objekt-Beziehung in diesen Filmen durch eine Ambivalenz aus: Einerseits tritt die Verbindung von Luxus und Lustmord in einer kritischen Perspektive auf, da die sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen freigelegt werden, die auf lustmörderischer Destruktion beruhen. Andererseits weist die Verknüpfung von Luxus und Lustmord auch eine affirmative Funktion auf, indem der Lustmord als Symbol eines ökonomischen Privilegs und infolgedessen als eine modische Erscheinung propagiert wird. Nicht materieller Reichtum wird zur Manifestation des Luxus, sondern der anomische Raum, der durch den Lustmord zum Ausdruck gebracht wird. Zu den weiteren Merkmalen der Luxus-Lustmord-Konstellation in diesen Filmen gehört die Reproduktion oder das Unterlaufen von Hierarchien und Distinktionen wie Klasse, Ethnizität und Geschlecht: Die geschlechtlichen, ethnischen oder sozialen Semantisierungen der Figuren und die Differenzen zwischen ihnen werden erst durch ein ökonomisch bedingtes Täter-OpferSchema entfaltet.

Hostel8 Drei junge Männer – zwei US-Amerikaner, Josh und Paxton, und ein Isländer, Oli – reisen durch Europa auf der Suche nach der Befriedigung ihrer sexuellen Fantasien.9 Durch eine neue Bekanntschaft in Amsterdam, den Russen Alexei, angeregt, fahren die drei Männer in die Slowakei, in eine Jugendherberge in der Nähe von Bratislava. Dort herrscht laut Alexei eine 8

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Hostel, USA 2005; Regie und Drehbuch: Eli Roth; DarstellerInnen: Jay Hernandez, Derek Richardson, Eythor Gudjónsson, Barbara Nedeljáková, Petr Janis, Jana Kaderabková, Jennifer Lim, Lubomír Bukový; Kamera: Milan Chadima, Shane Daily; Schnitt: George Folsey Jr.; Musik: Nathan Barr; Kostüme: Franco-Giacomo Carbone; Lionsgate Entertainment. Der Film wird im Folgenden mit Zeitangabe in Klammern zitiert. Westeuropa, genauer Amsterdam, stellt sich als eine Art allgegenwärtiges Sodom und Gomorrha insbesondere im Vergleich zu den Vereinigten Staaten dar: Drogen, Prostituierte und Schwule stehen im Film für den sittlichen Verfall Europas. Im Film sagt Paxton bei der Betrachtung der Prostituierten in den Schaufenstern des Amüsierviertels in Amsterdam, dass in Europa sogar die Sodomie (engl.: bestiality) erlaubt ist.

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besondere Art von Überfluss – ein absoluter »Muschiüberschuss«10. Nach einem ersten euphorischen Abend in der Slowakei kippt die Handlung in ein Horrorszenario um. Die drei Freunde werden Lustmordopfer des Klubs Elite Hunting, der seinen reichen Mitgliedern Opfer aus der ganzen Welt für die Erfüllung lustmörderischer Fantasien zur Verfügung stellt. Die Jugendherberge entpuppt sich als eine Falle, in die schöne osteuropäische Frauen junge Männer locken, um sie danach dem lustmörderischen Klub, der sich in einer alten Fabrik befindet, zu verkaufen. Nur Paxton gelingt es, sich zu befreien und sich an allen Peinigern zu rächen. Europa als unheimlicher Wunschraum Europa, erst West- und später auch Osteuropa, wird als ein Wunschraum für die männlichen US-Bürger dargestellt, in den deren abgespaltene Wünsche hineinprojiziert werden. Europa wird also zu einem imaginären Ort, an dem phantasmatisches Begehren jenseits des zivilisatorischen Vatergesetzes, im Film außerhalb der USA, ausgelebt werden kann. Besonders der Handlungsort in der Slowakei lässt sich als Phantasma beschreiben. Er trägt keinen Namen und befindet sich im Nichts: Er ist in keinem Reiseführer und auf keiner Karte zu finden. Die Unintelligibilität des Ortes platziert ihn in Analogie zur Weiblichkeit jenseits der symbolischen Signifikation, d.h. jenseits des Vatergesetzes. Existiert die Frau nach Lacan (1986) nicht, so existiert der imaginäre Ort nicht. Der Ort verspricht auch eine intensive Lusterfahrung jenseits der Signifikations- und Einschränkungsprozesse, wie die Klitoris, mit der das Gespräch über den Ort in der Slowakei in Verbindung gesetzt wird.11 Genauer gesagt deutet die Nicht-Existenz der Klitoris für den Russen Alexei auf die Unmöglichkeit des weiblichen Begehrens in der Ökonomie des Phallus hin. Am imaginären Ort zirkuliert das weibliche Begehren dagegen uneingeschränkt. Europa vereinigt daher verschiedene stereotype Konstruktionen, die das der US-amerikanischen Zivilisation entgegen gesetzte Imaginäre entstehen lassen: Europa wird zum Spiegel und zu einem prä-zivilisatorischen Raum, der weiblich semantisiert wird. Es wird dank zahlreicher Spiegelbilder zu einer Spiegelwelt, die das Geschehene spiegelverkehrt wiedergibt. Die Spiegelbilder im Film umrahmen die Handlung am Anfang und am Ende. Darüber hinaus setzen sie Handlungszäsuren: Momente der Verzauberung durch den Spiegel lassen männliche Fantasien zur Wirklichkeit werden; Momente des unheimlichen (Selbst-) Erkennens durch den Spiegel stehen im Zusammenhang mit dem Mord an Protagonisten oder deren Selbstmord. Das erste Bild in Europa, mit dem die Handlung des Films nach dem Vorspann beginnt, ist das Schild des Hostels, 10 Original: »There is so much pussy, and because of the war, there are no guys« (11:50). 11 Das Gespräch über den Ort in der Nähe von Bratislava schließt sich unmittelbar an das Gespräch über die Klitoris an. Der Film platziert die Klitoris erst geographisch, da der Russe Alexei denkt, dass das Wort Klitoris einen Ort in Island bezeichnet. Gleichzeitig deplaziert er das Hostel in der Slowakei, das ebenso wenig auf der Karte zu finden ist wie die Klitoris. Die Unmöglichkeit des weiblichen Begehrens in der phallischen Ökonomie des Vaters lässt sich auf Lacans Argumentation stützen, in der die Frau als Objekt des männlichen Begehrens festgelegt wird (Lacan 1975: 119–132).

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das sich in einer Pfütze widerspiegelt. Die schönen osteuropäischen Frauen in der slowakischen Jugendherberge werden zunächst als Reflexion im Spiegel gezeigt. Josh sieht sich unmittelbar vor seinem Tod mit seinem Mörder im Spiegel. Eine gerettete Japanerin betrachtet sich auf der Flucht im Spiegel und bringt sich daraufhin um. Paxtons Rachemord am Mörder von Josh wird in Form einer Spiegelung gezeigt. In der letzten Szene sitzt Paxton befreit in einem Zug – hinter einem imaginären Spiegel – und fährt vom europäischen Bahnhof weg. Die Fensterscheibe des Waggons fungiert als ein Spiegel, in dem sich die Außenwelt (Westeuropa) widerspiegelt und deutet gleichzeitig darauf hin, dass Paxton die Spiegelwelt verlässt. Europa, West- und Osteuropa, wird durch die Spiegel zu einem spekularen bzw. imaginären Wunschraum im Sinne Lacans, in dem die US-amerikanischen Konventionen suspendiert werden und daher auch das in der US-Gesellschaft verbotene Begehren ausgelebt werden kann. Die Andersheit und Fremdheit dieses imaginären Ortes betonen im Film Hostel traditionsgemäß das Weibliche und das »Archaische«. Die Überpräsenz der Frauen im Hostel in der Slowakei sowie die Assoziationen von Weiblichkeit und Wasser – um den Ort herum fließt ein Fluss, drei Freunde besuchen mit Frauen im Hostel die Thermen (Spa) – gehört zum stereotypen Repräsentationsrepertoire des Weiblichen.12 Das Weibliche als Wasser bringt unter anderem die nicht eingeschränkte Zirkulation des Begehrens in Osteuropa zum Ausdruck. Darüber hinaus werden im Film auch das Weibliche und das Infantile in traditioneller Weise überlagert.13 Das Weibliche setzt Hostel als Signifikant der Suspension des repressiven patriarchalischen Gesetzes ein, d. h. der Wunschraum ist auch ein unzivilisierter bzw. »archaischer« Raum, der infantile »Urtriebe« befreit. Auf den Straßen der Slowakei taucht als Signifikant der primitiven Gesellschaft eine mörderische Kinderbande auf der »Jagd« nach Essen und Geld auf. Durch diese mehrschichtige Überlagerung von Imaginärem, Weiblichem und »Archaischem« kreiert der Film Osteuropa als einen imaginären Raum, der der Tradition folgend gegenüber der patriarchalischen Ordnung als monströs erscheint, um sie ideologisch zu stabilisieren. Europa, besonders das den Protagonisten fremde Osteuropa, erscheint im Film Hostel jedoch als heimisch und altvertraut. Der Film bemüht sich zwar, ein monströses Anderes zu konstruieren, um die US-Gesellschaft ideologisch zu stabilisieren, unterläuft jedoch seine eigene Ideologie durch die Struktur der Handlung. Gemäß des filmischen Horror-Genres, zu dem Hostel zu zählen ist, baut der Film Suspense und Horroreffekte durch Wiederholung auf, indem die Zeichen der bevorstehen Katastrophen in einer harmlosen Form das Geschehene vorwegnehmen.14 Europa wird daher als unheimlicher Ort 12 Theweleit (1977) macht deutlich, dass die Frau seit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft und Entstehung der männlichen Subjektivität in den westlichen Repräsentationssystemen mit den Strömen und Fluten assoziiert wird, die das männliche Ich aufzulösen drohen. 13 Sowohl die mörderischen Kinder als auch Natalya bitten auf die gleiche Art und Weise um Kaugummi. 14 Als Beispiel sei eine Szene in einem Amsterdamer Bordell erwähnt, in der Josh im Flur nur die Schattenfiguren sieht. Nachdem Josh aus einem Zimmer die Schläge und an-

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im Sinne Freuds strukturiert. Die Spiegelbilder und Doppelgänger, Wiederholung von Szenen, Zitaten und Referenzen – Elemente aus dem Repertoire des Freudschen Unheimlichen15 – produzieren Déjà-vu-Effekte, die das Gesehene und Bekannte verfremden. Westeuropa wird entsprechend dieser Filmstruktur zu einer Vorwegnahme Osteuropas, das als das Unheimliche wiederkehrt. In Ahnlehnung an Elisabeth Bronfen schafft der Film mit der Doppelungsfigur – heimisch-altvertraut und gleichzeitig unheimlich – Osteuropa als das Unbewusste der westlichen bzw. US-amerikanischen Zivilisation, zumal Freud das Unbewusste auch als »eine Stelle des Fremden inmitten des psychischen Apparates« begreift (Bronfen 1999: 83). Die Psychoanalyse und die Postcolonial Studies beschreiben die Erfahrung, dass das Ich nicht der Herr im eigenen Hause ist. So wird das Hostel als Jugendheim zum Symbol des vertrauten Heimes für Studenten, in dem das Ich zu Hause ist. Gleichzeitig ist das Hostel ein Terrain der Fremde/des Anderen, die das Ich aufzulösen droht. Ihr Zimmer müssen die Protagonisten mit fremden osteuropäischen Frauen teilen. In Analogie zu Bhabhas Erkenntnis verortet der Film das Andere nicht außerhalb oder jenseits des Subjektes, sondern innerhalb des Subjektdiskurses in seinem Unbewussten. Die Faszination am Anderen und das gefährliche Eindringen des Anderen enden mit der Auflösung des männlichen Selbst. Erst müssen die drei Freunde ihre Reisepässe an der Rezeption im Hostel abgeben, ein symbolischer Verlust ihrer Identität. Danach verschwinden die Männer nach der sexuellen Vereinigung mit dem weiblichen Anderen, sie lösen sich wortwörtlich auf. Die ganze Handlung in der Slowakei ist die Suche nacheinander, nach dem vermissten Ich, solange, bis sie in den Abgründen und in der Finsternis seiner Psyche landen. Das Eintreffen der Protagonisten in der Lustmordfabrik konfrontiert die Zuschauer mit Schwarzbild-Sequenzen, die das Ende jeglicher Repräsentationen in der Lustmordfabrik signalisieren. Damit einher geht für die Protagonisten durch die Beraubung ihrer Sicht auch der Verlust ihrer Position als Subjekt des Blickes. schließend das Schreien einer Frau hört, ist er bereit, die Frau zu beschützen. Doch nach dem Öffnen der Tür stellt sich heraus, dass die Frau einen gefesselten Mann züchtigt. Das Bordell wird zu einer irrealen Schattenwelt, in der die Wirklichkeit durch Spiegelungen eine andere verkehrte »Realität« verbirgt. Die Schattenszene im Bordell ist gleichzeitig eine Vorwegnahme der Erlebnisse in Osteuropa, wo die Männer von den Frauen verkauft werden. Der Vorgriff wird auch durch die flüchtig gezeigten Abschnitte der Filme von Tarantino und Miroslav Luther im Fernseher in der Jugendherberge dargestellt. Der Film Pulp Fiction (1994) von Quentin Tarantino, der beim Ankommen der drei Freunde in der Jugendherberge in der Slowakei gezeigt wird, deutet neben dem schönen Schein auf eine blutrünstige Entwicklung der Handlung hin. Der Film Chodnik cez Dunaj (1989) von Miroslav Luther, der die Szene über die Flucht der Gefangenen in einem Zug während des Zweiten Weltkrieges darstellt, wird in das Gespräch zwischen Paxton und der Japanerin Kana eingebaut; so wird mit dieser Szene auf die weitere Flucht Paxtons in einem Zug verwiesen, die durch den Selbstmord Kanas ermöglicht wird, indem sie sich vor den Zug wirft. 15 Aufgrund der etymologischen Analyse des deutschen Wortes unheimlich kommt Freud zu folgender Schlussfolgerung: »Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich« (Freud 1966 12: 237). Das Unheimliche ist nach Freud ein vertrautes, aber verdrängtes Erlebnis/Trauma aus dem früheren bzw. infantilen Leben, das bei der Wiederkehr ein unheimliches Gefühl weckt, da es schon erlebt wurde (Freud 1966 12: 227–268).

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Darüber hinaus wirken die Schwarzbilder-Sequenzen medienreflexiv, da sie den Film als Medium sichtbar machen und seine Funktion für die Zuschauer mitreflektieren: Der Film generiert das Unbewusste und das Imaginäre, an dem die Zuschauer ihre Identität verlieren.16 So bleibt der Zuschauer bei der Filmvorführung am Stuhl »gefesselt«. Im Vorspann wird ein leerer alter Stuhl (Folterstuhl) gezeigt, der im Schwarz verschwindet und den Anfang der Handlung markiert. Im Zusammenhang mit der Darstellung des Ostens als Spiegel bzw. als spekularer Raum wird das imaginäre Bild des einheitlichen Subjektes nicht nur vor allem durch Groß- und Detailaufnahmen der Figuren zerstückelt, sondern auch durch Szenen mit Partialobjekten und abgetrennten Körperteilen buchstäblich im Film aufgelöst. Die Zerstückelung der männlichen Identität setzt der Film durch das tradierte Schema des Film noir mit seiner zentralen Figur der Femme fatale um. Die schöne, sexuell freizügige Russin Natalya entpuppt sich als Femme fatale, die dem Noir-Script entsprechend an den Mangel des Mannes nicht nur erinnert (Mulvey 1994: 48–65), sondern diesen auch im Film Hostel verursacht. Die Femme fatale Natalya, Imagination der prä-ödipalen phallischen Mutter, lässt ihre männlichen Opfer »kastrieren«. Die Enthauptung und die Schnittwunden – so sterben Oli und Josh sowie der Lustmörder und so wird Paxton verletzt – gehören laut Freud, der in Tabu der Virginität mit Hebbels Stück Judith argumentiert (Freud 1966: 161–180) zu einem symbolischen Substitut der Kastration.17 Die drei Freunde werden zu Objekten des (destruktiven) Begehrens des Anderen, so dass die prominente Lacansche Feststellung »Ich ist ein Anderer« als eine grausame Erfahrung inszeniert wird. Osteuropa ist also ein phantasmatischer Un-Ort des männlichen USamerikanischen Selbst, so dass die Reise nach Osteuropa auch als eine Reise in das eigene Unbewusste jenseits der Zivilisation gelesen werden kann. Die Auseinandersetzung mit dem nicht-zivilisatorischen bzw. nicht-eingeschränkten Begehren im eigenen Unbewussten und die Erfahrung der Entortung des männlichen Subjekts wird zu einer geschlechtlich aufgeladenen Interaktion, die die Erfahrung des ersehnten prä-ödipalen Selbstverlustes durch die Vereinigung mit dem weiblichen Anderen als bedrohende Auflösung des männlichen Subjekts – eine Form der Abwehr – darstellt. Mannwerdung: »Urtriebe« oder Ökonomie? Die Reise nach Osteuropa, also in das Unbewusste, durchkreuzen psychoanalytische und paradoxerweise ökonomische Diskurse, die einander überlagern, durchdringen und unterwandern. Im Film Hostel sind sie kaum voneinander 16 Nach Mulvey ruft das Kino beim Menschen eine spannungsreiche Konstellation von Distanz und Nähe hervor: Das Kino fördert den Verlust der Identität, gleichzeitig stärkt sie durch die Identifikation mit dem imaginären Ich-Ideal (Mulvey 1994: 53). Der Film Hostel betont den Verlust der Zuschaueridentität nicht nur durch ihre Identifikation mit Protagonisten, sondern auch durch das Fehlen des Ich-Ideals im Film, also Nichtvorhanden der Stars im Film, die nach Mulvey die Stärkung des Ichs mit sich bringt. 17 »Köpfen ist uns als symbolischer Ersatz für Kastrieren wohlbekannt […]« (Freud 1966: 178).

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zu trennen, so dass der psychoanalytische Diskurs ökonomisiert und Ökonomie zum psychischen Apparat des Subjektes wird. Die Suspension und Stabilisierung des männlichen Selbst stellt sich als Auseinandersetzung zwischen »Natur« und Kultur dar, einem altbekannten Topos, der mit den stereotypen Geschlechtersemantisierungen wie »Natur« = Weiblichkeit vs. Kultur = Männlichkeit arbeitet. Beide, »Natur« und Kultur, zeichnen sich durch eine Art von Überfluss aus: Überfluss an Sexualität und Destruktivität steht also für »Urtriebe«. Die Ökonomie wird als Überfluss an Geld/Kapital definiert, aber auch als Überfluss an käuflichem Sex und an Prostituierten.18 Die Reise nach Osten, ins Unbewusste, kann also auch als Reise zum imaginären »archaischen Ursprung« der Zivilisation und der menschlichen Psyche (wie eine Reise in die Kindheit) jenseits des Ökonomischen verstanden werden.19 Der Film Hostel stellt sich aber auch wie folgt dar: Der psychoanalytische Diskurs bleibt zwar bis zum Ende der Handlung präsent, jedoch dominiert er in der ersten Hälfte des Filmes. Zwischen Horror und Ökonomie herrscht eine konstitutive Verquickung. Mit der Zunahme des Horrors geht eine Zunahme der Ökonomie einher, von der sich der US-amerikanische Bürger Paxton am Ende abzugrenzen versucht. Der psychoanalytische Diskurs findet unter anderem durch den Lustmorddiskurs seinen Eingang in den Film. Für den Lustmorddiskurs ist die Auseinandersetzung mit der männlichen Identität und deren Stabilisierung durch den Lustmord üblich. So erscheint der Lustmörder im Film Hostel in den Traditionen des Lustmorddiskurses als ein Sammelsurium von kulturellen und sexuellen Pathologien, wie der Allusion auf eine faschistische Vergangenheit und unterdrückte Homosexualität. Durch die Lustmorde im Osten stellt der Mörder seine »Normalität« immer wieder her. Jedoch weist nicht nur der Täter eine instabile Identität im Film Hostel auf, sondern auch die Opfer. So wird die Reise nach Osteuropa in Hostel auch zur Mannwerdung, zumal die Protagonisten Josh und Paxton Studenten sind, d. h. sie befinden sich noch in einem liminalen Zustand. Eine kohärente Filmnarration bedingt die Entwicklung zum Mannsein: Das männliche Selbst (Josh, Oli und Paxton) mit der noch nicht stabilen heterosexuellen Identität fährt in den Osten (das Unbewusste), erkennt die Grausamkeit und den Ekel des nicht eingeschränkten Begehrens und entscheidet sich für die heteronormative westliche bzw. US-amerikanische Identität (Paxton). Im Vordergrund des Films stehen zwei Freunde aus den USA, Paxton und Josh. In der ersten Hälfte der Hand18 Der Lustmord steht im Film nicht nur im Zusammenhang mit dem Geldüberfluss, sondern auch mit dem Überfluss an Sex. Dabei stellt der Sex eine im Überfluss vorhandene Ware dar. So wird der Lustmord zum Substitut des Geschlechtsverkehrs, ganz entsprechend dem Lustmorddiskurs in seiner klassischen Definition des Sexualpathologen und Autors berühmten Psychopathia Sexualis (1886) Krafft-Ebing als »Ersatz für Coitus«. In einer Szene erklärt ein anderer Mitglied Paxton, warum er töten will: »I’ve been all over the world. You know, I’ve been everywhere. And the bottom line is, pussy’s pussy. You know, every strip club, every whorehouse, every… It’s all the same shit. I just fucked a girl two days ago, I don’t even remember the colour of her tits. But this, this is something you never forget, right?« (1:11:41–1:12:04) 19 In Westeuropa lehnt es der Protagonist Josh ab, die Frauen zu kaufen. Daher antwortet Josh auf das Angebot Olis ihm eine Frau zu »schenken«: »Thanks, but paying to do whatever you want to someone isn’t a turn-on.« (06:15) Die drei Freunde fahren daher nach Osteuropa, um »kostenlose« Frauen zu haben.

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lung ist der Protagonist eher der homosexuelle Jude Josh, der in der Tradition der antisemitischen Verweiblichungsstrategien steht, in der zweiten Hälfte der heterosexuelle Paxton mit südamerikanischer Herkunft. Im Kontext des verhandelten Identitätsdiskurses können alle drei männlichen Figuren jedoch allegorisch als drei Triebausformungen, als eine Art der multiplen Identität eines Mannes verstanden werden: Der Isländer Oli, heterosexuell und extrem triebhaft, bringt die Fantasien über »Urmännlichkeit« als Triebhaftigkeit als Wikinger zum Ausdruck. Bezeichnenderweise nennt er sich »the King of the Swing«.20 So symbolisiert Paxtons Verlust zweier Finger in der Lustmordfabrik die Einschränkung der verbotenen Triebe, die seine beiden getöteten Freunde verkörpern: gesteigerte Triebhaftigkeit (Oli) und Homosexualität (Josh).21 Im Zusammenhang mit den »Urtrieben« wird ein psychoanalytisches Konzept Freuds funktionalisiert, das das »Archaische« als infantile Triebe des narzisstisch-destruktiven Subjektes darstellt, das die Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Anderen noch nicht kennt. Im Zug in die Slowakei sprechen die drei Freunde unwissentlich mit einem Mitglied des lustmörderischen Jagd-Klubs Elite Hunting (im Folgenden als Mitglied bezeichnet), das mit den Händen isst: Paxton: You need a fork there, chief? Mitglied: No, no, no. I prefer to use my hands. I believe… people have lost their relationship with food. They do not think: »This is some who gave its life so I would not go hungry.« I like to have a connection with something that died for me. I appreciate it more. Paxton: Well, I’m a vegetarian. Mitglied: And I am a meat-eater. It’s human nature. Paxton: Well, I am human, and it’s not in my nature. Mitglied (dreht sich zu Josh): Tell me, what is your nature? (Mitglied legt seine Hand auf Joshs Knie.) Josh (schreiend und aufspringend): Wooowh! Don’t touch! Don’t fucking touch me! (14:18–14:58)

Unter »Urtriebe« wird eine infantile, orale Erotik beschrieben, die Assoziationen mit dem Kannibalismus in der Prä-Zivilisation hervorruft. Freud definiert dies als oral-sadistische Phase in der sexuellen Entwicklung des Kindes, bei der erst die Befriedigung durch Einverleibung und gleichzeitige Zerstörung des Objekts möglich ist (Freud 1998:45). Diese Pathologie gehört 20 18:10. Der Isländer Oli gehört nicht wirklich zur Gruppe, da er sich erst später, schon in Europa, den beiden Freunden aus den Vereinigten Staaten anschließt. Auch für die Handlung des Films spielt die Figur des Oli eine periphere Rolle und wird eher zur Erschaffung von Suspense benötigt. 21 Die Figur des Paxton stellt sich als ein hybrides Subjekt im Sinne von Homi K. Bhabha dar: Einerseits ist die Figur des Paxton affirmativ, da das Subjekt männlich und heterosexuell dargestellt wird. Andererseits ist Paxton spanischer bzw. südamerikanischer Herkunft. Da Südamerikaner im Film gewöhnlich als Kriminelle oder Drogendealer dargestellt werden, wirkt die Figur des Paxton subversiv für die an Westeuropa und ethnisch am Weißsein orientierten Vereinigten Staaten. Der Gangsterfilm Scarface (1983) von Brian de Palma steht exemplarisch für die stereotype Darstellung von Südamerikanern als Drogendealer.

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zu dem traditionellen trivial-psychologischen Profil des Lust- und Sexualmörders. Josh wird dabei als nächstes Opfer bzw. Objekt des Begehrens durch homoerotische Berührung markiert.22 Mit dem Lustmord am Protagonisten Josh, also einer entscheidenden Wendung in der Handlung, rückt das Ökonomische in den Vordergrund. Verwurzelt in den lustmörderischen Diskurs legt die Ökonomie das »Archaische« als Effekt des entwickelten Kapitalismus offen. Die Zugszene wiederholt sich später in einer Folterszene in der Lustmordfabrik, in der der gefesselte Josh in seinem Peiniger den Mann, das Mitglied des Klubs Elite Hunting, aus dem Zug erkennt. Die Szene im Zug wird so zu einer Vorwegnahme der Folterszene in der Slowakei, die als das Unheimliche wiederkehrt. Josh (weinend): You. Why? Mitglied: I always wanted to be a surgeon… but the boards wouldn’t pass me. Can you guess why? Josh (sehr unterdrückt): Oh my god… Mitglied: (zeigt Josh seine zitternden Hände. Josh übergibt sich weinend). You see? So I went into business… but business is so boring. You buy things, you sell them. You make money, you spend money. What kind of life is that? A surgeon… he holds the very essence of life in his hands. Your life. He touches it (legt seine Hand auf Joshs Knie wie im Zug und Josh stöhnt). He has a relationship with it. He’s part of it. (41:08–42:10)

Der Lustmörder legt die westliche kapitalistische Kultur als einen repressiven Apparat frei, der das Subjekt zwingt, auf sein Begehren zu verzichten. So wird Osteuropa zu einem phantasmatischen Ort, an dem sich das Subjekt der Macht manifestiert. Der Ausschnitt enthüllt jedoch, dass die behaupteten, angeblich lustmörderischen »Urtriebe« als Ausdruck des »Archaischen« im Mann tatsächlich ein Effekt der hoch entwickelten und wohlhabenden Konsumgesellschaft sind. Es geht also in Analogie zu B. E. Ellis um eine narzisstisch-destruktive Subjekt-Objekt-Beziehung, die durch das kapitalistische System hervorgebracht wird. Der entwickelte westliche Kapitalismus erscheint als ein verselbständigtes abstraktes Kapitalsystem, das nach einer sich immer weiter steigernden Akkumulation strebt. Der Film lässt den aktuellen Zustand des entwickelten Kapitalismus – die Entleerung seines Überbaus – sichtbar werden, wie ihn Boltanski und Chiapello feststellen: »Die Kapitalisten hingegen sind an einen endlosen und unersättlichen, durch und durch abstrakten Prozess gekettet, der von der Befriedigung der Konsumbedürfnisse – 22 Die Diskussion macht deutlich, dass in der »archaischen« Gesellschaft wie im Lustmord nur zwei mögliche Rollen existieren, die des Täters und die des Opfers. So erzählt die ganze Geschichte in Hostel einerseits von der sukzessiven Enteignung der männlichen Identität bis hin zu ihrem völligen Verlust (Opferdiskurs) und andererseits vom Entdecken der lustmörderischen »Urtriebe« (Täterdiskurs). Die Figur des Paxton ist an den beiden Diskursen beteiligt: Er entdeckt die mörderischen Triebe als eine narzisstischdestruktive Erfahrung des nicht eingeschränkten Begehrens. Bei der Suche nach Oli und Josh stiehlt die oben bereits erwähnte Kinderbande sein Handy, daraufhin bringt Paxton in Rausch und Wut als Ausdruck des Unkontrollierten eines der Kinder beinahe um. Später büßt Paxton in der Lustmordfabrik für diese erweckte »archaische« Lust zwei Finger wie zwei Freunde – Signifikant der symbolischen »Kastration« – als eine Voraussetzung der danach folgenden gewaltsamen Rückkehr zur »Zivilisation« ein.

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und seien es auch Luxusbedürfnisse – losgelöst ist« (Boltanski & Chiapello 2003: 42). Das ideologische Rechtfertigungssystem befindet sich nach der Diagnose der Autoren in der Krise. Dem Geschäftsmann, der nach Boltanski und Chiapello der Hebel der kapitalistischen Akkumulation seit den 90er Jahren geworden ist, fehlt im Hostel die Motivation, das Kapital zu vermehren. So bricht der Lustmörder die fetischisierte Abstraktion der Kapitalakkumulation auf, indem er den losgelösten Tauschprozess wieder an das fertige »Produkt« in der Fabrik anzukoppeln versucht. Gleichzeitig legt er dadurch die Prozesse der abstrakten Kapitalakkumulation sowie Äquivalenz des Kapitals frei. Alles wird zur perversen Farce: Die Produktion ist die Zerstörung. In Analogie zum Symbolisierungsprozess, der auch eine Trennung von der Materie ist, vollzieht sich der abstrakte Kapitalfluss und deren Akkumulation in der Form des Mordes an der Materie: Geld ist gleich Tod. Gleichzeitig stehen die abstrakten ökonomischen Prozesse der taktilen Welt gegenüber. Tauschprozesse, im Film Kaufen und Verkaufen, werden in einem affirmativen Akt als einzig legitime Interaktion mit dem Anderen konstituiert. Die Freunde sind durch die Verweigerung des für alle verbindlichen ökonomischen Konsumsystems, das die Interaktion zwischen dem Subjekt und dem Anderen nur als Käufer-Ware-Verhältnis vorsieht, zu Opfern geworden. Als Paxton entdeckt, dass sein Freud Josh tot ist, schreit er Natalya an: Paxton (gedreht zu Natalya, Natalya lacht unheimlich): You fucking whore. (Natalya lacht.) You fucking bitch. You fucking bitch! Natalya (lachend): I get a lot of money for you …and that make [sic!] you my bitch. (55:13–55:29)

Die ethnischen Differenzen bleiben zwar noch präsent, aber nur als Signifikant der Lieferumstände der »Ware«, um den Preis zu bestimmen. Die Ökonomie kodiert alle Differenzen wie Klasse, Geschlecht und Ethnizität als Wert, die den Preis des Opfers ausmachen. Als Paxtons Mörder verunglückt, flieht Paxton durch die gesamte Lustmordfabrik bis zum Umkleideraum der Klub-Mitglieder Elite Hunting. Dort findet er die Visitenkarte des Klubs, auf deren Rückseite die Preise für die Opfer aufgelistet sind: Russen kosten 5.000 $, Europäer 10.000 $ und Amerikaner sind mit 25.000 $ am teuersten. Der Lustmord ist hier also ein gekaufter Mord, ein neues Paradigma für den Lustmorddiskurs, der aus dem (Geschlechts-)Rausch und dem lustvollen Zwang zum Töten hervorgegangen ist. Jenseits der Zivilisation herrscht eine Ökonomie in Reinform, mit der Folge, dass die US-amerikanische Zivilisation als die alternativlos beste Gesellschaft konstituiert wird, die dem Subjekt Stabilität und Sicherheit vor der Auflösung durch das gierige und profitorientierte Andere garantiert. Die scheinbare Herstellung der Ordnung im Film, nicht zuletzt durch Konventionen des Unterhaltungskino bedingt, untermauert mit einer affirmativen Geste das Patriarchat23, das heteronormative Subjekt und die kapitalistische US23 Der Film kann auch als eine Rebellion der US-amerikanischen Gesellschaft gegen den (perversen) Vater (Europa), das lustmörderische Mitglied des Elite Hunting-Klubs, ge-

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Gesellschaft, indem das synonym gewordene »Archaische«, Andere, Fremde, Weibliche und Osteuropäische monströs erscheint. Die Probleme mit den Mördern, die aus der ganzen Welt kommen, können durch ihre Eliminierung als Verhinderung ihrer Rückkehr in die »zivilisatorische« Gesellschaft gelöst werden. Die propagierte männliche Identität kann daher durch die Herstellung von »Gerechtigkeit« – Implikation der US-amerikanischen Ideologie – wieder erworben werden: So eignet sich Paxton den amerikanischen Phallus in Form einer Pistole24 an und rächt sich damit an seinen Peinigern. Während der Rückkehr zur »Zivilisation« bringt Paxton insgesamt acht Menschen um. Diese (lust-)mörderische Rückkehr zeigt deutlich, dass die zivilisierte bürgerliche »Normalität« nur über Leichen und massive Gewalt zu erreichen ist. Die Morde werden gerechtfertigt, da sie keine bezahlten Morde und somit auch keine Lustmorde, sondern Vergeltungsmorde sind. Man hat ein höheres Ziel – die Rache und Sicherheit der »Zivilisation« – Paxtons Lust am Töten kann nicht mehr als Lustmord definiert werden. Die Femme fatale wird entsprechend dem Noir-Script abgestraft, das Mitglied »kastriert«. Dem Mörder Joshs schneidet Paxton zwei Finger ab und bringt ihn erst danach um, so dass sich die Szene des Mordes am Mitglied im Spiegel der Szene des Mordes an Josh wiederholt. In dieser »gerechten« US-amerikanischen Zivilisation gibt es allerdings keinen Platz für die Weiblichkeit, die auch durch eine Frau aus dem Osten (Japan) dargestellt wird. Wird im Osten eine phallische Frau (Natalya) präsent, so gehört zur Ökonomie der bürgerlichen Ordnung die Kastration des Weiblichen und ihre darauf folgende Opferung, um die Ordnung zu stabilisieren und die Entwicklung der Handlung zu ermöglichen. Die von Bronfen beschriebene »schöne Leiche« wird auch im Film Hostel zum »Flucht- und Ausgangspunkt der ästhetischen Repräsentationssysteme« (Bronfen 1994: 623). Die Japanerin Kana, die von Paxton gerettet wird, erkennt sich im Spiegel im Bahnhof in der Slowakei als »kastriert«25 (sie hat ein Auge verloren) und begeht Selbstmord.26 Der Selbstmord Kanas ermöglicht Paxton die Flucht aus Osteuropa.

lesen werden. Das Mitglied stammt aus Österreich und nennt sich beim ersten Treffen mit den drei Freunden im Zug am Telefon »Vater«. Jedoch gleichen die Strategien der Rückkehr zur US-Zivilisation – wie Gewalt, Einschränkung des Triebes und Ausschluss des Weiblichen – den Strategien des Patriarchats. 24 Im Film wird die Pistole explizit als amerikanisch definiert. Eines der Mitglieder wirft die Pistole, die Paxton später in Besitz nimmt, im Umkleideraum mit den folgenden Worten in den Waschkorb: »Fuck this, too fucking American, dude. I’m going fucking old school« (1:12:57). Die Pistole erinnert außerdem auch an das typisch amerikanische Genre des Western. 25 In Das Unheimliche entwickelt Sigmund Freud die Theorie des Blicks als phallische Handlung; der Verlust der Augen wird als eine symbolische Kastration interpretiert (1966:227–268). 26 Die Opferung der Frau wird auch in Form einer Wiederholung inszeniert. Paxton hatte Josh ein traumatisches Erlebnis aus der Kindheit erzählt, das ihn bis dato quälte. Als er ein Kind war, hatte er es nicht geschafft, ein Mädchen vor dem Ertrinken zu retten. Diese Szene kann auch als der Verzicht auf die Weiblichkeit in ihm selbst und eine darauf folgende Produktion des schlechten Gewissens (Über-Ich) verstanden werden. Bei der Flucht aus der Slowakei versucht Paxton das traumatische Erlebnis zu korrigieren, indem er die Japanerin Kana aus der Lustmordfabrik rettet. Doch wird die Weiblichkeit wieder geopfert, so dass es wieder um patriarchalische heteronormative Identitätsstruk-

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Kapital(über)fluss: Phallische Szenerie Die Fantasie des »Archaischen« wird durch die Ökonomie aufgebrochen. Die Ökonomie wird zum Schicksal, wie die Verflechtung von Trieb- und ökonomischen Strukturen der Filmnarration zeigt. Dabei macht die Überlagerung von Subjekt- und Ökonomiediskursen zwei Denkfiguren sichtbar, die den phantasmatischen Charakter der Differenzen verdeutlichen. Während der Film die Differenzen durch die ethnische und Geschlechtersemantisierung wie Westen und Osten, männlich und weiblich, Zivilisation und Primitivität konstituiert, werden sie durch die phallische Ökonomie des Subjektdiskurses im Sinne Lacans und durch den kapitalistischen Globalisierungsdiskurs im Sinne des Kolonialdiskurses Bhabhas unterwandert. Beide führen das Phantasma der Differenzen vor, zumal auch Bhabha seine Argumentation auf Lacansche Spekularen und das Freudsche Unheimliche stützt. Das Geld bzw. das Kapital, so die These, werden zum Ausdruck des phallischen Begehrens, da das Geld den Zugang zum Objekt des Begehrens sowie den Zugang zum Unbewussten ermöglicht. Der Film Hostel demonstriert den phallischen Geldüberfluss: Alle Männerfiguren, Täter und Opfer, besitzen Geld. So versucht Josh sich freizukaufen: »I have money. I’ll fucking pay you. Ten times, two times, whatever you want.« (43:34) Es geht um Geld(über)fluss, der nach Osten fließt und den Osten durchdringt. Noch unwissend fragt Paxton eines der Mitglieder von Elite Hunting, was in der Fabrik sei. Das Mitglied, gespielt vom japanischen Kultregisseur Takashi Miike, antwortet ihm: »Be careful! […] You could spend all your money (er zeigt Richtung Lustmordfabrik) in there.« (52:25–52:38) Was kaufen die Männer? Drogen, Frauen und letztendlich die Lustmorde. Geldfluss ist mit Befriedigung verbunden. Der Kaufprozess wird zu einer sexuell aufgeladenen Aktion, da er in Hostel wortwörtlich zur Befriedigung des Begehrens führt. Objekt des Begehrens und Ware sind im Film Synonyme. Nur das kann ein Objekt des Begehrens sein, was bezahlt wird. Die Differenzen liegen also nicht nur zwischen der westlichen US-Kultur und Osteuropa, sondern eher zwischen den Ländern des entwickelten Kapitalismus und Ländern der ›Dritten Welt‹, die die Slowakei im Film Hostel verkörpert. Die reichen Kunden sind allesamt internationaler Herkunft, wodurch der Kapitalismus nicht nur traditionsreich männlich kodiert ist (Gibson-Graham 1997), sondern auch die ethnischen Differenzen auflöst. In Bezug auf die Geschlechterökonomie erscheint die Interaktion zwischen dem männlich kodierten entwickelten Kapitalismus und der weiblichen »archaischen« Gesellschaft als Lacansche Ökonomie des Phallus (Lacan 1975: 119–132). Die Männer bzw. der entwickelte Kapitalismus befinden sich nach Lacan in der Position derjenigen, die den »Phallus« bzw. das Geld/Kapital »haben«. Das Andere, das Weibliche und der Osten sind in der paradoxen Position des »Phallus« zu »sein«. Das erste, was die drei Freunde aus einem Taxi heraus in der Slowakei sehen, ist eine Fabrik mit einem phalturen geht. Paxton besitzt vom Anfang an eine heterosexuelle Identität ohne Abweichung.

