Klassik als kulturelle Praxis: Funktional, intermedial, transkulturell 9783110615760, 9783110603286

This volume counters the oft-noted semantic imprecision of the term “classicism” in scientific and ordinary discourse wi

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Klassik als kulturelle Praxis: Funktional, intermedial, transkulturell
 9783110615760, 9783110603286

Table of contents :
Inhalt
Teil I: Klassiker (in) der Gegenwart
Intermedialität und Transkulturalität oder: Klassiker populär (eine Einführung)
Von nicht zeitlich, doch sachlich begrenztem Wert
Klassiker im Zeitalter der Neuen Archive
Klassiker im Maelstrom der Moderne
Klassiker – eine merkmalsunabhängige Wertzuschreibung
Kommentar
Teil II: Interaktion mit neuen Massenmedien: Radio, Fernsehen, Internet
Interaktion mit neuen Massenmedien: Radio, Fernsehen, Internet
Goethe und das Radio: eine Win-win-Situation (1932 und 1949)
Das Fernsehen als ‚Fenster zur Welt‘?
Klassiker@wikipedia
Teil III: Klassiker als kulturelle Ikonen
Klassiker als kulturelle Ikonen
Romantische Klassiker – Figuren des Überschusses?
Dante im Porträt
Mickiewicz in Paris, Chopin im Knast
Waiting for …
Fräulein Else und ihr kleines Schwarzes
Die Republik und der Deutsche
Ikonische Bilder im Ballett
Teil IV: Intermedialität als Instrument der Vermittlung
Intermedialität als Instrument der Vermittlung
Neufunktionalisierung eines flämischen Klassikers im Comic: Consciences Löwe von Flandern im Dienste neuer Herren
Goe-T und Chiller?
Max Frisch – ein moderner Klassiker?
Teil V: Kulturelle Aneignung: Intermedialität
Kulturelle Aneignung: Intermedialität
„… on veut la grande littérature“: Zu zwei zeitgenössischen filmischen Re- Interpretationen der Princesse de Clèves
Les liaisons dangereuses go East
Carmens Weg in die Townships von Südafrika
Mashing-up Werther
Zwischen Originalität und Trivialität
Transatlantischer Klassiker-Transfer
Baal im Film
Teil VI: Kulturelle Aneignung: Intertextualität
Kulturelle Aneignung: Intertextualität
Neue Originale
Vom Klassiker zum Kultbuch
„Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe“
Klassiker Parodien interkulturell

Citation preview

Klassik als kulturelle Praxis

spectrum Literaturwissenschaft/ spectrum Literature

Komparatistische Studien/Comparative Studies Herausgegeben von/Edited by Moritz Baßler, Werner Frick, Monika Schmitz-Emans Wissenschaftlicher Beirat/Editorial Board Sam-Huan Ahn, Peter-André Alt, Aleida Assmann, Francis Claudon, Marcus Deufert, Wolfgang Matzat, Fritz Paul, Terence James Reed, Herta Schmid, Simone Winko, Bernhard Zimmermann, Theodore Ziolkowski

Band 62

Klassik als kulturelle Praxis Funktional, intermedial, transkulturell Herausgegeben von Paula Wojcik, Stefan Matuschek, Sophie Picard und Monika Wolting

Gefördert von der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Friedrich-Schiller-Universität e.V. Ein Teil der Beiträge (s.a. Einleitung) stellen Proceedings des Workshops „Die vielen ‚Sprachen‘ der Klassiker. Eine medienorientierte Perspektive“ des 21. Weltkongresses der International Comparative Literature Association (ICLA) 2016 in Wien dar.

ISBN 978-3-11-060328-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061576-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061536-4 ISSN 1860-210X Library of Congress Control Number: 2019931235 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Teil I: Klassiker (in) der Gegenwart Paula Wojcik, Stefan Matuschek, Sophie Picard, Monika Wolting   Intermedialität und Transkulturalität oder: Klassiker populär (eine Einführung) | 3  Stefan Matuschek   Von nicht zeitlich, doch sachlich begrenztem Wert. Plädoyer für einen partikularistischen Klassiker-Begriff | 27  Moritz Baßler   Klassiker im Zeitalter der Neuen Archive. Zwischen idée reçue, Modell und Zitierbarkeit | 39  Werner Nell   Klassiker im Maelstrom der Moderne | 53  Daniel Fulda   Klassiker – eine merkmalsunabhängige Wertzuschreibung. Zur Etablierung des Prädikats „deutsche Klassiker“ auf dem Buchmarkt um 1800 und seinem Fortleben in der Gegenwart | 73  Paula Wojcik   Kommentar | 109 

Teil II: Interaktion mit neuen Massenmedien: Radio, Fernsehen, Internet   Sophie Picard   Interaktion mit neuen Massenmedien: Radio, Fernsehen, Internet | 117  Sophie Picard   Goethe und das Radio: eine Win-win-Situation (1932 und 1949) | 121 

VI | Inhalt

Jana Piper   Das Fernsehen als ‚Fenster zur Welt‘? Schiller in der televisionären bundesrepublikanischen Gedenkkultur der fünfziger Jahre | 139  Paula Wojcik und Sophie Picard   Klassiker@wikipedia. Klassikforschung und Digital Humanities. Ein Kommentar zur Studie World Literature According to Wikipedia | 149 

Teil III: Klassiker als kulturelle Ikonen   Paula Wojcik   Klassiker als kulturelle Ikonen | 167  Matteo Colombi und Stephan Krause   Romantische Klassiker – Figuren des Überschusses? Eine bohemistisch-hungarologische Annäherung | 171  Mona Körte   Dante im Porträt. Zur ‚veloziferischen‘ Disposition ikonischer Bilder | 205  Alfrun Kliems   Mickiewicz in Paris, Chopin im Knast. „Klassiker-Ikonen“ und der Comic Chopin New Romantic | 225  Elisabeth Johanna Koehn   Waiting for … Becketts En attendant Godot / Waiting for Godot in Cartoon und Comicstrip | 247  Anke Steinborn   Fräulein Else und ihr kleines Schwarzes. Ein (Mode-)Klassiker und seine Entfaltung im Film | 263  Marie Gaboriaud   Die Republik und der Deutsche. Wie Beethoven zum französischen Klassiker wurde | 281  Andrea Kreuter   Ikonische Bilder im Ballett | 295 

Inhalt | VII

Teil IV: Intermedialität als Instrument der Vermittlung   Sophie Picard   Intermedialität als Instrument der Vermittlung | 313  Christine Hermann   Neufunktionalisierung eines flämischen Klassikers im Comic: Consciences Löwe von Flandern im Dienste neuer Herren | 317  Fabian Wolbring   Goe-T und Chiller? Über Sinn und Unsinn von Rap-Adaptionen klassischer Gedichte im Deutschunterricht | 339  Zofia Moros-Pałys   Max Frisch – ein moderner Klassiker? Zur multimedialen Erinnerung seines 100. Geburtstags | 355 

Teil V: Kulturelle Aneignung: Intermedialität Paula Wojcik   Kulturelle Aneignung: Intermedialität | 371  Martina Stemberger   „… on veut la grande littérature“: Zu zwei zeitgenössischen filmischen Re-Interpretationen der Princesse de Clèves | 375  Paula Wojcik   Les liaisons dangereuses go East. Intermediale Adaptionen von Choderlos de Laclosʼ Klassiker in Korea, China und Japan | 393  Stephanie Großmann   Carmens Weg in die Townships von Südafrika. Über die Aneignungsfähigkeit eines Opern-Klassikers | 417  Sandra Wagner und Sabine Egger   Mashing-up Werther. Zu (trans-)nationalen Goethe-Adaptionen in der zeitgenössischen Online-Kultur | 435 

VIII | Inhalt

Linda-Rabea Heyden   Zwischen Originalität und Trivialität. Goethes Faust von Flix im Comic adaptiert | 455  Hannes Höfer   Transatlantischer Klassiker-Transfer. Wie aus der Moritat von Mackie Messer der Jazz-Standard Mack the Knife wurde | 477  Zbigniew Feliszewski   Baal im Film | 503 

Teil VI: Kulturelle Aneignung: Intertextualität Sophie Picard und Paula Wojcik   Kulturelle Aneignung: Intertextualität | 515  Marc Franz   Neue Originale. Die Neuübersetzung im Prozess der Klassikerbildung | 519  Ilse Nagelschmidt   Vom Klassiker zum Kultbuch. Goethes Werther und Feridun Zaimoglus Liebesmale, scharlachrot | 531  Emmanuelle Terrones   „Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe“. Navid Kermanis Lektüre der Klassiker als Poiesis | 547  Louise-Hélène Filion   Klassiker Parodien interkulturell. Thomas Bernard in einem zeitgenössischen Roman aus Quebec | 561 

| Teil I: Klassiker (in) der Gegenwart

Paula Wojcik, Stefan Matuschek, Sophie Picard, Monika Wolting

Intermedialität und Transkulturalität oder: Klassiker populär (eine Einführung) 1 „Klassik“ als funktional-partikularistischer Begriff In einer ihr Selbstverständnis durch Destabilisierung, Pluralisierung und nationale Transgression definierenden Gegenwart wirken Klassiker wie Relikte einer vergangenen Zeit und eine wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen unzeitgemäß. Die mit Klassikern verbundenen Werte wie Stabilität, Orientierung, (nationale) Identität oder Humanismus gehören zwar zum festen Repertoire von Jubiläumsansprachen, bleiben in ihrer Wirkung aber laudative Formeln eines sich selbst feiernden und, wenn man Prognosen glaubt, dem Untergang geweihten Bildungsbürgertums. Soweit das Vorurteil. Denn tatsächlich ist Klassik eine beobachtbare lebendige Wissenschafts- und Alltagspraxis; so lebendig, dass sie eine Systematisierung geradezu herausfordert: Die Rede von Klassischem ist in der Alltagssprache ubiquitär, beständig werden keineswegs nur an ein Fachpublikum gerichtete Bücher veröffentlicht, die Klassiker der Weltliteratur, der Moderne, der Philosophie, des Films, des Designs etc. zum Inhalt haben. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Klassik leidet unter einer semantischen Überfrachtung, die dazu führt, dass der Begriff nicht mehr als wissenschaftliches Heuristikum taugt: Fachpublikationen, die Klassik im Titel tragen, können sich mit der Antike oder deren Rezeption, mit den klassisch genannten Epochen, Autoren oder Werken unterschiedlicher Nationalkulturen, mit dem Klassizismus als stilistischem Kunst-, Literatur- und Architekturmerkmal oder mit dem humanistischen Erbe beschäftigen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die vielfältigen Gebrauchsweisen sind einerseits Ausweis der anhaltenden Beliebtheit des Begriffs, andererseits lassen sie sich nicht auf einen Nenner bringen und münden in eine begriffliche Entgrenzung, um nicht zu sagen vollkommene semantische Verwässerung. „Das verwünschte Wort ‚klassisch‘“1, betiteln Sabine Doering und Gerhard Schulz in Anlehnung an Johann Gottfried Herder das erste Kapitel ihrer Einführung und konstatieren weiter: „Breit also ist das Spektrum des Wortes

|| 1 Gerhard Schulz und Sabine Doering: Klassik. München 2003, S. 7–14. https://doi.org/10.1515/9783110615760-001

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‚klassisch‘; Vergangenes, Gegenwärtiges, Schönes, Sinnreiches und Triviales begegnen einander darin.“2 Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, Ordnung und Trennschärfe herzustellen, wenn sie bestimmte Begriffe als Teil ihrer Nomenklatur für erhaltenswert erachtet. Es stellt sich also die Frage, ob die Wissenschaft auf den Klassikbegriff verzichten kann, oder anders herum gefragt: Was ginge verloren, wenn wir den Begriff nicht mehr nützten? Sehr viel, meinen wir. Denn unter dem Klassikbegriff lassen sich Phänomene zusammenfassen, die – wie J. M. Coetzee das bündig formulierte – überleben („The classic defines itself by surviving“3). Es gibt in unseren Kulturen – und damit meinen wir sowohl Nationalkulturen als auch im Sinne eines pluralistischen Gesellschaftsverständnisses Gender, Generations- und Alterskohorten sowie Lebensstilmilieus4 – offenkundig Personen, Figuren, Werke, Denkmuster oder Gegenstände, die über längere Zeiträume hinweg präsent sind und Wertschätzung erfahren. In Zeiten, in denen Konzepte wie das der Aufmerksamkeitsökonomie eine sich zunehmend verkürzende Verfallszeit von kulturellen Artefakten diagnostizieren, ist eine anhaltende kulturelle Persistenz keine Selbstverständlichkeit. Daher lohnt es sich aus wissenschaftlicher Perspektive, diese Phänomene zu bündeln, zu kategorisieren und nach den Grundlagen und Mechanismen ihrer Persistenz zu fragen. Klassik, wie auch ihre Derivate Klassiker und das Klassische5 eignen sich als eine solche Kategorie im Dienste einer weitgefassten kulturwissenschaftlichen Heuristik, wenn sie richtig bestimmt werden. Klassik, das zuerst und in aller Konsequenz, ist ein Rezeptionsphänomen. Das bedeutet, dass Werke, Autoren, Artefakte etc. im Rezeptionsprozess zu Klassikern gemacht werden, indem sie in dieser Rolle anerkannt werden. Diesen Punkt zu betonen erscheint besonders wichtig, weil sich seitens der Forschung immer noch ein Widerstand gegen diese radikal konstruktivistische Sichtweise auf Klassik regt. In dem neuesten Tagungsband zum Thema, der den Titel Klassik als Norm – Norm als Klassik trägt, klagt einer der Herausgeber: „Zu einseitig wer-

|| 2 Ebd., S. 12. 3 John M. Coetzee: What Is a Classic? In: Current Writing. Text and Text Reception in South Africa 2 (1993) H. 5, S. 7–24, hier S. 20. 4 Zur Differenzierung des Begriffs Lebensstil vgl. Ulf Matthiesen: Lebenswelt/Lebensstil. In: Sociologia Internationalis 1 (1991), S. 31–56. 5 Mit dieser Kategorisierung folgen wir nicht der etymologischen Logik, der zufolge Klassik und das Klassische von dem lateinischen „classicus“ als Markierung des Ranges – abgeleitet ist. Vgl. Wilhelm Voßkamp: Klassisch/Klassik/Klassizismus. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. von Karlheinz Barck. Band 3: Harmonie-Material. Stuttgart 2001, S. 289–305, hier S. 292.

Intermedialität und Transkulturalität oder: Klassiker populär (eine Einführung) | 5

den ‚Klassiken‘ ausschließlich als Rezeptionsphänomene, d.h. als aus Bedürfnis und Prägung der nachgeborenen Klassizisten erwachsene Produkte angesehen.“6 Denn klassisch könne nur jenes werden, welches bereits einen „hohen Vollendungsgrad“ bzw. eine „funktionale Lösungskompetenz“ von Haus aus besitze. Diesem Urteil liegt die Vorstellung zugrunde, dass es objektive Kriterien von Vollendung geben kann. Folgt man dieser Sichtweise, dann bedarf es also entweder eines idealen und über jede Zeit erhabenen Rezipienten (im Sinne der Jauß’schen Rezeptionsästhetik), der in der Lage wäre, über den Vollendungsgrad eines Werkes zu urteilen, oder man muss davon ausgehen, dass ‚Rezeption‘ nur aus der Perspektive späterer Generationen erfolgen könne, weil nur aus der zeitlichen Distanz ein Urteil über den „Vollendungsgrad“ möglich sei. Dass dies nicht der Fall sein muss, zeigt die Anerkennung vieler heutzutage als klassisch bezeichneter Autoren durch ihre Zeitgenossen, wie im Fall Goethes in Deutschland oder Adam Mickiewiczs in Polen. Zwar macht Anerkennung durch Zeitgenossen noch keinen Klassiker, aber sie ist dennoch eine Form der Rezeption, die durch die Nachgeborenen bestätigt, abgelehnt oder korrigiert werden kann, möglicherweise sogar muss, weil der Klassikerstatus als Aufforderung, als Appell wirkt, sich dem Werk gegenüber zu positionieren. Wird „funktionale Lösungskompetenz“ nach Pietsch als intrinsische Eigenschaft und nicht als Zuschreibung angenommen, so werden die zahlreichen Dichter, Werke oder Erfindungen ausgeblendet, die vielleicht eine solche besaßen, jedoch niemals Anerkennung fanden. Das Argument der Vollendung wirkt nur dort, wo auch die Vorstellung einer normativen Ästhetik Geltung besitzt und diese wird spätestens für die literarische Moderne mit ihrer pluralistischen und fragmentarischen Ästhetik unhaltbar. Mit der Behauptung einer vollendeten Lösungskompetenz geht dem Klassikbegriff etwas verloren, was das Phänomen prägt: Klassik ist unfair. Literaturwissenschaftler und unter ihnen insbesondere die Germanisten kennen die Klagen über die Vernachlässigung wahlweise romantischer oder ‚präklassischer‘ Autoren zugunsten der nationalkulturellen Erhebung von Goethe und Schiller. Das war sicher im Hinblick auf die literarischen Leistungen (den Vollendungsgrad) nicht fair, aber darum ging es bei der Stilisierung der gemeinsamen Schaffensperiode Goethes und Schillers zur ‚Weimarer Klassik‘ auch nicht vorrangig. Damit sind wir bei dem zweiten Kriterium des Klassischen, das sich aus dem Verständnis von Klassik als Rezeptionsphänomen herleitet: seiner Funktionali-

|| 6 Christian Pietsch: Einführung zu ‚Klassik als Norm – Norm als Klassik‘: Thema und Tagung. In: Klassik als Norm – Norm als Klassik. Hg. von Tobias Leuker und Christian Pietsch. Münster 2016, S. 1–26, hier S. 11.

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tät. Phänomene sind im Hinblick auf ihre Funktion klassisch. Dieses Verständnis von Klassik ist nicht neu,7 neu ist, dass wir es konsequent und gegen andere Gebrauchsweisen etwa im historisch- oder normativ-essentialistischen Sinne durchsetzen wollen. Historische Epochen sind diesem Verständnis folgend nicht klassisch, weil in ihnen eine Kultur zur Blüte gelangte, sie sind vielmehr klassisch, weil ihnen die Funktion zugeschrieben wurde, die Blüte der jeweiligen Kultur zu repräsentieren und so ein Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Ebenso wenig sind Vorbildlichkeit und Mustergültigkeit Eigenschaften des Dings- oder vielmehr des Klassikers-an-sich, denn die Normativität ist nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis der Klassikerbildung und -tradierung. Martin Walser hat die Bedeutung der Funktionalität des Klassikers in einem Essay, mit dessen Titel Was ist ein Klassiker? er sich in eine lange Reihe von Klassikeressays stellt, auf den Punkt gebracht: „Also wenn eine Qualität Maßstab werden darf, dann die Brauchbarkeit.“8 Umso mehr erstaunt es, dass Walser dann doch ein recht enges Verständnis von Klassik hat, denn Klassiker sind für ihn im Grunde höchstens Nationalklassiker: „Der Klassiker ist zuerst ein Klassiker seiner Nation. Es gibt sehr viel Weltliteratur, die nie klassisch wird. […] Der Klassiker ist einer an Ort und Stelle. Das kann weniger sein als eine Nation. Viel weniger.“9 Und eine Seite später heißt es „Über Nationalitätsgrenzen hinweg sind Klassiker manchmal gar nicht mehr als solche erkennbar. Sie werden eben dort nicht so gebraucht wie im Land selbst.“10 Im größeren Umfang als dem nationalen sind Klassiker als solche nicht rezipierbar? Doch, muss die Antwort lauten, aber eben nicht unbedingt in derselben Funktion. Goethe und Schiller können auch hier als Paradebeispiel dienen: Wurden sie im nationalen Rahmen als ‚Klassiker‘ im Sinne einer kollektiven Gipfelleistung und im Hinblick auf die Funktion nationaler Identitätsstiftung hin stilisiert, so gelten sie außerhalb Deutschlands als Klassiker romantischer Literatur. Eine solche Funktionspluralisierung gilt auch für Shakespeare, der Klassiker der nationalen wie der Weltliteratur sein kann. Um es ein wenig

|| 7 Vgl. z.B. Viala, Alain: Qu'est-ce qu'un classique? In: Bulletin des bibliothèques de France 37 (1992) H. 1, S. 6–15; Hartmut Stenzel: Le „classicisme“ français et les autres pays européens. In: Histoire de la France littéraire. Hg. von Michel Prigent. Paris 2006, S. 39–78; René Sternke: Klassikentwürfe als Visionen zur Krisenbewältigung. In: Études germaniques 69 (2014) H. 1, S. 3–20. Auch Wilhelm Voßkamp definiert kulturelle Praxis als eine der Funktionen von Klassik, geht auf diesen Aspekt aber nicht weiter ein. Vgl. Wilhelm Voßkamp: Einleitung. In: Theorie der Klassik. Hg. von dems. Stuttgart 2009, S. 9–24. 8 Martin Walser: Was ist ein Klassiker? In: Warum Klassiker? Hg. von Gottfried Honnefelder. Frankfurt am Main 1985, S. 3–10, hier S. 5. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 6.

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animistisch auszudrücken: Klassiker haben kein Problem damit, eine Vielzahl funktional bestimmter Identitäten zu vereinen, die dem sich historisch und kulturell wandelnden Rezipientenkreis und dem konkreten, aktuellen Bedarf entsprechend variieren. Aus diesen zwei Parametern – Rezipientenkreis und Bedarf – ergibt sich eine Bedarfskonstellation, in die der Klassiker jeweils ‚hineingepasst‘ wird. Dieser Prozess der Anpassung an Bedarfskonstellationen wurde vielfach als Instrumentalisierung kritisiert und führte zu einem Generalverdacht gegen die Institution der Klassik an sich. Diesen in wissenschaftlichen ikonoklastischen Gesten11 mündenden Verdacht beschreibt Hans-Ulrich Gumbrecht als generationsverbindend: Meine Generation ist mit der intellektuellen Selbstverpflichtung aufgewachsen, den Klassikern keinesfalls einen Vertrauensvorschuss zuzugestehen. Im Gegenteil, generalisiert und verpflichtend war der Verdacht, dass der Erfolg von Klassikern in je verschiedener Weise immer nur Beweis für eine Konformität mit den Ideologien ihrer und (oder) unserer Welt sein konnte. Wir wollten Spezialisten des Klassiker-Widerstands werden.12

In dieser Skepsis lässt sich abermals die Funktionalität von Klassikern ersehen: Die ablehnende Haltung gegenüber Klassikern erfüllt die Funktion der kollektiven Selbstverortung einer Generation in Abgrenzung zu der Vätergeneration und deren affirmierendem Klassikerverständnis. Auch die ärgste Kritik an der Funktionalisierung von Klassik ist eine Funktionalisierung von Klassik und damit eine Bestätigung des Klassikkonzepts. Die für das Überleben notwendige Evaluation von Klassikern kann also auch in ihrer prinzipiellen Ablehnung bestehen oder in der Ablehnung einer bestimmten Gebrauchsweise. Ein Klassiker ist nur dann keiner mehr, wenn niemand über ihn spricht, er aus jeglichen Diskursivierungsprozessen hinausfällt.13 Im Grunde richtete sich der Generalverdacht, der unter dem Schlagwort der „Klassik-Legende“ in die Wissenschaftsgeschichte einging, nicht gegen die Klassiker per se, sondern gegen ihren Gebrauch als Repräsentanten der Nation und zwar in der Abfolge einer politisch nicht existierenden

|| 11 Die Klassik-Legende. Hg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Frankfurt am Main 1971. 12 Hans Ulrich Gumbrecht: Warum wir Klassiker brauchen. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 4 (2010) H. 4, S. 111–120, hier S. 117f. 13 Das wird sogar von manchen Autoren als Wunschvorstellung thematisiert: So z.B. in Arno Schmidts Erzählung Tina oder über die Unsterblichkeit (1955) oder auch in Milan Kunderas Erzählung Die Unsterblichkeit (1988). Dort klagt der verstorbene Hemingway in einem fiktiven Gespräch mit Goethe über die Ausschlachtung seiner Person durch die Nachgeborenen: „Ich habe gehofft, wenigstens nach dem Tod in Frieden leben zu können.“ Milan Kundera: Die Unsterblichkeit. Übersetzt von Susanna Roth. München 1990, S. 105.

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Kulturnation, des lang ersehnten Deutschen Reiches, des nationalsozialistischen Staates und in der Konkurrenz der beiden deutschen Staaten. Obwohl die nationalistischen, völkischen und insgesamt die totalitären Indienstnahmen uns heute nach wie vor (und zu Recht) unbehaglich sind (was im Jahr 1983 die Marbacher Ausstellung Klassiker in finsteren Zeiten zum Ausdruck brachte14), sind wir gerne bereit, ‚humanistische‘, unserem freiheitlich-demokratischen Selbstverständnis entsprechende Klassikerfunktionalisierungen anzunehmen und positiv herauszustellen. Die Funktionalisierungen werden also nach unterschiedlichen Maßstäben bewertet: Wenn wir uns mit den Werten, die der Klassikerfunktionalisierung zugrunde liegen, identifizieren können, dann gelten sie als adäquate Zeugnisse der Klassikerrezeption; wenn nicht, dann werden sie als ‚Instrumentalisierungen‘ diskreditiert. Dabei wird gern übersehen, dass die Mechanismen, die den unterschiedlichen Funktionalisierungen zugrunde liegen, identisch sind. Auch unserem freiheitlich-bürgerlichem Selbstverständnis unerwünschte Gebrauchsweisen gehören also zur kulturellen Praxis der Klassik, weshalb dem Schriftsteller Rainald Goetz zuzustimmen ist, der nach dem Besuch der Marbacher Ausstellung sarkastisch kommentierte: „Das Beste an Klassikern ist, dass jeder Depp mit ihnen machen kann, was er will.“15 Die Tatsache, dass, wie Goetz formuliert, jeder Depp mit Klassikern machen kann, was er will, führt zu dem nächsten Kriterium des Klassikbegriffs: der Partikularität. Denn die unterschiedlichen Bedarfskonstellationen produzieren unterschiedliche Hinsichten, in denen Klassiker als solche tituliert werden. Manche von ihnen – die Beispiele Goethe, Schiller, Shakespeare wurden schon genannt – vereinen unterschiedliche Hinsichten. Andere funktionieren nur in einer einzigen Hinsicht. Karel Hynek Mácha, Sándor Petőfi und Adam Mickiewicz sind nicht schlechthin Klassiker, nicht einmal schlechthin Nationalklassiker. Sie sind Klassiker hinsichtlich der jeweils tschechischen, ungarischen und polnischen Nationalliteratur. Der Bezugsrahmen lässt sich je nach Beispiel kleiner aber auch größer spannen, so dass – im Widerspruch zu Walser – auch Klassiker von Nationalliteraturen im Weltmaßstab existieren. Kann der Roman La Princesse de Clèves tatsächlich nur hinsichtlich des französischen Rezipientenkreises als Klassiker gelten (vgl. Stemberger in diesem Band), so gilt für Choderlos de Laclosʼ Les liaisons dangereuses bereits ein Weltmaßstab (vgl. Wojcik in diesem Band). Diese Beispiele veranschaulichen, dass Klassiker nur in konkreten Hinsichten, Funkti-

|| 14 Klassiker in finsteren Zeiten, 1933–1945. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Hg. von Bernhard Zeller. Marbach 1983. 15 Rainald Goetz: Was ist ein Klassiker? In: Ders.: Hirn. Frankfurt am Main 2003, S. 22–25, hier S. 24.

Intermedialität und Transkulturalität oder: Klassiker populär (eine Einführung) | 9

onen und innerhalb bestimmter Bezugsrahmen oder Maßstäbe als Klassiker gelten und genau das meinen wir mit einem partikularistischen Klassikerbegriff. Was aber gewinnen wir durch einen funktional-partikularistischen Klassikbegriff? Auf diese Frage möchten wir drei Antworten geben: 1. Durch den funktional-partikularistischen Klassikbegriff gewinnen wir die analytische Schärfe zurück. Klassik wohnt seit Gadamer ein transzendentes Moment inne, das zwar teilweise entmystifiziert wurde, dabei aber in ein Paradoxon mündete. Erklärt Gadamer noch die Persistenz pathosgeladen durch eine „geschichtliche Herrschaft, die verpflichtende Macht seiner sich überliefernden und bewahrenden Geltung“16, die den Klassikern innewohne (essentialistischer Klassikbegriff), so formuliert Wilhelm Voßkamp den Sachverhalt als Paradoxon von „Normativität und Historizität“17 (paradoxer Klassikbegriff). Die Langlebigkeit von Klassikern innerhalb der sich beständig wandelnden historischen und kulturellen Horizonte kommt jedoch ganz ohne transzendentes oder paradoxes Moment aus, wenn Klassik als ein funktional-partikularistisches Rezeptionsphänomen begriffen wird. Die eine Praxis der Klassik begleitenden Prozesse der bedarfsorientierten und medialen Aktualisierung, der Evaluation, des Ikonoklasmus stehen nicht im Widerspruch zur Geltung, sondern machen sie im Kern aus. Sie sind Gebrauchsformen von Klassikern, die ihre Normativität begründen, auch indem sie sie hinterfragen. In vielen Klassiker-Essays wird das Bild eines persönlichen Zwiegesprächs mit dem Klassiker bemüht, um dessen Aktualität zu beschwören. T. S. Eliot, dessen berühmte Rede What is a classic? unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg vor der Virgil-Society in London gehalten wurde, scheint einen unmittelbaren Bezug zu Vergil zu haben, oder wie J. M. Coetzee schreibt „a call from Virgil that seems to come to Eliot from across the centuries“18. Und auch Italo Calvino konstatiert, dass der Klassiker eine „persönliche Verbindung zu dem herstellt, der ihn liest“19. Dieses geradezu magische Bild der zu uns aus mythischer Vergangenheit sprechenden Klassiker lässt sich durch einen funktional-partikularistischen Klassikbegriff rationalisieren. Denn das Bild des Zwiegesprächs wird dann durch verschiedenen Funktionen folgende Aktualisierungsformen von Phänomenen ersetzt, die in bestimmten Hinsichten als klassisch gelten können. Das klingt zwar komplizierter und abstrakter als das quasireligiöse Bild, es erklärt || 16 Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (= Gesammelte Werke, Band 1). Tübingen 1990 (zuerst 1960), S. 292. 17 Wilhelm Voßkamp: Normativität und Historizität europäischer Klassiken. In: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG Symposion. Hg. von dems. Stuttgart 1993, S. 5–8. 18 John M. Coetzee: What Is a Classic? S. 12. 19 Ebd., S. 10.

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aber mehr. Denn damit offenbart sich Klassik als eine kulturelle Praxis, die ihre Anerkennung aus dem beständigen Gebrauch zieht. 2. Wenn wir als klassisch nur diejenigen kulturellen Phänomene bezeichnen, die in speziellen Hinsichten eine konsensuelle Anerkennung innerhalb spezieller Rezipientenkreise besitzen, dann gelingt in analytischer Hinsicht eine Trennung von Klassik und Kanon, die wissenschaftlich bislang mehr oder weniger elegant umschifft wurde.20 Kanon kann unserem Verständnis folgend als Institutionalisierung von Klassikern verstanden werden, also als eine unter anderen möglichen Formen der Funktionalisierung. Deshalb können im Hinblick auf bestimmte Phänomene Klassik und Kanon durchaus identisch sein, sie müssen es aber nicht. Zum einen gibt es Klassiker die (noch) nicht kanonisiert wurden, entweder, weil sie die Kriterien für den jeweiligen Kanon nicht erfüllen oder es in dem Bereich, in dem sie Klassiker sind, keinen Kanon gibt – es gibt z.B. Klassiker des Radsports (als solche werden etwa die Rennen Mailand-Sanremo, Paris-Roubaix, Flandern-Rundfahrt bezeichnet), aber eben keinen Radsport-Kanon. Zum anderen sind in den Kanones auch häufig Werke vertreten, die keine Klassiker sind, die also keine aktuelle Funktion erfüllen: Das träfe für einen Großteil der Werke zu, die auf schulischen Lektüreempfehlungen stehen, von denen aber Schüler, Lehrer und Eltern immer wieder behaupten, dass die Kinder keinen Bezug mehr dazu hätten.21 Es bedarf dann tatsächlich einer institutionell organisierten und durchgeführten Revision, um den Kanon wieder an die aktuelle Praxis – also an

|| 20 In der Kanondiskussion wird „Klassik“ kaum problematisiert. Im Handbuch Kanon und Wertung von Gabriele Rippl und Simone Winko lassen sich etwa 32 Belegstellen für die Verwendung der Begriffe „Klassik“ und „Klassiker“ nachweisen, unter denen sich kein einziger Versuch finden lässt, das Verhältnis von „Kanon“ und „Klassik“ näher zu bestimmen (Handbuch Kanon und Wertung. Hg. von Gabriele Rippl und Simone Winko. Stuttgart 2013). Überhaupt werden die Begriffe in der Regel weitestgehend synonym verwendet. So schreibt auch John Guillory in seinem Buch zum kulturellen Kapital, Kanon sei schlicht der semantisch weniger aufgeladene Terminus: „The word ‚canon‘ displaces the expressly honorific term ‚classic‘ precisely in order to isolate the ‚classics‘ as the object of critique.“ In: John Guillory: Cultural Capital. Chicago u.a. 2007, S. 6. Im Handbuch Kanon und Wertung findet sich ein Ansatz der Problematisierung im Artikel von Matthias Beilein, der jedoch eine Randbemerkung im Zusammenhang mit der Kategorie des Negativkanons bleibt: „wobei die [Negativkanonisierung] freilich die Frage aufwirft, ob es nicht angebracht wäre, statt von einem pauschalen Negativkanon davon auszugehen, dass die ‚Klassiker‘ dieser Genres bereits eigene genrespezifische Kanones gebildet haben.“ In: Matthias Beilein: Literatursoziologische, politische und geschichtstheoretische Kanonmodelle (mit Hinweisen zur Terminologie). In: Handbuch Kanon und Wertung, S. 71. 21 Ein Thema, das auch in regelmäßigen Abständen im Feuilleton diskutiert wird: Vgl. z.B. Tilman Spreckelsen: Literatur in der Schule: Warum Klassiker? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (20.3.2015): http://www.faz.net/1.3470077 [abgerufen am 13.1.2018].

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das tatsächlich Klassische – anzupassen. Dass Kanon und Klassik nicht immer übereinstimmen müssen, lässt sich auch anhand von scherzhaften Experimenten belegen, wie sie zuletzt der französische Schriftsteller Serge Volle durchführte: Er verschickte im vergangenen Jahr anonym einen Auszug aus dem Roman Le Palace (1962) des Nobelpreisträgers Claude Simon an 19 unterschiedliche französische Verlage. 12 davon lehnten den Text ab, 7 sahen sich nicht dazu verpflichtet, auf das Angebot zu reagieren.22 Volle deutet das Ergebnis kulturkritisch und sieht darin ein Zeichen für den Verfall literarischer Werte: „Heute überwiegt halt das Konzept der Einwegbücher.“23 Man kann umgekehrt an dem verfehlten Experiment auch ein Zeichen für das Auseinanderdriften von Klassik und Kanon sehen: Claude Simon gehört heute nach wie vor zum französischen Kanon, seine Werke werden an Schulen und Universitäten diskutiert, offenbar trifft seine experimentelle, von der Ästhetik des Nouveau Roman geprägte Schreibweise aber auf keinen aktuellen Bedarf mehr. Das kann sich wieder einmal ändern. Doch zurzeit kann man von Claude Simon behaupten, dass er ein kanonischer, aber kein klassischer Autor ist. Mit der Unterscheidung von Klassik und Kanon lässt sich darüber hinaus an das anknüpfen, was in der neueren Kanonforschung als das „invisible hand-Phänomen“24 bezeichnet wird. Damit soll ein dynamischer Kanonbegriff eingeführt werden, der im Unterschied zu den früheren Debatten um Kanon und Macht die Emergenz ins Zentrum stellt. Mit unserem Klassikbegriff tragen wir dazu bei: Das, was bei Simone Winko ‚unsichtbar‘ bleibt, ist der Prozess der Klassikerbildung und -tradierung. Kanones sind Institutionen der Klassikerbestätigung. Kanon beruht deshalb auf Emergenz, weil er auf dem aufbaut, was die Praxis der Klassik hervorgebracht hat, zugleich ist er aber dezisionistisch, weil er das Emergente institutionell festlegt. 3. Mit einem funktional-partikularistischen Klassikbegriff überbrücken wir den Spalt, der in den Klassikdebatten zwischen Hoch- und Breitenkultur klafft. Obwohl der gegenwärtige Kulturzustand die Grenzen einer solchen Trennung immer wieder auf die Probe stellt und zusehends nivelliert, so scheinen die wissenschaftliche und auch kulturpolitische Diskussionen über Klassik auf das Hochkulturelle abonniert. Klassik aber ist eine kulturelle Praxis, die alle Gesellschaftsbereiche umfassen kann, sodass auch das als ‚Kleines Schwarzes‘ be-

|| 22 Vgl. Ilana Moryoussef: Un canular littéraire qui en dit long. France Inter (11.12.2017): https://www.franceinter.fr/culture/un-canular-litteraire-qui-en-dit-long [abgerufen am 15.12. 2017]. 23 Zitiert nach: ebd. 24 Simone Winko: Literatur-Kanon als „invisible-hand“-Phänomen. Literarische Kanonbildung. In: Text+Kritik Sonderband IX/02 (2002), S. 9–24.

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rühmt gewordene Kleidkonzept von Coco Chanel mit voller Berechtigung als Klassiker, und zwar als Modeklassiker, gelten kann (vgl. Steinborn in diesem Band). Auch in einer anderen Hinsicht wird der funktional-partikularistische Klassikbegriff der schwindenden Abgrenzbarkeit der Bereiche des Elitären und Populären gerecht: Die traditionellerweise als hochkulturell geltenden Klassiker wurden und werden mit zunehmender Medienpluralität immer stärker in populären Massenmedien aktualisiert. Diese Form der Transgression sehen wir nicht als bloße Parallelerscheinung oder eine unangemessene Appropriation, die im geradezu rebellischen Gegensatz zum altehrwürdigen Methodenrepertoire der Klassikerbewahrung steht. Vielmehr sehen wir darin genau dieselben Praktiken der Aneignung in die jeweils eigenen Sinnstiftungshorizonte, wie sie Dichterhäuser oder Klassikerjubiläen darstellen. Klassiker sind deshalb ein transgressives Phänomen, weil sie beständig ihren medialen und kulturellen Geltungsbereich erweitern. Sie zirkulieren in unterschiedlichsten medialen Erscheinungsformen durch Nationalkulturen und Lebensstilmilieus. Auf diesem transgressiven Potenzial in medialer wie kultureller Hinsicht liegt der Fokus unseres Bandes.

2 Intermedialität von Klassikern Klassiker werden im Prozess der Diskursivierung zu Klassikern. An der Intermedialität von Klassikern lässt sich diese Diskursivierung und die damit einhergehende semantische Extension am deutlichsten beobachten. Mit dem hier verwendeten Medienbegriff schließen wir an neuere Begriffsbestimmungen an, die für eine klare Konturierung plädieren und sich damit gegen begriffserweiternde Argumentationen wie die technikorientierte McLuhans oder systemtheoretische Luhmanns stellen. In der heterogenen Menge unterschiedlich perspektivierter und definierter Medienbegriffe,25 ist für unser Erkenntnisinteresse eine Definition sinnvoll, nach der Medien als physisch/materiell definierbare Phänomene zu verstehen sind, die eine Speicher- bzw. Vermittlungsfunktion erfüllen und deren vorrangige Eigenschaft darin besteht, Unsichtbares, Physikloses (phänomenolo-

|| 25 Stefan Hoffmann: Medienbegriff. In: Handbuch Medienwissenschaft. Hg. von Jens Schröter, Simon Ruschmeyer und Elisabeth Walke. Stuttgart 2014, S. 13–20.

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gisch Wiesing26) oder Symbolisches (semiotisch Winkler27) sichtbar zu machen. Deshalb ist die schriftliche Fixierung bereits eine Form der Medialisierung, aber keine, die hinreichend auf den Status als literarischer Klassiker hinweist. Die Materialität des Buches (Format, Einband, Papier, Umfang) kann schon deutlicheren Aufschluss über den Status eines Werkes bieten, denn Gesamtwerkausgaben mit ausführlichen Kommentarbänden, die Regalmeter in Bibliotheken einnehmen, Prachtausgaben in Ledereinbänden oder Ausgaben für den Schulgebrauch transportieren nicht mehr nur den Inhalt, sondern die gesellschaftspolitische Relevanz von Werk oder Autor. Diese Form der Medialisierung erfüllt die kulturund bildungspolitisch determinierten Funktionen der Klassikerverbreitung und -bewahrung und knüpft damit an die üblichen Tätigkeitsfelder von Medien als Verbreitungs- und Speicherorganen an. In diesen kultur- und bildungspolitisch bestimmten Formen des Klassikergebrauchs stellt sich eine Funktionstautologie ein: Die Verbreitung in unterschiedlichen Medien stabilisiert den Status des als „klassisch“ im kollektiven Gedächtnis verankerten (vgl. Wolbring in diesem Band). Doch sind die kultur- und bildungspolitischen nicht die einzigen Formen des Klassikergebrauchs. Hartmut Winkler spricht eine medieneigene Reflexivität an, die nicht nur bewusst intendiert wird, sondern durch die notwendige (stereotypenhafte) Verdichtung der Zeichen im und durch das Medium entsteht,28 was der verbreiteten These widerspricht, ein Medium sei das, was vor dem Dargestellten in den Hintergrund gerate und damit transparent werde. Dieser Aspekt ist insbesondere im Hinblick auf die Intermedialität von Klassikern bedeutend, weil er deutlich macht, dass Medialisierungen Klassiker medienspezifisch verändern, wie Medien insgesamt „im Akt der Übertragung dasjenige, was sie übertragen, zugleich mitbedingen und prägen“29. Intermedialität von Klassikern bedeutet, dass diese mit dem jeweiligen Medium in unterschiedlicher Weise in Interaktion treten, dabei jedoch nicht nur der Inhalt sichtbar gemacht wird, sondern auch der symbolische Status als Klassiker in unterschiedlicher Weise und Intensität mitreflektiert wird. Die Form der Interaktion wird durch den jeweiligen Gebrauchskontext und die jeweilige Funktion definiert: In Formen künstlerischer || 26 Lambert Wiesing: Was sind Medien? In: Was ist ein Medium? Hg. von Stefan Münker und Alexander Roesler. Frankfurt am Main 2012, S. 235–248, hier S. 246. 27 Hartmut Winkler: Zeichenmaschinen. Oder warum die semiotische Dimension für eine Definition der Medien unerlässlich ist. In: Ebd., S. 211–221, hier S. 212. 28 Ebd., S. 220f. 29 Sybille Krämer: Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren. In: Medienphilosophie. Hg. von Stefan Münker, Alexander Roesler und Mike Sandbothe. Frankfurt am Main 2003, S. 78–90, hier S. 85.

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Auseinandersetzung etwa findet eine produktive Aneignung des Stoffes im Rahmen der ästhetischen Eigenheiten des Mediums statt. Das wird anhand von Comicbearbeitungen literarischer Klassiker deutlich, die die Spannung zwischen hochkulturellem Stoff und populärkulturellem Medium bewusst inszenieren (vgl. Heyden, Koehn und Hermann in diesem Band). Insbesondere Medien, die sich in verschiedenen historischen Phasen als neu etablieren müssen (Radio, Fernsehen, Internet) nutzen Klassiker zu Rechtfertigungs- und Repräsentationszwecken, ‚zapfen‘ also bewusst deren symbolisches Kapital an (vgl. Picard, Piper und Egger/Wagner in diesem Band). Steht die didaktische Vermittlung als Funktion im Mittelpunkt, so wird eine ästhetische Reflexionsebene häufig vernachlässigt. Hierbei wird das neue Medium oft aufgrund seiner vermeintlichen Beliebtheit bei dem jeweiligen Zielpublikum ausgewählt (vgl. Wolbring, Hermann und Moros-Pałys in diesem Band). Die Medialisierung von Klassikern wird in der Regel ambivalent beurteilt. Besonders verbreitet ist zum einen der Vorwurf der Abgegriffenheit: Gottfried Honnefelder beispielsweise erklärt den „harten Widerstand gegen den Verschleiß der Rezeptionsgeschichte“30 zum kennzeichnenden Merkmal von Klassikern. Klassisch wäre folglich nur jenes, welches sich der medialen Vereinnahmung widersetzt. Darin klingt die bereits erwähnte Skepsis gegen Funktionalisierungen und Instrumentalisierungen an, die eine missbräuchliche Verwendung dort unterstellt, wo das „Original“ nicht im Sinne des jeweiligen – und in dem Fall literarisch gebildeten – Rezipienten adäquat abgebildet wurde. Diese Position vertritt mit einem rebellischen Gestus Bertolt Brecht, der sich zwar nicht mit einer Medienvielfalt heutigen Ausmaßes konfrontiert sieht, doch schon in der Theaterpraxis seiner Zeit Defizite in der Medialisierung feststellt: Im Umgang mit Klassikern entlarvt er sowohl traditionsbewusste wie auch ‚zu‘ avantgardistische Aufführungen als missbräuchlich. Produzierte der traditionsbewusste „laue[…], gemächliche[…] und wenig eingreifende[…]“ Umgang notgedrungen Langeweile, so führten auf Spektakel ausgerichtete Aufführungen dazu, dass „Tendenz und Inhalt des klassischen Werkes nicht nur verdunkelt oder verflacht, sondern direkt verfälscht“31 würden. Abgesehen davon, dass Brecht keine Kriterien dafür liefert, was außerhalb der Dichotomie von ‚langweilig‘ und ‚verfälschend‘ anzusiedeln wäre, wird deutlich, dass er den Aspekt der Funktion vernachlässigt.

|| 30 Gottfried Honnefelder: Warum Klassiker? Zur Eröffnung der Bibliothek deutscher Klassiker. In: Warum Klassiker? Frankfurt am Main 1985, S. V–X, hier S. VI. [Kursivierung nicht im Original] 31 Bertolt Brecht: Einschüchterung durch die Klassizität. In: Ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Jubiläumsausgabe, Band 6: Schriften. Frankfurt am Main 2005, S. 642–644, hier S. 643.

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Trotz seiner antiautoritären Geste, die er mit dem Titel „Einschüchterung durch die Klassizität“ zum Ausdruck bringt, bleibt er geradezu kulturkonservativ: Es ist die Vorstellung, dass es richtige und falsche Aneignungen der Werke gibt und das Urteil über deren Angemessenheit in den Händen einiger weniger (unerschrockener) Experten bleibt, zu denen Brecht sich offenbar in erster Linie selbst zählt. Demgegenüber soll der funktional-partikularistische Klassikbegriff, der in und mit diesem Band vertreten wird, nicht als Wertungs-, sondern als Analyseinstrument verstanden werden. Es geht folglich nicht darum, richtige Gebrauchsweisen von Klassikern zu benennen, sondern ihre Vielfalt unter funktionalen Aspekten zu beleuchten. Diese Funktionsvielfalt hängt unmittelbar mit der Vielfalt der Medien zusammen, in denen Klassiker repräsentiert und adaptiert werden. Die These möchten wir überprüfen, indem wir unterschiedlich bewertete Medienformate nebeneinanderstellen: solche wie Film und Hörspiel, die mittlerweile als ‚Klassikermedien‘ etabliert und anerkannt sind, aber auch die immer noch so genannten ‚neuen Medien‘ sowie herkömmlicherweise als populärkulturell geltende Medien wie Comic, Rap oder Fanfiction. Die Medien, die in dem vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung sind, lassen sich in Anlehnung an die von Marie-Laure Ryan vorgeschlagenen Kategorisierung in zwei Gruppen einteilen: Kanäle der Massenkommunikation (Fernsehen, Internet, Radio) und mediale Kunstformen (Literatur, Film, Musik, Malerei, Skulptur, Theater, Oper, Installationen, Comics).32 Das Phänomen der Intermedialität verstehen wir im Anschluss an Irina Rajewsky als „Hyperonym für die Gesamtheit aller Mediengrenzen überschreitenden Phänomene […], die, dem Präfix ‚inter‘ entsprechend, in irgendeiner Weise zwischen Medien anzusiedeln sind.“33 Damit grenzen wir den Begriff, weiter Rajewsky folgend, von „Intramedialität“ im Sinne von Rezeptions- und Verweisvorgängen innerhalb eines Mediums ab (Intertextualität gilt folglich als Intramedialität und wird im Band in einer separaten Sektion angeführt) sowie von „Transmedialität“ im Sinne einer unmögli-

|| 32 Ryan macht insgesamt acht Kategorien auf, die Medien doppeln sich bei ihr im Hinblick auf die Funktion: a) Kanäle der Massenkommunikation, b) Technologien der Kommunikation, c) Anwendungen digitaler Medien, d) Codierungstechniken zur Erhaltung (Schrift, Tonaufnahme) e) semiotische Ausdrucksformen (Sprache, Bewegung, Bild, Ton) f) Kunstformen und g) materielle Substanzen, aus denen Botschaften gemacht oder in denen Zeichen präsentiert werden (Papier, Stein etc.). Vgl. Marie-Laure Ryan: Story/Worlds/Media. Tuning the Instruments of a Media-Conscious Narratology. In: Storyworlds Across Media. Hg. von ders. und Jan-Noël Thon. Lincoln, London 2014, S. 25–50, hier S. 26. 33 Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen 2002, S. 12.

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chen Spezifikation oder Irrelevanz des Ursprungsmediums.34 Transmedialität stellt kein konstitutives Merkmal, sondern vielmehr ein Potenzial von Klassikern dar, das sich in einigen Werken realisiert. Ein Beispiel hierfür liefert der Plot von den ursprünglich als Briefroman konzipierten Liaisons dangereuses, dessen Ursprungsmedium des Briefromans in nahezu allen neueren Adaptionen tatsächlich bedeutungslos geworden ist. Abgrenzen möchten wir uns der Klarheit halber von Bestimmungen, die einen sehr weiten Begriff von Intermedialität vorschlagen und alle Formen einer medialen Kookkurrenz auch innerhalb eines Werks (was beispielsweise mit dem Phänomen der Ekphrasis zu fassen wäre) bereits als Ausweis von Intermedialität sehen wollen.35 Der mit dem vorliegenden Band angelegte Überblick verschiedener medialer Gebrauchsformen, denen unterschiedliche Intentionen – Vermittlung, Verbreitung, Bewahrung, künstlerische oder politische Aneignung – zugrunde liegen, zeigt deutlich auf, dass der systematische Unterschied medialer Erscheinungsformen nicht über Originalnähe oder -ferne zu erfassen ist, sondern über die Funktion, die dem Klassiker in jeder dieser Formen zukommt. Und so gehören auch das Original ins Extreme hinein verfremdende Verfahren wie Fragmentierung, Zitat, Parodie, Pastiche, Collage, Verkürzung, Schematisierung zur Praxis der Klassik. Einzelne Elemente wie Szenen, Episoden, Figuren, Zitate, Eigenschaften lösen sich dabei aus dem Originalkontext und zirkulieren über kulturelle Grenzen von Nationen, Generationen und Lebensstilmilieus hinweg (vgl. z.B. Koehn in diesem Band). Durch die fortwährende Veränderung und Aktualisierung folgen sie den Gesetzen der Aufmerksamkeitsmärkte und bewahren sich ihre Präsenz. Umgekehrt werden sie adaptiert, weil ihr Status ein kulturelles und häufig auch ökonomisches Kapital nahelegt. Das Kapital kann über die Titelnennung aufgerufen werden, die gerade in Kombination mit einem jungen oder einer anderen Kultursphäre zugeordneten Medium Aufsehen erregt, es kann aber auch in einem Plot liegen, der sich bereits in anderen Medialisierungen kommerziell bewährt hat. Mit der intermedialen Perspektive rückt eine bislang vernachlässigte mediale Heterogenität bei der Tradierung und Aktualisierung literarischer Klassiker in den Blick. In der hier vorgenommenen Zusammenschau wird deutlich, dass Klassiker längst die Grenzen ihrer konventionell hochkulturellen Medien verlassen

|| 34 Vgl. ebd., S. 12f. 35 Werner Wolf: Intermedialität: Konzept, literaturwissenschaftliche Relevanz, Typologie, intermediale Formen. In: Intertextualität, Intermedialität, Transmedialität. Zur Beziehung zwischen Literatur und anderen Medien. Hg. von Volker C. Dörr und Tobias Kurwinkel. Würzburg 2014, S. 11–45, hier S. 21.

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haben. Der Mehrwert der intermedialen Perspektive liegt dabei nicht vorrangig auf der Ebene einer Disziplinengrenzen sprengenden Heuristik, einer, wie Werner Wolf es formuliert, „Korrektur allzu ausufernder disziplinärer Partikularitäten“36, sondern vor allem in dem Potenzial, mithilfe einer solchen medien- und kulturwissenschaftlichen Erweiterung Klassik als eine dynamische und populäre gesellschaftliche Praxis wahrzunehmen. Denn die Diffusion der Klassik in die unterschiedlichen Medienformate auch der Massen- und Unterhaltungskultur bedeutet, dass die Rezipientenkreise erweitert oder verändert werden. Dies kann in sozialer Hinsicht geschehen, indem durch mediale Tradierungstechniken unterschiedliche Lebensstilmilieus durchdrungen werden. Dies kann auch in nationalkultureller Hinsicht geschehen, wenn Klassiker im interkulturellen Transferprozess in Medien, die einen begrenzten (regionalen, nationalen) Wirkungsradius haben, adaptiert oder von medialen global playern wie dem HollywoodKino in eine transnationale Vermarktungs- und Zirkulationslogik eingespeist werden.

3 Transkulturalität In populären Medien durchdringen Klassiker unterschiedliche Lebensstilmilieus und können auf diese Weise eine gesellschaftliche Reintegrationsleistung erbringen, wenn sie als konsensuell anerkannte Verständigungsfiguren oder -werke fungieren. Italo Calvino schreibt dazu, eine der Funktionen von Klassikern bestehe darin, „zu verstehen, wer wir sind und wo wir stehen“37. Diese Funktion lässt sich besonders intensiv dort beobachten, wo die Verständigungsgruppe klar artikulierbar ist: bei den Nationalklassikern. Die Gemeinschaft, die der Nationalklassiker repräsentieren soll, ist eine ideale Projektion (Nation als ‚imagined community‘). Sie gewinnt an Konsistenz, wenn die realen Verbreitungsbedingungen in den Fokus geraten. Denn um ein Rezipientenkollektiv von der Größenordnung einer Nation zu erreichen, durchdringen Nationalklassiker in verschiedenen medialen und materiellen Gewändern sämtliche Lebenssphären: Sie werden als Denkmäler, in Straßennamen oder durch Gedenktafeln verewigt zum Bestandteil des öffentlichen Raums, als Schul- und Universitätslektüren gehören sie zum Kern des Bildungswesens, durch die Massenmedien Radio und Fernsehen verbreitet gelangen sie aber auch in die privaten Sphären. Dieser Trend zur

|| 36 Ebd., S. 13. 37 Italo Calvino: Warum Klassiker lesen? S. 14.

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‚Privatisierung von Klassikern‘ wandelt sich naturgemäß, hält aber an. Fanfiction und Mash-up-Novels im Internet, Klassikerbüsten als Salzstreuer oder Klassikerbildnisse auf Topflappen in der Küche und die Klassikerbadeente im heimischen Bad – all diese Gegenstände und Medien sind dazu geeignet, Klassiker als kulturelle Aushandlungsfiguren für den Querschnitt unterschiedlicher Handlungsund Wahrnehmungsräume aufzubereiten und anzubieten. Man könnte dieses Integrationsbestreben in dem von Rogers Brubaker geprägten Begriff „Groupism“38 fassen und damit die Aushandlungsfunktion als essentialistische Formierung des Eigenen gegenüber einem Fremden verstehen. Daran würde sich die Auffassung von Klassik als Distinktionsmerkmal anschließen, das Bourdieu als „feinen Unterschied“ noch für soziale Klassen ausmacht und das heute – folgt man Ulrich Beck39, Bernard Lahire40 oder Andreas Reckwitz41 – in wesentlich komplexer ausdifferenzierten Gruppen dieselbe Abgrenzungsfunktion erfüllt. In der Positivformulierung kann man darin – ganz ähnlich wie Calvino – eine Versicherungsleistung sehen: Wenn die Realität pluralistischer Gesellschaften, „die gesellschaftliche Normalität“, wie Ronald Hitzler schreibt, „zusehends weniger aus harten, unausweichlichen und unauflösbaren Antagonismen als aus einer Vielzahl kleiner, im alltäglichen Umgang aber sozusagen permanenter Querelen, Schikanen und Kompromisse bestehe, die sich zwangsläufig im Aufeinandertreffen und Aneinanderreiben kulturell vielfältiger Orientierungsmöglichkeiten und individueller Relevanzsysteme ergeben“42, dann liefern Verständigungsfiguren wie Nationalklassiker gerade die Möglichkeit, den „Groupism“ unterschiedlicher Lebensstilorientierungen, Lebenswelten, Gender oder Alterskohorten auf Mikroebene zugunsten der Makroebene der Nation zu überwinden. Dasselbe Prinzip ließe sich für den kontinentalen und globalen Maßstab anlegen. Verständigung auf und durch Klassiker ist auch ein Bekenntnis zu gemeinsamen Werten, Normen oder grundlegenden Weltvorstellungen, weshalb sich die funktionale Leistungsfähigkeit der Klassiker – hier noch einmal im Wider-

|| 38 Rogers Brubaker: Ethnizität ohne Gruppen. Aus dem Englischen von Gabriele Gockel und Sonja Schuhmacher. Hamburg 2007, S. 16–32. 39 Ulrich Beck: Jenseits von Klasse und Stand: soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten. In: Soziale Welt. Sonderband 2: Soziale Ungleichheiten (1983), S. 35–74. 40 Bernard Lahire: La Culture des individus. Dissonances culturelles et distinction de soi. Paris 2004. 41 Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin 2017. 42 Ronald Hitzler: Welten erkunden. Soziologie als (eine Art) Ethnologie der eigenen Gesellschaft. In: Soziale Systeme 50 (1999) H. 4, S. 473–482, hier S. 480.

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spruch zu Martin Walser – nicht auf nationaler Ebene erschöpft, sondern gemäß der Bedarfskonstellation aus Rezipientengruppe und Funktion anpasst. Klassiker können kulturübergreifende Konsensfiguren sein; am divergierenden Umgang mit ihnen können aber ebenso Konflikte und Reibungen sichtbar werden. Solche Konflikte, in denen die Protagonisten um die Deutungshoheit über den Klassiker ringen, bestätigen seinen Status in ebensolchem Maße wie die transnationale Affirmation eines Klassikerbildes, die sich beispielsweise in Übersetzungen und Adaptionen äußert. Dieses Potenzial, in sozialer Hinsicht kulturübergreifenden Konsens zu stiften, möchten wir mit dem Begriff der Transkulturalität bezeichnen. Damit wenden wir uns von dem nationalkulturell determinierten Begriff der Transkulturalität (Welsch) ab und definieren ihn durch seine Integrationsleistung unterschiedlicher sozio- und nationalkultureller Modelle. Das ermöglicht, die Analogien auf funktionaler Ebene aufzuzeigen, ohne die Differenzen auf phänomenaler Ebene einzuebnen. Denn Klassiker, die in soziokultureller Hinsicht transkulturell konsensuelle Anerkennung besitzen, können dann immer noch nationale Klassiker sein. Sie können auch als transkulturell verstanden werden, weil sie nationenübergreifend oder -unspezifisch transnationale Geltung in unterschiedlichen Hinsichten besitzen, wie Beethoven als europäischer Klassiker, Shakespeare als Klassiker der Weltliteratur, Werther als Romanklassiker unglücklicher Liebe, Die Moritat von Mackie Messer als Klassiker des Jazz und Warten auf Godot als Klassiker der existentialistischen Weltsicht gelten können. Gerade die partikularistische Dimension des funktionalen Klassikbegriffs verdeutlicht das Potenzial für eine Emanzipation von Klassik aus dem nationalkulturellen Diskurs. Denn das Nationale als Hinsicht des Klassischseins ist immer nur einer bestimmten Bedarfskonstellation geschuldet, entsteht im konkreten Gebrauch und ist der Funktion nationaler Selbstvergewisserung untergeordnet. Das wird dort besonders deutlich, wo die Widerständigkeit des Klassikers gegen einzelne Funktionen besonders hoch ist, wie etwa bei den Versuchen, Beethoven als französischen Nationalklassiker zu deuten (vgl. Gaboriaud in diesem Band). Doch selbst im Fall der Nationalklassiker stellt sich über die Repräsentationsfunktion eine über das Nationale hinausgreifende Dimension ein. Weil Nationalklassiker für eine bestimmte Kultur repräsentativ sind, werden sie in anderen Nationalkulturen auf unterschiedliche Weise verwendet. Die sich im Augenblick größeren Interesses erfreuende Forschung zu Klassikern in ehemals kolonisierten Ländern und Kulturen stellt genau diese kulturelle Repräsentationsfunktion von Klassikern selbst dort ins Zentrum, wo es sich bei den behandelten antiken

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Klassikern43 nicht um Nationalklassiker im engeren Sinn handelt. Im postkolonialen Zusammenhang können sie dennoch eine homogene westliche, eurozentristische und ehemals hegemoniale Bildungskultur repräsentieren.44 Das ist nur ein Beispiel transnationalkultureller Funktionsweisen von Klassikern, denn gerade dort, wo sie nicht als kanonische Werke rezipiert werden und auf ihre Repräsentationsfunktion fokussiert wird, zeigt sich das Proprium der Rede vom Klassischen. Das kann auch in kritischer Weise geschehen, wenn etwa im Kulturtransfer von Klassikern deren genuin rassistische Elemente hervorgehoben werden (vgl. Adaptionen von Carmen bei Großmann in diesem Band). Die Rezeption kann aber auch mit einer weitgehend affirmativen Tendenz stattfinden, wenn Werke, Figuren oder Handlungsstrukturen in der Massen- und Populärkultur zu Unterhaltungszwecken adaptiert werden (vgl. Höfer und Wojcik in diesem Band). Mit dem funktional-partikularistischen Klassikerbegriff lassen sich kulturelle Transfer-, Adaptions- und Appropriationsprozesse analysieren, ohne diesen „doppelte Standards“ zugrundezulegen, die darin bestehen, Adaptionen von Klassikern in Literaturen postkolonialer Kulturräume auf eine politische Motivation zu reduzieren und die formal-ästhetische Ebene zu vernachlässigen. Diese Tendenz wird im wissenschaftlichen Diskurs vielfach kritisiert, ist dennoch weiterhin zu beobachten.45 Das Nebeneinanderstellen von Klassikerfunktionen und -gebrauchsweisen in hoch- und breitenkulturellen, westlichen wie postkolonialen Kulturen und Milieus löst die Klassikdiskussion von De- bzw. Re-Kanonisierungsdebatten und lenkt den Blick auf die inhärenten Prozesse, die Hegemoniekritik einschließen können, jedoch nicht Dualismen von Macht/Ohnmacht, Kolonisator/Kolonisierter, Männlich/Weiblich reproduzierend zentral stellen (vgl. Filion in diesem Band). Dabei zeigt sich nämlich, dass die der Klassik zugrundeliegenden Prozesse wesentlich komplexer ausgestaltet sind, als sie solcherart dualistische Grundannahmen offenzulegen vermögen, weil sie nicht nur eine Richtung topdown kennen, sondern geradezu rhizomartig in die unterschiedlichsten Gesellschaftssphären ausgreifen.

|| 43 Vgl. Lorna Hardwick: Classics in Post-Colonial Worlds. Oxford 2010 und Barbara E. Goff: Your Secret Language. London 2013. 44 Vgl. ebd. 45 Überblickhaft präsentiert das Monika Albrecht: Doppelter Standard und postkoloniale Regelpoetik. In: Postkolonialismus und Kanon. Hg. von Herbert Uerlings und Iulia-Karin Patrut. Bielefeld 2012, S. 67–111.

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4 Popularität Klassik als populäres Phänomen einzuführen bedeutet, den beobacht- und analysierbaren Klassikergebrauch in den Mittelpunkt der Analysen zu rücken. In dieser Perspektive wird deutlich, dass Klassik diskurstranszendierend ist: In der intermedialen Zirkulation wird der diskursive Ursprung von Klassikern überschritten, ihr Rezipientenkreis erweitert, sodass sie (immer) größere Popularität erlangen. Um das transgressive Potenzial zu erfassen, muss Popularität doppelt verstanden werden: Zum einen im Sinne der Streuung, Verbreitung und Zirkulation von Kulturgütern durch unterschiedliche Medien der sogenannten Hochund Populärkultur. Zum anderen im Sinne des Popularitätsbegriffs von John Fiske als einer Form der individuellen Aneignung, die sich einem vorgegebenen, vermeintlich ‚richtigen‘ Werkverständnis widersetzt.46 Aus diesem Grund sind in dem vorliegenden Band die Begriffe der Popularität und der Popularisierung47 auseinanderzuhalten. Während der erste soziokulturell weitgehend emergent ist, beschreibt der zweite einen Prozess, in dem eine ‚geplante‘ Popularität umgesetzt werden soll. Popularität, wenn nicht intendiert, entsteht weitgehend anarchisch: Es ist nicht kalkulierbar, in welcher medialen Erscheinungsform, in welcher Funktion und für welches Publikum ein Klassiker adaptiert wird. Hierbei ist das Kriterium der Kanonizität weich, weil diese Popularität sowohl für kanonisierte als auch nichtkanonisierte Klassiker gilt. Im Prozess der Popularisierung, dessen Beginn auf die Erfindung des Buchdrucks und die darauffolgende Entstehung einer ersten – reformatorischen – Öffentlichkeit datiert wird,48 wird in der Frühphase eine von Bildungseliten ausgehende Vermittlung des Bildungsgutes an eine ideell vorgefasste Öffentlichkeit angenommen. Dies findet auf Klassiker angewendet kalkuliert statt, der Vermittlung gehen Überlegungen zu Zielgruppenspezifik, dem leitenden didaktischen Ansatz oder Vermittlungsformat voraus, der kanonische Status wird dabei mitbedacht. Aus diesem Prozess der Klassiker-Popularisierung ‚von oben‘, also von den Eliten ausgehend, speist sich der Verdacht ge-

|| 46 John Fiske: Cultural Studies und Alltagskultur. In: Die Fabrikation des Populären. Der John Fiske Reader. Hg. von Rainer Winter und Lothar Mikos. Übersetzt von Thomas Hartl. Bielefeld 2001, S. 140–177. 47 Zur Diskussion der Begriffe vgl. den Sammelband Popularisierung und Popularität. Hg. von Gereon Blaseio, Hedwig Pompe und Jens Ruchatz. Köln 2005. 48 Vgl. Michael Braun: „Wir sehens, das Luther by aller welt berympt ist“ – Popularisierung und Popularität im Kontext von Buchdruck und Religionsstreit. In: ebd., S. 21–42.

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gen Klassik, der mit dem Junktim von „Kanon und Macht“49 markiert wurde. Es war der Verdacht, dass hier nicht schlicht eine Bildungselite Kulturgüter massenkompatibel verbreitete, sondern dass diese Kulturgüter für eine hegemoniale Kulturvorstellung einer sie verwaltenden elitären Gruppe (weißer Männer) standen und dieser Gruppe überdies ihre Machtposition sicherten. Dieser Verdacht wurde heute weitgehend ausgeräumt. Heutige Popularisierungsbestrebungen basieren nicht mehr auf einer Geste der Herablassung, die die breite Masse am Hochkulturellen teilhaben lassen will, sondern sind vielmehr bestrebt, diese Masse überhaupt anzusprechen, weshalb ‚Niedrigschwelligkeit‘, ‚Partizipation‘ und ‚Aktualität‘ zu eigenen Werten der Kultur- und Bildungspolitik avanciert sind (vgl. die Sektion Intermedialität als Instrument der Vermittlung). In Analogie zu Hedwig Pompe, die konstatiert, dass „der Raum des Sagbaren heute umgekehrt von den Machtkonstellationen des Populären und dessen medialen, ökonomischen und ästhetischen Vorschriften bestimmt zu werden“50 scheint, könnte man eine solche Umkehrung der Machtstrukturen auch dem gesellschaftlichen Raum des Klassischen attestieren. Klassiker ringen mit anderen kulturellen Produkten um die Ressource Aufmerksamkeit einer größtmöglichen Masse. Um diese anzusprechen, werden neue mediale Formate in Ausstellungskonzepte oder die Schuldidaktik mit unterschiedlichem Erfolg integriert. Liegt diesen Formaten das Ziel der Vermittlung und Verbreitung zugrunde, so sind die Ziele bei der ‚anarchischen‘ Form der Klassikertradierung vielfältiger und spezifizieren sich durch den jeweiligen Rezipientenkreis und Verwendungskontext. Gemeinsam ist diesen Spezifikationen jedoch, dass sich an ihnen Fiskes Verständnis der Popularität beobachten lässt: die individuelle Aneignung im Medium, auch gegen einen Rezeptionsmainstream. Darunter sind alle Formen produktiver Rezeption zu fassen wie die produktive Umformung, kreative Aneignung, Nachahmung im Sinne epigonaler Eigenschöpfung im etablierten Genrebereich oder auch die Anpassung der Kommentarformen (diskursive Bedeutungsgebung) bei der Kulturvermittlung.51 Hans-Jürgen Lüsebrink reiht hier den Begriff des „negativen Kulturtransfers“ ein, mit dem (meist politisch oder ideologisch intendierte) kulturelle Umformungen gemeint sind, die die Originalintention eines

|| 49 Paradigmatische Auseinandersetzung in: Kanon, Macht, Kultur. Hg. von Renate von Heydebrand. Stuttgart 1998. 50 Hedwig Pompe: Popularisierung/Popularität: Eine Projektbeschreibung. In: Popularisierung und Popularität, S. 13–21, hier S. 14. 51 Im Überblick vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation. Stuttgart 2016, S. 147–152.

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Werks in ihr Gegenteil verkehren und die andernorts allgemeiner als politische Ausprägungen der Appropriation beschrieben werden.52 Dieser Liste von Rezeptionsmodi, die den Modus einer Popularität im Sinne Fiskes bedienen, möchten wir eine weitere hinzufügen: die kulturelle Ikone. Klassiker werden zu kulturellen Ikonen, wenn sie ihren ursprünglichen diskursiven und semantischen Kontext transzendiert haben53 und sie im weitesten Sinne die Funktion kultureller Repräsentation besitzen (vgl. die Sektion Klassiker als kulturelle Ikonen in diesem Band). Diesen Eigenschaften geht eine multimediale Präsenz voraus, durch die der Klassiker ein Höchstmaß an Wiedererkennbarkeit erlangt. Diese multimediale Präsenz kann mit einer extremen semantischen Varianz einhergehen: Der Klassiker löst sich von seinem Ursprungskontext und kann in vielen Funktionen und ihnen folgenden Erscheinungsformen auftreten. Kulturelle Ikonen sind im Hinblick auf das Kriterium der Popularität also Klassiker der Superlative: Als solche können sie in unzählige kulturelle Kontexte ausgreifen, sind maximal dynamisch und können hochpotent semantischen und affektischen Überschuss produzieren genauso wie semantisch ausgedünnt und geradezu hohl werden.54

5 Bandkonzept Dass die hier publizierten Beiträge hauptsächlich dem Feld der Literatur entstammen, verstehen wir keineswegs als eine fach- oder phänomenbezogene Einengung des Klassikbegriffs. Der Band versteht sich vielmehr als ein Pilotprojekt, um einen funktional-partikularistischen Klassikbegriff zu etablieren, der sich als Heuristikum für die Analysen anderer gemeinhin als hoch- oder populärkulturell

|| 52 Einen subversiven Begriff der Appropriation führt Homi K. Bhabha in seinem Konzept der Mimikry ein (The Location of Culture. London 2009). Eine negativere Bestimmung liefert Linda Hutcheon, indem sie ihn als „Abwrackung“/„salvagery“ definiert (A Theory of Adaptation. London, New York 2006, S. 8). Julie Sandersʼ Begriff der Appropriation meint zunächst gegenüber dem der Adaption nur einen erhöhten Aneignungsgrad (Adaptation and Appropriation. London, New York 2006, S. 26ff), doch wie Jennifer Douin folgerichtig feststellt, läuft diese Bestimmung letztendlich auch auf eine politische Form der Aneignung hinaus: „since appropriation means making another’s text one’s own, the author must have another purpose beyond poetic greed, that is, a message to propagate via the adapted text, in short an agenda which, forcibly, is sociopolitical.“ (Jennifer Douin: Shakespeare in Quebec. Nation, Gender, and Adaptation. Toronto 2014, S. 45). 53 Martin Kemp: Christ to Coke. How Image Becomes Icon. Oxford, New York 2012, S. 3. 54 In ganz ähnlicher Weise lassen sich Roland Barthes’ Mythen des Alltags bestimmen.

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geltender Gesellschafts- und Kulturbereiche eignet, worauf bereits die Beiträge zum ‚Kleinen Schwarzen‘ und Jazz einen Ausblick erlauben. Um die angesprochenen Aspekte einer Klassik als intermedialer und transkultureller Praxis adäquat abzubilden, haben wir analytische Schwerpunkte gebildet, denen die Aufteilung des vorliegenden Bandes folgt. Die Fallstudien werden von einem theoretischen Abschnitt eingeleitet, in dem der funktionalpartikularistische Klassikbegriff mit unterschiedlichem Fokus diskutiert wird. Anschließend soll in drei Fallstudien die Interaktion von Klassikern mit Massenmedien in verschiedenen mediengeschichtlichen Kontexten (Radio, Fernsehen, Neue Medien) beleuchtet werden. Im darauffolgenden Abschnitt werden intermediale Verdichtungs- und Repräsentationsprozesse untersucht, in denen Nationalklassiker als historische Personen, Werke, deren Figuren oder einzelne Elemente ebenso wie außerliterarische kulturelle Artefakte einen ikonischen Status erlangen oder als solche repräsentiert werden. In der vierten Sektion werden Popularisierungskonzepte besprochen, in denen die Intermedialität gezielt als Instrument der interkulturellen bzw. milieuübergreifenden Vermittlung von Klassikern eingesetzt wird, etwa im Bildungskontext oder in Kulturinstitutionen. In den abschließenden Abschnitten werden Fallbeispiele intermedialer und intertextueller Aneignung kultureller Phänomene diskutiert, bei denen der Nachdruck auf den Funktionswandel der Klassiker gelegt wird. Die in diesem Band versammelten Beiträge wurden auf zwei Tagungen im Jahr 2016 präsentiert, die thematisch aus der an der Friedrich-Schiller-Universität ansässigen Projektgruppe „Klassik-Popularität-Krise“ (2014-2017) hervorgingen. Die erste dieser Tagungen mit dem Titel „Klassiker (in) der Gegenwart. Literaturund kulturwissenschaftliche Perspektiven auf ein ästhetisches und gesellschaftliches Phänomen“ fand im April 2016 an der Universität Wrocław statt. Ein besonderer Dank gilt der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung, die die Tagung in Breslau großzügig finanziert hat, sowie der Universität Breslau, die die Ausrichtung der Tagung ermöglicht und unterstützt hat. Die zweite Tagung wurde als Sektion des Weltkongresses der International Comparative Literature Association (ICLA) im Juli desselben Jahres in Wien abgehalten und fokussierte mit dem Titel „Die vielen Sprachen der Klassiker: Eine medienorientierte Perspektive“ auf die auch hier zentralen Aspekte der Intermedialität und Transkulturalität. Für die Möglichkeit, die Tagung in der anregenden Atmosphäre des Weltkongresses ausrichten zu dürfen, gebührt der International Comparative Literature Association und der Universität Wien unser Dank. Darüber hinaus danken wir ausdrücklich allen Teilnehmern für inspirierende Beiträge und bereichernde Diskussionen und den Helfern für ihre Unterstützung.

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Für die Aufnahme des Bandes in die Reihe spectrum Literaturwissenschaft danken wir den Herausgebern Moritz Baßler, Werner Frick und Monika SchmitzEmans. Anja-Simone Michalski, Susanne Rade, Anne Rudolph und Katja Schubert vom Verlag De Gruyter haben die Publikation betreut: Auch ihnen gilt ein großer Dank. Unterstützt wurde die Veröffentlichung durch die Gesellschaft der Freunde und Förderer der Friedrich-Schiller-Universität Jena e.V. Ein besonderer Dank gilt Caroline Will und Moritz Philipp für ihren unermüdlichen Einsatz bei der Erstellung des Manuskriptes und den Korrekturarbeiten sowie Jacob Franke für seine Mithilfe bei der Bearbeitung der Abbildungen.

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Von nicht zeitlich, doch sachlich begrenztem Wert Plädoyer für einen partikularistischen Klassiker-Begriff Konzepte und Belege des Klassischen unterliegen – wie alle Kulturphänomene – zeitlichem Wandel. Auch wenn sie als zeitlose Normen gedacht werden, sind ja diejenigen, die sie so denken, immer Kinder ihrer Zeit. Alle Studien über Klassiker und das Klassische haben dieses Spannungsfeld von Normativität und Historizität auszumessen. Anders sieht es aus, wenn man diese Sache nicht zum Gegenstand der kulturhistorischen Arbeit macht, sondern wenn man sich seinerseits bemüht, für die eigene Arbeit einen klaren und brauchbaren Begriff dieser Sache zu definieren. Dann führt man keinen Metadiskurs über Klassiker und das Klassische, sondern integriert diese Begriffe in den eigenen Diskurs. Sie werden zu Werkzeugen der eigenen Erkenntnisarbeit und nicht deren Objekte. Es geht um die aktuelle Bedeutung; um den Sinn, den es im eigenen Sprachgebrauch haben kann, etwas als klassisch zu bezeichnen. Ist dies angesichts eines grundsätzlich historischen Denkens in den Kulturwissenschaften und angesichts des etablierten kritischen Metadiskurses über so viele „Klassik-Legenden“ überhaupt eine sinnvolle Option? Muss man nicht vorsätzlich naiv sein, um sie zu ergreifen? Kann ein eigener Klassik-Begriff etwas anderes sein als die Selbsttäuschung über historischen Relativismus? Wenn man auf einen eigenen Klassiker-Begriff verzichtete, würde die eigene Terminologie ärmer. Die Bedeutung der Begriffe, wissen wir, ist ihr Gebrauch. Um der Verarmung des eigenen Vokabulars entgegen zu wirken, kommt es also auf einen überzeugenden Vorschlag an, wie man den Klassiker-Begriff möglichst produktiv gebrauchen kann. Produktiv heißt hier, meine ich, dass die Differenzierungsangebote genutzt werden, die in der Vielfalt der Ausdrücke liegen. Denn, auch das wissen wir, die Bedeutung eines Wortes liegt nicht allein in ihm selbst, sondern resultiert differentiell aus dem Wortfeld, in dem es steht. Die Produktivität eines bestimmten Klassiker-Begriffs bemisst sich damit danach, ob und wie man ihn von benachbarten Begriffen unterscheiden kann. Denn erst dann bezeichnet man mit dem ‚Klassischen‘ etwas Eigenes, wenn man es – um nur das Nächstliegende zu nennen – vom ‚Kanonischen‘, vom ‚Typischen‘ und vom ‚Repräsentativen‘ abhebt. Genau das möchte ich hier in einer kurzen Skizze versuchen. https://doi.org/10.1515/9783110615760-002

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Ich gehe dabei von folgender erster Annahme aus: Das Klassische bezeichnet das, was sich im Bewusstsein einer Sprachgemeinschaft dem üblichen historischen Geltungsverlust entzieht. Es bezeichnet das, was – alt geworden und von neueren Alternativen ergänzt oder überholt – dennoch seine Verbindlichkeit und Gültigkeit erhält. Genau dies ist das ‚Klassische‘ im alltagssprachlichen Sinne: Wenn ein Ehepaar von sich sagt, es habe in ‚klassischer‘ Weise geheiratet, dann meint es damit die kirchliche Trauung vor dem Altar mit weißem Brautkleid, mit wechselseitigem Jawort und Aufstecken der Ringe. Das ist eine alte Form der Hochzeit, die heute durch zahlreiche Alternativen ergänzt, für manche überholt ist, und dennoch ihre Verbindlichkeit und Gültigkeit nicht verloren hat. Es ist naheliegend, einfach und, meine ich, zugleich sinnvoll und produktiv, auch die Wissenschaftssprache an dieser alltagssprachlichen Verwendung zu orientieren. Wenn man den Ausdruck ‚Klassiker‘ also nicht nur begriffs- und ideengeschichtlich studieren und andererseits auch nicht nur normativ setzen, sondern in eigener Sache mit guten Gründen verwenden will, dann kommt es auf die Identifizierung genau dessen an: Was ist alt geworden, steht neueren Alternativen gegenüber und ist dennoch verbindlich und gültig geblieben? Die Frage nach dem Klassischen wird damit zum Prüfauftrag, und sie braucht Kriterien für Verbindlichkeit und Geltung. Die weiteren Kriterien, dass etwas alt geworden ist und neuere Alternativen vorliegen, lassen sich wohl unproblematisch feststellen. Von Verbindlichkeit und Geltung aber lässt sich nur in einem je bestimmten Rahmen und in je bestimmter Hinsicht sprechen. Das ist mein entscheidender Punkt: Eine eigene, sinnvolle Rede vom Klassischen verlangt hinreichend klar definierte Bezugsrahmen und Hinsichten. Der Bereich „Literatur“ z.B. wäre auch mit einem engen Literaturbegriff viel zu weit und unklar, als dass man hier Verbindlichkeit und Geltung überprüfbar feststellen könnte. Man müsste viel enger auf einzelne Gattungen und Hinsichten fokussieren, unter denen man Literatur betrachtet. Von einem Klassiker der Literatur überhaupt zu sprechen, ist also wenig sinnvoll, weil kein einzelner Autor mehr insgesamt für alle Gattungen und Hinsichten verbindlich und gültig ist. Man muss präziser werden, z.B. so: Für realistische, ich-perspektivisch erzählende Literatur und für die Hinsicht, dass erzählte Welten subjektive Erinnerungswelten sind, ist Prousts A la recherche du temps perdu ein Klassiker. Es gibt viele neuere, formal weiterentwickelte Werke dieser Art und dieser Hinsicht, doch hat keiner Prousts Verbindlichkeit und Geltung erreicht. Wenn man seinen Roman in diesem Zusammenhang nicht einfach ‚typisch‘ und ‚repräsentativ‘, sondern ‚klassisch‘ nennt, drückt man damit die anhaltende Orientierungsfunktion aus, die dieses Werk für unsere aktuelle Vorstellung von Romanen und deren Aspekte und Möglichkeiten hat. Typisch und repräsentativ können dagegen auch solche Romane sein, die für

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unsere Erwartung an die Gattung völlig obsolet geworden sind. So ist Herzog Anton Ulrichs Römische Octavia typisch und repräsentativ für den höfischen barocken Roman. Doch wird man ihn deshalb nicht als Romanklassiker bezeichnen, weil er für unsere Vorstellung und Erwartung an diese Gattung funktionslos geworden ist. Genau darin sehe ich das signifikante Potenzial des Klassiker-Begriffs: dass man ihn für solche Fälle reserviert, die für unsere eigene, produktive Vorstellung von der Sache noch einen Maßstab darstellen. Wenn niemand heute mehr auf die Idee käme, die Hochzeit kirchlich vor dem Altar, in weißem Brautkleid mit wechselseitigem Jawort und Aufstecken der Ringe zu vollziehen, dann würden wir diese Form der Hochzeit nicht ‚klassisch‘ nennen, sondern ‚typisch‘ und ‚repräsentativ‘ für eine vergangene Zeit und ein vergangenes Milieu. Genau so will ich auch den literaturwissenschaftlichen Klassiker-Begriff für diejenigen Werke reservieren, die für unsere aktuelle Erwartung an die Literatur noch Vorbildcharakter und Orientierungswert haben; alles, was Vorbildcharakter und Orientierungswert zwar hatte, aber nicht mehr hat, nennt man besser ‚typisch‘ oder ‚repräsentativ‘. Der Klassiker-Begriff hat sein Proprium in der Widerständigkeit gegen die Historisierung. Er bezeichnet das Alte, Überholte, das dennoch in Kurs geblieben ist; das Alte und Überholte, das nicht nur das historische Wissen um eine Sache, sondern die aktuelle Vorstellung und Erwartung an diese Sache bestimmt. Dass man durch ich-perspektivisches realistisches Erzählen eine subjektive Erinnerungswelt schafft und dass dabei, wie bei Proust, die Spannung zwischen erinnertem und erinnerndem Ich sowie die Differenz zwischen der ehemaligen subjektiven Erlebnisqualität und dem Erinnerungsakt interessant wird: das gehört noch heute zur Vorstellung von und Erwartung an Literatur. Und Prousts Roman stellt genau das so beispielhaft dar, dass er trotz modernerer, technisch in dieser Hinsicht avancierterer Romane (wie etwa Nabokovs Speak, Memory) noch immer als Referenzwerk dafür dient. Genau das macht ihn zum Klassiker. Die anhaltende Virulenz dessen, wofür ein Werk beispielhaft steht, vermag das Klassische auch vom Kanonischen zu unterscheiden. Der Kanon, so kann man diesen Begriff in dem hier interessierenden Wortfeld am besten abgrenzen, ist eine Institution; eine als solche erkennbare Einrichtung, die eine bestimmte Aufgabe erfüllen soll. Der Kanon ist das explizit Maßstäbliche. Dazu gehören eine Instanz, die ihn festlegt, sowie ein Bereich, für den er gelten soll. Diese explizite Maßstäblichkeit kann jedoch zweierlei bedeuten: erstens dass etwas tatsächlich als Maßstab wirkt oder zweitens dass es nur als ein solcher deklariert wird, ohne es tatsächlich zu sein. Genau dadurch wird der Kanon ja zu einem ständigen

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Streitfall, oder, milder gesagt, ist er das Ziel kritischer Beobachtung und unaufhörlichen Revisionsdrucks. Denn eine Einrichtung, die eine Aufgabe erfüllen soll, kann mit ihren Maßnahmen ihre Aufgabe ja auch verfehlen. Das ist dann der Fall, wenn etwas als kanonisch gesetzt wird, was tatsächlich nicht mehr als Maßstab wirkt und akzeptiert wird. In diesem Fall ist das Kanonische entweder veraltet oder eine rein deklaratorische Setzung, die von denen, für die der Kanon gemacht ist, nicht mehr bestätigt wird. Nach dem von mir hier vorgeschlagenen Wortgebrauch ist es dasjenige Kanonische, das nicht oder nicht mehr klassisch ist. Es ist die nur institutionelle Setzung, dass ein Werk als Maßstab gelten solle, obwohl es tatsächlich nicht als solcher wirkt. Ein sehr deutliches, geradezu krasses Beispiel gibt dafür der zweite Teil von Goethes Faust. Seit der Gründerzeit hat ihn die Germanistik zum kanonischen Hauptbeleg nationalliterarischer Größe in Deutschland erhoben, obwohl dieses Werk in keiner Hinsicht orientierend oder maßstäblich wirksam geworden ist. Es ist in seiner hybriden, diskontinuierlichen Form, in seiner Unterordnung aller Handlungselemente und Figurenpsychologie unter eine kulturtypologisch vergleichende Tableau-Ästhetik und auch in seiner gleichzeitigen Restaurations- und Modernekritik ein Sonderling in der deutschen Dramengeschichte. Seine Erhebung zum Nationalklassiker, wissen wir, resultiert aus der textfremden Ideologie des göttlich gerechtfertigten faustischen Strebens. Dadurch ist dieser Text wohl zum bekanntesten Unbekannten der deutschen Literatur geworden; viele haben ihn gelesen oder (vor allem Schülerinnen und Schüler) lesen müssen, ohne dass seine ihm eigene Beschaffenheit sich mitgeteilt, geschweige denn Orientierung gegeben und Maßstäbe gesetzt hätte. Er ist, um es mit meinem terminologischen Vorschlag zu sagen, ein kanonischer Text, der in keiner Hinsicht klassisch, d.h. für die Vorstellung von Literatur wirksam geworden ist. Sein Geltungsanspruch ist eine germanistisch-akademische oder schulische Behauptung, keine tatsächliche Vorbildfunktion; weder in ästhetischer noch in ideeller Hinsicht. Deshalb ist Faust II ein kanonischer, aber kein klassischer Text. Andere Goethe-Texte sind dagegen kanonisch und klassisch zugleich: Seine frühe Lyrik (allen voran Willkomm und Abschied), mit der sich das damals neue Konzept der Erlebnislyrik bis heute als Standarderwartung an Lyrik überhaupt etabliert hat, und auch der erste Teil des Faust. Denn allein der erste und nicht der zweite Dramenteil hat mit seinem Protagonisten die immer noch produktive Reflexionsfigur moderner Individualität geschaffen. Die bis in die Gegenwart reichenden Weiterdichtungen dieser Figur belegen das – und sie belegen zugleich, dass der klassische Faust derjenige der Sturm-und-Drang-Gelehrten-Tragödie ist und nicht der Zauberkünstler, der Helena-Sucher, der Ritter, der Heerführer oder

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der Kolonisator aus dem zweiten Teil. Die jüngere germanistisch-populärwissenschaftliche Faust-Diskussion (Michael Jaeger, Global Player Faust, 2008) und auch die letzte literarische Neufassung (Robert Menasse, Doktor Hoechst. Ein Faust-Spiel, 2013) zeigen allerdings, dass sich das Interesse auf den verblendeten Utopisten des 5. Aktes aus Faust II verlagert. Wenn das Schule macht, wird sich der Klassiker-Status in der Sache neu bestimmen: als Warnfigur vor selbstherrlich-blindem Unternehmertum. Dann ginge es auch um einen anderen Text: nicht mehr um die allbekannten Verse aus dem Studierzimmer, sondern um den letzten Akt des zweiten Teils. Doch machen zwei Stimmen noch keinen neuen Klassiker. Warten wir es ab, ob Jaeger und Menasse durchschlagenden Erfolg haben. Bei der anhaltenden Bühnenpräsenz von Faust I und der immer noch verbreiteten Gedächtnispräsenz der Studierzimmerverse sieht es eher nicht danach aus. Wenn man den Begriff des Klassischen auf diese Weise an die belegbare Wirksamkeit bindet, gewinnt er an Präzision und Begründbarkeit, wird zugleich aber auch enger und geringer in seiner sachlichen Reichweite. Er hat dann wenig mit allgemeiner Evaluation zu tun und noch weniger mit der Laudatio kultureller Größe. Es geht vielmehr um die Beobachtung, was aus der Tradition sich wofür genau als Orientierung und Maßstab gegen seine historische Relativierung behauptet hat. In dieser Perspektive ist es ein unsauberer Grenzwert, den KlassikerBegriff zu personalisieren. Alltags- und auch werbesprachlich ist das üblich. Für die Literaturwissenschaft erscheint es mir besser, den Klassiker-Status nur auf einzelne Werke zu beziehen und ihn jeweils in seiner funktionalen, aspektpräzisierten Hinsicht zu begründen. Auf solchen Begründungen muss letztlich auch jedes personalisierte Klassiker-Konzept beruhen, wenn es nicht als bloße Evaluations-Rhetorik oder Laudatio dastehen will. Die eigentlichen Klassiker der Literatur sind einzelne Texte und nicht deren Autoren. Da sich die meisten Menschen jedoch mehr für Menschen als für Texte interessieren, ist es unvermeidlich, dass der gesellschaftlich-kulturelle (nicht der literaturwissenschaftliche) KlassikerDiskurs auf die Auszeichnung von Autoren aus ist. Im gesellschaftlichen, kulturpolitischen Diskurs ist diese Personalisierung funktional schlüssig und sinnvoll. Denn hier geht es ja nicht um Textqualitäten, sondern um menschliche Haltungen und Werte, die man in den ausgezeichneten Werken ausgedrückt sieht. Das gesellschaftlich-kulturpolitische Interesse an den Klassikern zielt ja nicht darauf, wie man Literatur schreibt, sondern auf die menschlichen Einstellungen, auf das Ethos, das in der Literatur zum Ausdruck kommt. Deshalb greift dieses Interesse durch die Werke hindurch immer auf die Menschen, denen sie sich verdanken. Wo diese als Personen nicht greifbar sind, erfindet man sie hinzu. Die Homerische Frage gibt davon Zeugnis sowie die Tatsache, dass man in der deutschen

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Ruhmeshalle, der Regensburger Walhalla, dem Dichter des Nibelungenliedes ein Denkmal gesetzt hat. Das Entscheidende, worum es bei der eigenen Verwendung des Klassiker-Begriffs geht, ist anders als beim Metadiskurs nicht die Spannung von Normativität und Historizität, sondern das Wissen um die Partikularität, für die der KlassikerStatus gilt. Die Rede von Klassikern wird umso valider, je weniger man sie als allgemeine Evaluation, als eine Wertsetzung überhaupt versteht und je genauer man stattdessen zu klären versucht, wofür sie als Maßstab gelten können. Nichts bläst in den Klassiker-Diskurs so viel Nebel wie die Tendenz, ihre Geltung zu universalisieren und für alles Mögliche heranzuziehen. Nichts aber raubt dem Klassiker-Diskurs so schnell sein Potenzial wie die Tendenz, ihn gar nicht mehr als einen eigenen Begriff auszuprobieren, sondern immer schon zu historisieren. Wenn der Klassiker-Begriff im Unterschied zum Typischen, Repräsentativen und Kanonischen einen spezifischen Sinn erhalten soll, liegt er meiner Ansicht nach in der für die Verwender dieses Begriffs erfahrbaren Zeitresistenz. ‚Klassisch‘ sind für diejenigen, die sie so bezeichnen, Phänomene von nicht zeitlich, doch sachlich begrenzter Geltung. Die sachliche Begrenzung oder, anders gesagt, die funktionale Präzisierung, wofür genau ein Klassiker Maßstäbe setzt, ist am besten geeignet, die bloße Ruhmrede zu vermeiden und stattdessen Erkenntnisse zu liefern. Wer in dieser Hinsicht nach Klassikern fragt, sucht nach den Anschauungsbeispielen, die sich für bestimmte Begriffe und Vorstellungen am erfolgreichsten etabliert haben. Daraus ergibt sich folgende Definition: Klassiker sind die akzeptiertesten individuellen Anschauungsbeispiele für unseren gemeinsamen Begriffs- und Vorstellungshaushalt. Das kann – um nur bei meinem Fach, der Literaturwissenschaft zu bleiben – sowohl metaliterarische Begriffe und Vorstellungen (wie etwa Gattungen, Stilqualitäten, Darstellungstechniken) betreffen als auch alle anderen, für die literarische Texte Anschauungen geben. So hat sich Schnitzlers Leutnant Gustl als Standardbeispiel für den Begriff des inneren Monologs etabliert; Eichendorffs Mondnacht für die Vorstellung von einem romantischen Gedicht. Sie sind damit Klassiker in metaliterarischer Hinsicht, maßgebend für den literaturtheoretischen Diskurs. Nabokovs Lolita dagegen ist nicht in literaturtheoretischer, sondern in thematisch-inhaltlicher Hinsicht zum Klassiker geworden, was sich daran zeigt, dass der Romantitel als Metonymie für den Typus der pubertierend frühreifen, provokanten ‚Kindfrau‘ dient und die Romanhandlung mittlerweile auch durch zwei Verfilmungen die wohl verbreitetste Anschauung liefert, wie man sich eine diesem Typ entsprechende Missbrauchs-Konstellation vorstellen kann. Zum partikularistischen Klassiker-Begriff gehört es also auch, dass man den Diskurs definiert, in dem er jeweils funktioniert. Es gibt Fälle (wie Leutnant

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Gustl), die nur für das metaliterarische Interesse eine prägende Bezugsgröße darstellen, und andere (wie Lolita), die aus dem Bereich der Literatur hinaus für das Thema Maßstäbe setzen, von dem sie handeln. Manche funktionieren in mehreren Diskursen, auch zugleich innerhalb und außerhalb der Literaturwissenschaft wie etwa Prousts Recherche, die sowohl die Romantheorie als auch bis heute die Vorstellung und Diskussion der Belle Époque prägt. Es gibt rein metaliterarische Klassiker wie ottos mops von Jandl sowie solche Texte, die nicht für die Vorstellung von Literatur, sondern für das von ihnen behandelte Thema maßgeblich geworden sind. So gibt Zuckmayers Hauptmann von Köpenick die bekannteste und bis heute wirksamste Anschauung für die Macht der Uniform im Obrigkeitsstaat. In dieser, aber in keiner anderen Hinsicht kann er als Klassiker gelten. Aus dem Unterschied der Diskurse ergibt sich auch die Möglichkeit, dass ein Werk auf der einen Ebene als ‚klassisch‘, auf der anderen dagegen nur als ‚typisch‘ oder ‚repräsentativ‘ zu bezeichnen ist. Ein gutes Beispiel geben dafür die beiden Gryphius-Sonette (Tränen des Vaterlands und Es ist alles eitel), die wohl allen Absolventen deutscher Gymnasien bekannt sein dürften und die bis heute die durchschlagend wirksamen, fast einzigen Anschauungen dafür liefern, was man unter Barockliteratur zu verstehen hat. Die beiden Texte sind kanonisch, weil sie auf dem schulischen Lehrplan stehen. Sie sind typisch und repräsentativ für barocke Gedichte. Klassisch sind sie nach meinem Begriff in einer sehr speziellen Hinsicht zu nennen: der des Literaturgeschichtsunterrichts. Hier haben sie ihre anhaltende Wirkung, indem sie wie keine anderen Texte sonst den Begriff der Barockliteratur anschaulich füllen. Außerhalb dieses speziellen Zusammenhangs sind sie wirkungslos geworden. Für die gegenwärtige Vorstellung von Literatur haben sie keine Funktion mehr. Sie repräsentieren nur eine vergangene Position, auf die heute außerhalb des literarhistorischen Diskurses niemand mehr orientierend zurückgreift. Nun könnte der Eindruck entstehen, dass der Begriff des ‚Klassischen‘ hier auf eine pedantische Spitzfindigkeit reduziert sei: Es genüge doch, die beiden Gryphius-Sonette als Schulkanon und typisch barock zu bezeichnen. Was soll da noch der Klassiker-Begriff? Verliert er nicht seinen Wert, wenn man ihn so eng auf eine spezifische Funktion im Literaturgeschichtsunterricht eingeschränkt? Im Gegenteil, meine ich. Denn erst durch die spezifische Funktionsbestimmung macht der Klassiker-Begriff etwas kenntlich: hier den Sachverhalt, dass es genau diese beiden Sonette sind, die Begriff und Vorstellung von Barockliteratur heute bestimmen. Typisch und repräsentativ sind ebenso Hofmannswaldaus galante Sonette oder auch ganz andere metrische Formen. Die aber sind keine Klassiker des Literaturgeschichtsunterrichts. Und da Begriff und Vorstellung von Barockli-

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teratur (abgesehen vom Fachwissenschaftsdiskurs) nur noch in diesem Unterricht ihren Platz haben, sind diese beiden speziellen Beispiele der alternativlos wirksame Stoff, aus dem sich alle Nichtfachleute heute ihren Begriff bilden. Klassiker sind, metaphorisch gesagt, die Sieger im Verdrängungswettbewerb der Fallbeispiele. Oder richtiger (um keiner animistischen Vorstellung großer Werke Vorschub zu leisten): Sie entstehen und erhalten sich als die am häufigsten und erfolgreichsten gebrauchten Exempel, an denen man sich und anderen einen je bestimmten Sachverhalt deutlich machen kann. Klassiker, so kann man es definitorisch wenden, sind die wirksamsten älteren Fallbeispiele für aktuelle Bedarfszusammenhänge. Den Gegensatz zum partikularistischen bildet der universalistische Klassiker-Begriff. Er beansprucht umfassende, im Extremfall allumfassende Geltung; mit der Konsequenz, dass aus dem ja tatsächlich unfassbaren Allumfassenden konkret alles Mögliche wird und der Klassiker-Bezug zum passe-partout verkommt. Die Geschichte der Goethe-Rezeption in Deutschland gibt dafür reiche Anschauung. Wer bei jeder Gelegenheit als der universelle Klassiker in Anspruch genommen wird, kippt in seiner Relevanz von Allem ins Nichts. Wenn man der Rede vom Klassiker Goethe überhaupt noch einen greifbaren Sinn geben will, muss man im Einzelnen bestimmen, welche Werke wofür genau bis heute maßstäblich sind. Nur mit einem solchen partikularistischen Verständnis wird die Kennzeichnung des Klassischen zu einer überprüfbaren und damit potenziell erkenntnisfördernden Aussage. Im universalistischen Sinne wäre es bloße Großsprecherei – und das nicht erst heute in einer ‚Goethe-fernen‘ Zeit, sondern schon immer. Der universalistische Klassiker-Begriff ist eine laudative Formel ohne Erkenntniswert. T. S. Eliots eindrucksvolle Rede „Was ist ein Klassiker?“ gibt dafür den besten Beleg. Sie beeindruckt, weil sie im Kriegsjahr 1944 vor Londoner Publikum mit Virgil und (in der Geltung abgesetzt) Dante, Shakespeare und Goethe gesamteuropäische, in Eliots Verständnis universelle kulturell-menschliche Größe beschwört. Das hat man im Nachkriegsdeutschland dankbar aufgenommen und als eine autoritätsgestützte Rückkehrperspektive in die zivilisierte Völkergemeinschaft vielfach in Übersetzung nachgedruckt. In dieser politischen Hinsicht hat diese Klassiker-Rede einen greifbaren Sinn. Auch wenn sie Goethe (zusammen mit Dante und Shakespeare) als einen „provinziellen“ Klassiker dem einzig „universellen“ Virgil unterordnet,1 war es 1944 doch eine

|| 1 Vgl. T. S. Eliot: Was ist ein Klassiker? Ansprache, gehalten vor der Virgil-Gesellschaft, London, am 18. Oktober 1944. In: Antike und Abendland. Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens. Band III. Hg. von Bruno Snell. Hamburg 1948, S. 9–25, hier S. 22.

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bemerkenswerte Aussage, den und damit die Deutschen wie selbstverständlich in die europäischen Kulturprovinzen einzureihen. Außer dieser zeitbezogenen Botschaft aber bleibt Eliots Klassiker-Begriff leer, und zwar durch Überdehnung: Das Klassische definiert er als das „Umfassende“, das „in einer maximalen Weise den gesamten Gefühlsbereich“ ausdrücke, „in aller erdenklichen Fülle und Tiefe“, für „alle Klassen und Stände gleichermaßen“2. Mit einem Wort gesagt, sei es „Universalität“3; emphatisch und insistierend, wie Eliots Rede ist, setzt er den anderen bildungssprachlichen Ausdruck dafür, „Katholizität“4 (im griechischen Wortsinne, nicht konfessionell verstanden), noch daneben. Ein kraftvolles VirgilLob, zweifellos. Doch außer der laudativen Wucht kein fassbarer Inhalt. Was Eliot über Virgil zu sagen hat, läuft auf ein dickes, doch bloßes Ausrufezeichen hinaus, rhetorische Emphase und semantische Leere. Warum ausgerechnet und einzig Virgil ein Klassiker sei, bleibt rein dezisionistisch; wodurch er diesen Rang habe, völlig unbestimmt – bis auf das eine Kriterium des „gemeinverbindlichen Stils“.5 So verstanden, erscheint ‚klassisch‘ als stiltypologischer Begriff und bezeichnet das, was eine Sprachgemeinschaft als allgemein vorbildlich und wertvoll akzeptiert, als kollektive Norm im Gegensatz zum individuell Charakteristischen. Literaturwissenschaftlich hat Ernst Robert Curtius diese Perspektive weiterverfolgt und ‚Klassik‘ stiltypologisch als Gegenbegriff zu ‚Manierismus‘ definiert.6 Auf diesem Wege verliert der Klassiker-Status alles Auszeichnende, Erhebende. Er zeigt nur an, dass ein Werk mustergültig die kollektive Sprachnorm darstellt, ohne durch individuelle stilistische Charakteristika aufzufallen. Um dennoch an der Auszeichnung und Erhebung einzelner festhalten zu können, schlägt Curtius vor, zwischen „Normal-“ und „Idealklassik“ zu unterscheiden, wobei die erste Kategorie leicht pejorativ die normierte Langeweile bezeichnet („korrekt, klar, kunstgemäß“, sagt Curtius7), die zweite dagegen die „einzelnen Gipfel“ und „Höchstleistungen“.8 Wer diese Auszeichnung verdient, versteht sich für Curtius offenbar von selbst. Sein Akzent liegt vielmehr darauf, einige der konventionell anerkannten Klassiker insbesondere der französischen Literatur zu bloßen ‚Normalklassikern‘ herabzustufen. Im Lichte dieser Unterscheidung kann man Eliot attestieren, dass || 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 16. 5 Ebd., S. 13. 6 Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern, München 9 1978 (zuerst 1948), S. 277f. 7 Ebd., S. 278. 8 Ebd.

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er auf der argumentativen Basis der ‚Normalklassik‘ den Anspruch der ‚Idealklassik‘ erhebt. Seine Rede funktionierte genau so, wenn man statt Virgil irgendeinen anderen Namen einsetzte, der nur ein einigermaßen umfangreiches und künstlerisch anerkanntes Werk vorweisen kann, das ohne stilistische Auffälligkeiten eine gehobene Sprachnorm repräsentiert. Dass es Virgil ist, liegt wohl daran, dass Eliot diese Rede vor der Virgil-Gesellschaft gehalten hat. Man könnte sie ohne weiteres für andere Gesellschaften und deren Namen adaptieren. Eliots Titelfrage „Was ist ein Klassiker?“ wäre dagegen sachhaltiger beantwortet, wenn man sagte: Eliots Rede ist der Klassiker des universalistischen KlassikerBegriffs. Mit keinem anderen Text kann man sich diesen Sachverhalt in seiner rhetorischen Stärke wie seiner semantischen Schwäche klarer und deutlicher machen. Wie kann man schließlich mit einem partikularistischen Begriffsverständnis von einer literarischen Nationalklassik, also z. B. von einer deutschen Klassik sprechen? Um dies zu beantworten, muss man zunächst die Diskurse unterscheiden, zu denen der Begriff gehören soll. Wichtig ist dabei die Differenz, ob die Klassiker-Bezeichnung als eine fachwissenschaftliche Erkenntnis oder eine kulturpolitische Auszeichnung gemeint ist. Im ersten, fachwissenschaftlichen Fall sind, meine ich, wiederum zwei Möglichkeiten gegeben: Entweder versteht man unter einem deutschen Klassiker denjenigen Text, der als Fallbeispiel für etwas eigentümlich Deutsches in der Literatur etabliert ist; oder einen solchen, der unabhängig von seiner nationalsprachlichen Zugehörigkeit wirksam wurde. In dem einen Fall könnte man von einem Klassiker des Deutschen in der Literatur sprechen; im anderen von einem Klassiker der Literatur, der, wenn er auch deutsch ist, doch für etwas anderes als seine Nationalität steht. Das kann in konkreten Beispielen zusammenfallen, lässt sich aber dennoch analytisch unterscheiden. Als Klassiker des Deutschen in der Literatur kann man den ersten Teil von Goethes Faust bezeichnen. Er gibt das Muster, nach dem man das typisch Deutsche in der Literatur im philosophisch-existenziellen Ernst und im ungestümen Geniekult sieht. Genau dafür steht Faust I. Sein Klassiker-Status ist von dem Nationaltypologischen unablösbar. Etwas anders sieht es mit den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm aus. Auch sie repräsentieren mit ihrer romantisch stilisierten Volkstümlichkeit etwas, das als typisch deutscher Beitrag zur Literatur angesehen wird. Über alles Nationale hinaus aber wirken sie bis heute als Muster für den internationalen Gattungsbegriff des Märchens als Kinderliteratur. Die Grimmsche Sammlung ist damit ein Klassiker in doppelter Hinsicht: ein Klassiker des Deutschen sowie der Gattung Märchen. Lessings Nathan dagegen ist ein deutscher Klassiker ohne nationaltypologische Dimension. Er repräsentiert die kosmopolitische Aufklärungsbotschaft religiöser Toleranz. Dass man dieses

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Stück gleich nach dem 2. Weltkrieg so viel gespielt hat, unterstreicht diese Funktion. Denn man hat es ja nicht als etwas eigentümlich Deutsches gewählt und hochgehalten, sondern als Beleg, dass auch die deutsche Literatur ein sichtbares Zeugnis hat, mit dem sie Teil einer internationalen, toleranten Aufklärungskultur ist. An ihm sollte man gerade nicht etwas typisch Deutsches lernen, sondern im Gegenteil mit ihm auch in der deutschen Literatur einen übernationalen Wert wiederfinden, der für Deutschland verloren schien. Eine solcherart aspektdifferenzierte, partikularistische Perspektive erlaubt es, die Unterscheide und möglichen Zusammenhänge zwischen dem fachwissenschaftlichen und dem kulturpolitischen Klassiker-Diskurs zu klären. Dieser tendiert, wie gesagt, von den Texten weg zu den Autoren, die er als wertsetzende Instanzen aufbaut. Die Personalisierung trägt zur Popularisierung bei, denn der Klassiker als Mensch macht auf die meisten Menschen wohl mehr Eindruck als der Klassiker als Text. Kein Werk von Goethe und Schiller hat die Vorstellung von der Weimarer Klassik so genährt wie Rietschels Doppelstandbild vor dem Weimarer Nationaltheater. Ohne die Werke, darf man unterstellen, gäbe es das Denkmal nicht. Doch ohne das Denkmal und seine massenmediale optische Präsenz hätte die Vorstellung der ‚Weimarer Klassik‘ sich nicht so popularisiert und so lange gehalten. Als Epochenbegriff ist dieser Ausdruck im aktuellen Wissenschaftsdiskurs nicht mehr produktiv. Seine enge lokale Fokussierung und seine ihm traditionell anhaftende Opposition gegen Aufklärung und Romantik verdecken mehr literaturgeschichtliche Zusammenhänge als sie erklären. Mit dem partikularistischen, textbezogenen Klassiker-Begriff kann man analysieren, welchen Anteil die historischen literarischen Werke tatsächlich an dieser nationalkulturellen Epochenkonstruktion hatten und was dagegen eine eher autopoetische Narration patriotischer Philologen und dann auch der durch sie herausgeforderten Widersacher war. So kann das eigene, sachlich eingegrenzte und damit präzisierte Klassiker-Verständnis helfen, auch die Begriffsgeschichte des Klassischen besser zu verstehen.

Moritz Baßler

Klassiker im Zeitalter der Neuen Archive Zwischen idée reçue, Modell und Zitierbarkeit

I Wenn wir heute eine Coca-Cola bestellen, dann bekommen wir einen echten Klassiker serviert: die „Classic“. Das war nicht immer so. Am 23. April 1985 gestand die Coca-Cola Corporation ihre Niederlage in den sogenannten Cola-Kriegen ein und reagierte darauf, indem sie ihr hundert Jahre altes, weltweit bekanntes und verbreitetes Getränk vom Markt nahm und mit einer veränderten Formel neu herausbrachte. Vorangegangen war die Pepsi Challenge: In Blindtests, so hatte sich im Laufe dieser Werbekampagne des Konkurrenten herausgestellt, schmeckte den meisten Leuten Pepsi besser. Die von Coca-Cola daraufhin entwickelte New Formula war, davon dürfen wir ausgehen, von der Marketingabteilung nach allen Regeln der Kunst darauf getestet worden, nun ihrerseits besser zu schmecken als das Konkurrenzprodukt. Doch niemand hatte mit dem gerechnet, was daraufhin geschah: Ein Aufschrei der Empörung ging durch die Vereinigten Staaten – mit der alten Coca-Cola, so das allgemeine Gefühl, drohte für viele Amerikaner ein wesentlicher Bestandteil der eigenen Identität und Kultur verloren zu gehen. Reumütig kehrte die Firma bereits am 11. Juli 1985 zum alten Rezept zurück, nannte es fortan Classic Formula – und gewann alle Marktanteile, die sie je gegenüber Pepsi verloren hatte, wieder zurück. Seither genießen wir den Klassiker, obwohl es doch erwiesenermaßen mindestens zwei Cola-Varianten gibt, die uns eigentlich besser schmecken. Fabula docet: Klassiker sind nicht irgendwie intrinsisch besser, anderen Exemplaren derselben Sorte nicht aufgrund ihrer Qualitäten überlegen, zu Klassikern werden sie allein aufgrund eines ihnen zugeschriebenen Fiktionswertes. Klassiker sind also ein kulturelles Phänomen, ein Phänomen des Diskurses.

https://doi.org/10.1515/9783110615760-003

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II „CLASSIQUES (les)“, heißt es in Gustave Flauberts Dictionnaire des idées reçues sub voce – „On est censé les connaître.“1 DARWIN beispielsweise: „Das ist der, der behauptet, wir stammen vom Affen ab“, oder DESCARTES, richtig: „Cogito ergo sum!“2 So sinnvoll ein partikularer und funktionaler Klassiker-Begriff ist, der Klassiker als „die akzeptiertesten individuellen Anschauungsbeispiele für unseren gemeinsamen Begriffs- und Vorstellungshaushalt“ definiert,3 er hat doch ein Problem, die Tendenz nämlich, den jeweiligen Klassiker zum Gemeinplatz zu stereotypisieren. Um an einer bestimmten Kultur teilhaben zu können, muss man deren Klassiker „kennen“, d.h. in angemessener Weise über sie (mit)reden können. Da der Klassiker jedoch für etwas Bestimmtes steht (z.B. Descartes für siehe oben, Faust [1808] für das Faustische, Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band [1967] für das Kunstwerden von Pop), reicht es, in der Rede über ihn eben dieses aufzurufen und gegebenenfalls noch eine Wertung hinzuzufügen. Wie diese ausfällt, ist nicht so wichtig; die entsprechende Rede dient ja weniger der Information als vielmehr der Versicherung eben jenes „gemeinsamen Begriffs- und Vorstellungshaushalt[s]“ selbst und wird sich deshalb sinnvollerweise darauf beschränken, unser kulturelles Wissen in seiner allgemeinsten Form, als „Vulgata des Wissens“ (Roland Barthes) zu reproduzieren: Als Ideologiefragment wendet der Kulturcode seine Klassenherkunft (die Schulklasse und die soziale Klasse) zur natürlichen Referenz, zur sprichworthaften Konstatierung. Wie die didaktische Sprache, wie die politische, die auch niemals die Wiederholung ihrer Aussagen (ihr stereotypes Wesen) beargwöhnen, ekelt das kulturelle Sprichwort an, provoziert das intolerante Lesen […].4

Barthes’ negatives Urteil bezieht sich insbesondere auf den realistischen Text, die Verwendung solchen ‚Wissens‘ in Kunstzusammenhängen. Positiv gesehen, bedient der Austausch von Stereotypen jedoch zunächst eine Art höherer phatischer Funktion, die nicht allein darauf gerichtet ist, den Kommunikationskanal offen zu halten, sondern die Beteiligten eben in ihrer gemeinsamen Kultur zu bestätigen – da macht es zunächst keinen Unterschied, ob es sich jetzt um Germanisten handelt, die über Kafka oder Sebald sprechen, oder um Schalke-Fans, die

|| 1 „Man ist verpflichtet, sie zu kennen.“ Gustave Flaubert: Wörterbuch der Gemeinplätze. München 1985, S. 95. 2 Ebd., S. 40. 3 Beitrag von Matuschek in diesem Band, S. 32. 4 Roland Barthes: S/Z. Frankfurt am Main 1987 (zuerst 1970), S. 101.

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den Stand der Wintertransfers diskutieren. Man könnte das auch für Beispiele von Metasprachlichkeit halten, die ja laut Jakobson die Sprachfunktion ist, mit deren Hilfe wir uns des gemeinsamen Codes versichern, doch steht der gemeinsame Code ja gar nicht in Frage, eher – siehe Barthes – im Gegenteil. Man lernt also nichts aus solchen Gesprächen, allenfalls ein paar Sätze mehr für das persönliche Wörterbuch der Gemeinplätze. Das „erbricht sich rückblickend vor Überflüssigkeit“, heißt es schon in einem Benn-Gedicht, dessen Ekel-Diskurs Barthes dann aufnimmt, allerdings fragt Benn weiter: „oder beginnt hier die menschliche Gemeinschaft?“5 Man könnte ja, statt sich zu ekeln, immerhin auch an das ‚Schöne Gespräch‘ aus Thomas Manns Joseph und seine Brüder denken, das hieß: ein solches, das nicht mehr dem nützlichen Austausch diente und der Verständigung über praktische oder geistliche Fragen, sondern der bloßen Aufführung und Aussagung des beiderseits Bekannten, der Erinnerung, Bestätigung und Erbauung […].

In diesem Gespräch geht es vor allem um die Ahnen und die richtige Vorgeschichte, um das, was „alt geworden“ und „dennoch verbindlich und gültig geblieben“ ist.6 In der Praxis des schönen Gesprächs wird es weiterhin verbindlich und gültig gehalten: „Ich weiß es genau“ – „Das weiß ich wie du“ – „Du sagst es recht“.7 Pierre Bayard hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. Das klappt umso besser, je mehr sich diese Bücher dem definierten Klassiker-Status annähern, d.h. je mehr konsensfähige Gemeinplätze über sie im Umlauf sind und je besser die Vorstellung vertraut ist, für die sie stehen. Ich kann mich in meiner akademischen Ingroup durchaus erfolgreich über, sagen wir, Schopenhauer, Tolstoi oder Slavoj Žižek verständigen, ohne über nennenswerte Leseerfahrung mit deren Werken zu verfügen. Bei Carl Einstein, Elisabeth Langgässer oder Innokentij Kreknin wäre das deutlich schwieriger. Darin erweist sich das Gespräch über Klassiker als Variante des ‚Schönen Gesprächs‘, in dem wir uns gegenseitig der Muster und Traditionsbestände unserer jeweiligen Gemeinschaften versichern – denn das ist es laut Gadamer, „was wir TRADITION nennen: ohne Begründung zu gelten“8.

|| 5 Gottfried Benn: Verzweiflung I. In: Ders.: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Hg. von Bruno Hillebrand. Frankfurt am Main 2006 (zuerst 1952), S. 409. 6 Beitrag von Matuschek in diesem Band, S. 28. 7 Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. 1. Band. Frankfurt am Main 1986 (zuerst 1933), S. 84– 86. 8 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1986 (zuerst 1960), S. 285.

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III Nun gibt es mindestens einen systematischen und einen historischen Grund, bei dieser Gemeinplatzförmigkeit der Klassiker nicht stehenzubleiben. Systematisch verweist der Klassiker-Bezug, darin von anderen Gemeinplätzen des kulturellen Codes unterschieden, ja immer noch auf je konkrete Texte. Zwar ist richtig, dass deren partikularer Charakter gerade durch Verpflichtung auf die ‚klassischen‘ Züge zu verschwinden droht, die ihn als Symbol eines Allgemeinen ausweisen, dennoch führt der Klassiker-Status unweigerlich dazu, dass ein Text mitunter auch (wieder-)gelesen wird. Die Resultate solcher Lektüren unterscheiden sich dann potentiell von der bloßen Bestätigung kultureller Codes und Gemeinplätze. – Historisch aber scheint sich das, was Matuschek „unseren gemeinsamen Begriffs- und Vorstellungshaushalt“9 nennt, bereits seit längerem enorm auszudifferenzieren, je nachdem, welche Gemeinschaft jeweils mit der ersten Person Plural bezeichnet wird. Schon für die Situation der Klassischen Moderne gilt, was Carl Einstein 1926 über Picasso sagte: „Man ist dies, jenes, und einiges in Querung; woher sollte einer heute bindende Übereinkunft beziehen? Doch nicht vom Unterdemstrich der Wissenden?“10 – ein Zustand, der sich im Zeitalter postmoderner Patchwork-Identitäten und eines marktförmigen Überangebotes an Stilgemeinschaften noch einmal erheblich verschärft hat. – Beides soll in seinen Konsequenzen für den Klassiker-Begriff im Folgenden näher betrachtet werden. Liest man einen Klassiker tatsächlich, überhaupt oder wieder, so zeigt sich zumeist, dass er in seiner individuellen Gestalt das, was an ihm als klassisch gilt, übersteigt, wenn nicht gar unterläuft. Klassiker sind unter der Lupe oft nicht besonders klassisch. Studierstuben-Monolog und Gretchenfrage hatte man nach allem, was man schon über Faust wusste, vermutlich erwartet, doch steht man dann verblüfft vor den Versen der Walpurgisnacht; Lucy in the Sky with Diamonds, A Day in the Life, klar, aber was macht man mit so etwas wie Fixing a Hole? Die Tatsache, dass der Klassiker, widmet man sich ihm näher, nicht in seinem Begriff aufgeht, weist ihn als diachrones Kunstwerk aus – „the pill that dissolves over centuries“, wie Clover schreibt.11 Immer neue Generationen von Literaten,

|| 9 Beitrag von Matuschek in diesem Band, S. 32. 10 Carl Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts. Propyläen Kunstgeschichte. Band 16. Berlin 1926, S. 69. 11 Joshua Clover: Good Pop, Bad Pop: Massiveness, Materiality, and the Top 40. In: This is Pop. In Search of the Elusive at Experience Music Project. Hg. von Eric Weisbard. Cambridge (Massachusetts), London 2004, S. 245–256, hier S. 250.

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Lesern und Literaturwissenschaftlerinnen können sich an ihm abarbeiten und dabei Erkenntnis- und Distinktionsgewinne erzielen, gerade weil seine Qualität nie ganz mit dem überlieferten Allgemeinen kongruent erscheint, für das er im Diskurs steht. Ironischerweise wird in diesem Prozess dennoch, aufs Ganze gesehen, gerade dieser überlieferte Begriff immer wieder aufs Neue bestätigt – in der Summe der partikularen Relektüren erneuert sich letztlich vor allem der Mythos selbst. Außerhalb einer sehr kleinen Insider-Community von Kennern und Forschern erweist sich der kulturelle Begriff, für den ein Klassiker steht, zumeist als wenig dynamisch. Letztlich wird die Pille trotz jahrhundertelangen Lutschens nicht wirklich kleiner. Inwiefern aber stellt der so konzipierte klassische Text im diachronen Überlieferungszusammenhang „für unsere eigene, produktive Vorstellung von der Sache noch einen Maßstab dar“?12 Spätere Erzeugnisse können sich auf einen Klassiker, soviel ich sehe, auf zweierlei Weise beziehen (und ihn dabei in seinem Status bestätigen): zum einen durch intertextuelle Verweise – wobei gilt: Je weniger markiert diese Verweise (Zitate, Anspielungen, Parodien etc.) sein müssen, um verstanden zu werden, desto deutlicher der Klassikerstatus – und zum anderen dadurch, dass dieser immer noch modellbildend und paradigmatisch wirkt, etwa im Zuge einer Gattungstradition. Diesen zweiten Fall hat man mitunter auch als systemische Intertextualität bezeichnet. In beiden Fällen ist vorausgesetzt, dass die Gemeinschaft der Rezipienten den Klassiker kennt und die Bezugnahmen auf ihn erkennt, dass er also zum kulturellen Code gehört, und sei es bloß in Form von Gemeinplätzen. Voraussetzungen für den diachronen Klassiker-Status sind, mit anderen Worten, Tradition als Überlieferung eines kulturellen Wissens (z.B. durch die Schule) und Bildung als Teilhabe an dieser Tradition.

IV Zweifellos bestimmt diese diachrone Form des Kunstwerks immer noch unsere idées reçues davon, wie Hochliteratur zu sein hat. Tatsächlich aber hat sie unter den Markt- und Medienbedingungen der Gegenwart, der Postmoderne, ja in Teilen womöglich bereits der Moderne kaum noch Geltung. Zwar wird munter zitiert, doch dass ältere Formen und Werke tatsächlich modellbildend auf die Produktion der Gegenwart wirken, im Sinne einer Autorität von Klassikern wie in der vormodernen Gattungsgeschichte, dürfte gegenwärtig eher die Ausnahme sein.

|| 12 Beitrag von Matuschek in diesem Band, S. 29.

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„Mass production offers its own historical shift, with its own shattering of tradition: the shift from diachronic to synchronic.”13 Das synchrone Kunstwerk aber ist nicht auf Dauer und langwierige Rezeption angelegt. Ein neuer Hitsong, ein Hollywood-Blockbuster, eine HBO-Serie, ein Videospiel müssen vielmehr sofort, am Wochenende ihres Erscheinens, synchron an vielen verschiedenen Orten der Welt erfolgreich sein, und spätestens mit Harry Potter (1997-2007) kennen wir dieses Phänomen selbst auf dem Buchmarkt. Dies führt aber auch dazu, dass sich das synchrone Werk in der Regel nicht mehr an weit zurückliegenden ‚klassischen‘ Mustern orientiert sondern im Gegenteil an den allerjüngsten erfolgreichen Mustern, an die es anschließt, indem es sie zugleich perpetuiert und variiert. Wann immer populäre Kulturen einen Aufmerksamkeitserfolg erzielen, kristallisiert an diesem Erfolg sofort ein Konvolut ähnlicher Produkte. Jedes Faszinosum geht unmittelbar in Serie, strahlt aus, metastasiert und bezieht immer mehr Rezipienten in die spezifische Form spektakulärer Selbstreferenz ein. Auf diese Weise emergieren Stilgemeinschaften normalisierten Spektakels. 14

Die systematische Position des Klassikers scheint hier der „Aufmerksamkeitserfolg“ einzunehmen, in dem man mit Boris Groys auch jenes „Neue“ erkennen könnte, das als solches einen Eintrag ins Archiv bekommt.15 Das wäre etwa im Falle der populären Comantacy- oder Wölkchen-Romane (Liebesromane, bei denen ein Partner im Koma liegt oder tot ist) der Roman PS, I Love You von Cecelia Ahern (2004); im Falle der neuen, sehr erfolgreichen Sparte der Qualitätsfernsehserie könnte man The Sopranos (1999–2007) und The Wire (2002–2008) nennen, mit dem Vorläufer Twin Peaks (1990f.); für die Wiedergeburt solider Pop-Musik im neuen Jahrtausend Is This It von The Strokes und White Blood Cells von The White Stripes (beide 2001). Die willkürlich gewählten Beispiele zeigen schon, dass es sich hier anders verhält als beim klassischen Klassiker. Der Roman von Ahern hat zwar eine Welle gleichartiger Texte ausgelöst, wird als eher seichter Unterhaltungsroman aber wohl dennoch nicht nachhaltig kanonisiert werden. Anders die Fernsehserien – ihr Erfolg, der auch mit kulturindustriellen Strukturveränderungen des Bezahlfernsehens in den USA zusammenhängt, hat zu einer neuen, sehr lebendigen epischen Großform geführt, deren bekannteste und

|| 13 Joshua Clover: Good Pop, Bad Pop, S. 249. 14 Jochen Venus: Die Erfahrung des Populären. Perspektiven einer kritischen Phänomenologie. In: Performativität und Medialität populärer Kulturen. Theorien, Ästhetiken, Praktiken. Hg. von Marcus S. Kleiner und Thomas Wilke. Wiesbaden 2013, S. 49–73, hier S. 67. 15 Vgl. Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München 1992.

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meistzitierte Muster sich im Laufe der Zeit verschieben. Als Meisterwerke bleiben The Sopranos und The Wire dabei sicher im kulturellen Gedächtnis präsent, und doch orientieren sich aktuelle Serien eher an jüngeren Erfolgen wie Breaking Bad (2008–2013) oder Game of Thrones (seit 2011). Andere Serien, die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens als grundlegend erschienen, wie etwas Deadwood (2004– 2006), scheinen dagegen den Klassiker-Status zu verlieren bzw. nur in KennerKreisen zu bewahren – was nicht heißt, dass sich nicht aktuelle Serien zitathaft an ihnen orientieren könnten (z.B. Godless, 2017). Und mit Twin Peaks verhält es sich noch einmal anders: Da hat jemand zehn Jahre zuvor schon einmal Ähnliches gemacht, ohne dass das damals traditionsbildend wurde. Aufgrund der Qualität der Serie und der Bekanntheit ihres Autors David Lynch gehört Twin Peaks retrospektiv dennoch in die Geschichte dieses Formats, in die sich die Serie über ein Vierteljahrhundert später mit einer dritten Staffel (2017) dann ja tatsächlich auch noch einmal eingetragen hat. Was war denn an den Sopranos eigentlich so originell? Die Serie orientiert sich explizit und bis in ihre Besetzung hinein an der Tradition der Mafia-Filme, mit einem ordentlichen Anteil von Familienfilm als Surplus; selbst die Idee eines Mafia-Bosses, der zur Psychoanalyse muss, hatte bereits ein erfolgreicher Hollywood-Film umgesetzt (Analyze This, 1999, mit Robert de Niro). Es scheint hier eher die gelungene Mischung zu sein: Eine bis dato unbekannte Vielzahl kleinerer und größerer Parallelstränge in der Narration ließ die Diegese auf Dauer interessant erscheinen und verhalf dadurch dem Format der HBO-Serie zu nachhaltigem Erfolg. Noch deutlicher ist das bei den popmusikalischen Beispielen, wurden diese doch schon bei ihrem Erscheinen als ‚retro‘ wahrgenommen, The Strokes als Wave- und Post-Punk-Revival, The White Stripes als eines von Blues und Bluesrock. Dennoch wirkte ihre Musik im Paradigma um 2000 als dringend benötigte Frischzellenkur und zog eine Welle alternativer Gitarren- und ‚The‘Bands nach sich, die bis heute den Pop prägt. Es sind also weniger intrinsische Eigenschaften der Sache selbst, es sind nicht irgendwelche neuen, unerhörten Formen oder Inhalte, was solche Werke anschlussfähig macht und die von Venus benannte kulturelle Kristallisationsbildung bewirkt, es ist vielmehr – ihr Erfolg. Das klingt tautologisch, doch muss das synchrone Kunstwerk genau so beschaffen sein: Es wird eben gerade nichts radikal Neues in den Raum stellen, sondern Bekanntes, Beliebtes und Bewährtes so kombinieren und variieren, dass es erneut erfolgreich, ja womöglich noch erfolgreicher wird. Clover weist darauf hin, dass wir in der Regel Differenzen zum Mainstream benennen, wenn wir beschreiben, weshalb wir eine Hit-Single besonders gut finden – und hält diesen Rekurs auf eine Ästhetik der Abweichung für falsch, denn „difference is inextricably linked to lasting value; and […] both

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are proper to a previous age, and to previous forms“16. Beim synchronen Werk kommt der Erfolg, das Gutfinden – das lernen wir aus der Semiotik des Spektakels17 – systematisch vor dem Verstehen, der gemeinsame Kult der Stilgemeinschaft vor der Analyse des Spektakulären als Text – und dieser Kult richtet sich auf die Feier des Erwartbaren, „with its basic structures unaltered“18. Wie in den Cola-Kriegen.

V Klassiker im definierten Sinne entstehen hier, so scheint mir, allenfalls sekundär im Zuge einer Geschichtsschreibung, wie sie unfehlbar einsetzt, sobald bestimmte Formate eine gewisse Persistenz zeigen. Eine solche Geschichtsschreibung orientiert sich aber zumeist eben auch an älteren Mustern von Gattungstheorie und Kategorien wie Differenz, Neuheit, Authentizität und Originalität, die allesamt dazu tendieren, den Paradigmawechsel „from scarcity to abundance“19, anders gesagt: die Marktförmigkeit gegenwärtiger Kunst und eine damit verbundene anders geartete Ästhetik des Konsums zu vernachlässigen. Ein wesentlicher Unterschied liegt, wie gesagt, darin, dass sich die Anschlusserzeugnisse unter Marktbedingungen in ihrer imitatio regelmäßig an den jüngsten Erfolgsprodukten orientieren und eben nicht an den Älteren (und schon gar nicht an der Natur). Sie konstruieren die älteren Muster nicht als unerreichbare Vorbilder, wie die Epiker der Moderne die homerischen Epen oder die Autoren des mittleren 19. Jahrhunderts Goethe. Sie empfinden sich dementsprechend auch nicht als epigonal, so wenig wie man den VW Golf als Epigonen des Käfers empfindet. Was durch diese Orientierung an sehr gegenwärtigen Modellen nun interessanterweise überhaupt nicht ausgeschlossen wird, ist die Möglichkeit, ja die Lust, sich zitierend auf vorhergehende Werke zu beziehen oder sie als Materialquelle und Inspiration zu nutzen. Im Gegenteil: von einer Bloom’schen Anxiety of Influence ist nichts zu bemerken. Die Anforderungen des synchronen Werks verlangen ja geradezu, auf Bewährtes und Bekanntes zurückzugreifen und das je Aktuelle und Erfolgreiche durch behutsames Zusetzen neuer Zutaten am Leben

|| 16 Joshua Clover: Good Pop, Bad Pop, S. 252. 17 Vgl. Dean MacCannell: Sights and Spectacles. In: Iconicity. Essays on the Nature of Culture. Hg. von Paul Bouissac, Thomas A. Sebeok u.a. Tübingen 1986, S. 421–435, hier S. 426f. 18 Joshua Clover: Good Pop, Bad Pop (T. J. Clark zitierend), S. 254. 19 Ebd., S 248f.

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zu erhalten und fortzusetzen; etwa indem man den Mafia-Film mit Elementen des Familienfilms mischt wie The Sopranos oder Fantasy mit Coming of Age und Elementen des Highschool-Romans wie Harry Potter, vielleicht noch versetzt mit 80er-Flair wie in Stranger Things (seit 2016), was sich dann auch nach Deutschland versetzen und mit dem Kernkraft-Diskurs verbinden lässt wie in Dark (seit 2017). Oder man kombiniert Coming of Age mit dem Road Movie wie Wolfgang Herrndorfs Tschick (2010), oder Blues Rock mit Minimalismus und avancierten Farb- und Inszenierungskonzepten wie die Lieblingsband von Tschicks Helden Mike, The White Stripes – das Prinzip wird klar. Wie im Historismus des 19. Jahrhunderts, nur quantitativ noch einmal erheblich gesteigert, steht Kulturschaffenden für solche Verfahren heute das gesamte Spektrum gegenwärtiger und vergangener Kultur in Form riesiger Archive zur Verfügung, die in ihrer aktuellen digitalen Form noch dazu jederzeit problemlos zugänglich sind, „materials they no longer simply ‚quote‘, as a Joyce or Mahler might have done, but incorporate into their very substance“20. Was Jameson Anfang der 1990er noch auf populärkulturelle Dinge bezieht, gilt inzwischen für jede Art von kulturellem Bestand. Es gibt so unendlich viel zu wählen und zu kombinieren, dass wie in einer Sprache die Möglichkeiten nicht ausgehen. Zwar gibt es daneben immer mal wieder auch sogenannte Novelty Songs und mutatis mutandis auch in anderen Medien Produkte, die, zumeist in concettistischer Manier, mal etwas völlig anderes ausprobieren und damit gelegentlich Achtungsoder Szeneerfolge landen. Sie werden daraufhin ins Repertoire der Möglichkeiten aufgenommen und beerbt; wie beispielsweise der Film Under the Skin (2013) seine Spuren in Stranger Things hinterlassen hat. Weil bei alledem, wie gesagt, keinerlei Einflussangst im Spiel ist (zumindest jenseits von Plagiatsklagen), sondern im Gegenteil die diversen Quellen und Anspielungen die Lektüre auch für Kenner und Eingeweihte interessant machen, werden die Referenzen nicht verborgen. Intertextualität ist nicht nur Definiens eines poststrukturalistischen Begriffes von Text und kulturellem Text, sondern gehört auch zu den ausgestellten Verfahren der Pop- und Populärkultur. Sie trägt zu einer Mehrfachadressierung ebenso bei wie zur Konstitution und Beschäftigung nerdiger Stilgemeinschaften und Dechiffriersyndikate, die dem synchronen Werk auch nach seinem Anfangserfolg die (Marken-)Treue halten. Die entsprechende „Verweishölle des Pop“ (Thomas Meinecke) ist dabei jedoch immer schon eine Funktion des Archivs und eben nicht primär der Tradition und Bildung. Das gilt noch einmal potenziert nach der Jahrtausendwende: Anspielungen lassen sich googlen, zitierte Songs, Bands, Filme etc. über YouTube und andere Archive || 20 Fredric Jameson: Postmodernism: The Cultural Logic of Late Capitalism. Durham 1991, S. 3.

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schnell aneignen, in komplexeren Fällen helfen einem Blogs und Kommentare der jeweiligen Stilgemeinschaften weiter (z.B. auf der Plattform Genius, die 2009 zunächst als Rap Genius zur Kommentierung von Rap-Songs gegründet wurde); kurz: die Second Screen ist als Portschlüssel ins Archiv allgegenwärtig.