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lischen Schornstein, der der Signifikant einer intakten Wirtschaft ist. Der Taxifahrer erklärt, dass die Fabrik Plastik für die ganze Slowakei produziere. Die Position »Phallus sein« ist nach Lacan eine Maskerade, die es dem weiblichen Anderen ermöglicht, das Fehlen des Phallus (des Kapitals) zu maskieren: Die Fabrik entpuppt sich als eine Lustmordfabrik. Die Fabrik produziert nichts, sondern zerstört. Die Fabrikhalle als Freudsches Symbol für Weiblichkeit27 steht in Ruinen und versinnbildlicht ein untergegangenes sozialistisches Wirtschaftssystem Osteuropas. Der Osten sehnt sich nach der Erfüllung mit dem fehlenden Phallus bzw. Kapital. Aus diesem Grund ist in Osteuropa alles erhältlich, jedoch nur gegen Geld. Das Mitglied von Elite Hunting erklärt den drei Freunden im Zug: »Slovakia! (lacht viel versprechend) You will like it. Casino, girls. You can pay to do anything. Anything.« (13:35–13:50) Schon in dieser phallischen Konstellation erscheint Osteuropa als das Objekt und zugleich als Signifikant des männlichen Kapitalismus, der sein lustmörderisches Begehren in einem ökonomischen Nachfrage-Angebot freilegt. Der »Phallus sein« heißt nach Butler (2003: 75) »das Objekt, der/die Andere eines (heterosexualisierten) männlichen Begehrens zu sein und zugleich dieses Begehren zu repräsentieren und zu reflektieren.« Der Film unterläuft weiterhin die Differenzen durch die metonymische Verschiebung im Sinne Bhabhas (2000), indem er mit dem Kapitalfluss einen Globalisierungsdiskurs einschreibt. Der Globalisierungsdiskurs wird sichtbar durch die Strategien der Vitalisierung des Kapitalismus, der wortwörtlich Osteuropa penetriert, und die Diffamierung des nicht-kapitalistischen Systems als Verfall und Tod.28 Nicht zufällig stellt der Film eine Kohärenz von Weiblichkeit und Osten her, eine traditionsreiche Verbindung von Weiblichkeit und Tod. Jedoch stellt sich Osteuropa nicht als radikal Anderes dem westlichen Kapitalismus gegenüber dar, sondern als im Prozess der Kapitalisierung befindlich. Osteuropa wird im Zusammenhang mit der Struktur des Un-Heimlichen und imaginären Spiegels zu keinem Gegenpol, sondern zu einer Doppelung des kapitalistischen Systems. Der Globalisierungsdiskurs ähnelt im Film Hostel den Strategien des Kolonialdiskurses, die das Andere als Figuren einer Verdoppelung und als »Teil-Objekte« (Bhabha) einer Metonymie eines kapitalistischen Begehrens produzieren. Das (weibliche) »wilde« Andere eignet sich einen Teil der Machtstrukturen des westlichen Kapitalismus an, aber nicht vollständig. Die Differenzen dürfen nicht aufgehoben werden. So erscheint der Kapitalismus im Osten in einer »partiellen Präsenz«, die nach Bhabha die Basis der Mimikry bildet: Was die Mimikry ausmacht, ist nach Bhabha »fast dasselbe, aber nicht ganz« (Bhabha 2000: 132). Dieser Identifikations- und Distanzierungsprozess zwischen den kapitalistischen und nicht-kapitalistischen Systemen ermöglicht die partielle Überein27 Im Traum stehen laut Freud die Räume, Zimmer, Häuser, Büchsen, Gefäße usw. symbolisch für weibliche Genitalien. (Freud 1969: 79–246) 28 Wie Gibson-Graham zeigen, stellen viele Diskurse den Kapitalismus als eine allesdurchdringende Wirtschaftsform dar: »All forms of noncapitalism become damaged, violated, fallen, subordinated to capitalism« (1997:125). Jedoch machen die Autoren deutlich, dass der Kapitalismus nicht nur untotalitär ist, sondern auch neue hybride Wirtschaftsformen entstehen lässt.

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stimmung und gleichzeitig die Subversion der herrschenden Ordnung: Das partiell angeeignete kapitalistische Begehren produziert die Vision der Präsenz des Kapitalismus zum Teil und ironisiert dadurch seine autoritären Strukturen. Die Imitation des westlichen kapitalistischen Systems verzerrt es zur Karikatur. Der Osten wird zur Vision des wirtschaftlichen Marktes, der keine Grenze im Handeln und bei den Angeboten aufweist. Dadurch manifestiert der Osten nicht das Andere des Kapitalismus, sondern mit Bhabha gesprochen die Andersheit des kapitalistischen Selbst (Bhabha 2000: 65), da Osteuropa als Spiegel, als Verdoppellung und Imitat des westlichen Kapitalismus erscheint. Durch den Globalisierungsdiskurs reflektiert der »wilde« Kapitalismus nicht nur das lustmörderische Begehren des Kapitalismus, sondern der Osten erscheint als ein Produkt des kapitalistischen Systems. Zwar versucht der Film den Kapitalismus als einzig mögliche zivilisatorische Gesellschaftsformation zu bestimmen, dennoch funktioniert der Kapitalismus nur aufgrund einer totalen Zerstörung, dem Lustmord, der zur abstrakt gewordenen fetischisierten Kapitalakkumulation den Ausgleich schafft. Lustmord als Luxus Hostel thematisiert die aktuellen Diskurse in Bezug auf Ökonomie und Begehren. Der Film schreibt den Globalisierungsdiskurs und die Expansion des Kapitalismus, Kapital(-über-)fluss und Fetischisierung und Sexualisierung der Konsumption ein. Mehr noch: Der Film macht auf verschiedenen Ebenen eine tiefgreifende konstitutive Verquickung von Begehren und Ökonomie deutlich. In der Zeit des Kapital- und Geld(-über-)flusses bringt erst der Kaufakt das männliche Subjekt und sein Anderes hervor. Die Akkumulation- und Konsumgier produzieren in Analogie zu Lacans Signifikationsprozess den Mangel an Sein, der nur durch den Lustmord zu stabilisieren ist. Die kapitalistische Kultur entsteht nicht durch die nach Freud notwendige Sublimierung der Triebe, sondern durch ihre Zerstörung, die die Konsumption versinnbildlicht. Der Lustmord wird daher zum Ausgleich des stetig wachsenden Kapitalüberflusses, gleichzeitig aber zum einzigen Luxus, der im Überfluss ausgelebt werden kann. Der Überfluss entpuppt sich hier paradoxerweise als eine Mangelerfahrung. Aus dieser konstitutiven Verquickung von zerstörerischem Begehren und Ökonomie lässt sich schließen, dass die Diskurse über Lustmord und Luxus im Film Hostel einander überlagern, indem typische Repräsentationsmerkmale aufeinander übertragen werden. Der Name des Klubs Elite Hunting vergegenwärtigt diese Verzahnung zwischen Luxus als etwas Elitärem und Lustmord (Hunting) als etwas »Archaischem«. Offenbart der Lustmorddiskurs männliche »archaische«, »unzivilisierte« und »unkontrollierte« Triebe, so wird der triebhafte Körperdiskurs hier zu einem Teil des Luxusdiskurses transformiert. Luxus besteht darin, »Urtriebe« auszuleben, indem man andere Menschen töten »darf«. Luxus heißt also »unzivilisiert« zu sein. Man leistet sich »archaische Triebe«, die die Gesellschaft als Wert kodiert. Der Luxusdiskurs definiert wiederum den Lustmord neu: Der gekaufte Mord wird zum Lustmord.

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Da der Globalisierungsdiskurs Strategien des Kolonialdiskurses aufweist, sind auch Übereinstimmungen mit den lustmörderischen Fantasien zu finden. In Analogie zur Kolonialliteratur des 19. Jahrhunderts ist Luxus im Globalisierungsdiskurs ohne Lustmord undenkbar. Der Lustmord wird also zum Ausdruck des Begehrens des Herrscherdiskurses, der die Macht manifestieren soll. Darüber hinaus steht der herrschende kapitalistische Diskurs als Gesetzesinstanz außerhalb des eigenen Gesetzes, so dass der Lustmord diesen anomischen Raum zum Ausdruck bringt. Im Vergleich zu den früheren Filmen mit der Luxus-LustmordVerbindung lässt sich im Übrigen eine Profanierung des Luxus feststellen. Gehört Luxus Anfang der 1990er Jahre wie in Basic Instinct oder American Psycho (sowohl im Film als auch im Buch) oder 8mm – Acht Millimeter zu einem unzugänglichen, unerreichbaren Wunschraum, so ist Luxus in Hostel für die Mittelschicht verfügbar geworden, indem Lustmord zu einer für sie bezahlbaren Ware wird. Im Film Basic Instinct und im Roman American Psycho liegt dem Lustmord ein sagenhaftes Vermögen zugrunde. In 8 mm – Acht Millimeter kostet der Lustmord eine Million US-Dollar. Der Luxus wird profaniert, der Lustmord dadurch propagiert. Die Lustmord-Luxus-Verbindung löst zwar die geschlechtsspezifischen Differenzen auf, gleichzeitig produziert sie aber andere Binaritäten, da es möglich ist, alle Lustmordkonstellationen in der Sprache der Ökonomie auszudrücken. Der Täter verschmilzt mit dem Käufer, das Opfer mit der Ware. Die ethnischen Differenzen bleiben auf eine perverse Weise in Form der Opferpreise erhalten. Ethnizität wird in die ökonomische Welthierarchie spiegelverkehrt übersetzt. Gleichzeitig macht der Film deutlich, dass die Überschreitung der Differenzen nicht nur eine massive Gewalt benötigt, sondern auch als Luxus definiert wird. Luxus definiert nicht mehr den sozialen Status, sondern eher seinen Wechsel in den starren westlichen Machtstrukturen. Offensichtlich produzieren die Globalisierung und die Kapitalisierung eine Differenzirritation, die eine radikale Abwehr in den kulturellen Repräsentationen aufweist, wie die Gleichsetzung Luxus mit Lustmord zeigt.

Fazit Anhand der Analyse lässt sich zusammenfassen, dass sich die LuxusLustmord-Verbindung in Hostel nicht mehr als ein anomaler und einmaliger Exzess wie in den Filmen aus den 1990er Jahren darstellt, sondern grundsätzlich durch die konstitutive Verquickung von kapitalistischer Ökonomie und (destruktivem) Begehren zum produktionsähnlichen regelmäßigen Phänomen in Analogie zum Fließband begründet wird. Der Film Hostel greift zwar die Fantasien des »Archaischen« auf, legt sie aber selbst als Ökonomie frei. Dabei wird die Expansion des Kapitalismus ambivalent dargestellt, so dass der Film einerseits den Kapitalismus als eine destruktive Totalität auffasst. Die Ökonomie ist ubiquitär und allmächtig, ihre konstitutive Kehrseite ist eine totale lustmörderische Zerstörung. Andererseits kann der Film als Abwehr gegen die Differenzirritation gelesen werden. Der Kapitalismus lockert das

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starre Machtgebäude der Binaritäten auf und lässt neue Ordnungen entstehen, indem der Zugang zur Macht nicht mehr klassen-, geschlechtsspezifisch oder ethnisch organisiert wird. Mit der Globalisierung gehen neue Liberalisierungstendenzen einher (Gibson-Graham 1997), gegen die sich Hostel verwehrt, indem er die durch die Ökonomie bedingte Auflösung der Differenzen in Verbindung mit dem Lustmord setzt. Die Luxus-Lustmord-Kombination modifiziert beide Diskurse. Luxus als ein zivilisatorisches Zeichen für Überflüssiges wird durch den Lustmord zum Paradoxon: Die Errungenschaft der westlichen Kultur ist der Lustmord. Luxus kündigt wiederum die Fantasien der nicht eingedämmten »Urtriebe« im Lustmord auf. Der Lustmord wird durch den Luxus zum kulturellen Konsumprodukt.

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VERAUSGABUNG UND SOUVERÄNITÄT. DIE PERFORMANCE LIGHT/DARK VON MARINA ABRAMOVIĆ UND ULAY VIOLA VAHRSON Die Verausgabung ist ein spezifisches Merkmal der Aktionskunst der 60er und 70er Jahre. Eines ihrer wesentlichen Elemente ist die Zerstörung (vgl. Hoffmann 1995). Gegenstände, Einrichtungen sowie ganze Häuser werden demoliert, zerschlagen und zerschnitten. Der Körper wird ähnlichen Belastungen und Torturen ausgesetzt. 1971 steigt Gina Pane in der Arbeit Escalade non-anesthésiée barfuß auf eine mit scharfen Klingen versehene Leiter, Günter Brus schneidet sich in der Performance Zerreißprobe 1970 mit einer Rasierklinge die Kopfhaut auf, Chris Burden lässt sich 1971 vor laufender Kamera mit einem Gewähr in den Oberarm schießen und Marina Abramović händigt 1974 in der Performance Rhythm 0 dem Publikum unter einer Reihe von Gegenständen, die zur Behandlung ihres Körpers eingesetzt werden sollen, eine geladene Schusswaffe aus. Viele der Künstler gehen Risiken im Hinblick auf physische und auch psychische Verletzungen ein und beziehen in Ausnahmefällen sogar die Möglichkeit des Todes mit in ihre Arbeiten ein. Der Aspekt der Tötung war auch für Marina Abramović in ihren frühen Performances von Bedeutung: »Ich glaubte immer, dass die Kunst eine Frage zwischen Leben und Tod sei, und einige meiner Performances schlossen die Möglichkeit des Sterbens durchaus ein.« (Zitiert nach Thomas McEvilley 1998: 15.) In der allgemeinen Forschungsliteratur werden diese extremen Anstrengungen, der verschwenderische Einsatz von Energien und Kräften, als massiver Protest gegen gesellschaftliche Gegebenheiten gedeutet. Verausgabung, Zerstörung und Verzehrung seien in dieser Zeit demonstrativ gegen Wohlstand, Erhalt und Konsum eingesetzt worden. Entsprechend werden die künstlerischen Arbeiten wesentlich als Protest gegen eine restriktive Gesellschaft gewertet, die Normabweichung mit Sanktionen beantworte. Negation sei in diesem Konflikt das Mittel der Kunst, in dem der Körper als Material und Medium diene. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Zerstörung in der Aktionskunst der 60er und 70er Jahre allein der Gesellschaftskritik dient, oder ob es Tendenzen gibt, die über den demonstrativen Widerstand hinausreichen, der letztlich an die gesellschaftliche Rangfolge gebunden bleiben muss. Ist es möglich Aggression und Gewalt auszudrücken und zugleich eine souveräne Position einzunehmen, die über die Zerstörung hinausweist? Dies würde nicht nur weitere Bedeutungsfelder öffnen, sondern auch begründen,

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weshalb einige Werke über ihren zeitgenössischen Kontext hinaus aktuell geblieben sind und auch heute noch die gleiche Sprengkraft besitzen. Anhand der Performance Light/Dark von Marina Abramović und Ulay (Uwe Laysiepen), die im Oktober 1977 auf dem Internationalen Kunstmarkt in Köln, als Teil eines Performance-Programms aufgeführt wurde, soll dieser Möglichkeit nachgegangen werden. (Abb. 1) Die Dauer betrug 20 Minuten. 1978 wurde die Performance in Amsterdam noch einmal durchgeführt, und zwar ausschließlich für die Videoaufzeichnung. Diese Wiederholung bildet eine Ausnahme, insofern es zu den von Abramović und Ulay für das Relation Work1 aufgestellen Regeln gehört, keine Arbeit zu wiederholen. Das Video wurde eingesetzt, um einmalige Performances aufzuzeichnen, und immer in dem Bewusstsein, dass es der Live-Performance nicht entsprechen kann. Es ist weder in der Lage den sozialen und historischen Kontext, noch die spezifische Stimmung, die während der Performance vorherrscht, wiederzugeben. Abramović äußert dazu: »When we are confronted with the video, photographs, there is always something missing, no documentation can give you the feeling of what it was, because it cannot be described, it is so direct, in the documentation, the intensity is missing, the feelings that were there.« (Zitiert nach Grundmann 1978: 759.) Während ein Betrachter, der die Performance direkt miterlebt, zu einem Teil von ihr wird, separiert das Medium Video ihn zwangsläufig von der Aktion. Seine Reaktionen fallen von daher in der Regel distanzierter aus, ein direktes Eingreifen ist nicht möglich. Somit stellt sich der Betrachter einer Videodokumentation weder die Frage nach möglichen Konsequenzen der Handlung noch nach seiner Verantwortung gegenüber den handelnden Personen.2 Eine weitere Einschränkung besteht in der Dauer der Videoaufzeichnung von Light/Dark. Die Life Performance dauerte 20 Minuten, die Videoaufzeichnung hat jedoch nur eine Länge von 6 Minuten 20 Sekunden. Die ersten ca. fünfeinhalb Minuten geben den Anfang der Performance wieder bis es zu einem Schnitt kommt. In der Restzeit von etwas mehr als einer Minute wird das Ende der Performance gezeigt. Eine Abweichung gegenüber der Performance besteht auch in der Wahl des Ausschnitts, den die Kamera vorgibt. In Light/Dark scheint die Kamera zwar zunächst eine neutrale Position zu beziehen, doch fokussiert sie das Gesicht von Abramović stärker als das von Ulay, insofern die Schläge, die Abramović erhält direkt zu sehen sind, da ihre betroffene Gesichtshälfte der Kamera zugewandt ist. Die Schläge denen Ulay ausgesetzt ist werden dagegen durch sein eigenes Gesicht verdeckt. Zu Beginn der Performance wird eine sprachlich klar und präzise formulierte Beschreibung des folgenden Handlungsablauf vorgetragen, die sich mit jeder Performance ändert. Bei den Videoaufzeich-

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Die künstlerische Zusammenarbeit von Marina Abramović und Ulay umfasst den Zeitraum von 1976–1988. In dieser Zeit entsteht das Relation Work. In zahlreichen Performances setzt sich das Künstlerpaar Extremsituationen aus, um die Grenzen physischer und psychischer Belastbarkeit zu erproben. In der Arbeit Einschnitt von Ulay und Abramović griff ein Mann aus dem Publikum direkt in die Performance ein, indem er Abramović mit einem kräftigen Sprung zu Boden riss.

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nungen wird sie von Abromvic oder Ulay vor dem Beginn der Performance gesprochen. In Light/Dark heißt es: We kneel, face to face. Our Faces are lit by two strong lamps. Alternately, we slap each other’s faces until one of us stops. (Abramović 1993: 160)

Der mit klarer, nüchterner Stimme beschriebene Ablauf, scheint ein spontanes, willkürliches, d.h. unvorhersehbares Handeln auszuschließen. Die Nüchternheit der vorab deklamierten Handlungsstruktur schränkt den Assoziationsspielraum auf das Äußerste ein. Die präzise Benennung des Aufbaus sowie des Ablaufs lassen den Eindruck entstehen, es handele sich bei der folgenden Performance um ein sachliches Experiment, dessen Bedeutung allein in der mechanischen Ausführung der Schläge liegt. Die gesamte Inszenierung konzentriert sich auf die beiden Körper, die durch die Lichtverhältnisse – ihre starke Beleuchtung, im Kontrast zum dunklen Hintergrund – betont werden. Durch ihre symmetrische Ausrichtung werden die beiden Performer als Einheit wahrgenommen. Die sich stark ähnelnde schlichte Kleidung (helle Hose, weißes T-Shirt) verstärkt diesen Eindruck. Fast erscheinen die beiden Künstler wie Doppelgänger. Zugleich aber wirken sie voneinander separiert. Das Blickverhältnis spielt diesbezüglich eine wichtige Rolle. Ulay und Abramović schauen sich mit einem konzentrierten, beinahe starren Blick, während der gesamten Dauer der Performance direkt ins Gesicht. Doch handelt es sich weniger um ein Anblicken als vielmehr um ein sich im Blick haben. Der Blick scheint als Kontrollinstrument zu dienen. Er ermöglicht eine permanente gegenseitige Rückversicherung, dass keine Entgrenzung stattfindet. Insofern bewirkt der gegenseitige Blickkontakt eine Stabilisierung der Handlung. Die Aktion wird mit einer enormen Konzentration und Disziplin durchgeführt. Haltung und Ablauf – es ließe sich auch von Komposition sprechen – wirken trotz der Bewegung zunächst ausgesprochen statisch. Ein Schlag in das Gesicht des Partners folgt dem anderen in geradezu stoischer Ruhe. Das gegenseitige Schlagen findet ohne jegliche Emotionalität statt. Die Mimik und Gestik ist absolut kontrolliert. Die im Verlauf der Aktion immer schneller und kräftiger ausgetauschten Schläge, sind durch die Affektkontrolle semantisch entleert, das Ausdruckspotenzial des Blicks ist suspendiert. Keine Wut, kein Ärger, keine Angst, kein mimischer Ausdruck des Schmerzes beeinflusst die Handlung. Selbst das Vertrauen, dass zwischen Abramović und Ulay bestehen muss, um die Performance mit derartiger Stringenz durchzuführen, ist äußerlich nicht erkennbar. Entscheidend ist, dass die Wiederholung die gewöhnliche Bedeutung, die die Berührung des anderen verursacht, völlig verändert. Wiederholung und Affektkontrolle verleugnen den Schmerz und die Demütigung, die mit dem Schlag ins Gesicht gewöhnlich verbunden sind. Diese Entleerung, gepaart mit der physischen Anstrengung, steigert die Präsenz der beiden Künstler, betont das objekthafte der Handlung sowie der Körper, aber auch deren Brutalität.

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Abb. 1: Marina Abramović & Ulay Light/Dark

Quelle: Abramović 1993. Der Betrachter bewegt sich in einem Spannungsgefüge aus Faszination, Verunsicherung und Ablehnung. Die Wahrnehmung der schlagenden und geschlagenen Körper lässt sich nur schwer von der Vorstellung physischer Verletzung trennen. Die Ohrfeigen, die sich die beiden Künstler gegenseitig verabreichen, werden unweigerlich als eine aggressive und destruktive Handlungsform empfunden und mit Gewalt konnotiert. Das Ausmaß des Schmerzes wird nicht kommuniziert, eine Gewissheit über dessen Intensität fehlt. Der Betrachter sieht die Schläge der beiden Künstler. Aufgrund der fehlenden Affektäußerungen muss er sich den Schmerz jedoch selbst imaginieren. Gewöhnlich ist der Schmerz ein Signal, seine Ursache zu erkennen und ihn nach Möglichkeit abzuwenden. Im Kontext der Performance wird das Publikum allerdings an dieser natürlichen Reaktion gehindert. Der Impuls zur Verhinderung der Schmerzzufügung muss unterdrückt werden, da ansonsten die Performance gestört, wenn nicht gar zerstört würde. Ungewollt wird der Betrachter zum Komplizen der Gewalt. In der Folge stellt sich ein Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht ein, dass durch die spezifische Situation, in der sich der Betrachter weiß, wiederum relativiert wird. Betroffenheit oder gar Mitleid erweisen sich vor diesem komplexen Hintergrund als inadäquate Empfindungen. Der klare, fast schneidende Klang der Schläge verstärkt den visuellen Eindruck des Schmerzes. In der Videodokumentation ist er für den Betrachter Orientierung und Kontrolle, da durch die Schwarzweiß-Aufnahme und die starke Beleuchtung die Sichtbarkeit der Aktion eingeschränkt ist. Überraschend und zugleich erschreckend ist, dass die Schläge nicht zur Distanzierung und Trennung der beiden Personen führen, sondern auf fast unheimliche

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Weise ihre Einheit bewirken. Zu Anfang erfolgen die Schläge, die Abramović und Ulay ausführen, noch als vereinzelte Gesten. Doch nach wenigen Minuten stellt sich ein Rhythmus ein: Ulay schlägt und führt seine Hand hörbar auf den Oberschenkel zurück. In direktem Anschluß schlägt Abramović und führt auch ihre Hand vernehmlich auf den Oberschenkel. Es folgt eine kurze fast unmerkliche Pause, worauf hin der Vierer-Rhythmus von neuem beginnt. Die rhythmischen Wiederholungen fügen sich zu einem Ritornell, einer kleinen sich wiederholenden Melodie, die stabilisierend wirkt und eine gewisse Kontrolle suggeriert. Deleuze und Guattari schreiben in ihrer Abhandlung über das Ritornell: Ein Kind, das im Dunklen Angst bekommt, beruhigt sich, indem es singt. Im Einklang mit seinem Lied geht es weiter oder bleibt stehen. Hat es sich verlaufen, versteckt es sich, so gut es geht, hinter dem Lied, oder versucht, sich recht und schlecht an seinem kleinen Lied zu orientieren. Dieses Lied ist so etwas wie der erste Ansatz für ein stabiles und ruhiges, für ein stabilisierendes und beruhigendes Zentrum mitten im Chaos. Es kann sein, dass das Kind springt, während es singt, dass es schneller oder langsamer läuft; aber das Lied selber ist bereits ein Sprung: es springt aus dem Chaos zu einem Beginn von Ordnung im Chaos, und es läuft jeder Zeit Gefahr zu zerfallen. (Deleuze & Guattari 2002: 424)

Es ist offensichtlich, dass auch in der Performance Light/Dark das Ritornell, die Melodie der Schläge, so paradox es anmuten mag, Ausdruck einer Ordnung im Chaos ist. Gewöhnlich zerstört der Schmerz die Einheit, er führt sogar zu einer partiellen Selbstauflösung. Der Verlust der Kontrolle und der Beherrschung sind Anzeichen dieser partiellen Selbstauflösung. Dagegen setzen Abramović und Ulay die rhythmische Wiederholung. Das Ritornell bleibt so lange erhalten bis Ulay und Abramović an einen Punkt gelangen, an dem ihre Handlung keiner Stabilisierung mehr bedarf. Im Verlauf der Performance werden die Schläge immer schneller und härter, der klangliche Rhythmus verliert sich in der schnellen Abfolge der Bewegungen, die Körperhaltung gibt ihre statische Haltung auf. Mit der Intensität der Schläge treiben sich die beiden Künstler in die Verausgabung hinein, machen der expressiven Kraftäußerung Platz. In dieser Situation der äußersten Anstrengung und Spannung kann vom »Zurückweichen oder Zuweitgehen keine Rede« sein (Bataille 1978: 55). In der Überschreitung bejahen Abramović und Ulay die totale Verschwendung der Kräfte und öffnen sich dem Chaos. Der Schmerz, der durch die Wiederholung der Schläge immer und immer wieder erneuert und verstärkt wird, wird nicht bloß dargestellt, sondern real erlitten. Er bleibt stets präsent, doch erreicht die Affektkontrolle, dass er nicht in den Vordergrund tritt. Der Schmerz ist die Folie der Arbeit, aber nicht ihr unmittelbarer Ausdruck. Marina Abramović äußert dazu: »We were hurting each other, but pain was not the issue, it was a side effect. […] We wanted to say symbolic things via the body. We used the bodies as structural materials. That was the main goal. Pain was just an element.« (Zitiert nach Kokke 1997: 119–120.) Die Präsenz des Schmerzes veranschaulicht, dass die Wiederholung der Schläge keine bloße mechanische Handlung ist, sondern die reale

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Bewegung des Einzelnen. Jede Wiederholung erfordert eine bewusste Entscheidung – weiter zu machen oder aufzuhören – und gerade diese Wahl ist zentral für die Arbeit. Die Entschlusskraft ist die Voraussetzung zur Verausgabung, sie setzt die Arbeit in Bewegung. Ihre Grenzen sind nicht verhandelbar, sondern können nur selbst erfahren und ausgelotet werden. Die Bereitschaft zur Verschwendung, zur Aggression und Expression markiert den Überschwang des Lebens. Überraschend ist das Ende: Eine flüchtige Geste, die dem Gegenüber die Erschöpfung und den Abbruch anzeigt. Sofort finden die Körper in ihre Ausgangshaltung zurück und beruhigen sich. Erstaunlicheweise unterliegt hier selbst die Erschöpfung der Kontrolle. Garcia Düttmann (2004: 30) weist darauf hin, dass erst durch den Abbruch der Übertreibung die Betrachtung genau wird »und die Konkretion an die Abstraktion rührt«. In diesem Sinne geht es im Folgenden darum, den symbolischen Wert der Performance herauszuarbeiten. Mit der gegenseitigen Zufügung von Schmerzen und der Verausgabung ihrer Kräfte haben Abramović und Ulay eine Grenze überschritten. Doch zugleich ziehen sie mit dem erstaunlich ruhigen, kontrollierten Ende eine Grenze in der Überschreitung. Die Überschreitung hält die Disziplin der vorab gesetzten Anweisungen bei. Zu Beginn des Texts war von den bündigen Angaben die Rede, die Abramović und Ulay ihrer Performance voranstellen. Sie sagen lediglich aus, dass die Künstler einander kniend gegenüber sitzen, ihre Gesichter von starkem Licht angeleuchtet sind und dass beide einander so lange ins Gesicht schlagen, bis einer von ihnen aufhört. Was zu Beginn der Performance wie eine sachliche Beschreibung des Handlungsverlaufs klang, wird nun als Regel erkennbar, die mit weiteren allgemeinen Regeln, die Abramović und Ulay in Hinblick auf das gesamte Relation Work aufgestellt haben, korrespondiert. Dazu zählen: Kein voraussehbares Ende, große Verletzlichkeit, dem Zufall-Ausgesetzt-Sein und kein Üben. In der Performance von Ulay und Abramović sind demnach Regeln und Überschreitung aufs Engste miteinander verwoben. Die beiden Performer stellen Regeln auf, um Regeln zu brechen, sie führen Grenzen ein, um Grenzen zu überschreiten, um sich dem Chaos zu öffnen und die ›Gewalt‹ zu entfesseln. Und doch gibt es ein Ende, gibt es eine Grenze, die vom Gegenüber durch einen stillen Rückzug angezeigt wird und durch das Einstellen des Schlages beantwortet wird. Die Alternanz von Ordnung und Chaos, Regel und Überschreitung ist ein wesentlicher Aspekt der Konzeption des Relation Work. Mit der freiwilligen Verletzung, der Akzeptanz und Überwindung des Schmerzes überschreiten die Künstler die gewöhnliche Verhaltensstruktur, der auch sie im alltäglichen Leben folgen. Üblicherweise birgt die hemmungslose Verausgabung eine große Faszination für den anderen, da sie über die begrenzten körperlichen Ressourcen hinausgeht und das scheinbar Unmögliche durch eine willentliche Entscheidung möglich macht. Sie zeugt von der geistigen Stärke einer Person, die sich den eigenen physischen Schwächen widersetzt. Indem sich jemand sich selbst gegenüber schonungslos verhält, zeigt dies den Außenstehenden die Disziplin

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beziehungsweise die Willensstärke, Grenzen zu ignorieren. Das Verhalten zeugt von einer körperlichen Beherrschung und geistigen Autonomie, die sich nicht von äußeren Bedingungen beeinflussen lässt, weder von natürlichen Gegebenheiten, noch von gesellschaftlichen Konventionen. Gewöhnlich folgt die expressive Verausgabung einem klaren Ziel: Sieg in einem Wettkampf, Anerkennung oder Zuwachs von Macht und Einfluss. Abramović und Ulay verweigern in ihrer Performance dem Betrachter jedoch derartige Deutungen. Die Verausgabung in Light/Dark lässt kein zweckdienliches Ziel erkennen. Sie widersetzt sich dem herkömmlichen Verständnis gesellschaftlicher Nutzbarkeit und umgeht die üblichen Werte und Maßstäbe. Ein Vergleich mit einem Beispiel, in dem die Verausgabung konventionellen Zielen folgt, veranschaulicht die spezifische Bedeutung von Light/Dark. Auf eindrückliche Weise hat David Lean 1962 in dem Film Lawrence von Arabien das Thema der Verausgabung im Kontext einer Episode der Kolonialpolitik während des Ersten Weltkriegs behandelt. Der Film basiert auf dem ausführlichen Bericht des Geheimagenten Thomas Edward Lawrence über die Unabhängigkeitsbewegung der Araber gegen das Osmanische Reich.1 Der Film bindet in freier Bearbeitung die Legende Lawrence von Arabien in den historischen Kontext ein. Peter O’Toole spielt in diesem Film die Rolle des Lawrence, eine schillernde, beeindruckende Persönlichkeit, zu der niemand, das macht der Film gleich zu Beginn deutlich, eine direkte Beziehung pflegt, der auch seinem näheren Umfeld fremd bleibt. Lawrence dem Einzelgänger, dem ›Fremden‹ gelingt es, die Araber gegen die Osmanen in den Krieg zu führen. Abb. 2: Lawrence von Arabien

Columbia Film 1962. Sony Pictures Home Entertainment 2002. Um seinen ersten Sieg zu erringen, trotzt er den Mächten der Natur und durchquert die Wüste Wadi Rum, was selbst die Beduinen für äußerst riskant 3

Der Bericht wurde 1926 unter dem Titel The Seven Pillars of Wisdom (dt. Die sieben Säulen der Weisheit) veröffentlicht.

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halten. Aufgrund seiner Tollkühnheit und der Bereitschaft zur vollkommenen körperlichen Verausgabung gelingt es ihm, mit einem Heer von 50 Mann das unfruchtbare, lebensfeindliche Ödland zu überwinden und gemeinsam mit einigen lokalen Stämmen Akaba einzunehmen. Die Schlüsselszene, die die Triebkraft seiner waghalsigen Pläne beleuchtet, ereignet sich bereits zu Anfang des Films. Lawrence hält sich zusammen mit einem Mitstreiter in einem Militärbüro in Kairo auf. Ein weiterer Kamerad kommt hinzu und bringt Lawrence die Zeitung. Dieser bietet ihm eine Zigarette seines Kollegen an und entzündet sie mit einem Streichholz. Demonstrativ streckt Lawrence seinen Arm aus, um die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich zu lenken. Mit leicht drehenden Bewegungen zieht er das Zündholz langsam zwischen Daumen und Zeigefinger, bis die Flamme erlischt (Abb. 2). Seine Vorführung wird skeptisch beäugt und von seinem Kollegen ironisch kommentiert: »Sie muten sich zuviel zu, Sie sind auch nur aus Fleisch und Blut.« Lawrence reagiert auf diese Äußerung mit Süffisanz. Der Zeitungsbringer, der Lawrence kurz zuvor noch für verrückt erklärt hat, nimmt ebenfalls ein Streichholz und versucht, die entzündete Flamme in gleicher Weise zu löschen, doch gelingt es ihm nicht ohne den Aufschrei: »Au, tut ja verflucht weh.« Lawrence erwidert lakonisch: »Natürlich tut es weh.« Nun will der junge Mann wissen, was der Trick an der Sache ist. Lawrence teilt ihm beim Verlassen des Büros mit: »Der Trick, William Potter ist, sich nichts aus dem Schmerz zu machen.« Worauf hin dieser ein weiteres Mal erwidert, Lawrence sei übergeschnappt. In der folgenden Szene verletzt Lawrence im Offizierskasino nicht nur eine militärische Vorschrift, indem er demonstrativ seine Mütze aufbehält, sondern auch Konventionen. Gewaltsam greift er in ein kaum begonnenes Billardspiel ein. In strengem Ton zurechtgewiesen und als Clown bezeichnet, stolpert er rückwärts über einen Tisch und beschmutzt dabei die Uniform eines weiteren Offiziers. In dieser beiläufig erscheinenden Anfangsszene wird das gesamte Thema des Films eröffnet und zusammengefasst. Lawrence hält sich weder an Regeln noch an Konventionen, er ignoriert den Anstand, trotzt dem Schmerz und demonstriert damit seine Unabhängigkeit gegenüber gesellschaftlichen Normen und im weiteren Verlauf des Films sogar hinsichtlich der britischen Regierung. Sicherheit und Bequemlichkeit spielen für ihn keine Rolle, er nimmt alle erdenklichen Strapazen auf sich, bis er sich schließlich an einer gefährlichen Grenze zum Wahnsinn befindet. Den Tod fürchtet er nicht, sondern er stellt mit Schrecken fest, dass er Gefallen an ihm findet. Lawrence demonstriert Risikobereitschaft und selbstbestimmtes Handeln. Seine Haltung löst nicht nur Faszination, sondern zu allererst Ablehnung aus. Er wird als übergeschnappt und verrückt erklärt, zum Clown degradiert und damit an den Rand der Gesellschaft gestellt. Zugleich beauftragt man ihn mit entscheidenden militärischen Aufgaben. Doch nicht das Vertrauen in seine Fähigkeiten verhilft ihm zu seinen Aufträgen, sondern die Unbekümmertheit gegenüber einem möglichen Verlust seiner Person. Interessant erscheint hier die Verknüpfung von Souveränität und Überschreitung. Zunächst scheint Lawrence im Dienste Englands zu handeln, doch wird im Verlauf des Films deutlich, dass er vor allem seinen eigenen

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Ideen und Werten folgt. Souveränität des Subjekts ist hier ausdrücklich mit Normwidrigkeit verbunden. Doch Lawrence ignoriert keineswegs alle Regeln. Um einen Aufstand zu verhindern folgt er den Gesetzen der Beduinen selbst dort, wo er dafür das Leben seines Dieners, eines Waisenjungen, opfern muss. Auch bei Lawrence von Arabien alternieren Regel und Überschreitung. Die Verausgabung dient Lawrence sowohl als Beweis der Beherrschung des eigenen Körpers durch den Geist als auch seiner Unabhängigkeit gegenüber der Fremdbestimmung des britischen Militärs und der Regierung. Sein Streben nach Souveränität ist nicht Selbstzweck, sondern folgt klaren Zielen: der Unabhängigkeit, Anerkennung sowie der Vergrößerung seiner Macht. Die Verknüpfung von Souveränität und Macht lassen Lawrence als einen schillernden und zugleich widerständigen Charakter erscheinen. Maßgebend für die Wahrnehmung der Verausgabung als solcher ist die Erkennbarkeit von Impuls und Ziel. Lawrence physische und psychische Kraftanstrengungen sind ein sichtbarer Kampf zwischen Körper und Geist. Beim Ritt durch die Wüste sind die Anstrengung, der Durst und die Qual der Hitze plastisch dargestellt, auch die schwierige und schmerzvolle Entscheidung zur Hinrichtung seines Dieners kann der Betrachter aufgrund der ausdrucksstarken Bilder nachempfinden und entsprechend verarbeiten. In der Auseinandersetzung mit der Handlung gelangt der Zuschauer zu einer eigenen Position: Er lehnt die Figur des Lawrence ab oder er akzeptiert sie, er identifiziert sich mit ihr oder hält Distanz, auf jeden Fall werden ihm Parameter an die Hand gegeben, um die Verausgabung als eine zielgerichtete Handlung nachempfinden und auch beurteilen zu können Indem Ulay und Abramović vollkommen emotionslos eine sinnlose Handlung vorführen, nehmen sie dem Betrachter die Möglichkeit der Beurteilung. Er ist kaum in der Lage, dem, was er sieht, verwertbaren Sinn und Bedeutung zu geben. Zwar ist er sich bewusst, dass er die Aktion innerhalb des Kunstsystems einzuordnen und zu bewerten hat, doch da die Handlung und der erzeugte Schmerz zugleich real sind, fehlen ihm trotz allem eindeutige Klassifizierungsmöglichkeit und damit auch die Möglichkeit der Bewältigung durch eine eigene Positionierung. Im Gegensatz zum Film, der die Muster der Verausgabung im Kontext einer zielgerichteten Handlung erfahrbar werden lässt, verweigern Abramović und Ulay dem Publikum jegliche Kontextualisierung. Was bleibt, ist die Aktion selbst, die vom Betrachter – obwohl ihm eine emotionale Beteiligung verwehrt ist – nicht ungerührt wahrgenommen werden kann. Zunächst löst diese Verweigerungsstrategie Verwirrung und ein Gefühl der Hilflosigkeit aus. Das Scheitern eines emotionalen Zugangs ermöglicht dem Betrachter jedoch, von einer distanzierten, intellektuellen Perspektive aus auf das Geschehen zu blicken. Von den zunächst dominierenden Eindrücken der Gewalt und Schmerzufügung, wird der Blick auf die Konstruiertheit der Performance, auf den Ablauf und die Struktur gelenkt. Der analytische Blick ist in der Lage, nicht nur den Schmerz, sondern auch seine Überwindung zu erkennen. Er erfasst, dass diese durch Risikobereitschaft, Disziplin und Konzentration erreicht wird.

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Nach Bataille steht Risikobereitschaft im Zusammenhang mit der aktiven Identifikation mit sich selbst. Dem gegenüber steht die Unterwerfung des Lebens unter eine vernunftbasierte Ordnung die, jeder Gegenwärtigkeit beraubt, allein auf die Zukunft ausgerichtet ist: Akkumulation und Sicherheit sind deren Charakteristika. Handlungen die von Vorsicht und Angst geprägt sind, bedeuten eine Abwesenheit oder Minderung des Überschwangs des Lebens. Bei Abramović und Ulay gehört Risikobereitschaft zu den Grundregeln des Relation Work. Das Bemühen um Sicherheit, das zu Beginn der Performance Light/Dark noch offenkundig ist, wird im Laufe der Performance in der Verausgabung aufgehoben. Sie wirkt in der Verausgabung weiter, jedoch nicht mehr als Schutz, sondern als Gewissheit. Für Lawrence ist Sicherheit von Beginn an irrelevant. Ein Schlagabtausch zwischen ihm und seinem Kameraden, Michael George Hartly, verdeutlicht diese Haltung. Über eine Landkarte gebeugt, in der Lawrence die Grenzlinien am Golf von Akaba nachzeichnet, äußert er mit akzentuierter Stimme: »Das ist ein ekliger, dunkler, kleiner Raum. Wir fühlen uns hier nicht wohl.« Zur Antwort bekommt er: »Ich schon. Ist besser als ein ekliger, dunkler, kleiner Schützengraben.« Im Gegensatz zu seinem Kollegen empfindet Lawrence die Sicherheit und Enge eines behüteten Lebens als Begrenzung und Belastung. Es drängt ihn nach draußen. Ein Kameraschwenk, der dem Blick Lawrence auf das Bürofenster folgt an dem zwei Lasttiere vorbeiziehen, unterstreicht seine Gründe und Absichten: Das Büro befindet sich offensichtlich unterhalb des Straßenniveaus. Zu weit unten für den ambitionierten Lawrence. Von Lawrences Verhalten und seinem Handeln lassen sich Parallelen zur Performance von Ulay und Abramović ziehen. In ihrer Entschiedenheit, Risikobereitschaft und Disziplin gleichen sich die beiden Positionen. Sie zielen auf die Überwindung etablierter Normen und Vorstellungen und demonstrieren damit eine spezifische Form der Souveränität. Entscheidend ist jedoch, welches Ziel beziehungsweise welcher Leitgedanke mit der erwirkten Souveränität verbunden wird. Lawrence strebt größtmögliche Handlungsfreiheit gegenüber der britischen Regierung an, um Macht, Einfluss und Anerkennung zu gewinnen. Zum Schluss muss er jedoch erkennen, dass seine Unabhängigkeit nur soweit geduldet wird, wie sie der Instrumentalisierung anderer Interessen dient. Er scheitert also letztlich an der Überwindung autoritativer Grenzen. Eine geradezu perfide Demonstration dieses Unvermögens ist seine Beförderung. Lawrence sieht darin jedoch keine Auszeichnung, sondern er empfindet sie als Farce. Die Beförderung veranschaulicht ihm, dass er sich zu keiner Zeit außerhalb des militärischen Systems Großbritanniens befunden hat, wodurch seine Souveränität nachträglich als Illusion erkennbar wird. Im gesamten Relation Work von Abramović und Ulay treten die Aspekte Anerkennung und Macht dagegen weitgehend zurück. Bezeichnend dafür ist, dass bei der Performance Light/Dark irrelevant ist, wer über mehr physische sowie psychische Kraft verfügt. Entsprechend fehlt am Ende der Performance auch jegliche triumphale Geste, die den Sieg eines der beiden Künstler anzeigt und das Gegenüber demütigt. Die Paarkonstellation hätte als Gegner-

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schaft angelegt werden können, als ein Wettkampf. Stattdessen stärkt das Gegenüber den jeweils anderen. Für die Ausrichtung der Performances ist die Paarkonstellation zentral. Die Aktion ist nicht autoaggressiv. Es findet keine Selbstverletzung statt. Der Schmerz wird nicht der eigenen Person zugefügt und passiv ertragen, sondern ist Resultat eines selbstbestimmten, freien Handenls, dem der Wechsel von Aktion und Reaktion eingeschrieben ist. Während die Überwindung des Schmerzes eine Befreiung von körperlichen und, im übertragenen Sinne, normativen Einschränkungen anzeigt, bedeutet die Negierung der Rivalität die Überwindung der Macht. Erst durch den Verzicht auf den Prestigegewinn kann Souveränität auch Freiheit bedeuten. Maßgeblich ist, dass die Aktion an kein fernliegendes Ziel gebunden ist, sondern das Hier und Jetzt der Aktion betont wird. Jeder Schlag bedeutet Gegenwärtigkeit, Wahl und Entscheidung. Die Freiheit, die dadurch erreicht wird, dient der individuellen Selbsterkenntnis. Doch verschließt sich die Aktion dadurch nicht gegenüber dem Betrachter. Indem Abramović und Ulay die Grenze zwischen Realität und Kunst berühren, wird die Performance für den Betrachter zum Prüfstand des eigenen Kräfteverhältnisses, der Risikobereitschaft und der eigenen Souveränität und nicht zuletzt dem Verständnis individueller Freiheit. Damit verknüpft die Verausgabung in der Performance Light/Dark die Subjektivität des Einzelnen mit der kollektiven Subjektivität. Im Gegensatz zu zahlreichen zeitgenössischen Performances verharrt die Aktion von Abramović und Ulay nicht im Zustand der Zerstörung. Überschreitung und Regel werden bewusst aufeinander bezogen. Sie bilden ein komplementäres Paar, das die Herstellung eines Gleichgewichts ermöglicht. Light/Dark bedient keine gängigen Erwartungen, sondern lässt sie ins Leere laufen. Der Mythos der Zerstörung, der tabula rasa, wird hier also nicht fortgeführt, noch übernimmt die Kunst die Rolle und Funktion eines Märtyrers. Nicht die Zerstörung und der Tod schaffen das Neue, sondern die luxuriöse Verschwendung. Die Verausgabung im Werk von Abramović und Ulay zeigt Gegensätze als Teil des Lebens auf: Separierung und Einheit, Geschlossenheit und Offenheit, Grenzerfahrung und Grenzziehung, Überschuss und Erschöpfung, Weiblich/Männlich, Light/Dark. Diese gegensätzlichen Kräfte werden weder bekämpft noch aufgehoben. Vielmehr beweist die Performance einen souveränen, an der Identität des einzelnen gemessenen Umgang mit den Gegensätzen, mit der Ordnung und dem Chaos.

Literatur Abramović, Marina (1993): Marina Abramović. [Erschienen anlässlich der Ausstellung Wartesaal von Marina Abramović in der Neuen Nationalgalerie Berlin vom 03.03. bis 11.04.1993.] Hg. v. Friedrich Meschede. Stuttgart: Edition Cantz. Bataille, George (1978): Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität. München: Matthes & Seitz.

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Deleuze, Gilles & Guattari, Félix (2002): Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve. García Düttmann, Alexander: (2004): Philosophie der Übertreibung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Grundmann, Heide (1978): Marina Abramović and Ulay. Dialogue with Heidi Grundmann. In: Kristine Stiles (Hg.): Theories and documents of contemporary art: a sourcebook of artists writings. Berkeley, California, u. a.: Univ. of California Press 1996, S. 758–759. Hoffmann, Justin (1995): Destruktionskunst: der Mythos der Zerstörung in der Kunst der frühen sechziger Jahre. München: Schreiber. Kokke, Paul (1997): An Interview with Ulay and Marina Abramović. In: Ulay & Abramović: Performances 1976–1988. Eindhoven: Stedelijk Van Abbemuseum. McEvilley, Thomas (1998): Stadien der Energie: Performance-Kunst am Nullpunkt? In: Marina Abramović: Artist Body: Performances 1969 bis 1997. [Erschienen anlässlich der Ausstellung Marina Abramovic: Artist body – public body im Kunstmuseum Bern, 01.04. bis 01.06.1998.] Hg. v. Toni Stooss. Milano: Charta, S. 14–27.

SPRACHE DER VERAUSGABUNG

»BIN DIE VERSCHWENDUNG, BIN DIE POESIE«. ÜBERFLUSS UND VERAUSGABUNG IN GOETHES FAUST UND SEINEN KONTEXTEN BERND BLASCHKE Kaum ein anderer Künstler hat so ausgiebige Erfahrungen mit der Haus- und Staatswirtschaft gemacht wie der Weimarer Geheimrat Johann Wolfgang Goethe. Dabei sammelte er sein Wissen nicht nur in der Praxis; in seiner Bibliothek befanden sich nahezu 50 Bücher zur Nationalökonomie.1 Als Enkel eines sehr wohlhabenden Frankfurter Damenschneiders praktizierte der Dichter und spätere Staatsmann während seiner Leipziger Studentenzeit fröhlich hedonistische Verausgabungen – und dämmte die Verschwendung zugleich ein, in dem er sie bemerkt, sie bezeugt und sie funktional einbindet. In einem Brief an Ries vom 20.10.1765 erscheint diese, für Goethes Leben bestimmende Polarität von Überfluss, Verausgabung und Maßhalten in anschaulich dichter Weise: Ich mache hier große Figur! – Aber noch zur Zeit bin ich kein Stutzer. Ich werd es auch nicht. – Ich brauche Kunst um fleißig zu sein. In Gesellschaften, Concert, Comoedie, bei Gastereyen, Abendessen, Spazierfahrten so viel es um diese Zeit angehet. Ha! das geht köstlich. Aber auch köstlich, kostspielig. Zum Henker das fühlt mein Beutel. Halt! rettet! haltet auf! Siehst du sie nicht mehr fliegen? Da marschierten 2 Louisdor. Helft! da ging eine. Himmel! schon wieder ein paar. Groschen die sind hier, wie Kreuzer bei euch draußen im Reiche. – Aber dennoch kann hier einer sehr wohlfeil leben. Die Messe ist herum. Und ich werde recht menageus leben. Da hoffe ich des Jahrs mit 300 was sage ich mit 300 mit 200 Rthr. auszukommen. NB. das nicht mitgerechnet, was schon zum Henker ist. Ich habe kostbaaren Tisch. Merkt einmahl unser Küchenzettel. Hüner, Gänße, Truthahnen, Endten, Rebhühner, Schnepfen, Feldhüner, Forellen, Haßen, Wildpret, Hechte, Fasanen, Austern pp. Das erscheinet Täglich. nichts von anderm groben Fleisch ut sunt Rind, Kälber, Hammel pp. das weiß ich nicht mehr wie es schmeckt. Und die Herrlichkeiten nicht teuer, gar nicht teuer. – Ich sehe daß mein Blat bald voll ist und es stehen noch keine Verse darauf, ich habe deren machen wollen. Auf ein andermahl. (Goethe 1887: 14–15)

Einerseits prahlt der junge Großbürgersohn hier mit seinem verschwenderisch üppigen Lebenswandel; andererseits bemüht er sich um Einschränkung, Reduktion und Maß – und zugleich steht die Verausgabung für Kunst als Kompensation, Inspiration oder Belohnung im Dienste der trockenen Jurastudien sowie im Zusammenhang mit der angestrebten eigenen poetischen 1

Grundlegend zu Goethes ökonomischem Wissen ist immer noch Mahl 1982.

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Produktion. So wird schon beim 16-jährigen Studenten die Verschwendung tendenziell aufgehoben und als eine rentierliche Investition deklariert. Als Weimarer Minister war Goethe später lange (neben anderen Verantwortungsbereichen) auch für die Wirtschaft und Finanzen des kleinen und eher armen Landes zuständig. Goethes ökonomische Lebenserfahrungen und Reflexionen fanden ihren Niederschlag auch in seinem literarischen Werk. 1773 werden Überfluss und Verausgabung – auf etwas brachial jungmännliche Art – gefeiert in seiner berüchtigten (später von ihm selbst als ›garstig Zeug gegen Wieland‹ abgetanen) stürmerisch drängenden Farce Götter, Helden und Wieland. Das freigiebig verschwenderische Heroentum stellt Goethe satirisch gegen Wielands galant rokokohafte Weichzeichnung der Antike: WIELAND. Was nennt Ihr brave Kerls? HERKULES. Einen, der mitteilt, was er hat. Und der reichste ist der bravste. Hatte einer Überfluß an Kräften, so prügelte er die andern aus. Und versteht sich, ein rechter Mann gibt sich nie mit geringern ab, nur mit seinesgleichen, auch größern wohl. Hatte einer denn Überfluß an Säften, machte er den Weibern soviel Kinder, als sie begehrten, auch wohl ungebeten. Wie ich denn selbst in einer Nacht funfzig Buben ausgearbeitet habe. Fehlt’ es einem denn an beiden und der Himmel hatte ihm, oder auch wohl dazu, Erb und Hab vor Tausenden gegeben, eröffnete er seine Türen und hieß Tausende willkommen, mit ihm zu genießen. Und da steht Admet, der wohl der bravste in diesem Stücke genannt werden kann. WIELAND. Das meiste davon wird zu unsern Zeiten für Laster gerechnet. (Goethe 1964: 193–194)

Dieser einstigen Tugend gewaltsamer Verausgabung von Körperkräften, von sexuell-prokreativen oder materiellem Vermögen wird in Goethes Farce nachgetrauert als leider vergangener, heroischer Norm. Der alte Überfluss und die vormaligen Verausgabungs-Imperative sind in der als bieder empfundenen Gegenwart, die unter dem Druck von Religion und bürgerlicher Sittenlehre verkümmere, zu Unsitten und Lastern geworden.2 2

Auch in seinem bekannteren Frühwerk, dem Werther, findet sich ein Lob der Verausgabung, die für Künstler und Liebende die einzig akzeptable (An-)Ökonomie darstellen; auch dieser Imperativ der Verschwendung geht einher mit der Kritik an bürgerlichen (aber auch: poetischen) Maßregeln: »Das bestärkte mich in meinem Vorsatze, mich künftig allein an die Natur zu halten. Sie allein ist unendlich reich, und sie allein bildet den großen Künstler. Man kann zum Vorteile der Regeln viel sagen, ungefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer, der sich durch Gesetze und Wohlstand modeln läßt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein merkwürdiger Bösewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstören! [….] Guter Freund, soll ich dir ein Gleichnis geben? Es ist damit wie mit der Liebe. Ein junges Herz hängt ganz an einem Mädchen, bringt alle Stunden seines Tages bei ihr zu, verschwendet alle seine Kräfte, all sein Vermögen, um ihr jeden Augenblick auszudrücken, daß er sich ganz ihr hingibt. Und da käme ein Philister, ein Mann, der in einem öffentlichen Amte steht, und sagte zu ihm: ›Feiner junger Herr! Lieben ist menschlich, nur müßt Ihr menschlich lieben! Teilet Eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet Eurem Mädchen. Berechnet Euer Vermögen, und was Euch von Eurer Notdurft übrig bleibt, davon verwehr’ ich Euch nicht, ihr ein Geschenk, nur nicht zu oft, zu machen, etwa zu ihrem Geburts – und Namenstage‹ etc. – Folgt der Mensch, so gibt’s einen brauchbaren jungen Menschen, und ich will selbst jedem Fürs-

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Etwa 55 Jahre später verfasste Goethe die Mummenschanz-Szene für sein Spätwerk, den Faust, 2. Teil. Hier werden subtilere und abgründigere Logiken und Bilder der Verschwendung inszeniert und zugleich zur poetologischen Selbstreflexion der Dichtung verwendet. Kein anderes Kunstwerk demonstriert so anschaulich und zugleich so ambivalent das intrikate Verhältnis von Reichtum, Verausgabung und Sprache wie die Figuren dieses Karnevalzugs, der im Kontext der Handlung zudem als vergnügliche Ablenkung für einen bankrotten Hof fungiert. In Goethes Faust-Dichtung finden sich zudem schon vor der Mummenschanz-Szene poetologische Aphorismen, in denen die Poesie und die ihr zugrunde liegende Einbildungskraft als an-ökonomische Operationen markiert werden: als Verausgabung, Überfluss und Verschwendung. So wünscht sich der Dichter im Vorspiel auf dem Theater seine Jugend und deren überfließende Phantasie zurück: »Ich hatte nichts und doch genug, / Den Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug.« (Goethe 2003: Verse 192 f.; im Folgenden werden, wie üblich, Faust-Zitate mit der Versziffer belegt). Diese trauernde Beschwörung der Jugend als Lebenszeit überfließender Triebe und Kräfte, die für den fehlenden Besitz mehr als entschädigen, hat bisher kaum die Aufmerksamkeit ökonomisch fokussierter Faustdeutungen gefunden. Vielmehr versetzte die Sinnfülle und Vertracktheit der Selbstvorstellung (»Bin die Verschwendung, bin die Poesie«) des Knaben Lenker, der mit seinem Wagen den geordneten Karnevalszug unterbricht, im Konnex mit der gleichfalls im Karneval situierten mephistophelischen Erfindung des Papiergeldes, ökonomisch interessierte Literaturwissenschaftler in einen wahren Furor von Interpretationen, die sich zeichen- und kredit-theoretisch überbieten und spekulativ verausgaben. Freilich wird diese Idee der Poesie als Überfluss und als Verschwendung in Goethes Faust-Dichtung durch bestimmte Figuren in spezifischen Kontexten vorgetragen. Meine literaturwissenschaftliche Interpretation wird nun fragen, wieweit dieses situativ formulierte und gerahmte Lob der Verausgabung für Goethes Poetik, seine Theaterarbeit, aber auch für sein Leben und seine amtlichen Tätigkeiten tatsächlich gültig ist. Goethes Beziehung zu Verausgabung und Verschwendung (die im Übrigen wohl nicht sinnvoll ohne ihre Gegenbegriffe Sparsamkeit und Haushaltung zu denken sind) wird im Folgenden in vier Schritten dargestellt und kommentiert. In einem ersten Abschnitt werden die Szene des Maskenzugs und der Auftritt der jugendlich inkarnierten Poesie als Verschwenderin analysiert. Leitend ist dabei die Frage, ob dieser Knabe Lenker und seine Taten und Worte der Verausgabung im Textverlauf gefeiert und akkreditiert werden oder ob diese nicht eher kritisiert, ironisiert und diskreditiert enden. Ergänzend und kontextualisierend fragt ein zweiter Abschnitt nach Goethes Handeln als Verantwortlicher staatlicher wie ten raten, ihn in ein Kollegium zu setzen; nur mit seiner Liebe ist's am Ende und, wenn er ein Künstler ist, mit seiner Kunst. O meine Freunde! warum der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten in hohen Fluten hereinbraust und eure staunende Seele erschüttert? – Liebe Freunde, da wohnen die gelassenen Herren auf beiden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhäuschen, Tulpenbeete und Krautfelder zugrunde gehen würden, die daher in Zeiten mit Dämmen und Ableiten der künftig drohenden Gefahr abzuwehren wissen.« (Goethe 1988: Bd. 6, 15–16).

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privater Kassen. Als solcher unterbindet er Verschwendung, kontrolliert gründlich die Haushaltbücher – und ersehnt und praktiziert doch den Überfluss. Ein dritter Schritt widmet sich Goethe als Weimarer Theaterdirektor. Hier hatte er zu vermitteln zwischen eigenen ästhetischen Ansprüchen und Absichten, Publikumsvorlieben und finanziellen Möglichkeiten; seine Weimarer Theaterpraxis operiert, kurz gesagt, zwischen barocker Pracht und klassizistischer Einfachheit. Der vierte, abschließende Abschnitt versucht resümierend zu zeigen, dass die Verschwender als Figuren und der Überfluss als poetisches Verfahren im Goetheschen Faust in einer umfassenderen Ökonomie aufgehoben werden. An die Stelle einer riskant einseitigen Bewegung der verschwenderischen Verausgabung treten Goethes polar-vermittelnde Denk- und Ordnungsfiguren eines balancierenden Wechselspiels von Vereinnahmung und Verausgabung.

Wird die Poesie als Allegorie und als Verschwendung tatsächlich begrüßt und gelobt oder im Karnevalskontext ironisch gerahmt? Da auch der nachklassizistische, alte Goethe bei aller Offenheit für wirtschaftliche wie ästhetische Experimente (noch) nicht wie Georges Bataille dachte und handelte, wird sich das dem Knaben Lenker entlehnte, titelgebende Lob der poetischen Verausgabung im Laufe meiner Argumentation nun deutlich relativieren. Die Feier der verschwenderischen Poesie in der Figur des Knaben Lenker und seiner großzügigen Verausgabung von scheinhaften, trügerischen Zeichen durch Interpreten wie Werner Hamacher, Peter Brandes und Joseph Vogl wird problematisiert durch Kontextualisierungen und Hinweise auf Goethes ironische Distanz zu schwärmerischen Figuren wie dem Knaben Lenker und Euphorion. Meine Analyse versucht, die Bedeutung und den Wert des Knaben Lenker zu verstehen; mithin: den Kredit zu erwägen, der ihm im Kontext zukommt. Dieser Junge bezeichnet sich selbst als Allegorie der Poesie und kutschiert im karnevalistischen Maskenzug (genauer: diesen unterbrechend) Plutus, den Gott des Reichtums. Der gespenstisch körperlos heranstürmende Wagen des Knaben kann vom moderierenden Herold nicht begriffen und bezeichnet werden.3 Der Vierspänner scheint immateriell, da er glitzernd durch die Menge gleitet. Der Knabe Lenker stellt sich, da er vom Herold weder bestellt noch erkannt wurde, selber vor:4

3

4

Vgl. 5.506 ff. Der Herold ›sieht Gespenster‹ (5.501), und gerät somit an Grenzen seiner Deutungsmacht: »Die Bedeutung der Gestalten / Möcht’ ich amtsgemäß entfalten. / Aber was nicht zu begreifen, / Wüßt’ ich auch nicht zu erklären; / Helfet alle mich belehren! – « Der poetische und zugleich anarchische Knabe spottet über die Grenzen des Auffassungsgabe des Herolds: »Zwar Masken, merk’ ich, weißt du zu verkünden, / Allein der Schale Wesen zu ergründen, / Sind Herolds Hofgeschäfte nicht; / Das fordert schärferes Gesicht.« (5.606 ff.)

»BIN DIE VERSCHWENDUNG, BIN DIE POESIE« | 177 Bin die Verschwendung, bin die Poesie; / Bin der Poet, der sich vollendet, / Wenn er sein eigenst Gut verschwendet. / Auch ich bin unermeßlich reich / Und schätze mich dem Plutus gleich, / Beleb’ und schmück ihm Tanz und Schmaus, / Das, was ihm fehlt, das teil’ ich aus. (5.573ff.)5

Werner Hamacher (1994: 150) kommentiert diese Potenz der Poesie in seinem Aufsatz Faust. Geld: Die Poesie ist »reicher als reich und reicher als der Reichtum selbst, weil erst sie jeden Reichtum belebt und also allererst zum Reichtum macht, weil erst in ihr der Reichtum zur Sprache und zur Erscheinung kommt.« Peter Brandes hat in seinem Buch zu Goethes Poetik der Gabe diese Funktionszuweisung der Poesie noch näher bestimmt. Als Spezialistin für die Darstellung und das Erscheinen-Lassen sei die Poesie zwar nicht selber reich, doch sei sie als Vermittlung des Reichtums für diesen unverzichtbar, damit es ihn überhaupt gebe, damit er erscheinen und wahrgenommen werden könne. Brandes schreibt: »Die Poesie produziert folglich in ihrer Verschwendung den Reichtum, obschon sie selbst kein Reichtum im Sinne von Besitz ist. Aus diesem Grund kann Hamacher analog zu Lacan davon sprechen, dass ›die Poesie gibt, was sie nicht hat‹. Denn Poesie ist nicht Reichtum, sie gibt Reichtum.« (Brandes 2003: 256) Das ist eine einleuchtende Funktionszuweisung an die Poesie, die man als Darstellungskraft, als Phantasie oder als Sprachvermögen begreifen kann.6 Die Poesie wäre somit eine Art Öffentlichkeitsarbeiterin, eine ästhetische PR-Abteilung, die dem abstrakt unanschaulichen Reichtum zur Erscheinung und zur Sprache verhilft. Von einigem poetologisch-ästhetischem Interesse (besonders im Kontext der Überlegungen zu Allegorie und Symbol als Mittel der Dichtung)7 ist die Selbstklassifizierung des verschwenderischen Poesie-Knaben als ›Allegorie‹.8 5

6

7 8

In den Bühnenanweisungen vor und nach Vers 5.295 treten vor dem Poesie-Knaben vom Herold angekündigte Poeten auf, wobei einzig der Satiriker vier von Goethe ausformulierte Verse spricht, die anderen (›Natur- und Hofdichter, Rittersänger sowie Nacht-und Grabdichter‹) werden nur als Figuren ohne Sprechtexte benannt. Dies bietet Raum für Schauspiel-Improvisation, mittels der die anderen Dichtertypen profiliert werden könnten. Eine poetologisch so zentrale wie schwierige Frage betrifft das Verhältnis dieser solcherart elliptisch im Maskenzug eingeführten Dichter-Typen zu dem androgynen Poesie-Knaben, den man begreifen könnte entweder als eine (anarchische, imaginative) Urkraft aller Dichtung oder eben als Satire auf eine spezifische, zeitgenössische Dichtungsform, nämlich auf die maßlosen Romantiker und Stürmer und Dränger. Weitere satirisch charakterisierte Dichter-und-Denker-Typen hatten ihre Auftritte schon im ersten Teil, in der Walpurgisnacht: 4.143–4.386. Zum Begriff der Poesie bei Goethe und seiner Opposition von Poesie versus Prosa vgl. den instruktiven Eintrag im Goethe-Handbuch, Bd.2: 857 ff. Die Poesie als ›sprachlich sich manifestierende Imagination‹ muß sich – im Gegensatz zur Prosa – von ›verstandesbezogener Kontrolle‹ unbedingt freihalten. Poesie sei zudem gerade nicht einfach Kunst, da letztere auf verpflichtende Gestaltungskriterien bezogen sei. Vgl. dazu etwa: Paul de Man 1983: 187 ff. Zur abgründig selbstdekonstruktiven Selbstbenennung der Poesie als Allegorie vgl. auch Hamacher (1994: 148 f.). Zu Beginn des Maskenzugs treten Gärtnerinnen auf, die Ihre Blumen als Waren anpreisen, dann gar eine Mutter, die ihre Tochter als Ware auf dem Heiratsmarkt (und nun im Karneval gar offen sexuell) anbietet. Von hier aus entwirft Schlaffer seine Lesart der Allegorien des Faust II als Waren. Dagegen betonen die Kommentare von Gaier und Schöne, die Selbstbezeichnung als Allegorien vollbringe erst der spät auftretende Knabe – zuvor handele es sich um Masken.

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Für Interpreten wie Hamacher und Vogl wird Goethes Knabe Lenker durch diese Selbstbenennung zu einer Allegorie der Allegorie – und präfiguriert durch diese Verdopplung und (De-)Potenzierung uneigentlichen Sprechens gewissermaßen die dekonstruktivistische Sprach-, Symbol- und Allegorietheorie Paul de Mans.9 So erklärt Vogl die potenzierte Allegorie des PoesieKnaben: Als Figur ist sie [die Allegorie der Poesie] allegorisch, und als Figur, die sich selbst benennt und erklärt, sind noch ihre Selbsterklärungen allegorischer Natur. Und das bedeutet, daß sie als Allegorie über das Allegorische hinausreicht, daß sie als Allegorie der Allegorie also nicht nur etwas anderes sagt, als sie bedeutet, sondern ganz konsequent, auch etwas anderes tut als bloß bedeuten. Sie öffnet einen hermeneutischen Betrieb nur, um ihn zu überschreiten, und führt damit an jene Grenze heran, an der durch Interpretation und hermeneutische Umschrift Bedeutungen zu Handlungen – und wie zu Beginn des ganzen Dramas – anfängliche Worte zu Taten werden sollen. (Vogl 2002: 324)

Und diese performative Kraft der allegorischen Sprechhandlung expliziert Vogl, indem er die poetisch-ökonomischen Handlungen des Poesie-Knaben resümiert. Des Lenkers Handeln »besteht erstens darin, daß der Lenker verführt (5.540), zweitens darin, daß er verführerischen Schein produziert (5.543), und drittens darin, daß er nichts als Verschwendung betreibt (5.573).«10

9

Zur aktualisierend jubilierenden Aufwertung des Knaben Lenkers zu einer (vermeintlich) Goetheschen Präfiguration heutiger Literaturtheorien vgl. auch Brandes 2003: 266. Brandes deutet die Gaben des Lenkers als Schrift. Brandes sehr gewagte Begründung hiefür beruft sich auf das Verhältnis von ›Schale‹ zu Wesenskern, das der Herold nicht recht zu bestimmen wisse (5.606). Brandes analogisiert diese Rede des Knaben mit der abendländischen Tradition, welche Schrift als bloß äußerliche Schale zum Wesenskern der lebendigen, gesprochenen Sprache begriff. Der Knabe als Gespenst gäbe demnach gespenstische Schriftzeichen als Verausgabungen der gesprochenen Sprache, Schriftzeichen die sich in lebendige Käfer verwandeln. Und Brandes poetologische Deutung fährt fort mit Bezug auf Kristevas Sprachtheorie, die der starren, symbolischen Ordnung, eine vorgängige, subversive, verausgabende semiotische Sprachform entgegenstellt: »Der Revolution der Poesie (Kristeva) als Verausgabung steht aber der phallische Signifikant gegenüber: der Stab des Herolds, der die symbolische Ordnung repräsentiert. Die Gaben des Knaben Lenkers entziehen sich jedoch der Macht der Benennung des Herolds und subvertieren die symbolische Ordnung.« (Brandes 2003: 266). 10 Vogl expliziert die ambivalenten, verschwendend-verschwindenden Gaben des Knaben und stellt sie in einen Zusammenhang mit ihrer Gegenfigur, dem Geiz (hinter dessen Maske Mephisto steckt), der neben Plutus auf dem Wagen sitzt: »Der Lenker verleiht nur, indem er sogleich nimmt, er gibt nur, was im Aufschein zur Asche wird. Dieser Schein verweist nicht auf ein Substrat, ist keine Hülle eines Verborgenen, kein Bezeichnendes eines Bezeichneten mehr. […] Während der Geiz den Reichtum verheimlicht und ihn gerade dadurch zum Schatz und zur greifbaren Substanz macht, daß er ihn nicht gibt (5.785), gibt der Lenker den Reichtum wiederum nur durch den Entzug seines manifesten Habens. Er ist damit ein Apokalyptiker der Wertsubstanz im Doppelsinn, nämlich durch ihre Offenbarung und Vernichtung zugleich.« (Vogl 2002: 325) Dieses genuin moderne Schwinden von Wertsubstanzen in einem Zeitalter, dessen Ökonomien von Kredit statt von substantiellen Werten dominiert werden, findet Vogl in mehreren Passagen und Figuren des Goetheschen Faust demonstriert: »Vom Glühen und Glimmen in der Walpurgisnacht über das Aufflammen der Mummenschanz bis hin zum scheinhaften ›Spuk‹ (5.502) des Lenkers, reicht eine irrlichternde Spur, die einen Schwund des Repräsentierten in den Repräsentation anzeigt.« (Vogl 2002: 336 f.)

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Die vom Knaben verteilten, glänzenden Gaben sind freilich von zweifelhaftem Wert, denn sie erweisen sich als ontologisch mangelhaft: Hier seht mich nur ein Schnippchen schlagen, / Schon glänzt’s und glitzert’s um den Wagen. / Da springt eine Perlenschnur hervor! (Bühnenanweisung Immerfort herumschnippend) Nehmt goldne Spange für Hals und Ohr; / Auch Kamm und Krönchen ohne Fehl, / In Ringen köstlichstes Juwel. / Auch Flämmchen spend ich dann und wann / Erwartend, wo es zünden kann. (5.582 ff.)

Die Menge ›greift und hascht‹ nach dem Glitzerzeug, so der Kommentar des Herolds. Doch der Knabe verteilte nur Schein-Werte: Was einer noch so emsig griffe / Des hat er wirklich schlechten Lohn, / Die Gabe flattert ihm davon. / Es löst sich auf das Perlenband, / Ihm krabbeln Käfer in der Hand, /…/ Wie doch der Schelm so viel verheißt, / Und nur verleiht was golden gleißt! (5.595–5.605)

Das Verschwinden der Gaben der als Verschwendung vorgestellten Poesie entfaltet damit im Übrigen schlicht einen sprachlich-etymologischen Aspekt von ›Verschwendung‹. Wie schon Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch in einer Anmerkung bemerkt: »Es [verschwenden, fersuenden] ist eigentlich das Activum von verschwinden und bedeutet zunächst verschwinden machen.« (Adelung 1801: Bd. 4, 1131). Joseph Vogl erkennt in diesem Umschlagen der Schein-Gaben eine Manifestation der modernen Kredit- und Aufschub-Logiken, die Wirtschaft wie Sprache kennzeichnen, welche beide mittels substanziell ungedeckten, futurisierend weiterverweisenden Zeichenketten operieren: Durch referenzlose Zeichen und Versprechen, die sich durch den Aufschub ihrer Einlösung definieren, erregen der poetische Geist wie die Kreditökonomie eine Zirkulation des Mangels, in der jedes Haben ein Nicht-Haben, jedes Zuviel ein Zuwenig, jeder Überfluß eine Knappheit ist. Wie das Theater im Zeichen dieser Poesie nicht mehr eine Inszenierung der Gegenseitigkeit und ein Diskurs der Repräsentation sein kann, so hat sich sein Handeln, das Bühnenhandeln selbst, auf eine Unabschließbarkeit, auf ein unabsehbares Streben verlegt. (Vogl 2002: 327 f.)11

In Vogls Faust-Deutung prägt die ›Resultatslogik‹ der Mummenschanz, d.h. die durchs Papiergeld bewirkte Abdankung des Souveräns und die Etablierung von Zeichensystemen, die uno actu Mangel, unendliches Begehren und Überfluss produzieren, den weiteren Stückverlauf. Hingegen sieht Jochen Hörisch im Karneval nur eine Episode im Faust, die anachronistisch den Überfluss feiert, den es grundsätzlich nur in einer Zeit ohne Geld (als durch Kodierung universalisierte Knappheit) geben könne. Der Auftritt der Poesie 11 Die Entsubstanzialisierung moderner Kreditwirtschaft, die in den Schein-Gaben des Lenkers vorgeführt wird, kennzeichne, so Brandes (2003: 175) in Anlehnung an Hamacher, auch schon den Wett-Vertrag zwischen Faust und Mephisto mit seiner spezifischen Vernichtungslogik (vgl.: 1.675–1.687). Denn die vom Teufel zu erwartenden Gaben sind wertlose, selbstvernichtende Gaben, folglich keine Gaben und mithin nicht tausch- oder vertragsfähige Objekte.