VI Dieses Archiv aber ist wie die Werke, die sich seiner bedienen, radikal synchron ausgerichtet. Das war ja schon die Postmoderne-Diagnose von Frederic Jameson,21 die sich in den pop-spezifischeren einflussreichen Gegenwartsstudien von Simon Reynolds (Retromania, 2011) und Mark Fisher fortsetzt. Sobald die diversen kulturellen Stile nicht mehr auf der Zeitachse einer progressiven Meta-Narration verortbar sind, werden sie zu synchron verfügbaren „postmodernist codes“22. So transportiert etwa das 80er-Jahre-Setting von Stranger Things oder Dark keine These über diese Zeit mehr, und damit über ihre Bedeutung für unsere und die Zukunft, sondern ist nur ein mögliches Stilmittel unter vielen anderen. Entsprechend urteilt Jameson über E.L. Doctorows Ragtime: „This historical novel can no longer set out to represent the historical past; it can only ‚represent‘ our ideas and stereotypes about the past (which thereby at once becomes ‚pop history’).”23 Selbst Retro ist, so gesehen, eigentlich gar nicht ‚retro‘ im Sinne eines Zurück auf einer Zeitachse, sondern nur der Griff in einen bestimmten Bereich des synchronen Archivs. Und umgekehrt ist das Neue, das sich – und sei es durch Kombination von Altbekanntem – allenthalben bildet, eben auch kein Eintrag auf einer Zeitachse mit Zukunftsvektor, sondern füllt nur eine Systemstelle des Archivs aus, die bisher unbesetzt geblieben war. Fisher bestätigt diese Diagnose ansgesichts kontemporärer Pop-Musik von Amy Winehouse oder den Arctic Monkeys: „[T]hey belong neither to the present nor to the past but to some implied ‚timeless‘ era, an eternal 1960s or an eternal 80s.“24 Womit wir wieder bei den idées reçues wären; Barthes hätte bei den Arctic Monkeys oder Stranger Things vielleicht von ‚Achtzigerität‘ gesprochen, analog zur ‚Italianität‘, wie sie die Panzani-Werbung erzeugt.

|| 21 „We have often been told […] that we now inhabit the synchronic rather than the diachronic“. Frederic Jameson: Postmodernism, S. 16. 22 Ebd., S. 17. 23 Ebd., S. 25. 24 Mark Fisher: Ghosts of my Life. Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures. Winchester, Washington 2014, S. 11.

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Wir müssen uns die negative Wertungen von Derrida, Jameson, Reynolds, Fisher und anderen nicht zwangsläufig zu eigen machen, um den Kern ihrer Diagnosen zu bestätigen: die Tendenz zur kulturellen Synchronie als Dominante unserer Gegenwart. Es mag auffallen, dass besonders Autoren, die außerhalb des Internets sozialisiert wurden, dazu tendieren, unter diesem Befund zu leiden, während andere ihn vielleicht eher als Befreiung erleben. Für unseren Zusammenhang ergibt sich daraus jedenfalls eine klare Fragestellung: Lässt sich der Begriff des Klassikers, der zweifellos aus einer diachronen Kulturauffassung stammt, in diesem neuen Dispositiv überhaupt noch sinnvoll verwenden? In einer aktuellen Geschichte der niederdeutschen Gegenwartsliteratur findet sich folgende bedenkliche Aussage: „Es gibt derzeit weder allseits akzeptierte Vorbilder noch Werke, welche über ihre regionale Zurkenntnisnahme hinaus wirken.“ Schon des längeren sei zu Recht „vor einer Entwicklung zur ‚Sektenliteratur‘ gewarnt worden.“25 Dabei wird durchaus noch niederdeutsche Literatur produziert, aber eben nur – und das wäre jetzt der Versuch einer Verallgemeinerung dieses Befundes – für lokal spezifische Stilgemeinschaften; schon MacCannell hebt deren Ähnlichkeit mit Kulten („Sektenliteratur“) hervor. Das Niederdeutsche hat sicher durch seine schwindende Sprecherbasis noch einmal ganz andere Probleme als die Gesamtkultur, aber die basale Struktur scheint mir ähnlich: Der Klassiker als verpflichtendes Muster, als Form- oder Stilideal einer ganzen Zeit oder Nation oder eines sonstwie beschaffenen makrokulturellen Zusammenhanges – und sei es nur der einer niederdeutschen Regionalliteratur – hat ausgedient. An Stelle solcher Zusammenhänge sind die tendenziell mikrologischen „Stilgemeinschaften normalisierten Spektakels“ getreten, die sich vor allem an den jeweils neuesten und erfolgreichsten Produkten orientieren. Wo solche Stilgemeinschaften sich verfestigen, Strukturen und Institutionen ausbilden, da wird sich zwar am Rande auch eine nerdige Geschichtsschreibung ausbilden, die durchaus ‚klassische‘ Werke ausmachen kann. Diese sind aber, wie anders etwa auch klassische Design-Stücke (etwa der Braun SK4, der VW Käfer), nicht mehr unmittelbar modellgebend für die je aktuellen Produkte. In einer Ästhetik der Rückkopplung, wie sie marktförmige Kulturproduktion kennzeichnet, sind es, wie gesagt, jeweils die jüngsten Erfolge, an die man anzuschließen versucht. Und wenn man zusätzlich auf Muster zurückgreifen will, mit denen man die erfolgreichen Modelle variieren kann, steht einem das gesamte Archiv dafür offen. Dazu gehören dann zwar selbstverständlich auch die bekannten und geschätzten Texte der vermeintliche Klassiker, aber eben auch alles andere. Gerade auch das

|| 25 Dieter Möhn und Reinhard Goltz: Niederdeutsche Literatur seit 1945. Teilgeschichten einer Regionalliteratur. Band. 2. Hildesheim u.a. 2016, S. 613.

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lange Zeit nicht Valorisierte kann in der Wiederverwendung eine beträchtliche kulturelle Energie entfalten.

VII Was von alledem gänzlich unbeeinträchtigt bleibt, ist wie gesagt das Zitiertwerdenkönnen, jene zweite Eigenschaft des Klassikers neben seiner Modellhaftigkeit. Selbstverständlich können Klassiker jederzeit zitiert werden, und aufgrund ihres Bekanntheitsgrades, der den Erfolg der entsprechenden Kommunikation wahrscheinlicher macht, werden sie das auch ständig. Man kann geradezu umgekehrt behaupten: Was zitiert werden und dabei auf spontane Wiedererkennbarkeit setzen kann, darf in diesem Sinne als Klassiker gelten. Allerdings beruht diese Wiedererkennbarkeit eben in den allermeisten Fällen, zumindest jenseits sehr partikularer Szenen, auf seinen anfangs benannten Eigenschaften einer idée reçue. Und auch hier haben sich unter den Bedingungen der Neuen Archive die Spielregeln geändert: In Zeiten von Second Screen und auf Maustastendruck abrufbaren Archivbeständen sind Zitate nicht mehr auf unser gemeinsames, über Schule, Tradition und sonstige Sozialisation überliefertes kulturelles Wissen angewiesen, um zu funktionieren. Es ist kein Problem, über entsprechende Anspielungen, Kommentare und Hinweise Prätexte als solche auszumachen und sich diese, wenn man sie noch nicht gekannt hat, schnell anzueignen (so wie manche Leser vor einer Seite vielleicht noch nicht so genau wussten, was der Braun SK4 war, jetzt aber schon). Das gilt längst auch für solche Wissensbestände, die viele Jahrhunderte lang tatsächlich klassisches Bildungsgut waren, wie Mythen, historische Figuren oder, ja, ‚Klassiker‘.26 Dadurch werden Texte der Lust neu zugänglich, die ihren Witz früher erst nach langer Kommentararbeit preisgaben (man denke an Arno-Schmidt-Lektüren). Wenn, um mit einem Beispiel zu schließen, die beiden jugendlichen Helden in Wolfgang Herrndorfs Erfolgsroman Tschick (2010) unter freiem Himmel das Herannahen einer Gewitterfront beobachten und einer von ihnen einfach nur „Independence Day“ sagt, dann ruft er damit einen bekannten Science FictionFilm von Roland Emmerich auf (1996). Ist das ein Klassiker? Nun, es ist ein unter

|| 26 Vgl. Moritz Baßler: Junge Türken – alte Tiegel. Über zwei Arten gegenwartsliterarischer Selbstverständlichkeit. In: Neue Rundschau 126 (2015) H. 1: Gegenwartsliteratur!, S. 7–14.

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SF-Fans, wie es die beiden sind, relativ bekanntes jüngeres Werk. Beide verstehen also zuverlässig, was gemeint ist. Zugleich ruft der Text damit aber die klassische Szene aus Goethes Werther (1774) auf, in der Lotte beim Anblick einer Gewitterfront „Klopstock!“ sagt und damit ebenfalls auf ein relativ bekanntes jüngeres Werk rekurriert, das in ihrer empfindsamen Stilgemeinschaft jedem bekannt ist. Der einzige Klassiker in diesem Spiel ist zunächst Goethes Roman, nämlich für uns zeitgenössische Leser. Nur wer die Werther-Szene kennt, kann – anders als die Romanfiguren selbst – die Anspielung erkennen und das entsprechende semiotische Potenzial abrufen, das in dieser Szene steckt. Das scheint ein typischer Fall von Mehrfachadressierung: Die jugendlichen Leserinnen und Leser von Tschick können sich mit der SF-Anspielung begnügen, uns Gebildeteren wird noch eine Dimension mehr eröffnet. Aber stimmt das so? Wie gebildet sind wir denn eigentlich, wenn wir die vielleicht bekannteste intertextuelle Anspielung der deutschen Literaturgeschichte erkennen? Wo der Werther Schullektüre ist, dürfte das jedenfalls auch unter Schülern gut funktionieren. Dagegen haben womöglich nicht allzu viele ‚gebildete‘ Leserinnen das Bild aus Emmerichs Film vor Augen, auf das hier angespielt ist. Allerdings ermöglichen eine einfache Google-Bildsuche oder ein Besuch auf YouTube sehr rasch, sich jene Szene vor Augen zu führen, bei der sich ein riesiges Raumschiff wie eine Gewitterwolke über den Himmel schiebt und die Erde verdunkelt – und schon sind wir im Bild, und mehr noch, im Besitz einer Art neuen ‚Klassikers‘, der sich auf diese Weise nämlich herstellt. In Zukunft können wir bei Gewitter „Independence Day“ sagen, und alle Tschick-Leser verstehen uns. (Übrigens wäre Klopstocks Bekanntheitsgrad ohne den Werther heute wohl auch auf sehr spezielle Kreise beschränkt). Aber auch umgekehrt wird eine interessierte Leserin, die den Werther noch nicht kannte, wenn nicht direkt durch Herrndorfs Roman, so doch durch andere Leser, durch Kommentare im Netz oder spätestens durch die Lehrerin irgendwann unweigerlich auf die entsprechende Anspielung gestoßen werden, wodurch Goethes Bestseller in seinem Status bestätigt wird, sprich: der Klassiker bleibt, der er seit seinem Erscheinen war. Zumindest potentiell ebnet die Mehrfachadressierung im Zeitalter der Neuen Archive die (Macht-, Bildungs-, Kompetenz-)Gefälle zwischen den Lesern ein und ermöglicht die Teilhabe an einer Stilgemeinschaft normalisierten Spektakels und deren Freude an Gegenständen, die einst nur den Gebildeten zugänglich waren – in den guten alten Zeiten, als es noch echte Klassiker gab und man verpflichtet war, sie zu kennen.

Werner Nell

Klassiker im Maelstrom der Moderne I Spätestens seit den Übersetzungen und der Rezeption durch die Romantiker dürfte Cervantes’ Don Quijote auch in einer auf den deutschsprachigen Raum bezogenen Sichtweise zu den „Klassikern der Weltliteratur“ gehören.1 Dies können nicht nur einschlägige Sammelbände2 belegen, sondern ebenso die Aufnahme des Romans (in Tiecks Übersetzung von 1799/1801) z.B. in die Reihe „Fischer Klassik“.3 Und auch Dieter Wellershoff lässt, um nur ein Beispiel für viele zu nennen, seine 2010 erschienene einschlägige Studie „Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt“ mit einer Betrachtung zu Cervantesʼ Roman und Sternes Tristram Shandy beginnen.4 Verbreitung, Hervorhebung bzw. Etikettierung und Nutzanwendung belegen bereits hier die von den Herausgebern des vorliegenden Bandes angesprochenen Dimensionen eines zwar funktionalen und partikular zugeschnittenen, zugleich aber doch auf Generalisierung und situationsbezogene Anschließbarkeit hin angelegten Klassiker-Verständnisses, das sich sowohl von Seiten der Rezeptionsgeschichte des Don Quijote aus in einer historischen Dimension belegen lässt5 als auch seine Auszeichnungsfunktion gegenüber dem Werk und seiner Präsentation nicht zuletzt auf dem Buchmarkt aber auch als Disktinktionsmerkmal in den Feldern kulturellen und symbolischen Kapitals6 unter Beweis zu stellen vermag.

|| 1 Vgl. dazu auch die ab 28. Juli 2017 verfügbare elektronische Ausgabe bei Musaicum Books, die in der Kindle Edition bei Amazon vertrieben wird: https://www.amazon.de/DON-QUIJOTE-Gesamtausgabe-Klassiker-Weltliteratur-ebook/dp/B073H3SD83 [abgerufen am 11.1.2018]. 2 Vgl. Hans-Jörg Neuschäfer: Cervantes, Don Quijote. In: Meisterwerke der Weltliteratur von Homer bis Musil. Hg. von Reinhard Brandt. Leipzig 2001, S. 108–126. 3 Vgl. Miguel de Cervantes Saavedra: Don Quijote von La Mancha. Roman. Übersetzung von Ludwig Tieck. Frankfurt am Main 2008. 4 Dieter Wellershoff: Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt. Köln 2010, S. 13–27. 5 Vgl. dazu u.a. 400 Jahre Don Quijote. Zur Rezeption des spanischen Klassikers in Europa und in den Amerikas. Hg. von Klaus-Dieter Ertler und Sonja Maria Steckbauer. Frankfurt am Main u.a. 2007; Don Quijotes intermediale Nachleben / Don Quixote’s Intermedial Afterlives. Hg. von Ines Detmers und Wolfgang G. Müller. Trier 2010; „Poesie in reinstes Gold verwandeln…“. Cervantes’ Don Quijote in Literatur, Kunst, Musik und Philosophie. Hg. von Ute Jung-Kaiser und Annette Simonis. Hildesheim 2016. 6 Vgl. Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Soziale Ungleichheiten. Hg. von Reinhard Kreckel. Göttingen 1983, S. 183–198. https://doi.org/10.1515/9783110615760-004

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Für diese Ausnahmestelle des Don Quijote, deren Begründung und Zuordnung sowohl normative als auch historisch deskriptive bzw. situative Elemente enthält und somit gerade im Zusammenhang einer überzeitlich ausgerichteten Klassiker-Vorstellung auch partikularistische und funktionale Aspekte benennt, finden sich weitere Beispiele sowohl in der älteren als auch in der zeitgenössischen Rezeption und Literaturkritik. Gegenüber einer selbstsicheren, gleichsam an Herders „Journal von 1769“ anschließenden,7 durchaus aber auch zeitgenössisch grundierten abschätzigen Wertung der französischen „klassischen“ Literatur, die er als allzu rationalistisch, künstlich und zugleich steril beschreibt,8 hebt der Berliner Germanist und Schüler Wilhelm Scherers Richard M. Meyer (1860– 1914) in seinem erstmals 1913 erschienenen Werk zur „Weltliteratur im zwanzigsten Jahrhundert“, die er von einem deutschen Standpunkt aus betrachten möchte,9 vor allem den überhistorischen und zugleich doch lokalisierbaren10 universalgeschichtlichen Charakter des Don Quijote als erstem Roman der euro-

|| 7 Vgl. „Was hat das Jahrhundert Ludwichs würklich Originelles gehabt? […] was haben die Franzosen gethan? Nichts, als das Ding zugesetzt, was wir Geschmack nennen.“ [Hervorh. im Text W. N.] Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Katharina Mommsen. Stuttgart 2002, S. 93, ebd., S. 95: „Also ists nur eine gewisse Annäherung an die kältere gesunde Vernunft, die die Franzosen den Werken der Einbildungskraft gegeben haben: das ist Geschmack und ihr Gutes. Es ist aber auch Erkältung der Phantasie und des Affekts, die sie ihm damit haben geben müssen; und das ist ihr Geschmack im bösen Verstande…“. Was bereits Herder hier im Gewand deutsch-französischer, germanisch-romanischer Gegensätze verhandelt, ist zugleich die Gegenüberstellung eines normativ-statischen und eines funktional-partikularen Klassik-Begriffs. 8 „Nun kommt das Schlimmste. Eine neue Phase der Weltliteratur bereitet sich vor und bildet sich aus – aber Deutschland hat an ihr nur passiven Anteil, und wie dürftig ist der! Wie im Politischen, geht im geistigen Leben die Führung an die Romanen über.“ Zitiert nach: Richard M. Meyer: Die Weltliteratur im zwanzigsten Jahrhundert. Vom deutschen Standpunkt aus betrachtet. Bis zur Gegenwart fortgeführt von Paul Wiegler. Stuttgart, Berlin 21922, S. 52; vgl. auch S. 55: „Sie [die Franzosen – W. N.] erkennen die Natur an – aber sie haben zu bestimmen wie weit. Sie lieben die Bäume, die wirklichen Bäume; aber sie müssen zurechtgestutzt werden: erst der künstliche Baum ist ‚schön‘. […] erst der künstlich sich gebende Mensch wirkt schön.“ Für Meyers Orientierung an Herder vgl. u.a. ebd., S. 61 u.p. 9 „Im ganzen muß freilich zugestanden werden, daß die Weltliteratur der Gegenwart von deutschem Geiste noch weniger erfüllt ist als von französischen… Allerdings glaube ich, daß als Ganzes genommen unsere deutsche Literatur die modernste ist – mit anderen Worten, daß sie die für den gegenwärtigen Stand der Entwicklung bezeichnendsten Tendenzen am vollständigsten vertritt…“. Ebd., S. 72 [Hervorh. im Text W. N.] Auch dies ist ein durchaus funktionaler Begriff von Klassik, die freilich in einem national-chauvinistischen Diskurs aufgeladen, historische und normative Aspekte auch mit einer geschichtsphilosophischen Perspektive zusammenführt. 10 Vgl. dazu Orte und Verortung. Beiträge zu einem neuen Paradigma interdisziplinärer Forschung. Hg. von Annika Schlitte und Thomas Hünefeldt. Bielefeld 2017.

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päischen Neuzeit hervor: Zugleich weist er aber auch auf dessen zeitgeschichtlich situative und kulturspezifische Lagerung hin: [D]ie spanische Poesie in ihrer gläubigen Hingabe an das Leben, in ihrer freudigen Hingabe an die Phantasie, vermochte gerade, was der gebildeteren Kunst jenseits der Pyrenäen versagt blieb: ewige Typen zu schaffen. Sie schenkte der Welt in Don Juan das Abbild der unersättlichen Begehrlichkeit; sie gab ihr in dem ersten großen realistischen Kunstwerk der Weltliteratur jenes unsterbliche Paar, Don Quijote und Sancho Pansa, den Idealisten und den Realisten; ein Paar, von dessen genialer Symmetrie der große Roman späterer Zeit sich kaum je noch freizumachen vermochte […].11

In einer Sichtweise, die gegenläufig zum Nationalchauvinismus im Umfeld des Ersten Weltkriegs darauf zielt, die europaweit vertraute universal-europäische Sichtweise zu überschreiten, findet sich die Einstufung des 1605 und 1615 in zwei Bänden erschienenen Romans „recognized as a Western classic“ ebenso auch in dem 1997 von Kwame A. Appiah und Henry Louis Gates jr. herausgegebenen Dictionary of Global Culture.12 Anders als in einer solchen, die normative Setzung referierenden, also von sich aus deskriptiven Weise postkolonialen Zuschnitts sucht Milan Kundera in seiner Jerusalemer Rede von 1985 Cervantesʼ Werk in einer beide Dimensionen, also einer das Partikulare und Historische mit einer universalistischen Ausrichtung verbindenden Sichtweise im Kreuzpunkt des Klassikers zu verknüpfen, indem er zunächst das Universale betont: Cervantesʼ Roman nehme hier geradezu die Funktion eines Erscheinungs- und Schutzraums ein, in dem nicht nur die „kostbarste Substanz“ der europäischen Kultur, also die „Achtung vor dem Individuum, der Originalität seines Denkens und seinem Recht auf ein unantastbares Privatleben […] in der Weisheit des Romans unverlierbar aufgehoben seien“.13 Aber auch in einer partikularen Sicht nehme der Roman eine gleichsam „klassische“ Stelle ein, da im Don Quijote namentlich zugleich „die Grundsituation des nachmittelalterlichen Menschen“ Gestalt gefunden habe, in der „der Mensch nie ist, was er zu sein denkt. […] Don Quijote denkt, Sancho denkt, und nicht nur die Wahrheit der Welt, aber auch die Wahrheit ihres eigenen Ichs entgeht ihnen.“14 Hier ist es also die sehr wohl auf die vertrackte Situation einer nachmittelalterlichen, durch säkulare Fragestellungen und prinzipielle Unbestimmtheiten gegründeten Welterfahrung der

|| 11 Richard M. Meyer: Weltliteratur, S. 60. 12 The Dictionary of Global Culture. Hg. von Kwame Anthony Appiah und Henry Louis Gates Jr., New York 1997, S. 123. 13 Milan Kundera: Jerusalemer Rede: Der Roman und Europa. In: Ders.: Die Kunst des Romans. Essay. Frankfurt am Main 1989, S. 165–173, hier S. 172f. 14 Ebd., S. 166f.

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europäischen Neuzeit,15 die das Werk in eine mit dem Klassiker-Begriff verbundene normative, maßgebende und historisch entsprechend wirksame, allerdings immer wieder schwankende,16 daher dann auch immer wieder begründungsbedürftige Stellung einrückt.17

II Vor diesem Hintergrund lässt sich die Suche nach einer Bestimmung des Klassischen dem Bemühen vergleichen, einen Krug mit einer bestimmten, ggf. für wertvoll gehaltenen Substanz zu füllen, wobei im Vorgang dieser Füllung dann auch nicht nur die besondere Form des Kruges in den Vordergrund rückt, sondern im Gang der Zeiten und in der Multiperspektivität der kulturellen Zuordnungen gerade in dieser, ggf. auf Dauer angelegten Form die eigentliche Funktion und Leistung des Gefäßes (für die Aufbewahrung, den Transport und ggf. die Nutzung eines zeitbedingt und zugleich intentional für überzeitlich wertvoll gehaltenen bestimmten Gutes) sowohl erkennbar wird als auch immer wieder aufs Neue – situations-, funktions- und interessenbestimmt – zur Debatte und Disposition steht, zumal dann wenn sowohl mit der Gestaltungsform des Kruges als auch mit den vermuteten, intendierten oder erkundeten Füllungen bestimmte programmatisch-historische Erwartungen oder auch Bedarfe verbunden sind bzw. verbunden werden können.

|| 15 Vgl. Hans Blumenberg: Säkularisation und Selbstbehauptung. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit“ erster und zweiter Teil. Frankfurt am Main 1974, S. 159: „‚Selbstbehauptung‘ […] meint ein Daseinsprogramm, unter das der Mensch in einer geschichtlichen Situation seine Existenz stellt und in dem er sich vorzeichnet, wie er es mit der ihn umgebenden Wirklichkeit aufnehmen und wie er seine Möglichkeiten ergreifen will.“ 16 Wilhelm Voßkamps Ansatzpunkt: „Der Begriff ‚Klassik‘ ist dabei ein relationaler, indem er einerseits das Exemplarische und andererseits das Normative bezeichnet“ ist in dieser Hinsicht um eine weitere Dimension, die einer historischen Auslegung, zu ergänzen, die – so führen es die HerausgeberInnen des vorliegenden Bandes aus – durchaus gegenläufig zu Kanonisierungsprozessen verlaufen kann, statt lediglich in diesen ihre Bestätigung oder Absicherung zu finden. Vgl. Wilhelm Voßkamp: Normativität und Historizität europäischer Klassiken. In: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990. Hg. von Wilhelm Voßkamp. Stuttgart, Weimar 1993, S. 5–11, hier S. 5. 17 Vgl. Aleida Assmann: Kanonforschung als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Hg. von Renate von Heydebrand. Stuttgart, Weimar 1998, S. 47–59, bes. S. 48.

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Bild, Form und Funktion eines Kruges können in dieser Hinsicht ebenso wie die Funktionen und Konzeptionen des „Klassischen“ in Kunst und Literatur als Realisierungs- und Vermittlungsformen dessen gesehen werden, was Friedrich Kittler in seiner 2000 erschienenen Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft im Anschluss an Heideggers Aufsatz Das Ding von 1950 als Feld und Funktion, ja auch als Form von Kultur umrissen hat. Statt einen eigenen Kulturbegriff vorzustellen, der ja wieder an eine zuvor von Kittler bereits mehrfach vorgestellte und – z. B. von Nietzsche – destruierte ontologische Setzung anknüpfen müsste, nimmt er hier Heideggers Beschreibung eines Kruges als instruktiven Ausgangspunkt dafür, die Frage der Kultur als Gegenstand der Kulturwissenschaft zwar aufzunehmen, sie gerade aber nicht in ihrer Substanz, sondern eben im Blick auf ihre Form zu beantworten. Dazu stellt er die Erkundung dessen, was mit dem Kulturbegriff angesprochen, intendiert und zugleich eben aber immer nur umrissen und nicht in sich gefasst werden kann, als Arbeitsfeld und Aufgabe einer Kulturwissenschaft vor, die sich als Arbeit an einem Prozess historischer Erkundung, Substantialisierung und Normierung einerseits, der darauf bezogenen gegenläufigen Prozesse der Deontologisierung, Denormierung und Denormalisierung18 andererseits begreift: „Das Dinghafte des Kruges“, so zunächst Heidegger, beruht darin, daß er Gefäß ist. Wir gewahren das Fassende des Gefäßes, wenn wir den Krug füllen. […] Die Leere ist das Fassende des Gefäßes. […] Der Töpfer faßt zuerst und stets das Unfaßliche der Leere und stellt sie als das Fassende in die Gestalt des Gefäßes her. Die Leere des Krugs bestimmt jeden Griff des Herstellens. Das Dinghafte des Gefäßes beruht keineswegs im Stoff, daraus es besteht, sondern in der Leere, die es faßt.19

Kultur, so entwickelt Kittler in Auseinandersetzung mit Georg Simmel, Marcel Mauss und Jacques Derrida, dann seinen eigenen Zugang zur Bestimmung eines entsprechenden Arbeits-, Bezugs- und Legitimationsfeldes der Kulturwissenschaft weiter, lässt sich somit als ein Handlungsfeld und als ein Erscheinungsraum erkennen, auf dem gestaltete, also durch konkrete Formen bestimmte, ja zustande gekommene Sinnfiguren, Werkzeuge, Gebrauchsgegenstände und auch Artefakte als – wie immer konkret – „gestaltete Leer-Formen“20 auftreten

|| 18 Zum Vorgang der Denormalisierung und der Denormalisierungsangst vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen 52013, S. 190f. 19 Martin Heidegger: Das Ding. In: Ders.: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 21959, S. 163–181, hier S. 167. 20 „Alle Veränderungen an Form und Stoff, Gestalt oder Größe tun nichts zur Sache, solange der Krug nur die nach oben geöffnete Hülle einer Leere bleibt. […] Das Wesen des Kruges liegt jedenfalls, aller Metaphysik zum Trotz, im Abwesen namens Loch. […] Die Leere von Heideggers

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bzw. erkennbar werden. Deren jeweilige Bedeutung sowie deren jeweils deskriptiv oder auch normativ fassbarer „Gehalt“ kommen dabei sowohl durch die in diesem Feld wirkenden Kräfte als auch durch die Funktionsbestimmungen und Erwartungen der Beobachter (und ihrer Umstände), also auch in historischen und sozialen Zusammenhängen und situativen Konstellationen zustande und beanspruchen dementsprechend – auf Dauer oder Zeit, Ort oder Prozess hin angelegt – Geltung, zumindest Aufmerksamkeit.21 Im Anschluss an eine solche Sichtweise der Kultur im Ganzen könnten die Funktionsstellen, auch das Etikett „Klassik“, dann als eine bestimmte Normierungsgröße – den DIN-Vorgaben in industriellen Produktions- und Verwertungszusammenhängen vergleichbar – aufgefasst und funktional – also als Sonde und Messlatte, als Markierung und Muster ebenso wie als Ausgangspunkt und Formimpuls für Travestie und Montage, Collage und Subversion genutzt bzw. auch erkundet und erörtert werden. Ist Kultur insgesamt, so wie dies Dirk Baecker darstellt, ein „Unschärfe-Joker“,22 so ließe sich „Klassik“ als eine Spielkarte vorstellen, die als Trumpfkarte genommen, Verstärkung und ggf. Orientierung bieten kann. Freilich kann die Auszeichnung „Klassik“ auch, mit Klaus Eder gesprochen, als Instrument, ja Waffe im „polemogenen Feld“23 kultureller und anderer gesellschaftlicher Diskursfelder genutzt werden und nicht zuletzt als verkaufs- und/oder aufmerksamkeitssteigerndes Etikett in marktgesellschaftlichen Zusammenhängen.24 In einer dialektischen Weise lassen sich so – wie es oben im Zusammenhang der Referenzen auf den „Don Quijote“ bereits angesprochen wurde – die zentralen, zumindest seit 1800 maßgeblich rezipierten Inhalte bzw. auch der Gehalt eines „westlichen Klassikers“ bestimmen: Zum einen geht es um die Hingabe an die Fülle, ja Totalität des Lebens und der Phantasie, und damit verbunden, die gültige, ggf. überhistorische Anerkennung eines Werkes als maßgebliche Be-

|| Krug startet – wie schon die ‚Öffnung‘ von van Goghs Schuhen – ein ganzes Drama oder besser Skript“. Friedrich Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München 2000, S. 246. 21 Vgl. Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien 1998, S. 28–30. 22 Dirk Baecker: Art. Kultur. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. von Karlheinz Barck u.a.. Stuttgart, Weimar 2001, S. 50–556, hier S. 555. Mit diesem Begriff zitiert Baecker Rembert Hüser: Jurassic Technology. In: Autorität der/in der Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997. Bielefeld 1999, S. 357. 23 Vgl. dazu Klaus Eder: Integration durch Kultur? Das Paradox der Suche nach einer europäischen Identität. In: Kultur. Identität. Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion. Hg. von Reinhold Viehoff und Rien T. Segers. Frankfurt am Main 1999, S. 147–179, hier bes. S. 168–171. 24 Vgl. Terry Eagleton: Was ist Kultur? München 2001, S. 108f.

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schreibung einer universalen Konstellation und Situation. Zum anderen aber auch um das im Wesentlichen für das Selbstverständnis der europäischen Neuzeit gültige bzw. spezifische Zeugnis eines Entgehens, des Entgleitens einer wie immer zu begründenden „Wahrheit“ und Sicherheit des Subjekts in sich und gegenüber seiner Welt. Wenn sich in dieser Weise beide einander gegenüber stehende und in einander verschlungene Impulse bzw. Erfahrungen in einem Werk jeweils in einer einmalig gültigen Weise gestaltet finden, so scheint die Auszeichnung eines solchen Werks als „Klassiker“ vor allem als Beschreibung einer Koordinatenstelle innerhalb eines oder mehrerer einander korrelierender, vielleicht aber auch kontrastierender Bezugssysteme ihre Funktion zu haben. Die Stelle eines Klassikers zeigt sich dann als Mittel- oder auch Fluchtpunkt innerhalb eines Sehfeldes oder Fadenkreuzes, das sich je nach Perspektive und Zielrichtung entlang der vorhandenen Linien des Fixierens und Entgleitens sowohl bestimmen als auch variieren und ggf. neu positionieren (und wieder aufheben) lässt.

III Die von dem italienischen Kunst-und Althistoriker Salvatore Settis in seinem Essai zur Zukunft des Klassischen (2004) beschriebene „Bruchlinie“ zwischen „der Idee eines zeitlosen und unveränderten ‚klassischen‘ Altertums […] und der unermüdlichen Arbeit der Spezialisten, die […] seine inneren Widersprüche, seine Facetten [und] das Erbe ‚anderer‘ Kulturen“ kennen,25 ließe sich damit als Umriss eines Arbeitsfeldes bestimmen, dessen Kraftlinien, Ordnungsimpulse und auch Verwerfungen als oszillierend zwischen den beiden Polen eines überzeitlich ausgerichteten Normierungsanspruchs und einer zeitlich ebenso wie sozial und situationsbezogen relativierten und relationierenden Deskription zu beschreiben wären. Dies entspricht einem hier auch im Übrigen zur Diskussion und Weiterarbeit angebotenen funktionalen, sicherlich immer auch historisch zu relativierenden und partikularen „Klassik“-Begriff, der sich seiner Funktion nach dann mit Lichtenberg auch als „Hebewerkzeug“ (Paradigma)26 bestimmen ließe.

|| 25 Salvatore Settis: Die Zukunft des Klassischen. Eine Idee im Wandel der Zeiten. Berlin 2004, S. 92. 26 „Ich glaube unter allen heuristischen Hebezeugen ist keins fruchtbarer, als das, was ich PARADIGMATA genannt habe.“ Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher II. Materialhefte. Tagebücher. Band II. Hg. von Wolfgang Promies. München, Wien 1971, S. 455 (K 312).

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Sowohl anthropologisch-universalistisch gewendet als auch historisch, sozial und geographisch in räumlich-zeitlichen Koordinaten konkret verortet, wird an den angesprochenen Verwendungsweisen und historisch-literarischen Beispielen schon erkennbar, dass es sich bei der Bestimmung bzw. Auszeichnung eines Werkes oder Autors als eines Klassikers weniger um die Beschreibung einer konkreten Fülle, Autorität, Norm, Gestalt oder Substanz handelt als vielmehr auch um die Bezugnahme und Ausrichtung dieser Größen auf eine Leerstelle, deren Funktion für den kulturellen und literaturwissenschaftlichen Diskurs wohl eher in ihrer Möglichkeit als Bezugspunkt bzw. Orientierungsgröße, ggf. auch Diskussionsstelle und Diskursanlass, zu sehen ist als in einer gleichsam überzeitlichen und zugleich universal auszurichtenden normativen Feststellung und ggf. Reihung.27 „Schließlich“, so die Herausgeber Jost Hermand und Reinhold Grimm im Vorwort zu ihrer seinerzeit viel diskutierten Sammlung von Beiträgen zur Klassik-Legende, ist seit hundertfünfzig Jahren den nobelsten Geistern wie den trivialsten Spießern eine geradezu unübersehbare Fülle an Klassik-Vorstellungen eingefallen, die oft nur den Begriff miteinander gemeinsam haben. Da gibt es wellenartig angeordnete Blütezeitentheorien, geistesgeschichtliche Beweihräucherungen, marxistische Dogmatisierungen, chauvinistische Verherrlichungen […], komparatistische Klassizismus-Spekulationen, Verklärungen ins Religiöse, geschichtsphilosophische Hypostasierungen, erste Versuche einer dialektischen Aneignung […] und vieles mehr […] Dazu kommen die vielen historischen Wandlungen.28

IV Es sind freilich nicht nur Moden und Interessen, Ideologien oder historische Wechselfälle, die sich in diesen unterschiedlichen Versuchen finden lassen, ein für alle Mal oder zumindest unter aktuellen Bedingungen jeweils „gültig“ eine Norm und entsprechend repräsentative Beispiele bzw. Formen ihrer Gestaltung zu finden. Vielmehr zeigt sich gerade in deren vielfach beklagter bzw. als krisenhaft eingestufter Vielfalt, Relativität und auch Historizität eine Welt im Fluss und „aus den Fugen“, allerdings nicht so sehr im Modus der Klage oder einer älteren

|| 27 Vgl. dazu die Beiträge zur älteren Forschungsdiskussion; Halbach, Curtius, Reinhardt, Korff und Strich in: Begriffsbestimmung der Klassik und des Klassischen. Hg. von Heinz Otto Burger. Darmstadt 1972. 28 Die Klassik-Legende. Second Wisconsin Workshop. Hg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Frankfurt am Main 1971, S. 8.

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auf das Ganze zielenden Kulturkritik,29 sondern eher in jenem Verständnis, in dem der US-amerikanische Kulturtheoretiker und Stadtforscher Marshall Berman (1940-2013) die Moderne als eine Welt der Widersprüche, des Situativen und des Unbeständigen beschrieben hat. Marxʼ revolutionär intendierte Zeitdiagnose von 1848 Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.30

wird mit der englischsprachigen Formulierung des Kommunistischen Manifests: „All that is solid melts into air“ von Berman zu einer die Moderne im Ganzen, also auch die sozialistische Moderne mit umfassenden Bestandsaufnahme des Lebens in den zeitgenössischen Industriegesellschaften seit dem 19. Jahrhundert ausgeweitet. Bermans Diagnose zufolge wird die damit angesprochene Epoche von dem Versuch der Menschen bestimmt, „to become subjects as well as objects of modernization, to get a grip on the modern world and make themselves at home in it“31. Neben einem umfassenden Stadt-Porträt Sankt Petersburgs als eines Laboratoriums der Moderne, wie dies Karl Schlögel offensichtlich ohne Bezug auf Bermans erstmals 1982 erschienene Studie im Untertitel seines Buches „Jenseits des Großen Oktober“ angesprochen hat,32 entwirft Berman sein Panorama der Moderne vor allem an literarischen Texten der europäischen Klassik und einer inzwischen „klassischen“ Moderne: Goethes Faust wird dazu ebenso herangezogen wie Baudelaires poetisches und kritisches Werk und nicht zuletzt mit Fedor M. Dostoevskijs 1864 erschienenen Aufzeichnungen aus dem Kellerloch ein weiterer „Klassiker“ der modernen Literatur.33 Dessen ebenso existentialontologische wie pathogene und zugleich fortschrittskritische Formel:

|| 29 Vgl. „Kulturkritik hat es heute schwerer als früher. […] Statt kulturkritischer Universalkritik produziert dies eine ubiquitäre Partialkritik.“ Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders. München 2007, S. 273. 30 Karl Marx: Die Frühschriften. Hg. von Siegfried Landshut. Stuttgart 1971, S. 529. 31 Marshall Berman: All That is Solid Melts Into Air. The Experience of Modernity. New York, Toronto 1988, S. 6. 32 Vgl. Karl Schlögel: Jenseits des Großen Oktober. Das Laboratorium der Moderne: Petersburg 1909–1921. Berlin 1988. 33 Vgl. Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur. München 2000, S. 373.

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Der Mensch ist ein vornehmlich schaffendes Tier, vorbestimmt zu einer bewußten Zielstrebigkeit und zum Ingenieurwesen, das heißt vorbestimmt, sich ewig und ununterbrochen einen Weg zu bahnen, wohin er auch führen mag34

bietet nicht nur für Berman den Grundton seines Moderne-Entwurfs,35 sondern im Besonderen – und gegen Dostoevskijs pessimistisch-sarkastische, ja destruktive Deutung der menschlichen Ambivalenz und Destruktivität36 – eine grundlegende Offenheit und damit auch Produktivität menschlichen Gestaltungswillens, in denen Berman den Grundzug eines Lebens in der Moderne erkennen möchte: To be modern is to live a life of paradox and contradiction. […] It is to be both revolutionary and conservative: alive to new possibilities for experience and adventure, frightened by the nihilistic depth to which so many modern adventures lead, longing to create and hold on to something real even as everything melts.37

Es sind dabei zumindest drei Aspekte, die Berman im Rückbezug auf Dostoevskij und Goethe, Marx und Baudelaire aus der kritischen Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts aufnimmt, dann aber in einer jeweils bezeichnenden und ggf. auch für eine Diskussion um Klassik und Klassiker nützlichen Weise öffnet bzw. auflöst: Zum einen handelt es sich um die bei Marx angesprochene Fixierung auf einen Punkt des Übergangs in einer zwar dialektisch ausgelegten, aber zugleich doch insgesamt linear ausgerichteten Entwicklungslinie, die sich auf festen Grundlagen aufruhend oder diese zumindest postulierend, auf das Ziel einer Überwindung von klassengesellschaftlichen, aber auch anderen gleichsam „natürlichen“ Restriktionen in einem auf Fortschritt hin angelegten geschichtlichen Prozess ausgerichtet findet. Offenheit, ja Emanzipation würden damit zu Merkmalen eines Klassik-Verständnisses, ggf. auch -Maßstabs, zumindest im Blick auf jene große Erzählung der Moderne,38 die sich auf Freiheit und sozialen Fortschritt richtet. Während im Anschluss daran, dann die Ansatzpunkte und Perspektiven

|| 34 F. M. Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. In: Ders.: Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke. Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Aus dem Tagebuch eines Schriftstellers. Übers. von Svetlana Geier und Alexander Eliasberg. Hamburg 1962, S. 93. 35 Vgl. Marshall Berman: Modernity, S. 6 u.p. 36 „Der Mensch liebt zu wirken und Wege zu bahnen […]. Aber warum liebt er bis zur Leidenschaft auch die Zerstörung und das Chaos? […] Liebt er, vielleicht, Zerstörung und Chaos deswegen so über alle Maßen […], weil er sich instinktiv fürchtet, ans Ziel zu gelangen und das zu errichtende Gebäude zu vollenden? […] vielleicht liebte er es nur zu errichten, in ihm zu wohnen aber überläßt er später aux animaux domestiques“. F. M. Dostojewskij: Aufzeichnungen, S. 93. 37 Marshall Berman: Modernity, S. 13f. 38 Vgl. dazu Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. von Peter Engelmann. Wien 1986, S. 117f.

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einer „sozialistischen“ Überwindung der bürgerlichen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts auch nur in einen anderen „Käfig“ der Industriemoderne führten, beharrt Berman auch auf der Unabgeschlossenheit und damit Unabsehbarkeit einer Entwicklung, die darin besteht, immer wieder aufs Neue Bestehendes umzustürzen, feste Normvorgaben in Frage zu stellen und Widersprüche sowohl auszuarbeiten als auch auszuhalten. It is a voice that knows pain and dread, but believes in its power to come through. Grave danger is everywhere, and may strike at any moment, but not even the deepest wounds can stop the flow and overflow of its energy. It is ironic and contradictory, polyphonic and dialectical, denouncing modern life in the name of values that modernity itself has created, hoping – often against hope – that the modernities of tomorrow will heal the wounds that wreck the modern men and women of today.39

Klassik, in diesem Rahmen betrachtet, würde so als Bezeichnung einer Kraftquelle zu sehen sein, deren Produktivität ebenso erkennbar ist wie sie zu weitergehenden Erkenntnis- und Erfahrungsmöglichkeiten Anlass bietet. Zum Zweiten spricht die von Marx angesprochene, für den Fortschritt im Sinne des 19. (und wohl auch noch weitgehend des 20.) Jahrhunderts maßgebliche Bezugsgröße des Realismus („nüchterne Augen“) offensichtlich nur eine Seite der menschlichen Vorstellungsvermögen gegenüber der Welt (und gegenüber sich selber) an. In einem aufklärerischen Sinne häufig als IdeologieProblem angesprochen, handelt es sich aber auch um die die Macht der Phantasie, der Empfindungen und der Begehrungsvermögen ansprechende Seite der menschlichen Bezugnahmen auf die Welt und deren Ausgestaltung zu und in einer bestimmten Form sozialer, kultureller und eben auch symbolischer Imaginationen.40 Dagegen zielt Berman darauf, die im Anschluss an Goethe über Baudelaire bis zu den Avantgardebewegungen nach der Jahrhundertwende 1900 ausgezogene Linie dazu heranzuziehen, um die Kreativität und Produktivität menschlicher Selbstbestimmung und Selbstausbeutung unter den Bedingungen der Moderne gleichermaßen anzusprechen. „… there are“, so erläutert er anhand Mephistos Reise-Initiative: „wenn ich sechs Hengste zahlen kann / sind ihre Kräfte nicht die meine? / Ich renne zu und bin ein rechter Mann / als hätt’ ich

|| 39 Marshall Berman: Modernity, S. 23. 40 Vgl. dazu Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt am Main 1984, S. 579–587; Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main 1991, S. 19–23, S. 350–377.

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vierundzwanzig Beine. / Drum frisch! Laß alles Sinnen sein / und grad’ mit in die Welt hinein“ (V. 1824-1829),41 several Mephistolean themes here that go beyond the scope of capitalist economy. First, the idea […] that man’s body and mind, and all their capacities, are there to be used, either as tools for immediate application or as resources for long-range development. Body and soul are to be exploited for maximum return – not, however, in money, but in experience, intensity, felt life, action, creativity. […] We have here an emerging economy of self-development that can transform even the most shattering human loss into a source of psychic gain and growth.42

Schließlich wäre zum Dritten darauf hinzuweisen, dass, anders als dies der religionskritische Positivismus des 19. und auch noch der innerweltlich ausgerichtete Alltagsmaterialismus des 20. Jahrhunderts erwartet, der Glanz und die Funktion eines Heiligen in der Welt der Moderne keineswegs obsolet geworden, gleichwohl aufs Neue zur Disposition gestellt sind und ggf. zu einer ritualisierten, aber auch ästhetischen Gestaltung43 – auch unter normativen Erwartungen und Vorgaben, die ihrerseits historisch und situativ zustande gekommen bzw. gelagert sind – anstehen. Berman spricht dies nur sehr verhalten an, wenn er darauf hinweist, dass es den Menschen auch unter den Bedingungen der Moderne noch immer darum geht, sich in der Welt einzurichten, eine Heimstatt zu finden: I tried to open up a perspective that will reveal all sorts of cultural and political movements as part of one process: modern men and women asserting their dignity in the present – even a wretched and oppressive present – and their right to control their future; striving to make a place for themselves in the modern world, a place where they can feel at home.44

Nicht nur einzelne Werke der Kunst bieten sich hierfür an. Vielmehr haftet dem Klassik-Begriff und -Verständnis neben formal und historisch, v.a. dann auch geschichtsphilosophisch hervorgehobener Normativität und Idealität auch gerade in den älteren Diskussionsbeiträgen immer auch schon eine religiöse, ggf. theo-

|| 41 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust. Hg. und kommentiert von Erich Trunz. München 1986, S. 60. 42 Marshall Berman: Modernity, S. 49. 43 Vgl. dazu für viele Hans-Georg Soeffner: Wiederbelebungsversuche am erstarrten ‚sakralen‘ Raum. In: Ders.: Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen. Weilerswist 2000, S. 144–150. 44 Marshall Berman: Modernity, S. 11.

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logisch fundierte heilsgeschichtliche Komponente an,45 die sich sowohl in einem normativen und exemplarischen als auch in einem deskriptiv-historischen Sinn als Bezugsgröße, Projektionsfläche und Versuchsfeld und als Orientierung an einem als „klassisch“ eingestuften Werk oder einer entsprechenden Epoche als Norm und Form für die Gestaltung von Subjekten auslegen lässt.46 Denn auch für jene unter den Bedingungen der Moderne47 zwischen Immanenz und (Selbst-)Transzendenz, zwischen Sein und Schein, Wahn und Sinnorientierung, Festlegungs- und Mobilisierungsintentionen hin und her geworfenen Einzelnen bietet sich zumal in den Zusammenhängen normativ und historisch ausgefalteter und zugleich begründeter Bildungsgeschichten48 der Rückbezug auf eine Vorstellung und Konzeptualisierung von „Klassik“ immer auch noch als eine Form der Selbstbestimmung und Orientierung an. In ihren einzelnen Werken ebenso wie in ihren Strömungen und Stilen steht diese freilich immer auch in einem merkwürdigen Kontrast, zumal aber natürlich auch in einem Korrelations-, ja Kompensationsverhältnis zu den normativen, gehaltvoll Wert setzenden und auf zeitunabhängige Geltung ausgehenden Merkmalen dessen, was sich seit dem 17. Jahrhundert – in einem modernen Sinn49 – als KlassikProgramm, – Anspruch und ggf. –Modell konstituiert und entsprechend

|| 45 Vgl. dazu Kurt Herbert Halbach: Zu Begriff und Wesen der Klassik. In: Begriffsbestimmung, S. 1–16, hier S. 14f.; Gunter Scholtz: Die theologischen Probleme des Klassik-Begriffs. In: Über das Klassische. Hg. von Rudolf Bockholdt. Frankfurt am Main 1987, S. 11–35, bes. S. 21f. 46 Und zwar in allen drei Dimensionen, die Axel Honneth für die Selbstbestimmung und das Selbstwertgefühl von Menschen unter den Bedingungen der Moderne ausgearbeitet hat: Selbstbewusstsein (durch die Erfahrung von Liebe), Selbstachtung (durch die Erfahrung, ein Subjekt mit Rechten zu sein) und Selbstschätzung (Erfahrung etwas zu können, was auch von anderen benötigt und entsprechend geschätzt wird); vgl. Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main 1992, S. 46 und S. 211. 47 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Art. Modern, Modernität, Moderne. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 4. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Stuttgart 1978, S. 93–131, bes. S. 126–130. 48 Dies wäre natürlich Nationalitäten bezogen spezifisch auszuführen; für Deutschland vgl. Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee. Frankfurt am Main, New York, Paris 1993; Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt am Main 1994, bes. Kap. III.1; zu den älteren europäischen, also die nationalen Entwicklungen übergreifenden Voraussetzungen vgl. ebd., Kap. II.1. 49 „Brauchbarkeit“, so Martin Walser, „ist der einzige Maßstab, den ich begreife.“ Vgl. Martin Walser: Was ist ein Klassiker? In: Warum Klassiker? Ein Almanach zur Eröffnung der Bibliothek deutscher Klassiker. Hg. von Gottfried Honnefelder. Frankfurt am Main 1985, S. 3–10, hier S. 4.

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bestimmt worden ist.50 Nicht zuletzt ist das Klassische selbst als Gestaltungs-, Reflexions- und Projektionsfläche einer Welt in Bewegung, in Übergängen und in Rückbezügen auf die Erfahrungen und Voraussetzungen anderer Welten in Bewegung anzusehen. Mit George Steiner lässt es sich, lassen sich auch die Klassiker im Einzelnen bis heute,51 als Erfahrungsfelder und Sinngebilde der Erfahrung einer „anderen Welt“, ggf. auch eines ganz Anderen,52 bestimmen, seien dies nun die Bereiche räumlicher, zeitlicher oder sozialer Alterität,53 die Modellierung von Gegenwelten oder aber solche Bild- und Erfahrungsräume einer über den innerweltlichen Horizont hinausreichenden Transzendenz, wie sie jüngst von Charles Taylor oder Hans Joas auch zum Gegenstand sozialphilosophischer und soziologischer Reflexion gemacht wurden.54

V Damit lässt sich noch einmal zu Don Quijote und zu dessen durchaus normativ bestimmten und mit Geltungs- und Orientierungsansprüchen ausgestatteten Zeitumständen des „siglo de oro“ zurückkehren. So hatte bereits Frank Baasner in seinem Beitrag zum DFG-Symposion Klassik im Vergleich von 1990 darauf hingewiesen, dass sich unter diesem Etikett „völlig disparate ästhetische Erscheinungen“ versteckten, die nicht nur in sich widersprüchlich sind, sondern als entgegengesetzte Modelle von Literatur Konkurrenzcharakter hatten: ein universalistisch an den unveränderlichen Regeln antiker (und in der Moderne: italienischer) Kunst orientiertes Modell steht gegen (oder zu-

|| 50 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Art. Klassisch/Klassik/Klassizismus. In: Ästhetische Grundbegriffe, S. 289–305, hier S. 299f. 51 Hinzuweisen ist bspw. auf die aktuelle Aufführung von Shakespeare-Stücken in Flüchtlingslagern, auch die Aktualisierung Shakespeares als „Terror-Experten“; vgl. Der Spiegel Nr 17. (23.4.2016). 52 Vgl. George Steiner: Von realer Gegenwart. In: Ders.: Der Garten des Archimedes. Essays. München, Wien 1997, S. 37–65, hier S. 59–65. 53 Vgl. das diesbezügliche Schema in Werner Nell: Reflexionen und Konstruktionen des Fremden in der europäischen Literatur. Literarische und sozialwissenschaftliche Studien zu einer interkulturellen Hermeneutik. St. Augustin 2001, S. 27. 54 Vgl. Charles Taylor: Die Formen des Religiösen in der Gegenwart. Frankfurt am Main 2002, S. 98f.; Hans Joas: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Freiburg, Basel, Wien 2004, S. 60f. und S. 64–77.

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mindest deutlich neben) aus nationaler Geschichte, Sprach- und Verskunst sich herleitende Vorbilder.55

Sind es an dieser Stelle nur zwei durchaus noch thetisch gegeneinander zu setzende Bestimmungsgrößen: Ewigkeit gegen Zeitlichkeit, abstrakte Normierung gegen konkrete Gegebenheit, Regelhaftigkeit gegen Geschichtlichkeit usw., so sind es, auch dies lässt sich bereits am Don Quijote selbst zeigen, im weiteren Verlauf der Jahrhunderte bis zum heutigen Zeitpunkt weitergehende Pluralisierungen und Dynamisierungen, die nicht nur die Frage nach einer funktionalen Steuerungsgröße des „Klassischen“ auf den Plan rufen, sondern selbst zu Bestimmungselementen, Herausforderungen und Strukturaufgaben im Blick auf den Begriff und die Bezugsgröße einer Vorstellung von Klassik unter jeweils konkreten historischen und sozialen Bedingungen werden. Es mag dabei, so hat es auch schon Baasner gemacht, sinnvoll sein, die jeweiligen historischen Umstände und die in diesen Zusammenhängen in Erscheinung tretenden Akteure genauer anzuschauen, um entsprechende Disparitäten, Varianten und auch Gegenläufigkeiten im Blick auf ein jeweils situatives KlassikVerständnis, eine Funktion des Klassischen und eine damit ggf. zu verbindende Orientierungslinie zu bestimmen. Ja, ist es nicht grundsätzlich so, dass das dem „Klassischen“, den Klassikern, im geläufigen Sinne zugeschriebene Überzeitliche und Beständige weniger als eine Eigenschaft gesehen werden kann, die von Texten, Gestalten oder Formen alleine ausgeht als vielmehr einen Erwartungshorizont spiegelt, der gerade in seinen immer wieder aufs Neue auftretenden Aktualisierungen niemals eine reine, feste Norm, sondern immer wieder nur erneut eine weitergehende, historisch konkrete Aufladung und Anreicherung, damit auch Veränderung und ggf. natürlich auch Verwischung und Vernachlässigung bestimmter (anderer) Sinngehalte mit sich bringt, so wie dies Salvatore Settis für die diversen Konjunkturen der antiken Klassik seit der Antike (und erst recht in der Neuzeit) beschrieben hat? Man kann sogar die Hypothese aufstellen, dass sein hartnäckiges periodisches Wiederaufblühen das ‚klassische‘ Altertum bei jeder Wiedergeburt noch mehr zu einer Mischkultur hat werden lassen, da es immer neuen Einflüssen ausgesetzt war, da es immer neuen kulturellen Situationen als Modell und Bezugspunkt diente. Da es tatsächlich zum Wesen des ‚klassischen‘ Altertums gehört, zutiefst hybrid zu sein und substantiell offen für immer neue Aufpfropfungen, hat dies seine wiederholten Wiedergeburten begünstigt, wenn nicht gar verursacht und zur zyklischen ‚Wiederkehr der antiken Götter‘ geführt. Allerdings kamen sie eher in [einem, W. N.] unreinen Gewand daher […]. Das Wesen des ‚Klassischen‘ als

|| 55 Frank Baasner: Das Siglo de oro in der spanischen Literaturgeschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Klassik im Vergleich, S. 212–231, hier S. 212.

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Ergebnis von Austausch und Vermischung von Kulturen und die ‚rhythmische Form‘ seiner dauernden Wiedergeburt sind demnach zwei Seiten ein und derselben Medaille.56

Auch der Beitrag von Horst Turk geht in dem oben bereits angesprochenen DFGSammelband dem Spannungsverhältnis von Klassik-Konzepten und Selbstverortungen der Moderne – im Spiegel darauf bezogener Texte und Autoren – mit der Frage nach,57 wie ein mit dem Klassik-Begriff verbundener normativer Anspruch sich mit dem Umstand verbinden lässt, dass sich die Moderne als offenes, unabgeschlossenes und (ggf. hoffentlich) unabschließbares Projektionsfeld bestimmen lässt. Statt mich aber an dieser Stelle auf die von Turk aufgemachte Auseinandersetzung mit den Denkfiguren Foucaults einzulassen,58 möchte ich abschließend noch einmal auf die geschilderte Welt in den Anfängen des klassischen Romans der Moderne bei Don Quijote zurückkommen. Im berühmten, u.a. von Thomas Mann als „sehr fesselnd und bedeutend“59 hervorgehobenen Kapitel 54 des zweiten Teils des „Don Quijote“ trifft Sancho Pansa auf der Suche nach seinem Herrn auf als Bettler verkleidete Morisken, also auf zum Christentum zwangskonvertierte, gleichwohl dann doch aus dem Land gewiesene Muslime, deren Heimweh allerdings so groß ist, dass sie es wagen, verkleidet und unerkannt erneut die (alte) Heimat aufzusuchen; ursprünglich stammen sie aus Sancho Pansas Dorf, waren dort seine Nachbarn. „Das Kapitel“, so Thomas Manns Eintrag auf seiner Schiffsreise in die USA am 26. Mai 1934, ist eine kluge Mischung von Loyalitätsbezeigungen, von Kundgebungen der strengen Christkatholizität des Verfassers, seiner untadeligen Untertänigkeit vor dem großen Philipp III. – und dem lebendigsten menschlichen Mitgefühl für das furchtbare Schicksal der maurischen Nation, die, vom Bannbefehl des Königs getroffen, ohne jede Rücksicht auf individuelles Leid der – vermeintlichen – Staatsräson geopfert und ins Elend getrieben wird.60

Wie aber lassen sich, eine Frage, die Thomas Mann 1934 bereits noch (und wieder) ebenso interessieren muss wie sie uns heute berührt,61 unter den Bedingun|| 56 Salvatore Settis: Zukunft, S. 97. 57 Vgl. Horst Turk: Vom Klassischen Altertum zu den Klassikern der Moderne. In: Klassik im Vergleich, S. 466–492. 58 Für Diskussion und Kritik sei auf die dem Beitrag von Turk vorangehenden Bemerkungen Rainer Warnings hingewiesen; vgl. Rainer Warning: Zur Archäologie von Klassiken. In: Ebd., S. 446–465, bes. S. 459–461. 59 Thomas Mann: Meerfahrt mit ‚Don Quijote‘. In: Thomas Mann: Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie 2. Frankfurt am Main 1960, S. 168–208, hier S. 197. 60 Ebd. 61 Vgl. dazu Julia Schulze Wessel: Grenzfiguren. Zur politischen Theorie des Flüchtlings. Bielefeld 2017, S. 9–12.

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gen von Zensur und Verfolgung überhaupt menschliches Leid, Mitgefühl und ggf. Parteinahme zugunsten von Flüchtlingen und Verfolgten äußern und legitimieren? „[I]ch vermute“, so noch einmal Thomas Mann, „es ist immer empfunden worden, daß das erstere politisches Mittel zum zweiten war und die Aufrichtigkeit des Dichters so recht erst beim zweiten beginnt.“62 Das lässt sich auch, je nach Übersetzung ein bisschen anders gestaltet,63 in Cervantesʼ Text selbst lesen, wenn Ricote, der Sprecher der Flüchtlinge, sich an Sancho wendet: „Wie ist es möglich, daß du, Sancho, Bruderherz, deinen Nachbarn Ricote, den Morisken, nicht erkennst, den Krämer aus deinem Dorfe?“64 um dann seine Entschließung zur Flucht zu schildern: Wohl weißt du […], wie die Verlautbarung und die Ankündigung, die seine Majestät gegen die Leute meines Volkes erlassen hat, unter uns Furcht und Schrecken verbreitete. Mich wenigstens versetzte sie in solchen Schrecken, dass es mir schien, als wäre an mir und meinen Angehörigen schon lange vor der Frist, die man uns gewährt, damit wir Spanien verließen, die angedrohte Strafe in aller Strenge vollstreckt worden. […] ich beschloß also darum, meiner Meinung nach wie ein vorsorglicher Mensch, wie einer, der weiß, daß man ihm zu einer bestimmten Zeit das Haus wegnehmen wird, in dem er lebt, und sich nach einem anderen umsieht, in das er übersiedeln könnte, ich beschloß also […] allein und ohne meine Familie den Ort zu verlassen und mich nach einer Stätte umzusehen, an die ich meine Lieben in aller Bequemlichkeit und ohne die Hast, mit der die übrigen dann das Land verließen, hätte bringen können….65

Es ist nicht nur die Plausibilisierung des Familiennachzuges, der auch heute wieder zur Debatte steht,66 sondern die Stimme eines einzelnen Menschen selbst, die hier – gleichsam Zeiten und Räume übergreifend – zu hören ist und offensichtlich anrühren kann, den Gesprächsbeitrag von 1615 zu einem ebenso aktuellen wie klassischen Text macht. In einer Würdigung zu Cervantes’ 400. Todestag am 23. April 2016 wurde dessen Aktualität in der Berliner taz (tageszeitung) so kommentiert:

|| 62 Thomas Mann: Meerfahrt, S. 197. 63 Vgl. Miguel de Cervantes Saavedra: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha. Übersetzt von Ludwig Braunfels. München 1979 (zuerst 1883), S. 959–967; Miguel de Cervantes Saavedra: Don Quijote de la Mancha. Erster und zweiter Teil. Hg. und übersetzt von Anton M. Rothbauer. Stuttgart 1964, S. 1135–1145. 64 Cervantes: Don Quijote. Übers. Rothbauer, S. 1137. 65 Ebd., S. 1139f. 66 Ina Ruck und Parniean Soufiani: Union und SPD zum Familiennachzug. „Integration wird erschwert“. In: tagesschau.de: http://www.tagesschau.de/inland/analyse-migrationspolitik101.html [abgerufen am 12.1.2018].

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Die Wiederbegegnung ist bewegend, weil Ricote nach wie vor an Spanien hängt und das ehemalige Zusammenleben der verschiedenen Kulturen dem Leser nun wie ein fernes Glück erscheint. Die Pilger laden Sancho zu einem Mahl unter freiem Himmel ein, der Einheimische und die Fremden verbrüdern sich; sie sind compañeros im etymologischen Wortsinn: Sie teilen untereinander das Brot. Zum Schluss brechen sie in unterschiedliche Richtungen auf, aber der Dichter hat noch einmal die Utopie einer Völkerverständigung aufblitzen lassen.67

Migranten treffen auf fahrende Ritter und Knappen. Dass es sich um das Kapitel handelt, das auf die Schilderung von Sancho Pansas gescheiterter Statthalterschaft folgt und in diesem Sinne auch die mit der Neuzeit einsetzende Territorialpolitik, den Beginn der von Foucault so benannten Jahrhunderte der „großen Einschließung“68 markiert und deren Folgen zugleich in Frage stellt, sei hier nur am Rande erwähnt, rückt aber das Thema der Zugehörigkeit, auch des „at home“Seins bzw. Seinwollens unter den Bedingungen einer „fluiden Moderne“69, in der „alles Feste dabei ist, einem Prozesses immerwährender Auflösung zu unterliegen“ (M. Berman) immer wieder erneut und aktuell ins Zentrum. Cervantesʼ Schrift hat freilich nicht nur deshalb die Stellung eines „Klassikers“, weil sie diesen Prozess der Stabilisierung, Verhärtung und Festigung von Macht dokumentiert (auch bezeugt), sondern auch, weil sie einem Gegendiskurs Raum, den dem Normbildungsprozess Unterworfenen eine eigene Stimme gibt. Kann die Rührung, ist das aktuelle Sich-konfrontieren lassen – Thomas Mann nennt „die Sachlichkeit und Mäßigung, die der Autor dem Denken des schwer Getroffenen verleiht“, „bewundernswert“70, – von dieser Ansprache des Ricote und von Cervantesʼ Textstelle ein Grund dafür sein, diesen Text „klassisch“ zu nennen? Nehmen wir J. M. Coetzees Bestimmung auf: „Das Klassische definiert sich dadurch, dass es überlebt. Deshalb gehört das Infragestellen des

|| 67 Eberhard Geisler: Was von Miguel de Cervantes bleibt. In: taz (23.4.2016): http://www. taz.de/!5294847/ [abgerufen am 9.5.2016]. 68 In merkwürdiger Weise von Foucault mit dem „âge classique“ in Frankreich verbunden und auf Europa ausstrahlend; vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main 1969, S. 76f.: „Die Zeit der französischen Klassik hat die Internierung erfunden. […] Auch die keinesfalls harmlose Geste des Internierens hat politische, soziale, religiöse, wirtschaftliche und moralische Bedeutungen, die sicherlich bestimmte wesentliche des gesamten Lebens in der französischen Klassik betreffen.“ 69 Vgl. Zygmunt Bauman: Making and Unmaking of Strangers. Fremde in der Postmodernen Gesellschaft. In: Widersprüche des Multikulturalismus. Hg. von Christiane Harzig und Nora Räthzel. Berlin 1995, S. 5–25; Ders.: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg 2005, S. 51–67. 70 Thomas Mann: Meerfahrt, S. 197.

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Klassischen, wie feindselig auch immer, notwendig zur Geschichte des Klassischen und muss sogar begrüßet werden“71, so heißt die Antwort „ja!“ „Was die schlimmste Barbarei übersteht“, – Coetzee nimmt hier einen Gedanken Zbigniew Herberts auf – „deshalb übersteht, weil Generationen von Menschen es sich einfach nicht leisten können, es aufzugeben, und daher um jeden Preis an ihm festhalten – das ist das Klassische“.72 Nicht also ist das Klassische eine normative Setzung vor aller Erfahrung, sondern in seinen deskriptiven, funktionalen Dimensionen Ergebnis eines situativen und historischen Lernens aus Erfahrung, Schlüssel und Hilfsmittel zur Erkundung und Gestaltung eines Lebens unter den Bedingungen einer die Moderne im Ganzen charakterisierenden dauerhaften Unruhe und nicht zuletzt weiterhin bestehender und zugleich auch unter den Zumutungen der Moderne dann doch immer wieder auch auszugestaltender Heimatlosigkeit.73

|| 71 J. M. Coetzee: Was ist ein Klassiker? In: Ders.: Was ist ein Klassiker? Essays. Übers. Von Reinhild Böhnke. Frankfurt am Main 2001, S. 11–30, hier S. 29. 72 Ebd. 73 Vgl. Werner Nell: Heimat ohne Baldachin – Zumutungen der Moderne. In: Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit. Hg. von Magdalena Marszałek, Werner Nell und Marc Weiland. Bielefeld 2018, S. 357–390.

Daniel Fulda

Klassiker – eine merkmalsunabhängige Wertzuschreibung Zur Etablierung des Prädikats „deutsche Klassiker“ auf dem Buchmarkt um 1800 und seinem Fortleben in der Gegenwart

1 Klassiker heute 1.1 Der konstruktivistische Klassikerbegriff und seine blinden Flecken Klassiker – ‚klassische‘ Autoren, ‚klassische‘ Werke sowie andere ‚klassische‘ Produkte und Phänomene – werden ‚gemacht‘, nämlich von denen, die sie als solche anerkennen. Wer oder was ein Klassiker ist, lässt sich nicht an Qualitäten der Person oder der Sache als solcher erkennen, sondern ergibt aus der diskursiven Zuschreibung des Klassikerstatus. Diese Konstruiertheit betont die literaturwissenschaftliche Forschung (mit sehr wenigen Ausnahmen1) seit Jahrzehnten zu Recht. Stichhaltig ist der Hinweis auf die diskursive Verfertigung alles ‚Klassischen‘ freilich nur gegenüber der früher beliebten Frage nach dem ‚Wesen des Klassischen‘ sowie gegenüber den Autoritätsansprüchen, die mit dem Bezug auf Klassiker gerne verbunden werden. Diskurstheoretisch betrachtet, fehlt dem bloßen Konstruktivitätsbefund die Pointe, denn klassifizierende oder evaluierende Begriffe sind immer ‚nur‘ Zuschreibungen: Sie richten sich nach dem jeweils vorhandenen sprachlichen Repertoire und folgen nicht aus der Sache selbst; ob sie angemessen sind, ist eine Frage, die sich stets neu aus Akzeptanz oder Ablehnung in einer Kommunikationsgruppe ergibt. Es ist eigentlich also eine bloße Selbstverständlichkeit, wenn Gerhard Schulz und Sabine Doering in ihrer – klugen und kenntnisreichen – Einführung Klassik. Geschichte und Begriff feststellen: „Nichts ist an und für sich klassisch; die Reaktion anderer macht es erst dazu.“2 Interessant wird, so meine ich, die konstruktivistische Perspektive auf die (literarischen) Klassiker, das Klassische oder ‚Klassik‘ (als davon abgeleiteten Epo-

|| 1 Vgl. Christian Pietsch: Einführung zu ‚Klassik als Norm – Norm als Klassik‘: Thema und Tagung. In: Klassik als Norm – Norm als Klassik. Hg. von Tobias Leuker und Christian Pietsch. Münster 2016, S. 1–26, hier S. 11–14. 2 Gerhard Schulz und Sabine Doering: Klassik. Geschichte und Begriff. München 2003, S. 9. https://doi.org/10.1515/9783110615760-005

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chen- oder auch Stilbegriff), wenn zugleich nach den jeweiligen Umständen, Beteiligten, Interessen, Prozessen oder Funktionen gefragt wird: Wer weist wem Klassikerqualität zu? Wann geschieht dies und in welchem kulturellen und politischen Kontext, mit welchen Absichten, aufgrund welcher Voraussetzungen und mit welchen Folgen? Auch dazu gibt es Antworten in der Germanistik, oder genauer gesagt: so gut wie ausschließlich eine Antwort, nämlich „daß erst die Literaturhistoriker des mittleren neunzehnten Jahrhunderts die Genie-Periode des späten achtzehnten zu einem patriotischen Mythos und zu einer Institution der nationalstaatlichen Identitätsfindung gemacht und in diesem Zusammenhang auch den Begriff ‚Deutsche Klassik‘ geprägt hätten“3. In Deutschland haben, so die fest etablierte Ansicht, einige Autoren der Zeit um 1800 den Status von Klassikern gewonnen, als und weil es einige Jahrzehnte später ein nationalpolitisches Interesse daran gab. Tatsächlich war dieses nationalpolitische Interesse massiv, und es stellte über ein Jahrhundert hinweg einen hoch wirksamen Faktor der Klassiker-Kanonisierung sowie der Erhebung der Zeit vor und/oder um 1800 zur nationalliterarischen ‚Klassik‘ dar. Jedoch begann, so die erste These meines Beitrags, die Konstruktion ‚deutscher Klassiker‘ erheblich früher, zaghaft bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die Frage, ob die Deutschen eigene ‚klassische Schriftsteller‘ haben und wem diese Ehre zuzuerkennen sei, zum immer heißer diskutierten Thema, und noch vor 1800 etablierten sich im literarischen Diskurs die – explizit so genannten – „deutschen Klassiker“, und zwar nicht bloß als für die Zukunft erhoffte, sondern als in der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit aufgetretene. Nationale Motive spielten auch damals schon eine Rolle, allerdings nicht dergestalt, dass literarische Spitzenleistungen in der eigenen Sprache als Vorbote nationalstaatlicher Vereinigung interpretiert worden wären, wie Georg Gottfried Gervinus’ Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen (1835–1842) dies tat.4 Das Bedürfnis nach ‚eigenen Klassikern‘ ergab sich vielmehr aus dem für Kultur und Gelehrsamkeit der Frühen Neuzeit allgemein grundlegenden

|| 3 Conrad Wiedemann: Deutsche Klassik und nationale Identität. Eine Revision der SonderwegsFrage. In: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990. Hg. von Wilhelm Voßkamp. Stuttgart, Weimar 1993, S. 541–569, hier S. 542. Wiedemann referiert diese allgemeine Ansicht – deshalb der Konjunktiv – und stimmt ihr zu. Auf den nationalpolitischen Faktor hebt auch Rainer Rosenberg: Art. Klassiker. In: RLW Band 2. Berlin, New York 2000, S. 274–276, hier S. 275 ab, obwohl er zuvor richtig feststellt, dass bereits vor und um 1800 von ‚deutschen Klassikern‘ die Rede war. Ebenso Volker C. Dörr: Weimarer Klassik. Paderborn 2007, S. 9. 4 Vgl. Georg Gottfried Gervinus: Schriften zur Literatur. Hg. von Gotthard Erler. Berlin 1962, S. 314.

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Gedanken eines Wettbewerbs der modernen Nationen sowohl mit den alten Griechen und Römern als auch untereinander.5 Hinzu kam seit 1760er Jahren ein vom Buchmarkt ausgehendes Interesse an ‚deutschen Klassikern‘, so meine zweite These: Verleger setzten das Prädikat „klassischer Schriftsteller“ bzw. „deutscher Klassiker“ als Wertsignal ein, um Käufer zu gewinnen und bestimmte umstrittene Verlagspraktiken – den Nachdruck – zu legitimieren. Um gleich genau zu sein: Seit 1789 reüssierten solche Ausgaben „deutscher Klassiker“, d.h. das Publikum erkannte sie als solche an. Wenn aber „Anerkennung […] ein entscheidender Faktor aller Klassizität“6 ist, so kann man sagen: Seitdem gibt es deutsche Klassiker, und zwar als Faktum, nicht bloß als Hoffnung oder Erwartung für die Zukunft. Seit den frühen 1970er Jahren betont die Forschung den nationalistischen Faktor bei der Klassikerkanonisierung im 19. Jahrhundert.7 Der damit zunächst einhergehende ideologiekritische Impuls schwächte sich bald ab, doch hat sich die Fixierung auf diesen Punkt erhalten. Nicht minder wichtige Voraussetzungen im 18. Jahrhundert sowie eine erste Kanonisierungsphase bereits vor und um 1800 sind dagegen im Dunkel geblieben, so meine andernorts ausführlicher vorgetragene Kritik.8 Hier nur so viel dazu: Goethe, Schiller und ihre etwas älteren, seltener auch jüngeren Zeitgenossen wurden kanonisiert, weil sie eine Erwartung erfüllten, die bereits im 18. Jahrhundert einen Standard der Kommunikation über Literatur in Deutschland bildete. Autoren wie Leser, Poetiker wie Kritiker erwarteten mit zunehmender Dringlichkeit, dass die deutsche Literatur ebenso ihre allgemein anerkannten, als vollendet wahrgenommenen Autoren und Werke haben werde wie die anderen großen Nationen: die Griechen und Römer in der Antike, die Italiener und Franzosen vor allem in der Neuzeit; mitunter wurden auch die Engländer und die Spanier einbezogen. In diesem Sinne wurden ‚deutsche Klassiker‘ – oder wie es im 18. Jahrhundert meist hieß: klassische Schriftsteller der

|| 5 Vgl. Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 2005. 6 Gerhard Schulz und Sabine Doering: Klassik, S. 9. Unklar ist, warum Schulz und Doering durch die Wahl des unbestimmten Artikels den Faktor Anerkennung relativieren. Einen anderen „entscheidenden Faktor“ nennen sie nicht. 7 Vgl. Klaus L. Berghahn: Von Weimar nach Versailles. Zur Entstehung der Klassik-Legende im 19. Jahrhundert. In: Die Klassik-Legende. Second Wisconsin Workshop. Hg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Frankfurt am Main 1971, S. 50–79; Egidius Schmalzriedt: Inhumane Klassik. Vorlesung wider ein Bildungsklischee. München 1971. 8 Vgl. Daniel Fulda: Autorität und Kritik des französischen Klassiker-Modells: Zwei Voraussetzungen der ‚deutschen Klassik‘. In: Brücken bauen – Kulturwissenschaft aus interkultureller und multidisziplinärer Perspektive. Fs. für Dorothee Röseberg. Hg. von Marie-Therese Mäder u.a. Bielefeld 2016, S. 183–201.

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deutschen Nation – teils für die nähere oder weitere Zukunft prophezeit, teils als soeben hervorgetreten ausgerufen, teils immer noch vermisst. Goethe und Wieland waren dann die ersten Autoren, welche die Erwartung deutscher Klassiker erfüllten, und zwar nicht nur dem ephemeren Urteil einiger Überschwänglicher nach, sondern nach ziemlich einhelliger Meinung und dauerhaft.9 Hier schließt meine erste These an: Jene ein Jahrhundert hindurch gepflegte Klassiker-Erwartung stellt die wichtigste Vorbedingung und Motivation der Kanonisierung ‚deutscher Klassiker‘ dar, die kurz vor 1800 einsetzte. Die Feier vor allem der Weimarer Klassiker aus nationalpolitischen Gründen kam später nur verstärkend hinzu. Im hier gegebenen Rahmen kann ich der Konstruktion deutscher Klassiker um 1800 nur ausschnittsweise näher nachgehen, nämlich konzentriert auf den Buchmarkt. Die enorme Expansion des Buchmarkts in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bildete zum einen die nötige Voraussetzung für erneute Ausgaben ein und desselben, aber ‚verbesserten‘ Werkes und damit für ein auktoriales Arbeiten an den eigenen Texten, das als Klassizitätsanstrengung wahrgenommen wurde (siehe Abschnitt II.1). Für die Etablierung des Klassikerbegriffs noch wichtiger war der Buchmarkt als Aktionsfeld von Verlagen, die sich von Autoren, die sie als ‚deutsche Klassiker‘ deklarieren und bewerben konnten, gute Geschäfte erhofften (siehe die Abschnitte II.2 bis II.6).10 Ein Kalkül, das aufging und das m.E. entscheidend dafür war, dass sich die Vorstellung, dass ‚wir deutsche Klassiker haben‘, rasch in der Öffentlichkeit durchsetzte. Nicht mehr als ein paar Seitenblicke werfe ich auf den Umgang der Autoren mit dem Prädikat ‚klassisch‘ und seinen Derivaten. Die dadurch bleibende Lücke scheint mir nicht übermäßig groß, spielten die Überlegungen und Stellungnahmen der Autoren doch die geringste Rolle, als sich im ausgehenden 18. Jahrhundert die Ansicht verbreitete, Deutschland habe nun endlich seine eigenen Klassiker. Denn die Autoren blieben bei der Zuerkennung des Klassiker-Prädikats an Zeitgenossen weit zurückhaltender als andere Akteure auf dem literarischen Feld. Problematischer dürfte die Lücke sein, die ich hinsichtlich des Beitrags der schulischen Lektüre „deutscher Klassiker“ zur öffentlichen Etablierung dieses Begriffs lassen muss. In der Schulordnung für die österreichischen Gymnasien von 1775 ist die Lektüre „deutscher klassischer Schriftsteller auch Dichter“ oder || 9 Vgl. Gottfried Willems: „Ihr habt jetzt eigentlich keine Norm, die müßt ihr euch selbst geben“. Zur Geschichte der Kanonisierung Goethes als „klassischer deutscher Nationalautor“. In: Schönheit, welche nach Wahrheit dürstet. Beiträge zur deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Gerhard Kaiser und Heinrich Macher. Heidelberg 2003, S. 103–134. 10 Ausführlicher, als dies hier möglich ist, werde ich die Etablierung des Prädikats ‚Deutsche Klassiker‘ durch den Buchmarkt demnächst in einem Sitzungsbericht der Sächsischen Akademie der Wissenschaften behandeln.

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„deutscher Klassiker“ bereits ausdrücklich vorgesehen.11 Nicht ganz klar ist allerdings, in welchem Maße damit eine schulunabhängige herausragende Wertschätzung und nicht bloß die Behandlung ‚in der Schulklasse‘ gemeint ist, denn 1774 notierte Adelung als Standardbedeutung für den „classischen Schriftsteller, autor classicus“ noch: „der in den Schul-Classen gelesen wird“12. Jedenfalls breiteten sich Vorlesungen über zeitgenössische deutschsprachige Texte in den 1790er Jahren an den deutschen Universitäten aus, seit 1799 zunehmend mit der Wendung „deutsche Klassiker“ im Titel.13 An den Gymnasien wurde die Lektüre ausdrücklich so genannter Klassiker in der Muttersprache kurz nach der Jahrhundertwende üblich, laut Georg Jäger zuerst in Bayern.14 Zunächst allerdings bedarf es einer näheren Begründung des eingangs angesprochenen konstruktivistischen Verständnisses des Klassikerbegriffs (Abschnitt I.2). Klassiker gibt es, wo etwas als Klassiker anerkannt wird. Um welche Art von Anerkennung handelt es sich dabei? Ein weiterer Abschnitt (I.3) verfolgt diese Perspektive mit Blick auf die Reproduktion des Klassiker-Prädikats auf dem Buchmarkt der deutschen Nachkriegszeit und Gegenwart, um das verlegerische Interesse an den ‚Klassikern‘ als einen bis heute wirksamen Faktor ihrer öffentlichen Präsenz auszuweisen.

1.2 Der Klassikerbegriff ist eine Wertauszeichnung ohne inhaltliche Spezifik Der Artikel „Klassiker“ ist in Wikipedia einer derjenigen, die wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen, aber trotzdem eine gute Quelle darstellen. Aus ihm lässt sich viel lernen, wenn man seine Angaben nicht als zuverlässige Auskunft über den Gegenstand ‚Klassiker‘ betrachtet, sondern als Dokumentation weit verbreiteter Ansichten davon. Als kollektiv verfasster Text stellt er einen besonders aussagekräftigen Beleg dafür dar, wie heute von Klassikern gesprochen wird –

|| 11 Zitiert nach Karl Wotke: Das Oesterreichische Gymnasium im Zeitalter Maria Theresias. Band 1: Texte nebst Erläuterungen. Berlin 1905, S. 108, S. 115, S. 127, S. 129. 12 Johann Christoph Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Band 1. Leipzig 1774, Sp. 1208, s.v. classisch. 13 Vgl. die tabellarische Zusammenstellung bei Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Paderborn 2003, S. 162–166. 14 Vgl. Georg Jäger: Schule und literarische Kultur. Band 1: Sozialgeschichte des deutschen Unterrichts an höheren Schulen von der Spätaufklärung bis zum Vormärz. Stuttgart 1981, S. 58–64.

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außerhalb spezialistischer Diskurse wie der Literatur- oder anderer Geisteswissenschaften. Als „Merkmale eines Klassikers“ nennt Wikipedia: – lange überregionale Bekanntheit (oft auch generationsübergreifend) – gewisser Traditionswert – hoher Wiedererkennungswert – hohe Qualität wird zugestanden – Innovationspotential – Einfluss auf die Kultur – bei Texten: Zeitlosigkeit der Themen, so zum Beispiel Liebe, Hass & Wut, Familie, Abenteuer, Widerstand & Anpassung15 Ein mit diesem Bündel von Merkmalen16 explizierter Klassiker-Begriff passt gut auf die ‚großen‘ Autoren und Werke der literarischen und geisteswissenschaftlichen Tradition sowie der Künste von der Musik über die Malerei bis zum Film. Als Beispiele nennt der Artikel jedoch auch „Manga-Klassiker, z.B. Astro Boy von Osamu Tezuka oder Lady Oscar von Riyoko Ikeda“, „Klassiker des Automobilbaus“ vom VW-Käfer bis zur DS (déesse) von Citroën, einen Regalsystem-Klassiker (USM Haller) sowie „Süßwarenklassiker, z.B. Maoam“. Den Klassikern des Radsports (Mailand–San Remo, Flandernrundfahrt usw.) widmet die Wikipedia sogar einen eigenen Artikel.17 Im Ensemble reizen die so zusammengetragenen Klassiker ein wenig zum Schmunzeln, insbesondere dann, wenn zu Klassikerehren erhoben wird, was nur wenigen Spezialisten bekannt ist wie die mit einem eigenen Abschnitt versehenen Klassiker der Forstwissenschaft, auch „forstliche Klassiker“ genannt. Doch ist die Heterogenität der Beispiele durchaus bezeichnend für den heutigen Gebrauch des Klassikerbegriffs: In der partikularisierten Gesellschaft unserer Gegenwart – „die Gesellschaft der Singularitäten“ nennt sie

|| 15 Art. „Klassiker“. In: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 23. Oktober 2017, 08:39 UTC: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Klassiker&oldid=170247271 [abgerufen am 7.2.2018]. 16 Die „nicht alle [...] auf jeden Klassiker zutreffen“ müssen, wie ausdrücklich vermerkt wird. Ein Merkmal, mit dem man nicht unbedingt rechnet, dürfte das „Innovationspotential“ von Klassikern sein – gemeint ist womöglich eine Anregungskraft, die besonders lange anhält oder sich immer wieder als neu erweist. 17 Art. „Klassiker (Radsport)“. In: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 17. Januar 2018, 13:36 UTC: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Klassiker_(Radsport)&oldid =173024348 [abgerufen am 7.2.2018].

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der Soziologe Andreas Reckwitz18 – werden an Klassiker nicht mehr zwingend die Anforderungen ‚allen bekannt‘ oder ‚alle sollten sie kennen‘ gestellt (erfüllt wurden diese Anforderungen freilich auch früher nur von der Bildungselite). Vielmehr gibt es ebenso Sparten-Klassiker, wenngleich die weithin bekannten im Moment noch das Übergewicht haben. Weiterhin fällt auf, dass die eben zitierten „Merkmale“ großenteils gar nicht auf die nachfolgend genannten ‚Klassiker‘ zutreffen. Auf bestimmte Eigenschaften, selbst allgemeinster Art („hohe Qualität“, „Einfluss auf die Kultur“), kommt es bei der Zuerkennung des Klassikerstatus offensichtlich nicht an. Unfreiwillig demonstriert der Wikipedia-Artikel damit etwas, was er zwar nicht sagt, was aber die wesentliche Funktion des heute gebräuchlichen Klassiker-Begriffs ist: nämlich dass der Begriff eine Wertauszeichnung vornimmt unabhängig davon, ob ein Produkt oder Produzent eine bestimmte Anforderung erfüllt. Zuspitzend könnte man sagen, dass der Klassikerbegriff zur merkmalsunabhängigen Wertzuweisung verwandt wird. Genau genommen, ist das eine in sich widersprüchliche These, denn die Heraushebung einer Gruppe (hier: der Klassiker) aus einer größeren Menge (z.B.: aller Bücher) implizit notwendig eine Differentia specifica. Der Unterschied zwischen Klassikern und (in diesem Fall) anderen Büchern ist indessen nicht gegeben, sondern wird durch die Prädikation Klassiker allererst erzeugt. Einigermaßen zuverlässig voraussagbare Unterschiede (Merkmale) gibt es nicht – außer dem behaupteten besonderen Wert der Klassiker. Diese These wendet sich gegen die einzige vorliegende Untersuchung zur gegenwartssprachlichen Bedeutung und Anwendung der Wörter „klassisch“ und „Klassiker“, die darin maßstabsabhängige Qualifizierungen sieht.19 Ihr zufolge spricht man dann von Klassikern, wenn man Ansprüche, die man in einem bestimmten Bereich stellt, z.B. in einer Kunstgattung, in besonders hohem Maße erfüllt sieht. Das ist letztlich eine Bestimmung nah an der klassizistischen Kunsttheorie des späten 17. und des 18. Jahrhunderts. Womöglich spielte diese Tradition in den 1970er Jahren, als Brandt seine Untersuchung durchführte, noch eine größere Rolle als heute. Um zu erklären, warum Maoam als „Süßwarenklassiker“ bezeichnet werden kann, hilft die Vorstellung, es erfülle typische Erwartungen an ein Kaubonbon in besonderem Maße, aber nicht weiter. Oder um ein hochkulturelles Beispiel aus dem Wikipedia-Artikel zu nehmen: Auch den Mann ohne Eigenschaften, den

|| 18 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017. Reckwitz sieht richtig, dass ‚Klassiker‘ eine Marke ist, die Produkten und Formaten aller Art zugewiesen werden kann. 19 Vgl. Wolfgang Brandt: Das Wort „Klassiker“. Eine lexikologische und lexikographische Untersuchung. Wiesbaden 1976, S. 99.

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unvollendeten Roman Robert Musils von nahezu 2000 Seiten, aber fast ohne Handlung, wird man kaum deshalb als Klassiker bezeichnen können, weil er allgemein verbreitete Erwartungen an die Gattung Roman erfüllen würde. Wir sollten unseren Begriff davon, wie die Auszeichnung als Klassiker funktioniert, deshalb von der Vorstellung lösen, diese erfolge aufgrund der Feststellung bestimmter Merkmale, die Klassikerkriterien sind. Vielmehr stellt die Anerkennung eines Produkts oder Produzenten als Klassiker eine Strategie der Wertauszeichnung dar, die Erfolg hat, wenn sie auf die Zustimmung einer Kommunikationsgruppe stößt. Angewandt werden kann der Begriff auf alles, was nicht als ephemer erscheint. Die einzige spezifische Unterstellung über die allgemeine Wertzuschreibung hinaus, die ich in der Bezeichnung „Klassiker“ erkenne, ist die Behauptung: ‚Der/die/das ist doch bekannt!‘, jedenfalls in der angesprochenen Kommunikationsgruppe (ggf. unter Manga-Fans oder Forstwissenschaftlern) und ‚vom Sehen her‘ oder dem Namen nach. Für die kommunikative Funktion des Klassikerprädikats ist darüber hinaus wichtig, dass seine Vergabe nicht nur eine Aussage über etwas oder jemanden darstellt, sondern vor allem auch eine Positionierung des Sprechers impliziert und einen Appell an den oder die Angesprochenen enthält. Indem er etwas oder jemanden als allgemein anerkannt (und daher auf jeden Fall auch als bekannt – in einem größeren oder kleineren Adressatenkreis) qualifiziert, setzt sich der Sprecher in Bezug eben zu etwas als allgemein anerkannt Postuliertem und partizipiert an dessen Geltung.20 Vom Adressaten wiederum erheischt dies Zustimmung, die sich nur verweigern lässt, wenn tatsächlich nur wenige Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft die angeblichen Klassiker kennen. Die Qualifizierung als Klassiker funktioniert als kommunikative Konsensverfertigung und fungiert als Geltungssteigerung der Kommunikanten, ohne dass man sich darüber einig sein müsste, welche wertvollen Qualitäten der jeweilige Klassiker hat.

1.3 Der Buchmarkt als Humus des literarischen Klassikers Wer hat Interesse an einer solchen Konsensbildung? Der Wikipedia-Artikel sagt leider nichts dazu, wer mit dem Klassiker-Prädikat arbeitet, in welchen Situationen dies geschieht und welche Zwecke damit verfolgt werden. Eine zentrale Rolle

|| 20 Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, S. 172 vermerkt in diesem Sinne: „Weil ein Gut aufgrund seiner Besonderheit berühmt ist, interessiert man sich für es – und macht es dadurch noch berühmter. Dazu trägt bei, dass die Konsumenten in einer Konstellation verstreuter Aufmerksamkeit geneigt sind, sich an das zu halten, was bekannt ist.“

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spielt der Klassikerbegriff vor allem in der Werbung, verstanden in einem weiten Sinne: Der „Wertzuschreibungscharakter des Begriffs“21 lässt sich für persönliche Vorlieben ebenso wie für die Bekanntmachung kultureller Veranstaltungen nutzen; bei Sportereignissen gehört er zum besonders beliebten Emphasevokabular, und auch im Produktmarketing ist er bemerkenswert breit einsetzbar. Um für Letzteres nur ein Beispiel zu nennen: In Italien wird das Prädikat ‚klassisch‘ für gemeinschaftlich zu verzehrendes Festgebäck sowohl zu Weihnachten („Panettone classico“) als auch zu Ostern („Colomba classica“) verwandt. Um auf die Frage nach den Agenten der Klassikeretikettierung und ihren Interessen eine seriöse Antwort geben zu können, beschränke ich mich im Folgenden auf mein Fachgebiet: auf literarische Klassiker. Für Teile des Buchmarktes, genauer: für die Präsentation älterer literarischer Texte, die einige Verlage dem allgemeinen Publikum anbieten, spielt das Klassiker-Prädikat seit langem eine besonders große, nahe unverzichtbare Rolle.22 Große Verdienste in der publikumsorientierten Klassiker-Edition hat sich in Westdeutschland zunächst besonders der Hanser-Verlag erworben, indem er zahlreiche Werkausgaben meist deutschsprachiger Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts veranstaltete.23 Als sich Herbert G. Göpfert, bis 1964 der für die Klassiker-Ausgaben verantwortliche Cheflektor und auch danach noch Herausgeber und Berater, Anfang der 1980er Jahre „von der aktiven Verlagstätigkeit zurückzog, bestand die Zwischenbilanz […] in 67 Ausgaben von 35 Autoren mit zusammen 184 Bänden (einschließlich der Anthologien) mit über 130 000 Seiten“24. In der DDR erschien seit 1955 eine Reihe Bibliothek deutscher Klassiker (BDK), herausgegeben von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur (1953–1991) in Weimar, der heutigen Klassik Stiftung Weimar. 1964 aus dem Thüringer Volksverlag der SED in den renommierten Aufbau-Verlag transferiert, kam die BDK bis zum Ende der DDR auf 153 Bände.25

|| 21 Vgl. Elisabeth Kampmann: Kanon und Verlag. Zur Kanonisierungspraxis des Deutschen Taschenbuch Verlags. Berlin 2011, S. 203. 22 Anders verhält es sich mit Historisch-kritischen Editionen zum ausschließlich wissenschaftlichen Gebrauch; diese kommen auffälligerweise ohne das Klassiker-Prädikat aus: Es würde zu ihrem Objektivitätsgestus nicht passen, und die Bibliotheken als nahezu einzige Käufer sprechen auf diese Art der Werbung vermutlich weniger an. 23 Ausführlich dazu Reinhard Wittmann: Der Carl Hanser Verlag 1928–2003. Eine Verlagsgeschichte. Unter Mitarbeit von Christoph Haas. München 2005, S. 64–102. 24 Ebd., S. 90. 25 Vgl. Marcus Gärtner: „Bibliothek deutscher Klassiker“. Die Klassiker im Leseland. In: Weimarer Klassik in der Ära Honecker. Hg. von Lothar Ehrlich, Gunther MaI unter Mitw. von Ingeborg Cleve. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 193–218, hier S. 215. Zu älteren ‚Klassiker‘-Ausgaben des

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In den von jeweils gewählten Formaten schlagen sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen der deutschen Nachkriegsstaaten recht präzise nieder: Die DDR-Reihe ist ein volkspädagogisch engagiertes Unternehmen – „Die Werke der großen Dichter und Schriftsteller sollen Liebe und Verständnis für die schöne Literatur wecken und ein fortschrittliches, humanistisches Welt- und Geschichtsbild vermitteln“26 –, mit deutlich schmaleren Bänden, einfacherer Ausstattung und niedrigerem Preis (5 Mark pro Band) sowie einem Kommentar, der auf weniger bildungsbürgerlich vorgeprägte Leser berechnet ist. Sie erreichte die bemerkenswerte Gesamtauflage von über 10 Millionen,27 das macht durchschnittlich gut 65.000 Exemplare. Die Auflagen der Hanser-Klassiker lagen dagegen bei 2.500 bis 5.000 Exemplaren; eine Reihe von Autoren erlebte allerdings mehrere Auflagen, Georg Büchner kam auf über 100.000 Exemplare.28 Höhere Auflagen erreichten außerdem die von Buchclubs übernommenen, deutlich preiswerteren Lizenzausgaben oder Taschenbuchverwertungen.29 Für ein Urteil darüber, ob die Klassikerbuchproduktionszahlen in der DDR höher lagen als in der Bundesrepublik, gemessen an der Bevölkerungsgröße natürlich, sind die erreichbaren Zahlen nicht hinreichend aussagekräftig. Auf jeden Fall war die westdeutsche Produktion differenzierter hinsichtlich Editionsniveau, Ausstattung und Preis; die Adressierung unterschiedlicher Zielgruppen war schon allein aus ökonomischen Gründen selbstverständlicher. Die DDR-Reihe war ein Flaggschiff der staatlichen Kulturpolitik; sie unterlag deren ideologischen Vorgaben zum Nutzen des literarischen ‚Erbes‘ für Leser im aufzubauenden Sozialismus, nicht zuletzt bei der Auswahl der Autoren (Präferenz für Vormärz-Autoren, bis in die 1980er Jahre starke Reserven gegen die Romantiker).30 Von ökonomischen Zwängen war sie dagegen weitgehend befreit, was im Bereich der „Klassiker“-Ausgaben ebenso eine große Ausnahme darstellt wie in der Buchproduktion allgemein. Vollends zentral ist der Klassikerbegriff für den 1981 von Siegfried Unseld gegründeten Deutschen Klassiker Verlag, der bislang 190 Bände von häufig über 1000 Seiten herausgebracht hat. Das sind zwar weniger als ursprünglich geplant, denn der Verkauf blieb häufig hinter den Erwartungen zurück (kalkuliert wurde

|| Aufbau-Verlags, die einzelnen Autoren gewidmet waren, vgl. Carsten Wurm: Der frühe AufbauVerlag 1945–1961. Konzepte und Kontroversen. Wiesbaden 1996, S. 50–54, 232f. 26 So die Reihenpräsentation auf der vorletzten Seite der Bände, hier zit. nach [Andreas] Gryphius: Werke in einem Band. [Ausgew. u. eingel. von Marian Szyrocki.] Berlin, Weimar 61987, S. 326 – einem Autor, der sich nur mit Mühe in dieses Programm pressen lässt! 27 Vgl. Marcus Gärtner: „Bibliothek deutscher Klassiker“, S. 215. 28 Vgl. Reinhard Wittmann: Der Carl Hanser Verlag 1928–2003, S. 91, 94. 29 Vgl. ebd., S. 73f. 30 Vgl. Marcus Gärtner: „Bibliothek deutscher Klassiker“, passim.

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mit 3.000 verkauften Exemplaren31). Insbesondere von den Titeln, die nicht zum literarischen Kanon gehören, sondern z.B. der Geschichtsschreibung zuzurechnen sind, erschien keineswegs alles, was angekündigt wurde.32 Auch von den geplanten sechs Bänden Grillparzer kamen lediglich zwei heraus. Trotzdem handelt es sich um die größte kommerzielle Mobilisierung universitärer Editions- und Kommentierkunst, die es in Deutschland je gegeben hat. Offenkundig spielt der Klassikerbegriff weiterhin eine zentrale Rolle für die Organisation des literarischen Feldes, insbesondere für das Präsenthalten älterer Texte und für deren Vermittlung an das bücherkaufende Publikum durch die Verlage. Zwar ist die Kategorie ‚Klassiker‘ dabei nicht alternativlos: Als KlassikerReihe bringt der Deutsche Taschenbuchverlag seit 1997 eine Bibliothek der Erstausgaben (mit historischer Orthographie) heraus; zugleich stellte er seine Reihe dtv Klassik ein, die seit 1984 erschienen war.33 Doch handelt es hier sich eher um ein Komplementär-Etikett als um ein Gegenkonzept – der Akzent verlagerte sich vom angeblich zeitenthoben Klassischen zur Historizität. Beide Aspekte gehören im heutigen Klassikverständnis der Literaturwissenschaft aber zusammen.34 Andere Taschenbuchverlage hatten früher schon explizite Klassiker-Reihen herausgebracht (Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft, 198 Titel von 1957 bis 1973; Fischers Exempla Classica, 100 Bände von 1960 bis 1963).35 Von den aufwendigen Editionen des Hanser-, des Aufbau- und mehr noch des KlassikerVerlags unterscheiden sich diese Reihen dadurch, dass meist schon vorliegende Textfassungen nachgedruckt wurden und ein neuer kurzer Begleittext beigegeben war. Am Markt erfolgreich waren und sind die preiswerten Reihen, soweit sich die Titelauswahl an den Lektüreanforderungen in Schule und Universität ausrichtet.36 Sie tragen dazu bei, dass die Kategorie Klassiker ein Faktor des literarischen Lebens und Geschäfts bleibt, hängen aber weniger von ihr ab als die aufwendigeren gebundenen Editionen.37 Bezeichnend dafür ist, dass die für die

|| 31 So der zuständige Lektor Wolfgang Kaußen, zit. von Tilman Spreckelsen: Warum Klassiker? In: FAS (8.3.2015), S. 64f., hier S. 65. 32 In der Unterreihe Bibliothek der Geschichte und Politik erschienen nur zehn der 25 ursprünglich geplanten Bände sowie zwei Zusatzbände. 33 Vgl. Elisabeth Kampmann: Kanon und Verlag, S. 224, S. 227. 34 Nach Wilhelm Voßkamp „bestimmt die Einheit in der Differenz von Normativität und Historizität durchgehend das Klassikproblem“. Wilhelm Voßkamp: Einleitung. In: Theorie der Klassik. Hg. von dems. Stuttgart 2009, S. 9–24, hier S. 10. 35 Vgl. Elisabeth Kampmann: Kanon und Verlag, S. 215, S. 218. 36 Vgl. ebd., S. 218, S. 252. 37 Die mehrbändigen Werkausgaben, die der Hanser-Verlag in den 1950er bis 70er Jahren herausbrachte, liefen nicht explizit als „Klassiker“-Ausgaben. Das Klassikerprädikat hat für einen

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Verbreitung von literarischen ‚Klassikern‘ quantitativ wichtigste und zugleich preiswerteste Reihe – Reclams Universal-Bibliothek – ohne Klassiker-Label auskommt. Zwar verdankt sich die Gründung der Universal-Bibliothek der Freigabe der goethezeitlichen Klassiker zum Nachdruck zum 9. November 1867 (das deshalb das ‚Klassikerjahr‘ genannt wird), und als ihr Zweck wurde ausgegeben, „sämtliche classische Werke unserer Literatur“ leicht zugänglich zu machen.38 Doch beschränkten sich die ‚Reclam-Hefte‘ von Anfang an nicht darauf. In ihrer erfolgsbedingten „Sonderstellung“39 vermochten sie an der Wertzuschreibung, die von Klassikern auf ihre Verleger ausstrahlt, zu partizipieren, ohne den Begriff als Reihentitel bemühen zu müssen. War und ist für ältere Titel die Auszeichnung als Klassiker nahezu unverzichtbar, um auf dem Buchmarkt bestehen zu können, so stellen die ‚Reclam-Hefte‘ die Ausnahme dar, die die Regel bestätigt. Kehren wir dahin zurück, wo der Klassikerbegriff so ostentativ eingesetzt wird wie nie zuvor in der deutschen Verlagsgeschichte: zu dem mit ihm sich schmückenden Verlag und seinen leinenblauen oder gar lederroten Bänden. Wie er zeigt bzw. sie zeigen, eignete sich der Klassikerbegriff auch und gerade in jüngster Vergangenheit wie nichts anderes dazu, Ressourcen zu mobilisieren und zu koordinieren, die anspruchsvolle literarische Texte zugänglich machen, und zwar von unterschiedlichen Seiten, als da sind: verlegerische Erfahrung und Risikobereitschaft, mitunter auch Querfinanzierung aus einem ertragsträchtigeren Mutterverlag oder Verlagssegment; die Editionskompetenz von Professoren und ihren Mitarbeitern, die allermeist von staatlicher Besoldung leben; die Aufmerksamkeit und Lobbereitschaft der Literaturkritik als unbezahlter Werbeinstanz (dazu folgt ein Zitat im nächsten Absatz); schließlich die Kaufkraft von Lesern mit Kanonbedarf, sei es der Bildung oder des ästhetischen Genusses, sei es der Repräsentation mittels Buchrücken wegen. Letzteres vermochte der DKV freilich weniger als erwartet zu mobilisieren, so dass die Frage zu stellen ist, ob der insgesamt schwache Verkauf der – sehr teuren – Bände ein Indiz dafür ist, dass der Klassikeroffensive des ausgehenden 20. Jahrhunderts kein gleichgewichtiges Publikumsinteresse mehr korrespondiert. Dafür spricht, dass auch die 2005 gestartete Zweitverwertung von 51 DKV-Bänden in – sehr preiswerten – Softcoverausgaben kein Verkaufsschlager war. An der engen Verbindung zwischen

|| Teil des Verlagsprogramms gleichwohl bis heute Bedeutung, vgl. den Netzauftritt: https://www. hanser-literaturverlage.de/themen/hanser-klassiker [abgerufen am 20.2.2018]. 38 Elisabeth Kampmann: Kanon und Verlag, S. 208 mit einem Zitat aus einer frühen Publikumsanzeige des Reclam-Verlags. 39 Ebd.

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Klassikerbegriff (im literarischen Feld) und Verlagsgeschäft hat sich dadurch (bisher) aber nichts geändert. Über den vorausgesetzten Klassikerbegriff äußert sich die Verlagswebsite des DKV nur sehr knapp und vage: „Werke, die Geschichte und Bewusstsein nachhaltig geprägt haben“.40 Das herkömmliche Klassikermerkmal des Mustergültigen41 nimmt man nicht für die edierten Texte, sondern für die Editionen in Anspruch: „Der Deutsche Klassiker Verlag legt jene Werke in mustergültigen, textlich zuverlässigen und ausführlich kommentierten Ausgaben vor“. Einem inhaltlich bestimmten Klassikerverständnis entsprechen die produzierten Bücher in der Tat eher als die darin enthaltenen Texte. Denn es sind die Editionen, die angebbaren „höchsten Ansprüchen“ entsprechen, vor allem in der Erschließungskraft der Kommentare sowie in der materiellen Buchausstattung. Insofern trifft es die Sachlage, wenn der Verlag sich auf seiner Website zuallererst mit einem Selbstlob präsentiert: „Als die Postmoderne regierte, gründete Siegfried Unseld den Deutschen Klassiker Verlag, der die gesamte klassische Literatur unseres Sprachraums in höchsten Ansprüchen genügenden Ausgaben verfügbar macht.“42 Über die Klassikerqualität vieler der edierten Texte lässt sich hingegen nur so viel sagen, als dass sie ihnen qua Aufnahme in eine Klassiker-Ausgabe verliehen wurde. Das mag etwas despektierlich klingen, ist aber nicht so gemeint, denn wir können in der verlegerischen Klassikerstatuszuweisung (des DKV oder eines anderen Verlages) einen durchaus typischen Fall diskursiver Klassikerproduktion und darüber hinaus ein Strukturmoment des literarischen Lebens sehen, das der wissenschaftliche Beobachter möglichst neutral zu beschreiben hat. Als Literaturliebhaber und als professioneller Interpret auch älterer Texte kann man solche Klassikerproduktionsmechanismen sogar für gut und nützlich halten, denn insbesondere viele ältere Texte werden wohl überhaupt nur dadurch präsent gehalten. Präsent bei den Grossisten und ebenso im kulturellen oder sogar kommunikativen Gedächtnis unserer Gesellschaft, und beides gehört in beträchtlichem Maße zusammen!

|| 40 http://www.suhrkamp.de/reihen/deutscher_klassiker_verlag_96.html [abgerufen am 20.2. 2018]. Die folgenden Zitate ebd. 41 Vgl. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Band 1. Leipzig 21793, Sp. 1338: „In seiner Art vortrefflich, so daß es andern zum Muster und zur Richtschnur dienen kann; am häufigsten von den Producten des Geistes. Ein classischer Schriftsteller der in seiner Wissenschaft der vornehmste ist, darin andern zur Richtschnur dienet.“ 42 Es handelt sich um ein Zitat des Literaturkritikers Hubert Spiegel: Ein ganz normaler Verlag? In: FAZ (23.12.2003), S. 1.

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2 Klassiker auf dem deutschen Buchmarkt um 1800 2.1 Goethes Konzept – der zeitgemäße Klassiker entsteht im buchmarktgestützten Literaturbetrieb – mit Wieland als Modell Goethes zentrale Stellungnahme zum Thema ‚deutsche Klassiker‘ ist sein Aufsatz „Literarischer Sansculottismus“ von 1795. Germanisten zitieren daraus gerne die Mahnung, es solle, „wer mit den Worten, deren er sich im Sprechen oder Schreiben bedient, bestimmte Begriffe zu verbinden für eine unerläßliche Pflicht hält, [...] die Ausdrücke: klassischer Autor, klassisches Werk höchst selten gebrauchen“43. Beliebte Zitate sind auch Goethes Bekenntnisse, er sei „überzeugt, daß kein deutscher Autor sich selbst für klassisch hält“, und er wolle „die Umwälzungen nicht wünschen, die in Deutschland klassische Werke vorbereiten könnten“. Gemeint sind politische „Umwälzungen“, und zwar nicht nur analog zur Französischen Revolution. Goethe wünschte sich keine Einheit von Nation und Staat mit einem gesellschaftlichen und zugleich politischen Zentrum, wo die Autoren in so engem Kontakt mit einem kultivierten Publikum stehen, dass ihre ebenso kultivierten Werke Denken und Wollen der Nation ausdrücken. Denn er konnte sich weder für eine das ganze deutsche Sprachgebiet umfassende Monarchie noch für eine solche Republik erwärmen. Das aber hieß nicht mehr und nicht weniger, als dass er sich gegen das französische, unter Ludwig XIV. realisierte Modell eines klassischen Zeitalters aussprach. Vorschnell ist es hingegen, aus Goethes Distanzierung von dem im 18. Jahrhunderts üblicherweise vorausgesetzten Klassikermodell zu folgern, er interessiere sich prinzipiell nicht für die mit der Qualifizierung als ‚klassisch‘ verbundene Wertzuschreibung oder er schließe die Möglichkeit eines – so seine eigene Formulierung – „klassischen Nationalautors“ aus.44 Vielmehr präsentiert er im letzten Drittel seines Aufsatzes ein alternatives || 43 Johann Wolfgang von Goethe: Literarischer Sansculottismus. In: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 12. Hg. von Erich Trunz u.a. München 1988, S. 239–244, hier S. 240. Die folgenden Zitate ebd., S. 240 und S. 241. 44 Ebd., S. 240. Letzteren Schluss zieht Wilfried Barner: Anachronistische Klassizität. Zu Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“. In: Klassik im Vergleich, S. 62– 80, hier S. 62. Ebenso Rainer Rosenberg: Klassiker, S. 275: Goethe „hatte die Möglichkeit eines ‚klassischen Nationalautors‘ in Deutschland für seine Zeit ausgeschlossen (‚Literarischer Sansculottismus‘, 1795), weil er die ihm dafür notwendig erscheinenden objektiven Voraussetzungen (geglückte Nationbildung, hoher Stand der Kultur, bedeutende Vorleistungen) nicht gegeben

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Bild davon, wie die Literatur einer Nation ihre Qualität steigern kann: Nicht durch einen fürstlichen Mäzen, sondern durch einen vitalen Buch- und Zeitschriftenmarkt, auf dem man sich gegenseitig studiert, kritisiert, Vorbild ist und zu übertreffen sucht. Einen zentralen Hof mache diese „unsichtbare Schule“ entbehrlich.45 Indem Goethe den vorletzten Absatz seines Aufsatzes mit dem emphatischen Ausruf enden lässt: „der Tag ist angebrochen, und wir werden die Läden nicht wieder zumachen“, bezieht er sich vermutlich auf den 15 Jahre älteren Traktat Friedrichs II. De la litterature allemande und auf dessen Prophezeiung „schöner Tage“ für die deutsche Literatur.46 Die Metapher vom bereits angebrochenen Tag wendet sich doppelt gegen den preußischen König und dessen sehr kritisches Bild vom aktuellen Zustand der deutschen Sprachkultur, Gelehrsamkeit und Dichtung (all dies umschloss sein vormoderner Begriff von ‚Literatur‘): mittelbar gegen Friedrichs hofzentrierte Auffassung kultureller Blütezeiten, unmittelbar aber, indem er die Erwartung, die der König von der Zukunft hatte, als mittlerweile erfüllt darstellt. Denn was Friedrich erwartete, waren nichts anderes als „klassische Nationalautoren“. Als Muster dafür nennt Goethe Christoph Martin Wieland (1733–1813), und dies keineswegs bloß aus freundschaftlicher Verbundenheit mit dem Weimarer Kollegen. Konkret hebt er auf dessen wiederholte Revision und Verbesserung seiner Publikationen ab.47 In der Tat hatte Wieland schon die erste resümierende Ausgabe seiner Werke, die Poetischen Schriften von 1762, nicht einfach als sammelnden Wiederabdruck bereits veröffentlichter Texte veranstaltet, sondern als Überarbeitung und Neuordnung.48 Das Prinzip der unablässigen Arbeit am eigenen Werk zum Zweck der Verbesserung zeigt sich ebenso an den gleich drei Fassungen, in denen Wielands großer Roman Die Geschichte des Agathon erschien

|| sah.“ Durchaus „Hoffnung“ bei Goethe sieht dagegen Dieter Borchmeyer: Die Weimarer Klassik. Teilbände 1–2. Frankfurt am Main 1980, S. 6. 45 Johann Wolfgang von Goethe: Literarischer Sansculottismus, S. 243. Ebd. das folgende Zitat. 46 [Frederic II, roi de Prusse:] De la litterature allemande; des defauts qu’on peut lui reprocher; quelles en sont les causes; et par quels moyens on peut les corriger. Berlin 1780, S. 79: „Nous aurons nos auteurs classiques; chacun, pour en profiter, voudra les lire; nos voisins apprendront l’allemand; les cours le parleront avec délice; et il pourra arriver que notre langue polie et perfectionnée s’étende, en faveur de nos bons écrivains, d’un bout de l’Europe à l’autre. Ces beaux jours de notre littérature ne sont pas encore venus; mais ils s’approchent. Je vous les annonce, ils vont paraître“. 47 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Literarischer Sansculottismus, S. 242f. 48 Vgl. Peter-Henning Haischer: Historizität und Klassizität. Christoph Martin Wieland und die Werkausgabe im 18. Jahrhundert. Heidelberg 2011, S. 347f.

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(1766/67, 1773 und 1794), sowie an verschiedenen anderen sammelnden und dabei immer auch bearbeitenden Publikationen. Den monumentalsten Ausdruck dieser von der Forschung so genannten „Verbesserungspoetik“49 stellen die ebenfalls redaktionell bearbeiteten Sämmtlichen Werke letzter Hand dar, die 1794–1811 in 45 Bänden bei Göschen erschienen, also kurz vor Goethes Aufsatz zu erscheinen begonnen hatten. In der „unsichtbaren Schule“, als die Goethe den deutschen Literaturbetrieb der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeichnet, figuriert Wieland sowohl als erfolgreicher, ja als der beste Schüler, der durch jahrzehntelange „Ausbildung“ und Selbstbildung zur Meisterschaft gelangt ist, wie auch als Lehrer, von dem „junge Männer von Talent jetzt“ ihrerseits lernen können.50 Der vermeintlich gegen das Prädikat ‚Klassiker‘ gerichtete Aufsatz skizziert eine Dynamik, die aus dem Ineinandergreifen von materiellen Bedingungsfaktoren – nämlich einem funktionierenden Buchmarkt, in dem insbesondere die belletristische Sparte expandierte – und ästhetischen Ansprüchen resultierte: Das rasante Wachsen der Buchproduktion seit Mitte der 1760er Jahre – mit annähernder Verdopplung der Neuerscheinungszahlen zwischen 1786 und 1800 – und das gleichfalls vergrößerte Publikum51 ermöglichten Wiederveröffentlichungen, die zum erneuten Feilen am Text genutzt werden konnten, oder wie Peter-Henning Haischer über Wieland schreibt: „Die ökonomischen Publikationsbedingungen werden zum poetologisch abgesicherten Produktionsmaßstab von Dichtung.“52 Jene Überarbeitungen wiederum boten Verleger und Autor ein Argument dafür, dass sie einen bereits publizierten Text erneut auf den Markt brachten – eben nicht völlig identisch, sondern ‚verbessert‘. Auffälligerweise sagt Goethe aber nichts darüber, was das Bessere ist, das sich Wieland Schritt für Schritt erarbeitet hat. Ästhetische Prinzipien oder gar Regeln, die der „klassische Nationalautor“ zu beachten hätte, benennt er nicht. „Unermüdet zum Bessern [zu] arbeiten[]“53 scheint ihm ein funktionales Grundprinzip des literarischen Betriebs zu sein, das keiner einheitlichen Regeln bedarf.

|| 49 Ebd., S. 16f. mit Bezug auf Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin, New York 2007, S. 28. 50 Johann Wolfgang von Goethe: Literarischer Sansculottismus, S. 243. 51 Vgl. Reinhard Wittmann: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750–1880. Tübingen 1982, S. 96f.; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815. München 1987, S. 304f. 52 Peter-Henning Haischer: Historizität und Klassizität, S. 17. 53 Johann Wolfgang von Goethe: Literarischer Sansculottismus, S. 243.

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Das Klassische zeigt sich in Goethes Aufsatz weit mehr mit der Logik des Buchmarktes verquickt als an bestimmte ästhetische Prinzipien gebunden. Ohne Erfolg beim Publikum kann es keine nationalen Klassiker geben. In dem akommerziellen Sinne, dass das Klassische sich dort einstellt, wo Schriftsteller und Publikum sich auf einem gemeinsamen hohen Geschmacksniveau begegnen, war dieser Gedanke 1795 nicht einmal neu, sondern seit einigen Jahrzehnten geläufig; Sulzers Begriff von „Claßisch“ beruht darauf.54 Auch wenn ein Werk viele Leser unterschiedlicher Art fand, konnte man zu diesem Prädikat greifen: Über Gellerts Fabeln schreibt 1768 der Klotz-Schüler Friedrich Just Riedel (1742–1785), wenngleich nicht ohne Spott: „dieses Buch ist von dem Publicum gekostet, geschmeckt und gelobt worden; es ist also gut und, wenigstens für unsere Zeiten, Klassisch.“55 Wieland indessen hat – das ist der entscheidende Punkt in Goethes Argumentation und nicht nur dort – die Rückkopplung mit dem Publikum dynamisiert und mit dem Buchmarkt verknüpft: Sein System des schrittweisen Sichselbstübertreffens basiert auf merkantilem Erfolg. Goethes Argumentation darf man zudem so weiterführen, dass sich am Markterfolg einer anspruchsvollen Gesamtausgabe wie Wielands Sämtlichen Werken erweist, ob es in Deutschland mittlerweile ein Publikum von so „hohem Grade der Kultur“56 und des Geschmacks gibt, dass jene Entsprechung von Nation und „Nationalschriftsteller“ erreicht wäre, die Goethe als Bedingung klassischer Literatur ansah. ‚Klassische Nationalautoren‘ bringt laut Goethe eine Nation hervor, die sich mit Hilfe eines funktionierenden Buchmarktes kultiviert. Sein eigenes Agieren – von dem er in seinem Aufsatz nichts sagt – entsprach seiner These. In einem Aufsatz über Goethes (Selbst-)„Konstituierung eines nationalen Klassikers“ schreibt Maximilian Nutz dazu: „In den bei Cotta verlegten Werkausgaben präsentierte sich Goethe schon zu Lebzeiten als ein ‚Klassiker‘, der die Kulturnation an seinem fortschreitenden Wirken teilnehmen läßt.“57 Jenseits der von Wieland und Goethe selbst veranstalteten Ausgaben hat die Forschung jedoch nie überprüft, ob bzw. in welchem Maße Goethes – zugegebenermaßen knappe – Ausführungen über die Ermöglichung von Klassikern buch(handels)geschichtlich zutreffen. Wie ich

|| 54 Vgl. Johann Georg Sulzer: Art. Claßisch. In: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Band 1. Leipzig 1771, S. 207–209. 55 Friedrich Just Riedel: Ueber das Publicum. Briefe an einige Glieder desselben. Jena 1768, S. 223. 56 Johann Wolfgang von Goethe: Literarischer Sansculottismus, S. 241. 57 Maximilian Nutz: Das Beispiel Goethe. Zur Konstituierung eines nationalen Klassikers. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart, Weimar 1994, S. 605–637, hier S. 614.

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im Folgenden zeigen möchte, hatte Goethes recht mit seiner These, im seinerzeitigen Deutschland könnten sich ‚klassische Nationalautoren‘ ausschließlich als Profiteure eines intensivierten buchmarktgestützten literarischen Lebens herauskristallisieren und ebendies geschehe jetzt. Allerdings vollzog sich dies vorwiegend nicht in der Weise, die Goethe am Beispiel Wielands skizzierte: Die Überzeugung, man habe in Deutschland nun – d.h. im ausgehenden 18. Jahrhundert – eigene Klassiker, wurde durch das Verlagswesen und den Buchhandel offensiv und im eigenen Interesse verbreitet, nämlich als Werbung für die eigenen Produkte und ohne den Autoren Gelegenheit zu geben, ihre Texte noch einmal zu verbessern. Die Rede von den ‚deutschen Klassikern‘ – als nicht bloß erwarteten, sondern als existierenden – wurde von geschäftstüchtigen Verlegern in Umlauf gebracht, nicht von Autoren oder Kritikern. Zwar steht der erste Wortbeleg, der in der Forschung angeführt wird, in einem Aufsatz Friedrich Schlegels von 1797, der Georg Forster. Fragment einer Charakteristik der deutschen Klassiker betitelt ist.58 Es gibt jedoch zahlreiche ältere Belege, und sie bestätigen, dass der Buchmarkt ‚Klassiker macht‘, wenn auch nicht ganz im Goethe’schen Sinne, denn den hier relevanten Teil des Buchmarktes schätzten die Weimarer überhaupt nicht.

2.2 Die ‚deutschen Klassiker‘ als neue Marke Am 7. März 1789 ließ der Verleger Franz Anton Schrämbl (1751–1803) die „Ankündigung einer Sammlung der vorzüglichsten Werke der deutschen Dichter und Prosaisten“ in die Wiener Zeitung setzen. Dort heißt es: England und Frankreich besitzen die vornehmsten Werke ihrer Klassiker in schönen, gleichen [meint: einheitlichen], und bequemen Auflagen [meint: Ausgaben]. Wir Deutsche haben noch keine ähnliche Sammlung. [...] Alle Werke unserer, jedoch nur der schon entschiedenermassen klassischen deutschen Dichter und Prosaisten werden von mir in einerley Formate, auf feinem Postpapiere, mit einerley Lettern und kostbaren Kupfern geliefert, und es wird monatlich von dieser Sammlung ein Bändchen [...] erscheinen.59

|| 58 Friedrich Schlegel: Georg Forster. Fragment einer Charakteristik der deutschen Klassiker. In: Ders.: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Abteilung 1. Band 2. München, Paderborn, Wien, Zürich 1972, S. 78–99, hier S. 80. 59 Franz Anton Schrämbl: Ankündigung einer Sammlung der vorzüglichsten Werke der deutschen Dichter und Prosaisten. Wiener Zeitung (7.3.1789), S. 558f. http://content.onb.ac.at/cgicontent/anno?aid=wrz&datum=17890307&seite=14& [abgerufen am 24.2. 2018].

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Tatsächlich publizierte Schrämbl bis 1796 48 durchnummerierte Bände,60 die den gesetzten Anspruch auf ansprechende Gestaltung und Ausstattung weit überdurchschnittlich erfüllten. Bei erhöhtem Preis – 1 Gulden statt 45 Kreuzer (60 Kreuzer machten einen Gulden) – gab es sie sogar „mit fein vergoldetem Schnitte und seidnen Bändchen“61. Dieser sehr mäßige Preis galt allerdings nur für Pränumeranten, d.h. für vorauszahlende Abonnenten der ganzen Reihe; Einzelbandkäufer hatten ein Drittel mehr zu zahlen.62 Die Signalworte ‚deutsche Klassiker‘ kommen zwar nicht im Reihentitel vor, aber Schrämbl verwendet sie sowohl in seinen kurzen Vorberichten im jeweils ersten Band, der einem Autor gewidmet ist,63 als auch in den zahlreichen weiteren Ankündigungen seine Reihe betreffend, die er in die Wiener Zeitung einrücken ließ, und auch andere bezogen sich unter diesem Titel auf die Reihe.64 Als „Sammlung der deutschen Klassiker“ wurde sie bald bekannt und verkaufte sich sehr gut.65 Als 48. Band wurde 1796 der Anfang einer Wieland-Ausgabe angekündigt,66 die im Laufe der nächsten beiden Jahrzehnte in mindestens 85 Bänden erschien. Nach dem Tod Schrämbls führten zunächst seine Witwe und später Bernhard Philipp Bauer die Reihe fort.67 Nicht ganz recht hatte Schrämbl, wo er seine Reihe als neuartig in Deutschland präsentierte. Der Karlsruher Verleger Christian Gottlieb Schmieder (1750– 1827) hatte bereits seit 1774 eine Sammlung der besten deutschen prosaischen Schriftsteller und Dichter publiziert, in der binnen dreier Jahrzehnte mindestens 138 Bände erschienen.68 Den ersten Band bildeten Gellerts Fabeln von 1746/48,

|| 60 Diese Zahl ergibt sich aus der Verlagsbibliographie bei Ursula Kohlmeier: Der Verlag Franz Anton Schrämbl. Wien 2001, S. 115–121, weil die als erster Band gezählte Ausgabe von Ewald Christian von Kleists Sämtlichen Werken in zwei Bänden erschien. 61 So die Ankündigung in der Wiener Zeitung (7.3.1789), S. 559. 62 Vgl. die Ankündigung in der Wiener Zeitung (24.6.1789), S. 1618. 63 Zum ersten Mal ist das im zweiten Band der Fall, vgl. Gottfried August Bürger: Gedichte. Wien 1789, Vorbericht, n. pag. 64 So der Kupferstecher Kohl in der Wiener Zeitung (28.8.1793), S. 2552. 65 Die Bekanntheit von Schrämbls Unternehmen ist vor allem durch die Angriffe von Kritikern des Nachdrucks bezeugt, vgl. [Johann Nikolaus Becker:] Fragmente aus dem Tagebuch eines reisenden Neu-Franken. Frankfurt am Main, Leipzig 1798, S. 108f. 66 Vgl. Wiener Zeitung (31.8.1796), S. 2542. 67 Vgl. Ursula Kohlmeier: Der Verlag Franz Anton Schrämbl, S. 116–132 und S. 146. Nicht alle Wieland-Bände sind bibliographisch nachweisbar, daher die unsichere Bandzahl. Als Gesamtumfang der Reihe geben Peter R. Frank und Johannes Frimmel: Buchwesen in Wien 1750–1850. Kommentiertes Verzeichnis der Buchdrucker, Buchhändler und Verleger. Wiesbaden 2008, S. 175 ohne weitere Begründung 148 Bände an. 68 Vgl. Reinhard Wittmann: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert, S. 87 (mit zu geringer Bandzahl, aber Autornennung bis Band 106).

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eines der beliebtesten Bücher des 18. Jahrhunderts überhaupt. Schmieder griff jedoch nicht zu den Bedeutsamkeitssignalen ‚klassisch‘ oder ‚Klassiker‘, um für sein Produkt zu werben – das wäre 1774 schwerlich zustimmungsfähig gewesen, weil die Klassizität, die man sich für die deutsche Literatur wünschte, damals noch nicht als erreicht galt. In seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste urteilte Sulzer 1771, „bis itzt [haben] noch so wenig deutsche Schriftsteller sich hervorgethan […], von denen man vermuthen kann, dass sie, sowol bey der deutschen Nachwelt, als auch bey andern Nationen als claßische Schriftsteller werden angesehen werden“69. Der seinerzeitige Buchmarkt bestätigt diese Einschätzung. Als Versuch, deutsche Autoren als „klaßische Schriftsteller“ zu verkaufen, ist mir vor Schrämbl lediglich ein Titel bekannt: Canitz’ Gedichte, 1764 von Beat Ludwig Walthard (1743–1802) in Bern herausgebracht. Walthard annonciert seine Canitz-Ausgabe als „Probe“, ob es überzeugt, deutsche Autoren als ‚Klassiker‘ zu verlegen, so wie „Elzevier und Wetstein in Amsterdam, Tonson und Brindlei in London, Barbou und Coutelier in Paris, und andre mehr, Sammlungen gedrukt haben von lateinischen Schriftstellern, die unter die klaßischen gehören“70. Canitz sollte nur „der erste“ einer ganzen „Sammlung“ sein – zu der es jedoch nicht gekommen ist. Die im nächsten Jahrzehnt folgenden Ausgaben von Rabener, Kleist, Gellert, Haller und Hagedorn wurden von Walthard nicht mehr mit dem Klassiker-Prädikat versehen. Dass sein Vorstoß zunächst vereinzelt blieb, lag wohl nicht so sehr daran, dass der Ruhm des 65 Jahre zuvor verstorbenen Freiherrn von Canitz damals längst verblasst gewesen wäre, denn das Buch scheint sich gut verkauft zu haben.71 Vielmehr ist allgemein festzustellen, dass es um 1770 noch keine weithin anerkannten ‚deutschen Klassiker‘ gab. Erst im Laufe der 1780er Jahren stieg das Ansehen der deutschen Literatur so weit, dass es akzeptabel, ja opportun und bald üblich wurde, von ‚deutschen Klassikern‘ zu sprechen, mit Bezug auf lebende oder unlängst verstorbene Autoren. In der Wiener Zeitung, in der Schrämbl seine Reihe annoncierte, findet sich die Formulierung

|| 69 Johann Georg Sulzer: Art. Claßisch, S. 208. 70 Friedrich Rudolph Ludwig von Cani[t]z: Sämtliche Gedichte. Mit Kupfern, gezeichnet von S**. H**. G**. Bern 1764, S. V. Vgl. ebd.: „Kaniz verdient eben so wohl bei den Deutschen unter die klaßischen Schriftsteller gezählt zu werden, als Horaz bei den Lateinern.“ Die folgenden Zitate ebd., S. VI. 71 Walthard selbst gibt an, die erste Auflage in drei Monaten verkauft zu haben (vgl. Karl Max Walthard, Gertrud Weigelt: Der Berner Verleger Beat Ludwig Walthard. 1743–1802. Mit Beitr. von Adolf Burri und J. O. Kehrli. Bern 1956, S. 53); eine zweite Auflage folgte 1770, eine dritte, in Antiqua neu gesetzte 1772 (vgl. ebd., S. 59).

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zuerst 1786 in der Ankündigung einer Bibliotheksauflösung, bei der neben französischen und lateinischen Werken auch „die meisten deutschen Klaßiker“ zum Verkauf kommen würden.72

2.3 Klassische Schrifttypen und der Wettbewerb mit den Franzosen So wie die deutschen Autoren und Kritiker ‚ihre Literatur‘ seit dem späten 17. Jahrhundert stets im Wettbewerb mit der französischen und antiken gesehen haben, hat der Vergleich mit den längst anerkannten Klassikern der Franzosen und der Alten auch die Etablierung der Buch-Marke ‚deutsche Klassiker‘ gefördert. Bereits im Französischen war eine repräsentative, weil mit besonderer Sorgfalt gestaltete Sammel-Ausgabe wichtig gewesen für die Etablierung des Klassikerbegriffs, als dieser nicht mehr nur auf die Autoren der Antike, sondern auch auf Autoren der eigenen Sprache – alphabetisch und ungefähr auch historisch gesehen: von Boileau (1636–1711) bis Voltaire (1694–1778) – bezogen wurde: Der Schriftschneider und Drucker François-Ambroise Didot (1730–1804) und sein Sohn Pierre Didot (1760–1853) brachten 1783–1797 eine Collection des auteurs classiques françois heraus, die der seit 1733 bei Barbou verlegten Collection des auteurs latins zur Seite trat und nicht zuletzt wegen ihrer neuen Type europaweit berühmt wurde.73 Mit seiner „Klassiker“-Reihe unternahm es Schrämbl erklärtermaßen, „die besten deutschen Dichter und Prosaisten in einer ganz nach Didots vortreflichen Mustern veranstalteten Taschenauflage herauszugeben, […] die sich auch an typographischen [!] Werthe mit den besten auswärtigen zu messen im Stande sein soll“74. Der Klassiker-Status ergab sich – das finden wir bei Schrämbl ebenso wie in der über das ganze 18. Jahrhundert hinweg geführten Diskussion über die ‚klassischen Schriftsteller‘ der Deutschen – aus angeblich offenkundiger Gleichrangigkeit mit den Besten der (anderen) führenden Nationen. Demonstrieren konnte der Verleger die behauptete Gleichrangigkeit vor allem durch die vorzügliche Ausstattung, die er seinen Klassiker-Ausgaben verlieh. Dem Leser ließ (und lässt) sich die Rangstufe eines Autors am leichtesten durch Papier- und Druckqualität,

|| 72 Wiener Zeitung (26.4.1786), S. 968; wiederholt am 6.5.1786, S. 1065, und am 10.5.1786, S. 1065. 73 Vgl. das Lob in der Wiener Zeitung (15.5.1784), S. 1089. 74 Vgl. Schrämbls „Nachricht an das Publikum“ in: Wiener Zeitung (3.6.1789), S. 1413f., hier S. 1413.

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Kupferstiche sowie Schrifttypen evident machen. Für das Publikum ist Klassizität nicht zuletzt eine Frage des optischen und haptischen Eindrucks – das können wir mit Blick auf Schrämbl ebenso festhalten wie hinsichtlich des Deutschen Klassiker Verlags. Gleich ob im späten 18. oder späten 20. Jahrhundert: Der Verlag behauptet die Klassizität des Verlegten, ohne sich mit deren argumentativer Plausibilisierung zu belasten;75 handwerklich-technisch hingegen zeigt er sich durchaus effektiv „eine Vollkommenheit zu erreichen gesinnet […], welche die strengste Prüfung auszuhalten im Stande ist“76. Übrigens haben die Bände des DKV gleichfalls ein französisches Vorbild – die Bibliothèque de la Pléiade, die der Gallimard-Verlag seit 1933 betreibt –, wenngleich es einige Unterschiede gibt: die Pléiade schließt viele moderne und eine ganze Reihe nicht-französischer Autoren ein. Für Schrämbl war die beanspruchte Parallelität zu den Didot-Klassikern so wichtig, dass er einen Teil der Auflage in einer von Johann Ernst Mannsfeld (1738–1796) „ganz neu geschnitten[en]“ Antiqua-Type herausbrachte, die „mit den berühmtesten Schriften der Ausländer weteiferen darf“, so seine Ankündigung.77 Antiqua-Drucke hatte es seit der Jahrhundertmitte auch im deutschen Sprachraum immer wieder gegeben – Salomon Gessner z.B. publizierte die höherwertigen illustrierten Ausgaben seiner Werke in Antiqua –, doch war die Frakturschrift weiterhin vorherrschend.78 Bezeichnenderweise spielten ‚edle‘ Buchgestaltung und eine Klassizität signalisierende Antiqua-Schrift auch für den Berliner Verleger Johann Friedrich Unger (1753–1804) sowie für den Leipziger Georg Joachim Göschen (1752–1828), den Verleger Klopstocks, Wielands und Schillers, eine wichtige Rolle.79 Den Aufwand von „Didotschen Lettern, Kupfern und Vignetten“, u.U. zudem von einem Einband „in Marroquin“ (einem sehr feinen Leder), rechtfertigte Göschens Freund Karl August Böttiger (1760–1835) im Weimarer Journal des Luxus und der Moden so:

|| 75 Vgl. exemplarisch die Formulierung in Schrämbls „Vorbericht“ zur mit Bd. 41 seiner Sammlung beginnenden Klopstock-Ausgabe: „Der Werth unsers ersten vaterländischen Dichters ist in jeder Rücksicht zu sehr entschieden, als daß hier etwas etwas darüber noch zu erwähnen seyn könnte.“ (G[ottlieb] F[riedrich] Klopstock: Poetische Werke. Band 1. Wien 1794, n. pag.) 76 So Schrämbls „Ankündigung einer Sammlung der vorzüglichsten Werke der deutschen Dichter und Prosaisten“ in der Wiener Zeitung (7.3.1789), S. 558. 77 Ebd., S. 559. 78 Vgl. Peter-Henning Haischer und Charlotte Kurbjuhn: Faktoren und Entwicklung der Buchgestaltung im 18. Jahrhundert. In: Kupferstich und Letternkunst. Buchgestaltung im 18. Jahrhundert. Hg. von dens. u.a. Heidelberg 2017, S. 13–93, hier S. 38–43. 79 Vgl. ebd., S. 46, S. 50f. sowie Stephan Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der Goethe-Zeit, S. 94f., S. 247–257.

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Unsern klassischen Schriftstellern, deren Werke Jahrhunderte dauern werden, und auf deren, auch bey andern Nationen Europens allgemein anerkannten Werth Teutschland mit Recht stolz seyn darf, gebührt vor andern diese Ehre. Wir sind es aber nicht allein ihnen, als einen allgemeinen und öffentlichen Dank für Aufklärung, Unterricht und Vergnügen, die wir von ihnen erhielten, nein, wir sind es uns selbst, wenn uns Nationalruhm und Achtung anderer Völker nicht so gleichgültig als einer Auster, schuldig, schöne Ausgaben ihrer Werke mit Eifer und Ehrgefühle zu befördern.80

Die von Schrämbl ab 1789 herausgebrachten Bände waren für deutsche und insbesondere für Wiener Verhältnisse sorgfältig gedruckt. Von einer exklusiven Ausgabe – die Auteurs classique françois verdanken sich einem Auftrag des Königs, waren offiziell „pour l’education du Dauphin“ bestimmt, hatten eine Auflage von nur wenigen hundert Exemplaren und waren sehr teuer – kann bei der Sammlung der vorzüglichsten Werke deutscher Dichter und Prosaisten jedoch keine Rede sein. Die Sammlung machte die ‚wertvollsten‘ Autoren – „Schriftsteller von klassischem Werthe“81 – vielmehr zum relativ kleinen Preis verfügbar und damit einem vergleichsweise großen Leserkreis zugänglich. Die Exklusivität, die das Klassiker-Etikett auf literarischer Ebene behauptet, sollte auf kommunikativer und geschäftlicher Ebene gerade nicht reproduziert werden. Rhetorisch wie handwerklich beschworen wurde jene Exklusivität zu dem völlig gegenläufigen Zweck der Ausweitung und Verbreitung: der Auflagezahlen und des Geschäfts in Schrämbls Verlag ebenso wie der Vertrautheit mit den eigenen Klassikern im deutschen Lesepublikum.