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kontrastiere, so Hörisch, mit der im Maskenzug vorausgegangenen Werbung der Chöre (5.088–5.236), die ihre Waren anpreisen, und mit dem späteren Abgesang des Lynkeus auf die schöne Welt, nach dem bald die grauen Weiber von Not und Sorge auftreten. Mit und nach der Erfindung des Geldes, die in Goethes Faust im Karneval stattfindet, haben Verausgabung und Überfluss keinen Platz mehr: […]diese Sphäre des schönen Scheins und der karnevalesken Verausgabung hat ein schnelles Ende, wenn Mephisto, schon in der Maskerade als personifizierter Geiz präsent, in der unmittelbar anschließenden Szene die Assignaten ›erfindet‹. Im Zeichen der Geldscheine und des Schein-Geldes taumelt Faust mehr denn je von Begierde zu Genuß, und mehr noch als zuvor verschmachtet er im Genuß nach Begierde. (Hörisch 1996: 186)

Gemäß Hörischs, an Niklas Luhmann angelehnter Definition des Geldes und der modernen Kreditwirtschaft, kann man Geld, das durch Knappheit kodiert ist, nicht negieren. Daher werden in der Moderne Erfahrungen der Fülle und des Überflusses anachronistisch und selten: Nicht umsonst wirken Ästhetiken der Fülle, der Verschwendung, des Festes und der Verausgabung auf eine spezifische Weise vormodern (und also vormonetär). Goethe kontrastiert in der Mummenschanz-Szene von Faust II karnevaleske Formen einer überwundenen Ökonomie der Verausgabung mit den monetären Formen einer spezifisch modernen Ökonomie der Äquivalenzen. (Hörisch 1996: 184)

Hörisch erklärt die Verschwendung der Poesie in Anlehnung an Bataille als die geradezu notwendige Verausgabung von überschüssigen Energien, die alles Leben kennzeichnen. Diese Verausgabung könne auf gloriose (mithin festlich-poetische) Art vollbracht werden oder eben auf katastrophisch destruktive, kriegerische Weise. Allerdings werden die Kriegshandlungen im 4. Akt des Faust II, die sich schon am Ende des Karnevals mit dem Auftritt des wilden Heeres ankündigen (vgl.: 5.800–5.927), im Kontext des Stückes durchaus als Folge von Not (5.800) und Mangel erklärt und weniger als Verausgabung überschüssiger natürlicher Energien – die man freilich in den Naturfiguren der wilden Schar von Bergbewohnern, Faunen, Satyren und Gnomen auch sehen kann. Es gibt jedoch eine Reihe von Indizien dafür, dass Goethe den PoesieKnaben und sein Lob der Verschwendung kritischer inszeniert und wertet als dies die dekonstruktivistisch inspirierten Interpreten wahrhaben wollen, die in dieser Dissemination von Gaben und Zeichen, die sich in Nichts auflösen, modernes Sprachdenken antizipiert sehen. In einer Entwurfskizze12 und ferner im Gespräch mit Eckermann vom 20.12.1829 identifizierte Goethe den Lenker mit Euphorion.13 Goethe markierte ihn somit als die wenig lebens12 Vgl.: Goethe & Schöne 2003: II, 606. 13 Die Gesprächsnotiz Eckermanns vom 20.12.1829 lautet: »Wir sprachen darauf über den Knaben Lenker. ›Daß in der Maske des Plutus der Faust steckt, und in der Maske des Geizes der Mephistopheles, werden Sie gemerkt haben. Wer aber ist der Knabe Lenker?‹ Ich zauderte und wußte nicht zu antworten. ›Es ist der Euphorion!‹ sagte Goethe. ›Wie kann aber dieser,‹ fragte ich, ›schon hier im Carneval erscheinen, da er doch erst

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tüchtige, schwärmerische, romantische Figur, die (im 3. Akt) aus der Verbindung Fausts mit Helena hervorgeht und die auf Lord Byron anspielt. Der Knabe Lenker figuriert demnach für eine moderne, exaltierte, ungebundene Art der Dichtung oder Poesie, die Goethe zwar mit Interesse, doch kritisch und sehr reserviert verfolgte. Zudem und vor allem stört der Knabe mit seinem unbestellten Heranpreschen den vom Herold geordneten Ablauf des Karnevals und stiftet Unordnung. Goethe hatte als maitre de plaisir des Weimarischen Hofs regelmäßig solche Maskenzüge zu organisieren und als Herold zu moderieren. Über anarchische Interruptionen jugendlicher Schwärmer und Schein-Artisten dürfte er in dieser Rolle kaum erfreut gewesen sein.14 Im Übrigen steht der vom Kaiser (nach italienischem Muster) befohlene Karneval, in dem die Verschwendung gelobt wird, als ludische Ablenkung vom bankrotten und korrupten Staatswesen in einem politisch-ökonomischen Zwielicht.15 In einem Brief an Lavater erklärte Goethe 1781: »Man betäubt mit Maskeraden und glänzenden Erfindungen oft eigne und fremde Not.« (Zitiert nach Goethe & Schöne 2003: II, 426.) Das gilt gewiss auch für den Kontext der Mummenschanz im Faust. In diesem Maskenzug wird ein fiktiver Überfluss gespielt und gefeiert vor dem Hintergrund und als Maskierung realer Armut und Not. Die mit 800 Versen für ein Drama grandios überlange, mithin quantitativ verschwenderische und tendenziell maßlose Karneval-Szene16 thematisiert Poesie und Überfluss im Übrigen auch – und hier gewiss positiver, affirmativer – in ihrer Form und in ihrer poetischen Machart. Die Mummenschanz lässt sich in weiten Teilen als ekphrastische Anleihe bei Bildwerken Mantegnas verstehen. Gert Mattenklott kommentiert den Reichtum dieser intermedialen Anleihen: »Goethe zitiert diese Materialien, um der Poesie die Gestaltenvielfalt des römischen Volksfestes und die Prachtentfaltung von im dritten Act geboren wird?‹ ›Der Euphorion,‹ antwortete Goethe, ›ist kein menschliches, sondern nur ein allegorisches Wesen. Es ist in ihm die Poesie personificirt, die an keine Zeit, an keinen Ort und an keine Person gebunden ist.‹« 14 Zu Goethe als Herold bei Maskenzügen vgl.: Goethe & Schöne 2003: II, 426. Auch Ulrich Gaiers großer Faust-Kommentar (Goethe & Gaier 1999: II, 592ff.) betont den anarchisch-subversiven Aspekt des Auftritts der Gruppe von Lenker, Plutus und Geiz. Diese durchbrechen die Ordnung des Karnevals, heben das organisierte Maskenspiel auf, und vermischen die Sphären von Schein und Sein. 15 Peter Brandes analysiert die Aufspaltung des Karnevals im Goetheschen Faust in zwei, gewissermaßen politisch und ökonomisch antagonistische Karnevalsformen »Die Karnevalisierung ist in der Mummenschanz weder allgemeine Familiarisierung noch ein Fest, das sich das Volk selbst gibt. Sie tritt vielmehr historisiert in den höfisch geordneten Formen des Karnevals als Subversion ein, so daß es zum Machtkampf zwischen dem höfischen Karneval, der vom Herold bestimmt wird und dem poetisch subversiven Karneval des Knaben Lenker, des Plutus und des Geizes kommt, dessen Abschluß die Drohung eines allgemeinen Brandes bildet. In der Szene ist diese Drohung real, in der darauffolgenden wird sie jedoch wieder relativiert.« (Brandes 2003: 233) Goethe bezeichnete den von ihm beschriebene römischen Karneval im Übrigen als »ein Fest, das dem Volke eigentlich nicht gegeben wird, sondern das sich das Volk selbst gibt« (nach Brandes 2003: 219). Hingegen wird der höfische Karneval im Faust explizit als ein vom Kaiser bewirkter Kulturimport, als Nebenfolge seiner machtpolitischen Romfahrt bezeichnet (5.068 ff.). 16 Nur die Klassische Walpurgisnacht-Szene ist mit 1.400 Versen noch länger – sie spielt jedoch auch an verschiedenen Schauplätzen.

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Mantegnas Aufzug zuzuführen: eine Fülle von Formen und Bewegungen, ein Überfluss von Figuren und bedeutenden Zeichen. Dergestalt wird aber auch der ästhetischen Methode für die Form der Szene zum Problem, was zugleich auch deren Thema ist: Reichtum, Verschwendung und Sparsamkeit.« (Mattenklott 1996: 405) Ähnlich wie Hörisch sieht Mattenklott im Mummenschanz den Überfluss inszeniert: »Lebensfülle heißt die Bedeutung, auf die die Allegorien der Mummenschanz verweisen« (Mattenklott 1996: 406). Goethe selbst war sich der Aufführungsprobleme dieser verschwenderisch reichen und breiten Karnevalszene bewusst. Im Gespräch mit Eckermann (am 20.12.1829) benennt er die theaterpraktischen (letztlich wiederum ökonomischen) Herausforderungen: Die weitläufige Mummenschanz-Revue auf die Bühne zu bringen würde »ein sehr großes Theater erfordern, sagte Goethe, und es ist fast nicht denkbar«. Wenig rühmlich und vorbildlich sind dagegen der Abgang17 des verschwenderischen Poesie-Knaben und seine Angewiesenheit auf Plutus, der ihn anerkennen und schützen muss. Hier markiert Goethe die schmerzlichen Grenzen der Dichtung, ihre Ohnmacht und Schutzbedürftigkeit. Nachdem der Wagen des Knaben von Weibern attackiert wurde, die ihn als Lug und Trug denunzierten, rät ihm Pluto, sich aus der feindlichen Welt zurückzuziehen: »Dorthin, wo Schönes, Gutes nur gefällt, / Zur Einsamkeit! – Da schaffe deine Welt.« (5.695) Der Herold wiederum kritisiert die Gaben des PoesieKnaben als Maskenschein und decouvriert sie so als bloße Fiktion. Das einfache Volk wird vom Herold als allzu leichtgläubiges Publikum der Poetengaben verspottet: »Ihr Täppischen! Ein artiger Schein / Soll gleich die plumpe Wahrheit sein. / Was soll euch Wahrheit? – dumpfen Wahn / Packt ihr an allen Zipfeln an. – « (5.633). Zudem hat Peter Brandes (2003: 268) herausgearbeitet, dass der freigiebige Knabe, nachdem sein Handeln vom Herold angezweifelt wird, sich und seine Gaben von Plutus, dem Gott des Reichtums, den er als ›Gebieter‹ adressiert, anerkennen lassen muß. Plutus legt, durchaus irritiert von dessen Anerkennungsbedürfnis, Zeugnis ab für den Lenker: »Wenn’s nötig ist daß ich dir Zeugnis leiste, / so sag ich gern: Bist Geist von meinem Geiste. / Du handelst stets nach meinem Sinn, / Bist reicher als ich selber bin. / Ich schätze deinen Dienst zu lohnen« (5.622 ff.). Die rückhaltlose Verausgabung der Poesie wird somit aufgehoben und relativiert. Indem sie benannt, bezeugt und belohnt wird, tritt die Verausgabung in den Zirkel des Tauschs und der Ökonomie. Plutus erklärt den Lenker zu seinem Sohn und macht ihn durch diese 17 Vgl. die Abschiedsrede des Lenkers (5.697 ff.) bevor er abgeht, wie er kam (also: mit Sturmgewalt brausend – freilich mit dem Zusatz, dass er auf Wunsch Plutus’ gerne zurückkehren werde). Bei seinem Abschied erklärt der Poesie-Knabe sich zum ReichtumsVerwandten. Und er bemerkt zudem, dass manche Menschen schwanken zwischen ihm und seiner unerschöpflichen, poetischen Produktivität und andererseits der statischen Fülle und Muße des Plutus: »So acht’ ich mich als werten Abgesandten, / So lieb ich dich als nächsten Anverwandten. / Wo du verweilst, ist Fülle; wo ich bin, / Fühlt jeder sich im herrlichsten Gewinn. / Auch schwankt er oft im widersinnigen Leben: / Soll er sich dir? Soll er sich mir ergeben? / Die deinen freilich können müßig ruhn, / Doch wer mir folgt, hat immer was zu tun.« Hier wird nun das Wesen der Poesie weniger als Verschwendung vorgestellt, denn als Tun, als Produktion – im Wortsinne also als ProDuktion, als Hervor-Führung oder Erscheinen-Lassen.

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Benennungsmacht zu seinem Knecht. Brandes hält jedoch auch eine andere Lesart für möglich, da der Knabe ja am Beginn ihres Auftretens den Plutus zuerst benannte und einführte (5.569). Zwischen Reichtum und Poesie herrscht also eine geradezu Hegelsche Herr-Knecht-Anerkennungs-Dialektik. Freilich streifen wir hier das von Derrida (1991) so rigoros entfaltete Dilemma jeglichen Sprechens über die Gabe, über Verschwendung oder Verausgabung.18 Denn Sprechen heißt Bezeugen, Buchhalten, Speichern der Verschwendung. In dieser Hinsicht ist womöglich gar noch die von Goethe im Amyntas-Gedicht bezeugte und gelobte Selbstverschwendung des leidenschaftlich Liebenden als reine Verschwendung durchgestrichen und aufgehoben in der Sprache.19 Festgehalten und geformt im Gedicht erhält jede Verschwendung nicht nur ihre Speicherung sondern auch ein ästhetisches Maß. Das Selbstopfer des Liebenden für die Geliebte entfaltet der Schluss von Goethes Gedicht Amyntas in Bildern vegetabiler Symbiose, die für den Liebenden jedoch vom bios zum zustimmend sich opfernden, das Leben willig verschwendenden thanatos führt: Nahrung nimmt sie von mir; was ich bedürfte, genießt sie, / Und so saugt sie das Mark, sauget die Seele mir aus. / Nur vergebens nähr ich mich noch; die gewaltige Wurzel / Sendet lebendigen Safts, ach ! nur die Hälfte hinauf. / Denn der gefährliche Gast, der geliebteste, maßet behende / Unterweges die Kraft herbstlicher Früchte sich an. / Nichts gelangt zur Krone hinauf, die äußersten Wipfel / Dorren, es dorret der Ast über dem Bache schon hin. / Ja, die Verräterin ist’s! sie schmeichelt mir Leben und Güter, / Schmeichelt die strebende Kraft, schmeichelt die Hoffnung mir ab. / Sie nur fühl ich, nur sie, die umschlingende, freue der Fesseln, / Freue des tötenden Schmucks, fremder Umlaubung mich nur. / Halte das Messer zurück! o Nikias, schone den Armen, / Der sich in liebender Lust, willig gezwungen, verzehrt! / Süß ist jede Verschwendung; o laß mich der schönsten genießen! / Wer sich der Liebe vertraut, hält er sein Leben zu Rat? (Amyntas, in: Goethe 1988: Bd. 1, 196 f.)

Goethe als Haushälter. Der Minister und Überwacher von Haushaltsbüchern Das große Vermögen von Goethes Vater, der von seinen Zinseinnahmen besser leben konnte als der höchste Frankfurter Stadtbeamte, wurde vom Großvater – einem Damenschneider und mithin in der Luxusbranche – geschaffen. (Vgl. Bohn 1991: 141.) Auf Goethes jugendlich verschwenderisches Studentenleben20 folgte in Weimar eine zwar großbürgerlich üppige doch allemal sehr geregelte Haushaltsführung. Im Amt als Minister für Finanzen, Wegebau und weiteres war Goethe ebenso an penibler Buchführung gelegen wie als privatem Haushaltsvorstand; das manifestiert sich in seinen erhaltenen

18 Zur Logik der Gabe und ihren verschiedenen Theoretikern sowie zu ihrer Operationalisierung für literatur- und zeichentheoretische Überlegungen vgl. auch Blaschke 2004: besonders 100–106. 19 Zu Ökonomie und Verschwendung im Amyntas-Gedicht vgl. auch: Mayer 2005. 20 Anschaulich im eingangs zitierten Brief an Ries vom 20.10.1765.

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Haushaltsbüchern.21 Die vergnügungssüchtigen Verschwendungen des Weimarischen Hofs führten zu jährlichen Ausgaben von 54.000 Talern, denen Einnahmen von nur 44.000 Talern gegenüberstanden. Das konnte den Finanzminister nicht amüsieren.22 Mit dem einprägsamen Bild von Blattläusen auf Rosen, die wiederum von Ameisen ausgesaugt werden, warnte Goethe in einem Brief vor allzu verschwenderischen Ausgaben des unproduktiven Adels.23 Die Armeeausgaben, für die Goethe seit 1779 verantwortlich war, kürzte er deutlich durch Abschaffung der Artillerie und Reduktion der Infanterie von 500 auf 148 Mann (Boyle 1995: 295).24 Freilich versuchte Goethe als Minister wie als Theaterleiter und Haushaltsvorstand vornehmlich eine Steigerung der Einnahmen zu bewirken anstelle einer Kürzung der Ausgaben zwecks Balancierung der Haushaltssalden. Die staatlichen Investitionen in die auf sein Betreiben hin wiedereröffneten Ilmenauer Bergwerke rentierten sich jedoch nicht; so stellten die Bergwerke über Jahrzehnte einen heiklen Bereich seiner ökonomischen Tätigkeiten dar (oder, um deutlicher zu sprechen: eine der raren Situationen, in denen Goethe als Scheiternder erscheint). Ob eine andere Investitionsidee erfolgreicher war, die von Goethe geplanten Steigerungen der Straßenzölle durch deren Neuoder Ausbau, wird in den mir zur Verfügung stehenden Biografien und Handbüchern leider nicht deutlich. Allerdings war Goethe nicht einfach ein Vertreter bürgerlichen Sparsamkeits- und Nützlichkeitsdenkens. Als höchster Hofangestellter bekräftigte er durchaus die Notwendigkeit von höfischer Pracht und Zeremonie; 1785 verwahrt er sich daher gegen eine effizienzsteigernde Vereinfachung des pompösen Kanzleistils. (Vgl. Boyle 1995: 276.) Zudem gab er als Privatmann in Weimar über viele Jahre mehr aus als er einnahm – insbesondere für anonym gegebene wohltätige Spenden. Die Differenz wurde lange von seinem Vater mit Überweisungen aus Frankfurt gedeckt; erst ab 1807 baute sich Goethe ein eigenes Kapital auf. Besonders in den letzten 25 Lebensjahren lebte der Olympier durchaus spendabel, wie die eingekauften Leckereien in den Haushaltsbüchern bestätigen. Von Überfluss darf man wohl ganz buchstäblich sprechen, was Goethes überaus üppige Bestellungen feiner Weine von Rhein und Mosel, aber auch aus dem Ausland betrifft. Für sie wendete er etwa 20 Prozent der (die Personalkosten für mehrere Angestellte einschließenden) Haushaltsausgaben auf.

21 Vgl. Bohn 1991: 144 sowie die Artikel ›Haushaltsführung‹ und ›Amtliche Tätigkeiten‹ im Goethe Handbuch. 22 Vgl. Bohn 1991: 147 f., sowie Boyle 1995: 279. 23 Im Brief an C. L. von Knebel vom 17.04.1782 schreibt Goethe: »So steig ich durch alle Stände aufwärts, sehe den Bauersman der Erde das Nothdürftige abfordern, das doch auch ein behäglich auskommen wäre, wenn er nur für sich schwizte. Du weißt aber wenn die Blattläuse auf den Rosenzweigen sitzen und sich hübsch dick und grün gesogen haben, dann kommen die Ameisen und saugen ihnen den filtrirten Safft aus den Leibern. Und so gehts weiter, und wir habens so weit gebracht, daß oben immer in einem Tage mehr verzehrt wird, als unten in einem organisirt [darüber: beygebracht] werden kann.« (vgl. Goethe-WA-IV, Bd. 5, S. 311–312). 24 Der Artikel ›Amtliche Tätigkeit‹, im Goethe Handbuch Bd 1: 37 spricht hingegen von einer Kürzung auf 248 Mann (statt 148).

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Das Sprechen von ›Verschwendung‹ in Goethes Schriften (jenseits der Reden des poetischen Knaben Lenker) indiziert aber doch fast durchgängig eine bedrohliche Praxis und hat mithin pejorativen, nicht rühmenden Charakter. Bezeichnend hierfür ist das Gespräch mit Eckermann vom 1824 über das Talent Friedrich von Müllers; Goethe empfahl diesem dringlich das maß- und planvolle Haushalten mit Kräften und Projekten: ›… schreiben Sie das Anerbieten ab, es liegt nicht in Ihrem Wege. Überhaupt hüten Sie sich vor Zersplitterung und halten Sie Ihre Kräfte zusammen. Wäre ich vor dreißig Jahren so klug gewesen, ich würde ganz andere Dinge gemacht haben. Was habe ich mit Schiller an den ›Horen‹ und ›Musenalmanachen‹ nicht für Zeit verschwendet! Gerade in diesen Tagen, bei Durchsicht unserer Briefe ist mir alles recht lebendig geworden, und ich kann nicht ohne Verdruß an jene Unternehmungen zurückdenken, wobei die Welt uns mißbrauchte und die für uns selbst ganz ohne Folge waren. Das Talent glaubt freilich, es könne das auch, was es andere Leute thun sieht; allein es ist nicht so, und es wird seine faux-frais bereuen. […] ›Es kommt darauf an,‹ fuhr Goethe fort, ›daß Sie sich ein Kapital bilden, das nie ausgeht. Dieses werden Sie erlangen in dem begonnenen Studium der englischen Sprache und Literatur.‹

Als Ausnahmen von diesen (überwiegenden) Warnungen vor Verschwendung dürfen, neben den eingangs zitierten Passagen aus den Frühwerken, das Liebesgedicht Amyntas gelten sowie eine Bemerkung in den Noten zum Diwan25, ein Brief an Zelter 1827, der die die ambivalente Thorheit seiner verschwenderischen Majolika-Einkäufe erklärt26 und das in der Italienischen Reise wiederholt angestimmte Lob des verschwenderischen Überflusses in der italienischen Natur wie Kultur, der einen müßiggängerischen Lebenswandel ermögliche27.

25 In Goethes Noten und Abhandlungen zum Diwan heißt es über die (dem Knaben Lenker analoge) poetische Verausgabungsökonomie der Dichtung: »[Poeten und Propheten] beyde sind von einem Gott ergriffen und befeuert, der Poet aber vergeudet die ihm verliehene Gabe im Genuß, um Genuß hervorzubringen, Ehre durch das Hervorgebrachte zu erlangen, allenfalls ein bequemes Leben. Alle übrigen Zwecke versäumt er, sucht mannichfaltig zu sein, sich in Gesinnung und Darstellung grenzenlos zu zeigen.« (zit. nach Goethe & Schöne 2003: II, 445). 26 Aus dem Brief an Zelter vom 6.11. 1827: »Auch recht hübsche Zeichnungen, um mäßigen Preis, sind mir zugekommen und ich erwarte eine Sendung Majolika von Nürnberg; dieß ist eine Art Thorheit, in die mein Sohn mit einstimmt. Indessen gibt die Gegenwart dieser Schüsseln, Teller und Gefäße einen Eindruck von tüchtig-frohem Leben, das eine Erbschaft großer mächtiger Kunst verschwendet. Und wie man denn doch gern mit Verschwendern lebt, die sich und uns das Leben leicht machen, ohne viel zu fragen, woher es kam und wohin es geht; so sind diese Dinge, wenn man sie in Masse vor sich sieht, von der allerlustigsten Bedeutung. Wie kümmerlich sind dagegen unsere Porcellanservice«. (Goethe-WA-IV, Bd. 43, S. 149–150) 27 Vgl. etwa: Goethe 1988: Bd. 11: 359 f. und 382 f.

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Goethe als Theaterdirektor zwischen barocker Verausgabung und klassizistischer Raffung Der Theaterdirektor fordert im Vorspiel zum Faust vom Dichter und von allen Theatergewerken den verausgabenden Einsatz der Mittel.28 Denn das vielfältig gemischte und weitgehend ungebildete Publikum lasse sich nur dadurch ins Theater locken. Nur so fülle sich die Kasse. Diese geplante, mithin auf künftige Publikumseinnahmen kalkulierte Verausgabung ist folglich eine Investition: »Ich sag’ Euch, gebt nur mehr und immer, immer mehr, / so könnt Ihr Euch vom Ziele nicht verirren. / Sucht nur die Menschen zu verwirren, / Sie zu befriedigen ist schwer – –.« (129ff.). Am Ende des Vorspiels auf dem Theater befiehlt der auf Publikumsnachfrage fixierte Direktor seinen Mitarbeitern den verschwenderischen Einsatz aller Theatermittel: Drum schonet mir an diesem Tag / Prospekte nicht und nicht Maschinen. / Gebraucht das große und das kleine Himmelslicht, / Die Sterne dürfet Ihr verschwenden; / An Wasser, Feuer, Felsenwänden, / An Tier und Vögeln fehlt es nicht. / So schreitet in dem engen Bretterhaus / Den ganzen Kreis der Schöpfung aus. (233 ff.)

Diese ökonomische Anschauungsweise des Theaterspiels durch den Direktor wird im Faust-Vorspiel zwar durch die kontrastierenden Anschauungen des Dichters und der Lustigen Person dialogisch relativiert; doch finden sich in den programmatischen Prologen, die Goethe für Theatereröffnungen oder Gastspiele verfasste, ganz ähnliche Bekenntnisse zu einer Poetik der Mannigfaltigkeit. So lautet die pluralistische (gleichermaßen auf verschwenderischer Fülle wie auf dem Kalkül eines return on investment basierende) AngebotsPoetik in Goethes Prolog in Halle 1811: Das Mannigfaltige Vorzutragen ist unsere Pflicht, / Damit ein jeder finden möge was behagt; / Was einfach, rein natürlich und gefällig wirkt, / Was allgemein zu jedem frohen Herzen spricht; / Doch auch das Possenhafte werde nicht verschmäht: / Der Haufe fordert, was der ernste Mann verzeiht. / Und diesen zu vergnügen sind wir auch bedacht: / Denn manches, was zu stiller Überlegung euch, / Zu tiefrem Anteil rührend anlockt, bringen wir, / Entsprossen vaterländ’schem Boden, fremdem auch, / Anmutig Großes; dann das große Schreckliche. / So schaffet Mannichfaltigkeit die höchste Lust, / Beschäftigt leicht den Geist und Sinn Gebildeter, / Und bildet jeden, den zum Urteil sie erregt. (Nach Hinck 1982: 42)

Freilich ist auch das Ausbreiten von Formenvielfalt, die hier versprochene Gabe diverser Gattungen, noch kein Plädoyer für rückhaltlose Verausgabung. Noch viel weniger gilt dies für Goethes Prolog Was wir bringen, vorgetragen bei der Eröffnung des neuen Schauspielhauses zu Lauchstädt 1802. In der 28 Zu Goethes Ökonomik als Schriftsteller auf dem Literaturmarkt, seinen Investitionen in symbolisches Kapital und seinen Verhandlungen über die monetäre Bezahlungen seiner Werke vgl.: Norbert Christian Wolf (2005: besonders 69 ff.).

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strengen Form des Sonetts plädiert der Klassizist hier deutlich für Bändigung und für Formenstrenge statt Verausgabung:29 Natur und Kunst sie scheinen sich zu fliehen, Und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden; Der Widerwille ist auch mir verschwunden, Und beide scheinen gleich mich anzuziehen. Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen! Und wenn wir erst, in abgemeßnen Stunden, Mit Geist und Fleiß, uns an die Kunst gebunden; Mag frei Natur und Herzen wieder glühen. So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen. Vergebens werden ungebundne Geister Nach der Vollendung reiner Höhe streben Wer Großes will muß sich zusammenraffen. In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben. (Nach Hinck 1982: 42, Hervorhebungen der ökonomischen Semantik von B. B.)

Das hier monierte ›vergebliche Streben ungebundner Geister nach der Vollendung reiner Höhe‹ liest sich wie ein Kommentar zum riskanten Dasein des Euphorion und mithin auch als weitere relativierende Rücknahme der verschwenderischen (Schein-)Gaben des Knaben Lenkers. Doch musste der Klassizist Goethe wiederum die Erfahrung machen, dass allzu strenge Kunst-Exerzitien beim Publikum nicht ankommen. Der sogenannte Weimarer Stil der Theateraufführungen konstituierte sich nicht nur durch die Mischung aus publikumsaffinen Erfolgsstücken von Iffland und Kotzebue und einem anspruchsvollen internationalen Kanon von Shakespeare und Voltaire bis Schiller und Goethe. Auch im Einsatz von Bühnenbild, Requisiten, Körpersprache und vor allem Kostümen herrschte bei Goethe eine pragmatische Mischung von maßvoller Strenge und verschwenderischem Prunk. Die große Biografie von Boyle berichtet, dass noch oder gerade bei Goethes klassizistischem Muster-Stück, der Iphigenie, das Premierenpublikum vor allem durch die aufwendigen griechischen Kostüme hingerissen war. (Boyle 1995: 318) Und auch sonst seien Bühneneffekte und spektakuläre Kostüme die Attraktionen in Goethes Theaterarbeit gewesen. Nicht Verausgabung und Verschwendung sind die Maximen des Theaterleiters Goethe, sondern angemessene Investitionen, die sich an der Theaterkasse amortisieren sollen. So erklärt Goethe im Gespräch mit Eckermann am 27.03.1825, also acht Jahre nach seinem zornigen Abschied als Weimarer Theaterleiter, dass Sparsamkeit an Schauspielergagen der falsche Weg zur

29 Vgl. dazu auch Goethes Vorbehalte gegen die ›Einbildungskraft‹ im Goethe Handbuch und ebendort auch die beiden Lemmata ›Enthusiasmus‹ und ›Entsagung‹, beide gewichtige, einander kompensierende Bausteine Goethescher Kunst- und Lebensanschauung.

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Konsolidierung des Theaterhaushalts sei; besser solle man 40 zusätzliche Spiel- und Einnahmetage durch Sonntagsaufführungen gewinnen: Ich weiß recht gut, fiel Goethe ein, man wird unter dem Vorwand, die Kasse zu schonen, einige Persönchen engagieren, die nicht viel kosten. Aber man denke nur nicht, mit solchen Maßregeln der Kasse zu nützen. Nichts schadet der Kasse mehr, als in solchen wesentlichen Dingen sparen zu wollen. Man muß daran denken, jeden Abend ein volles Haus zu bekommen […] Ich habe in meiner langen Praxis, sagte Goethe, als Hauptsache gefunden, daß man nie ein Stück oder gar eine Oper einstudieren lassen solle, wovon man nicht einen guten Sukzeß auf Jahre hin mit einiger Bestimmtheit voraussieht.

Vereinnahmen und Verausgaben als Pendel oder Balance Der Dichter und der Theaterdirektor des Vorspiels sind ebenso wie der Knabe Lenker als Rollenprosa aufgehoben in der höheren dialogischen Einheit des Faust-Dramas. Hierzu ist vor allem auch die Rahmung der gesamten FaustHandlung mit der Wette im Himmel und der schlussendlichen Erlösung des immerzu Strebenden zu betrachten. Die ruhelose Selbstverausgabung des Protagonisten, der sich jeden Genuss versagt, wird als diesseitige, folglich nur scheinbar rückhaltlose Verausgabung aufgehoben in Gottes höheren Plänen und Ordnungen. Durch die Wette im Prolog und die finale Erlösung durch Gottes Gnade (als höchste aller Gaben) fungiert Gott hier als eine Art unsichtbare Hand, die alle Irrwege und Verschwendungszüge Fausts aufhebt und umwertet zu einem produktiven Irren. Das ambivalente Lob der Verausgabung in der Dichtung und in der Liebe (wie es das Gedicht Amyntas formuliert) steht Goethes so generöser wie solider Haushaltsführung als Minister wie als Privatmann gegenüber. Die Figuren der Verausgabung, besonders Lenker/Euphorion, perspektivierte Goethe kritisch – als Verkörperung abwegiger Romantiker. Die gleiche kritische Distanz markiert Goethes Haltung gegen die moderne Kreditwirtschaft, die auf vorauslaufender Verausgabung und unendlicher Verschuldung fußt. Freilich prägte der Dichterminister mit Mephistos Papiergeldemission und mit Fausts unstillbarem Begehren so treffliche wie ambivalente und vieldeutige Symbole für die gleichermaßen produktive wie riskante moderne Zeichen- und Kredit-Ökonomie. In seiner Theaterarbeit verbindet Goethe – letztlich aus pragmatischen wie ästhetischen Gründen – barock-feudale Prächtigkeit und eine klassizistische Reduktion der Mittel. Sein Spätwerk Faust II steht mit seinem Überfluss an metrischen und rhythmischen Formen, an Maskenzügen, Tänzen, Musik und chorischen Gruppen, mit seinem Überfluss an Fabelwesen und Gottheiten sowie mit seiner Fülle an Symbolen und Allegorien gewiss für ein Sprechen aus dem Überfluss.30 Es inszeniert wie kein anderes Bühnen-Gesamtkunstwerk den Reichtum an Sprachformen und Symbolen.31 30 Für noch weitergehende Deutungen und Überlegungen zur Motivik und Ökonomik des Überflusses in Goethes Faust könnte man noch diverse weitere Bilder und Diskurse des

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Doch bleibt es fraglich, ob man diesen wohlgeordneten Einsatz von Zeichen und Formen zur Darstellung der Fülle des Lebens als Verausgabung bezeichnen möchte. Im (nachgoetheschen) Sinne der Thermodynamik ist ein Werk wie der Faust mit seiner Fülle an internen und intertextuellen Beziehungen doch eher ein Musterbeispiel für Neg-Entropie, für gebändigte, geordnete und geformte Phantasie-Energie. Zum Verhältnis von überfließender Fülle an Stoff, den die Welt dem Dichter verschwenderisch freigiebig offeriert, und der poetischen Aufgabe der Formung und Bewältigung finden sich in den Anmerkungen zum West-östlichen Diwan folgende poetologischen Bemerkungen unter der Überschrift ›Eingeschaltetes‹: Die Besonnenheit des Dichters bezieht sich eigentlich auf die Form, den Stoff gibt ihm die Welt nur allzu freigebig, der Gehalt entspringt freiwillig aus der Fülle seines Innern; bewußtlos begegnen beide einander, und zuletzt weiß man nicht, wem eigentlich der Reichtum angehöre. Aber die Form, ob sie schon vorzüglich im Genie liegt, will erkannt, will bedacht sein, und hier wird Besonnenheit gefordert, daß Form, Stoff und Gehalt sich zueinander schicken, sich ineinander fügen, sich einander durchdringen. (Goethe 1988: Bd. 2, 178)

Zwar ist das Stationendrama Faust von seiner Tektonik wie von seiner Interpretationsoffenheit her gewiss ein offenes Drama im Sinne der Typologie von Volker Klotz.32 Doch möchte man im Widerspruch zu den geniehaften doch Fließens und Überfließens kommentieren und kontextualisieren: etwa die Ströme des mephistophelisch gezauberten Weins in Auerbachs Keller; aber auch Homunculus’ Gang ins Meer und die Diskurse zwischen Neptunisten und Vulkanisten in der Klassischen Walpurgisnacht sowie Mephistos kriegerische Wasser-Tricks im 4. Akt und Fausts Horror vor dem Wellen-Gewimmel im Kontext seiner Landgewinnungspläne im 5. Akt. 31 In seinem Aufsatz Shakespeare und kein Ende stellt Goethe einen Zusammenhang her zwischen dem Reichtum der Epoche und dem Dichter, der diesen Überfluss an Künsten und Wissen in seinem Werk aufnimmt, verarbeitet und an die Nachwelt wirkend weitergibt: »Aber auch die zivilisierte Welt muß ihre Schätze hergeben; Künste und Wissenschaften, Handwerke und Gewerbe, alles reicht seine Gaben dar. Shakespeares Dichtungen sind ein großer belebter Jahrmarkt, und diesen Reichtum hat er seinem Vaterlande zu danken. // Überall ist England, das meerumflossene, von Nebel und Wolken umzogene, nach allen Weltgegenden tätige. Der Dichter lebt zur würdigen und wichtigen Zeit und stellt ihre Bildung, ja Verbildung mit großer Heiterkeit uns dar, ja er würde nicht so sehr auf uns wirken, wenn er sich nicht seiner lebendigen Zeit gleichgestellt hätte.« (Goethe 1960 ff: Bd 18, 150). 32 Schiller warnte Goethe in seinem Brief (vom 23.06.1797) vor der beim Faust-Stoff drohenden Formlosigkeit und forderte deren Bändigung durch philosophische Leitideen. »Die Duplizität der menschlichen Natur und das verunglückte Bestreben das Göttliche und Physische im Menschen zu vereinigen verliert man nicht aus den Augen, und weil die Fabel ins Grelle und Formlose geht und gehen muß, so will man nicht bei dem Gegenstand stille stehen, sondern von ihm zu Ideen geleitet werden. Kurz, die Anforderungen an den Faust sind zugleich philosophisch und poetisch, und Sie mögen sich wenden wie Sie wollen, so wird ihnen die Natur des Gegenstandes eine philosophische Behandlung auflegen, und die Einbildungskraft wird sich zum Dienst einer Vernunftidee bequemen müssen.« Goethe jedoch widersetzte sich – erneut mit Bezugnahme auf den Reichtum, die Fülle und die Mannigfaltigkeit des Lebens – diesem Begehren nach der ordnenden doch auch beschränkenden Leitidee. Gegenüber Eckermann verwahrte er sich am 06.05.1827 gegen die Zumutungen reduktionistischer Deutungen: »Da kommen sie und fragen: welche Idee ich in meinem Faust zu verkörpern gesucht? – Als ob ich das selber wüßte und

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kurzlebigen Verausgabungsbewegungen von Lenker und Euphorion gerade die Formenlogik des Zweiten Teil des Faust eher charakterisieren als archivierende Poetik der Vereinnahmung, mithin als eine Versammlung kultureller und ästhetischer Figuren und Formen.33 Als Vereinnahmung von Mythen und Texten, die freilich nicht einfach unproduktiv gehamstert werden, sondern die in der Dichtung neu verbunden und geformt ans Publikum zurückgegeben (oder womöglich, durch den Grad ihrer innovativen Rekombination: neu gegeben?) werden.34 So wäre Goethe als Poet ein Nehmender und ein Gebender, ein Vereinnahmender und Verausgabender.35 Die organizistische Denkfigur von Systole und Diastole, von Einatmen und Ausatmen, von Kontraktion und Detraktion war Goethes favorisiertes Bild für solche polaren Pendel-Prozesse des Metabolismus. Als Finanzminister wie als Dichter (zumindest seines archivarisch intertextuellen Spätwerks) folgte Goethe also keineswegs der draufgängerischen Verausgabung seiner Figuren Euphorion oder Knabe Lenker. Seine Maxime dürfte man vielmehr bestimmen als: Keine Verausgabung ohne Vereinnahmung.