2.4 Welche Autoren? Und weitere Klassiker-Reihen Ein Wort noch dazu, wem der Klassikertitel verliehen wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert. Es handelt sich um Autoren, die seit dem zweiten Jahrhundertviertel publiziert haben, punktuell bis in die damalige Gegenwart (Wieland, Bürger); die avancierteste, durch den Sturm und Drang geprägte bzw. hindurchgegangene Literatur bleibt jedoch außen vor. Die ersten Klassiker im Sinne des Buchmarkts waren nur ausnahmsweise die großen Weimarer Autoren Goethe, Schiller, Wieland und Herder, die heute den (quantitativ schmalen) Bestand der Klassik bilden. Die Autoren in Schrämbls ‚deutschen Klassikern‘ waren vielmehr, in der Rei-

|| 80 Karl August Böttiger: Ueber den typographischen Luxus mit Hinsicht auf die Neue Ausgabe von Wielands sämmtlichen Werken. In: Journal des Luxus und der Moden 8 (1793), S. 599–608, hier S. 605. 81 So Schrämbls Formulierung im „Vorbericht“ zu seiner Ausgabe von Gottfried August Bürger: Gedichte. Band 1, n. pag.

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henfolge des Erscheinens der ihnen gewidmeten Bände: Ewald Christian von Kleist, Bürger, Gessner, Hölty, Uz, Hagedorn, Johann Benjamin Michaelis, Pfeffel, Thümmel, Gellert, Haller, Weiße, Lichtwer, Willamov (‚der deutsche Pindar‘), Gerstenberg, Klopstock, Wieland, Ramler. Unter die „wirklich classischen Schriftsteller“ rechnet Schrämbl 1801 zwar auch „Lessing, […] Göthe u. s. w.“, und er kündigt an, sie nach Abschluss der Wieland-Ausgabe zu drucken, doch ist es dazu nicht mehr gekommen. Literarhistorisch verstanden, entspricht der in Wien verwandte Begriff ‚Deutsche Klassiker‘ dem wenige Jahre später in Gymnasial-Lehrbüchern des nördlichen Deutschland kodifizierten Sprachgebrauch mit einer (nicht streng eingehaltenen) Epochengrenze um 1740: Als Teil eines Buchtitels finden wir die Fügung „deutsche Klassiker“ 1804 in dem von Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772–1838), damals a.o. Professor in Leipzig, verfassten Practischen Handbuch zur statarischen und kursorischen Lektüre der deutschen Klassiker, während die damit verbundene Epochenkonstruktion zum ersten Mal in einem Lehrbuch expliziert wurde, das der Rektor des Berliner Gymnasiums zum Grauen Kloster, Theodor Heinsius (1770–1849), 1811 herausbrachte. Engere Fassungen der „klassischen Literatur“ Deutschlands – etwa ‚seit Lessing‘82 – gab es zwar schon damals, doch waren sie in der Minderheit. Mit dem von Heinsius so genannten „Zeitalter classischer Litteratur“83 in deutscher Sprache meinen die beiden Pädagogen, nicht anders als Schrämbl, die Zeit ‚nach Gottsched‘, also etwas mehr als die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, stil- oder strömungsgeschichtlich gesprochen: seit Rokoko und Empfindsamkeit. Ebenso hielten es bis in die jüngste Zeit gewichtige Stimmen der akademischen Literaturgeschichtsschreibung.84 ‚Klassikerdiskursgeschichtlich‘ wichtig ist Schrämbls Unternehmen auch deswegen, weil es wie ein Startschuss für eine Welle von Klassikerausgaben wirkte. Ein Wiener Konkurrent, Joseph Edler von Baumeister (1750–1819), begann gleichzeitig mit einer solchen Sammlung, sogar mit demselben Reihentitel, demselben Preis,85 derselben Schrifttype und demselben Autor, Ewald Christian

|| 82 Dezidiert so bei Karl August Schaller: Handbuch der klassischen Literatur der Deutschen von Lessing bis auf gegenwärtige Zeit. Band 1. Halle 1811, S. 4f. Der Rezensent des ersten Bandes in der Jenaischen allgemeinen Literatur-Zeitung 213 (1812), Sp. 139–142, hier Sp. 140 beispielsweise rechnet Klopstock ganz selbstverständlich dazu. 83 Theodor Heinsius: Teut oder theoretisch-praktisches Lehrbuch des gesammten Deutschen Sprachunterrichts. Band 4,2: Geschichte der Sprach-, Dicht- und Redekunst der Deutschen. Berlin 1811, S. 102–289. 84 Vgl. Victor Lange: Das klassische Zeitalter der deutschen Literatur 1740–1815. Übersetzt von Wilhelm Höck. München 1983. 85 Vgl. die in der Wiener Zeitung (3.6.1789), S. 1413 genannten Preise.

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von Kleist (1715–1759).86 Baumeister war von Schrämbl wegen des Drucks angesprochen worden und versuchte dann offensichtlich, sich dessen Idee anzueignen.87 Eine Jugendzeitschrift mit kürzeren Texten „unsrer deutschen Claßiker“ wurde 1792 gleichfalls in Wien angekündigt.88 Die Werbung für eine weitere Reihe in einer der Schrämbl’schen ähnlichen Machart, die 1815 von den Wiener Buchhändlern Christian Kaulfuß und Carl Ambruster gestartet wurde und bis 1820 auf 42 Bände einschließlich einer „Neuen Folge“ kam, stellte die ausgewählten Autoren ebenfalls als „deutsche Classiker“ vor.89 Außerhalb Wiens wurde der Typus der kleinformatigen, damals „niedlich“ genannten Ausgaben von Friedrich Schumann (1773–1826) in Zwickau, dem Vater des Komponisten, aufgenommen; er brachte 1810 bis 1828 die Etui-Bibliothek der deutschen Classiker in annähernd 100 Sedezbändchen heraus.90 Zu den „Classikern“ wurden hier auch Texte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gerechnet. So verwendet, bezeichnet der Begriff nicht die (nennenswerten) Autoren eines begrenzten Zeitraums, nämlich der Zeit höchster nationalliterarischer ‚Blüte‘, sondern die ‚besten‘ bzw. bekanntesten Autoren aller Zeiten. Auf diesen Unterschied ist hier wenigstens kurz hinzuweisen. Der Klassikerdiskurs des 18. Jahrhunderts meinte die Autoren der zunächst erhofften und am Jahrhundertende dann als angebrochen gefeierten nationalliterarischen Blütezeit. Dasselbe gilt für die Etablierung des Klassikerbegriffs auf dem Buchmarkt vor und um 1800. Auf dem heutigen Buchmarkt ist dagegen der epochal entgrenzte Klassikerbegriff der übliche, der kaum etwas anderes meint als ‚kanonisches‘ Werk bzw. dessen Autor. Die Ergänzung und zum Teil auch Ablösung der ‚Blütezeit-Klassiker‘ durch die ‚Kanon-Klassiker‘ begann, wie wir sahen und noch sehen werden, bereits im frühen 19. Jahrhundert. Sie zeigt an, dass sich die Klassikeremphase der Verleger nur ganz zu Anfang auf den von Autoren, Poetikern und Kritikern geführten Klassikerdiskurs stützte. Sobald die Marke ‚Klassiker‘ auf dem Markt etabliert war, funktionierte sie nach dessen Gesetzen. Die Funktion,

|| 86 Vgl. Ursula Kohlmeier: Der Verlag Franz Anton Schrämbl, S. 115f. Die Ankündigung Baumeisters folgt in der Wiener Zeitung (7.3.1789), hier S. 560, unmittelbar auf die Schrämbl’sche und ist zum guten Teil wörtlich dieselbe. 87 So die Darstellung Schrämbls in der Wiener Zeitung (7.3.1789), S. 558. 88 Wiener Zeitschrift 1 (1792), H. 9, S. 393-396, das Zitat S. 396. 89 Anzeigen in der Wiener Zeitung (19.6.1815), S. 1189. 90 Die Charakterisierung „niedlich“ findet sich in einer Anzeige der Etui-Bibliothek in der Wiener Zeitung (24.2.1827), S. 302, ebd. eine Übersicht über die einzelnen Bände. Die teilweise abweichenden Verlagsangaben bei Schumanns Ausgabe (Aachen: Forstmann, Heilbronn: Strasser) sind Tarnungen. Die Deutsche Anthologie oder Blumenlese aus den Klassikern der Deutschen, die 1821–1827 in 87 Bänden erschien, scheint identisch mit der Etui-Bibliothek zu sein.

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einen nationalliterarischen Höhepunkt zu markieren, ging dann auf die Ableitung ‚Klassik‘ über, die in den Literaturgeschichten zuerst Ende der 1830er Jahre auftritt (1839 bei Heinrich Laube). Wieder einmal in Karlsruhe stellte sich seit 1814 ein ganzer Verlag unter das Klassiker-Label, indem er sich Bureau der deutschen Classiker nannte.91 Bis 1829 erschienen hier 173 Bände, eine Wieland-Ausgabe in 45 Bänden machte den Anfang. Bereits 1811 hatte der schwedische Verleger Emanuel Bruzelius (1786–1832) die neuere deutsche Literatur als Zugpferd sogar auf einem internationalen, von ihm bis ins Baltikum und nach Russland hinein bespielten Markt ausgemacht: In Uppsala brachte er eine Bibliothek der deutschen Classiker in 76 Oktavbänden binnen zehn Jahren heraus.92 Enthalten sind Autoren von Klopstock bis zu den Romantikern August Wilhelm Schlegel, Tieck und de la Motte-Fouqué – und erstmals eine Frau: Amalie von Helvig (1776–1831), die einen Schweden geheiratet hatte und aus dem Schwedischen übersetzte. Immerhin sieben Bände entfallen auf die beiden Geschichtsschreiber Johannes von Müller (1752–1809) und August Ludwig Heinrich Heeren (1760–1842). Einen Sonderfall anderer Art stellt der Verlag der deutschen Klassiker dar, den der konvertierende Priester und Bibliothekar Joseph Eiselein (1781–1856) 1822 in Donaueschingen gründete. Mit seiner Lessing-Ausgabe sowie einer wegen ihrer Vollständigkeit editorisch wichtigen Winckelmann-Ausgabe in zwölf Bänden (1825–29) verfolgte Eiselein nicht nur kommerzielle, sondern vor allem auch ‚geistespolitische‘ Ziele. Die Einbeziehung Winckelmanns war in den Klassiker-Ausgaben um 1800 keineswegs üblich. Hier mag man fragen, ob nicht gerade ein so beredter Bewunderer des klassischen Altertums wie Winckelmann ein typischer Autor in solchen Ausgaben hätte sein müssen. Dass er das nicht war, unterstreicht die Unabhängigkeit des verlegerisch installierten Klassikerbegriffs von Antikebezügen ebenso wie von klassizistischen Überzeugungen oder Stilcharakteristika bei den edierten Autoren. Als ‚Klassiker‘ meinte man die (ohne genaue Kriterien) ‚besten‘ Autoren zu bezeichnen, die den internationalen Vergleich nicht zu scheuen brauchen. Genau genommen, machte man es sich allerdings ein bisschen einfacher, indem man ‚alle renommierten‘ Autoren der Blütezeit der deutschen Literatur so rubrizierte, beginnend mit den Opponenten gegen Gottsched oder, bei engerer Auswahl, Klopstock und Lessing. (Übrigens wurden und werden fremdsprachige

|| 91 Vgl. Stephan Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der GoetheZeit. Berlin, New York 1999, S. 286–288. 92 Vgl. Karl Goedeke: Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Band 15: Achtes Buch: Vom Frieden 1815 bis zur französischen Revolution 1830. Berlin 22011, S. 426.

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Klassiker nicht über ihre Epochenzugehörigkeit identifiziert und bleiben dadurch singulärer.) In jedem Fall ist der Klassiker-Begriff, den die angeführten Ausgaben sowohl voraussetzten als auch verbreiteten, ein rein evaluativer Begriff, der weder Antikebezüge impliziert noch eine stiltypologische Zuordnung vornimmt – dies in deutlichem Kontrast zum Sprachgebrauch in den ästhetischen Diskussionen insbesondere unter den Frühromantikern.93 Und evaluativ, wie gesagt, allein im Sinne einer Wertbehauptung, ohne eine Begründung hinzuzufügen.

2.5 Ausblick bis zum ‚Klassikerjahr‘ 1867 und ein Rückblick Abgesehen von den beiden zuletzt genannten Unternehmen ging die allgemeine Tendenz zu immer umfangreicheren und ebenso immer preiswerteren KlassikerReihen. Carl Joseph Meyer (1796–1856), der Gründer des zunächst in Gotha, dann in Hildburghausen ansässigen Bibliographischen Instituts, kündigte 1827 seine Cabinets-Bibliothek der Deutschen Classiker gleichzeitig mit der Miniatur-Bibliothek der Deutschen Classiker an, im Jahre darauf die Hand-Bibliothek der Deutschen Classiker. Nach mehreren anderen Serien folgten 1850 bis 1855 die Groschen-Bibliothek der Deutschen Classiker für alle Stände mit dem beziehungsreichen Motto „Bildung macht frei!“ zum Preis von 1 guten Groschen pro Lieferung. Allein diese Bibliothek umfaßte 365 Bändchen, sie enthielt Texte neuerer Autoren wie Heine, Gutzkow, Grillparzer oder Gotthelf ebenso wie Goethe, Schiller, [Heinrich von] Kleist oder Klopstock. Durch seine neuen Vertriebsmethoden, durch Subskription und Kolporteure, besonders aber durch seine von den Zeitgenossen als marktschreierisch empfundenen Werbemethoden, gelang es ihm in kurzer Zeit, hohe Absatzzahlen zu erreichen […].94

Mit diesen sehr preiswerten Ausgaben, die nicht mehr nur für Wohlhabende erschwinglich waren und „die Klassiker in einfachster Aufmachung tatsächlich unter das Volk“95 brachten, kommen wir in ein Gebiet, das der Verlags- und Buchhistorie besser bekannt ist als die frühen Klassiker-Ausgaben in Wien und anderen süddeutschen Standorten. Einen weiteren Massen- und Verbilligungs-Schub erfuhr die Klassiker-Publikation durch die bereits erwähnte Freigabe aller seit 30

|| 93 Die intensive Reflexion der Frühromantiker über das Klassische war meist mit einem Bezug auf die Antike verbunden, vgl. die umfangreiche Belegsammlung bei Jochen A. Bär: Sprachreflexion der deutschen Frühromantik. Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus. Mit lexikographischem Anhang. Berlin, New York 1999, S. 399–404. 94 Monika Estermann und Stephan Füssel: Belletristische Verlage. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Band 1: Das Kaiserreich 1871–1918. Hg. von Georg Jäger. Frankfurt am Main 2003, S. 164–299, hier S. 174. 95 Ebd., S. 175.

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Jahren verstorbenen Autoren zum 9. November 1867. Keineswegs der einzige, jedoch der erfolgreichste Akteur war dabei Anton Philipp Reclam (1807–1896) mit seiner Universal-Bibliothek. Die binnen eines Jahres publizierten ersten 100 Hefte enthielten zur Hälfte Werke von Shakespeare, Schiller und Goethe – mit dem Faust als Nr. 1, bis heute! –; die Reihe wurde daher durchaus als „Classiker-Ausgabe“ wahrgenommen, obwohl sie sich weder auf dieses Marktsegment beschränkte noch ihre Werbung darauf abstellte.96 Vor 1867 lagen die Rechte an den Werken Goethes, Schillers und Herders allein bei der Cottaschen Verlagsbuchhandlung in Stuttgart. Johann Friedrich Cotta (1764–1832) hatte in seine Autoren hohe Honorarsummen investiert; sein Sohn und Nachfolger Georg von Cotta (1796–1863) hatte 1838 zusätzlich die Rechte für Lessing, Klopstock und Wieland von Göschen erworben.97 Wegen ihrer Exklusivrechte konnten sie hohe Preise für ihre aufwendig hergestellten Ausgaben verlangen. Die Auflagen blieben daher klein (in der Regel 1.000 Exemplare), denn Cottas Bücher waren selbst für viele Gebildete, Lehrer etwa, unerschwinglich.98 Freilich sahen wir, dass andere Verleger Möglichkeiten suchten und fanden, trotz der bei Cotta liegenden Rechte Geschäfte mit den Klassikern zu machen, häufig am Rande oder sogar außerhalb der Legalität. Die Etablierung einer auf 30 Jahre begrenzten postmortalen Schutzfrist vor Augen, versuchte sich ab 1853 auch Cotta mit einer preiswerten Volksbibliothek deutscher Klassiker in nicht weniger als 400 Lieferungen sowie ab 1867 mit einer Bibliothek für Alle. Meisterwerke deutscher Klassiker.99 Aus der Expansion, ja Explosion des Klassiker-Marktes um das ‚Klassikerjahr‘ 1867 herum – die durch die nationalpolitischen Erwartungen der Reichsgründungszeit noch zusätzlich befeuert wurde – darf nicht geschlossen werden, erst jetzt sei die Vorstellung von ‚deutschen Klassikern‘ für den Buchmarkt wichtig geworden und dem Publikum vermittelt worden. Das ist der für uns wichtige Punkt: Das Geschäft mit den – ausdrücklich so angepriesenen – ‚deutschen Klassikern‘ begann bereits vor 1800, und zwar schon damals als Popularisierung, d.h. mit einem Adressatenkreis über den inner circle des literarischen Lebens hinaus. Was um 1867 geschah, war eine weitere Steigerung der 1789 mit Schrämbls Sammlung der vorzüglichsten Werke deutscher Dichter und Prosaisten einsetzen-

|| 96 Vgl. ebd., S. 176–178, das Zitat ebd., S. 176; es stammt aus den Leipziger Nachrichten (11.11.1867). 97 Vgl. ebd., S. 173 sowie Bernhard Fischer: Johann Friedrich Cotta. Verleger – Entrepreneur – Politiker. Göttingen 2014. 98 Vgl. Monika Estermann und Stephan Füssel: Belletristische Verlage, S. 182f. 99 Vgl. ebd., S. 184.

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den, 1810 durch Schumanns Etui-Bibliothek der deutschen Classiker vorangetriebenen Entwicklung, kein Umbruch. Die verlegerische Klassiker-Produktion nahm keineswegs nur eine Klassiker-Begeisterung im Publikum auf, wie sie etwa durch das Schiller-Jubiläum 1859 und dessen nationalpolitische Instrumentalisierung befeuert wurde, sondern hat die Vorstellung von ‚deutschen Klassikern‘ ihrerseits erst dem Publikum nahegebracht, ja sie geradezu ‚erfunden‘ – und zwar als ‚Tatsache‘ im Unterschied zum theoretischen Problem der literarischen Kategorie ‚Klassiker‘, wie es von den Romantikern diskutiert wurde. Die Klassiker-Ausgaben der Zeit um 1800 bezeugen eine Kanonisierung der erst- und auch der zweitrangigen deutschen Autoren (meist) der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als „deutsche Klassiker“ lange vor dem Einsetzen der Literaturgeschichtsschreibung, auf die sich die Forschung zur nationalpolitisch motivierten Konstruktion der Klassiker bisher vor allem gestützt hat (Gervinus’ einschlägiger Band erschien 1842). Die bei niedrigem Preis gut bis sehr gut gestalteten Ausgaben, die starke Verbreitung fanden – Meyer behauptet, von seiner Cabinets-Bibliothek der Deutschen Classiker 40.000 Exemplare pro Band bereits im ersten Jahr abgesetzt zu haben100 –, bezeugen darüber hinaus eine ‚erfolgreiche‘ Vermittlung der Kategorie Klassiker an das Lesepublikum. Die Überzeugung, dass es deutsche Klassiker gibt, hat sich beim Durchschnittsleser und -buchkäufer zweifellos weit weniger aufgrund von Lektüre der nicht ganz einfachen Aufsätze von Goethe oder Schlegel über den Entwicklungsstand der deutschen Literatur am Ausgang des 18. Jahrhunderts eingestellt als angesichts jener ebenso beeindruckenden wie reizvollen Buchreihen, mögen „die schönen Bände der Classiker“ oft auch „auf ihren Brettern [verstaubt]“ sein,101 wie Kritiker schon im 19. Jahrhundert vermuteten. Die heutige Beheimatung der literarischen Klassiker-Emphase vor allem im Buch-Marketing hat in der Zeit um 1800 eine starke Parallele, die mehr Beachtung als bisher verdient. Denn sie ist als wesentlicher Faktor der Etablierung ‚deutscher Klassiker‘ anzusehen. Dass die deutsche Literatur über Klassiker verfügt wie die anderen großen Nationen auch, manifestierte (und manifestiert) sich in repräsentativ gestalteten Editionen so buchstäblich greifbar wie nirgendwo sonst. Durch ihren Kauf konnte und kann man sich als hinreichend Vermögender die Klassiker vergleichsweise leicht aneignen, zu-

|| 100 Vgl. ebd., S. 174. 101 W. v. W. [d.i. Christian W. Wurst]: Kreuz- und Querzüge in Sachen der deutschen Klassiker. Freiburg 1868, S. 20–22. Zitiert nach: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848–1880. Mit einer Einführung in den Problemkreis und einer Quellenbibliographie hg. von Max Bucher u.a. Band 1. Stuttgart 1975, S. 656f., hier S. 656.

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nächst oder zumindest als materiellen Besitz. Dass die geistige Aneignung hinzukommen möge, war und ist die Idee.

2.6 Die Klassiker in der Hand der Nachdrucker: eine Win-win-Situation Die mangelnde Beachtung der genannten Buchreihen in der Forschung rührt vermutlich auch daher, dass sie einem verachteten Gewerbe entstammen: dem Nachdruck, oder um es aus der Perspektive seiner Gegner zu formulieren: dem Raubdruck. Das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts war bekanntlich eine Hochphase des Nachdrucks. Denn vor der Einführung rechtlicher Regeln, wie wir sie heute kennen – mit dem Recht des Autors an seinem geistigen Eigentum und dem Verwertungsrecht des Verlegers, mit dem der Autor einen Vertrag geschlossen hat –, wurde der Nachdruck zwar auch schon moralisch angegriffen, doch war er meist legal und wurde in den Nachdruckhochburgen sogar von der Regierung protegiert.102 Unzulässig waren der Nachdruck sowie der Vertrieb von Nachdruckausgaben nur in dem Staat, in dem der Verleger ansässig war, dem der Autor seinen Text verkauft hatte, oder wenn sich der Verleger ein obrigkeitliches Druckprivileg besorgt hatte, was wegen der territorialen Zersplitterung sehr aufwendig war und erst Cotta für seine Goethe-Ausgabe letzter Hand (1827–30) gelang. Das preußische Landrecht von 1794 schränkte den Nachdruck zwar dahin ein, dass keine Neuausgabe von Titeln erlaubt war, die noch von ihrem Urverleger auf dem Markt angeboten wurden.103 Maria Theresia und Joseph II. hingegen förderten geradezu die Buchproduktion per Nachdruck, um die österreichisches Außenhandelsbilanz zu verbessern,104 und auch in Baden fand er günstige Bedingungen: Das Badische Landrecht von 1810 negierte ausdrücklich das Eigentum an Texten verstorbener Autoren.105 Dass Wien und Karlsruhe lange Zeit die wichtigsten Verlagsstädte für Klassiker-Reihen waren, hat darin seinen Grund, und zu Baden gehörte seit 1806 auch Donaueschingen. Walthard, der 1764 noch einsame Pionier einer Ausgabe ‚deutscher Klassiker‘, war ebenfalls eifriger Nachdrucker.

|| 102 Vgl. Reinhard Wittmann: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert, S. 69–92; Stephan Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der Goethe-Zeit, S. 265f. 103 Vgl. Rainer Fürst: Das „Bureau der Deutschen Classiker“ in Karlsruhe. 1813–1834. Eine Dokumentation zur Verlagsgeschichte. Band 1. Karlsruhe 1991, S. 16. 104 Vgl. Norbert Bachleitner, Franz M. Eybl und Ernst Fischer: Geschichte des Buchhandels in Österreich. Wiesbaden 2000, S. 124f., S. 137. 105 Vgl. Stephan Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der GoetheZeit, S. 286.

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Schon quantitativ kann die seinerzeitige Bedeutung des Nachdrucks kaum überschätzt werden: „In den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts wurden im süddeutschen Raum mehr Nachdrucke verkauft als im übrigen Deutschland Originalausgaben.“106 Begünstigt wurde die Nachdruckhausse durch eine strukturelle Neuordnung des deutschen Buchhandels und Verlagswesens, die sich als Spaltung zwischen einem prosperierenden Teil mit dem Zentrum Leipzig und einem zurückfallenden süddeutschen Teil vollzog. Weil sich die gelehrte und literarische Buchproduktion geistig wie verlegerisch zunehmend in den protestantischen Staaten Nord- und Mitteldeutschlands konzentrierte, begannen die dortigen Verlagsbuchhändler in den 1760er Jahren, vom traditionellen Büchertausch abzugehen zugunsten direkter Bezahlung bei verminderten Rabatten (Umschwung vom sog. Reichsbuchhandel zum Nettobuchhandel). Verlagsbuchhändler mit weniger attraktiven Autoren im Angebot sanken dadurch zu bloßen Abnehmern herab. Um der letztlich geistesgeschichtlich begründeten Vorherrschaft vor allem der Leipziger Verlage – und später des Cotta-Verlags in Tübingen – etwas entgegensetzen zu können, forcierten viele süddeutsche Verlage den Nachdruck von Titeln, die ihren Erfolg beim Publikum bereits erwiesen hatten oder gute Anwärter darauf zu sein schienen. Weil die Nachdrucker keine Autorenhonorare zahlten, konnten sie die Preise der Originalausgaben leicht unterbieten und vermochten den Originalverlegern sogar in deren Heimatstaaten erfolgreich Konkurrenz zu machen, dies freilich illegal. Sie nahmen sowohl Texte ins eigene Programm auf, die bereits älter, aber immer noch beliebt waren (wie die Klassiker-Ausgaben von Kleist und Gellert bei Schrämbl), als auch solche, die erst kürzlich erschienen waren. Letzteres gilt z.B. für Schrämbls Bürger-Ausgabe oder die Sämmtlichen Werke Wielands, die der Wiener Verleger seit 1796 nachdruckte. Die Wieland-Nachdrucke von Schrämbl und des Bureaus der deutschen Classiker stützen sich übrigens auf dieselbe vorhin angesprochene Ausgabe bei Göschen, was die Kristallisationsrolle Wielands und seiner Ausgabe letzter Hand für die Etablierung der ‚deutschen Klassiker‘ noch einmal unterstreicht. Unter den Autoren hat sich Wieland mit am nachdrücklichsten gegen den Nachdruck gewandt. Auf Schrämbl reagierte er mit einer „Erklärung. An das Publikum über einen in Wien angekündigten Nachdruck meiner sämmtlichen Werke“, die 1797 in einer Nürnberger Wochenschrift erschien. Hellsichtig diagnostiziert Wieland hier: Indessen ist es nicht zu leugnen, daß es wenigstens für eine Art von spizfündigen Einfall gelten kann, wenn ein Nachdrucker, um das Verhaßte und Stinkende, das mit diesem Na-

|| 106 Ebd., S. 265.

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men verbunden ist, von sich zu entfernen, sich ein Privilegium die deutschen Klassiker zu drucken geben läßt, und dann alle Schriftsteller, an deren Werken wahrscheinlich etwas zu gewinnen ist, bey lebendigem Leibe eigenmächtig zu Klassikern kanonisirt, um dadurch ein vermeintliches Recht, sie nachdrucken zu dürfen, zu erhalten.107

In der Perspektive des Weimarers Dichters stellt sich die Kategorie des ‚deutschen Klassikers‘ als Bemäntelung unlauterer Geschäftspraktiken dar. Tatsächlich hatte Schrämbl die Erlaubnis, eine Wieland-Ausgabe herauszubringen, von der habsburgischen Zensurbehörde mit dem ausdrücklichen Hinweis auf seine „Sammlung deutscher Klassiker“ erhalten.108 Der Karlsruher Verleger Christian Friedrich Müller (1776–1821) setzte den Klassikerbegriff ebenfalls als Legitimationshilfe ein: In einem Brief an das Preußische Innenministerium hält er sich zugute, „zur Geistesbildung des deutschen Publikums beigetragen zu haben“, indem er die „vorzüglichsten Werke [der] deutschen Claßiker“ preiswert zugänglich machte.109 Die intendierte bzw. effektive Rechtfertigungswirkung des Klassikerbegriffs ist dabei nicht als juristische zu verstehen, denn in dieser Hinsicht befanden sich die Nachdrucker entweder ohnehin auf der sicheren Seite oder konnten lediglich auf Nachsicht hoffen. Es ist vielmehr ein moralisches, ‚nationalliteraturpolitisch‘ begründetes ‚Recht‘, das sich die Nachdrucker mit Hilfe des Klassikerbegriffs anzueignen versuchten. Tatsächlich scheinen die KlassikerAusgaben der Nachdrucker kaum unter dem schlechten Ruf dieses Gewerbes gelitten zu haben. Durchaus zu Recht reklamierten die Nachdrucker, dass sich durch ihre Tätigkeit das Lesepublikum erweitere, und dies nicht allein durch ihre eigenen Produkte, sondern auch weil sie die Originalverleger zur Reduzierung der Buchpreise sowie zur zusätzlichen Auflage billiger Ausgaben zwangen. Die starke Vermehrung des Gedruckten wurde um 1800 allerdings nicht durchweg begrüßt, sondern mitunter auch als „grosse Crisis“ wahrgenommen: Die „übergroße Menge der herausgekommenen Schriften“ – so schreibt in diesem Fall kein Reaktionär, sondern ein Parteigänger Napoleons, der Publizist und Dortmunder hohe Beamte Arnold Mallinckrodt (1768–1825) – verführe zur Oberflächlichkeit.110 Da-

|| 107 Der Verkündiger vom 28.3.1797 (27. St.), Sp. 211f. 108 Vgl. Stephan Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der GoetheZeit, S. 278, dort auch das historische Zitat. 109 So der bei Rainer Fürst: Das „Bureau der Deutschen Classiker“ in Karlsruhe, Band 1, S. 14 abgedruckter Briefentwurf vom 27.2.1821. 110 [Arnold Mallinckrodt:] Über Deutschlands Litteratur und Buchhandel (1800), S. 7, Reprint bei Ernst Fischer (Zus.stell. und Nachw.): Der Buchmarkt der Goethezeit. Eine Dokumentation. Band 2. Hildesheim 1986, S. 211–256, hier S. 215.

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gegen sei „ das Studiren nur weniger klassischer Werke für Bildung mehr werth, als das, selbst zur Unmöglichkeit gewordene Lesen des ungeheuren Wustes neuerer Schriften.“111 Demnach erleichtert(e) die Kategorie des Klassikers die unbedingt nötige Auswahl des zu Lesenden, denn sie markiert(e) das Wertvolle und Dauerhafte. Mit Blick auf die entscheidende Rolle der Nachdrucker bei der Etablierung und Verbreitung des Begriffs ‚deutsche Klassiker‘ darf man dies so auslegen, dass Nachdruck und Klassizität sich gegenseitig herausforderten und dialektisch verstärkten: Die Quantitäten des Nachdrucks setzten den Qualitätsmarker des ‚Klassikers‘ nicht nur machtvoll durch, sondern steigerten auch das Bedürfnis danach, denn sie selbst unterminierten das Exklusive durch permanente Vervielfältigung. Der Klassiker sollte bekannt gemacht und verbreitet werden, obwohl seine Funktion ganz gegenläufig die war, ein Antidot gegen die „Ueberschwemmung“112 mit Büchern zu bieten. Er ist das Besondere, dessen allgemeine Anerkennung eine massenhafte Verbreitung voraussetzt – das verkörperte Gegenteil der unablässig produzierenden „Bücherfabrik“, aber auch ihr Produkt. Man kann resümieren, dass die verlegerische Aneignung des Konzepts ‚deutsche Klassiker‘ durch die Nachdrucker eine ausgesprochene Win-win-Situation kreierte, wenn auch nicht für alle (nämlich nicht für die rechtmäßigen Verleger) und in jeder Hinsicht (den nachgedruckten Autoren entgingen Honorare). Die Nachdrucker konnten ihr Renommee aufpolieren und verschafften sich eine wertvolle Ware, die sie überzeugend bewerben und im großen Stil verkaufen konnten, während die Klassiker zum ersten Mal ein breiteres Publikum über die Intellektuellen hinaus erreichten.

3 Sieben Thesen als Zusammenfassung 1.

‚Klassiker‘ ist heute ein merkmalsunspezifischer Wertbegriff. Die Qualifizierung als Klassiker ist eine Wertauszeichnung, die keiner Klarheit darüber bedarf, welche wertvollen Qualitäten der jeweilige Klassiker hat. Der Konsens, den die gelingende Kommunikation über Klassiker zustande bringt, betrifft lediglich deren ‚bekannten Wert‘. Dabei funktioniert und fungiert sie zugleich als Geltungssteigerung der Kommunikanten. Das gilt insbesondere für den Klassikerdiskurs in der Öffentlichkeit, aber auch die Literaturwissenschaft hat keinen gehaltvollen Klassikerbegriff.

|| 111 Ebd., S. 12, Reprint S. 220. 112 Ebd., S. 11, Reprint S. 219. Das folgende Zitat ebd., S. 8/216.

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Klassiker und Klassik entstanden in Deutschland aus Erwartungen, die am Ende des 18. Jahrhunderts als erfüllt wahrgenommen wurden. Die Klassiker der deutschen Literatur sowie eine entsprechende Blütezeit sind nicht bloß nachträgliche Rezeptionskonstrukte, sondern auch ‚Prospektions‘- oder Erwartungsschemata. Die Kanonisierung der Autoren vor und um 1800 zu „deutschen Klassikern“ ist lediglich sekundär auf den Nationalismus des 19. Jahrhunderts zurückzuführen. Historisch und kausal ging ihr eine Erwartung konkurrenzfähiger Autoren in deutscher Sprache voraus, die bereits Ende des 17. Jahrhunderts einsetzte. Die Grundlage und den Antrieb dieser Erwartung bildete die Vorstellung eines allgemeinen und insbesondere auch kulturellen Wettbewerbs der großen Nationen der Antike und Neuzeit. 3. In Weimar entwickelte sich vor 1800 ein an die Bedingungen des seinerzeitigen literarischen Lebens angepasstes Klassikerkonzept. Indem der Klassikerbegriff vom französischen Modell der höfischen Einheit sowohl von Macht und Kultur als auch von Künstlern und Publikum gelöst wurde, veränderte er seinen literatursoziologischen Gehalt. Wieland verband ihn mit einer Verbesserungspoetik, deren publizistisch-ökonomische Grundlage der expandierende Buchmarkt bildete. Das Klassische begann sich dadurch von bestimmten ästhetischen Normen zu lösen in Richtung eines merkmalsunabhängigen Wertpostulats. 4. Die ‚deutschen Klassiker‘ haben sich zuerst auf dem Buchmarkt um 1800 etabliert – ja durch denselben –, und zwar auf dem anrüchigen Geschäftsfeld der Nachdrucker. Noch bevor das buchmarktbasierte Klassiker-Modell von Goethe ausformuliert wurde, ist es als Geschäftsmodell süddeutscher Nachdrucker greifbar, dort freilich reduziert um die literarästhetisch entscheidende ‚verbesserungspoetische‘ Komponente. Die Nachdrucker erkannten im neuen Produkt ‚deutsche Klassiker‘ eine Legitimierungs- und Marketingchance. Nicht erst in unserer Gegenwart mit ihren Buchreihen und ganzen Verlagen, die der Klassikeredition gewidmet sind, sondern bereits in der Epoche der sog. Klassik um 1800 sind es vor allem die Verleger, die den Klassikerbegriff in der Öffentlichkeit präsent halten bzw. gemacht haben. 5. Seit ihrer goethezeitlichen Erstproduktion hängen bei den ‚deutschen Klassikern‘ ästhetische und kommerzielle Wertbildung eng zusammen. Vom Verleger ‚nachgewiesen‘ wurde der herausragende Wert der Klassiker vor allem durch gehobene Ausstattung sowie häufig durch eine Antiqua-

Klassiker – eine merkmalsunabhängige Wertzuschreibung | 107

Type. Die Vermittlung der ursprünglich von Schriftstellern und Kritikern diskutierten Wertkategorie ‚Klassiker‘ ans breite Publikum verdankt sich, neben dem Bildungswesen, wesentlich verlegerischen Geschäftsinteressen. 6. Als käufliches Produkt ist der ‚Klassiker‘ nicht zuletzt wegen seiner Paradoxien attraktiv. Seine Verbreitung wurde um 1800 durch die enorme Ausweitung des Buchmarkts möglich und fungierte zugleich als Antidot gegen ‚Vermassung‘. Er ist das Besondere, dessen allgemeine Anerkennung hohe Verfügbarkeit voraussetzt, und macht Exklusivität zugänglich für viele. 7. Mehr Forschung zum Klassiker als einer Kategorie des literarischen Lebens! Die Germanistik sollte das Prädikat ‚Klassiker‘ aus der Quarantäne entlassen, in die sie es wegen normativer und ideologischer Überfrachtung gesteckt hat. Zu untersuchen, wie es eingesetzt wird – historisch oder heute –, erleichtert es, ein realistisches Bild davon zu gewinnen, wie Literatur in der Öffentlichkeit kommuniziert wird.

Paula Wojcik

Kommentar Die Beiträge von Stefan Matuschek, Moritz Baßler, Werner Nell und Daniel Fulda spannen ein – um hier eine Metapher zu bemühen – Sonnensegel auf, in dessen Schatten Bedeutungsdimensionen dessen sichtbar werden, was wir, die Herausgeber des Bandes, in unserer Einleitung als einen funktional-partikularistischen Klassikbegriff bezeichnen. Der Begriff soll dazu verhelfen, allzu grelle, die Klassik- und Klassikerdiskussion begleitende Diskursüberschüsse auszublenden, und sich auf das heuristische Potenzial des Phänomens besinnend, eine neue, produktive Debatte anzustoßen. Dass im Schatten nichts verdeckt, verschleiert oder unsichtbar gemacht wird, sondern vielmehr ein entspannter, kühler und rationaler Blick, die Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Klassikbegriffs keineswegs konsensverliebt auslotet, zeigen die vier auf die Einleitung folgenden Standpunkte. Die Perspektiven, in denen der funktional-partikularistische Klassikbegriff angesprochen wird, greifen systematisch ineinander: Stefan Matuschek zeigt die Produktivität dieses Klassikbegriffs für den literaturwissenschaftlichen Gebrauch und den dazugehörigen Spezialdiskurs auf, Moritz Baßler prüft die Brauchbarkeit demgegenüber gerade für einen breiten, sowohl Literatur als auch Musik und Fernsehserien umfassenden aktuellen Phänomenkreis, wobei er auch Marktlogiken und postmoderne Produktionsweisen berücksichtigt. Werner Nell lotet die Gratwanderung zwischen einem analytischen partikularistischen Konstruktivismus und einem diskursiven Universalismus von Klassik bzw. einer universalen Erwartung an Klassiker aus, während Daniel Fulda mit diachronem Tiefenblick den Klassikerbegriff aus dem Gebrauch im deutschen Buchhandel seit dem 18. Jahrhunderts als merkmalsunabhängige Wertzuweisung bestimmt. In der Komplementarität ergeben sich sowohl Solidaritäten als auch Gegnerschaften, die es aus meiner Sicht zu reflektieren lohnt. Drei Aspekte scheinen mir dabei besonders diskussionswürdig, wobei der erste und zweite Punkt den ontologischen Status von Klassikern betreffen, der dritte die Methode der Klassik(er)forschung: 1. Klassiker: Original und Modell 2. Diskursiv konstruierte und faktische Normativität 3. Aufmerksamkeit: Synchronizität und Diachronizität 1. Für eine produktive Debatte möchte ich dafür plädieren, zunächst eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem originären sowie dem klassischen Werk

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oder dessen Schöpfer beizubehalten. Das beugt nicht nur essentialistischen Kurzschlüssen vor, sondern hilft, die Rezeptionspraxis klarer zu strukturieren. Baßler schreibt zu Recht: „Liest man einen Klassiker tatsächlich, überhaupt oder wieder, so zeigt sich zumeist, dass er in seiner individuellen Gestalt das, was an ihm als klassisch gilt, übersteigt, wenn nicht gar unterläuft. Klassiker sind unter der Lupe oft nicht besonders klassisch.“1 Da er uns die Bestimmung dessen, was die Erwartungshaltung an die Klassizität des Textes konkret sei, an dieser Stelle schuldig bleibt, erlaube ich mir, sie mithilfe der Unterscheidung von Original und Modell zu erklären: Vom Standpunkt eines funktional-partikularistischen Klassikbegriffs betrachtet, sind Klassiker Zeit-Raum-und-Akteur-bezogene Modelle ihrer Originale. Ihrem Wesen nach sind sie beliebige Zuschnitte und Neuarrangements von Merkmalen, die dem Original zugeschrieben werden (und bedingt faktisch im Original angelegt sind). Je nach diskursiv sich artikulierender (also im Rahmen der Koordinaten von Raum, Zeit und kulturellem Akteur entstehender) Bedarfskonstellation werden passfähige Klassikermodelle entworfen. Werner Nell wählt die zwar anders angelegte, aber den Kern treffende Analogie des Kruges, um diesen Zustand zu erklären und die Ontologie des Klassikbegriffs paradoxerwie einleuchtenderweise durch dessen „Deontologisierung, Denormierung und Denormalisierung“2 zu fixieren. Die Form des Kruges gibt die Bedarfskonstellation vor, der Inhalt muss passfähig, also funktional sein: der Wein den Gästen schmecken. Nehmen wir diese Unterscheidung ernst, dann zeigt sich, dass Nell und Fulda sich nicht etwa prinzipiell widersprechen, wenn Nell, um seinen Standpunkt kurz zu paraphrasieren, die Funktion von Klassikern als Antidotum gegen das Gefühl transzendentaler Obdachlosigkeit des Individuums in der Moderne herausarbeitet, und Fulda, wie oben bereits gesagt, von einer merkmalsunabhängigen Wertzuschreibung spricht. Beide haben bei ihrem Klassikbegriff unterschiedliche Bedarfskonstellationen im Blick: Nell die Erwartungshaltung an Klassiker, die sich im Kontext einer Moderne herauskristallisiert, und die der Stadtforscher Marshall Berman, das kommunistische Manifest zitierend, mit dem Grundgefühl „all that is solid melts into air“ beschreibt; Fulda die Verbreitung des Klassikerbegriffs im Kommunikationszusammenhang des Buchhandels seit dem 18. Jahrhundert, der den Begriff „Klassiker“ noch vor jeglicher nationalideologischer Vereinnahmung als eine Art verkaufsförderndes Gütesiegel gebrauchte. So unterschiedlich die Abstraktionsebenen sind, auf denen sich die Beispiele bewegen, in beiden ist der Bezug zum Original, um es gelinde zu sagen, unterdeterminiert: Der Buchhandel hat den Status ausländischer Klassiker und

|| 1 Baßler in diesem Band, S. 42. 2 Nell in diesem Band, S. 57.

Kommentar | 111

Klassikerausgaben vor Augen, die an Klassiker gerichtete, modernespezifische Erwartungshaltung einen wenn nicht prä-, so doch restabilierten und wenn nicht wiederverzauberten, so doch einen die Entzauberung revidierenden Weltzustand. In beiden Fällen zeigt sich im konstruierten und konstruierenden Rückblick die „prospektive Dimension“, die auch Fulda dem Phänomen Klassik attestiert. Der Klassiker ist auch in dieser Diskrepanz zwischen Original und funktionalem Diskursprodukt, oder wie Baßler es nennt, mangelnder Kongruenz zwischen „Qualität“ und dem „überlieferten Allgemeinen“ Quelle von „Erkenntnis- und Distinktionsgewinne[n]“3. 2. Im Prinzip sind wir damit bereits beim zweiten Aspekt, der Unterscheidung zwischen diskursiv konstruierter und faktischer Normativität. Baßler und Fulda negieren eine normative Dimension zugunsten einer deskriptiven: Fulda, indem er einer merkmalsbasierten Verbindung zwischen Original und Klassiker (im Prinzip einer Notwendigkeit des Originals) grundlegend widerspricht, Baßler, indem er sie als einen Gemeinplatz, eine idée reçue, definiert. Man kann Matuscheks und Nells Position im Dissens dazu verorten, weil beide aus der funktional-partikularistischen Bestimmung ein normatives Potenzial des Klassischen ableiten. Das Normative ergibt sich aus der diskursabhängigen Funktionalisierung, die – sowohl bei Nell als auch bei Matuschek – überzeugend an Dauerhaftigkeit gekoppelt ist. Der literaturwissenschaftliche Spezialdiskurs benötigt, wenn man Wissenschaft nicht nur in synchroner, sondern auch diachroner Weise sowohl als retrospektiv in die Vergangenheit als auch – mit dem idealen Fernziel einer Habermasʼschen final opinion – prospektiv in die Zukunft ausgerichtete Kommunikationssituation begreift, verbindliche Verständigungsparameter, deren Verbindlichkeit einer steten Evaluation durch aktiven Gebrauch unterliegt. Das ist keine essentialistische Bestimmung des Klassikerwesens, das ist die Beobachtung einer diskursiv sich konstruierenden Normativität. Ebenso verhält es sich mit dem von Nell erfassten Erwartungshorizont einer Gemeinschaft, deren am Humanismus geschulter Wertekonsens eine Normativität des Klassischen entwirft, weil – wie Nell mit Coetzee konstatiert – „Generationen von Menschen es sich einfach nicht leisten können, es aufzugeben, und daher um jeden Preis an ihm festhalten“.4 Diese Normativität unterscheidet sich von einer intrinsisch konzeptualisierten, die auch Baßler ablehnt, wenn er etwa schreibt: „Es [das Kunstwerk] wird eben gerade nichts radikal Neues in den Raum stellen, sondern Bekanntes, Beliebtes und Bewährtes so kombinieren und variieren, dass es er-

|| 3 Baßler in diesem Band, S. 43. 4 Nell in diesem Band, S. 71.

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neut erfolgreich, ja womöglich noch erfolgreicher wird.“5 Dies wäre eine Normativität, die sich aus dem Innovationscharakter ergäbe. Was Baßler hier widerlegt, ist aber eine Rechtfertigungsfigur des Klassikerdiskurses, die ich als Innovationsbehauptung bezeichne. Sie ist insofern essentialistisch und damit mit essentialistischen Normativitätskonzeptionen vergleichbar,6 als sie eine durch das Klassiker-Wesen verifizierbare Faktizität beansprucht. Nimmt man Innovation nicht als Behauptung, sondern als klassikerkonstituierende Praxis ernst, führt dies zum Ausschluss der ‚postmodernen‘ (wenn man mit Baßler Repetition als deren Kennzeichen nimmt) aus einer potenziell klassischen Kulturproduktion. Die Conclusio zu diesem Punkt wäre also, dass das Merkmal der Normativität insofern weiter gelten muss, als wir Klassiker als empirische Größen nie abstrakt, sondern fallspezifisch erörtern und in der Fallspezifik eine essentialistisch konzipierte Normativität zur Beschreibung des Phänomens dazugehört. In the long run allerdings zeigt sich diese Normativität als ein bedarfsabhängiges Konstrukt, weshalb die diachrone Perspektive der Klassikerdebatte nicht vernachlässigt werden sollte. 3. Damit komme ich zum dritten Aspekt, der Frage nach Synchronizität und Diachronizität der Aufmerksamkeit. Dass Klassiker ein Aufmerksamkeitserfolg sind, darin zeigen sich die Beiträge von Matuschek, Baßler, Nell und Fulda weitestgehend solidarisch. Uneinigkeit besteht vielmehr in der Frage der Struktur dieser Aufmerksamkeit. Fuldas partikularistischer Klassikbegriff ist insofern streng historisierend, als er die Beschreibung des Phänomens in konkreten Anwendungssituationen als Methode vorschlägt. Das soll hier gar nicht bestritten werden, doch, so denke ich, sollte man zwei Dimensionen auseinanderhalten: Zum einen den konkreten diskursiv gebundenen Klassikergebrauch, den Fulda meint, und zum anderen den Versuch, aus einer wissenschaftlichen, kulturhistorisch angelegten Metaperspektive einen produktiven Klassikbegriff herauszuarbeiten. Im Horizont einer Vielzahl von Klassikerdiskursen lässt sich ein Klassikmetadiskurs führen, der – auch darin sind sich fast alle einig – den aktiven wissenschaftlichen Wortschatz bereichern würde. Mit seinem Konzept des Archivs argumentiert Baßler am stärksten gegen eine diachrone Ausrichtung des Klassikkonzepts, indem er die imitatio als Produktionsmerkmal sowie das „Spektakel“ und den „Kult einer Stilgemeinschaft“ als Rezeptionsmerkmal einer synchronen Ausrichtung möglicher Aufmerksamkeitserfolge bestimmt. Klassiker

|| 5 Baßler in diesem Band, S. 45. 6 Vgl. Christian Pietsch: Einführung zu ‚Klassik als Norm – Norm als Klassik‘: Thema und Tagung. In: Klassik als Norm – Norm als Klassik. Hg. von Tobias Leuker und Christian Pietsch. Münster 2016, S. 1–26.

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entstehen dann „allenfalls sekundär im Zuge einer Geschichtsschreibung, wie sie unfehlbar einsetzt, sobald bestimmte Formate eine gewisse Persistenz zeigen“7. Genau diese Persistenz als Aufmerksamkeitserfolg muss man in diachroner Perspektive aber geltend machen, um zu einem sinnvollen Klassikerbegriff zu kommen. Das meint Matuschek, wenn er – für den literaturwissenschaftlichen Gebrauch – Klassiker als „die wirksamsten älteren Fallbeispiele für aktuelle Bedarfszusammenhänge“8 bezeichnet. Hier kann man ergänzen, dass es bei Klassikern als „Sieger[n] im Verdrängungswettbewerb der Fallbeispiele“9 nicht nur einen Sieger geben muss, denn so knapp die Ressource Aufmerksamkeit auch ist, reicht sie doch aus, um mehrere Klassiker nebeneinander zu ertragen: Im deutschen Nationaldiskurs verteilte sich die Aufmerksamkeit auf Schiller und Goethe, im polnischen stehen gleich drei Propheten – Mickiewicz, Słowacki und Krasiński – nebeneinander, die zudem nahezu antagonistische Romantik- und Nationalkonzeptionen vertraten. Trotz der offenkundigen Notwendigkeit synchroner, im Sinne von diskursgebundener Klassikeranalyse verliert sich das Proprium des Begriffs, wenn man die diachrone Ebene nicht berücksichtigt. Die Tatsache, dass Klassiker das sind, was überlebt (im Sinne Coetzees), muss ja nicht bedeuten, dass man den diskursiven Praktiken der Klassikererzeugung, um es salopp zu sagen, auf den Leim geht und Qualitäten wie sie Baßler anführt, also „Differenz, Neuheit, Authentizität und Originalität, die allesamt dazu tendieren, […] die Marktförmigkeit gegenwärtiger Kunst und eine damit verbundene anders geartete Ästhetik des Konsums zu vernachlässigen“10 aus dem Diskurs übernimmt und in den wissenschaftlichen Metadiskurs einspeist. Vielmehr ist ein funktional-partikularistischer Klassikbegriff gerade so gemeint, dass er kulturwissenschaftlich perspektiviert und diskursive Praktiken der Klassikwerdung (und dazu gehören die vom Markt vorgegebenen selbstredend dazu) näher beleuchtet. Die Komplementarität der Positionen zum funktional-partikularistischen Klassikbegriff versteht sich gerade auch dort, wo ein Dissens aufscheint, nicht nur als Auftakt für die folgenden Fallstudien des Bandes, sondern kann und soll als impulsgebend für eine neue Beschäftigung mit Klassik und Klassikern verstanden werden.

|| 7 Baßler in diesem Band, S. 46. 8 Matuschek in diesem Band, S. 34. 9 Ebd. 10 Baßler in diesem Band, S. 46.

| Teil II: Interaktion mit neuen Massenmedien: Radio, Fernsehen, Internet

Sophie Picard

Interaktion mit neuen Massenmedien: Radio, Fernsehen, Internet Dass Klassiker weit über den Zeitpunkt ihrer Entstehung hinaus im kulturellen Gedächtnis präsent bleiben, hat nicht nur mit ihrer Integration in den Kanon zu tun, sondern im Wesentlichen auch mit ihrer Aufnahme in und Vervielfältigung durch die neuen Massenmedien. Jeder mediale Modernisierungsschub kann zwei entgegengesetzte Reaktionen hervorrufen. Den neuen Entwicklungen kann einerseits mit Skepsis, oft auch mit Pessimismus begegnet werden: Klassikeradaptionen in den Massenmedien stehen dann symbolhaft für den Verfall von (Hoch-)Kultur und die Pervertierung von tradierten Werten. Denn in dem Maße, wie die Diskrepanz zwischen der historischen und der je aktuellen Funktion des Klassikers durch die neuen Medien akzentuiert wird, erscheint dieser zuweilen nur noch als leeres Zeichen, das beliebig befüllt werden kann. Die Interaktion zwischen Klassikern und Massenmedien kann aber andererseits auch als Chance gewertet werden. Für die Akteure und Befürworter des medialen Wandels dient die Adaption überlieferter Stoffe und Werke als Legitimationsfaktor: Sie bedeutet eine Teilhabe an ihrem symbolischen Kapital. Den Klassiker lässt die Integration in die je aktuelle Medienlandschaft andererseits auch immer wieder zeitgemäß und noch nicht überholt erscheinen. Der durch die neuen technischen Möglichkeiten stimulierte Bearbeitungsdrang fordert zudem den Aktualisierungsprozess von überlieferten Kulturgütern geradezu heraus. Schließlich geht es nicht allein um die Anpassung eines alten Stoffes oder Werks an eine neue externe Form, sondern vor allem um seine Anschlussfähigkeit an sich wandelnde kulturelle Kontexte. Die massenhafte Verbreitung klassischer Stoffe, Werke und Autoren setzt nicht erst im sogenannten Zeitalter der Massenmedien ein. Schon im 19. Jahrhundert bewirkt die Industrialisierung eine signifikante Vermehrung und Diversifikation der Rezipientengruppen. Die sukzessiven Umwandlungen der Medienlandschaft im 20. und 21. Jahrhundert verleihen dem Phänomen jedoch ganz andere Dimensionen: Im 20. Jahrhundert bieten die audiovisuellen, meist staatlich organisierten Medien erstmals die Möglichkeit, nahezu alle gesellschaftliche Schichten zu integrieren. Durch gezielte Klassiker-Adaptionen versuchen die Akteure des medialen Wandels, überlieferte Kulturgüter an verschiedene Hörerbzw. Zuschauergruppen – etwa Jugendliche, Frauen, Arbeiter, Akademiker – zu vermitteln. Konzepte von Nationalklassikern bekommen dadurch eine mediale Grundlage. Neben solchen vertikalen Popularisierungskonzepten wird im Radio https://doi.org/10.1515/9783110615760-007

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und im Fernsehen von Anfang an das Interesse der jeweiligen Zielgruppen etwa durch Hörer- und Zuschauerbefragungen, später durch die Ermittlung von Einschaltquoten berücksichtigt: Welche Klassiker auf welche Weise im Rundfunk präsentiert werden, hängt maßgeblich von den Reaktionen der Rezipienten ab. Der Aspekt der aktiven Partizipation an der Gestaltung des Klassischen bzw. Klassikers durch die Rezipienten wird aber erst im Zeitalter der sogenannten neuen, digitalen Medien realisiert und erfahrbar gemacht. Ob über Kulturblogs, Literatur- und Kunstforen, partizipative Enzyklopädien wie Wikipedia oder auch Nachrichtendienste und soziale Netzwerke: In der heutigen Medienlandschaft kann sich jeder der klassischen Stoffe, Werke und Autoren bedienen, sie den eigenen Bedürfnissen anpassen und an andere weitervermitteln (vgl. auch Wagner/Egger in diesem Band). Die Erfassung von Nutzungsdaten ermöglicht es zudem zu erfahren, welche Autoren und Werke inmitten der wettbewerbsorientierten Aufmerksamkeitsökonomie moderner Gesellschaften tatsächlich noch konkret gebraucht werden: Der Klassiker-Status wird somit empirisch und quantitativ belegbar. Die Beiträge dieser Sektion präsentieren Beispiele von Interaktionen zwischen Klassikern und Massenmedien im 20. und 21. Jahrhundert. Dem Radio ist der Aufsatz von Sophie Picard Goethe und das Radio: eine Win-win-Situation gewidmet. Sie zeigt anhand von Sendungen, die anlässlich der Goethe-Jubiläen 1932 und 1949 produziert wurden, dass dem Klassiker vor allem in der Zwischenkriegszeit eine künstlerische Legitimierungsfunktion zugeschrieben wird: FaustAdaptionen ermöglichen es dem noch jungen Medium, sich als authentischer Kunstproduzent darzustellen. Verleiht der Klassiker zu diesem Zeitpunkt dem Radio einen höheren Stellenwert in der Medienlandschaft, so ändert das Radio im Gegenzug auch die Wahrnehmung des Klassikers durch die Rezipienten, wie am Beispiel von frühen Kooperationen zwischen Radiomachern und Hörern deutlich wird. Die Legitimationsfunktion von Klassikern kann aber auch ideologischer Natur sein, wie Jana Piper in ihrem Artikel Das Fernsehen als ‚Fenster zu Welt‘? Schiller in der televisionären bundesrepublikanischen Gedenkkultur der fünfziger Jahre ausführt: In der Nachkriegszeit dienen Bearbeitungen literarischer Stoffe für das bundesrepublikanische Fernsehen zur Rehabilitierung des Bildmediums, das während der NS-Zeit zu Propagandazwecken missbraucht wurde. Am Beispiel eines Schiller-Films von Heinz Huber (BRD 1959) zeigt sie, wie durch die Integration früherer Schiller-Bilder im Fernsehfilm auch eine Reflexion über Rezeptionshaltungen angestoßen werden kann, die in der Erinnerungskultur dieser Zeit singulär erscheint. Der letzte Beitrag Klassiker@wikipedia ist dem Umgang mit Klassikern in den neuen Medien gewidmet. Paula Wojcik und Sophie Picard bieten darin eine Analyse von Datenmaterial zu Gestaltung und Nutzung der online-

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Enzyklopädie Wikipedia. Ihr Kommentar zur Studie World Literature According to Wikipedia veranschaulicht, welche Wechselwirkungen zwischen Kanon und Klassik im Umgang der Wikipedia-Autoren und -Nutzer mit Schriftstellern entstehen. Auf diese Weise zeigt sich, dass das Internet zum Teil eine kanonreproduzierende, vor allem aber eine klassikerbildende Funktion innehat.

Sophie Picard

Goethe und das Radio: eine Win-win-Situation (1932 und 1949) Jubiläen, so hat es Aleida Assmann formuliert, sind „Denkmäler in der Zeit“1. Sie bilden keine rein feierlichen Anlässe, sondern öffnen auch Reflexionsräume; sie geben zu denken – über die Zeit, die die Gegenwart von dem erinnerten Ereignis trennt, und den Wandel, den sie mit sich gebracht hat; über die Bedeutung der geehrten Person und die Brauchbarkeit ihrer Gedanken für das Hier und Jetzt. Die öffentliche Gedenkrede ist dann meistens der Ort für die Affirmation von Kontinuität und die Vergewisserung kultureller Identität(en). Das Moment der Evaluation und Diskussion wird öfter in andere mediale Kontexte verlagert, in Zeitschriften, Zeitungen – oder auch dem Rundfunk. So werden etwa an der Schwelle zum Goethejahr 1932 die anstehenden Feiern in Form eines fiktiven Radio-Gesprächs, das im Südwestdeutschen Rundfunk gesendet wird, kritisch diskutiert. Der Autor, Alfons Paquet, lässt in seinem Hörspiel eine nostalgische „Zweifler“Figur zu Wort kommen, die über die Diskrepanz zwischen Goethezeit und moderner Wirklichkeit klagt: Aber das Jahrhundert nach Goethe! Haben wir in ihm den Triumph des Geistes erlebt, den Triumph des klaren Denkens, des gereinigten, menschlichen Gefühls? Wir erlebten den Triumph der Masse, die Anbetung der Gewalt. […] Ich meine nicht einmal die größere Zahl der Menschen. Ich meine noch mehr die Zahl der unwesentlichen Dinge, Zeitungsblätter, Schlager, Filme, die Tag für Tag einander jagen, die Eindrücke, die uns täglich überspülen, von denen keiner haftet.2

Der Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart könnte negativer kaum ausfallen: auf der einen Seite die Ideale von Rationalität, Moralität und Humanität, die der Sprecher mit Goethe identifiziert; auf der anderen Beschleunigung, Irrationalismus und Orientierungslosigkeit, die das Leben im Zeitalter der Massen kennzeichnen. Als Symptome dieses vom Zweifler diagnostizierten Werteverfalls werden Massenmedien und Unterhaltungskultur angeführt. Wenn es auch nicht explizit genannt wird, gehört das Radio mit Sicherheit zu den Begleiter-

|| 1 Aleida Assmann: Jahrestage – Denkmäler in der Zeit. In: Jubiläum, Jubiläum … Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung. Hg. von Paul Münch. Essen 2005, S. 305–314. 2 Alfons Paquet: Goethe gestern, heute und morgen. Ein Gespräch. In: Rufer und Hörer 1 (1932) H. 12, S. 521–526, hier S. 522. Der Beitrag wird unter dem Titel „Das Goethe-Jahr beginnt“ in den Programmzeitschriften aufgeführt. Vgl. Der deutsche Rundfunk (1.1.1932). https://doi.org/10.1515/9783110615760-008

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scheinungen dieser neuen Jahrhundert-Krankheit, vereint es doch alle schädlichen Eigenschaften der nach-goetheschen Zeit: Es ist ein flüchtiges Medium, das vor allem dem Vergnügen dient. Darüber hinaus ist das Radio ein Phänomen, das zwar zu Beginn der dreißiger Jahre im Begriff ist, „Wunder der Alltäglichkeit“3 zu werden, mit der Lebenswelt Goethes jedoch rein gar nichts mehr gemein hat. Anders als bei den Printmedien, deren zunehmende Wirkungsmacht der Dichter vielleicht noch selbst erfahren und kommentieren konnte,4 scheint der Klassiker dem Rundfunk nur sein Schweigen entgegenzubringen. Auch aus diesem Grund können Kulturpessimisten wie Paquets Zweifler-Figur in der Begegnung zwischen Goethe und dem Radio, wie sie anlässlich des Jubiläums von 1932 zum ersten Mal im größerem Umfang experimentiert wird, bestenfalls eine contradictio in adiecto sehen. Nun markiert Paquet umso deutlicher seine Distanz zur kulturkritischen Haltung des Zweiflers, als sein Hörspiel ja dazu bestimmt ist, im Radio ausgestrahlt zu werden. Das moderne Medium wird damit indirekt zu einem geeigneten Ort für die reflektierte Neuaneignung Goethes erklärt. Das entspricht dem Standpunkt des „Zuversichtlichen“, der im Dialog den Part des Kontrahenten übernimmt. Zwar geht auch er von einer tiefen Kluft zwischen goetheschem Ideal und moderner Lebenserfahrung aus. Sein Optimismus gründet jedoch in der Überzeugung, dass die Überwindung des Gegensatzes dem Klassiker neue Gültigkeit verschaffen könne: „Und doch geben sie [Goethes Ansichten] uns immer wieder zu denken, übersetzen wir sie nur in die Sprache unserer Zeit.“5 Den Klassiker in die Sprache der Zeit übersetzen: Damit ist vermutlich nicht nur eine sprachlich-textuelle, sondern vor allem auch eine mediale Modernisierung der alten Inhalte gemeint. Das ist insofern bemerkenswert, als Paquet mit seiner optimistischen Figur Abstand vom unerschütterlichen Glauben an die Zeitlosigkeit des Klassikers nimmt: Es kann im Hinblick auf Goethe nicht von gegebener Ewigkeit, sondern nur von erzeugter Aktualität die Rede sein. Diese wird dann erreicht, wenn die überlieferten Texte sowohl an die neuen Formen der Kommunikation als auch an den sich wandelnden kulturellen Kontext adaptiert werden. Im Gegensatz zum Zweifler wertet der Zuversichtliche das Jubiläum also als Chance. Die überaus dicht befüllten Radioprogramme zum Goethejahr 1932 be-

|| 3 So der Titel eines Sonetts von Johannes R. Becher aus dem Jahr 1933: „Radio – Wunder der Alltäglichkeit“. In: Irmela Schneider: Radio-Kultur in der Weimarer Republik. Eine Dokumentation. Tübingen 1984, S. 58f. 4 Vgl. dazu Martin Andree: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. München 2006. 5 Ebd., S. 523.

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zeugen, dass die Rundfunkmacher diese Chance tatsächlich aufgreifen – und zwar in doppelter Hinsicht, wie im Folgenden am Beispiel der Jubiläen von 1932 und 1949 ausgeführt werden soll. Erstens wird die Aufmerksamkeit, die dem Klassiker im Kontext des Jubiläums zuteilwird, dazu genutzt, das Radio als Kunstmedium und zentralen Akteur des Kulturlebens zu etablieren. Goethesendungen im Rundfunk dienen der Legitimation eines Massenmediums, das sich so als Fortsetzer der literarischen Tradition präsentieren kann. Zweitens soll die Integration Goethes in das Radioprogramm aber auch dazu beitragen, den alten Dichter wieder zeitgemäß erscheinen zu lassen. Dabei wird die größere Wendigkeit des Mediums genutzt, um die Werke und Werte der Vergangenheit den wandelnden Bedürfnissen der Rezipienten anzupassen: Durch Hörerbefragungen aber auch partizipative Sendungen nehmen die Zuhörer mehr und mehr Teil am Aktualisierungsprozess des Klassikers.

1 Goethe als Legitimationsinstanz für das Radio Um sich der Bedeutung Goethes als Legitimationsinstanz bewusst zu werden, lohnt ein Blick auf die Situation des Radios zu Beginn der dreißiger Jahre. Der Rundfunk ist zu diesem Zeitpunkt kein reines Unterhaltungsmedium und auch noch nicht der primäre Ort politischer Kommunikation. In den ersten Jahren seines Bestehens entwickelt sich um den Funkkasten ebenfalls ein eigenständiger Kunstdiskurs. Nicht selten ist in diesem Kontext die Rede von einer „neuen Muse“ im Kreise der älteren Künste:6 Das Radio versteht sich nicht nur als Medium der Verbreitung für schon bestehende Kunstformen, sondern als Ort eines autonomen Schaffens. In dieser Hinsicht ist es nicht erstaunlich, dass es zum bevorzugten Experimentierfeld der literarischen und musikalischen Avantgarde wird, der sich rasch eine Generation von jungen, professionellen Rundfunkregisseuren, -komponisten und -sprechern anschließt. Besonders in diesen Kreisen gilt es, die neue Technik zu nutzen, um eine der Musik ebenbürtige „Kunst fürs Ohr“ zu entwickeln – eine Forderung, die beispielsweise Rudolf Arnheim in seinem 1933 konzipierten Essay Rundfunk als Hörkunst formuliert.7

|| 6 So heißt es beispielsweise im Berliner Tag: „Der Rundfunk, junger Mann im Kreise der älteren, ernsteren Musen, ist ehrgeizig genug, um nach Ebenbürtigkeit mit dem Theater, mit den Kulturinstituten überhaupt zu trachten.“ Anonym: Die letzte Berliner Rundfunkwoche. Niederlage um Goethe! In: Der Tag (13.3.1932). 7 Rudolf Arnheim: Rundfunk als Hörkunst und weitere Aufsätze zum Hörfunk. Frankfurt am Main 2001 (zuerst 1936 in London unter dem Titel Radio, an Art of Sound).

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Der Wettstreit der Künste wird während des Goethejahrs 1932 auf die Spitze getrieben. Der Faust-Stoff steht dabei im Mittelpunkt, gilt doch vor allem der zweite Teil der Tragödie nicht nur als das bedeutendste, sondern auch das rätselhafteste und schwierigste Stück innerhalb von Goethes Schaffen: Unzählige Faust-Bearbeitungen werden während des gesamten Jahres im deutschen und europäischen Senderaum dargeboten. Als symbolträchtig darf die Aufführung von Faust II am Abend des 22. März, dem eigentlichen Todestag des Dichters, gelten; das Stück wird live im sogenannten Reichsrundfunk, d. h. in allen deutschsprachigen Sendern übertragen.8 Allein die prominente Stellung im Programm erscheint vielen zeitgenössischen Beobachtern als Sieg des Rundfunks über die Bühnenkunst, hatte doch das Staatstheater in Berlin aus finanziellen und logistischen Gründen auf eine eigene Faust-Inszenierung an diesem Abend verzichten müssen und damit für einen kleinen „Kulturskandal“9 gesorgt. Die Funkinszenierung des Regisseurs Ernst Hardt, des prominenten Intendanten der WERAG,10 mit Originalkompositionen von Hans Ebert, trat also an die Stelle der erwarteten feierlichen Vorstellung an einem der größten Theater des Landes. Doch bleibt es nicht bei diesem kulturpolitischen Sieg des Rundfunks: Die Hardtsche Adaption zielt auch darauf hin, dem Theater die Hauptrolle in der Rezeption des großen Bühnenklassikers streitig zu machen. So zumindest die Erwartung, die im Vorfeld von mehreren Kritikern formuliert wird. In der Süddeutschen Radio-Zeitung z. B. kommentiert Richard Elchinger spöttisch: „Das Unzulängliche der Bühne – hier wird’s Ereignis“.11 Der Autor bezeichnet den Rundfunk als den ersten und einzig gültigen Hüter der goetheschen Tradition – und deutet dabei die ganze Faust-Rezeption neu: Erscheint es zweifelhaft, daß für unsere Gegenwart der Rundfunk und das Funkerlebnis mit seiner geheimnisvollen Aera [sic] zu den Mitteln gehört oder gehören kann, geeignet, um

|| 8 Faust. Der Tragödie zweiter Teil, von Goethe. Einrichtung und Regie von Ernst Hardt, gesendet am 22. März 1932 um 19.30 Uhr von der Berliner Funkstunde (als Reichssendung übernommen). Vgl. Der deutsche Rundfunk (18.3.1932). 9 E.: Die Goethe-Feier des Staatstheaters in Berlin. In: Stadt-Anzeiger Köln (3.3.1932). Vgl. auch v[on] H[eister]: Der Monat des Goethe-Jubiläums. In: Der deutsche Rundfunk (4.3.1932). 10 Zu Leben und Werk von Ernst Hardt vgl. Susanne Schüssler: Ernst Hardt. Eine monographische Studie. Frankfurt am Main 1994; Birgit Bernard: „Den Menschen immer mehr zum Menschen machen“. Ernst Hardt 1876–1947. Essen 2015. 11 Richard Elchinger: Das Unzulängliche der Bühne – hier wird’s Ereignis. Goethe im Rundfunk. In: Süddeutsche Radio-Zeitung (20.3.1932). Zur Funkinszenierung von Ernst Hardt vgl. auch Theresia Wittenbrink: Rundfunk und literarische Tradition. In: Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik. Band 2. Hg. von Joachim-Felix Leonhard. München 1997, S. 996–1097, hier S. 1078–1080.

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gewisse, von Goethe im Stillen gehegte höhere Forderungen zu befriedigen? […] Es darf als Symbol gelten, daß Goethe vor seinem Tode das Paket, in dem sich das Faustmanuskript befand, versiegelte. Vielleicht hat man es dann hundert Jahre zu früh geöffnet und den alten Magier auf Generationen hinaus vollkommen mißverstanden. Noch immer will ja der Einwand nicht verstummen, der Zweite Teil des Faust sei unverständlich und ungenießbar als Bühnendichtung. Aber damit ist nicht über die Dichtung das Urteil gesprochen, sondern nur über das Monopol der Schaubühne.12

Faust II als das früheste Zeugnis deutscher Hörspielkunst: Es könnte kein Größerer Pate für das junge Medium stehen. Elchinger nutzt den Klassiker – und die berühmte Anekdote um die Versiegelung des Faust-Manuskripts – zur Legitimation des Rundfunks als Ort und Gegenstand eines eigenständigen und zukunftsträchtigen Kunstdiskurses. Dazu nährt er die Illusion eines direkten Verhältnisses zum ursprünglichen Text – zum goetheschen Buchstaben gewissermaßen –, der über die Funkwellen erst wiederhergestellt werde: Was mag wohl der greise Dichterfürst beim Einsiegeln des Faustpakets gedacht haben? Vielleicht weilten ihm Gedanken und Hoffnungen bei einer neuen Zeit, die es ermöglichen könnte, das Allegorische zu bewältigen mit neuen Mitteln? […] Ob nicht als leitendes Medium vom Menschen zum Menschen, ob nicht als Transmission zu den allegorischen Sphären sich das gesprochene Wort darbietet; das Wort im Funkbereich der weltumfließenden Welle?13

Erst das Radio sei also imstande, zu einem wahren Verständnis der versteckten Ideen und Botschaften in Faust II zu verhelfen. Hintergründig geht es Elchinger um das Etablieren einer avantgardistischen Hörspielästhetik, die in der „Verwirklichung und Intensivierung des Wortes“14 ihre höchste Bestimmung sieht. Dabei ist das Wort für ihn nur ein Vehikel, über das höhere, unsagbare Geheimnisse übermittelt werden. Um diese höhere Ebene der Erkenntnis zu erreichen, bedürfe es allerdings einer besonderen Sensibilität. Gerade das „physikalische Wunder“ Radio ermögliche, so Elchinger, ein viel feineres Hören, das über das Wort hinaus auch die „Schwingungen der Seele“15 wahrnehmbar mache: Daher wird es als das geeignete Medium für ein neues, intensiveres Kunsterlebnis bezeichnet. Faust II wird zum Wegbereiter für dieses wortmystische Verständnis von Dichtung erklärt, in dem es zu einer unmittelbaren, fast magischen Erfahrbarkeit von Inhalten kommen soll. Goethes Drama dient also als Vorlage, an der die neue Auffas-

|| 12 Elchinger: Das Unzulängliche der Bühne. Hervorhebung im Original. 13 Ebd. Hervorhebungen im Original. 14 Ebd. 15 Ebd. Hervorhebung im Original.

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sung von Kunst als „Austausch von Strahlungsenergien“16 vorgeführt werden kann. Allerdings auch eine Vorlage, die dieser mystischen Hörspielästhetik angepasst werden muss. Das sieht man an der Funkbearbeitung von Ernst Hardt, in der, wie unter anderem von Elchinger gefordert, die allegorische Dimension der Tragödie in den Vordergrund tritt:17 Der Regisseur verzichtet, wie es in der Presse heißt, auf allzu bildliche und dekorative Szenen – jene Stellen wie der Maskenball in der Szene am Kaiserhof oder die Klassische Walpurgisnacht, die sonst in keiner Bühnenaufführung fehlen –, um sich auf die dramatischen und vor allem allegorischen Passagen zu konzentrieren.18 Der Akzent liegt auf dem fünften Akt und der religiös-mystisch anmutenden Schlussszene: So soll Hardt in seiner gesprochenen Einführung die Rundfunkhörer, denen es an Geduld mangeln sollte, dazu aufgefordert haben, sich ja um 10 Uhr wieder einzuschalten, damit sie den Höhepunkt des Stücks nicht verpassten.19 Die getragene, teilweise gedehnte, doch stets expressive und bemerkenswert abwechslungsreiche Vortragsweise der Sprecher verleiht beinahe jedem Wort ein eigenes Gewicht; dazu trägt neben dem engagierten Stimmeneinsatz (zu nennen ist vor allem das ausdrucksstarke Spiel des Mephisto-Interpreten Alexander Granach) auch die sorgfältige Herausarbeitung der klanglichen Dimension des Textes und des Rhythmus des goetheschen Verses bei. Die Musik von Hans Ebert, die zu Beginn des Stücks eine eher hintergründige, atmosphärische Rolle spielt, kommt in der Schlussszene („Bergschluchten“) stärker zur Geltung: Für eine feierliche Stimmung sorgen hier die a cappella-komponierten Choreinsätze, während hohe Streicher- und Orgeltöne eine ätherische Himmelsmusik suggerieren. Der Höhepunkt wird mit dem Chorus Mysticus erreicht, der, zuerst begleitungslos von einer Tenor-Stimme vorgetragen, feierlich durch Chor und Orchester wiederholt wird. Musik und Regie tragen zum Eindruck bei, dass Hardt Faust II wie einen heiligen Text behandelt, wie ein Mysterium, das eine höhere Botschaft beinhalte; der Rundfunk gestaltet sich dabei als Medium der Offenbarung. Diese Interpretation wird auch von einem Kritiker des sozialdemokratischen Vorwärts unterstützt, der in der religiösen Überhöhung allerdings eine Verkehrung der Autorintention sieht: „Das religionsfremde Werk wurde damit für den naiven Hörer in ein frommes Bekenntnis verwandelt, || 16 Ebd. 17 Im Nachlass des Schauspielers Alexander Granach (Akademie der Künste, Berlin) sind einige Aufnahmen von Hardts Faust erhalten. Auf diesen Teilmitschnitt der insgesamt vierstündigen Sendung gründen die folgenden Beobachtungen. 18 Vgl. etwa den Bericht in der Neuen Preußischen Kreuzzeitung: P. W.: „Faust“ zweiter Teil als Reichssendung. In: Neue Preußische Kreuzzeitung (24.3.1932). 19 Vgl. etwa E. H.: Goethes Tod im Rundfunk. In: Der Reichsbote (27.3.1932).

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das Goethe in ihm nie abgelegt hat, nie ablegen wollte.“20 Um den Rundfunk als direkten Erben Goethes darzustellen sind eben doch einige Arrangements vonnöten. Dass der Faust-Stoff zeitgleich zur Legitimation einer ganz anderen Radioästhetik dienen kann, davon zeugt die Adaption des französischen Hörspielautors Marc Denis, die in der Presse als der wichtigste Beitrag des französischen Rundfunks zum Goethejahr besprochen wird.21 Auch in Paris gilt damals die Meinung, dass Goethes Drama erst im Radio vollkommen zur Geltung kommen könne.22 Wie jedoch bereits der Titel des Hörspiels von Denis verrät, wird mit der „Tragischen Geschichte von Johann Faust“ keine unmittelbare Rückkehr zum deutschen Klassiker intendiert, sondern im Gegenteil einen Querschnitt durch die ganze Geschichte der Faust-Rezeption versucht, vom Volksbuch bis zum Stummfilm von Friedrich Murnau.23 Auch die musikalische Untermalung von Denyse Marc-Denis bedient sich, einem Bericht zufolge, neben Originalkompositionen auch unterschiedlicher Faust-Vertonungen.24 Die goethesche Fassung des Stücks stellt, nach Angaben des Autors, die Hauptquelle für das Hörspiel dar:25 Doch indem er die mediale Vielschichtigkeit des Stoffes mitberücksichtigt, führt Denis vor, wie das Radio alle älteren Kunstformen zu integrieren vermag. Auf diese Weise soll das visuelle Defizit des Mediums kompensiert, wenn nicht gar überwunden werden. Der Kritiker Edmond Sée drückt das mithilfe einer kulinarischen Metapher aus und lobt die Adaption als „une sorte de liebig philosophico-dramatique“26: Der Vergleich mit dem berühmten Fleischextrakt der Firma Liebig meint wohl, dass das Hörspiel die wertvollsten Gedanken aus vier Jahrhunderten Faust-Rezeption zu kondensieren und neu zu entfalten vermag. Dieser vermittelte Zugang zu Goethe und dem Faust-Stoff steht freilich im krassen Gegensatz zur Ursprünglichkeitsbehauptung, die zur selben Zeit die Diskussion um die Hardt’sche Funkinszenierung bestimmt. Das mag unterschiedli-

|| 20 Tes.: Goethefeiern im Rundfunk. In: Der Abend (Spätausgabe des Vorwärts) (23.3.1932). 21 La tragique histoire de Johann Faust d’après Goethe, Klingemann, Marlowe et le Faustbuch. Hörspiel von Marc Denis, gesendet am 23. März 1932 um 20.45 Uhr von Radio Paris. Vgl. Anonym: Les stations que vous entendez. In: Radio Magazine (20.3.1932). Von der französischen FaustAdaption konnte keine Tonaufnahme aufgefunden werden. 22 Vgl. J. Valmy-Baisse: Goethe et le micro. In: Radio Magazine (8.5.1932). 23 Vgl. die Beschreibung des Vorhabens durch den Autor in: Carlos Larronde: Sous le tunnel. In: L’Intransigeant (14.3.1932). 24 Anonym: Les stations que vous entendez. 25 Carlos Larronde: Sous le tunnel. 26 Edmond Sée: Le théâtre diffusé. In: Radio Magazine (28.3. und 1.5.1932).

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che Gründe haben. Zum einen natürlich kulturelle: Die französische Faust-Rezeption als Ganzes kann als ein Vermittlungsprozess bezeichnet werden, in dem neben der Übersetzung der literarischen Texte die unterschiedlichen medialen Adaptionen – zu nennen ist hier allen voran die Oper Charles Gounods (1859) – eine ganz wesentliche Rolle spielen.27 Das Vorgehen von Denis steht also im Kontinuitätsverhältnis zu diesen sekundären Aneignungsformen. Anders in Deutschland, wo die goethesche Umgestaltung der Faust-Figur spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur nationalen Identifikationsfigur wird und fortan alle früheren und späteren Bearbeitungen des Stoffes überschattet: Hardts Adaption führt die Überbietungsrhetorik gewissermaßen fort. Es sind aber auch künstlerisch-strategische Gründe, die den Unterschied zwischen der französischen und der deutschen Fassung erklären können: Um seine Idee einer genre- und medienübergreifenden Hörspielästhetik durchzusetzen, bedarf Denis eines Stoffes, der in allen seinen medialen Abwandlungen einen gewissen Bekanntheitsgrad besitzt. Das ist bei Faust der Fall: Auch, wenn von der Realisierung der „Tragique histoire de Johann Faust“ jede Spur fehlt, ist anzunehmen, dass die Versatzstücke aus den verschiedenen Faust-Adaptionen für den Zuhörer erkennbar blieben. Die mystische Hörspielkunst, die im Umfeld von Hardts Inszenierung diskutiert wird, kommt dagegen nicht ohne einen Moment der Verschleierung aus: Faust II muss wieder als ein Rätsel, als etwas nicht Begreifbares erscheinen, damit das Unternehmen legitim erscheint. Beide Autoren, Denis und Hardt, modellieren den Klassiker nach ihrem künstlerischen Bedarf – das Ergebnis könnte unterschiedlicher nicht ausfallen. Dass die Legitimationsfunktion des Klassikers nicht nur orts-, sondern vor allem auch zeitgebunden ist, wird am Vergleich mit dem Goethe-Jubiläum von 1949 deutlich. Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Programmgestaltung nur geringfügig von der des Jahres 1932: Am Abend des 28. Augusts, dem 200. Geburtstag des Dichters, wird erneut eine Funk-Inszenierung von Faust II gesendet.28 Sie wird vom NWDR als Gemeinschaftssendung aller westdeutschen Sender produziert,29 was auf ihre symbolische Bestimmung hinweist: Mittels Faust wird die Einheit der Westzonen zum Zeitpunkt der Gründung der Bundesrepublik be|| 27 Zur französischen Faust-Rezeption im 20. Jahrhundert vgl. André Dabezies: Faust en France au vingtième siècle. In: Etudes littéraires 3 (1970), S. 373–388. 28 Faust. Der Tragödie zweiter Teil von Johann Wolfgang Goethe zu seinem 200. Geburtstag. Funkbearbeitung und Regie von Ludwig Berner, gesendet am 28. August 1949 um 19.30 Uhr vom NWDR Köln (übernommen von Südwestfunk, Süddeutschen Rundfunk, Hessischer Rundfunk und Radio Bremen). Vgl. Hör zu! (28.8.1949). 29 Vgl. dazu Hans-Ulrich Wagner: Radio. In: Faust-Handbuch. Konstellationen – Diskurse – Medien. Hg. von Carsten Rohde, Thorsten Valk und Mathias Mayer. Stuttgart 2018, S. 488–492.

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tont. Die Bedeutung der Sendung spiegelt sich auch im hohen Aufwand wider, den der Intendant des NWDR, Hanns Hartmann, für die Produktion betreibt: Für die Bearbeitung wird eigens der 1936 emigrierte Regisseur Ludwig Berger eingeladen, die Rollen werden durch anerkannte Schauspieler besetzt (Horst Caspar als Faust, Erich Ponto als Mephisto, Maria Wimmer als Helena). Die Funkinszenierung von Berger ist ein spektakuläres Ereignis, das alle anderen Faust-Inszenierungen im Funk überschattet. Doch gleichzeitig auch ein rein rituelles Ereignis: Eine Faust-II-Produktion im Radio – und sei sie auf nur 75 Minuten gekürzt – ist im Kontext des Goethejahres sozusagen Pflicht. Der ästhetische Diskurs, der 1932 eine so zentrale Rolle in der Besprechung der Hardt’schen Inszenierung spielt, tritt 1949 in den Hintergrund. Dafür sind mindestens zwei Gründe anzuführen. Erstens darf zu Beginn des sogenannten „Radiojahrzehnts“30 die Stellung des Rundfunks als Ort kreativer Erneuerung als allgemein anerkannt gelten: Mangels anderer Aufführungs- oder Publikationsmöglichkeiten wendet sich zu dieser Zeit ein Großteil der Nachkriegskünstler dem Rundfunk und besonders dem Hörspiel zu.31 Zweitens, und das ist vielleicht der gewichtigere Grund, spielt sich diese Erneuerung der literarischen Gattungen, anders als noch in der Zwischenkriegszeit, größtenteils abseits des klassischen Kanons ab. Um den radikalen Identitätsverlust des Nachkriegsmenschen darzustellen – zu nennen ist hier exemplarisch Borcherts zuerst als Hörspiel konzipiertes Heimkehrdrama Draußen vor der Tür (1947)32 – bedarf es keiner Verankerung mehr in der literarischen Tradition. Das konstatiert auch Peter Schlauss in einer Bilanz über die Rundfunkveranstaltungen im Goethejahr 1949: Das Jubiläum habe zwar „bezaubernde Idyllen“, aber keine wirklich neuen Entwürfe angeregt.33 Schlauss bedauert, „daß die Entfernung unserer Zeit von Goethes Geisteshaltung in keiner einzigen Funksendung so eindrucksstark aufgezeigt worden ist, wie das nahegelegen hätte.“34 Wie eine solche Neuaneignung hätte aussehen können, beschreibt er selbst sehr ausführlich: Man hätte einen „zu Faustens österlichem schrill kontrastierenden Spaziergang“ schreiben müssen, ein Spazier-

|| 30 Axel Schildt: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre. Hamburg 1995, S. 205. 31 Peter Marchal: Kultur- und Programmgeschichte des öffentlich-rechtlichen Hörfunks in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch, Band 1: Grundlegung und Vorgeschichte. München 2004, S. 290f. 32 Wolf Gerhard Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne. Das deutsche Drama und Theater der Nachkriegszeit im internationalen Kontext. Stuttgart 2009, S. 635. 33 Peter Schlaus: Nachlese zum Goethejahr. In: Rufer und Hörer 5 (1950), S. 296–299, hier S. 297. 34 Ebd.

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gang, in dem Mephisto einen wiederauferstandenen Goethe durch zeitgenössische „Massenversammlungen“ und durch „zerbombte Stadtviertel“ führt, „um ihm zu beweisen, wie herrlich weit sein Volk es gebracht habe“35. Der Kontrast zwischen Goethezeit und Gegenwart, den die Zweifler-Figur in Paquets Radio-Gespräch von 1932 so sehr beklagte, sollte hier also auf produktive Weise genutzt werden. Schlauss schwebt ein gesellschaftskritisches Hörspiel vor, in dem den Zuhörern die sozialen, ökonomischen und moralischen Missstände der Zeit vorgeführt werden. Das Ziel wäre gewesen, eine „Aufrüttelung der Gewissen“36 zu bewirken. Dass Goethes Faust hierfür die geeignete Vorlage biete, scheint die zeitgenössischen Hörspielautoren jedoch nicht mehr zu überzeugen: Es bleibt bei dem Entwurf. 1949 braucht der Rundfunk Goethe nicht mehr als Legitimationsinstanz. Dafür wird dem Massenmedium eine umso gewichtigere Funktion in der Erneuerung und „Übersetzung“ des Klassikerbildes in die neue Zeit zuteil: Das Radio hat einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Popularisierung des Nationaldichters im 20. Jahrhundert, was im Folgenden erörtert werden soll.

2 Goethe nach Bedarf: Das Radio als Popularisierungsfaktor für den Klassiker Die Verallgemeinerung des Radios zu Beginn der 1930er Jahre und sein Triumph im Nachkriegsjahrzent veranlasst die Programmverantwortlichen zu unzähligen Fragen, was die wirklichen Konturen der unsichtbaren Zuhörer betrifft, die sie täglich zu erreichen suchen. Bei den Besprechungen der oben angeführten FaustAdaptionen steht so seltener die Frage nach ihrem eigentlichen ästhetischen Wert im Mittelpunkt: Die Kritik gilt meistens ihrer (Un-)Vermittelbarkeit und ihrer möglichen Wirkung auf das Massenpublikum. So äußert beispielsweise Hans von Heister nach der vierstündigen Faust-Inszenierung von Ernst Hardt 1932 gewisse Zweifel. Ihm zufolge sei es schlicht unmöglich gewesen, ohne tiefere Kenntnis des Werks oder zumindest ohne das Buch zur Hand gehabt zu haben der Inszenierung zu folgen: „Nun sind ja Worte, Worte – Sprache, Sprache – absolute Dichtkunst sicherlich eine reine Rundfunksache. Gut – aber nicht vier Stunden lang. Das setzt ein geistiges Training voraus, über das nur wenige Men-

|| 35 Ebd., S. 298. 36 Ebd., S. 298f.

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schen verfügen.“37 Ganz ähnliche Vorbehalte äußert auch der Kritiker der Hör zu! nach der Übertragung des Faust II von Ludwig Berger im Jahr 1949: „Nur bleibt die Frage, für wen denn eigentlich dies Spiel gedacht war. […] Es scheint uns, daß bei aller guten Absicht nur einigen wenigen (oder: viel zu wenigen) Antwort auf die Frage gegeben wurde, was uns Goethe heute noch bedeutet.“38 Statt die „wenigen Menschen“ der höheren Bildungsschichten hegt der Rundfunk den Anspruch, ein fiktives Ganzes zu erreichen, jenes „wir“, das anlässlich der Jubiläen von 1932 und 1949 den großen Dichter feiern soll. Konkret bedeutet dies, dass die Programmverantwortlichen die Sendungen über Goethe auch an den Bedürfnissen und Wünschen der Zuhörer auszurichten suchen. So finden z. B. zahlreiche Sendungen statt, die den Klassiker gezielt an bestimmte Rezipientengruppen zu vermitteln suchen, etwa den Frauen, den Schülern oder auch den Arbeitern. Auf diese Weise lässt das Massenmedium die Rezipienten gewissermaßen am Aktualisierungsprozess des Klassikers mitwirken. Inwiefern sich das Goethe-Bild des breiten Publikums und der Umgang mit Goethe im Radio gegenseitig bedingen, sieht man am besten an den Umfragen, die im Zuge der Gedenkfeiern 1932 und 1949 entstanden sind. Obwohl diese Sondierungen keineswegs ein genaues Abbild der öffentlichen Meinung darstellen, lassen sie doch wenigstens Tendenzen erkennen, die sich wiederum mit den Realisationen der Funkautoren vergleichen lassen. Anfang Januar 1932 veröffentlicht die Programmzeitschrift Die Sendung die Ergebnisse einer Umfrage zum Thema „Goethe und die Rundfunkhörer“.39 Ziel der Befragung war es zu ermitteln, inwiefern das Radio zur Verbreitung Goethes und seiner Werke in breite Rezipientenkreise beitrage. Oder, um es mit den Worten des Autors, Fred Angermayer, zu sagen: „wie weit es dem Rundfunk in den vergangenen acht Jahren gelungen ist, den Begriff Goethe in das Bewusstsein der Massen zu hämmern.“40 Wie allein der etwas zynisch klingende Satz zeigt, geht Angermayer, von einer normativen Perspektive aus: Für ihn hat der Rundfunk, den er auch „die gewaltigste Volkshochschule unserer Zeit“41 nennt, vorrangig eine erzieherische Funktion zu erfüllen, indem er die breite Hörerschaft an den Kanon der höheren Bildungsschicht heranzieht. Dementsprechend fällt die Enttäuschung aus, wenn er angesichts der negativen Antworten der Befragten fest-

|| 37 Hans S. v. Heister: „Faust II“ im Rundfunk. In: Der Deutsche Rundfunk (1.4.1932). 38 Listener: Haben Sie das gehört? In: Hör zu! (11.9.1949). 39 Fred A. Angermayer: Goethe und die Rundfunkhörer; eine Umfrage. In: Die Sendung (1.1.1932). 40 Ebd. 41 Ebd.

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stellen muss, dass das Massenmedium an seinem Anspruch gescheitert ist: Kein Hörer, so Angermayer, sei durch das Radio angeregt worden, sich eingehend mit Goethe zu befassen. Zwar bestünde in allen Bevölkerungsschichten der Wunsch, mehr über den deutschen Nationaldichter zu erfahren, doch die Goethe-Sendungen des Rundfunks hätten sich bis dato zu stark an den Bedürfnissen einer Bildungselite orientiert. Ziel des Artikels ist es deshalb, die Programmmacher dazu zu ermuntern, „eine neue Form massenbetonter Funkvermittlungen Goetheschen Geistes“ zu erfinden, die es vermögen würde, „die bildungshungrigste Schicht“ an den Dichter heranzuführen.42 So vage die Vorstellungen Angermayers bezüglich einer Erneuerung der Programme gehalten sind, so aufschlussreich erweisen sich die Antworten der Umfrageteilnehmer, die im Artikel der Sendung abgedruckt sind. Zwar wird an ihnen zunächst sichtbar, wie vielfältig die Erwartungen an Goethe und dem Rundfunk sein können, doch zeugen sie zugleich allesamt vom hohen Stellenwert, den der Klassiker in der öffentlichen Meinung einnimmt. So beispielsweise in der Aussage einer Rentnerin, Frau Krüger: Wissen se, Joethen is für mich ne Selbstverständlichkeit. Hier stehen seine jesammelten Werke. Da les ick jeden Sonntach drin. Und auch so man zwischendurch. Wenn aber mal der Rundfunk Joethen bringt, und ick mir mit meinem Buch hinsetze, dann stimmt det allens nur halb. Warum streichen die nur so ville? Is ja zu meiner Zeit auch jespielt wor’n, wies jedruckt stand.43

Indem er den Berliner Dialekt und die mündliche Sprechweise der Befragten transkribiert, möchte der Autor die Antwort so authentisch wie möglich erscheinen lassen: Durch Frau Krüger spricht gewissermaßen das einfache „Volk“.44 Was die personifizierte Stimme des Volks hier ausdrückt, ist erstens das Befremden vor den Adaptionsformen des Rundfunks. Zwischen der Vorstellung, die Frau Krüger sich vom Klassiker macht, und den ästhetischen Experimenten der Funkregisseure besteht eine tiefe Kluft. Zweitens ist an der Antwort der Rentnerin ein Sakralisierungsreflex erkennbar: Goethe ist Gegenstand eines wöchentlichen Rituals, das an den katholischen Gottesdienst erinnert; seine Werke haben dabei den Status eines heiligen Textes, der keine äußeren Eingriffe zulässt und dem

|| 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Der Gebrauch von Soziolekten als Mittel, um die Spontaneität der Aussagen zu bezeugen, findet sich auch in der Goethe-Umfrage von 1949 wieder, die weiter unten besprochen wird: Dort wird die dialektale und mündliche Sprechweise der Befragten durch professionelle Sprecher nachgeahmt.

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man nur mit äußerster Frömmigkeit begegnet. Die Goethe-Figur, die Frau Krüger entwirft, funktioniert wie ein Religionsersatz. Das passt zur sakralen Stimmung der Zentenarfeier in Deutschland, deren Höhepunkt in der Weimarer Rede Julius Petersens erreicht wird. Sie trägt den pompösen Titel Erdentage und Ewigkeit ist durchgehend von einem religiös-sakralen Duktus geprägt: „Heute steht um das Heiligtum seiner [Goethes] Ruhestätte dieses große Volk geschart, […] erfüllt von dem Ewigkeitsbewußtein immer neuen Werdens.“45 Obwohl die populären Goethe-Sendungen niemals einen solchen Grad an Pathos – und nebenbei an nationalistischen Untertönen – erreichen, spielt der Klassiker auch im Rundfunk fast immer die Rolle eines geistigen Führers. Dem Bedarf nach Spiritualität und Orientierung, der in der Umfrage zum Ausdruck kommt, wird zumindest teilweise durch innovative Formate im Radio entgegengekommen. So bietet beispielsweise Fritz Nothardt den Hörern des Südfunks ab dem 23. Januar eine gemeinsame „Funkarbeit um Goethe“: Unter dem Programmpunkt „Kannst du Goethe lesen?“ sollen in regelmäßigen Abständen die Werke des Dichters mithilfe von Hörerkommentaren besprochen werden.46 In einer Ankündigung der Sendung heißt es erläuternd: „Jeder Hörer arbeitet selbst an der Hebung und Bergung der von uns gesuchten und begehrten geistigen Werte mit.“47 Die Goethe-Lektüre wird hier zum spirituellen Erlebnis erhoben: Sie soll im wahrsten Sinne des Wortes erbauen. Der Sakralisierungsreflex findet sich auch im Unterhaltungsprogramm des Rundfunks wieder. Die sogenannten Goethe-Hörspiele, in denen authentische oder erfundene Szenen aus dem Leben des Dichters nachgespielt werden, lassen die Figur des alten Weimarer Weisen auftreten, wie er beispielsweise in den Gesprächen von Eckermann stilisiert wird. Dem Stück Gewitter am Abend von Edmund Hoehne48 liegt so Goethes Reaktion auf die Nachricht vom Aufbruch der französischen Juli-Revolution 1830 zugrunde. Der Plot: Obwohl das Ereignis ganz Weimar in Aufruhr versetzt, interessiert den greisen Dichter nur den Ausgang eines wissenschaftlichen Streits an der

|| 45 Julius Petersen: Erdentage und Ewigkeit. Rede bei der Gedächtnisfeier in Weimar am 22. März 1932. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 18 (1932), S. 3–22, hier S. 7. Zu den Sakralisierungstendenzen in der Goethe-Rezeption zur Zeit der Weimarer Republik vgl. das Kapitel „Goethe zum Andenken. Die Reden als Ausdruck einer sakral geprägten Erinnerungskultur“. In: Astrida Ment: Goethe zwischen den Kriegen. Gedenkreden in der Weimarer Republik (1919–1933). Frankfurt am Main 2010, S. 354–441. 46 Dr. F[ritz] N[othardt]: Können Sie Goethe lesen? In: Die Sürag (17.1.1932). 47 Ebd. 48 Gewitter am Abend. Goethe-Hörspiel aus dem Jahre 1830 von Edmund Hoehne, gesendet am 25. Februar 1932 von 20.00 bis 20.30 Uhr im Norddeutschen Rundfunk. Vgl. Der deutsche Rundfunk (19.2.1932). Die Sendung wird in der Folge mehrfach wiederholt.

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französischen Akademie und die Fertigstellung des Faust-Dramas.49 Die Botschaft ist klar: Goethe verstehe es, vom Tumult der Zeit zu abstrahieren und die wahrlich wichtigen Dinge im Auge zu behalten. In Wo ist Goethe? von Herbert Eulenberg steht die Kultfigur im Mittelpunkt:50 Spätabends wünscht ein angetrunkener Student den allseits bekannten und bewunderten Dichter der Marienbader Elegien persönlich zu begegnen, doch er lässt sich von Eckermann belehren, dass der wahre Goethe nur in seinen Werken zu finden sei.51 Beide Anekdoten fungieren als Parabeln, in denen die Figur des Dichters entweder als Exempel wirkt oder zu besonnenem Handeln anregt. Bezeichnenderweise wird in solchen Stücken der eigentliche Auftritt des Protagonisten stets retardiert: Er ist – um ein berühmtes Zitat von Flaubert zu paraphrasieren – „wie Gott im Universum: überall anwesend und nirgends sichtbar“.52 Obwohl die Hörspiel-Autoren nicht vorgeben, sich an den Buchstaben des goetheschen Werks zu halten, wie die Rentnerin aus der Umfrage es sich wünschen würde, erscheint die Goethe-Figur des Unterhaltungsprogramms doch weitestgehend die göttliche Funktion einzunehmen, die ein Teil des Massenpublikums auf sie projiziert. Betrachtet man die populäre Goetherezeption im Jahr 1949, scheint diese religiöse Funktionalisierung des Klassikers insgesamt zurückzugehen. Über das Klassikerbild der Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt informiert eine Umfrage des demoskopischen Instituts zum Thema „Was bedeutet Goethe wirklich für die Deutschen?“53 Die Ergebnisse werden anlässlich einer insgesamt zweistündigen Radiosendung präsentiert und von drei Sprechern kommentiert. Dabei wird jedem Sprecher eine bestimmte Rolle zugewiesen: Der „literarische Anwalt der

|| 49 Vgl. die Zusammenfassung des Hörspiels: Anonym: Funkbühne der Woche. In: Die Sendung (19.2.1932). 50 Wo ist Goethe? Hörspiel von Herbert Eulenberg, gesendet am 22. August 1932 von 19.30 bis 20.00 Uhr im Südwestfunk Rundfunk (übernommen vom Südfunk). Vgl. Der deutsche Rundfunk (19.8.1932). 51 Vgl. die Zusammenfassung des Hörspiels: Anonym: Inhaltsangabe. In: Der deutsche Rundfunk (19.8.1932). 52 „L’auteur, dans son œuvre, doit être comme Dieu dans l’univers, présent partout, et visible nulle part.“ Gustave Flaubert an Louise Collet, Brief vom 9. Dezember 1852. In: Gustave Flaubert: Correspondance. Hg. von Danielle Girard und Yvan Leclerc: http://flaubert.univ-rouen.fr/correspondance/conard/lettres/lettres1.html [abgerufen am 5.6.2017]. 53 Was bedeutet Goethe wirklich für die Deutschen im Jahr 1949? Umfrage des demoskopischen Instituts, bearbeitet von Hans-Jürgen Schüddekopf und Gustav Burmester, gesendet in drei Teilen vom 12. bis 18. Juli 1949 im NWDR (Schallarchiv des NDR). Sendemanuskript im Archiv des Instituts für Demoskopie Allensbach: Goethe 1949. Funkbearbeitung einer Massen-Umfrage von Hans Georg Brenner, Erich Peter Neumann und Elisabeth Noelle. Allensbach 21952. Soweit nicht anders vermerkt, wird im Folgenden nach dem Sendemanuskript zitiert.

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Masse“54, wie er abschätzig von einem seiner Widersacher genannt wird, untersucht den „latenten Goethe“55, also die Präsenz des Dichters im Bewusstsein der breiten Masse; der zweite Sprecher nähert sich den „Goethe-Touristen“56, womit eine mittlere Bildungsschicht gemeint ist, die über allgemeine Kenntnisse über den Dichter verfügt; der dritte Sprecher, der als „Repräsentant einer hochmütigen, aber nicht eitlen Elitengruppe“57 beschrieben wird, interessiert sich für die „echte Goethe-Gemeinde“58, bei der eine authentische Wirkung von Dichtung nachzuweisen sei. Es wird also auch hier von einem normativen Standpunkt ausgegangen. Im Wechselspiel zwischen den drei Sprecherrollen wird dieser aber auch stets relativiert und kritisiert. Wenn doch die Vorstellung vom idealen Goethe-Rezipienten nicht verschwindet, kommen die populären Rezeptionshaltungen in der Sendung mehr und mehr zur Geltung, und sei es nur, weil sie durch vielfältige Zitate hörbar werden. Interessiert man sich für das Goethebild der Massen im Jahr 1949, sind es eben diese Zitate und Auszüge aus den Interviews mit 2000 Befragten, die in den Mittelpunkt rücken. Sie zeugen insgesamt von einer Vermenschlichung des Dichters, die im Gegensatz zur Sakralisierungstendenz in der Weimarer Republik steht. Zum Klassiker wird so auffallend oft ein fast schon persönliches Verhältnis aufgebaut, als handle es sich um einen ebenbürtigen Menschen. „Ich hasse Joethe“59, erklärt beispielsweise geradeheraus ein Optiker aus dem Rheinland, was ja – wenn auch im Negativen – Ausdruck einer ziemlich affektgeladenen Beziehung ist. In diesem konkreten Fall scheint es, als hätten die Diskussionen um Goethe zur Zeit der NS-Diktatur ein Tabu gebrochen: Den großen Mann darf man nun auch ohne Weiteres öffentlich beleidigen.60 Die Humanisierung des Klassikers durch die Rezipienten findet sich aber auch in weniger emotionalen Aussagen wieder. Die Frage „Hätten Sie sich gern einmal mit Goethe unterhalten?“61,

|| 54 Sendemanuskript Goethe 1949, S. 36. 55 Ebd., S. 9. 56 Ebd., S. 10. 57 Ebd., S. II. 58 Ebd., S. III. 59 Diese Replik wurde in der 2. Auflage des Sendemanuskripts von 1952 gestrichen. 60 Später erklärt derselbe Optiker, Goethe habe „Schuld an Schillers Tod“ (ebd., S. 49). Die These des angeblichen Giftmords an Schiller wurde zu Beginn der NS-Diktatur durch Mathilde Ludendorff popularisiert und öffentlich diskutiert. Zum „Vergiftungsmythos“ und der „Ludendorff-Bewegung“ vgl. Georg Ruppelt: Schiller im nationalsozialistischen Deutschland. Der Versuch einer Gleichschaltung. Stuttgart 1979, S. 20–23. 61 Sendemanuskript Goethe 1949, S. 45.

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beantworten 49% der Befragten mit „ja“.62 Worauf die erwünschten Gesprächsthemen aufgezählt werden: Rentenempfänger aus Niedersachsen: Über Sinn und Zweck des Lebens; Großkaufmann aus Nordrhein-Westfalen: Über einen persönlichen Gott; Arbeitslose Verkäuferin aus Bayern: Über schöne Phantasien bei Mensch und Natur; Mutter eines Straßenbahnschaffners aus Nordrhein-Westfalen: Über die Atombombe; Bankhausmeister aus Niedersachsen: Müssen die Völker Krieg führen?; Druckerei-Hilfsarbeiterin aus Hessen: Ob die Menschen zu seiner Zeit auch so schlecht waren; Gärtner aus Rheinland-Pfalz: Mich hätte interessiert, ob er glücklich war; Hausfrau aus Niedersachsen: Über die Psyche der Frauen; Arbeitsloser Brennhaus-Arbeiter aus Bayern: Über die Geschichte der Weltkugel; Arbeitslose Witwe aus Niedersachsen: Über die Sozialverhältnisse der Arbeiterklasse; Pensionierter Lehrer aus Bayern: Über die schweren Fragen unserer Zeit; Ofensetzersfrau aus Nordrhein-Westfalen: Über sein tolles Liebesleben. Er muss ganz schlimm gewesen sein mit Frauen; Optiker und Uhrmacher aus dem Rheinland: Um ihm zu sagen, wie verlogen und brutalskrupellos er ist! Er hat Schuld an Schillers Tod und hat ihn ruiniert; Hausfrau aus Bayern: Was er heute als Minister tun würde; Schuhmacher aus Hessen: Über seine Idee der Urpflanze; Kaufmannsfrau, Mutter von zwei heranwachsenden Töchtern: Über Fragen der Moral; Heimarbeiter aus Niedersachsen: Ob er wohl Lust hätte, heute zu leben.63

Die Interessen sind freilich vielfältig: Die Bandbreite reicht von den typischen Themen der Boulevardpresse (Liebesleben) bis hin zu ästhetischen, sozialen und philosophischen Fragestellungen. Insgesamt überwiegt der Eindruck, dass der Weimarer Dichter für die Mehrheit der Befragten nach wie vor eine Form von Autorität verkörpert, die Orientierung in mehr oder weniger grundsätzlichen, wenn nicht gar existentiellen Angelegenheiten zu bringen vermag. Frappierend ist allerdings, dass ein Großteil der genannten Themen sich auf ziemlich direkte Art und Weise auf den zeitlichen und räumlichen Erfahrungshorizont der Interviewten bezieht: Es geht um den vergangenen und den sich anbahnenden Krieg, um die soziale Ungerechtigkeit, die Rolle der Religion, die Psychologie – Phänomene, die eigentlich so gut wie gar nichts mit Goethes Erfahrungswelt zu tun haben. Für die befragten Personen wird der Klassiker zu einer Art persönlichem Berater, einem Vertrauten, mit dem man sich über die großen Lebensfragen unterhalten könnte. Man kann insgesamt von einer Intimisierungstendenz sprechen, was auch die Autoren der Umfrage betonen: „Für alle diese Menschen ist

|| 62 Ebd., S. 46. 63 Ebd., S. 48f.

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Goethe zweihundert Jahre nach seiner Geburt kein unnahbarer Dichterfürst, sondern ein Mensch wie du und ich. Sein Ruhm allein genügt vielleicht, um ihm ein schüchternes Vertrauen entgegenzubringen.“64 Die Vermenschlichung der Klassikerfigur, die mit ihrer Transponierung in die unmittelbare Gegenwart einhergeht, spiegelt sich im Unterhaltungsprogramm des Rundfunks im Jahr 1949 wider. Zwar bleibt die „Schüchternheit“ oder – anders gesagt – der Respekt vor der Größe bestehen, doch insgesamt sind die Programmgestalter darum bemüht, Nähe zwischen der Dichterfigur und dem Zuhörer zu fingieren. In der wöchentlichen Hörfolge Goethe erzählt sein Leben von Hans-Egon Gerlach und Otto Herrmann65 wird so die Illusion genährt, der Dichter ergreife selbst das Wort und spräche den Hörer direkt an. Der Klassiker erscheint nicht mehr als der große Unsichtbare, sondern wird von zwei Sprechern, Will Quadflieg (der junge Goethe) und Mathias Wieman (der reife Goethe), inkarniert. Weitere Sendungen zeugen von einem viel unbeschwerteren Umgang mit Goethe: Anders als noch im Jahr 1932 bemächtigt sich nun das Kabarett verstärkt der Figur des Klassikers. In humoristischen Sendungen wird die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart überwunden, indem die Autoren Goethe an der modernen Erfahrungswelt teilhaben lassen und ihn zuweilen in zeitgenössische Rollen schlüpfen lassen. Für das Radio wird beispielsweise eine „Groteske“ von Egon Friedell und Alfred Polgar aus dem Jahr 1908 ausgegraben, in der Goethe anstelle eines Prüflings im Examen auftritt und die Zuhörer mit seinen flapsigen Antworten zu eigenem Leben und Werk zum Lachen bringt.66 Ein solcher Ton hätte sich kaum mit der erzieherischen Funktion des Rundfunks in der Weimarer Republik vereinbaren lassen.67 Um noch ein weiteres Beispiel für den aktualisierenden-humoristischen Umgang mit dem Klassiker zu bringen: In einer Sendung des RIAS stellt sich Werner Brink das Weimar des Jahres 1823 mit Mikrophon und Funkreportern vor. Das Hörspiel Sie waren dabei. Goethe beinahe am Mikrophon

|| 64 Ebd., S. 51. 65 Goethe erzählt sein Leben. Hörfolge von Hans Egon Gerlach, 35 Sendungen übertragen vom NWDR vom 2. Januar bis zum 28. August 1949 [Schallarchiv des NDR]. Vgl. die Buchfassung: Hans Egon Gerlach und Otto Herrmann: Goethe erzählt sein Leben. Ein Lebensbericht aus Selbstzeugnissen Goethes und Aufzeichnungen seiner Zeitgenossen. Frankfurt am Main 1982 (zuerst 1949). 66 Egon Friedell und Alfred Polgar: Heiterer Beitrag zum Goethejahr, gesendet am 2. Juli 1949 vom NWDR (Schallarchiv des WDR). 67 Im Goethejahr 1932 wird das Stück nur auszugsweise in der jubiläumskritischen Weltbühne abgedruckt, was als Protestgeste gegen das offizielle Goethebild aufgefasst werden kann. Vgl. Alfred Polgar und Egon Friedell: Goethe. Eine Groteske in zwei Bildern. In: Die Weltbühne 28 (1932) H. 15, S. 557–562.

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handelt vom Medienrummel um den 74. Geburtstag des Dichters und die Reaktionen auf das Gerücht seiner Liebe zu Ulrike von Levetzow.68 Die Kollision zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird hier bewusst herausgefordert, und zwar zu komischen Zwecken. Die Rundfunkautoren bewegen sich also insgesamt fort von den historisierenden Inszenierungen der 1930er Jahre und setzen eher auf eine Annäherung zwischen getrennten Zeiten. Der Nationaldichter wird durch solche Sendungen noch lange nicht vom Sockel gestoßen. Vor allem bleibt das gesellschaftskritische Potenzial des Vergleiches zwischen Goethezeit und aktueller Realität, wie sie beispielsweise Peter Schlauss mit seiner Faust-Skizze vor Augen hatte, weitestgehend unausgeschöpft. Doch die Tendenz zu Vermenschlichung und Intimisierung, die sich in der Umfrage des demoskopischen Instituts ausmachen lässt, wird durch die Sendungen des Goethejahrs eher bestätigt als zurückgewiesen. Das Verhältnis zwischen Goethe und dem Rundfunk kann man als Win-win-Situation beschreiben: Wird der Klassiker vor allem in den dreißiger Jahren noch als Legitimationsinstanz von den Radiopionieren herangezogen, spielt das Medium in der Nachkriegszeit eine zentrale Rolle für die Anpassung des alten Dichterbilds an die Bedürfnisse des neuen Massenpublikums. In dem Maße, wie der Klassiker also das Radio verändert, verändert auch das Radio den Klassiker. Das Interaktionsprinzip gilt im Grunde bis heute: In dem Moment, wo sich der Hörfunk der Konkurrenz des Fernsehens und später des Internets zu stellen hat, kann z.B. das Kulturradio Klassikeradaptionen produzieren, um sich als Traditionsmedium bzw. als hochkulturelles Medium profilieren zu können. Aufwendige FaustAdaptionen werden nach wie vor regelmäßig im Programm der Kultursender angeboten.69 Der Innovationsdruck, der andererseits durch die konkurrierenden Aneignungsmodelle in den neueren Massenmedien entsteht, führt die Funkautoren aber auch dazu, immer wieder zeitgemäße Formen der Popularisierung zu erfinden. Davon zeugen beispielsweise die zahlreichen dialektalen Adaptionen der Klassiker (sogenannte Mundarthörspiele), die zum Standartrepertoire regionaler Sender gehören. Beliebt sind heutzutage auch Produktionen, in denen kanonische Werke in aller Kürze und vor allem mit Witz zusammengefasst werden, etwa die Reihe „Klassiker für Klugscheißer“ des MDR Jump. Die Wechselbeziehung zwischen Goethe und dem Radio dauert an.

|| 68 Sie waren dabei. Goethe beinahe am Mikrophon, nachgestellte Szenen zum 74. Geburtstag von Johann Wolfgang Goethe von Werner Brink, gesendet am 25. August 1949 vom RIAS (Schallarchiv des DRadio). 69 Vgl. Hans-Ulrich Wagner: Radio.

Jana Piper

Das Fernsehen als ‚Fenster zur Welt‘? Schiller in der televisionären bundesrepublikanischen Gedenkkultur der fünfziger Jahre Anders als die Einführung der Massenmedien Hörfunk und Kino unterlag die Etablierung und Distribution des Fernsehens mehrfachen Ansätzen. Als in der Nachkriegszeit (1951) ein erstes Fernseh-Versuchsprogramm ausgestrahlt wird, ist die Erinnerung an das Vorkriegsfernsehen im Nationalsozialismus noch präsent – gleichwohl sich bestehende Fernsehsysteme der Alliierten als Vorbild für die medial vermittelten Weltbilder anbieten.1 Diese Kontexte sind prägend für die Diskurse im und über das Fernsehen sowie die Institutionalisierung des neuen Mediums. Denn die nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogene Ablösung des staatlichen Medienmonopols durch ein öffentlich-rechtliches schuf ein neues Bewusstsein von Öffentlichkeit.2 Im Zuge der noch nicht weit zurückliegenden nationalsozialistischen Instrumentalisierung von Rundfunk, Film und Fernsehen als gigantomanische Propagandaapparate richten sich dahingehend auch die in den fünfziger Jahren formulierten Ansprüche der Kulturkritiker an das neue Massenmedium, die sich im Topos des Fernsehens als ‚Fenster zu Welt‘ bündeln. Gegen eine wiederholte nationale Mythisierung wird eine Internationalisierung des Programms gesetzt und nach den suggestiven medialen Bildern im Nationalsozialismus eine sogenannte „Vermittlung des Echten“3 gefordert. Damit sind zum einen der Verflachung durch die Reproduktionsmaschinerie des Fernsehens entgegengesetzte ‚echte Werte‘ gemeint, zum anderen birgt die Formulierung – wie auch schon die These des ‚Fensters zur Welt‘ – einen gewissen dokumentarischen Anspruch. Noch mehr als bei der Etablierung des Kinos – das seinerzeit vorrangig im Zusammenhang eines Kulturverlustes diskutiert wurde – besteht nach 1945 folglich ein grundsätzliches Misstrauen gegen das Bildmedium. Nach dem Rundfunkmann Paul Gerhardt – führender Fernsehkritiker Anfang der 50er Jahre –

|| 1 Vgl. Knut Hickethier: „Fließband des Vergnügens“ oder „Ort innerer Sammlung“. In: Ästhetik, Pragmatik und Geschichte der Bildschirmmedien. Hg. von dems. Siegen 1990, S. 4–26. 2 Vgl. Knut Hickethier: Medien-Modernisierung in der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er Jahren. In: Marburger Hefte zur Medienwissenschaft 54/55 (2012), S. 12–23, hier S. 12. 3 Zitiert nach Knut Hickethier: „Fließband des Vergnügens“ oder „Ort innerer Sammlung“, S. 10. https://doi.org/10.1515/9783110615760-009

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gibt das Bild nie die Wirklichkeit wieder. Bilder seien „die Schatten der Ereignisse“4 und würden nur um Sensation und Affekt einzufangen gezeigt. Gerhardt plädiert für „fernsehwürdige Objekte“5 und warnt vor einem raschen Bildwechsel. Eine Folge dieser Kritik: Ähnlich wie bei der im Jahre 1907 gegen das ‚Schundfilm-Programm‘ des Kinos ausgetragenen Reformdebatte werden als ‚fernsehwürdige Objekte‘ auch in den 50er Jahren zuerst einmal literarische ‚Klassiker‘ präsentiert. Die TV-Autoren des Fernsehens stützen sich dabei auf das Theater, Hörspiele und andere literarische Vorlagen.6 Programmatisch wird bei Ausstrahlung des ersten Fernsehspiels innerhalb des Versuchsprogramms am 2.3.1951 in der Regie von Hanns Farenburg auf Goethes Vorspiel auf dem Theater zurückgegriffen, „das symbolisch [...] der Fernseharbeit als erste Darbietung voraufgeht [sic].“7 Ferner wird am 13.2.1952 Jean Cocteaus Orphée aus dem Hamburger Theater im Zimmer übertragen und am 11.8. strahlt der NWDR das Fernsehspiel Inspektor Tondi von Sigfried Lenz, Regie: Hanns Farenburg aus.8 Eine weitere ‚Literarisierung‘ des Fernsehens ergibt sich durch zwei Schiller-Jubiläen 1955 und 1959, auf die das neue Massemedium zu reagieren hatte. Neben einer für das Fernsehen bearbeiteten Theaterinszenierung (Die Räuber [ARD 1959], Regie: Fritz Umgelter) wurden vom Regisseur Heinz Huber9 1955 und 1959 zwei dokumentarische Autorenporträts10 zu Schiller, In Tyrannos. Der junge Schiller und || 4 Zitiert nach ebd., S. 9. 5 Ebd. 6 Gregor Schwering: Literatur im Fernsehen/Fernsehliteratur. In: Handbuch Medien der Literatur. Hg. von Natalie Binczek, Till Dembeck und Jörgen Schäfer. New York 2013, S. 323–332. 7 Emil Dovifat: Rede zur Eröffnung des NWDR-Fernsehversuchsprogramms, Berlin am 6.10.1951. Zitiert nach: Fernseh-Programme in Deutschland. Konzeptionen, Diskussionen, Kritik (1935–1993). Ein Reader. Hg. Von Joan Kristin Bleicher. Opladen 1996, S. 53. 8 Vgl. Joan Kristin Bleicher: Chronik zur Programmgeschichte des deutschen Fernsehens. Berlin 1993, S. 51f. Zudem erfolgt eine Integration der Schriftsteller in den fernsehmedialen Diskurs schon 1953 in München, wo eine zweitägige Diskussion über das Fernsehspiel stattfindet und auch erste Aufträge zur Produktion von Fernsehspielen an Schriftsteller vergeben werden. 9 Heinz Huber ist 1955 noch für ein weiteres dokumentarisches Autorenporträt zu Thomas Mann verantwortlich: Thomas Mann. Ein Dokumentarbericht über Leben und Werk. 10 Als dokumentarisches Autorenporträt wird hier ein spezifisches Genre des Dokumentarfilms verstanden, das sich letztlich erst mit der Abwanderung des Dokumentarfilms aus dem Kino in das Fernsehen und der damit zusammenhängenden Differenzierung der dokumentarischen Formate etablieren kann. (Vorgänger sind sogenannte Cameos [Kurzauftritte von Autoren] oder Dokumentarfilme). Thematisch umfasst es die Auseinandersetzung mit einer literarischen, für die Medienschaffenden interessant erscheinenden Person. Trotzdem das Genre unter die dokumentarische Gattung subsummiert wird, kann es fiktionale Anteile beinhalten, insofern es ein ‚factual‘ Entertainment anstrebt.

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Friedrich Schiller. Stationen eines Lebens und eines Werkes. Eine dokumentarische Sendung zum 200. Geburtstag des Dichters, inszeniert. Zeitgleich strahlt das DDRKino 1955 Friedrich Schiller, Regie: Max Jaap und das DDR-Fernsehen 1959 Der junge Schiller und seine Welt, Regie: Elli Boraucke, zwei semi-dokumentarische Autorenporträts (mit fiktionalen Anteilen) aus. Insofern zeigt sich schon hier, inwiefern das bundesrepublikanische Fernsehen mit den Schiller-Filmen einen Kampf um ideologische Deutungshoheiten anstrebt und sich damit als nationales Erinnerungsmedium konstituiert oder als ‚Fenster zur Welt‘ über die Landesgrenzen hinaus als Einheitsvermittler fungiert. Das dokumentarische Autorenporträt als Subgenre des Dokumentarfilms unterliegt nach 1945 Neugestaltungsprozessen, denn die Erinnerung an den NSKulturfilm, der sich durch seine semi-dokumentarische Ausrichtung auszeichnet und in dem das heroische Narrativ vom deutschen Künstler dominiert, ist noch präsent. Zudem ist auch die mediale/ikonografische Erinnerung an Friedrich Schiller – zwar nicht durch den Kulturfilm, aber durch das nationalsozialistische, für das Kino produzierte Biopic Friedrich Schiller – Triumph eines Genies (1940), Regie: Herbert Maisch – geprägt worden. Der Film konstruiert Schiller als apotheotische Führerfigur, bei der ikonografisch, nach Aufzeichnungen des Regisseurs Danneckers Hermenbüste als Vorlage diente.11 Klaus Fahrner indiziert im Bilddiskurs zu Schiller eine durch den Film nochmals vollzogene Sakralisierung der legendarischen Typik Danneckers: „Askese, Kühnheit, Keuschheit und Scheu, Apoll unter den Rebellen, Apostel der Humanität.“12 Das nationalsozialistische Biopic unterliegt einer fortwährenden Remythisierung, die schon durch den Regisseur Herbert Maisch eingeleitet wurde, der den Film 1945 im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens zu seiner politischen Entlastung anführt.13 Maisch hatte Erfolg, der Film wurde lediglich vorübergehend mit einem Verbot durch die Alliierten belegt.14 Schon 1959, zum Schiller-Jahr, wurde das Biopic von der Landesbildstelle in verkürzter Fassung als Jugendfilm empfohlen. Die frühen erinnerungskulturellen Diskurse um den Film, die eine vermeintliche polyseme

|| 11 Klaus Fahrner: Der Bilddiskurs zu Schiller. Stuttgart 2000, S. 337. 12 Ebd., S. 338. 13 Maisch beruft sich in seiner Autobiografie mit dem bezeichnenden Titel Helm ab – Vorhang auf (1968) auf eine im Film gespielte Theaterszene der Räuber, die bei der Uraufführung des Stückes in Mannheim einst gestrichen war und die im Film einen kritischen Bezug zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aufbauen würde. Pastor Moser zu Karl Moor: „Glaubt ihr wohl, Gott werde es zugeben, daß ein einziger Mensch in seiner Welt als Wüterich hause und das Oberste zu unterst kehre?!“ 14 Harro Segeberg: Literatur als Medienereignis: Friedrich Schiller. Der Triumph eines Genies (1940). In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 45 (2001), S. 491–533.

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politische Lesart thematisieren, etablieren ihn zum filmischen Prämodell, zu dem sich folgende Schiller-Erinnerungsfilme positionieren. Die frühen televisionären Autorenporträts zu Schiller verhandeln nicht nur auf der Makroebene (Mediengattung und Genregestaltung), sondern auch auf der Mikroebene (Auseinandersetzung mit der vorgeprägten filmischen Erinnerungsfigur zu Schiller) mediale Umbruch- und Gestaltungsprozesse und werfen Fragen nach dem erinnerungskulturellen Umgang mit ‚Klassikern‘ nach 1945 auf. Währenddessen sich die DDR-Filme zu den Schiller-Jubiläen 1955 und 1959 in Kontinuität zum Kulturfilm setzen und für Friedrich Schiller (1955), Regie: Max Jaap, das nationalsozialistische Biopic Friedrich Schiller – Triumph eines Genies (1940) sogar unkommentiert als Bildspender fungiert, initiiert Heinz Huber mit seinen beiden dokumentarischen Autorenporträts – auch unter Berücksichtigung der damaligen Kulturkritik – eine sich von vorherigen ikonografischen und medialen Erinnerungsformen lösende, kritische reflektierte Auseinandersetzung mit Friedrich Schiller. Es ist dennoch darauf zu verweisen, dass Heinz Huber mit seinen Arbeiten nicht allgemeine Tendenzen des bundesrepublikanischen Fernsehens, das Ende der 50er Jahre in eine politische Bedeutungslosigkeit fällt und primär auf Unterhaltung setzt, abbildet, sondern vielmehr eine Sonderstellung einnimmt. Er gehört zu jener jungen Gruppe von Fernsehmitarbeitern, die sich Ende der 1950er Jahre als Stuttgarter Schule, einer bedeutenden dokumentarischen Bewegung des Süddeutschen Rundfunks, verstehen. „Es ist der NS-Kulturfilm, von dem sich die Stuttgarter Dokumentaristen absetzten; statt der verlogenen Heroisierung der Wirklichkeit sollte der Film dieser entlarvend und kritisch entgegentreten.“15 Nach dem Schiller-Film von 1955 führt Huber, der Leiter der Stuttgarter Dokumentarabteilung, Regie bei dem in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1950er Jahre Aufsehen erregenden Dokumentarfilm Die deutsche Bundeswehr (1956), der offensiv Kritik an dem Wiederaufbau des Militärs formuliert. Das dokumentarische Autorenporträt In Tyrannos. Der junge Schiller ist nur noch als 10minütiges Fragment ohne Ton im Archiv des Südwestdeutschen Rundfunks einzusehen. Einige Szenen davon integriert Huber jedoch abgewandelt in seinen weiteren, komplett erhaltenen Schiller-Film Friedrich Schiller. Stationen eines Lebens und eines Werkes. Eine dokumentarische Sendung zum 200. Geburtstag des Dichters (BRD 1959), der im Folgenden exemplarisch analysiert werden soll.

|| 15 Peter Seibert: „Ein zierlicher älterer Herr spricht in die Kamera“. Eine Fernsehinszenierung Thomas Manns (1955). In: Autorschaft in den Inszenierungen des Autors und des Künstlers im deutschsprachigen Raum. Hg. von Jean-Pierre Chassagne. Saint-Étienne 2016, S. 5–25.

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1 ‚Vermittlung des Echten‘: Wirklichkeitseffekte und politische transnationale Realitäten Das dokumentarische Autorenporträt Friedrich Schiller. Stationen eines Lebens und eines Werkes wurde am 10. 11. 1959 zu Schillers Geburtstag von der ARD ausgestrahlt. Der 77-minütige Film setzt sich filmästhetisch vom Kulturfilm ab und orientiert sich an realistischen Filmstilen wie dem italienischen Neorealismus oder der Ende der 1950er Jahre in Frankreich aufkommenden Schule des Cinéma Vérité, dessen Ziel es ist, „mit sozialkritische[m] Ansatz [...] Wahrhaftigkeit und Lebensechtheit“16 im Film einzufangen. Der Schiller-Film bildet ausschließlich die Gegenwart der 1950er Jahre ab, verzichtet auf fiktionale Anteile, Reenactments und eine Voice-Over-Stimme der Autorfigur. Zwar werden noch keine Interviewsequenzen, wie für das Cinéma Vérité typisch, mit realen Personen geführt, dennoch ist Hubers Film geprägt von Wirklichkeitseffekten, die Roland Barthes mit dem Begriff Realismus-Effekt für die Literatur bezeichnet hat. Filmische Wirklichkeitsverweise werden z.B. durch eine Entdramatisierung der Handlung und durch „kontinuierliche Aufnahme oder absichtlich ungeordnete Montage“17 evoziert. Der Film konstruiert keine verklärende Wirklichkeit, sondern führt anhand von Trümmerfilmsequenzen den Bruch nach 1945 am Beispiel des urbanen Raums vor. In langen Plansequenzen wird die Ruine der Hohen Karlsschule – im Abriss begriffen – eingeblendet und auf die westliche Baupolitik der 50er Jahre verwiesen. Der Voice-Over-Erzähler zu der Kameraeinstellung: „Sie [die Mauern] wären noch zu erhalten gewesen, mussten aber den städtebaulichen Planungen auf diesem Gelände weichen.“18 Auch mit den im Zweiten Weltkrieg zerstörten Schiller-Stätten in Jena zeigt der Film Ellipsen und Überschreibungen der literarhistorischen Erinnerungslandschaft auf. Im Sinne einer Klimax des Bildprogramms und der erzählerischen Kommentierung geht der Film zuerst auf die Wohnung Schillers bei den Jungfern Schramm ein, von der, so der Erzähler „nur noch ein leerer Platz“19 übrig ist. Auch die nächste Einstellung zur Wohnung Schillers in der Zwätzengasse „bezeichnet nur noch eine Baulücke“.20 Die || 16 Marion Müller: Cinéma Vérité. In: Reclams Sachlexikon des Films. Hg. von Thomas Koebner. Stuttgart 2007, S. 118–119. 17 Christian Metz: Semiologie, Linguistique, Cinéma. Entretien avec Christian Metz [Interview geführt v. René Foque, Eliane Le Grivès und Simon Luciani]. In: Cinéthique (1970) H. 6, S. 21–26. 18 Friedrich Schiller. Stationen eines Lebens und eines Werkes. Eine dokumentarische Sendung zum 200. Todestag des Dichters. Regie: Heinz Huber. BRD: ARD 1959, TC 00:05:44–00:05:49. 19 Ebd. TC: 00:33:07–00:38:08. 20 Ebd.

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Gedächtnisorte werden erst durch die Ekphrasis des Erzählers im Film zum ‚Sprechen gebracht‘. Aleida Assmann kommt in ihrem Aufsatz Das Gedächtnis der Orte zu dem Resultat: „Kein Gedächtnis der Orte [...] ohne bestimmte Formen einer kulturellen Mnemotechnik.“21 Das kulturelle Wissen, „das die Orte rahmt und stützt“22, ist bei den beiden angeführten Schiller-Stätten abgebrochen. Der Gedächtnisort in der Zwätzengasse unterliegt sogar einer kulturellen Neuinskription. Die Kamera indiziert durch eine nahe Einstellung auf das am Haus angebrachte Schild Kinderkrippe Einheit VEB Carl Zeiss, die vom Erzähler unkommentiert bleibt. Als letzter, öffentlich wirksamster, urbaner Raum wird der Marktplatz Jenas von der Kamera erfasst, wo, so der Erzähler, „Schiller seiner Zeit eine recht repräsentative Stadtwohnung hatte [...]. [Dort] stehen jetzt eine Würstchenbude und ein Gedenkstein.“23 Zum einen wird hier desillusionierend auf die Umnutzung des genius loci nach 1945 verwiesen, zum anderen hält der Gedenkstein, der wiederum in naher Einstellung gezeigt wird, kein retrospektives, sondern ein prospektives Andenken, das mit neuen Zeichen der Macht versehen ist, fest. Der Erzähler verliest unkommentiert die Inschrift des Gedenksteins: „Diese nationale Gedenkstätte wurde 1945 von amerikanischen Terrorbomben zerstört.“24 Trotz dem Film inhärenten ironisierenden Augenblicken, die für Westund Ostpolitik gleichermaßen gelten, zeigt das dokumentarische Autorenporträt gerade mit Berücksichtigung der östlichen Erinnerungsstätten eine nationalübergreifende Suche nach einem neuen Umgang mit Erinnerung auf und fragt weiter – immer für beide Staaten bzw. in Suggestion eines Einheitsgedankens – im Spiegel der deutsch-deutschen Trümmerlandschaft nach neuen Medien der Erinnerung.

|| 21 Aleida Assmann: Das Gedächtnis der Orte. In: Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum. Hg. von Ulrich Borsdorf und Theodor Heinrich Grutter. Frankfurt am Main, New York 1999, S. 59–77. 22 Ebd., S. 76. 23 Friedrich Schiller. Stationen eines Lebens und eines Werkes. Regie: Heinz Huber, TC: 00:34:14–00:34:21. 24 Ebd., TC: 00:35:00–00:35:02.

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2 Distanz vom affirmativen Bild – Destruktion des heroischen Nationalautors Weniger die erhaltenen Gedenkstätten, wie das nach 1945 wieder rekonstruierte Dichterhaus an der Esplanade in Weimar, das vom Erzähler mittels biografischer Interpretation zum Schauplatz des Todes Schillers konstruiert wird, als vielmehr vermeintlich dokumentarische Medien wie die Schrift, das Archiv, im Sinne der Stuttgarter Schule – der Film selbst und das nach 1945 sich neu konstituierende Theater werden als Medien der Erinnerung verstanden. Die ausgewählten Theatersequenzen im Film, vor allem von Erwin Piscator inszeniert, stehen für einen Bruch mit dem Theater des Nationalsozialismus und verweisen u.a. durch das modern und dokumentarisch anmutende Bühnenbild schon auf das sich zu Beginn der 1960er Jahre entwickelnde Dokumentartheater. Gezeigt werden Ausschnitte aus Piscators Inszenierung der Räuber im Mannheimer Nationaltheater, bei der es nach dem Regisseur, im Kontrast zu seiner Räuber-Version von 1926 im Staatlichen Schauspielhaus Berlin, „um die Neuorientierung des Begriffes der Freiheit geht.“25 Piscator: „1957 stehen wir an einem anderen Punkt, eine zu direkte Zeitbezogenheit der Räuber würde die tiefe Aktualität Schillers einengen. [...] Wir leben in einer Situation des ‚Wartens auf Godot‘ [...].“26 Die politische Agitation der 1920er Jahre wird nach Gert Sautermeister von einer kritischen Reflexion ersetzt.27 Eine entpolitisierte Perspektive auf Schillers Œuvre wird auch mit der Dramenauswahl des Films signifikant. Die Nationaldramen Wilhelm Tell, Johanna von Orleans oder Wallenstein werden marginalisiert, die Theatersequenzen konzentrieren sich – abgesehen von den Räubern – auf die Dramen Maria Stuart und Don Carlos. Als ein Medium, das in seiner Materialität unangetastet von historischen und ideologischen Einschreibungen erscheint, wird im Film das Manuskript inszeniert. Gegenüber dem Erinnerungsmedium Bild wird das die „kognitive […] Funktion des Gedächtnisses’“28 vertretene Medium der Schrift als Konservierung von Erinnerung angeführt. Ferner wird die Schrift im Film „als kongeniales Medium des Geistes“29 verstanden, die in ihrer Materialität im Gegensatz zu Ruinen oder || 25 Erwin Piscator. Zitiert nach: Gert Sautermeister: Die Räuber. Ein Schauspiel (1781). In: Schiller Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Hg. von Matthias Luserke-Jaqui. Stuttgart 2005, S. 1–45. 26 Ebd., S. 17. 27 Ebd. 28 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 190. 29 Ebd.

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Bauten keinem vergleichbaren Erosionsprozess unterliegt. Aleida Assmann beschreibt den gedächtnistheoretischen Diskurs über das Medium der Schrift wie folgt: „Materielle Bildnisse und Bauten werden in der Zeit zerstört und teilen damit das Schicksal der sterblichen Körper, die sie darstellen. Wo dagegen von der Schrift die Rede ist, wird ein Anspruch auf Unsterblichkeit geltend gemacht [...].“30 Ähnlich wie Ausstellungen nach 1945 setzt der Film in Anbetracht der zerstörten Erinnerungslandschaft auf die materialen Zeugen der Schiller-Originale. Dabei betreibt er allerdings keinen Kampf um ein kulturelles Erbe. Am Ende des Films wird sogar das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar zum Hüter der Schiller-Erinnerung erklärt. Das Archiv als Medium wird vom Film als „Errungenschaft moderner Gesellschaften“31 hervorgehoben. Der Film berücksichtigt dabei das Archiv nicht als janusköpfige Institution, die den materialen Spuren zur „außergewöhnlichen Existenzverlängerung verhelfen“32 kann, aber auch „auf das griechische Wort arché zurück[geht], das neben ‚Anfang‘ ‚Ursprung‘ und ‚Herrschaft‘ auch ‚Behörde‘ und ‚Amtsstelle‘ bedeutet.“33 Das Archiv kann nicht nur ein Gedächtnis der Historie, sondern immer auch ein Gedächtnis der Herrschaft evozieren. Vom Film wird das Archiv jedoch als reines rationalistisches, nicht affektives Medium der Erinnerung gefasst, das nach 1945 die durch Instrumentalisierung befleckten, ikonografischen, nicht-dokumentarischen Medien der Erinnerung ablöst. Im Vergleich zu den Schiller-Filmen vor 1945 und den biografischen DDRFilmen vollzieht sich in diesem dokumentarischen Autorenporträt damit eine eklatante Substitution von Erinnerungsmedien. Setzt man in den totalitären Staaten zur Apotheose des Autors noch auf das Medium des Bildes „als unmittelbarer Niederschlag eines Affektes bzw. des Unbewussten [...]“34 wird im bundesrepublikanischen Fernsehen der 1950er Jahre zumindest ansatzweise und in Relation zur Kulturkritik eine Skepsis gegenüber der sinnlichen Präsenz des Bildes vermittelt. Die erste Einstellung, die der Film zeigt, bildet das SchillerDenkmal in Marbach – von der Kamera nicht erhöht – in normaler Perspektive ab. Der Voice-Over-Erzähler dazu: „Die Nachwelt hat seine Gestalt auf die Podeste der Denkmäler erhoben, der Glanz der Jahrhundertfeiern umgibt sein ideales Bild. Nur allzu leicht verblasst dahinter das Bild seines wirklichen || 30 Ebd., S. 191. 31 Aleida Assmann: Archive und Bibliotheken. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. von Christian Gudehus und Ariane Eichenberg u.a. Stuttgart 2010, S. 165–171. 32 Ebd. 33 Aleida Assmann: Erinnerungsräume, S. 343. 34 Ebd., S. 220.

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Lebens.“35 Das Bild des ‚wirklichen Lebens‘ sucht der dokumentarische Film ohne Schiller-Figur zu erörtern. Einen Autortypus, der nicht geniehaft-heroisch oder national angelegt ist, inszeniert er durch die Abbildung der vielen fragmentarisch gebliebenen Stücke Schillers, die auf einen harten Produktionsprozess des Schreibens und bedrückende ökonomische Bedingungen des Autors verweisen. Eine Apotheose des Dichters wird – wie in vorherigen oder in den zeitgleichen DDR-Filmen – nicht mehr vollzogen. Die Thematisierung des Todes endet zwar, wie oft in biografischen Schiller-Abhandlungen, mit dem DemetriusFragment, zitiert wird vom Marfa-Monolog allerdings nur die Zeile „Oh warum bin ich hier geengt, gebunden“36 und nicht die den Ewigkeitscharakter heraushebende Zeile: „Du ewge Sonne, die den Erdenball umkreißt, sei du Botin meiner Wünsche!“37 Der Film verweigert damit eine Instrumentalisierung Schillers für prospektive Erinnerungsinhalte. Kanonisierte Schiller-Bildnisse von Graff, Simanowiz und Dannecker werden hinterfragt oder einem Ikonoklasmus unterzogen. Das Autorenporträt von 1959 berücksichtigt nur das Werkmodell der Dannecker-Büste, das die Kolossalität durch Mess- und Arbeitsspuren destruiert. Implizit rekurriert der Film auch auf eine zeitgenössische Marbacher Schiller-Ausstellung Friedrich Schiller. Leben, Werk und Wirkung (1959), denn auch im Film werden die beiden in der Ausstellung zum Skandalon geführten, nicht idealisierten und lange verschollenen Bildnisse Schillers von Schadow (1805) und einem unbekannten Künstler (1791) gezeigt. Die Bilder werden dabei nicht dem Film ‚einverleibt‘, sondern mit ihren Rahmungen abgebildet. Die Porträtzeichnung Schadows bewertet der Off-Erzähler wie folgt: „Vielleicht das beste Bild des späten Schiller. Aber auch dieses Bild mag nur ein Teil der Wirklichkeit sein, genau wie der edle Feuerkopf, der Dramen aufs Papier schleuderte.“38 Das dokumentarische Autorenporträt von 1959 bricht mit dem den Autor verehrenden Impetus vorheriger Erinnerungsfilme. Es erhebt keinen Anspruch mehr, ein singuläres Schiller-Bild zu vermitteln, sondern verweist unter Berücksichtigung der vorangegangenen medialen Erinnerung zum Autor auf die Pluralität von Schiller-Bildern. Damit gibt das Fernsehen (auf Initiative der Stuttgarter Schule) eine Rezeptionshaltung vor und initiiert ein entscheidendes Umdenken || 35 Friedrich Schiller. Stationen eines Lebens und eines Werkes, TC: 00:57:03–00:57:04. 36 Friedrich von Schiller: Demetrius. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Lieselotte Blumenthal und Benno Wiese. Weimar 1971. Bd. 11, S. 52. 37 Ebd. 38 Friedrich Schiller. Stationen eines Lebens und eines Werkes, TC: 00:56:55–00:56:59.

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im Umgang mit der Inszenierung von ‚Klassikern‘, das anderen Medien der Erinnerung (Dichterfeiern, Dichterhäusern) zu diesem Zeitpunkt noch völlig fern ist. Der Terminus des Fernsehens als ‚Fenster zur Welt‘ spiegelt sich nicht nur in den transnationalen/medienästhetischen Perspektiven des dokumentarischen Autorenporträts, den im gespaltenen Deutschland ersuchten Einheitsvermittlungen und in einem sich vom NS-Kulturfilm absetzenden, dem Cinéma Vérité hinwendenden, entsinnlichten Dokumentarismus, sondern steht auch für eine vom Film postulierte zukunftsgewandte, ja fast postmoderne Ausrichtung der Erinnerungskultur um Schiller. Im televisionären Schiller-Autorenporträt zum Jubiläumsjahr 2005 werden ähnliche Ansätze verhandelt – wie der Titel schon zeigt: Friedrich Schiller: Idealist, Nationalist, Revolutionär? Oder – Nationalist und Rebell – Ein Zeitgenosse aller Zeiten? (D 2005), Regie: Michael Kluth, MDR/Arte. Dennoch wird hier, im Gegensatz zu 1959, eine Bilderflut in Form eines Kompilationsfilm präsentiert, der in puncto Auswahl und Kennzeichnung der Archivmaterialien – hier fungiert das nationalsozialistische Schiller-Biopic ohne Kommentar als Bildspender – ein eher unkritisches historisches Bewusstsein erkennen lässt. Das Fernsehen verhandelt die Rezeptionsgeschichte Schillers als Teil einer deutschen Mentalitätsgeschichte und offeriert – vielmehr noch als der Spielfilm – als aktuelles Informationsmedium anhand der medialen Erinnerungsfigur zeitgemäße Wert- und Normenvorstellungen. Ästhetisch ist der televisionäre erinnerungskulturelle Diskurs um Schiller vom Medium des Bildes geprägt. Entweder forcieren die dokumentarischen Autorenporträts einen Ikonoklasmus (1955) oder eine Ikonomanie (2005). Der Bilddiskurs zu Schiller (Fahrner)39 setzt sich im Fernsehen fort und unterliegt dort längst einer eigenen Geschichte. Die Radikalität der fernsehmedialen Auseinandersetzungen um Schiller erklärt sich durch die in den dokumentarischen Autorenporträts immer mitreflektierten nationalen Identitätsfragen, die den Autor vor einer kulturellen Obsoleszenz bewahren.

|| 39 Klaus Fahrner: Der Bilddiskurs zu Friedrich Schiller.

Paula Wojcik und Sophie Picard

Klassiker@wikipedia Klassikforschung und Digital Humanities. Ein Kommentar zur Studie World Literature According to Wikipedia

1 Klassikforschung und Neue Medien Mit der im Band vorgeschlagenen Unterscheidung von Klassik und Kanon rekurrieren wir auf ein Klassikverständnis, das auf einen tatsächlichen, empirisch belegbaren Gebrauch von Kulturgütern (soweit dieser nachvollziehbar ist) abzielt. Damit soll der Begriff von einem Klassikverständnis abgegrenzt werden, in dem Klassiker mit kanonisierten Werken gleichgesetzt werden, also einer bewusst getroffenen Auswahl, die für Bildung oder Kulturpolitik zuständige Institutionen vornehmen. Der Vorschlag lautet deshalb, Klassik und Kanon anhand der Kriterien ‚Gebrauch‘ und ‚Setzung‘ zu analytischen Zwecken zu trennen, was umgekehrt jedoch nicht bedeutet, dass sie auf der Ebene der einzelnen Phänomene nicht zusammenfallen können: Kanonisches kann genau dann klassisch sein, wenn ein nachhaltiger Gebrauch nachgewiesen wird. Kanon kann in diesem Verständnis als institutionelle Bestätigung des Klassikerstatus gesehen werden. Wie aber ist es möglich, den jeweiligen Gebrauch von klassischen Texten, Autoren, Stoffen usw. zu messen? Kanonisch ist, was als solches ausgewählt und festgehalten wurde, und auf dieses Festgehaltene lässt sich zugreifen: Schullektüren werden in offiziellen Empfehlungen zusammengestellt, der für das jeweilige Fach geltende Kanon an Universitäten ist anhand von Leselisten und Einführungswerken nachvollziehbar. Populäre Kulturgeschichten bieten einen Einblick in den Kanon der Literatur, Architektur und Kunst aber auch des Designs, der Mode, des Automobils, der Pop- oder Rockmusik. Wie aber lässt sich überprüfen, ob die in den Kulturgeschichten aufgeführten und in den Leselisten festgehaltenen Phänomene tatsächlich gebraucht werden? Ein zuverlässiger Weg führt über die Rezeption von Werken in der Kunst und kommerziellen Kultur. Dort wird die Diskrepanz zwischen Kanon und Klassik besonders sichtbar, weil die künstlerische Auseinandersetzung wie kommerzielle Appropriation dem Kanon folgen können, aber nicht müssen. Kunst und Wirtschaft sind ja nicht der Bildungs- und Kulturpolitik verpflichtet. Gleichzeitig folgen sie ihren eigenen – wenn man mit Luhmann sprechen möchte – systemischen Zwängen, zu denen das Gebot der Vermarktbarkeit, also einer rezeptionsorientierten Produktion, die die Umwandlung des Produkts in Kapital vorsieht, gehört. Das gilt für Kunst – insbesondere, https://doi.org/10.1515/9783110615760-010

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wenn man den Facettenreichtum der gegenwärtigen Kunstlandschaft bedenkt – differenzierter und weniger absolut als für Wirtschaft, aber die kommerzielle Dimension ist auch hier präsent und wird bei filmischen Adaptionen von Klassikern genauso mitbedacht, wie bei Vertonungen und Comicbearbeitungen, die auf traditionellen Wegen – also über Filmproduktionsfirmen, Musiklabels oder Buchverlage – an die Öffentlichkeit gelangen. Diese traditionellen Wege der Verbreitung haben mit dem Siegeszug des Internets und den neuen technischen Standards von Aufnahmegeräten, Schnittund Grafikprogrammen für PCs eine Konkurrenz bekommen, weil das Heraustreten aus der privaten Produktion in die Öffentlichkeit nicht mehr durch externe, kommerzielle Verwertbarkeit zugrundelegende Auswahlprozesse gesteuert wird. Das bedeutet nicht, dass der ökonomische Nutzen keine Rolle mehr spielt: Die scheinbar kostenlos zugänglichen Kulturprodukte können eingesetzt werden, um Kapital aus den Daten der Nutzer zu schlagen, oder aber sie können durch geschaltete Werbung kommerziellen Gewinn erwirtschaften. In allen Fällen ist aber das ökonomische Kapital eine Sekundärerscheinung, denn das im Internet primäre Kapital ist Aufmerksamkeit. Oft genug geht es nicht einmal um kommerzielle Interessen, sondern schlicht um das Bedürfnis, mit dem eigenen Produkt an die Öffentlichkeit zu treten. Für die Klassikforschung sind die sogenannten Neuen Medien deshalb ein großer Gewinn, weil hier von unterschiedlichen Interessen geleitet Klassikerverwertung aktuell und individuell beobachtet werden kann. Von Kritiken auf privaten Literaturblogs, über durch Schulunterricht motivierte Videoclips, die seit einigen Jahren beliebten Rapadaptionen,1 Vertonungen in unterschiedlichen Musikstilen oder sogenannte Mash-up-novels2 bis hin zu mit Playmobil- oder Legofiguren animierten oft komischen Nacherzählungen3 – im variierenden Professionalitätsgrad finden Aneignungen von Literatur ihren Weg ins Internet. Der Klassikerstatus wird bestätigt, indem er weitergetragen und ggf. auf neue Zielgruppen ausgeweitet wird. Als Forscher können wir dabei nicht nur die Adaptionen selbst, sondern auch die direkten Reaktionen darauf beobachten, die als Kommentare bei Plattformen wie Youtube oder speziell für Musik Soundcloud sowie auch auf privaten Blogs die Produkte diskursivieren. Sie erlauben beispielsweise Schlüsse darauf, welcher ‚Gebrauchswert‘ den Klassikern zugeschrieben

|| 1 Vgl. den Beitrag von Wolbring in diesem Band. 2 Vgl. den Beitrag von Wagner und Egger in diesem Band. 3 Etwa die Youtube-Serie „Sommers Weltliteratur to go“, in der Werke mit Hilfe von Playmobilfiguren nachgestellt werden. Vgl. beispielsweise Shakespeares Romeo und Julia: https://www. youtube.com/watch?v=GQQhXI2iyvo [abgerufen am 13.2.2018].

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wird oder wie sich das Verhältnis zu Klassikern im internationalen Vergleich gestaltet (ob etwa provokative Bearbeitungen begrüßt werden oder eine Scheu vor dem Ikonoklasmus zu beobachten ist).

2 Klassiker in der Online-Enzyklopädie Wikipedia Ein weiteres, sehr umfangreiches und mittlerweile sehr einflussreiches Untersuchungsobjekt bietet die online-Enzyklopädie Wikipedia, an der sich die Emergenz der Klassikerbildung von Produzenten- und Rezipientenseite beobachten lassen kann. Die Produktion von Klassikern als Form des kulturellen Gedächtnisses kann auf Wikipedia, die als „a place of the discoursive fabrication of memory“4 gelten kann, in ihrer Formierung und beständigen Aktualisierung beobachtet werden. Dank der Dynamik und Niedrigschwelligkeit von Wikipedia können wir den aktuellen Diskurs zum Status von Klassikern beobachten und feststellen, inwieweit dieser mit dem kanonischen Status deckungsgleich ist und an welchen Stellen Abweichungen nachzuvollziehen sind. Für die folgende Erörterung möchten wir das Datenmaterial zu einer Studie heranziehen, die Christoph Hube, Frank Fischer, Robert Jäschke, Gerhard Lauer und Mads Rosendahl Thomsen durchgeführt haben und die online unter http:// data.weltliteratur.net einzusehen ist.5 Eine ausführliche Darstellung und Reflexion der zugrundeliegenden Methode(n) wird in dem Artikel World Literature According to Wikipedia: Introduction to a DBpedia-Based Framework vorgestellt, weshalb hier nur einige zum Verständnis der Ergebnisse notwendige Aspekte zusammengefasst werden. Die Studie bietet insofern eine gute Datengrundlage, um einen funktionalen Klassikbegriff zu untersuchen, als die Autoren gerade nicht den inhaltlich-qualitativen Aspekt in Augenschein nehmen, der die Debatten um Wikipedia bis jetzt dominiert hat,6 sondern vielmehr die quantitativen Aspekte fokussieren. Um in

|| 4 Christian Pentzold: Fixing the Floating Gap: The Online Encyclopaedia Wikipedia as a Global Memory Place. In: Memory Studies 2 (2009) H. 2, S. 255–272, hier S. 264. 5 Christoph Hube, Frank Fischer, Robert Jäschke, Gerhard Lauer und Mads Rosendahl Thomsen: World Literature According to Wikipedia. Introduction to a DBpedia-Based Framework. arXiv e-Print archive (4.1.2017): Preprint: https://arxiv.org/pdf/1701.00991.pdf [abgerufen am 13.2.2018]. 6 Für Aufsehen sorgte ein Artikel in Nature, in dem der Autor Jim Giles Wikipedia eine ähnliche Qualität wie der Encyclopedia Britannica zuschrieb. Vgl. Jim Giles: Internet encyclopaedias go head to head. Nature 438 (2005), S. 900–901. Online unter http://www.nature.com/nature/jour

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Erfahrung zu bringen, welche Schriftsteller gemäß Wikipedia weltliterarischen Status beanspruchen können, arbeiten sie mit fünf Kategorien, die über sehr unterschiedliche Parameter quantitativ erfassbarer Geltung Auskunft geben: der Artikellänge, der Anzahl der auf die Seite verweisenden links innerhalb des Wikipedia-Universums, dem PageRank-Algorithmus7 innerhalb eines Schriftstellerpools, dem PageRank-Algorithmus innerhalb der englischsprachigen Wikipedia insgesamt und Artikelaufrufen jeweils in den Jahren 2012, 2013 und 2014. Unserer Terminologie folgend geben die ersten vier Kategorien (page length, in-links, PageRank Writers, PageRank Complete) Aufschluss über die Produzentenseite, weil sie sich durch die von den Autoren der Wikipedia-Artikel beeinflussten Kriterien definieren. So ist es beispielsweise den individuellen Vorlieben der Autoren überlassen, wie lang der Artikel über einen Schriftsteller ist. Die in-links und der PageRank-Algorithmus (Writers und Complete) sind zwar auch produzentengeneriert, hängen jedoch nicht von individuellem Engagement ab, sondern sind das Ergebnis des kollaborativen Wirkens. Die Artikelaufrufe hingegen geben Aufschluss über das Verhalten der Rezipienten, derjenigen also, die zu bestimmten Zwecken auf bestimmte Schriftsteller-Seiten der Wikipedia zugreifen. Während angenommen werden kann, dass auf Rezipientenseite tatsächlich ein nicht vordefinierter Querschnitt der Gesellschaft repräsentiert wird und damit weitgehend objektivierbare Schlüsse über Nutzung bestimmter Schriftsteller-Artikel möglich sind, gibt es Untersuchungen zum sozialen Profil der WikipediaAutoren. Zwar ist auch Wikipedia, als eine nach dem wiki-Prinzip aufgebaute Enzyklopädie potenziell jedem als Autor zugänglich, doch zeichnet sich unter den weltweit 60.000 Wikipedia-Autoren eine klare Dominanz von Männern (88%) ab,

|| nal/v438/n7070/full/438900a.html [abgerufen am 10.1.2018]. Einen Überblick über die Diskussion bietet Rainer Hammwöhner: Qualitätsaspekte der Wikipedia. In: kommunikation@gesell schaft 8 (2007), Beitrag 3: http://www.kommunikation-gesellschaft.de/B3_2007_Hammwoehner.pdf [abgerufen am 13.2.2018]. 7 Der PageRank ist ein Algorithmus, mit dem anhand der Netzwerkstruktur die Bedeutung einzelner Seiten errechnet wird. Der Maßstab ist die Verweisstruktur durch Verlinkungen der Seiten. Je mehr Seiten also auf eine Seite verweisen, desto höher ist ihr Ranking. Die in-links und der PageRank sind also sehr ähnlich. Da jedoch auch das jeweilige Ranking der verweisenden Seiten von Bedeutung ist, unterscheiden sich die Messungen der in-links und des PageRank. Im PageRank-Algorithmus einzelner Seiten erhöht sich das, wenn Seiten mit einem ihrerseits hohen Ranking auf sie verweisen. Die Autoren der Studie haben den PageRank-Algorithmus einmal aus dem in ihrem Datensatz enthaltenen Schriftstellern errechnet (PageRank Writers) und einmal auf der Basis der gesamten englischsprachigen Wikipedia (PageRank Complete). Aus den dortigen Ergebnissen haben sie die Schriftsteller herausgefiltert.

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die durchschnittlich in den Dreißigern sind.8 Insbesondere stellt diese soziale Gruppe die Mehrzahl der Administratoren (besonders engagierte Nutzer, die von der Autorencommunity für diese Positionen gewählt werden) und ist damit für die Qualitätssicherung der Artikel zuständig. Die Dominanz von Männern wird unter anderem auf den aggressiven Umgangston zurückgeführt, durch den Frauen von einer Autorinnentätigkeit abgehalten wurden (und worauf Wikimedia mittlerweile mit einer Art Netiquette-Strategie reagierte). Für die Auswertung der von Hube, Fischer, Jäschke et al. vorgelegten Studie im Hinblick auf einen funktionalen Klassikbegriff ist interessant, dass die auf Produzentenseite erzielten Ergebnisse als charakteristisch für ein konkretes Milieu gewertet werden können. Pointiert formuliert: Der Status „bedeutend“, der sich aus den Kategorien Artikellänge, verweisende Links und PageRank schließen lässt, ist also immer mit dem Zusatz „vorrangig für Männer in den Dreißigern“ zu versehen. Der Reiz der Studie Worldliterature According to Wikipedia liegt in der internationalen Breite, die die untersuchten Artikel repräsentieren. Die auf der oben genannten Webseite aufgeführten Schriftsteller-Rankings sind für die 15 umfangreichsten der insgesamt ca. 280 Wikipedia-Sprachen aufgeführt (Englisch, Deutsch, Französisch, Russisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Chinesisch, Persisch, Arabisch, Koreanisch, Ungarisch, Serbo-Kroatisch, Rumänisch und Türkisch). Die Darstellung unterscheidet überdies zwischen Nennungen von Schriftstellern der jeweiligen Sprache und anderssprachigen Schriftstellern.

3 Vermittlung und Repräsentationen: Funktionen der individualisierten Klassikerhandhabe Die Kategorie der Artikellänge9 liefert als individualisiertes Kriterium am wenigsten Aufschluss über die Breitenwirkung und den Status von Schriftstellern, ist aber gerade als Ausdruck individuellen Einsatzes interessant. So werden häufig Schriftsteller weniger bekannter Sprachen oder wenig bekannte Schriftsteller als eine Art Kompensation mit besonders ausführlichen Artikeln bedacht. Auf diese Weise lässt sich etwa erklären, dass die ersten fünf Positionen der englischspra-

|| 8 Vgl. Thomas Wozniak: Wikipedia in Forschung und Lehre – eine Übersicht. In: Wikipedia und Geschichtswissenschaft. Hg. von dems., Jürgen Nemitz und Uwe Rohwedder. Berlin, Boston 2015, S. 33–52, hier S. 44. 9 Weltliteratur. World Literatur According to Wikipedia: http://data.weltliteratur.net/ranking. html#page-length [abgerufen am 13.2.2018].

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chigen Wikipedia in der Kategorie Artikellänge durch rumänische Autoren (Mircea Eliade, Mihail Sadoveanu, Ion Luca Caragiale, Benjamin Fondane und Alexandru Macedonski) belegt sind. Die Ausführlichkeit der Artikel – schon der Wikipedia-übliche Einleitungsparagraph hat in den englischsprachigen Versionen nahezu Artikellänge, während er sich in den deutschen auf zwei bis drei Zeilen beschränkt – zeugt von dem Vermittlungsbestreben, das einen oder mehrere Autoren antreibt, die rumänischen Nationalautoren im englischsprachigen und damit größten Wikipediaraum möglichst umfassend zu präsentieren. In der rumänischsprachigen Wikipedia scheint eine solch ausführliche Darstellung der Nationalklassiker nicht notwendig, dort taucht zwar Mihail Sadoveanu unmittelbar nach Feodor Dostojewski auf Platz zwei auf, ihm folgen aber Émile Zola, Leo Tolstoj, William Gibson, Anna Akhmatova und J. K. Rowling vor dem nächsten rumänischen Klassiker Mihai Eminescu. So eindeutige Schlüsse auf ein Vermittlungsbestreben lassen sich nicht immer ziehen. In der arabischsprachigen Wikipedia treten beispielsweise auf den ersten Plätzen der Artikellänge Gabriel Garcia Márquez, George Orwell, Olivia Manning, Miguel de Cervantes, Oscar Wilde, Samuel Johnson, die afro-amerikanische Aktivistin Maya Angelou sowie der italienische Schriftsteller Ignazio Silione vor dem ersten arabischsprachigen Autor Yahya Haqqi auf. Damit ist das arabische Ranking im Hinblick auf die Artikellänge genauso international wie etwa das chinesische, bei dem erst auf Platz acht der chinesische Schriftsteller und Blogger Han Han auftaucht (nach einer deutlich angelsächsisch dominierten Liste: J. K. Rowling, William Shakespeare, William Faulkner, Ayn Rand, Cicero, J. R. R. Tolkien und Anne Frank). Interessant wäre es, einen Zusammenhang zwischen Migrationsbewegungen und diesem Ranking ausmachen zu können, weil der Verdacht naheliegt, dass Schriftsteller aus den jeweiligen Zielländern häufig in der Herkunftssprache besonders ausführlich dargestellt werden, was unter anderem auch mit deren Verankerung im Schulkanon zusammenhängen kann. Pauschalisierend ließe sich das so interpretieren: Migrantinnen und Migranten stellen den kanonischen Klassiker des Ziellandes in ihrer Herkunftssprache besonders ausführlich dar, entweder, weil sie das Wissen erworben haben oder weil sie von einem Bedarf in der Herkunftssprache ausgehen. Es ist nämlich durchaus bemerkenswert, dass deutsche Klassiker in diesem Ranking ausgerechnet in der türkischsprachigen Wikipedia besonders prominent vertreten sind (Goethe auf Platz 4, Tucholsky auf Platz 5, Hesse auf Platz 7, Klaus Mann auf Platz 8, Schiller auf Platz 9, Brecht auf Platz 11). Damit korreliert recht eindeutig die höchste Dichte der deutschsprachigen Schriftsteller in dem Ranking der Artikellänge mit der größten Migrationsgruppe in Deutschland. Es wäre also möglich, vorsichtig zwei Tendenzen auszumachen, bei denen die Artikellänge und damit einherge-

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hend die Ausführlichkeit der Darstellung eine Rolle spielen: Zum einen die Vermittlung von Autoren sogenannter kleiner Sprachen in internationale Sprachen und zum anderen die Präsentation von Klassikern der Zielländer von Migrationsbewegungen in den Herkunftssprachen.

4 Klassiker als Ergebnis des kollaborativen Wirkens Die Kategorien in-links, PageRank Writers und PageRank Complete sind im Hinblick auf verallgemeinbare Tendenzen in der Produzentenperspektive aussagekräftiger, weil die jeweiligen Rankings Ergebnis eines kollektiven Wirkens von Wikipedia-Autoren sind. Die Kategorie PageRank Writers gibt Auskunft darüber, welchen Stellenwert eine Seite im Pool der Schriftstellerseiten hat,10 wenn die Anzahl und der Stellenwert der auf sie verweisenden Seiten (anderer Schriftsteller) gemessen werden. Durch diese Messung wird die Wahrscheinlichkeit herausgearbeitet, mit der ein ideeller Wikipedianutzer auf eine bestimmte Seite zugreift. In dieser Kategorie ist in 13 von 15 Sprachen William Shakespeare auf Platz 1. Nimmt man dies als Tendenz, die sich auch bei einer Ausweitung der Untersuchung auf alle 200 Wikipedia-Sprachen annähernd bestätigte, so kann man von Shakespeare als von einem Klassiker im globalen Maßstab sprechen. Sein kanonisch gesetzter und immer wieder behaupteter Status als Klassiker der Weltliteratur bestätigt sich in dieser Kategorie sowie auch in den Kategorien in-links11 und PageRank Complete (in der nicht nur der Schriftstellerpool, sondern die ganze Wikipedia als Messgrundlage genommen wurde), wenngleich dort etwas weniger exklusiv (in-links: neun von 15 Sprachen auf Platz 1, in allen unter den ersten drei Plätzen; PageRank Complete:12 neun von 15 Sprachen auf Platz 1, in allen Sprachen unter den ersten vier Plätzen).

|| 10 Weltliteratur. World Literatur According to Wikipedia: http://data.weltliteratur.net/ranking. html#pagerank-writers [abgerufen am 13.2.2018]. 11 Ebd.: http://data.weltliteratur.net/ranking.html#number-of-in-links [abgerufen am 13.2. 2018]. 12 Ebd.: http://data.weltliteratur.net/ranking.html#pagerank-complete [abgerufen am 13.2. 2018].

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Bei solch überwältigender Übereinstimmung sind die Abweichungen natürlich besonders interessant, wobei vor allem eine ins Auge sticht: In der russischsprachigen Wikipedia rangiert in der Kategorie PageRank Writers weder Shakespeare auf Platz eins, noch etwa die erwartbaren Dostojewski oder Puschkin, sondern Heinrich Heine. Dass Heine eine führende Position im PageRank Writers der russischsprachigen Wikipedia hat, lässt sich mit seiner Popularität in Russland erklären. Diese bestand nicht nur in der Rezeption seiner Werke, sondern auch in der Verbreitung und Nachahmung seines Stils und intertextuellen Verweisen auf sein Werk durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch.13 Diese kulturelle Präsenz des Dichters schlug sich in der Formel vom „russkij Gajne“, also dem „russischen Heine“ nieder, die das ‚Heinesche‘ als melancholisch-zynische Welthaltung für die russische Literatur bezeichnet. Dieses Ergebnis wird nicht durch das PageRank Complete (Datenbasis sind alle Wikipedia-Artikel) bestätigt, was durchaus Rückschlüsse auf die Funktion des deutschsprachigen Klassikers erlaubt: Die Tatsache, dass Heine ausgerechnet innerhalb der Datenbasis „Schriftsteller“ im PageRank vorne liegt, nicht aber dann, wenn alle WikipediaArtikel berücksichtigt werden, kann auf seine herausragende Stellung innerhalb der literarischen Kunstdiskurses verweisen, in dem Heine als „Superzeichen“14 der intertextuellen Verwertung fungiert. Von einzelnen solchen Abweichungen abgesehen deckt sich die Liste gerade auf den vorderen Plätzen weitgehend mit den europäischen Kanonvorstellungen. Wertet man das Vorkommen von Autoren auf den angegebenen 25 Plätzen der 15 Sprachen aus, dann ergibt die Analyse im PageRank Writers eine Reihenfolge, in der neben Shakespeare, Dante und Goethe mit jeweils 14 von 15 möglichen Nennungen, Victor Hugo mit 13, Virgil mit 12, Dostojewski mit 11, Puschkin und Tolstoj mit 10 präsent sind, Dickens und Petrarca eröffnen mit jeweils 9 Nennungen das Mittelfeld, gefolgt von Poe und Byron mit 8, Molière mit 7 und Hemingway mit 6 Nennungen. Diese Reihe bestätigt einen männlich und westeuropäisch dominierten Kanon. Die Reihe der weiblichen Schriftstellerinnen führen Charlotte Brontë mit drei Nennungen sowie Virginia Woolf und Zelda Fitzgerald mit je zwei Nennungen an, gefolgt von den jeweils einmal gelisteten Emily und Anne Brontë, George Eliot, Elisabeth Barret Browning, Lisa Jane Smith, Tabitha Jane King, Jean Iris Murdoch, Rosalía de Castro, Margaret Drabble, A. S. Byatt, Fatma

|| 13 Reinhard Lauer: Der „russische Heine“ oder Der Dichter als Kunstmittel. In: Deutschland und Russland. Aspekte kultureller und wissenschaftlicher Beziehungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hg. von Dittmar Dahlmann und Wilfried Potthoff. Wiesbaden 2004, S. 59–94, hier S. 60. 14 Vgl. ebd.

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Aliye Topuz und Beatrix Potter. Selbst also, wenn der Quotient im Ranking bei der Nennung nicht berücksichtigt wird, tauchen weibliche Schriftstellerinnen von möglichen 375 gerade mal 19 Mal auf, was einen Prozentsatz von rund 5% bedeutet. Bis auf die türkische Menschenrechtlerin Fatma Aliye Topuz handelt es sich überdies ausschließlich um Frauen aus dem angelsächsischen Raum. Insgesamt erzeugt die untersuchte Sprachenvielfalt der Wikipedia keinen abweichenden Kanon im Hinblick auf kulturelle Diversität, die sich wie folgt darstellt:

Schriftsteller Europa, USA, europäische Antike (englisch; italienisch; französisch; deutsch; spanisch) Schriftsteller Russland Schriftsteller außereuropäisch ausgenommen Russland, USA: persisch (Persien/Iran) 5; türkisch 2; arabisch (Libanon) 1; japanisch 1; spanisch Lateinamerika (Argentinien/Nicaragua) 2; chinesisch 2 Schriftsteller Osteuropa außer Russland: ungarisch 4; rumänisch 3; polnisch 1 Abb. 1: Nationale Diversität Schriftsteller PageRank Writers.

Diesen Befund zur Reproduktion eines westlichen, die englisch-, deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Literaturen zentral setzenden Kanons kann man mit Christian Pentzold als Bestätigung der „Wirksamkeit diskursiver Regime in den Wissenskonstitutionsprozessen“ in der Wikipedia betrachten.15 Pentzold stellt mit seiner Untersuchung den offenen Anspruch des wiki-Prinzips in Frage und stellt heraus, dass durch das kollaborative Arbeiten an und Überarbeiten von

|| 15 Christian Pentzold: Machtvolle Wahrheiten. Diskursive Wissensgenerierung in Wikipedia aus Foucault’scher Perspektive. In: kommunikation@gesellschaft 8 (2007), Beitrag 4: http:// www.kommunikation-gesellschaft.de/B4_2007_Pentzold.pdf [abgerufen am 13.2.2018].

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Texten diskursive Wissensregime innerhalb der einzelnen Artikel reproduziert werden. Diesen auf qualitativer Analyse basierenden Befund kann man mutatis mutandis auf die quantitative Ebene anwenden, wie die Auswertung der über den PageRank-Algorithmus in der Kategorie „Writer“ erzielten Ergebnisse verdeutlicht. Im Unterschied zur textbasierten Analyse, wie sie Pentzold unternimmt, ist es in solchen quantitativ basierten Darstellungen jedoch kaum möglich, „strategische[] Verfahren der Produktion, Verteilung und Zirkulation von Aussagen“16 nachzuvollziehen. Vielmehr scheint hier in sehr expliziter Weise das sichtbar zu werden, was Simone Winko als invisible hand-Phänomen beschreibt und das ihr zufolge die Kanonkonstitution bestimmt.17 An dieser Stelle ist es jedoch unbedingt sinnvoll, den Kanonbegriff vom Klassikbegriff zu unterscheiden und die Wendung invisible-hand-Phänomen für Klassikerkonstituierungsprozesse zu reservieren. Denn im Verhältnis zwischen dem durch offizielle Institutionen, Literatureinführungen oder Anthologien gesetzten Kanon der Weltliteratur und durch den PageRank ersichtlichen Klassikern der Weltliteratur eröffnet sich durchaus eine Differenz. Denn in diesem Ranking mischen sich ganz natürlich Autoren der sogenannten Höhenkammliteratur mit denjenigen der sogenannten Unterhaltungsliteratur wie Stephen King, Tabitha King, C. S. Lewis, Lewis Carroll oder J. K. Rowling. Hier wird also weniger das diskursive Wissensregime bestätigt, sondern es werden vielmehr die Vorlieben der Gruppe der männlichen 30jährigen für die Genres Horror und Fantasy repräsentiert, die in der Regel nicht in institutionalisierten Kanones vertreten sind.

5 Klassiker im Gebrauch: Zugriffe auf Schriftsteller innerhalb der Wikipedia Die Unterscheidung von Klassik als je aktuellem Gebrauch und Kanon als Institution ist dort besonders ersichtlich, wo die Zugriffe von Wikipedia-Usern gemessen werden. Die Autoren der Untersuchung Worldliterature According to Wikipedia haben die Artikelaufrufe in drei aufeinanderfolgenden Jahren 2012, 2013 und 201418 gemessen.

|| 16 Ebd. 17 Simone Winko: Literatur-Kanon als „invisible-hand“-Phänomen. Literarische Kanonbildung. In: Text+Kritik Sonderband IX (2002) H. 2, S. 9–24. 18 Weltliteratur. World Literatur According to Wikipedia: http://data.weltliteratur.net/ [abgerufen am 13.2.2018].

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Das Bild, das sich in einer Auswertung der page views darbietet, weicht in einigen Punkten deutlich von dem, das sich über die Messung des PageRank ergibt. In vielen Fällen erweisen sich die Ergebnisse als nahezu deckungsgleich mit denen auf der Produzentenseite, insbesondere auf den ersten Rängen. Das kann zweierlei Ursachen haben: Zum einen, dass die kanonische Setzung durch Institutionen zum aktiven Gebrauch beiträgt, weil etwa die im Schulkanon vorgegebenen Autoren auch von Schülern online nachgeschlagen werden. Zum anderen, dass die Suchergebnisse und damit auch die Artikelaufrufe durch den PageRank-Algorithmus beeinflusst werden, weil die Wahrscheinlichkeit auf den Artikel zu stoßen adäquat zum Ranking nach dieser Messmethode steigt. Insgesamt sind die Rankings in der Auswertung der Artikelaufrufe sehr viel stärker auf das Nationale konzentriert, was im Gesamtbild eine größere Diversität erzeugt (siehe Abb. 2). Unter den Sprachen, die nicht im traditionellen westeuropäischen Kanon verankert sind, verzeichnen vor allem die türkisch- und die rumänischsprachige Wikipedia im Jahr 2012 ein Übergewicht nationaler Autoren im Ranking (Rumänien 16, Türkei 18 von den 25 Nennungen). Zum Vergleich sind es im traditionell kanonischen Bereich für den französischen 19 und für den angelsächsischen Sprachraum 23 nationale Nennungen. Bei diesen beiden Ländern sind die andersnationalen Nennungen durchaus interessant: Für den angelsächsischen Bereich sind dies Anne Frank und Rabindranath Tagore. Anne Franks Popularität in diesem Ranking ist vermutlich auf die Lektüre ihrer Tagebücher in Schulen zurückzuführen, was dadurch bestätigt wird, dass sie in den Folgejahren 2013 und 2014 ähnlich hoch vertreten bleibt (2012 auf Platz 11, 2013 auf Platz 6 und 2014 auf Platz 9). Auch der indische Nobelpreisträger des Jahres 1913 Rabindranath Tagore bleibt beständig präsent (2012 Platz 25, 2013 Platz 22, 2014 Platz 18), was sich auf zweierlei Weise erklären ließe: Ein Grund könnte sein, dass Inder die größte Migrantengruppe Großbritanniens bilden, ein anderer aber, dass sich die Nutzer in Indien schlicht der größten Wikipediasprache bedienen. Für beide Möglichkeiten spricht die Tatsache, dass Tagore ausschließlich in der englischsprachigen Wikipedia in der Kategorie page views im Ranking auftaucht (persisch im PageRank). In der französischsprachigen Wikipedia tauchen neben den französischen kanonischen Klassikern ausschließlich englischsprachige Autoren auf. Neben Shakespeare und Dickens sind dies bemerkenswerterweise besonders Vertreter der sogenannten Unterhaltungsliteratur wie Bram Stoker, Stephen King, J. R. R. Tolkien und J. K. Rowling. Außer der letztgenannten Rowling handelt es sich um Langzeitklassiker der jeweiligen Genres Horror (Bram Stoker, Stephen King) und

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Fantasy (Tolkien). Überdies blicken die Werke dieser Autoren auf eine erfolgreiche Verfilmungsgeschichte zurück.

Europa und USA, inkl. Europäische Antike Nicht-Europa (außer Russland und USA): Argentinien 2; Brasilien 13; Chile 1; Columbien 3; Mexico 5; Nicaragua 1; Peru 2; Uruguay 1; China (inkl. Hong Kong und Taiwan) 17; Persien/Iran 9; arabischsprachige Länder 17; Indien 1; Korea 7; Türkei 18; Japan 4 Osteuropa (außer Russland): Ungarn 11; Rumänien 16; Serbo-Kroatien 4 Russland Abb. 2: Nationale Diversität Schriftsteller Ranking page views 2012.

Blickt man auf alle 15 untersuchten Sprachen, fällt auf, dass auf Platz 1 des Rankings nahezu ausschließlich Autoren der eigenen Nationalität erscheinen; eine Ausnahme stellt das Auftauchen von Bram Stoker in der serbo-kroatischen Wikipedia dar. Stoker, dessen Todestag sich 2012 zum zweihundertsten Mal jährte, ist insgesamt zwölf Mal vertreten und damit hinter dem ubiquitären Shakespeare (15 Nennungen) aber deutlich vor etwa Goethe (vier Nennungen), Dostojewski (sieben) oder Hugo (sechs). Goethe, der nach dem PageRank Complete 15 Mal und dem PageRank Writers noch 14 von möglichen 15 Malen präsent ist, scheint also ein wesentlich seltener gebrauchter Klassiker zu sein, als Shakespeare oder Bram Stoker. Insbesondere bestätigt sich seine Verankerung als westeuropäischer Klassiker nach dieser Messmethode nicht, denn außerhalb des deutschen Sprachraums wird er nur noch in den Sprachen persisch, ungarisch und koreanisch gelistet. Dieses Ergebnis könnte man pointiert so deuten, dass Goethe heute kein westeuropäischer Klassiker (mehr) ist, dafür aber in ost-europäischen, arabischen und asiatischen Kulturen an Bedeutung gewinnt – ein Bild, das sich in

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den sechs Fällen, in denen er 2014 vorkommt, noch deutlicher abzeichnet: Außer der Platzierung im deutschen ist Goethe im persischen, koreanischen, ungarischen, serbo-kroatischen und rumänischen Sprachraum präsent. Es ist also eine Kontinuität im Prozess der ‚Entwestlichung‘ (wobei „Westen“ hier pars pro toto für die kulturhegemoniale Rolle der Länder USA, Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland steht) Goethes über drei Jahre hinweg nachzuvollziehen (2013: deutsch, persisch, koreanisch, ungarisch, serbo-kroatisch). Auch die Repräsentation weiblicher Schriftstellerinnen ist gemäß dieser Messmethode deutlich verschieden von der des PageRank Writers. Bereits quantitativ tauchen Schriftstellerinnen rund doppelt so häufig im Ranking auf. Waren es im PageRank Writers 5% (19 von 375) sind es bei der Liste der Artikelaufrufe immerhin schon runde 10% (37). Noch eindeutiger werden die Unterschiede, wenn gleichzeitig das Kriterium der nationalen Diversität berücksichtigt wird. Im PageRank waren es ausschließlich Autorinnen des angelsächsischen Sprachraums, die unter den Top 25 gelistet waren. Bei der Messung der page views für das Jahr 2012 sind die Nationalkulturen, denen die Schriftstellerinnen zugeordnet werden ausgesprochen vielfältig: Mexiko, Türkei, Russland, Korea, Libanon, Italien, Syrien, Serbo-Kroatien, China, Irak, Taiwan, Brasilien. Aus dem angelsächsischen Raum kommen lediglich Helen Keller, eine taubblinde, sozial engagierte Schriftstellerin (USA), Jane Austen, die in keiner der Messungen des PageRank auftaucht, E. L. James, die Erfolgsautorin des Erotikbestsellers Fifty Shades of Grey, J. K. Rowling, Agatha Christie, Ayn Rand und Suzanna Collins. Es sind also vor allem Schriftstellerinnen aus dem Bereich der Unterhaltungsliteratur (bis auf Helen Keller und Ayn Rand), die häufig einen konkreten Zeitbezug haben. Die Hungergames-Trilogie, für die Suzanne Collins das Drehbuch schrieb, kam ab 2012 in die Kinos und der Name der Autorin taucht auch in keiner anderen der Ranking-Kategorien unter den Top 25 auf. Im Jahr 2011 wurde der erste Roman von E. L. James veröffentlicht und im Jahr 2012, das das Ranking der page views wiedergibt, war sie damit weithin erfolgreich (nach der englischen Wikipedia: als einer der einflussreichsten 100 Menschen des Jahres im Time Magazine und als Publishing Person of the Year des in der Buchbranche tonangebenden Magazins Publisherʼs Weekly angeführt; gleichzeitig gewann sie für Fifty Shades of Grey die National Book Awards in den Sparten Popular Fiction Book of the Year sowie Book of the Year19).

|| 19 Art. E. L. James: https://en.wikipedia.org/wiki/E._L._James [abgerufen am 13.2.2018].

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Unter den 26 genannten Frauen20 (mit Mehrfachnennungen 37) lassen sich vor allem zwei Kategorien ausmachen, die auf ihre Funktion als Klassikerinnen hinweisen: Unterhaltung und politisches bzw. soziales Engagement. In der ersten Kategorie lassen sich zum untersuchten Zeitpunkt sehr populäre Autorinnen, die häufig einen Bezug zum Film haben, weil sie Drehbücher schreiben oder ihre Werke gerade verfilmt wurden (wie J. K. Rowling, Suzanne Collins, E. L. James) und Klassikerinnen der Unterhaltungsliteratur wie Jane Austen21 oder Agatha Christie auseinanderhalten. Die andere Kategorie bilden Schriftstellerinnen, die sozial oder politisch engagiert waren, häufig explizit für Frauenrechte. Dabei kommt es zu Verschiebungen hinsichtlich der Nationalität: Während in der italienischen Wikipedia keine einzige Frau im Ranking unter den 25 gelisteten Autorinnen erscheint, wird die italienische Journalistin und Autorin Oriana Fallaci auf Platz 24 in der persischsprachigen Wikipedia geführt. Dies lässt sich eventuell auf ihre rege Aktivität als Interviewerin zahlreicher Persönlichkeiten aus dem Bereich der Nahost-Politik ebenso wie auf ihre islamkritische Einstellung zurückführen, die sie durchaus provokativ kundtat (bei einem Interview mit Chomeini warf sie ihre Verschleierung ab). Weiterhin ist bemerkenswert, dass in der koreanischen Wikipedia drei Frauen von sieben koreanischen Schriftstellern insgesamt gelistet werden (Park Wan Suh, Gong Ji-young, Na Hye-Sok), was den Spitzenprozentsatz im durch die Untersuchung aufgebotenem internationalen Vergleich bedeutet (die italienischoder französischsprachige Wikipedia sind dagegen rein männlich). Alle drei Koreanerinnen lassen sich als engagiert feministische Schriftstellerinnen bezeichnen: Die von 1896 bis 1948 lebende Na Hye-Sok (Listenplatz 14) war die erste feministische Autorin Koreas, die von 1931 bis 2011 lebende Park Wan Suh (Platz 25) schrieb Gesellschaftsromane und wandte sich später feministischen Themen zu und die 1963 geborene und auf der ersten Position des Rankings platzierte Gong Ji-young befasst sich neben feministischen Themen auch mit der Unterdrückung von Minderheiten und der Situation von Arbeitern in Korea (Listenplätze in den Folgejahren: 2013 Platz 5, 2014 Platz 3). Auf den ersten Platz im Ranking

|| 20 Juana Inés de la Cruz (Mexiko), Halide Edib Adivar (Türkei), Elif Şafak (Türkei), Helen Keller 3, E. L. James, Agatha Christie, Jane Austen 3, Anna Achmatova (Russland), Suzanne Collins, Desanka Maksymović (Serbien), May Ziade (Libanon/Palestina), Marina Tsvetaeva, Oriana Fallaci (Italien), Ghada Al-Samman (Syrien), Park Wan-Suh (Korea), Eileen Chang (China), Chiung Yao (China), Clarice Lispector (Brasilien), Gong Ji-young (Korea), Na Hye-Sok (Korea), Nazi al-Malaika (Irak), Sanmao (Taiwan, China), J. K. Rowling, Ayn Rand, Anne Frank 2, Gabriela Mistral. 21 Wobei die Klassifizierung Janes Austens als Unterhaltungsschriftstellerin selbst auf eine Kanonisierungstradition zurückzuführen ist.

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schafften es im Jahr 2012 außer ihr nur noch die Taiwanesische Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Deutschen und Spanischen Sanmao (2013 Platz 6, 2014 Platz 7). Dieser kurze Einblick in das Ranking nach der Zählung der page views zeigt eine deutliche Korrektur der kanonischen Wissensordnung, die in der Messung mit der Methode des PageRank (Writers und Complete) bestätigt wurde. Drei zentrale Verschiebungen sind zu erkennen: 1. Die Vielfalt der repräsentierten Sprachen und Nationen ist höher, dementsprechend sinkt die Konzentration auf die traditionellen Länder, aus denen sich der westeuropäische Kanon speist (Großbritannien, USA, Frankreich, Italien, Deutschland, Russland); 2. Die Präsenz von Frauen ist rund doppelt so hoch und im Hinblick auf die repräsentierte sprachliche und nationale Vielfalt diverser und 3. sinkt die Präsenz kanonischer Autoren der sogenannten Hochkultur zugunsten von Klassikern der Unterhaltungsliteratur und aktuellen Schriftstellern. Darüber hinaus sind zwei Tendenzen erkennbar: 1. Die Profile der aufgeführten Schriftstellerinnen lassen sich grob in die Werkkategorien „sozial engagierte, feministische Literatur“ oder „Unterhaltungsliteratur“ einteilen und 2. Die Intermedialität des literarischen Werkes erhöht die Wahrscheinlichkeit der Repräsentation.

6 Fazit Für das Verhältnis von Klassik und Kanon liefert das Datenmaterial zur Studie World Literature According to Wikipedia aufschlussreiche Ergebnisse, weil hier nicht nur die Differenzen zwischen kanonischer Setzung und dem aktiven Gebrauch von Klassikern zu beobachten sind, sondern auch die Überschneidungen beider Kategorien. Prinzipiell lässt sich feststellen, dass auf der Produzentenseite eine Reproduktion der Wissensordnungen insofern stattfindet, als die im kollektiven Gedächtnis als kanonisch verankerten und institutionell als solche gesetzten Autoren, in den Rankings entsprechend repräsentiert werden. Das Fehlen einiger Autoren, wie beispielsweise Kafkas, lässt sich auf unumgehbare Fehler- bzw. Ausschlussquoten bei der Erstellung der Autorensets zurückführen, was die Autoren der Studie ausführen und problematisieren.22 Von solchen Einzelfällen abgesehen, zeichnet sich jedoch eine Tendenz ab: Auf der Rezipientenseite, die durch die Kategorie der Artikelaufrufe repräsentiert ist, wird dieser Kanon einerseits be-

|| 22 Christoph Hube et al.: World Literature According to Wikipedia, S. 10–12.

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stätigt, andererseits jedoch dadurch erweitert, dass die Breite der repräsentierten Autoren tendenziell in nationaler und genderorientierter Hinsicht vielfältiger und vor allem zeitbezogener ist. Interessant ist, dass gerade die Repräsentation nationaler Autoren gemäß der Messung der Artikelaufrufe gegenüber den Ergebnissen, die die Produzentenseite repräsentieren, zunimmt. Damit wird ein insgesamt heterogeneres Gesamtbild im Vergleich der 15 Wikipediasprachen erzeugt, gleichzeitig zeigt sich im Gebrauch – zugespitzt formuliert – ein gewisser Hang zum Nationalismus. Insgesamt zeigt sich also, dass auch dynamische Gebilde wie die Wikipedia von einer Doppelbestimmung des Klassischen leben: Es ist ein aktueller, auch anarchischer, anti-kanonischer Gebrauch, der hier deutlich wird, gleichzeitig gibt es Strukturen, die selbst bei einer ihrem Selbstverständnis nach „freien Enzyklopädie“ die Geltung des Kanonischen sichern. Das können zum einen externe Institutionen wie Schulen sein, die die Reproduktion des Kanons bis in den individuellen Gebrauch gewährleisten, es kann aber auch schlicht der interne Algorithmus sein, der das gut und prominent Verlinkte im Gebrauch perpetuiert.23

|| 23 Für die wertvollen Hinweise danken wir zwei Autoren der Studie, Frank Fischer und Robert Jäschke.

| Teil III: Klassiker als kulturelle Ikonen

Paula Wojcik

Klassiker als kulturelle Ikonen Innerhalb der intermedialen Rezeptionsmöglichkeiten von Klassikern bilden diejenigen Formen eine eigenständige Gruppe, die ein nur sehr loses Verhältnis zum Original pflegen. Die Anbindung an einen Ursprungstext oder Autor/Urheber beschränkt sich hierbei nur auf einige ‚Signalmerkmale‘, die weit verbreitet und dadurch leicht wiedererkennbar sind. Die kennzeichnende Eigenheit von Klassikern, die den Status kultureller Ikonen besitzen, ist eine Präsenz innerhalb der visuellen und materiellen Kultur.1 Gleichzeitig sind sie auch das Ergebnis eines multimedialen Verdichtungsprozesses, innerhalb dessen sich die Merkmalsreduktion bei gleichzeitig steigender Wiedererkennbarkeit ergeben hat. Die in dem jeweiligen kulturellen Raum nahezu omnipräsenten Konterfeis von Dante, Goethe&Schiller, Sándor Petőfi, Karel Hynek Mácha, Adam Mickiewicz oder Fryderyk Chopin sind Beispiele hierfür. Diese entsprechen auch der in der Forschung aufgegriffenen sich aus dem sakralen Bedeutungsursprung speisenden Vorstellung von Ikonen als „kulturellen Helden“.2 Ihr kultureller Status kann deshalb als eine säkularisierte Form des ursprünglich sakralen bewertet werden. Kulturelle Ikonen können auch Werktitel, Zitate, Elemente oder Figurennamen sein, die eine enorme Wiedererkennbarkeit besitzen und sich teilweise zu Metonymien entwickelt haben, die im alltäglichen Sprachgebrauch fest verankert sind: Der Name „Godot“ steht für ein nicht enden wollendes Warten und fungiert als Diagnose des modernen Daseins schlechthin; Schneewittchens Schuh für einen märchenhaften Standeswechsel, Don Quichote für einen aussichtlosen Kampf gegen übermächtige – gegebenenfalls weil imaginierte – Gegner. Die Besonderheit von Klassikern, die in diesem Grad der Abstraktion zirkulieren, ist, dass sie nahezu universell funktionalisierbar sind und dadurch semantischen Überschuss produzieren. Man könnte sie als Hohlformen bezeichnen, in die nach Bedarf und mitunter auch kontingent Inhalte ‚gegossen‘ werden. Diese ‚äußere Hülle‘, die durch visuelle oder semantische ‚Signalmerkmale‘ definiert ist, ist also die entscheidende Konstante der Rezeption. Das zeigt der erste Beitrag dieser Sektion, Matteo Colombis und Stephan Krauses Untersuchung der tschechischen und ungarischen Klassikerfiguren Sándor Petőfi und Karel Hynek Mácha. In ihrem Artikel Romantische Klassiker nach 1989. Figuren des Überschusses? Eine bohemistisch-

|| 1 Vgl. Martin Kemp: Christ to Coke. How Image Becomes Icon. Oxford, New York 2012. 2 Günter Leypoldt und Bernd Engler: Introduction: Cultural Icons, Charismatic Heroes, Representative Lives. In: American Cultural Icons. Hg. von dens. Würzburg 2010, S. 5–28, hier S. 6. https://doi.org/10.1515/9783110615760-011

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hungarologische Annäherung zeigen sie die weitgehend willkürliche kulturelle Aneignung von Werk und Biographie, die sowohl für künstlerisch ambitionierte Auseinandersetzungen als auch populäre und kulturpolitische Formen der Funktionalisierung gilt. In einer komparatistischen Perspektive lässt sich am Beispiel von Dante-Porträts zeigen, dass die Stabilität von ikonischen Merkmalen nicht nationalkulturell gebunden ist. Mona Körte untersucht hierzu Porträts und Porträtbüsten Dantes von südafrikanischen, französisch-isländischen Künstlern ebenso wie die eines italienischen Comiczeichners und zeigt, dass die Engführung von Autor und Werk im Sinne einer ‚veloziferischen‘ Disposition ikonischer Bilder verstanden werden kann. In ihrer Analyse rezenter Comicbearbeitungen untersucht Alfrun Kliems den dekonstruierenden Umgang der beiden polnischen Nationalheiligen Adam Mickiewicz und Fryderyk Chopin. In ihrem Beitrag Mickiewicz in Paris, Chopin im Knast. „Klassiker-Ikonen“ und der Comic Chopin New Romantic thematisiert sie auch die gesellschaftliche Entrüstung, die eine gezielte Entsakralisierung immer noch hervorrufen kann, wenn Ikonen eine nationale Repräsentationsfunktion innehaben. Mit der Ikonisierung im Medium des Comic fährt Johanna Elisabeth Koehn fort, die in ihrem Beitrag Waiting for… Becketts Warten auf Godot in Cartoon und Comicstrip zeigen kann, dass die Comicbearbeitungen trotz variierender Funktionen wie Vermittlung, Unterhaltung, Dekonstruktion oder Aktualisierung mit sogenannten key identifiers im Sinne Martin Kemps arbeiten, was die Merkmalsstabilität von Ikonen belegt. Einen methodisch anderen Zugang wählt Anke Steinborn, die in ihrem Beitrag Fräulein Else und ihr kleines Schwarzes zeigt, wie eine Modeikone, nämlich das von Coco Chanel entworfene und als Kleines Schwarzes oder Little Black Dress in die Kulturgeschichte eingegangene Kleid, in Artur Schnitzlers Monolog-Novelle und deren Verfilmungen von Paul Czinner (1929) sowie Anna Martinetz (2013) funktionalisiert und auf den jeweiligen soziohistorischen Kontext hin aktualisiert wird. Dass die interkulturelle Aneignung, die Steinborn anhand der beiden Verfilmungen aufzeigt, in Formen kulturpolitischer Funktionalisierung durchaus Widerstände produzieren kann, zeigt das Beispiel einer versuchten „Französisierung“ Beethovens, die Marie Gaboriaud unter dem Titel Die Republik und der Deutsche: Wie Beethoven zum französischen Klassiker wurde schildert. Hier wird deutlich, dass auch Ikonen, die transnational zirkulieren, in einer kulturellen Repräsentationsfunktion vorgeprägt sind und auch welchen diskursiven Aufwands es bedarf, um sie ‚umzunationalisieren‘. Zum Abschluss dieser Sektion beschäftigt sich Andrea Kreuter mit dem Medium des Balletts und untersucht anhand von Ballettinszenierungen der Perraultschen Märchen Aschenputtel und Dornröschen sowie Don Quichotes, wie

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bestimmte Attribute in Folge einer intermedialen Rezeptionsgeschichte zu Ikonen und für die Ballettbühne angeeignet werden, wodurch ihr ikonischer Status zugleich bestätigt und weiter tradiert wird. In allen diesen Gebrauchsformen entsteht durch die funktionale Anpassung bei der Aushöhlung der originären Semantik ein neuer semantischer Überschuss, der die Lebendigkeit eines Klassikers garantiert. Der Status als kulturelle Ikone ist zwiespältig: Zum einen bedeutet er eine kulturelle Präsenz, die keines immer wieder neu begründeten Geltungsanspruchs bedarf. Zum anderen besteht hier jedoch die Möglichkeit des Überdrusses: Die dauerhafte Präsenz ist kein Garant für dauerhafte Aufmerksamkeit.

Matteo Colombi und Stephan Krause

Romantische Klassiker – Figuren des Überschusses? Eine bohemistisch-hungarologische Annäherung

1 Exordium: Mácha und Petőfi als kulturelle Ikonen Die vorliegende Studie stellt zwei der bedeutendsten1 Protagonisten der tschechischen bzw. ungarischen Romantik in den Mittelpunkt, die Dichter Karel Hynek Mácha (1810–1836) und Sándor Petőfi (1823–1849). Beide lassen sich sowohl als Klassiker wie auch als Ikonen der tschechischen bzw. ungarischen Kultur auffassen. Klassiker sind beide für sich und je in dem sie umgebenden literar(histor)ischen Kontext in dem Sinn, dass ihnen innerhalb ‚ihrer‘ Kultur eine Orientierungsfunktion zuerkannt worden ist und wird, und ihre Wirkung – ihre rezeptive Präsenz – zugleich als Veranschaulichungsgeste und als Maß angesehen wird, sodass dies noch die literarischen und genereller ästhetischen Erwartungshorizonte ihrer Rezipienten mit modelliert. Aus der Perspektive der Gemeinschaft, die (diskursiv vermeintlich) den Titel ‚Klassiker‘ vergibt, ruht all dies auf der angenommenen Originalität und Exponiertheit beider Persönlichkeiten und ihres Schreibens. Mácha und Petőfi stehen dabei nicht nur für die tschechische bzw. ungarische Romantik, sondern musterhaft auch für deren explizite Qualität als romantische Epoche. Beider Bedeutung prägt zugleich sowohl eine nationale (tschechisch / ungarisch) als auch eine kultur- bzw. epochengeschichtliche Variante aus: Denn beide Dichter können über die jeweilige Romantik hinaus für ‚ihre‘ Literatur als modellbildend angesehen und

|| 1 So sehr diese Klassifizierung in einem Buch zu Klassikern als per se tautologisch erscheinen mag, ja und so sehr eine derartige Qualifizierung bereits im ersten Satz gewissermaßen das Ergebnis der Studie wie als Verbeugung vor dem Gegenstand vorwegzunehmen sich verdächtig macht, so soll dies zugleich als Hinweis darauf gelesen werden, dass ‚bedeutend zu sein‘ je auch meint, ‚Bedeutung zu haben‘ und damit – dem Blumenberg’schen Sinn des Terminus Bedeutsamkeit („Als ausgedachte Wertigkeit müsste Bedeutsamkeit zerfallen.“ Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 51996, S. 77) folgend – die Frage nach dem kulturellen Stellenwert, der – auch literarischen – Signifikanz und der (politischen) Relevanz der zwei untersuchten Dichterfiguren aufwirft. https://doi.org/10.1515/9783110615760-012

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kulturhistorisch – auch über die Grenzen Tschechiens und Ungarns hinaus – der Romantik als Epoche zugeordnet werden. Mácha und Petőfi können aber neben ihrer ‚Verbuchung‘ unter dem Rubrum ‚Klassiker‘ durchaus treffend als kulturelle Ikonen beschrieben werden. Denn neben der vermeintlich als hochkulturell aufzufassenden Bezeichnung als Klassiker von Maß, Vorbild und Größe, stehen ihnen noch die Griffigkeit und das unvermittelt emotionale Identifikationspotential zu, das kulturelle Ikonen kennzeichnet. Dies ist gebunden an den hohen Grad an Wiedererkennbarkeit, die – je in den Gemeinschaften – für beide Figuren gültig ist, geleistet etwa durch ein Minimum an typischen Merkmalen, durch die eine große Mehrheit der Rezipienten angesprochen werden kann. So lässt sich sagen, dass die meisten Tschechen die Figur eines verträumten Jungen mit leicht geneigtem Kopf, Weste und Blumen in der Hand mit Mácha und den Versen „Byl pozdní večer – první máj – / večerní máj – byl lásky čas“ (Ein Abend spät – der erste Mai – / ein Abendmai – der Liebe Zeit) verbinden.2 Für Petőfi lässt sich etwa auf das PetőfiDenkmal (1882) von Adolf Huszár (1843-1885) am Pester Donauufer verweisen (Abb. 1), eine Figur mit hoch in die Luft gestrecktem Arm, die den Verse – etwa das Nemzeti dal / Nationallied (1848) – deklamierenden revolutionären Petőfi aufruft. 1956 noch konnte ein Aufständischer durch Einnehmen der gleichen Körperhaltung einen deutlichen Verweis darauf setzen, dass der revolutionäre Geist jener Oktober- und Novembertage genuin durch Petőfi inspiriert war.3 Mit dieser unmittelbaren Wiedererkennbarkeit beider Figuren lässt sich ihr kulturikonischer Status erläutern, der gegenüber einem ‚normalen‘ Klassiker durch auffällige Rezeptionsprozesse geprägt ist, die von biografisch-historisch zusammenstellbaren Erzählungen sich abgelöst haben.4 Viele Tschechen mögen zwar

|| 2 Karel Hynek Mácha: Máj. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt von Otto F. Babler und Walther Schamschula. Köln, Wien 1983, S. 6–7. 3 Vgl. dazu: Budapest 1956. Die ungarische Revolution. Photogr. Erich Lessing. Hg. von Erich Lessing und Yael Azoulay. Übersetzt ins Deutsche von Hans Henning Paetzke und Elke Kleynjans. Wien 2006. 4 Siehe auch die Parallelität des in der Kunstgeschichte durch Martin Kemp vorgeschlagenen Ansatzes, der sich allerdings hauptsächlich auf iconic images bezieht: „An iconic image is one that has achieved wholly exceptional levels of widespread recognizability and has come to carry a rich series of varied associations for very large numbers of people across time and cultures, such that it has to a greater or lesser degree transgressed the parameters of its initial making, function, context, and meaning.“ Einzuschränken ist mit Blick auf Mácha und Petőfi allein der Aspekt uneingeschränkter transnationaler/-kultureller Bewegung, nicht aber ein zweiter wich-

Romantische Klassiker – Figuren des Überschusses? | 173

beispielweise wissen, dass sie ihr Bild vom verträumten Mácha auf dem Prager Hügel Petřín als Statue bewundern können (Abb. 2), aber schon deutlich weniger Tschechen könnten wohl angeben, dass die Statue von dem Bildhauer Josef Václav Myslbek (1848–1922) stammt, dass dieses Werk lange nach Máchas Tod (1912) entstanden ist und dass bereits Myslbeks Zeitgenossen der Meinung waren, die Statue entspreche dem, was über Máchas Figur bekannt ist, in vielerlei Hinsicht nicht. Jeder Tscheche soll ähnlicherweise die ersten idyllisch anmutenden Verse von Máj in der Schule gelesen haben, wohingegen wenige das gesamte Poem lesen und sich daher kaum vorstellen können, dass Mácha kein Sänger der harmonischen Liebe ist, sondern der Darsteller tragischer und sogar nihilistisch angehauchter Leidenschaften.5 Für Petőfi lässt sich ein Chiasmus von kulturtopographischer Omnipräsenz – nahezu jede ungarische Kommune hat mindestens eine Petőfi Sándor utca6 –, fragloser schulischer, wie auch darüber hinaus gesellschaftlicher Kanonisierung seiner lyrischen Texte und einer dem Dichter, der (in welcher Weise immer fiktionalen) Figur Petőfi und auch seiner Literatur angetragenen Passepartout-Funktion beobachten. Denn so sehr dem Einzelnen auch über ihn und seine Literatur ein genaueres, weiter reichendes Wissen fehlen mag, so sehr wird dies durch schlichte Funktionalisierung und die in nahezu jedem – auch etwa nahezu jedem politischen – Zusammenhang ohne Hinterfragen als möglich erachtete und möglich gemachte Berufung auf Petőfi überdeckt.7 Petőfi war nie unpopulär, sicher auch nie populistisch, aber die Modi und der Grad seiner Einspannung erhalten populistische Züge, weil sie vor allem austauschbar sind und sich an ihnen kein von Petőfi und seiner Literatur her eruierbarer Zweck des Verweises ausmachen lässt. In der Freiheit, die kulturelle Ikone qua Referenz einzusetzen, liegt zugleich wohl eine der grundlegenden Differenzen zum Klassiker, so als stünden kulturelle Ikonen am äußersten Punkt einer Skala, auf der Entwicklungsstufen

|| tiger Punkt bei Kemp: „One striking characteristic of truly iconic images is that they accrue legends to a prodigious degree that is largely independent of how long they have been around.“ Martin Kemp: Christ to Coke. How Image Becomes Icon. Oxford 2011, S. 3. 5 Siehe zu Myslbeks Statue und zu Máchas Weltanschauung in Máj weiter unten in diesem Aufsatz. Die Anmerkungen über das Wissen der Tschechen über Mácha beziehen sich auf ein Dutzend Interviews, die im Mai 2017 mit Mácha-Forschern, Museumsmitarbeitern und Besuchern von Mácha-Stätten (u. a. bei der Statue von Myslbek) durchgeführt worden sind. 6 Ungarisch: Straße. [Soweit nicht anders angegeben stammen alle Übersetzungen von den Verfassern (CZ: Colombi; HU: Krause)] 7 Siehe hierzu u. a. ‚Jöjjön el a te országod.‘ Petőfi Sándor politikai utóéletének dokumentumaiból [‚Dein Land komme.‘ Dokumente zu Sándor Petőfis politischem Nachleben]. Hg. von István Margócsy. Budapest 1988.

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des Romantischen ablesbar sind. Ist en bref also die Funktion des Klassikers die Musterhaftigkeit dessen, was durch ihn zur Darstellung und zur Anschauung gebracht wird, so wäre die einer kulturellen Ikone, die Veranschaulichung der Musterhaftigkeit, möglicherweise gar jenseits von dessen inhaltlicher Bestimmung. Die hier aufgemachte Differenz zwischen ‚Klassiker‘ und ‚Ikone‘ stellt freilich keine Divergenz dar, die als dissonante Paarung aus der dem Klassiker vermeintlich anhaftenden, fix beruf- und abrufbaren Maßgabe und dem flexibel verwend- und verlängerbaren Verweispotential der Ikone erschiene. Die Unterscheidung ist gerade nicht starr, sondern beide Begriffe sind, wenn nicht teilkongruent, so doch je reziprok komplementär, denn jeder beinhaltet auch die Grundeigenschaft des anderen: Klassiker können durchaus maßgebend und zugleich flexibel sein, während das Verweispotential einer Ikone nicht selten auf einer der ihr anhaftenden Kerneigenschaften beruht. Auch die mediale und affektive Attraktivität der Ikone, woran sich der (verallgemeinert-allgemeine) Verdacht nährt, aller Umgang mit kulturellen Ikonen müsse infolge der fast extremen Freiheit beim Gebrauch und der Nutzung von und der Auseinandersetzung mit ihnen zur Oberflächlichkeit (ver)führen, sollte nicht verabsolutiert werden. Denn die ihnen je neu beigegebenen Zuspitzungen und ihre Komplexität als modale Vielschichtigkeit und kritische Diversität der an kulturellen Ikonen (frequent) eingesetzten Verfahren und Ausdrucksmöglichkeiten von Parodie, Travestie oder Pastiche widersprechen einer pauschalen Gegenüberstellung von komplex rezipierten Klassikern und eindimensional wahrgenommen Ikonen. Anhand ausgewählter Einzelbeispiele aus der Fülle an rezeptionsgeschichtlichem Material zeigen die folgenden Ausführungen zu Mácha und Petőfi die Spannungen und das Verhältnis von reduktionistischer und vielschichtig polyvalenter Verwendung zweier kulturellen Ikonen auf und beleuchten dabei auch mögliche Kompromisse zwischen beiden Haltungen.8

|| 8 Der Aufsatz legt einige Ergebnisse aus einem größeren Forschungsvorhaben über Mácha und Petőfi vor, die im Rahmen des GWZO-Forschungsprojektes „Kulturelle Ikonen Ostmitteleuropas. Das Nachleben der Romantik“ (2014–2016) von den Verfassern erzielt wurden und in einer Doppelmonographie über den kulturikonischen Status beider Autoren ausmünden wird.

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Abb. 1: Petőfi-Denkmal von Adolf Huszár am Donauufer in Budapest, aufgestellt 1882. Foto: Stephan Krause 2016.

Abb. 2: Mácha-Denkmal von Josef Václav Myslbek auf dem Petřín in Prag, aufgestellt 1912. Foto: Stephan Krause 2017.

2 Inventio: Romantiker oder Klassiker des Überschusses? Die kulturhistorisch rückverfolgbare Konflikthaftigkeit der Begriffe Klassiker und Romantiker mag zwar vertraut wirken, ist in den Geisteswissenschaften allerdings allmählich relativiert worden, und zwar nicht nur aufgrund der Überlagerung einstiger konzeptionellen Spannungen durch quasi-deonymische und die jeweilige Deixis schwächende, weil sie semantisch erweiternde Prozesse. Vielmehr hat die Historizität des Begriffspaares – auch als Ergebnis seiner nur vermeintlichen Historisierung – dazu geführt, dass die einstige Unvereinbarkeit von ancien und moderne nivelliert ist. So sehr die funktionalen Definitionen beider Termini jedoch eine letztendliche Abkühlung jener querelle und jener Debatten nahelegen, so vermitteln sie trotzdem noch Momente und Spuren jenes

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ausgedehnten Widerstreits9, der sich auch als Ausgangspunkt der Überlegungen zu Mácha und Petőfi eignet. Die Untersuchung arbeitet dazu mit dem Begriffspaar von ‚Maß‘ und ‚Überschuss‘10, wonach die normativ gemeinte Vorstellung vom Klassiker ihm maßhaftes und maßgeleitetes Denken zuordnet, über das das Romantische in seiner Überschüssigkeit hinauszureichen scheint, gar als Übermaß und Überwindung, ja als (definitorisches) ‚Unmaß‘. Romantiker sind demnach Figuren des Überschusses und gehen über die (klassische) Ausgewogenheit von Subjekt und Welt hinaus, sind auf einen Überschuss an Subjekt und Welt aus. Ist die (ebenso normative) Binarität der Gegenüberstellung zwar gegenwärtig nahezu irrelevant, mehr noch in der auf Karel Hynek Mácha und Sándor Petőfi (und beispielsweise Samuel Taylor Coleridge, Mihai Eminescu, Ugo Foscolo, Victor Hugo, Jean Paul, France Prešeren) angewendeten funktionalen Verbindung als Klassiker der Romantik, so bleibt von der Funktion des KlassikerBegriffs zumindest das Prototypische, bei dem Regel und Maß(stab) definitorisch wirken und Imitation bzw. Emulation ermöglichen. Demgegenüber hat Wellek || 9 Rainer Rosenbergs Artikel im Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft (RLL) fasst dies konzis und liefert auch den expliziten Hinweis auf die konzeptionelle Erweiterung des Klassikerbegriffs: „Für die inhaltliche Ausfüllung eines historisch bestimmten Klassiker-Begriffs war bei den Deutschen (ebenso wie bei anderen ,verspäteten Nationen‘) von Anfang an die Identitätsbildungsfunktion der nationalen Literaturgeschichte von zentraler Bedeutung. Dabei spielte der Bezug auf die klassische griechische Kunst […] eine wichtige Rolle. Doch suchte man diesen Bezug nicht in erster Linie in der Adaptation antiker Dichtungsformen und der Verpflichtung auf die aristotelische Poetik, sondern in einer Symbolisierung des klassischen Humanitätsideals (Humanismus), zu der allerdings ein gewisses Maß an Objektivität und Ausgewogenheit, Homogenität der Gattung und formaler Geschlossenheit, wie man sie in der griechischen Kunst verwirklicht sah, gehören sollte. Durch die Ablehnung des Extremen, Phantastischen, Fragmentarischen, insbesondere der ungezügelten Subjektivität geriet der Begriff des Klassikers in die Opposition ,klassisch‘ ,romantisch‘, die in der deutschen Geistesgeschichte eine typologische Verallgemeinerung erhielt (F. Strich). Andererseits wurde von geistesgeschichtlich orientierten Literaturhistorikern die Bindung an das humanistische Menschheitsideal und an ein bestimmtes Formverhalten zurückgenommen und die Bezeichnung auf andere Schriftsteller ausgedehnt, deren Werken man eine nationale Identität stiftende Rolle und zugleich die Qualität eines allgemeingültigen Ausdrucks der existentiellen Situation des Menschen zuschrieb: Jean Paul, Kleist, Richard Wagner, Nietzsche, Rilke“. Rainer Rosenberg: Art. Klassiker. In: RLL. Band II. [Neubearbeitung]. Hg. von Harald Fricke. Berlin 2000, S. 274–276, hier S. 275. Siehe zudem Wilhelm Voßkamp: Art. Klassisch/Klassik/Klassizismus. In: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Band 3, Harmonie bis Material. Hg. von Karlheinz Barck und Martin Fontius et al. Stuttgart 2001, S. 289– 305, besonders S. 292–295. 10 Dies knüpft auch an Rosenbergs Verweis auf Fritz Strich an, dessen Unterscheidung von Klassik und Romantik in seiner Studie Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit (München 1922) auf die (komplementären) Differenzierungen von Endlichkeit und Unendlichkeit oder Vollendung und Unvollendetheit zurückbezogen ist.

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die kulturgeschichtliche Bedeutung der Romantik und der Etablierung des Paradigmas der individuellen Einbildungskraft hervorgehoben, die immer in Bezug auf sich selbst überschüssig ist.11 Dies produziert für den Begriff des Klassikers ein Paradoxon, denn vom normativ unterlegten Vis-à-vis von Klassik und Romantik aus gesehen muss ihr Status als ‚maßvoll übermäßig (überschüssig)‘ bezeichnet werden. In der Rezeptionsgeschichte der Klassiker der Romantik ist dieser Aspekt sehr wichtig, da deren Zeugnisse sich durch funktionale Modi der Hervorhebung und Ausblendung wie differente Deutungsmuster auszeichnen, worin der romantische Überschuss je in seinem Beziehungsreichtum bis hin zur völligen Reduktion zum Ausdruck kommen kann. Erhält ein Klassiker den Status einer kulturellen Ikone, wird diese Vielfalt an Möglichkeiten besonders offenbar, was sich gleicherweise exemplarisch anhand von Mácha und Petőfi und ihrer Rezeptionsgeschichte vom 19. bis zum 21. Jahrhundert verdeutlichen lässt, und zwar sowohl im Hinblick auf die Wahrnehmung von Mácha und Petőfi als (fiktionale) Figuren als auch hinsichtlich ihres Werks.12 Mithin werden in der Analyse je Schwerpunkte gesetzt, die

|| 11 René Wellek: Der Begriff der Romantik in der Literaturgeschichte. Und: Ders.: Noch einmal: Die Romantik. In: Grundbegriffe der Literaturkritik. Hg. von dems. Berlin u.a. 1971, S. 95–160, hier S. 130–132. Wellek erkennt die Wichtigkeit von Strichs Ansatz an, bevorzugt es aber, die Romantik über die Eigenschaften der Einbildungskraft, der Gegenseitigkeit von Menschen und Natur sowie der symbolisch-mythischen Bildhaftigkeit zu definieren, denn Unendlichkeit bzw. Unvollendetheit seien nicht nur für die Romantik, sondern auch für andere Kulturphänomene wie z. B. Barock und Symbolismus charakteristisch. Siehe auch Virgil Nemoianu: The Taming of Romanticism. European Literature and the Age of Biedermeier. Cambridge (Massachusetts), London 1984. Nemoianus Relativierung des Unendlichkeit-Ansatzes bildet das Gegenstück zu Welleks Argumentation, denn Nemoianu weist darauf hin, dass etliche Autoren, die der Romantik zugeschrieben werden, ein ambivalentes Verhältnis zu Unendlichkeit bzw. Unvollendetheit aufweisen – und schlägt vor, die Romantik in zwei ineinander dringende Phasen aufzuteilen, die des „high“ und die des „tamed Romanticism“ oder Biedermeier (dessen Weltanschauung für ihn keine Spezifik der deutschen oder der ostmitteleuropäischen Kulturen darstellt, sondern auf die gesamte europäische Kulturgeschichte anwendbar ist). 12 Eine nicht allein auf Mácha und Petőfi bezogene Anregung zur parallelen beziehungsweise vergleichenden Betrachtung beider wird bereits erwähnt bei Endre Bojtár: ‚Hazát és népet álmodánk …‘ Felvilágosodás és romantika a közép- és kelet-európai irodalmakban [‚Wir würden Heimat und Volk erträumen …‘. Aufklärung und Romantik in den ostmittel- und osteuropäischen Literaturen]. Budapest 2008, besonders S. 94–95 sowie S. 76–77. Außer dem Original liegt bisher nur eine slowakische Übersetzung vor: Endre Bojtár: ‚Vysnívali sme si vlasť a národ …‘. Osvietenstvo a romantizmus v stredno- a východoeurópskych literatúrach. Übersetzt ins Slowakische von Gabriela Magová. Bratislava 2010, hier S. 53–54 und S. 43–44. Siehe auch die Studien zu Nationaldichtern aus Ostmitteleuropa in der Sektion Figures of National Poets in: History of the Literary Cultures of East-Central Europe. Junctures and Disjunctures in the 19th and 20th

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komplementär zueinander gewählt sind: Die Betrachtung der Mácha-Rezeption erfolgt eher textbasiert und fokussiert den Umgang mit Máj, während die Arbeit an Petőfi eher figurenbasiert angelegt ist und sich mit seiner Fiktionalisierung als literarische Figur auseinandersetzt. Gegenstände sind für Mácha die jüngste Verfilmung von Máj (2008, Máj, Regie: František Antonín Brabec, *1954) und für Petőfi Lajos Parti Nagys (*1953) Gedicht Petőfi Barguzinban (2003; Petőfi in Bargusin).13 Beide lassen einen als Objekte vergleichbaren und in ihrer Qualität doch (ästhetisch und medial) differenten Umgang mit dem romantischen Überschuss erkennen, der Werk und Leben von Mácha und Petőfi, zumal im (rezeptiven) Rückblick entscheidend prägt: bei Mácha die von Brabec vollbrachte affirmative Vereinfachung von Bedeutungszusammenhängen und -verfahren bis hin zur Kitschisierung; für Petőfi die als in Einzelzügen vereinfachende und gar verkitschende Inszenierung der Figur, wobei diese Darstellungsweisen zugleich ironisch-spielerisch relativiert werden. In beiden Beispielen, dem Máj-Film und dem Gedicht von Parti Nagy, sind die Darstellung kultureller Ikonen und der Ästhetik des Kitsches eng miteinander verknüpft: Der Unterschied besteht allerdings darin, dass Brabecʼ Film diese Ästhetik an keiner Stelle relativiert, wohingegen in Petőfi Barguzinban derartige ästhetische Mittel ironisch und spielerisch eingesetzt werden. Diese Differenz lässt sich jedoch mit Blick auf die Mácha- und Petőfi-Rezeption nicht verabsolutieren oder generalisieren. Vielmehr ist unbedingt anzumerken, dass weder das Mácha-Nachleben ausschließlich als populärer Kitsch zu sehen ist, noch, dass alles Petőfi-Nachleben allein als raffiniertes Spiel mit nationaler Kontaminierung daherkommt.

|| Centuries. Volume IV: Types and Stereotypes. Hg. von Marcel Cornis-Pope und John Neubauer. Amsterdam 2010, S. 11–132. Dort finden sich Beiträge zu Mácha (von Robert Pynsent, s. u.) und Petőfi (John Neubauer: Petőfi: Self-Fashioning, Consecration, Dismantling, S. 55.) Siehe weiterhin: John Neubauer: Mácha, Petőfi, Mickiewicz. (Un)wanted Statues in East-Central Europe. In: Commemorating Writers in Nineteenth-Century Europe. Nation-Building and Centenary Fever. Hg. von Joep Leerseen und Ann Rigney. Basingstoke, New York 2014, S. 250–261. 13 Lajos Parti Nagy: grafitnesz. Versek [grafitnesz. Gedichte]. Budapest 2003; s. auch die illustrierte Ausgabe des Gedichtes: Lajos Parti Nagy: Petőfi Barguzinban [Petőfi in Bargusin]. Mit Illustrationen von András Felvidéki. Zebegény 2009.

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3 Expositio I: Der dionysische Mácha und die Kino-Romantik Karel Hynek Mácha, geboren 1810 in Prag und gestorben 1836 in Litoměřice / Leitmeritz, der Nationaldichter der tschechischen Romantik (oder zumindest der tschechischen romantischen Liebe) ist eine Figur der Krise – wie dies von einem jungen Autor, dessen literarische Vorbilder George Byron und Adam Mickiewicz sind, erwartet werden kann.14 Máchas Krise ist vor allem die Krise eines Kulturmodells – und zwar des Modells des vlastenecký romantismus (patriotische Romantik), nach dem es Aufgabe und gar Berufung eines guten tschechischen Literaten sein sollen, den nationalen Geist des eigenen Volkes reichlich mit der eigenen Kunst zu ,nähren‘. Grundsätzliche Bestandteile solch einer romantischen Diät sind dabei erstens die Pflege der tschechischen Sprache, zweitens die Pflege der tschechischen Volkskultur, drittens die Pflege der tschechischen Geschichte und viertens die Pflege der tschechischen Wiedergeburt als Gegenkraft zur Übermacht der Deutschen in den Ländern der Böhmischen Krone.15 Mácha weicht vom Modell der patriotischen Romantik ab, indem er deren Aufgaben nur halbwegs

|| 14 Siehe einführend: Karel Hynek Mácha: „Die Liebe ging mit mir…“. Prosa, Poesie, Tagebücher. Stuttgart, München 2000 (anthologische Textauswahl, mit einem Nachwort von Holt Meyer); Walter Schamschula: Geschichte der tschechischen Literatur. Band II: Von der Romantik bis zum Ersten Weltkrieg. Köln, Weimar, Wien 1996, S. 6–17; Jan Lehár, Alexandr Stich, Jaroslava Janáčková und Jiří Holý: Česká literatura od počatků k dnešku [Tschechische Literatur von den Anfängen bis heute]. Praha 1997–1998, S. 213–218. 15 Siehe zur tschechischen Romantik Miloš Sedmidubský: Tschechische Literatur zwischen nationaler Romantik, Weltschmerz und Biedermeier. In: Europäische Romantik III. Restauration und Revolution. Hg. von Norbert Altenhofer und Alfred Estermann. Wiesbaden 1985, S. 463–481; Dalibor Tureček und Kollektiv: České literární romantično. Synpoticko-pulzační model kulturního jevu [Das tschechische Literarisch-Romantische. Synoptisch-pulsierendes Modell eines Kulturphänomens] Brno 2012; Dalibor Tureček: Synpoticko-pulzační model českého literárního romantismu [Ein synoptisch-pulsierendes Modell der tschechischen literarischen Romantik]. In: World Literature Studies 20 (2011) H. 3, S. 25–38. Die Forschungsgruppe um Tureček arbeitet mit einem dynamisch-stratigraphischen Modell der Literaturgeschichte, nach dem einzelne Kulturerscheinungen als Kulturschichten betrachtet werden, die mit anderen, früher oder später entstandenen Schichten koexistieren und in einem Prozess gegenseitiger Beeinflussung interagieren. Dieses Modell berücksichtigt mehrere Ebenen der Interaktion: zwischen Makrobegriffen wie Romantik, Biedermeier, Klassik und Realismus, zwischen unterschiedlichen Ausformungen der Romantik (z. B. der exotischen und subjektiven neben der patriotischen Romantik), zwischen verschiedenen Autoren und zwischen verschiedenen Texten bzw. Textelementen. Siehe unten für die Anwendung dieses Modells auf Mácha.

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zu erfüllen scheint, denn es herrscht unter seinen Zeitgenossen zwar Einstimmigkeit darüber, sein lyrisches Sprachgefühl sei ein Segen für die tschechische Sprache, aber es wird gleichzeitig kritisiert, er behandle die Schätze sowohl der tschechischen Volkskultur als auch der tschechischen Geschichte nicht achtsam genug. Dieser Einwand bezieht sich auf die Tatsache, dass Mácha sich des tschechischen Kulturstoffes bedient, um daraus neogotische Handlungen zu schöpfen, deren Inhalt nach der Meinung seiner Kritiker an Kolportageromane erinnert. Mácha engagiert sich bis auf einige Werke außerdem nicht besonders inbrünstig für die nationale Sache, denn er schreibt mehr über die Liebe als über die Nation und wagt dabei sogar, eine Freundin zu haben, mit der er nicht Tschechisch, sondern Deutsch spricht. Er scheint außerdem – an dieser Stelle anders als Mickiewicz – keinen festen Glauben an das schöpferische Potential seiner Nation und Volkskultur zu hegen und ist ein großer Individualist, der aber nicht einmal den inneren Kräften des Individuums vertraut. Er schreibt streckenweise eher als Quasi-Nihilist, dessen innerliches Phantom eben das Nichts ist, gegen das nicht einmal die Liebe etwas ausrichten kann. Dieser negativ eingestellte Mácha scheint dennoch immerhin energisch genug zu sein, um mit vielen Kollegen aus der Romantikszene zu streiten, sodass einer von ihnen, Josef Kajetán Tyl (1808–1856), über ihn sogar die Erzählung Rozervanec (Der Zerrissene, 1840) verfasst. Mácha ist also kulturgeschichtlich höchst interessant, weil sein Nihilismus und sein Individualismus die Fundamente der patriotischen tschechischen Romantik erschüttern. Diese bilden für diese Art der Romantik einen weltanschaulichen Überschuss, den letztere durch ihre eigenen Bedeutungsschemata schwer einordnen kann. Mácha konfrontiert die tschechische Romantik also mit ihrer eigenen Klassik im engeren Sinne, d. h. mit ihrem Wunsch nach Ausgewogenheit,– einer Ausgewogenheit, die sie im Verhältnis Individuum / Nation verwirklicht sehen will.16

|| 16 Siehe zum „modifikační impuls“ (Veränderungsimpuls), den Mácha für die tschechische Romantik darstellt: Dalibor Tureček: Synpoticko-pulzační model, S. 30–31. Tureček bespricht auch die Ablehnung der romantischen Weltsicht Máchas durch Autoren wie Tyl und Karel Jaromir Erben (1811–1870), die diese als zu individualistisch und pessimistisch betrachten, siehe auch: Ludger Udolph: Erbens Kritik an Máchas ,Nihilismus‘. In: Kapitel zur Poetik Karel Hynek Máchas. Die tschechische Romantik im europäischen Kontext. Beiträge zum Internationalen Bohemistischen Mácha-Symposium an der Universität Potsdam vom 21. bis 22. Januar 1995. Hg. von Herta Schmid. München 2000, S. 74–79. Siehe außerdem die Äußerungen von Máchas Zeitgenossen über ihn und sein Werk in: Pavel Vašák: Literární pouť Karla Hynka Máchy. Ohlas Máchova díla v letech 1836–1858 [Karel Hynek Máchas literarische Wanderung. Der Nachhall von Máchas Werk in den Jahren 1836–1858]. Praha 1981. Zur Einbettung Máchas in die kulturhis-

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Karel Hynek Mácha, der ‚überschüssig‘ Zerrissene, stirbt am 6. November 1836 an Cholera und hinterlässt ein ziemliches Problem für die tschechische Kulturelite, die zu entscheiden hat, was sie mit ihm machen soll. Literaten aus den älteren Generationen spüren genauso wie seine Altersgenossen eine gewisse Verlegenheit, Máchas Bedeutung für die Entwicklung der tschechischen Literatur und Kultur festzulegen – denn sie können nicht umhin, anzumerken, dass Máchas Auffassung der Romantik ziemlich abwegig ist, obwohl seine Arbeit an der tschechischen literarischen Sprache als wertvoller Beitrag betrachtet wird. Diese Autoren müssen dennoch bald feststellen, dass Máchas Andersartigkeit eine große Anziehungskraft auf junge Autoren ausübt – und das nicht unbedingt, weil diese Autoren wie er Quasi-Nihilisten wären –, sondern, weil sie ihn als jemanden bewundern, der sich um die Kulturkonventionen seiner unmittelbaren Umgebung nicht schert und sich vielmehr frei fühlt, seine Sache zu machen. Diese subversive Anziehungskraft stellt für das tschechische Literaturestablishment eine Gefahr dar, und es wird versucht, mit einer ad-hoc-Rezeption gegenzusteuern. Es beginnt also die lange Geschichte des Nachlebens Máchas, das sich zwischen zwei Polen bewegt: Er wird einerseits zum Klassiker im engeren Sinne des Wortes gemacht, d. h. es wird versucht zu zeigen, dass es bei ihm letzten Endes auch um Ausgewogenheit zwischen Welt und Subjekt bzw. um die Nation als Bindeglied zwischen beiden geht – sein weltanschaulicher Überschuss wird also domestiziert; und er wird andererseits als romantischer Klassiker gefeiert, wobei er und sein Werk durchaus als vorbildlich angesehen werden, aber keineswegs weil sie Ausgewogenheit symbolisieren, sondern als Verkörperung des Unangepassten par excellence bzw. als Enthüllung aller Lügen, die sich hinter jeder erstarrten Weltdarstellung verstecken – Máchas weltanschaulicher Überschuss wird somit in diesem Rezeptionsstrang stark hervorgehoben.17 || torische Tradition der Melancholie: Natascha Drubek-Meyer: Allegorische Spuren der Melancholie in Máchas Máj und Marinka. Versuch einer intermedialen Rekonstruktion. In: Kapitel zur Poetik Karel Hynek Máchas. München 2000, S. 260–307. 17 Siehe als Überblick über die Geschichte der Mácha-Rezeption: Robert B. Pynsent: Mácha, the Czech National Poet. In: History of the Literary Cultures of East-Central Europe, S. 56–85. Siehe auch Pavel Vašák: Literární pouť Karla Hynka Máchy und ders.: Česká pouť Karla Hynka Máchy [Die tschechische Wanderung des Karel Hynek Máchas]. Praha 1999 (Sammlung von Texten wie Literární pouť, allerdings vor allem zu erinnerungskulturellen Fragen, siehe auch unten). Siehe zu den Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Mácha und seinen jungen Bewunderern: Dalibor Tureček: Synpoticko-pulzační model, S. 30–31 und 33–35; Miloš Sedmidubský: Tschechische Literatur zwischen nationaler Romantik, Weltschmerz und Biedermeier, S. 467 und 476; Vladimír Macura: Mácha versus Nebeský. In: Kapitel zur Poetik Karel Hynek Máchas. München 2000, S. 80–90. Es ist zwischen einer früheren Gruppe von Máchas Zeitgenossen wie Karel Sabina (1813–1877) und Václav Bolemír Nebeský (1818–1882) und der späteren Generation der

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|| Literaten um den Almanach Máj – z. B. Vítězslav Hálek (1835–1874) – zu unterscheiden: Erstere bewegen sich im Spannungsfeld von Máchas Subjektivismus einerseits und Politik andererseits, wohingegen letztere Setting und Sprache der Mácha’schen Literatur vor allem als stilistische Kulisse verwenden. Diese wie andere Studien über die Mácha-Rezeption scheinen Turečeks Behauptung zu bestätigen, dass die erste Rezeptionsphase eines Autors bestimmend für sein gesamtes Nachleben ist, weil sie die Themen festlegt, über die sich die spätere Wahrnehmung (genauso im Einklang wie polemisch) positionieren wird. Tureček spricht dabei nicht von Phase, sondern von Welle (recepční vlna) und betont damit die Dynamizität des Rezeptionsprozesses: Dalibor Tureček: České literární romantično, S. 106–112. Eine exemplarische Bedeutung in Bezug auf die Dynamizität der Mácha-Rezeption ist der Interpretation seines Gedichts Češi jsou národ dobrý [Die Tschechen sind ein gutes Volk] zuzuschreiben, das Mácha seinem Poem Máj voranstellt. Dieser Text ist, wie der Titel suggeriert, ein Lobgesang auf das tschechische Volk und seine Tugend, und weicht als solcher vom Hauptthema in Máj ab, d. h. Liebe, Gewalt und Nihilismus ohne Rücksichtnahme auf nationale Fragen. Die Feststellung dieser Tatsache hat nicht nur dazu geführt, dass das Gedicht in den ersten Ausgaben von Máj nach Máchas Tod bis 1886 nicht mitgedruckt wurde, sondern es ist im 20. Jahrhundert auch zu unterschiedlichen Lektüren dieses Textes gekommen. Roman Jakobson äußert beispielsweise in den 1930er Jahren die Meinung, dass Mácha mit Češi jsou národ dobrý den vlastenecký romantismus parodieren möchte und Karel Janský stimmt in den 1950er Jahren Jakobsons These zu, ergänzt sie aber, indem er darauf hinweist, dass Máchas Gedicht nur eine versteckte Parodie ist: Denn der Text hat nach Janský die strategische Funktion, die Befürworter der patriotischen Romantik, die Máchas Literatur kritisieren, zu beschwichtigen. Jakobsons und Janskýs Interpretationen werden dennoch in den 1980er Jahren von František Černý im Grunde widerlegt: Er behauptet nämlich, dass Mácha mit seinem Gedicht einen ernsthaften Dialog mit der patriotischen Literatur sucht – u. a. mit Tyl, dessen společná píseň Kde domův můj? [Wo ist meine Heimat?] bereits im Laufe des 20. Jahrhunderts den Rang eines Nationalliedes erlangt hatte, bevor seine erste Strophe ab der Zwischenkriegszeit zum tschechischen Teil der Nationalhymne der Tschechoslowakei und ab 1993 (nach der Trennung Tschechiens und der Slowakei) zur tschechischen Hymne wurde (das Lied stammt aus Tyls Theaterstück Fidlovačka aneb Žádný hněv a žádná rvačka aus dem Jahr 1834 [Fidlovačka, oder Kein Zorn und keine Rauferei – die fidlovačka ist ein Prager Volksfest]). Jakobsons und Janskýs Interpretationen heben also die Überschüssigkeit von Máchas Romantik gegenüber seiner Zeit hervor, während Černýs Lektüre diese Überschüssigkeit relativiert (– aber letztendlich nicht negiert, denn Černý bemerkt, dass Máchas Versuch, patriotisch zu schreiben, nicht sehr gelungen ist, weil die Poetik der politischen Romantik ihm doch nicht nah genug ist, um überzeugend daraus schöpfen zu können). Siehe zu Češi jsou národ dobrý: Robert Pynsent: Mácha, S. 57; Roman Jakobson: K popisu Máchova verše. [Zur Beschreibung von Máchas Vers]. In: Torso a tajmeství Máchova díla. Sborník pojednání Pražského linguistického kroužku [Torso und Geheimnis von Máchas Werk. Aufsatzsammlung des Prager Linguistenkreises]. Praha 1938, S. 207–278 (zu Češi jsou národ dobrý S. 257–258); Karel Janský: Karel Hynek Mácha. Život uchvatitele krásy [Karel Hynek Mácha. Das Leben eines Eroberers der Schönheit]. Praha 1953, S. 265. František Černý: Máchův pokus o společnou píseň Čechů [Máchas Versuch über ein gemeinsames Lied der Tschechen]. In: Pavel Vášák: Prostor Máchova díla [Der Raum von Máchas Werk]. Praha 1986, S. 211–230.

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Josef Václav Myslbeks Mácha-Statue aus dem Jahr 1912 kann als Beispiel für die Domestizierung des Mácha’schen Überschusses gelten, denn sie modelliert den Dichter als Sänger der biedermeierlichen Liebe – d. h. sie idyllisiert ihn und blendet die Tragik seiner nihilistischen Liebeskonzeption aus.18 Diese Herangehensweise an Mácha wird in den 1930er Jahren, zur Zeit des Jahrestages seines Todes (1936), zur polemischen Zielscheibe der tschechischen Surrealisten. Diese plädieren in ihrem Nachwort zur Publikation Ani labuť ani Lůna [Weder Schwan noch Mond] dafür, Mácha aufgrund seines Werkes und seiner privaten Schriften zu interpretieren und betonen das Verstörende und Unheimliche seiner Literatur: Die revolutionären und glühenden Funken von Máchas Poesie haben sich unter der Asche von hundert Jahren Konformismus erhalten, um mit einer phantastischen Flamme vor den Augen der revolutionären Avantgarde der Poesie und des Gedankens zu entbrennen, deren Verhältnis zur zeitgenössischen Gesellschaft und ihrer Kultur eine ebenso unfreundliche Begegnung darstellt. Mögen die amtlich berechtigten Schriftsteller ihre akademischen oder religiösen Götzenbilder verherrlichen, mögen die Redner der Bourgeoisie ihre Toten bestatten: Aber die romantische Revolte Karel Hynek Máchas kann nicht kanonisiert und abgestumpft werden. Eine Poesie, die von der Welt der Bourgeoisie ausgewiesen wurde, wird nie wieder zum Eigentum und zur Dekoration spießbürgerlicher Ordnung.19

|| 18 Siehe dazu die Anmerkungen von Karel Václav Rais (1859–1926) zu Myslbeks Statue, veröffentlicht in Pavel Vašák: Česká pouť Karla Hynka Máchy, S. 130–138. 19 Ani labuť ani Lůna. Sborník k stému výročí smrti Karla Hynka Máchy [Weder Schwan noch Mond. Sammelband zu Karel Hynek Máchas hundertstem Todestag]. Hg. von Vítězslav Nezval. Praha 1995. Nachdruck der Originalausgabe von 1936, S. 83. [„Revoluční a žhnoucí jiskry Máchovy poesie se udržely pod popelem století konformismu, aby zahořely úžasným plamenem před očima revoluční avantgardy poesie a myšlenky, jejíž poměr k současné společnosti a její kultuře je také nepřátelským utkáním. Ať si oslavují úředně oprávnění spisovatelé své akademické či církevní a patriotické modly, ať řečníci buržoasie pohřbívají své mrtvé: romantická revolta Karla Hynka Máchy však nemůže být kanonisována a otupena. Poesie, vypověděná z buržoasního světa, nestane se už nikdy vlastnictvím a dekorací měšťáckého pořádku“]. Das Nachwort trägt die Unterschriften von dreizehn Exponenten der tschechischen (in einem Fall slowakischen) Avantgarde: Konstantin Biebl, Bohuslav Brouk, Emil František Burian, Adolf Hoffmeister, Jindřich Honzl, Jaroslav Ježek, Záviš Kalandra, Vincenc Makovský, Vítězslav Nezval, Laco Novomeský, Jindřich Štyrský, Karel Teige und Toyen. Einer der Beiträger, der Literat und Psychoanalytiker Bohuslav Brouk, fasst auf prägnante Art zusammen, inwiefern Máchas „romantische Revolte“ zum „Eigentum“ und zur „Dekoration spießbürgerlicher Ordnung“ geworden ist: „Obwohl Máchas Máj eher nach Richtplatz und Friedhof riecht als nach blühender Mainatur und eher nach unbändiger verbrecherischer Leidenschaft als nach sentimentaler Liebessehnsucht, ist Mácha gerade zum Patron von Studentenlieben geworden, Beschützer von Stelldicheins naiver Liebender und Symbol der körperlich anspruchlosen Träume alter Jungfern.“ [„Ačkoliv Máchův Máj čpí spíše popravištěm a hřbitovem, než kvetoucí májovou přírodou a spíše nezkrotnou zločinnou vášní, než sentimentálním milostným

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Die Auseinandersetzung über die richtige Art und Weise, Mácha als Klassiker zu rezipieren, setzt sich durch das gesamte 20. bis ins 21. Jahrhundert fort. Sie zeigt dabei, dass sowohl die überschussfeindliche als auch die überschussfreundliche Wahrnehmung des Dichters darauf angelegt sind, sich zu popularisieren bzw. || roztoužením, přece se stal Mácha patronem studentských lásek, ochráncem dostaveníček naivních milenců a symbolem tělesně nenáročných snů starých panen.“] (Bohuslav Brouk: Máchuv kult aneb Šosácké pojetí našich velikánů [Der Mácha-Kult oder die stockkonservative Auffassung unserer Großen]. In: Ani labuť ani Lůna. Praha 1995, S. 78. Brouk kritisiert auch den literarischen Tourismus, der 1936 als Bestandteil der erinnerungskulturellen Initiativen zum Jahrestag von Máchas Tod insbesondere am Todesort des Autors in Litoměřice stattfand: „Den Hauptanteil aus den Mácha-Gewinnen wird dieses Jahr selbstverständlich Litoměřice haben. Die dortigen Gewerbetreibenden warten sicherlich schon mit Ungeduld darauf, wieviel ihnen das ungeheuerliche Denkmal bringt, das hier feierlich zu Máchas Ehre enthüllt werden wird. Die Besucherströme hinterlassen dort zweifelsohne genug Geld für Verpflegung und Unterkunft und ihr Durst lässt die Gewinne der Litoměřicer Brauerei spürbar steigen. Schließlich haben auch hiesige unternehmungslustige Papierhändler Gelegenheit dazu, sich mit dem Verkauf der Postkarten von Máchas Sterbehaus, Grab usw. zu bereichern.“ [„Hlavní účast na tržbě z Máchy budou mít letos ovšem Litoměřice. Tamější živnostníci očekávají jistě již s netrpělivostí, kolik jim vynese nestvůrný pomník, který tu slavnostně Máchovi bude odhalen. Bezpochyby zanechají tam proudy návštěvníků dosti peněz za stravu a nocleh, a jejich žízeň citelně zvýší zisky litoměřického pivovaru. Konečně i místní podnikaví papírníci mají příležitost obohatiti se prodejem pohlednic s Máchovým úmrtním domem, hrobem a pod.“] (Ebd., S. 79). Brouk macht auch auf die Tatsache aufmerksam, dass Litoměřice eine mehrheitlich deutschsprachige Stadt war, und betrachtet den Mácha-Tourismus deshalb als „nationalistischen Spaß“ („nacionalistický hec“), der sich negativ auf das angespannte Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen in der Tschechoslowakei der 1930er Jahre auswirkt. Diese Anmerkung ist insofern interessant, als Mácha in den darauffolgenden Jahren eine Rolle in der Geschichte des deutsch-tschechischen Konflikts spielt: 1938 wurde seine Leiche in Litoměřice exhumiert und nach Prag überführt – und zwar wenige Stunden, bevor Hitlers Deutschland nach den Ergebnissen des Münchner Abkommens in die mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete der Tschechoslowakei (das sogenannte Sudetenland) einmarschierte. Mácha wurde 1939 im nationalsozialistisch besetzten Prag auf dem Vyšegrader Friedhof feierlich begraben, auf dem seit dem 19. Jahrhundert viele wichtige Persönlichkeiten der tschechischen Kultur ihre Ruhestätte haben. Die Rede, die Bohumil Stašek, der Kanoniker von Vyšegrad, hält, wird von Tausenden Zuhörern als indirekte Widerstandsaktion gegen die deutsche Besatzung aufgefasst. Die Ereignisse um Máchas Grabstätte in Litoměřice und Prag machen auf zwei Elemente aufmerksam, die im Umgang mit kulturellen Ikonen besonders relevant sind: Die Erinnerungsgeographie einer Ikone und die Bedeutung ihrer Leiche. Diese beiden Aspekte werden hier nicht tiefer analysiert, sie werden allerdings in Hinsicht auf Petőfi ausführlicher behandelt. Siehe zu den erinnerungskulturellen Initiativen zu Mácha um das Jahr 1936 in Litoměřice die kulturwissenschaftliche Analyse von Gisela Kaben: Mácha-Rezeption. Die Jubiläumsfeier 1936 in Leitmeritz und ihr Umfeld. Hamburg 2016. Die Studie beinhaltet anregende Schlussanmerkungen über die Vermengung von facta und ficta als Bestandteil von Rezeptionsprozessen. Siehe zur Überführung der Leiche Máchas nach Prag und der Mácha-Rezeption im Protektorat: Robert Pynsent: Mácha, S. 65–66.

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sich einiger Elemente der Populärkultur zu bedienen. Die Reproduktion von Myslbeks Mácha-Statue in Prag, die den Liebenden jedes Jahr am 1. Mai im Rahmen eines kleinen Festes auf dem Petřín (nicht weit von der Originalstatue) für Fotografien zur Verfügung gestellt wird (Abb. 3), veranschaulicht sehr deutlich eine Art der Popularisierung, die Mácha als Autor der idyllischen und harmonischen bzw. ausgewogenen Liebe betrachtet.20

Abb. 3: Fotokulisse für das Fest auf dem Petřín, Prag, 1. Mai 2017 Foto: Stephan Krause 2017.

František Brabec’ Film Máj aus dem Jahr 2008 – eine Adaption von Máchas Hauptwerk – stellt dagegen ein Beispiel ambivalenten Umgangs mit Máchas überschüssiger Weltanschauung dar. Der Film erzählt nämlich gar keine ausgewogene Liebesgeschichte, denn er folgt der neugotischen Handlung von Máj, in der Vater und Sohn dieselbe Frau begehren, der Sohn den Vater umbringt, die Frau Selbstmord begeht und der Sohn hingerichtet wird. Der Film unterscheidet

|| 20 Dieses Fest – Den s Máchou [Ein Tag mit Mácha] – ist eine Veranstaltung des Prager Stadtmuseums. Sie bezieht sich auf eine ältere Prager Tradition, nach der die Liebenden am 1. Mai auf dem Petřín spazieren gehen und Blumen an der Mácha-Statue ablegen, siehe http:// www.muzeumprahy.cz/den-s-machou-2017 [abgerufen am 23.9.2017].

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sich allerdings insofern vom Text, als er dessen philosophische Komponente stark reduziert, die Mácha durch die Gedanken und Gefühle des hinzurichtenden Sohnes als halluzinierte Meditation über das Nichts ausgestaltet. Diese Gedanken und Gefühle werden im Film durch lange Szenen ersetzt, welche die Sinnlichkeit der Liebe zwischen den Figuren darzustellen haben und sich dabei möglicherweise auf einige Notizen beziehen, die Mácha in seinem Tagebuch aus dem Jahr 1835 über den Sex mit seiner Geliebten gemacht hat.21 Es geht dabei um Szenen des Überschusses, welche den sinnlichen Reiz des Begehrens in dessen sowohl lebensbejahender als auch -zerstörender Form inszenieren. Der Film Máj präsentiert Máchas Text also als dionysisches Werk,22 spricht dem Dichter jede Vorstellung biedermeierlich ausgewogener Liebe ab und ist insofern auch überschussfreundlich (es ist diesbezüglich kein Zufall, dass die Sexszenen aus den Tagebüchern auch bei den Surrealisten große Begeisterung erregten).23 Die Überschussfreundlichkeit von Brabec’ Filmszenen hat jedoch etwas Konventionelles, denn die aneinander riechenden, sich streichelnden und liebenden Körper der schönen Schauspieler verweisen auf eine Sprache, die vielen sehr vertraut ist und der eine bekannte symbolische Ordnung relativ einfach zuzuschreiben ist – es handelt sich um die Bildsprache des romantischen Filmgenres, das in seiner populärsten Variante dazu neigt, das Liebesbegehren als ein Geschäft zwischen Menschen darzustellen, die alle gut aussehend sind und wann immer besonders schnell erregt sind, ganz ungeachtet dessen, ob ihre Liebe ein happy end haben wird oder nicht.24 Man kann diese Sprache in Anlehnung an Milan Kundera (*1929) als kitschig bezeichnen, denn sie inszeniert nicht nur die „Diktatur des Herzens“, sondern diese Diktatur wird so modelliert, dass sie immer äußerst

|| 21 Siehe Karel Hynek Mácha: „Die Liebe ging mit mir…“, S. 364–380. Die Geschichte dieser Notizen ist signifikant, weil Mácha sie verschlüsselt hatte. Sie wurden erst am Ende des 19. Jahrhunderts teilweise von dem Schriftsteller Jakub Arbes (1840–1914) und in den 1920er Jahren von Karel Janský vollständig entziffert. Janský erlaubte jedoch ihre Veröffentlichung nicht. Siehe Pavel Vašák: Šifrovaný deník Karla Hynka Máchy [Karel Hynek Máchas chiffriertes Tagebuch]. Praha 2007. 22 Siehe zum Dionysischen: Barbara von Reibnitz, Michèle Cohen-Halimi, Jochen Zwick und Michail Bezrodnyi: Art. Apollinisch – dionysisch. In: ÄGB. Band 1, Absenz bis Darstellung. Stuttgart 2000, S. 246–271; Massimo Fusillo: Il dio ibrido. Dioniso e le „Baccanti“ nel Novecento [Der hybride Gott. Dionysos und die Bacchanten im 20. Jahrhundert]. Bologna 2006, S. 15–80. 23 Die Surrealisten und die ihnen nahen Forscher der Prager strukturalistischen Schule, insbesondere Roman Jakobson, wiesen auf den erotischen Inhalt im Tagebuch hin und verlangten dessen Veröffentlichung. Sie gerieten dabei in einen Konflikt mit Janský, der sogar gerichtlich ausgetragen wurde. Siehe ebd., S. 60–135. 24 Siehe zum Genre des romantischen Films: Anette Kaufmann: Der Liebesfilm. Spielregeln eines Filmgenres. Konstanz 2007.

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schön, obwohl tragisch ist. Sie ist „die absolute Negation der Scheiße“ im Leben der Menschen: Die Mißbilligung der Scheiße ist metaphysischer Natur. Der Moment der Defäkation ist der tägliche Beweis für die Unannehmbarkeit der Schöpfung. Entweder oder: entweder ist die Scheiße annehmbar […] oder aber wir sind als unannehmbare Wesen geschaffen worden. Daraus geht hervor, daß das ästhetische Ideal des kategorischen Einverständnisses mit dem Sein eine Welt ist, in der die Scheiße verneint wird und alle so tun, als existierte sie nicht. Dieses ästhetische Ideal heißt Kitsch.25

Die plakative Verklärungskraft des Kitsches, auf der Brabec’ Adaption von Máj basiert, stellt jedoch nicht jeden Rezipienten zufrieden, wie sich an der Filmrezension des Literaturwissenschaftlers Petr A. Bílek (*1962) in der Kulturzeitschrift A2 ablesen lässt: Das Problem […] liegt darin, das Brabec’ Auslegung [von Máchas Gedicht] im Gegenteil sehr erwartet, langweilig, uninteressant ist. Er weiß sich über Máchas Gedicht keinen Rat und er flieht deshalb davor in die „reale“ Geschichte, die den Dichter inspiriert haben soll [d.h. ein historisch dokumentierter Vatermord aus Liebesgründen, von dem Mácha erfahren hatte]26; das Problem ist bloß, dass sich Mácha dieser Geschichte aus gewissen Gründen – die für Brabec und die Drehbuchautorin nicht sehr verständlich sind – nicht ausreichend gewidmet hat, und er, statt über einen hübschen Liebesmord zu schreiben, über die uninteressante Metaphysik des Daseins auf der Welt geschrieben hat.27

|| 25 Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Übersetzt von Susanne Roth. Frankfurt am Main 1987, S. 237–238. Hervorhebungen im Original. [„Nesouhlas s hovnem je metafyzický. Chvíle defekování je každodenní důkaz nepřijatelnosti Štvoření. Buď, anebo: buď je hovno přijatelné […], anebo jsme stvořeni nepřijatelným způsobem. Z toho vyplývá, že estetickým ideálem kategorického souhlasu s bytím je svět, v němž je hovno popřeno a všichni se chovají, jakoby neexistovalo. Tento estetický ideál se imenuje kýč“]. Siehe als begriffsgeschichtliches Gegenstück zu Kunderas Definition des Kitsches: Dieter Kliche: Art. Kitsch. In: ÄGB. Band 3. Stuttgart 2001, S. 272–288. 26 Vgl. Jan Čáka: Poutník Mácha [Mácha der Wanderer]. Praha 22006, S. 138. 27 Petr A. Bílek: Byl Brabcův Máj, byl žvástu čas. Erotická báseň, nebo kritika konzumerismu? [Des Brabec’ Máj, des Schwatzes Zeit. Erotisches Gedicht oder Kritik des Konsumismus?] In: A2 37 (2008): https://www.advojka.cz/archiv/2008/37/byl-brabcuv-maj-byl-zvastu-cas [abgerufen am 14.12.2014]. [„Problém […] spočívá v tom, že Brabcův výklad je naopak […] velice očekávaný, nudný, nezajímavý. S Máchovou básní si neví rady, a proto od ní utíká k ,reálnéʻ historce, jež měla básníka inspirovat; akorát že z nějakých – pro Brabce i scenáristku nepříliš pochopitelných – důvodů se jí Mácha nevěnoval dostatečně a místo o pěkném mordu z lásky psal o nezajímavé metafyzice bytí ve světě“]. Der Titel von Bíleks Rezension ahmt die oben bereits zitierten ersten Verse von Máj spielerisch nach.

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Bíleks Urteil über Brabec’ Film erinnert in seinem Duktus an die Kritik der Surrealisten an dem Mácha-Kult der 1930er Jahre, denn sowohl ersterer als auch letztere kritisieren durch ihre Stellungnahmen die Normalisierung der Bedeutung von Máchas Leben und Werk – d. h. jene Formen der Mácha-Rezeption, welche den Erwartungshorizont der Rezipienten nicht herausfordern, sondern deren Denk- und Fühlweisen bestätigen. Bíleks Argumentation zeigt aber auch, dass sich der Erwartungshorizont der Rezipienten im Laufe des 20. Jahrhunderts etwas verändert hat, denn es geht im 21. Jahrhundert nicht mehr darum, das Überschüssig-Dionysische in der Mácha’schen Darstellung der Liebe zu neutralisieren, sondern ganz umgekehrt darum, den Überschuss zu zelebrieren. Diese Zelebrierung erweist sich nach Bílek jedoch insofern als eine Reduktion der Mácha’schen Überschüssigkeit, als sie den nihilistischen Pol der Weltanschauung des Dichters – seine Metaphysik eben – vollkommen vernachlässigt. Der Nihilismus scheint damit jenen Aspekt der Mácha’schen Weltsicht darzustellen, gegenüber dem die Rezeptionsgeschichte des Autors eine konstant ambivalente Haltung hat, denn sein Pessimismus scheint den Erwartungshorizont sowohl der Moderne als auch der Postmoderne herauszufordern – obwohl einige Interpreten in jeder Epoche stark machen, diesen Aspekt als einen wertvollen Bedeutungsüberschuss der Poetik Máchas zu berücksichtigen. Diese Feststellung am Beispiel des Nachlebens Máchas wirft dennoch zwei Fragen auf: Es bleibt erstens zu erklären, warum in der Postmoderne eine fortgeschrittene Verschiebung im Umgang mit der Idee des Überschusses festzustellen ist. Überschuss ist nämlich in dieser Kulturepoche immer seltener als solcher bzw. als das Unausgewogene verpönt – wie noch in der Klassik –, sondern er wird vielmehr gerade deswegen geschätzt, weil er exzessiv ist – und er wird, anders als in der Moderne und Spätmoderne, nicht nur von besonderen Akteursgruppen wie beispielweise den Surrealisten, sondern ziemlich im Allgemeinen und gar durchschnittlich propagiert. Es ist also zu fragen, ob dieser Prozess, der zu dieser Verschiebung führt, nicht schon in der Romantik ansetzt, welche den Überschuss zu einem Merkmal der eigenen Klassizität erhebt. Es ist zweitens zu erklären, inwiefern der Kitsch mit diesem Prozess zu tun hat, denn Kitsch als Verklärung der Welt kann sowohl als Simplifizierung der Prinzipien der Klassik über die einfältige Affirmation der Ausgewogenheit der Dinge erfolgen als auch die Vorstellungen von Romantik, von Anteilen der Moderne und in der Postmoderne vereinfachen und diese zu einer einseitigen Behauptung des Überschüssigen als lebensbejahender Lebenskraft reduzieren. Korollar zu dieser Frage ist außerdem, aus welchen Gründen und mit welcher Funktion Kitsch in der Kultur entsteht.

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4 Expositio II: Der Baikalische Petőfi-Petrovics in Bargusin Sándor Petőfi wurde am 30. oder 31. Dezember 1822 oder am 1. Januar 182328 in Kiskőrös geboren, einer Kleinstadt in der Großen Tiefebene, gelegen ca. 140 km südlich von Budapest. Soviel lässt sich ‚sicher‘ über den romantischen,29 bedeutendsten, am meisten verwendeten und eingespannten, am meisten gedreht-und-gewendeten, am frequentesten herzitierten, am meisten vulgarisierten, am häufigsten, und zwar in jeder denkbaren couleur, politisierten, mit den meisten Straßennamen, Gedenktafeln und Denkmälern geehrten, am häufigsten und bis zur Lächerlichkeit der so Handelnden mythisierten, nicht abschließend edierten, ins Deutsche zu wenig und verbogen,30 ja schlecht und

|| 28 Ferenc Kerényi: Petőfi Sándor élete és költészete [Leben und Dichtung Sándor Petőfis]. Budapest 2008, S. 21–24 behandelt die Frage und die Eruierbarkeit des genauen Geburtstages ausführlich. Das zumeist genannte Datum 1.1.1823 wird durch die angeführten Überlegungen und Nachweise gegenüber dem vorletzten Tag des Jahres sehr unwahrscheinlich. Einzige belastbare Referenz bleibt das Taufregister der Gemeinde Kiskőrös, aus dem sich das Geburtsdatum 30.12.1822 erschließen lässt (vgl. Ferenc Kerényi: Petőfi élete, S. 23). 29 Zu Epochenproblemen der ungarischen Romantik s. u. a.: Zoltán Hermann: A boldogtalanság iskolája. Esszék, tanulmányok az érzénkenység és a romantika korának magyar irodalmáról [Die Schule des Unglücklichsein. Essays und Aufsätze über die ungarische Literatur der Empfindsamkeit und der Romantik]. Budapest 2015; Róbert Milbacher: Bábel agoráján. Esszék, tanulmányok a nemzeti irodalomról. [In der Agora von Babylon. Essays und Studien zur Nationalliteratur]. Pécs 2015; Pál S. Varga: Az újraszőtt háló. Kultúrális mintázatok szerepe a felvilágosódás utáni magyar irodalomban [Das neu geknüpfte Netz. Die Rolle kultureller Muster in der ungarischen Literatur nach der Aufklärung]. Budapest 2014; Ders.: Kunstzentrierte Entfaltung des Literarischen. Die klassische ungarische Literatur 1825–1890. In: Geschichte der ungarischen Literatur. Eine historisch-poetologische Darstellung. Hg. von Ernő Kulcsár Szabó. Berlin 2013, S. 133–263; György Eisemann: A későromantikus magyar líra. Budapest 2010; ‚Mit jelent a suttogásod?‘ A romantika: eszmék, világkép, poétika. Tanulmányok [‚Was bedeutet dein Geflüster?‘ Die Romantik: Geist, Weltbild, Poetik. Studien]. Hg. von Imre Nagy und Annamária Merényi. Pécs 2002; Europäische Romantik und nationale Identität. Sándor Petöfi im Spiegel der 1848er Epoche. Hg. von Csilla Erdödy-Csorba. Baden-Baden 1999; György Eisemann: A folytatódó romantika [Die kontinuierliche Romantik]. Budapest 1999; Klasszika és romantika között [Zwischen Klassik und Romantik]. Hg. von Ferenc Kulin und István Margócsy. Budapest 1990; Sándor Fekete: Petőfi romantikájának forrásai [Die Quellen von Petőfis Romantik]. Budapest 1972; Julius von Farkas: Die ungarische Romantik. Berlin 1931. 30 Dezső Kosztolányi (1885–1936) spräche völlig zu Recht von ferdítés – Verdrehung. Vgl. zu diesem Begriff mit Blick auf die Übersetzung: Dezső Kosztolányi: Ábécé a fordításról és a ferdítésről [ABC der Übersetzung und der Verdrehung]. In: Ders.: Nyelv és lélek [Sprache und Seele]. Hg. von Pál Réz. Budapest 20023, S. 511–515, hier S. 511.

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unlesbar übersetzten, politisch und poetisch spannenden, ästhetisch und sprachlich leichtfüßig erscheinenden und zugleich die Poesie umwälzenden, sehr ungarischen Dichter, der ‚natürlich‘ slawische Wurzeln hat, sagen. In Kiskőrös findet sich eine mit Geburtshaus, Museum, Taufkirche, dem Umriss der väterlichen Schlachtbank, mindestens drei Petőfi-Denkmälern, einer Sammlung von Büsten der internationalen Petőfi-Nachdichter und dem auf das PetőfiGedenken und die Petőfi-Verehrung hin konzipierten Stadtzentrum auf- und ausgebaute Erinnerungstopographie, die als (auto)deiktische Markierung der Geburtsstätte angelegt ist. Der obige ‚Überschuss‘ an Attribuierungen, in einem gewissen Unterschied zur Verehrungsfunktion der Kiskőröser Stadtanlage, weist nur insofern einen ‚Klassiker‘ strictu sensu aus, als Petőfi nicht selten gewissermaßen ‚für alles und jeden herhalten muss‘ und die Nutzung, Benutzung, Ausnutzung und Vernutzung in erster Linie der Figur und weit danach erst der Texte, eine tiefer reichende und an der Literarizität orientierte rezeptive Auseinandersetzung mit diesen Texten mit gleich mehreren Schichten überkrustet. Hierzu zählt oft die Literatur über Petőfi, die nicht selten auch aus pathetischer Bekenntnisliteratur besteht.31

|| 31 Als Hintergrund s. Margócsys fraglos gültige Problematisierung, an die sich die Auszeichnung Petőfis als Klassiker anschließen lässt: „Am wichtigsten ist […], dass die Petőfi-Forschung in jedem Augenblick und in jedem ihrer Ansätze beachten muss, dass der von ihr untersuchte Dichter nicht nur einer unter vielen ausgezeichneten ungarischen Dichtern ist, sondern eine Figur, der in ihrer seit eineinhalb Jahrhunderten tradierten Rezeption auf jeder Ebene, in jeder Zitierweise, in ihrer Person, ihrer Biographie, jedweder ihrer politischen Rollen und ihrer Dichtung […] zahllose kultische Elemente anhaften, die sich von ihr unmöglich im Verlauf eines vermeintlichen geschichtlichen ‚Herausfindens‘ einer faktischen ‚Wahrheit‘ ablösen lassen, denn bereits die von außerordentlich vielen Positionen her sich ausdrückende Leidenschaft, die wiederholt beispielsweise die biographische, politische oder auch poetische Aufdeckung der PetőfiWahrheit betreibt, ist ein untrennbarer Teil des Kults selbst. Dies alles ist nicht nur wichtig, weil das breit aufgefasste (weil anders nicht aufzufassende) Phänomen Petőfi […] weit über die Grenzen der Literatur hinausreicht, worin die historischen, politisch-ideologischen Momente mit mindestens solcher Energie hervortreten, wenn nicht mit größerer als die dichtungsbezogenen, sodass Petőfi also auch in vielen außerliterarischen Kontexten interpretierbar wäre, sondern auch, weil der zugleich literarische und nicht-literarische kultische Charakter des Phänomens Petőfi ohnehin die spezifischen beziehungsweise sich selbst als spezifisch ansehenden Methoden, Fragestellungen und Redeweisen literarischer Annäherungen bestimmt, und zwar zudem so, dass in den meisten Fällen auch noch jene eigentlich überprüfbaren ‚wissenschaftlichen‘ Kategorien, in denen der dichterische Petőfi-Korpus gedeutet wird, durch Kultisches beeinflusst sind, sich der ‚Nachfragepflicht‘ historischen Deutens entziehen und den Dichter und sein Lebenswerk als ‚natürliche‘ oder ‚göttliche‘ Gegebenheiten umarmen.“ [„Ami a legfontosabb […]: a Petőfi-kutatásnak minden pillanatba, s minden mozzanatában figyelembe kell vennie, hogy

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Daneben steht eine unüberschaubar große Menge an Biographik.32 Darüber hinaus aber gibt es keine ungarische Dichterin und keinen ungarischen Dichter, die oder der sich nicht irgendwie zu Petőfi gestellt, sich über ihn geäußert oder mit ihm in Dialog getreten wäre, denn unter unseren heutigen Schriftstellern und Dichtern […] ließe sich kaum jemand nennen (sogar unter den ‚von der Art her‘ am entferntesten stehenden!), der nicht in Gedicht oder Essay versucht hätte, sein ‚Petőfi-Erlebnis‘ oder seine Meinung über Petőfi zu fassen –, ja das Verhältnis zu Petőfi anzuzeigen, ist beinahe ein ‚obligatorischer‘ literarischer Gestus, und zwar auch dann noch, wenn durch dichterisches Spiel das Petőfi-Erbe melancholisch neu geschrieben oder parodiert wird […].33

Dies klingt nach dem Klassiker-Status eines Goethe – ein wenig, denn die beinahe ‚überschüssige‘ Verbreitung der Figur Petőfi als Berufungsinstanz kennt

|| tanulmányozott költője nem csupán egy a sok kiváló magyar költő között, hanem oly figura, kinek másfél száz éve óta hagyományozódott recepciójában, minden szinten, minden idézési modalitásban, mind személyéhez, mind élettörténetéhez, mind politikai szerepéhez, mind pedig költészetéhez […] számtalan olyan kultikus mozzanat tapad, melyeket lehetetlen leválasztani egy feltételezett történeti tényszerű ‚igazság‘ ‚kiderítése‘ során, hiszen már maga az a rendkívül sok oldalról kifejezedő indulat, mely pl. a Petőfi-igazságnak akár életrajzi, akár politikai, akár poétikai jellegű feltárását szorgalmazza ismételten, elkülöníthetetlen része a kultusznak. S mindez nemcsak azért fontos, mert a szélesen értelmezett (mert másképpen nem értelmezhető) Petőfi-jelenség […] messze túlnyúlik az irodalom keretein, s benne a történeti politikai-ideológiai mozzanatok legalább oly erővel, ha nem nagyobbal, szerepelnek, mint a költészetiek, s így Petőfi igen sok irodalmon kívüli kontextusban is értelmezhető lenne; hanem azért is, mert az egyszerre irodalmi és nem-irodalmi Petőfi-jelenség kultikus jellege eleve meghatározza a sajátosnak tekintő irodalmi megközelítés módszertanát, kérdésfeltevéseit és beszédmódját is, ráadásul úgy, hogy a legtöbbször még azok az elvileg ellenőrizhető ‚tudományos‘ kategóriák is, melyek között a Petőfi-féle költészeti korpusz interpretációt nyer, kultikus fényt kapnak, kivonják magukat a történeti értelmezés ‚rákérdezési‘ kötelezettségei alól, s mintegy ‚természeti‘ vagy ‚isteni‘ adottságként fogják körülölelni a költőt és életművét.“] István Margócsy: Petőfi-kísérletek. Tanulmányok Petőfi Sándor életművéről [Petőfi-Versuche. Studien zu Sándor Petőfis Lebenswerk]. Pozsony [Bratislava] 2011, S. 16–17. Hervorhebung im Original. 32 Die erste wissenschaftlich systematische Biographie lag allerdings erst 1921, 72 Jahre nach dem Tod des Dichters vor: János Horváth: Petőfi Sándor. Budapest 1921, auch in: Ders: Irodalomtörténeti munkái IV. Hg. von János H. Korompay und Klára Korompay. Budapest 2008, S. 7–696. 33 István Margócsy: Petőfi-kísérletek, S. 18. „[…] mai élő íróink, költőink közül is […] alig lehetne megnevezni valakit (akár az ‚alkatilag‘ legtávolabb állók közül is!), aki versben vagy esszében ne próbálta volna megfogalmazni ‚Petőfi-élményét‘ vagy véleményét Petőfiről – a Petőfihez való viszony jelzése majdhogynem ‚kötelező jellegű‘ irodalmi gesztusként működik, meg akkor is, ha esetleg a költői játék melankolikusan újraírja vagy parodisztikusan ki is figurázza a Petőfihagyományt […]“.

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nahezu keine Grenzen.34 Petőfi ist zudem unbedingt Dichter, auch von Gelegenheitsgedichten, letzteres jedoch oft mit explizit politischem Anspruch. Petőfi ist zwar Dramatiker und Schauspieler, aber es gibt keinen Faust und auch keine Iphigenie. Petőfi ist zwar Politiker, wollte gar 1848 Abgeordneter im ungarischen Parlament werden, doch ist nie Staatsmann. Er bleibt Revolutionär. Sind das klassische – und hier bekommt das Wort keine Epochensemantik – deutschsprachige Dichterpaar wohl Schiller und Goethe, so wären für Ungarn János Arany (1817–1882) und Sándor Petőfi zu nennen – und doch müsste zunächst ein Maßstab für Status, Reputation, Ikonizität oder Charisma gefunden werden, um zu einem sinnvollen Vergleich zu kommen.35 || 34 So verzeichnen beispielsweise die Künstler Zoltán Csík-Kovács und Gábor Papp im Magyarország szubjektív atlasza [Subjektiver Atlas von Ungarn] insgesamt 2792-mal eine ‚Petőfi Sándor utca‘ in 3154 Orten in Ungarn. Der Dichter liegt damit vor seinem Zeitgenossen Lajos Kossuth (1802–1894), auf den ‚nur‘ 2683 Nennungen entfallen, vgl. Zoltán Csík-Kovács und Gábor Papp: Kossuth vs Petőfi. In: Magyarország szubjektív atlasza / Subjective Atlas of Hungary. Hg. von Attila Bujdosó und Annelys de Vet. Budapest 2011, S. 166. Dort nicht berücksichtigt sind die nach dem Dichter benannten Straßen außerhalb des ungarischen Staatsgebiets, die seit 1920 nicht mehr zu Ungarn gehören, und auch solche außerhalb dieses Raumes. So gibt es z.B. im Kölner Stadtteil Longerich einen Alexander-Petőfi-Platz. Zur Darstellung einer solchen ‚Petőfi-Topographie‘ siehe außerdem: Károly Varjas: Petőfi szobrok hazánkban és határainkon túl [Petőfi-Statuen in unserer Heimat und außerhalb unserer Grenzen] (1850–1988). Budapest 1989; Petőfi emlékhelyek a Kárpát-medencében [Petőfi-Erinnerungsorte im Karpatenbecken]. Hg. von István Asztalos und Rita Ratzky. Kiskőrös 1996. 35 Ohne den Vergleich mithin allzu banal füttern zu wollen, lässt sich kursorisch auf eine (bisher) fundamentale Differenz in der Rezeption zwischen beiden Dichterfiguren hinweisen. Goethe nämlich kann etwa durch den bereits dreiteiligen Klamaukstreifen Fack ju Göthe (2013; Fack ju Göthe 2, 2015; Fack ju Göthe 3, 2017; Regie jeweils: Bora Dağtekin) nur mehr noch als Emblem für eine verlachte Ernsthaftigkeit stehen. Die Folgen des sogenannten ‚Weimarer‘ Tatorts nutzen sporadisch in die Textbücher eingestreute, teilweise zitathafte Referenzen auf das klassische Weimar als ironischen Subtext, der nicht unbedingt die Emblematik des Goethe’schen Namens benötigt. Diese Funktion lässt sich für Petőfi so (noch) nicht ausmachen. Die bereits im Titel angebrachte Referenz auf ihn in dem Film Szabadság, szerelem (2006, Freiheit, Liebe; im internationalen Verleih unter dem Titel Children of Glory; Regie: Krisztina Goda) hingegen fungiert vielmehr als im ungarischen Diskurs seriös und ohne Doppelbödigkeit eingesetzte Kontextualisierung dieses (in Ungarn) allgemein bekannten Petőfi-Vierzeilers mit 1956, dem eigentlichen Thema des Goda-Films: „Szabadság, szerelem! / E kettő kell nekem. / Szerelmemért föláldozom / Az életet, / Szabadságért föláldozom / Szerelmemet.“ (1847; Petőfi Sándor összes művei 5. Kritikai kiadás. Összes költeményei (1847) [Sándor Petőfis sämtliche Werke. 5. Kritische Ausgabe. Sämtliche Dichtungen (1847)]. Hg. von Ferenc Kerényi. Budapest 2008, S. 13; [„Freiheit, Liebe! / Diese brauchʼ ich beide. / Für meine Liebe opfre ich / Das Leben, / Für die Freiheit opfre ich / meine Liebe.“]). D.h., während die Ikonenwerdung eines Goethe als Figur bereits bis ins low der Witze der Massenkultur fortgeschritten zu sein scheint, behält die Figur Petőfi (noch) ihre identifikatorische Kapazität, selbst wenn sich eine ganze Sammlung in seiner Manier geschriebener

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In Petőfis Geschichte ist ein weiterer Punkt sicher: Es gibt keine Leiche. Er kam am 31. Juli 1849 in einem Feuergefecht (eher keiner Schlacht) ungarischer Freiheitskämpfer unter József Bem gegen eine habsburgisch-russische Übermacht bei Fehéregyháza/Albești, unweit von Segesvár/Sighișoara in Erdély/Ardeal/Siebenbürgen zu Tode. Das Ergebnis dieses Gefechtes und folgender Schlachten war nicht nur die Niederschlagung der 1848er/1849er Revolution (Lajos Kossuth trat am 11. August 1849 zurück, General Artúr Görgey [1818–1916] kapitulierte zwei Tage später bei Világos, am 6. Oktober 1849 wurden in Arad an 13 hohen ungarischen Offizieren, den sogenannten ‚Arader Blutzeugen‘, die durch die habsburgischen Sieger verhängten Todesurteile vollstreckt)36, sondern obendrauf ein toter Nationaldichter, dessen Körper verschwunden blieb und bleibt. Petőfi-Legenden bildeten sich umgehend, zumal, da ohne das Auffinden der sterblichen Überreste des Dichters bald vielfach über dessen vermeintliches Überleben und sein vermeintliches klandestines Entkommen spekuliert wurde.37 Die (bis heute) wohl hartnäckigste dieser

|| Gedichttexte finden lässt. Zwar gilt auch diesen und den hier näher untersuchten Beispielen Ironie und die parodistische Anspielung als eines der Hauptmittel – s. u.a. Parnasszus. Költészeti folyóirat [Lyrikzeitschrift] 6 (2000) H. 1, Barguzini versek. Petőfi is írhatta volna [Bargusiner Gedichte. Auch Petőfi hätte dies schreiben können]. Hg. von István Margócsy oder Nemzeti dal / National Song. Adam Makkai fordítása nyomán angolból fordították Eörsi Sarolta és Varró Dániel. In: Sárkányfű. Szépirodalmi és kulturális folyóirat [Nationallied. Nach Adam Makkais Übersetzung aus dem Englischen übersetzt von Sarolta Eörsi und Dániel Varró]. In: Sárkányfű. [Zeitschrift für Literatur und Kultur] 3 (1998) H. 2, S. 23 – doch richtet sich dies zum einen nur bedingt auf die Figur Petőfi als Abzeichen für vermeintlich mit ihm assoziierbare Qualitäten oder Zusammenhänge, denn weit mehr auf eine bereits stattgehabte Ausstülpung der (nationalisierten) Figur in Richtung des unter starrköpfiger Ignoranz fingierten Narrativs von Petőfis angeblicher Deportation nach Sibirien nach dem Freiheitskampf von 1849. 36 Vgl. auch György Dalos: Ungarn in der Nußschale. Geschichte meines Landes. München 2005, S. 105; Holger Fischer: Eine kleine Geschichte Ungarns. Frankfurt am Main 1999, S. 117; István Tóth: Milleniumi magyar történet. Magyarország története a honfoglalástól napjainkig [Ungarische Milleniumsgeschichte. Geschichte Ungarns von der Landnahme bis in unsere Tage]. Budapest 2001, S. 396–398. 37 Als einer der bekanntesten ungarischen Autoren gab Gyula Krúdy diesem unmittelbar auf den Tod Petőfis folgenden Kapitel seines Nachlebens in seinem Roman Ál-Petőfi (1922; PseudoPetőfi) literarische Gestalt. Der Text lässt nicht nur einige Petőfi-Doubles auftreten – durchaus eine Modeerscheinung nach dem Tod Petőfis – und bezeichnet den (die) vermeintlichen Petőfi(s) geheimnisvoll-wissend oft nur mit ‚ő‘ [‚er‘], sondern ironisiert hauptsächlich den Glauben vieler an das unentdeckte Entkommen des Dichters bei Segesvár [Sighişoara] und damit an sein Überund Fortleben und die ‚folgerichtige‘ Notwendigkeit sich permanent versteckt zu halten. Siehe Krúdy Gyula összegyűjtött művei 16. Regények és nagyobb elbeszélések 9, Nagy kópé, Hét Bagoly, Ál-Petőfi. Hg. von László Kelecsényi. Pozsony [Bratislava] 2009, S. 332–477.