Literatur: Adelung, Johann Christoph (1793–1801): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Ausgabe letzter Hand. 4 Bde. Leipzig: Breitkopf. Blaschke, Bernd (2004): Der homo oeconmicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline. München: Fink. Bohn, Volker (1991): Johann Wolfgang von Goethe. In: Karl Corino (Hg.): Genie und Geld. Vom Auskommen deutscher Schriftsteller. Reinbek: Rowohlt. Boyle, Nicholas (1995): Goethe. 1749–1790. München: Beck. Brandes, Peter (2003): Goethes Faust. Poetik der Gabe und Selbstreflexion der Dichtung. München: Fink. De Man, Paul (1983): The Rhetoric of Temporality. In: Ders.: Blindness and Insight. Minneapolis: University of Minnesota Press, S. 187–228. aussprechen könnte! –Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, das wäre zur Not etwas; aber das ist keine Idee, sondern der Gang der Handlung. […] Es hätte auch in der Tat ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches, buntes und höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im Faust zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen!« 33 Vgl. Brandes 2003: 10 f. sowie die Dissertation von Steffen Schneider 2005. 34 Eine solche affirmative Poetik des Reichtums und der kalkulierten (statt der rückhaltslosen, wilden) Verschwendung formuliert das folgende Gedicht (Nr. 77 aus den im Rahmen der Ausgabe letzter Hand 1827 publizierten ›Inschriften, Denk- und Sendeblättern‹): »Wohin er auch die Blicke kehrt und wendet, / Je mehr erstaunt er über Kunst und Pracht, / Mit Vorsatz scheint der Reichtum hier verschwendet, / Es scheint, als habe sich nur alles selbst gemacht. / Soll er sich wundern, daß das Werk vollendet? / Soll er sich wundern, daß es so erdacht? / Ihn dünkt, als fang er erst, mit himmlischem Entzücken, / Zu leben an in diesen Augenblicken.« (Goethe 1960: Bd. 1, 752). 35 Vgl. Brandes 2003 für einen umfangreichen Nachvollzug dieser Vereinnahmungs- oder Anleihebewegungen und der (von Brandes meines Erachtens übergewichteten) Verausgabungsfiguren in Goethes Faust.

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Derrida, Jacques (1991): Donner le temps 1. La fausse monnaie. Paris: Galilée. Goethe, Johann Wolfgang (1887–1912): Briefe. In: Goethes Werke. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. IV. Abteilung: Goethes Briefe. Bd. 1–50. Weimar: Böhlau. Goethe, Johann Wolfgang (1960): Gedichte. Ausgabe letzter Hand 1827. In: Berliner Ausgabe. Bd. 1. Berlin: Aufbau. Goethe, Johann Wolfgang (1960 ff.): Berliner Ausgabe. Berlin: Aufbau. Goethe, Johann Wolfgang (1964): Götter, Helden und Wieland. In: Berliner Ausgabe. Bd. 5. Berlin: Aufbau. Goethe, Johann Wolfgang (2003): Faust. Hg. v. Albrecht Schöne. 2 Bde. Frankfurt a. M.: Insel. Goethe, Johann Wolfgang (1999): Faust-Dichtungen. Hg. v. Ulrich Gaier. 3 Bde. Stuttgart: Reclam 1999. Goethe: Johann Wolfgang (1988): Hamburger Ausgabe. Hg. v. E. Trunz. München: dtv. Hamacher, Werner (1994): Faust. Geld. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik. Paderborn u. a.: Schöningh, S. 131–187. Hinck, Walter (1982): Goethe. Mann des Theaters. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hörisch, Jochen (1996): Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mahl, Bernd (1982): Goethes ökonomisches Wissen. Grundlagen zum Verständnis der ökonomischen Passagen im dichterischen Gesamtwerk und in den ›Amtlichen Schriften‹. Frankfurt/Bern: Lang. Mattenklott, Gert (1996): »Faust II«. In: Theo Buck (Hg.): Goethe Handbuch. Bd 2: Dramen. Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 391–477. Mayer, Mathias (2005): Ökonomie und Verschwendung in der klassischen Lyrik Goethes: ›Episteln‹ und ›Amyntas‹. In: Goethe Jahrbuch 122, 62 bis 75. Schneider, Steffen (2005): Archivpoetik. Die Funktion des Wissens in Goethes »Faust II«. Tübingen: Niemeyer. Vogl, Joseph (2002): Kalkül und Leidenschaft: Poetik des ökonomischen Menschen. München: Sequenzia. Wolf, Norbert Christian (2005): Gegen den Markt. Goethes Etablierung der doppelten Ökonomie. In: Thomas Wegmann (Hg.): Markt literarisch. Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 12, S. 59–74.

»UN DRAME DANS LA LANGUE FRANÇAISE.« VERAUSGABUNGSPROZESSE IM LITERARISCHEN THEATER VON VALÈRE NOVARINA KERSTIN BEYERLEIN I Éreintée, fatiguée, kaputt, dans les choux, ras dans les choses, lessivée, plus bas que terre, dans les cordes, sur les rotules, à la ramasse, maffie, dans le potage, sur cent dix volts, vivement ce soir qu’on s’couche, schlasss, naze, vannée, nazebrock, k.-o., rétamée, claquée, rincée, h. s., crevée, ratatinée, exténuée, vidée, morte, cassée, flapie, flagada, tête à zéro, rien dans les pattes, à plat, fourbue, cuite, groggy, foutue, dans l’creux, décalquée, épuisée, liquéfiée, au bout du rouleau, direction la boîte, détruite, au trent-sixième dessous, raplapla, ruinée, cannée, dissoute, sur la touche, en panne, à ramasser à la petite cuiller, au bout du braquet.1 (Novarina 2003: 48– 49)

Diese Reihe von Synonymen für einen fortgeschrittenen Erschöpfungszustand entspricht einer Replik im Stück La Scène von Valère Novarina. Sie erscheint paradigmatisch für seine Arbeit, die Textproduktion und Inszenierungen umfasst und in der körperliche Verausgabung eine wesentliche Rolle spielt. In der Inszenierung von La Scène (UA 2003, Théâtre de Vidy Lausanne) wird die Replik von Laurence Vieille übernommen, einer Schauspielerin, die mit eigentümlich gepresster, belegter und angestrengter Stimme spricht und in diesem Abschnitt immer schneller und lauter wird. Dabei gerät sie deutlich hör- und sichtbar außer Atem und lässt die im Text evozierte körperliche Verausgabung Realität werden. Die sich im Sprechen von Laurence Vieille manifestierende Erschöpfung liegt dabei nicht nur in ihrer besonderen stimmlichen Veranlagung und in der von ihr gewählten spezifischen Sprechweise des Textes begründet, sondern auch im Text selbst, der die 1

»Erschöpft, müde, kaputt, […], erledigt, […], in den Seilen, fix und fertig, […], wenn doch erst heut Abend wär, besoffen, dösig, geschafft, lahm, K. O., hinüber, am Ende, ausgewrungen, außer Betrieb, verreckt, geplatzt, platt gemacht, ausgelaugt, leer, tot, zerschlagen, matt, schlaff, Kopf auf null gefahren, […], ausgepumpt, abgekämpft, entkräftet, groggy, im Eimer, […], ausgezehrt, geschmolzen, […], zerstört, untergebuttert, schlapp, ruiniert, eingedost, aufgelöst, im Abseits, Totalausfall, […].« Sofern es keine publizierte Übersetzung gibt, sind die in den Fußnoten angegebenen deutschen Fassungen, so wie die vorhergehende, eine freie Übersetzung der Verfasserin. Die wenigen auf Deutsch veröffentlichten Texte wurden von Novarinas langjährigem Schauspieler Leopold von Verschuer übersetzt: Brief an die Schauspieler und Für Louis de Funès, Berlin: Alexander 1998 und 2007; Die eingebildete Operette, Berlin: Alexander Verlag 2001 ; Der rote Ursprung. In: Berbara Engelhardt (Hg.) (2003): Scène. Neue französische Theaterstücke, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren. (Deutschsprachige Uraufführung im Theater am Neumarkt, Zürich, Januar 2007, Regie: Leopold von Verschuer).

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Schauspielerin formal durch die Länge der Aufzählung sinnverwandter Wörter herausfordert. Dieses kleine Beispiel illustriert in konzentrierter Form, dass körperliche Verausgabung in Novarinas Arbeit nicht nur auf der inhaltlichen Ebene zur Sprache kommt, sondern vor allem in der Gestaltung der Texte angelegt ist und szenisch realisiert wird. Es macht zunächst deutlich, dass die Verknüpfung von Text- und Aufführungsebene auf Seiten der Schauspieler physische Erschöpfungszustände produziert, die, wie sich zeigen wird, für die theaterästhetische Einordnung der Inszenierungen von Bedeutung sind. Über diese konkrete Verausgabung hinaus werde ich den Begriff der Verausgabung auch in seinem symbolischen Verständnis zur Analyse von Novarinas Arbeiten heranziehen. Denn durch das Zusammenspiel von konkreter und symbolischer Verausgabung gelingt es ihm, ein neues, d. h. ebenbürtiges Verhältnis zwischen Text und Aufführung zu etablieren. In meinem Beitrag möchte ich daher unter Anwendung eines vielschichtigen Verausgabungsbegriffs an Novarinas Beispiel exemplarisch zeigen, wie die Beziehung zwischen Text und Aufführung heute neu vermessen werden kann, ohne eine hierarchische Ordnung zu postulieren.

II Im eingangs zitierten Beispiel offenbart sich mit den Aufzählungen ein stilistisches Prinzip, das Novarina in seinen Texten sehr ausgiebig umsetzt, so dass es nicht nur für den hier ausgewählten Abschnitt prägend wirkt. Den Aufzählungen kommt zum einen die bereits angedeutete Aufgabe zu, allein durch ihre Länge die Schauspieler im Sprechen physisch herauszufordern. Darüber hinaus sind sie allerdings nicht nur formal, sondern auch inhaltlich auf die zukünftige Verlautbarung hin ausgerichtet. Während die Aufzählungen auf semantischer Ebene eine Art Synonymduden für thematisch geordnete Ausdrücke, Namen oder Begrifflichkeiten bilden, sind sie auf der Signifikantenebene Ausdruck einer anders gewichteten Sammelleidenschaft des Autors, der die Listen hauptsächlich nach klanglichen Kriterien zusammenstellt. Wenn Novarina am Ende seines Textes Le Discours aux animaux (Novarina 1987) 1.111 Vogelnamen zusammenträgt, dann tut er dies in der militanten Absicht, gegen die klangliche Verarmung der floskelhaften Alltagssprache anzukämpfen. Er verfasst ›Rote Listen‹ bedrohter Wörter, für deren Klanggestalten er eine besondere Faszination hegt und deren Materialität er erkundet. Seine Leidenschaft gilt nicht nur der französischen Gegenwartssprache, auch wenn sie ihm aufgrund ihrer Homophonien als die schönste Sprache der Welt erscheint (Novarina 1987: 153), sondern auch diversen Sprachschichten, Etymologien, Dialekten, alten Sprachen und Fremdsprachen, in die er hinabtaucht. Auf diese Weise erstellt er so megaloman anmutende Aufzählungen wie in seinem Werk La Chair de l’homme (Novarina 1994), das auf den ersten 29 der insgesamt 526 Seiten mit einer Reihe imagi-

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närer Namen anhebt, um an anderer Stelle 786 Gottesdefinitionen, 1.471 Spitznamen oder auch 1.708 Flussnamen aneinanderzureihen.2 Auch wenn sich Novarinas Texte aufgrund der umfangreichen Aufzählungen äußerlich nicht immer als Theatertexte zu erkennen geben, begründet diese ausgeprägte Dimension der Lautlichkeit zweifellos zugleich ihre theatralische Qualität. Die Notwendigkeit ihrer stimmlichen Verlautbarung und damit ihrer szenischen Realisierung ist den Texten offenbar genuin eingeschrieben. Damit fügen sie sich allerdings nur scheinbar in das Schema, welches heute für die qualitative Bestimmung von Theatertexten bereitsteht, denen als »literarische Textsubstrate« (Pfister 2001: 25) prinzipiell das Bedürfnis einer szenischen Ergänzung zugedacht wird (vgl. Fischer-Lichte, Weiler, Schwind 1985; Höfele 1991; Müller 1992; Poschmann 1997). Denn trotz ihrer offensichtlichen Eignung für eine stimmliche Umsetzung, weist Novarina ihnen einen anderen Status zu und beschreibt ihren Übergang von der Schrift zur gesprochenen Sprache weniger als notwendige Vollendung, denn als Übertritt in einen anderen Aggregatzustand: Ce voyage du texte d’un monde à l’autre peut être comparé à ce qui advient en physique lorsqu’un corps passe d’un milieu à l’autre, change d’élément. […] il n’y a pas pro-longement, acquisition d’une autre qualité, revêtement d’un habit nouveau – non pas quelque chose qui s’ajoute (le texte plus la voix, plus le corps, plus l’espace…) -, mais passage d’une frontière, métamorphose.3 (Novarina 2006: 89–90)

Sehr deutlich grenzt Novarina sich hier von der modernen Dramentheorie ab und weigert sich, die szenische Umsetzung mit einer materiellen und körperlichen Ergänzung des Textes gleichzusetzen. Stattdessen suggeriert das Bild der unterschiedlichen Aggregatzustände, dass auch der schriftliche Text als vollständig angesehen werden kann. In Abgrenzung zum heutigen theaterund literaturwissenschaftlichen Konsens der Ergänzungsbedürftigkeit von Theatertexten postuliert Novarina damit ein ebenbürtiges Verhältnis zwischen Text und Aufführung. Ihm zufolge muss der Text – einmal geschrieben – nicht mehr vollendet werden. Er ist es bereits. Indem Novarina dem Text eine literarische Vollwertigkeit zuerkennt, gerät er schnell in den Verdacht, ein Theaterverständnis reanimieren zu wollen, das seit langem obsolet ist und unter dem Oberbegriff »Literaturtheater« den dramatischen Text gegenüber einer sekundären Aufführung absolut setzte. Mit einer solchen Einschätzung jedoch würde die Innovationskraft seiner Ar-

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Aus leicht ersichtlichen, nämlich v. a. pragmatischen Gründen wurde La Chair de l’homme nur in adaptierter Form inszeniert. Mit Bezug auf die Erstellung gekürzter Bühnenfassungen bezeichnet Novarina jedoch den Unterschied zwischen Buch und Bühne als eine Frage der Relationen (Renaude 1991: 9) und führt einleuchtend aus, dass der Aufzählungseffekt für den Schauspieler und den Theaterzuschauer sehr viel schneller seine Grenzen erreiche als für den Leser eines Buches. »Diese Reise des Textes von einer Welt in die andere kann mit dem physikalischen Vorgang verglichen werden, wenn ein Körper von einem Milieu in ein anderes übertritt, sein Element wechselt. […] Es handelt sich nicht um eine Verlängerung, die Aneignung einer anderen Eigenschaft, das Überstreifen einer neuen Kleidung – es fügt sich nichts hinzu (der Text plus die Stimme, plus der Körper, plus der Raum…) –, sondern um den Übertritt einer Grenze, eine Metamorphose.«

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beit durch die vorschnelle Verwendung überholter und ebenfalls hierarchisierender Kategorien eingeebnet. Auch gleichen sich Novarinas Äußerungen über das Verhältnis zwischen Text und Aufführung in ihrer alternierenden Gewichtung zugunsten der einen und der anderen Seite aus und können daher nicht als Hinweis auf eine wie auch immer geartete Rangordnung zwischen beiden Größen herangezogen werden. Vielmehr können sie in ihrer Widersprüchlichkeit als geschicktes Verwirrspiel des Autors interpretiert werden, der sich der Virulenz des Spannungsfeldes, in das er sich mit seiner Arbeit einschreibt, sehr wohl bewusst ist. Stattdessen scheint es angebracht, die Idee der Aggregatzustände ernst zu nehmen und zunächst als Arbeitshypothese in ihren möglichen Konsequenzen auszuloten. Daraus ergibt sich zum einen, dass die schriftliche Textfassung als ausgereift angenommen und ihr literarischer Wert nicht in Abhängigkeit eines späteren szenischen Schicksals gestellt werden sollte. So wie Wasser in einem seiner drei Aggregatzustände verharren kann, ohne in einen anderen überzugehen, sollte in Novarinas Texten von einer Ebene ausgegangen werden, die unabhängig von ihrer Eignung für das Theater Bestand hat – als literarische Qualität. Die genaue Verfasstheit dieser Qualität sollte folglich nicht durch eine dramaturgische, sondern nur durch eine literaturimmanente Überlegung zu ermitteln sein. Darüber hinaus impliziert die Idee der Aggregatzustände, dass Text und Aufführung bei Novarina zu gewissen Teilen dieselben Charakteristika aufweisen. Ich werde im Folgenden daher von der Annahme ausgehen, dass sich beide durch analoge ästhetische Prinzipien auszeichnen. Dabei geht es selbstverständlich nicht um eine zwingende, beispielsweise aus dem Inhalt resultierende Entsprechung zwischen schriftlicher Vorlage und gesprochenem Text. Es geht stattdessen um eine, dem jeweiligen Element – schriftlichem Text oder dreidimensionalem Theaterraum – inhärente Ästhetik, die sich auf jeder Ebene aus einer entweder genuin literarischen oder genuin szenischen Logik heraus entwickelt und trotzdem Parallelen zwischen beiden aufweist. Im Folgenden möchte ich die Idee der Ebenbürtigkeit zwischen Text und Aufführung, die Novarina anhand der Metaphorik von Aggregatzuständen ausdrückt, mithilfe des Verausgabungsbegriffs genauer fassen. Es geht mir darum zu zeigen, dass ihre spezifische Logik in beiden Fällen aus einem Verausgabungsprozess heraus entsteht. Dieser zeichnet sich auf jeder Ebene durch eine Verschränkung von konkreter und symbolischer Verausgabung aus und zeitigt jeweils eine ähnliche Wirkung. Diese lässt sich allgemein als desemantisierend bezeichnen und soll nachstehend präzisiert werden. Mit dem Verausgabungsbegriff kann sowohl für die Aufführung als auch für den Text eine diesen inhärente Ästhetik genauer beschrieben werden. Vergleichbarkeit wie auch Spezifik von Aufführung und Text lassen sich so aufzeigen. Bedient man sich der Metaphorik Novarinas, bedeutet dies, dass sich anhand des Verausgabungsbegriffs die Übereinstimmung aufzeigen lässt, die notwendigerweise zwischen zwei Aggregatzuständen eines Elementes, d. h. in diesem Fall zwischen der schriftlichen und der gesprochenen Form seiner Sprache, bestehen muss. Gleichzeitig zeigt der Begriff, inwiefern sich beide Elemente durch eine autonome Qualität auszeichnen. Damit lässt er Novari-

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nas Konzeption der Ebenbürtigkeit zwischen Text und Aufführung an Kontur gewinnen und demonstriert, dass beide jenseits der gängigen, hierarchisierenden Kategorien miteinander in Bezug gesetzt werden können.

III Novarina spielen heißt, eine Expedition ins Innerste der französischen Sprache zu unternehmen, sprechend bis in ihre fernsten Wurzeln, in das Gedächtnis dieser Sprache hinabzusteigen, aber auch hinauf in die Spitzen, die sie neu zu treiben vermag, unter Einschluss aller Kindereien, die das Spielen mit den Wörtern auch eröffnet, eine Begegnung intensivster Art mit dem Sprachkörper, wenn man denn bereit ist, auch Sprache als etwas Körperliches zu erleben. (von Verschuer 2002: 6)

Leopold von Verschuer beschreibt in seiner Eigenschaft als NovarinaSchauspieler und -Übersetzer seine Erfahrungen mit den Sprachgebilden, die aus den langen Aneinanderreihungen von Namen entstehen, die nichts mehr bedeuten und in denen »jede Sprache ganz bei sich [ist]« (von Verschuer 2002: 5). Er bietet uns einen Einblick in die Erlebniswelt eines Schauspielers, der die endlosen Aufzählungen Novarinas zu Gehör bringen soll. Er berichtet von der Materialität der Sprache, die er in den Mund nimmt und die er sich in diesem Fall auch »in den Mund hinein [übersetzt]« (von Verschuer 2002: 6). Diese Erfahrung stimmt mit der ausgesprochen stofflichen Konzeption von Sprache überein, die Novarina seinem Schreiben als Autor zugrunde legt. Auch wenn er in seinen Äußerungen gern begrifflichen Eklektizismus walten lässt und die Wörter langue, langage, mots oder parole weitgehend synonym zur Beschreibung von Sprache gebraucht, kristallisiert sich bei näherer Betrachtung dennoch eine klare Tendenz zur parole heraus, die Novarina nicht im Saussureschen Sinne, sondern als laut artikulierte, nicht primär sinnorientierte Rede auffasst. In diesem Sinne beschreibt er die parole als etwas Materielles: »C’est l’principal liquide exclu du corps […]. C’est ce qu’il y a de plus physique au théâtre, c’est ce qu’il y a de plus matériel dans le corps. C’te parle, c’est la matière de la matière, et on ne peut rien appréhender de plus matériel que ce liquide invisible et instockable«4 (Novarina 1989: 23–24). Diese Materialität und Körperlichkeit der parole hat verschiedene Konsequenzen für die schauspielerische Arbeit, die Novarina in theoretischen Texten eingehend reflektiert.5 Eine erste Implikation besteht für ihn darin, dass die Körperlichkeit des Sprechens bei der Hervorbringung des Textes nicht kaschiert werden soll. Der Körper darf im Reden hörbar bleiben. So formuliert Novarina in dem Brief an die Schauspieler: »Mâcher et manger le texte. Le spectateur aveugle doit entendre croquer et déglutir, se demander ce

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»Sie ist die wichtigste vom Körper ausgestoßene Flüssigkeit […]. Das ist das Allerkörperlichste, was es im Theater gibt, das ist das Stofflichste, was es im Körper gibt. Diese Spreche, das ist der Stoff der Stoffe, und es ist nichts Stofflicheres zu finden als diese unsichtbare und nicht speicherbare Flüssigkeit« (Novarina 1998: 25). Besonders hervorzuheben sind hier La Lettre aux acteurs und Pour Louis de Funès in: Le Théâtre des paroles (Novarina 1989). Beide Texte liegen in einer hervorragenden deutschen Übersetzung von Leopold von Verschuer vor (vgl. Anm. S. 1).

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que ça mange, là-bas, sur ce plateau. Qu’est-ce qu’ils mangent?«6 (Novarina 1989: 9). Die körperlichen Nebengeräusche des Redens werden hier nicht, wie in der klassischen Vortragskunst, als lästige Nebeneffekte des Sprechens angesehen, sondern sind erwünschte Begleiterscheinungen, die es mit zu Gehör zu bringen gilt. Der Zuschauer soll hören, dass die Sprache hier von Lippen, Zungen, Zähnen, Rachen, Lungen und Stimmbändern hervorgebracht wird. Dabei reduziert sich das Sprechen des Schauspielers nicht auf die Betätigung der oberen Sprechwerkzeuge. Vielmehr wird der gesamte Körper in Anspruch genommen, wie Novarina es in seinem bereits zitierten Brief anlässlich laufender Proben zu einem seiner Stücke explizit einfordert: L’Atelier volant, s’agit pas de le représenter mais de s’y dépenser. Faut des acteurs d’intensité, pas des acteurs d’intention. Mettre son corps au travail. […] Semble même que c’est en s’y dépensant violemment dans le texte, en y perdant souffle, qu’on trouve son rythme et sa respiration. […] Tuer, exténuer son corps premier pour trouver l’autre – autre corps, autre respiration, autre économie – qui doit jouer.7 (Novarina 1989: 20)

Auf einer metaphorischen Ebene ergibt sich aus dieser Beziehung zwischen Schauspieler und Text die Vereinigung zweier Körper – eines Sprachkörpers und eines Schauspielerkörpers – zu einem neuen Körper. Der Schauspieler soll den Text essen, ihn sich einverleiben und ihn zu einem Teil seiner selbst werden lassen. Zwischen ihnen herrscht folglich eher ein fusionelles als ein distanziertes Verhältnis, wie es andernorts oft als charakteristisch für die Gegenwartsdramatik beschrieben wurde (vgl. Poschmann 1997; Opel 2002). Dies deutet darauf hin, dass die Ebenbürtigkeit zwischen Text und Aufführung nicht notwendigerweise mit ihrer Konkurrenz untereinander einhergehen muss, sondern ein konfliktfreies Miteinander denkbar ist. Auf einer sehr konkreten Ebene ergibt sich aus der oben beschriebenen Beziehung, dass der Text hier als Unterstützung für eine rein mechanisch erzeugte, körperliche Verausgabung dient. Das Sprechen des Textes, wenn es denn mit vollem Körpereinsatz und bis zur Atemlosigkeit betrieben wird, versetzt den Schauspieler demnach in die Lage, einen enigmatisch umschriebenen ›anderen Körper‹ zu erlangen, der – so kann man hinzufügen – sich der Repräsentation entzieht und nicht mehr dazu berufen ist, ein mehr oder weniger konstantes Verhältnis mit einer fiktiven Figur einzugehen. Stattdessen vollzieht der Schauspieler eine »déprésentation de l’homme«8 (Novarina 1999: 80) und findet auf dem Wege der physischen Erschöpfung zur Präsen6

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»Den Text zerkauen und essen. Der blinde Zuschauer muss es knacken und schlucken hören, soll sich fragen, was da unten gegessen wird auf dieser Bühne. Was essen die?« (Novarina 1998: 7). »Es geht nicht darum, Die fliegende Werkstatt aufzuführen, sondern sich dabei zu verausgaben. Dafür braucht es Intensitätsschauspieler, nicht Intentionsschauspieler. Mit seinem Körper an die Arbeit gehen. […] Scheint sogar, dass, wenn man sich aufs wildeste an den Text verausgabt und darüber aus der Puste kommt, man seinen Rhythmus finden kann. […] Seinen ersten Körper töten, aufreiben, um den anderen zu finden – andrer Körper, andrer Atem, andre Ökonomie –, der spielen soll.« (Novarina 1998: 20 bis 21). »Depräsentation des Menschen«.

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tation seines Körpers, der nicht mehr als Bedeutungsträger für einen übergeordneten Sinnzusammenhang fungiert. Novarina vollzieht damit eine Logik, die zum gängigen Repertoire des »postdramatischen Theaters« (Lehmann 2001) gehört. Sie besteht vereinfachend formuliert darin, die Schauspieler durch körperlich anstrengende Handlungen in die Unmöglichkeit zu versetzen, etwas anderes zu bedeuten, als sich selbst. Es handelt sich um eine verbreitete Technik, um im Theater Desemantisierungsprozesse auszulösen, die nicht zuletzt dafür verantwortlich ist, dass sich die Funktion des Körpers im postdramatischen Theater exemplarisch am zeitgenössischen Tanz ablesen lässt (Lehmann 2001: 371). In seinem wegweisenden Essay über das postdramatische Theater beschreibt Hans-Thies Lehmann dementsprechend die zentrale Funktion, die der Körper als »agent provocateur einer sinnfreien Erfahrung« (Lehmann 2001: 366) darin einnimmt, und zitiert geradezu modellhaft das Theater Novarinas für seine Methode, den Körper szenisch tragend einzusetzen, ohne ihn in den Dienst der Figuration zu stellen (Lehmann 2001: 367).

IV Mit der Einordnung von Novarinas Theater im Feld der Postdramatik tritt die Provokation besonders deutlich zutage, die mit dem Postulat der Ebenbürtigkeit zwischen Text und Aufführung einhergeht. Schließlich stellt dieses zeitgenössische, performancenahe Theater eine Art Höhepunkt der unter den Schlagwörtern ›Entliterarisierung‹ und ›Theatralisierung‹ im Laufe des 20. Jahrhunderts vollzogenen Abwendung der Theaterschaffenden vom präexistenten Text dar. Diese Tatsache spiegelt sich nicht zuletzt in der von Lehmann eingeführten Begrifflichkeit wider, die mit dem Kompositum »post-dramatisch« darauf hinweist, dass die neue Theaterästhetik ihre Existenzberechtigung aus der Emanzipation vom literarisch-dramatischen Text zieht.9 An seiner Stelle konzentriert diese Ästhetik sich auf die emphatische Hervorhebung derjenigen Qualitäten, die die Spezifik der Theatersituation auszeichnen. Diese wurden theoretisch mit einer Neuformulierung des Aufführungsbegriffes fassbar (vgl. Fischer-Lichte 2004; Fischer-Lichte 2007), demzufolge sich Aufführungen vor allem durch die performative Hervorbringung von Materialität und Ereignishaftigkeit auszeichnen. Die Vorherrschaft eines vorgängigen, festen literarischen Substrats scheint damit für dieses Theater ausgeschlossen. Dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass die Eigenschaften, die Novarinas Theater als postdramatisch ausweisen, durch die Verlautbarung eines vorgängigen Textes hervorgerufen und nicht zuletzt auch durch die Besonderheiten eben dieses Textes mit erzeugt werden. Ferner würde man den Tex-

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Lehmann möchte mit dem Begriff darauf hinweisen, dass sich das postdramatische Theater nicht in einem jungfräulichen, a-dramatischen Raum bewegt, sondern dass das Drama als Überwundenes noch fühlbar in die Gegenwart hineinreicht. Das postdramatische Theater konstituiert sich somit explizit durch eine abgrenzende Geste zum Drama und zum literarischen Text (Lehmann 2001: 30 –31).

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ten nicht gerecht, bezeichnete man sie ebenfalls lediglich als »postdramatisch« und unterstellte ihnen damit, die entsprechende Bühnenästhetik auf ihrem Niveau gewissermaßen zu antizipieren, um einer destruktiven Regiepraxis zuvorzukommen. Freilich eignet sich das Etikett der Postdramatik dafür, bestimmte Merkmale der Texte zu benennen, die erwartungsgemäß nicht mehr der klassischen dramatischen Form entsprechen, sondern diese vielmehr im Exzess auflösen. Neben den Aufzählungen, die kaum an die sie umstehenden Textstellen angebunden sind, wird ein linearer Handlungsverlauf vor allem durch eine extreme Vervielfachung der auftretenden Figuren unterbunden.10 Da die Bezeichnung »postdramatisch« aus einer theaterimmanenten Logik heraus entwickelt wurde, erlaubt sie es nicht, dem literarischen Anspruch der Texte gerecht zu werden. Dieser wird dahingegen genauer fassbar, betrachtet man den Schreibprozess, aus dem die Texte hervorgehen. Wie anhand der Aufzählungen bereits angedeutet, liegt die treibende Kraft des Schreibens für Novarina in der Bearbeitung seiner Muttersprache wie von Sprache allgemein. Erst sehr spät im Verlauf seiner Karriere, als mit zunehmendem Erfolg immer mehr seiner Texte zur Aufführung gelangten, ist Novarina langsam dazu übergegangen, die absehbaren konkreten Produktionsbedingungen eines Stückes ins Schreiben einfließen zu lassen.11 Jedoch ändert dies nichts an der organischen Konzeption seiner Arbeit, die den Text gleichsam aus einer ihm immanenten Logik heraus entstehen lässt, ohne von vorne herein eine mögliche Inszenierung in Betracht zu ziehen (Novarina 1999: 55 ff.). Diese intuitive Schreibweise beginnt einen Text mit den Überresten des vorhergehenden und bemüht sich darum, diese wiederum zu vermehren. Anstatt einen strukturierten Entwurf zu leisten, gibt dieses Vorgehen einer proliferierenden Sprache Raum für Entfaltung, ohne ihr Wachstum durch Streichungen zu unterbrechen. Dieser kreative Prozess, beruhend auf Novarinas antiutilitaristischem, materiellem Verständnis von Sprache, bedarf eines bestimmten Zustandes, in den sich der Autor versetzen muss und der es ihm ermöglicht, die zerebrale Kontrolle vorübergehend auszuschalten. So konzipiert Novarina sein Schreiben als Handarbeit und darüber hinausgehend als »technique du corps«12 (Novarina 1989: 46). Er schildert seine Schreibséancen als sportliche Trainingseinheiten, die in ihrer Regelmäßigkeit und in ihrer jeweiligen Länge genau festgelegt sind und bei denen er sich auch in

10 Der bereits zitierte Text La Chair de l’homme kommt diesbezüglich mit 3.171 Figuren an erster Stelle kurz vor Le Drame de la vie (Das Drama des Lebens) mit 2.587 Figuren. Auch wenn ihr Auf- und Abtreten häufig nur berichtet wird, zeigt dies, dass die vermeintliche Handlung sich v. a. auf ein ununterbrochenes Defilee beschränkt, wobei die Masse eine allmähliche Profilierung der Figur verhindert. Der Dialog als Ausdruck von Zwischenmenschlichkeit und sprachlicher Form des Dramas par excellence verliert damit seine Grundlage. Dieses Prinzip ist auch in kürzeren Texten mit einer geringeren Anzahl von Figuren wirksam. 11 Diese Entwicklung setzte ein, als er mit mehr und mehr Erfolg dazu überging, seine Stücke selbst zu inszenieren. Seine heutigen Texte zeugen von ihrer szenischen Umsetzung. Sie haben meist eine pragmatische Länge, können inhaltlich bestimmten Aufführungsorten Rechnung tragen (zum Beispiel dem Ehrenhof des Papstpalastes von Avignon) und orientieren sich oft an einem zur Verfügung stehenden schauspielerischen Personal. 12 »Körpertechnik«.

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den Pausen keine Erholung gönnt, sondern sie mit Gartenarbeit oder ähnlich anstrengenden Unternehmungen verbringt (Novarina 1989: 69). Indem er sein Schreiben als körperliche Arbeit versteht, rückt es in die Nähe zu derjenigen des Schauspielers. Beide zeichnen sich durch eine Verausgabung aus. Diese ereignet sich beim Autor zum einen auf intellektueller Ebene, wenn er in mühsamer Kleinstarbeit die Aufzählungen zusammenstellt. Darüber hinaus nimmt sie aber auch bei ihm sehr konkrete, körperliche Ausmaße an, die in vollkommener körperlicher Erschöpfung münden (Novarina 1989: 34). Die Hervorbringung des Textes vollzieht sich folglich für den Autor und für den Schauspieler aus einer weitgehend vergleichbaren physischen Investition heraus, die die Möglichkeit einer Ebenbürtigkeit – zumindest auf dem Niveau der Textproduktion – bereits aufscheinen lässt. Bleibt die Frage, wie sie sich im Falle des Autors auf die Texte auswirkt und ob sie hier ähnliche ästhetische Effekte bewirkt wie auf szenischer Ebene.

V Die postdramatischen Eigenschaften der Texte Novarinas wurden als »Potlatsch« der Repräsentation bezeichnet (Plassard 2000). Damit bezieht sich der Interpret auf die vor allem von Marcel Mauss analysierte, archaische Form des Tausches, die von nordamerikanischen Indianerstämmen praktiziert wurde (Mauss 2004). Der »Potlatsch« bezeichnet ein wertvolles Geschenk an einen Rivalen, mit dem der Schenkende seinen höheren sozialen Status unter Beweis stellt. Der Empfänger wird seinerseits gezwungen, ein kostbares Gegengeschenk zu leisten, um sich zu behaupten. Didier Plassard zieht den Begriff des »Potlatsch« heran, um zu zeigen, dass die Prinzipien der Repräsentation bei Novarina in einem Vorgang der »freudigen Zerstörung«13 vernichtet werden. Die Betonung liegt dabei auf der positiven Konnotation der Zerstörung, die beim »Potlatsch« daher rührt, dass der Verlust von Reichtum zu Ehre und Ansehen führt. Während Plassard es bei dieser Beobachtung belässt, möchte ich die Aufwertung der Zerstörung als Hinweis darauf werten, dass die Zersetzung der dramatischen Form in die Entstehung von etwas Neuem münden kann, und dass Novarina sich nicht damit begnügt, das Drama und die ihm zugrunde liegenden Prinzipien aufzulösen, sondern in seiner Strategie darüber hinaus geht. Novarinas Schreibpraxis setzt sich über die Regeln der französischen Muttersprache hinweg. In seinen Schreibtagebüchern ersinnt er eine Reihe von Torturen, die er der Sprache zufügen möchte. Er malt sich aus, was für ein Drama das geben wird, wobei die triviale, augenzwinkernde Verwendung des Begriffs als endgültiger Abgesang auf die entsprechende literarische Form verstanden werden kann (Novarina 1989). Er setzt die Sprache von Außen unter Druck und unterläuft ihre Normen durch Verwendung von Neologismen, Antinomien, Diskontinuitäten und Lautmalereien. Das Ende des 13 »[…] l’écriture théâtrale de Valère Novarina procède quant à elle […] à la destruction joyeuse – au potlatch, […] des figures de l’identité« (Plassard 2000: 43, Hervorhebung von der Verfasserin).