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‚haarsträubenden‘38 Legenden lautet, Petőfi sei nicht umgekommen, sondern als russischer Kriegsgefangener nach Sibirien gebracht und dort in einem Gefangenenlager am Baikal festgesetzt worden, wo er 1856 unter dem Namen Alexander Stjepanovics Petrovics39 gestorben sei. Ein entsprechend bezeichnetes Grab wurde in dem burjatischen Städtchen Баргузин [Bargusin] am Ostufer des Sees entdeckt, 1989 geöffnet und zwei übereinander bestattete Leichname gefunden. Den oberen schrieben die Ausgräber Petőfi zu. Allerdings gehörten die Gebeine eindeutig einer Frau.40 Petőfis Leiche war nicht Petőfi. Die Frühjahrsausgabe der Budapester Literaturzeitschrift Parnasszus im Jahr 2000 versammelt Pseudo-Petőfi-Gedichte von 53 zeitgenössischen ungarischen Dichtern. Im Vorwort dazu, einem „literaturgeschichtlichen Pamphlet“,41 treibt der renommierte Petőfi-Forscher István Margócsy – alles andere als ein Unterstützer der sibirischen Exhumierungen – die Geschichte eines am Baikal weiterlebenden Petőfi auf die Spitze und erfindet einen russischsprachigen Gedichtband, angeblich entdeckt im Nachlass Mor Jókais (1825–1904), durch den der sichere Glaube des großen Romanciers und Freundes Petőfis an dessen Fortleben angeblich belegt werde. Eine solche Sammlung und auch deren über den Umweg Esperanto erfolgte ungarischsprachige Übersetzung existieren freilich nicht. Margócsys ‚pamphletische‘ Strategie ist vielmehr, durch die Berufung auf die

|| 38 Vgl. László Kovács: Csalóka lidércfény nyomában. A szibériai Petőfi-kutatás csődje [Auf Spuren eines trügerischen Irrlichts. Das Debakel der sibirischen Petőfi-Forschung]. Budapest 2003, S. 401. Der Band dokumentiert auch ausführlich und kritisch Geschichte und Unwissenschaftlichkeit dieser Unternehmungen sowie die Starrköpfigkeit der Ausführenden. 39 Die Assoziation funktioniert nur, da sein Geburtsname tatsächlich Petrovics lautete und der Dichter ihn erst 1842 zugunsten von Petőfi ablegte, vgl. zum Zustandekommen des Namens: Ferenc Kerényi: Petőfi élete, S. 79–80. 40 Am Ende seines Vorwortes zu dem Band Nem Petőfi! erwähnt János Szentágothai (1912–1994; Professor für Anatomie, 1976–1985 Präsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften) mit lakonischer Ironie, er habe sich „gewünscht, seine Assistenten hätten ihm in allen seinen Vorlesungen einen so charakteristischen weiblichen Beckenknochen in die Hand gegeben, wie den des Bargusiner pseudopetőfis.“ (János Szentágothai: Előszó [Vorwort]. In: Nem Petőfi! Tanulmányok az MTA Természettudományi szakértői bizottsága tagjai és felkért szakértők tollából [Nicht Petőfi! Studien der Mitglieder der naturwissenschaftlichen Kommission der MTA und angefragter Experten]. Hg. von László Kovács. Budapest 1992, S. 8). Die Orthographie im Zitat folgt der bewussten Eigenart der Vorlage, wo Szentágothai das Wort ‚álpetőfi‘ [‚pseudopetőfi‘] kleinschreibt, um Unwissenschaftlichkeit und Betrug der gesamten Unternehmung auch auf diese Weise auszuweisen. 41 István Margócsy: Petőfi Barguzinban. (irodalomtörténeti pamflet) [Petőfi in Bargusin. (literaturgeschichtliches Pamphlet)]. In: Parnasszus 6 (2000) H. 1, S. 3–7. Der Untertitel findet sich nur im Inhaltsverzeichnis.

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Autorität Jókai dem komplett erfundenen Bericht von dem angeblich sensationellen Fund, ein Maximum an Glaubwürdigkeit mitzugeben. Denn der Autor lässt sich erst gar nicht auf die umfangreichen Debatten zur pseudowissenschaftlichen und pseudoarchäologischen Suche nach dem vermeintlichen Leichnam des Nationaldichters ein, sondern bezieht sich auf ein ‚Beweisstück‘, das bei einem Dichter von scheinbar weitaus deutlicherer ‚Beweiskraft‘ ist, nämlich einen angeblich in russischer Sprache von Petőfi verfassten Band Gedichttexte, aus dem er sogar noch in ‚ungarischen Übersetzungen‘ ‚zitiert‘. Allerdings sind diese Texte sehr leicht als absichtlich für diesen Zweck durch Margócsy erstellte ‚Pseudofälschungen‘ zu erkennen. So sind die erwähnten Verse „Téli napnak alkony[ú]latánál / Megállék a Barguzin partjánál“42 [„In der Dämmerung eines Wintertages / Hielt ich beim Ufer des Bargusin an“] ein offensichtliches Pastiche der Eingangsverse des großen Gedichtes A Tisza (1847, Die Theiß), eines kanonischen Petőfi-Klassikers, worin nur die Jahreszeit (‚nyár‘ in ‚tél‘, d. h. ‚Sommer‘ in ‚Winter‘) und der Name des Flusses (aus ‚Tisza‘ wird ‚Barguzin‘) geändert wurden: „Nyári napnak alkonyúlatánál / Megállék a kanyargó Tiszánál“43 [„In der Dämmerung eines Sommertages / Hielt ich bei der sich dahinwindenden Tisza an“], heißt es bei Petőfi. Auch bei aufgeführten Gedichttiteln sind die Petőfi-Originale als Bezugsgrößen leicht zu identifizieren, etwa „Levél Jankele Goldhoz“ [„Brief an Jankele Gold“44] oder „Robbantsátok fel a cárokat“ [„Sprengt die Zaren in die Luft!“]45, worin die Petőfi-Texte Levél Arany Jánoshoz (1847, Brief an János Arany) und Akasszátok föl a királyokat! (1848, Hängt die Könige auf!) wiederzuerkennen sind. Als wäre diese Parodie einer literaturgeschichtlichen Studie, die letztlich auf keine so oder vermutlich so abgelaufene (faktische) Literaturgeschichte verweist, noch nicht genug, fügt sich ihr eine fast nicht glaubhafte Pointe an: Denn zu diesem Aufsatz wurde Margócsy von Mitgliedern der Bargusin-Fraktion erfreut für seinen (vermeintlichen) Sinneswandel beglückwünscht. Lajos Parti Nagys Gedicht Petőfi Barguzinban erschien nicht in der Parnasszus-Sammlung, wiewohl der Text auf die 1989er Grabungsereignisse Bezug nimmt. Er lässt Petőfi selbst als Bewohner des sozialistisch-sowjetischen Bargusin auftreten und setzt den Dichter in die Rolle eines Exulanten. Parti Nagys Text reichert die belächelnswerte Story um die angebliche Petőfi-Leiche im sibirischen Boden noch ironisch-politisch an. Das Gedicht ist durchsetzt mit

|| 42 István Margócsy: Petőfi Barguzinban, S. 6. 43 Petőfi Sándor összes művei 5, S. 27. 44 Der Name spielt auf den Dichter János Arany (‚arany‘–‚Gold‘) an. 45 István Margócsy: Petőfi Barguzinban, S. 6.

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Russizismen und enthält nicht wenige weitere Versatzstücke, an denen sich die typische – oder klassische? – Existenz eines Sowjetbürgers und mehr noch die im Kádár-Ungarn erkennen lässt. So zahlt der romantische Dichter, der bei Parti Nagy gezeigt wird, in seinem vollständig fiktiven Leben z. B. einen Saporoshez (Запорожец) an, einen typischen PKW aus sowjetischer Produktion. Dies leistet er sich, obwohl seine Existenz in dieser nischenhaften Normalität doch eher dürftig ist: Amúgy törekvő, van szoba-konyha, benn van a villany, erre az élet sokáig zordon, aztán elillan, magyar poéta nem él degecre, sőt rabmadára46 Ansonsten ist er strebsam, hat ein Zimmer mit Kochnische, Strom drin, dort ist das Leben lange hart, verlischt dann, der ungarische Dichter macht keine Fettlebe, lebt eher wie eine arme Kirchenmaus

An die Stelle der glorreichen Rückkehr des Poetenkörpers in die Heimat, dessen Bestattung in Budapest47 wohl als national inszeniertes Ereignis vorzustellen wäre, tritt bei Parti Nagy die parodistisch vorgeführte Kleinheit eines Daseins in – dem zumal sowjetischen – Sibirien, wo jedoch nur fiktionale Spuren sich legen und auffinden lassen. Parti Nagys Gedicht ist nicht dazu gemacht, die pseudowissenschaftlichen Theorien von einem in Sibirien, fern der Heimat vor sich hin verkümmernden Nationalpoeten auch nur entfernt zu stützen, schon qua fictio

|| 46 Lajos Parti Nagy: grafitnesz, S. 93. 47 Die Beisetzung der falschen sterblichen Überreste Petőfis war durch Ferenc Morvai und István Kiszely (Anführer und Finanzierer der Sibirien-Expedition mit der Firma Megamorv im Hintergrund) im Familiengrab auf dem Budapester Friedhof an der Fiumei út (auch: KerepesiFriedhof) vorgesehen. Das Grab von Sándor Petőfis Eltern, István Petrovics und Mária Hrúz, und seines Bruders István Petrovics, wo auch Petőfis Frau Júlia und ihr gemeinsamer Sohn Zoltán liegen, befindet sich dort. Diese Beisetzung wurde aus gutem Grund offiziell untersagt, was die Morvai-Gruppe nicht hinderte, eine Parzelle auf dem Friedhof zu erwerben, um den Pseudopetőfi dort widerrechtlich zu begraben (siehe László Kovács: Barguzin fantomja [Das Phantom von Bargusin]. In: Rubicon 26 (2015) H. 7, S. 38–43, hier S. 43 sowie zur dennoch stattgehabten Beerdigung: Benedek Ficsor: Mégis eltemették Petőfi állítólagos maradványait [Petőfis angebliche Überreste wurden doch beigesetzt]. In: Magyar Nemzet 78 (2015) H. 167 (18. Juli 2015), S. 8 und Béla Pomogáts: Petőfi Sándor temetése [Sándor Petőfis Beisetzung]. In: Helikon [Kolozsvár/Cluj] 25 (2015) H. 17, S. 8–9; siehe weiterhin die bebilderte Dokumentation der Grabungsund Begrabungsaktivitäten (bis dato) in: Zoltán Hermann und László Kovács: Petőfi halála [Petőfis Tod]. Budapest, 2016, S. 40–43.) Auf dem Friedhof an der Fiumei út befinden sich zahlreiche weitere Schriftstellergräber beziehungsweise Gräber von wichtigen Politikern und Persönlichkeiten. Dort liegen zum Beispiel Lajos Kossuth und János Arany. Der Friedhof gehört zum Nemzeti Örökség (Nationalen Erbe).

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nicht. Der Text fügt den Absurditäten der Ausgrabungsaktion und ihres zu vernachlässigenden Ergebnisses allerdings ein Surplus hinzu, das die gesamte ohnehin lächerliche Kampagne nicht nur erneut so erscheinen lässt, sondern an dem der ikonische Status der zentralen Figur Petőfi gut zu erkennen ist. Denn Parti Nagys Gedicht lässt den Dichter wie in einer poetischen Geisterbeschwörung – „egy jó pár verszta sugárú körben ébredj, Petőfi“48 [„im Umkreis von einigen Werst, erwache, Petőfi“] – als Projektion seiner selbst in die burjatische Umgebung in der Epoche des sowjetischen Sozialismus auftreten und entlarvt damit noch die starrköpfig überzogene Projektion der ‚Bargusinisten‘49.In der in Parti Nagys Gedicht ironisch aufgegriffenen „Bargusiner Petrovics-Folklore“50 erscheint der sibirische Petőfi als russisch schimpfender Mausoleumswärter und ist eigentlich, ganz den Grabungsresultaten treu, ein traditionell russisch gekleidetes Mütterchen (siehe Abb. 4).

Abb. 4: Illustration zur letzten Strophe von Lajos Parti Nagys Petőfi Barguzinban von András Felvidéki 2009.

|| 48 Lajos Parti Nagy: grafitnesz, S. 93. 49 Ungarisch ‚barguzinisták‘, Bezeichnung, die Sándor Fekete prägte. Egy történeti vita tényei [Tatsachen eines historischen Streits]. In: Nem Petőfi! Hg. von László Kovács, S. 17–37, hier S. 18. 50 Ebd., S. 31.

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Der zur klassischen Ikone erhobene romantische Dichter tritt somit in der ihm nicht minder angedichteten Verkleidung auf, die ihm die zahllosen Windungen seiner Popularisierung eingebracht haben. D. h., aus dem nur vermeintlich krisenhaften Fehlen der kultischen Bezugsgröße Dichterkörper51 erwächst in Parti Nagys pointiertem Text nicht so sehr die Karikatur des Dichters, sondern die der von Kuriositäten und verbohrtem Nationalismus abhängigen Fehlstellen der Rezeptionsvorgänge.

5 Conclusio: Klassiker, Romantiker und Kitsch Die ausgewählten Mácha-Petőfi-Beispiele zeigen, dass die maßgebend-überschüssigen Qualitätsmerkmale zu kulturellen Ikonen gewordener, romantischer Klassiker wie im Fall des Máj-Filmes entweder massenmedial domestiziert werden können, was keine Negation aber eine erhebliche Reduzierung ihres Potentials bedeutet oder, dass sie wie im Fall von Parti Nagys und Margócsys Petőfi-Pastiches au second degré so reaktiviert werden können, dass ihre romantische Klassizität gar einen leicht pejorativen Beiklang zu erhalten scheint, und zwar je unter der Bedingung, dass der Überschuss durch die Institutionalisierungsgeschichte des Klassikers und seine Etablierung als kulturelle Ikonen vermeintlich verringert worden sein könnte. Beide Vorgänge verdeutlichen, dass Klassiker – kulturelle Ikonen inbegriffen – in ihrer Vorbildfunktion nichts Anderes als ein polyvalentes Medium vertrauter Identifkationsprozesse darstellen: Denn Identifikation ist unbedingt mit viel Verschiedenem und auch Widersprüchlichem möglich. Mithin gehören auch Kitsch und Kitschiges hinzu, und zwar etwa in der Weise, wie dies die Geliebte Franz Kafkas, die tschechische Journalistin Milena Jesenská in ihrem Artikel Chvála kýče! (1922, Lob des Kitsches) fasst. Jesenská betrachtet Kitsch zwar ganz bewusst auf spielerische Art – dem ähnelt die Verwendung bei Parti Nagy –, taucht jedoch wie Brabec gleichzeitig in dessen Ästhetik ein:

|| 51 Vgl. zu diesem Problem die nekrografischen Untersuchungen von Stanisław Rosiek zum toten Adam Mickiewicz und seinen sterblichen Überresten: Stanisław Rosiek: Zwłoki Mickiewicza. Próba nekrografii poety [Mickiewiczs Leichnam. Versuch zu einer Nekrographie des Dichters]. Gdańsk 1997, zur Dichterleiche z. B. S. 26–27; ders.: Mickiewicz (po śmierci). Studia i szkice nekrograficzne [Mickiewicz (nach dem Tod). Nekrographische Studien und Skizzen]. Gdańsk 2013, insbesondere Teil 4.

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Diese erste Frühlingssonne […] zwingt alle zu einer Hymne der Ausgelassenheit, die kleinen Schaufenster voller Tand sind lustig, wie die bunten Statuetten und scheußlichen Plakate vor dem Kinoausgang und die unerträglichen Bilder in den Ausstellungen und die Musik, die durch die Straßen schrillt, wir sind halb Dorf, halb Kleinstadt, insgesamt eine große Stadt, überall Geschmacklosigkeit, die quiekt und die Zunge herausstreckt, welche Dummheit, sich entrüstet abzuwenden. Alles ist Leben. Auf der Welt wäre es sterbenslangweilig, wenn es nur hohe Genüsse gäbe.52

6 Annexe zur conclusio: Das Melodramatische und die Romantisierung von Klassikern Jesenskás Aussage birgt den allusiven Hinweis darauf, dass sich unter der offen daliegenden bunten Oberflächlichkeit des Kitsches dennoch eine gewisse Tiefe existentieller und kultureller Bedürfnisse entdecken lässt. Da diese Studie die Auseinandersetzung mit dem Kitsch im Umgang mit den kulturellen Ikonen Karel Hynek Mácha und Sándor Petőfi auf die kulturgeschichtliche Verschiebung des Klassiker-Konzepts in der romantischen Epoche zurückführt, scheint sich Jesenskás Gedanke als passgenauer Abschluss zu eignen. Offen ist dabei allerdings noch der genaue Zusammenhang zwischen Romantik als ästhetischem Epochenbegriff und Kitsch als nicht epochengebundenem, ästhetisch-kritischem Phänomen.53 Zu fragen ist, inwiefern die kulturhistorische Modifikation, mit der das

|| 52 Milena Jesenská: Alles ist Leben. Aus dem Tschechischen von Reinhard Fischer. Hg. von Dorothea Rein. Frankfurt am Main 1984, S. 66–69, hier S. 68. [„Toto první jarní slunce […] nutí k hymně rozpustilosti, maličké výklady s cetkami jsou veselé a radostné a i barevné sošky a ohavné plakáty před odchodem kina i nesnesitelné obrazy ve výstavních výlohách i muzika, která vříská ulicí, jsme půl vesnice, půl maloměsta, dohromady město veliké, nevkusu je plno, kvičí a vyplazuje jazyk: jaká hloupost, odvracíte-li se s rozhořčením. Vše je život. Na světě by bylo nudno k pláči, kdyby byly požitky jen vysoké.“] Milena Jesenská: Křižovatky (Výbor z díla) [Kreuzungen. Auswahl aus dem Werk)]. Hg. von Marie Jirásková. Praha 2016. – Vgl. hierzu auch Kurt Drawerts zeitgenössischen kritischen Hinweis zum politischen Subtext des Phänomens Kitsch und seiner Gefahren: „Kitsch ist Körperverletzung, und wir sollten nicht so sehr zimperlich mit ihm umgehen aus dem Gefühl einer distinguierten Erhabenheit heraus. Andernfalls wird er zu einem willkommenen Werkzeug für Diktaturen jedweder Art, wie es die Geschichte schon oft genug und aufs traurigste gezeigt hat.“ Kurt Drawert: Schreiben. Vom Leben der Texte. München 2012, S. 116. 53 Dies schließt die (lexikologisch niedergelegte) Tatsache ein, dass das Adjektiv ‚romantisch‘ sich von dem alleinigen Bezug auf die Epoche durchaus gelöst hat und nicht selten etwa für

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Überschüssige in der Romantik gegenüber dem Maß an Geltung und zugleich an Gültigkeit gewinnt, mit der Produktion von Kitsch – d. h. mit der Reduktion von Überschuss zu bunter Oberflächlichkeit – zusammenhängt. Dieses Problem reicht in seiner kulturhistorischen Ausdehnung und Relevanz freilich über die Grenzen dieser Studie hinaus. Dass es hier dennoch als Ausblick aufgeworfen und mit der auf Mácha und Petőfi bezogenen Frage nach der Disposition romantischer Klassiker in Verbindung gebracht wird, bietet in erster Linie die Möglichkeit, die Fragestellung unter Einsatz des zusätzlichen Begriffs des Melodramas, des Melodramatischen bzw., mit Peter Brooks (1976) gesprochen, der Melodramatic Imagination als Problem einer kulturhistorischen Dimension der Ästhetik der Epoche zu thematisieren. Brooks beschreibt, in welcher Weise das Melodramatische zwar hauptsächlich als Gattungsbeschreibung einzusetzen ist (etwa mit Blick auf die Theater- und Opernbühne und später auch auf den Film), doch zeigt er zugleich, dass dies ebenso eine spezifische Weltwahrnehmung und eine Repräsentationsform darstellt.54 So setzt sich Brooks mit der Entstehung des Melodramas als zunächst hauptsächlich theatralischem Genre zwischen dem Ende des 18. und dem Anfang des 19. Jahrhundert auseinander, in der Zeit zwischen Französischer Revolution und Romantik. Indem er das Melodrama als „Modus des Exzesses“, des Überschusses, charakterisiert, sind seine Erkenntnisse für die Analyse romantischer Klassiker und kultureller Ikonen wie Mácha und Petőfi nachhaltig relevant: A constant effort to overcome the gap, which gives a straining, a distortion, a gesticulation of the vehicles of representation in order to deliver signification. This is the mode of excess: the postulation of a signified in excess of the possibilities of the signifier, which in turn produces an excessive signifier, making large but unsubstantiable claims on meaning.55

Vor diesem Hintergrund sind ein Film wie Brabecʼ Máj und ein Gedicht wie Parti Nagys Petőfi Barguzinban explizite Auseinandersetzungen mit dem Melodramatischen bei Mácha und Petőfi und in ihrer Rezeption. Brabecʼ Film geht dabei mit den vermeintlichen Regeln des Melodramatischen affirmativ um, indem er

|| Darstellungen von Liebe oder anderer Emotionen im Sinne von ‚schwärmerisch‘ oder ‚gefühlsbetont‘ Verwendung findet, und zwar oft dann, wenn solche Darstellungen nach Ansicht des Sprechers an Kitsch grenzen. 54 Das Melodramatische greift nach Brooks als bedeutungsgenerierendes Modell auch auf die Prosa aus: „In considering melodrama, we are in sense talking about a form of theatricality which will underlie novelistic efforts at representation – which will provide a model for the making of meaning in fictional dramatizations of existence.“ Peter Brooks: The Melodramatic Imagination, S. 13. 55 Ebd., S. 199.

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die Sinnlichkeit der Liebe zwischen Vilém und Jarmila in den Überschuss projiziert, während Parti Nagys Petőfi Barguzinban die melodramatischen Verkürzungen in der (pseudoliteraturhistorischen) Rezeption von Petőfi als spielerische Variation auf die ‚phantomische Überlebensstory‘ und auf die klischeehafte sibirisch-rurale Sowjetexistenz subvertiert, da der Gedichttext mit dem ‚Lebensüberschuss‘ der Dichterfigur ironisch einen nur als Fiktion vorhandenen lieu de mémoire konstruiert. Die Unmarkiertheit und Unauffindbarkeit von Petőfis Sterbeort bei Fehéregyháza/Albeşti ermöglicht so nicht nur die unbelegbaren Legendenstorys, sondern gerade auch Petőfis Auftritt als (stereotypes) ‚russisches‘ Mütterchen in der Sowjetzeit. Brooksʼ kulturgeschichtlich unterlegte Perspektive auf die Entstehung der ‚melodramatischen Imagination‘ um 1800 weist diese als Reaktion auf weitreichende Desakralisierungsvorgänge aus, die im Rahmen der Aufklärung stattgefunden haben.56 Diese Desakralisierung, die über die Infragestellung traditioneller Symbole des Heiligen, wie Gottes oder von Königen, verläuft, führe dazu, dass in der Kultur nach metaphysischem Ersatz gesucht werde, z. B. im politischen Alltag zur Zeit der Französischen Revolution oder etwa in der emotionalen und imaginativen Welt der Individuen in der Romantik. Hieran schließt auch die Blumenberg’sche Frage an, „was noch zur Integration der Bedeutung [von ‚Säkularisierung‘] hinzukommen muß, [und] nicht unvermeidlich ein theologisches Element ist.“57 Durch seinen alltäglichen Anschein in der || 56 Vgl.: „Yet by the end of Enlightenment, there was clearly a renewed thirst for the Sacred, a reaction to desacralization expressed in the vast movement we think of as Romanticism.“ Ebd., S. 16. 57 Hans Blumenberg hat mit einem breiten und historisch deutlich früher gelagerten Ansatz, dem Brooksʼ Problematisierung vergleichbar ist, nach der dialektischen Diskursivität im Theorem der Säkularisierung gefragt, vgl.: „Es ist […] etwas anderes zu sagen, in einem bestimmten Staat sei die ‚Säkularisierung‘ des Landes weit fortgeschritten und dies sei erkennbar an der empirischen Abnahme der Kirchenbindung in den Landgemeinden, als die These zu formulieren, die kapitalistische Bewertung des Erwerbserfolges sei die Säkularisierung der Heilsgewißheit unter der Voraussetzung des reformatorischen Prädestinationsglaubens. Denn ganz unverkennbar wird in dieser Musterthese für das Theorem der Säkularisierung ein bestimmter spezifischer Inhalt durch einen anderen, ihm vorhergehenden erklärt, und zwar so, daß die behauptete Umwandlung des einen in den anderen weder eine Steigerung noch eine Verdeutlichung, sondern eine Entfremdung von der ursprünglichen Bedeutung und Funktion ist. Offenkundig genügt die Qualifizierung einer historischen Abhängigkeit mit den Elementen ‚ursprünglich‘ und ‚entfremdet‘ nicht, um die signifikante Verwendung von ‚Säkularisierung‘ zu bestimmen. Und hier fragt sich, ob das, was noch zur Integration der Bedeutung hinzukommen muß, nicht unvermeidlich ein theologisches Element ist. Geht also der Begriff der Säkularisierung über das hinaus, was im Verstehen geschichtlicher Prozesse und Strukturen geleistet werden kann, in dem er nicht nur eine Abhängigkeit, sondern so etwas wie einen Weltenwechsel, eine radikale Diskontinuität der

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desakralisierten Welt wird dieses Element weiterhin wahrgenommen und findet nach Brooks in den überschüssigen Darstellungen des Melodramatischen seine Äußerung, in denen „every gesture, however frivolous and insignificant it may seem, is charged with the conflict between light and darkness, salvation and damnation“.58 Diese Sicht erhält bei Hans Blumenberg dann ihre philosophisch grundierte Perspektivierung als dialektischer Vorgang, in dem also die Säkularisierung ihrem ‚Ursprungsrest‘ begegnet: Ein solcher platonischer Rest steckt noch im Vorwurfsgehalt von ‚Säkularisierung‘: Wie das Abbild das Urbild nicht nur vorstellig macht, sondern auch verdecken und vergessen lassen kann, so würde die säkularisierte Vorstellung, sich selbst überlassen und nicht an ihren Ursprung gemahnt, statt an ihre Herkunft zu erinnern, solche Erinnerung eher entbehrlich machen.59

Werden diese Annahmen auf die Poetiken von Mácha und Petőfi bezogen, denen ein quasi-metaphysischer Kampf zwischen Gutem und Bösem bzw. Richtigem und Falschem zu eignen scheint, so mag dieses identifikatorische Angebot dem Einzelnen Möglichkeiten offerieren, sich individuell zu positionieren. Im Rückblick auf die Beispiele oben bieten sich hierfür bei Mácha die Themenkomplexe Natur und Liebe, bei Petőfi hingegen Aspekte des Volkstümlichen und des Nationalen an. Die vermeintliche Verknüpfung von Romantik und Kitsch impliziert eine Lenkung des Melodramatisch-Überschüssigen in der Romantik, die die potentielle und in den Kitsch zurückzudenkende Vielschichtigkeit des Melodramatischen durch oberflächliche Buntheit neutralisiert, woraus als eher paradoxe Konsequenz die Trivialisierung des Kitsches folgt, wiewohl dessen eigentliches Movens ist, das Triviale der Welt auszublenden (siehe oben die Zitate aus Kundera, der dieses Paradox mit kritischem Abstand beschreibt, und siehe Jesenská, die sich mit ihm aufgrund seiner Menschlichkeit solidarisiert). Als kulturbasierte und von Kultur gerahmte Konstrukte besitzen kulturelle Ikonen hier durchaus dem Melodramatischen vergleichbare Züge, da sich bei beiden beobachten lässt, in welcher Weise sich (westliche) säkularisierte Gesellschaften Sakrales in die Kultur zurückholen. D. h., der Rekurs auf als melodramatisch oder – in vereinfachter Form – kitschig zu beschreibende Darstellungsformen, die auf Überschuss basieren, zeigt an, dass und wie zwar „Geltungsschwund und Deutungsverlust hereingebrochen“ sind und doch „dies selbst als Heilsvorgang

|| Zugehörigkeiten bei gleichzeitiger Identität impliziert?“ Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt am Main 62012, S. 18–19. Hervorhebung im Original. 58 Peter Brooks: The Melodramatic Imagination, S. 5. 59 Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 83.

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aufzuwerten verhilft.“60 Dass die Romantik mit ihren Klassikern des Überschusses jenen Prozess in Gang gesetzt hat, der die kulturellen Ikonen der massenmedialen Gesellschaft produziert, müsste vor dem mit Blumenberg und Brooks aufgerufenen geistesgeschichtlichen Hintergrund hingegen fraglos als deutlich zu weit gehende Behauptung klassifiziert werden, zumal die Geschichte des Überschusses schon in der Antike einsetzt.61 Festhalten aber lässt sich die enge systemische Verbindung zwischen der epochalen Markierung ‚Romantik‘ und den identifikatorisch bedeutsamen Markierungen kultureller Ikonen.

|| 60 Ebd., S. 15. 61 Massimo Fusillo: Il dio ibrido.

Mona Körte

Dante im Porträt Zur ‚veloziferischen‘ Disposition ikonischer Bilder „Dante ist Pop“, urteilt der im hessischen Wetterau geborene Schriftsteller Andreas Maier nach einem Besuch der Ausstellung Die Göttliche Komödie. Himmel, Hölle, Fegefeuer aus Sicht afrikanischer Gegenwartskünstler im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main. Dante habe es, so der Autor, zwar „nicht in die höchste Kategorie der Ikonen geschafft“, nicht „in die Riege derer, mit deren Konterfei auf dem T-Shirt man herumläuft“. Jeder aber – egal ob aus Wetterau, Kapstadt oder Moskau – habe einmal „den Dante-Kopf mit dem Lorbeerkranz gesehen und sich gemerkt, so sieht der mit dem Inferno aus“.1 Dass sich in der Ausstellung die Jenseitsreiche verkehren, die Ausstellung also nicht wie in Dantes Commedia das Inferno, sondern das Paradiso zum Ausgangspunkt nimmt, ändert für Maier wenigstens nichts an dem Ausruf: „Überhaupt, das Inferno! Wenn Dante, dann das Inferno.“2 Die laxen Formulierungen hier sind alles andere als zufällig, denn die betonte Uninformiertheit („der mit dem Inferno“) ist Teil des Aneignungsprozesses. Man muss sich vor einem Klassiker nicht verbeugen und kann dennoch, auf andere Weise eben, mit ihm vertraut sein. Maiers ‚niederer Stil‘ und die Wortwahl ahmen jene Geste nach, die für die Anmutung kultureller Ikonen charakteristisch ist: Einige wenige Attribute genügen, um aus dem imaginären Museum des Betrachters oder der Betrachterin ein Bild abzurufen, das eine lose Verknüpfung von Autor und Werk herstellt. Im Falle Dantes figurieren der Kopf, das Kopftuch und der den poeta laureatus anzeigende Kranz als konstitutive Merkzeichen, deren weltweite „kultisch-ikonische Verständlichkeit“ jeder Interpretation vorausgeht. Rezeption ist in dem Kontext deshalb eher als Teilhabe an

|| 1 Andreas Maier: Hölle, ganz oben. Dantes berühmte „Göttliche Komödie“, gesehen mit den Augen afrikanischer Künstler – ein Besuch des Schriftstellers Andreas Maier im Himmel und im Inferno einer Frankfurter Ausstellung. ZEIT ONLINE (27. März 2014): http://www.zeit. de/2014/14/dante-ausstellung [abgerufen am 5.2.2018]. Die von Simon Njami kuratierte Ausstellung wurde von März bis Juli 2014 über drei Stockwerke und auf einer Fläche von 4500 Quadratmetern gezeigt. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle heißt es übrigens auch in Goethes Faust, in dem die Umkehrung der Sphären vorgebildet ist. 2 Andreas Maier: Hölle, ganz oben. https://doi.org/10.1515/9783110615760-013

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einem Ereignis zu verstehen,3 die ihren Informationsgehalt aus dem fixen Repertoire, dem kleinen gemeinsamen Nenner von Attributen bezieht. Zugespitzt formuliert, sind die ikonischen Bilder Dantes eigentlich ein Bild, das rekursiv, also selbst aufrufend, seine Zeichenhaftigkeit immerzu wiederholt. Resultat dieser wenigen bindenden Bildzeichen ist in diesem Fall ein loses, um nicht zu sagen, recht unverbindliches Verhältnis von Autor und Werk. Dass Dante ein zu Lebzeiten bildloser Autor war und sich seine physiognomische Überlieferung einem verbalen Porträt Boccaccios verdankt, spielt für die Ikonizität des Autors und den Lauf seiner Bilder selbstverständlich keine Rolle. Denn zu Ikonen gewordene Bilder sind alles andere als dem Ethos eines Urbilds oder gar einer Porträtsitzung verpflichtet, vielmehr suggeriert ihre Bildsprache gerade die Entfernung von einem essenziellen Urbild oder einem Bild ‚an sich‘ zugunsten der Wiedererkennbarkeit des Dargestellten und des Verweisungscharakters von Bildern untereinander. Der Anspruch auf Porträtähnlichkeit oder Individualität ist quasi immer schon transzendiert und deshalb keine starke Referenz innerhalb sog. Iconic Stories.4 Das ist hier keineswegs kulturkritisch gemeint, sondern soll schlicht den Mechanismus der Produktivität solcher Bilder beschreiben. Ihr Modus ist die schnelle Distribution über Rekursion; durch die geteilten Attribute schließen die Bilder eine Art von Bündnis miteinander. Dieses über den Wechsel von Genres und Materialien hinaus wirkende Bündnis lässt das Bild durch Epochen und Kulturen zirkulieren und amalgamiert Kunstgeschichte und Populärkultur. „Veloziferisch“ ist ein Wort, das Goethe, indem er Eile (velocitas) und Teufel (Luzifer) ineinanderschob, für die Effekte von Globalisierung und Moderneprozessen erfand und das sich ganz gut auch auf die Bildgeschichte Dantes im 20. und 21. Jahrhundert beziehen lässt. Goethes Neologismus reagiert auf die schnellere und vermehrte Produktion und Kommunikation, deren teuflisches Moment darin lag, dass Geschwindigkeit gegen die Erwartung nicht mit Zeitgewinn belohnt, sondern mit Zeitverlust quittiert wurde.5 Auf die Zeit und Raum tötende, allgegenwärtige und universelle Präsenz des Autors bezogen, wäre die im Goethe’schen Wort steckende teuflische Tücke zu variieren: Denn || 3 Näher hierzu Dean MacCannell: Sights and Spectacles. In: Iconicity. Essays on the Nature of Culture. Hg. von Paul Bouissac u.a. Tübingen 1986, S. 421–435, hier S. 426. 4 So im Klappentext zu Martin Kemp: Christ to Coke. How Image Becomes Icon. New York 2012. 5 Johann Wolfgang v. Goethe: Sämtliche Werke. 2. Abteilung. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Band 10 (37): Die letzten Jahre. 1823–1828. Hg. von Horst Fleig. Frankfurt am Main 1993, S. 333f. Siehe auch Manfred Osten: „Alles veloziferisch“ oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit. Göttingen 2013.

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veloziferische Züge trägt hier der Vorgang einer Einengung des Autors auf einen bloßen Spezialisten der Hölle („der mit dem Inferno“). Die besondere Verknüpfung von Höllenkenner und Autorenbild wird übrigens recht früh, über eine durch Giovanni Boccaccio überlieferte Anekdote befestigt: Auf seine intime Kenntnis der Hölle anspielend, raune man sich in den Gassen Veronas zu, dass Dante sein Aussehen, den krausen Bart und die braune Haut, „dem Rauch und der Hitze von unten“ verdanke. Denn Dante gehe, wie es heißt, zur Hölle und kehre wieder, wann immer es ihm beliebe.6 Deutlich ist hier, dass die Ich-Form der Commedia als biographische (miss-)verstanden wird; in der Hölle nach Belieben zu verweilen, könnte allerdings auch bedeuten, für die Zeit des Schreibens am Ort des Geschehens zu sein. Interpretiert man diese Anekdote in diesem Sinn als verkleideten poetologischen Hinweis, so fügt er sich gut in die mit Boccaccio beginnende Dante-Philologie. Die im populären Dante-Bild vollzogene Einschmelzung von Bedeutung durch die Engführung von Autor und kanonischem Werk ist allerdings nicht mit dem zu verwechseln, was vielfach als Pakt zwischen Autor, Werk und Rezipienten beschrieben wurde. Denn Ikonen kommen ihrer Interpretation stets zuvor. Insofern steckt die veloziferische Tücke in der Auslese und im Arrangement derjenigen Details, die einer blitzschnellen Aufnahme bzw. einem Wiedererkennen zuarbeiten. Ihre hierfür nötigen Signale sind offenbar zunächst andere als jene, die zur Interpretation einladen. Die für populäre Dante-Bilder so charakteristische Verknüpfung von Autor und Werk, von ikonischem Attribut und Inferno wird im Folgenden meine Interpretation dreier Dante-Porträts leiten. Zuvor bedarf es jedoch einer kurzen Orientierung auf die Fragestellungen des Bandes sowie einiger grundsätzlicher Überlegungen zur Gattung des Gelehrten- bzw. Autorenbilds zwischen Kunstund Literaturgeschichte.

1 Klassik, Kanon, Ikon Gemeinhin befestigen „Klassik“, „Kanon“ und neuerdings auch das inflationäre „Ikon“7 Vorstellungen einer Norm oder eines verbindlichen Musters, die über die teilweise phonetische und materielle Entsprechung dieser gleichsilbigen || 6 Giovanni Boccaccio: Das Leben Dantes. Leipzig 1965, S. 32f.; Giovanni Boccaccio: Trattatello in laude di Dante, In: Opere. Hg. von Pier Giorgio Ricci. Mailand, Neapel 1965, S. 565–650, hier S. 608. 7 Ikon steht hier synonym zu Ikone und icon.

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K-Wörter noch verstärkt werden. Gegen diese allzu eingängige Wortfolge bemüht sich vorliegender Band um eine Differenzierung, und dies zunächst über einen heuristischen Zugriff auf als ‚klassisch‘ etikettierte Phänomene. Demnach ist Klassik nicht mehr den engen Grenzen von Nationalliteratur unterworfen und auch keine statische Epochenbezeichnung, „klassisch“ steht stattdessen für eine dynamische Praxis, die Autoren und Moden benennt, verbreitet und aktualisiert und sich in der Abfolge von Anerkennung, Krisenhaftigkeit und Reaktualisierung ihrer Funktionen konstituiert. Demgegenüber verhält sich der Kanon in zeitlicher Nachordnung als Normsetzung nicht von Klassik, wohl aber von Klassikern. Umgeht man die historische und etymologische Herkunft von Ikon/Ikone für einen kurzen Moment, so erscheint „Ikon“ in der obigen Reihung als ein aus den jeweils letzten Buchstabenpaaren von Klassik und Kanon gebildetes Kompositum. „Ikon“ wäre demnach ein Derivat dieser beiden auslesenden Setzungen, und dies nicht nur in einem phonetisch-materiellen Sinn. Denn speziell Autorenbilder erfüllen zwar viele Funktionen, erhalten ihre Durchsetzungsfähigkeit jedoch Kraft des Kanons. Ihre Wucht beziehen sie aus der Norm und bleiben ihrerseits nicht ohne Wirkung auf den Kanon und das Klassische. Sind die Bilder einmal zu Ikonen verfestigt, so affirmieren sie den Kanon nicht einfach, sondern kommentieren und unterminieren ihn. Notwendig für das Verständnis dieses Zusammenhangs wie für das der Verselbständigung von populären Bildern allgemein ist die genauere Einfassung des schillernden Begriffs Ikon bzw. Ikone. Dabei gelten für unser heutiges, ausgesprochen luftiges Verständnis von Ikonen als einem überall auftauchenden, global wie lokal leicht verständlichen Bild unterschiedliche historische Anleihen. Ursprünglich bezeichnet das Wort Ikone sowohl materielle Bilder als auch intelligible Gegebenheiten. Als religiöses Bildwerk in Relief, Mosaik, Tafelbild oder Statue verweist die Ikone auf mehr als sie darstellt: „zeigend führt sie das Unbestimmte mit sich“,8 ihr Künstler ist meist unbekannt. Ikone wird oft als Kultbild übersetzt, wobei hierfür das Heiligenbild der orthodoxen Ostkirchen bemüht wird. Zunächst ein Personalbild, wandelt es sich im Mittelalter vereinzelt und besonders deutlich in der Renaissance zum individualisierenden Porträt.9 In dem ins Deutsche übernommenen Wort Ikone wie auch im englischen

|| 8 Janine Luge-Winter: Ikonen, umgekehrte Perspektive und Bilderstreit. In: Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. von Stephan Günzel und Dieter Mersch. Stuttgart 2014, S. 157–163, hier S. 161. 9 Zur Relativierung der Renaissance als Epoche der Subjektivität und des selbstständigen Porträts siehe Daniel Spanke: Porträt – Ikone – Kunst: Methodologische Studien zur Geschich-

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icon laufen Bedeutungsakzente des altgriechischen Ausdrucks eikon mit, das mit eidos (für Form oder Aussehen) und eidolon (als Diminutiv von eidos und präsent noch im heutigen Idol) in einem Wechselverhältnis steht.10 Anders aber als eidolon, das neben anderen Nuancen auch die des Idols oder Trugbildes enthält, wird für die Ikone zunächst die relationale Beziehung zwischen Urbild und Abbild das entscheidende Moment – auch für ihre spätere Durchsetzung als christliches Heiligenbild. Zeichentheoretisch beschreibt Ikon die (wahrnehmbare) Ähnlichkeit mit seinem Objekt, man kann auch sagen, es ähnelt dem, wofür es steht. Als verehrtes Kultbild mit Ähnlichkeitsbeziehung tritt es uns im Zuge kultureller Aneignungsprozesse als zeitloses Resultat populärer Kanones entgegen und ist Ausdruck einer rapiden, überzeitlichen und räumlichen Transmission von Bildern.11 Die „Ikonisierung“ von Bildern (aber auch von Formeln wie E=mc²) betont demnach den Verlauf oder Vorgang, durch den das Ikon geschaffen oder die hierfür charakteristische Bildsprache verstärkt wird. Doch was vertreten populäre Ikonen eigentlich? Sind sie grundsätzlich Bilder von Bildern, die auf ihre semantische Entleerung zulaufen? Sind sie jenseits ihrer fixierten Merkmale ein Operator für die absolute Präsenz ihrer Gegenstände? Zweifellos werden ikonische Bilder über bekannte Gesichter generiert, deren Elemente auf ihren Wiedererkennungswert hin ausgewählt werden. In der unscharfen Definition Martin Kemps erlangt das ikonische Bild wholly exceptional levels of widespread recognizibility and has come to carry a rich series of varied associations for very large numbers of people across time and cultures, such that it has to a greater or lesser degree transgressed the parameters of its initial making, function, context, and meaning.12

Bishnupriya Gosh präzisiert, indem sie icon als „recursive image dense with symbolic accretions“ fasst.13 Und hier ist es wieder, das Wort der Rekursion, das ein sich selbst aufrufendes, über seine Attribute gleichsam selbst fortzeugendes Bild meint. So verstanden, ist das Bild nicht nur technisch, sondern auch

|| te des Porträts in der Kunstliteratur. Zu einer Bildtheorie der Kunst. München 2004 und Gottfried Boehm: Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance. München 1985. 10 Zur Etymologie von Bild im Deutschen vgl. den Eintrag von Dieter Mersch und Oliver Ruf: Bildbegriffe und ihre Etymologien. In: Bild: Ein interdisziplinäres Handbuch, S. 2–6. 11 Gern gewählte Von-Bis-Untertitel nach Art von „Vom Bildnis zum Image“ oder „How Image becomes Icon“ perpetuieren das Narrativ vom Durchlauf ‚starker Bilder‘ bis hin zu ihrer popkulturellen Aneignung. 12 Martin Kemp: Christ to Coke, S. 3. 13 Bishnupriya Ghosh: Global Icons. Apertures to the Popular. Durham, London 2011, S. 1.

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aufgrund seines Bildinhalts im Nu zu reproduzieren und hat einen kurzen Weg in die Öffentlichkeit. Es arbeitet der Fiktion eines autopoetischen Bildes zu, das keinen Schöpfer hat. Dazu gehört es allen und erreicht alle, sei es über die Medien seiner Übermittlung und Darstellung, sei es über immanente Verknappungen tradierter Topoi. Ein Ähnlichkeitswunsch mit dem abgebildeten Objekt ist gleichsam verjährt; das Bild ist universell auch in dem Sinne, dass es seinen nationalen Kontext längst überstiegen hat. Ein grober Blick auf die Bildgeschichte Dantes zeigt, dass sich das Ähnlichkeitsverhältnis – seien die Bilder dem hoch- oder popkulturellen Kanon entnommen – allein auf die Attribute bezieht, durch die das Bild Dantes überliefert wird und aus denen es sich in endlicher Variation zusammensetzt. Streng genommen sind also allein die Attribute ikonisch.

2 Dante poeta Dantes Commedia ist ein ausgesprochen kühner Wurf, weil in seinem „Gesamtaufriss des christlichen Jenseits“14 der Glaube an einen theologischen Zuschnitt des Jenseits recht konsequent in einen literarischen Raum überführt wird. Zwar ist Dantes Poetik noch religiös fundiert, der fiktionalisierende Gestus wirkt jedoch radikal auf diese religiöse Motivierung und Legitimation zurück.15 Insbesondere der Commedia ist es zu danken, dass der Autor Dante – die gebräuchliche Beschränkung auf den Vornamen wirkt nicht nur auratisierend, sondern im Rahmen seiner Ikonisierung auch vertrauensbildend – zu einem ausgeprägten Kultobjekt in Florenz und im Genre der Autoren-/Gelehrtenporträts kanonisiert wird.16 Für die Ikonographie des Autors bzw. Gelehrten ist

|| 14 Stefan Matuschek: Dante als deutscher Klassiker? In: Dante ein offenes Buch. Hg. von Edoardo Costadura und Karl Philipp Ellerbrock. Berlin, München 2015, S. 29–45, hier S. 29f. 15 Matías Martínez: Gelungene und mißlungene Kanonbildung: Dantes Commedia und Klopstocks Messias. In: Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Hg. von Renate von Heydebrand. Stuttgart, Weimar 1998, S. 215–229, hier S. 215. 16 Im Wort des Gelehrten sind zunächst Autor, Dichter und Denker zusammengefasst. Eine deutliche Differenzierung nach Gelehrten- und Autorenporträt erfolgt erst im 18. Jahrhundert. Bereits im 14. Jahrhundert beginnt die Überlieferung der markanten Physiognomie Dantes; und es ist Botticelli, der in seinen Zeichnungen zur Commedia auch ein großes Porträt Dantes als Jenseitsreisenden schuf, das sich in einer Fülle von Einzelporträts ausdifferenzierte. Botticelli hat seine Darstellungsweise nicht nur präzise auf die in der Commedia geschilderten Situationen abgestimmt, sondern auch jede erdenkliche Porträtstellung aufgeboten. Vgl. Damian

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die Geschichte des Porträts ebenso bestimmend wie die Geschichte des Autors im Allgemeinen samt seiner sich wandelnden Rollen und Funktionen. Hinzu kommt, dass wesentliche Aspekte eines neuzeitlichen Dialogs zwischen Bildern und Texten in Dantes Werk selbst angelegt sind. Zu nennen ist hier die Erneuerung der antiken Ekphrasis, die Kunst des „sichtbaren Sprechens“ in und mit Bildern17 sowie die visuelle Suggestivkraft seiner Dichtung. Vor allem das Inferno ist durch eine reichhaltige Lexik und Semantik des Sehens gekennzeichnet, in dem die Höllenbewohner wie animierte bzw. sprechende Bilder von Toten agieren.18 Diese nahezu kinetische Qualität der Dante’schen Hölle bildet so etwas wie die Matrix zunächst für Sandro Botticellis Commedia-Zyklus,19 der die mehrfachen Stationen des Höllenwanderers teils auf einem Bild darstellt. Im Weiteren inspiriert das kinetische Moment in der Vermittlung über den Bilderzyklus Gustave Dorés den frühen Film und wirkt bis in die Bildlogik gegenwärtiger populärer Kultur hinein.20 Zudem setzt sich Dante zumindest nach Einschätzung damaliger Rezipienten selbst ins Werk, ist also unscharf gesprochen Autor, Erzähler und Protagonist und insofern alles andere als gestaltlos. Sein sterbliches „Ich“ bahnt sich einen Weg durch die drei Jenseitsreiche, zunächst in Begleitung Vergils, bald schon an der Seite anderer Begleiterinnen und Begleiter. Allein deshalb steht das Konterfei des „Dante poeta“ in einer Interdependenz zu seinem Werk.

|| Dombrowski: Botticelli, Dante, and Space in Portraiture. In: Inventing Faces. Rhetorics of Portraiture between Renaissance and Modernism, Hg. von Mona Körte, Ruben Rebmann, Judith Elisabeth Weiss und Stefan Weppelmann. Berlin, München 2013, S. 44–66, hier S. 60f. 17 Sebastian Schütze und Maria Antonietta Terzoli: Vorwort. In: Dante und die bildenden Künste: Dialoge – Spiegelungen – Transformationen. Hg. von Maria Antonietta Terzoli und Sebastian Schütze. Berlin, Boston 2016, S. VIII. 18 Mona Körte: Das potenzielle Gesicht. Verdrehte Ansichten in Dante Alighieris Inferno. In: Dies. und Judith Elisabeth Weiss: Randgänge des Gesichts. Kritische Perspektiven auf Sichtbarkeit und Entzug. Paderborn 2017, S. 59–116. 19 Vgl. Heinrich-Th. Schulze Altcappenberg: „per essere persona sofistica“. Botticellis Bilderzyklus zur Göttlichen Komödie. In: Sandro Botticelli. Der Bilderzyklus zu Dantes Göttlicher Komödie. Ausstellungskatalog. Kupferstichkabinett Berlin (15. April bis 18. Juni 2000). Ostfildern 2000, S. 14–35, hier S. 32. 20 Vgl. Achim Hölter und Eva Hölter: Dante im Comic. In: Comic und Literatur: Konstellationen. Hg. von Monika Schmitz-Emans. Berlin, Boston 2012, S. 17–49 sowie Dies.: Dante Alighieri im Comic – eine kurze Aktualisierung. In: Komparatistische Perspektiven auf Dantes „Divina Commedia“. Lektüren, Transformationen und Visualisierungen. Hg. von Stephanie Heimgartner und Monika Schmitz-Emans. Berlin, Boston 2017, S. 345–352 und Mona Körte: Das potenzielle Gesicht, S. 66f.

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Die abendländische Konvention, Dante in der Rollenfunktion des Gelehrten oder Autor-Gelehrten zu visualisieren, prägt seine Bildgeschichte bis heute. Allerdings liegt dieser Rollenfunktion ein vor allem aus heutiger Sicht diffuser Autorbegriff zugrunde, genauer eine situative Ungeschiedenheit von Autorenname, Autorenperson und Autorenfiktion. Horst Wenzel hat empfohlen, den Autor anders als in jüngeren Autorkonzeptionen nicht als eine das Werk konstituierende Größe zu verstehen, sondern seine Autorität im Schnittpunkt verschiedener literarischer, rechtlicher und theologischer Diskurse von Autorität zu verhandeln und ihn mit Autorinstanzen wie dem Zeugen, Richter, Boten oder Chronisten zu assoziieren.21 Dies sei im Sinne des „auctors“, der lateinischen Vorform des Begriffs Autor, der viele Aspekte sprachlicher Autorität – den Schöpfer, den Urheber, den Gewährsmann, aber auch den Bürgen, das Vorbild oder den Lehrer – zusammenführt und insofern auch ein spezifisches Verständnis von Autorbildern verlangt. Denn sie sind nicht zuletzt auch ein Bild dieser für die spätmittelalterliche auctoritas so konstruktiven Gemengelage, die über den Ansprüchen einer konturierten Autorpersönlichkeit steht. In diesem Sinne ist auch Dante ein auctor, der für sein Hauptwerk als Urheber, Gewährsmann und Zeuge bürgt. Konsequenterweise wird sein literarisches Schaffen an sein Aussehen gebunden: „Dante wurde als Dichter der Hölle gelesen und abgebildet, und umgekehrt erscheint jedes strenge Porträt als eine Bestätigung dieser Reise durch die Hölle.“22 Ganz anders also als heutige Autorenporträts bildete das Autorenbild gerade nicht nur den „äußerste[n] Rahmen eines Außens der Literatur“,23 vielmehr wirken Werk, Autor und Bild dort noch ineinander und laden sich gegenseitig auf. Im Falle Dantes bedeutete es gar, den Dichter posthum in seinen Werken aufgehen zu lassen: Die Commedia hieß „meist nur noch metonymisch ‚il Dante‘“,24 eine Verschiebung, die weit mehr intendiert als die Nennung des Autors anstelle seines Werks. Sein Bild jedenfalls war Resultat

|| 21 Horst Wenzel: Zur Ausdifferenzierung von Autorfunktionen in mittelalterlichen Miniaturen. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Hg. von Elizabeth Andersen, Jens Haustein, Anne Simon und Peter Strohschneider. Tübingen 1998, S. 1–28, hier S. 24. 22 Eva Hölter: „Der Dichter der Hölle und des Exils“. Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante-Rezeption. Würzburg 2002, S. 119. Vgl. dazu auch die erwähnte Anekdote zu Dantes Aussehen, das die Spuren der Hölle trägt. 23 Matthias Bickenbach: Autor/innen-Porträts: Vom Bildnis zum Image. In: Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Hg. von Claudia Benthien und Brigitte Weingart. Berlin, Boston 2014, S. 478–499, hier S. 478. 24 Friederike Wille: Dante in der bildenden Kunst. In: Dante ein offenes Buch. Hg. von Edoardo Costadura und Karl Philipp Ellerbrock, S. 59–73, hier S. 59.

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einer produktiven Ineinanderblendung von Politik, Theologie und Poesie, was bedeutete, dass der aus Florenz verbannte und mit der Todesstrafe belegte Dichter alsbald im Bild rehabilitiert und manches Mal durch die mitabgebildete Höllenpforte seiner Commedia für das Selbstbild der Stadt funktionalisiert wurde: „gesellschaftliche Aushandlungsprozesse werden hier in öffentlichen Bildprogrammen ästhetisch wirksam“.25 So verstanden ist Dante bereits kurz nach seinem Tod Kult oder Marke, sein Bildnis beginnt zunächst regional und dann innerhalb Italiens zu wandern und sich zu vervielfältigen – dies ist ein Einwand gegen die teleologische Ausrichtung einer Bildgeschichte vom Image zum Icon, der über eine historische Differenzierung innerhalb der Geschichte des Kults um Bilder beizukommen wäre. Bildnisse aus dem frühen 14. Jahrhundert beruhen im Übrigen nicht auf Ähnlichkeit, sondern sind Boehm zufolge am ehesten als Personifikationen zu begreifen, in denen der dargestellte Mensch einem Schemen oder auch einer Maske vergleichbar ist.26 „Die Person ist in diesen Fällen also nicht aus sich selbst heraus, sondern aus ihren Attributen, ihrer Kleidung oder ihrem Gestus erkennbar.“27 Dass Dante zum Kult oder zur Marke werden kann, ist einem auf das 14. Jahrhundert zurückgehenden und 1840 in der Capella Santa Maria Maddalena des Palazzo Bargello in Florenz wiederentdeckten Bild zu verdanken. Der Urheber des Porträts, vermutlich ist es Giotto di Bondone, stellte die wenigen, aber ausreichenden Attribute der Porträt-im-Profil-Tradition Dantes bereit, auf die sich die späteren Zyklen von William Blake und Gustave Doré bis hin zu Robert Rauschenberg konzentrieren – allen voran Sandro Botticelli, der in seinem Zyklus eine staunenswerte Fülle an Einzelansichten des Dichters als vermeintlichen Augenzeugen jenseitiger Territorien dargeboten hat. In ihrer Einförmigkeit bei hohem Wiedererkennungswert erweisen Attribut und Ansicht Dantes eine ungeheure Beharrungskraft auch für populäre Formen der Porträtkunst und für Ikonotexte wie den Comic und die Graphic Novel. In Folge seines Bildnisses in der Capella Santa Maria Maddalena des Palazzo Bargello in Florenz, genauer jener ausdrücklichen Details, bildet sich so etwas wie ein ikonisches Kürzel Dantes heraus, das seinen Anteil am „kulturelle[n] Gesetz der Koppelung von Werk und Porträt“28 hat.

|| 25 Ebd., S. 60f. 26 Gottfried Boehm: Bildnis und Individuum, S. 21. 27 Anna Maria Kerr: Das Danteporträt im Bargello zu Florenz. La bellezza dell’intelletto. Weimar 2014, S. 108f. 28 Matthias Bickenbach: Autor/innen-Porträts, S. 489.

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3 Veloziferische Bilder: Wim Botha – Erró – Gipi 3.1 Bothas Dante Das kulturelle Gesetz der Koppelung von Werk und Autorenbild hat Wilhelm Genazino in seinem klugen Buch Das Bild des Autors ist der Roman des Lesers an unterschiedlichen Beispielen untersucht. Folgt man seinem Gedankengang, so ermöglicht das Autorenbild dem Leser eine „phantasierbare Linie zwischen Buch und Autor […], eine Linie, deren Qualität in der Undeutlichkeit liegt, die sie mitteilt“.29 Das Autorenbild befördert also eine Verbindung, die allerdings im Ungefähren bleibt. Für seine Auseinandersetzung mit Dante entschied sich der südafrikanische Künstler Wim Botha (*1977) mit der Porträtbüste für ein Genre, das besonderen repräsentativen Zwecken folgt. Neben der traditionellen Memoriafunktion, dient sie der Vergegenwärtigung von Macht (Abb. 1). „Generic Self-portrait as an Exile“ (2008) lautet die Bildunterschrift zu seiner Dante-Büste, die neben dem Entstehungsdatum auch Material und Größe des Objekts aufführt: „Learner's Dictionaries (Afrikaans, English, isiZulu, seSotho) and stainless steel, 46 x 32 x 27cm“. Aus geöffneten und aufeinandergestapelten Schulwörterbüchern gearbeitet oder geschnitten, ist das Bild des Dichters hier gewissermaßen „aus Sprache geformt“. Als „hommes de lettres im wörtlichen Sinn“30 erinnert die besondere Materialität daran, dass Dantes erstes „Bild“ ein Schriftporträt aus der Hand Boccaccios war. Dabei entwickeln die übereinandergelegten, offenen Bücher Referenzen in verschiedene Richtungen: Zum einen rufen sie die Scharen von Dante-Philologen auf, die unzählige Bücher parallel geöffnet halten, damit ihnen das eine nicht verschlossen bleibe. Zum anderen zitieren sie ein konstantes Motiv des abendländischen Gelehrtenbilds, das Motiv des Studierens über aufgeschlagenen Büchern, das mit der Situierung des Gelehrten im Innenraum dem Bildtypus des „Gelehrten im Gehäus“ korrespondiert.31 Die antike Ikonographie zeigt diesen gern bei der Arbeit, weshalb die aufgeschlagenen Bücher beinahe selbstverständlich zur Ausstattung der Gehäusedarstellung gehören. Darüber hinaus erinnert Bothas Objekt an eine Bildtradition, die Dante seit dem 14. Jahrhundert mit einem – und nicht selten mit seinem – Buch zeigte. Diese Tradition war stets als ein Wink an die

|| 29 Wilhelm Genazino: Das Bild des Autors ist der Roman des Lesers. Münster 1994, S. 40. 30 Friederike Wille: Dante in der bildenden Kunst, S. 59. 31 Roland Kranz: Dichter und Denker im Porträt. Spurengänge zur deutschen Porträtkultur des 18. Jahrhunderts. München 1993, S. 25ff.

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Nachwelt zu verstehen, in deren Verständnis der Dichter in seinen Werken aufgehen sollte. Zwar ist das Werk nicht mehr durch die aufzeichnende Hand verbunden, doch bürgt der anwesende Autor für die Güte und Fortdauer seines ebenfalls präsenten Werks. Entsprechend hat das Bild die Ganzheit seiner Existenz nicht nur zu vergegenwärtigen, sondern auch zu würdigen.

Abb. 1: Wim Botha, Generic Self-portrait as an Exile 2008, Learner's Dictionaries (Afrikaans, English, isiZulu, seSotho) and stainless steel, 46 x 32 x 27cm.

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Bothas Dante-Büste versammelt all diese Referenzen, bürstet sie aber gegen den Strich und gewinnt ihnen damit ganz gegenwärtige Bedeutungen ab. Denn seine Dante-Büste besteht weder aus Dantes eigenem Buch oder stapelweisen, sein Buch erläuternden Kommentaren, noch aus jenen Seelenlehren und Kosmologien, die Dante vermutlich während des Schreibens an der Commedia zur Verfügung standen. Botha entgeht also zunächst sämtlichen Kurzschlüssen und konterkariert diese Konvention geradewegs, indem seine Büste aus einer Vielzahl von „Dictionaries“ als erklärten Basis- und Gebrauchsbüchern besteht. Bothas Objekt insinuiert, dass die Metapher eines aus Sprache geformten Bildes im Grunde zunächst ebenso viel sagt wie sie vorenthält. Erst ein genauerer Blick auf die Materialität des Buchobjekts gibt dieser Metapher eine spezifische Bedeutung: Wer näher tritt, erkennt am unteren Rand der Büste den bunten Buchblock der Wörterbücher und versteht, dass sie aus traditionellen Hilfsmitteln zum Verständnis und Vergleich der Sprachen gearbeitet ist. Zwar werden der Buchkörper, die Physiognomie einzelner Buchteile hier beibehalten, doch stiften sie durch ihre Überführung in das Erscheinungsbild der DanteFigur neue Korrespondenzen. Da die aufgeschlagenen Bücher plan übereinanderliegen, bildet der durch den hohlen Buchrücken entstandene Zwischenraum ein Muster, das als Mittellinie von Gesicht und Körperanschnitt fungiert. Unter dem Druck der verschraubten Bücher dienen die Buchmitten so gesehen als Naht, durch die nun die beiden Seiten des Gesichts zusammengehalten werden.32 So wie Dante-Bilder auf Bilder referieren, so ist auch das Buch als Motor und Zeichen für Kultur auf Bücher angewiesen. Doch geht Botha durch die spezifische Verwendung des gewählten Materials hinter die in Büchern aufgehobene Sprache zurück. Indem er seine Büste aus jenen Utensilien gestaltet, die für den Erwerb und das Verständnis von Sprache notwendig sind, weist Botha auf die Unselbstverständlichkeit ihres Gebrauchs und ihrer Stilhöhen; vielleicht hat er auch von fern die Besonderheit von Dantes Sprache im Sinn, eine Ausdrucksweise, die der Dichter erst „aus den verschiedenen Dialekten zusammenbrauen“ musste.33 Denn ein- oder zweisprachige Wörterbücher sind nicht einfach Sprache, sondern fungieren im Verein mit || 32 In seinem „Artist Statement“ zu seiner Reihe Study for the Epic Mundane (2013), die auch die Dante-Büste enthält, äußert sich Botha wie folgt: „The books are bolted together and then carved to reveal both intentional form as well as the accidental patterns that occur in the process. The pages are not glued together, but rather held together under pressure”. Wim Botha: Artist Statement. In: Imaginary Fact: Contemporary South African Art and the Archive. South African Pavilion, 55th La Biennale di Venezia. Hg. von Brenton Maart, 2013, o. S. 33 Kurt Flasch: Einladung, Dante zu lesen. Frankfurt am Main 2011, S. 420.

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Grammatiken ja gerade als ein Schlüssel zu ihr. Mit dem Nachschlagen von Worterklärungen und Redewendungen verbinden wir üblicherweise Operationen wie Aneignung, Transfer, Übersetzung und Vergleich. Bezieht man Bothas Titel „Generic Self-portrait as an Exile“ und den Hinweis auf das Material (Learner's Dictionaries in Afrikaans, English, isiZulu, seSotho) aufeinander, so erscheint die Dante-Büste als das Porträt einer Selbstbildung über die Sprachenpolitik Südafrikas. Hierfür gilt es zunächst zu verstehen, dass die heutige Sprachenpolitik in Südafrika ein Versuch zur Versöhnung verschiedener Bevölkerungsgruppen darstellt, wobei die offiziellen Ziele einer gleichberechtigten Mehrsprachenpolitik nicht mit ihren Resultaten zusammenfallen.34 Die von Botha verwendeten Learner's Dictionaries in Afrikaans, English, isiZulu, seSotho stellten in der Lesart den Gang durch die Sprachen nach, beginnend mit Afrikaans als der während der Kolonialisierung durch die niederländischstämmigen Buren implementierten Sprache, die die weitverbreiteste unter den Kolonialsprachen war. Im Zuge des 20. Jahrhunderts haben sich Lexik und Grammatik des Afrikaans deutlich verändert, wofür neben nicht-intentionalen Momenten auch die Abgrenzung zur Kolonialgeschichte und der Abstand zu europäischen Sprachen ein Movens war. Botha nun reiht die Sprachen analog zum historischem Lauf der Kolonialgeschichte und zu sprachlicher Usurpation: Auf Afrikaans folgt Englisch, die Sprache der britischen Kolonialmacht; nach Ende der Appartheit gehören neben Afrikaans und Englisch auch isiZulu und seSotho zu den elf gleichberechtigten Amtssprachen Südafrikas, die Teil der offiziellen Mehrsprachenpolitik sind. Womöglich spielen Bothas Schulwörterbücher auch auf die Schülerproteste 1976 in Soweto gegen die Durchsetzung von Afrikaans als Unterrichtssprache durch den Apartheidstaat an. Was in der Bildunterschrift jedenfalls linear-sukzessiv verläuft, stellt das Bild simultan her: Die übereinanderliegenden Wörterbücher sind Ausdruck zeitgleich nebeneinander existierender Sprachen, die auch auf die Commedia selbst zurückweisen. Denn Sprachenhierarchien, Mehr- und Anderssprachigkeit grundieren auch manche Szenen in Dantes ‚volkssprachlichem‘ Gedicht. So dringen nach dem Eintritt in die Hölle „diverse lingue“ (Inf. III, 15-17) aus den segregierten Räumen des ersten Kreises und steigern sich über Klage und Geschrei zu einem anhaltenden „tumulto“.35 Und in Inf. XXVI, 73-75 verhindert Vergil ein Gespräch zwischen dem Dante-Ich und Odysseus mit dem Hinweis,

|| 34 Siehe hierzu: Heiko F. Marten: Sprach(en)politik. Eine Einführung. Tübingen 2016, S. 292f. 35 Dante Alighieri: La Commedia. Die Göttliche Komödie I–III. Band I Inferno. Italienisch/Deutsch. Übersetzt von Hartmut Köhler. Stuttgart 2010, S. 46.

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dass Odyseuss als Grieche wohl nicht achten könne, was das Dante-ich zu sagen habe. Deshalb übernimmt es Vergil, zwischen den Sprachen zu vermitteln. Zwar bedient sich Botha der überlieferten Physiognomie Dantes, das Motiv des Gelehrten im Gehäus invertiert er jedoch dahingehend, dass der Dichter nun selbst aus den Büchern besteht, die es zu seinem Verständnis bedarf. Den Anleihen an das Autorenbild begegnet Botha durch einen kühnen Schnitt und erwehrt sich dem Andrang der Bücher, indem er ihren Materialcharakter ausstellt. Das Messer vollzieht hier ein Urteil, allerdings eines, das im Schnitt durch die Bücher erneut das mit den bewährten Attributen, Kappe und Kranz, markantem Profil und herabhängendem Mundwinkel versehene Bild erschafft, nun allerdings in Gestalt eines dreidimensionalen Monuments. Das idolisierte Autorenporträt ist nicht nur Resultat verwendeter Hilfsmittel, im Monument sind auch die geöffneten Bücher quasi eingefroren. Derart stillgestellt, stehen sie für Aneignung in actu. Dabei macht der intentionale Schnitt die Textstreifen unlesbar, profitiert aber vom Muster des Schriftbilds und von den vielen weißen Stellen: „The texts inside the books are hidden within the boundaries of the carved form. It leaves a visual trace on the surface; by cutting through the ink, a grey and white pattern appears, showing areas of text and of blankpage. The overall whiteness of the figures, combined with the classical figurative form and these text-striations, visually evokes marble carvings, and so doing establishes a relationship with historical precedents for figurative sculpture.“36 Die das Konterfei Dantes bestimmenden ikonischen Attribute bleiben hier unangetastet, es ist allein das Material, das Bedeutung in zwei Richtungen entfaltet: Zum einen stellt die marmorne Anmutung infolge des Schnitts eine Beziehung zu historischen Vorläufern figurativer Skulptur her, zum anderen wird die Büste über das Prinzip der Schichtung von Lernbüchern ihrem Titel als „generic self-portrait“ gerecht. Dante ist jedenfalls Objekt einer (mühsamen) Selbsterschließung – von der Suche nach sprachlichen Äquivalenten, dem Gedächtnis der Sprachen und den Konflikten durch importierte Fremd- bzw. Kolonialsprachen bleibt seine Darstellung nicht unberührt. Wer zu Dante und seiner Hölle vordringen will, muss mit Botha den Weg über die Wörterbücher nehmen.

|| 36 Wim Botha: Artist Statement, o. S.

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3.2 Errós Dante Die inflationäre Bildermächtigkeit kanonisierter Autoren und ihre Repräsentationen aus zweiter Hand sind auch ein Thema des isländisch-französischen Künstlers Erró (*1932). Für seine 1967/68 entstandene Serie The Monsters hat er die Konterfeis bekannter Personen aus Politik, Kunst und Kultur aus Zeitschriften zu Collagen verschnitten und anschließend abgemalt. George Washington, Goebbels, Franco oder Sophia Loren werden ausnahmslos mit hässlichen Fratzen kombiniert und zu doppelgesichtigen Wesen montiert. Erró reagiert mit seiner Serie auf jene ohnehin seriellen Ikonen, indem er die hierfür stets abgerufenen Attribute zu verwirren und zu unterlaufen sucht. Ganz unabhängig von ihrer Fama zitiert er populäre Gesichter und ordnet ihnen monströse Äquivalente zu. Rahmenlos stoßen hier in der Regel zwei nur durch eine Kante getrennte Ansichten aufeinander.

Abb. 2: Erró: Dante. Aus der Serie The Monsters 1967/1968, Öl/Leinwand. Courtesy The Reykjavik Art Museum.

Im Porträt Dante kombiniert Erró zwei Doppelgesichter zu einem Tafelbild: Dem in den giotto-typischen, hier aber in blasseren Farben gemalten, linken Gesicht im Profil sitzt eine Maske in Schwarzweiß auf, die die primären Merkmale, Nase und Mund, nicht nur verdoppelt, sondern vergröbert und damit fratzenhaft überzeichnet. Der übereinandergelegte Gesichtsausschnitt teilt sich mit dem größtenteils verdeckten (ebenfalls überformten) Gesichtsausschnitt das Kinn und das Auge. Diese Maske der Maske bildet demnach die eigentliche Anschauungsform und gibt die Idee eines ‚wahren Gesichts‘ des Abgebildeten

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schließlich der Fiktion preis. Errós Dante-Porträt ist, weil ohne jede historische ‚wahre‘ Referenz, eigentlich gesichtslos, weshalb die Wucherungen und Vervielfältigungen der Dante-Ikonographie eine Art ‚Deckbild‘37 darstellen. Überdies rufen die übereinander gelagerten Masken Topoi wie ‚Autorschaft als Maskenspiel‘ auf. Denn sie erzeugen eine Reibung mit Blick auf die zu Dantes Zeiten noch nahezu selbstverständlich durch die Ich-Form verbürgte Einheit zwischen Autor, Erzähler und Figur. Diese Ungeschiedenheit ist ein Reflex auf die weiter oben beschriebene, hochgradig komplexe Vorstellung des spätmittelalterlichen auctors als Schöpfer, Gewährsmann und Bürgen, mit der alsbald modernere Zugriffsweisen auf literarische Autorschaft interferieren.38 Die Tatsache, dass in der Commedia jedenfalls die Grenze zwischen diesen Instanzen noch nicht gezogen ist, hat logischerweise Konsequenzen für die Dante-Emblematik und arbeitet mit an der Adaptierbarkeit von Autor und Werk. Vielleicht ist die Mehrgesichtigkeit im Tafelbild Errós auch ein Hinweis auf die Dantes Inferno durchziehenden Mischwesen wie Geryon oder den in der tiefsten Vereisung hausenden Höllenfürsten Luzifer, der zwar nur einen Kopf, aber drei farblich unterschiedene Gesichter hat. Während er in jedem seiner Münder einen prominenten Sünder, Judas, Brutus und Cassius, zermalmt, weint Luzifer aus sechs Augen (Inf. XXXIV, 28–69). Hält das linke Bild Errós – in Reminiszenz an die vielgesichtigen Doppelwesen des Inferno – schon in sich eine Verdoppelung des Gesichts bereit, so grenzt an dieses Porträt ein weiteres, nur durch eine Schnittkante getrenntes Bild, das ebenfalls doppelgesichtig einen (halben) Totenkopf en face mit einem Profilbild kombiniert. Die Gesichtsfläche ist aufgebrochen, zwei Ansichten sind hier ineinander verkeilt, um ein alternatives Ganzes der prominenten Person in den verschiedenen Stadien ihrer medialen Repräsentation (als soziale Maske, als Maske einer Maske, als memento mori und inflationäres Profilbildnis) zu präsentieren. Indem Erró diese Ansichten und Zustände hart aneinanderstoßen lässt, ‚baut‘ er diese gleichsam zu einem Porträt nach Art eines doppelten Vexierbilds zusammen und erinnert dabei an die Technik des Pendants, der zwei Tafeln.39 Während das klassische Pendant es dem Rezipienten überlässt, die beiden angrenzenden Bilder aufeinander zu beziehen, erzwingt Erró im Dante-Bild den

|| 37 Deckbild wird hier analog zu Deckerinnerung als Kompromissbildung gebraucht. 38 Näher hierzu Albert Russell Ascoli: Dante and the Making of a Modern Author. Cambridge 2011, S. 10f. 39 Wolfgang Ullrich: Das zweite Gesicht und die Kunst des Pendants. In: Erró. Portrait and Landscape. Porträt und Landschaft. Hg. von Esther Schlicht und Max Hollein. Ostfildern 2011, S. 97–103, hier S. 99.

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wechselweisen Bezug dieser durch Vorbild und Maske, Totenkopf und Profil noch verkomplizierten Anschauungsweisen. Durch die gleichzeitige Wahrnehmung verstellender und entstellender, verbergender und offenbarender Partien stehen Vorbild und Maske, Vanitas und Überleben in einer diese unterschiedlichen Register egalisierenden Beziehung zueinander. So auch die dem geschlossenen Mund aufsitzende, angegriffene Mund- und Zahnpartie im rechten Bild, die mehr als ein memento mori oder caput mortem aus dem gezähmten Bild hervorbricht und darin ganz dantesk dem Tod zu einer ebenbürtigen, nahezu vitalen Ansicht verhilft. Damit ermöglicht es Errós monströses Mehrfach-Porträt Dantes, dem Tod ins lebendige Antlitz zu sehen.40 Während die empirische Wahrnehmung nur zwei Ansichten kennt, nämlich das Gesicht und den gesichtslosen Schädel, schafft Erró mit seiner Kombination von Doppelgesichtern eine Begegnung der dritten Art.

3.3 Gipis (Gian Alfonso Pacinottis) Dante „Per me si va“ („Durch mich geht es ein“) steht in der einzigen Sprechblase, die Gipi einer kleinen, auf dem Scheitel der Dante-Büste stehenden Figur zuordnet (Abb. 3). Gipis Einzelzeichnung reiht sich in die Tradition der ‚comical comics‘, auch wenn Comics bekanntlich aus mindestens zwei Bildern bestehen müssen, um den Namen zu verdienen. Erinnert sei hier, dass die frühen Bildergeschichten häufig als „Funnies“ tituliert wurden, um den komischen Strang von dem abenteuerlichen abzugrenzen. Die Wortfelder „comic“ und „funny“ haben allerdings eine sehr spezifische Semantik und sind nicht ohne weiteres auf die reiche und verwickelte Tradition des Komischen oder gar der Komödie resp. der Commedia zu beziehen. Als Brücke fungiert, was Ole Frahm zur Qualität des Lachens über alles Hohe zu sagen hat. Ihm zufolge wurde Nietzsches „parodistisches Gelächter“ in der Ästhetik des Comics formalisiert: „Comics lachen über sich selbst wie über alles Hohe. Ihre kleine Form […] kennt keine andere Zeichnung der Figuren denn als Karikatur.“41

|| 40 So jedenfalls ließe sich die italienische und deutsche Redewendung: „Vedere la morte in faccia“ – „Dem Tod ins Gesicht sehen“ modifizieren. 41 Ole Frahm: Die Sprache des Comic. Hamburg 2010, S. 8f.

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Abb. 3: Gipi, ohne Titel 15. März 2015, aus: https://www.internazionale.it/weekend/ 2015/03/15/perche-leggere-dante-commedia.

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Wie um an die produktive Spannung zwischen dem Hohen und der kleinen Form zu erinnern, wird Gipis in der italienischen Wochenzeitung Internazionale erschienene Zeichnung begleitet von einem Artikel des Literaturwissenschaftlers Claudio Giunta mit dem Titel „Perché uno dovrebbe leggere Dante?“/„Warum sollte man Dante lesen?“42 Die zur Dante-Figur gehörige Sprechblase enthält nur die ersten vier Worte von Inferno III, dessen Verse zu den bekanntesten der Commedia zählen. Dort bilden sie die Inschrift eines Tores, durch das die Wanderer, das Dante-Ich und Vergil, in die Unterwelt eintreten: „Per me si va nella citta dolente/per me si va nell’etterno dolore/per me si va tra la perdutta gente.“43 In dieser Inschrift spricht und erklärt sich das von göttlicher Macht geschaffene Tor allerdings selbst, während die Eingangsworte in Gipis Adaption der kleinen Figur auf dem Scheitel der Büste gehören und aus Platzmangel recht profan untereinander geschrieben werden. Die miniaturisierte Figur bricht den Vers auf, zitiert ihn nur an und lässt die im Original dreifache redundante Beschwörung („Per me si va“) fort. Von der Terzine ist hier lediglich ein Satz oder besser ein Satzfetzen geblieben, der seinem größeren Zusammenhang aber durch die kanonische Vorlage eingedenk bleibt. Die im Original auf Unwiderruflichkeit pochende Dreifach-Beschwörung erscheint im knapp bemessenen Raum der Sprechblase entdramatisiert. Mit seinem Stümmelvers schließt der Zeichner an einen quasi heiligen Text, mit seiner Büste an ein spezifisches Bildrepertoire an und führt damit buchstäblich jene Geste vor, die die 50-jährige Geschichte der Dante-Comics prägt: Dante-Comics orientieren sich an berühmten Modellen der Dante-Ikonographie und schreiben sich „in einen vorformulierten traditionellen Kontext ein“.44 Dabei korrespondieren Reduktion und Bildsprache: Eine zweite Person, vielleicht ein effeminierter Vergil oder eine junge Beatrice, hält der mit einem dicken Buch unter dem Arm versehenen Dante-Figur eine kleine (Fall-)Tür auf, die in die Tiefe und in das Innere der Büste führt. Gegen den ausformulierten Kopf der Dante-Büste im Dreiviertel-Profil steht eine ruhige Oberkörperstruktur in leichter Schraffur. Insoweit entspricht Gipis Zeichnung einer Büste den populären Büsten unseres Bildgedächtnisses, wäre da nicht die Verlängerung der Körperdarstellung um einen Unterleib, der durchsichtig Einblick in ein sehr lebhaftes

|| 42 Claudio Giunta: Perché uno dovrebbe leggere Dante? Dazu Gipis Zeichung. Internazionale (15.9.2015): https://www.internazionale.it/weekend/2015/03/15/perche-leggere-dante-comme dia [abgerufen am 15.9.2018]. 43 „Durch mich geht’s ein zur Stadt des Jammers / durch mich geht’s ein zur endlosen Qual, / durch mich geht’s ein zu den verlorenen Menschen.“ Dante Alighieri: La Commedia, S. 42f. 44 Achim Hölter und Eva Hölter: Dante im Comic, S. 46.

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Szenario gewährt. Damit huldigt Gipi der sprichwörtlich bildhaften Plastizität des Inferno, durch die ihm in der Regel der Vorzug vor dem Purgatorio und dem Paradiso zuteilwird. Gemeinhin weist nichts auf das Innenleben einer Büste hin, die Aufmerksamkeit richtet sich ganz auf ihre sichtbare Gestalt, hier aber sieht man auf das Segment der Hölle wie durch ein Fenster: Es handelt sich um einen nicht sehr bevölkerten, aber durchaus bewegten Schauplatz, der mit den hinein- und hinunterführenden Treppen vor allem seine gehauene Architektur ausstellt. Gipi „kratzt“ gewissermaßen an der Gelehrte-im-Gehäus-Tradition, indem er das Inwendige eines Gelehrten als körperliche Sensation ausmalt. Dieser stark hervorgehobene Bereich konterkariert die weniger determinierten Zonen der Büste und belebt somit die form-typische Starre. Kurz gesagt, verlängert der Zeichner die Halbkörperform nach unten wie nach oben und „bespielt“ diese von innen und außen. Nicht für alle zugänglich, wohl aber für alle einsehbar, liegt das Inferno im vermeintlichen Hohlraum der Ikone, deren Dimension das handelnde und sprechende Dante-Ich vergleichsweise bescheiden aussehen lässt. Allerdings ist dieses kleine, nicht auf den Schultern, wohl aber auf dem Scheitel eines Riesen stehende Dante-Ich ohne Wissen um sein eigenes Maß; es weiß nicht, dass es nicht eins ist mit seinem ikonischen Abbild („Per me si va“). Selbstredend vollzieht es damit in eigener Person, was stets die anderen tun – es verfehlt die Unterscheidung zwischen Autor, Erzähler und Ich, kommt aber durch diese Verfehlung immerhin in den Genuss des Abstiegs in die Hölle. Die Klapptür legt jedoch nahe, dass die Figur eher hineinfällt als hinabsteigt, wodurch Status und Fallhöhe in ein Verhältnis gesetzt werden. Ist Dante Pop? Bei allen Unterschieden in der Bildsprache gilt in jedem Fall für Wim Botha, Erró und Gipi, dass sie das ikonische „Gesetz der Koppelung von Werk und Porträt“45 auf ihre Bruchstellen in den Blick nehmen.

|| 45 Matthias Bickenbach: Autor/innen-Porträts, S. 489.

Alfrun Kliems

Mickiewicz in Paris, Chopin im Knast „Klassiker-Ikonen“ und der Comic Chopin New Romantic I don’t know about CHOPIN, but to me HA-GA, NIEBESKO-CZARNI and BRYGADA KRYZYZ are the MODERN POLISH CLASSICS.1

1 Kulturelle Ikonen oder „Klassiker-Ikonen“? Der Dichter Adam Mickiewicz (1798–1855) und der Komponist Frédéric Chopin (1810–1849) waren Zeitgenossen. Ihre Werke gelten als klassisch im Sinne von normativ und vorbildhaft; sie sind so utopisch wie historisch, indem sie als das „idealisierte Historische“2 Orientierung für die Zukunft der polnischen Kultur stiften. Klassiker wie sie bieten so „eine Möglichkeit, durch zeitweilige Stillstellung von sich permanent ändernden Erwartungen bei stets wirkmächtigen Texten und Kunstwerken Antworten auf externe Herausforderungen zu liefern“.3 Mit Blick auf das 20. und 21. Jahrhundert lassen sich die beiden Künstler aber auch als kulturelle Ikonen lesen, das heißt als visuell ubiquitäre Schlüsselfiguren der polnischen Kultur, denen analog zum Mythos eine semantische Stabilität innewohnt, für die nur einige wenige Marker notwendig sind, um Wiedererkennbarkeit zu gewährleisten. Darin eingeschlossen findet sich der Aspekt des Kultischen. Jeder (er)kennt Mickiewicz und Chopin, und obwohl beide mittlerweile konstruierte Referenzobjekte sind (der Medien, der Unterhaltungsindustrie, der Jubiläumsfeiern), liegt ihr Ursprung im Realen, meinen David Scott und Keyan Tomaselli: „Although its origin is in the real, the operations to which it is submitted in the iconizing process transform it into a simulacrum.“4 Beiden zufolge las-

|| 1 Andreas Michalke: Polish Classics. In: Chopin New Romantic. Warszawa 2010, S. 30–40, hier S. 40. 2 Annemarie Gethmann-Siefert: Das Klassische als das Utopische. Überlegungen zu einer Kulturphilosophie der Kunst. In: Über das Klassische. Hg. von Rudolf Bockholdt. Frankfurt am Main 1987, S. 47–76, hier S. 74. 3 Wilhelm Voßkamp: Art. Klassisch/Klassik/Klassizismus. In: Ästhetische Grundbegriffe. Band III. Hg. von Karlheinz Barck u.a. Stuttgart, Weimar 2001, S. 289–305, hier S. 290. 4 Keyan G. Tomaselli und David Scott: Introduction: Cultural Icons. In: Cultural Icons. Hg. von dens. Walnut Creek, CA 2009, S. 7–24, hier S. 17. https://doi.org/10.1515/9783110615760-014

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sen sich icons entlang der Simulakrum-Theorie von Jean Beaudrillard wie folgt fassen: Broadly speaking, cultural icons may be seen to work in three different ways: first, as true icons invested with religious significance; second, as secular icons, objects, or persons in the real world that through time accrue to themselves a certain exemplary cultural status; and third, as constructed icons, which in particular are those that in the twentieth century have been manufactured to sell a product, service, or an idea. With the progressive desacralization of the typical medieval icon, the iconic sign becomes separated from its object. The sign becomes a simulacrum that substitutes – mediatizes – the original person or object into something else that becomes progressively susceptible to commercial exploitation.5

Von den mittelalterlichen religiösen Ikonen kommen Scott und Tomaselli so zu klassischen kulturellen Ikonen wie Madonna, Nelson Mandela, dem Eiffelturm oder Edvard Munchs Der Schrei. Für die polnische Kultur lassen sich neben Mickiewicz und Chopin auch Papst Johannes Paul II, Lech Wałęsa und die Solidarność sowie die mythische Literaturlandschaft der Kresy als kulturelle Ikonen ausmachen. Sie alle sind identitätsstiftende Artefakte, zu Identifikationschiffren geronnene Orte in künstlerischer Überformung. Wie beim Klassiker oder auch beim Mythos, für den Bernd Hüppauf in Anschlag bringt, dass dieser „die fundamentale[n] Fragen durch wiederholtes Erzählen weniger beantworte[t] als zeitweilig beruhig[t]“,6 geht es auch bei der kulturellen Ikone – zumindest meistens – um eine letztlich „einvernehmliche Kommunikation“ der involvierten Erzählgemeinschaft. Und wie die beiden lässt auch sie „auf die Tiefenstruktur der tatsächlich erlebten Wirklichkeit in einer Gesellschaft schließen“.7 Jedoch gibt es Unterscheidungen, die im Bereich des Visuellen und Performativen zu liegen scheinen. W. J. T. Mitchell und dem von ihm eingeleiteten pictorial turn geht es um Produktions- und Rezeptionsbedingungen des Visuellen, um „Bild-Text-Konjunktionen“,8 um die performativen Prozesse von Darstellen und Sehen, nicht zuletzt auch um die daraus resultierenden kommerziellen Effekte, von denen Scott und Tomaselli sprechen. Der Einbezug von diesen und weiteren Betrachtungsweisen des pictorial turn spielt für Klassiker, Mythen und kulturelle Ikonen gleichermaßen eine Rolle, in-

|| 5 Ebd., S. 18. 6 Bernd Hüppauf: Mythisches Denken und Krisen der deutschen Literatur und Gesellschaft. In: Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Hg. von Karl Heinz Bohrer. Frankfurt am Main 1983, S. 508–527, hier S. 511. 7 Ebd. 8 Bildtheorie. Hg. von W. J. T. Mitchell und Gustav Frank. Frankfurt am Main 2008, S. 148.

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des scheinen Letztere visuell wie performativ einen semantischen Überschuss zu produzieren. In der kulturellen Ikone kommt zum semantischen noch ein semiotisches Surplus dazu. Bei beiden greift die Darstellung auf das Dargestellte über; beide verweisen auf das asymmetrische Verhältnis von Signifikant und Signifikat. Sie stehen damit für etwas, das mehr meint. Der semiotische Überschuss jedoch lässt sich stärker popkulturell verorten, meint John Fiske. Medieninhalte, vor allem das Fernsehen, produzieren ihm zufolge nicht nur einen semiotic excess, vielmehr ist der Exzess ihr Charakteristikum: Excess as hyperbol works through a double articulation which is capable of bearing both, the dominant ideology and a simultaneous critique of it, and opens up an equivalent dual subject position for the reader. [...] Excess allows for a subversive, or at least parodic, subtext to run counter to the main text and both „texts“ can be read and enjoyed simultaneously by the viewer, and his/her disunited subjectivity.9

Kulturelle Ikonen stehen paradigmatisch für die von Baudrillard massenmedial induzierte Simulakrizität. Was für den Philosophen jedoch eher eine desillusionierende Erkenntnis war, erweist sich für die kulturelle Ikone letztlich als Gewinn. Baudrillard betrachtet Simulakren als Zeichensysteme, die in einem bestimmten Verhältnis zu dem stehen, was sie bezeichnen. Wörtlich als „Fassade“, „Trugbild“ oder „Schein“ zu übersetzen, sind sie Zeichen ohne Referenten. Sie erweisen sich für die Weltorientierung von Gemeinschaften als unerlässlich, denn sie bleiben nicht etwa stabil, sondern verändern sich über die Zeit, indem sie ihr Verhältnis zur Realität derselben anpassen. Drei Ordnungen von Simulakren macht Baudrillard aus und bindet diese an drei Zeitalter: das Zeitalter der Imitation, das Zeitalter der Reproduktion und das Zeitalter der Simulation.10 In der Renaissance löst sich die Exklusivität der Zeichen auf und beginnen Simulakren die Realität zu imitieren. Gemeint sind zum Beispiel die Nachahmung der Antike oder die Architektur des Barock. Mit der industriellen Revolution beginnt für Baudrillard das Zeitalter der Reproduktion und Reproduzierbarkeit: Fotografie und Film, Massenkultur und Maschinenmensch gehören in dieses Schema. Simulakren imitieren die Realität nicht mehr, sie reproduzieren sie. Die

|| 9 John Fiske: Television Culture. London, New York 22011, S. 91–92. – Zum semantischen Überschuss des Bildes siehe auch Gottfried Boehm: Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder. In: Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Hg. von Christa Maar und Hubert Burda. Köln 2004, S. 28–43. 10 Jean Baudrillard: Die Simulation. In: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Hg. von Wolfgang Welsch. Weinheim 1988, S. 153–162.

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Digitalisierung führt schließlich in das Zeitalter der Simulation, in das für mich auch die kulturelle Ikone gehört: Sitcoms, Computerspiele, Fernsehen, Video. Die Simulation verwischt die Differenz zwischen dem Imaginären und dem Realen, sie kreiert eine Hyperrealität. Baudrillard geht hier von der „Generierung eines Realen ohne Ursprung oder Realität“11 aus. In der Simulation löst sich damit der Unterschied zwischen Kopie und Original auf; sie ist nurmehr ein Wirklichkeitssymptom, hinter dem die Realität verschwindet.12 Soweit indes mögen ihm Scott und Tomaselli nicht folgen, die den Ursprung kultureller Ikonen immer noch in der Realität sehen, das heißt mit Blick auf Mickiewicz und Chopin in der Existenz eines empirischen Autors und dessen Werks. Inwieweit jedoch der Überschusscharakter einer kulturellen Ikone das Original verzichtbar macht, mag der Umgang mit Karel Hynek Mácha (1810–1836) demonstrieren, dem tschechischen Romantiker. Da keines seiner Porträts die Zeit überstanden hat, beruht Máchas Wiedererkennungswert auf späteren Abbildungen. Almanache, Zeitschriften, Porträts, Filme imaginieren einen großgewachsenen bärtigen jungen Mann, der das spiegelt, was wir von einem prototypischen romantischen Dichter erwarten. Anlässlich seines 200-jährigen Geburtstages 2010 wurde eine Büste eingeweiht, die der Anthropologe Emanuel Vlček den sterblichen Überresten nachempfand. Größere Abweichungen zum tradierten Mácha-Bild ergaben sich nicht, und selbst wenn, der Einbruch des Realen hätte wohl kaum mehr die visuelle Stabilität Máchas gefährdet. Kulturelle Ikonen sind in ihrem semantischen und semiotischen Überschuss wie Popstars quasi-sakral, das heißt, während das Sakrale in den Hintergrund getreten ist, verlangt das Säkulare nach einem sakralen Zeichensatz. Möglicherweise unterscheidet sie das vom Klassiker und vom Mythos. Letztere können mithin in dem Moment zu kulturellen Ikonen werden, wenn eine Überschussproduktion einsetzt (im Comic, im Blockbuster, auf der Bühne). Sie werden dann gewissermaßen zu „Klassiker-Ikonen“, die wie Superstars funktionieren. Dies möchte ich anhand einiger Comics zeigen, die ein rewriting der ikonischen Figuren Mickiewicz und Chopin unternehmen. Letztere sind bevorzugte

|| 11 Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin 1978, S. 7. 12 Dazu instruktiv Vilém Flusser: Zwiegespräche. Interviews 1967–1991. Göttingen 1996, S. 230–231. Für den Medienphilosophen Flusser dagegen stellt dies keinen Verlust dar, sondern eine Chance. Die liegt für ihn in der „Technoimagination“, also der Fähigkeit, die Gemachtheit hinter den Film-, Video-, Fernsehbildern zu erkennen und „Technobilder“ darüber bewusst zu nutzen, um alternative Welten zu schaffen. Flusser argumentiert gegen Baudrillard, dass dessen Idee der Simulation etwas Simulierbares erst einmal voraussetze. Er macht darin einen Glauben an das Metaphysische, Absolute, Transzendentale aus, den er so nicht teilt. Ihm geht es vielmehr um die Wirkung von Simulakren, nicht um die Frage, auf welche Realität sie sich wie beziehen.

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(Kult-)Objekte des zeitgenössischen polnischen Comics und treffen dort auch mehrfach aufeinander, besonders folgenreich in Romantik (Romantyzm) von Krzysztof Gawronkiewicz und Grzegorz Janusz.13 Im Fokus steht aber die ComicSammlung Chopin New Romantic, eine 2010 der Öffentlichkeit vorgestellte deutsch-polnische Auftragsarbeit der Botschaft der Republik Polen in der Bundesrepublik.14 Hierbei handelt sich um eine Edition von acht deutschen und polnischen Comics, die aus Anlass des 200. Geburtstages von Frédéric Chopin erschien. Während das Heft in Deutschland kaum wahrgenommen wurde, löste es in Polen mittleren Protest aus, sodass die 2.000 Druckexemplare wieder vom Markt genommen wurden. Einigen der polnischen Comic-Künstler warf man vor, die Erinnerung an Chopin zu beschädigen. Das Motto meines Beitrags stammt aus dieser Sammlung, hier dem Comicstrip Polish Classics von Andreas Michalke, dessen Protagonist zwar über Chopin nichts zu wissen vorgibt, dafür aber umso mehr über polnische Graphiker der Satirezeitschrift Szpilki, darunter Anna Gosławska, die für HA-GA steht, über polnischen Big Beat (Niebesko-Czarni) und polnischen Punk (Brygada Kryzys). Von diesen Referenzen ausgehend, erzählt Michalke, wenn auch überdidaktisch ausgestellt, eine alternative Geschichte Polens, in der die für den Zeichenauftrag relevante Leitchiffre Chopin eine Leerstelle bleibt.15 Wie Michalke hinterfragen auch Monika Powalisz (Szenario) und Patryk Mogilnicki (Graphik) einen unreflektierten Klassikerkult. In den zehn großformatigen Panels von Wer ist neben mir? (Kto jest obok mnie?), den angeblich letzten Worten Chopins, liegt der Tote auf dem Seziertisch aufgebahrt. Sein Herz wird anschließend in reichlich Brandy eingelegt, um die Reise nach Polen zu überstehen; die Abgüsse seiner Hände und seines Gesichts aber werden, da sie deutliche Zeichen von Entbehrung und Krankheit aufweisen, geschönt beziehungsweise ausgetauscht. Das Ganze ist zeichnerisch poetisch und respektvoll-entrückt gehalten. Im Schlussbild ist dann zu sehen, wie Chopins Gipshände als Souvenirs in der Philharmonie verkauft werden, bezahlt mit Geld, auf dem wiederum das Konterfei Chopins ist.16 Auch in Eine ganz andere Geschichte (Całkiem inna historia) widmen sich Grzegorz Janusz (Szenario) und Jacek Frąś (Graphik) den Auswüchsen des Chopin-Kults. Ein blinder Akkordeon spielender Straßenmusikant wird von einem

|| 13 Krzysztof Gawronkiewicz und Grzegorz Janusz: Esencja/Romantyzm. Warszawa 2007. 14 Chopin New Romantic. Warszawa 2010. 15 Andreas Michalke: Polish Classics, S. 39–40. 16 Monika Powalisz und Patryk Mogilnicki: Kto jest obok mnie? In: Chopin New Romantic. Warszawa 2010, S. 64–73.

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Fremden gefragt, ob er in der Lage sei, Geld an seinem Klang zu erkennen. Wetteinsatz soll ein Finger des Musikers sein; proleptisch hält der mephistophelische Fremde jedoch schon eine riesige Struwwelpeter-Schere in der Hand. Der Spieler kann die letzte Geldnote dann auch nicht erraten; sie sei nicht von dieser Welt, lautet seine Antwort. Doch, entgegnet der Fremde, sie würde sich „in bestimmten Kreisen“ sogar großer Beliebtheit erfreuen. Am Ende verliert der Musiker einen Finger und verlässt gedemütigt die Szene. Der Geldschein stellt sich als 5.000 Złoty-Note der Polnischen Volksrepublik heraus, darauf das Bildnis von Chopin. Den Schein wiederum gab die Polnische Nationalbank 1982 in Auftrag. Die Comic-Szene spielt sich jedoch zu Lebzeiten Chopins vor der Heilig-Kreuz-Kirche in Warschau ab, wo heute sein Herz aufbewahrt ist. Baudrillards Prinzip der Simulation ließe sich kaum treffender pointieren.17 Die im Folgenden betrachteten Comics revidieren den Klassikerstatus ihrer Figuren, halten ihn darüber lebendig und leisten damit eine Art rewriting. Mit dem Erzähltheoretiker Lubomír Doležel sind das Verfahren des Um- und Neuschreibens von klassischen Sujets, Topoi, Figuren und Themen. Deren Bezugspunkt ist der stabilisierende und normierende Metatext des jeweiligen Klassikers. Doležel betont dabei namentlich die Relokalisierung und Reevaluierung dessen, was er die „kanonische Protowelt“ (kanonický protosvět) des Klassikers nennt.18 Sein Modell basiert auf der Annahme, dass Verfahren der Intertextualität allein ungenügend sind, die Konstruktion fiktiver Welten erschöpfend zu behandeln. Für ihn bedeutet rewriting die Neujustierung imaginärer Welten, die mehr meint als einen intertextuellen Verweis von Werk A in Werk B, einen Austausch des Handlungsorts oder eine Aktualisierung der Handlungszeit. Mit Sophie Picard und Paula Wojcik lässt sich allgemeiner auch von einer „Klassikermodellierung“ im „Ergebnis eines Rezeptionsprozesses“ sprechen, wobei sie zwischen „Automodellierung“ und „Fremdmodellierung“ unterscheiden.19 In diesem Sinne machen in Romantik Grzegorz Janusz und Krzysztof Gawronkiewicz Mickiewicz und Chopin zu klassischen Vampirfiguren und hinterfragen deren Einfluss auf die aktuelle polnische Kultur. Oder imaginieren in Chopin New Romantic Janusz und Jakub Rebelka ein merkwürdiges Zusammentreffen von

|| 17 Grzegorz Janusz und Jacek Frąś: Całkiem inna historia. In: Chopin New Romantic. Warszawa 2010, S. 22–28. 18 Lubomír Doležel: Heterocosmica. Fikce a možné světy. Praha 1998, S. 217. 19 Sophie Picard und Paula Wojcik: Chopin, Mickiewicz: Zwei Nationalklassiker und der Ursprungsmythos der Ballade. In: Über den Ursprung von Musik. Mythen – Legenden – Geschichtsschreibungen. Hg. von Sascha Wegner. Würzburg 2017, S. 113–132, hier S. 113.

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Mickiewicz und Chopin 1836 in Paris, das es so nie gegeben hat. Und versetzt schließlich Krzysztof Ostrowskis Comic einen Popstar, der aussieht wie Chopin, und dessen Bruder samt Punk-Band anlässlich des Chopin-Jubiläums in eine Haftanstalt. Vor allem dieser Beitrag hat den Unmut der polnischen Presse (Gazeta Wyborcza, Rzeczpospolita) und des Fernsehens (TVN Warszawa) auf sich gezogen. Dazu meint Olaf Kühl, dass wohl gerade Ostrowskis Werk in seiner „Mixtur aus sexueller Obszönität, provokanter Schwulenfeindlichkeit und politisch inkorrekter Verbindung mit der Judenvernichtung“ zum offiziellen Rückzug des Projektes geführt habe.20 Die Frage, die sich Kühl aber auch stellt, ist die nach der vertanen Chance, mit dem Comic-Vorhaben eine „verstaubte Kulturikone“21 wiederzubeleben, das heißt ohne dem Verlust der Weihe des Originals nachzutrauern, sondern im Spiel mit dem semiotischen Überschuss der Chopin-Ikone.

2 Mickiewicz in Paris In der Geschichte Paris 1836 (Paryż 1836) von Rebelka (Graphik) und Janusz (Szenario) treffen der Dichter Mickiewicz und der Komponist Chopin 1836 in Paris aufeinander, also die polnischen Ikonen der Romantik (Abb. 1). Zwar sind sich Mickiewicz und Chopin in Paris begegnet, von Freundschaft zu sprechen, wäre allerdings übertrieben. Sie haben sich jedoch mit gegenseitigem Respekt wahrgenommen, einen wirklichen künstlerischen Austausch geben die Quellen jedoch nicht her, allenfalls eine Inspiration durch die Werke des jeweils anderen.22 Picard und Wojcik gehen dem anhand des Ursprungsmythos der Ballade nach und zeigen auf, wie unterschiedlich beide Klassiker ihr Verhältnis zu Kunst und/als Nation definierten. Obwohl Mickiewicz und Chopin kein gemeinsames Projekt verband, wurden sie über die Gattung der Ballade und deren zeitgenössische Implikationen als Klassikerpaar zusammengebunden.23

|| 20 Olaf Kühl: Sie sind keiner von uns. Der deutsch-polnische Comic Chopin New Romantic. In: P+ Magazin aus der Mitte Europas 7 (2013), S. 52–55, hier S. 54. 21 Ebd., S. 52. 22 Siehe dazu Mieczysław Tomaszewski: Osoby związane z Chopinem. Narodowy Instytut Fryderyka Chopina: http://pl.chopin.nifc.pl/chopin/persons/detail/id/6713 [abgerufen am 10.1. 2018]. 23 Sophie Picard und Paula Wojcik: Chopin, Mickiewicz, S. 114–115, S. 128–129, S. 132.

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Abb. 1: Paris 1836 (Titelblatt). Jakub Rebelka und Gregorz Janusz: Paryż 1836. In: Chopin New Romantic. Warszawa 2010, S. 5.

Bei Rebelka und Janusz konstruiert der Nationaldichter eine Schreibmaschine, die seinen Gedichten Melodien entlockt. Sein von der Musik angelockter Nachbar Chopin zeigt ihm daraufhin einen von ihm konstruierten Flügel, aus dem beim Komponieren Sonette kommen. Beide Künstler können indes weder die Musik noch die Literatur verstehen, die sie und ihre Maschinen produzieren. So ist Mickiewicz nicht in der Lage, die Sprache der Sonette Chopins zu dekodieren. Es müsse sich also – so ihre begeisterten Ausrufe – um Werke nicht von dieser Welt handeln.

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Abb. 2: Paris 1836 (Chopin und Mickiewicz). Jakub Rebelka und Grzegorz Janusz: Paryż 1836. In: Chopin New Romantic. Warszawa 2010, S. 10.

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So traumhaft-poetisch das Ganze visuell angelegt ist, so entlarvend erweist es sich doch im Blick auf den romantischen Geniekult. Der Schöpfer Mickiewicz gibt die Kunst an die Maschine ab und wird graphisch zum Monster degradiert. Über seine rote, affenähnliche Statur wirkt er tierähnlich, manisch und besessen: „Wenn ich schreibe, hört die Welt um mich auf zu sein.“24 Und der Jünger, in diesem Falle Chopin, erstarrt vor Ehrfurcht: „Oh Gott, das ist schöner als meine Kompositionen.“25 Auch spiegelverkehrt funktioniert die Begeisterung füreinander. Mickiewicz schaut verzückt auf die Sonette aus Chopins Maschinenflügel: „Mit Sicherheit besser als meine Poesie.“26 Beflügelt von ihren Maschinen tippen sie die Sonette aus Chopins Flügel in Mickiewiczs Maschinenungetüm, um gemeinsam „göttliche Musik“ zu erschaffen (Abb. 2). Sie versteigen sich soweit in die Kraft der Maschine, dass sie von der ultimativen Kunst, dem ultimativen Werk sprechen, das die Welt aufhören lässt zu sein: „Aber wir müssen es machen. Schließlich sind wir Künstler. Und das verpflichtet.“27 Oder besser: Genies, zukünftige Klassiker. War für Friedrich Schlegel das Genie noch eine freie innige Gemeinschaft von mehreren Talenten und zugleich absolute Individualität, so wird diese innere lebendige Einheit der Talente an die Maschine und damit die Reproduzierbarkeit abgegeben. Im letzten Panel der vorletzten Seite ist im close-up der tippende Finger Mickiewiczs zu sehen, wie er sich auf den Buchstaben „Z“ zubewegt. Und so prophezeien beide Künstler gewissermaßen das Ende der Kunst an der Schwelle zur Moderne. Während das Eingangsbild des Comics ein buntes Pariser Künstlerviertel aufruft, über dem am Himmel schon 1836 Zeppeline und Flugzeuge zu sehen sind, revidiert das Schlussbild diesen Auftakt: Die Ansicht vom Künstlerviertel ist nunmehr von der Zeit zerkratzt, vergilbt und zerschlissen. Wie das Z in der Schreibmaschine kann auch das ausgebleichte Bild des Viertels als Schlusskommentar zum Verhältnis von Romantik und Moderne gelesen werden. Vordergründig nämlich führt der Comic den Heros der polnischen Literatur und das Genie der Musik zusammen, um hintergründig eine ironische Abrechnung mit den romantischen Topoi von der Selbsterlösung durch Kunst und dem Kult der Kreativität zu leisten. Zumal wenn in den Bildern von Paris unweigerlich die Moderne mitschwingt: Es ist also der maschinengeprägte Blick auf die Welt, der den Comic trägt.

|| 24 Jakub Rebelka und Grzegorz Janusz: Paryż 1836. In: Chopin New Romantic. Warszawa 2010, S. 5–13, hier S. 7. Im Original: „Przepraszam. Gdy tworzę, świat przestaje dla mnie istnieć.“ 25 Ebd., S. 8. Im Original: „O Boże. To piękniejsze niż moje kompozycje.“ 26 Ebd., S. 11. Im Original: „Z pewnością lepszy niż moja poezja!“ 27 Ebd., S. 12. Im Original: „Ale musimy to zrobić. Przecież jesteśmy artystami. To zobowiązuje.“

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Indes lässt sich die Zusammenkunft von Mickiewicz und Chopin auch genau umgekehrt lesen. Indem der Comic ein in der polnischen Romantik wenig prominentes Motiv der Schauerromantik einführt, etwa E.T.A. Hoffmanns Maschinenmenschen, transkodiert er die inhärente Modernekritik der Romantik. Der Mensch steht seinem automatischen Geschöpf als einem ihn überwindenden, ihn weiter entfremdenden Golem gegenüber. Aufgerufen wird nicht das (Kunst-)Werk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, wie es Walter Benjamin 1936 in Paris für die Moderne ausgemacht hat – also 100 Jahre nach der Zusammenkunft im Comic. Durch die einzigartige Möglichkeit des Kopierens, die Reproduktion verändert sich Benjamin zufolge der Gesamtcharakter des Kunstwerks. Zugleich berührt dieser Prozess dessen Aura als die einer Erscheinung anhaftende Qualität des Unerreichbaren, „die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle“, die „Zertrümmerung der Aura“.28 Die Chopin-Mickiewicz-Maschine verhandelt jedoch etwas anderes: das Kunstwerk im Zeitalter seiner digitalen Produzierbarkeit. Darauf verweist bereits das Titelbild des Comics, auf dem beide Künstler von umherflatternden Druckseiten und Musikmaschinen gerahmt werden, darunter monströse Apparaturen mit Schläuchen, Schrauben, Uhren, Knöpfen und Röhren – aber auch Chopin mit einem Umhänge-Keyboard von Yamaha, neben ihm eine Lautsprecherbox mit dem pinkfarbenen Label „KUNSTMACH[INARIUM]“ oder „KUNSTMACH[INA]“. Gawronkiewiczs Musikmaschinen thematisieren nicht nur das Mechanische in der Tradition der Moderne, sondern werfen Fragen nach der Mechanität versus Kreativität und Virtuosität auf, nach dem Ort des Genialen im Prozess der Digitalisierung, der durch Keyboard und Lautsprecherboxen schon auf das Phänomen Pop zielt. Der Comic transkodiert über den Maschinenkult den romantischen Prototext dieser imaginären Begegnung und kontaminiert ihn mit der Gegenwartserfahrung der popkulturellen Postmoderne.

|| 28 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Stuttgart 2011, S. 18.

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Abb. 3: Chopin (Einlass ins Gefängnis). Krzysztof Ostrowski: [o.T] In: Chopin New Romantic. Warszawa 2010, S. 42.

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3 Chopin im Knast Weitaus weniger subtil verfährt Krzysztof Ostrowski, auch wenn sein Comic ein ähnliches Problem verhandelt: die Frage nach dem Klassikerstatus in der popkulturellen Moderne.29 Ein wie Chopin aussehender Popstar mit dem sprechenden Namen Wiral tritt anlässlich des 200. Geburtstages von Chopin gemeinsam mit seinem Bruder in einem Gefängnis auf, in dem dieser Bruder einst eingesessen hat (Abb. 3). Immer noch dort in Haft ist Paweł, dessen Songs Wiral offensichtlich gestohlen hat und mit ihnen zu seinem Ruhm gekommen ist. Ich weiß, dass du ihm die Songs geklaut hast… / …zwei Jahre war ich mit ihm im Bau… / Halt’s Maul! / Du hast sie unterzeichnet. Seine Texte, seine Kompositionen, dein mehrfaches Platin… / …und das alles für’n Paar neue Adidas, schicke Klamotten und ab und zu’n bisschen Kleingeld für Stoff, um ihn durch die Nase zu ziehen.30

Inzwischen reich und berühmt, wird Wiral von Paweł erpresst und beliefert ihn mit Geld und Drogen, ist zugleich aber auch eine Art Sponsor des Gefängnisses. Nun gerät sein Auftritt, mit dem der Gefängnisdirektor sich eigentlich brüsten und (West-)Europa zeigen wollte, „wie man resozialisiert“, zunehmend außer Kontrolle. Meine Herren, bitte warten Sie noch mit der Kamera. / Ich begrüße Sie zum zwei... zwanzig... zweitesten Geburtstag... Scheiße... / Noch nicht filmen / Zum zweihundertsten Geburtstag. Lassen Sie sich bitte nicht aus der Ruhe bringen. / Moment noch... okay... Wir können anfangen. / 200 Jahre. So alt wäre heute unser großer Landsmann Frédéric Chopin geworden...31

Kritiker haben Ostrowski vor allem wegen seiner Sprache angegriffen: „verfickter Schwuchtelholocaust“ (jebany cweloholocaust), ausgesprochen von einem Skinhead, ist der wohl meistdiskutierte Ausdruck, daneben gibt es Flüche und Schimpfereien wie „verfickte Scheiße“, „Eins-Zwei, Eins-Zwei, Anal-Effekt“ oder

|| 29 Krzysztof Ostrowski: [o.T.]. In: Chopin New Romantic. Warszawa 2010, S. 41–53. 30 Ebd., S. 42. Im Original: „Wiem, że mu piosenki ukradłeś...“ / „...dwa lata z nim się siedziałem...“ / „Stul pysk!“ / „Podpisałeś się pod nimi. Jego teksty. Jego kompozycje. Twoja multiplatynowa płyta...“ / „...a wszystko za nowe adidasy w paczce, modny dresik i drobne na narko raz na jakiś czas.“ 31 Ebd., S. 43. Im Original: „Panowie, poczekajcie z tą kamerą.“ / „Witam z okazji dwus... dwuchsechset... dwusetsechlecia urodzin... kurwa...“ / „Jeszcze nie filmujcie.“ / „Dwusetlecia. Proszę się nie stresować.“ / „Chwila... dobrze... możemy zaczynać.“ / 200 lat. Tyle kończyłby w tym roku nasz wielki rodak, Fryderyk Chopin...“

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„Hure“. Der Comic spielt also auf der Klaviatur von Umgangssprache, Slang und Obszönitäten, passt sich sprachlich dem Sujet an. Der eigentliche semiotische Reiz aber scheint mir im hintergründigen Spiel mit dem empirischen Autor zu liegen: Ostrowski, Jahrgang 1976, ist Mitglied der schon legendären Band Cool Kids of Death, einer Rockband. Damit gehört er in das Umfeld der Generation Nichts (Generacja Nic), eine Kollektivzuschreibung, die auf einen Essay zurückgeht, den der Bassist der Band 2002 verfasst hatte. Der nur ein Jahr vor Ostrowski geborene Jakub (Kuba) Wandachowicz veröffentlichte den Text im Feuilleton der Gazeta Wyborcza und löste damit eine erregte Debatte aus.32 Zentrale Topoi ähnelten den ungefähr zur gleichen Zeit in Deutschland unter den Stichworten „Pop-Literatur“ und Generation Golf geführten Auseinandersetzungen. Kritisiert wurden auch die ästhetischen Verfahren der sie begleitenden, teils provozierenden literarischen Hervorbringungen. Grundmotive waren ästheti(zisti)sche Oberflächlichkeit und gesellschaftliches Desinteresse, Markenund Konsumkultur, Rückzug aufs Private, Karrierefixiertheit, Drogenkonsum und Konformismus, hedonistische Saturiertheit im Westen, kapitalistischer Überlebenskampf im Osten, allgemein die Lebenswirklichkeit der von den Selbstverständlichkeiten ihres Heranwachsens abgeschnittenen 1970er Jahrgänge. Wandachowicz nun beklagte in seiner Abrechnung mit den Generationsgenossen namentlich die „gefährliche Ideenlosigkeit“ einer Kunst, die sich dem „anonymen Kunden“ wie einem „Idol“ unterwerfe, deren Produzenten in die „Schützengräben der heiligen Festanstellung“ drängten oder gleich in die Werbewirtschaft – eine wiederkehrende Trope des neuen Ekels vor der „fortschreitenden Verdummung“.33 Genau hierauf nimmt Ostrowski auch mit seinem Comic Bezug, indem er die Klassiker-Ikone Chopin über seine Bildsprache mit dem ostentativ amoralischen Bandleader Wiral konnotiert, der sich selbst noch dem Gefängnisdirektor andient. Zugleich ist da auch die Allusion des gebrochenen Star-Charakters an die Auftritte von Jonny Cash und seiner Band in den Gefängnissen von Folsom und San Quentin, legendären Meilensteinen der Popgeschichte. Am 13. Januar 1968 spielte der ausgebrannte Country-Sänger Cash vor ungefähr 1.000 Häftlingen im kalifornischen Folsom State Prison; das Live Album wurde zu einem Verkaufserfolg. Gleiches gilt für die Platte Jonny Cash at San Quentin, aufgezeichnet am 24. Februar 1969 im dortigen Hochsicherheitstrakt.

|| 32 Kuba Wandachowicz: Generacja Nic. In: Gazeta Wyborcza (5.9.2002), S. 11–12. Deutsch gekürzt: Kuba Wandachowicz: Generation Nichts. In: Jahrbuch Polen 19 (2008), S. 18–23. 33 Matthias Schwartz: Generation Nichts. Jugendbilder osteuropäischer Frustrationsprosa. In: Osteuropa 11–12 (2013), S. 23–40.

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Während die Auftritte von Cash als „authentisch“ gewürdigt wurden und die Häftlinge ihn als „Einen von uns“ lasen, zeichnet Ostrowski Wiral alias Chopin als einen desillusionierten, empathieunfähigen Superstar, der für seinen Status als Popstar den eigenen Bruder verrät. Wiral tritt im Popper-Stil der 1980er Jahre auf, trägt einen weißen Anzug mit ausgestellten Schultern. Sein Bruder dagegen ist ein glatzköpfiger Skinhead aus der Oi-Punk-Bewegung. Damit stehen sich zwei Generationsmodelle gegenüber, die im Manifest der Generation Nichts angesprochen werden: auf der einen Seite der zynische Wiral, dessen Bühnenoutfit an Prince oder Michael Jackson erinnert, auf der anderen sein Punk-Bruder, der Autoritäten offensiv nicht anerkennt, proletarische Werte ausstellt. Als er seine Tätowierungen nicht verstecken will, zwingt ihn der Bruder gleichwohl dazu, um Image und Geschäft nicht zu gefährden, immerhin wird der Auftritt gefilmt. Anders gewendet: Ostrowski schickt Wiral auf die Bühne, um den Häftlingen Chopin vorzuspielen, der aber braucht für die Ansprache seinen Bruder als Authentizitätsmarker: Wir, die Band, haben hier „Einen von euch“. Durch diese Figurenkonstellation denunziert Ostrowski den Gefängnisauftritt, wie ihn Jonny Cash noch glaubhaft inszenieren konnte: als „authentisch“, weil die eigene Gebrochenheit, die eigene schiefe Lebensbahn (absatzfördernd) hingestellt wurde. Ostrowski malt dagegen Wirals Auftritt als romantische Reklame aus, hier noch gefördert vom staatlichen Fernsehen und unterstützt von der offiziellen Kulturund Sittenwächter-Figur des Gefängnisdirektors – während im verborgenen Nebenan „echter“ Drogenkonsum und Gewalt eskalieren (Abb. 4). Pop-Oberflächenstruktur schlägt Punk-Authentizität. Authentizität, so meine Lesart, lässt sich von Pop nicht herstellen. Im Gegenteil: Pop zielt gar nicht erst darauf ab, sondern steht vielmehr für das ambivalent-taktische Verhältnis zu Masse, Marke (im Comic Jack Daniels) und Konsum. Pop pflegt die ritualisiertanarchische Geste der Rebellion, die im Comic in einen „richtigen“ Aufstand der Häftlinge mündet. Auf der Metaebene schafft Ostrowski eine feine Gegenbewegung, denn sein Comic selbst ist Pop, instruiert von dem Anliegen, die Hochkultur zu subvertieren, Klassiken, Bildungsfesten und Kunstideale zu schleifen. Die heftigen Reaktionen auf seinen Comic signalisieren, dass das Anliegen verstanden wurde.

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Abb. 4: Chopin (Eskalation des Konzerts). Krzysztof Ostrowski: [o.T.] In: Chopin New Romantic. Warszawa 2010, S. 52.

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4 Mickiewicz und Chopin als Vampire In den Comics geht es in einem ersten Schritt um (post-)modern und popkulturell inspirierte Transkodierungen romantischer Klassiker-Ikonen wie Mickiewicz oder Chopin. In diesem Sinne lassen sich die Comics als Ausdruck eines gewandelten historischen Selbstverständnisses lesen, denn was sie vor allem thematisieren, ist die Rolle, die Klassiker im Selbstverständnis der postsozialistischen polnischen Gegenwartskultur einnehmen. Die Comic-Künstler Rebelka und Janusz greifen in Paris 1836 die Kunstfähigkeit des Unheimlichen, Makabren, Schaurigen und Grotesken in der polnischen Romantik ironisch wieder auf und überwinden die Geister der Vergangenheit: durch Zertrümmerung der Aura, Subversion des Geniekults und das Sichtbarmachen der Simulation. Ähnlich verfährt Ostrowski, indes härter, kompromissloser, punkiger. Während Erstere vor allem die Digitalisierbarkeit von Kunst, das Plagiat und den Superstar-Nimbus hinterfragen, fokussiert Letzterer auf den Kommerz und die Oberflächenstruktur im Kontext der Debatte um die Generation Nichts. Dieser Spur sei anhand des 2007 erschienenen Comics Romantik von Krzysztof Gawronkiewicz (Graphik) und Grzegorz Janusz (Szenario) abschließend nachgegangen. Mit Romantik setzten die Künstler ihren Band Essenz (Esencja) von 2005 fort.34 Held beider Comics ist Otto Bohater, ein Detektiv und Außenseiter mit dem sprechenden Nachnamen „Held“. Sein Sidekick ist eine Ratte namens Watson. Die „Geschicke der Polen“ seien eng mit dem Schicksal ihrer Untoten, ihrer Geister und Vampire verbunden, so lautet Maria Janions Einstieg in den Essay Die Polen und ihre Vampire.35 Damit bezieht sie sich auf das Versdrama Ahnenfeier (Dziady) von Adam Mickiewicz, das sie als das Vampirwerk der Polen identifiziert. Janions Beobachtung lautet: In der polnischen Literatur der Romantik und Postromantik sind Vampirphantasmen und Patriotismen zu einem einzigartigen „urpolnischen Amalgam“ geronnen, das sich auch noch in der Gegenwart als fatal erweist.36

|| 34 Ausführlicher dazu siehe Alfrun Kliems: Transkodierungen. Romantische Mythen in Comics aus Polen. In: Mythos und Geschichte in Comics und Graphic Novels. Hg. von Kerstin Borchardt und Tanja Zimmermann. Berlin 2018 [im Druck]. 35 Maria Janion: Die Polen und ihre Vampire. Studien zur Kritik kultureller Phantasmen. Hg. und übers. von Magdalena Marszałek und Bernhard Hartmann. Berlin 2014, S. 35–52, hier S. 35. 36 Ebd., S. 37.

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Bei Mickiewicz gibt es in Teil III, dem sogenannten Dresdner Teil der Ahnenfeier von 1832, eine Vampirszene, in der die Hauptfigur Konrad zu mitternächtlicher Stunde seine Mithäftlinge dazu aufruft, sich in Vampire zu verwandeln und mit ihm gemeinsam die russischen Besetzer Polens zu infizieren. Konrad wird also zum Rächer-Vampir, der dazu auffordert, das Blut der Feinde zu trinken. Der Vampir kommt, so Janions Vorwurf an Mickiewicz, hier nicht von außen, sondern ist Ausdruck eines Ureigenen, Identitären. Schließlich rufe der Dichter bewusst den blutrünstigen Vampir der patriotischen Rache für die Teilung Polens 1795 auf. Gawronkiewicz und Janusz thematisieren in Romantik den von Janion angesprochenen fatalen Einfluss der Romantik auf die Gegenwart. Dafür zitieren sie die Passage der Ahnenfeier, die auch Janion verwendet. Genau dieses Vampirlied singt der Wiedergänger von Mickiewicz auch im Comic (Abb. 5). Darin erweckt das Warschauer Kulturministerium mit einem „Wiederbeleber“ ikonische Figuren der polnischen Kultur zum Leben: den Dichter Mickiewicz, den Komponisten Chopin und den Historienmaler Jan Matejko. Mein Gesang war schon im Grabe, war schon kalt, – Als es Blut gewittert – mehr noch lechzt nach Blut, Und steht auf in eines Vampirs Ungestalt: Und verlangt nach Blut, nach Blut, nach Blut. Sei’s mit Gott, sei’s ohne Gott gemeint – Rache, Rache, Rache an dem Feind.37

Die Wiedergänger brauchen Nahrung – und so werden ihnen Auserwählte in einer Art Zeremonie zugeführt, die im Katakomben-Untergrund eines stillgelegten pittoresken Schwimmbads stattfindet. Unter den Opfern befindet sich auch der Nachbar von Otto Bohater, ein dicklicher kulturbeflissener Romantikforscher. Um ihn zu retten, müssen die Vampire getötet und ihr Herz mit einem Holzpflock durchstoßen werden. Das übernimmt der Detektiv, indem er zuerst Mickiewiczs Herz mit dem Stiel eines „Betreten verboten“-Schildes durchbohrt – dann das von Matejko mit einem abgebrannten Streichholz. Einzig der Chopin-Vampir lässt sich nicht vernichten, denn sein Herz wurde nach dem Tod entfernt und in eine Säule der Heilig-Kreuz-Kirche in Warschau

|| 37 Adam Mickiewicz: Die Ahnenfeier. Ein Poem. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt von Walter Schamschula. Köln, Weimar, Wien 1991, S. 241–243. Im Original: „Pieśń ma była już w grobie, już chłodna; / Krew poczuła; z pod ziemi wygląda, / I jak upiór powstaje krwi głodna, / I krwi żąda, krwi żąda, krwi żąda. / Tak! zemsta, zemsta, zemsta na wroga, / Z Bogiem – i choćby mimo Boga.“

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eingemauert. Die sterblichen Überreste Chopins blieben in Paris. Das Wissen darum gehört zur polnischen Schulbildung – und genau damit spielen Gawronkiewicz und Janusz.

Abb. 5: Romantik (Vampirgesang). Krzysztof Gawronkiewicz und Grzegorz Janusz: Esencja/Romantyzm. Warszawa 2007, S. 60.

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Abb. 6: Romantik (Vampirgesang). Krzysztof Gawronkiewicz und Grzegorz Janusz: Esencja/Romantyzm. Warszawa 2007, S. 60.

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In einer Traumsequenz, die Otto Bohater vor dem Kampf mit den Vampiren hat, geht es um den Verbleib von Chopins Herz (Abb. 6). Der giftgrün gezeichnete Traum sticht auch aus der Farbkomposition des Comics heraus, dessen detailreiche architektonische Objekte in Grau-, Braun- und Blautönen gezeichnet sind, während in den Vampirszenen Rot und Schwarz dominieren. In den Traumpanels liefert der junge Schüler Otto seiner Lehrerin drei (falsche) Antworten auf die Frage, wo das Herz von Chopin abgeblieben sei: 1) „Unser großer Komponist hat, als Romantiker, sein Herz der Liebsten zum Valentinstag geschickt.“ 2) „Nein… Unser großer Komponist, ein Mann des Fortschritts, hat sein Herz dem Anatomiemuseum vermacht.“ 3) „Nein, nein… Unser großer Komponist, ein empfindsamer Mensch, hat sein Herz der Sache der hungernden Bauern verschrieben.“38 Der Comic ironisiert nicht nur die Chopin-Verehrung der Polen, sondern transkodiert vor allem Mickiewiczs Ahnenfeier, vergleichbar im Rang mit Goethes Faust, indem er aufgreift, was Maria Janion als eigentliches Problem aufmacht: Die fatale „innere Haltung“, die hinter dieser Verwandlung in einen Vampir steht. Denn der „klassische“ Vampir ist ein von Blutsucht getriebener Asozialer, der mit dem infizierenden Biss potenziell die ganze Welt in seinesgleichen verwandelt. Die Comic-Wiedergänger Chopin, Mickiewicz und Matejko allerdings infizieren niemanden, sondern werden von der Kulturnation zum Wohle der Kulturnation mit dem Blut lebender Opfer gefüttert. Denn, so der Kulturminister im Fernsehen an die Nation gerichtet, die zeitgenössische polnische Kultur stecke in der Krise, weshalb sie die Klassiker habe in die Gegenwart zurückholen müssen. Und diese würden „intellektuelle Fettwänste“ mit möglichst „pochendem Herzen“ bevorzugen, also gebildete Polen, die möglichst lebendig sein sollen. Kulturgeschichtlich besehen ist die Trope Vampir so polyvalent wie elastisch. Sie kann allgemein dem Ausdruck einer existenziellen Krisenerfahrung dienen. Prominent figurieren hier ein wankendes imperiales, geschlechtliches oder historisches Selbstverständnis.39 Im Vampir-Topos steckt zudem das artiku-

|| 38 Krzysztof Gawronkiewicz und Grzegorz Janusz: Romantyzm, S. 63. Im Original: „Nasz wielki Kompozytor jako człowiek romantyczny wysłał swe serce ukochanej na walentynki.“ / „Nie ... Nasz wielki Kompozytor jako człowiek postępowy zapisał swe serce w testamencie Muzeum Anatomicznemu.“ / „Nie, nie ... Nasz wielki Kompozytor jako człowiek wrażliwy przekazał swe serce na rzecz głodujących chłopów.“ 39 Siehe dazu u.a. Hans Richard Brittnacher: Phantasmen der Niederlage. Über weibliche Vampire und ihre männlichen Opfer um 1900. In: Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige Vampirismus-Diskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Julia Bertschik und Christa Agnes. Tübingen 2005, S. 163–183, hier S. 168.

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lierbare Grundunbehagen an Vermachtung und Allpenetration der globalen Moderne. Gekoppelt an die Wende-Erfahrungen im postsozialistischen Polen spricht Romantik genau das an. Der romantikverliebte Nachbar von Otto Bohater meint schließlich zu erkennen, was ihm beinahe den Tod gebracht hätte: „Jetzt weiß ich, dass die tote Höllenbrut uns keine bedeutende Kunst mehr geben kann... Das sind nur Epigonen, Posthume, Postmorta. Wir sollten von den Künstlern schöpfen, und nicht umgekehrt!“40

|| 40 Krzysztof Gawronkiewicz und Grzegorsz Janusz: Romantyzm, S. 76. Im Original: „Teraz wiem, że te trupy z piekła rodem nie dadzą nam wartościowej sztuki ... To epigoni, pogrobowcy, p o s t m o r t e m i ś c i. My mamy czerpać z artystów, a nie oni z nas!“

Elisabeth Johanna Koehn

Waiting for … Becketts En attendant Godot / Waiting for Godot in Cartoon und Comicstrip

1 En attendant Godot / Waiting for Godot / Warten auf Godot – Klassiker und Ikone „Mittlerweile ist Warten auf Godot ein moderner Klassiker“1, schreibt Joachim Kaiser in seinem Vorwort zur dreisprachigen Suhrkamp-Ausgabe von Becketts berühmtesten Stück schon 1971. Der Klassikerstatus Godots hat sich seither vielfach bestätigt und verfestigt. Geht man davon aus, dass ein Werk sich diesen Status durch seine Aktualisierungen in verschiedenen zeiträumlichen Kontexten und in wechselnden Medien erwirbt, so hat Becketts Werk viel vorzuweisen. Das zwischen 1948 und 1949 geschriebene und 1953 uraufgeführte Stück wurde und wird in verschiedenen geographischen und zeitlichen, politischen und gesellschaftlichen Konstellationen inszeniert und interpretiert. Zur Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte von En attendant Godot/ Waiting for Godot in diesen unterschiedlichen Kontexten liegen zahlreiche Publikationen vor: etwa, um nur einige Beispiele zu nennen, Beiträge, die En attendant Godot/ Waiting for Godot in Japan, Iran, China, Argentinien, in Belgrad, im Gefängnis erforschen.2 Erst in jüngster Zeit wendete sich die Forschung ausführlicher der Rezeption Godots in populärkulturellen Formen zu und rekurrierte dabei auf den Begriff der Ikone: Im Jahr 2016 wurde der Sammelband Beckett in Popular Culture. Essays on a Postmodern Icon publiziert. Die Herausgeber gehen von der Beobachtung der zahlreichen Transformationen von Becketts Werk in verschiedenen populärkulturellen Genres aus. Ihre Untersuchungsbasis bilden

|| 1 Joachim Kaiser: Vorwort zu Samuel Beckett: Warten auf Godot. Frankfurt am Main 1971, S. 7. 2 David Bradby: Beckett: Waiting for Godot. Plays in Production. Cambridge 2001. Bradby verfolgt hier die Inszenierungen des Stücks in Frankreich, England, Deutschland, aber auch in Kanada, Afrika, Osteuropa, Israel, Lateinamerika, China und Japan. Vgl. auch Beckett und die Literatur der Gegenwart. Hg. von Martin Brunkhorst, Gerd Rohmann und Konrad Schoell. Heidelberg 1988; Présence de Samuel Beckett. Colloque de Cerisy. Hg. von Sjef Houppermans. Amsterdam 2006. https://doi.org/10.1515/9783110615760-015

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the rich popular culture materials we had been collecting over the years in terms of Beckettian ‚reincarnations‘ in genre writing such as detective fiction and science fiction; the worlds of advertising, TV programming, modern film, popular music and social networking; not to mention the cult of genius and celebrity naming associated with Beckett’s ‚brand‘ in the ,marketplace‘, and so on.3

Bei dieser Beobachtung setzt auch der vorliegende Beitrag an, um den Ikonenstatus zu präzisieren, der im Titel des Bandes behauptet, dann darin aber nicht weiter thematisiert wird. Genauer gesagt wird anhand seiner Aktualisierungen in Comicstrip und Cartoon der Klassiker- und Ikonenstatus des Werkes Warten auf Godot untersucht und herausgearbeitet, was dessen hochgradige Wiedererkennbarkeit und Effizienz ausmacht. In einem kurzem Abschnitt mit der Überschrift Godot and the popular imagination weist Lawrence Graver in seiner Monographie zu Becketts Stück darauf hin, dass Godot schnell Eingang in Alltag und Populärkultur gefunden hat: „In addition to the iconoclastic Godot quickly becoming a theatre classic, it also […] entered with equal swiftness into the language of common speech.“4 Er zieht das Fazit: „In cartoons, newspapers, magazines; night clubs, and television shows; the words and images of Godot are now as common and recognizable as images from Picasso, Kafka, T. S. Eliot, Giacometti or Joyce.“5 Diese Wiedererkennbarkeit, die verschiedene Zeiten, Medien und teilweise sehr verkürzende, verfremdende oder banalisierende Transformationen übersteht, ist eines der zentralen Merkmale von Ikonizität, das Martin Kemp in seiner Studie From Christ to Coke. How Image Becomes Icon ausmacht: Ikonen erreichen ihm zufolge „exceptional levels of widespread recognizability”6. Das hängt laut Kemp zusammen mit einer weiteren Eigenschaft von Ikonen, nämlich der Einfachheit ihrer Elemente: „They are a strong element of symmetry and the kind of simplicity that allows us to seize upon the key identifiers. [...] Iconic images often exhibit extraordinary robustness however inadequately they are transmitted or however they are traduced during transcription.“7 Martin Kemp spricht über visuelle, statische Ikonen, doch die von ihm genannten Eigenschaften lassen sich bei Godot

|| 3 Peter J. Murphy: Saint Samuel (à) Beckett's Big Toe: Incorporating Beckett in Popular Culture. In: ders. und Nick Pawliuk: Beckett in Popular Culture. Essays on a Postmodern Icon. Jefferson, North Carolina 2016, S. 3–18, hier S. 10. Der Bereich der Cartoons und Comicstrips wird im Sammelband angerissen, aber nicht ausgeführt (vor allem im Beitrag zu Beckett in Graphic Novels von Nick Pawliuk in: ebd., S. 99–106). 4 Lawrence Graver: Beckett. Waiting for Godot. Cambridge ²2004, S. 85. 5 Ebd., S. 86. 6 Martin Kemp: Christ to Coke. How Image Becomes Icon. Oxford 2012, S. 3. 7 Ebd., S. 346.

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gut nachweisen, insbesondere wenn man seine Transformationen in den visuellen Medien Cartoon und Comic untersucht. In verschiedener Hinsicht eignet sich Godot für die Adaptation durch Cartoon und Comicstrip als Genres, die Wort und Bild kombinieren. Zum einen sind nämlich die von Kemp so genannten key identifiers nicht nur auf inhaltlicher und sprachlicher, sondern auch auf visueller Ebene angesiedelt, wie Ronan MacDonald hervorhebt. Charakteristisch für Becketts Werk seien „the instantly recognizable stage settings that lend themselves to imitation and parody“8. Im Falle von Godot handelt es sich um die karge Bühne mit einem kahlen Baum, die zeichnerisch mit wenigen Strichen evozierbar ist, ebenso wie die beiden Hauptfiguren, die durch ihre Hüte leicht zu kennzeichnen sind. Die anderen Figuren, Pozzo und Lucky sowie der Laufjunge tauchen meistens nicht auf.9 Die meisten Godot-Cartoons und -Comicstrips greifen auf einfache, abstrahierende Darstellungsmittel zurück, was dem Charakter des Genres entspricht. Zum anderen erlauben die effizienten key identifiers die für Cartoon und Strip notwendige Kürze und Komprimiertheit der Darstellung. Bezeichnenderweise gibt es keinen monographischen Godot-Comicband, der annähernd in voller Länge den Dramentext oder -verlauf widergäbe. Vielmehr eignet sich das Stück für Aktualisierungen in knappen Formen wie Cartoon, Comicstrip oder als Teil einer Anthologie. Schlicht die Titelbestandteile „Godot“; „Waiting for…“/ „En attendant…“ genügen schon, um die Assoziation zum Stück und seiner Kernsituation hervorzurufen. Ronan McDonald beschreibt diese Kernsituation in seinem Beitrag zum Oxford Handbook of Modern Irish Theatre als reduzierte inhaltliche Hülle des Stückes, die mit beliebigen Kontexten gefüllt werden kann: ‚Godot’ has entered the language as a figure of non-arrival, a ready metaphor as likely to pop up in discussion of a bus timetable as of intellectual drama. He is now the stuff of journalistic rhetoric and political oratory, a coinage to ‚Big Brother’ or ‚Scrooge’ circulating outside their literary origins.10

Ergänzt wird dieser Kern oft mit weiteren sprachlichen Elementen, die so oft zitiert werden, dass sie selbst als key identifiers genannt werden können: So etwa

|| 8 Ronan McDonald: Global Beckett. In: The Oxford Handbook of Modern Irish Theatre. Hg. von Nicholas Grene und Chris Morash. Oxford 2016, S. 579. 9 Ausnahmen bilden die Arbeiten von M. S. Bastian in: Alice im Comicland. Comic-Zeichner präsentieren Werke der Weltliteratur. Hg. von Irene Mahrer-Stich. Zürich 1993, sowie die von Robert Sikoryaks in: Masterpiece Comics. Montreal 2009. 10 Ronan McDonald: Global Beckett, S. 578.

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die berühmte Replik „Yes, let’s go“11, die dann auf der Handlungsebene nicht umgesetzt wird. Sie steht für den Widerspruch zwischen dem Simulieren von Handlungsfähigkeit und tatsächlicher Handlungsunfähigkeit, ebenso wie der folgenlose Vorschlag: „Let’s hang ourselves immediately.“12 Dank dieser prägnanten Kennzeichen lässt sich Godot leicht in Bild oder Bild und Schrift reduzieren, kondensieren, pointieren oder verkürzen. Dazu trägt bei, dass das Warten an einem einzigen, relativ unbestimmten (aber, wie gesagt, sehr wiedererkennbaren!) Schauplatz stattfindet und in dem, wie es mit der berühmten Formulierung des Literaturkritikers Vivian Mercier heißt: „Nothing happens, twice.“13 „Becketts Bestreben, allgemein zu bleiben, begünstigt den produktiven Umgang mit seinen Texten – und zwar bis zu dem Punkt, wo die literarische Substanz nur noch durch Formeln in Erinnerung gerufen wird“14, beobachtet schon 1988 Manfred Schmeling. Mit Merciers Diktum ist außerdem noch ein struktureller key identifier benannt, der, wie sich zeigen wird, von den Cartoons und Comicstrips gerne aufgegriffen wird: die Wiederholung. Schließlich macht noch ein weiteres Charakteristikum von Warten auf Godot es für den traditionell „humoristisch-satirisch“15 angelegten Comicstrip und Cartoon attraktiv: die pantomimisch-clownesken Elemente. Im Folgenden wird an exemplarischen Arbeiten gezeigt, wie die genannten Kernelemente Godots mit den Darstellungsmitteln des Comics aufgerufen und mit welcher Funktion sie mit welchen Kontexten verbunden werden. Die Beispiele, die nun genauer betrachtet werden sollen, lassen sich in zwei durch Ansatz und Erscheinungsform unterscheidbare Gruppen einteilen. Zum einen möchte ich darstellen, wie Godot in Comicanthologien explizit als Teil des Kanons etabliert, zitiert, parodiert wird und zum anderen, wie das Werk im kleinen Genre des Cartoons und Comicstrips aktualisiert wird. Im ersten Fall handelt es sich um Sammelbände, die es sich zum Prinzip machen, verschiedene Werke

|| 11 Samuel Beckett: Warten auf Godot. En attendant Godot. Waiting for Godot. Frankfurt am Main 1971, S. 138. 12 Ebd., S. 46. 13 Vivian Mercier: The Uneventful Event. In: The Irish Times (18.2.1956), S. 6. 14 Manfred Schmeling: Parodie der Unbestimmtheit. Zur literarischen Wirkungsgeschichte von Warten auf Godot. In: Beckett und die Literatur der Gegenwart, S. 203-217, hier S. 217. 15 „Ein Cartoon ist eine humoristisch-satirische Darstellung in einem Einzelbild […]. Vom Comicstrip unterscheidet sich der Cartoon durch die Anzahl der Bilder: Der Cartoon ist ein SinglePanel-Bild, der Comicstrip besteht aus mehreren Panels, die in Streifenform (‚strips‘) nebeneinander und meist auch in mehreren Streifen übereinander angeordnet werden.“ Julia Abel und Christian Klein: Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Stuttgart 2016, S. 144.

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der „Weltliteratur“ in kurzen Comics darzustellen. Der Bezug zum Prätext und dessen Klassikerstatus ist hier also der Ausgangspunkt des Comics, was es nahelegt, dass dieser Status hier nicht nur bestätigt, sondern auch reflektiert wird. Innerhalb dieser Gruppe lassen sich wiederum zwei Herangehensweisen unterscheiden: die Arbeiten, die den kanonischen Prätext als solchen – sei es parodistisch oder nicht – klar wiedererkennbar inszenieren und solche, die den Klassiker Godot als Ausgangspunkt für eine eigenständigere Schöpfung nehmen. Die Cartoons- und Comicstrips hingegen stellen die Anspielung meist in den Dienst anderer Kontexte – hier dient Godot dann wirklich als ikonische Hülle für beliebige Inhalte – und zielen auf komische Pointen.

2 Godot in Kanonreihen En attendant Godot/ Waiting for Godot hat seinen festen Platz im Kanon der „Weltliteratur“ – das bestätigt auch der Blick in Comicanthologien, deren selbsterklärter Anspruch es ist, verschiedene Klassiker in Comicform komprimiert darzustellen.16 Schon dieser Erscheinungskontext impliziert eine Reflexion des Status als Klassiker und Ikone – sei es in affirmativer oder parodierender Weise. Monika Schmitz-Emans unterscheidet in ihrer Studie zu Literaturcomics zunächst „sehr grob differenzierend“ solche Comics, die mit pädagogischer oder bildender Absicht Wissen über den literarischen Prätext vermitteln wollen von solchen, die Wissen über das Werk voraussetzen.17 Bei fast allen Godot-Comics handelt es sich um die zweite Sorte, wenn auch bisweilen ein bildender Ansatz mitschwingt. Sie spielen also mit der Wiedererkennbarkeit Godots und reflektieren damit dessen Klassikerstatus. Wie diese Reflexion in den Anthologien mit den Mitteln des Comics umgesetzt wird und mit welchen visuellen und sprachlichen key identifiers die Godot-Comics arbeiten, soll im Folgenden untersucht werden. Vergleicht man die verschiedenen Anthologiebeiträge zu Godot, bemerkt man, dass sie sich unterschiedlich stark von Becketts Stück entfernen. Ich beginne mit der Untersuchung von Umsetzungen, die relativ nah an der Vorlage eine Mini-

|| 16 Bezeichnenderweise wird es in äquivalenten Reihen, die sich ausschließlich der französischen Literatur widmen, nicht berücksichtigt – ein Beleg dafür, dass Godot nicht als Werk der französischen Nationalliteratur wahrgenommen wird. 17 Monika Schmitz-Emans: Literatur-Comics: Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur. Berlin 2012, S. 251.

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Inszenierung des Stückes in Comicform vornehmen18 – so lassen sie die Figuren auftreten, entwerfen ein Bühnenbild, verwenden Teile aus dem Dramentext. Hier wird also Godot in affirmativer Weise als kanonischer Text aktualisiert. Anschließend werden Herangehensweisen vorgestellt, die sich mehr oder sogar fast ganz vom Inhalt des Stücks lösen und eigenständigere Werke schaffen oder aber den Ikonenstatus – das heißt seine fast beliebige Funktionalisierbarkeit – zum hauptsächlichen Gegenstand ihrer Darstellung machen.

2.1 Alice im Comicland Dem ersten von Schmitz-Emans ausgemachten Typus des Literaturcomics mit Bildungsauftrag entspricht am meisten die Arbeit des Schweizer Comiczeichner M.S. Bastian. Er veröffentlicht seine zeichnerische Inszenierung von Warten auf Godot in der Sammlung Alice im Comicland. Comic-Zeichner präsentieren Werke der Weltliteratur,19 in der verschiedene Comiczeichner, immer beschränkt auf eine Seite, ein kanonisiertes Werk verarbeiten. Bei Bastians Darstellung in vier Panels handelt es sich um eine Inszenierung des Beckettschen Werks, die tatsächlich didaktischen Anspruch zu haben scheint und die die Kenntnis des Werks nicht oder kaum voraussetzt. Fast scheint es so, als wolle er tatsächlich eine „leicht nachvollziehbare Inhaltsdarstellung de[s] weltliterarischen Klassiker[s]“20 liefern, wie Monika Schmitz-Emans das Anliegen der Reihe Classics Illustrated beschreibt. Während er in den Sprechblasen kurze Sätze aus dem originalen Beckett-Text zitiert, fasst er das „Geschehen“ in den Textkästen darunter noch einmal in eigenen Worten zusammen – und erzeugt so den Wiederholungseffekt des „Nothing happens. Twice“. Auch seine zeichnerische Darstellung hat keinen parodistischen Charakter. Im Unterschied zu den meisten anderen GodotComics wählt er einen wenig abstrahierenden, relativ detailreichen, realistischen und individualisierenden Zeichenstil. In schwarzweißen holzschnittartigen Bildern zeigt er die beiden Hauptfiguren in klassischer Weise mit Hüten, zerfurchten Gesichtern auf einer kargen Bühne, mit dem mickrigen Bäumchen – im letzten Panel hat es, wie Beckett es für den zweiten Akt vorgibt, ein paar Blätter. Hier

|| 18 Eine weitere Godot-Inszenierung, die hier nicht näher behandelt werden kann, findet sich in: The Book of Sequels. Hg. von Henry Beard, Christopher Cerf, Sarah Durkee und Sean Kelly. New York 1990. 19 M. S. Bastian: Warten auf Godot. In: Alice im Comicland, Comic Nr. 6. 20 Monika Schmitz-Emans: Comic und Literatur – Literatur und Comic. Zur Einführung. In: Comic und Literatur. Konstellationen. Hg. von Monika Schmitz-Emans. Berlin 2012, S. 1-14, hier S. 8.

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endet der Comic mit einer leichten Abwandlung der Repliken, die, wie oben bemerkt, als einer der key identifier Godots bezeichnet werden können: „Also gehen wir./ Gehen wir“21, während der erläuternde Text unten die Beckettsche Regieanweisung zitiert: „Sie rühren sich nicht von der Stelle.“22

2.2 Masterpiece Comics Der amerikanische Zeichner Robert Sikoryak liefert ebenfalls eine kleine Inszenierung von Warten auf Godot, allerdings mit einer ganz anderen Stoßrichtung. Seine Version heißt „Waiting to Go“23 und erscheint in der Sammlung Masterpiece Comics24, in der Sikoryak kanonisierte literarische Werke im Stil bekannter Comics travestiert: „Masterpiece Comics adapts a variety of classic literary works with the most iconic visual idioms of twentieth-century comics“25, heißt es in der offiziellen Buchbeschreibung. Für die Besetzung von Vladimir und Estragon wählt Sikoryak zwei berühmte Figuren der Zeichentrickwelt: Beavis und ButtHead aus der gleichnamigen MTV-Serie. Er präsentiert sie gealtert mit Bartstoppeln und platziert sie in einem Setting, das die wichtigen key identifiers des Beckett-Dramas enthält: Ein kahler Baum an einer Landstraße, karge Landschaft, die beiden Protagonisten sind mit Hüten ausgestattet. Sikoryak behält über fünfzehn Panels die gleiche Perspektive bei, wechselt lediglich die Größe des Bildausschnitts. So wird auch hier der key identifier der Wiederholung und Gleichförmigkeit aktiviert. Für die Dialoge wählt er einzelne Sätze des Stückes, die nur leicht verändert und mit typischen Beavis-und-Butthead-Phrasen kombiniert werden. Die Serienfiguren sind Teenager, die ihre Zeit mit Musikvideos und blödsinnigen Aktionen verbringen. Sie kommentieren alles entweder mit „cool“ oder „this sucks“. Das folgende Beispiel für die Transformation des Beckett-Textes in die Sprache der Figuren zeigt, dass die Figur des Zeitvertreibens mit nicht durchgeführten Selbstmordplänen und der Faszination für alles Körperlich-Sexuelle tatsächlich auch für die Serienfiguren der 90er funktioniert und der Ikonenstatus bestätigt wird.

|| 21 Samuel Beckett: Godot, S. 139. In der Übersetzung von Elmar Tophoven heißt es: „Also, wir gehen?/ Gehen wir!“ 22 Ebd. Hier ist der Wortlaut nach Tophoven: „Sie gehen nicht von der Stelle.“ 23 Schon dieser Titel signalisiert die humoristisch-verfremdende Herangehensweise: Der Zusatz „to go“ verweist auf die heutige Fastfood-Kultur und auf die Banalisierung des Stückes. 24 Robert Sikoryak: Waiting to go. In: Masterpiece Comics. Montreal 2009. 25 Drawn & Quarterly (o.J.): https://www.drawnandquarterly.com/masterpiece-comics [abgerufen am 15.10.2017].

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Tab. 1: Szenenvergleich Sikoryak und Beckett. Sikoryak

Beckett

B: What should we do, like, while we wait? B: We could hang ourselves. B: We’d get hard. B: Heh. That would be cool.

Vladimir: What do we do now? Estragon: Wait. Vladimir: Yes, but while waiting. Estragon: What about hanging ourselves? Vladimir: Hmm. It’d give us an erection. Estragon (highly excited): An erection!

Insofern ist hier der Mehrwert zu erkennen, den der französische Comickritiker Loleck Sikoryaks Arbeiten zuschreibt: Sikoryak „parvient systématiquement à identifier comme en passant le point de convergence réel des deux registres culturels qu’il croise.“26 Der Strip endet mit dem ikonischen „So, should we go?“ – „Yeah, let’s go.“27 Die beiden Figuren bleiben verloren in der mondbeschienenen Landschaft stehen. Sikoryak benutzt all diese key identifier, um die beiden Serienfiguren als zeitgenössische Verwandte der Beckett-Figuren vorzuführen.

2.3 Moga Mobos Ganz ohne Worte gestaltet Katherine Fuld ihren Godot-Strip in der Anthologie des Kollektivs Moga Mobo Meisterwerke der Weltliteratur (2009). Mit Ausnahme des Titels fallen die sprachlichen key identifiers hier also weg. Auch Figuren und Bühnenbild sind so reduziert, dass man mit den Wiedererkennungsmerkmalen sehr gut vertraut sein muss, um sie als solche zu identifizieren. In acht Panels zeigt Fuld zwei sehr abstrahierte Strichfiguren ohne Gesicht und Arme an einer Straße – das kahle Bäumchen ist durch ein Bushaltestellenschild ersetzt. Nur eine der beiden Figuren trägt einen Hut. Schauplatz, Perspektive und Bildausschnitt bleiben über alle Panels hinweg gleich. Was sich verändert ist die Körperhaltung der Figuren, ihre Platzierung im Raum, ihre Blickrichtung und ihre Stellung zueinander. Das Vergehen der Zeit wird durch die Veränderung des Sonnenstands und der Himmelsfarbe angezeigt; die äußeren Veränderungen bei Beckett (das Auftauchen des Boten, der Auftritt Pozzos und Luckys) werden durch einen wie aus

|| 26 Loleck: Masterpiece Comics. De Robert Sikoryak. du9 (März 2012): https://www.du9.org/ chronique/masterpiece-comics/ [abgerufen am 15.10.2017]. 27 Robert Sikoryak: Waiting to go.

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dem Nichts herbeifliegenden Ball ersetzt, der den Figuren eine Weile lang die Zeit vertreibt. Die Annäherungen und Entfernungsbewegungen zwischen den beiden Figuren werden ebenfalls anhand des Balls gezeigt: Im vierten Panel spielen sie zusammen, im fünften Panel haben sich die Figuren voneinander wegbewegt, jeder spielt für sich und doch bleiben sie aufeinander bezogen. Diese überzeichneten, spielerischen Bewegungen lassen an das im Beckettschen Stück angelegte Pantomimen-Element denken. Am Schluss haben die Figuren die gleiche Haltung eingenommen wie im ersten Panel – so wird die im Stück allgegenwärtige Kreisstruktur aufgerufen. Fuld versucht im Modus der Zeichnung zu zeigen, dass die Hülle der Ikone auch in extremer Reduzierung noch erkennbar bleibt. Sie bietet dem Betrachter ein intellektuelles Spiel an, in dem er die key identifiers und weitere Godot-Elemente in einer sehr reduzierten und nicht-sprachlichen Darstellung suchen und finden kann.

2.4 Literatur gezeichnet Während man bei den bisher vorgestellten Comics von kleinen Godot-Inszenierungen mit den Mitteln des Comics sprechen konnte, handelt es sich bei Verhuur van Botens Arbeit28 um einen Meta-Comic, der sich in erster Linie auf den Klassikerstatus und die Ikonizität des Stückes bezieht. Bei seiner Darstellung, die in dem österreichischen Projekt Literatur gezeichnet erscheint, fehlen die meisten visuellen key identifiers: Weder ein männliches Figurenpaar mit Hüten, noch eine Straße, noch ein Baum sind zu sehen. Es werden auch keine sprachlichen Elemente aus dem Stück aufgegriffen. Lediglich der Name „Godot“ wird genannt und weist darauf hin, dass es sich um eine Auseinandersetzung mit Becketts Stück handelt. Das Schlagwort Godot ist der Titel des Strips, der einen missmutigen Fisch zeigt, der von anderen vorbeiziehenden Meeresbewohnern als Godot identifiziert und begrüßt wird. Durch diesen klaren Hinweis kann der Betrachter dann doch ein paar Kernmerkmale erkennen: Wie schon in den zuvor vorgestellten Comics wird innerhalb der neun Panels die gleiche Perspektive beibehalten und somit Wiederholung und Eintönigkeit evoziert. Die algenartigen dahingestrichelten Meerespflanzen haben außerdem entfernte Ähnlichkeit mit einem kahlen || 28 Verhuur van Boten: Godot. In: Literatur gezeichnet. Hg. von Wolfgang Alber und Heinz Wolf. Furth an der Triesting 2003, Comic Nr. 44. Wie jeder Comic der Anthologie wird auch dieser von einem Text zum Stück begleitet, der allerdings keinen Bezug zum Comic aufweist. Die beiden Elemente stehen unabhängig voneinander, wobei es sich bei den Texten um eine zwar humoristische, aber doch zutreffende Kurzzusammenfassung der Werke handelt, während sich die Comics oft weit von den Texten entfernen.

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Baum. Das Kernthema aber sind die Bekanntheit, Wiedererkennbarkeit und Banalisierung von Warten auf Godot. Der Fisch Godot wird von jedem erkannt, im Vorübergehen gegrüßt, ohne eine Irritation auszulösen oder zu verstören. „Ich verabscheue die Postmoderne“, grummelt der Godot-Fisch im letzten Panel und denunziert damit die Beliebigkeit der Parodien und Bezüge als Merkmal der Gegenwartskultur.

2.5 Nanairo Inko Noch stärker entfernt sich die Godot-Bildgeschichte des berühmten Mangazeichners Osamo Tezukas von der Beckettschen Vorlage.29 Die Reihe Nanairo Inko aus den 1980er Jahren verwickelt ihre Hauptfigur, einen Schauspieler und Dieb, in zahlreiche Abenteuer, wobei in jeder Episode in irgendeiner Weise ein bekannter Dramentext thematisiert wird – von Euripides über Molière bis zu Beckett, aber auch Texte der asiatischen Tradition. Die Godot-Episode eröffnet den dritten Band. Sie ist mit über 20 Seiten der längste Godot-Comic. Der Protagonist trifft darin auf einen weiblichen Roboter, der als Werbemaschine für ein Café versklavt wurde und obsessiv nach dem Ingenieur sucht, der ihn geschaffen hat – dieser heißt Godot. Die Geschichte spielt in Tokio und ist nur vage-assoziativ inspiriert von Becketts Stück. Die Chiffre Godot hat hier ein Eigenleben entwickelt, reduziert auf den wichtigsten key identifier: das unerfüllte Warten in einem völlig verfremdeten, beliebigen Kontext. Die Entfernung vom Referenztext ist so groß, dass der Bezug verlorenzugehen droht, weil er kaum mehr erkannt werden kann, was im Comic selbst ironisch reflektiert wird: „Mais je ne connais pas de Godot!! Et d’abord c’est anglais ou japonais? C’est le nom d’une pâtisserie française?“30, schimpft der Besitzer der Puppe in der französischen Übersetzung. „C’est le titre d’une célèbre pièce de Beckett…“31, lautet wenig später die Antwort des Schauspielers, um sicherzugehen, dass der Puppenbesitzer und vor allem auch die Leser die Anspielung doch verstehen. Hier zeigt sich auch, dass der Kulturtransfer in die japanische Mangawelt eine Erklärung nötig macht: Anders als in den euro-

|| 29 Osamu Tezuka: Nanairo Inko. Ins Französische übertragen von Clélia Delaplace. Paris 2003. Der Godot-Comic findet sich auf den Seiten 3-27. 30 Ebd., S. 10. 31 Ebd. Ergänzt wurden diese Erklärungen innerhalb des Comics durch eine paratextuell vorangestellte Erläuterung, die das Beckettsche Stück knapp in den literaturhistorischen Kontext einordnet und auch gleich eine Erklärung der Autor-Intention liefert: „Beckett souhaitait atteindre une parole nue qui témoigne avec exactitude de la condition humaine.“ Ebd., S. 3.

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päischen Arbeiten muss hier eine explizite und in keiner Weise ironisiert-parodistische Einordnung die Wiedererkennbarkeit des Bezugswerkes sicherstellen. Auch am Schluss wird noch einmal deutlich, dass Tezuka der Ikonizität Godots in diesem Kontext nicht ganz zu trauen scheint. Er fügt ein erklärendes Panel zum Beckett-Stück ein, dessen didaktischer Charakter im Kontrast zur totalen Verfremdung im restlichen Comic steht und auf dem die visuellen key identifier zu sehen sind: zwei traurige Männer mit Hüten auf einer kargen Bühne unter einem kahlen Baum.

3 Godot in Cartoons und Comicstrips Im Unterschied zu den Klassikeranthologien, ist bei den Cartoons die Referenz auf das kanonisierte Werk noch nicht durch den Erscheinungsrahmen vorgegeben. Sie muss also aus eigener Kraft etabliert werden. Lawrence Graver berichtet in seiner Einführung zu Becketts Godot, dass schon bald nach der Uraufführung Cartoonisten die Effizienz der Godot-Merkmale für ihr Genre bemerkten und sich an ihnen für unterschiedlichste Zwecke bedienten. Als Beispiel beschreibt er einen Cartoon aus den 50er Jahren: [D]uring a crisis in the government of Harold Macmillan, the cartoonist Vicky depicted the prime minister as Vladimir and one of his cabinet colleagues as Estragon, mournfully contemplating a newspaper headline about ‚Budget Hopes’ and declaring: ‚we’ll hang ourselves tomorrow…unless Godot comes.’32

Hier steht die Referenz also im Dienste des Kommentars zu einer aktuellen politischen Problematik. Durch diese Anbindung Godots an ein konkretes, kontextspezifisches Problem wird ein komischer, banalisierender Effekt erzielt. Auch in jüngerer Zeit wird die Godot-Hülle vielfach in Cartoons mit verschiedenen Inhalten gefüllt und aktualisiert und beweist damit weiterhin ihre Wiedererkennbarkeit und gesellschaftskritische Effizienz. Sie ist offenbar sehr geeignet für das Genre, das traditionell „besonders stark stilisiert“ und durch „stark vereinfachende Darstellung von Figuren“33 charakterisiert ist. Für welche Themen wird Godot also in Cartoons herangezogen und wie mit typischen Cartoon-Merkmalen verbunden? Welche Effekte werden so erzielt?

|| 32 Lawrence Graver: Beckett. Waiting for Godot. Cambridge 2004, S. 85. 33 Julia Abel und Christian Klein: Comics und Graphic Novels, S. 81.

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Auf thematischer Ebene kann man innerhalb der aktuellen Godot-Cartoons zwei immer wiederkehrende Themengruppen unterscheiden. Wie im von Graver beschriebenen frühen Beispiel, gibt es zum einen auch weiterhin eine Gruppe von Cartoons, in denen die Godot-Form in kritischer Absicht mit politischen Inhalten aufgefüllt wird: Die Chiffre Godot soll entlarven, dass etwas Angekündigtes oder Erhofftes nie eintreffen wird. Zweitens gibt es diejenigen, die auf eine komische Pointe zielen, indem sie den Klassiker Godot auf aktuelle mediale oder kommunikationstechnische Gesellschaftsentwicklungen beziehen. Beide nutzen den Ikonenstatus in unterschiedlicher Weise und er wird in beiden Gruppen in unterschiedlichem Ausmaß reflektiert. Die politischen Cartoons und Strips verwenden Godot als Chiffre für etwas, dass nicht kommen wird und verwenden sie in kritischer Absicht – etwa um nicht eintreffende Wahlversprechen zu denunzieren. Dadurch dass Godot selbst als zeitlos wahrgenommen wird, scheint er besonders geeignet, sich an beliebige, sehr spezifische gesellschaftliche und politische Kontexte anzubinden. Der wichtigste key identifier ist dabei der Name Godot, oft wird der ganze Titel oder aber auch nur die Formel „Waiting for…“ zitiert. Fast immer wird das Bezugsnetz mit anderen sprachlichen und visuellen key identifiers verdichtet. Oft wird der Name Godot durch einen anderen Namen ersetzt. Auf der graphischen Ebene entfernen sich diese Strips und Cartoons meist viel weniger als die Darstellungen in den Klassiker-Anthologien von den visuellen key identifiern: Sie würden die Wiedererkennbarkeit aufs Spiel setzen. Oft orientieren sie sich stark an der Bühnenästhetik der frühen Aufführung von Roger Blin und der Silhouetten-Darstellung der Minuit-Ausgabe. So auch der PulitzerPreisträger 2016 Jack Ohman (Abb. 1) in seinem Kommentar zu den terroristischen Anschlägen in Paris im November 2015: Er zeigt zwei als Silhouetten dargestellte Männer mit Hut, auf einem Felsen sitzend, einer von beiden sagt: „I just know the solution to terrorism is coming soon…“. Neben ihnen sieht man den kahlen Baum, an dem hier eine französische Flagge baumelt. Darunter hilft noch der Titel Waiting for Godot alle key identifiers zu bündeln, um die Wiedererkennbarkeit zu sichern. Der Bezug zu Becketts Stück der zweiten Gruppe von Cartoons, die Godot mit aktuellen Gesellschaftsthemen in humoristischer Absicht verbinden, unterscheidet sich in zweifacher Hinsicht von der ersten. Bei ihnen steht nicht die Figur Godot als Inbegriff eines erwarteten aber nicht eintreffenden Moments im Mittelpunkt, sondern die Situation des Wartens selbst. Außerdem wird der Ikonenstatus des Stücks stärker selbst zum Thema als bei den politischen Zeichnungen, die die Ikone mehr in den Dienst ihrer Botschaft stellen. Zwar kommentieren auch die Cartoons der zweiten Gruppe ein aktuelles Gesellschaftsphänomen, aber in

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erster Linie zielen sie auf eine Pointe, die durch die Parodie, Verzerrung oder Banalisierung des ikonischen Kulturgutes Godot entsteht.

Abb. 1: Jack Ohman: Waiting for Godot. Tribute Content Agency (19.11.2015). https://tribune contentagency.com/features-on-isis-from-world-post-david-horsey-cal-thomas-rex-huppkeand-jack-ohman/ [abgerufen am 15.10.2017].

Es gibt mehrere Cartoons, die Godot ins Handy-Zeitalter verlegen. Zum einen lautet hier wohl die Botschaft: Heute würden sich Vladimir und Estragon mit Smartphones die Zeit vertreiben und darauf warten, dass Godot eine SMS oder WhatsApp-Nachricht schreibt. Komik soll hier andererseits dadurch erzeugt werden, dass das hochkulturell angesiedelte Stück banalisiert wird. Der am 23. Juni 2014 im New Yorker veröffentlichte Cartoon von Benjamin Schwartz (Abb. 2) spielt mit dem Kontrast zwischen der Idee von Godot als ungreifbarer Figur und vom Stück Godot als Hochkultur zur verwendeten SMS-Sprache: „Godot says: ‚Running late, frowny face, winky face.‘“34

|| 34 Benjamin Schwartz: Two Bedraggled Men. Fine Art America (11.08.2016): https:// fineartamerica.com/featured/two-bedraggled-men-benjamin-schwartz.html [abgerufen am 15.10.2017].

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Der US-amerikanische Zeichner Eddie Everette zeigt die beiden Hauptfiguren 2014 vertieft in ihre Smartphones.35

Abb. 2: Benjamin Schwartz: Two Bedraggled Men. Fine Art America (11.08.2016): https://fine artamerica.com/featured/two-bedraggled-men-benjamin-schwartz.html [abgerufen am 15.10. 2017].

Tom Gauld, ebenfalls Cartoonist für den New Yorker, verlegt drei aktuelle Erfolgsserien unter dem Titel „Samuel Becketts Sitcom Pitches“ in die Beckett-Welt (Abb. 3), z.B. „Waiting for Kramer“ als Seinfeld-Parodie.36 Er thematisiert die Ikonizität des Stücks, indem er sie entfremdet zitiert. Unter dem Panel erläutert der Text: „Two men, named Jerry and George await the arrival of a man named Kramer. They talk. Time passes. He doesn’t come. They wait a bit longer.“ Auch auf der visuellen Ebene ist das Godot-Setting nur noch als ironisches Zitat zu erkennen: Die beiden stark stilisierten Figuren befinden sich in einem karg möblierten

|| 35 Edie Everette: Waiting for Godot, Redux. Edie Everette Cartoons Blog (9.09.2014): https://edieeveretteblog.com/2014/09/09/waiting-for-godot-redux/ [abgerufen am 15.10.2017]. 36 Tom Gauld: Samuel Beckett’s Sitcom Pitches. The Guardian (15.10.2016): https://www. theguardian.com/books/picture/2016/oct/15/tom-gaulds-cultural-cartoons-tom-gauld-on-thesitcoms-of-samuel-beckett [abgerufen am 15.10.2017].

Waiting for … | 261

Raum, dessen Wand, so ist am Rand des Panels zu erkennen, mit einem kleinen Bild dekoriert ist, das einen kahlen Baum zeigt. Die Fähigkeit des key identifiers, auch in extrem stilisierter und verfremdeter Form wiedererkennbar zu sein, wird also hier visuell reflektiert: Es genügt, ein Bild eines kahlen Baumes aufzuhängen, um das Godot-Setting aufzurufen.

Abb. 3: Tom Gauld: Samuel Beckett’s Sitcom Pitches. The Guardian (15.10.2016): https://www. theguardian.com/books/picture/2016/oct/15/tom-gaulds-cultural-cartoons-tom-gauld-on-the -sitcoms-of-samuel-beckett [abgerufen am 15.10.2017].

4 Fazit Es konnte gezeigt werden, dass En attendant Godot / Waiting for Godot im Sinne eines funktional-partikularistischen Klassikbegriffs im populärkulturellen Comic und Cartoon beständig Reaktualisierungen erfährt und sein Klassikerstatus dadurch immer wieder überprüft und bestätigt wird. Dabei konnten unterschiedliche Formen der Funktionalisierung beobachtet werden. Die Comicanthologien reproduzieren die Setzung Godots als kanonisches Stück mit verschiedenen Stoßrichtungen. Entweder geht es darum, literarisches Allgemeinwissen zu vermitteln (Alice im Comicland) und seine Aktualität durch Kombinierung mit anderen, visuellen Codes unter Beweis zu stellen (Masterpiece Comics), wobei die key identifiers eindeutig erkennbar bleiben. Andere Arbeiten

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zielen darauf ab, den Klassikerstatus Godots und seine hohe Wiedererkennbarkeit zu reflektieren/ironisieren (Moga Mobos: Literatur gezeichnet) oder schließlich, um ausgehend vom kanonischen Stück ein eigenständiges Kunstwerk zu entwerfen, das auf den Prätext nur noch als lose Referenz verweist (Nanairo Inko). Die key identifiers werden hier stark verfremdet oder sind gar nicht mehr zu erkennen. In den untersuchten Cartoons dagegen lässt sich die Ikonizität Godots im Verständnis Martin Kemps nachweisen. In der komprimierten Form kann er als universell verfügbare Form für jeden beliebigen Kontext funktionalisiert und gefüllt werden: Entweder um ein konkretes, jeweils aktuelles gesellschaftspolitisches Ereignis oder Problem zu kommentieren oder um ihn gezielt parodistisch zu banalisieren.

Anke Steinborn

Fräulein Else und ihr kleines Schwarzes Ein (Mode-)Klassiker und seine Entfaltung im Film Was zieh’ ich an? Das blaue oder das schwarze? Heut’ wär vielleicht das schwarze richtiger.1

Für dieses entscheidet sich Fräulein Else, die Heldin der gleichnamigen, im Jahre 1924 erschienenen Monolog-Novelle von Arthur Schnitzler, dann auch, als sie mit der Bitte um ein Darlehen an den Kunsthändler von Dorsday herantreten muss. Einige Jahre nach Erscheinen der Novelle ist nicht nur Schnitzlers Werk, sondern auch das schwarze Kleid zum Klassiker avanciert. Nachdem schwarze Kleidung sehr lange als Zeichen der Trauer galt, wurde in den 1920er Jahren mit dem schlichten ‚kleinen Schwarzen‘ die Farbe Schwarz auch zu anderen Anlässen salonfähig. Vor dieser Zeit – stellt der Modedesigner Karl Lagerfeld fest – waren Kleider […] vielleicht schlicht, aber [… niemals] ‚klein‘. [Nach dem Ersten Weltkrieg] gewöhnten sich [die Frauen] daran, schlichte schwarze Kleider zu tragen und an anderen zu sehen. Als sich das Leben änderte, wurde das kleine Schwarze zu einem anpassungsfähigen Modeartikel – mal chic, mal sexy.2

Erstmals medial in Erscheinung trat das kleine Schwarze, als Coco Chanel im Oktober 1926 die Zeichnung eines von ihr entworfenen kurzen schwarzen Kleides in der Zeitschrift Vogue veröffentlichte (Abb.1). Resultierend aus der Idee, dass die im Zuge des Ersten Weltkriegs verwitweten Frauen neben ihrer Trauer auch den Blick nach vorn ausdrücken sollten, revolutionierte das kleine Schwarze die Mode und wurde zum Symbol eines neuen, modernen Frauentyps.3 „Inspiriert von der Männermode war Chanels wichtigstes Anliegen Behaglichkeit. In ihren Augen war Sensibilität gleichzusetzen mit Sinnlichkeit, und Sinnlichkeit bedeutete ihrer Ansicht nach Schwarz.“4 Das kleine Schwarze entwickelte sich zu einem

|| 1 Arthur Schnitzler: Fräulein Else. In: Ders.: Fräulein Else und andere Erzählungen. Frankfurt am Main 2000, S. 60. 2 Karl Lagerfeld, zitiert in: Amy Holman Edelman: Das kleine Schwarze. München 2000, S. 35. 3 Auch wenn – wie Karl Lagerfeld feststellt – „[k]leine schwarze Kleider [… bereits] zwischen 1918 und 1920 auf[tauchten]“ und ebenso die New Yorker Modedesignerin Nettie Rosenstein als Urheberin in Frage käme, wird das kleine Schwarze aufgrund der Vogue-Publikation Coco Chanel zugeschrieben. 4 Amy Holman Edelman: Das kleine Schwarze, S. 24. https://doi.org/10.1515/9783110615760-016

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stilübergreifenden anpassungsfähigen Klassiker. Bis heute entstanden und entstehen unzählige Variationen, die eines gemeinsam haben: das Schwarz als Farbe des sinnlichen Empfindens.

Abb. 1: Das kleine Schwarze von Coco Chanel. Eugenia Miranda: From the Archives: Ten Vogue „Firsts“. In: Vogue (31.8.2012). https://www.vogue.com/article/from-the-ar chives-ten-vogue-firsts [abgerufen am 27.10.2017].

„Kleine Schwarze waren [und sind, A. S.] die Antwort jeder Frau auf die Frage, was sie anziehen sollte. Bei jeglicher Unsicherheit kam [und kommt bis heute, A. S.] das kleine Schwarze zum Zug.“5 So auch bei Schnitzlers Fräulein Else, wo das schwarze Kleid zum Symptom der Zerrissenheit Elses wird. Einerseits repräsentiert es die Außenperspektive, fungiert als eine Art bedeutende Fassade, andererseits – und das soll in der folgenden Betrachtung dargestellt werden – offenbart sich über das schwarze Kleid die Innenperspektive der Protagonistin. Im Gegensatz zur Novelle, in der sich Else für das schwarze Kleid entscheidet und ihre Nacktheit zunächst unter einem schwarzen Mantel verbirgt, trägt Else in der 1929 erschienenen Verfilmung von Paul Czinner vornehmlich helle Kleidung. Lediglich bei ihrer ersten Kontaktaufnahme zu Dorsday tritt sie in einem dunklen Cocktailkleid in Erscheinung, dessen Farbgebung jedoch angesichts der üppigen Rüschen und Rosetten in den Hintergrund rückt. Ähnlich floral gerafft ist auch das Kleid, das Else zum abendlichen Ball trägt, bei dem sie mit ihrem Anliegen an Dorsday herantritt. Allerdings ist dieses Kleid wiederum hell und damit farblich an den mondänen weißen Pelz angelehnt, der Elses Nacktheit unmittelbar vor ihrer Entblößung bedeckt.

|| 5 Ebd., S. 68.

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In den weißen Pelz gehüllt gleicht Elses Silhouette jener nackten weißen Venusstatue (Abb. 2), auf die Dorsday blickend verweist, um Else seinen Wunsch – sie als entblößte Unschuld betrachten zu dürfen – deutlich zu machen.6 Darüber hinaus versinnbildlicht das ‚rein weiße‘ Hermelin-Winterfell seit Jahrhunderten Reinheit und Makellosigkeit, weshalb es zum Symbol sowohl religiöser als auch fürstlicher und richterlicher Macht avancierte. Vor diesem Hintergrund tritt auch Else im weißen Hermelin letztlich aus ihrer Opferrolle heraus und demonstriert ihre (Über)Macht, ihre Autonomie, gegenüber Dorsday.

Abb. 2: Fräulein Else (1929). Regie: Paul Czinner, TC: 1:13:40 und TC: 1:24:35.

Des Weiteren verweist die ganz in weiß gehüllte Else auf die zu jener Zeit populäre weiße Dame aus der Persil-Werbung (Abb. 3). Diese entstammt dem Atelier des Berliner Künstlers und Karikaturisten Kurt Heiligenstaedt, der 1922 von der Firma Fleming & Wiskott beauftragt wurde, ein Werbeplakat für Persil zu gestalten. Kreiert wurde die weiße Dame nach dem Vorbild der 18-jährigen Freundin des Künstlers, Erna Muchow, die bekleidet mit einem weißen Kleid, weißem Florentiner-Hut und weißen Handschuhen, die Persil-Packung in der Hand haltend, Modell für ihn stand. Die weiße Kleidung suggeriert porentiefe Reinheit, Frische und Unberührtheit.7 So auch bei der ‚weißen Else‘, die rein und unschuldig ist, das ganze Gegenteil zu den „Schuften“ dieser Welt, die sie bedrohen, benutzen und beschmutzen.

|| 6 Vgl. Henrike Hahn: Verfilmte Gefühle. Bielefeld 2014, S. 160. 7 Carina Berg: Jubiläum einer Werbeikone: Die „Weiße Dame“ von Persil feiert ihren 90. Geburtstag. In: Horizont Online (4.12.2012). http://www.horizont.net/marketing/nachrichten/-Ju bilaeum-einer-Werbeikone-Die-Weisse-Dame-von-Persil-feiert-ihren-90.-Geburtstag-111758 [abgerufen am 27.10.2017].

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In symbolisch verdichteter Form vorweggenommen wird diese Bedrohung zum Dinner im Hotelrestaurant, als man Else auf einem runden, weißen Teller einen sich scheinbar windenden feuchten Fisch mit glotzenden Augen serviert (Abb. 4). Während der runde Teller in Anlehnung an die Symbolik des Kreises, dessen weiche Form für Weiblichkeit steht, und in Kombination mit der Farbe Weiß als das reine, unschuldige Weibliche gedeutet werden kann, versinnbildlicht der Fisch den Phallus, einen zudem ‚glotzenden‘ Phallus, der im Kontext der darauf folgenden Aufnahme Dorsdays mit seinem Monokel, an eben diesen erinnert (Abb. 4).8 Der Fisch verkörpert den lüsternen Blick des Dandys, der die unschuldige Weiblichkeit durchdringt und vereinnahmt. So sehr vereinnahmt, dass Else keinen anderen Ausweg sieht, als sich mit Veronal zu betäuben und die Bedingung Dorsdays zu erfüllen. In den weißen Hermelin gehüllt, schreitet Else schließlich in den Salon des Hotels, wo sie den weißen Pelz ablegt und nach der Entblößung vor Dorsday und den anderen Gästen schlussendlich in sich zusammensinkt.

Abb. 3: Weiße Dame aus der Persil-Werbung. In: http://www.horizont.net/marketing/nachrichten/-Ju bilaeum-einer-Werbeikone-Die-Weisse-Dame-von-Persil-feiert-ihren-90.-Geburtstag-111758 [abgerufen am 27.10.2017].

Die letzten Einstellungen des Films zeigen das weiße Gesicht Elses auf einem weißen Kopfkissen gebettet (Abb. 5). Elses Augen sind geschlossen, was im Zusammenhang mit der vorangegangenen Einstellung, in der Paul weinend an ihrem Bett saß und ihre Hand hielt, auf den nahenden Tod der Protagonistin hindeutet.

|| 8 Vgl. Henrike Hahn: Verfilmte Gefühle, S. 159.

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Überblendet wird dieses Bild von einer alpinen Schneelandschaft, in der – wie im Portrait zuvor – die nach rechts unten abfallende Diagonale dominiert, die der ‚Landkarte des Raumes‘ zufolge eine Negativentwicklung suggeriert (Abb. 5).9

Abb. 4: Fräulein Else (1929). Regie: Paul Czinner, TC: 57:12 und TC: 58:22.

Im Gegensatz zu Schnitzler, der in seiner Novelle nach Ausdrucksmöglichkeiten sucht, Elses Empfinden erfahrbar zu machen, arbeitet Czinner mit Zeichen und filmischen Mitteln, die die figurativen Innenwahrnehmungen zwar symbolisch und ikonisch zur Sprache bringen aber nicht ‚materialisieren‘. So nutzt er die Großaufnahme, die Parallelmontage, POV-Shots, schnelle Schnitte (Stakkato, pulsieren) und eine Lichtsetzung, die auf hell-Dunkel-Kontraste setzt. Hinzu kommen […] Indices (Veronal, Zigarrenring) und Ikons (Venusstatue), die auf kulturelles Wissen rekurrieren und emotional konnotiert sind,10

aber nicht über objektbezogene Zeichen hinausgehen und somit die Empfindung Elses nicht erfahrbar machen. „[D]ie Visualisierung der Innenperspektive“ – kritisiert schon Kracauer – „[fehlt hier] vollständig.“11 Im Gegensatz zur Außenperspektive der symbolisch konnotierten weißen Kleidung Elses wird in einer jüngeren Verfilmung Fräulein Elses aus dem Jahre 2013 über das kleine Schwarze die Innenperspektive der Protagonistin fokussiert. Das schwarze Kleid fungiert hier als zentrales Motiv, in dem die „Spannungsfelder zwischen dem Inneren […d]er Figur und ihrer Außenwahrnehmung“ hervortreten.12

|| 9 Harald Braem und Christof Heil: Die Sprache der Formen. Die Wurzeln des Design. München 1990, S. 155. 10 Henrike Hahn: Verfilmte Gefühle, S. 300f. 11 Ebd., S. 142. 12 Ebd., S. 107.

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Abb. 5: Fräulein Else (1929). Regie: Paul Czinner, TC: 1:29:04–1:29:19.

1 Vom Klassiker und seiner emotionalen Entfaltung Schon im Prolog manifestiert die junge Regisseurin Anna Martinetz die Nähe zu Schnitzlers Intentionen, indem ganze Textpassagen der Novelle direkt rezitiert werden. Zunächst irritierend wirken die Bilder dazu, die eine junge Frau im Zug sitzend und offenbar durch Indien reisend zeigen. Abgebrochen werden diese Aufnahmen von einem anhaltend schwarzen Bild. Lautes Stöhnen ist zu vernehmen, bei dem es sich nicht – wie man zunächst geneigt war zu vermuten – um die Geräuschkulisse eines Geschlechtsaktes, sondern vielmehr um die eines Tennisspiels handelt. „Du willst wirklich nicht mehr weiterspielen, Else?“ – fragt Paul und Else erwidert: „Nein, Paul, ich kann nicht mehr. Adieu“. Else verabschiedet sich von Paul und Cissy mit denselben Worten wie in der Novelle, wodurch auch dieselbe Kernthematik aufgegriffen wird: Das Individuum Else will nicht mehr weiterspielen, sich nicht mehr verstellen, bereitet seinen Abgang vor. […] Else beendet „das Gesellschaftsspiel, das Lebens- und das Liebesspiel“13. Diese ersten beiden Sätze nehmen auch Elses Tod, der am Ende […] anscheinend eintritt, vorweg.14

|| 13 Astrid Lange-Kirchheim: Adoleszenz, Hysterie und Autorschaft in Arthur Schnitzlers Novelle ‚Fräulein Else‘. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 265–300, hier S. 268. 14 Henrike Hahn: Verfilmte Gefühle, S. 104f.

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Genau wie Martinetz dicht am Text der Novelle bleibt, übernimmt sie auch die darin beschriebene Kleidung, also den ‚Text‘ der vestimentären Kommunikation Schnitzlers. So trägt Else auch hier zu Beginn ein rotes Shirt (Abb. 6), in dem sie nach ihrem Tennisspiel durch eine malerische Grünanlage wandelt. Bei ihrer Rückkehr ins Hotel erhält sie den Brief von der Mutter. Die Ambivalenz der Farbe Rot, die Farbe der Liebe, aber auch der Erotik, der Gefahr und des Todes, schmeichelt Else nicht nur, sondern lässt das bevorstehende Dilemma bereits erahnen. Das Rot alarmiert, es warnt vor den drohenden Ereignissen. Eben noch durch den Garten Eden gewandelt und vom Leben geliebt, droht Else nun ‚Prostitution‘ und das nahende Ende aus Verzweiflung. Der Zwiespalt, in den Else im Folgenden gerät, offenbart sich auch weiterhin anhand der ausgewählten Kleidung. Etwa bei einem anschließenden Ausflug gemeinsam mit Paul, Cissy und Dorsday, bei dem Else ein hellblaues Sommerkleid trägt (Abb. 6), das hinsichtlich der Farbgebung an das blaue Gewand der Jungfrau Maria in der christlichen Ikonografie angelehnt ist.15

Abb. 6: Fräulein Else (2014). Regie: Anna Martinetz, TC: 3:14 und TC: 18:24.

Ein Motiv, das – wie anhand des von Angelina Jolie beauftragten Bildes von Kate Kretz deutlich wird – bis heute als Ikone wirkt und dem jeweiligen zeit(geist)lichen Kontext entsprechend aktualisiert wird (Abb. 7). Die Konstante, die dabei der ikonischen Darstellung inhärent bleibt, ist die Semantik der unschuldigen ‚reinen‘ Jungfrau, die auch Fräulein Else über das Kleid zugeschrieben wird. Der gemeinsame Ausflug erscheint wie ein Einblick in oder bereits ein Rückblick auf Elses unbeschwertes Leben. Sie reitet auf einem Elefanten, flaniert

|| 15 Die Farbsymbolik in der christlichen Kunst führt auf das Alte und Neue Testament zurück, wo die Farbe Blau oder auch der blaue Stein Saphir mit dem Himmel verbunden wird. Als Himmels- aber auch Meeresfarbe suggeriert Blau unbegrenzte Ferne und Tiefe. Es ist die Farbe, die Himmlisches, Göttliches und Irdisches verbindet, die Farbe des Glaubens und der Treue.

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durch den indischen Dschungel und kommt Paul, für den sie offensichtlich schwärmt, für einen Moment näher. Die Ausflugssequenz besteht aus einer Reihe von Momentaufnahmen, detaillierten Beobachtungen, die zum Teil geradezu dokumentarisch wirken. Der Leichtigkeit des Tagesausflugs wird das abendliche Dinner entgegengesetzt, zu dem Else – wie bei Schnitzler – ein schwarzes Kleid, konkret ein kleines Schwarzes wählt. [G]enau wie Weiß [oder in Bezug auf die Jungfrau Maria auch Hellblau, A. S.] einen an Unschuld denken lässt, denkt man bei Schwarz sofort an eine bestimmte Subtilität, die oft auf Erfahrung mit den dunkleren Seiten des Lebens beruht: mit dem Bösen, mit Unglück und Tod.16

Die Positionierung des kleinen Schwarzen als Klassiker gelingt Martinetz, indem sie Else in eben diesem vor der Kulisse einer aufgrund ihrer Rundbögen, Pfeiler und dorischen Säulen antik anmutenden Ruine agieren lässt (Abb. 8). Hier kommen Else und Dorsday in ein zunächst sehr allgemeines Gespräch, dessen geringe verbale Relevanz die vestimentäre Bedeutung des Klassikers umso mehr in den Vordergrund rücken lässt. Erst als sich beide von der Ruine entfernen und zu einem tiefen Abgrund begeben, spricht Else – in jeder Hinsicht vor einem Abgrund stehend – den Brief der Mutter und somit die Misere ihrer Familie an.

Abb. 7: Links: Quentin Massys: Madonna und Kind mit Engeln (1500–1509). Rechts: Kate Kretz: Blessed Art Thou (2007). http://www.rp-online.de/panorama/leute/angelina-jolie-mimt-jungfrau-maria-aid-1.2035414 [abgerufen am 4.4.2016].

|| 16 Alison Lurie: The Language of Clothes. Zitiert in: Amy Holman Edelman: Das kleine Schwarze, S. 31.

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Mit den Motiven des Abgrunds und der Ruine bettet auch Martinetz das Kleid in Symbole und Indices ein, löst diese jedoch durch Schnitte und Perspektivwechsel in fragmentarische Momentaufnahmen auf. Wieder in der Ruine angelangt nennt Else den Preis von einer Million. Sie wendet sich von Dorsday ab und geht einen schmalen Gang zwischen den Mauern der Ruine entlang. Die Mauern scheinen sie einzuengen, sie zu bedrängen, genau wie ihre Familie, die ihr dieses Opfer abverlangt. Als Else etwa die Mitte des Ganges erreicht, korrigiert sie ihre Aussage auf 300.000 €, die sie zur ‚Rettung‘ des Vaters benötigt. Daraufhin stellt Dorsday wiederum seine Bedingung und verabschiedet sich von Else, die verstört zurückbleibt.

Abb. 8: Fräulein Else (2014). Regie: Anna Martinetz, TC: 30:25 und TC: 31:48.

Statt auf ihrem Gesicht ruht die Kamera auf dem schwarzen, lose fallenden Haar Elses, dessen faserige Unordnung im Kontrast zur gewebten Oberfläche ihres schwarzen Kleides steht. Mit dem Abgang Dorsdays vollzieht sich sowohl in narrativer als auch filmästhetischer Hinsicht eine Wende. Dabei verlagert sich der Fokus von der ikonischen Inszenierung des kleinen Schwarzen auf dessen atmosphärische Erfahrbarkeit. Analog zur Abwendung von der Außenperspektive auf das kleine Schwarze erfolgt auch ein Perspektivwechsel vom Blick auf Else hin zur Innenperspektive, dem Gefühlsleben, der Protagonistin. In den Vordergrund rückt nun das Erleben der (reinen) Empfindung. Analog zu ihrem vom Wind bewegten Haar beginnt sich auch Else in Bewegung zu setzen. Sie gerät ins Taumeln und ergreift die Flucht. Die Kamera fokussiert ihre Füße, die Beine, den Rocksaum. Else rennt (Abb. 9). Erste, einfache Häuser säumen ihren Weg. Ihr Schritt verlangsamt sich. Im Hintergrund ist Dorsday zu sehen, der Else durch die schmalen Gassen verfolgt. Als sie stehen bleibt, richtet sich die Kamera zunächst auf ihr kaum Regung zeigendes Gesicht, um dann wieder ihr Haar zu umkreisen. Es folgen kurze aneinander geschnittene Passagen, in denen vor wechselnder Kulisse

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der zuvor in der Ruine geführte Dialog oder vielmehr Dorsdays Forderung, wiederholt wird. Das Stimmengewirr der Menschen auf der Straße mischt sich darunter, ebenso indische Musik und – gänzlich dem Kontext entzogen – die Mitteilung Cissys, dass gestern die Kanzlerin angekommen sei. Und dann, Bilder der Kanzlerin auf einer rheinischen Karnevalsveranstaltung, begleitet von indischer Musik.

Abb. 9: Fräulein Else (2014). Regie: Anna Martinetz, TC: 37:02 und TC: 37:11.

Die bunten Karnevalskostüme der Formation tanzenden Funkenmariechen werden mit dunklen Bildern von Menschen, die an einem indischen Fest teilnehmen, kontrastiert (Abb. 10). Sich nahezu im Schwarzen verlierend nähern sich diese Bilder farblich an das kleine Schwarze an, das in seiner klassischen Eleganz und Tiefgründigkeit als Gegenstück zum ‚lauten‘ Oberflächenspiel der bunten Karnevalskostüme fungiert. Allerdings sind die Aufnahmen nicht ganz schwarz, sondern von erkennbaren Bildfragmenten durchbrochen, sodass sich darin die Auflösung eines geschlossenen Ganzen zugunsten der Öffnung und materiellen Erfahrung abzeichnet. Eine Auflösung, die sich gleichermaßen anhand der Entwicklungen des kleinen Schwarzen nachvollziehen lässt.

Abb. 10: Fräulein Else (2014). Regie: Anna Martinetz, TC: 41:59 und TC: 42:43.

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Zunächst im Rahmen der altertümlichen Ruine als symbolträchtiger Klassiker eingeführt, wird die Geschlossenheit des kleinen Schwarzen über die die Bewegung Elses dokumentierenden Momentaufnahmen von Teilen des Kleides erschüttert und fragmentiert, um sich dann im Wechsel mit den Nahaufnahmen der schwarzen Haare Elses in einzelne schwarze Fasern aufzulösen.17 Im Hotelzimmer angekommen erreicht Else abermals eine Nachricht von ihrer Mutter, die Familie benötigt nicht mehr nur 300.000, sondern 500.000 €, um den Vater vor dem Gefängnis zu bewahren. Else legt das schwarze Kleid ab, sodass sie lediglich ihre schwarze Unterwäsche, die wie ein verbliebenes Fragment des kleinen Schwarzen anmutet, auf ihrer Haut trägt. Nachdem sie eine beachtliche Menge Schlaftabletten in einem Glas Wasser aufgelöst hat, legt sie auch die Unterwäsche ab und ‚verkleidet‘ ihre Nacktheit mit einem schwarzen Hosenanzug. In diesem Hosenanzug, der einst als Zeichen des Protests galt und auch hier als Protest gegen den Objektstatus der Frau gewertet werden kann, begibt sich Else auf die Suche nach Dorsday, um ihren Teil der Abmachung zu erfüllen. Als sich Else schließlich im Musikzimmer vor den Augen Dorsdays und den anderen Hotelgästen entblößt, verliert auch der Anzug an Bedeutung. Else ist nackt, der Anzug zu einem schwarzen Stoffhaufen zusammengefallen. Im nächsten Moment sackt auch Else in sich zusammen (Abb. 11).

Abb. 11: Fräulein Else (2014). Regie: Anna Martinetz, TC: 51:05–51:21.

Paul bringt die ohnmächtige Else auf ihr Zimmer und legt sie ins Bett. In einem unbeobachteten Moment greift Else nach dem bereit gestellten Glas mit den aufgelösten Schlaftabletten und trinkt es aus. Mit einsetzender Wirkung dieses Gemischs wird nicht nur Else, sondern auch dem Zuschauer schwarz vor Augen.

|| 17 In Schnitzlers Novelle hat Else rotblondes Haar, im Film schwarzes.

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2 Schwarz, die Empfindung und nichts als Empfindung Die Farbe Schwarz reflektiert die innerpsychischen Vorgänge Elses nicht nur auf symbolischer Ebene (Trauer, Einsamkeit), sondern auch ästhetisch. In Anlehnung an den kunsttheoretischen Diskurs von Kasimir Malewitsch versinn(bild)licht das Schwarz die tiefe und reine Empfindung als solche. Auf der Suche nach dem Nullpunkt der möglichen Reduktion, das heißt der reinen Form und reinen Farbe, visualisierte Malewitsch im Jahre 1915, neun Jahre vor der Entstehung der Novelle Fräulein Else, das Schwarze Quadrat auf weißem Grund. In der Finsternis, der absoluten Farblosigkeit dieses Quadrats sah Malewitsch die Empfindung der Leere, der absoluten Gegenstandslosigkeit verwirklicht. Und auch wenn Schnitzlers Fräulein Else ebenso wie Martinetz’ Verfilmung auf den ersten Blick wenig mit Malewitschs Suprematismus gemein hat, treten bei näherer Betrachtung doch verbindende Intentionen hervor. In allen drei Werken wird die Symbolik der Farbe Schwarz zugunsten der (wahren) Empfindung überwunden. Eine Empfindung, die bei Malewitsch nur durch die radikale ästhetische Abkehr vom Gegenständlichen, vom Dinglichen, hervortreten kann und sich bei Martinetz wie bei Schnitzler in der vom Gegenständlichen, von symbolischen Objekten abgewandten Darstellung innerpsychischer Vorgänge offenbart. Anstelle eines geschlossenen Ganzen ob in Form einer zusammenhängenden lückenlosen Erzählung oder der ikonischen Darstellung des kleinen Schwarzen rückt die affektive Erfahrung des ‚Innenlebens‘ sowohl der Protagonistin Else als auch ihres Kleides. Die Erfahrung Elses Innenlebens erfolgt bei Schnitzler über den inneren Monolog bzw. dessen spezielle Form des Stream of Consciousness.

3 Empfindung, innerer Monolog und Stream of Consciousness Schnitzlers Novelle – schreibt Siegfried Kracauer im Jahre 1929 – ist ein einziger innerer Monolog […]. Alles erscheint […] von Fräulein Else aus gesehen: Vater, Mutter, die Freunde, das Hotel und der Mann, um dessentwillen sie sich vergiftet. In den Schleier ihrer einsamen Assoziationen sind die Figuren gewirkt, vergrößern sich ihr, bringen Gefahr. Weder Menschen noch Gegenstände treten in der Novelle auf, wie sie sind, sondern ragen nur stückweise, wie sie dem Geist des Mädchens sich bieten. Die Psychologie

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wird hier von Schnitzler zu Ende gebracht; sie löst die Dinge auf und führt sich derart selbst ad absurdum.18

Sie „löst die Dinge auf“ in subjektive Momentaufnahmen, in subjektives Empfinden. Die Bezeichnung innerer Monolog führt auf Édouard Dujardin zurück, der 1931 mit monologue intérieur eine Erzähltechnik beschreibt, „die den Bewusstseinszustand einer Person unmittelbar wiederzugeben sucht.“19 Dabei soll das Innere der Figur – das heißt ihre Wahrnehmungen, Empfindungen, Assoziationen, Erinnerungen und Überlegungen – erfahrbar werden, sodass die „Fiktion des ‚Sich-selbst-Erzählens‘“ entsteht.20 Auf diese Weise kommt dem „inneren Monolog bzw. den Gefühlen und Gedanken des Monologisierenden eine Authentizität [zu], die kaum mit einem anderen Darstellungsmittel erreicht werden kann.“21 Bei Schnitzler durchbrechen nur wenige Dialoge, im Text kursiv und durch Anführungszeichen hervorgehoben, die monologische Darstellung der inneren Realität Elses. In diesem alternierenden Wechsel von Monolog und Dialog spiegelt sich einerseits das Spannungsfeld zwischen der Innen- und der Außenperspektive wider, andererseits tritt in der deutlichen Dominanz des Monologs auch die Prägnanz und Fokussierung des Inneren der Figur hervor. Dabei entspricht der „Zeitverlauf innerhalb der Erzählzeit demjenigen innerhalb der erzählten Zeit […]: Fräulein Else handelt von drei Stunden und liest sich in ungefähr zwei bis drei Stunden.“22 Dieser Synchronismus trägt – wie die Erzählform des inneren Monologs – dazu bei, dass der Leser das Geschehen mit der Protagonistin erlebt, es geradezu ‚in ihrer Haut empfindet‘. Schnitzler formuliert in Fräulein Else eine spezielle Form des inneren Monologs, den sogenannten Stream of Consciousness (Bewusstseinsstrom). „Prinzip [des Stream of Consciousness] ist es, das Figurenbewusstsein selbst ‚sprechen‘ zu lassen: Wahrnehmungen, Empfindungen, Assoziationen […], auch bloße Laut-

|| 18 Siegfried Kracauer zu Schnitzlers Novelle im Rahmen seiner Filmrezension zu Fräulein Else in der Frankfurter Zeitung vom 14.4.1929. Zitiert nach: Henrike Hahn: Verfilmte Gefühle, S. 106. 19 Henrike Hahn: Verfilmte Gefühle, S. 107. Siehe auch Édouard Dujardin: Le monologue intérieur. Son apparition, ses origines, sa place dans l’œuvre de James Joyce. Paris 1931. Und Eberhard Däschler: Innerer Monolog. In: Metzler Literatur Lexikon. Stichwörter zur Weltliteratur. Hg. von Günther und Irmgard Schweikle. Stuttgart 1984, S. 201. 20 Vgl. Henrike Hahn: Verfilmte Gefühle, S. 108. Bezug nehmend auf Jürgen Zenke: Die deutsche Monologerzählung im 20. Jahrhundert. Köln 1976, S. 24. 21 Henrike Hahn: Verfilmte Gefühle, S. 109. 22 Ebd., S. 102. „Schnitzler beschreibt Elses Erlebnisse am 3. September 1896 in San Martino di Castrozza, im Berghotel Fratazza (Südtiroler Dolomiten) und dessen Umgebung zwischen 19:00 Uhr und 22:00 Uhr.“ Ebd., S. 101f.

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folgen ohne ausdrückliche Ankündigung oder Eingriff einer Erzählinstanz ‚aufzuzeichnen‘“23, die Gedanken strömen zu lassen. Zenke beschreibt dies als „die ununterbrochene Tätigkeit des Bewusstseins, und zwar auch und gerade in seinen vor- und unbewussten Bezirken“24. Nach Zenke dient der Bewusstseinsstrom „zur Bezeichnung der Darstellung des Wie von psychischen Prozessen in der Grenzzone zwischen vorsprachlichem und sprachlichem Bereich“25. Die Erzählform öffnet sich und offeriert Freiräume.26 Narrative Zusammenhänge, Sätze und schließlich Wörter verflüchtigen sich in Leerräumen, sodass Elses Bewusstseinsstrom nicht mehr beschrieben, sondern assoziativ erfahrbar wird. So auch in Martinetz’ Verfilmung – dem schwarzen Bild der in einen anderen Bewusstseinszustand entschwundenen Else folgt eine Reihe von aneinandergeschnittenen Aufnahmen: ein Tiger im Wasser, Fische unter Wasser. Wieder unterbrochen von einem schwarzen Zwischenbild folgen weitere ähnliche Bilder sowie Fotos – vermutlich der kleinen Else – und Aufnahmen der Protagonistin, dann erneut ein schwarzes Zwischenbild, das mit Aufnahmen einer wildwüchsigen Landschaft, die sich zum Teil in einem monochromen Nebel verliert, kontrastiert wird. Im Anschluss ist wieder ein schwarzes Bild zu sehen und eine weitere Folge von Momentaufnahmen, die willkürlich und fragmentarisch aneinandergereiht scheinen. Begleitet werden die Aufnahmen von den letzten Sätzen Elses aus Schnitzlers Novelle: Sie rufen von so weit! Was wollt ihr denn? Nicht wecken. Ich schlafe ja so gut. Morgen früh. Ich träume und fliege. Ich fliege… fliege… fliege… schlafe und träume… und fliege… nicht wecken… morgen früh… „El…“ Ich fliege… ich träume… ich schlafe… ich träu… träu – ich flie…27

|| 23 Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. Opladen 1998, S. 182–183. „Die Entwicklung dieses Verfahrens geschah in Anlehnung an die Erforschung psychologischer Tatsachen durch William James, der im Bereich der Psychologie die auf Charles S. Peirce zurückgehende Idee eines kontinuierlich ablaufenden ‚Bewusstseinsstroms‘ hatte. Der Bewusstseinsstrom wurde auch schon als die ‚Radikalisierung personalen Erzählens‘ bezeichnet, da auch dort die Innenwelt der Figur kommentarlos präsentiert wird und der Erzähler aus dem Geschehen zurücktreten soll.“ Wolfgang G. Müller: Art. Bewusstseinsstrom. In: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart, Weimar 2013, S. 73–74. 24 Jürgen Zenke: Die deutsche Monologerzählung, S. 22. 25 Ebd., S. 21. 26 vgl. Henrike Hahn: Verfilmte Gefühle, S. 112. Bezug nehmend auf Michael Niehaus: Die Vorgeschichte des ‚inneren Monologs‘. In: Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft 29 (1994), H. 3, S. 225–239, hier S. 238. 27 Arthur Schnitzler: Fräulein Else, S. 160.

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Der rote Faden, der Satz, zerfällt in einzelne Fasern, in phonetische Fragmente, die statt etwas auszusagen, affektiv wirken. Analog dazu lösen sich bei Martinetz auch die Bilder auf. Sie werden – wie das kleine Schwarze – erst zu einzelnen Momentaufnahmen fragmentiert und auf ihre Qualitäten reduziert (bewegte Farben und Formen), um sich schließlich im Schwarz, dem Nullpunkt der möglichen Reduktion von Farbe und Form, also in der absoluten Gegenstandslosigkeit zu verlieren. Sowohl bei Schnitzler als auch bei Martinetz’ wird die Entblößung Elses zum ästhetisch erfahrbaren Prinzip, das sich in der Fragmentierung ihrer letzten Gedanken offenbart, da mit der syntaktischen Öffnung der Worte (und Bilder) auch eine Entblößung ihrer Bedeutungen einhergeht, das heißt die Semantik der Worte zugunsten ihrer phonetischen Wirkung entschwindet. Gleiches lässt sich in Martinetz’ Verfilmung anhand des kleinen Schwarzen nachvollziehen, sodass die Überführung des Modeklassikers vom Symbolischen über das Ikonische zum Atmosphärischen als Reflexion der Übersetzung des literarischen Klassikers der Moderne in den Gegenwartsfilm zu sehen ist. Das Atmosphärische – schreibt Gernot Böhme – zeigt sich in der Materialität der Dinge und Erscheinungen.28 So ist „[d]ie ästhetische Qualität eines Materials […] die charakteristische Weise, in der man es empfindet“29. Böhme schlägt vor, statt von einer Sprache von den gesellschaftlichen Charakteren des Materials zu sprechen und sie von den synästhetischen Charakteren zu unterscheiden. Der Ausdruck Charakter wird dabei der Tradition der Physiognomik entnommen. Im Unterschied zur Physiognomik werden aber die Charakterzüge, die jemand oder etwas hat, nicht als Ausdrucksqualitäten verstanden, sondern vielmehr als Eindrucksqualitäten.30

Elses Monolog drückt am Ende nichts mehr aus. Er wirkt, hinterlässt einen Eindruck, genau wie die Entblößung, bei der nicht nur die Kleidung, sondern auch Else auf ihre ‚Materialität‘, ihr nacktes Fleisch reduziert wird. Ebenso die fragmentarischen Bilderfolgen und die variierenden, hart aneinander montierten Einstellungen von Fragmenten des kleinen Schwarzen, in denen die Unruhe und Zerrissenheit Elses materialisiert und somit für den Betrachter erfahrbar werden. Die Spezifik dieser Bilder wird nicht nur im Vergleich mit Czinners Verfilmung deutlich, sondern auch anhand der diegetischen Kontrastierung der fragmentarischen Detailaufnahmen mit den Totalen der vestimentären Ikonen – dem hellblauen Gewand und dem zunächst klassisch inszenierten kleinen Schwarzen.

|| 28 Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt am Main 1995, S. 51. 29 Ebd., S. 56. 30 Ebd., S. 53.

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Letzteres durchläuft bei Martinetz einen Wandel von der Ikone sinnlicher Eleganz zur Erfahrung des sinnlichen Empfindens, bei dem sich das kleine Schwarze analog zum Selbst der Protagonistin im Atmosphärischen auflöst. Während Czinner in seiner Verfilmung in der gegenständlichen Welt der Objekte und Ereignisse – also in der nach Charles Sanders Peirce Icons, Indices und Symbole umfassenden Zweitheit31 – verharrt, öffnet Martinetz dieses Zeichenrepertoire, um die stoffliche, materielle Möglichkeitswelt – die Erstheit32 – zu fokussieren. Die „Gefühlsqualität“33, die auch Schnitzler mit seiner Sprachlichkeit anstrebt und die die Regisseurin über filmästhetische Materialisierungen spürbar macht. Ausgehend von ikonografischen Reduktionen wie dem hellblauen Gewand und dem kleinen Schwarzen, beschreibt Martinetz über die Fragmentierung und die Materialisierung der Kleidung respektive der Zeichen das Phänomen des Klassikers als solchen, der zur Ikone stilisiert zunächst (an)erkannt wird, dann eine Krise erfährt, um sich letztlich im Kern zu reaktualisieren. Determinierte Semantiken rücken dabei in den Hintergrund und weichen einem ästhetischen Empfinden. Indem sich Martinetz von der Logik ab- und der Ästhetik zuwendet, offeriert sie eine intuitiv erfahrbare Sprachlichkeit, die sich über kulturelle und geografische Grenzen hinwegsetzt. Während das Verständnis von Zeichen der Zweitheit Erfahrung, das heißt „einen Lernprozess und Gedächtnis (Speicher)“34, voraussetzt und das Zeichenverständnis der Drittheit die Kenntnis von bestimmten Regeln erfordert, lassen sich die Zeichen der Erstheit rein instinktiv erschließen.35 Somit hängt das Verstehen letzterer Zeichen nicht von erworbenen Vorkenntnissen oder kulturell spezifischen Regeln ab, sondern rekurriert auf die menschliche Intuition, das Empfinden. So wird mit der Fokussierung der Materialität, der

|| 31 Peirce unterscheidet den Mittelbezug (Erstheit), den Objektbezug (Zweitheit) und den Interpretantenbezug (Drittheit). Während die Zeichen der Erstheit von einem sehr hohen Abstraktionsgrad geprägt sind, enthalten die Zeichen der Zweitheit bis zur Drittheit hin zunehmend mehr Informationen und werden somit konkreter. 32 Vgl. Elisabeth Walther: Die Peircesche Basistheorie. In: Allgemeine Zeichenlehre. Einführung in die Grundlagen der Semiotik. Hg. von ders. Stuttgart 1974, S. 44ff. 33 Charles S. Peirce: MS 339, „Logisches Notizbuch“, 11. Juni 1898. In: Ders.: Semiotische Schriften Band I. Hg. von Christian J. W. Kloesel und Helmut Pape. Frankfurt am Main 2000, S. 345f.: „Ein Erstes ist, in sich selbst, ohne Rücksicht auf etwas anderes […]. Was ein Zweites ist, hängt teilweise von einem anderen ab, doch ist es ohne Rücksicht auf irgendein Drittes und unabhängig von der Vernunft […]. Was ein Drittes ist, hängt von den beiden anderen Dingen ab, zwischen denen es vermittelt. Erstheit ist Gefühlsqualität, Zweitheit ist die nackte Reaktion, Drittheit die Vermittlung.“ 34 Elisabeth Walther: Die Peircesche Basistheorie, S. 94. 35 Vgl. ebd., S. 94.

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Stofflichkeit der Zeichen in Martinetz’ Verfilmung der moderne Klassiker – Schnitzlers Novelle ebenso wie das kleine Schwarze – nicht nur kulturübergreifend materialisiert, sondern auch und insbesondere im Kontext der Globalisierung (re)aktualisiert.

Marie Gaboriaud

Die Republik und der Deutsche Wie Beethoven zum französischen Klassiker wurde Beethoven wird zur Zeit der Dritten Republik (1870-1940) in Frankreich zu einer wahrhaften Kultfigur. Er wird Teil jener „Prozession an großen, effizienten Phantomen“1, die den Zusammenhalt der Nation sichern soll. So behauptet etwa Camille Mauclair 1919, dass „Beethoven kein Musiker [sei], sondern der Heros des modernen Bewusstseins“2. Die 1870er Jahre markieren die Zeit, in der die französische Musik oder allgemeiner die französische Kultur ihre Identität neu zu bestimmen sucht, indem sie sich sowohl von der Romantik (in der man einen tödlichen Ausfluss des Deutschen Idealismus sah) als auch von der italienischen Tradition (die als zu künstlich galt) abgrenzt. Die moralische, kollektive und messianische Autorität, die die Figur Beethovens während der Dritten Republik verkörpert, lässt sich also nicht ohne eine nationale Dimension denken. Aber wie kann ein deutscher Musiker, der 1827 gestorben ist und während des gesamten 19. Jahrhunderts fast allen europäischen Denkern als Musterbild der Romantik galt, plötzlich zum Inbegriff klassizistischer und republikanischer Werte werden?

1 Die Strategien der ‚Französisierung‘ Um Beethoven zum Franzosen zu machen, werden mehrere rhetorische Strategien entfaltet. Die drei wichtigsten Argumente lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Beethoven ist am Rhein geboren, folglich ist er Franzose; Beethovens Familie kommt aus Belgien, folglich ist er Belgier, folglich ist er Franzose; Beethoven vertritt republikanische Ansichten, folglich ist er Franzose.

|| 1 Maurice Agulhon: La République. Band 1: L’Elan fondateur et la grande blessure (1880–1932). Paris 1990, S. 254. 2 Camille Mauclair: En écoutant la Neuvième. In: Les Héros de l’orchestre. Paris 1919, S. 3–12, hier S. 10. https://doi.org/10.1515/9783110615760-017

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1.1 Das rheinische Argument Der Rhein und die Rheingebiete sind für das im Zuge des deutsch-französischen Krieges von 1870-1871 um Elsass-Lothringen verkleinerte Frankreich Gegenstand einer Obsession. Der Rhein ist damals – anders als heute – kein Symbol der deutsch-französischen Freundschaft, sondern der französischen Macht: Das Rheinland wird als eine französische Provinz angesehen, die Napoleon Bonaparte für die Revolution gewonnen habe, die dann vom bismarckschen Preußen ungerechterweise annektiert worden und nach dem ersten Weltkrieg legitimerweise wieder der Republik zugefallen sei. Die Darstellung Beethovens als ‚Sohn des Rheins‘ ist in den Schriften der 1920er Jahre ein Topos; umso mehr, als die Gedenkfeiern zum 150. Geburtstag des Komponisten im Jahr 1920 zeitlich mit der französischen Besatzung der Rheingebiete zusammenfallen. Die Titel der Aufsätze und Monographien zu Beethoven, die in dieser Zeit erscheinen, sprechen für sich: Beethoven, Sohn des Rheins3, Beethovens Jugend4, Beethoven und Frankreich5, Reise entlang des Rheins6, usw. Der Fokus liegt auf Beethovens Jugendzeit in Bonn, die auch vom musikhistorischen Standpunkt her gegenüber der späteren Wiener Zeit aufgewertet wird. Jean Chantavoine zählt zu den wichtigsten Beethoven-Biographen der Zwischenkriegszeit. In einem 1920 in der Zeitung Le Temps veröffentlichten Feuilleton versucht er methodisch zu beweisen, dass Beethoven als Franzose angesehen werden sollte. So weist er z.B. auch auf die französische Präsenz im Rheinland zum Zeitpunkt des Jubiläums hin: Es wäre falsch, unsere Bewunderung für Beethoven kundzutun, indem wir durch eine nicht-musikalische Stimme die Ehre störten, die ihm seine Landsleute erweisen. […] Da Frankreich das linke Rheinufer besetzt und unsere Truppen Bonn als Garnisonsstadt gewählt haben, sind wir sowieso aufs engste daran beteiligt.7

Chantavoine behauptet dann im selben Artikel: „Der Klang unserer Fanfaren und unserer im Winde wiedergewonnener Freiheit flatternden Flaggen würde wohl

|| 3 Jean Chantavoine: Beethoven fils du Rhin. In: Revue rhénane 1 (1921), S. 174–176. 4 Jacques-Gabriel Prod’homme: La Jeunesse de Beethoven. Paris 1921. 5 Jean Chantavoine: Beethoven et la France. In: Revue Pleyel (1924) H. 5 und 6, S. 5–10. 6 Georges Ducrocq: Voyage au bord du Rhin. In: Revue hebdomadaire (1925) H. 12, S. 410–447. 7 „[M]ais ce serait mal admirer Beethoven que de troubler, par une parole étrangère à la musique, l’hommage que lui rendent ses compatriotes. […] Les circonstances nous y associent d’ailleurs de près puisque la France occupe la rive gauche du Rhin et que nos troupes tiennent garnison à Bonn.“ Jean Chantavoine: Le cent-cinquantenaire de Beethoven. In: Le Temps (15.12.1920), S. 5.

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eher seiner unsterblichen Jugend schmeicheln: Er [Beethoven] würde sie anerkennen.“8 Um zu beweisen, dass eine enge Beziehung zwischen Beethoven und Frankreich besteht, bedient sich der Autor eines Parallelismus zwischen dem napoleonischen Einmarsch im Rheinland 1792 und der französischen Nachkriegsbesatzung: In beiden Fällen sei die französische Präsenz als legitim und günstig anzusehen. Beethovens Biographie wird gleichzeitig in einer frankophilen Perspektive aktualisiert. So spielt bei Chantavoine auch die Reise Beethovens von Bonn nach Wien eine symbolische Rolle: Der erzählerische Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter fällt mit dem Einmarsch der französischen Truppen im Rheinland zusammen – ein glücklicher Zufall, der es dem Autor ermöglicht, die Hoffnungen des jungen Mannes auf dem Weg in seine Zukunft mit den revolutionären Idealen des französischen Regimes zu verbinden: Auf dem Weg von Bonn nach Wien hat er [Beethoven] das Rheinland durchlaufen, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als die Republik mit ihren Waffen dort einmarschierte. […] Es gibt keinen Hinweis dafür, dass er den Kontakt mit den Franzosen als feindlich oder schändlich empfunden habe, oder auch nur, dass er darin eine Verletzung seiner patriotischen Gefühle gesehen habe […]. Im Gegenteil: Wie er aus der kleinen Stadt und dem engen Erzbistum entfloh, traf er, […] der dem noch unsicheren Ruf seines Genies in die Zukunft folgte, auf die republikanische Freiheit, die unsere Flaggen entlang des Rheins mit sich brachten, und er sah in ihr so etwas wie eine Schwester […]. Frankreich, die Revolution, ihre fünfundzwanzigjährigen Heerführer – sie sind Beethovens Zeitgenossen, sie sind, wie auch er, um 1770 geboren und sie erobern nun mithilfe von Waffen die Welt, die er mithilfe seiner Kunst erobern will. Kurzum: Beethoven lassen die Ideen und die Männer aus unserem Land nicht los, das alles findet in seiner Seele Widerhall.9

Chantavoine parallelisiert die Erfahrungen Beethovens und die der Soldaten der Revolution. Die vermeintliche Freundschaft zwischen dem Musiker und den französischen Soldaten basiert allerdings auf keiner historischen Quelle. Der Autor

|| 8 „Le son de nos fanfares et nos drapeaux claquant au souffle de la liberté sauvée flatteraient plutôt l’immortalité de sa jeunesse: il les reconnaîtrait.“ Ebd. 9 „En allant de Bonn à Vienne, il a traversé la Rhénanie, alors que les armes de la République y pénétraient comme elles s’y trouvent aujourd’hui. Rien n’indique qu’il ait regardé le contact des Français comme un contact ennemi, odieux ou seulement pénible à son patriotisme [...]. Bien plus, au sortir d’une petite ville et d’une étroite cour archiépiscopale, son indépendance de jeune voyageur attiré vers l’avenir par l’appel encore incertain de son génie, rencontra comme une sœur dans la liberté républicaine qui suivait nos étendards sur le Rhin. […] La France, la Révolution, ses généraux de vingt-cinq ans, contemporains de Beethoven, nés comme lui autour de 1770 et qui conquièrent les armes à la main ce monde qu’il veut conquérir par son art, en deux mots les idées et les hommes de notre pays hantent Beethoven et tout fait écho dans son âme.“ Ebd.

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kommt dann auf das oft behandelte Thema der angeblichen Bewunderung Beethovens für Napoleon zu sprechen. Der auf den Staatsstreich folgende Wutausbruch des Komponisten, der ihn zur Umwidmung der Eroica veranlasst, ist für Chantavoine lediglich ein „Missverständnis“. Hier sei nicht „Hass”, sondern „Rivalität“ am Werk. Die Reaktion „habe eher etwas mit jener Eifersucht zu tun, die von übermäßiger und enttäuschter Liebe bewirkt wird“10. Und mit den Gelegenheitswerken, die der Komponist aus Anlass des Wiener Kongresses 1815 komponierte, hätte er sich selbst verraten: Oberflächlich würden die Stücke zwar den Sieg der Alliierten über Napoleon preisen; in Wirklichkeit seien sie aber gar nicht vom beethovenschen Genie geprägt. Chantavoine erklärt das so: Der Komponist würde „sich dieser Werke entziehen, weil er es nicht mehr von Herzen gern tut.“11

1.2 Das belgische Argument Die flämische Herkunft von Beethovens Familie bildet das zweite gewichtige Argument im Prozess der ‚Französisierung‘ des Musikers. Wie im Fall des ‚rheinischen Arguments‘ handelt es sich hierbei um eine geographische und kulturelle Annäherung des Musikers an den französischen Leser. Die Debatte um die ‚innere Nationalität‘ Beethovens und um seine flämischen Wurzeln findet seit Ende des 19. Jahrhunderts statt; sie gewinnt in den 1910ern Jahren erneut an Brisanz. In einem 1927 verfassten Artikel kommt Jacques-Gabriel Prod’homme, ein weiterer Beethoven-Biograph der Zwischenkriegszeit, auf das Thema der „Rettung“ des Komponisten während des Ersten Weltkrieges zu Sprechen. In der Tat wurden die Werke zu Beginn des Konfliktes konsequent boykottiert. Im Gegensatz zu Wagner, der nicht sobald wieder auf französischen Bühnen zu hören war, wurde Beethoven bereits ab 1915 aus der ‚Seenot‘ der Germanophobie gerettet, sodass seine Werke wieder erklingen konnten. Prod’homme kommentiert spöttisch: Als der Krieg begann, war Beethoven endlich populär geworden. Nun wurde ihm zuerst, wie all seinen deutsch-österreichischen Kollegen auch, eine Buße auferlegt. Dann fiel dem Publikum ein, dass sein Großvater in Antwerpen geboren wurde und dass er ja immerhin einen belgischen Namen trug, und so konnten seine Symphonien wieder aufgeführt werden.12

|| 10 „[Cette hostilité] ressemble aux transports de jalousie causés par l’excès d’un amour déçu.“ Ebd. 11 Beethoven „se dérobe parce que son cœur n’y est plus“. Ebd. 12 „Lorsque la guerre survint, Beethoven avait enfin conquis la popularité. On lui fit d’abord faire pénitence, comme à tous ses confrères austro-allemands, puis on s’avisa que son grand-

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Paradoxerweise hatte Prod’homme 1918 selbst einen Artikel mit dem Titel „Beethovens flämische Herkunft“ verfasst. Darin unternahm er selbst den Versuch, den Komponisten zu „retten“, indem er auf seine flämischen Wurzeln hinwies. Doch schon dieser Artikel kam nicht ohne spöttischen Unterton aus: Es gibt doch Menschen, die sich keine Symphonie, sei sie auch hundert Jahre alt, anhören können, ohne dass sie vorher ihr Gewissen durch Prüfen des Geburtsscheines des Komponisten entlastet hätten. Diesen „manischen“ Menschen seien diese Seiten gewidmet.13

Bezeichnend für eine solche Argumentationsweise ist die Gegenüberstellung des rheinländischen oder belgischen Beethoven mit anderen Musikern oder Künstlern, die tatsächlich deutsch seien, in erster Linie natürlich Wagner. Es geht also ganz klar um eine Abgrenzung gegenüber dem Feind, die in den meisten Beiträgen zu Beethoven zu finden ist. Das Flämische bei Beethoven14 lautet beispielsweise der Titel einer der wenigen Monographien zu diesem Thema, das üblicherweise eher in Zeitungen behandelt wurde. Der Autor ist der belgische Musikwissenschaftler Ernest Closson. Das Buch gibt sich als Widerlegung mehrerer deutscher Biographien aus, unter anderen von Schiedermairs Der junge Beethoven,15 die damals ein großer Erfolg war, deren Perspektive aber laut Closson zu nationalistisch sei. Der belgische Autor beruft sich dagegen ausdrücklich auf die Theorien von Hippolyte Taine um die Vorgehensweise der deutschen Biographen zu kritisieren. Diese hätten, „was Beethoven betrifft, nicht immer von großer psychologischer Feinheit gezeugt“. Das wiederum sei, so Closson weiter, „bei deutschen Biographen üblich“16. Ziel der Debatte über die Nationalität Beethovens war es, den Musiker aus Deutschland zu exportieren und ihn für das kollektive Bewusstsein im französischen Kanon zu verankern. In dieser ideologischen Auseinandersetzung wird

|| père était né à Anvers, et qu’il portait, après tout, un nom belge, et l’on reprit ses Symphonies.“ Jacques-Gabriel Prod’homme: Beethoven en France. In: Mercure de France (15.3.1927), S. 589– 627, hier S. 620f. 13 „Il est pourtant des personnes pour lesquelles l’audition d’une symphonie, eût-elle cent ans d’existence, ne saurait produire d’effet sans avoir au préalable rassuré leur conscience, par la lecture de l’acte de naissance du compositeur. Qu’on nous permette de dédier à ces ‚maniaques‘ [...] ces quelques pages.“ Jacques-Gabriel Prod’homme: Les Origines flamandes de Beethoven. In: Mercure de France (1.10.1918), S. 454–469, hier S. 455. 14 Ernest Closson: L’Elément flamand dans Beethoven. Bruxelles 1928. 15 Ludwig Schiedermair: Der junge Beethoven. Leipzig 1925. 16 „[la critique allemande] n’a pas toujours témoigné, en ce qui concerne Beethoven, d’une très grande finesse psychologique […], [défaut] assez courant des biographes allemands“. Ernest Closson: L’Elément flamand, S. 8.

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noch ein letztes Argument hervorgebracht: Beethoven sei nicht nur durch seine Herkunft, sondern besonders auch durch seine innere und politische Nationalität ein Seelenverwandter der Franzosen gewesen.

1.3 Das revolutionäre und republikanische Argument Die angebliche Sympathie Beethovens für die revolutionären Ideale ist ein weiteres Argument, das für die ‚Französisierung‘ des Musikers eingespannt wird. Die Theorie von Beethovens revolutionärer Besinnung gründet auf liberalen Aussagen, die im Briefwechsel und in den Konversationsheften zu finden sind. Diese lassen ja in der Tat das Bild eines Totalverweigerers der Wiener Salons entstehen. Dieses dritte Beethovenbild steht im engen Zusammenhang mit den zwei anderen. In der oben genannten Monographie Clossons verbindet der Autor das Bild des leidenschaftlichen und unbezähmbaren Beethoven mit der naturalistischen Behauptung seines flämischen Charakters, der von Natur aus heißblütig und volkstümlich sei. Der Flame, so Closson, liebe die Freiheit „mit etwas Aufsässigem, Kämpferischem und Aggressivem, er [würde] sich instinktiv gegen jegliche Form von Macht auflehnen. Der Flame ist ein Germane, aber ein undisziplinierter, schwer steuerbarer Germane.“17 Anders gesagt: Für Closson ist der Flame ein französischer Germane. Der revolutionäre Beethoven ist auch eng mit dem rheinländischen Beethoven verbunden. Wie schon gesagt, wird in den Biographien die historische Koinzidenz von der Bonner Jugend des Musikers und dem revolutionären Feldzug immer wieder hervorgehoben. Edmond Vermeil behauptet zum Beispiel im Jahr 1929, dass „im Rheinland, wo die französische Revolution eine Zeitlang die Herzen erobert hatte, Beethoven sehr früh eine Art Demokrat“ gewesen sei.18 Der aktivste Schriftsteller in diesem Feld ist Julien Tiersot, der in Beethoven einen Revolutionären und einen Republikaner sah. Schon 1894 betont er in einem Artikel zu Fidelio die Frankophilie Beethovens und die zahlreichen Frankreich-Bezüge in seinen Werken. Er erinnert z.B. den Leser an die Tatsache, dass das Opernlibretto von einem französischen Theaterstück adaptiert wurde; er erinnert auch an die Premiere, die vor einem Parterre französischer Militärs statt|| 17 „[A]vec quelque chose de frondeur, de belliqueux et d’agressif, un instinct inné de révolte contre le pouvoir. Le Flamand est un Germain, mais un Germain indiscipliné, difficilement gouvernable.“ Ebd., S. 52. 18 „Beethoven fut, de bonne heure, une manière de démocrate, dans cette région rhénane où la Révolution française avait un instant conquis les cœurs.“ Edmond Vermeil: Beethoven. Paris 1929, S. 25.

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gefunden habe, usw. Insgesamt geht Tiersot davon aus, dass alle Werke Beethovens das revolutionäre Ideal von 1789 würdigten, sodass der Komponist „der ehrlichste und gleichzeitig der genialste Interpret“19 dieses Ideals sei. Es sind diese drei vereinten Strategien, die es ermöglichen, das Bild Beethovens als eines Herzensfranzosen oder beinahe gebürtigen Franzosen entstehen zu lassen. Infolgedessen erscheint es legitim, ihn auch im republikanischen Pantheon aufzunehmen.

2 Beethoven im republikanischen Pantheon Der Französisierungsprozess ermöglicht die Etablierung Beethovens im kulturellen Gedächtnis der Franzosen, genauer im republikanischen Pantheon. Das sieht man an seiner Präsenz in den produktiven Instanzen des nationalen Gedächtnisses: Beethovens Musik wird in unzähligen Konzerten aufgeführt, er ist Gegenstand zahlreicher Publikationen von intellektuellen und politischen Kapazitäten der Zeit, seine Biographie wird mittels Jugendbücher und Unterhaltungsliteratur popularisiert und durch Denkmäler ist er sogar im öffentlichen Raum präsent. Beethoven ist nicht mehr nur ein Künstler-Heros, sondern auch ein grand homme der Dritten Republik: Er wird allmählich zur Verkörperung der Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sowie der damit verbundenen moralischen Werte wie Arbeit, Familie und Vaterland. Dies kann im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes nicht detailliert besprochen werden.20 Es sei hier nur an den Philosophen Alain erinnert, der behauptete, dass „der moralische Unterricht auf dem Kult der Heroen“21 beruhe. Für den Historiker Jean-François Chanet ist dieser Grundsatz „eine Konstante im französischen Bildungsdenken“22. Gleichzeitig wird Beethoven auch in die französische Geschichte integriert, unter anderem dank der so oft wiederholten Szene der Reise nach Wien. Der Musiker wird auf diese Weise Teil einer historischen Langzeitperspektive, die auch von dem für die Dritte Republik ganz zentralen Napoleon-Mythos ausgeht. Dabei

|| 19 Julien Tiersot: Fidelio. In: Le Ménestrel (18.2.1894), S. 49–51, hier S. 49. 20 Detaillierter in: Marie Gaboriaud: Une vie de gloire de et de souffrance. Le mythe Beethoven sous la Troisième République. Paris 2017, S. 453–484. 21 „[L]’enseignement moral repose sur le culte des Héros“. Alain: Propos II. Paris 1970 (zuerst 1912), S. 251. 22 „[Une] constante de la pensée pédagogique française.“ Jean-François Chanet: La Fabrique des héros, pédagogie républicaine et culte des grands hommes de Sedan à Vichy. In: Vingtième siècle. Revue d’histoire (2000) H. 65, S. 13–34, hier S. 21.

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hat man es mit einem gängigen Verfahren in der offiziellen Geschichtsschreibung zu tun: Das Wiederholen der Schlüsselmomente in der nationalen Erzählung dient dazu, das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem historischen Langzeitzyklus zu stärken. Für Chanet ist die so erzeugte „Kontinuität“ ein wesentliches Moment in der Konstruktion des grand homme: Die Dritte Republik ist das Produkt eines Debakels: Die Konsolidierung des Regimes ist deshalb nicht ohne die gleichzeitige Wiederaufrichtung des Vaterlands zu denken. Damit beides gelingt, versucht die Republik sich auf alles zu stützen, was in der Vergangenheit für Kontinuität und Unteilbarkeit steht.23

Die Unteilbarkeit ist in diesem Fall dadurch gesichert, dass die Beethoven-Biographie dem ideologischen und moralischen Rahmen der Dritten Republik angepasst wird: Das gilt sowohl für die politischen Werte (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) als auch für die sozialen Werte (Arbeit, Familie, Vaterland). Der beeindruckendste Aspekt in diesem Pantheonisierungsprozess ist, dass Beethoven Gegenstand der damaligen Statuomanie (Denkmalflut) wird, indem er metaphorische und auch wirkliche Denkmäler inspiriert: doch dazu später mehr. Heute wird insgesamt unterschätzt, wie wichtig die Ikone Beethoven für die Dritte Republik war. So spielt seine Musik eine zentrale Rolle in den republikanischen Gedenkfeiern, etwa anlässlich des Nationalfeiertags am 14. Juli.24 Seine immer wieder herausgestellte moralische Größe lässt ihn gleichzeitig zu den nationalen Heroen zählen. Der Schriftsteller André Suarès stellt 1912 fest: Die Menschen haben einen so starken und universellen Bedarf nach einem moralischen Gesetz, dass sie, mangels anderer Alternativen und auch aus Neigung, die Kunst zu einem solchen Gesetz erheben, sobald ihnen ein Künstler dazu passend erscheint. Obwohl er also nicht der größte unter den Musikern ist, ist Beethoven doch der grand homme der Musik.25

Suarès betont, dass der grand homme ein kollektiver Wert ist: Obwohl er aber „auf andere einwirkt“, ist es seiner Ansicht nach „das Volk, das die grands hommes macht, wie es auch allein die Götter macht; damit meine ich, dass es sie erst of|| 23 „Née de la débâcle, la Troisième République ne peut dissocier sa propre consolidation du relèvement de la patrie. Et pour réussir l’une et l’autre, elle entend s’appuyer sur tout ce qui, dans le passé, est de nature à illustrer la continuité, l’indivisibilité.“ Ebd., S. 14–15. 24 Siehe Pascal Ory: La Belle Illusion. Culture et politique sous le signe du Front Populaire, 1935–1938. Paris 1994, S. 790. 25 „Les hommes ont tant besoin d’une morale, universellement, qu’ils s’en font une de l’art, à défaut d’une autre et par prédilection, dès que l’artiste y prête. Enfin, s’il n’est pas le plus grand des musiciens, Beethoven est le grand homme de la musique.“ André Suarès: Opinions sur Beethoven. In: La NRF (1912) H. 46, S. 680–691, hier S. 689.

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fenbart, dass es sie verehrt.“26 Das Zitat stellt zwei konstitutive Aspekte in der Figur des grand homme heraus: Einerseits wird er vom Kollektiv, das ihn zum Vorbild wählt, „konstruiert“; andererseits ist er auch Teil eines religiös bestimmten Systems. Obwohl die Verehrungsdiskurse insgesamt noch stark von religiösen Mustern geprägt sind, insbesondere im Fall mythischer Figuren wie Beethoven, unterliegt der grand homme doch im Vergleich zu früheren Jahrhunderten ebenfalls den Tendenzen zur Demilitarisierung und zur Laizisierung. Er wird nicht mehr allein unter militärischen und geistlichen Würdenträgern ausgewählt, sondern auch unter Künstlern, Wissenschaftlern und einfachen Leuten. Der Sieg der „kulturellen Heroen“ neben den traditionellen grands hommes des Ancien Régime (Politiker, Kleriker) „zeugt davon, dass die Ideen des 18. Jahrhunderts nun ebenfalls in den populären Schichten angekommen [seien]“27, schreibt June Hargrove. Dass neben den Soldaten-Helden nun auch andere Sorten von Heroen, etwa aus dem Bereich der Künste oder der Wissenschaften, Beachtung finden, hat damit zu tun, dass die Dritte Republik Werte wie Fortschritt und Bildung besonders förderte. Der Historiker Maurice Agulhon stellt das auch am Beispiel der Statuen großer Männer fest – ein Gegenstand, der während der Dritten Republik im städtischen Umfeld blühte. Die politische und denkmalpflegende Angewohnheit, die er in Anlehnung an den spöttischen Kommentaren der Zeit als Statuomanie bezeichnet, sei eng mit dem liberalen Humanismus der Republik verbunden.28 Das Prinzip der Erziehung durch Vorbilder, das dieser Praxis zugrundeliegt, lässt sich mit den zahlreich erscheinenden biographischen Werken oder Romanen in Verbindung bringen, die von vorbildhaften Figuren handeln. Zu nennen wären Romain Rollands Jean-Christophe, später Georges Duhamels Chronique des Pasquier oder auch Jules Romains’ Les Hommes de bonne volonté. Dabei handelt es sich um drei sogenannte romans-fleuve, in denen in einer für diese Zeit charakteristischen Manier Figuren dargestellt werden, die sich moralischen Dilemmata ausgesetzt sehen.29 In Rollands Jean-Christophe z.B. steht das europäische Schicksal eines fiktiven deutschen Komponisten im Mittelpunkt, der allerdings zahlreiche beethovensche Züge aufweist. Es handelt sich um eines der größten Romaner|| 26 „[C’est] le peuple seul [qui] fait les grands hommes, comme il fait seul les dieux: je veux dire qu’il les révèle: je veux dire qu’il les adore.“ Ebd. 27 June Hargrove: Les Statues de Paris. In: Les Lieux de mémoire II: La Nation. Hg. von Pierre Nora. Paris 1986, Band 3, S. 243–282, hier S. 256. 28 Maurice Agulhon: Histoire vagabonde I: ethnologie et politique dans la France contemporaine. Paris 1988, S. 143. 29 Vgl. Aude Leblond: Sur un monde en ruine. Esthétique du roman-fleuve. Paris 2015.

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folge der Vorkriegszeit und der Titelheld wird zum Vorbild für eine idealistische und antimaterialistische Generation. Beethoven ist aber auch ein zentraler Gegenstand der Statuomanie: 1904 plant der Bildhauer José de Charmoy ein Denkmal für den Komponisten. Das Projekt ist sehr ehrgeizig: Das Denkmal sollte ursprünglich zwölf Meter lang und zehn Meter hoch sein! Die Skizzen, die in der Presse erscheinen, stellen einen „plastischen Beethoven dar, zugleich männlich, streng und jugendhaft“30. Auf die Frage, was nun ein solches Denkmal für Paris bedeuten würde, reagiert der Autor dieses Kommentars spontan: Die Grundeigenschaft des unabhängigen Genius ist seine Universalität. Wenn Idee und Ausdruck zur höchsten Vollkommenheit gelangen, dann werden sie zur Synthese, was sie für jeden Kulturmenschen begreifbar werden lässt, von welcher Seite auch immer er sie betrachtet. Darum sind patriotische Erwägungen fehl am Platz, wenn man solche außerordentlichen Naturen ehren will. Darum ist es eine schöne und geistreiche Geste, wenn Paris als das Zentrum intellektuellen Betriebs, Paris als der Tiegel neuer und richtungsweisender Ideen, Paris als das Metronom des Geschmacks, feierlich den größten, den musikalisch vollkommensten Musiker verherrlicht: Beethoven.31

Obwohl er patriotische Beweggründe ablehnt, bildet die Stadt Paris für Boissy doch das Zentrum der Kulturwelt und das „Metronom des Geschmacks“: Deshalb sei Beethoven gewissermaßen Teil ihres geistigen Besitztums. Hieran kann man ein konstantes Paradox im patriotischen Denken der Dritten Republik erkennen, das auch im Prozess der (Re-)Konstruktion der französischen Klassik sichtbar wird: Die Überlegenheit Frankreichs findet ihre Begründung in der Universalität seiner Kultur. Eben aus diesem Grund kann sich die Nation Figuren wie Beethoven so leicht einverleiben. Ab 1905 tritt dann ein Comité du Monument Beethoven zusammen, also ein bürgerliches Komitee zur Unterstützung des Denkmal-Projektes, das zuerst verlangt, dass das Werk auf dem Trocadéro-Platz errichtet werde, und dann, nach Ablehnung des Gemeinderats, im RanelaghPark. Das schon ziemlich fortgeschrittene Werk wird zu diesem Zeitpunkt im Gar-

|| 30 „[T]ype plastique […] à la fois mâle, sévère et jeune“. Gabriel Boissy: La Glorification de Beethoven. In: La Plume (1.5.1905), S. 434–436, hier S. 436. 31 „Le caractère essentiel des génies souverains est d’être universel. Lorsque l’idée et l’expression atteignent la perfection, elles sont à cet état de synthèse qui les rend par quelque côté accessibles à tout être cultivé. Voilà pourquoi les considérations patriotiques n’ont rien à faire dans les hommages rendus à ces natures extraordinaires. Voilà pourquoi il est beau et spirituel que Paris, centre de l’activité intellectuelle, Paris, creuset des idées nouvelles et rectrices, Paris, métronome du goût, glorifie solennellement le plus grand, le plus musicalement complet des musiciens: Beethoven.“ Ebd., S. 434.

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ten des Mobilier National ausgestellt, damit sich das Publikum einen Eindruck davon verschaffen kann. So wird es zu diesem Zeitpunkt von einem Beobachter beschrieben: Beethoven ruht in einer Haltung, die zur Meditation einlädt, halb liegend, auf einem rechteckigen Sockel. Einem olympischen Gott ähnelnd, strahlt er all die schöpferische Kraft, all die Melancholie, die sein Werk zu umhüllen scheint, aus. Auf dem Fundament sind vier geflügelte Genien zu sehen, die mit übermenschlicher Kraft den Heros heben, den sie verherrlichen. Diese Genien verkörpern jeweils die wesentlichen Stimmungen der großen Kompositionen Beethovens: der Heroismus, das Pathos, die Leidenschaft, der Pantheismus.32

Das Denkmal ähnelt vom Stil her den Statuen, die zur selben Zeit für die Heroen des Vaterlandes errichtet werden: stoischer Heroismus, physische Kraft und Pathos sind die charakteristischen Merkmale der damaligen Denkmalästhetik; die Allegorien auf dem Sockel (die geflügelten Genien) bilden zusammen ein laizistisches und republikanisches Pantheon. Trotz der offiziellen Genehmigungen und der Wahl eines Ortes für die Statue, verlangt ein Bürgerkomitee, dass die Dimensionen des Denkmals um die Hälfte reduziert werden. Das Projekt fährt sich fest. José de Charmoy stirbt 1914, sodass die Fertigstellung erst einmal in ferne Zukunft rückt. Der schon vollendete Sockel bleibt zunächst im Wald von Vincennes stehen; 1927, anlässlich des hundertsten Todestages des Komponisten, wird ein Gipsabdruck der Statue ausgestellt, der aber nur wenige Jahre dem Witterungseinfluss widersteht. 1905 hoffte Raymond Bouyer noch, dass man Rodin für das Denkmalprojekt würde gewinnen können. Er wünschte sich ein Werk, dass im Gegensatz zur Klinger-Statue nicht „rein akademisch“33 und auch nicht zu gewaltig sei. „Eine Büste, ein Kopf, eine breite gerunzelte Stirn würden ausreichen“34, schreibt er und bezieht sich dabei auf die Beethoven-Darstellungen Bourdelles und Fix-Masseaus. Bouyer fragt sich, wer nach dem „sehr deutschen“ Klinger-Denkmal

|| 32 „Beethoven repose dans une attitude propice à la méditation, à demi étendu sur un socle rectangulaire. Tel un dieu de l’Olympe il renferme en lui toute la puissance de l’imagination créatrice, toute la mélancolie dont son œuvre est comme enveloppée. À la base du monument, quatre génies ailés soulèvent dans un mouvement de force surhumaine le héros qu’ils veulent glorifier. Ces génies résument les caractères dominants qui se retrouvent dans ses grandes compositions: l’héroïsme, le pathétique, la passion, le panthéisme.“ Anonyme: Le Statuaire du monument Beethoven, José de Charmoy. Paris 1911, ohne Seitenangabe. 33 „Est-il besoin […] d’une académie totale pour évoquer Beethoven?“ Raymond Bouyer: Le Secret de Beethoven. Un monument se prépare. In: Le Ménestrel (2.4.1905), S. 105–107, hier S. 106. 34 „Un buste, une tête, un vaste front plissé suffirait.“ Ebd.

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den anderen Beethoven plastisch gestalten wird: den universellen, vielseitigeren und wahreren Beethoven, den humanitären Beethoven und den menschliche Genius, die zu Musik gewordene Humanität – wer wird diesem Beethoven, der endlich unsere müden Herzen begeistern wird, Gestalt geben?35

Der „universelle“ Beethoven soll, das geht ganz klar aus Bouyers Aussagen hervor, vor allem Franzose sein. Die symbolische Pantheonisierung Beethovens antwortet auf das oben genannte Doppelparadox, das man hier zu spüren bekommt: Das Denkmal für Beethoven soll gleichzeitig universell und nicht-deutsch sein, von einem französischen Künstler angefertigt werden, aber auch nicht einfach akademisch aussehen.

3 Klassik und Romantik Die komplexe Frage, ob Beethoven im ästhetischen Sinn als ‚Klassiker‘ oder als ‚Romantiker‘ zu bezeichnen sei, ist ein wichtiges Anliegen im Prozess der republikanischen Aneignung Beethovens. Das 19. Jahrhundert hat den Komponisten zum ersten Romantiker gekürt; im Kontext der Dritten Republik tendiert man im Gegenteil dazu, ihn als Klassiker zu präsentieren – und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als versucht wird, die französische Kunst als Ganzes als „klassisch“ zu definieren. Mit dem Begriff „klassisch“ wird hier das Harmonische, Klare und Strenge bezeichnet: Das passt zu den Eigenschaften der oben genannten Beethoven-Darstellung von José de Charmoy. Damit Beethoven zum französischen Klassiker werden kann, muss er also in die Nähe der französischen Klassik (die sich selbst als Klassizismus versteht) gerückt werden. In den Jahren um 1850 hatte Sainte-Beuve die Klassik als universell beschrieben: Klassisch sind bei ihm Werke, die in allen Ländern und zu allen Zeiten verstanden werden können.36 Später hatte Ferdinand Brunetière, und zwar in den Jahren um 1880, Klassik und Romantik entgegengestellt;37 die Debatte hatte sich zu einer nationalen Angelegenheit entwickelt: klassischer Süden, romantischer

|| 35 „Après le monument très allemand de Max Klinger, qui formulera plastiquement l’autre Beethoven, universel et plus vaste et plus vrai, le Beethoven humanitaire et le génie humain, l’Humanité faite Musique, qui galvanise un instant nos cœurs las?“ Ebd. 36 Charles-Augustin Sainte-Beuve: Qu’est-ce qu’un classique? In: Causeries du lundi. Paris 1850. Band 3, S. 42. 37 Ferdinand Brunetière: Romantiques et classiques. In: Revue des deux mondes (15.1.1883), S. 412–432, wiederaufgenommen im dritten Band der Études critiques. Paris 1907, S. 291–326.

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Norden.38 Bei Brunetière bleibt immer unklar, ob er für eine historische oder achronische Definition von „Klassik“ steht, oder vielmehr behält er ständig beides parallel im Sinn: Bezeichnet ‚Klassik‘ die Ästhetik des Grand Siècle (das 17. Jahrhundert) oder eine transversale Qualität von Klarheit und Harmonie, die alle Epochen und Länder immerhin gekannt haben? Auf diese Frage gibt er keine endgültige Antwort. Die zwei Auffassungen von ‚Klassik‘ bestehen bis heute nebeneinander, was das Konzept so komplex und spannend macht. Die Koexistenz beider Klassik-Begriffe hat die Aufnahme Beethovens im französischen Klassiker-Kanon erleichtert, da er bald wegen seiner Universalität, bald wegen seiner angeblichen Nähe zur Ästhetik des 17. Jahrhunderts, bald noch im Namen von Werten wie Klarheit und Harmonie integriert wurde, von denen nicht ganz klar ist, ob sie nur charakteristisch für das Grand Siècle sind oder ob sie gewissermaßen transhistorisch für den französischen Geist stehen. Die Schriften über Beethoven zur Zeit der Dritten Republik betonen immerfort die Klarheit, Harmonie und Universalität – kurz: die Klassizität – seines Schaffens. Außerdem wird Beethoven sehr oft neben den berühmtesten Schriftstellern des 17. Jahrhunderts wie Molière und Corneille genannt.39 In den 1930er Jahren nutzen viele Autoren die Gelegenheit der symbolischen Hundertjahrfeier der Romantik (1830 fand u.a. die Schlacht um Victor Hugos Hernani statt, die als Geburtsstunde der französischen Romantik angesehen wird), um Beethoven aus dem romantischen Erbe zu lösen. Der Germanist Jean Boyer z.B. versucht in seinem Buch über Beethovens Romantik zu zeigen, dass Beethovens Zugehörigkeit zur Romantik schlicht erfunden sei und gar nicht seinem Werk entspreche.40 Indem er den Komponisten in die Nähe von Goethe und Schiller rückt, schreibt er ihn – für die allgemeine Vorstellung in Frankreich – in die „Klassik“ sowie indirekter- und paradoxerweise, in die französische Kunst || 38 Die Gegenüberstellung von einem ‚südlichen‘ Klassizismus in der Tradition der griechischrömischen Antike und einer ‚nordischen‘ Romantik aus germanischen und skandinavischen Regionen entsteht im 19. Jahrhundert. Sie beruht sowohl auf historisch-ästhetischen Kriterien als auch auf der Völkerpsychologie, die ja ästhetische Differenzen durch kulturelle Unterschiede (Klima, Sitten, usw.) zu erklären sucht. Die Vorstellung Frankreichs als Land der Synthese zwischen Norden und Süden geht auf diese Gegenüberstellung zurück. Vgl. u.a. Yvon Le Scanff: L’origine littéraire d’un concept géographique: l’image de la France duelle. In: Revue d’Histoire des Sciences Humaines 5 (2001) H. 2, S. 61–93. 39 Siehe zum Beispiel: Raymond Bouyer: Le Secret de Beethoven: réalité, solitude, silence. In: Le Ménestrel 5 (30.4.1905), S. 137–139, hier S. 139; Edmond Vermeil: Beethoven, S. 66; Étienne Martin: Quelques mots sur Beethoven, à l’occasion de son centenaire. Marseille 1927, S. 21; André Suarès: Opinions sur Beethoven. 40 Jean Boyer: Le „Romantisme“ de Beethoven. Contribution à l’étude de la formation d’une légende. Paris 1938.

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ein. Schon im Jahr 1886 hatte Blaze de Bury behauptet, dass der Genius Beethovens nichts mit romantischer Übertreibung zu tun habe: „Der Riese, der Zwerg, der Titan sind Ungeheuer; was aber den genialen Mann auszeichnet, ist Gleichgewicht, Besonnenheit, Harmonie.“41 Die größte Herausforderung bei der „Klassizisierung“ Beethovens ist es also, den Komponisten zu „entromantisieren“. Aber die Aufgabe ist schwer und der Prozess wird nie erfolgreich zu Ende geführt. Die Charakterisierung Beethovens als Klassiker oder als Romantiker bleibt letztendlich unbestimmt und wird dem jeweils aktuellen Bedarf angepasst. Um Beethoven zum französischen Klassiker zu machen, wurde versucht, ihn durch wissenschaftliche, literarische und publizistische Beiträge und sogar durch Denkmäler zu „entgermanisieren“ und zu „entromantisieren“. Dieser Versuch steht der romantischen Rezeption des Musikers in Frankreich entgegen: So hatten u.a. Victor Hugo, Balzac und George Sand im 19. Jahrhundert die Figur eines genialen Narren konstruiert.42 Im Kontext der Dritten Republik ergibt diese Konstruktion keinen Sinn mehr: Sie wird durch moralische Vorbildhaftigkeit sowie universelle und republikanische Werte ersetzt. Natürlich ist diese republikanische Klassizierung nie ganz erfolgreich gewesen und das kollektive BeethovenBild besteht heute aus einer Zusammenstellung von aufeinanderfolgenden Rezeptionsphasen. Die republikanische Klassizisierung Beethovens ist jedoch einzigartig durch ihren kollektiven und nationalen Versuch, mit einem deutschen Komponisten eine nationale Kultur und nationale Werte zu schaffen.

|| 41 „Un géant, un nain, un Titan sont des monstres, et ce qui surtout distingue l’homme de génie, c’est l’équilibre, la pondération, l’harmonie.“ Henri Blaze de Bury: Le Poète Grillparzer et Beethoven. In: Goethe et Beethoven. Paris 1892 (zuerst 1886), S. 164–167. 42 Zur romantischen Beethovenrezeption in Frankreich vgl. Leo Schrade: Beethoven in France, the growth of an idea. New Heaven 1942; vgl. auch Honoré de Balzac: Gambara [Revue et Gazette musicale, 1837]. La Comédie humaine X. Hg. von Pierres-Georges Castex. Paris 1979, S. 466; Jules Janin: Le Dîner de Beethoven. In: Gazette musicale (5. und 12.1.1834), S. 1–3 und 9–11.

Andrea Kreuter

Ikonische Bilder im Ballett Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage, inwiefern der verlorene Schuh, die schlafende Schöne und der Kampf gegen Windmühlen von der Literatur über die Illustrationen Gustave Dorés auf die Ballettbühne gelangten und weiterhin als möglicherweise ikonische gesellschaftliche Bilder präsent sind. Zu Beginn erfolgt ein kurzer Abriss der Entstehungsgeschichte des Balletts und der besonderen Umstände dieser Bühnenkunst, um sich sodann den theoretischen Bedingungen der Umsetzung von Literatur in ein Ballett zu widmen. Die Grundlage bildet hierbei die Dissertation zur Beziehung von Literatur und Tanz von Julia Bührle.1 Die weitere Basis für die Ausführungen zu Miguel de Cervantesʼ Don Quixote bilden darüber hinaus eine entsprechende Berücksichtigung der Arbeiten von Marius Petipa und Gustave Doré. Eine Einbeziehung der Werke Charles Perraults erfolgt vor der Analyse von Dornröschen und Cinderella. Um den vorgegebenen Rahmen einzuhalten, konzentrieren sich die Ausführungen stark auf die zentrale Frage der Bezüge der einzelnen Umsetzungen zueinander und schlussendlich auf ihren möglichen Einfluss auf vorherrschende gesellschaftliche Ikonen.

1 Ballett als Bühnenkunst – Geschichte und Bedingungen Das Ballett etablierte sich im Laufe des 16. Jahrhunderts von Italien aus an den europäischen Fürstenhöfen. Als besonderer Förderer dieser Kunstform erwies sich Ludwig XIV, welcher auch selbst in tänzerischen Darbietungen auftrat.2 Auf die Verkörperung des Apollo im Ballet royal de la nuit von Isaac de Bensardes im Jahre 1653 ist sein Beiname Sonnenkönig zurückzuführen.3 Eine institutionelle Verankerung erfolgte sodann im 17. Jahrhundert durch die Gründung der ersten Akademie. Dieser Ursprung ist bis heute am französischen Tanzvokabular erkennbar.4 Das Handlungsballett als eigenständiges Kunstwerk wird zu Recht mit

|| 1 Julia Bührle: Literatur und Tanz. Die choreographische Adaption literarischer Werke in Deutschland und Frankreich vom 18. Jahrhundert bis heute. Würzburg 2014. 2 Reclams Ballettführer. Hg. von Klaus Kieser und Katja Schneider. Ditzingen 2009 (zuerst 2002), S. 21. 3 Julia Bührle: Literatur und Tanz, S. 45. 4 Reclams Ballettführer, S. 22. https://doi.org/10.1515/9783110615760-018

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Jean Georges Noverre in Verbindung gebracht, welcher 1760 in seinen Lettres sur la danse, et sur les ballets das Ballett als eigenständige gleichberechtigte Kunstform und nicht lediglich als Abfolge tänzerischer Divertissements zu etablieren suchte.5 Ballette waren zu dieser Zeit zumeist in längere Opern- und Ballettabende an Fürstenhöfen integriert und wurden neben Frankreich und Italien zunehmend auch in Deutschland sehr beliebt.6 Als weiteres Ballettzentrum des 18. Jahrhunderts ist Wien mit Franz Hilverding anzuführen, der ebenfalls als Reformer im Sinne Noverres zu bezeichnen ist.7 Neben dem abendfüllenden klassischen Handlungsballett etablierte sich als integraler Bestandteil desselben der Spitzentanz. Dieser setzte sich nach einem Auftritt von Marie Taglioni 1831 in der darauffolgenden Ära des romantischen Balletts mit seinen exotischen Schauplätzen und übernatürlichen Wesen durch.8 Damit einhergehend entwickelte sich ein starker Fokus auf die Tänzerin.9 Mitte des 19. Jahrhunderts verlagerte sich das Ballettzentrum nach Russland, unter anderem bedingt durch die Arbeit von Marius Petipa10 – dazu jedoch später mehr. Abschließend sei noch erwähnt, dass das Ballett als höfische Bühnenkunst selbstverständlich eine Repräsentationsfunktion der herrschenden Welt- und Gesellschaftsordnung besaß. Dies galt für die Entstehung im Zeitalter Ludwigs XIV genauso wie für Petipas Wirken im zaristischen Russland. Ebenso ist heutzutage die politische Konnotation des immer noch staatlich subventionierten Ballettbetriebes stets zu berücksichtigen, auch oder manchmal gerade bei der Umsetzung eines nicht zeitgenössischen literarischen Werkes.11

2 Literatur im Ballett Bildet ein literarisches Werk die Vorlage für ein Ballett, ist zu beachten, dass nicht die genaue Übersetzung von Text in einzelne tänzerische Bewegungen das Ziel ist, sondern eine Umsetzung der textuellen Vorlage in das tänzerische Medium, welche dessen Möglichkeiten und Besonderheiten berücksichtigt. Als Besonderheiten des Tanzes sind hierbei dessen Flüchtigkeit und Wortlosigkeit zu

|| 5 Julia Bührle: Literatur und Tanz, S. 51–55. 6 Ebd., S. 58–60. 7 Reclams Ballettführer, S. 23. 8 Julia Bührle: Literatur und Tanz, S. 115–117. 9 Ebd., S. 115; Reclams Ballettführer, S. 25. 10 Julia Bührle: Literatur und Tanz, S. 135; Reclams Ballettführer, S. 26. 11 Julia Bührle: Literatur und Tanz, S. 45–46.

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nennen, letztere bezogen sowohl auf das Bühnengeschehen als auch die Wiedergabe des tänzerischen Bewegungsvokabulars in schriftlichen Aufzeichnungen. Als Forschungsobjekte eignen sich daher Ballettlibretti, welche bis ins 20. Jahrhundert die Vorstufe der tänzerischen Umsetzung bildeten.12 Das Ballettlibretto und in weiterer Folge das Ballett zeichnen sich gegenüber der literarischen Vorlage unter anderem durch die Vereinfachung aus. Sehr komplexe und figurenreiche Handlungen mit vielen verschiedenen Handlungssträngen sind im Ballett äußerst schwierig umzusetzen. Daher erfolgt häufig ein Rückgriff auf stereotype Figuren, bspw. den klassischen Bösewicht, das reine unschuldige Mädchen oder den Märchenprinzen sowie auf bekannte Handlungsschemata.13 Darüber hinaus sind Ballette stark von Antithesen, im Sinne eines zentralen Konflikts, und Kontrasten, wie dem Kampf vom Bösen gegen das Gute, geprägt. Die Darstellung von Geschehnissen, welche sich abseits vom aktuellen Bühnengeschehen und in der Vergangenheit ereignen, stellt eine weitere Schwierigkeit dar, die allerdings durch Traum- und Visionsszenen bewältigt wurde. Diese bieten zudem ausreichend Möglichkeit zum Tanz, der andernfalls innerhalb des Librettos zu rechtfertigen gesucht wurde, um die Eingliederung entsprechender Divertissements zu ermöglichen. Die Handlung wird demgegenüber meist durch mimische Einlagen vorangetrieben. Den Konventionen der Gattung gemäß sind bei der Wahl des Themas die Publikumserwartungen zu berücksichtigen, und es kommt oftmals zur Entschärfung stark gewalttätiger oder erotischer Inhalte. Derartige Eingriffe sind natürlich zeit- und ortsabhängig und seit dem 20. Jahrhundert meist weniger drastisch.14 Schließlich bildet das so bezeichnete choreografische Prinzip noch ein weiteres Kriterium bei der Umsetzung von Literatur in Ballett, also die Tanzbarkeit des Sujets. So wurden zu Beginn der Kunstform mythologische Themen bevorzugt, da hier der Tanz für das Publikum leichter zu akzeptieren war, und gerade bei literarischen Werken die Handlung ein zentrales Kriterium bildet. Moderne und vor allem postmoderne Werke ohne konkrete Handlung und mit starkem philosophischem Anteil stellen deutlich höhere Anforderungen an die Bühnenumsetzung und in weiterer Folge das rezipierende Publikum.15

|| 12 Ebd., S. 13, S. 20, S. 178. 13 Ebd., S. 46–47. 14 Es sei jedoch an dieser Stelle an den auch bei Julia Bührle angeführten Eklat um Werner Egks Abraxas erinnert. Dessen erotische Walpurgisnachtszene löste 1948 in München einen Skandal aus und so wurde das Ballett nach der fünften Aufführung durch den Bayrischen Landtag verboten, konnte jedoch wenig später problemlos in Berlin und Paris gezeigt werden. (Ebd., S. 48, S. 153) 15 Ebd., S. 42–50.

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3 Marius Petipa Laut dem Ballettkritiker und -experten Horst Koegler ist Petipa „zweifellos die überragende Ballettpersönlichkeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen“16. Petipa wurde 1818 in Marseille geboren und war vor seinem Eintreffen in St. Petersburg im Jahre 1847 unter anderem in Spanien als Tänzer engagiert. Ab 1862 übernahm er den Posten des Ballettmeisters am kaiserlichen Theater und schuf noch heute bekannte Klassiker, wie Don Quixote (1869), Dornröschen (1890) oder Schwanensee (1895). Die Libretti zu seinen Balletten wurden zumeist von professionellen Librettisten oder ihm selbst verfasst und beziehen sich oft auf Märchenwelten, mythologische oder allegorische Sujets.17 Laut Bührle dienten ihm literarische Werke hierbei eher als Stoffquelle, und es erfolgte oftmals keine komplette Umsetzung einer Vorlage. So stellt beispielsweise der Titelheld Don Quixote eine rein mimische Figur dar.18 Dies ist umso relevanter, als Petipas Ballette stark hierarchisch strukturiert sind. Am unteren Ende der Hierarchie finden sich die mimischen Figuren, eben Don Quixote oder auch die böse Fee Carabosse in Dornröschen, dann folgen demi-caractère Tänzer, welche oftmals historische oder nationale Tänze in das Ballett integrieren, und schließlich die Primaballerina an der Spitze, welche im klassischen Bereich dem an Tänzern sehr zahlreichen Corps de ballet gegenübersteht. Das Zentralstück jedes symmetrisch konzipierten Aktes bildet wiederum das Adagio, in dem die Primaballerina ihr Können demonstriert und von ihrem Tanzpartner unterstützt wird. Das Geschlechterverhältnis ist hierbei entsprechend der romantischen Galanterie klar vorgegeben,19 und so kommt Koegler zwar zu dem Schluss: „Petipas Ballette sind eine einzige Huldigung an die Frau. Der Mann hat nur Partnerschaftsfunktionen zu erfüllen.“20 Wie Katia Canton jedoch betont: „[T]his preponderant female exposure

|| 16 Horst Koegler: Petipa und die zaristische Petersburger Ballettkultur des 19. Jahrhunderts. In: Maske und Kothurn 13 (1967) H. 1, S. 30–46, hier S. 30. 17 Alfred Oberzaucher: Tänzerischer Anspruch und kaiserliche Noblesse. Der Choreograph Marius Petipa. In: Don Quixote. Programmheft des Wiener Staatsballetts. Hg. von dems. Wien Spielzeit 2011/2012, S. 38–43, hier S. 39. Basierend auf Gunhild Oberzaucher-Schüller: Marius Petipa. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Band 13. Hg. von Ludwig Fischer. Kassel, Stuttgart 2005. 18 Julia Bührle: Literatur und Tanz, S. 210. 19 Alastair Macaulay: Marius Petipa. In: Dornröschen. Programmheft des Wiener Staatsballetts. Hg. von Alfred Oberzaucher. Wien Spielzeit 1994/1995, S. 20–27, hier S. 21–24. 20 Horst Koegler: Petipa, S. 45.

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was far from being a sign of power.“21 Entsprechend der damals vorherrschenden und von Petipa auf der Bühne festgehaltenen Geschlechterrollen hatten sowohl hinter als auch auf der Bühne Männer die handelnden Rollen inne.22 Die Handlungsexposition sowie das Finale erfolgten im Gegensatz zum Adagio zumeist rein mimisch.23 Bereits die Libretti basieren auf der strikten Trennung zwischen mimischen und tänzerischen Szenen,24 welche sich zumeist abwechselten.25 Insgesamt können Petipas Ballette als Ausdruck des zaristischen Zeitgeistes betrachtet werden und setzen das Hofzeremoniell künstlerisch um.26

4 Gustave Doré Es ist anzunehmen, dass Petipa mit den Illustrationen Dorés vertraut war. Die 1862 erschienenen Histoire ou Contes du temps passé wurden zwischen 1863 und 1881 nicht nur in zahlreiche Sprachen, unter anderem das Russische, übersetzt und stellten eines von Dorés erfolgreichen Büchern dar,27 sondern auch die Kostüme für die Dornröscheninszenierung wurden vom damaligen Direktor des kaiserlichen Theaters Wsewoloschskij nach Dorés Illustrationen gestaltet.28 Der 1832 geborene Künstler ist mit seinen zahlreichen Illustrationen und Gemälden der Kunstströmung des l’art pour l’art zuzuordnen. Diese bildete ab ca. 1830 neben dem l’art social eine der beiden vorherrschenden Kunstströmungen in Frankreich. Während das l’art social die Kunst als Mittel der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtete und von Napoleon III entsprechend instrumentalisiert wurde, produzierte das l’art pour l’art außerhalb staatlicher Förderungen Kunst um ihrer selbst willen mit dem Interesse, subjektive Gefühle und keine objektiven Realitätsansichten wiederzugeben. Letztendlich wurde auf diese Weise eine

|| 21 Katia Canton: The Fairy Tale Revisited. A Survey of the Evolution of the Tales, From Classical Literary Interpretations to Innovative Contemporary Dance-Theater Productions. New York 1996 (zuerst 1994), S. 68. 22 Ebd., S. 67–69. 23 Alfred Oberzaucher: Tänzerischer Anspruch, S.40. 24 Horst Koegler: Petipa, S.41. 25 Julia Bührle: Literatur und Tanz, S. 205. 26 Alastair Macaulay: Marius Petipa, S.27; Horst Koegler: Petipa, S.45. 27 Angelika Hildebrandt: Charles Perrault. Les contes de Perrault. In: Gustave Doré. Illustrator, Maler, Bildhauer. Beiträge zu seinem Werk. Offizieller Ausstellungskatalog. Band 2. Hg. von Herwig Guratzsch und Gerd Unverfehrt. Dortmund 1982, S.164–170, hier S.164. 28 Gunhild Oberzaucher-Schüller: „Le czar soleil“ und sein Hof. In: Dornröschen. Wien Spielzeit 1994/1995, S. 12–19, hier S. 18.

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Wunsch- bzw. Gegenwelt für das bürgerliche Publikum kreiert, und beliebte Themen waren neben dem Exotischen und Mystischen unter anderem Werke der Weltliteratur.29 Dorés Arbeit ist hierbei von starken Kontrasten geprägt, und so erfolgt beispielsweise beim Don Quixote häufig ein extremer Wechsel zwischen Nahaufnahme und totaler Darstellung. Ebenso häufig präsent sind bühnenähnliche Hell-Dunkel-Kontraste. Darüber hinaus entspricht das Größenverhältnis zumeist nicht den realen Bedingungen, sondern die Abgebildeten werden in der Regel übergroß oder winzig dargestellt.30 Ab 1860 wandte er sich vornehmlich den Buchillustrationen zu, wobei seine Grafiken eher als Kommentar zum Geschriebenen zu sehen sind.31 Entsprechend der Ideologie des l’art pour l’art bildeten seine favorisierten Themen Märchen, Mythen oder Abenteuerromane, also vor allem Vorlagen, die seine Fantasie anregten. Nicht neben, sondern gemeinsam mit der literarischen Vorlage ließ er für die Rezipient*innen eine subjektive Welt entstehen.32

5 Don Quixote Die erste Übersetzung des Don Quixote mit Illustrationen von Doré erschien 1863 und bis 1898 in sieben weiteren Auflagen.33 Der Abenteuerroman selbst verfügte über eine enorme Breitenwirkung und wurde neben Doré von einigen anderen Künstlern illustriert.34 Inwiefern Dorés Illustrationen für Petipas Ballett, welches 1869 in Moskau Premiere hatte, relevant waren, ist nicht belegt. Bekannt ist allerdings, dass Petipa das Libretto selbst verfasste35 und sich wie viele Ballettmeister vor ihm, unter

|| 29 Petra Kolkhorst: Doré und die Graphik um 1900. Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte. In: Gustave Doré. Dortmund 1982, S. 45–53, hier S. 45–47. 30 Günter Metken: Der Januskopf Gustave Doré und die Folgen (Nachwort). In: Gustave Doré. Das graphische Werk. Hg. von Gabriele Forberg. München 1975, S. 1471–1492, hier S. 1474–1476. 31 Ebd., S. 1476. 32 Petra Kolkhorst: Doré, S. 50f. 33 Vera von Harrach: Miguel de Cervantes, L’ingénieux hidalgo Don Quichotte de la Mancha. In: Gustave Doré. Dortmund 1982, S. 172–185, hier S. 173. 34 Alfred Oberzaucher: Ein „geistvoller Edelmann“. Der Dichter Miguel de Cervantes Saavedra. In: Don Quixote. Wien Spielzeit 2011/2012, S. 26–29, hier S. 28. 35 Alfred Oberzaucher: Don Quixote. Ballett von Marius Petipa. In: Don Quixote. Wien Spielzeit 2011/2012, S. 8–9, hier S. 8.

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anderem Franz Hilverding in Wien, auf die Camacho-Quiteria-Basilio-Episode konzentrierte.36 Diese befindet sich im zweiten Band des Romans und umfasst mit drei Kapiteln nur einen kleinen Teil des Gesamtwerkes. Don Quixote und Sancho Pansa erfahren hier von einem Studenten von der Hochzeit des reichen sowie alten Camachos und der schönen Quiteria. Sie beschließen, dieser beizuwohnen, und erleben, wie sich der Quiteria insgeheim liebende Basilio vermeintlich ersticht. Wie im Ballett trägt nun Don Quixote dazu bei, dass die beiden Liebenden den Segen erhalten und glücklich in die Zukunft blicken. Marius Petipa verwandelte diese Romanepisode in ein dreiaktiges Ballett, wobei die Liebesthematik im Fokus steht.37 Neben dieser wurde das Ballett zudem durch weitere zentrale Stellen des Romans wie die Bücherverbrennung sowie den Kampf gegen die Windmühlen ergänzt. Wie bei der Umsetzung von Literatur ins Ballett üblich, wurde die literarische Vorlage gekürzt, in diesem Fall sogar sehr. Die Liebesthematik ist für das Adagio natürlich besonders gut geeignet und wird von einer stereotypen Figurenzeichnung ergänzt. Den Liebenden, Quiteria und Basilio, steht die scheinbare finanzielle Übermacht von Quiterias Vater Lorenzo und Camacho gegenüber. Als weitere Episode des Romans wurde das Puppenspiel integriert, bei welchem Don Quixote die tragische Liebesgeschichte von Quiteria und Basilio vor Augen geführt wird und sich so stark mit den Figuren auf der Bühne identifiziert, dass er sie am Ende zerschlägt. Gerade diese Episode des Romans illustrierte Doré sehr kunstvoll. Die Perspektive ist so gewählt, dass die Betrachter*innen sowohl die Hände wahrnehmen, welche die Puppen bewegen, als auch, durch den simultanen Blick auf das Publikum, die intensive Teilnahme Don Quixotes.38 Dies ist im Ballett natürlich einfacher umzusetzen, da auf das Puppenspiel die Zerstörung des Theaters folgt. Im Unterschied zum Roman erleben die Ballettbesucher*innen die komplette Geschichte von Kitri und Basilio mit. Diese wäre, wie auch die vielen philosophischen Gespräche zwischen Don Quixote und Sancho Pansa, auf der Bühne schwer umzusetzen. Zudem ist die Wahl Kitris im Ballett von Beginn an ersichtlich, wohingegen im Roman erst zuletzt deutlich wird, dass sie Basilio immer noch liebt. Im Sinne des choreografischen Prinzips eignet sich die Textstelle insofern gut, als auf der Hochzeitsfeier selbst Tänze präsentiert werden. Einer thematisiert die Geschichte um das Liebespaar und bewirkt, analog zum Puppenspiel, im Ballett den Sinneswandel Don

|| 36 Wera Krassowskaja: Marius Petipas Don Quixote. In: Don Quixote. Wien Spielzeit 2011/2012, S. 35–36, hier S. 35; Alfred Oberzaucher: Ein „geistvoller Edelmann“, S. 28. 37 Julia Bührle: Literatur und Tanz, S. 43–44. 38 Vera von Harrach: Miguel de Cervantes, S. 182.