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Dramas muss daher als Kollateralschaden angesehen werden, der zwingend aus einer umfassenderen Zersetzung der französischen Sprache hervorgeht. Diese kann mit Georges Bataille als ein Akt der symbolischen Verausgabung gelten. Der Begriff des »Potlatsch« dient bei Bataille dazu, neben der positiven Konnotation des Verlustes eine Dimension des Überflusses zu benennen (Bataille 1985). Der daraus entstehende Begriff der Verausgabung steht bei ihm nicht mehr für eine körperliche Erschöpfung, sondern für einen positiv imaginierten Prozess der Zerstörung durch Verschwendung. Die Dimension der Verschwendung ist laut Bataille den Momenten inhärent, die wir als besonders lebenswert empfinden. Sie betrifft die Ausgaben für Luxus, Spiele und Kunst, die dem gemeingültigen Verständnis nach nicht der Nützlichkeit unterliegen, sondern als reines Zugeständnis an die Gesellschaft gelten. In seiner Abhandlung über »[den] Begriff der Verausgabung« (Bataille 1985) dreht Bataille diese Logik um, indem er auf primitive ökonomische Rituale verweist, die wie der »Potlatsch« durch den Verlust von Reichtümern der Existenzsicherung dienen. In dieser archaischen Ökonomie dienen Kostbarkeiten dazu, verschwendet zu werden. Ihr Nutzen gipfelt in ihrer Verausgabung, die einer Opferung gleichkommt, insofern als dass sie durch ihren symbolischen Wert einen stabilisierenden Effekt auf die Gesellschaft ausübt. Neben den konkreten Formen der Verausgabung, die auf einer effektiven Verschwendung von Reichtümern oder allgemeiner von Energie beruhen, führt Bataille die Poesie als reinste Form der symbolischen Verausgabung an. Er bezeichnet sie als »Synonym von Verschwendung« (Bataille 1985: 15) und rückt sie explizit in die Nähe des Opfers. Diese Verbindung zwischen Poesie und Opfergestus findet sich auch bei Julia Kristeva, die in Die Revolution der poetischen Sprache (Kristeva 2005) eine ihnen zugrunde liegende analoge Struktur aufdeckt. Beide zeichnen sich demnach dadurch aus, innerhalb der symbolischen Ordnung einer Gesellschaft subversive Momente des Lusterlebens zu ermöglichen. Das Opfer repräsentiert zum einen das initiale Verbrechen, das Kristeva zufolge den Ursprungsmythos aller archaischen Gesellschaften bildet, und gibt zum anderen den Raum frei für ein begrenztes, ritualisiertes Ausleben der Triebe. Die Poesie unterläuft ihrerseits vorübergehend die Regeln der Sprache, die als Symbolsystem par excellence den Inbegriff der sozialen Ordnung darstellt. In der Terminologie von Kristeva ist die Poesie damit Ausdruck einer Überschreitung des Symbolischen durch das körperlich konnotierte Semiotische.14 Kristeva zufolge besitzen poetische Texte das Vermögen, die symbolische und soziale Ordnung vorübergehend außer Kraft zu setzen und, ohne sie gänzlich aufzuheben, einem unterdrück-

14 Das Semiotische steht bei Kristeva zunächst für eine ontogenetisch konzipierte präödipale Phase, in der das Kind noch vor Erwerb der Sprache die Fähigkeit erlangt, Rhythmen, Farben, Gesten und Stimmen wahrzunehmen. Mit der Subjektwerdung tritt das Kind in die Sphäre des Symbolischen ein, bleibt aber weiterhin offen gegenüber Einflüssen aus dem Semiotischen. Dieses spielt fortan zusammen mit dem Symbolischen eine gleichberechtigte Rolle in allen Sinngebungsprozessen des Subjekts (Kristeva 2005: 35). Dabei fungiert es als die ihm inhärente, seine Ordnung verletzende Negativität, die allerdings nur in der Poesie als Veränderung des Vokabulars und der Syntax bis in die Textoberfläche transportiert wird.

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ten Lustprinzip zeitweilig stattzugeben. Ähnlich wie Bataille versteht Kristeva Poesie in diesem Sinne als Reaktivierung eines schöpferischen Impulses, der sich im Exzess Bahn bricht und in einer Veränderung des Symbolsystems Sprache niederschlägt. Dieses Verständnis beruht bei Kristeva vor allem auf ihrer Konzeption eines gespaltenen Subjekts, das immer durch seine Triebe beeinflussbar bleibt.15 Durch die Parallele zum Opfer betont sie die für das Subjekt und die Gesellschaft unentbehrliche Funktion, die die Poesie ausübt, indem sie im Symbolischen artikuliert, »was eben dieses Symbolische bearbeitet, durchkreuzt und bedroht« (Kristeva 2005: 90). Ihre Bestimmung von Poesie läuft demnach darauf hinaus, sie als notwendige Verschwendung triebhafter Energien, d.h. genau genommen als Verausgabung im Sinne Batailles, zu begreifen. Anhand eines so präzisierten Verausgabungsbegriffs lässt sich Novarinas Schreiben mit seiner exzessiven Vervielfachung der dramatischen Bestandteile folglich nicht nur als eine von Plassard angedeutete ›Verausgabung des Dramas‹ verstehen, sondern als grundsätzliche sprachliche Verausgabung. Indem Novarina es nicht nur auf das Drama, sondern darüber hinaus auf die Sprache an sich abgesehen hat, geraten seine Texte zur Poesie, verstanden mit Bataille als »Schöpfung durch Verlust« (Bataille 1985: 15). Die von Novarina im Schreiben praktizierte körperliche Verausgabung muss in ihrem Resultat als symbolische Verausgabung verstanden werden, welche die auf Kommunikation ausgelegte Sprache des rationalen Diskurses vorübergehend aufbricht zugunsten einer sich ausschließlich an rhythmischen und klanglichen Parametern orientierenden poetischen Sprache im Sinne Kristevas.

VI Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass dank einer engen, sprachtheoretischen Bestimmung von Poesie als Verausgabung eine eigenständige literarische Qualität von Novarinas Texten erfasst werden kann. Diese hängt nicht von ihrer szenischen Finalität ab, sondern muss als autonome Größe anerkannt werden. Sie ist weder im weiteren noch im engeren Sinne dramatisch. Das heißt, dass sie ihre wesentlichen Merkmale weder aus einer allgemeinen Bestimmung für die Bühne zieht, noch aus der Zugehörigkeit zu der spezifischen, literarischen Form des Dramas. Darüber hinaus machen die verschiedenen Spielweisen des Verausgabungsbegriffs ersichtlich, welche ästhetischen Parallelen sich zwischen der Ebene des Textes und derjenigen der Aufführung ergeben. Auf szenischer Ebene entsteht aus einer körperlich erschöpfenden Verlautbarung des Textes eine desemantisierte Körperlichkeit. Diese bedingt die Einordnung von Novarinas Arbeit in das postdramatische Theater. Dieser Vorgang lässt sich rückblickend als eine aus einer konkreten, körperlichen 15 Kristeva knüpft mit diesem Subjektbegriff und v. a. mit ihrem Begriff des Semiotischen denn auch weniger an Lacan als an Freuds Verständnis des Unbewussten an, welches er, anders als Lacan, der das Unbewusste vollständig dem Symbolischen zurechnet, als Treffpunkt von Psychischem und Somatischem betrachtet.

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Verausgabung hervorgehende symbolische Verausgabung beschreiben. Genauer handelt es sich auch hier, ähnlich wie im Text, um eine Verausgabung des Symbolischen, insofern ebenfalls bedeutungstragende Strukturen aufgebrochen werden. In seiner Eigenschaft als grundlegendes, konstitutives Theatermaterial steht der Darstellerkörper im postdramatischen Theater beispielhaft für alle anderen Bühnenelemente, wenn er in seiner Eigenwertigkeit in Erscheinung tritt, anstatt mit Sprache, Stimme und Bewegung zu einer fiktiven Rollenfigur zu fusionieren. Seine insistierende und irritierende sinnfreie Gegenwart provoziert zum einen ein spannungsgeladenes Verhältnis zwischen Darstellern und Zuschauern und steht darüber hinaus paradigmatisch für den postdramatischen »Entzug der Synthesis« (Lehmann 2001: 140), d. h. für eine Theaterästhetik, die ihre Komponenten nicht mehr zu einer harmonischen Totalität vereint, die als Zeichen für ein fiktives Geschehen stehen könnte. Auch wenn die postdramatische Theaterästhetik sich über eine Abgrenzung vom literarischen Text definiert, gilt es letztendlich festzustellen, dass Novarinas Texte erstens, wie ich oben gezeigt habe, einen literarischen Eigenwert besitzen und dass sie zweitens ihrerseits ähnliche Charakteristika wie die postdramatische Bühnenpraxis aufweisen. Bei genauerer Betrachtung sind es sogar eben diese Charakteristika, die ihre Literarizität ausmachen. Wenn Novarina die französische Alltagssprache in ihre Einzelteile zerlegt und neu zusammensetzt, entsteht daraus eine Sprache, die ihre Repräsentationsfunktion abgelegt hat. Ihre Komponenten sind nicht mehr in logischer Kohärenz miteinander verbunden, sondern breiten sich vor uns aus wie ein magnetisches Kraftfeld (Novarina 2006). Analog zu Lehmanns Feststellung über den Schauspielerkörper (Lehmann 2001: 366), lässt sich von den sprachlichen Elementen in Novarinas Texten sagen, dass sie nicht mehr nur als Signifikanten fungieren. Sie sind aus einem eindeutigen Verweisungszusammenhang herausgetreten und konfrontieren uns zunächst einmal mit ihrer Materialität. Dies bedeutet nicht, dass sie vollkommen sinnfrei sind. Stattdessen ließe sich mit Bezug auf Novarinas Texte eher ein Zuviel an Sinn konstatieren, das aus seiner Vorliebe für nicht mehr differenzierbare Homophonien und Kontaminationen resultiert. Dadurch entstehen Wörter, in denen jeweils viele miteinander verschmelzende Sinnebenen anklingen, die durch ihre nur mehr formale Aneinanderreihung zu einem Satz noch potenziert werden. So gelingt es ihm, durch eine gleichsam unendliche Vervielfachung von Sinnangeboten das Verständnis der Sprache zu unterminieren und die semantische Ebene seiner Texte durch ein exzessives Ausnutzen ihrer Potenziale zu verausgaben. Diese Parallelen zwischen Text und Aufführung bei Novarina bedingen ein ebenbürtiges Verhältnis. Allerdings darf diese Ebenbürtigkeit nicht allzu antagonistisch verstanden werden. Novarina beschreibt die Umsetzung des Textes durch den Schauspieler als Fusion zweier Körper, aus der ein neuer Körper hervorgeht. Auch wenn die von ihm verwendete Metaphorik der Einverleibung des Textes durch den Schauspieler als kannibalischer Akt und damit als Geste der Unterwerfung verstanden werden kann, birgt sie darüber hinaus, um in der Metaphorik Novarinas zu verbleiben, ein Erklärungsmodell

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für die Umwandlung des einen sprachlichen Aggregatzustandes der Schrift in den anderen der verlautbarten Sprache. Letzterer kann sich nur durch den Körper des Schauspielers hindurch manifestieren und muss daher zu einem Teil desselben werden. Als ein Zeichen dafür, dass es Novarina nicht in erster Linie um den Unterwerfungsgestus geht, kann ferner die Tatsache herhalten, dass er den Eingang des Textes in den Schauspieler an anderer Stelle als seine Heimsuchung durch die parole beschreibt (Novarina 1999). Wenn mir in diesem Beitrag nicht zuletzt daran gelegen war, anhand der Verausgabung die literarischen Qualitäten von Novarinas Texten herauszuarbeiten, dann liegt dies daran, dass für eine Auseinandersetzung mit seiner Arbeit m. E. nicht auf den Literaturbegriff verzichtet werden darf. Selbstverständlich sollte dies, wie bereits erwähnt, nicht in einer Beschreibung seines Theaters als »Literaturtheater« münden. Nicht nur gelten die damit einhergehenden Konnotationen zu Recht als überwunden, sondern man würde Novarina, wie hoffentlich deutlich geworden ist, Unrecht tun. Ohne die Literarizität von Novarinas Texten anzuerkennen, kann man seinen Texten und seinem Theaterkonzept allerdings ebenso wenig gerecht werden. Die an seinem Beispiel exemplarisch aufgezeigten möglichen Parallelen zwischen Literatur und Theateraufführung finden in Literatur- und Theaterwissenschaft leider nur selten Beachtung. Dabei zeigt sich bei Novarina, dass sie anschlussfähige Hinweise dafür liefern können, wie das Verhältnis zwischen beiden Größen heute neu gedacht werden kann, ohne in alte Kategorien zu verfallen.

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DIE BÄNDIGUNG DER KULTURELLEN VIELFALT. DER UMGANG MIT DEM SOWJETISCHEN KULTURERBE IN TIMUR KIBIROVS POETISCHER COLLAGE ›DURCH ABSCHIEDSTRÄNEN‹ (SKVOZ’ PROŠČAL’NYE SLËZY) MARION RUTZ Einleitung Überfluss existiert nicht nur als materieller Überfluss, der die Orientierung in einem unüberschaubaren Warenangebot immer schwerer werden lässt – Überfluss herrscht auch im Bereich der Kultur. Einem erschlagenden Zuviel begegnet v. a. der, der sich dazu entschließt, den eigenen vertrauten Raum zu verlassen und sich mit einem anderen Kulturkreis zu beschäftigen – zum Beispiel im Rahmen eines fremdsprachenphilologischen Studiums.1 Deutlich tritt der Mangel an Kulturwissen v. a. in »exotischen« Fächern wie der Slavistik zu Tage. Besonders problematisch für den Kulturfremden sind Texte wie die hier präsentierte Gedichtcollage ›Durch Abschiedtränen‹ des russischen Gegenwartsdichters Timur Kibirov.2 Abseits der offiziellen Literaturszene unterzieht er im Perestrojkajahr 19873 noch aus dem literarischen Underground 1 2

3

Zur kulturwissenschaftlichen Dimension der Philologien siehe Nünning & Sommer (2004). Kibirov zählt in Russland zu den fest etablierten Dichtern der mittleren Generation, die Ende der 80er/Anfang der 90er den Aufstieg in die Leser- und Kritikergunst schafften. Überblicksdarstellungen wie Skoropanova (2004: 357–69), Lejderman & Lipoveckij (2001: 26 –31) und Bogdanova (2004: 504 –42) berücksichtigen sein Werk. Neben Rezensionen, literaturkritischen Artikeln und kleineren Aufsätze liegt mit der Ekaterinburger Dissertation von Bagrecov (2005) ein erster Ansatz für eine vertiefte Beschäftigung vor. Einen guten (englischsprachigen) Einstieg liefern Nemzer & Lipovetsky (2004); mehrere Kibirov-Gedichte wurden im Rahmen von Anthologien und Themenheften ins Deutsche und ins Englische übersetzt. Die Publikationsgeschichte, die für Aussagen über die Rezeption des Textes zentral ist, gestaltet sich recht kompliziert: Nach Kullė & Natarov (1998) wurde der Text erstmals 1988 publiziert – jedoch außerhalb der Sowjetunion in der Emigrantenzeitschrift Vremja i My. In der UdSSR erschienen recht lange nur Ausschnitte, zuerst bezeichnenderweise die unpolitischen Teile: die Einleitung in der für ein junges Leserpublikum konzipierten Zeitschrift Junost’ (1988); das lyrische Intermedium in Teatral’naja žizn’ (1988). Im Almanach Ličnoe delo № [1] wurden 1991 (neben der Einleitung) erstmals zwei historische Kapitel (II, IV) gedruckt. Den Gesamttext kennt der Durchschnittsleser aus dem 1994 erschienenen ersten Kibirov-Sammelband Santimenty. Vosem’ knig, der in 10.000 Exemplaren aufgelegt wurde. Textgrundlage für vorliegenden Beitrag ist der Sammelband Stichi (Kibirov 2005: 751–88).

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heraus und noch ohne Hoffnung auf eine Veröffentlichung Sowjetgeschichte und Sowjetkultur einer retrospektiven Gesamtschau. Dicht an dicht reihen sich Zitate und Anspielungen, doch die literarische Collage bleibt ohne Hintergrundwissen weitgehend unverständlich. Fast alle diese Bezugstexte (Filme, Lieder, Propaganda, Trivialliteratur) spielen in der traditionellen Slawistenausbildung keine Rolle, was das Verständnis erschwert. Auf den von Außen kommenden Rezipienten hat dieser Überfluss an Unbekanntem zuerst eine abschreckende Wirkung, denn das eigene Wissensdefizit und die eigene Andersartigkeit treten deutlich hervor. Dieses Moment der Differenz kann jedoch auch konstruktiv dazu motivieren, sich den unverstandenen Hintergrund zu erarbeiten, sich das Fremde zu Eigen zu machen. Die von Kibirov gebotene Führung durch das kulturelle Neuland ist dabei insofern einzigartig, als es sich bei ›Durch Abschiedstränen‹ nicht um eine kulturhistorische Überblicksdarstellung handelt, sondern um einen poetischen Text, der 70 Jahre UdSSR zu rund 800 Versen komprimiert. Für vorliegenden Aufsatz wurde folgende Vorgehensweise gewählt: Um dem Leser, dem der Originaltext sprachlich verschlossen ist, zumindest einen Eindruck zu ermöglichen, wird kurz die verarbeitete Vielfalt der sowjetischen Kultur systematisiert. Der Analyseteil untersucht den Umgang mit dem Material und ergründet das Wesen von Kibirovs poetischer Retrospektive, wobei folgende Beobachtungen im Zentrum stehen: • In ›Durch Abschiedstränen‹ ist Intertextualität ein bewusst eingesetztes künstlerisches Verfahren, das konkrete Zielsetzungen verfolgt. • Der durch die Intertextualität entstehenden Bedeutungsunschärfe werden zentrierende Elemente entgegengesetzt. • Weiterhin wirkt der absoluten Relativierung der Inhalte, die durch den Einsatz von fremder Rede und Ironie gefördert wird, ein wertendes lyrisches Ich entgegen. An manchen Stellen nähert sich die poetische Erzählinstanz dabei bewusst der Person des Autors an.

Sowjetische Kulturgeschichte im Überblick Im Zentrum von ›Durch Abschiedstränen‹ stehen fünf historische Teile (von Einführung‚ Epilog und Intermedium wird später die Rede sein), die jeweils eine bestimmte geschichtliche Periode abdecken: I Oktoberrevolution und Bürgerkrieg II Stalinzeit III Zweiter Weltkrieg IV Chruščev’sches Tauwetter V Stagnation unter Brežnev Diese historischen Teile sind im Gedicht explizit als Kapitel bezeichnet – eine im poetischen Genre unübliche Benennung. Kapitel findet man normalerweise in umfangreichen prosaischen oder auch nichtliterarischen Texten, in Romanen oder wissenschaftlichen Werken. Durch die Übertragung

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des Formelements in die Poesie beansprucht ›Durch Abschiedstränen‹, eine umfassende Darstellung zu liefern – die 568 Verse der Kapitel ersetzen mehrere Hundert Seiten einer Kulturgeschichte der UdSSR. Diese wird im Gedicht durch bewusst gesetzte intertextuelle Bezüge ausgestaltet. Im Folgenden sei nun kurz dargestellt, welche Textgruppen zur Charakterisierung der verschiedenen Perioden herangezogen werden. Dabei sind zwei Selektionsprinzipien augenfällig: Zum einen kommen neben »künstlerisch Wertvollem« v. a. Texte der Massenkultur zu Wort. Zum anderen wird gezeigt, dass es die eine sowjetische Kultur nicht gab, sondern zwei sich (je nach Epoche mehr oder weniger) feindlich gegenüberstehende Lager, nämlich das Erlaubte, Geförderte und das Verbotene, Unterdrückte. In Kapitel I wird eine positive Sicht auf Revolution und Bürgerkrieg verkörpert durch: Lieder der internationalen Arbeiterbewegung; dem sowjetischen Kanon einverleibte Texte der russischen Symbolisten; Revolutionsfilme und heroische Rotarmistenlieder. Die Gegenperspektive vertreten Lieder, die im Kriminellen- und Emigrantenmilieu spielen und deren Helden sich prostituierende Emigrantentöchter, kokainsüchtige Kriminelle und weißgardistische Offiziere sind (sog. Blatnye pesni). Folklore-Lieder mit roten und weißen Versionen (hier das bekannte Lied Jabločko, ›Äpfelchen‹) verweisen darauf, dass der Bürgerkrieg ein blutiger Bruderkrieg war: I kuda že ty, jabločko, katiš’? RVS, VČK, RKK. Čas rasplaty nastal, čas rasplaty, tak čto naša ne drognet ruka! I, povysiv zvenjaščie šaški, rubanem nenavistnych vragov, ty menja – ot pogona do prjažki, ja tebja – ot zvezdy do zubov. [I,21–22] Und wohin rollst du, Äpfelchen? Revolutionskriegssowjet, Tscheka, Arbeiter-Bauern-Armee. Die Stunde der Abrechnung ist angebrochen, die Stunde der Abrechnung, so dass unsere Hand nicht zittern wird! Und, die klingenden Säbel hochreißend, die verhassten Feinde zerhackend, du mich – von der Epaulette bis zur Gürtelschnalle, ich dich – vom Stern bis zu den Zähnen.4

Kapitel II konzentriert sich auf die gespaltene Wirklichkeit der Stalinzeit, auf den Gegensatz zwischen dem propagierten schönen Schein und der ganz anderen Realität. Die zur Staatsdoktrin erklärte positiv-optimistische Wahr4

Es handelt sich wie auch bei den weiteren Zitaten um eigene Übersetzungen aus dem Russischen. Die intertextuellen Bezüge wurden im russischen und deutschen Text kursiv gesetzt.

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nehmung verkörpern: musikalische Kinokomödien und verfilmte Abenteuerromane; die neue Nationalhymne, Majakovskijs panegyrisches ›Gedicht vom sowjetischen Pass‹ und ein Stalin-Artikel aus der Pravda. Die Schrecken der Zeit zeigen: Mandel’štams kritisches Stalin-Gedicht, das dem Dichter drei Jahre Verbannung in die Provinz bescherte; zwei Lieder aus dem Gulag und ein kritisches sog. ›Autorenlied‹ von Aleksandr Galič aus den 70ern mit identischer Thematik. In Kapitel III (Zweiter Weltkrieg) entfaltet sich der Dualismus Stimme – Gegenstimme nur ansatzweise. Mit der deutschen Invasion werden auch die innenpolitischen Konflikte ausgesetzt. Daher werden im Text zum einen nur vergleichsweise wenige und harmlose offizielle Texte über Zitate aktiviert, zum anderen findet sich keine deutliche Gegenperspektive. Die sich an manchen Stellen andeutende kritische Sichtweise wird nicht entwickelt und so verstummt das lyrische Ich nach nur neun Strophen: Čarka gor’kaja. Staryj oskolok. Stalingrad ved’, pojmi – Stalingrad! Ty prosti – mne nel’zja pro takoe, pro takoe mne lučše molčat’. [III, 9] Bitteres Gläschen. Alter Splitter. Stalingrad, versteh doch, Stalingrad! Verzeih mir – darüber kann ich nicht, darüber schweige ich besser.

Auch in Kapitel IV sind die Gegensätze weniger ausgeprägt als in den ersten beiden Kapiteln. Eine Vielzahl von Zitaten malt ein recht positives Bild der Tauwetterzeit: ausländische Modetänze; Lieder über Reisen, Großprojekte im Osten und die begeisterte kommunistische Jugend; die Dichterstars der 50er und 60er mit ihrem erneuerten Glauben an die kommunistische Utopie; Spielfilme über die Charakterreifung im Militärdienst. Die recht schwach entwickelte Gegenstimme kommt in Form von unpolitischen Liedern über die Liebe zu Wort – und auch die angeführten Autorenlieder von Bulat Okudžava sind an sich recht harmlos. Der offiziellen Begeisterung für den Kommunismus steht (zumindest bei Kibirov) höchstens noch eine apolitische Grundhaltung gegenüber. Kapitel V schildert die Ära Brežnev als Zeit kultureller Stagnation: Die offizielle Kultur der 70/80er ist fast gar nicht repräsentiert – ein Zeichentrickfilm, eine russisch-italienische Filmkomödie und eine der populären Pop-Bands (ein sog. vokal’no-instrumental’nyj ansambl’). Die meisten Intertexte gehören in die 20er und 30er. Ganz deutlich zeigen diese Rückgriffe auf Veraltetes den Verfall der sowjetischen Kultur, der mit dem Bedeutungsverlust der kommunistischen Idee einhergeht:

DIE BÄNDIGUNG DER KULTURELLEN VIELFALT | 211 I drugogo puti u nas netu! Parovoz naš v tupik priletel, na zapasnom puti besprosvetnom bronepoezd naprasno revel! Ostanovki v kommune ne budet! Poezd dal’še voobšče ne pojdet! Vychodite, durackie ljudi, vozvraščajtes’, rodnye, vpered. [V, 21–22] Und für uns gibt es keinen anderen Weg! Unser Dampfer ist in der Sackgasse angekommen, auf dem unbeleuchteten Reservegleis heult vergeblich der Panzerzug! Es wird keinen Halt in der Kommune geben! Der Zug wird überhaupt nicht weiterfahren! Steigt aus, dumme Leute, kehrt zurück, ihr Lieben, vorwärts.

[Naš parovoz] [Pesnja o Kachovke] [Naš parovoz]

[›Unser Dampfer‹] [›Lied über Kachovka‹] [›Unser Dampfer‹]

Auch ohne die Präsenz kritischer Autoren aus dem Underground im Text – Dmitrij Aleksandrovič Prigov und Kibirov selbst – wäre der kulturelle Bankrott offenbar. Kapitel V geht dann in eine wehmütige Auflistung der eigentlich lächerlichen Realien der Stagnationszeit über und endet mit dem Bild einer kulturellen tabula rasa, auf der etwas Neues erst noch aufgebaut werden muss.

Zerstreuung und Zentrierung von Bedeutung Intertextualität als künstlerisches Verfahren In ›Durch Abschiedstränen‹ fällt als zentrales literarisches Verfahren – wie schon erwähnt – der Einsatz von unzähligen intertextuellen Verweisen auf. Im Gegensatz zur unfreiwilligen Intertextualität aller Texte, durch die sich mit Kristeva & Barthes das Bild des autonomen, originell schöpferischen Autor aushebeln lässt (Barthes 2000; Allen 2000: 35–36 und 68–70), ist Intertextualität bei Kibirov ein bewusst eingesetztes Verfahren. Es handelt sich um eine privilegierte Intertextualität (Stierle 2003: 352–53), die die Gedichtcollage selbst anzeigt: durch Herkunftsverweise bei den Motti oder wörtliche Zitate, die meist eindeutig zuweisbar sind. Diese Feststellung stützt auch der Hinweis des Dichters auf ein sowjetisches ›Liederbuch‹ (pesennik) als Textquelle.5 Bei Kibirovs Werk handelt es sich nicht um ein naives Schreiben ohne Wissen um die eigene Sekundarität, sondern um einen reflektierten Umgang

5

So im persönlichen Gespräch am 13.05.2007 in Moskau (ermöglicht durch ein Kurzstipendium des DAAD).

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mit dem Problem, dass offenbar alles schon geschrieben wurde, und um einen Versuch, vor diesem Hintergrund eigene Kreativität zu entfalten. So wird in ›Durch Abschiedstränen‹ der Verweis auf Intertexte zum Beispiel dazu genutzt, eine große Menge an Informationen so weit zu komprimieren, dass 70 politisch und kulturell ereignisreiche Jahre in einem poetischen Text Platz finden. Dies bedeutet jedoch auch, dass der Leser ein nicht geringes Maß an »Dekompression« und »Dechiffrierung« zu leisten hat. Um wirklich zu verstehen, muss man jedem wörtlichen Zitat, jeder Allusion nachgehen und die von ihnen erzeugten semantischen Felder abschreiten. Oft treten nur über Kontextwissen (Rezeptionsgeschichte, Biografie der Textproduzenten) bestimmte Bedeutungen zu Tage und inhaltliche Sprünge werden nachvollziehbar. Zum Beispiel wurde Vasilij Knjazev, überzeugter Kommunist der ersten Stunde, der den Text zum ›Lied der Kommune‹ (Pesnja kommuny) schrieb, 1937 zu fünf Jahren Freiheitsentzug verurteilt und starb bei der Verschickung in den unwirtlichen Nordosten (Polonskij 1994). Nur vor diesem Hintergrund versteht man die Erweiterung von Knjazevs Refrain »Niemals werden die Kommunarden Sklaven sein« in ihrer ganzen Bedeutungsfülle: Nikogda už ne budut rabami kommunary v sosnovych grobach, v zavtra svetloe, v jasnoe plamja vy umčalis’ na krasnych konjach! [I, 23] Niemals mehr werden die Kommunarden in den Fichtensärgen Sklaven sein, in das lichte Morgen, die helle Flamme seid ihr auf roten Rössern davongejagt!

Der Einsatz intertextueller Bezüge zur Bedeutungskonstitution sorgt nicht nur für eine ökonomische Repräsentation des Faktenmaterials, sondern schafft gleichzeitig Ambivalenz und Polysemie (Herwig 2002: 172), denn die Ausdeutung der Zitate und Allusionen bleibt Aufgabe des Lesers, der sich nie sicher sein kann, inwieweit seine Deutungen adäquat sind. Andererseits steht in ›Durch Abschiedstränen‹ das überbordende Material mitsamt seinen Bedeutungskonnotationen nicht ganz zusammenhangslos im Raum, ist nicht völlig der Interpretations»willkür« des Rezipienten ausgeliefert. Den zentrifugalen Kräften wirken zentripetale Strukturen entgegen, verschiedene Verfahren lenken die Bedeutungs- und Wertungsaktivitäten in bestimmte Richtungen und ordnen die verschwenderische Fülle an Einzelinformationen. Bedeutungsvermittelnde Strukturen: Motti und Anfangsverse So lassen sich über die den historischen Kapiteln vorangestellten Motti konkrete Anhaltspunkte für textinduzierte Gesamtinterpretationen der Einzelepochen gewinnen: »Mit Blut kaufen wir der Kinder Glück« aus Pëtr Lavrovs ›ArbeiterMarseillaise‹ (Rabočaja marsel’eza) provoziert die Frage, ob das durch die

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Oktoberrevolution ausgelöste Morden wirklich eine bessere Zukunft schuf (I). Auf den Grundkonflikt zwischen Schein und Sein der Stalinzeit weist ›Du bist ganz nah, Ferne des Sozialismus…‹ (»Ty rjadom, dal’ socializma…«) von Boris Pasternak hin (II). Michail Isakovskijs ›Die Feinde haben die heimatliche Hütte in Brand gesetzt‹ (Vragi sožgli rodnuju chatu) schildert den Sieg im Zweiten Weltkrieg ganz ohne Jubel – deshalb wurde das Lied bis 1960 öffentlich nicht aufgeführt (III).6 Den erneuerten, naiven Glauben der Tauwetter-Intellektuellen an die kommunistische Idee verkörpert Evgenij Evtušenkos ›Brief an Esenin‹ (Pis’mo k Eseninu), der ironischerweise nur im Samizdat zirkulieren konnte: ›Kein Lenin mehr – das ist sehr hart‹ (Net Lenina – vot ėto očen’ tjažko) (IV). Der Rückgriff auf Anna Achmatovas schon 1942 verfasstes Weltkriegsgedicht ›Tapferkeit‹ (Mužestvo) zeigt die Stagnation der Brežnevzeit, die offenbar nichts Neues mehr hervorzubringen vermochte (V). Weiterhin verbirgt sich in den ersten Strophen der Kapitel eine kleine Geschichte von Aufstieg und Niedergang der sowjetischen Unterhaltungsmusik, die repräsentativ für die gesamte sowjetische Kultur- und Mentalitätsgeschichte steht. Auf die Aufforderung ›Sing mir ein Lied‹ folgt jeweils ein als pars pro toto die gesamte musikhistorische Periode kennzeichnender Eigenname: Gleb Kržižanovskij für die internationalen Arbeiterlieder, die Pokrass-Brüder für die ideologisch geprägte Massenmusik der Stalinzeit, Klavdija »Klava« Šu’lženko für leise und unpolitische Lieder über das individuelle Erleben des Zweiten Weltkrieges, Arno Babadžanjan für das Eindringen westlicher Einflüsse im Tauwetter und schließlich Vladimir Šainskij für den Ruin der offiziellen Populärmusik, die nur noch für Zeichentrickfilme taugt.

Deutungsmuster »Tragödie« Schließlich ordnet eine weitere Struktur auf der Makroebene die Sinnfülle auf ein Zentrum hin: Insgesamt besteht das Gedicht aus sieben Teilen – zu den fünf Kapiteln kommen Einleitung, (lyrisches) Intermedium und Epilog hinzu. Erneut handelt es sich um Form-Entlehnungen aus einer fremden Gattung – aus dem Drama. Die fünf historischen Kapitel entsprechen den fünf Akten der Tragödie, auch die Rahmung durch Einleitung und Epilog ist für das Genre nicht ungewöhnlich. Eindeutig wird die Gattungszuschreibung durch das Vorhandensein eines Intermediums, einer zwischen die eigentlichen Akte eingeschobenen komische Einlage, die in der präklassizistischen Tragödie das ernsthafte Bühnengeschehen auflockerte.7 Das Tragödienschema, das jedem Akt eine bestimmte Funktion zuweist, organisiert die 70 Jahre UdSSR einem bestimmten Handlungsablauf entsprechend: Der Konflikt, der im ersten »Akt« durch die Revolution ausgelöst wird (Protasis), spitzt sich im zweiten zu (Epitasis). Im Weltkriegskapitel fällt im Moment der Krise die 6 7

http://a-pesni.golosa.info/ww2/oficial/vragisozgli.htm, Stand: 13.10.2008. Neben den üblichen Literaturlexika – zum Beispiel Schweikle & Schweikle (1990: 129, 364, 512) – siehe speziell zum Intermedium Langer (1971: bes. 12–37).

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Entscheidung gegen Kritik und Widerstand, der vierte »Akt« bringt mit dem Tauwetter eine scheinbare Versöhnung der Gegensätze (Katastasis). Nach der Intermediums-Pause schlägt dann in »Akt« V die »Handlung« um (Peripetie), die Katastrophe bricht herein.8 In den beiden gegnerischen Textgruppen findet man Protagonisten und Antagonisten, die um die Lösung eines moralischen Problems kämpfen, nämlich um die Bewertung der jeweiligen Epoche und um die Durchsetzung der eigenen Perspektive. Die kommunistische Idee fungiert als unschuldig schuldig gewordener Täter, der das Gute wollte, aber das Schlechte bewirkte. Durch diesen Tragödienrahmen erhält der 1987 in ›Durch Abschiedstränen‹ konstatierte Untergang der UdSSR eine tragische Wertung. Es herrschen nicht Freude und Jubel über den Untergang des »Bösen«, sondern Weinen und Jammer – was auch dem Gedichttitel entspricht. Jedoch begegnet der Text durch ein gutes Maß an Kritik und Ironie der Gefahr, in ein verklärtes Nostalgisieren zu verfallen. Um diese Erzählhaltung begrifflich zu fassen, kann man auf den Terminus ›kritischer Sentimentalismus‹ zurückgreifen, den der Dichter und Kritiker Sergej Gandlevskij (1998) in die Diskussion eingeführt hat. Angesprochen werden muss noch, dass die gegnerischen Positionen in ›Durch Abschiedstränen‹ nicht als Figurenrede, also als separate Textpartien ausgeformt sind, sondern zu einem kontinuierlichen Fließtext verschmelzen. Da mit der dialogischen Interaktion das spezifisch dramatische Element fehlt, besteht hier eigentlich kein weiterer formaler Bezug zur Tragödie, allerdings bieten die Werke der griechischen Antike bei genauem Hinsehen einen möglichen Anknüpfungspunkt: ›Durch Abschiedstränen‹ lässt sich als eine nur aus Chorpartien bestehende, um die Epeisodia gekürzte Tragödien-Variante definieren, vielleicht auch als Tragödien-Urform ganz ohne Schauspieler. Was Käppel (1998: bes. 63–65, 78–79) über den Chor in den frühen griechischen Tragödien schreibt, nämlich dass er eine dem lyrischen Ich vergleichbare Instanz sei, die als kommentierend-reflektierender Deutungsträger und Identifikationsangebot fungiere und so die Zuschauer zu einer Gemeinschaft verschmelzen lasse, lässt sich sinnvoll auf Kibirovs Text übertragen: Der (zeitgenössische russische) Rezipient wird beim lesenden Nachvollziehen zum Teil eines Chorkollektivs und lässt die Ereignisse mitsamt ihren kulturellen Manifestationen noch einmal am inneren Auge vorbeiziehen. Über Mitfühlen und Klagen wie auch über die rationale Reflexion macht er einen besonderen Prozess der Katharsis durch, den man hier ganz konkret als Vergangenheitsverarbeitung bezeichnen kann.9 Da der Reflexionsprozess des Lesers stark von der Gestaltung der lyrischen Erzählerinstanz abhängt, wird diese im Folgenden genauer untersucht.

8 9

Die aus Scaligers Dramentheorie stammenden Termini nach Schweikle & Schweikle (1990: 6–7). Auf den kulturfremden Leser wirkt der Text natürlich anders, da kein Bezug zur eigenen Person mehr vorhanden ist. Die Reflexion und Bewertung richten sich in diesem Fall auf einen aus der Distanz betrachteten Gegenstand und die Katharsis beschränkt sich auf die gewohnte lustvolle Kombination von Erregung und Lösung von Affekten (hierzu z. B. Gelfert 1995: 16–17).

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Das lyrische Ich als zentripetale Kraft und Kontaktinstanz Heterogene Wertungsinstanz Bei allem Neben- und Durcheinander von aus Intertexten destillierten Stimmen zeigt sich, dass auf der Mikroebene, nämlich bei der Integration des Materials, eine bestimmte Lenkung ausgeübt wird. Das Gedicht nimmt Bewertungen und Umwertungen vor, offizielle Kulturtexte werden verändert und/oder durch das Verschmelzen mit benachbarten Gegentexten ironisiert. So hinterfragen zum Beispiel Modalpartikel (›anscheinend‹, ›selbstverständlich‹) die Zukunftsprognosen der ›Internationale‹: Ėto est’ naš poslednij, konečno, i edinstvennyj, vidimo, boj. Cepi sbrasyvaj, drug moj serdešnyj, marš navstreču zare zolotoj! [I, 3] Das ist, selbstverständlich, unser letztes, und, anscheinend, einziges Gefecht. Wirf die Ketten ab, mein Herzensfreund, marsch dem goldenen Sonnenaufgang entgegen!

Oder in Kapitel II schlägt die Mischung aus dem durch idyllische Topoi erweiterten Lied vom ›Fröhlichen Wind‹ und der Stalin’sche Nationalhymne um in das Gulag-Lied ›Der Hafen von Vanino‹: Spoj o tom, kak pod solncem svobody rascveli fizkul’tura i sport, kak vnimajut Ravelju narody, i kak šli my po trapu na bort.

[Veselyj veter; Gimn SSSR]

Kto privyk za pobedu borot’sja, moju pajku otnimet i žret. Dochodjaga, konečno, zagnetsja, no i tot, kto pokrepče, dojdet. [II, 27–28]

[Veselyj veter]

[Vaninskij port]

Sing davon, wie unter der Sonne der Freiheit [›Fröhlicher Wind‹; Nationalhymne] Gymnastik und Sport erblühten, wie die Völker Ravel lauschen, und wie wir über die Gangway an Bord gingen. [›Der Hafen von Vanino‹] Wer gewohnt ist für den Sieg zu kämpfen, [›Fröhlicher Wind‹] Nimmt mir die Ration weg und frisst sie. Der Schwächelnde krepiert natürlich, aber auch der, der robuster ist, kommt so weit.