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Quixotes. Hinzugekommen ist zudem die Figur des Vaters, sodass eine Symmetrie von Gut und Böse gegeben ist. Neben der Abbildung des vom Geschehen gefesselten Don Quixote beim Puppentheater werden ebenso dessen Zerstörung, der Kampf gegen die Windmühlen, der geprellte Sancho sowie dessen Streit mit der Haushälterin und natürlich das Fest selbst von Doré illustriert.39 Die Bücherverbrennung ist allerdings nicht grafisch festgehalten. Vielmehr als einzelne Darstellungen verbindet Petipa und Doré jedoch die Auffassung des Romans als Dichotomie zwischen Ideal und Wirklichkeit, die Tendenz, die Geschichte im romantisch-folkloristischen Spanien zu situieren,40 sowie die Berücksichtigung der Komik des Romans. Wie zentral gerade die humorvolle Komponente auch für das Publikum war, zeigt sich in der Aufführungsgeschichte. Während bei der Premiere in Moskau nicht nur die Liebenden, sondern auch der dritte Stand über die Aristokratie triumphierte, wurde dieses kritische Potenzial bei der Überführung des Balletts nach St. Petersburg deutlich abgemildert.41 Darüber hinaus fügte Petipa einen weiteren Akt ein, im Rahmen dessen Don Quixote zu einem Duell gefordert wird und stirbt. Dies führte allerdings zu heftiger Kritik, da das Ballett damit seinen komödiantischen Charakter verloren hätte.42 Eben dieser komödiantische Charakter, welcher auch in den Illustrationen Dorés zum Ausdruck kommt, hat sich seither auf der Ballettbühne erhalten.

6 Perraults Märchen im Ballett Wie Katia Canton ausführt, besitzen Märchen immer eine Ideologie, welche der Mythisierungsprozess zu verschleiern sucht. In Rekurrenz auf Barthes Ausführungen von Mythisierung resümiert sie; „[M]ythicization occurs whenever a certain object or event is emptied of its moral, cultural, social and aesthetic aspects and is thus presented as something ‚neutral‘ or ‚natural‘.“43 So scheint es auch in diesem Fall sinnvoll den jeweiligen politischen und sozialen Entstehungskontext

|| 39 Miguel de Cervantes Saavedra: Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von La Mancha. Übersetzt von Ludwig Tieck mit 363 Illustrationen von Gustave Doré. Wiesbaden 1975, S. 43, S. 45, S. 80, S. 300, S. 369–371, S. 374–377, S. 379–381, S. 404, S. 407. 40 Günter Metken: Gustave Doré, S. 1477. 41 Wera Krassowskaja: Marius Petipas Don Quixote, S. 35; Gunhild Oberzaucher-Schüller: Was ist denn eigentlich von wem? Von Petipa über Gorski zu Nurejew. In: Don Quixote. Wien Spielzeit 2011/2012, S. 50–59, hier S. 51. 42 Ebd., S. 51. 43 Katia Canton: The Fairy Tale Revisited, S. 13.

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zu berücksichtigen, und diese nicht als natürliche oder neutrale Volkserzählungen zu betrachten. Zwar bilden mündlich überlieferte Volksmärchen, welche bereits im 14. und 15. Jahrhundert nach und nach verschriftlicht wurden, die Basis für westliche Märchen. Besonders vom 16. bis 18. Jahrhundert wurden diese Erzählungen jedoch von der Aristokratie innerhalb eines neuen literarischen Genres den jeweiligen Interessen gemäß angepasst und mit den herrschenden Moralvorstellungen ausgestaltet. Ebenso werden die mit bekannten Erzählungen wie Dornröschen oder Cinderella verbundenen Werte und Betrachtungsweisen heutzutage in den Massenmedien ständig verändert und erweitert.44 Charles Perraults Contes bilden hier keine Ausnahme und stellen einen Spiegel der Werte und Normen am Hof Ludwigs XIV dar. Da Perrault das Ziel verfolgte, mit seinen Erzählungen die Moralvorstellungen der Zeit zu vermitteln, wurden Erzählperspektive, Charakter und Handlung entsprechend angepasst. Mit dem Ausbruch der französischen Revolution verloren Märchen sodann an Bedeutung.45 Die von Doré illustrierte Version der Märchen erschien 1862 und war so rasch vergriffen, dass sie bereits bis 1867 dreimal neu aufgelegt wurde und eines seiner erfolgreichsten Bücher darstellt. Wie bereits ausgeführt wurde die Sammlung unter anderem ins Russische übersetzt,46 und da Märchenstoffe allgemein eine dankbare Vorlage für das Ballett bilden, verwundert es nicht, dass Wsewoloschskij die Erzählung über die schlafende Schöne als Vorlage für das von ihm angeregte Märchenballett auswählte.

7 Das Ballett Dornröschen Die Premiere von Dornröschen fand am 15. Januar 1890 im Mariinski-Theater in St. Petersburg statt.47 Es gilt als Meisterwerk des klassischen russischen Balletts und wurde seit seiner Premiere nie mehr aus dem Repertoire genommen.48

|| 44 Ebd., S. 15, S. 17f. 45 Ebd., S. 18–21, S. 26, S. 28. 46 Angelika Hildebrandt: Charles Perrault, S. 164. 47 George Balanchine: Balanchine’s Complete Stories of the Great Ballets. Garden City N.Y. 1954, S. 337. 48 Ebd., S. 351; Gunhild Oberzaucher-Schüller: „Le czar soleil“, S.13.

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Die Anregung zu Choreografie und Musik ging vom damaligen Direktor der kaiserlichen Theater Wsewoloschskij aus,49 einem frankophilen Bewunderer Ludwigs XIV,50 welcher dadurch die Möglichkeit wahrnahm, sowohl eine Verbindung zwischen Russland und Frankreich in seinem so bezeichneten goldenen Zeitalter zu etablieren als auch eine luxuriöse und magische Inszenierung zu gestalten.51 Sein Beitrag zur Ausgestaltung des Balletts ist dabei nicht zu unterschätzen.52 Im von ihm selbst verfassten Libretto beginnt der Tiefschlaf Auroras im 16. Jahrhundert, und ihr Erwachen erfolgt in den ersten Tagen der Regentschaft von Ludwig XIV.53 Auf Wunsch Wsewoloschskijs wurden daraufhin die Kostüme den Illustrationen Dorés nachempfunden.54 Er beeinflusste ebenso das Bühnenbild und die Dekorationen, welche wiederum dem Zeitalter Ludwigs XIV nachempfunden wurden.55 Das Libretto und in weiterer Folge das Ballett sparen das Ende von Perraults Märchen, also die Geschehnisse um die menschenfressende Schwiegermutter Auroras und ihren grausamen Tod in einem mit Schlangen und Vipern gefüllten Fass, aus.56 Dies mag einerseits mit den herrschenden Bühnenkonventionen und der generellen Tendenz zur Entschärfung von gewalttätigen Szenen auf der Bühne zu tun haben, ermöglicht andererseits aber auch eine bessere Huldigung der literarischen Vorlage von Perrault und in weiterer Folge des Zeitalters Ludwigs XIV. Der zweite Teil der Geschichte wurde auch in späteren Versionen wie bspw. der Verfilmung durch Walt Disney außen vor gelassen.57 Insgesamt hält sich das Libretto nicht sklavisch an die Vorlage. Einige Teile wurden verändert und auch Szenen hinzugefügt. Eine hierarchische Ballettstruktur ermöglicht hierbei die Wiederspiegelung der zaristischen Gesellschaft. Dies zeigt sich bereits in der Eingangsszene, die im Rahmen der Taufe Auroras die Größe des Hofstaates bzw. der Kompanie zur Schau stellt.58

|| 49 Katia Canton: The Fairy Tale Revisited, S. 47, S. 49; Gunhild Oberzaucher-Schüller: „Le czar soleil“, S. 13. 50 Ebd., S. 13. 51 Katia Canton: The Fairy Tale Revisited, S. 49. 52 Ebd., S. 47. 53 George Balanchine: Complete Stories. S. 351. 54 Gunhild Oberzaucher-Schüller: „Le czar soleil“, S. 18. 55 Katia Canton: The Fairy Tale Revisited, S. 60f. 56 Ebd., S. 62; Gunhild Oberzaucher-Schüller: „Le czar soleil“, S. 18. 57 Katia Canton: The Fairy Tale Revisited, S. 63. 58 Ebd., S. 49, S. 51, S. 56.

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Bezogen auf die Darstellungen Dorés werden im Ballett konkret zwei Stiche wiedergegeben. Der erste bildet den schlafenden Hofstaat ab, der zweite die schlafende Schöne, welche dem Märchen seinen Namen verleiht. Die weiteren, um die alte Dame, welche am Spinnrad den Fluch auslöst, und den Prinzen allein auf seinem Weg zum Schloss,59 können im Ballett gar nicht vorkommen. Im Sinne der Kontrastgenerierung steht der bösen Fee Carabosse mit der lila Fee das personifizierte Gute gegenüber. Carabosse verflucht Aurora nicht lediglich, sondern löst den Fluch in verkleideter Form selbst aus und nicht wie in der literarischen Vorlage eine unbescholtene Dame. Sie bewacht zudem das Schloss und so kann es dem Prinzen nicht ohne Hilfe der lila Fee gelingen, dort einzudringen. Darüber hinaus ist es die lila Fee, die den Fluch abmildert, dem Prinzen die Vision Auroras vor Augen führt und das Paar schließlich materiell versorgt.60 Weder bei Perrault noch bei Doré ist wiederum der Kuss zu finden, durch welchen Aurora aus ihrem Tiefschlaf erwacht. Dieser wurde von Perrault Ende des siebzehnten Jahrhunderts vermutlich noch als zu vulgär betrachtet, war allerdings bis zur Entstehung des Ballettes im Jahre 1890 bereits in der westlichen Pantomimetradition etabliert. Er findet sich schließlich ebenso bei den Gebrüdern Grimm und setzte sich spätestens seit der Verfilmung von Walt Disney weltweit durch.61 Nach dem Sieg des Guten und der Vertreibung Carabosses endet das Ballett mit einer fulminanten Hochzeit im dritten Akt. Die Hochzeitsgäste bilden hierbei die anderen Figuren der Märchensammlung, also unter anderem Blaubart mit all seinen Frauen, der gestiefelte Kater mit Begleitung, Rotkäppchen und der Wolf sowie auch Cinderella und ihr Prinz.

8 Cendrillon auf der Bühne An einer Bühnenumsetzung des Cendrillonstoffes, welche 1893 in St. Petersburg ihre Uraufführung erlebte, war unter anderem Marius Petipa beteiligt. Erhalten haben sich davon allerdings vornehmlich die 32 Fouettés, welche die Ausnahmeballerina Pierina Legnani innerhalb dieses Ballettes zum ersten Mal auf der Bühne zeigte und die heute unter anderem im Schwanensee sowie vielen Don

|| 59 Charles Perrault: Contes illustrés par Doré. Paris 2015, S. 57–75. 60 Katia Canton: The Fairy Tale Revisited, S. 58, S. 62. 61 Ebd., S. 59.

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Quixote-Versionen zur Geltung kommen.62 Wie in der Literatur sind verschiedene Umsetzungen bekannt, wovon die meisten auf der Musik von Sergei Prokofjew basieren. Diese umfassen unter anderem die Choreografie von Rostislaw Sacharow, die 1945 im Bolschoi-Theater in Moskau uraufgeführt wurde63 sowie die von Frederick Ashtons Cinderella, Uraufführung 1948 in London.64 Die 1986 in Paris uraufgeführte Version von Rudolf Nurejew situiert die Geschichte im Hollywood der 1930er Jahre und die reale Welt vermischt sich mit der märchenhaften Filmwelt, in der Cinderella zum Star avancierte.65 Ebenso basiert Thierry Malandains Cendrillon aus dem Jahre 2013 auf Prokofjews Musik. Renato Zanella wählte für seine 1999 an der Wiener Staatsoper zum ersten Mal gezeigte Aschenbrödelversion die Musik von Johann Strauß junior, welcher auf der Bühne selbst die Fäden der Liebesgeschichte zwischen dem Modeschöpfer Gustav und der gebeutelten Grete in den Händen hält. Wie in den vielfältigen literarischen Ausformungen, derer allein in Europa ungefähr 500 bekannt sind, werden alle Ballette durch die wiederkehrenden Motive der bösen Stieffamilie, einer toten Mutter, eines toten oder inaktiven Vaters, den Besuch eines Balls, auf dem sich das gegenseitige Verlieben mit einer höher gestellten Person ereignet, und einem verlorenen Gegenstand sowie einem glücklichen Ende vereint.66 Ob oder inwiefern die von Doré illustrierte Version des Perraultschen Märchens den einzelnen Versionen als Vorlage diente, lässt sich nicht zweifelsfrei ermitteln. Von den Illustrationen bei Doré – dem Kürbis, welcher zur Kutsche vorbereitet wird, dem Ballbesuch und der Schuhanprobe –67 sind jedoch in allen Ballettversionen die letzten beiden zu finden. Neben dem Ballbesuch und der letztlich glücklichen Anprobe eint alle Ballettversionen noch der Moment des überstürzt verlassenen Verehrers mit dem verlorenen Schuh als Liebespfand. Dabei handelt es sich sowohl um zum Tanzen geeignete Schuhe, wie in Ashtons Version um glitzernde Ballerinas oder glitzernde Spitzen- oder Charaktertanzschuhe, wie bei Nurejew, als auch reine Schauobjekte, wie bei Zanella oder

|| 62 Oliver Peter Graber: Cendrillon – das unbekannte Wesen. In: Cendrillon (Aschenputtel). Programmheft des Wiener Staatsballetts. Hg. von Oliver Peter Graber. Wien Spielzeit 2016/2017, S. 38. 63 Reclams Ballettführer, S. 71. 64 George Balanchine: Complete Stories, S. 83. 65 Cinderella – Nureyev’s Choreography. The Rudolf Nureyev Foundation: http://www.nure yev.org/rudolf-nureyev-choreographies/rudolf-nureyev-cinderella-prokoviev [abgerufen am 31.8.2017]. 66 Mary Northrup: Beyond Boundaries. Multicultural Cinderella Stories. In: Book Links 9 (2000) H. 5, S. 41. 67 Charles Perrault: Contes, S. 78–91.

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Malandain. Darüber hinaus eint die Geschichten in erzählerischer Weise das Element der Weltflucht sowie die Überwindung gesellschaftlicher und persönlicher Grenzen.68 Wie sich zeigte, sind die ikonischen Bilder sowohl in den literarischen Vorlagen, den Stichen Dorés als auch den jeweiligen Bühnenumsetzungen präsent. Während die Umsetzungen von Don Quixote und vor allem Dornröschen eine große Konstanz aufweisen, wird der Cendrillonstoff stetig aktualisiert und zeigt sich dem Publikum in häufig gewandelter Gestalt. Nun stellt sich schließlich die Frage nach der Wirkmacht, sowohl der Stiche Dorés als auch der verschiedenen Ballettumsetzungen, also inwieweit diese das Publikum oder auch weitere Kunstprodukte beeinflussten.

9 Gustave Doré und das klassische Ballett als Einflussfaktoren ihrer Zeit Es lässt sich festhalten, dass Doré ungeachtet der oftmals negativen Einschätzung seitens der Kunstkritik69 einer der am häufigsten betrachteten Illustratoren der Zeit war. Bei den Buchillustrationen verwendete er häufig den Holzstich. Durch die starke Arbeitsteilung bei der Erstellung der Vorlagen und die extreme Vervielfältigung sind Begriffe wie Original oder Originalgrafik bald nicht mehr relevant. Insgesamt kommt es in dieser Zeit zu einer regelrechten Industrialisierung von Illustrationen und damit einhergehend zur Entwicklung einer stereotypen standardisierten Bildsprache.70 Diese Stereotypisierung kann gemeinsam mit Dorés Vorliebe für die bald bühnenreife Arbeit mit Kontrasten und seine fantasievolle und interpretative Illustrationsweise als besonders günstig für das Ballett betrachtet werden. So sind die Darstellungen einerseits schon für eine Umsetzung auf der Bühne intendiert, lassen aber andererseits genug Spielraum für die letztgültige Interpretation. Neben dem Ballett beeinflussten Dorés Arbeiten einige weitere Illustratoren, bspw. Odilon Redon sowie die Populärgrafik. Inner-

|| 68 Marion Linhardt: Tänze – Tanzmusik – Musik zum Tanzen. Die Aschenbrödel-Musik von Johann Strauß und Josef Bayer. In: Aschenbrödel. Programmheft der Wiener Staatsoper. Hg. von Alfred Oberzaucher. Wien Spielzeit 1999/2000, S. 51–57, hier S. 51. 69 Petra Kolkhorst: Doré, S. 45–53. 70 Günter Metken: Gustave Doré, S. 1481f.

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halb der Rezeptionsforschung konnte darüber hinaus ebenso der Einfluss auf einige Filmschaffende ermittelt werden.71 Die Wirkmacht des Balletts wiederum, vor allem einzelner spezifischer Produktionen, lässt sich sowohl heute als auch zu Petipas Zeiten kaum zweifelsfrei ermitteln. Sicher ist jedoch, dass sich in St. Petersburg erst mit der Direktionszeit von Wsewoloschskij ein relativ stabiles Ballettstammpublikum formte. Als favorisierte Kunstform des Zaren existierte es quasi im Elfenbeinturm im Gegensatz zum naturalistischen und utilitaristischen Zeitgeist und ohne ökonomische Schwierigkeiten.72 Zur Zeit der Gegenreformen, welche Zar Aleksander III und sein Sohn Nikolai II zwischen 1880 und 1890 einleiteten, um die ökonomischen und politischen Krisen zumindest einzudämmen, war das Ballett auch ein Ort der Zusammenkunft für die Aristokratie. Es scheint nicht verwunderlich, dass gerade in dieser Zeit der Gegenreformen die opulenten Märchenballette entstanden, welche die einstige Größe des Hofes und die vormalige Wertschätzung des Zaren reproduzierten,73 und von kritischen Ansätzen, wie in der ersten Version von Don Quixote, Abstand genommen wurde. Hier lässt sich analog zu Dorés Illustrationen eine Form der Realitätsflucht erkennen und die Möglichkeit, durch die Kunst dem Alltag mit seinen Schrecken in eine Wunschwelt zu entfliehen.

10 Resümee Es wurde deutlich, dass neben den einzelnen literarischen Vorlagen ebenso viele von Dorés Illustrationen in den verschiedenen Bühnenfassungen umgesetzt wurden und besonders die drei Bilder vom verlorenen Schuh, der schlafenden Schönen und dem Kampf gegen Windmühlen in der Balletttradition mittlerweile fest verankert sind. Obgleich das Ballett noch immer keine Massenwirksamkeit beanspruchen kann, existiert es nicht mehr im Elfenbeinturm, sondern beeinflusst weitere Umsetzungen. Einige Analogien zur Dornröschenversion von Walt Disney wurden bereits erwähnt. Eine klare Verbindung zum Ballett ergibt sich durch die Adaption der Musik Tschaikowskis.74

|| 71 Günter Metken: Gustave Doré, S. 1487–1491. 72 Horst Koegler: Petipa, S. 32–33, S. 36–37. 73 Katia Canton: The Fairy Tale Revisited, S. 45–47. 74 Sleeping beauty (1959). Regie: Clyde Geronimi, Wolfgang Reitherman und Eric Larson.

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Die Ausgangsfrage konnte somit in weiten Teilen positiv beantwortet werden und auch wenn sich der konkrete Einfluss der Ballettumsetzungen auf die gesellschaftliche Präsenz oder weitere kulturelle Repräsentation bis dato noch nicht nachweisen lässt, kann festgehalten werden, dass das Ballett seinen Teil zur Etablierung und zum Fortbestehen der drei Bilder auch weiterhin beiträgt.

| Teil IV: Intermedialität als Instrument der Vermittlung

Sophie Picard

Intermedialität als Instrument der Vermittlung Die Vermittlung von kanonischen Werken mittels populärer und moderner Medien ist eine beliebte Strategie der Bildungs- und Kulturpolitik, um breitere und heterogenere Rezipientengruppen einzubeziehen. Durch das Einsetzen intermedialer Verfahren wird nicht nur die fortdauernde Aktualität von Klassikern vorgeführt, sondern auch ihre Nähe zum Erfahrungshorizont der jeweiligen Zielgruppen suggeriert. Solchen institutionellen Bildungs- und Popularisierungsprogrammen können, schematisch dargestellt, zwei entgegengesetzte Vorstellungen von Kulturvermittlung zugrunde liegen. Es kann einerseits von einer vertikalen Streuungslogik ausgegangen werden, nach der bestimmte Inhalte für ein breites Publikum bereitgestellt werden. So kann beispielsweise die heute schwer verständliche Sprache von Romanklassikern wie Marcel Prousts À la recherche du temps perdu mithilfe der Bildsprache des Comics für jüngere Generationen zugänglich bzw. reizvoll gemacht werden. Diese Vorstellung von Vermittlung setzt eine imaginäre Trennung zwischen einem wie auch immer gearteten ‚Oben‘, das durch sein Wissen über eine symbolische Macht verfügt, und einem ‚Unten‘, das zu diesem Wissen und dadurch auch an die Sphäre der Macht herangeführt wird. Weniger foucaultistisch ausgedrückt, ließe sich die Aufgliederung in unterschiedlichen Kompetenzsphären auch als ein Kennzeichen moderner arbeitsteiliger Gesellschaften verstehen. Einer solch ‚missionarischen‘ Konzeption von Kulturvermittlung wird andererseits in der aktuellen Diskussion innerhalb der Kulturinstitutionen eine horizontale Logik entgegengesetzt, die imaginierte Barrieren zwischen Hoch- und Populärkultur oder E- und U-Kunst mehr und mehr zu verabschieden sucht: Dabei ist zuweilen von einem educational turn die Rede;1 in den Kulturinstitutionen hat sich in diesem Zusammenhang ebenfalls der Begriff der „niedrigschwelligen“ Kulturvermittlung etabliert.2 Bei der horizontalen Auffassung von Vermittlung geht es nicht mehr um die Transposition von Wissen

|| 1 Educational turn. Handlungsräume der Kunst- und Kulturvermittlung. Hg. von Beatrice Jäschke und Nora Sternfeld. Wien, Berlin 2013. 2 Vgl. z.B. Birgit Mandel: „Niedrigschwellige“ Kulturvermittlung öffentlicher Kulturinstitutionen als integrales Konzept zwischen Kunstmissionierung und Moderation kultureller Beteiligungsprozesse. In: Kulturelle Bildung online (2014): https://www.kubi-online.de/artikel/nied rigschwellige-kulturvermittlung-oeffentlicher-kulturinstitutionen-integrales-konzept [abgerufen am 18.2.2018]. https://doi.org/10.1515/9783110615760-019

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und Inhalten, sondern vielmehr um das Gestalten von Begegnungsräumen. Institutionen wie Schulen, Museen, Theater, aber auch Rundfunk und Fernsehen schaffen – idealerweise – lediglich die Bedingungen für eine Interaktion zwischen verschiedenen Akteuren des gesellschaftlichen Lebens. Intermedialität fungiert dann weniger als Übermittlungsstrategie denn als Angebot zur Partizipation: Jeder Rezipient ist dazu eingeladen, das eigene Klassikerbild zu erstellen. Die Beiträge dieser Sektion befassen sich mit unterschiedlichen Popularisierungsangeboten klassischer Werke und Autoren und hinterfragen sie. Christine Hermann präsentiert in ihrem Aufsatz Consciences Löwe von Flandern im Dienste neuer Herren mehrere Neufunktionalisierungen des flämischen Klassikers im Comic und zeigt, dass Literaturcomics neben der didaktischen eine Vielzahl von Funktionen (politische, unterhaltende, ästhetisch-künstlerische) erfüllen können. Steht der Vermittlungsgedanke im Vordergrund, so Herrmann, kennzeichnen sich die Adaptionen durch ihren wiederholenden Charakter: Das Original soll dann nicht grundlegend transformiert erscheinen. Die zwei anderen Beiträge der Sektion stellen Ansätze von intermedialer Klassiker-Vermittlung vor, die jeweils vorgeben, vom Rezipienten auszugehen. In seinen Überlegungen Über Sinn und Unsinn von Rap-Adaptionen klassischer Gedichte im Deutschunterricht analysiert Fabian Wolbring eine beliebte Strategie des Heranführens an Literatur in Bildungskontexten. Rap-Adaptionen etwa von Goethes Erlkönig sollen, so wird von Seiten der Didaktik argumentiert, das Memorieren erleichtern und zugleich die Aneignung des alten Textes für die junge Generation attraktiver machen. Für Wolbring verfehlt diese Herangehensweise allerdings ihr Ziel, weil sie den Rap seiner vermeintlichen Popularität wegen instrumentalisiert und den Gedichten das ihnen eigene Wirkungspotenzial abspricht: Durch die forcierte Intermedialität tritt in diesem Fall die Spezifik der Ausgangsmedien Rap und Lyrik in den Hintergrund. Zofia Moros-Pałys kommt in ihrem Beitrag Max Frisch – ein moderner Klassiker? auf ein multimediales Ausstellungsprojekt anlässlich des Max Frisch-Jubiläums 2011 zu sprechen. Das dazugehörige Konzept sah vor, mittels der multimedialen Aufmachung möglichst breite Rezipientengruppen anzusprechen: Durch den Einsatz von Monitoren sollte den Besuchern große Freiräume in ihrer Annäherung an den Schweizer Klassiker gewährt werden. Aus Moros-Pałys’ Präsentation der Ausstellung und ihrer Rezeption in der Presse geht allerdings hervor, dass trotz des niedrigschwelligen Ansatzes, Frischs Status als „Nationalheiliger“ eher gestärkt als ernsthaft zur Diskussion gestellt wurde. Das führt paradoxerweise zu einer gewissen Beliebigkeit: Die Aspekte, unter denen Frisch in der Ausstellung präsentiert wird, könnten nahezu für jeden ‚großen Schriftsteller‘ angewendet werden. Die Frage nach Frischs aktueller Funktion bleibt dabei unbeantwortet: Er erscheint mehr als => kulturelle Ikone denn als Klassiker.

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Intermedialität als Instrument Intermedialität als Instrument der Vermittlung   315

Der vermehrte Rückgriff auf inter- und multimediale Verfahren bei der Präsentation von Klassikern in den letzten Jahrzehnten zeugt insgesamt von einer Diversifizierung der Vermittlungskonzepte. Ob dies tatsächlich – wie oft von Seiten der Kulturinstitutionen behauptet wird – zu einer verstärkten Interaktion zwischen den Gebrauchsformen von Kulturgütern in unterschiedlichen Milieus beigetragen hat, sei dahingestellt. Die Beiträge der vorliegenden Sektion zeigen, dass die Aura des Klassikers durch intermediale Vermittlungskonzepte in der Regel unberührt bleibt.

Christine Hermann

Neufunktionalisierung eines flämischen Klassikers im Comic: Consciences Löwe von Flandern im Dienste neuer Herren 1838 verfasste Hendrik Conscience seinen großen historischen Roman über die Schlacht der Goldenen Sporen: De Leeuw van Vlaenderen of de Slag der Gulden Sporen (deutsch: Der Löwe von Flandern; 1846), der zum flämischen Nationalepos wurde. Der Roman erzählt vom Aufstand der Flamen, der großen Schlacht 13021 und dem flämischen Sieg. Die Helden sind die Brügger Zunftmeister Jan Breydel und Pieter Deconinck sowie Graf Robrecht van Bethune, der den Beinamen ‚Löwe von Flandern‘ trägt und den Löwen in seinem Wappen führt. Dieser tapfere Graf erscheint unerwartet als ‚goldener Ritter‘ in der Schlacht und führt sein Volk zum Sieg. Der Roman wurde oft übersetzt, und auch für andere Medien, darunter mehrmals als Comic, adaptiert. Warum wurde dieses Werk immer wieder neu bearbeitet? Welche unterschiedlichen Umgangsweisen mit dem Prätext sind darin festzustellen? Welche Funktionen erfüllen die verschiedenen Comicbearbeitungen in ihrem jeweiligen (politischen, sozialen, medialen) Kontext?

1 Adaptation und Appropriation Adaptionen werden in den neueren Adaptation Studies längst nicht mehr unter dem Kriterium der ‚Treue zum Original‘ betrachtet, sondern als eigenständige Werke, die in unterschiedlichen intertextuellen Beziehungen zu einem Prätext und auch zueinander stehen. Die einflussreiche Adaptionsforscherin Linda Hutcheon beispielweise definiert Adaption als „an extended, deliberate, announced revisitation of a particular work of art“2. Jede neue Bearbeitung stellt auch eine zeitgenössische Interpretation des Prätextes in einem veränderten historischen, geografischen, gesellschaftlichen, politischen, medialen, kulturellen Kontext dar. Adaptionen reflektieren aktuelle Ideologien und passen den Prätext

|| 1 Am 11. Juli 1302 siegte ein flämisches Bürgerheer nahe Kortrijk (Westflandern) über das überlegene und technisch besser ausgerüstete französische Ritterheer von König Philipp IV und erkämpfte somit (zumindest kurzfristig) seine Freiheit von der französischen Herrschaft. Diese Schlacht ging als die ‚Schlacht der Goldenen Sporen‘ in die Geschichtsbücher ein. 2 Linda Hutcheon: A Theory of Adaptation. New York, London 2006, S. 170. https://doi.org/10.1515/9783110615760-020

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an die jeweils geltenden Normen und Werte an. Indem die Adaption einen Text in neuer Form an ein neues Publikum weitergibt, bekräftigt sie seinen kanonischen Status und sichert seinen Platz im kollektiven Gedächtnis, zugleich setzt sie jedoch auch eine gewisse Bekanntheit dieses Textes voraus, um als solche erkannt zu werden. Julie Sanders unterscheidet zwischen adaptation und appropriation, wobei der letztere Begriff „a more decisive journey away from the informing source into a wholly new cultural product and domain“3 darstellt, Bezüge aber noch erkennbar sind. Im Unterschied zur adaptation sei der Bezug oft nicht explizit, etwa durch den Titel, markiert. Appropriationen beruhen meist auf einem „political or ethical commitment”4 des Bearbeiters als Motivation für die Neuinterpretation – der Aspekt der Neuinterpretation ist dabei wesentlich, die Bearbeitung geht also über eine zeitliche oder räumliche Verlagerung oder einen Medienwechsel hinaus. In diesem Beitrag soll jedoch nicht der (negativ konnotierte) Terminus der appropriation (also Aneignung) verwendet, sondern stattdessen von ‚(Neu-) Funktionalisierungen‘ gesprochen werden. Um die Funktionen der Comic-Bearbeitungen des Löwen von Flandern zu untersuchen, erscheint es hilfreich, auf eine Studie über die Funktionen von Klassikerbearbeitungen für die Jugend zurückzugreifen (wenngleich Comics natürlich nicht nur an junge Leser adressiert sind): Sanne Parlevliet identifizierte in ihrer Dissertation fünf Funktionen von niederländischen Jugendbearbeitungen verschiedener Klassiker: literarische, moralische, soziale und ästhetische Bildung, sowie Unterhaltung. Adaptionen machen also Kinder mit Werken aus dem literarischen Kanon bekannt und vermitteln bestimmte Normen und Werte, wobei aber auch der ‚Fun Factor‘ nicht zu kurz kommen dürfe.5 In einer Analyse der zahlreichen deutschsprachigen Jugendbearbeitungen von Consciences Roman konnten konkretere Funktionen herauskristallisiert werden: Während die frühen Bearbeitungen eine stark patriotisch-nationalistische Tendenz aufwiesen und Consciences Roman dabei auch schon mal re-nationalisiert wurde, wurde er nach 1945 pazifiziert oder auf eine spannende Abenteuergeschichte reduziert bzw. (in der DDR-Fassung) in ein marxistisches Lehrstück verwandelt und entsprach damit den jeweiligen pädagogischen Anforderungen an Literatur für junge Leser. Literaturdidaktische Erwägungen sind – zumal bei diesen Bearbeitungen auch

|| 3 Julie Sanders: Adaptation and Appropriation. London 2006, S. 26. 4 Ebd., S. 2. 5 Sanne Parlevliet: Meesterwerken met ezelsoren. Bewerkingen van literaire klassiekers voor kinderen 1850–1950. Hilversum 2009, hier S. 59–87.

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ein Sprachwechsel vorliegt – jedoch kaum zu finden oder dienten bestenfalls als Verkaufsargument (‚Klassiker‘-Status).6 Sind die Comicbearbeitungen ähnlich politisch motiviert? Für welche Zwecke wurde der Löwe von Flandern funktionalisiert, und mit welchen Mitteln geschah dies?

2 Klassifikation von Literaturcomics Während Monika Schmitz-Emans in ihren grundlegenden Studien zu Literaturcomics zwischen Wissen vermittelnden und Wissen voraussetzenden Comics7 unterscheidet und im Weiteren die Literaturcomics in die Kategorien „Vermittlung, Verwandlung, Vergleich“8 bzw. in einer späteren Arbeit in „im Dienst der Vorlage“ stehende und „zur Realisierung ästhetischer Eigeninteressen der Comic-Künstler“ dienende Comics einteilt 9, erstellt Juliane Blank in ihrer Dissertation ein Ordnungssystem anhand übergeordneter Adaptionstechniken und -strategien.10 Die von mir entwickelte Typologie basiert hingegen auf der Art des Umgangs mit der ‚Ideologie‘ des Prätextes, d.h. den Normen und Werten, die darin vertreten werden: Werden diese in erster Linie wiederholt (und damit affirmiert), werden sie in andere Kontexte verschoben (z.B. in Bezug auf Zeit und Ort transferiert, jedoch unter Beibehaltung der ideologischen Grundlage), oder werden sie untergraben (wird die zugrundeliegende Weltanschauung in Frage gestellt)? Und mit

|| 6 Christine Hermann: The Flemish Lion. Oscillating between Past and Present. Ideology in German-Language Adaptations of Conscience’s De Leeuw van Vlaenderen for Young Readers. In: Doing Double Dutch. The International Circulation of Literature from the Low Countries. Hg. von Elke Brems, Orsolya Réthelyi und Ton van Kalmthout. Leuven 2017, S. 209–224. 7 Monika Schmitz-Emans: Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur. Berlin 2012, S. 251. 8 Literatur-Comics können demnach in erster Linie im Dienst der Wissensvermittlung stehen und Leser an das literarische Werk heranführen (Vermittlung), oder sie können die literarische Vorlage „paraphrasieren, um eigene Themen zur Darstellung zu bringen oder das als der Vorlage inhärent verstandene Thema mit eigenen Mitteln zu entwickeln“ (Verwandlung) (ebd., S. 299). Mit der Bezeichnung „Vergleich“ sind Adaptionen gemeint, die eine Art Paragone intendieren, wo es also darum geht, die medienspezifischen Möglichkeiten des Comics darzustellen; die Adaption verfolgt hier hauptsächlich ästhetisch-künstlerische Zwecke. 9 Monika Schmitz-Emans: Literaturcomics. In: Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Hg. von Julia Abel und Christine Klein. Stuttgart 2016, S. 276–290. 10 Juliane Blank: Literaturadaptionen im Comic. Ein modulares Analysemodell. Berlin 2015.

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welchen Mitteln geschieht dies? Diese Typologie bezieht sich also auf die narrativen Techniken, die für die jeweilige (ideologisch bedingte) Funktion der Adaptionen eingesetzt werden. Sie kombiniert also die auf die Funktion gerichtete Klassifikation von Schmitz-Emans und jene nach Adaptionstechniken von Blank. Auf Basis dieser Typologien stellt sich in Verbindung mit der Funktion(alisierung) der Bearbeitungen die Frage: Gibt es neben einer vermittlungsorientierten Bearbeitung im Dienst des Prätextes und jener, in der der künstlerische Ausdruck des Bearbeiters im Mittelpunkt steht, noch etwas Drittes, sozusagen im Dienst anderer Funktionen stehende Bearbeitungen? Kann also eine Bearbeitung auch für andere Zwecke in Dienst genommen werden?

3 Consciences Roman (1838) Conscience romantisierte die Historie und setzte den Roman für sein politisches Anliegen ein: das Nationalbewusstsein im jungen belgischen Staat zu wecken11 und vor allem den Flamen ein Gefühl von nationaler Identität zu vermitteln. In seinem Vorwort zur ersten Auflage plädiert er für die Gleichberechtigung der flämischen Sprache (der in Belgien gesprochenen Varietät des Niederländischen) im von den französischsprachigen Wallonen dominierten Belgien. Sein Roman schließt mit dem Aufruf: „Ihr Flamländer, welche ihr dieses Buch gelesen habt, erwäget bei den ruhmreichen Thaten, welche dasselbe enthält, was Flandern ehedem war – was es nun ist – und noch mehr, was es werden wird, wenn ihr die ruhmreichen Vorbilder eurer Väter vergeßt!”12 Neben diesen politischen hatte der Autor aber auch literarische Ambitionen: Mit seinem Roman, den er auf Flämisch statt in der Amts- und Literatursprache Französisch verfasste, wurde Conscience zum Begründer der modernen flämischen Prosaliteratur. Zugleich führte er damit die Gattung des historischen Romans nach dem Modell von Walter Scott in den niederländischen Sprachraum ein. Und nicht zuletzt hatte er auch kommerzielle Interessen: Um auch für die Verwendung in flämischen Schul-, Gefängnis- und Krankenhausbibliotheken empfohlen zu werden, war er bereit, für die 2. Auflage (1843) relativ umfangreiche Änderungen anzubringen – Kraftausdrücke wurden weggelassen, die Liebes-

|| 11 Belgien hatte 1830 seine Unabhängigkeit vom Königreich der Niederlande erlangt. 12 Heinrich Conscience: Der Löwe von Flandern. Münster 1846, S. 200 (Übersetzer ungenannt).

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beziehung zwischen der Tochter des Grafen und einem jungen Ritter verschleierter dargestellt und das politisch gefärbte Vorwort gestrichen.13 Consciences Roman wurde zu einem Bestseller und avancierte rasch zum flämischen Nationalepos. Zugleich schuf Conscience damit die wesentlichen Symbole Flanderns (bis heute leiten sich alle offiziellen Symbole Flanderns – Flagge, Hymne, nationaler Festtag – von der Schlacht von Kortrijk her). Die Schlacht erlangte die Funktion eines nationalen Gründungsmythos und der Roman wurde zum unangefochtenen Bestandteil des (flämischen) Literaturkanons. Das Werk wurde wiederholt für die Jugend bearbeitet, auf die Theater- (und Marionetten-)Bühne gebracht und auch mehrmals in einen Comic transformiert. Zwischen 1934 und 1994 erschienen Adaptionen von nicht weniger als neun verschiedenen Comic-Künstlern: Pink (= Eugeen Hermans; 1934); Bob De Moor (1949); Wik & Durbin (1949); Buth (= Leo de Budt; 1955); W. Knoop (1950er Jahre); Jef Nys (1960); Gejo (= Jos Geboes; 1983); Biddeloo (1984); Ronny Matton & Christian Verhaeghe (1994). Bis auf Knoop sind alle in niederländischer Sprache verfasst.

4 Die Comicbearbeitungen Im Folgenden sollen fünf, als Album oder selbständiges Heft erschienene Comicbearbeitungen anhand der oben erläuterten Typologie vorgestellt und die daraus ableitbaren Funktionen verglichen werden. Funktionen können aus Paratext und Kontext, aber auch aus dem Comic selbst erschlossen werden. Berücksichtigt werden daher textexterne Aussagen des Comicautors, Paratexte und Erzählerkommentare, der Grad der ‚Treue‘ zum Prätext sowie der Erscheinungskontext des Comics. Anschließend wird der Frage nachgegangen, inwiefern solche (oder andere) Funktionen auch im Comic selbst zutage treten.

4.1 Wiederholende Bearbeitungen Die wohl bekannteste Comicbearbeitung ist jene von Bob De Moor, bekannt vor allem als Assistent von Hergé. Sein Comic erschien ab September 1949 in Fortset-

|| 13 Edward Vanhoutte: Verantwoording. Een nieuwe editie van de Leeuw van Vlaenderen. In: Hendrik Conscience: De Leeuw van Vlaenderen of de Slag der Gulden Sporen. Textkritische Edition. Hg. von Edward Vanhoutte. Tielt 2002, S. 411–510.

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zungen im Brüsseler Wochenblatt Kuifje, danach in verschiedenen anderen flämischen Comicblättern und 1952 als Album14. Wie De Moor in einem Interview erzählte, hatte er Consciences Roman als Junge mit großer Begeisterung gelesen und kannte das Buch fast auswendig. Er war daher hocherfreut über den Vorschlag des Chefredakteurs von Kuifje, diesen Roman als Comic zu bearbeiten. Die nationalistischen Beweggründe Consciences lagen ihm jedoch fern, er fühlte sich einfach von der romantischen und zugleich abenteuerlichen und spannenden Rittergeschichte angezogen.15 De Moor zeichnet sich durch einen realistischen, detaillierten Zeichenstil aus. Auf der Titelseite ist der Comic deutlich als Bearbeitung gekennzeichnet: „frei nach dem gleichnamigen Buch von Hendrik Conscience.“ Nichtsdestotrotz folgt der Comic der Handlung des Romans relativ treu, ist aber natürlich stark gekürzt, wobei der Fokus auf aktionsreichen Handlungselementen liegt. Der Comic lässt den Leser völlig ins Mittelalter eintauchen, erst im letzten Panel wird im (auf einer Pergamentrolle abgebildeten) Zitat von Consciences berühmtem Schlusssatz der Leser angesprochen und so, wie am Ende von Consciences Roman, eine Verbindung zur Gegenwart hergestellt (Abb. 1). In dieser Comicbearbeitung steht also die ‚Wiederholung‘ der Romanhandlung (mitsamt der dahinterstehenden Ideologie) im Vordergrund.

Abb. 1: Letztes Panel. Bob de Moor: De Leeuw van Vlaanderen. Antwerpen 1984 [1952], S. 68.

|| 14 Bob De Moor: De Leeuw van Vlaanderen. Antwerpen 1984 (zuerst 1952). 15 Ronald Grossey: De Moor en De Leeuw. In: Zuurvrij 22 (2012), S. 83–88, hier S. 85.

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Die einzige deutschsprachige Comicbearbeitung erschien Mitte der 1950er Jahre als Heft 48 in der Reihe Abenteuer der Weltgeschichte, verfasst von Wilhelm Knoop, mit Zeichnungen von Charlie Bood, im Verlag Walter Lehning (Hannover), in dem auch Reihen wie Tarzan, Sigur und Tibor erschienen und der in den 50er und 60er Jahren einen bedeutenden Marktanteil im Comicbereich hatte.16 Dem kurzen, nur 24 Seiten umfassenden Comic geht ein relativ ausführlicher „geschichtlicher Rückblick“ (2 Seiten) voran, gefolgt von einer 1-seitigen Einleitung. Die Handlung wird stark komprimiert und vereinfacht, nur die grundlegendsten Elemente werden aufgenommen. Die Panels kommen ohne Sprechblasen aus, die Illustrationen stehen ohne Umrahmung neben dem Text und wiederholen das im Text bereits Erzählte. Hier bilden die Panels ein weiteres Beispiel für eine wiederholende Comicbearbeitung, im Paratext erfolgt jedoch eine (politische) Umdeutung.

4.2 Verschiebende Bearbeitungen 1983 jährte sich der Todestag Consciences zum 100. Mal. Aus diesem Anlass zeichnete Jos Geboes (unter dem Pseudonym ‚Gejo‘ Karikaturist des Vlaams Nationaal Weekblad Wij, der Wochenzeitung der Volksunie, einer flämisch-nationalistischen Partei) einen Comic mit dem Titel De Leeuw van Vlaanderen, der in diesem Blatt in Fortsetzungen erschien. Zum 30-jährigen Bestehen der Partei (1984) wurde er als Album17 bei Soethoudt & Co. veröffentlicht, einem Verlag, der auch viele flämisch-nationale Publikationen verlegte. Von der Handlung des Romans scheint auf den ersten Blick nicht viel übriggeblieben zu sein: Die Geschichte beginnt in der Gegenwart im Zoo von Antwerpen, wo vor einem Plakat mit dem Porträt Consciences (unter Verweis auf das Conscience-Jubiläumsjahr 1983) ein Vater seinem kleinen Sohn erklärt, dass Conscience den Löwen von Flandern geschrieben habe, ein Buch „über den Kampf des flämischen Volkes gegen die französischen Unterdrücker“ und dass „der Löwe […] das Symbol des flämischen Aufstandes“ wurde. Hinter den beiden hört ein Löwe interessiert zu und schläft dann ein. In seinem Traum findet sich der Löwe in einem seltsamen Land wieder, in dem zwei verfeindete Völker wohnen, die Hochländer und die Tiefländer. Der Löwe ruft die wirtschaftlich und politisch unterdrückten Tiefländer zum Widerstand auf und schlägt schließlich in einer Rede ans Volk die Teilung des Landes

|| 16 Wilhelm Knoop: Der Löwe von Flandern – Der Freiheitskampf der Flamen. Hannover [o. J.]. 17 Gejo: De Leeuw van Vlaanderen. Antwerpen 1984.

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vor, der alle zustimmen. Dann erwacht er im Zoo, um enttäuscht festzustellen, dass alles nur ein Traum war. 1984 erschien eine weitere Comicbearbeitung als Nr. 109 in der populären Comicreihe De Rode Ridder.18 Diese seit 1959 erscheinende Reihe wurde anfänglich von Willy Vandersteen konzipiert und gezeichnet und Ende der 60er Jahre von Karel Biddeloo übernommen, der Fantasy-Elemente stärker in den Vordergrund rückte, v.a. Elemente der sogenannten sword en sorcery fantasy, in der (neben allerlei Kämpfen) Zauberei und Mystik im Mittelpunkt stehen, aber auch weibliche Erotik eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Protagonist der Reihe ist der (flämische) fahrende Ritter Johan, genannt der „Rode Ridder“19. Hier werden lediglich einige Elemente aus dem Roman übernommen und völlig an das RodeRidder-Schema angepasst. Die Hauptpersonen treten zwar alle auf, doch die Heldenrolle wird auf Johan verschoben: Der durch einen Sturz vom Pferd verletzte flämische Graf gibt seine Rüstung an Johan weiter, worauf dieser dann als ‚goldener Ritter‘ siegreich in die Schlacht zieht. Die Geschichte wird von Gejo hinsichtlich Zeit und Ort transferiert und spielt in einer unbestimmten Zeit an einem fiktiven Ort, der jedoch in zahlreichen Anspielungen auf das zeitgenössische Flandern referiert, bzw. wird bei Biddeloo an Gattungskonventionen des Fantasygenres angepasst und den Normen der Comicreihe entsprechend gestaltet (Verschiebung der Heldenrolle auf den Serienhelden unter Beibehaltung der Heldenattribute aus Consciences Mythos – der Held tritt in goldener Rüstung auf). Die Polarität zwischen zwei verfeindeten Völkern bleibt erhalten: bei Gejo zwischen Hoch- und Tiefländern, die Flamen und Wallonen im zeitgenössischen Flandern versinnbildlichen; bei Biddeloo zwischen Flamen und Franzosen (wenn auch nur vordergründig, da sich der eigentliche, die ganze Serie durchziehende Kampf zwischen Johan und den Mächten der Finsternis abspielt). In beiden Adaptionen ist der Kampf positiv konnotiert und führt zum Sieg. Die Rode-Ridder-Serie ist ein typischer Actioncomic mit zahlreichen Kampfszenen. Bei Gejo hingegen wird der Kampf auf eine politische Ebene verschoben (wie im Weiteren noch näher erläutert wird) und äußert sich in politischer Agitation, Aufmärschen, Reden, Parteiemblemen – denn die Tiefländer finden im Löwen das „Symbol für unseren Kampf“), an dessen für die Tiefländer siegreichem Ende die Spaltung des Landes steht. Wie in der wiederholenden Bearbeitung bleibt auch hier die ideologische Grundlage von Consciences

|| 18 Karel Biddeloo: De Leeuw van Vlaanderen. De Rode Ridder 109. Antwerpen 1984. 19 Die Figur des Roten Ritters basiert auf der gleichnamigen populären flämischen Jugendbuchserie von Leopold Vermeiren (1953 bis 2000) und geht auf die Artussage zurück.

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Roman erhalten, wird jedoch in einen anderen Kontext verschoben, wobei in beiden Fällen von der Romanhandlung stark abgewichen wird.

4.3 Subversive Bearbeitung Die jüngste Comicbearbeitung dekonstruiert den Mythos. Sie stammt aus der Feder von Ronny Matton und Christian Verhaeghe und erschien 1994 in 4 Bänden im Verlag Talent, Kortrijk.20 Hier nennt der Titel (Kroniek der Guldensporenslag) zwar nicht den Löwen von Flandern, verweist jedoch auf den zweiten Teil von Consciences Romantitel, die Schlacht der Goldenen Sporen. In seiner Einleitung kündigt Matton an, dass er „einen anderen ‚Löwen‘ schreiben“ wolle, „ein neues und innovatives Epos über die Schlacht der Goldenen Sporen“. Die Handlung weicht dementsprechend auch stark von Consciences Roman ab. Der Comic beginnt bereits mit Szenen aus der Schlacht, doch nach einigen Seiten merkt der Leser, dass dies ein immer wiederkehrender Alptraum des französischen Königs ist. Die Protagonisten sind zwei schottische Zwillingsschwestern auf der Suche nach der ‚heiligen Lanze‘, die den König von seinen Alpträumen heilen solle. Nach einer Verflechtung mehrerer Handlungsstränge endet der Comic mit der Sporenschlacht. Die Ideologie des Mythos wird hier mehrfach untergraben: in Bezug auf die (männliche) Heldenrolle, die nationale Zugehörigkeit, die Glorifizierung der Schlacht, und den alle Probleme lösenden Sieg. All diese ideologiegebundenen Elemente werden bei Matton in Frage gestellt. Dies soll in der folgenden Beleuchtung der Funktionen des Comics deutlich gemacht werden.

5 Funktionen der Comicbearbeitungen Es sind vor allem vier Funktionen, die in den Comics in unterschiedlicher Kombination und Gewichtung zum Tragen kommen: – didaktische (d.h. Literatur- oder Geschichtswissen vermittelnde), – nationalistische (bzw. anti-nationalistische) oder andere politische, – unterhaltende, – und ästhetisch-künstlerische Funktionen.

|| 20 Ronny Matton und Christian Verhaeghe: Kroniek der Guldensporenslag. Kortrijk 1994.

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In jedem Comic sind mehrere Funktionen zu finden, wobei der Schwerpunkt aber jeweils auf einer davon liegt.

5.1 Didaktische Funktion Diese liegt vor, wenn der Comic die (Kanon-)Literatur tradieren will, im vorliegenden Casus kann dabei auch Geschichtswissen vermittelt werden. Damit wird der kanonische Status bekräftigt. Die gegenteilige Funktion läge vor, wenn das kanonische Werk persifliert, bewusst ins Lächerliche gezogen und damit sein ‚hoher‘ Status in Frage gestellt bzw. statt Geschichtswissen eine fiktive Darstellung als ‚historische Tatsache‘ präsentiert würde. Die didaktische Funktion erhält im Comic De Moors, der im Dienst des Prätextes steht, das meiste Gewicht. Sein Respekt gegenüber dem Prätext zeigt sich schon daran, dass er zwar komprimiert, aber keine neuen Handlungselemente hinzufügt. Er möchte den Klassiker an die Jugend weitergeben, so wie er ihn selbst als Junge mit glühenden Ohren gelesen hatte – als spannende Abenteuergeschichte, in der tollkühne Bravourstücke der flämischen Helden im Mittelpunkt stehen. Auffallend ist jedoch, dass all die detailliert geschilderten Kampfszenen ohne sichtbares Blutvergießen ablaufen: die Gewaltszenen werden gewiswissermaßen zensuriert abgebildet, Verwundungen und Tod werden durch andere Bildelemente verdeckt oder nur im Blocktext berichtet. Der Grund dürfte wohl im Kontext der Erscheinungszeit (1949) zu suchen sein: Damals waren in den USA und einigen europäischen Ländern Diskussionen über die Gefahren von Comics (im Speziellen über den Einfluss von Gewaltszenen und erotisch gefärbten Darstellungen) für die Moral der Jugend im Gang, auch im niederländischen Sprachraum. So wurde etwa 1948 vom niederländischen Unterrichtsminister vor Comics gewarnt, und in einem Rundschreiben des niederländischen Bibliothekswesens von 1949 wurden Comics als „Seuchenherd und Brutstätte des Nihilismus“ bezeichnet; noch im selben Jahr wurde ein Komitee zur Bekämpfung schlechter Bildromane gegründet.21 Ähnliche Säuberungsbestrebungen haben wohl auch dazu geführt, dass jegliche Erwähnung der zarten Liebesbeziehung zwischen der Tochter des Grafen und dem jungen flämischen Ritter Adolf – abgesehen von der angekündigten Heirat am Ende – weggelassen wurde. Auch vor solchen Dingen war der jugendliche Leser offenbar zu schützen.

|| 21 Jan van Coillie: Leesbeesten en boekenfeesten: hoe werken (met) kinder- en jeugdboeken? Den Haag 1999, S. 222.

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Abb. 2: Goldensporenschlacht. Bob de Moor: De Leeuw van Vlaanderen. Antwerpen 1984 [1952], S. 65.

Auch Knoop beruft sich im Paratext seines Comics auf die Vermittlung von geschichtlichem und literarischem Wissen. Die Reihe trägt „Weltgeschichte“ im Titel und impliziert somit eine reale historische Basis. In den Comics stehen jedoch ausschließlich die „Abenteuer“ im Mittelpunkt, der geschichtliche Hintergrund dient lediglich als Umrahmung. Im vorangestellten „geschichtlichen Rückblick“ scheint es um Vermittlung von historischem Wissen zu gehen. Doch die präsentierten historischen Fakten sind gefärbt, aus der Perspektive der großdeutschen Ideologie dargestellt: die Flamen waren immer schon und seien auch noch heute ‚germanisch‘, so heißt es. Damit wird ein ‚großdeutsches‘ Bild der Geschichte erzeugt, wobei Knoop eher geschichtskonstruierend als geschichtsvermittelnd agiert. Die folgende Einleitung vermittelt Literaturwissen in Form von biografischer Information über Conscience, der mit anderen flämischen Schriftstellern, die „ihre Heimat […] besingen“ (wie Timmermans und Streuvels, in den 50er Jahren die in Deutschland populärsten flämischen Schriftsteller), in eine Reihe gestellt und damit zugleich auf Heimatliteratur reduziert wird. Offenbar wollte man damit an den Erfolg dieser Autoren anknüpfen (ob diese dem Zielpublikum der Abenteuercomics tatsächlich bekannt waren, darf bezweifelt werden). Der

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Schwerpunkt in dieser kurzen würdigenden Biografie liegt jedoch nicht auf Consciences Werken, der Romanautor wird weniger als Schriftsteller, sondern vielmehr als Soldat präsentiert, der „mit der Waffe für sein Vaterland“ kämpfte, was offenbar seinen schriftstellerischen Leistungen erst Gewicht verleiht.

Abb. 3: Bob de Moor: De Leeuw van Vlaanderen. Antwerpen 1984 [1952], S. 58.

In den anderen Comics spielen didaktische Intentionen kaum eine Rolle: Abgesehen vom Verweis auf den literarischen Prätext in der Rahmenhandlung (mit der Erklärung des Vaters wird zugleich deutlich gemacht, wie der Roman – und auch der Comic – zu verstehen ist) lässt der Comic von Gejo keinen ‚pädagogischen‘ Anspruch erkennen. Biddeloos Bearbeitung verzichtet gänzlich auf jeglichen expliziten Bezug auf Consciences Roman oder den geschichtlichen Hintergrund. Auf einschlägigen Internet-Fanseiten zur Rode Ridder-Reihe wird zwar kurz auf Consciences Roman und die Goldensporenschlacht hingewiesen, im Comic selbst jedoch nicht. In der Bearbeitung Mattons hingegen ist das Wissen über Roman und Schlacht Voraussetzung, um der Handlung folgen zu können.

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5.2 Politische Funktion: nationalistisch, re- oder denationalisierend Ist der Comic Träger einer (flämisch-) nationalistischen (oder einer anderen politischen) Botschaft? Als Anhaltspunkte dafür dienen das Vorhandensein von klar voneinander abgegrenzten nationalen Gegnern, die Präsentation der siegreichen Schlacht als problemlösend oder deren Hinterfragung. In De Moors historisierendem Comic wird die nationalistische Dichotomie (gute Flamen gegen böse Franzosen) aus Consciences Roman getreu übernommen, der Nationalitätenstreit bleibt dabei in sicherem zeitlichen Abstand in der fernen Vergangenheit situiert. Das Wappen des Löwen fungiert als visuelles Leitmotiv, die detailreich geschilderte Schlacht bildet den End- und Höhepunkt der Auseinandersetzung. Nur an dieser Stelle verwendet De Moor ein sogenanntes Splash-Panel (das die ganze Seite einnimmt) und suggeriert damit, dass diese Szene den Höhepunkt des Comics bildet (Abb. 2). Durch gezielte visuelle Fokalisierung wird der Leser stimuliert, die Geschichte aus der flämischen Perspektive zu betrachten, besonders deutlich in den Schlachtszenen, die der Leser aus der Position der Flamen miterlebt (Abb. 3). Knoop stellt in seiner Einführung die Handlung des Comics in einen historischen – und vor allem in einen ideologischen – Kontext: Die Flamen werden als Volk mit einem „stark germanischen Charakter, der bis in unsere Tage weiterlebt“, beschrieben, während die Franzosen, der „verhaßte Feind“, als aggressive Angreifer, die immer wieder versuchen, „sich das Land einzuverleiben“, geschildert werden (ganz dem alten Klischee als Erzfeind der Deutschen entsprechend). Statt des flämischen Charakters wird die Stammesverwandtschaft zwischen den Deutschen und den Flamen, die „ihr germanisches Wesen bewahren“, betont. Consciences Schlusssatz wird zwar zitiert, die Adressierung an die Flamen jedoch ausgelassen und damit der Appell generalisiert („Bedenke, wenn du dieses Buch der ruhmreichen Taten gelesen hast, was Flandern einstmals war, was es heute ist, und mehr noch, was es sein wird, wenn du das heilige Vorbild deiner Ahnen vergißt.“). Vielleicht kannte Knoop die deutsche Jugendbearbeitung des Löwen von Flandern von Schowalter (1898), in der der Roman noch eklatanter für die deutsch-flämische Stammesverwandtschaft und den gemeinsamen, Flamen und Deutsche verbindenden Kampf gegen die Franzosen umfunktioniert wurde, oder die deutsche Übersetzung von Van der Bleek (1916), der im Nachwort auf die Geschichte Belgiens als „die Geschichte von erbitterten Kämpfen des Germanentums gegen romanischen Vordrang, romanische

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Herrschsucht“22 verweist. Bei beiden Übersetzungen ist eine pangermanistische Tendenz unverkennbar. Diese Verschiebung vom Flämischen zum Germanischen zeigt sich auch in den Panels: so sind etwa die Fahnen alle schraffiert und unkenntlich gemacht (auf den Waffenhemden ist der Löwe allerdings sehr wohl zu sehen). Bezeichnenderweise erscheint auch auf dem Cover kein Löwenemblem. Selbst im letzten Panel (Abb. 4) ist bei der Rückkehr des siegreichen Heeres die große Fahne nicht identifizierbar, sodass aus dem Bild nicht hervorgeht, welche Seite den Sieg davongetragen hat (eine weitere Ähnlichkeit zu Schowalters Jugendbearbeitung, in der die Abbildungen ebenfalls schraffierte Fahnen zeigen). Durch die unkenntlichen Fahnen wird der Nationalmythos im Bild ‚denationalisiert‘, während er im Paratext (germanisch) ‚renationalisiert‘ wird.

Abb. 4: Wilhelm Knoop: Der Löwe von Flandern. Hannover [o. J.], S. 31.

In der Rode-Ridder-Version Biddeloos outet sich der Held gleich auf den ersten Seiten als Flame, nachdem Demoniah kurz die Situation im Land – Unterdrückung durch französische Fremdherrschaft und drohender Aufstand der Flamen – erläutert hat, wodurch der mit den Seriennormen vertraute Leser sogleich weiß, dass die Flamen die Guten sind und die (von Johans Gegenspielerin Demoniah – der Name ist Programm – unterstützten) Franzosen die Bösen. Zentral steht in diesem Comic (wie in der gesamten Reihe) der Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Johan (unterstützt von der Lichtfee Galaxa) und Demoniah. Der

|| 22 Hendrik Conscience: Der Löwe von Flandern. Ein historischer Roman aus Alt-Belgien. Übersetzt von Kurt L. Walter van der Bleek. Berlin 1916, o. S. (online: Projekt Gutenberg: http:// www.gutenberg.org/files/31129/31129-8.txt [abgerufen am 23.2.2018]).

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Freiheitskampf der Flamen ist dabei nur Kulisse und dem Seriencharakter untergeordnet, auf die politischen Folgen der Schlacht wird nicht eingegangen. Viel wichtiger ist, dass Demoniah unterdessen entkommt und damit die Fortsetzung der Auseinandersetzung im nächsten Heft garantiert ist. Dass der Comic mit einem Cliffhanger statt mit einem Happy End schließt, ist also dem Reihencharakter geschuldet.

Abb. 5: Gejo: De Leeuw van Vlaanderen. Antwerpen 1983, S. 32.

Statt Flamen und Franzosen stehen einander bei Gejo die Tief- und die Hochländer feindlich gegenüber, in deren Streit der Löwe höchstpersönlich eingreift und erfolgreich die Teilung des Landes einleitet. Damit vertritt er Parolen (Ruf nach flämischer Unabhängigkeit) der flämisch-nationalistischen Volksunie, in deren Wochenblatt der Comic erschien. Die Spaltung des Landes wird also vom heraldischen Emblem Flanderns selbst legitimiert. Im Blocktext (der Stimme des auktorialen Erzählers) wird der Löwe mehrmals als „unser Löwe“ apostrophiert – ein rhetorischer Trick, um den Leser einzubeziehen und an dessen Identifikation zu appellieren. Ein weiterer expliziter Verweis auf die eigene Partei findet sich auf den zum Aufstand aufrufenden Plakaten, die von den Tiefländern unter Anleitung des Löwen verfasst und überall in der Stadt angebracht werden und mit „Wij“ (Wir), dem Namen des Parteiblatts signiert sind. In diesem Comic wird die wirtschaftliche, soziale und politische Situation im zeitgenössischen Belgien mit den beiden Volksgruppen (den flämisches Niederländisch sprechenden Flamen und den französischsprachigen Wallonen) gespiegelt. Eine der Parallelen betrifft die Sprachproblematik. Auch das fiktive Land des Comics ist ein zweisprachiges

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Land, auf dem Marktplatz wird sowohl Flämisch als auch Französisch gesprochen (Abb. 5). Der Löwe entscheidet sich dafür, „in der Sprache der Menschen“ zu sprechen, genauer gesagt: in der Sprache der Tiefländer. Als er im Hochland vor Gericht gestellt wird, versteht er – nach eigener Aussage – kein Wort von jener (der französischen) Sprache. Damit ist deutlich, welcher Seite er sich zugehörig fühlt. Aber nicht nur die Situation im Land mutet den flämischen Leser bekannt an, sondern auch einige der handelnden Personen: die führenden Persönlichkeiten der Tiefländer haben nämlich starke Ähnlichkeit mit flämischnationalen Politikern wie etwa Hugo Schiltz, dem früheren Vorsitzenden der Volksunie, während auf der Gegenseite Gestalten mit den Gesichtszügen des damaligen belgischen Premiers Wilfried Martens oder des Finanzministers aus jener Zeit, Willy de Clercq, ausgestattet sind (wobei letzterer passenderweise im Comic als gnadenloser Steuereinnehmer auftritt). Und noch zahlreiche andere Politiker sind zu erkennen.

Abb. 6: Gejo: De Leeuw van Vlaanderen. Antwerpen 1983, S. 35.

In Gejos Comic findet keine Schlacht statt, dafür aber eine große Demonstration der Tiefländer. Während die Menschen friedlich demonstrieren und es auch sonst zu keinerlei Handgreiflichkeiten zwischen den verfeindeten Volksgruppen kommt, wird die gewalttätige Auseinandersetzung auf die zeitgenössischen heraldischen Symbole für Flandern (Löwe) und Wallonien (Hahn) verschoben. In der Binnenhandlung (dem Traum des Löwen) kann der Hahn vor dem Demonstrationszug und der Löwenfahne noch flügelschlagend flüchten, doch in der Rahmenhandlung geht es ihm am Ende definitiv an den Kragen: der eben erwachte Löwe erblickt einen zufällig vorbeikommenden Hahn, erlegt ihn mit einem mächtigen Prankenschlag und verspeist ihn zum Frühstück – mit diesem Bild endet der Comic (Abb. 6). Während also die Teilung des Landes unter dem Deckmantel der Traumerzählung präsentiert und dadurch abgemildert wird, vollzieht sich

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das ausdrückliche Bedauern darüber und das gewaltsame Ende des Hahnes (und dessen, wofür er steht) in der erzählten ‚Realität‘. Wenngleich die Spaltung des Landes mit demokratischen, nicht mit militärischen Mitteln erreicht wird (Reden, Aufrufen zum Widerstand, Demonstrationen, Abstimmung), so macht doch der aus seinem Traum erwachte Löwe die wenig friedliche Gesinnung deutlich, indem er den Hahn attackiert und auffrisst. Derartige Polaritäten werden bei Matton bewusst untergraben, auch die Nationalitätszugehörigkeit wird in Frage gestellt, denn die beiden (vermeintlich) schottischen Protagonistinnen entstammen, wie sich am Ende herausstellt, eigentlich dem französischen Königshaus. Ähnliches geschieht mit dem ‚Schwanenritter‘ in der Schlacht, der nicht der traditionelle flämische Held ist, sondern sowohl Flamen als auch Franzosen feindlich gegenüber steht und stattdessen für einen Dritten (den Papst) kämpft. Auch die Rollen von Angreifern und Opfern sind nicht eindeutig zugeordnet, denn schon auf den ersten Seiten verschiebt sich die Perspektive auf die Gegenseite (die Franzosen) und auf die Opfer der Schlacht (die Toten). Der flämische Nationalheld Breydel wiederum wird zum Anti-Helden, der am Ende die Heldenrolle zurückweist. Nicht nur das Heldenklischee, sondern auch die Botschaft von Consciences Roman wird umgekehrt: nicht der ruhmreiche Sieg in der Schlacht, sondern die Sinnlosigkeit des Krieges steht am Ende dieser Comicbearbeitung: „unsere Rache ist sinnlos, unser Krieg ist sinnlos“. Damit wird die in Consciences Roman vertretene Idee des nationalen Befreiungskampfes untergraben, letztendlich gibt es keine Sieger. Mattons Comic stellt somit eine Gegenposition zum Nationalismus dar.

5.3 Unterhaltungsfunktion Unterhaltung zu bieten spielt wohl bei allen Comics eine Rolle, jedoch in unterschiedlicher Ausprägung: De Moor möchte nicht nur belehren sondern durchaus auch unterhalten und die Jugend mit einer packenden, aktionsreichen Abenteuergeschichte mitreißen. Knoops Bearbeitung hingegen ist Teil einer Trash-Reihe: billig produzierte, sich gut verkaufende Hefte, die anspruchslose Lektüre bieten und sowohl sprachlich-stilistisch, als auch inhaltlich äußerst simpel gehalten sind. Biddeloo stellt die Unterhaltungsfunktion deutlich in den Vordergrund, er gibt in einem Interview in De Morgen (2003) ganz offen zu, dass die Rode-RidderReihe nicht mehr als „reines Entertainment“ sein möchte, „Pulp-Literatur“, gerichtet auf kommerziellen Erfolg bei einem breiten Publikum. Die Geschichte um den Löwen von Flandern und die Schlacht der Goldenen Sporen wird dann auch nahtlos in das Rode-Ridder-Universum, mit allen dazugehörigen Fantasy- und

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Action-Elementen, inkorporiert. Dabei wird die Aufmerksamkeit des Publikums auch durch Anspielungen auf andere populäre Fantasy- und Actioncomics und filme gefesselt: die Gegenspieler des Helden sind hier nicht Ritter, sondern Ninjas (Abb. 7); Aussehen und Kleidung des Protagonisten erinnern an Superman, die transparent gekleideten, vollbusigen weiblichen Comicfiguren an James-BondGirls. Im Speziellen finden wir intermediale Bezüge auf die kurz vor Erscheinen des Comics in die Kinos gekommene Verfilmung des Löwen von Flandern unter der Regie von Hugo Claus (1984), denn zahlreiche Helden tragen die Züge der diese Rollen verkörpernden Filmschauspieler. Breydel ähnelt Jan Decleir, De Coninck Julien Schoenaerts, und der Franzose Leroux gleicht John Massis (dem prominenten Kraftbolzen, der mit seinem Gebiss Eisen biegen konnte – seine Zähne werden dann auch im Comic in Großaufnahme gezeigt), der im Film die Rolle des französischen Henkers verkörpert. Aber auch weibliche Filmstars dienten als Vorlage – Galaxa wurde nach Senta Berger und Demoniah nach Barbara Stock (oder vielleicht sogar nach Sophia Loren) modelliert. Hier verweist also eine Adaption auf eine andere, die den zeitgenössischen Lesern wohl eher bekannt war als der Originalroman, und knüpft damit an die Medienerfahrung und die Sehgewohnheiten des Publikums an.

Abb. 7: Karel Biddeloo: De Leeuw van Vlaanderen. Antwerpen 1984, S. 15.

Während Biddeloo auf Filme referiert, verweist Gejo auf die reale zeitgenössische Lebenswelt seiner Leser und setzt dabei Humor und Ironie als Mittel zum (politischen) Zweck ein. Die knollennasigen, karikaturistisch gezeichneten Comicfiguren, die die ‚kleinen Leute‘ darstellen, fungieren als Identifikationsfiguren (nach

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Scott McCloud fördern cartoonhafte Comicfiguren mit weniger individualistischen Zügen die Identifikation des Lesers23) und die Missstände im Land werden auf humoristische Weise behandelt. Ein humorvoller Gag ist auch der kleine Junge, der in der Haltung des Brüsseler ‚Manneken Pis‘ dem Löwen auf die Mähne uriniert. Gejos Humor trägt jedoch gelegentlich sexistische Züge (nackte Frauenbrüste in der Gedankenblase eines Wachesoldaten).

5.4 Ästhetisch-künstlerischer Anspruch Matton hingegen wendet sich an ein anspruchsvolleres Publikum, dem er ästhetischen Genuss statt leichter Unterhaltung bietet. Sein künstlerischer Anspruch wird bereits im Vorwort artikuliert: Er möchte „einen anderen Löwen von Flandern“ schreiben, ein „neues und innovatives Epos über die Goldensporenschlacht“. Die Ereignisse um die Schlacht bilden nur einen der Handlungsfäden, die er in seiner Comicbearbeitung verwebt. Der flämische Freiheitskampf tritt immer mehr in den Hintergrund, wenngleich immer wieder Versatzstücke aus dem Löwen von Flandern aufgenommen werden (wie die Brügger Frühmette, der Einzug der Königin in Brügge oder der Sturmangriff auf Schloss Malle). Diese tradierte Ikonographie wird jedoch unterwandert und die Geschichte mit anderen Mythen verflochten: der Ritter-Queste aus der Artus-Erzählung, dem Gralsmythos, der Parzival-Erzählung und der Sage vom Schwanenritter. Der Comic spricht den Intellekt des Rezipienten an, der die oft rätselhaften Handlungsbruchstücke in Verbindung bringen und entschlüsseln muss, und enthält auch noch eine Vielzahl weiterer intertextueller Bezüge, sei es in den Sprechblasen (während der Schlacht erzählt Jan Breydel seinem jungen Begleiter die biblische Geschichte von David und Goliath), sei es durch visuelle Mittel (wenn etwa ein buckliger Glöckner durch die Kathedrale von Notre-Dame taumelt oder auf einem der Cover der König grübelnd einen Totenschädel in der Hand wiegt und damit die Hamlet-Ikonographie bemüht wird). Sowohl im Aufbau der Reihe als auch der Einzelbände zeigt sich ein hohes Maß an Zirkularität. So ist jeder der vier Bände mit einer Jahreszeit betitelt, die erste und letzte Seite eines jeden Bandes sind spiegelbildlich aufgebaut. Auch die Handlung enthält zirkuläre Elemente: Motive werden wiederholt oder gespiegelt – der Zyklus beginnt und endet nicht nur mit der Schlacht, sie kommt auch im Verlauf des Comics (als Erinnerung oder als Vorhersage) in Form von stets denselben Bildern vor. Mittels Mythenmix und Zirkularität wird die Geschichte aus

|| 23 Scott McCloud: Comics richtig lesen. Hamburg 1994, S. 44–45.

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einer konkreten historischen Epoche herausgeholt und in einen außerzeitlichen, zeitlosen Bereich gestellt. Diese Entzeitlichung weist auf die Allgemeingültigkeit der Geschichte, die Sporenschlacht ist nicht das triumphale ‚glückliche‘ Ende, sondern ein katastrophales Ereignis, das keine Lösung bringt – das offene Ende regt den Leser zum Nachdenken an (und vermittelt implizit auch eine ‚moralische‘ Botschaft). Bei den anderen Bearbeitungen sind ästhetische Bestrebungen vergleichsweise weniger dominant. Lediglich De Moors ästhetische Ambitionen kommen in seinen sorgfältig dokumentierten Zeichnungen, seiner peniblen Recherche nach historischem Quellenmaterial und dem realistischen, detaillierten Zeichenstil zum Ausdruck. Intertextuelle und intermediale Elemente sind aber nicht nur bei Matton zu finden: De Moor setzt eine intertextuelle Referenz auf dem Panel mit der Schlacht ein, an dessen unterem Rand ein Spruchband mit dem Text „Aan lange lansen de leeuwen dansen“ (An langen Lanzen die Löwen tanzen) steht, ein Zitat aus dem Gedicht „Groeninghe“ des bedeutenden flämischen Dichters Guido Gezelle über die Schlacht der Goldenen Sporen, das in der von Jef Van Hoof vertonten Form den jungen Lesern gut bekannt war (Abb. 2). Gejo verwendet eine interpikturiale Referenz: Die Abbildung der Demonstration der Tiefländer ist von einer Illustration aus Consciences Roman in der bei Lebègue erschienenen Ausgabe inspiriert. Gejo greift auch überraschend oft auf literarische Techniken und Stilmittel zurück, zu nennen wäre hier der Aufbau in Rahmen- und Binnenhandlung; die in der komprimierten Inhaltsangabe des Romans durch den erklärenden Vater angelegte Mise-en-abyme-Struktur; oder der im Traum stets in Reimen sprechende Löwe. Ferner zeigt der Löwe selbstreflexive Züge, wenn er zu sich sagt: „für den flüssigen Verlauf der Geschichte spreche ich ab jetzt in ihrer Sprache“. Ironische Kommentare der Erzählinstanz stören die Illusion, so fungiert etwa eine Fußnote in einem Panel als Ironiemarker („Hahahaha!“, als Anmerkung zur Aussage des Steuereinnehmers, dass jeder vor dem Gesetz gleich sei).

6 Fazit Comicbearbeitungen dienen also nicht nur dem Original oder sind dem künstlerischen Ausdruck untergeordnet, sondern können auch im ‚Dienste‘ anderer Funktionen (politischer Intentionen, reihenspezifischer Normen, kommerzieller Interessen) stehen. Während De Moors Comic im Dienst des Prätextes steht (dem Autor liegt v.a. die Vermittlung des Klassikers am Herzen), stellen Biddeloo, Gejo

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und Knoop den Löwen von Flandern in den Dienst der Comicreihe bzw. der Parteipolitik. Es wurden vier Hauptfunktionen untersucht: die didaktische Funktion ist hier vom kanonischen Status des Prätextes und dem Genre der Literaturadaption, die Unterhaltungsfunktion durch das Zielmedium bedingt; nationalistische Zielsetzungen sind bereits im Prätext angelegt, aber noch mehr vom Publikationskontext bestimmt. Ästhetisch-künstlerische Ansprüche hängen vom Comicautor ab. Obzwar jeder Comic mehrere Funktionen erfüllt, steht doch zumeist eine davon im Vordergrund: Die wiederholende und historisierende Bearbeitung De Moors wirkt didaktisch (literaturvermittelnd), aber auch unterhaltend. Sein künstlerischer Anspruch schlägt sich in genauer Dokumentation und im realistischen Zeichenstil nieder. Knoop wiederholt (zumindest rudimentär) den Roman ebenfalls, im Paratext erfolgt jedoch eine Neuinterpretation für das deutsche Leserpublikum. Der Comic will auf einfache Weise unterhalten, während das historische Vorwort eine großdeutsch orientierte Interpretation der Geschichte liefert. Die verschiebenden (und aktualisierenden) Bearbeitungen stehen im Dienst einer flämisch-nationalen Parteipolitik oder sind den Serienkonventionen verpflichtet. Biddeloo zielt auf „reine Unterhaltung“, mit der kommerzielle Interessen verfolgt werden, und greift dafür auf intermediale Referenzen wie die Verfilmung des Romans zurück. Gejo verweist auf das reale Alltagsleben der Leser und will mit humoristischen Elementen unterhalten, um seine Botschaft (Ruf nach Unabhängigkeit Flanderns, entsprechend den Forderungen seiner Partei) an den Mann zu bringen. In der subversiven Bearbeitung Mattons stehen hingegen ästhetisch-künstlerische Ambitionen im Vordergrund und werden höhere Ansprüche an den Leser gestellt. Statt mit dem Sieg in der Schlacht den Handlungsbogen befriedigend abzuschließen, dekonstruiert Matton ‚unumstößliche‘ Wahrheiten der zugrundeliegenden Weltanschauung und wirft Fragen auf, die den Leser weiter beschäftigen.

Fabian Wolbring

Goe-T und Chiller? Über Sinn und Unsinn von Rap-Adaptionen klassischer Gedichte im Deutschunterricht Schülerinnen und Schüler mit Rap-Versionen klassischer Gedichte zu konfrontieren, ist inzwischen eine etablierte Form der Literaturvermittlung im Deutschunterricht. Petra Anders spricht diesbezüglich von einem „deutschdidaktische[n] Trend, die Schüler mittels Rap zurück zu früheren literarischen Epochen zu führen“.1 Viele Klassiker der Gattung wie Goethes Heidenröslein,2 von Droste-Hülshoffs Der Knabe im Moor3 oder Schillers Ode An die Freude4 sind in „verrapter“ Form erhältlich und mit Lehrmaterialien didaktisch aufbereitet. Die Zweckmäßigkeit einer solchen Form der Lyrikadaption leuchtet dabei vielen Beobachtern unmittelbar ein. So hält es der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff etwa für eine „wunderbare Idee, Gedichte auf diese Weise zu vertonen“. Kindern und Jugendlichen werde so ein „ganz neue[r] Zugang zu diesen Meisterwerken sowie zu Lyrik im Allgemeinen“ ermöglicht.5 Ähnlich enthusiastisch äußert sich auch Rapper Thomas D von den Fantastischen Vier, der selbst sogar als Mentor des bekanntesten Projekts für Rap-Adaptionen klassischer Gedichte fungiert, nämlich für JDD, Junge Dichter und Denker. Er erklärt, die „Werk[e] der alten Meister wie Goethe, Schiller, Heine oder Fontane“ erschienen durch die Rap-Adaption „in einem neuen, zeitgemäßen Gewand“,6 weshalb

|| 1 Petra Anders: Lyrische Texte im Deutschunterricht. Grundlagen, Methoden, multimediale Praxisvorschläge. Seelze 2013, S. 38. 2 Z.B. Wolfgang Menzel: Goethes Heidenröslein. Vom Volkslied zum Rap. In: Praxis Deutsch 26 (1999) H. 156, S. 44–47. 3 Z.B. Ingrid Röbbelen: O schaurig ist’s übers Moor zu gehn. Echo-Texte, freier Vortrag und Balladen-Rap. In: Praxis Deutsch 28 (2001) H. 169, S. 27–33. 4 Z.B. Doppel-U und Antje Hübner: Goethe und Schiller. Ein interaktives Rap-Hörbuch. Braunschweig 2006. 5 Zitiert nach voll:kontakt: JDD - Junge Dichter und Denker. Kultura-extra, das online-magazin (Oktober 2007): http://www.kultura-extra.de/musik/spezial/jdd_junge_dichter_und_denker 2007.php [abgerufen am 29.8.2017]. 6 Thomas D: Aktionen & Projekte. Thomas D (2014): http://thomasd.net/junge-dichter-unddenker/ [abgerufen am 29.8.2017]. https://doi.org/10.1515/9783110615760-021

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Schülerinnen und Schüler durch sie folglich „einen besseren Zugang zur Literatur“ erhielten.7 Im Folgenden möchte ich den didaktischen Nutzen solcher Rap-Adaptionen am Beispiel von Goethes Erlkönig kritisch hinterfragen. Die Ballade scheint für die Rap-Adaption im Schulkontext prädestiniert zu sein, da zu ihr besonders viele Rap-Versionen8 wie auch Unterrichtsmaterialien9 erschienen sind. Selbst der derzeit wohl populärste deutschsprachige Rapper Kollegah hat im Rahmen einer ZDF-Sendung eine Version des Erlkönigs eingerappt.10 Die bekannteste RapAdaption stammt allerdings von den eingangs erwähnten Jungen Dichtern und Denkern und wird besonders häufig im Deutsch- und Musikunterricht eingesetzt.11 Im August 2007 rappten gar 1600 Schülerinnen und Schüler gemeinsam diese Erlkönig-Adaption, was ihr einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde bescherte.12

|| 7 o.A.: Rap trifft Klassiker. Goethe, Schiller und andere Klassiker der deutschen Literatur einmal ganz anders – als Rap. bildungsklick (6.2.2006): https://bildungsklick.de/bundeslaender/ meldung/rap-trifft-klassiker/ [abgerufen am 29.8.2017]. 8 Z.B. von ‚REMO Cesare‘ (Der Erlkönig - Johann Wolfgang von Goethe, YouTube (5.5.2017) https://www.youtube.com/watch?v=zWkcH7nx06A [abgerufen am 29.8.2017]), von ‚Jumbodive‘ (Erlkönig [Rapgedicht], YouTube (3.9.2014) https://www.youtube.com/watch?v=4hMc9eCo RGo2014 [abgerufen am 29.8.2017]) oder von ‚ConflabulonX‘ (Der Erlkönig Rap, YouTube (29.5.2009) https://www.youtube.com/watch?v=s0CYqHvLR-w2009 [abgerufen am 29.8.2017]). 9 Z.B. Janina Lux: Der Erlkönig als Rap. In: Grundschule Musik 43 (2007), S. 22–27; Hans Lösener und Ulrike Siebauer: hochform@lyrik. Konzepte und Ideen für einen erfahrungsorientierten Lyrikunterricht. Regensburg 2014, S. 62f.; Rap im Unterricht - Gedichte selbst rappen: „Wer ist der Erl-King?“ Rappen mit Goethe. In: School-Scout (2010): https://www.schoolscout.de/40920-projekt-rap-im-unterricht-gedichte-selbst-rappen-w [abgerufen am 29.8.2017]; oder o. A.: Erfahren Sie, wie Sie mit Kollegah Ihre Schüler für den Erlkönig begeistern. LugertVerlag (9.3.2016): http://www.lugert-verlag.de/2016/erfahren-sie-wie-sie-mit-kollegah-ihreschueler-fuer-den-erlkoenig-begeistern.html [abgerufen am 29.8.2017]. Kritisch dazu auch Klaus Maiwald: Erlkönig-Rap, voll kreativ! Zu einem Klassiker des Deutschunterrichts und einem Hochwertwort der Deutschdidaktik. In: Visionen und Hoffnungen in schwieriger Zeit. Hg. von Lutz Götz und Claudia Kupfer-Schreiner. Frankfurt am Main 2009, S. 85–106. 10 Terra Xpress: Deutschlands schnellster Rapper. ZDF (18.8.2013): https://www.zdf.de/wis sen/terra-xpress/deutschlands-schnellster-rapper-102.html [abgerufen am 29.8.2017]. 11 JDD / Junge Dichter und Denker: Die 1ste. Lacrima Records 2006. 12 Vgl. Pia Röder: Rap den Erlkönig. Stern (16.11.2007): http://www.stern.de/kultur/musik/junge-dichter-und-denker--rap-den-erlkoenig-3223462.html [abgerufen am 29.8.2017].

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1 Didaktische Argumente für RapucationMethoden Bevor ich mich dem Erlkönig bzw. seiner „Rap-Tauglichkeit“ widme, möchte ich zunächst die zentralen Argumente der Didaktik für den Einsatz von Rap-Adaptionen rekapitulieren. Anders als in der Literatur- und Musikwissenschaft ist die Didaktik ein Forschungsbereich, in dem der Rap bereits seit Jahren große Beachtung erfährt.13 Dabei geht es weniger um das Phänomen selbst in seiner gesellschaftlichen, kulturellen oder ästhetischen Bedeutung, als vielmehr um seine methodische Nutzbarmachung zur fächerübergreifenden Vermittlung von Lehrinhalten. Entsprechend finden sich inzwischen Raps zu Lateinvokabeln,14 Bundesländern,15 mathematischen Formeln,16 Brandschutzregeln,17 usw., wie auch zugehörige Materialien für den Unterricht. Robin Haefs subsumiert diese Vorstöße unter dem Begriff Rapucation und weist sie bereits als selbstständigen didaktischen Zweig aus.18 Für den Einsatz von Rap sprechen dabei aus didaktischer Sicht im Wesentlichen zwei starke Argumente, nämlich 1. seine Memorierbarkeit und 2. seine genuine Attraktivität für die Schülerschaft.

1.1 Memorierbarkeit Auf der Homepage der Jungen Dichter und Denker liest man, dass die Idee für die Rap-Adaptionen ursprünglich beim Auswendiglernen eines Mörike-Gedichts

|| 13 Vgl. für einen kommentierten Forschungsüberblick zu Rap und HipHop Fabian Wolbring: Die Poetik des deutschsprachigen Rap. Göttingen 2015, S. 25ff. 14 Vgl. z.B. Vittorio Alfieri und Katja Liebing: Latein-Raps. Lateinische Verben. Leichter lernen mit Rap und Hip-Hop. München 2008. 15 Vgl. z.B. Benjamin Bohnert: Stadt-Land-Flow. Rap I Art I Schule (o.J.): http://www.rapart schule.de/erfahrungen/ [abgerufen am 29.8.2017]. 16 Vgl. z.B. ‚Dorfuchs‘: Polynomdivision (Mathe-Song), YouTube (1.3.2013): https://www.you tube.com/watch?v=K8K4_gowb4E [abgerufen am 29.8.2017]. 17 Vgl. z.B. Barbara Shatliff: Fire safety. Brandschutzerziehung im Englischunterricht. In: Take off! 3 (2015), S. 10–15. 18 Vgl. Robin Haefs: Rapucation. Vermittlung von Unterrichtsinhalten durch Rapmusik. Hamburg 2008. Haefs betreut und entwickelt gemeinsam mit Vincent Stein und Gitanjali Schmelcher selbst auch diverse Rap-Bildungs-Projekte. Einen Einblick in die Arbeit liefert die Seite http://www.rapucation.de [abgerufen am 29.8.2017].

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entstanden sei. Durch das Rappen hätte sich der Text viel leichter eingeprägt.19 Dieses Argument der besseren Memorierbarkeit wird im Zusammenhang mit Rapucation-Methoden vielfach verwendet und erscheint zunächst unstrittig überzeugend. Durch die Rhythmisierung und Versifikation gewinnen gerappte Vokabeln, Formeln oder historische Daten Eigenschaften von Merkversen. Dieser Effekt resultiert vor allem aus zwei basalen Kennzeichen der Textsorte Rap, nämlich der Paarreimbindung und der rhythmischen Ausrichtung am 4/4-Takt mit ihrer prägnanten Akzentuierung auf 2 und 4. Dieses Grundmuster wird auch als Back-Beat bezeichnet und ist beinahe in sämtlichen Formen der Pop-und Rockmusik verbreitet.20 Es gilt als besonders eingängig und „metrisch verständlich”.21 In dieser metrischen Ausrichtung liegen auch die wesentlichen Überschneidungen des Rap mit vielen Texten der klassischen Lyrik. So finden sich auch bei Goethe und Schiller immer wieder vierhebige, taktgebundene Verse in Form von füllungsfreien Knittelversen. Füllungsfreiheit bedeutet dabei, dass die Zahl der unbetonten Silben zwischen den Betonungen bzw. Hebungen variieren kann. Bindung erhalten die Verse dann – genau wie beim Rap – vor allem durch die isochrone Deklamation im Takt, d.h. die Akzentuierung von Betonungen in regelmäßigen realzeitlichen Abständen. Abhängig von der Silbenanzahl zwischen den isochron zu realisierenden Hebungen erhöht oder verringert sich die notwendige Sprechgeschwindigkeit in der Deklamation.22 Dadurch ermöglicht das Versmaß tendenziell einen größeren rhythmischen Variantenreichtum als die in der Silbenanzahl festgelegten Versfüße, ohne allerdings seine rhythmische Ordnung aufzugeben. Unter den Dichtern der Goethezeit galten taktgebundene Verse daher häufig auch als wirkmächtigere, ursprünglichere und musikalischere Alternative und als metrische Bezugnahme auf das Volkslied.23 Entsprechend konzipierte Gedichte – wie z.B. Goethes Erlkönig – lassen sich aufgrund ihrer grundsätzlichen Taktausrichtung leicht, d.h. ohne metrische Widerstände, als Rap deklamieren. Allerdings bedeutet diese „Verrappung“ im

|| 19 Vgl. Junge Dichter und Denker: Über uns. JDD Musik (2009): http://jdd-musik.de/ueberuns [abgerufen am 29.8.2017]. 20 Vgl. Fabian Wolbring: Die Poetik des deutschsprachigen Rap, S. 286ff. 21 Adorno spricht im Zusammenhang mit Menschen, die für derartige Rhythmen empfänglich sind, abfällig vom „rhythmically obedient type mainly found among the youth“ bzw. der „radio generation“. Theodor W. Adorno: On Popular Music. In: On Record. Rock, Pop, and the Written Word. Hg. von Simon Frith und Andrew Goodwin. New York 1990 (zuerst 1941), S. 312. 22 Vgl. Christoph Küper: Sprache und Metrum. Semiotik und Linguistik des Verses. Tübingen 1988, S. 275. 23 Vgl. ebd., S. 161.

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Grunde keinen mnemotechnischen Mehrwert, weil die Originale bereits entsprechend gebunden sind. Anders als Hauptstädte oder Vokabeln bieten sie dem Gedächtnis grundsätzlich bereits ausreichend rhythmische Ankerpunkte, auch wenn sie in gedruckter Form natürlich offen für unterschiedliche Deklamationsweisen sind. Prinzipiell würde dabei eine singende Deklamationsweise am ehesten zur besseren Memorierbarkeit beitragen, weil diese den Text zusätzlich harmonisch bzw. melodiös bindet. Eine solche Eingängigkeit bieten Rap-Verse in aller Regel nicht.24

1.2 Genuine Attraktivität Zur didaktischen Legitimation von Rapucation-Methoden werden insgesamt mehrheitlich motivationale Argumente angeführt. Rap gilt aufgrund seiner anhaltenden Popularität unter Jugendlichen als genuin attraktiv. Seine methodische Instrumentalisierung erscheint manchem Didaktiker daher geradezu als Zauberformel, jedwede Form der Schulmüdigkeit hinter sich zu lassen und einen schülernahen, leidenschaftlich verfolgten Unterricht zu gestalten. Scheinbar gilt, wie die Sozialpädagogin Sybille Günther formuliert: „Jeder Vers, der gereimt wird, ist ‚in‘, wenn er als Rap daherkommt.“25 Fragt man wiederum nach den Ursachen für diese Wunderwirkung, stößt man auf drei vermeintliche Eigenschaften jedes Raps, die sich schlagwortartig in etwa folgendermaßen bestimmen lassen: Rap ist in, einfach und cool. Auch wenn diese Eigenschaften in der Argumentation häufig verwischen, lohnt es sich m.E., sie differenziert zu betrachten und zu hinterfragen.

1.2.1 Rap ist in – Popularität Dass Rap als Musikgenre in im Sinne von angesagt und populär ist, steht außer Frage. Seine Popularität scheint sogar stetig zuzunehmen. Einer aktuellen Studie zufolge ist Rap in den USA im Jahr 2017 (und damit gut 40 Jahre nach seiner Entstehung) erstmalig das populärste Musikgenre überhaupt.26 In Deutschland entstammten allein 14 der 44 Nummer-1-Alben des Jahres 2016 diesem Genre und || 24 Vgl. etwa die Aussage von Eminem-Biograf Rob McGibbon: „Ein Rap-Song ist selten ein Ohrwurm“. Rob McGibbon: Eminem. The real fucking story. München 2001, S. 29. 25 Sybille Günther: Hoppla! Hip-Hop 4 kids. Münster 2007, S. 4. 26 Vgl. Lars Weisbrod: Beef statt Muff. Zeit-Online (30.8.2017): http://www.zeit.de/kultur/mu sik/2017-08/hip-hop-rockmusik-nielsen-musik-usa/komplettansicht [abgerufen am 10.9.2017].

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damit ein deutlich höherer Anteil als ihn etwa Schlager, Rock oder Elektro ausweisen können.27 Bereits eine großangelegte Studie zum Medienhandeln Jugendlicher aus dem Jahr 2007 ergab, dass sich etwa 44% der Jugendlichen selbst der Gruppe von HipHop- und Rap-Fans zuordnen.28 Keine andere Jugend- oder Musik-Szene erhielt mehr Zuspruch. Das Interesse an Rap übersteigt demnach gar das an Fußball, Autos oder Umweltschutz. Allerdings ist Rap in besonderem Maße „love-it-or-leave-it“- Phänomen: Wer ihn hört, hört in meist exzessiv und exklusiv; wer ihn nicht hört, lehnt ihn häufig vehement ab und empfindet ihn und seine Anhänger als „peinlich und belanglos“29. Zudem ist nicht jeder Rap per se populär. Hunderttausende von Raps aus dem semiprofessionellen und Amateur-Bereich finden mehrheitlich kaum Resonanz und erreichen nur wenige oder gar keine Rezipienten,30 wodurch die Auffassung, Rap sei per se populär und alles ließe sich durch Rap popularisieren, relativiert wird. Dass die Rap-Adaptionen von klassischen Gedichten unter Schülerinnen und Schülern tatsächlich populär sind, lässt sich auf Basis von YouTube-Klicks oder Charterfolgen zumindest nicht belegen.

1.2.2 Rap ist einfach - Zugänglichkeit Das Argument der Zugänglichkeit resultiert zunächst aus der Beobachtung, dass das Rappen, d.h. das rhythmisierte Sprechsingen im 4/4-Takt, im Vergleich zu anderen musikalischen Ausdrucksformen auf den ersten Blick wenig anspruchsvoll erscheint. So erklärt etwa Reto Schweizer die Rap-Ausrichtung des Schulprojekts Respect! Rap für Toleranz in der Schule mit dessen musikalischer Anspruchslosigkeit: Rappen ist einfach! Rappen können alle! Man muss kein Instrument spielen und man muss nicht singen können und doch kann man sich musikalisch engagieren. Und genau dies macht den Rap für unsere Jugendlichen und für unsere Schulen so interessant!31

|| 27 Vgl. Clark Senger: 1999-2017. Das sind die Nummer-1-Alben aller deutschen Rapper. hiphop.de (16. Juni 2017): http://hiphop.de/magazin/hintergrund/1999-2016-sind-deutschrapsnummer-1-alben-297693?nopaging=1#.WbAPOTVpyUl [abgerufen am 10.9.2017]. 28 Klaus Peter Treumann et al.: Medienhandeln Jugendlicher. Mediennutzung und Medienkompetenz. Bielefelder Medienkompetenzmodell. Wiesbaden 2007, S. 267. 29 Silke Bauer et al.: Da’ Family Pack. Das Berliner HipHop Festival. Berlin 1995, S. 76. 30 Vgl. Fabian Wolbring: Die Poetik des deutschsprachigen Rap, S. 43ff. 31 Reto Schweizer: Respect! Rap für Toleranz in der Schule. Zürich 2007, S. 6.

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Allerdings trägt diese Argumentation m.E. nur in Bezug auf ein musikalisches Engagement, das im Literaturunterricht zumeist nicht verlangt wird. Hier erweist sich die rappende Deklamationsweise eines Gedichtes dagegen nicht als per se anforderungsärmer. Tendenziell ist der musikalische Anspruch sogar höher als bei anderen Deklamationsweisen, da Rhythmus und Taktgefühl vorausgesetzt werden. Die „Vereinfachungspotentiale“ der Klassiker-Raps liegen daher vermutlich eher in der „niedrigschwelligen Kulturvermittlung“32. Demzufolge haben Schülerinnen und Schüler häufig Ressentiments und Berührungsängste gegenüber Klassikern, die durch die Vertrautheit und Beliebtheit der Rap-Form überwunden werden könnten. Angeblich schafft die Adaption dadurch sogar einen impliziten Lebensweltbezug. Ingrid Röbbelen erklärt diesen Effekt in Bezug auf gerappte Balladen wie folgt: Mit dem Anknüpfen an moderne Elemente der Jugendkultur intensiviert sich der Dialog der Lernenden mit einem historischen Gegenstand. Dabei kommt es, im hermeneutischen Sinn, zu einer produktiven Horizontverschmelzung.33

Rap gilt als Textsorte, deren Wirkmächtigkeit auch aus ihrer grundsätzlichen Verständigungsorientierung resultiert.34 Neben dem eingängigen, beinahe suggestiven Rhythmus sind hierfür natürlich die klaren, teils drastischen Botschaften verantwortlich. Da die Texte der Gedichte in ihrer sprachlichen Ausgestaltung allerdings gar nicht verändert werden, stellt sich die Frage, warum sie einzig durch den Rap-Duktus verständlicher werden sollten. Eher steht zu befürchten, dass die Textinhalte durch die markante Rhythmisierung weiter aus dem Blick geraten. Gleichzeitig lässt sich fragen, ob die raptypische Rezeptions- und Erwartungshaltung einer klaren, eindeutig verständlichen Botschaft gegenüber klassischen Gedichten angemessen ist. Gerade der Erlkönig ist offensichtlich ein Text, bei dem Ambivalenz eher als zentrales Anliegen denn als aufzulösendes Defizit erscheint. Die Unsicherheit der Rezipienten darüber, was in der nebelverhangenen Nacht tatsächlich geschieht und ob Fieberwahn, Geisterwerk oder gar

|| 32 Birgit Mandel: „Niedrigschwellige“ Kulturvermittlung öffentlicher Kulturinstitutionen als integrales Konzept zwischen Kunstmissionierung und Moderation kultureller Beteiligungsprozesse. In: Kulturelle Bildung online (2014): https://www.kubi-online.de/artikel/niedrig schwellige-kulturvermittlung-oeffentlicher-kulturinstitutionen-integrales-konzept [abgerufen am 10.9.2017]. 33 Ingrid Röbbelen: O schaurig ist’s übers Moor zu gehn, S. 169. 34 Vgl. Fabian Wolbring: Die Poetik des deutschsprachigen Rap, 270ff.

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Missbrauch im Spiel sind, geht in der selbstbewussten Rap-Deklamation (s.u.) womöglich unter.35

1.2.3 Rap ist cool – Coolness Cool ist im Zusammenhang mit Rap womöglich das meistverwendete Adjektiv.36 Auch im Pressetext der Jungen Dichter und Denker liest man: Sechs Jugendliche aus Buchholz in der Nordheide zeigen, dass Goethe und Groove zusammen gehören. Und dass Gedichte keinen staubigen Geschmack auf der Zunge hinterlassen müssen – definitiv nicht, wenn man sie rappt. […] Jugendlichen mit Sound und Stil einen spielerischen, genussvollen oder auch „coolen“ Umgang mit einem Stück Kultur zu ermöglichen – das ist ausdrücklich erwünscht.37

|| 35 Vgl. zu den vielfältigen Interpretations- und Deutungsmöglichkeiten z.B. Hermann Beland: „Siehst Vater, du den Erlkönig nicht?“ In: Kunstbefragung. 40 Jahre psychoanalytische Werkinterpretation am Berliner Psychoanalytischen Institut. Hg. von Gisela Greve. Tübingen 1996, S. 13–34; Alexander von Bormann: Erlkönig. In: Goethe Handbuch. Band 1 Gedichte. Hg. von Regine Otto und Bernd Witte. Stuttgart, Weimar 1996, S. 212–217; Eckehard Czucka: Tatsachen und Ereignisse in Goethes ‚Erlkönig‘. Sprachkritisch-hermeneutische Untersuchungen zur Metaphorizität der Ballade. In: Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Band 2: Ältere Deutsche Literatur, Neuere Deutsche Literatur. Hg. von Georg Stötzel. Berlin 1985, S. 525–540; Wilhelm Kühlmann: Die Nachtseite der Aufklärung. Goethes „Erlkönig“ im Lichte der zeitgenössischen Pädagogik. In: Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. Hg. von Ortrud Gutjahr et al. Würzburg 1993, S. 145–157; Max Liedke: Woran ist das Kind in Goethes Erlkönig gestorben? Anmerkungen über die Entstehung von Religionen und über die Existenz ,Gottes‘. In: Pädagogische Rundschau 46 (1992), S. 69–82; Hans Lösener: Der Rhythmus des Unheimlichen im Erlkönig. In: Der Rhythmus in der Rede: linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus. Hg. von dems. Tübingen 1999, S. 113–154; Valentin Merkelbach: Goethes ‚Erlkönig‘, museales Erbstück oder was sonst noch? Ästhetische, ideologische und didaktische Aspekte eines Balladen-Evergreens. In: Diskussion Deutsch 16 (1985), S. 313–326; Stephan Mühr: Der Sohn im „Erlkönig“ hat kein Fieber. In: Magie und Sprache. Hg. von Carlotta von Maltzan. Bern 2012, S. 197–209; Jörn Stückrath: Wider den Relativismus im Umgang mit Literatur. Ein Vorschlag zur inhaltsbezogenen Erschließung narrativer literarischer Texte am Beispiel von Goethes „Erlkönig“. In: Diskussion Deutsch 97 (1987) H. 18, S. 468–487; Gert Ueding: Vermählung mit der Natur. Zu Goethes Erlkönig. In: Gedichte und Interpretationen. Deutsche Balladen. Hg. von Gunter Grimm. Stuttgart 1988, S. 93– 108 oder Raimar Stefan Zons: Exkurs: ein Familienzentrum: Goethes ‚Erlkönig‘. In: Randgänge der Poetik. Hg. von dems. Würzburg 1985, S. 82–89. 36 Vgl. Fabian Wolbring: Die Poetik des deutschsprachigen Rap, S. 435. 37 Zitiert nach voll:kontakt: JDD - Junge Dichter und Denker.

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Obgleich der Begriff cool im jugendsprachlichen Gebrauch semantisch vage ist, vereint er in aller Regel doch mindestens zwei Bedeutungsdimensionen. Zum einen die von gut, d.h. dass er positiv besetzt ist, und zum anderen die von kühl, im Sinne von lässig, aber auch im Sinne von emotional distanziert bzw. affektkontrolliert.38 Die mit dieser semantischen Vermischung einhergehende Idealisierung von Coolness erscheint mir für den Schulkontext durchaus bedenklich. Schließlich wird Coolness nicht selten auf Kosten von Empathie, Ausgelassenheit und Engagement kultiviert. Tatsächlich lässt sich aber feststellen, dass Rap eine Gattung bzw. ein Genre ist, in dem Coolness als Souveränität ausgiebig thematisiert und idealisiert wird. Man kann sogar sagen, dass die meisten Raps implizit wie explizit die Coolness ihrer Sprecher verhandeln, bzw. dass die zentrale Funktion der meisten Raps in der Inszenierung von Coolness besteht. Rap ist folglich nicht nur cool, weil er in ist, sondern eher in, weil er cool ist. Zur effektvollen Inszenierung von Coolness wurde im Genre ein breites Arsenal sprachästhetischer Techniken und Strategien entwickelt und erprobt,39 deren Thematisierung sicher ein unstrittig lohnenswertes Projekt für jeden ambitionierten Literaturunterricht ergeben würde. So ließe sich nämlich an einem jugendkulturell aktuellen Gegenstand verdeutlichen (und entlarven), wie sprachliches Auftreten zur Selbstinszenierung beiträgt. In der Rap-Adaption klassischer Gedichte gehen die meisten CoolnessAspekte allerdings unweigerlich verloren. Trivialerweise zunächst vor allem jene, die die Textoberfläche bzw. die Inhalte betreffen. So stellen Rapper ihre Coolness gerne mit markigen Sprüchen, originellen Reim- und Wortspielen oder kontroversen Inhalten aus, die der Erlkönig offensichtlich entbehrt. Die ErlkönigRap-Adaption von REMO Cesare begegnet diesem Coolness-Defizit des Originaltexts, indem ein (vermeintlich) raptypischer Refrain hinzugefügt wird. Er lautet: „Hörst du den Erlkönig nicht? / Das ist ein geiles Gedicht. / Wenn du es kannst, ist es gut / Es bringt die Bitches in den Club.“40 Da wohl nicht davon auszugehen ist, dass Cesare ernsthaft annimmt, der Erlkönig habe den angegebenen Effekt, macht sich dieser Rap damit allerdings eher über das didaktische Vorhaben lustig, klassische Gedichte mithilfe einer Rap-Ästhetik cool erscheinen zu lassen. Zudem macht er deutlich, dass ein Flirt mit der raptypischen Coolness im Schulkontext nicht unproblematisch ist, weil diese nicht selten mit sexistischen Klischees und Gewaltverherrlichung einhergeht. Häufig erwächst die Coolness auch

|| 38 Vgl. Fabian Wolbring: Die Poetik des deutschsprachigen Rap, S. 434ff. 39 Vgl. ebd., S. 443ff. 40 ‚REMO Cesare‘: Der Erlkönig.

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gerade aus einer gewissen Outlaw-Ästhetik und einer Antihaltung gegenüber dem „Herrschaftssystem Schule“. Daher verliert der Rap durch eine anbiedernde Aufnahme in den Schulkanon für viele wohl seinen subversiven Reiz und damit seine coole Attraktivität. Was Raps zudem dazu prädestiniert, Coolness als Sprecherattribut auszustellen und zu fingieren, ist das gängige Autorschaftsmodell in diesem Genre.41 Rapper gelten als Schöpfer ihrer Texte und sollen in diesen ihre ureigenen, „authentischen“ Gedanken schildern.42 Fremdadaptionen sind daher völlig unüblich und das „Nachrappen“ fremder Verse ein poetologischer Frevel. Dabei ist dieser hochambivalente Authentizitätsanspruch tatsächlich der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts verwandt wie auch der bis heute verbreiteten Vorstellung, Lyrik sei eine notwendig subjektive Gattung, die der monologischen Selbstaussprache eines Ichs bzw. einer „Dichterseele“ diene.43 Coolness ist in aller Regel gerade nicht der beabsichtigte Wirkungseffekt klassischer Lyrik. Schließlich verbindet sich mit Coolness eine Art Anti-Pathos, d.h. ein Habitus, der jegliche Emphase vermeidet44 und damit geradezu das emotionale Gegenmodell zur mehrheitlich emphatischen Lyrik des 18. Jahrhunderts (allen voran der des Sturm und Drang). Ein Rapper gilt nicht nur gleichzeitig als Verfasser des Textes und als Performer des Sprechgesangs, sondern darüber hinaus auch als die durch den Rap erzählende und in ihm sprechhandelnde Instanz bzw. als dramatis persona, d.h. der „im Geschehen stehend[e] Akteur, der redend tathandelt und ein Sprechermonopol innehat.“45 Diese fingierte situative Verortung und Distanzlosigkeit ist für die überzeugende Inszenierung von Sprecheremotionen von zentraler Wichtigkeit und entsprechend auch grundsätzlich typisch für Sprecherrollen in lyrischen Texten. Coolness als Ausweis von Emotionskontrolle lässt sich dabei effektvoll in Settings unter Beweis stellen, die normalerweise starke affektive Reaktionen verlangen, etwa sexuelle oder aggressive Settings und Wettbewerbssituationen. Im Battle kann z.B. ein fiktives Gegenüber drastisch bedroht und beleidigt werden, während sich der Sprecher derweil ganz gelassen präsentieren und damit überlegen inszenieren bzw. positionieren kann. Die Coolness wird so durch ihre situative Unangemessenheit gesteigert.46

|| 41 Vgl. Fabian Wolbring: Die Poetik des deutschsprachigen Rap, S. 146ff. 42 Vgl. Robert Walser: Rhythm, Rhyme, and Rhetoric in the Music of Public Enemy. In: Ethnomusicology 39 (1995) H. 2, S. 196. 43 Vgl. Wolfgang Kayser: Kleine deutsche Versschule. Bern 1968 (zuerst 1946), S. 191. 44 Vgl. Fabian Wolbring: Die Poetik des deutschsprachigen Rap, S. 443. 45 Dietrich Weber: Erzählliteratur; Schriftwerk, Kunstwerk, Erzählwerk. Göttingen 1998. 46 Vgl. Fabian Wolbring: Die Poetik des deutschsprachigen Rap, S. 455ff.

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Entscheidend für die coole Wirkung eines Rap ist zudem der Stimmeinsatz, da die Stimme indexikalisch auf die emotionale Verfasstheit des Sprechers rückverweist. Anders als beim emphatischen Gesang werden beim Rap oftmals bewusst „emotional neutrale“47 Sprechweisen verwandt, die stimmlich den Eindruck von Gleichgültigkeit, Gelassenheit und emotionaler Distanz vermitteln.48 Basis solcher Unaufgeregtheit und Selbstsicherheit markierenden Sprechweisen ist der entsprechende Stimmeinsatz. Durch ihn lässt sich etwa Blasiertheit oder Lässigkeit „intonieren“. Zudem treten die Sprecher stets selbstbewusst auf, wozu sich Raps wirkungsdispositional auch besonders gut eignen. Sie weisen ihre Sprecher geradezu zwangsläufig als überzeugt aus, d.h. dass für sie die Richtigkeit und Angemessenheit ihrer Äußerungen zweifelsfrei feststehen. Dadurch kann der Rap-Duktus auch helfen, den Sprecher als Autorität zu inszenieren.49 Die formale Grundstruktur eines Rap kommt diesem Vorhaben entgegen. Dies liegt zunächst daran, dass die meisten Raps von sicheren, festen, bevorzugt tiefen, männlichen Stimmen intoniert werden. Fragende, erstaunte, zärtliche oder der unsichere Sprechweisen sind dagegen – ganz anders als etwa beim Gesang – unüblich. Die stimmliche Überzeugtheit korrespondiert mit einer rhythmisch-lautlichen Geschlossenheit. Durch die Betonungsstruktur im Back-Beat wird ein fragender oder unsicherer Sprechmodus geradezu ausgeschlossen. Ihrer Betonung nach sind Sätze im Rap nämlich stets Aussage- bzw. Behauptungssätze. Zudem produziert das Reim- und Rhythmusmuster häufig eine Art subtile formbezogene Plausibilität, die Rap für das überzeugte Sprechen prädestiniert. Folglich stellt sich die Frage, inwieweit das coole, überzeugte Sprechen der RapAdaption, d.h. der Rap-Duktus, eine taugliche bzw. sinnvolle Deklamationsweise für den Erlkönig ist.

2 Mögliche im Erlkönig angelegte Deklamationsweisen Grundsätzlich erscheint die Frage nach der angemessenen Rezitations- und damit Intonationsweise eines Gedichtes für den Deutschunterricht äußerst fruchtbar und sinnvoll zu sein. Durch sie können Schülerinnen und Schüler für die

|| 47 Heinz Fiukowski: Sprecherzieherisches Elementarbuch. Tübingen 1992, S. 112. 48 Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung. Berlin 2006, S. 80. 49 Vgl. Fabian Wolbring: Die Poetik des deutschsprachigen Rap, S. 427ff.

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Mediendifferenz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit sensibilisiert werden und ein Bewusstsein für Prosodie und Rhythmus der Sprache entwickeln. Zudem können über Rezitationsvarianten auch Deutungsspielräume ausgelotet werden.50 Es gilt, wie es Goethe selbst formulierte, einem Gedicht „eine tüchtige Jacke auf den Leib [zu passen]“,51 etwa indem man versucht, der metrischen und lautlichen Anlage des Textes nachzuspüren oder die emotionale Verfasstheit der Sprechinstanzen im Gedicht zu analysieren und stimmlich nachzuvollziehen. Für den Erlkönig scheint sich die Vertonung und Deklamation besonders anzubieten, da er ursprünglich bereits als Liedtext konzipiert wurde. Er ist Teil des Singspiels Die Fischerin, das 1782 auf der Naturbühne in Tiefurt bei Weimar uraufgeführt wurde. Dort wurde die Ballade von Corona Schröter gesungen, die alle Lieder des Stücks vertonte.52 Werner-Joachim Düring bezeichnet den Erlkönig als eine der meistkomponierten Gedichte der Musikliteratur und verzeichnet bereits 1972 131 Versionen.53 Die berühmteste stammt bekanntlich von Franz Schubert (1821), wurde allerdings von Goethe selbst ignoriert. Offensichtlich gibt es große Spielräume in der rhythmischen und harmonischen Umsetzung und in der Intonation der Ballade. Eine Frage, die sich aufzudrängen scheint, ist etwa die nach dem Sprechtempo. Ist der Text eher langsam oder eher schnell zu deklamieren? Daran schließt sich semantisch etwa die Frage nach der Reisegeschwindigkeit von Vater und Sohn an. Manche Leser gehen intuitiv davon aus, dass beide galoppieren, wobei allein das Wort Wind entsprechende Assoziationen auszulösen scheint. Andere vermuten, dass bei einem vorsichtigen Ritt durch die Nacht, ein Trab angemessener wäre und nehmen ein langsameres Lesetempo an. Denkbar wäre auch, das Tempo zu variieren und es etwa zum Ende hin zu erhöhen oder aber es sprecherabhängig zu gestalten. Folgt man der taktgliedernden und damit isochronen Anlage des Textes, stellt man bereits fest, dass dieser eine interne Sprechtemporegulierung anbietet, nach der der Sohn tendenziell schneller spricht, d.h. im Schnitt mehr Silben pro Zeile realisiert als der Vater. Dies wird vor allem an der parallel gestalteten Anrede deutlich: „Mein Vater, mein Vater“ (6 Silben) gegenüber „Mein Sohn, mein Sohn“ (4 Silben). Das || 50 Vgl. zu den Potentialen gesprochener Literatur im Deutschunterricht einführend Karla Müller: Literatur hören und hörbar machen. In: Praxis Deutsch 31 (2004) H. 185, S. 6–14. 51 Johann Wolfgang von Goethe: Brief an Zelter vom 17. April 1815. In: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832. Erster Band 1799–1818. Hg. von Ludwig Geiger. Leipzig 1920, S. 408. 52 Vgl. Gert Ueding: Vermählung mit der Natur, S. 93. 53 Werner-Joachim Düring: Erlkönig-Vertonungen. Eine historische und semantische Untersuchung. Regensburg 1972, S. 1.

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verhältnismäßig höhere Sprechtempo des Sohnes mag hier dessen Aufgeregtheit markieren. Gleichzeitig lässt die Verlangsamung des Sprechtempos des Vaters auf dessen Beruhigungsabsicht schließen. Bei der Intonation des Textes stellt sich zudem die Frage nach der Sprecheranzahl. Im Singspielkontext wurde der Text von nur einer Sängerin realisiert, was durchaus der üblichen monologischen Praxis im Rap wie auch bei den meisten Rap-Adaptionen entspricht. Der Text selbst lässt es indes sinnvoll erscheinen, mindestens vier Rollen zu unterscheiden (Erzähler, Kind, Vater und Erlkönig) und ihnen jeweils andere Stimmen und andere Schallprofile zuzuordnen. Dieses Rollenreden entspricht zudem eher dem situationsverschränkenden Sprechen im Rap, auch wenn offensichtlich kein vergleichbarer Authentizitätseffekt erzielt werden kann. In der Adaption der Jungen Dichter und Denker wird denn auch so verfahren, auch wenn die Profile nur bedingt zu den Rollen passen. So wird in klassischen Erlkönig-Vertonungen dem Knaben eine hohe Stimmlage, dem Vater dagegen eine tiefe zugeordnet;54 in der JDD-Adaption werden beide Figuren von jungen Mädchen intoniert. Inwieweit passt das inhärent coole, überzeugte Sprechen des Raps nun zu den Sprechrollen im Text? Beachtet man nur die Teilnehmer des (beschädigten) Trialogs zwischen Erlkönig, Vater und Kind, so scheinen sie sich durchaus unterschiedlich gut anzubieten. Die Rolle des Sohnes ist offensichtlich ziemlich ungeeignet für cooles Sprechen, schon alleine weil dieser schutzbedürftig und abhängig und damit unsouverän ist. Seine Unsicherheit spiegelt sich im Sprechverhalten wieder, da er beständig Fragen stellt und die Bestätigung des Vaters sucht. Er wirkt überhaupt nicht situationskontrolliert und stark emotional involviert. Die wachsende Verängstigung (bis hin zur Panik „Jetzt faßt er mich an!“) sollte entsprechend wohl eher in einer unsicheren Sprechweise ausgestellt werden, etwa mittels zitternden oder hastenden Stimmeinsatzes, statt im coolen Rap-Duktus. Etwas anders verhält es sich bei der Rolle des Vaters. Dieser bemüht sich ja den Knaben zu beruhigen. Insofern könnte er versucht sein, intonatorisch die eigene Souveränität gegenüber der Situation zu inszenieren, z.B. Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind. –

|| 54 Vgl. Wolfgang Menzel: Der Erlkönig – verschieden vertont. In: Praxis Deutsch 28 (2001) H. 169, S. 45.

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Dabei kann es durchaus sein, dass der Vater selbst verunsichert ist; sei es durch die (vermeintliche) Krankheit des Knaben oder durch die (uneingestandene) eigene Wahrnehmung der Präsenz des Erlkönigs. Dem Text nach „grauset’s“ den Vater allerdings erst in der letzten Strophe. Wollte man die Souveränität des Vaters als Beschützer daher im Sprechgestus umsetzen, könnte die im RapRhythmus angelegte Souveränität angemessen erscheinen. Die Coolness des Rap-Duktus lässt allerdings auch auf ein Desinteresse am Befinden des Sohnes schließen, wodurch sie unpassend wirkt. Der Erlkönig ist eine Figur mit fragwürdigem ontologischem Status, da seine Existenz zwar vom Sohn vehement attestiert, doch vom Vater bestritten wird. Von der logisch privilegierten Erzählinstanz wird er indes nicht bestätigt, doch weisen seine Redeanteile ihn dennoch als konkretes Äußerungssubjekt aus, auch wenn sie als einzige in Anführungszeichen gesetzt werden und dadurch typographisch einen „Sonderstatus“ erhalten. Es böte sich an, diesen zwischenweltlichen Status der Erlkönigrede intonatorisch umzusetzen, etwa durch geisterhaftes Flüstern oder technische Verzerrung. Im Text wird durch das Säuseln der Blätter im Wind ein konkretes akustisches Vorbild angeführt. Prüft man darüber hinaus, inwieweit der Rap-Duktus zur Rolle des Erlkönigs passt, stellt sich heraus, dass sich diese in gewisser Hinsicht bei jedem seiner drei „Auftritte“ wandelt. Zunächst tritt er in der Rolle des „Spielkameraden“ auf und damit in gewisser Weise „auf Augenhöhe“ mit dem Knaben: Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir; Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand, Meine Mutter hat manch gülden Gewand.

Allein die Referenz der Mutter markiert deutlich die eigene Kinderposition, was als Coolness- und Souveränitäts-Indikator gänzlich ungeeignet scheint. Daher sollte womöglich in der Deklamation eher eine Sprechweise gewählt werden, die Kindlichkeit und Vergnügen impliziert und damit eine, der der coole Rap-Duktus nicht entspricht. Beim zweiten Sprechen tritt der Erlkönig dann allerdings als Vater auf, der seine Töchter als Argumente aufführt, um für sich zu werben. Dieser Akt des Werbens und Prahlens mit letztlich objektifizierten Mädchen ließe sich durchaus plausibel in einen Rap-Duktus überführen und an typische Sprecherrollen im Rap wie den „Pimp“ (Zuhälter) oder „Player“ anschließen:55

|| 55 Vgl. Fabian Wolbring: Die Poetik des deutschsprachigen Rap, S. 396ff.

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Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein.

Beim dritten Auftritt des Erlkönigs ist allerdings von Coolness und Affektkontrolle absolut nichts zu merken („Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt“) und er begeht den Mord am Knaben dem Anschein nach im Affekt. Für diese Entwicklung vom „Spielkameraden“ zum „Vater“ zum „Aggressor“ sensibilisiert der Rap-Duktus genauso wenig wie für die Vielstimmigkeit und emotionale Dynamik des Textes. Insgesamt führt die Rap-Adaption m.E. daher eher zu einer Desensibilisierung für den Text als für ein tiefergehendes Verständnis. Insgesamt ist mein Eindruck, dass man durch die unreflektierte Vermengung von Rap und klassischen Gedichten beiden Phänomenen nicht gerecht wird. Es scheint so, als traue man weder dem Rap noch dem klassischen Gedicht zu, für sich genommen interessant zu sein und Lernertrag zu generieren. Rap wird anscheinend einzig seiner Popularität wegen instrumentalisiert und die Klassiker wiederum einzig ihres Hochkulturstatus wegen behandelt. Dass beiden tatsächlich Wirkungspotentiale innewohnen, die sich mit der Schülerschaft erfahren und reflektieren ließen, wird somit übersehen. Würde die Rap-Adaption allerdings in ihrer ästhetischen Spezifik als eine unter vielen möglichen Deklamationsweisen vorgestellt, diskutiert und womöglich auch als unpassend abgelehnt, ließe sich ihr Einsatz durchaus rechtfertigen. Bei bestimmten Gedichten mag sie sogar eine legitime, ästhetisch reizvolle Variante darstellen. Doppel-Us Rap-Version von Goethes Zauberlehrling erscheint mir etwa dazu geeignet, Schülerinnen und Schüler für die coole Sprechweise im Rap zu sensibilisieren und gleichzeitig dem situationsverschränkendem Erzählmodus und dem im Text angelegten Sprecherprofil der Rolle zu entsprechen. Wie im Rap üblich gibt es hier (abgesehen vom alten Meister) nur einen Sprecher, nämlich den jungen selbstbewussten Zauberlehrling, dessen Rolle ein durchaus raptypisches „überhebliches Selbstvertrauen“56 kennzeichnet. Auch wenn der Text dessen wachsenden Kontrollverlust beschreibt, erscheint mir die Rolle als eine, zu der das bewusst um Coolness bemühte Sprechen des Rap passt. Die RapAdaption ließe sich folglich in Anita Schilchers Unterrichtsvorhaben zum Zauberlehrling integrieren, in dem fünf unterschiedliche Rezitationsweisen

|| 56 Benedikt Jeßing: Balladen. In: Literatur für die Schule. Ein Werklexikon zum Deutschunterricht. Hg. von Marion Bönninghausen und Jochen Vogt. Paderborn 2014, S. 247.

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miteinander verglichen werden, um „die Einsicht zu vermitteln, dass gesprochene Literatur sich nicht nur im Hinblick auf Nuancen unterscheidet, sondern einen eigenen Interpretationsentwurf darstellt.“57

|| 57 Anita Schilcher: Der Zauberlehrling – fünfmal gehört. In: Praxis Deutsch 31 (2004) H. 185, S. 34.

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Max Frisch – ein moderner Klassiker? Zur multimedialen Erinnerung seines 100. Geburtstags

1 Max Frisch – moderner Klassiker? Max Frisch (1911–1991) gilt als Vertreter des sogenannten „kritischen Patriotismus“ der Deutschschweizer Nachkriegsliteratur. Sowohl in seinen literarischen, als auch in seinen publizistischen Werken (u.a. Schweiz als Heimat?, Schweiz ohne Armee?, Achtung die Schweiz) wendet er sich gegen die sogenannten „heiligen Pfeiler der Schweizerischen Eidgenossenschaft“ wie Neutralität, Armee, geistige Landesverteidigung, die für längere Zeit in der Schweiz als unantastbar betrachtet wurden. In die Literaturgeschichte seines Landes ist er außerdem auch als Kritiker der Schweizer Mythen eingegangen – besonders mit der Erzählung Wilhelm Tell für die Schule? (1971), die für große Aufregung sorgte. „Was hat Max Frisch in unserem Land angerichtet?“ – fragt der Züricher Literaturprofessor Peter von Matt und antwortet: „[E]r hat die Atmosphäre geändert“, so dass „in der Schweiz ein neuer Typ von Schriftstellern nachgewachsen ist: selbstbewusst, unverfroren, mit Flair für das Ungehörige und Lust am kalkulierten Ärgernis.“1 Max Frisch wurde in seinem Land und im Ausland gehört, denn er besaß „das verdeckte mythische Fundament des Mythenbeseitigers (und) die Bilderrede des Bilderzertrümmerers.“2 Wegen seiner publizistisch-literarischen Tätigkeit hat man ihn jedoch besonders in den 60er Jahren als „Nestbeschmutzer“ bezeichnet, in vielen Kritikschriften beleidigt sowie seine Person nicht selten diskret boykottiert. Nichtsdestotrotz haben sich die Bemerkungen über seine Heimat und seine Mitbürger ihre Bedeutsamkeit bis heute bewahrt, wie zum Beispiel das Postulat, demnach sich „die Schweiz besinnen muss, wo sie steht, woher sie kommt und wohin sie will. [Denn sie ist] nichts anderes als eine Idee, die einmal realisiert worden ist“3 und deshalb immer wieder aufs Neue definiert werden muss. Max Frisch hinterließ nicht nur ein schweizkritisches literarisches Erbe, sondern auch viele theoretische Schriften und literarische Werke zu wichtigen The-

|| 1 Peter von Matt: Die tintenblauen Eidgenossen. München 2001, S. 225. 2 Ebd., S. 226. 3 Max Frisch: Achtung: die Schweiz. Basel 1955. Zitiert nach Klara Obermüller: Wir sind eigenartig, ohne Zweifel. München, Wien 2003, S. 11. https://doi.org/10.1515/9783110615760-022

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men seiner Zeit, die sich bis heute großer Popularität erfreuen und weiterhin aktuell bleiben (zu nennen wären u.a. Stiller 1954, Homo faber 1957, Andorra 1961, Mein Name sei Gantenbein 1964, seine Tagebücher 1946-49, 1966-1971, Entwürfe zu seinem dritten Tagebuch 2010 und die letzte Veröffentlichung der Auszüge aus dem Berliner Journal 2014, in dem Max Frisch das Berlin der frühen 70er Jahren beschreibt). Auch wenn Frischs Geltung international weit über die Stellungsnahmen zu seiner Heimat hinausgeht, so wird er in der Schweiz auch immer an seinen Positionen ihr gegenüber gemessen und erweist sich deshalb als nicht unproblematischer Nationalautor. Zu fragen wäre deshalb, inwieweit man Max Frisch überhaupt als einen Klassiker (im Sinne von „Schweizer Nationalklassiker“) in der Gegenwart bezeichnen kann. Indizien, um diese Frage zu beantworten, liefert der Umgang mit seinem Gedenken in der Schweiz, der hier im Folgenden exemplarisch an einem aktuellen Beispiel untersucht werden soll. „Wenn große Dichter tot sind, geben sie zu tun“, behauptet der erste Leiter des Schweizerischen Frisch-Archives Peter von Matt und leitet damit eine Diskussion über das angemessene Gedenken mit verstorbenen Dichtern ein. Bissig meint er, dass „in der Schweiz die herausragenden Künstler nach ihrem Hinschied längerfristig nur zwei Möglichkeiten (haben): die Vergemütlichung oder das Vergessen.“4 Dabei wäre zu vermerken, dass diese Alternative keine echte ist, denn sowohl das Vergessen als auch die Vergemütlichung könnten gleichermaßen bedeuten, dass die umstrittenen und heiklen Thesen letztendlich beseitigt würden.5 Max Frisch mit seinem Werk zu „vergemütlichen“, scheint ohnehin ein schwieriges Unterfangen, da seine provokativen Bemerkungen zur Schweizer Neutralität, der Nachkriegsschweiz sowie der schweizerischen Gesellschaft skandalträchtig in das kollektive Gedächtnis eingegangen sind. Darüber hinaus wird in vielen Stellungnahmen Peter von Matts die Tatsache hervorgehoben, dass die politischen Schriften und Essays von Frisch die „Wahrheit der geschichtlichen Stunde“ zu verraten suchten, indem manche seiner Thesen von den Historikern (z.B. in den Mitteilungen der Bergier-Kommission über die „dunklen Seiten“ der Schweizer Geschichte) bestätigt wurden.6 Nimmt man den diesem Band zugrundeliegenden funktionalen Klassikbegriff als Ausgangspunkt, so könnte man Matts Aussage entnehmen, dass gerade die schonungslos geäußerten Beobachtungen Frischs seinen Klassikerstatus in der Funktion als Mahner und Kritiker

|| 4 Peter von Matt: Die tintenblauen Eidgenossen, S. 236–237. 5 Ebd., S. 235–238. 6 Ebd. Vgl. dazu: Schweiz schreiben. Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur. Hg. von Jürgen Barkhoff und Valerie Heffernan. Berlin, New York 2010. Zum Bericht der Bergier-Kommission siehe: www.uek.ch [abgerufen am 4.4.2016].

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des nationalen Selbstverständnisses begründeten. Auch in der internationalen Perspektive verpflichtet der Ruhm des Deutschschweizer Schriftstellers zum adäquaten Umgang mit seiner Figur, da er immer noch besonders im deutschen Sprachraum sehr geschätzt und nicht nur in Bezug auf seine öffentlichen Stellungnahmen diskutiert wird. Frisch selbst hat sich im Übrigen bereits zu seinen Lebzeiten Gedanken zu seinem Nachleben gemacht und konzipierte die offizielle Abschiedsfeier in der Züricher Kirche zu St. Petribis bis ins Detail. Selbst nach seinem Tod ließ er seine Zeitgenossen und Freunde provozieren, indem er seine Asche im Freundeskreis während einer von seiner Partnerin Karin Pilliod organisierten Abschiedsparty im Feuer verbrennen ließ. „Daher auch gibt es kein Grab, das man ehrerbietig besuchen, vor dem man sich mit dem versteckten Überlegenheitsgefühl des Überlebenden verneigen könnte“, bemerkt Peter von Matt und schlussfolgert: „Wer das Grab von Max Frisch sucht, muß sich an die hohen Lüfte halten.“7 Der postume Umgang mit Max Frisch (sowohl mit seiner Person als auch seinem Gesamtschaffen) lässt sich somit gut mit Hilfe des funktionalen Klassikbegriffs diskutieren. Seine Werke zeichnet unstrittig das subversive Potential aus, die bestehenden Normen und Prinzipien jeglicher staatlich-gesellschaftlichen Ordnung zu hinterfragen. In dem breiten Themenangebot setzt er sich auch mit wichtigen Fragen des einzelnen Menschen auseinander, wobei diese nicht selten die versteckten Konflikte des Individuums mit sich selbst sowie mit der Gesellschaft ans Licht bringen und bis heute Stoff zum Nachdenken bieten. Selbst die ewigen menschlichen Krisen und Leiden im Prozess der Sinn- und Identitätssuche, die einerseits zwar besonders stark mit dem sogenannten Schweizertum verwickelt sind, erweisen sich andererseits aber doch als allgegenwärtige Probleme mit regionalem Kolorit. Es lässt sich also fragen, in welcher Funktion Max Frisch heute als Klassiker gelten kann. Im Kontext der Schweizer Mythen ließe sich Max Frisch provokativ vielleicht als quasi „Inbegriff Deutschschweizer Seele“ bezeichnen. In einer Lesart, die das Provokative zu beseitigen sucht, ließe er sich aber auch als ruhmreicher Schweizer Autor, als Nationalheiliger bezeichnen, der die literarische Schweiz nach außen zu repräsentieren hat. Schließlich könnte er als Schweizkritiker immer noch als nationaler Nestbeschmutzer und Provokateur inszeniert werden. Der vorliegende Aufsatz möchte sich mit genau dieser Frage beschäftigen, welcher Max Frisch eigentlich ein Klassiker der Gegenwart ist. Dazu soll eine prominent inszenierte Ausstellung zu seinem 100. Geburtstag näher untersucht wer-

|| 7 Peter von Matt: Die tintenblauen Eidgenossen, S. 236.

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den. Es gilt herauszuarbeiten, welche Themen und Positionen Frischs wie dargeboten werden, was ihn also inhaltlich heute definiert. Darüber hinaus soll analysiert werden, ob die im kulturellen Gedächtnis tradierten Frisch-Bilder als Nationalheiliger und als Provokateur heute nebeneinander Berücksichtigung finden, oder es aber Tendenzen der Vermittlung zwischen beiden Polen gibt.

1 Schweizer Gedenkfeier im Kontext des kollektiven Gedächtnisses Das Problem der Erinnerung an verstorbene Schriftsteller sowie der häufig dazugehörigen Jubiläumsveranstaltungen kann in einem breiteren Kontext des kollektiven Gedächtnisses untersucht werden, denn dieser Faktor ist bei der Setzung der Maßstäbe für die Gegenwart sowie Zukunft einer Gesellschaft entscheidend. Von Bedeutung in diesem Prozess ist der jeweilige Ausgleich zwischen Erinnern und Vergessen, der in einem bestimmten soziokulturellen Umfeld verläuft. „Ohne Erinnerung sind wir geistig tot. Ohne Vergessen sind wir seelisch gelähmt“8, paraphrasiert Peter von Matt das von Aleida Assmann thematisierte Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen und macht damit auf den ständigen und unausweichlichen Konflikt in jeder Gesellschaft aufmerksam, die ihre Werte und Prioritäten auch in Bezug auf die Literatur immer von neuem zur Debatte stellen muss. Die Diskussion über literarische Kultfiguren, die ihre Zeit durch ihr Schaffen wesentlich mitgeprägt haben, wofür Max Frisch geradezu als Paradebeispiel gelten kann, weil er eigentlich bis zu seinem Tod an dem literarisch-kulturellen Leben der Schweiz mitwirkte, zeigt auch gewisse Differenzen zwischen den massenmedialen und akademischen Diskursen, worauf man ausdrücklich hinweisen muss. Nicht zu vergessen seien auch verschiedene „Erinnerungsinstanzen“, die besonders auf der lokalen Ebene „ihre regionalen Schriftsteller“ zu würdigen suchen und die geographische Differenzierung (z.B. Schriftsteller von nationaler und internationaler Bedeutung), die dabei mitspielt. Peter von Matt kommt zu dem Entschluss, dass das „literarische Gedächtnis“ eben von diesen vielfältigen „Erinnerungsinstanzen“ wie Medien, Schulen, Universitäten, Verlage, sowie Bibliotheken, Museen und Archiven stark geformt wird. Jubiläen stellen eine Möglichkeit dar, diese vielen Erinnerungsinstanzen in ein Gespräch miteinander zu bringen, sie gegebenenfalls in ein Jubiläumskonzept zu integrieren und einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Aus diesem Grund geben sie || 8 Peter von Matt: Das Kalb vor der Gotthardpost. München 2012, S. 157.

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zuverlässig Auskunft über den Wandel des Erinnerungsprozesses. An ihnen zeigt sich auch, wie untrennbar jeder Kulturkreis mit dem „schöpferischen Gedächtnis“ (im Sinne einer freien Gestaltung der Vergangenheit) verbunden ist.9

2 Die multimediale Ausstellung zum Jubiläum des 100. Geburtstages von Max Frisch: ein Beispiel für niedrigschwellige Klassiker-Vermittlung? In dem Jubiläumsjahr 2011 war Max Frisch auf zahlreichen Bühnen und Fernsehkanälen überall in der Schweiz (vor allem in Zürich) zu sehen und zu erleben. Im Zentrum der vielfältigen Gedenkfeiern zum 100. Geburtstag von Max Frisch stand die „Max Frisch-Ausstellung – eine multimediale Erinnerung an den großen Schweizer“, die 2011 in Zürich (und 2012 in Berlin an der Akademie der Künste) zu besuchen war. Die Kuratorin, Annemarie Hürlimann, formuliert in folgenden Worten die Leitidee des Projekts: „Wir gehen von den Rezipienten aus, also von den Lesenden, Kinogängern sowie Theaterbesuchern und fragen: wie viel Frisch steckt in der Gegenwart in jedem von uns?“10 Hier zeigt sich ein Vermittlungskonzept, das den Rezipienten von vornherein mitbedenkt und eine niedrige Schwelle für die Rezeption ansetzt. Nach zahlreichen Interviews – u.a. mit Schriftstellern, Lesern, Schülern, Professoren, Politikern und Passanten – so Hürlimann weiter – könne man schlussfolgern: Sein [Frischs] Werk ist in Gebrauch, es hat ein Gegenüber, wird kontrovers gelesen und diskutiert, im Theater geschaut oder im Film erlebt. Es begegnet uns in unzähligen Zitaten im Alltag, vom Bonmot des Lehrers bis hin zur Spruchweisheit auf der Zigarettenpackung; den einen quält es im Unterricht und den anderen bringt es zu sich selbst.11

Hier wird das Gedenken durch die empirisch belegte kulturelle Präsenz des Schriftstellers gerechtfertigt, die in dem vorliegenden Band als Klassiker-Kriterium angeführt wird. In der Ausstellung wurde dann auf der Basis dieser Inter-

|| 9 Vgl. Peter von Matt: Die tintenblauen Eidgenossen, S. 81. 10 Zitiert in: Frank von Niederhäusern: Max Frisch – multimediale Erinnerung an einen schwierigen Schweizer. In: kulturtipp (12.3.2011): https://www.kultur-tipp.ch/artikel/d/max-frischmultimediale-erinnerungen-an-einen-schwierigen-schweizer/ [abgerufen am 4.4.2016]. 11 Flyer zur Max-Frisch-Ausstellung: https://www.infoclio.ch/sites/default/files/eventdocs/ max_frisch_flyer_rz.pdf [abgerufen am 3.8.2017].