Die genaue Position der poetischen Erzählerinstanz zu bestimmen, die die Bewertung der jeweiligen Einzelzitate leistet, gestaltet sich jedoch schwierig,

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denn das lyrische Ich ist kein homogenes Ganzes: Es nimmt unterschiedliche Perspektiven ein und tritt in verschiedenen Rollen auf, wobei zwischen den Gedichtteilen große Unterschiede bestehen. Gerade in den historischen Kapiteln ist nicht leicht zu entscheiden, wer spricht – stammen Ich und Wir aus Zitaten, handelt es sich um eine wertungsneutrale Erzählerinstanz, um einen bewertenden Kommentator oder sogar um den Autor? Im Einzelfall bleibt oft unklar, ob das lyrische Ich einer fremden Meinung seine Stimme leiht oder ob eine auktoriale Stellungnahme geäußert wird und inwieweit Ironie mitklingt. Diese uneinheitliche Vielgestalt sorgt zwar für eine relative Bedeutungsoffenheit und ließe sich mit Bachtin als Polyphonie10 bezeichnen, aber wenn man das Textganze betrachtet, zeigt sich eine gegenläufige zentrierende, monologische Tendenz. So kommen zum Beispiel am Kapitelanfang immer offizielle sowjetische Texte zu Wort und am Ende steht die Gegenperspektive, die durch diese Gewichtung begünstigt wird: Das lyrische Ich tritt am Ende von Kapitel I als Weißgardist auf, in Kapitel II als Gulag-Häftling. Kritischer Kommentator bleibt es ebenfalls in den weiteren Kapiteln, auch wenn es auf den Wandel in Geschichte und Kulturgeschichte reagiert: In Kapitel III schwankt das lyrische Ich zwischen Pro und Contra, in Kapitel IV kann es sich als Skeptiker dennoch nicht völlig von der (attraktiven und unterhaltsamen) offiziellen Kultur distanzieren. In Kapitel V klingt ein Bedauern über den Niedergang der sowjetischen Welt und den Zerfall des Kommunismus mit – wenn auch durch den ironischen Bezug auf das Rollenmodell Nekrasov11 gebrochen: nad debil’nogo mošč’ju Gossnaba chochotat’ by mne čto bylo sil – da nekrasovskij skorbnyj anapest nosoglotku slezami zabil. [V, 29] über die Machtfülle des debilen Staats-Versorgungs-Komitees würde ich laut lachen aus voller Kraft – aber Nekrasovs leidvoller Anapäst hat den Nasenrachenraum mit Tränen verstopft.

Das lyrische Ich als Autor Die poetische Erzählerinstanz modelliert bzw. manipuliert also die Beziehung zwischen Text und Intertexten – sie erfüllt jedoch noch eine weitere Funktion, sie gestaltet nämlich das Verhältnis zwischen Text und Leser: Zwar bleibt das lyrische Ich in den historischen Kapiteln weitgehend unper10 Als monologisch bezeichnet Bachtin (1971: bes. 87–112 und 282–84) Texte, die auf eindeutig erkennbare Bedeutungen und Wahrheiten hin konzipiert sind, während polyphone Texte (als Beispiel dienen Dostoevskijs Romane) verschiedene, in bestimmten Figuren verkörperte und nicht zu einer »richtigen« Textaussage auflösbare Sichtweisen nebeneinander stellen. »In keinem der Romane wird diese Vielfalt der Töne und Stile auf einen Nenner gebracht. Nirgends gibt es ein dominierendes Wort, sei es nun das des Autors oder das des Haupthelden.« (283) 11 N. A. Nekrasov (1821–1877) gilt als wichtigster Dichter des russischen Realismus, er schrieb v. a. politisch engagierte Texte.

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sönlich, ist Instanz ohne Fleisch – jedoch mit einer wichtigen Ausnahme: Kapitel I erwähnt ›Milas Großvater‹, wobei Mila eine Koseform von Ljudmila (Kibirova) darstellt, der ›Durch Abschiedstränen‹ gewidmet ist.12 Eine offenbar reale Frau wird Teil der poetischen Welt, somit wandelt sich das abstrakte lyrische Ich zum realen Autor. Noch deutlicher tritt Timur Kibirov in Einleitung und Epilog in Erscheinung: Die Gedichtcollage setzt mit einem intimen Zwiegespräch mit Ljudmila ein und klingt in der Fürbitte für reale und historische Personen aus, die alle in einer bestimmten Beziehung zu Kibirov stehen. Die Distanz zwischen lyrischem Ich und Autor wird explizit überbrückt. Während Intertextualität und Ironie die kritische, rationale Auseinandersetzung mit dem Vergangenen fordern, liefert das autobiographisch verankerte lyrische Ich dem Leser ein gangbares Identifikationsangebot und ermöglicht ein emotionales Mit- und Nach-Erleben: Timur Kibirov war genauso Teil des sowjetischen Alltags und der sowjetischen Kultur wie der zeitgenössische russische Leser. In Anknüpfung an das vorhergehende Kapitel zur Tragödienform lässt sich sagen, dass Autor und Leser als Chor zueinander finden. Diese Wiedereinführung des persönlichen Autors bzw. des lyrischen Dichters, bei dem Leben und Schreiben Hand in Hand gehen (oder besser: zu gehen scheinen) und der auf diese Weise Kontakt zum Leser aufnimmt, stellt eine wichtige Innovation dar, die Kibirovs Platz in der neusten russischen Literaturgeschichte mitbestimmt. Kibirov setzt sich bewusst mit literarischen Experimenten der sog. Moskauer Konzeptualisten (Prigov, Rubinštejn, Sorokin) auseinander, die das originale, schöpferische Dichterwort (v. a. in ihren frühen Texten) radikal entwerten: Sie schaffen oft bewusst kunstlose Texte durch die mechanische Nachahmung schon bestehender Formen, das Nachsprechen fremder Rede oder die Wiederholung von Klischees; sie demaskieren die ins Werk hineinwirkende Persönlichkeit des Dichters als Image.13 Wo sie (v.a. der Prosaiker Sorokin) Kreativität und Authentizität minimieren und ironisieren, nutzt Kibirov konzeptualistische Ideen (gerade in den nach ›Durch Abschiedstränen‹ geschriebenen Texten) als Ergänzung, um das »traditionelle Schreiben« den Anforderungen einer neuen Zeit anzupassen. So beschreibt er das eigene Dichtungskonzept in einem Interview folgendermaßen [in deutscher Übersetzung]: […] ich wollte immer einfach nur Gedichte schreiben: sie sollten bei den Leuten die gleichen Gefühle hervorrufen wie sie bei mir mit 14 Jahren Bloks Poesie hervorrief. Aber insofern ich ein mehr oder weniger zurechnungsfähiger Mensch bin, verstehe ich, dass es heute schon nicht mehr üblich ist, Poesie so wahrzunehmen, und das heißt, damit es ihnen nicht peinlich ist, im emotionalen Lyrikstrom aufzugehen,

12 Bei Ljudmila »Kibirova« (wie »Kibirov« ein literarisches Pseudonym, der echte Familienname des Dichters lautet Zapoev) scheint es sich um eine ehemalige Geliebte/Lebensgefährtin zu handeln – wobei es mir nicht notwendig erscheint, hier weiter über die Identität der realen Person zu spekulieren. 13 Eine wirklich befriedigende Gesamtdarstellung des russischen literarischen Konzeptualismus liegt bislang weder auf Deutsch noch auf Russisch vor. Einen ausgezeichneten Überblick über den Konzeptualismus in der Bildenden Kunst bietet Bobrinskaja (1994).

218 | MARION RUTZ brauchen die Leser eine Rechtfertigung. Und dafür muss dann schon der Verfasser sorgen. […] Man kann z. B. ein schockierendes Thema auswählen, während man dabei in die Verse einen völlig traditionellen Inhalt hineinlegt: Liebe, Tod, den Lauf der Zeit, Erinnerungen an die Kindheit. Oder man gibt dem Leser die Möglichkeit zu erraten, was woher kam: das da ist eine Anspielung auf Nabokov, dort lässt Mandel’štam grüßen. (Rasskazova 1995)

Zusammenfassung und Ausblick auf eine mögliche Rezeption als Erinnerungstext Timur Kibirovs Gedicht ›Durch Abschiedstränen‹ nimmt den Leser mit in die zunehmend fremd werdende Welt der Sowjetkultur, verarbeitet (v. a. in den fünf historischen Teilen) eine Fülle von intertextuellen Verweisen zu einer panoramaartigen Collage. Die gewählte Bezeichnung Kapitel erhebt einen umfassenden Repräsentationsanspruch, Poesie wendet sich einem eigentlich geschichtswissenschaftlichen Thema zu. Entsprechend umfangreich ist das Quellenmaterial, was anhand einer kurzen Beschreibung der (bislang) lokalisierbaren Textgruppen gezeigt wurde. Intertextualität wird dabei bewusst als künstlerisches Verfahren eingesetzt, die die notwendige Materialverdichtung leistet und darüber hinaus für Leseraktivierung und Ambivalenz sorgt. Einer sich aus den großen intertextuellen Anteilen ergebenden Zerstreuung des Textsinnes wirken zentripetale Verfahren entgegen, die orientieren, Wertungen und umfassende Deutungen nahelegen. • Die Wahrnehmung des Sowjetkosmos wird im Gedicht gestaltet: • durch die durchgehende Kontrastierung der offiziellen Kultur mit gegenkulturellen Texten; • durch Motti, die das Hauptthema der Einzelkapitel formulieren; • durch die in die Anfangsstrophen integrierte Verfallsgeschichte der sowjetischen Populärmusik; • durch die der Gattung Tragödie entlehnte »Handlungsorganisation«, die eine bestimmte Gesamtdeutung und den intendierten Rezeptionsmodus vorgibt; • durch Ergänzungen und Zitatkombinationen, die die ursprünglichen Bedeutungen der Intertexte ironisieren und Kritik üben. Was die Bedeutungskonstitution betrifft, ist die Existenz eines lyrischen Ichs zentral, das zwar oft als unpersönliches Sprachrohr fremder Meinungen dient, jedoch im Ganzen als kritisch wertende Erzählerstimme fungiert. An mehreren Stellen wird diese Instanz mit Timur Kibirov gleichgesetzt und dem Leser ein Identifikationsangebot gemacht. In mehrerer Hinsicht bewegt sich ›Durch Abschiedstränen‹ also zwischen verschiedenen Polen: Es mischt rationale Analyse und emotionales NachErleben, Ernsthaftigkeit und Ironie, Interpretationsfreiheit und Lenkung, Polyphonie und Monologismus. Ein Ausgleich zwischen den Extremen ist auch in der Kombination von Kritik und Klage vorhanden, womit sich das Gedicht zwischen den beiden Positionen bewegt, die in Russland die Bewertung der jüngsten Vergangenheit beherrschen:

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Zum einen stellt sich ›Durch Abschiedstränen‹ gegen den intellektuellen Trend der 70er/80er, als die völlige Distanzierung vom Sowjetischen zuerst im privaten Bereich zum guten Ton gehörte und dann zum Allgemeinplatz degenerierte (Balla 2006: 118/19) und spricht sich für eine Erhaltung des Kulturerbes aus. Bedeutungsträchtig ist dem Gesamttext Anna Achmatovas (leicht gekürztes) Gedicht ›Im Jahr [19]40‹ (V sorokovom godu) vorangestellt, das angesichts der Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht den Untergang der europäischen Zivilisation prophezeit. Droht 1987 der UdSSR nicht das gleiche Schicksal und soll man das kulturelle Erbe mehrerer Generationen einfach so dem Vergessen überantworten? Andererseits lehnt das Gedicht eine schönfärberisch-nostalgisierende Konservierung ab und präsentiert das Sowjetische mit einer adäquaten kritischen Kommentierung – dies hebt Kibirov von dem in den späten 90ern einsetzenden Sowjet-Retro-Trend ab.14 Gerade diese Mittelposition eröffnet ›Durch Abschiedstränen‹ gewisse Erfolgsperspektiven als Erinnerung gestaltender Text, der die kulturellen Realien der UdSSR für die nachfolgenden Generationen konservieren könnte. Vereinzelte Anzeichen für eine Kanonisierung (zumindest im universitären Bereich) sind schon erkennbar: Skoropanova (2004) widmet dem Text in ihrem Postmoderneüberblick ein ganzes Kapitel. Irina Jur’evna Promkova von der ›Russischen Akademie für Theaterkünste‹ erarbeitete mit Studierenden eine Inszenierung der Gedichtcollage, wobei ihre Wahl auch durch erzieherische Ziele bestimmt wurde: nämlich dadurch, den StudentInnen ein Bewusstsein für die eigene Geschichte zu vermitteln.15

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14 Siehe Balla (2006: 119–23). Zur Sowjet-Nostalgie hat sich v. a. Natal’ja Ivanova, stellvertretende Chefredakteurin der politisch-liberal orientierten Literaturzeitschrift Znamja in mehreren Artikeln geäußert (z. B. Ivanova 1997). 15 Diesen Eindruck konnte ich im persönlichen Gespräch mit Irina Jur’evna gewinnen, das am 25.06.2007 in Moskau stattfand. Ich bin Frau Promkova auch für die Möglichkeit dankbar, die Videoaufzeichnung der Inszenierung einzusehen.

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Bobrinskaja, Ekaterina A. (1994): Konceptualizm. Moskau: Galart. [Novoe iskusstvo. XX vek]. Bogdanova, Ol’ga V. (2004): Postmodernizm v kontekste sovremennoj russkoj literatury. 60–90-e gody XX veka – načalo XXI veka. St. Petersburg: Filologičeskij Fakul’tet Sankt-Peterburgskogo Gosudarstvennogo Universiteta. Erll, Astrid (2003): Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier. [Studien zur Englischen Literatur- und Kulturwissenschaft, Bd. 10]. Gandlevskij, Sergej (1998): Kritičeskij sentimentalizm. In: Ders.: Poėtičeskaja kuchnja. St. Petersburg: Puškinskij fond, S. 13–17. Gelfert, Hans-Dieter (1995): Die Tragödie. Theorie und Geschichte, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Herwig, Henriette (2002): Literaturwissenschaftliche Intertextualitätsforschung im Spannungsfeld konkurrierender Intertextualitätsbegriffe. In: Zeitschrift für Semiotik 14/2–3, S. 163–176. Ivanova, Natal’ja (1997): Nostal’jaščee. Retro na (post)sovetskom teleėkrane. In: Znamja 9, S. 204–11. Käppel, Lutz (1998): Die Rolle des Chores in der Orestie des Aischylos. Vom epischen Erzähler über das lyrische Ich zur dramatis persona. In: Peter Riemer & Bernhard Zimmermann (Hg.): Der Chor im antiken und modernen Drama. Stuttgart/Weimar: Metzler. [Beiträge zum antiken Drama und seiner Rezeption, Bd. 7], S. 61–88. Kibirov, Timur (2005): Stichi, Moskau: Vremja. [Poėtičeskaja biblioteka]. Viktor Kullė & Evgenij Natarov (1998): Timur Kibirov. Izbrannaja bibliografija. In: Literaturnoe obozrenie 1, S. 40–43. Langer, Dietger (1971): Die Technik der Figurendarstellung in den polnischen, weissrussischen und ukrainischen Intermedien. Frankfurt a. M.: Univ. Diss. Lejderman, Naum L. & Mark N. Lipoveckij (2001): Sovremennaja russkaja literatura. Kniga. 3: V konce veka (1986–1990-e gody). Moskau: Ėditorial URSS. Nemzer, Andrei & Mark Lipovetsky (2004): Art. ›Timur Iur’evich Kibirov (Timur Iur’evich Zapoev)‹. In: Marina Balina & Mark Lipovetsky (Hg.): Russian Writers Since 1980. Detroit u. a.: Gale. [Dictionary of Literary Biography, 285], S. 137–48. Nünning, Ansgar & Roy Sommer (Hg.) (2004): Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Disziplinäre Ansätze – Theoretische Positionen – Transdisziplinäre Perspektiven. Tübingen: Narr. Polonskij, Lazar’ (1994): Art. ›Vasilij Vasil’evič Knjazev‹. In: Zachar Dičarov (Hg.): Raspjatye. Pisateli-žertvy političeskich repressij. Bd. 2: Mogily bez krestov. St. Petersburg: Vsemirnoe slovo, S. 134–42. Rasskazova, Tat’jana (1995): [Interview mit] Timur Kibirov. Tol’ko i delaju, čto potakaju svoim slabostjam. In: Segodnja 14.01., S. 12.

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DIE BEGRENZUNGEN DES TEXTFLUSSES. VOM URHEBERRECHT DER GUTENBERG-GALAXIS ZUR WISSENSALLMENDE IM WORLD WIDE WEB? THOMAS ERNST Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen. (Deleuze 1993: 256)

Ein zentraler Mythos unserer Zeit ist, dass das neue Medium Internet1 einen Überfluss an Kommunikationsmöglichkeiten und Informationen bereitstellt. Eine neue Entwicklungsstufe des Internets mit seinen Mailinglisten und Chatrooms, interaktiven Weblogs und sozialen Netzwerken wie Wikipedia, Youtube, Facebook oder Twitter revolutioniere, so die mediale Behauptung, die soziale Kommunikation und die ästhetischen Ausdrucksformen. Folglich war es kein Zufall, dass auf der Tagung zum Thema verausgaben. Sprechen vom/im Überfluss, die diesem Band zugrunde liegt, ein Vortrag mit dem Untertitel Was lehrt uns der kommunikative Überfluss im Web 2.0?2 gehalten wurde, in dem enthusiastisch dieser kommunikative Überfluss im World Wide Web dargestellt wurde. Im Spiegel wird zugleich eine »Revolution im Web« ausgerufen, nämlich das »Zeitalter der ›MashUps‹«: diese seien »Urheberrechte mit Füßen tretende, anarchische, dekonstruktivistische Kunstwerke – und manchmal besser als das Original.« Kurzum: »alles taugt zum Remix« (Stöcker 2005). Doch leben wir wirklich in einer überbordenden Welt des kommunikativen Überflusses? Erlaubt uns das Medium Internet tatsächlich, jene postmoderne Feier des Zitierten und Collagierten zur globa-

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Wenn im Folgenden vom ›Medium Internet‹ die Rede ist und davon ausgegangen wird, dass dieses Medium Kommunikation und den Austausch von Informationen in zuvor nicht gekannter Weise ermöglicht, so soll dies nicht verdecken, dass das Internet weder bildungsmäßige Unterschiede verschwinden lässt noch tatsächlich ein globalisiertes Medium darstellt. Weite Teile von Afrika und teilweise auch Asiens sind weitestgehend offline; Nicole Zillien hat zudem gezeigt, »dass statushöhere Onliner letztlich in größerem Ausmaß von der Verfügbarkeit des Internets profitieren als statusniedrige dies tun, weshalb von einer Verfestigung sozialer Ungleichheiten infolge der Verfügbarkeit von Internettechnologien ausgegangen werden kann.« (Zillien 2006: 4) Der Begriff ›Web 2.0‹ wurde 2005 von Dale Dougherty, Craig Cline und Tim O’Reilly als Passepartout-Begriff etabliert, unter dessen Dach alle Phänomene versammelt werden sollen, die interaktive und netzwerkähnliche Funktionen des Internets stärken, wie die kollektive Nutzung sozialer Software, die Produktion von User Generated Content und MashUps sowie deren kontinuierliche Aktualisierung; wobei der Begriff berechtigterweise als analytisch unscharf kritisiert worden ist und deshalb in diesem Text nicht weiter genutzt werden soll.

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lisierten Kunstform zu erheben und verschwenderisch bereits vorhandene Kunstwerke zu verbreiten und neu zu kombinieren? Mit diesen Fragen will sich der vorliegende Text aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive beschäftigen, ausgehend von der Grundannahme, dass sich durch das neue Medium Internet zwangsläufig Konzepte von Autorschaft, ohne die das Urheberrecht und das ›geistige Eigentum‹ nicht denkbar wären, noch zusätzlich problematisiert werden. Dass diese Kategorien angesichts des Internets in Bewegung geraten sind, zeigen die Novellen des deutschen Urheberrechts von 2003 und 2007, jedoch auch die daraus resultierenden Prozesse beispielsweise gegen TeilnehmerInnen von Peer-to-PeerNetzwerken, die sich im Internet u. a. als Musiktauschbörsen etabliert haben. Auch wenn sich die anhaltenden Debatten um ›geistiges Eigentum‹ und ›Urheberschaft‹ hauptsächlich auf den kommerziell gewinnträchtigen ›Schutz‹ von Musik-, Film- und Bildmaterial beziehen (wenngleich es natürlich auch Prozesse gegen den Austausch von zum Beispiel E-Books oder das unrechtmäßige Veröffentlichen von eingescannten Büchern im Netz gibt), so basiert doch das aktuell gültige deutsche Urheberrecht weitestgehend auf Konstruktionen von Autor- und Urheberschaft, die in den Untersuchungsbereich der Literaturwissenschaft fallen. Diese scheint sich jedoch in den letzten Jahren vorrangig mit dem ästhetischen Verschwinden des Autors und weniger mit seiner juridischen Wiederauferstehung beschäftigt zu haben.3 Dabei könnten LiteraturwissenschaftlerInnen zu einer Historisierung und Differenzierung der Debatte um ›geistiges Eigentum‹ und die ihr zugrunde liegenden Konzeptionen von Autorschaft beitragen, denn anders als im Urheberrecht suggeriert, handelt sich bei der Autorschaft um historisch und sozial problematische und widersprüchliche Konzeptionen, wie Britta Herrmann beschreibt: Seit dem 18. Jahrhundert bestehen […] mehrere rivalisierende Autorschaftskonzepte parallel, die jeweils nach Maßgabe kulturhistorischer oder gesellschaftspolitischer Wandlungen unterschiedlich stark gewichtet werden. Die Etablierung einer rechtlich geschützten Form der Autorschaft führt zwar, diachron betrachtet, dazu, daß diese letztlich zum dominanten Modell avanciert scheint. Synchron gesehen, erweist sich Autorschaft jedoch als eine heterogene Kategorie, die stets neu zu fassen ist. (Herrmann 2002: 480)

Um die komplexen und widersprüchlichen Felder historisch und theoretisch differenziert beschreiben zu können, werde ich mich einleitend mit Michel Foucaults Diskursanalyse beschäftigen, die aus einer literaturtheoretischen Perspektive ermöglicht, Die Begrenzungen des Textflusses adäquat zu beschreiben (1.). Anschließend werde ich Die Etablierung der Autorschaft darstellen und somit das Feld der Literatur und des Urheberrechts analysieren, 3

Gisela Fehrmann u. a. weisen in der Einleitung zu ihrem Band Originalkopie auf den Widerspruch einer Kulturwissenschaft hin, die sich für ästhetische Verfahren des Kopierens interessiert, allerdings juridische Konstruktionen des Originals – die zumindest als juridische Performanzen wirksam werden – aus ihren Analysen ausblendet (vgl. Fehrmann u. a. 2004: 7). Vgl. zum Desinteresse der Literaturwissenschaften an einer sozialgeschichtlichen Perspektive auf Autorschaft auch: Parr 2008: 8.

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vor dessen Hintergrund sich das heutige Urheberrecht durchgesetzt hat (2.). In einem dritten Schritt werde ich Das Internet und das Konzept der Wissensallmende als eine neue Stufe der medialen und – daraus folgend – rechtlichen Entwicklung untersuchen und fragen, ob es sich heute von einer Auflösung der Autorschaft sprechen ließe (3.). Abschließend werde ich unter dem Titel Für eine Befreiung des Textflusses? einige Riskante Thesen aufstellen, die sich aus literaturwissenschaftlicher Sicht zur aktuellen Debatte um das Urheberrecht beitragen lassen (4.).

Die Begrenzungen des Textflusses. Michel Foucaults Diskursanalyse Während der § 7 des Urhebergesetzes die Produktion eines Werkes an ein Individuum bindet, das zu einer spezifischen Zeit sein kreatives Wissen produziert (›Urheber ist der Schöpfer des Werkes‹), beschreibt Michel Foucault die Produktion von Wissen (und somit auch von literarischen Werken) als einen viel komplexeren Prozess. Zentral steht in seinem Denken der Begriff des Diskurses, der sich als das Regelsystem zur Produktion von Wissen bzw. als »die Möglichkeitsbedingungen des Aussagens« (Schößler 2006: 39) bestimmen lässt. Der Diskurs wird dabei von außen und von innen kontrolliert, Foucault beschreibt Verfahren wie die Ausgrenzung des Wahnsinns oder das Verbot, die Aussagen aus dem Diskurs ausschließen, und diskursinterne Kontrollverfahren wie Kommentar, Exegese und Klassifikationsprinzipien, die den Zufall als Dimension des Diskurses zu bändigen versuchen (vgl. Foucault 2003: 16 f.). Im Gegensatz zur Rede von der ›Kommunikation im Überfluss im World Wide Web‹ werden Diskurse »nach Foucault grundsätzlich kontrolliert und verknappt.« (Schößler 2006: 40) Dabei lassen sich allerdings unterschiedliche Regelsysteme unterscheiden: Juridische, politische, ökonomische, naturwissenschaftliche oder ästhetische Diskurse unterliegen jeweils verschiedenen Regelsystemen. Das Individuum macht nicht den Diskurs, vielmehr ermöglicht erst der Diskurs, etwas wie ›das Individuum‹ als eine Wissenskategorie zu verstehen, die sich wiederum im juridischen, ökonomischen, pädagogischen oder literarischen Diskurs verschieden gestaltet. Das diskursive Wissen über das entsprechende ›Individuum‹ ist jeweils historisch und kollektiv gewachsen. In dieser Konstellation kommt nun der Größe ›Autor‹ die Funktion zu, den literarischen Diskurs zu verknappen und die Bedeutungsvielfalt literarischer Texte zu beschränken. Foucault sieht den Autor nicht »als sprechendes Individuum, das einen Text gesprochen oder geschrieben hat«, sondern als ein »Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammenhalts.« (Foucault 1995: 20) In seiner berühmten Rede unter dem Titel Was ist ein Autor? von 1969 beklagt Foucault die Fixierung der Literaturkritik und -wissenschaft auf ›die diskursive Funktion Autor‹. Im Gegensatz dazu erklärt er deren ideologische Funktion der Bedeutungseinschränkung:

226 | THOMAS ERNST Der Autor ist nicht die unendliche Quelle an Bedeutungen, die ein Werk füllen; der Autor geht den Werken nicht voran, er ist ein bestimmtes Funktionsprinzip, mit dem, in unserer Kultur, man einschränkt, ausschließt und auswählt […]. Wenn wir daran gewöhnt sind, den Autor als Genie, als unendliche Bedeutungsflut darzustellen, dann geschieht dies in Wahrheit eigentlich deshalb, weil wir ihn in genau der entgegengesetzten Weise funktionieren lassen. (Foucault 2000: 228)

Im Gegensatz zur Fixierung auf ›die diskursive Funktion Autor‹ plädiert Foucault für Texte ohne Autorennamen, die das Wissen um die vielfältigen Bedeutungen und Lektüren erst diskursiv ermöglichen würden. Man könne sich jedenfalls, so Foucault, »eine Kultur vorstellen, in der Diskurse verbreitet oder rezipiert würden, ohne daß die Funktion Autor jemals erschiene.« (Foucault 2000: 227) Auf diese Weise wendet sich Foucault fundamental gegen die hermeneutische Vorstellung eines dem Text vorgängigen tieferen Sinns, den der Autor bewusst in den Text hineingelegt habe und der vom Leser aus diesem herausinterpretiert werden müsse. Auch die in diesem Prozess immer wieder eingeforderte Auseinandersetzung mit der Biografie und der Psychologie des Autors wird somit von Foucault als ein diskursives Konstrukt dargestellt, das den Blick auf den Text, seine Bedeutungen und Widersprüche eher verstellt denn schärft. Wie aber ließe sich nun vor diesen Hintergründen das Konzept der Autorschaft und seine historische Etablierung, ohne die die heutigen Auseinandersetzungen um ›Autorschaft‹ und ›geistiges Eigentum‹ nicht denkbar wären, im literarästhetischen, medialen, juridischen und ökonomischen Diskurs differenziert beschreiben?

Die Etablierung der Autorschaft. Die Literatur und das Urheberrecht In der Antike und im Mittelalter war das Recht des Autors am geistigen Werk als solches nicht bekannt. Zwar gab es Stilisierungen der Autorfigur, aber noch lange keine Bestrebungen, daraus einen exklusiven rechtlichen Zugriff auf die jeweiligen Werke abzuleiten. Für die heutige Diskussion besonders interessant mag sein, dass es zwar das materielle, nicht aber das ›geistige Eigentum‹ als Rechtsform gab: Ein Buch durfte nicht gestohlen, aber komplett abgeschrieben werden. In der Zitierkunst ging es auch nicht darum, etwas ›Neues‹ aus dem bereits vorhandenen Textzitat zu machen, sondern vielmehr in der Form der bloßen Abschrift des Textes handwerkliche Fertigkeiten und somit durch eine besonders kunstvolle Kopie ›Meisterschaft‹ zu beweisen. Erst als mit der Verbreitung des Buchdrucks (seit dem 15. Jahrhundert), dem Geniekult des Sturm und Drang und der Romantik sowie dem Subjektund Rechtskonzept der französischen Aufklärung (in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts) Grundlagen für die Entwicklung eines autonomen Literaturmarktes gelegt wurden, konnten eigentumsähnliche Rechte an geistigen Leistungen konstruiert werden, die vorher noch das Gut aller waren und nach Belieben reproduziert werden durften. Das Konzept des freien Schriftstellers etabliert sich zwischen ästhetischen, juridischen und ökonomischen Diskur-

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sen und fußt auf drei zentralen Größen: der Autor als ›individueller und genialischer Urheber‹, ›das Werk als autonome Sinneinheit‹ und ›die Idee als geistiges Eigentum‹. Bereits damals kristallisierte sich eine Form des Urheberrechts und der Übertragung ›geistiger Eigentumsrechte‹ heraus, die noch heute zentral ist: Während man das ›geistige Eigentum‹ für unveräußerbar hielt, erkannte man dem Autor das Recht zu, seine Verwertungsinteressen einem Verleger vertraglich abzutreten, der dadurch ein ›ius alios excludendi ab usu rei suae‹ erhalte; dieses Recht verletze der Nachdrucker jedoch. (Plumpe 1997: 378)

Während diese Unterscheidung zwischen dem ›geistigen Eigentumsrecht‹ des Autors an seinem Stoff und dem ›Manuskriptnutzungsrecht‹ des Verlages die Position des ›genialen Autors‹ stärken sollte, stellten sich die Probleme für das ›ökonomische Subjekt Autor‹ im 19. Jahrhundert profaner dar, wie Rolf Parr gezeigt hat. Der immer ausdifferenziertere literarische Markt entwickelte einen großen Professionalisierungsdruck, der letztlich in eine dichotomische Gegenüberstellung von ›Beruf‹ und ›Berufung‹ mündete. Zahlreiche Schriftsteller entwickeln »nahezu schizophrene Existenzen der Kopplung von Marktorientierung (als einer Manifestationsform von Erwerbs-Professionalität) mit schriftstellerischer Ambitioniertheit (als einer auf ästhetische Qualitätsfragen hin orientierten Form weiterhin aufrechterhaltener dichterischer Berufung).« (Parr 2008: 19) Dieser Prozess der Professionalisierung und zunehmenden Marktorientierung geht nach 1850 sogar »mit einem deutlichen Positionsverlust im Sozialprestige« (Parr 2008: 21) einher. Ende des 19. Jahrhunderts führt diese Professionalisierung zu einer Ökonomisierung der literarischen Produktion (›Literatur als Ware‹), einer Angleichung der literarischen Arbeit an arbeitsteilige Produktionsweisen und zu einem Selbstverständnis der Autoren als ›Unternehmer‹, die die Selbstorganisation in Interessenverbänden nach sich zieht. Auf diese Weise zwingt der literarische Markt paradoxerweise die Autoren, sich von jenem individualistischen und genialen Autorbild weg zu entwickeln, das selbst noch für das heutige Urheberrecht und sein Recht auf die Anerkennung der Urheberschaft (§ 13) und das Verbot von Entstellungen und interessengefährdenden Beeinträchtigungen des Werkes (§ 14) zentral steht. Die romantischen und klassischen Imaginationen von der Einheit des Werkes, der genialischen Individualität des Autors und der unabdingbaren Verbindung zwischen diesen beiden Größen sind im Verlaufe des 20. Jahrhunderts auch literaturtheoretisch fundamental infrage gestellt worden. Die inhumanen Effekte der Industrialisierung, die beiden Weltkriege, der Holocaust und die Atombombenabwürfe sowie die Aufrüstung während des Kalten Krieges hatten das Selbstbewusstsein der Aufklärung, durch ihren Verstand könnten mündige Individuen die Welt dauerhaft verbessern, delegitimiert. Das (männliche) Subjekt der Aufklärung, das zuvor von Literatur und Philosophie als Ideal verherrlicht wurde, sah sich plötzlich einem Diskurs ausgesetzt, der auf die Suche ging nach jenen Gewaltformen, Ausschlussverfahren und blinden Flecken, die angesichts aller Differenzen und Widersprüche des Lebens notwendig waren, um die aufklärerischen Fantasien von

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Ganzheitlichkeit, Individualität, kontinuierlichem Progress und Sinnhaftigkeit realisieren zu können. Demgegenüber interessierte sich beispielsweise Foucault für Widersprüche, Brüche, Differenzen, Spezifitäten und imaginierte eine Auflösung der abendländischen Ordnung, als dessen Effekt auch »der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Foucault 1999: 462) Ähnlich wie das ›vernünftige Subjekt der Aufklärung‹ gerät nun auch die ›Funktion Autor‹ in den kritischen Blick, da sie fortan auf jene Gewalt hin analysiert werden kann, mit deren Hilfe sie sich überhaupt nur als individuelle und kreative Größe jenseits diskursiver Vernetzungen zu inszenieren wusste. Britta Herrmann beschreibt dieses – durchgängig männlich codierte – Konzept ›genialer Autorschaft‹ als eines der Brutalität und Lüge. Der ›geniale Autor‹ konstruiere sich als solcher, »indem er Hinweise auf CoProduktionen (zumeist mit Partnerinnen) tilgt oder sich bemüht, die ›väterlichen‹ Vorgaben textueller Traditionen und intertextueller Bezüge zu überbieten oder gar zu ignorieren.« (Herrmann 2002: 481) Auf die ›Intertextualität‹ konzentriert sich eine prominent gewordene literaturwissenschaftliche Lektüremethode, die literarische Texte als Gewebe von (einzelnen oder zahllosen) Zitaten begreift und somit gerade in der Form ihrer Nicht-Originalität beschreibt.4 Die literaturtheoretischen Problematisierungen einer ›individuellen und autonomen Autorschaft‹ finden ihren Widerhall bei erfolgreichen Gegenwartsautoren und in ihren jeweiligen Autorselbstinszenierungen. Schon im Surrealismus oder in den 1960er Jahren wurden beispielsweise von Rolf Dieter Brinkmann und anderen AutorInnen Texte kollektiv als ›Kollaborationen‹ produziert (vgl. Brinkmann 1995: 50–72). Die individualisierte Form der Autorschaft wurde auch durch Pseudonyme und die ›Verdunkelung‹ der Autoridentität problematisiert. Als Kollektivpseudonym kann beispielsweise seit den 1990er Jahren der Name ›Luther Blissett‹ von AktivistInnen der Kommunikationsguerilla benutzt werden, um Flugblätter, alternative Buchprojekte oder Straßenaktionen zu kennzeichnen und in einen subversiven Diskurs einzuordnen (vgl. Ernst & Rauscher 1998). Als ›Luther Blissett‹ veröffentlichte auch ein italienisches Autorenkollektiv den Roman Q, der – in unserem Kontext interessant – für alle nicht-kommerziellen Nutzungsweisen zur Kopie freigegeben ist (vgl. Blissett 2002). 4

Roland Barthes hat den Tod des Autors proklamiert und gezeigt, dass sich Literatur nicht durch ihre Rückführung auf die ›singuläre Stimme‹ einer Autorfigur erklären lässt. Vielmehr handele es sich bei modernen Texten um einen »vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen, von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur.« (Barthes 2000: 190) In noch radikalerer Weise hat Julia Kristeva ihren weiten Begriff der Intertextualität entwickelt: Jenseits von Autor oder Leser seien alle Texte immer nur Zitate und Collagen aus anderen Texten, das Originäre oder Neue lasse sich gar nicht finden. »(J)eder Text«, so Kristeva, »baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes« (Kristeva 1996: 337). Gérard Genette hat in Palimpseste einen engen Begriff von Intertextualität vorgeschlagen, der verschiedene Grade und Formen intertextueller Beziehungen zwischen Texten beschreiben hilft (vgl. Genette 1993), in Deutschland haben Ulrich Broich und Manfred Pfister ein ähnliches Verfahren zur Skalierung von Intertextualität entwickelt (vgl. Pfister 1985: 26–30).

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Doch neben Kollaborationen und (Kollektiv-)Pseudonymen widersetzen sich Gegenwartsautoren auch durch andere Strategien der Fiktion einer ›autonomen und selbstständigen Urheberschaft‹. Elfriede Jelinek erhielt 2004 den Literatur-Nobelpreis, allerdings für ein Werk, das stark intertextuell angelegt ist und – wenngleich die Literaturkritik und sogar die -wissenschaft angriffslüstern immer wieder ›die Jelinek‹ und ihre Texte in einen Topf werfen und diffamieren – mit diesen Zuschreibungen offensiv spielt. So heißt es beispielsweise am Schluss ihres Theatertextes Wolken.Heim.: »Die verwendeten Texte sind unter anderem von: Hölderlin, Hegel, Heidegger, Fichte, Kleist und aus den Briefen der RAF von 1973–1977.« (Jelinek 1997: 158), wobei das ›unter anderem‹ offen lässt, wie viele externe Textmaterialien noch in ihren Text eingegangen sind. Auch der Pop-Autor Thomas Meinecke produziert hochgradig intertextuelle Romane und gibt – in einer paradoxen Figur – Auskunft darüber, dass er als Autor gar keine Auskunft über seine Texte geben könne. Sein Ziel sei es, das »Buch sozusagen mich schreiben zu lassen. Es auch mal klüger als den Verfasser sein zu lassen. Den Autor, als das vermeintliche Subjekt, zum Objekt werden zu lassen. Ich als Text« (Meinecke 2000: 187). Während also die Konstruktion des Urheberrechts und des ›geistigen Eigentums‹ an einem literarischen Text nicht denkbar ist ohne die Fiktion eines ›genialen, autonomen und individuellen Schöpfers‹, stellen GegenwartsautorInnen diese Fiktion radikal infrage. Britta Herrmann hat für diese Pole – in Anlehnung an Aleida Assmann und Harold Bloom – die Begriffe ›starke Autorschaft‹ versus ›schwache Autorschaft‹ gewählt, wobei diese Begriffe nicht dichotomisch gedacht, sondern zur graduellen Beschreibung von AutorSelbstinszenierungen genutzt werden sollen. Historisch erkennt sie keine kontinuierliche Entwicklung, sondern vielmehr zyklische Bewegungen, denn es »scheinen ›schwache‹ Autorschaften seit dem 19. Jahrhundert gerade dann Konjunktur zu haben, wenn nationale Konzepte brüchig werden und ›starke‹ Autorschaften sich re-formieren müssen: etwa um 1900, um 1968 und um 2000.« (Herrmann 2002: 493) Gegen die nur scheinbar klare Unterscheidbarkeit von Original und Kopie schlägt Dirk von Gehlen in seinem Lob der Kopie in ähnlicher Weise eine Skalierung vor. Man könne sich »nicht mehr auf den absoluten Gedanken des Originalgenies und die damit verbundene binäre Unterscheidung zwischen Original und Kopie« stützen, sondern sei gezwungen »skalierend zu argumentieren.« (von Gehlen 2008: 155)

Die Auflösung der Autorschaft? Das Internet und die Wissensallmende Die Wissens- bzw. Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts, so prognostizierte die Süddeutsche Zeitung schon vor einigen Jahren, werde »im Zeichen eines gänzlich immateriellen Gutes stehen: Lizenzen und Verwertungsrechten für geistiges Eigentum.« (Kühne 2002) Weit entfernt von solchen Analysen aus dem medialen Diskurs hatte sich die germanistische Literaturwissenschaft – ausgehend von ihrer hermeneutischen Tradition – vor

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allem auf den von ihr selbst näher zu definierenden literarischen Kanon fixiert, der der deutschen Nation zentrale Wissensbestände und auf diese Weise auch ein Wertesystem bereitstellen sollte. Seit den 1960er Jahren steht nicht nur dieser literarische Kanon radikal infrage, die gesellschaftliche Position der Literatur ist inzwischen angesichts von Fernsehen, Computern und Internet minorisiert worden. Norbert Bolz greift die alte These von Marshall McLuhan wieder auf und erklärt das Ende der Gutenberg-Galaxis: »Die Kinder der neuen Medienwelt beugen sich nicht mehr über Bücher, sondern sitzen vor Bildschirmen.« (Bolz 1993: 201 f.) Wie jedoch verfährt die Literaturwissenschaft mit dem neuen Textuniversum, das sich nicht mehr auf den Seiten von Büchern, sondern auf den Bildschirmen ausbreitet? Jörgen Schäfer schlägt für Literatur im Medium Internet den Begriff der ›Netzliteratur‹ vor, der am geeignetsten sei zur Beschreibung einer neuen »Qualität der Generierung, Speicherung und Übertragung von Literatur […], die nur als Resultat parallel arbeitender Prozesse denkbar ist« (Schäfer 2004: 77). Im Internet lassen sich zunächst fünf verschiedene Formen von ›Netzliteratur‹ unterscheiden: 1. Literaturarchive, in denen traditionelle literarische Texte im Medium Internet verfügbar gemacht werden (zum Beispiel die Google Buchsuche oder das Projekt Gutenberg),5 2. Hypertexte oder Hyperfiction, also literarische Texte, die sich durch Multimedialität und Nichtlinearität auszeichnen, 3. Kollaborationen oder Mitschreibprojekte, in denen sich NutzerInnen – ausgehend von einer literarischen oder thematischen Vorgabe – mehr oder weniger basisdemokratisch an der Weiterentwicklung des literarischen Projekts beteiligen können (wie zum Beispiel an Marietta/Ein Mann von vierzig Jahren, das von Matthias Politycki auf der Internetseite des ZDF-Journals Aspekte betreut wurde),6 4. AutorInnennetzwerke, in denen AutorInnen in ein moderiertes Forum eingeladen werden, in dem sie Texte präsentieren oder mit den anderen AutorInnen diskutieren können (zum Beispiel Null oder Forum der 13),7 5. Weblogs, das sind öffentlich einsehbare und meist interaktiv kommentierbare Aufzeichnungen von Autoren oder Kollektiven (zum Beispiel Rainald Goetz’ Abfall für alle oder das Kollektiv Riesenmaschine mit der Bachmann-Preisträgerin von 2006, Kathrin Passig).8 Die germanistische Forschung verweist jedoch zurecht darauf, dass es sich angesichts dieser Formen von Netzliteratur nicht von einem Verschwinden 5 6 7 8

Vgl. http://books.google.de, Stand 05.05.2008; http://gutenberg.spiegel.de, Stand 05.05.2008. Vgl. http://www.matthias-politycki.de/novel3/fragezei/fragezei.htm, Stand 05.05.2008. Vgl. http://www.hettche.de/buecher/null.htm, Stand 05.05.2008; Hettche & Hensel 2000; http://www.forum-der-13.de/, Stand 05.05.2008. Vgl. auch Goetz 1999; http://riesenmaschine.de/, Stand 05.05.2008. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung deutet die Verleihung des Bachmann-Preises an eine Bloggerin zu einem allgemeinen Trend um: »All jene, die dachten, daß die deutschen Großverlage für ewige Zeiten das Monopol auf die Produktion von Nachwuchsliteratur besitzen«, sollten »ihre pauschalen Dünkel gegen eine Literatur überdenken, die woanders entsteht als im stillen Kämmerlein« (Staun 2006).

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der Gutenberg-Galaxis, sondern vielmehr von Kontinuitäten und Transformationen literarischer Verfahren sprechen lasse, die sie schon für die vergangenen Jahrhunderte analysiert hat. »Merkmale vernetzter digitaler Literatur«, fasst Susanne Knoche die aktuellen Forschungsergebnisse zur Netzliteratur zusammen, »greifen literarische Verfahren auf und entwickeln sie in den digitalen Medien weiter« (Knoche 2004: 228). Gibt es überhaupt eine wirklich neue Form der Netzliteratur?9 Peter Gendolla und Jörgen Schäfer sehen diese – als sechste Form der Netzliteratur – in der »automatische(n) Generierung von Literatur durch Poesiemaschinen oder -programme«, die als »nichthierarchische() Austauschprozesse() zwischen allen beteiligten Elementen« (Gendolla & Schäfer 2001: 82) zu beschreiben seien und die Idee menschlicher AutorInnen zumindest indirekt zum Verschwinden brächten, weil auf diese Weise produzierte Texte nur mehr »eine ›wahrscheinliche‹ Zeichenfolge wären, die der Rechner nach den programmierten Algorithmen aus einem riesigen Fundus von Büchern, Aufsätzen und Vorträgen kombiniert hat« (Gendolla & Schäfer 2001: 83). Als Beispiel für dieses avantgardistische Verfahren nennen sie die ›Permutationen‹, die Florian Cramer seit 1996 entwickelt.10 Angesichts dieser Entwicklung löse sich die ›Funktion Autor‹, so Gendolla und Schäfer, »tatsächlich mehr und mehr auf« und werde »zu einem Programm, das von einer oder mehreren Personen geschrieben, manipuliert oder auch gelöscht werden kann«. Bezogen auf das Urheberrecht heiße dies: Mit den zukünftigen Honoraren wird »kein Genius mehr geehrt, sondern ein einfallsreiches, schnelles und effizientes Programm bezahlt« (Gendolla & Schäfer 2001: 84), an dem womöglich viele AutorInnen mit gefaketen Identitäten kollaboriert haben. Das Wissen des literarischen und akademischen Diskurses, dass ›starke Autorschaften‹ nur als Inszenierung funktionieren, viele Gegenwartsautoren diese Selbstinszenierung als ›Schöpfergott‹ verweigern und das Medium Internet Formen kollektiver und collagierter kreativer Produktion in herausragender Weise fördert, steht jedoch in einem Widerspruch zu den Entwicklungen in den politischen, juridischen und ökonomischen Diskursen der letzten Jahre. 1994 hat die WTO (World Trade Organisation) im TRIPS (Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights) des GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) entschieden, das ›geistige Eigentum‹ zu einer gewöhnlichen Handelsware zu erklären, wodurch die wirtschaftlichen Interessen der Urheber und Rechteverwerter gestärkt, die Rechte der Allgemeinheit dagegen eingeschränkt wurden. Nach und nach wurde diese Richtlinie in nationales Recht umgewandelt, in Europa u. a. über eine EU-Richtlinie zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (2004), die die Internet-Provider

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Ein generelles Problem der Netzliteratur ist natürlich jenes ihrer ordnungssystematischen Kennzeichnung, wie sie beim Buch die ISBN-Nummer leistet. Die Literaturwissenschaftlerin Christiane Zintzen reflektiert über einen solchen digitalen Identifikator für beliebige Objekte intellektuellen Eigentums, vgl. http://www.zintzen.org/2008/01/29/blog-onmethod-2-digital-object-identifier-system-part-1/. Stand: 15.07.2008. 10 Vgl. http://cramer.plaintext.cc:70, Stand: 05.05.2008; Cramer 2001.

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verpflichtet, nicht nur der Polizei, sondern auch der Industrie mitzuteilen, wer was aus dem Internet herunterlädt.11 In den Jahren 2003 und 2007 hat die jeweilige Bundesregierung zwei Novellen des Urheberrechts durchgesetzt. Der 1. Korb vom 13. September 2003 bestimmt unter anderem, dass digitale Medien mit Kopierschutz auch für den Privatgebrauch nicht mehr vervielfältigt werden dürfen und AntiKopierschutz-Programme nicht mehr verkauft werden dürfen. Zum Schutz des ›geistigen Eigentums‹ sollte ein globales ›Management digitaler Rechte‹ entwickelt werden, damit jede Kopie immer nur von einem namentlich bekannten Kunden genutzt werden könnte. Dieses Gesetz schützt das alleinige Distributionsrecht der Rechteinhaber und sollte das Ende aller Peer-to-PeerTauschbörsen bedeuten. Im 2. Korb vom 5. Juli 2007 werden unter anderem die Regeln für den Hochschul- und Forschungsbereich klarer definiert: Einerseits können fortan Zeitschriftenaufsätze und Teile eines Buches Studierenden und anderen WissenschaftlerInnen in digitaler Form zur Verfügung gestellt werden, allerdings nur in geschlossenen Netzwerken wie einem Intranet, andererseits wird beispielsweise dem für die Forschung praktischen Online-Versand von Artikeln durch Bibliotheksdienste ein Riegel vorgeschoben. Schon diese Differenzierungen gehen den Verlagen zu weit, wenngleich sie und ihre Eigentumsrechte – angesichts der revolutionären medialen Möglichkeiten, Texte fortan unkontrolliert über das Internet distribuieren zu können – von den Gesetzesnovellen eher geschützt werden. Tatsächlich steht die im Wissenschaftsbetrieb gängige Praxis, öffentlich finanzierte Forschungsergebnisse zu einem hohen Verkaufspreis und in geringer Auflage zu veröffentlichen sowie einem Verlag, der häufig noch nicht einmal ein Lektorat bietet, für einen Druckkostenzuschuss auch noch die Rechte zur Weiterverwertung der Forschungsergebnisse zu übertragen, angesichts der Möglichkeit des Publizierens im Internet für ein breites Publikum radikal infrage. Diemut Roether beschreibt das elektronische Publizieren oder Verfahren wie Books on Demand als neue Entwicklungen, die die Verlagswelt langsam verändern werden: »Nach einer Studie des Fraunhofer-Instituts spüren 95 Prozent der Verleger einen starken Veränderungsdruck in der Branche. […] Umso erstaunlicher ist es, dass die Branche prestigeträchtige, innovative, multimediale Projekte noch immer sträflich vernachlässigt.« (Roether 2005: 81) Der Mehrwert traditioneller Verlage gegenüber dem elektronischen Publizieren liege, so Roether, nur noch in »Qualitätskontrolle, Marketing und Vertrieb.« (Roether 2005: 73) Verlage, die über diese drei Stärken nur bedingt verfügen, werden vermutlich angesichts des Medienwandels auf der Strecke bleiben. Gegen die Verlags-, Film- und Musikindustrie, die zu größten Teilen auf die Bewahrung des ›geistigen Eigentums‹ und die Stärkung des Urheberrechts pocht, haben sich politische Gruppen mit alternativen Konzepten formiert. In seiner Analyse des gegenwärtigen Urheberrechts kommt Volker 11 Diese globale Kapitalisierung des Handels mit ›geistigem Eigentum‹ hatte u. a. zur Folge, dass die Nettozahlungen von Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommensniveau für Lizenzgebühren von 1,5 Mrd. US-Dollars (1993, also vor der Neufassung des GATT) auf 9,32 Mrd. US-Dollars im Jahre 2002 anstiegen.

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Grassmuck zu dem Befund, dass dieses weder für die inzwischen üblichen Formen kollektiver Kreativität noch für die Notwendigkeit einer kreativen Weiterentwicklung urheberrechtlich geschützter Produkte angemessen ist. Personal Computer und Internet haben die zentralen Produktions- und Distributionstechnologien wieder in die Hände der Kunden gegeben. Dass dieses »digitale() vernetzte() Werkeschaffen den ursprünglichen offenen kooperativen Austausch von Kreativität wieder zum Tragen« (Grassmuck 2004: 291) bringt, wird in den Novellen des Urheberrechts nicht zur Kenntnis genommen; ganz im Gegenteil wird eine Kunstproduktion im Überfluss ebenso wie ein kreatives Verausgaben unter den neuen medialen Möglichkeiten sogar verhindert. Im Kontrast zur Vorherrschaft des kapitalistischen EigentumsrechteHandels werden jedoch neue Eigentums- und Lizenzkonzepte entwickelt, die mit den neuen medialen Verhältnissen kreativ umgehen: »AllmendeGemeinschaften schaffen der konnektiven Intelligenz einen Freiraum, indem sie die Instrumente von Eigentumsschutz und Vertragsfreiheit für ihre Zwecke verwenden.« (Grassmuck 2004: 300) Hinter dem Begriff der ›Allmende‹ verbirgt sich »die mittelalterliche Form des Gemeineigentums aller BewohnerInnen eines Dorfes, meistens in Form einer Weide oder eines Waldes.« Dieser Begriff wird von einigen Attac-Vertretern – aktualisiert als ›Wissensallmende‹, die »Texte, Photos, Computer-Codes oder Saatgut« umfasst – als ein positiver Gegenbegriff zum Begriff des ›geistigen Eigentums‹ etabliert. Auch dieser Begriff wird von den AktivistInnen resignifiziert, denn »Wissen sollte […] kein exklusives Eigentum sein, sondern der Allgemeinheit dienen. Viel treffender ist daher der Begriff der geistigen Monopolrechte.« (Bödeker u. a. 2004: 9 f.) Gegen die ›geistigen Monopolrechte‹ der großen Konzerne werden neue Lizensierungsverfahren und Rechtskonstruktionen realisiert. Das GNU-Projekt hat eine General Public License entwickelt, unter der Freie Software vertrieben werden kann. Der Quellcode liegt offen, die Software kann beliebig kopiert und für eigene Zwecke weiterbearbeitet werden. Die nichtkommerzielle Organisation Creative Commons hat alternative Lizenzverträge für die Verbreitung digitaler Medieninhalte erstellt, die es beispielsweise ermöglichen, unter Namensnennung des Urhebers das Produkt kostenlos weiter zu verbreiten oder sogar zu bearbeiten.12

Für eine Befreiung des Textflusses? Riskante Thesen Der US-amerikanische Autor Jonathan Lethem hat sich vehement in die Debatte um das Urheberrecht eingeschaltet und versucht, den Widerspruch zwischen der Auflösung des Autors in der (post)modernen Literatur und im World Wide Web einerseits sowie der Rekonstruktion der Urheberschaft und des ›geistigen Eigentums‹ in den juridischen, politischen und ökonomischen Diskursen andererseits zugunsten einer neuen Kreativität zu klären. Er verweist darauf, dass das Zitat und die Kollaboration heute unabdingbarer Be-

12 Vgl. http://de.creativecommons.org/index.php. Stand: 05.05.2008.

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standteil einer jeden Form von Kreativität sind, dass wir uns in einer Übergangsphase befinden, in der die globalen politisch-ökonomischen Diskurse das Privateigentum und den kapitalistischen Handel privilegieren, und dass das Urheberrecht in seiner heutigen Form gerade deshalb ein Gegenstand kontroverser Debatten bleiben werde. Das Urheberrecht sei gegenwärtig »ein von der Regierung garantiertes Benutzer-Monopol an kreativen Arbeitsergebnissen«, und diese »raubgierige Erweiterung monopolistischer Rechte« sei, so Lethem, »dem öffentlichen Interesse stets zuwidergelaufen« (Lethem 2007: 61). Folglich preist er das Plagiat als die neue Form der literarischen Mitteilung und empfiehlt seinen KollegInnen und deren Erben, die auf ihr Werk »folgenden Parodien, Zitate, Verballhornungen oder Revisionen als eine Ehre« (Lethem 2007: 62) anzusehen. Tatsächlich wirkt der Kampf der ›Content-Industrien‹ oder privaten Rechteinhaber um die Bewahrung der ›geistigen Monopolrechte‹ in seiner aktuellen Form wie »ein Don-Quichotte-Kampf gegen den Wandel.« (Röttgers 2004: 120), der nur verloren werden kann. Andererseits konnte jedoch gezeigt werden, dass die Figur der ›genialischen und individuellen Autorschaft‹ zwar keinesfalls mehr als Legitimation des Urheberrechts in seiner heutigen Form genutzt werden kann, dass allerdings die medialen, ökonomischen, juridischen und politischen Diskurse auf Figuren ›starker Autorschaft‹ angewiesen bleiben. Nicht zuletzt bewegen sich die meisten Gegenwartsautoren noch innerhalb von Strukturen und Auffassungen, die ihr (Über-)Leben in eine direkte Abhängigkeit von der Existenz ›geistiger Monopolrechte‹ stellen. Simone Winko hält es vor diesem Hintergrund für »nicht zweckmäßig, das Konzept des Autors in toto zu verabschieden, sondern es zu präzisieren und bereichsspezifische Geltungsbedingungen zu formulieren.« (Winko 2005: 153) Ganz in diesem Sinne richtet Volker Boehme-Neßler seinen Blick auf zukünftige Modifikationen des Urheberrechtsgesetzes, denn »(d)ie statischen Schlüsselbegriffe Urheber und Werk haben ausgedient. Im Zentrum werden die – dynamischen und wechselhaften – kreativen Prozesse und interaktiven Beziehungen zwischen Produzenten und Rezipienten stehen.« (Boehme-Neßler 2002) In den jüngsten Novellen des Urheberrechts haben allerdings sowohl die Notwendigkeit interaktiver Kreativität sowie die Möglichkeit zum Verzicht auf die ›geistigen Monopolrechte‹ oder die Einheit des Werkes kaum Niederschlag gefunden. Es wäre eine mögliche Aufgabe der Literaturwissenschaft, die interdiskursiven Begriffe wie ›geistiges Monopolrecht‹ oder ›Wissensallmende‹ zu analysieren und zu schärfen, damit auch ihr Wissen in den Debatten um das Urheberrecht mehr Geltung erlangt. Die Frage bleibt jedoch, ob sie die Konsequenzen, die dies für ihre eigenen Konzepte von ›Werkeinheit‹, ›Autorschaft‹ und der ›privilegierten Buchkultur‹ hat, zu tragen bereit ist, um einerseits sich selbst nicht überflüssig zu machen und andererseits zu einem Überfluss an Kreativität beizutragen.

DIE BEGRENZUNG DES TEXTFLUSSES | 235

Literatur Barthes, Roland (2000): Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam. S. 185–193. Blissett, Luther (2002): Q. Roman. München: Piper. Bödeker, Sebastian, Oliver Moldenhauer & Benedikt Rubbel (Hg.) (2005): Wissensallmende. Gegen die Privatisierung des Wissens der Welt durch ›geistige Eigentumsrechte‹. Hamburg: VSA (=online unter: http://www.attacmarburg.de/wissensallmende/basistext/AttacBT_15_Wis sensallmende_hoch.pdf. Unter Creative Commons Lizenz). Boehme-Neßler, Volker (2002): Das Ende des Urheberrechts? Die Zukunft des Urheberrechts in der digitalen Welt. In: Telepolis vom 04.04.2002 (=http://www.heise.de/tp/r4/artikel/12/12137/1.html. Stand 23.05.2008). Bolz, Norbert (1993): Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse. München: Fink. Brinkmann, Maleen (Hg.) (1995): Rolf Dieter Brinkmann. Rowohlt Literaturmagazin. Sonderheft. Heft 36. Reinbek: Rowohlt. Cramer, Florian (2001): sub merge {my $enses; ASCII Art, Rekursion, Lyrik in Programmiersprachen. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Digitale Literatur. Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Gastredaktion: Roberto Simanowski. Heft 152. München: text + kritik. S. 112–123. Deleuze, Gilles (1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Ders.: Unterhandlungen 1972–1990. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 254 bis 262. Ernst, Emanuel & Andreas Rauscher (1998): Mondo Mitomane – Luther Blissett. In: testcard. Beiträge zur Popgeschichte. #6: Pop-Texte. Mainz: Ventil. S. 162–181. Fehrmann, Gisela et al. (2004): Originalkopie. Praktiken des Sekundären – Eine Einleitung. In: dies. (Hg.): Originalkopie. Praktiken des Sekundären. Köln: DuMont. S. 7–17. Foucault, Michel (1995): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. 8. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1999): Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2000): Was ist ein Autor? In: Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam. S. 198–229. Foucault, Michel (2003): Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. 9. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer . Gendolla, Peter & Jörgen Schäfer (2001): Auf Spurensuche. Literatur im Netz, Netzliteratur und ihre Vorgeschichte(n). In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Digitale Literatur. Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Gastredaktion: Roberto Simanowski. Heft 152. München: text + kritik. S. 75 bis 86. Genette, Gérard (1993): Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Goetz, Rainald (1999): Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

236 | THOMAS ERNST

Grassmuck, Volker (2004): Der tote Autor und die konnektive Intelligenz. In: Gisela Fehrmann et al (Hg.): Originalkopie. Praktiken des Sekundären. Köln: DuMont. S. 287–301. Herrmann, Britta (2002): ›So könnte ja dies am Ende ohne mein Wissen und Glauben Poesie sein?‹ Über ›schwache‹ und ›starke‹ Autorschaften. In: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart/Weimar: Metzler. S. 479–500. Hettche, Thomas & Jana Hensel (Hg.) (2000): Null. Literatur im Netz. Köln: DuMont. http://books.google.de. Stand 05.05.2008. http://cramer.plaintext.cc:70. Stand 05.05.2008. http://de.creativecommons.org/index.php. Stand 05.05.2008. http://gutenberg.spiegel.de. Stand 05.05.2008. http://riesenmaschine.de/. Stand 05.05.2008. http://www.forum-der-13.de/. Stand 05.05.2008. http://www.hettche.de/buecher/null.htm. Stand 05.05.2008. http://www.matthias-politycki.de/novel3/fragezei/fragezei.htm. Stand 05.05.2008. http://www.zintzen.org/2008/01/29/blog-on-method-2-digital-object-identi fier-system-part-1/. Stand 15.07.2008. Jelinek, Elfriede (1997): Wolken.Heim. In: Dies.: Stecken, Stab und Stangl. Raststätte oder sie machens alle. Wolken.Heim. Neue Theaterstücke. Reinbek: Rowohlt. S. 135–158. Knoche, Susanne (2004): Netzliteratur. Über Termini zu Textsorten, Positionen und Perspektiven. In: Clemens Kammler & Torsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen, Analysen, Vermittlungsperspektiven. Heidelberg: Synchron. S. 219–231. Kristeva, Julia (1996): Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner & Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam. S. 334–348. Kühne, Ulrich (2002): Wer hat (Nutzungs-)Recht? Der Kampf um das geistige Kapital. In: Süddeutsche Zeitung vom 14.12.2002. Lethem, Jonathan (2007): Autoren aller Länder, plagiiert euch! Ein Plädoyer für die Kunst des ›höheren Abschreibens‹. In: Literaturen 6, S. 59–63. Link, Jürgen & Ursula Link-Herr, Ursula (1990): Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 77, S. 88–99. Meinecke, Thomas (2000): Ich als Text. In: ndl – neue deutsche literatur. Zeitschrift für deutschsprachige Literatur 532, S. 183–189. Parr, Rolf (2008): Autorschaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz in Deutschland zwischen 1860 und 1930. Unter Mitarbeit von Jörg Schönert. Heidelberg: Synchron. Pfister, Manfred (1985): Konzepte der Intertextualität. In: Ulrich Broich & Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Niemeyer. S. 1–30.

DIE BEGRENZUNG DES TEXTFLUSSES | 237

Plumpe, Gerhard (1997): Autor und Publikum. In: Helmut Brackert & Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek: Rowohlt. S. 377–391. Roether, Diemut (2005): Digitale Spaltung? Wie das elektronische Publizieren die Verlagsbranche verändert. In: Harro Segeberg & Simone Winko (Hg.): Digitalität und Literalität. Zur Zukunft der Literatur. München: Fink. S. 69–81. Röttgers, Janko (2004): Die Zukunft des Internet. In: Florian Rötzer & Rudolf Maresch (Hg.): Renaissance der Utopie. Zukunftsvisionen des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schäfer, Jörgen (2004): Text-Spiele. Anmerkungen zur Netzliteratur. In: Sprache und Literatur 93, S. 76–87. Schößler, Franziska (2006): Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung. Unter Mitarbeit von Christine Bähr. Tübingen/Basel: Francke. Staun, Harald (2006): Und nächstes Jahr den Nobelpreis. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 02.07.2006. Stöcker, Christian (2006): Web 2.0. Zerreiß mich, kopier mich. In: Der Spiegel vom 13.04.2006. von Gehlen, Dirk (2008): Das Lob der Kopie. Vorläufig unveröffentlichtes Manuskript (=Veröff. voraussichtl. 2009, München: Blumenbar). Winko, Simone (2005): Hyper – Text – Literatur. Digitale Literatur als Herausforderung an die Literaturwissenschaft. In: Harro Segeberg & Simone Winko (Hg.): Digitalität und Literalität. Zur Zukunft der Literatur. München: Fink. S. 137–160. Zillien, Nicole (2006): Digitale Ungleichheit. Neue Technologien und alte Ungleichheiten in der Informations- und Wissensgesellschaft. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

AUTORINNEN UND AUTOREN Christine Bähr, M. A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Arbeitsschwerpunkte: Dramatik und Theater, Literatur und Körper, Literatur- und Kulturtheorie. Dissertationsprojekt: Theatrale Verhandlungen des Sozialen. Arbeit und Familie in der Dramatik seit der Jahrtausendwende. Veröffentlichungen u. a.: Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution. Bielefeld 2009 (hg. zus. mit Franziska Schößler, in Vorbereitung). Suse Bauschmid, M. A., wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Jiddistik an der Universität Trier, arbeitet im DFG-Projekt »Historische Syntax des Jiddischen« und an einem Dissertationsprojekt zum späten westjiddischen Drama. Arbeitsschwerpunkte: Westjiddische Literatur, komparatistische Blicke auf jiddische und deutschsprachige Texte, jüdische und christliche Aufklärung, »Judenbilder« und Genderfragen. Kerstin Beyerlein, M. A., ist seit 2007 Nafoeg-Stipendiatin des Berliner Senats und assoziiertes Mitglied des Internationalen Graduiertenkollegs InterArt an der FU Berlin. Am dortigen Institut für Theaterwissenschaften promoviert sie über den Dramatiker und Regisseur Valère Novarina. Arbeitsschwerpunkte: deutsche und französische Gegenwartsdramatik, Theatertheorie des 20. Jahrhunderts, Verhältnis Literatur und Aufführung in Geschichte und Gegenwart. Arbeit für Theater und Festivals in Deutschland und Frankreich als Direktions-/Regieassistentin, Dolmetscherin/Übersetzerin und künstlerische Beraterin. Bernd Blaschke, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am PeterSzondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der FU Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Romane der Moderne, Komödien seit 1500, Literaturkritik, Wissenschaftssatiren, Literatur und Ökonomie, KünsteVergleich, Ästhetische Theorie. Veröffentlichungen, neben zahlreichen Aufsätzen, Lexikonartikeln und Rezensionen: Komparatistische Dissertation: Der homo oeconomicus und seinen Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline. München (Fink) 2004; Grenzen des Ökonomischen. Grenzgänge. Beiträge zu einer modernen Romanistik (Heft 23) Leipzig 2005 (Hg.); Umwege, Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen. Bielefeld 2008 (Hg.). Marco Borth, M. A., studierte Deutsche Philologie, Philosophie, Medienund Kommunikationswissenschaften an der Universität Mannheim und der University of Virginia. Seit 2005 ist er Doktorand am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur und qualitative Medienanalyse an der Universität Mannheim. Sein Dissertationsprojekt Artefakte und Institutionen (in) der Literatur untersucht den Wandel im Umgang symbolischer und technischer Produkte vor dem Hintergrund des menschlichen Selbstverständnisses als Wesen aus

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Geist und Körper. Seine weiteren Forschungsinteressen gelten der deutschen Gegenwartsliteratur, den Beziehungen von Religion und Literatur, Leseprozessen und Autorschaft sowie der Medientheorie. Thomas Ernst, Dr. phil., studierte Philosophie und Germanistik in Duisburg, Berlin, Bochum und Leuven/Belgien und promovierte 2008 an der Universität Trier mit einer Untersuchung zum Thema Pop, Minoritäten, Untergrund. Subversive Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa. Seine Forschungsschwerpunkte sind die deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Literatur- und Medientheorien des 18. bis 21. Jahrhunderts, Konzepte ästhetischer Subversion, Netzliteratur und Urheberrecht sowie kreatives Schreiben. Seit 2008 arbeitet er als Postdoktorand an der Université du Luxembourg. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Popliteratur (2001/2005), zahlreiche Aufsätze zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und Literatur- und Medientheorie sowie – als Mitherausgeber – Wissenschaft und Macht (2004) und SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart (2008). Irina Gradinari, M. A., ist seit 2004 Doktorandin und Lehrbeauftragte in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Arbeitsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts (mit Schwerpunkten auf Moderne und Gegenwart) und Gender Studies. Weitere Interessensfelder sind Psychoanalyse, Postcolonial Studies, Film Studies, russische Gegenwartsdramatik und -film. Andrea Haller, M. A., Filmhistorikerin, Studium der Germanistik, Soziologie, Ethnologie und Medienwissenschaft in Trier, Magister 2002, 2003–2005 Stipendiatin der Landesgraduiertenförderung der Universität Trier, 2007 Wiedereinstiegsstipendium des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur. Hat gerade ihre Dissertation zum Thema Programmgestaltung und weibliches Kinopublikum im Kaiserreich abgeschlossen. Publikationen und Vorträge zu lokaler Kinogeschichte, Programmgeschichte, Stummfilmstars und Kinopublikum. Zuletzt erschienen: Shadows in the Glass house. Film Novels in Imperial Germany (1913-1917), in: Film History. 20.2 (A themed issue on Moving Picture Fiction) (2008). Matthias Hoffmann, M. A., Studium der Soziologie und Philosophie an der Universität Trier. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie bei Prof. Alois Hahn. Forschungsinteressen: Kulturindustrie, kritische Theorie, Thanatosoziologie, Musiksoziologie. Veröffentlichungen: Tod und Sterben als soziales Ereignis. In: Transit. Europäische Revue, 33, 2007, S. 5–25 (mit Alois Hahn); Artifizielle Natürlichkeit. In: Herbert Willems (Hg.): Theatralisierungen und Enttheatralisierungen in der Gegenwartsgesellschaft. Wiesbaden: VS 2009; Artikel »Gemeinschaft/Gesellschaft«. In: Sonderheft zum 50jährigen Bestehen des Archivs für Begriffsgeschichte: Schlüsselbegriffe des 20. Jhds. Hg. v. Christian Bermes und Ulrich Dierse (mit Alois Hahn, im Erscheinen). Thomas Lenz, Dr. phil., Studium der Soziologie, Germanistik und Politikwissenschaft an den Universitäten Köln und Trier. Postdoktorand (Assistant Chercheur) an der Universität Luxemburg. Arbeitsgebiete: Medien- und Konsumsoziologie, historische Soziologie, Bildungsforschung. Veröffent-

ÜBERFLUSS UND ÜBERSCHREITUNG | 241

lichungen (Auswahl): Stadt-Land-Unterschiede der Internetnutzung. In: merz | medien + erziehung | zeitschrift für medienpädagogik 6; Konsumierende Frauen, produzierende Männer? Zum Zusammenhang von Konsumverhältnissen und Geschlechterzuschreibungen. In: Katja Wolf & Julia Reuter (Hg.): GeschlechterLeben im Wandel; Konsum und Großstadt. In: Michael Jäckel (Hg.): Ambivalenzen des Konsums und der werblichen Kommunikation; Medien und Gesellschaft. In: Herbert Willems (Hg.): Lehr(er)buch Soziologie. Stephan Lorenz, Dr. phil., Soziologe M. A., ist Projektleiter (DFGgeförderte Eigene Stelle) am Institut für Soziologie der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Arbeitsschwerpunkte: Überfluss, Konsum, Ernährung, Umwelt, qualitative Methodik, Kultursoziologie, Gesellschaftstheorie. Veröffentlichungen: Unsicherheit und Entscheidung – Vier grundlegende Orientierungsmuster am Beispiel des Biokonsums. In: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 33 (2) 2007, S. 213–235; Von der Akteur-Netzwerk-Theorie zur prozeduralen Methodologie: Kleidung im Überfluss. In: Christian Stegbauer (Hg.) 2008: Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Wiesbaden: VS Verlag, S. 579–588. Georg Mein ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Luxemburg. Arbeitsschwerpunkte: Literatur vom 18. Jh. bis in die Gegenwart, Literatursoziologie, Medien- und Kulturtheorien. Neuere Publikationen in Auswahl: BA-Studium Germanistik. Ein Lehrbuch. Reinbek 2008 (mit K.-M. Bogdal und K. Kauffmann); Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld 2008 (hg. zus. mit A. Geisenhanslüke); Hannah Arendt und Giorgio Agamben. Perspektiven, Parallelen, Kontroversen. München 2008 (hg. zus. mit E. Geulen und K. Kauffmann); Periphere Zentren oder zentrale Peripherien? Kulturen und Regionen Europas zwischen Globalisierung und Regionalität. Heidelberg 2008 (hg. zus. mit W. Amann und R. Parr). Oliver Ruf, M. A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Institut für deutsche Sprache und Literatur der TU Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: Deutschsprachige Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts (mit Schwerpunkten auf Moderne und Gegenwart), Literaturund Medientheorie, Literaturkritik und Medienpraxis, Literaturvermittlung und kreatives Schreiben. Veröffentlichungen u. a.: Ästhetik der Ausschließung. Ausnahmezustände in Geschichte, Theorie, Medien und literarischer Fiktion. Würzburg 2009 (Hg.); Georg Büchner: Woyzeck. München 2009 (Hg.); Goethes Schweiz. Natur – Kultur – Literatur, in Vorbereitung (Hg.); Kreatives Schreiben. Eine Einführung, in Vorbereitung. Marion Rutz, M.A., studierte in Trier Slavistik, Geschichte und Deutsch als Fremdsprache, absolvierte ein Auslandssemester in Voronež (RF). Nach ihrem Abschluss 2006 und einem vorbereitenden Forschungsaufenthalt in Moskau schreibt sie seit Sommer 2007 an einer Dissertation über den russischen Gegenwartsdichter Timur Kibirov (Landesgraduiertenstipendium). Den Fortschritt der Arbeit begleitend sind mehrere kleinere Publikationen zu einzelnen Werken von Kibirov erschienen. Forschungsschwerpunkt ist die russische (postmoderne) Gegenwartsliteratur und v. a. die zeitgenössische Dichtung.

242 | AUTORINNEN UND AUTOREN

Kai Marcel Sicks, Dr. phil., ist Koordinator des European PhD-Network »Literary and Cultural Studies« am International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeitsschwerpunkte: Literatur und Sport, Reiseliteratur, Medien-, Kultur- und Literaturtheorie. Veröffentlichungen u. a.: Filmgenres: Sportfilm. Stuttgart 2009 (hg. mit Markus Stauff); Stadionromanzen. Der Sportroman der Weimarer Republik. Würzburg 2008; Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933. Bielefeld 2005 (hg. mit Michael Cowan). Viola Vahrson, Dr., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Im Winter- und Sommersemester 2005/06 vertrat sie den Fachbereich Fotografie und Neue Medien am Kunstgeschichtlichen Seminar der HumboldtUniversität zu Berlin. Schwerpunkt von Forschung und Lehre ist die Kunst der Moderne und Gegenwart. Aktuelle Forschungsfelder sind: Ästhetik der Erschöpfung und »Flucht-Bilder«. Veröffentlichungen u. a.: Faulheit. Köln 2008 (Hg); Die Radikalität der Wiederholung. Interferenzen und Paradoxien im Werk Sturtevants. München 2006. Thomas Waitz, M. A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunikation«, Universität zu Köln. Dissertationsvorhaben zur Medialität und Bildpolitik transitorischer Räume. Forschungsgebiete und Arbeitsschwerpunkte: medienwissenschaftliche Raumtheorie; Ästhetik, Theorie und Politik von Film und Fernsehen; digitale und netzbasierte Kommunikation. Zuletzt erschienen: Paradoxien der Langeweile (= Augenblick. Beiträge zu Film, Fernsehen, Medien. Nr. 41). Marburg 2008 (zus. mit Franziska Heller, Elke Rentemeister, Bianca Westermann). Rebecca Weber, Studentin der VWL und Soziologie an der Universität Trier. Forschungsinteressen: Kulturindustrie, Globalisierung und Neoliberalismus, regionale Wertschöpfungsprozesse.

Literalität und Liminalität Bernhard J. Dotzler, Henning Schmidgen (Hg.) Parasiten und Sirenen Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion 2008, 248 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-870-4

Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Monströse Ordnungen Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen Juli 2009, 694 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1257-8

Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Grenzräume der Schrift 2008, 292 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-777-6

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Literalität und Liminalität Nicola Gess, Tina Hartmann, Robert Sollich (Hg.) Barocktheater heute Wiederentdeckungen zwischen Wissenschaft und Bühne 2008, 220 Seiten, kart., inkl. Begleit-DVD, 25,80 €, ISBN 978-3-89942-947-3

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Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Medien des Wissens Interdisziplinäre Aspekte von Medialität September 2009, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-89942-779-0

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Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Schriftkultur und Schwellenkunde 2008, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-776-9

Achim Geisenhanslüke, Hans Rott (Hg.) Ignoranz Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen 2008, 262 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-778-3

Oliver Kohns Die Verrücktheit des Sinns Wahnsinn und Zeichen bei Kant, E.T.A. Hoffmann und Thomas Carlyle 2007, 366 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-738-7

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