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views mit vielfältigen Rezipientengruppen das Leben und das Werk des Deutschschweizer Schriftstellers in einer aufwendigen multimedialen und interaktiven Schau aufgearbeitet. Filmausschnitte, Videoaufnahmen sowie Animationen wurden durch das Dokumentarmaterial (u.a. Notizbücher, Originaltyposkripte, Fotos und Briefe, sowie Architekturpläne und Objekte) ergänzt. Die vielfältigen Spuren, die der Schriftsteller Max Frisch im Leben der Rezipienten hinterlassen hat und eigentlich weiter hinterlässt, wurden in siebzig medialen Stationen präsentiert, die in 17 (in Berlin 18) verschiedene Themeninseln (u.a. zu Bereichen wie: Schweiz, Reisen, Frauen, Theater oder Fragen) eingeteilt wurden.12

Abb. 1: Die Station Probieren ist herrlich. Quelle: Pressedossier Akademie der Künste Berlin. Foto: Peter Hunkeler.

Jede der siebzig Stationen, bestand aus 3 Teilen, die in kleinen Monitoren präsentiert wurden. An den Bildschirmen wurden verschiedene Dokumente, Bilder oder Aussagen zum Werk oder zum Autor gezeigt. In jeder der kleinen Montagen von

|| 12 Titel der Themeninseln: Ich schreibe für Leser; Diese Obsession, Sätze zu tippen; Eine kindhafte Gabe des Fragens; Nicht weise werden, zornig bleiben; Man ist nicht plötzlich tot; Heimweh nach der Fremde; Eine literarische Export-Import-Firma; Berlin… man ist wacher als anderswo; Eheringe aus Blei; Bei Frauen bin ich mir nie sicher; Probieren ist herrlich; Kein Gefängnis, nur ein Zuhause; Wandern hilft; Öffentlichkeit als Partner; Ich bin gern Schweizer, aber…; Herr Architekt; Leben gefällt mir; Mein Name sei.

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3 Monitoren entstand eine Erzählung, in der das erste Wort ein Rezipient (in einem Interview) hatte, das durch Informationen zum gesellschaftlichen, ökonomischen oder biografischen Hintergrund im zweiten Monitor ergänzt wurde. In verschiedenen Themeninseln (Abb. 1) waren z.B. Typoskripte, Briefe, Fotos sowie Notizbücher zu sehen. Auf diese Weise eröffnete sich eine Begegnungsebene zwischen der Literatur und ihrer Rezeption, oder dem Leben von Max Frisch und seinem Einfluss auf andere Menschen. Jede 3-teilige Montage wurde durch ein Zitat von Max Frisch ergänzt und von einem kurzen Text begleitet, dem eine Jahreszahl zugeordnet war. Auf diese Weise wurde der interviewte Rezipient in jeder Station zu einem quasi Gesprächspartner von Max Frisch, in einem Gespräch freilich, in dem der deutschschweizer Schriftsteller mit einem seiner Zitate sozusagen das letzte Wort hatte. Auf der Themeninsel Herr Architekt waren z.B. Interviews mit den Besuchern des Freibads Letzigraben in Zürich anzuschauen, die behaupteten, es sei das schönste Bad in Zürich. Das von dem Architekten Max Frisch entworfene Projekt des Freibads ergänzte diesen Ausstellungsteil, in dem noch Ausschnitte aus dem Tagebuch 1946-1949 von dem Schriftsteller über die Eröffnung der Anlage in der Stadt (1949) auf einem anderen Monitor zu lesen waren. In der Station Zürich wurde das literarische Bild dieser schweizerischen Stadt im Werk von Frisch präsentiert. Die Präsentation beinhaltete ein Interview mit Peter Bichsel (dem deutschschweizer Schriftsteller und Freund von Max Frisch) über die eigens nach der Stadt Zürich benannte Farbe „Züriblau“, für die Frisch ein Faible hatte,13 und einen Züricher Stadtplan, auf dem die Adressen markiert waren, die im Stiller beschrieben sind und die auf dem Monitor um entsprechende Passagen aus diesem Roman ergänzt wurden. Zur Diskussion mit den Ausstellungsbesuchern hat man nicht nur das Werk sondern auch die Biographie des Schriftstellers gestellt. Demensprechend konnte man sich auf der Themeninsel Bei Frauen bin ich mir nie sicher Ausschnitte aus einem Interview mit Hans Werner Henze – dem deutschen Komponisten (Partitur einer Freundschaft von N. Beilharz, 2006) über die komplizierte Beziehung zwischen Max Frisch und Ingeborg Bachmann ansehen und anhören. Diese filmische Präsentation wurde durch entsprechendes Dokumentarmaterial über das Zusammenleben von Frisch und Bachmann ergänzt.

|| 13 So ist dies Bichsel zufolge die einzige Farbe, die in Frischs Büchern überhaupt vorzufinden ist. Der Schriftsteller bestand im Verlag auch auf blauen Umschlägen für seine Bücher, so dass man sogar von der Farbe „Frisch-Blau“ sprach (wie Ausschnitte aus dem Dokumentarfilm Max Frisch. Citoyen (2008). Regie: Matthias von Gunten belegten).

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Den zweiten wichtigen Teil der Ausstellung bildeten 16 Videostationen, in denen ausgewählte Werke von Max Frisch interpretiert, analysiert und wiedererzählt wurden. Diesmal waren es Experten aller Art, u.a. Professoren der Germanistik, Literaturkritiker sowie junge Wissenschaftler, denen die Freiheit gewährt worden war, sich mit einem bestimmten Buch auf beliebige Art und Weise auseinander zu setzen. Hier liegt der Fokus also nicht auf dem individualisierten Frisch-Gebrauch, sondern auf der hoheitlichen Deutung durch Spezialisten des literarischen Diskurses. Frischs Werk wird u.a. vom Literaturprofessor Peter von Matt vorgestellt und interpretiert, die Theaterstücke vom deutschen Schriftsteller Lukas Bärfuss (J'adore ce qui me brûle) und vom Frisch-Biografen Volker Weidermann (Mein Name sei Gantenbein). Dank der Interviews sowie Videopräsentationen könne man zeigen, „wie sich der Autor und (sein) Werk in das kulturelle Selbstverständnis eingeschrieben haben“14, so Annemarie Hürlimann im Pressekommentar. Es muss aber betont werden, dass Elemente der populären Rezeption einen Kontrapunkt zu diesem professionellen Diskurs über den Klassiker bildeten. Das Signifikante an Frischs Werk wurde anscheinend gezielt durch die Vielzahl der präsentierten Themeninseln mit Beliebigem verwischt, um den Schriftsteller provokativ auch als eine quasi kulturelle (Pop-)Ikone erscheinen zu lassen. So sorgen manche Teile der Ausstellung mit nicht eindeutigen Titeln wie Probieren ist herrlich, Wandern hilft oder Man ist nicht plötzlich tot für Verwirrung, da sie wie Floskeln aus populären Ratgebern oder Werbeslogans klingen. Die meisten Aspekte, anhand derer Leben und Werk von Max Frisch präsentiert wurden, wie die Stationen: Nicht weise werden, zornig bleiben, Leben gefällt mir oder Mein Name sei… könnten außerdem beliebig auch auf andere Schriftsteller bezogen werden. Von zwei Ausnahmen abgesehen (in den Stationen Herr Architekt und Ich bin gern Schweizer, aber…), die mit dem Berufsleben von Frisch sowie seiner Staatsbürgerschaft zusammenhängen, lassen sich die übrigen Themeninseln beliebig austauschen. Selbst wenn in der großen Menge von Videopräsentation und dem schriftstellerischen Nachlass von Frisch die wiedererkennbaren Themen (u.a. Identitätsprobleme der postmodernen Menschen oder die Spießigkeit der schweizerischen Gesellschaft) zu finden sind, muss man sich doch die Mühe geben, sie aus dem Gemisch auszusondern. Ein weiterer wichtiger Aspekt des rezipientenorientierten Ansatzes ist die Aufmachung der Ausstellung: Die Multimedialität wurde als Mittel der Mehrfachadressierung genutzt. Das Züricher Museum Strauhof beauftragte die etablierte

|| 14 Flyer zur Max-Frisch-Ausstellung.

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Firma „Praxis für Ausstellung und Theorie“ mit der Aufgabe, die Max Frisch-Ausstellung konzeptuell vorzubereiten und zu organisieren. Mit der Unterstützung vieler kultureller Instanzen, vor allem des Max Frisch-Archivs an der ETH-Bibliothek Zürich, des Archivs der Akademie der Künste, des Deutschen Literaturarchivs (Siegfried Unseld und Marbach) sowie des Suhrkamp Verlags wurde unter der Leitung von Annemarie Hürlimann die multimediale Literaturausstellung zuerst in Zürich (2011) und dann in Berlin (AdK 2012) gezeigt. Das Vermittlungskonzept war, wie bereits angedeutet, niedrigschwellig, da man durch zahlreiche Interviews sowie 16 Videos mit Interpretation der Werke von Max Frisch eben gezielt den Rezipienten bzw. den Leser in den Mittelpunkt der multimedialen Unternehmung setzen wollte, worauf die Kuratorin in Pressekommentaren sowie in einem Werbefilm15 hinweist. Zum Konzept der Ausstellung gehörte es außerdem, keine feste Abfolge für die Besucher festzulegen, sodass jeder Rezipient sich in dem Museumsraum zu den beliebigen Themeninseln begeben konnte. Jeder für sich sollte den „eigenen Max Frisch“ entdecken und ihn aus einer anderen Perspektive in der multimedialen Veranstaltung kennenlernen. Zu fragen wäre, ob diese Ankündigung der Kulturvermittler eingehalten wurde, da man die Aussagen der Rezipienten durch biographisches Material sowie Zitate aus ausgewählten Werken von Max Frisch reichlich ergänzt hat. Betrachtet man das ausgewählte künstlerische wie private Dokumentationsmaterial und die Tatsache, dass die ‚Dialoge‘ mit den Interviewten durch Auswahl entsprechender FrischZitate vervollständigt wurden, zeigt sich eher eine durchaus gesteuerte Vermittlung. Die Veranstalter der Ausstellung gingen aber davon aus, dass in der Schweiz ein bestimmtes kulturelles Wissen bereits vorhanden ist, weil Max Frisch zu den kanonisierten Schriftstellern nicht nur der deutschsprachigen Schweiz gehört. Dieses Wissen war eine wichtige Voraussetzung für die beabsichtigte Begegnungs- und Interaktionsebene zwischen dem kanonischen Schriftsteller und der medial aktualisierten Inszenierung. Analysiert man das Konzept der Ausstellung, so scheint den Ausrichtern vorgeschwebt zu haben, den Prozess der Entstehung und Tradierung des kollektiven Gedächtnisses selbst bei der Vermittlung in den Mittelpunkt zu stellen, indem der Rezipient als Träger und Fortsetzer des kulturellen Erbes der Schweizerischen Eidgenossenschaft bedacht wurde. Hier scheint das Credo von Peter von Matt Pate gestanden zu haben, demzufolge „jede Generation […] vor der Aufgabe

|| 15 Film zur Ausstellung: Museum Strauhof: Max Frisch (2011). Regie: Hansjörg Hellinger: https://www.youtube.com/watch?v=uIzBP34jmp8&feature=youtu.be [abgerufen am 4.4.2016].

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[steht], ihre eigene Vergangenheit neu zu gewinnen, als ihre ganz eigene und unersetzliche Herkunft. Erinnerung ist nie vorgegeben. Erinnerung ist stets das Ergebnis schöpferischer Arbeit“16. In ihrem Artikel über Aufgaben und Ziele der professionellen Kulturvermittlung in öffentlichen Kulturinstitutionen, fasst Birgit Mandel wichtige gegenwärtige Tendenzen in diesem Bereich des Kulturlebens zusammen. Sie weist u.a. auf die sog. „digital natives“ hin, die „mit dialogischen und interaktiven Kommunikationsformen sozialisiert [werden], [und deswegen] aktivere, partizipativere und selbstbestimmtere Formate der Kulturvermittlung [präferieren]“17, im Gegensatz zu den früher sehr populären Formen der „klassischen” Kunstführung und Kunsterklärung im Sinne einer professionellen „Serviceleistung“. Sie stellt wichtige Fragen nach den Gewohnheiten der heutigen durchschnittlichen Kulturrezipienten sowie nach den Methoden, um bestimmten Zielgruppen das kulturelle Angebot möglichst verständlich und attraktiv zu präsentieren (z.B. dialogische und partizipative Kulturvermittlung für Schüler). In diesem Zusammenhang wird der Begriff der „niedrigschwelligen“ Kulturvermittlung eingeführt. Die multimediale Max Frisch-Ausstellung zu seinem 100. Geburtstag zeugt vom Bestreben der Organisatoren, ein im Sinne Mandels modernes niedrigschwelliges Kulturvermittlungskonzept zu entwickeln, wofür erstens die den Besuchern eröffneten interpretatorischen Freiheiten und zweitens die Multimedialität ein Indiz sind. Drittens könnte man hinzufügen, dass es den Ausrichtern auch darum ging, implizit die Gemachtheit und Dynamik des Erinnerungsprozesses selbst auszustellen. Eine gewichtige Rolle scheint in dem Ausstellungskonzept der Intermedialität zuzukommen, die es ermöglichen sollte, verschiedene Gesellschaftsgruppen anzusprechen und sie zur aktiven Teilnahme an dem Kulturbetrieb als Zuschauer und/oder Mitgestalter zu bewegen (gemeint sind sowohl die Befürworter der „traditionellen“ Kulturvermittlung im Sinne einer „Serviceleistung“ als auch die Anhänger der individualisierten, „niedrigschwelligen“ Kulturvermittlung). Die kulturelle Veranstaltung im Züricher Museum Strauhof

|| 16 Peter von Matt: Das Kalb vor der Gotthardpost, S. 162. Vgl. auch S. 157–159. 17 Birgit Mandel: „Niedrigschwellige“ Kulturvermittlung öffentlicher Kulturinstitutionen als integrales Konzept zwischen Kunstmissionierung und Moderation kultureller Beteiligungsprozesse. In: Kulturelle Bildung online (2014): https://www.kubi-online.de/artikel/niedrigschwelligekulturvermittlung-oeffentlicher-kulturinstitutionen-integrales-konzept [abgerufen am 8.8. 2017].

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erfreute sich großer Popularität18 und erreichte somit ihr Ziel, den Deutschschweizer Schriftsteller im Prozess der kulturellen Erinnerung in der Schweizer Gesellschaft wieder- oder sogar neu als Klassiker zu entdecken.

3 Pressestimmen In der schweizerischen Presse mischten sich die lobenden Stimmen in der Bewertung der multimedialen Max Frisch-Ausstellung mit den kritischen, was man polemisch als eine postume Wirkung des in der Schweiz umstrittenen Schriftstellers deuten könnte, der die Gesellschaft weiterhin polarisiert. In manchen Kritiken wirft man der Veranstaltung vor, Max Frisch als einen Nationalheiligen19 oder sogar „Säulenheiligen“ der Schweiz20 zu feiern. Manfred Papst meinte: Irritierend ist indes, wie kritiklos die gebildete Öffentlichkeit Max Frisch in diesem Jubeljahr begegnet. Er ist als Erzähler wie als Homo politicus zum National- und Säulenheiligen geworden, zur kaum mehr hinterfragten Instanz21,

der kritiklos gehuldigt werde. In manchen Kritiken klagt man auch über eine Überdosis an Technik,22 dank der man sich zwar vieles ansehen und anhören muss, man in diesem „Wald der Monitore“23 mit unzähligen Bildschirmen und Konsolen, die einem wie „die Tentakel einer Riesenkrake“24 vorkommen können, jedoch nur gelegentlich etwas zum Lesen bekäme. Diese Kommentare könnte man sowohl in Bezug auf die zu starke Multimedialisierung der literarischen Ausstellung interpretieren als auch im Kontext der in diesem Ausstellungsprojekt anscheinend überschrittenen Grenze zwischen der „niedrigschwelligen“ Kulturvermittlung und der hochkulturellen Vorstellung einer Klassiker-Ausstellung.

|| 18 Die Besucherzahlen liegen in Zürich bei 10.000 Menschen und in Berlin bei 8.000 Menschen. Siehe: http://huerlimann-lepp.de/projekte-bis-2012/einblicke-ausstellungsprojekte/max-frisch eine-ausstellung-zum-100-geburtstag [abgerufen am 22.2.2018]. 19 Frank von Niederhäusern: Max Frisch – multimediale Erinnerung an einen schwierigen Schweizer. 20 Manfred Papst: Gefangen im Ich. In: NZZ (24.4.2011): https://www.nzz.ch/gefangen_im_ich1.10361213 [abgerufen am 15.5.2016]. 21 Ebd. 22 Roman Bucheli: Im Spiegel von Leserinnen und Lesern. In: NZZ (16.3.2011): http://www. nzz.ch/im-spiegel-von-leserinnen-und-lesern-1.9909885 [abgerufen am 15.5.2016]. 23 Im Wald der Monitore. In: Südkurier (8.8.2011): http://www.suedkurier.de/nachrichten/ kultur/Im-Wald-der-Monitore;art10399,5043498 [abgerufen am 4.5.2016]. 24 Roman Bucheli: Im Spiegel von Leserinnen und Lesern.

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In der deutschsprachigen Schweizer Presse wurde auf die junge Zielgruppe hingewiesen und auch darauf, dass im Museum ein interaktiver Diskurs entstand. Dabei wurde betont, dass Frisch nie zum „modernen Klassiker-Denkmal“25 erstarren werde, da er weiterhin als verletzlicher Provokateur die Menschen zur Diskussion und zum Nachdenken bewege. Außerdem sei der Schriftsteller, dank dieser Literaturausstellung, in der intermedialen Realität der Gegenwart angekommen. Selbst aber unter den größten Kritikern dieser kulturellen Veranstaltung sowie des Schriftstellers herrschte eine völlige Einigkeit über Frischs literarische Leistungen und seinen Status als modernen Klassiker,26 der in seinen Büchern nicht selten „einen Nerv der Zeit traf“27 und unumstritten zum „Dichter der Neuanfänge, der Aufbrüche, auch der Kehrtwendungen“28 wurde. In der deutschen Presse waren ähnliche Meinungen über die Max-FrischAusstellung zu finden. In der Tendenz waren die Kritiken lobend und bewerteten die Monitoren-Installation fast ausschließlich als erfrischend und zeitgemäß.29 Frisch wurde als ein Klassiker bezeichnet, der mit seinem Werk unverschämt jung geblieben sei30 und seinen Status als Nationalklassiker – als „Schweizer Goethe“ des 20. Jahrhunderts – bewahre. Schlussfolgernd könnte man an dieser Stelle auf drei Tendenzen hinweisen, die sich in all den Pressestimmen abzeichnen. Zum einen kann man auf die Gruppe der „Bewahrer“ hinweisen, die die multimediale Ausstellung als unpassend für einen hochkulturellen Klassiker erklärt. Zum zweiten kommen die Verfechter der „niedrigschwelligen“ Vermittlung zu Wort, die eben dieses Konzept als modern und sehenswert empfehlen. Und zum dritten gibt es noch Ikonoklasten, die behaupten, dass Frisch durch die Ausstellung immer noch auf den Sockel gestellt werde. All diese Meinungen bringen somit die wichtigen Ansatzpunkte der üblichen Klassikerdebatten zum Ausdruck: 1. Klassiker sind gut, wenn man

|| 25 Stefan Tollksdorf: Neue Max Frisch-Ausstellung in Zürich. In: Badische Zeitung (19.4.2011): http://www.badische-zeitung.de/literatur-1/neue-max-frisch-ausstellung-in-zuerich-44341882. html [abgerufen am 8.8.2017]. 26 Etienne Strebel: „Bei Frauen bin ich nie sicher“. In: swiss.info (23.3.2011): http://www. swissinfo.ch/ger/-bei-frauen-bin-ich-mir-nie-sicher-/29804482 [abgerufen am 8.8.2017]. 27 Manfred Papst: Gefangen im Ich. 28 Ebd. 29 Dpa: Prallvolle Max-Frisch-Ausstellung in Zürich. In: Schwäbische (o.J.): https:// www. schwaebische.de/ueberregional/panorama_artikel,-prallvolle-max-frisch-ausstellung-in-z%C3 %BCrich-_arid,5045983.html [abgerufen am 22.2.2018]. 30 Iris Radisch: Das Prinzip Frisch. In: Zeit online (12.5.2011): http://www.zeit.de/2011/20/LMax-Frisch [abgerufen am 15.5.2016].

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das Werk und nicht den Klassiker ehrt, 2. Klassiker gehören vermittelt, also gebraucht, oder 3. Klassiker als Nationalklassiker gehören vom Sockel gestoßen.

4 Fazit Die multimediale Erinnerung an den Schweizer Schriftsteller kann eindeutig als Ausdruck moderner, von dem Potenzial audiovisueller Technik überzeugter Kulturvermittlungsansätze in der sogenannten „multimedialen Gesellschaft“ betrachtet werden. Zu dem Konzept gehörte es, dezidiert vom Rezipienten auszugehen, um das Leben und das Schaffen des Schriftstellers darzustellen. Die doppelte Perspektive der Alltagsrezipienten einerseits und der Spezialisten andererseits zeigte sowohl Bekanntes als auch Unbekanntes und Unerwartetes. Aus den Interviews mit Alltagsrezipienten folgten unterschiedliche Bilder: Sowohl das eines für die Schweiz bis heute bedeutenden Schriftstellers als auch das einer PopIkone, die auf „den geilen Namen“ Max Frisch reduziert wurde. Auch mit der Präsentation der Werke durch die Spezialisten wurde nicht intendiert, eine Instanz der Diskurshoheit einzuführen, sondern das persönliche Verständnis des Rezipienten in den Mittelpunkt zu stellen. Dass ein solches Ausstellungskonzept durchaus ambivalent aufgenommen wurde, verdeutlichen die Pressestimmen. In manchen Presseartikeln31 wurde versucht, die ganze Ausstellung kritisch als eine allzu aufwendige multimediale Schau zu bezeichnen, in der man den Büchern oder anderen schriftlichen Dokumenten wenig Raum gewährte und somit auf die „traditionelle Literaturausstellung“ im Sinne einer „Serviceleistung“ verzichtete. Zugleich wurde aber auch betont, dass eben dank der Multimedialität die Literaturvermittlung eine neue kulturelle Dimension gewinne. Außerdem hatte der Ausstellungsbesucher freiwillig darüber zu entscheiden, was er sich aus diesem Vielerlei an Max Frisch (u.a. als weltweit berühmter Autor oder engagierter Schriftsteller, Ratgeber, Architekt, Reisender, Ehemann, Mann …) überhaupt ansehen oder anhören wollte. Dieses Auswahlprinzip entspricht dem gegenwärtigen Zugang zu verschiedenen Informationsquellen, die man frei wählen und bewerten kann. Daraus resultiert einerseits der enorme Informationsüberfluss, in dem man sich kaum zurechtfinden kann, andererseits aber wird der Rezipient zu einer entscheidenden Instanz erhoben, die in der Informationsbeschaffung auf sich selbst angewiesen ist.

|| 31 Vgl. z.B. bei Roman Bucheli: Im Spiegel von Leserinnen und Lesern.

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Zu beobachten war auch das Bestreben, jedes präsentierte Detail aus Frischs Leben und seinen Werken bedeutsam zu machen. Demensprechend konnte man neben seinen persönlichen Utensilien eine Wand mit zahlreichen Exemplaren von Homo faber in verschiedenen Sprachen finden (Themeninsel Eine literarische Export-Import-Firma) und sich zur nächsten Themeninsel (z.B. Kein Gefängnis, nur ein Zuhause) begeben, um mit einem völlig anderen Thema konfrontiert zu werden. Dieses Nebeneinander kann als gezielter Versuch der Veranstalter gedeutet werden, Max Frisch einerseits als eine Kulturikone oder sogar einen quasi „Nationalheiligen“ und andererseits als Provokateur zur Diskussion zu stellen. Das Anliegen der Ausstellung war es offenbar, sich auf keine Deutung festzulegen, sondern im Nebeneinander der Aspekte Fragmente von Werk und Persönlichkeit dem Besucher unkommentiert zugänglich zu machen. Das entspricht weitgehend einem Begriff von niedrigschwelliger Kulturvermittlung, die nicht „nur das Ziel, ‚Brücken zu bauen‘“ hat, „sondern auch Interessenskonflikte sichtbar zu machen“ beabsichtigt.32 So erklärt sich das Nebeneinander unterschiedlicher Frisch-Bilder, das dem Besucher ein „Spiel der Möglichkeiten“ eröffnete. Eins steht fest: Mit der Ausstellung ist Max Frisch eindeutig „im elektronischen Zeitalter angekommen“33. Zu fragen ist, ob es ihm weiterhin gelingen wird, sich in den nächsten fünfzig, oder sogar 100 Jahren als Klassiker der Deutschschweizer Literatur durchzusetzen und seine Rezipienten ununterbrochen zur Diskussion über sein Leben und Werk zu bewegen? Der Schriftsteller äußerte seine Skepsis über die postume Wirkung der Literatur in seinem dritten Tagebuch, indem er provokativ vermerkte: Glaubt heute ein Schriftsteller, dass er vielleicht in hundert Jahren noch gelesen wird? Schreiben ist ein anderes Unternehmen geworden, ein Gespräch mit Zeitgenossen und nichts weiter; der Auftrag des Schriftstellers, seinen Kindeskindern etwas mitzuteilen von seiner Zeit, wird illusorisch.34

Hatte Max Frisch Recht mit seiner Selbstaussage?

|| 32 Vgl. Mandel: „Niedrigschwellige“ Kulturvermittlung. 33 Roman Bucheli: Im Spiegel von Leserinnen und Lesern. 34 Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Berlin 2010. Zitiert nach: Pressedossier – 100 Jahre Max Frisch – eine Ausstellung (14.1.–11.3.2012). Akademie der Künste (12.1.2012): https://docslide.org/100-jahre-max-frisch-eine-ausstellung-14-januar-11-maerz-2012, S. 9 [abgerufen am 4.4.2016].

| Teil V: Kulturelle Aneignung: Intermedialität

Paula Wojcik

Kulturelle Aneignung: Intermedialität Anders als im Fall der Vermittlung durch Intermedialität zielt die kulturelle Aneignung von Klassikern weder vorrangig auf Vermittlung im Sinne einer vertikalen Streuungslogik noch darauf, imaginierte oder institutionalisierte Grenzen zwischen der sogenannten Hoch- und Populärkultur zu überwinden. Vielmehr sprechen wir dort von kultureller Aneignung, wo der Klassiker und das neue Medium in ein produktives Verhältnis zueinander gebracht werden. Damit ist gemeint, dass der Medieneinsatz nicht zweckrational darauf ausgerichtet ist, den Klassiker als niedrigschwellig, „cool“ oder aktuell zu präsentieren, sondern dass das Medium als künstlerisches Ausdrucksmittel mit eigener Ästhetik wahrgenommen wird. Man kann, um die Distinktion hier klar zu halten, die jeweilige Intention pointieren: Im Fall der vermittlungsorientierten Perspektive steht der Klassiker im Zentrum, im Fall der künstlerischen Aneignung das ästhetische Potenzial des Mediums in der Auseinandersetzung mit dem Klassiker. Diese ästhetische Aneignung bedeutet dabei auch immer eine kulturelle, denn mit dem Medienwechsel von etwa Literatur hin zu Film, Comic oder Musik erschließen sich jeweils unterschiedliche Rezipientengruppen, was auch in diachroner Sicht gemeint ist. Deutlich wird dies in der geradezu manifestartigen filmischen Rezeption des Romans La Princesse de Clèves, die in Frankreich einsetzte, nachdem der damals amtierende Präsident Nicolas Sarkozy den Klassiker als überholt und langweilig bezeichnete. Diesen Skandal aufgreifend untersucht Martina Stemberger in ihrem Beitrag „…on veut la grande littérature“: Zu zwei zeitgenössischen filmischen Re-Interpretationen der Princesse de Clèves das Potenzial von Klassikerverfilmungen, neue und aktuelle Rezipientengruppen zu erschließen, zeigt aber auch die semantische Anreicherung des hochkulturell gehandelten Textes, die in der intermedialen Zirkulation entsteht. Die Frage, ob eine solche Anreicherung auch dann zustande kommt, wenn der Klassiker international adaptiert wird, ist indes nicht ohne Weiteres zu bejahen. Die Zirkulation, von der Stemberger spricht, ist gerade dann nicht gegeben, wenn die interkulturelle Adaption in Nationalkulturen stattfindet, die von den ‚Herkunftskulturen‘ der Klassiker nicht unbedingt wahrgenommen werden. Während also das Phänomen der semantischen Anreicherung sicherlich im Fall der drei US-amerikanischen Verfilmungen des französischen Klassikers Les liaisons dangereuses durch Miloš Forman, Stephen Frears und Roger Kumble nachzuweisen ist, die auch die weitere Rezeption des Stoffes beeinflussten, bleibt dies im Fall von intermedialen Adaptionen aus China, Südkorea oder Japan fraglich, weil sie die internationale Breitenwirkung

https://doi.org/10.1515/9783110615760-023

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von Hollywood nicht erreichen. An ihnen lassen sich jedoch inhaltliche wie ästhetische Veränderungen oder Verschiebungen beobachten, die auf den Bedarf eines veränderten Rezipientenkreises schließen lassen. Dass aber auch in der interkulturell-intermedialen Klassikerrezeption kein Primat des Nationalkulturellen vorliegt, sondern Genre, Inhalt und Ästhetik im Hinblick auf Lebensstilmilieus, Alterskohorte oder Genderspezifiken aktualisiert werden, zeigt Paula Wojcik in ihrer Untersuchung Intermediale Adaptionen von Choderlos de Laclos’ Klassiker in Korea, China und Japan in Manga und Film. Stephanie Großmann arbeitet heraus, wie durch die Medialisierungen des Carmen-Stoffes von der ersten Aufführung bis hin zu Bizets Carmen in den Townships von Südafrika eine eigene mediale Aktualisierungsgeschichte entsteht, in deren Fokus der Umgang mit den Genderkonzeptionen und die Aktualisierung der Diskriminierungsthematik auf unterschiedliche kulturelle und zeitgenössische Kontexte hin stehen. Am deutschen Nationalklassiker Goethe und der intermedialen Rezeption seiner Werke in stereotyperweise als populärkulturell geltenden Genres arbeiten sich gleich zwei Beiträge ab. Sandra Wagner und Sabine Egger arbeiten in ihrer Untersuchung Zu (trans-)nationalen Goethe-Adaptionen in der zeitgenössischen Onlinekultur: Mashing up Werther am Phänomen der Mash-up-Novels, den im deutschsprachigen Raum noch wenig etablierten, im angelsächsischen mittlerweile florierenden Umgang mit Klassikern, der sich an den institutionalisierten Gatekeepern vorbei entwickelt. An der Comic-Rezeption von Goethes Faust zeigt Linda Heyden unter dem Titel Zwischen Originalität und Trivialität – Goethes Faust von Flix im Comic adaptiert mit welchen medien- und genrespezifischen Strategien sich das Medium Comic den Klassiker-Text selbstbewusst anzueignen vermag. Die letzten beiden Beiträge dieser Sektion widmen sich Bertolt Brecht. Hannes Höfer spürt einer internationalen Klassikertransformation nach und thematisiert in seiner Analyse mit dem Titel Transatlantischer Klassiker-Transfer: Wie aus der Moritat von Mackie Messer der Jazz-Standard Mack the Knife wurde, dass erst durch die Auskopplung aus der Dreigroschenoper und Aneignung im Medium Jazz das Stück populär und nach Deutschland (re)importiert wurde. Damit schließt Höfer auch an Stembergers These der semantischen Anreicherung des Klassikers in der intermedialen Zirkulation an. Mit Brechts Künstlerdrama Baal im Film beschäftigt sich Zbigniew Feliszewski, wobei insbesondere eine Problematik der zeitgenössischen Aktualisierung einiger klassischer Stoffe mit eigener Mediengeschichte deutlich wird: Der Konflikt bedingungslosen Künstlertums mit der jeweiligen Gesellschaft ist in seiner Brisanz für die heutige Zeit, in der radikaler Individualismus und Außenseitertum kein wirkliches Aufregungspotenzial mehr haben, nur schwer adaptierbar, weshalb die rezenteste Baal-Verfilmung von Uwe Janson wohl auch bei den Kritikern als zu zahm floppte.

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Die in dieser Sektion vorgestellten Klassiker haben eine unterschiedliche Reichweite, ebenso wie einen unterschiedlichen Status. Einige von ihnen, wie die Princesse de Clèves sind Klassiker, deren Rezeption trotz intermedialer Aneignungen im nationalen Rahmen verbleibt, bei anderen wird dieser Rahmen zum Teil zwar gesprengt, doch spielt der kanonische Status des Ursprungsmediums eine wichtige Rolle wie etwa bei Goethes Werther und Faust. Im Fall von Carmen und Baal ist die Autorschaft für die Rezeption sekundär, dafür zeigt sich der starke Einfluss der Mediengeschichte auf potenzielle Aktualisierungen. Demgegenüber haben Mack the Knife oder Les liaisons dangereuses nahezu transmedialen Status inne, weil in beiden Fällen das Wissen um das Ursprungsmedium in der transkulturellen Zirkulation für die medialen Adaptionen nur noch bedingt eine Rolle spielt. Die Wechselbeziehung von Klassik und Medium spiegelt sich auch in Aspekten wieder, die strenggenommen weder ästhetisch noch inhaltlich zu verstehen sind, die jedoch den sich um die Adaptionen herausbildenden Begleitdiskurs prägen: Die Besetzungslogiken des Klassikerfilms sind ebenso ein Beispiel dafür wie auch die Performancefrage bei Songs, weil in beiden Fällen der Status und die Glaubwürdigkeit der jeweiligen Künstler eine Rolle spielen. Auch wenn hier mehrheitlich also etablierte, zum Teil sogar kanonisierte Klassiker thematisiert werden, so zeigt sich, dass dieser Status nur bedingt Auswirkungen auf die intermediale Erfolgsgeschichte des jeweiligen Klassikers hat. Vielmehr wird deutlich, dass Klassikergeschichte als Mediengeschichte nicht vom Status vordefiniert, sondern zum Teil akzidentiell ist, zum Teil sich auch selbst perpetuiert.

Martina Stemberger

„… on veut la grande littérature“: Zu zwei zeitgenössischen filmischen ReInterpretationen der Princesse de Clèves 1 Klassik-Konfigurationen: La Princesse de Clèves, 1678–2018 Seit bald dreieinhalb Jahrhunderten fungiert Mme de Lafayettes1 La Princesse de Clèves (1678) als hochpotente „macchina per generare interpretazioni“2, diskursbegründende3 wie narrative Matrix. Paradigmatisch illustriert dieser „premier roman moderne“4 der französischen Literatur, von Anfang an auch hinsichtlich seiner Genre-Zugehörigkeit diskutiert5, die starke Präsenz des 17. Jahrhunderts, „siècle vedette de notre littérature“6, in der künstlerischen Produktion späterer Epochen, die „générosité“ und die „fécondité“ des klassischen Textes: „À court terme il allume une gerbe immédiate, et plus tard une longue queue de comète de romans.“7 Nach jener ‚gerbe immédiate‘, die die Princesse bei den Zeitgenossen Lafayettes in Form der Querelle de l’aveu provoziert, inspiriert sie eine lange Reihe weiterer Kunstwerke in Literatur, Theater, Musik, Malerei – und schließlich auch im Film. Die reiche intermediale Rezeptionsgeschichte der Princesse lädt ganz besonders zu kritischer Reflexion des Konzepts Klassizität ein, über jenen Zirkelschluss

|| 1 Dieser Name steht für eine auktoriale Konstellation, in der neben Marie-Madeleine Pioche de La Vergne, Comtesse de Lafayette, auch andere Akteure einer kollektiven écriture salonnière (namentlich La Rochefoucauld, Huet, Segrais) ihren Beitrag zur Genese des ‚Lafayette‘ zugeschriebenen Œuvres leisten. 2 So Umberto Ecos Definition des Genres Roman: Postille a „Il nome della rosa“ [1983]. In: Il nome della rosa. Milano 1990 (zuerst 1980), S. 505–533, hier S. 507. 3 Vgl. Karen MacLean Andersen: Towards an Epistemology of the Novel. Ways of Knowing in Madame de Lafayette’s La Princesse de Clèves. Los Angeles 1998, hier insbes. S. 34ff., S. 270ff. 4 Vgl. dazu etwa Jérôme Lecompte: Le Modèle du roman d’analyse [Dossier]. In: Madame de Lafayette: La Princesse de Clèves. Hg. von Jean Mesnard. Paris 2009, S. 302–311, hier S. 302. 5 Es ist hier nicht der Ort, die Genre-Diskussion um die Princesse zu resümieren; zur Einordnung des Textes vgl. etwa Camille Esmein-Sarrazin: La Princesse de Clèves. Notice. In: Madame de Lafayette: Œuvres complètes. Hg. von C. Esmein-Sarrazin. Paris 2014, S. 1292–1330, hier S. 1303ff. 6 Roland Barthes: Sur Racine. Paris 1979 (zuerst 1960), S. 142. 7 Judith Schlanger: La Mémoire des œuvres. Lagrasse 2008 (zuerst 1992), S. 91, S. 107 und S. 58. https://doi.org/10.1515/9783110615760-024

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hinaus, in dem Lafayettes Roman zugleich als Definitionsgrundlage und Exempel eines (doppelt) klassischen Werkes dient.8 Im Sinne eines funktionalen und rezeptions-fokussierten Klassiker-Begriffs9 werden in diesem Beitrag – nach einem Überblick über Kontext und Kino-Vorgeschichte – zwei zeitgenössische Princesse-Variationen analysiert: Christophe Honorés Spielfilm La Belle Personne (2008) und Régis Sauders Dokumentarfilm Nous, princesses de Clèves (2011).10 La Princesse de Clèves stellt für jedes Projekt filmischer Adaption eine spezielle Herausforderung dar; abgesehen von prinzipiellen Fragen des Genres Klassikerverfilmung, die dieser Text mit besonderer Virulenz aufwirft, kommt bei den neueren Re-Interpretationen eine politische Dimension ins Spiel. „Sarkozy, l’homme qui sauva la princesse de Clèves“11: Es ist Nicolas Sarkozy, der als kontroverser Minister und Präsident der Princesse zu einem regelrechten Hype verhilft, indem er wiederholt öffentlich seine Antipathie gegenüber dem Roman – Inbegriff einer angeblich elitistischen, ob ihrer vermeintlichen Non-Rentabilität überflüssigen klassischen Bildung – bekundet;12 im Handumdrehen wird dessen

|| 8 Vgl. Myriam Dufour-Maître und Jacqueline Milhit: La Princesse de Clèves. Paris 2004, S. 85f. 9 Vgl. etwa den Ansatz Frank Kermodes, der The Classic (1973) primär über „notre relation au chef-d’œuvre“ definiert. Judith Schlanger: La Mémoire des œuvres, S. 106. 10 Zur filmischen Rezeptionsgeschichte der Princesse de Clèves vgl. ausführlicher Martina Stemberger: La Princesse de Clèves, revisited. Re-Interpretationen eines Klassikers zwischen Literatur, Film und Politik. Tübingen 2018 (adaptierte Version der Habilitationsschrift [Wien 2016], auf deren filmanalytischem Teil dieser Beitrag beruht). 11 Olivier Beuvelet: Sarkozy, l’homme qui sauva la princesse de Clèves. In: Le Monde/ Blog (14.2.2009): http://punctum.blog.lemonde.fr/2009/02/14/lhomme-qui-sauva-la-princessede-cleves. Letzte Konsultation sämtlicher Online-Quellen: 26.9.2016. 12 Bereits im Februar 2006 erklärt Sarkozy bei einer Wahlveranstaltung in Lyon: „L’autre jour, je m’amusais […] à regarder le programme du concours d’attaché d’administration. Un sadique ou un imbécile, choisissez, avait mis dans le programme d’interroger les concurrents sur la Princesse de Clèves. Je ne sais pas si cela vous est souvent arrivé de demander à la guichetière ce qu’elle pensait de la Princesse de Clèves?“ (vgl. http://discours.vie-publique.fr/notices/ 063000864.html). In leicht modifizierter Form greift er das Thema im Rahmen einer Versammlung neuer Parteimitglieder im Juni 2006 in Paris auf (vgl. http://discours.vie-publique.fr/ notices/063002197.html). Im Jahr 2008 setzt der nunmehrige Präsident seine ‚Kampagne‘ gegen die Princesse fort (vgl. http://discours.vie-publique.fr/texte/087001045.html, http://siefar.org/ la-princesse-decleves/?lang=fr&li=art26); diese wird zusehends zum „lieu commun“ seines Diskurses, „toute allusion à La Princesse de Clèves enchérissant sur la précédente dans un geste délibéré d’autocitation et de complicité avec le public“ (William Marx: La Haine de la littérature. Paris 2015 [E-Edition], Pos. 3448–3454). Vor dem Hintergrund des laufenden Konflikts um die Universitätsreform – konkret die ‚loi LRU‘ (Loi relative aux libertés et responsabilités des universités) – provozieren Sarkozys Äußerungen eine ganze Reihe öffentlicher Protest-Aktionen.

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Heldin zum „porte-drapeau de l’anti-sarkozysme“.13 Unübersehbar die Ambivalenzen der „affaire“14: Ein panegyrischer Defensivdiskurs forciert den „processus de sacralisation“15 eines in den „domaine de l’édification“16 verbannten Textes. Auch autorisierte Kommentare aus Literaturkritik und -wissenschaft prägt der inflationäre Gebrauch trivialer, auf einem normativen Klassiker-Begriff basierender Topoi über die ‚ewige Schönheit‘ von Lafayettes ‚unsterblichem Werk‘ (etc.).17 Nicht zu Unrecht wird dessen Instrumentalisierung als ‚Waffe‘ um den Preis reduktiver Lektüren problematisiert.18 Dennoch ist diese politisch motivierte Princesse-Vogue aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlich aufgeschlossenen Literaturwissenschaft nicht nur unter negativen Vorzeichen zu sehen. Entgegen jenem „angélisme interprétatif“, der ein traditionelles Lafayette-Bild bestimmt,19 hat sie das Verdienst, die „subversiveness“20 eines literarhistorisch domestizierten Klassikers wieder in den Blick gerückt zu haben. Auch bei einem per se nicht allzu literatur-affinen Publikum ist dieser im Gefolge der neuen Querelle präsenter als je: Innerhalb kurzer Zeit entsteht ein Corpus multimedialer Protestkunst, das einen teilweise auch ästhetisch nicht uninteressanten Beitrag zur Neu-Rezeption des in einen alternativen „circuit de visibilité“21 eingetretenen Werkes darstellt; einige Jahre später

|| 13 Pierre Assouline: De quoi la princesse de Clèves est-elle le „non“? In: La République des livres. Le blog de Pierre Assouline (16.2.2009): https://web.archive.org/web/20100608074021/ http://passouline.blog.lemonde.fr:80/2009/02/16/de-quoi-la-princesse-de-cleves-est-elle-lenon. 14 Catherine Henri: L’affaire „Princesse de Clèves“. In: Mediapart/Blog (29.5.2009): http://blogs.mediapart.fr/edition/les-invites-de-mediapart/article/290509/l-affaire-princessede-cleves. 15 Marc Soriano: Guide de littérature pour la jeunesse. Courants, problèmes, choix d’auteurs. Paris 1975, S. 122. 16 Judith Schlanger: La Mémoire des œuvres, S. 128. 17 Symptomatisch Delacomptées Verdammung der ‚blasphemischen‘ Attacke Sarkozys auf die zum Nationalheiligtum stilisierte Princesse. Jean-Michel Delacomptée: Passions. La Princesse de Clèves. Paris 2012, S. 13. 18 Vgl. etwa Hélène Merlin-Kajman: Le Président, La Princesse de Clèves et l’enfant déporté. In: À quoi bon La Princesse de Clèves? [Dossier]. La Sœur de l’Ange. Pensées iniques 8 (2010), S. 59–66. 19 Nathalie Grande: L’Écriture neutralisée. La représentation des romancières du XVIIe siècle par les critiques du XIXe siècle. In: Elseneur 15–16 (2000): Postérités du Grand Siècle. Hg. von Suzanne Guellouz, S. 223–238, hier S. 226f. 20 Joan DeJean: Tender Geographies. Women and the Origins of the Novel in France. New York 1991, S. 14. 21 Judith Schlanger: La Mémoire des œuvres, S. 167.

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ist dieser Effekt einer auch popularkulturellen Visibilisierung bzw. Aktualisierung der Princesse quer durch die Medien nach wie vor wahrzunehmen.

2 Princesse-Paradoxa: Ein Klassiker im Medien- und Kulturtransfer An dieser Zirkulation eines klassischen Textes zwischen Hoch- und Popularkultur partizipiert auch das – breitenwirksame, jedoch produktionsökonomisch hochschwellige – Medium Film. Gerade die Kinogeschichte der Princesse macht freilich deutlich, dass bereits um die Jahrtausendwende eine Phase intensivierter künstlerischer Re-Interpretation des Romans einsetzt; mit Manoel de Oliveiras La Lettre und Andrzej Żuławskis La Fidélité werden 1999-2000 gleich zwei neue Adaptionen realisiert. Die beiden jüngsten Princesse-Filme reagieren ihrerseits auf die ‚Affäre‘ – und profitieren von Sarkozy als indirektem Popularitäts-Booster: Akademische wie Amateur-Kommentare zeugen von der Spezifik eines Rezeptionskontextes, in dem es jede neue Princesse-Kreation schon aus Gründen der protestpolitischen Correctness zu lieben gilt. Betroffen gesteht die Besucherin eines Webforums ein, Honorés Werk nicht mit dem programmierten Enthusiasmus verfolgt zu haben: „[…] je voulais vraiment aimer le film […] parce que j’ai lu qu’il l’avait fait en réaction au discours de notre Président […].“22 Zu diesen externen Komplikationen gesellen sich solche intrinsischer Natur. Bei der Princesse handelt es sich um einen extrem visuellen Text (voir ist nach être, avoir und faire das vierthäufigste Verb).23 Dabei bleibt der Roman äußerst abstrakt: In hyperbolischen Formeln evoziert Lafayette eine von unzähligen ‚belles personnes‘ bevölkerte höfische Welt – und beschreibt dabei so gut wie nichts und niemanden. In verschärfter Form illustriert dieses Werk mit seiner dominanten Visualität und zugleich deskriptiven Abstinenz die Problematik jedes Transfers eines literarischen Textes in den Film, Medium des ‚sichtbaren Menschen‘24. Wie sieht Mlle de Chartres nun ‚wirklich‘ aus? Schemenhaft die blonde

|| 22 http://the-inn-at-lambton.cultureforum.net/t1217p50-mme-de-la-fayette-la-princesse-de-clv es?highlight=cl%E8ves, S. 3 (‚Camille Mc Avoy‘, 12.9.2008). 23 Julia V. Douthwaite: Seeing and Being Seen. Visual Codes and Metaphors in La Princesse de Clèves. In: Approaches to Teaching Lafayette’s The Princess of Clèves. Hg. von Faith E. Beasley und Katharine Ann Jensen. New York 1998, S. 109–119, hier S. 112. 24 Vgl. Béla Balázs: Der sichtbare Mensch [1924]. In: Texte zur Theorie des Films. Hg. von FranzJosef Albersmeier. Stuttgart 2009 (zuerst 1979), S. 224–233.

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Heldin, „beauté parfaite“; noch abstrakter das Erscheinungsbild Nemours’, knapp als „un chef-d’œuvre de la nature“ charakterisiert.25 Schon das Casting ist hier von interpretatorischer Relevanz; dies gilt besonders für sehr bekannte Schauspieler mit konstituierter kinematografischer Imago (etwa Jean Marais als Jean Delannoys Prince, Sophie Marceau als Żuławskis ‚Princesse‘ Clélia oder Louis Garrel als Honorés Nemours) und eigener Filmgeschichte, die mit jener des zu adaptierenden Werkes – auch in dieser Hinsicht palimpsestisches Konstrukt – interferiert.26 Bei Mehrfachverfilmungen wird das ‚Bild‘ der Protagonisten in Auseinandersetzung mit den vorangegangenen Adaptionen neu definiert: Kaum zufällig setzen die Regisseure aller späteren Filme mit der Wahl sämtlich dunkelhaariger Hauptdarstellerinnen einen Kontrapunkt nicht nur zu Lafayette, sondern auch bzw. vor allem zu Delannoys Marina Vlady, die, Prototyp der strahlenden blonden Schönheit, längst ikonischen Status besitzt. Wie der Prätext ist diese Erstverfilmung mittlerweile insofern als ‚klassisch‘ zu betrachten, als sie das kulturelle Imaginarium – und die Imagination der einzelnen Rezipientin – sogar abseits konkreter Werkkenntnis prägt. Lafayettes Text setzt höchst effizient den Prozess der „Einbildung“27 im Kopf jeder Leserin in Gang; in diesem Sinne überrascht es kaum, dass das Corpus filmischer Princesses einen Clash unterschiedlicher Imagines der Protagonisten – zwischen epochenspezifischen Schönheitsidealen und idiosynkratischen Präferenzen – provoziert. Jede zeitgenössische Adaption der Princesse adressiert unweigerlich auch die Problematik eines gemeinsamen ‚kulturellen Erbes‘, der Re-Definition eines klassischen Kanons zwischen Deskriptivität und Normativität. Aufschlussreich die interkulturelle Dimension: Im Vergleich etwa zu Shakespeare, globaler Klassiker, dessen Œuvre bedeutende ‚kulturfremde‘ Adaptionen inspiriert hat (so Akira Kurosawas Macbeth-Variation Das Schloss im Spinnwebwald [1957]), wirft das Werk Lafayettes, primär ‚nationaler‘28, in der Konstruktion einer ‚französischen Identität‘ instrumentalisierter Klassiker, auch die Frage nach dem Status von Klassizität zwischen National- und Weltliteratur auf.

|| 25 Madame de Lafayette: La Princesse de Clèves (1678). In: Œuvres complètes, S. 327–478, hier S. 337f., S. 333. 26 Vgl. Anne Bohnenkamp: Vorwort. Literaturverfilmungen als intermediale Herausforderung. In: Literaturverfilmungen. Hg. von ders. Stuttgart 2012 (zuerst 2005), S. 9–40, hier S. 34. 27 Vgl. Franz-Josef Albersmeier und Volker Roloff: Vorwort. In: Literaturverfilmungen. Hg. von dens. Frankfurt am Main 1989, S. 11–14, hier S. 14. 28 Zum Status der „classiques nationaux“ vgl. Judith Schlanger: La Mémoire des œuvres, S. 102–105.

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Bei einem französischen Publikum kann eine gewisse Kenntnis des Prätexts – Pflichtlektüre für Generationen von SchülerInnen – vorausgesetzt werden; für sekundäre Rezeptionskontexte gilt dies nur sehr eingeschränkt. Nicht zufällig erscheint Marie Darrieussecqs Roman Clèves (2011) auf Deutsch – symptomatische Re-Akzentuierung – unter dem Titel Prinzessinnen (2013); ebenso wird die Lafayette-Referenz aus der deutschen Version von Sauders Nous, princesses de Clèves (alias Wir alle sind Prinzessinnen) eliminiert. Tatsächlich sind auch im Fall der filmischen Adaptionen – bzw. hier erst recht, richtet sich das Medium ja nicht nur an LiteraturliebhaberInnen – die Unterschiede zwischen den jeweiligen Rezeptionsmustern frappant. In Frankreich werden auch die neueren Adaptionen verlässlich als Literaturverfilmung wahrgenommen: Die professionelle Filmkritik kommentiert die betreffenden Werke – nicht selten im Sinne eines normativen „fidelity criticism“29 – mit Blick auf den Prätext; auch der Amateur-Diskurs bewegt sich in einem intermedialen Spannungsfeld zwischen klassischem Roman, früheren Verfilmungen und politischer Reflexion. Bei einem nicht-französischen Publikum ist das entsprechende Hintergrundwissen nicht unbedingt präsent – und damit eine der traditionellen Funktionen filmischer Adaption, die „Popularisierung von Literatur und ihre Verbreitung in ‚literaturfernen‘ Rezipientengruppen“30, nicht mehr in demselben Maße gegeben. Selbst auf der Ebene autorisierter Kritik ist eine beträchtliche Diskrepanz zwischen primärer und sekundärer Rezeption zu beobachten: In deutschsprachigen Rezensionen zu den neueren Princesse-Filmen wird die hypotextuelle Tiefendimension mehr oder minder ausgeblendet; insofern ergibt sich die paradoxe Konstellation einer doppelsinnigen Diffusion produktiver Klassiker-Re-Interpretation in einen anderen kulturellen Kontext, in dem ebendieser Klassiker quasi ‚unsichtbar‘ bzw. irrelevant wird; die Erweiterung des Rezipientenkreises geht mit der Marginalisierung des Prätexts einher. Das heterogene Corpus der postmodernen Princesse-Adaptionen, die sich sämtlich durch ihre mediale Autoreflexivität auszeichnen und neben der Relation Literatur-Film auch andere Kunstformen (Theater, Musik, Malerei, Fotografie) ins Spiel bringen, lädt schließlich zu kritischer Hinterfragung des Konzepts Werktreue zwischen esprit und lettre ein. Eine auf den ersten Blick überaus ‚treue‘ Verfilmung wie jene Delannoys entfernt sich in mancher Hinsicht weiter vom Ausgangswerk als eine sehr freie Adaption wie Żuławskis Fidélité, deren Titel auch poetologisch zu lesen ist.

|| 29 Vgl. Linda Hutcheon: A Theory of Adaptation. New York/London 2006, S. 6f. 30 Anne Bohnenkamp: Vorwort, S. 28.

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3 Princesse-Metamorphosen: Fragmente einer Filmgeschichte Die Karriere der Princesse de Clèves als Filmstar beginnt – nach einigen nicht umgesetzten Projekten31 – also mit der gleichnamigen Adaption durch Jean Delannoy/Jean Cocteau aus dem Jahr 1961, kinematografischer ‚Prätext‘, der beinahe vier Jahrzehnte lang seinen Monopolstatus behält. Delannoy konzipiert seine aus finanziellen Gründen mit fast zwanzig Jahren Verspätung realisierte Princesse als aufwendigen Kostümfilm – eine etwas anachronistisch anmutende (und im Kontext des Œuvres sowohl Delannoys als auch Cocteaus nicht selbstverständliche) Entscheidung. So urteilt Roger Vailland, Ko-Drehbuchautor für Vadims Les Liaisons dangereuses 1960 (1959), streng über das historische Kostümdrama, das Genre jener, „qui n’ont rien à dire sur leur temps ou qui n’osent pas le dire“.32 Im Kontrast zu Vadims Werk illustriert La Princesse de Clèves jene konventionelle, wenngleich zweifellos prachtvolle Ästhetik, die Delannoy zu einem der Lieblingsfeinde der Nouvelle Vague auf ihrem Feldzug gegen das cinéma de qualité macht.33 Delannoys „pellicule de faux classicisme“34 entwirft eine märchenhafte Phantasie-Vergangenheit. Speziell eine Analyse dieses Films aus gender-theoretischer Perspektive lässt die Frage nach der (Un-)Treue dem Prätext gegenüber in einem nuancierteren Licht erscheinen: Während Lafayettes Werk nicht umsonst eine Reihe feministischer Lektüren inspiriert hat, zeichnet sich Delannoys Version durch eine prononcierte Tendenz zur Re-Affirmation einer patriarchalischen Geschlechterordnung aus (diese Intention bestätigt der Regisseur selbst, der seine Princesse nicht zuletzt als défense et illustration eines Idealbilds ‚tugendhafter‘ Weiblichkeit präsentiert35). Systematisch reduziert sein Film im Roman

|| 31 Vgl. Isabelle Rambaud: La Princesse de Clèves et son château. Étrépilly 2006, S. 19. 32 Roger Vailland: En toute ingénuité. In: Les Liaisons dangereuses 1960. Hg. von Claude Brûlé u.a. Paris 1960, S. 7–13, hier S. 12f. Zitiert nach Kirsten von Hagen: Les Liaisons dangereuses (Choderlos de Laclos – Roger Vadim, Stephen Frears, Miloš Forman, Roger Kumble). Von der Liebschaft des Films mit der Literatur. In: Literaturverfilmungen. Hg. von Anne Bohnenkamp, S. 74– 87, hier S. 75. 33 Vgl. François Truffaut: Une certaine tendance du cinéma français [1954]. In: Le Plaisir des yeux. Paris 2008, S. 211–229. 34 Florence Chapiro: Étude sur Mme de La Fayette. La Princesse de Clèves. Paris 2009, S. 53. 35 Vgl. Jean Delannoy: C’est le moment de rendre aux jeunes La Princesse de Clèves [Interview: Martine Monod]. In: Les Lettres Françaises (30.6.1960). Zitiert nach Françoise Denis: La Princesse

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vorhandene Aspekte weiblicher Autonomie (zur Gänze eliminiert wird die Schlüsselfigur der Mme de Chartres). Sein Finale – hyper-ästhetisierte Exhibition einer wunderschönen weiblichen Leiche – erscheint nicht nur als beinahe karikaturale Illustration von Mulveys Thesen zur maskulinistischen Ökonomie des traditionellen Kinos36, sondern steht auch konträr zu jener Geste des narrativen Respekts, mit der Lafayette ihre Protagonistin schließlich aus der sozialen Kontrolle des Hofes und aus dem Sichtfeld der anderen Figuren wie der Leserin entlässt. In diesem Sinne geriert sich diese moderne Adaption konservativer als der klassische Prätext.37 Wie Louise de Vilmorins Madame de (1951), eine sentimentale Nachkriegs-réécriture, die Delannoy/Cocteau als (Ko-)Inspiration für ihre Schluss-Szene gedient haben könnte,38 zeigt diese Princesse, dass die Geschichte der produktiven Lafayette-Rezeption nicht als Narrativ einer linearen Modernisierung zu konstruieren ist. Auf Delannoys Werk folgt in der Filmhistorie der Princesse de Clèves Manoel de Oliveiras A Carta/La Lettre (1999). Von der französischen Kritik wird dieser Meta-Film, der in ideologischer Hinsicht die bei Lafayette sehr dezente religiöse Dimension akzentuiert, geradezu hymnisch aufgenommen. Anders als Delannoy wagt sich Oliveira an eine intendiert brüchige Modernisierung (eine auch ökonomisch motivierte Entscheidung39); er transponiert die Intrige ins Paris der Entstehungszeit des Films und setzt dabei auf den Anachronismus als ästhetische Strategie. Seine mehrdeutige Lettre gerät derart zum kinematografischen Palimpsest: Frappierend der Rekurs auf zahlreiche Schrift-Inserts; pragmatische Konvention der Stummfilmära, wird diese Technik nun zum stark markierten künstlerischen Verfahren. Nur wenige Monate später folgt Andrzej Żuławskis unter der Ägide der gleichen Firma (Paulo Branco) produzierte Adaption La Fidélité (2000). Auch wenn

|| de Clèves. Lafayette et Cocteau, deux versions. In: The French Review 72 (1998) H. 2, S. 285–296, hier S. 286. 36 Vgl. Laura Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino [1975]. In: Texte zur Theorie des Films, S. 389–408. 37 Vgl. Margot Brink: Interprétations cinématographiques de la Princesse de Clèves. Du „cadavre exquis“ à l’héroïne d’une nouvelle éthique. In: Siècle classique et cinéma contemporain. Hg. von Roswitha Böhm, Andrea Grewe und Margarete Zimmermann. Tübingen 2009, S. 113–125, hier S. 125. 38 Vgl. Claude Coste und Michèle Castells-Faucher: La Princesse de Clèves au XXe siècle. In: Postérités, S. 319–342, hier S. 330. 39 Vgl. Jean-Michel Frodon: La Lettre de Manoel de Oliveira. Entretien avec le réalisateur. In: Le Monde (23.-24.5.1999) (verfügbar auf www.cinemalefrance.com/fiches/lalettre.pdf).

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der Film angesichts der Drehchronologie nicht als Reaktion auf La Lettre interpretiert werden kann, erweist sich die kontrastive Analyse als erhellend. Im Gegensatz zu Oliveiras Version ist jener Żuławskis schon aufgrund des kontroversen Status des Regisseurs eine skeptische Aufnahme sicher; vielfach wird der Film als „a vulgar desecration of the source text“ attackiert.40 Gleich doppelt werden die Positionen der kanonischen Hochkultur, vertreten durch „l’immortel roman de Mme de La Fayette“41 und „la magnifique Lettre d’Oliveira“42, gegenüber Żuławski mit seinen „excès kamikazes“43 verteidigt. La Fidélité ist bis auf Weiteres freilich die mit Abstand gender-sensibelste filmische Auseinandersetzung mit Lafayettes Roman, Marceau die stärkste, mit beträchtlicher sozialer wie sexueller Freiheit, aber auch visueller Autorität ausgestattete Hauptdarstellerin; dies im Vergleich nicht nur zu Delannoys Märchen-Heldin und Oliveiras hochkatholischer Protagonistin, sondern auch zu Honorés acht Jahre später inszenierter Schulmädchen-Princesse.

4 La Belle Personne: Lafayette im Lycée BCBG „Amours adolescentes dans un lycée parisien BCBG […]“44: so eine leicht giftige Charakteristik der modernisierenden – zunächst als Kostümfilm projektierten45 – Adaption Christophe Honorés, an anderer Stelle ironisch als „Teenage movie des quartiers chics“ bezeichnet.46 Der Regisseur selbst betrachtet La Belle Personne,

|| 40 Vgl. Helena Duffy: L’(In)fidélité? A Kristevan Reading of Andrzej Żuławski’s Cinematic Adaptation of La Princesse de Clèves. In: French Seventeenth-Century Literature. Influences and Transformations. Hg. von Jane Southwood und Bernard Bourque. Oxford u.a. 2009, S. 91–115, hier S. 91. 41 Louis Guichard: La Fidélité [Critique lors de la sortie en salle le 5.4.2000]. In: Télérama: http://www.telerama.fr/cinema/films/la-fidelite,49537.php. 42 Frédéric Bonnaud: La Fidélité. In: Les Inrockuptibles (30.11.1999): http://www.lesinrocks. com/cinema/films-a-l-affiche/la-fidelite. 43 Louis Guichard: La Fidélité. 44 Pierre Lagier: La belle personne. In: Le Nouvel Observateur/Blog (1.10.2008): https://web.ar chive.org/web/20081108043720/http://lagierromancier.blogs.nouvelobs.com. 45 Vgl. Sophie Bourdais: Les vertiges de l’amour, par Christophe Honoré. In: Télérama (6.9.2008, aktualisiert: 9.9.2008): http://www.telerama.fr/cinema/les-vertiges-de-l-amour-re vus-par-christophe-honore,32996.php. 46 Vgl. Jérôme Lecompte: Les Adaptations cinématographiques de La Princesse de Clèves [Dossier]. In: Madame de Lafayette: La Princesse de Clèves. Hg. von Jean Mesnard, S. 312–316, hier S. 316.

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„[l]ibrement inspiré par La Princesse de Clèves“47, weniger als „adaptation“ denn als „une proposition de lecture du roman“ und rekurriert auf die Metapher intermedialer ‚Infusion‘.48 Deren Ergebnis ist ein hochgradig autoreflexives filmisches Konstrukt, das seine (Meta-)Ästhetik im Spiel mit der Princesse (sowie einer Reihe sekundärer Intertexte, von Racine über Mallarmé bis Pasternak), aber auch mit seiner kinematografischen Vorgeschichte entfaltet. Der Einstieg zitiert neben Lafayette den Beginn von Delannoys Princesse; eine andere Szene setzt auf das Kontextwissen der Zuschauerin: Honoré konfrontiert seine Heldin mit Oliveiras Hauptdarstellerin Chiara Mastroianni, hier eine anonyme Statistin, die symbolisch den Schauplatz für ihre Nachfolgerin räumt. Doch auch anderweitig experimentiert er mit dem Medium Film; so im Rahmen einer Exkursion in die Cinémathèque, in der seine Protagonisten eine Vorführung von Idrissa Ouedraogos Yaaba (1989) besuchen. Ein Verwirrspiel der Blicke entspinnt sich über mehrere Realitäts-/Fiktionsebenen, die gelegentlich – via Ausblendung des Kino-Dispositivs – kurzgeschlossen werden. An die Stelle der cour Lafayettes tritt ein zeitgenössisches Lycée der Pariser beaux quartiers; Drehort war das im 16. Arrondissement gelegene Lycée Molière, das mit seinen Rundgalerien und Guckfenstern ein perfektes Ambiente für die Reinszenierung eines panoptischen Mikrokosmos mit strengen Präsenz- und Repräsentationspflichten abgibt. Abgesehen von der Affinität der beiden ‚Höfe‘ schließt sich Honoré einem ab den 1990ern verstärkten Trend zur Neu-Adaption kanonischer Klassiker als „Teenagerdramen“49 an. Wie erwähnt situiert La Belle Personne sich in einem höchst politischen Kontext: Honoré versteht seinen Film als „démenti“50 bzw. „réponse au dénigrement présidentiel“51; paradoxe ‚Antwort‘ insofern, als dieser auf diegetischer Ebene völlig apolitische Kunstfilm erst durch den Begleitdiskurs und sekundär das Engagement einzelner Akteure52 eine Zusatzdimension als „manifeste politique“

|| 47 Christophe Honoré: La Belle Personne (2008). Scarlett Production/Arte France 2008. DVD Art Film, Nachspann. 48 Entretien avec Christophe Honoré, Comme au cinéma (2008): http://www.commeau cinema.com/notes-de-prod/la-belle-personne-drame,101648-note-55891. 49 Vgl. Kirsten von Hagen: Les Liaisons dangereuses, S. 85. 50 Vgl. Laurence Debril und Éric Mandonnet: La princesse de Clèves défie le président. In: L’Express (26.2.2009): http://www.lexpress.fr/actualite/politique/la-princesse-de-cleves-defie-lepresident_746201.html. 51 Jean-Luc Moreau: Princesse, dérangez-nous! [Éditorial]. In: À quoi bon La Princesse de Clèves?, S. 6–11, hier S. 9. 52 So eröffnet ‚Nemours‘ Louis Garrel mit Marcel Bozonnet die Princesse-Marathonlesung in Paris.

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gewinnt.53 Auch unter anderem Aspekt lädt Honorés Version zur Reflexion über die sozialen Implikationen der Literatur- und speziell Klassikerverfilmung ein. Im Unterschied zu den Adaptionen Delannoys, Oliveiras und Żuławskis wird La Belle Personne zunächst als TV-Kreation konzipiert; nach der Ausstrahlung auf Arte am 12. September 2008 kommt der Film in die französischen Kinos. Auf den ersten Blick besitzt diese Entscheidung ihre Logik, erklärt Honoré doch, Sarkozy widerlegen und die „accessibilité“ des klassischen Textes demonstrieren zu wollen.54 Diesem Programm läuft allerdings die diegetische Ausblendung gesellschaftlicher Realitäten zuwider: Honoré situiert seine Handlung in einem in seiner Privilegiertheit nicht ansatzweise reflektierten großbürgerlich-aristokratischen Milieu, wie Lafayettes Hof ein Laboratorium von materiellen Sorgen ungestörter Passion und Introspektion. „Je me méfie du côté sociologique des films, de l’idéologie qu’ils véhiculent“, betont der Regisseur; dies unter Vernachlässigung der Tatsache, dass dieser affichierte Ideologieverzicht, sein Appell an „ce qu’il y a d’éternel dans la jeunesse“55 seinerseits zutiefst ideologisch ist. Derart perpetuiert La Belle Personne sehr wohl den Status der Princesse als „un objet privilégié du discours hégémonique de l’élite cultivée“; während im Fall des Kostümfilms und des Autorenkinos besagter „élitisme social“ mit den Genre-Charakteristika korrespondiert, macht Honorés paradox ‚elitäre‘ TV-Produktion diese Widersprüche erst recht deutlich.56 In der Kritik – die Honorés Werk sogleich dem AntiSarkozy-Diskurs inkorporiert – wird diese Problematik freilich kaum thematisiert. Vereinzelt wird der Film mit einem anderen Argument attackiert: Eine postkolonial inspirierte Polemik unter dem Titel „La blanche personne“57 mag über das Ziel hinausschießen, signalisiert jedoch einen reflexionswürdigen Aspekt postmoderner Princesse-Re-Interpretationen – die homogen ‚weiße‘ Welt Lafayettes wird vor der Kontrastfolie einer zeitgenössischen multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft als solche sichtbar.

|| 53 Nathalie Grande: Une Princesse par temps de crise. Actualité de Madame de Lafayette. In: Œuvres & Critiques 35 (2010) H. 1, S. 61–68, hier S. 62. 54 Sophie Bourdais: Les vertiges de l’amour. 55 Entretien avec Christophe Honoré. 56 François-Ronan Dubois: Le transfert intersémiotique et l’altérité culturelle. Examen des cinq longs métrages consacrés à La Princesse de Clèves (Delannoy, Oliveira, Zulawski, Honoré et Sauder). In: Romanica Wratislaviensia 60 (2013), S. 103–112: https://halshs.archives-ouvertes.fr/ halshs-00878692. 57 Alexandre Cammas: La blanche personne. In: Libération (22.9.2008): http://www.libe ration.fr/tribune/010113468-la-blanche-personne.

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Eine andere Säule jener Welt von vorgestern wird erschüttert: Honoré schreitet zum Queering des Nebenplots um den Vidame de Chartres; dessen Rollenträger erscheint hier in ein Netzwerk hetero- wie homosexueller amouröser Intrigen verstrickt.58 Überaus gender-konservativ fällt dagegen die mise en scène der weiblichen Hauptfigur aus, als Objekt intra- wie extradiegetischer Schaulust dem Blick der männlichen ‚Höflinge‘ (und der Zuschauer) dargeboten. Honoré legt Léa Seydoux auf ein sehr statisches, passives Spiel fest; gerade in ihrer Rebellion gegen die ihr auferlegten Restriktionen gerät sie zu „la Princesse dont je rêvais“59, die Adaption zur Zähmung einer widerspenstigen Heldin, deren Lafayette’sches Vorbild Honoré als „tyran“ charakterisiert60 (im Film ist es Estouteville, Kollege und Freund Nemours’, der Protagonistin Junie als „pas du tout fragile“, ja „une tueuse“ beschreibt61).

5 Nous, princesses de Clèves: Vom Königshof in die Marseiller Banlieue Den interpretatorischen Schritt vom Königs- zum Schul-Hof unternimmt auch Régis Sauder mit Nous, princesses de Clèves.62 Von den Pariser Nobelvierteln wechseln wir in die Marseiller Banlieue, vom Biotop einer privilegierten jeunesse dorée (bzw. blanche) in das ZEP-Lycée Denis Diderot mit seiner in jeder Hinsicht bunten Population (Sauders Partnerin Anne Tesson, an ebendieser Schule jahrelang als Französischlehrerin tätig, war eine Schlüsselfigur des Projekts). Gerade im Kontrast mit dem Werk Sauders, das die Ambivalenzen von Hochkultur zwischen symbolischer Gewalt und emanzipatorischem Potential problematisiert, wird deutlich, wie sehr auch La Belle Personne von impliziten sozialen Prämissen geprägt ist.

|| 58 Aus Mme de Martigues wird Mathias de Chartres’ heimlicher Liebhaber Martin, aus dessen Feder aber auch ein simplifiziertes Äquivalent der für allerlei Turbulenzen sorgenden lettre galante der Mme de Thémines stammt; die Gefahr mörderischer Eifersucht geht bei Honoré nicht von Königin Catherine aus, sondern von Henri Valois, der, nach kurzer Affäre verschmäht, nun auf Rache sinnt etc. 59 Entretien avec Christophe Honoré. 60 Sophie Bourdais: Les vertiges de l’amour. 61 Christophe Honoré: La Belle Personne (2008), TC: 41:58–42:02. 62 Nous, princesses de Clèves, produziert im Jahr 2010, kam am 30. März 2011 ins Kino; die DVDVersion folgte im Februar 2012.

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Sauders Film, der eine Gruppe von Jugendlichen bei ihrer Beschäftigung mit Lafayettes Roman im Rahmen eines atelier littéraire bzw. bei der Vorbereitung auf ihr bac begleitet, steht für einen doppelten Bruch in puncto Milieu wie Genre. Diese pluralisierten, erstmals in einem non-elitären Ambiente angesiedelten non-fiktionalen Princesses setzen sich nicht nur mit der soziokulturellen Spezifik des Prätexts, sondern auch mit dessen Adaptionsgeschichte auseinander – u.a. mit La Belle Personne, der, so Sauder, bei seinen Akteuren eine positive Aufnahme zuteilwurde, im Gegensatz zu diversen Banlieue-Filmen, die, „socialement plus proches“, von den Betroffenen als „caricature d’eux-mêmes“ abgelehnt wurden.63 Die Arbeit an der Princesse bedeutet für Sauders Protagonisten die Konfrontation mit einer kulturellen Tradition, die für sie selbst eine periphere Position vorsieht; ausdrücklich wird der Anspruch auf Zugang zur ‚großen‘ Literatur artikuliert, Protest gegen eine paternalistische Pädagogik, die die Marginalisierung ihrer Klientel zementiert: „On ne veut pas de sous-littérature écrite pour nous, on veut la grande littérature“, erklärt eine der Mitwirkenden.64 Die konfliktuelle Relation zwischen „la culture classique et la culture des cités“65 wird nicht eskamotiert, sondern direkt problematisiert und derart fruchtbar gemacht. Versteht sich Honorés Belle Personne als ‚Antwort‘ auf Sarkozy, so charakterisiert Sauder die Princesses als „une réponse au débat sur l’identité nationale, à la ghettoïsation de l’enseignement et à l’éducation à deux vitesses“66. Im politischen Kontext erfährt das bereits zuvor konzipierte Projekt eine zusätzliche Aufladung: „[…] ce n’est pas là l’origine du film, même si ça fait plaisir de répondre à Sarkozy.“ Die beste Entgegnung liefern, wie der Regisseur betont, freilich die Jugendlichen selbst, mit ihrer kreativen Aneignung eines klassischen Textes, die dessen Aktualität, ja ‚Nützlichkeit‘ – parodistisch wendet Sauder Sarkozys utilitaristischen Diskurs gegen diesen selbst – demonstriert. Die Protagonisten stehen für all jene „petites gens“, deren Interesse und Recht auf Partizipation an kanonischer Kultur Nous, princesses de Clèves illustriert.67 Ostentativ zeigt

|| 63 Antoine de Baecque: Entretien avec Régis Sauder. In: Begleitheft zu Régis Sauder: Nous, princesses de Clèves. Nord-Ouest Documentaires/France Ô 2011. DVD Shellac, o.S. 64 Zit. ebd. 65 Isabelle Regnier: Nous, princesses de Clèves. La princesse de Clèves, héroïne des cités. In: Le Monde (29.3.2011): http://www.lemonde.fr/cinema/article/2011/03/29/nous-princesses-de-cle ves-la-princesse-de-cleves-heroine-des-cites_1500131_3476.html. 66 Zitiert nach Clarisse Fabre: Et Nicolas Sarkozy fit la fortune du roman de Mme de La Fayette. In: Le Monde (29.3.2011): http://www.lemonde.fr/cinema/article/2011/03/29/et-nicolas-sarko zy-fit-la-fortune-du-roman-de-mme-de-la-fayette_1500132_3476.html. 67 Antoine de Baecque: Entretien avec Régis Sauder.

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eine Großeinstellung eine Schülerin bei der Lektüre, vertieft in ein – mindestens – Secondhand-Exemplar der Princesse aus der Hatier-Serie Les Classiques pour tous. Bei aller gesellschaftlichen Relevanz hieße es dem Film Unrecht tun, wollte man ihn auf diesen Aspekt reduzieren: La Princesse de Clèves ist hier nicht nur Thema, sondern zugleich narrative Matrix. Klassischer Prätext und Medium befinden sich in dynamischer Interaktion; Formen kultureller Variation des Klassikers – abseits bloßer Vermittlung und Vereinnahmung – werden auf künstlerischer Meta-Ebene reflektiert. Der Versuch einer konventionellen „explication de texte“ wird rasch durch eine Methode „moins scolaire“ ersetzt: Die polyphone und polyvalente Performance tritt in den Vordergrund.68 Die Princesses, die der Gefahr des sozialen Voyeurismus dank einer skrupulös selbstreflexiven Ästhetik entgehen, erkunden einen an den Antipoden der Welt Lafayettes situierten Mikrokosmos; und doch überzeugt die Analogie zwischen den beiden cours: Auch dieser teils vermüllte Schulhof erscheint als „prison“69, theatralisierter Ort der Selbstinszenierung; klassischer Text und ZEP-Kontext spiegeln einander in einem „système de jeux de miroirs“70. Ein einziges Mal verlässt Sauders Cast kollektiv die Marseiller quartiers – im Rahmen einer Klassenfahrt nach Paris, Schlüsselepisode des Films, die dessen Fragestellungen rund um Inklusion/Exklusion, aber auch Klassik als Kulturpraxis konzentriert. Gesellschaftlich wie geografisch peripher situiert, vollziehen die Protagonisten den Weg der Lafayette’schen Princesse und der gleichfalls aus Paris flüchtenden Heldin Honorés temporär in umgekehrter Richtung nach. Für etliche Jugendliche ist dies die erste Bekanntschaft mit der Hauptstadt, die erste Konfrontation auch mit einer musealisierten Kulturgeschichte: Etwas eingeschüchtert betrachten die Teenager in der Bibliothèque nationale eine OriginalEdition der Princesse, deren Distanz gegenüber ihrer Lebenswelt wieder stark spür- und sichtbar wird. Diese Paris-Reise wirft besonders drastisch die Frage nach dem eigenen sozialen Status, auch jene nach einer ‚französischen Identität‘ in einer multikulturellen Gegenwart auf (eine Diskussion, die nicht zuletzt auf dem Terrain des Literaturunterrichts ausgetragen wird71). So in einem freundschaftlichen Streitgespräch zwischen zwei jungen schwarzen Frauen, die konträre Strategien der

|| 68 Ebd. 69 Raphaël Nieuwjaer: La Construction d’un espace commun. In: Begleitheft zu Régis Sauder: Nous, princesses de Clèves, o.S. 70 Isabelle Regnier: Nous, princesses de Clèves. 71 Vgl. Alain Finkielkraut: L’Identité malheureuse. Paris 2013, S. 117f.

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Selbstverortung in Bezug auf die ‚große‘ französische Tradition repräsentieren: Gegen die eifrige Über-Identifikation Armelles, die sich einen normativen Diskurs über ‚unsere‘ Geschichte samt Stolz auf „mes ancêtres“ zu eigen macht, dabei ausgeprägten intellektuellen Ehrgeiz erkennen lässt, steht der ironische Konterdiskurs Cadiatous, die den Pseudo-Universalismus eines aus der Sicht einer weißen, europäischen und männlichen Elite autorisierten Narrativs („ce qu’on nous apprend à l’école, quoi“) demaskiert. So relativiert sie die Verehrung für Napoleon („de notre point de vue à nous, […] c’est un esclavagiste“) und resümiert die Ambivalenzen ihrer beider Identität als „Françaises, oui, […] par le droit du sol, mais […] nos ancêtres, ils étaient esclaves, à cette époque-là“.72 Von Nos ancêtres les Gaulois73 zu Nous, princesses de Clèves: Auch diesen heiklen Parcours zeichnet Sauders Film nach. Wie Lafayettes Text ist Nous, princesses de Clèves als Initiationsnarrativ angelegt. Es gehört zu den Stärken des Films, dass er keine naive Erlösungsgeschichte auf literarischem (Um-)Weg erzählt und ohne Larmoyanz auch das Scheitern zulässt (einen Vorgeschmack darauf bietet die Szene des desaströsen – und kontextuell doppeldeutigen – bac blanc einer Schülerin namens Sarah). Am Schluss versammelt sich die ‚Hofgesellschaft‘ vor den Anschlagtafeln, die die Resultate des bac, zentraler „rite de passage“74, verkünden. Bereits zuvor manifestiert sich eine fatale Dynamik der paradox frei gewählten Selbst-Marginalisierung; so illustriert die Episode um Aurore die Mechanismen einer im Sinne Bourdieus inkorporierten domination – und knüpft auf ihre Weise an Lafayette an: Auch diese (Anti-)Princesse entscheidet sich für den Rückzug vom ‚Hof‘; in völlig anderem Kontext aktualisiert diese Geste die Ambiguität der retraite zwischen souveräner Verweigerung und Sabotage potentiellen Lebensglücks. Sukzessive loten Sauders Akteure das Spektrum literarischer Rollenmodelle im klassischen Text aus. Der Film entsteht zunächst unter dem Titel Ma princesse de Clèves, basierend auf der Idee der multiplen „appropriation individuelle“; doch

|| 72 Régis Sauder: Nous, princesses de Clèves, TC: 30:51–31:25. 73 Die insbes. durch die Lehrwerke Ernest Lavisses popularisierte, längst geflügelte Formel von ‚unseren Vorfahren, den Galliern‘ steht emblematisch für ein frankozentristisches historisches Narrativ, das vor allem zu Zeiten der Dritten Republik den Geschichtsunterricht auch in den kolonialen Gebieten bestimmt. „Dès que l’on devient français, nos ancêtres sont gaulois“, erklärt freilich noch 2016 wiederum Nicolas Sarkozy, der sein Statement angesichts heftiger Reaktionen einige Tage später nuanciert (vgl. http://www.lemonde.fr/election-presidentielle-2017/article/ 2016/09/24/pour-nicolas-sarkozy-nos-ancetres-etaient-les-gaulois-mais-aussi-les-tirailleursmusulmans_5002989_4854003.html). 74 Antoine de Baecque: Entretien avec Régis Sauder.

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rasch gerät das Projekt zur „aventure collective“.75 Parallel zum Wechsel in den Plural findet eine zweite signifikante Transformation statt – jene vom Possessivpronomen zur kreativen Identifikation. Für die weiblichen Mitspieler stellt erwartungsgemäß die Princesse die zentrale Referenzfigur dar: „C’est bizarre, […] je m’y reconnais beaucoup“, erklärt Aurore. Abou solidarisiert sich mit dem Prince de Clèves als prototypischem „honnête homme“, während sein Kollege Chakirina den verführerischen Nemours favorisiert.76 Eine symptomatische Interpretationsdivergenz ergibt sich hinsichtlich der Mme de Chartres: Verkörpert diese für den Regisseur selbst bzw. „pour notre génération“ quasi paradigmatisch „l’image de la mère odieuse, castratrice, traditionnelle“, so konstatiert er mit Erstaunen, dass sie in den Augen seiner Protagonisten als Inbegriff der „bonne mère, protectrice, gardienne de l’honneur familial“ erscheint.77 Auch für die Elterngeneration repräsentiert die ambivalente mütterliche Heldin ein moralisches Vorbild, im Kontrast zu einer universitären Kritik, die sie – dies gilt vor allem, aber nicht nur für die Tradition feministisch inspirierter Lafayette-Lektüren – tendenziell negativ als Komplizin der „oppression patriarcale“ betrachtet.78 Hier zeigt sich deutlich, wie sehr nicht nur das eigene Leben durch den Filter des Prätexts neu wahrgenommen, sondern umgekehrt auch das persönliche soziokulturelle Koordinatensystem auf diesen re-projiziert wird. Auf welch verschlungenen Pfaden die Identifikation auch verläuft – immer wieder aufs Neue ist über die bloße Re-Zitation hinaus der Moment zu beobachten, in dem der fremde Text eigen wird, die Akteure mit den Worten Lafayettes ‚sich selbst‘ erzählen: „La Princesse de Clèves devient leur texte.“79 Lafayettes Heldin übernimmt im Laufe des Romans die Kontrolle über ihre Geschichte; auch Sauders Film rekonstruiert die (Selbst-)Konstitution des Subjekts im interdiskursiven Spiel: Derart spiegelt das Narrativ die Problematik der Literaturverfilmung insgesamt wider. Ergänzend verfasst Anne Tesson einen „Livret pédagogique“, der für unterschiedliche (hoch-)schulische Settings eine Reihe flexibler „pistes d’exploration“ vorschlägt: „On peut partir du film pour aller vers le roman ou faire le chemin

|| 75 Zit. nach Franck Robert: Nous, Princesses de Clèves, de Régis Sauder. Une aventure politique. In: À quoi bon La Princesse de Clèves?, S. 84–93, hier S. 85. 76 Régis Sauder: Nous, princesses de Clèves, TC: 05:55–06:04, 17:16–17:23, 39:00–39:12. 77 Antoine de Baecque: Entretien avec Régis Sauder. 78 Vgl. François-Ronan Dubois: Le transfert intersémiotique. 79 Antoine de Baecque: Entretien avec Régis Sauder.

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inverse.“80 Nun besitzt dieses Projekt, dessen Erfolg sich weit überdurchschnittlichem Engagement der Lehrerinnen sowie einer freiwillig teilnehmenden Schülerschaft verdankt, gewiss nur eingeschränkt Modellcharakter. Und doch illustriert Sauders Film, dass die Begegnung zwischen einem zeitgenössischen adoleszenten Publikum und einem klassischen Text in einem multikulturellpostkolonialen Kontext gelingen kann.

6 Wider die „belle mort“: Klassischer Kannibalismus (Conclusio) Als aufschlussreich erweist sich auch in dieser Hinsicht – parallel zur Auseinandersetzung der Protagonisten Sauders mit der Princesse, die von der „œuvre patrimoniale“ wieder zur „œuvre-fabrique de lectures“81 wird – der Brückenschlag zurück in die Epoche der französischen Klassik, deren Verhältnis zu ihren Klassikern nicht von ehrfürchtiger Passivität, sondern von fröhlichem ‚kannibalistischem‘ Recycling geprägt erscheint. Jene „circularité classique“, für die Lektüre, Kritik, (ré-)écriture und transmission eine Einheit darstellen,82 revitalisiert und revalorisiert Sauders Experiment – und überwindet damit zumindest punktuell die traditionelle schulische Impopularität von Lafayettes Roman. Dessen Aktualisierung erschöpft sich nicht in der Erschließung einer neuen Rezipientengruppe (inner- wie außerhalb des Films); auch in seine angestammten Domänen bildungsbürgerlicher und universitärer Kultur kehrt der Text – enthusiastische Kommentare aus Literatur- wie Filmkritik und -wissenschaft legen davon Zeugnis ab – von seiner Exkursion in marginale gesellschaftliche Gefilde semantisch bereichert zurück. Als zugleich auf der Meta-Ebene reflektierte Beispiele im intermedialen Transferprozess gelungener Aneignung klassischer ‚grande littérature‘ eröffnen die Filme Honorés und Sauders dem akademischen Diskurs neue Perspektiven auf Klassik als lebendige kulturelle Praxis; der „belle mort“, die nur allzu oft des sakralisierten Klassikers harrt,83 leistet die Princesse de Clèves auch auf der Leinwand höchst erfolgreich kreativen Widerstand. || 80 Anne Tesson: Livret pédagogique. In: Begleitheft zu Régis Sauder: Nous, princesses de Clèves, o. S. 81 Gérard Langlade: Lectures cinématographiques comparées d’une œuvre patrimoniale (La Princesse de Clèves). In: Les Patrimoines littéraires à l’école. Usages et enjeux. Hg. von Sylviane Ahr und Nathalie Denizot. Namur 2013, S. 17–31, hier S. 30. 82 Judith Schlanger: La Mémoire des œuvres, S. 81, S. 69. 83 Marc Soriano: Guide de littérature pour la jeunesse, S. 121f.

Paula Wojcik

Les liaisons dangereuses go East Intermediale Adaptionen von Choderlos de Laclosʼ Klassiker in Korea, China und Japan Klassiker sind populäre Rezeptionsphänomene. Sie entstehen und bestehen nur in der kontinuierlichen Zirkulation innerhalb unterschiedlicher Medien und Kulturen, und sie sprengen dabei ihre eigenen ursprünglichen medialen und diskursiven Grenzen. Dass Klassiker von der sogenannten Hoch- in die Breitenkultur und ihre Medien ‚diffundieren‘, ist keine moderne oder gar postmoderne Erscheinung, sondern vielmehr ein konstitutives Merkmal. Der internationale Kulturtransfer ist ein Transgressionskriterium, das für den funktionalen Klassikbegriff notwendig ist: Gerade sogenannte Nationalklassiker bleiben nicht auf den eigenen nationalen Kulturkreis beschränkt, weil sie eine Repräsentationsfunktion erfüllen. Selbst also, wenn sie keine so weitreichende internationale Rezeption wie beispielsweise Shakespeare erfahren, werden nationalklassische Autoren oder Werke zu nationalkulturellen Aushängeschildern. Neben der Repräsentationsfunktion können klassische literarische Werke oder Stoffe einer Kultur in anderen Kulturen adaptiert werden. Dabei wechseln mit der Kultur häufig das Medium und die Zielgruppe, wodurch sich auch die Funktionen vermehren, die der Klassiker erfüllt. Es kann beispielsweise eine kulturvermittelnde (Focus auf die ‚andere‘ Kultur), didaktische (Fokus auf die normativ-inhaltlichen Aspekte) oder unterhaltende (Focus auf den Plot oder dessen Teile) Funktion intendiert werden. Eine Funktion, die insbesondere in den Postcolonial Studies in den Fokus rückte, ist die politische: die bewusste Aneignung eines für die Kolonialisatorenkultur stehenden Klassikers als Möglichkeit, aus der Position der (ehemals) Unterdrückten Handlungsmacht zu erlangen. Zu den Funktionen quer steht die Frage nach der Adaptierbarkeit des Klassikerstatus: Wird das Werk als Klassiker einer anderen Kultur durch entsprechende Markierung im Paratext bzw. begleitendes Marketing inszeniert oder wird nur die Handlung übernommen, ohne auf den Ursprung hinzuweisen? Wird also bewusst das kulturelle Kapital aufgerufen? Legt der Bekanntheitsgrad nahe, dass Markierungen nicht notwendig sind, um von ihm zu profitieren, oder liegt der Mehrwert des Stoffes außerhalb des kulturellen Kapitals als Klassiker? Und letztendlich müssen auch die Fragen angegangen werden, die die Adaption berücksichtigen: Welche Wechselwirkungen ergeben sich in der Interaktion mit dem Medium und der kulturell geprägten Medienästhetik und -geschichte? Berücksichtigen Untersuchungen zu Prozessen des https://doi.org/10.1515/9783110615760-025

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Kulturtransfers von Klassikern diese Parameter, können Kurzschlüsse vermieden werden, die jede Adaption in ehemaligen Kolonien zwangsläufig als politische Appropriation auslegen. Wenn im Folgenden der Fall asiatischer Rezeption des französischen Klassikers Les liaisons dangereuses im Film und Comic untersucht wird, so muss auch die vorausgehende Mediengeschichte des Stoffes in Europa und – für den Film ungleich bedeutender – den USA berücksichtigt werden. Insbesondere bei der nicht mit endgültiger Sicherheit zu beantwortenden und doch wichtigen Frage, warum der Stoff in unterschiedlichen populären Medien in Südkorea, China und Japan adaptiert wurde, muss man zumindest zunächst davon ausgehen, dass die Geschichte zahlreicher intrigengesteuerter Liebesmanöver, die bei der männlichen Figur Valmont zusammenlaufen, über ein hochkulturelles, literarisch spezialisiertes Milieu hinaus bekannt ist. Diese Bekanntheit wiederum verdankt sich der langjährigen Rezeptionsgeschichte, auf die sowohl der Roman als auch seine Adaptionen zurückblicken. Bereits bis zum Ausbruch der Französischen Revolution erschienen 16 Auflagen (30.000 Exemplare) des Briefromans, der in den 1820er Jahren wegen Verstoßes wider die Sitten allerdings verboten wurde. In Folge dieses Verbots wurde ihm (nachdem er erstmals 1913 in einer erotischen Reihe der Bibliothèque des Curieux herausgegeben wurde), erst in den 1930er Jahren Anerkennung von Seiten des seriösen Literaturbetriebes zuteil,1 die sich seitdem über dessen Grenzen hinaus in die populären Unterhaltungsmedien erweiterte: Seit dem Ende der 1950er Jahre existieren neun Kino- und Fernsehverfilmungen,2 unzählige Aufführungen der beiden wichtigsten Dramatisierungen von Christopher Hampton und Heiner Müller,3 Musical- und Ballettadaptionen, Rewritings und Fortführungen in Romanen weltweit.4

|| 1 Jean Giraudoux: Choderlos de Laclos. In: La Nouvelle Revue Française 231 (Dezember 1932), S. 854–870. Giraudoux bezeichnet Laclos in dem später als Nachwort veröffentlichten Artikel als einen verkannten Racine; André Malraux: Choderlos de Laclos. In: Tableau de la littérature française: XVIIe–XVIIIe siècles. Paris 1939, S. 417–428. 1959 als Vorwort zu Les liaisons dangereuses. Lausanne: Edition Rencontre und 1972 bei Paris: Gallimard wiederabgedruckt. 2 Les liaisons dangereuses (1959). Regie: Roger Vadim; Uiheomhan gwangye (1970). Regie: Young Nam Ko; Les Liaisons dangereuses (1980). Regie: Claude Barma; Dangerous Liaisons (1988). Regie: Stephen Frears; Valmont (1989). Regie: Miloš Forman; Cruel Intentions (1999). Regie: Roger Kumble; Fernsehfassung Gefährliche Liebschaften (2003). Regie: Josée Dayan; Untold Scandal (2003). Regie: E J-Yong; Dangerous Liaisons (2012). Regie: Hur Jin-ho. 3 Heiner Müller: Quartett. In: Ders.: Werke. Die Stücke 3. Hg. von Frank Hörnigk. Frankfurt am Main 2002, S. 43–66; Christopher Hampton: Les Liaisons dangereuses: A Play by Christopher Hampton from the Novel by Choderlos de Laclos. London 1989. 4 Hella Serafia Haasse: Een gevaarlijke verhouding of Daal-en-Bergse brieven. Amsterdam 1976; Christiane Baroche: L’hiver de Beauté. Paris 1987.

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Im Sinne des funktionalen und damit rezeptionsorientierten Klassikerbegriffs, der den in diesem Band versammelten Aufsätzen zugrunde liegt, lässt sich behaupten, dass der Klassikerstatus des Werks daran zu messen ist, dass der Stoff von Les liaisons dangereuses in verschiedenen historischen, kulturellen, sozialen wie ästhetischen Kontexten über eine längere Zeitspanne hinweg in unterschiedlichen Funktionen verwendet wurde. Selbst die Mehrzahl derjenigen, denen das literarische Werk unbekannt sein dürfte, hat unter Umständen eine der bekannteren Verfilmungen von Roger Vadim (1959), Stephen Frears (1988), Miloš Forman (1989) oder Roger Kumble (1999) gesehen, die Plakate, Video- oder DVD-Cover wahrgenommen, eines der beiden erfolgreichen Soundtrack-Alben zu den Verfilmungen von Frears und Kumble gehört bzw. deren Cover gesehen, eine Rezension zu Film, Theateradaption oder Broadwayaufführung gelesen, den als Wortspiel, Titel oder Bandnamen verwendeten Romantitel wahrgenommen.5 Aus dieser medial und materiell vielfältigen Präsenz, in der der Stoff auf das jeweilige Publikum aber auch in Wechselwirkung mit dem jeweiligen Medium und Material modelliert wird, speist sich das kulturelle Kapital der Liaisons weitaus stärker als aus der kanonischen Setzung des Werkes etwa als Schullektüre, wie dies etwa in Frankreich der Fall ist. Das wird insbesondere international deutlich: Den großen Bekanntheitsschub erfuhr das Werk mit der in Großbritannien und den USA produzierten Verfilmung von Stephen Frears, die eine internationale, mit dem Oscar für Drehbuch, Kostümdesign und Szenenbild gekrönte Anerkennung fand. Der nationale Kontext des Ursprungswerkes und sein Status innerhalb der französischen Kultur waren für diese Rezeption nicht unbedeutend, andererseits auch nicht ausschlaggebend. Die Rezension der Washington Post kommt beispielsweise gänzlich ohne Hinweis auf Nationalität, Original oder dessen Autor aus und bezeichnet die Verfilmung als „Christopher Hamptonʼs wig-and-powder

|| 5 Um nur für den deutschen Sprachraum einige zu nennen: Eine 1981 gegründete deutsche Elektroband nannte sich Liaisons Dangereuses; die Fernsehserie Doppelter Einsatz betitelte eine Folge mit „Gefährliche Liebschaft“; Der Tagesspiegel verwendet den Titel gerne als Artikelüberschrift. So am 15.8.2003: „Gefährliche Liebschaften. Neue Varianten des Computerwurms ‚Lovsan‘“, 16.10.2002: „Gefährliche Liebschaft. Lesen ist Schreiben: warum der Dichter und der Kritiker einander so ähnlich sind – und sich doch ständig streiten/Von Martin Walser“. Korpustreffer für „Gefährliche Liebschaften“, aus dem aggregierten Referenz- und Zeitungskorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache: https://www.dwds.de [abgerufen am 5.10.2017]. Gerne wird auch die Negation angewendet: Die TAZ rezensierte Stanley Kubricks Film Eyes Wide Shut am 4.9.1999 unter dem Titel „Ungefährliche Liebschaften: Venedig-Tagträume mit Stanley Kubrick und J. M.“: http://www.taz.de/Archiv-Suche/!1272527&s=&SuchRah men=Print/ [abgerufen am 5.10.2017].

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sado-comedy about sexual mind games in 18th-century France“6. Das Bezugswerk ist hier nicht der Briefroman aus dem 18. Jahrhundert, sondern die erfolgreiche, 1985 uraufgeführte Theater- und später Broadway-Adaption von Christopher Hampton, der auch das Drehbuch für Frearsʼ Verfilmung verantwortet hat. Wenn ich im Folgenden die Rezeption des Stoffes außerhalb des westlichen Kulturkreises untersuche, dann gehe ich davon aus, dass auch diese Adaptionen weitaus stärker das bestehende intermedial produzierte kulturelle Kapital aufgreifen als den national-kanonischen Status des Werkes. Als Schlüsselmoment dafür ist die Adaption von Stephen Frears zu sehen. Der internationale Erfolg von Frearsʼ Verfilmung kann für das Medium Film als Modellierungsmoment des Klassikers gesehen werden. Das bedeutet, dass die nachfolgenden filmischen Adaptionen sich implizit oder explizit an dieser Verfilmung orientieren, auch wenn sie beispielsweise bewusst an die zeitgleich erschienene und weitaus weniger beachtete Verfilmung von Miloš Forman anknüpfen. Die anhaltende Auseinandersetzung mit Frearsʼ Dangerous Liasions wird etwa an der Besetzungslogik deutlich: Frears hat mit der Besetzung von Glenn Close (Merteuil), John Malkovich (Valmont), Michelle Pfeiffer (Tourvel) sowie den 1988 noch verhältnismäßig wenig bekannten späteren Weltstars Uma Thurman (Cécile) und Keanu Reeves (Danceny) die Rollenbilder nachhaltig geprägt. Insbesondere gilt dies für die Hauptfiguren Close/Merteuil und Malkovich/Valmont. Das symbolische Kapital, das die beiden vielfach ausgezeichneten Schauspieler in diese Rollen eingebracht haben, wird in den nachfolgenden Verfilmungen adaptiert. So besetzt Roger Kumble diese Rollen in seiner Teenager-Variante Cruel Intentions mit den 1999 sehr bekannten und beliebten Jugendstars Sarah Michelle Geller und Ryan Phillipe, das Mme de Tourvel-Äquivalent, Annette Hargrove, wird von der ebenfalls bekannten Reese Witherspoon dargestellt. Innerhalb des Rezeptionsprozesses, der für den europäischen Raum bis 1999 von Kirsten von Hagen in ihrer Arbeit Intermediale Liebschaften. Mehrfachadaptionen von Choderlos de Laclosʼ Briefroman Les liaisons dangereuses7 umfassend aufgearbeitet und analysiert wurde, zeichnen sich – so die These des vorliegenden Artikels – stabile Merkmale ab, die im Hinblick auf die Zielgruppe von Adaption zu Adaption variieren. Dies ist insofern von Bedeutung, als hier der verhältnismäßig seltene Fall zu beobachten ist, in dem eine Plotstruktur, die in der

|| 6 Desson Howe: Dangerous Liaisions. In: Washington Post (13.1.1989): http://www.washing tonpost.com/wp-srv/style/longterm/movies/videos/dangerousliaisonsrhowe_a0b1d8.htm [abgerufen am 15.9.2017]. 7 Kirsten von Hagen: Intermediale Liebschaften. Mehrfachadaptionen von Choderlos de Laclosʼ Les Liaisons dangereuses. Tübingen 2002.

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reduziertesten Variante als Wette um die Verführung einer für ihre Tugend berühmten Frau beschreibbar ist, klassisch geworden ist. Die Verwendung und funktionale Anpassung an unterschiedliche Kontexte kommt ohne die Nennung des Autors und oftmals sogar ohne die Übernahme des Titels aus, wie beispielsweise Heiner Müllers Stück von 1981 schlicht Quartett heißt und Roger Kumbles Verfilmung als Teenager-Drama von 1999 Cruel Intentions. Die stabilen Merkmale erlangen mit der Zeit eine zunehmende Verengung und erhalten dadurch nahezu stereotypenhaften Charakter, gleichzeitig werden sie mit Blick auf die Zielgruppe verändert: Dazu gehört 1. der Komplex von Sexualität und Erotik, der bereits Laclosʼ Vorlage den Ruf einbrachte, ein Klassiker der erotischen Literatur zu sein. Dieser Komplex funktioniert zwar bis heute als Verkaufsargument und wird in den Adaptionen mit Blick auf die Zielgruppe forciert oder zurückgenommen; 2. die Liebesgeschichte mit unterschiedlich ausgeprägtem Bekehrungsmotiv. Dabei ist eine Romantisierung des Stoffes und damit einhergehende Fokussierung auf Valmont als tragische Figur zu beobachten; 3. das Setting in einem luxuriösen Ambiente (Interieur, Kostüme), das in unterschiedlichen Konstellationen die Invektive gegen die dekadente gehobene Gesellschaft der Vorlage spiegelt, umwertet oder nihiliert. Stabil ist auch 4. die Figurenkonstellation, wobei hier insbesondere die Darstellung der weiblichen Figuren Merteuil und Tourvel variiert. Sowohl ihre Rollen als auch ihr Schicksal erfahren je nach Adaption und Zielgruppe eine Veränderung. Ebenfalls entsprechend der jeweiligen kulturellen Verankerung variabel ist 5. der mediale Komplex. Die Vorlage etabliert eine verschachtelte Struktur des Briefromans, die mit dem naiven Umgang mit dem Medium, wie es etwa Richardsons Romane pflegten, bricht. Das Medium Brief wird im Roman anhand des Aspekts der Authentizität reflektiert und diese mediale Reflexion wird im Film bzw. Comic auf den jeweiligen Rezipientenkreis ausgerichtet aufgegriffen, dabei entweder nur zitiert oder in Interaktion mit dem neuen Medium produktiv gemacht. Es sind diese fünf Aspekte, die die Rezeption des Stoffes dominieren und zwar in so signifikanter Weise, dass die Wiedererkennbarkeit ohne weitere Markierungen funktioniert, selbst wenn Medium und Kulturkreis radikal wechseln. Ein solcher radikaler Wechsel soll im Folgenden anhand zweier Verfilmungen – der südkoreanischen Produktion Untold Scandal/Scandal – Joseon namnyeo sangyeoljisa (2003)8 und der südkoreanisch-chinesischen Koproduktion Dangerous Liaisions (2012) – sowie dem Manga-Comic Valmont (2010/2011) unter-

|| 8 Untold Scandal. Originaltitel: Scandal – Joseon namnyeo sangyeoljisa (Skandal – eine Liebesgeschichte einer Frau und eines Mannes in Chosun) (2003). Regie: E J-Yong.

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sucht werden. Dabei sollen Modellierungsmechanismen eines intermedial-interkulturellen Klassikertransfers herausgearbeitet werden, die jedoch – so die These – nicht notwendig oder gar ausschließlich von kulturellen Faktoren, Appropriationsabsichten oder subalternen Selbstermächtigungsgesten dominiert werden. Vielmehr ist Nationalkultur nur eines der Felder, auf dem die Anpassung an eine Bedarfs- bzw. Zielgruppe erfolgt. Lebensstilmilieu, Gender oder Alterskohorte sind weitere Faktoren, denen die Adaptionen auch in der transkulturellen Perspektive betrachtet folgen, ebenso wie die Spezifika des Adaptionsmediums eine eigene Relevanz besitzen.

1 Untold Scandal (Südkorea 2003) Die koreanische Produktion von 2003 gehört in das Genre des sogenannten wellmade-films und konnte einen beachtlichen Erfolg sowohl bei der Kritik als auch beim Publikum verzeichnen. Die Zuordnung zum Genre weist bereits auf die Zielgruppe hin, weil hier eine Brückenfunktion der Adaption zwischen der sogenannten Hoch- und Unterhaltungskultur realisiert wird. Als „well-made“ werden Produktionen bezeichnet, die sowohl kommerziell erfolgreich sind als auch einen Kunstanspruch transportieren.9 Das Genre grenzt sich damit zu einer Seite von dem negativ konnotierten Phänomen des Blockbusters als eines rein kommerziellen Produkts ab,10 zur anderen von dem als kommerziell uninteressiert deklarierten des Arthouse-Kino.11 Im Kostümfilm Untold Scandal des Regisseurs E J-Yong (auch als Lee Je-yong romanisiert), der mit über drei Millionen12 Zuschauern und in den ersten 10 Tagen eingespielten 11 Millionen Dollar13 einer der erfolgreichsten Filme des Jahres war, wird der Plot aus Les liaisions dangereuses in die Zeit der Chosun-Dynastie, genauer in die auf das Ende des 18. Jahrhunderts fallende Regierungszeit des 22. Königs der Dynastie, Chŏngjo, überführt. Dies erregte insofern Aufsehen, als das Genre des historischen Dramas, sagŭk, zwar eine lange koreanische Kinoge-

|| 9 Vgl. Jinhee Choi: The South Korean Film Renaissance. Local Hitmakers – Global Provocateurs. Middletown, Connecticut 2010, S. 13. 10 Vgl. Korean Cinema from Origins to Renaissance. Hg. von Kim Mee hyun. Seoul 2007, S. 385f. 11 Nach Jinhee Choi wurde das Genre gezielt von der koreanischen Filmindustrie und dem sie umgebenden Diskurs lanciert, um Filme mit mittlerem Budget und künstlerischem Anspruch dem breiteren Publikum zuzuführen. Jinhee Choi: South Korean Film Renaissance, S. 144. 12 Angabe auf DVD, andere Quellen sprechen von über zwei Millionen Zuschauern. 13 Jinhee Choi: South Korean Film Renaissance, S. 150.

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schichte besitzt und in den – als goldenes Kinozeitalter verstandenen – 1960er Jahren wurzelt, jedoch vor dem Erfolg von Untold Scandal als kommerziell verbrannt galt und erst danach einen neuen Boom erlebte. Mit dem Historiendrama wechselt im Unterschied zu etwa Roger Vadims Inszenierung im französischen Diplomatenmilieu der 1960er Jahre oder Kumbles New York der späten 1990er Jahre nicht der zeitliche, sondern lediglich der kulturelle Kontext. Das historische Setting ermöglicht in Untold Scandal wie auch schon in Dangerous Liaisions von Frears oder Valmont von Forman eine farbenprächtige Inszenierung der vergangenen Dekadenz einer gehobenen Klasse. Auffällig ist dabei insbesondere die Dissonanz zwisc hen dem koreanischen Ambiente mit den historischen Kostümen (hanbok) und dem europäisch barocken von Lee Byeoung-Woo komponierten Soundtrack. Auf diese Weise wird mit dem Film ein transkultureller Raum geschaffen, in dem westliche und koreanische Kultur und Geschichte unauffällig interagieren und eine kulturhybride Einheit bilden.

Abb. 1: Verführung Céciles/Lee So-oks. Untold Scandal (2003). Regie: E J-Yong, TC: 1:05:46.

Abb. 2: Parallelszene in: Valmont (1989). Regie: Miloš Formans, TC: 1:14:27.

Ähnlich wie die Besetzung von John Malkovich oder Ryan Philipe als Valmont erregte auch die Besetzung der koreanischen Valmont-Figur, Jo-won, mit dem populären Fernsehschauspieler Bae Yong-joon Aufmerksamkeit.14 Im Unterschied zu den vielfach negativen Kritiken, die Malkovich oder Philipe für ihre Darstellung ernteten, wurde der Rollenfachwechsel von Bae Yong-joon – als einem der prägenden Gesichter der asienumfassenden massenmedialen koreanischen Welle (Hallyu)15 – in das Fach des anspruchsvollen Kinos positiv aufge-

|| 14 Jinhee Choi: South Korean Film Renaissance, S. 147. 15 Mit dem Ausdruck „koreanische Welle“ (Hallyu) ist die immense Popularität koreanischer Unterhaltungsprodukte (vor allem Fernsehdramen, Popmusik später auch Comics und Computerspiele) gemeint. Hallyu breitete sich seit Mitte 1990er Jahre von Taiwan und Vietnam nach China, Hong Kong und Thailand schließlich auch Japan aus. Vgl. Ulf C. Lepelmeier: Filmnation

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nommen und vielfach ausgezeichnet.16 Dass für die Beurteilung der Rollenumsetzung der kulturelle Status des Schauspielers vor allem innerhalb der koreanischen populären Kultur von Bedeutung war, zeigt sich daran, dass seiner Darbietung in der internationalen Rezeption keine besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde. Für das Marketing des Films werden offensiv Ruchlosigkeit und Erotik des Stoffes ins Feld geführt. So ist im Trailer eine Stimme aus dem Off zu hören, die auch im Film an Stelle der Herausgeberfiktion der Vorlage tritt: „Der Mann und die Frau, die in dieser Geschichte vorkommen, sind über die Grenze des Vorstellbaren hinaus lüstern und unmoralisch.“ Dem entsprechen die ersten aufeinanderfolgenden Bilder: Ein Buch voller gezeichneter Erotika, eine Szene, in der ein Paar beim Geschlechtsakt gezeigt wird, ein voller, weiblicher Mund, der blutrot geschminkt wird. Anschließend werden die beiden Hauptdarsteller als „der beste Playboy in Chosun“ und „die beste Verführerin von Chosun“ vorgestellt.17 Die erotischen Szenen verweisen teilweise auf die beiden U.S.-amerikanischen Adaptionen von Stephen Frears und Miloš Forman. So wird in einer der pikantesten Szenen, der an eine Vergewaltigung grenzenden Verführung der jungfräulichen Cécile, hier die Figur Lee So-ok (Abb. 1), explizit Formans Valmont (Abb. 2) zitiert, eine insgesamt heitere Inszenierung, in der die Figuren bei aller Verschlagenheit geradezu liebevoll gezeichnet werden: In beiden Szenen diktiert Valmont der auf dem Bauch liegenden Cécile einen Brief an Danceny und nutzt die Gunst der Stunde, um ihr Hinterteil zu entblößen und anschließend den sexuellen Akt einzuleiten. Gleichzeitig gehört (auch durchaus sehr explizite) Erotik – genauso wie die Kostümfilmtradition – zum koreanischen Filmrepertoire seit den 1960er Jahren.18 Im diesem Sinne ist die Betonung des Erotischen in Verschränkung mit historischem Kostümfilm nicht nur Verkaufsargument, sondern auch eine Geste der

|| Südkorea. Der künstlerische und kommerzielle Erfolg des „New Korean Cinema“. Münster 2016, S. 190–193. Inzwischen steht der Begriff nicht nur für die Ausbreitung und Popularität des koreanischen Kinos über Asien hinaus, sondern auch für dessen Professionalität und marktwirtschaftliche Bedeutung, was mit dem Neologismus „Hallyuwood“ markiert wird. Vgl. Brian Yecies und Aegung Shim: The Changing Face of Korean Cinema. 1960–2015. New York, London 2016, S. 256–258. 16 Nominierungen oder Auszeichnungen in der Kategorie Best Actor oder Best New Actor bei den koreanischen Blue Dragon Film Awards, Baeksang Film Awards und den altehrwürdigen Grand Bell Awards. 17 Untold Scandal (2003). Regie: E J-Yong, Trailer 0:0:10–0:0:26. 18 Vgl. Kim Mee hyun: Korean cinema, S. 185–187 und das Kapitel „Weapons of Mass Distraction: The Erotic Film Genres of the 1970s and 1980s“. In: Brian Yecies und Aegung Shim: The Changing Face of Korean Cinema, S. 141–153.

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Selbstverortung durch Bezugnahme auf die klassische, sogenannte goldene Epoche des nationalen Kinos in den 1960er Jahren. Gerade im Hinblick auf die Erotik lassen sich aber auch weitere Referenzen auf die europäische Kultur finden. Dazu gehört eine der ersten Szenen, in der Valmont/Jo-won eine erotische Zeichnung seiner Liebesgespielin anfertigt (0:02:03-0:02:45). Die Pose der – vermutlich – Prostituierten zitiert Édouard Manets skandalumwobenes Gemälde Olympia von 1863.19 Transferiert aus dem kissenbedeckten Bett auf eine karge koreanische Liege sehen wir im Film wie im Gemälde eine selbstbewusst dreinblickende und in ihrer Nacktheit geradezu lässig halb liegende, halb sitzende Frau. Auch Laclosʼ Figurenzeichnung und -konstellation werden kulturhistorisch adaptiert, etwa dort, wo das gesellschaftlich geltende Frauenbild nicht durch christliche, sondern durch konfuzianische Dogmen, die in der Zeit besonders strenge Geschlechterregeln vorsahen, begründet wird. Der Katholizismus wird jedoch nicht schlicht ersetzt, sondern bekommt einen eignen Platz in der Narration. Ganz wie in der literarischen Vorlage ist auch hier das Tourvel-Pendant, Lady Sook, bekennende Katholikin. Damit wird aber nicht etwa eine scharfe Religionsaxiologie Konfuzianismus-Katholizismus etabliert, sondern vielmehr der historische Kontext der Katholikenverfolgung in Korea eingeflochten, was zu einer entscheidenden Abwandlung führt: Merteuil/Cho verrät aus Eifersucht die glühende Katholikin Tourvel/Sook an die Obrigkeit. Die darauffolgende Zurückweisung Tourvels/Sooks durch Valmont/Jo-Won wird auf diese Weise zumindest teilweise als Rettungsversuch ausgelegt und passt zum romantischen Bekehrungsplot. Gleichzeitig wird mit den Katholiken dem Adel ein nach anderen Regeln funktionierendes Milieu gegenübergestellt, was durch Kostüme und Ausstattung signalisiert wird: Tritt Merteuil/Cho durchgehend in farbenprächtige Roben gewandet und aufwendig frisiert auf (Abb. 4), zieren Tourvel/Sook ein schlichtes, farbloses Gewand und ein ebenso schlichter Zopf (Abb. 3), in der Öffentlichkeit versteckt sie sich gar vollständig unter einem Mantel. Die Szenen, in denen Merteuil/Cho auftritt, werden von einer großformatigen Einstellung auf die sie umgebende materielle Kultur begleitet, während Tourvel/Sook hauptsächlich in der Natur, Kirche, Bibliothek oder bei der aufopfernden Krankenpflege gezeigt wird. Auch wird Sook ein Schwager an die Seite gestellt, der – ebenfalls Katholik – ihre Ehre beschützt und Valmont/Jo-won tötet. Auf diese Weise wird der Katholizismus in Fragen der Keuschheit und Tugendpflege geradezu überzeichnet. Dies auch, weil Tourvels/Sooks Ehemann nicht nur – wie in der Vorlage – abwesend, sondern bereits vor Jahren, sogar noch vor dem Vollzug

|| 19 Vgl. Hye Seung chung und David Scott Diffrient: Movie Migrations. Transnational Genre Flow and South Korean Cinema. New Brunswick 2015, S. 131.

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der Ehe, verstorben ist. Ihre Keuschheit erscheint damit ungleich größer als die der immerhin ehebrecherischen Marie de Tourvel im Roman, Valmonts/Jo-wons Frevel wird durch die Verführung einer Jungfrau ebenso gesteigert.

Abb. 3: Valmont/Jo-won und Tourvel/ Sook. Untold Scandal (2003). Regie: E J-Yong, TC: 1:42:59.

Abb. 4: Valmont/Jo-won und Merteuil/Cho. Untold Scandal (2003). Regie: E J-Yong, TC: 0:22:34.

Das Verhalten der Figur Merteuil/Cho wird durch Eifersucht motiviert und auf diese Weise in ein stereotypes Frauenbild zurückgeführt. Zwar ist sie belesen und Kennerin der Militärgeschichte, wie es im Film ausdrücklich formuliert wird, doch bleibt ihr eine frei gewählte libertine Lebensweise als einzige Handlungsmotivation versagt: Ihr Komplott zur Entjungferung Céciles/Soh-oks wird als Rache an ihrem noch lebenden Ehemann geschmiedet, der sich die unschuldige Jungfer als Konkubine nehmen will. Auch das Verhältnis zu ihrem Cousin Valmont/Jo-won ist durch Liebe motiviert, ihre strategischen Züge werden so in eine romantische Liebeskonzeption integriert. Und letztendlich wird auch die Figur insgesamt in moralische Normvorstellungen reintegriert, die sich im konfuzianisch geprägten Südkorea nicht von den christlich-westlichen des 18. Jahrhunderts zu unterscheiden scheinen. Als Merteuil/Cho gesellschaftlich bloßgestellt vor einem durch die obersten Gelehrten in Auftrag gegebenen Ehrenmord fliehen muss, gleicht sie in ihrer Aufmachung der keuschen Sook: Von prächtiger Frisur, Schminke und Kleidung ist keine Spur mehr zu sehen. Auf einem ärmlichen Boot hockend öffnet sie ein Taschentuch, in dem sich Jasminblüten befinden – das Überbleibsel eines Blumengeschenks von Jo-Won. Hier werden ihre Liebesmanöver eindeutig als Tarnung für eine authentisch-romantische Liebe entlarvt. Einen der modellbildenden Aspekte bildet die Reflexion der Mediendifferenz in Wechselwirkung mit dem Aspekt der Authentizität. Erstere wird zwar inszeniert, bleibt als Problemfeld jedoch aus. Eine Szene, die der wohl bekanntesten aus Frears Verfilmung entspräche, in der Valmont einen glühenden Liebesbrief an Marie de Tourvel auf dem Rücken der Kurtisane verfasst, fehlt. Das Briefe-

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schreiben dient vor allem der kulturellen Verortung, indem Kaligraphie als historische kulturelle Praxis in Szene gesetzt wird. Auch ein neu eingeführtes Medium, die von Valmont/Jo-won gezeichneten traditionellen Erotica (chunhwa), in denen er seine Eroberungen festhält, führen zwar zur Demaskierung der Verführer, bekommen jedoch keinen eigenen reflexiven Raum. Die Zeichnungen sind vielmehr als Ergebnis der medialen Interaktion zwischen literarischer Vorlage und dem Bildlichkeitsanspruch des filmischen Mediums zu sehen. Die kaum vorhandene Inszenierung der Authentizitätsthematik führt dazu, dass Untold Scandal wie auch schon der Teenager-Film Cruel Intentions die Vorlage auf einen romantischen Plot hin modelliert. Während der Roman durch die Briefform immer nur intentional ausgerichtete Aussagen der Figur Valmont ‚wiedergibt‘, über deren Status als Ausdruck einer seelischen Verfasstheit der Leser sich nur vorsichtig ein Urteil machen kann, inszeniert der Film die Diskrepanz von Gesagtem und Handlung, sodass die Deutung, ob die Figur Valmont authentisch ist, performativ gesetzt wird. Wenn Valmont/Jo-Won also mit Tourvel/Sook einträchtig am Strand spaziert, dann sind es nicht nur Worte, die seine Zuneigung ausdrücken. Auch der Tonfall, in dem sie gesagt werden, die Mimik und Körperhaltung, die sie unterstützen – all das weist darauf hin, dass wir es mit einem wahrhaft Verliebten zu tun haben. Das wird auch strukturell umgesetzt, indem Valmont/Jowon nicht eindeutig der Sphäre von Merteuil/Cho zugeordnet wird: Die bei Frears parallel inszenierten Ankleiderituale von Merteuil und Valmont finden in Es Verfilmung keine Entsprechung. Nachdem die Ankleidezeremonie von Madame Jo ausführlich dargeboten wurde, zeigt sich nach einem radikalen Schnitt Valmont/Jo-won beim morgendlichen Schwerttraining. Der wesentliche Unterschied zwischen der Romanvorlage und der südkoreanischen Verfilmung liegt darin, dass Valmonts/Jo-wons Tod nicht als freiwillig inszeniert wird. Dadurch rückt die Liebesgeschichte mit dem Bekehrungsmotiv noch stärker in den Vordergrund: Valmont/Jo-won erkennt, dass er das authentische Gefühl für Tourvel/Sook nicht verdrängen kann. Die Tragik wird von der Figur, die im Roman erkennt, wie gefangen sie in ihrer Lebensweise ist, auf die äußere Handlung verschoben. Der Charakter wird dadurch weniger komplex, die Liebesgeschichte mit tragischem Ausgang lässt nichts offen. Eine solche Ausdeutung der Charaktere findet sich ähnlich in Roger Kumbles Cruel Intentions: Mit Blick auf eine breite Zielgruppe insbesondere junger Heranwachsender wurde die Story ebenfalls auf eine tragische Liebesgeschichte mit Bekehrungsmotiv zugespitzt. Dort wird Sebastian Valmont von einem Auto überfahren, weil er seine Geliebte Tourvel/Anette Hargrove vor dem Tod bewahren will. In Untold Scandal wird Valmont/Jo-won im Kampf hinterrücks erstochen und letztlich rehabilitiert. Sterbend verlangt er danach,

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seine verschmähte Geliebte zu sehen, und wird von seinem Diener zu ihr gebracht. Die Einstellungen von Valmont/Jo-won und Tourvel/Sook sind analog konzipiert: Wir sehen Jo-won in einer weitläufigen Landschaft – derselben, in der die Einstellungen der beiden Liebenden in glücklichen Zeiten zu sehen waren. Er stirbt am nebelverhangenen Strand, ohne seine Geliebte wiedergesehen zu haben. Und in ebendieser Landschaft findet auch Sook ihr Ende, indem sie – nun in einer Winterlandschaft – über das zugefrorene Gewässer hinausläuft, einbricht und ertrinkt. Das auf Erden unmögliche Happy End der Liebenden wird hier mit einer explizit von Sook aus dem Off formulierten transzendentalen Hoffnung kompensiert. Einerseits kann dies als eine kulturspezifische Aneignung gewertet werden, weil das zur Kolonialisationszeit aus Japan importierte (Liebes)Melodram – shinpa – in der koreanischen Theater- und Filmgeschichte eines der beliebtesten Genres darstellt.20 Gleichzeitig – die Parallele zur HollywoodProduktion von Kumble macht dies deutlich – ist die Fokussierung auf die melodramatische Liebesgeschichte ein Zugeständnis an das breite Publikum. Der Spagat zwischen künstlerisch anspruchsvoller Literaturadaption und kommerziell ausgerichtetem Liebesmelodram, der Untold Scandal, wenn man Festival-Auszeichnungen und den überraschenden Kinokassen-Erfolg als Indikatoren nimmt, offenbar gelungen ist, ist damit nicht ausschließlich ein Ausweis des Kulturtransfers und auch nicht des Bestrebens im Sinne postkolonial argumentierender Positionen den Stoff zu ‚entwestlichen‘ („de-westernizing“).21 Vielmehr kommt es im Fall der südkoreanischen Adaption des klassischen Stoffes von Les liaisons dangereuses zu einer Vermischung funktional an Kinoästhetik, Kulturgeschichte und Marktgesetzen ausgerichteten Adaptionsvorgängen. Dass diese kennzeichnend für den Prozess der Klassik sind, möchte ich an zwei weiteren Beispielen verdeutlichen.

2 Dangerous Liaisions (China 2012) In der chinesisch-koreanischen Verfilmung von 2012 wird als Setting das Shanghai der 1930er Jahre mit dem chinesisch-japanischen Krieg im Hintergrund gewählt. Auch diese 24-Millionen-Dollar-Produktion wartet mit einer Starbesetzung auf. Der Valmont/Xie Yifan-Darsteller, Jang Don-gun, gehört zu den bestbezahl-

|| 20 Das gilt bis heute und es gehört deshalb zu den Kennzeichen des koreanischen Kinos, dass es kaum Happy Ends gibt. Vgl. Kim Mee hyun: Korean Cinema, S. 385. 21 Davon sprechen Hye Seung chung und David Scott Diffrient: Movie Migrations 2015, S. 125.

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ten südkoreanischen Schauspielern, die Merteuil/Mo Jieyu spielende Cecilia Cheung zu den bekanntesten Schauspielerinnen Hong Kongs. Und auch die Darstellerin von Tourvel/Du Fanyu, Zhang Ziyi, gilt als eine der bestbezahlten chinesischen Schauspielerinnen, der mit Filmen wie Hero (2002) oder Memoirs of a Geisha (2005) auch internationale Anerkennung zuteilwurde. Die Regie übernahm der Koreaner Hur Jin-Ho. Bereits diese Zusammenstellung von Cast und Regie kann als Indiz für einen transkulturellen, in jedem Fall aber panasiatischen Rezeptionsanspruch gesehen werden, worauf auch die Premiere auf dem Filmfestival in Cannes und eine Aufführung in Toronto hindeuten. Abgesehen davon hat die Adaption zwar keine mit Untold Scandal zu vergleichende Resonanz seitens der Kritik gefunden,22 doch neben der Besetzung verweist auch die mise-en-scène darauf, dass hier versucht wurde, im Sinne eines vor allem US-amerikanisch-chinesischen Filmtransfers zu produzieren:23 In einem durch aufwendige Animationen (re)konstruierten Shanghai der 1930er Jahre angesiedelt, ruft der Film zum einen die internationale Atmosphäre der Zeit auf, indem er westliche und chinesische Elemente in Architektur, Interieur, Kostümen und Sprache (Anglizismen) vermischt (Abb. 5).

Abb. 5: Dangerous Liaisons (2012). Regie: Hur Jin-ho, TC: 0:07:10.

|| 22 Eine der wenigen internationalen Rezensionen erschien in der New York Times, die jedoch kaum anerkennende Worte für den Kunstwert der Verfilmung findet: http://www.nytimes.com/ 2012/11/09/movies/dangerous-liaisons-directed-by-hur-jin-ho.html [abgerufen am 6.10.2017]. 23 Der beidseitige Transfer ist für das chinesische Kino seit den 1980er Jahren, seit mit dem Tod Mao Zedongs die Autonomie der Filmstudios größer wurde, zunehmend bedeutender geworden. Vgl. Dimitris Eleftheriotis: Cross-Cultural Criticism and Chinese Cinema. In: Ders. und Gary Needham: Asian Cinemas. A Reader and Guide. Edinburgh 2006, S. 148–155, hier S. 149.

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Insbesondere wird das Bestreben deutlich, im ‚Paris des Orients‘ die westliche und chinesische Kultur durch die Musik zu einem kulturellen Third Space zu stilisieren: Jazz, Blues, Haydn, Rubinstein, Léhars Operette Die lustige Witwe und hawaiianische traditionals werden gleichrangig mit traditioneller chinesischer Musik, die insbesondere durch die Instrumente Erhu und Yuequin repräsentiert wird, chinesischem Pop und einer Aufführung der chinesischen Oper eingebracht. Zugleich wird mit einem stärker national orientierten Fokus die chinesisch-japanische Problematik aufgegriffen, die bis heute als politisch inszeniertes Trauma eine chinesische Opfererzählung begründet. Die politische Dimension spielt überhaupt eine weitaus wichtigere Rolle als in Frearsʼ Adaption oder Laclosʼ Vorlage, wobei sie auch hier nur eine Folie für die Liebesgeschichte bildet. Während der Aufführung der oben erwähnten chinesischen Oper, bei der patriotische Inhalte angesprochen werden, eskaliert die Situation plötzlich, weil ein Flugblätter verteilender Student agitatorisch zum Kampf um die Wiedererlan gung des Landes (womit auf die Annexion der Mandschurei durch Japan angespielt wird) aufruft. Tourvel/Du Fenyu erkennt in ihm einen Studenten ihres – auch hier verstorbenen – Mannes. Die Szene bildet das Pendent zu Valmonts geschickt inszenierter finanzieller Generosität gegenüber der Bauernfamilie im Roman. Hier wird die Handlung der Vorlage drastisch verkürzt: Valmont/Xie Yifan bekommt die Möglichkeit, sich vor seiner Auserwählten zu profilieren, auf dem Silbertablett serviert, indem er den von Tourvel/Du Fenyu in der Loge versteckten Studenten nicht verrät. Diese politische Dimension profiliert insbesondere die Figur Tourvel/De Fenyu, deren Patriotismus ihre Tugendhaftigkeit bekräftigen soll. Standhaftigkeit, Treue, Patriotismus und Traditionsbewusstsein werden zu den sie auszeichnenden Eigenschaften, die Religionsfrage wird demgegenüber unberührt gelassen. Daran schließt sich die Genderkonstellation an: Während Tourvels/Du Fenyus nationale Gesinnung im Einklang mit dem Frauenbild des chinesischen Kinos steht, wirkt Valmon/Xie Yifan geradezu als Gegenentwurf des konfuzianisch geprägten Männerbildes, das, obwohl als feudal denunziert, bis heute als „mythic symbol […] of national identity, ideal masculine behavior, and institutional governance“24 existiert. Als einzelgängerischer und egoistischer Bonvivant inszeniert, folgt seine Figur gerade nicht dem Mythos männlicher, zum Wohle der Nation agierender Gemeinschaft. Seine Männlichkeit wird auf die Libido reduziert, die im Film jedoch keinen eigenen Raum bekommt, sondern performativ nihiliert wird, weil die Erotik nahezu gänzlich ungezeigt bleibt. Die einzige Szene, in der Valmont/Xie Yifan seinen Preis

|| 24 Chris Berry und Mary Farquhar: China on Screen. Cinema and the Nation. New York 2006, S. 136.

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einfordernd geradezu raubtierhaft sexuelle Absichten demonstriert, ist sein Opfer die entgegen den Kinokonventionen ebenso raubtierhaft-männlich besetzte Merteuil/Mo, die sich auch in dieser Situation überlegen zeigt (1:26:09–1:29:00). Diese wird als Gegenfigur Tourvels/Du Fenyus inszeniert, doch ihre aus der Romanvorlage bekannte Negativzeichnung wird hier zurückgenommen. In der Tradition der westeuropäischen Deutungen Merteuils als feministische Ikone ist die Merteuil-Figur im Shanghai der 1930er Jahre finanziell emanzipiert und zum ersten Mal in der Verfilmungsgeschichte berufstätig – als erfolgreiche Unternehmerin. Im Unterschied zur Vorlage, wird ihre Strafe ausschließlich internalisiert. Nach Valmonts/Xie Yifans Tod, wird ihr ein maßgeschneidertes Kleid geliefert, für das er noch zu Lebzeiten den Stoff ausgesucht hat. Anstatt also ausgestoßen, ruiniert und verunstaltet zu werden, wird eine Transformation Merteuil/Mos inszeniert, die das symbolisch weiße Kleid tragend hysterisch um Xie Yifan trauert. Dadurch offenbart sich ihr maskulin-kalkulierender Habitus als Fassade, die abbröckelnd eine Reintegration in das als wünschenswerte Norm präsentierte Frauenbild bedeutet (1:38:40–1:40:33). Dieses verkörpert Tourvel/Du Fenyu nicht nur mit ihrer Standhaftigkeit, sondern auch ihrer sozialen Aufopferung. Bemerkenswert ist die kulturelle Rückbindung dieser Werte: Als Valmont/Xie Yifin die lesende Tourvel/Du Fenyu (selbstredend züchtig gekleidet) an einem Pool überrascht, zeigt sich, dass die Lektüre Rousseaus Émile ou De lʼéducation (0:47:29) ist, ein Geschenk von Fenyus verstorbenem Mann. Es bleibt zunächst unklar, warum sich der Regisseur ausgerechnet für das Erziehungsbuch entschieden hat und nicht für die dem Roman als Motto vorangestellte Nouvelle Héloïse. Dass Valmont/Xie Yinfan das Buch mit der Aufforderung, sich endlich von der Vergangenheit zu befreien, ins Wasser wirft, könnte als eine Absage an die passive Frauenrolle bedeuten, wenn nicht die Filmstruktur genau diese als die letztendlich überlegenere zeigte. Nach Xie Yinfans – wiederum nicht freigewähltem – Tod findet Fenyou Erfüllung als Lehrerin auf dem Lande (1:40:45–1:41:50). Hier wird also Aufschluss über die Lektürewahl nachgeliefert, die sich zugleich mit dem im chinesischen Kino gängigen Frauenbild der „good daugther of the Nation“25 kompatibel zeigt. Die Tatsache, dass Fenyu ihren Frieden mit der Vergangenheit machen konnte, wird darüber hinaus darauf zurückgeführt, dass sie sich mit Valmont/Xi Yinfan aussöhnen konnte, als dieser in ihren Armen verstarb (1:37:03– 1:37:58). Insgesamt werden also Ambivalenzen, die die Figuren betreffen, auch in dieser Verfilmung ausgedeutet und es wird erneut eine Geschichte der moralischen Reintegration des durch Liebe bekehrten Valmont und der um ihre Liebe

|| 25 Ebd., S. 113.

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trauernden Merteuil erzählt. Moralisch vollkommen aus dem System herausgleitende Figuren, wie es Merteuil und Valmont in der literarischen Vorlage bis zum Schluss sind, kennt diese Verfilmung nicht. Erotik, die für Untold Scandal noch eine wichtige Säule – auch der Vermarktung – war, wird verharmlost, wodurch die tragische Dreiecks- als Liebesgeschichte noch stärker in den Mittelpunkt gerät. So bleibt die Verführung Céciles vollkommen implizit, wird nur im Nachhinein thematisiert, wodurch die männliche Hauptfigur wesentlich sympathischer wirkt. Die Frage von Medium und Authentizität wird nicht eigens aufgegriffen, nur als Filmzitat der bereits oben erwähnten Szenen aus Frearsʼ Dangerous Liaisons integriert, in der Valmont einen Brief an Marie de Tourvel auf dem nackten Rücken einer Liebesgespielin verfasst (Abb. 6). Während Frears genau anhand dieser Szene die medieneigene Authentizitätsproblematik auszustellen weiß (Abb. 7), indem er ihr eine folgen lässt, in der Tourvel sichtlich erschüttert den Brief als wahrhaftiges Bekenntnis liest, nutzt Hur sie, um die sich anbahnende Wandlung zu markieren. Die Überblendung zur Kontrastszene, die Tourvel/Du Fenyu über die Felder streifend zeigt, erfolgt mit einem vom Seufzer begleiteten sehnsüchtigen Blick Valmonts/ Xi Yinfans, der seine gerade geschriebenen Worte viel authentischer erscheinen lässt als die des scherzenden und sich dem Liebesspiel zuwendenden Valmont aus Frearsʼ Dangerous Liaisons. Mit dieser Zuspitzung auf die Liebesgeschichte werden Normabweichungen beseitigt, was insgesamt auf die Ausrichtung am Hollywood-Standard hinweist, in dem das Primat immer noch die romantische Liebeskonzeption besitzt. Die langjährige Dominanz des Hollywood-Films in Asien hat nicht nur inhaltliche und ästhetische Spuren hinterlassen, sondern auch hinsichtlich des Reichweitenanspruchs. Die Produktionskosten von Dangerous Liasions übersteigen die von Untold Scandal um ein Vielfaches, was mit der Starbesetzung zusammengenommen als Indikator dafür gelten kann, dass hier ein wesentlich breiteres Publikum angesprochen werden sollte.

Abb. 6: Dangerous Liaisons (2012). Regie: Hur Jin-ho, TC: 0:52:18.

Abb. 7: Dangerous Liaisons (1988). Regie: Stephen Frears, TC: 0:31:09.

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Die langjährige Dominanz des Hollywood-Films in Asien hat nicht nur inhaltliche Spuren hinterlassen, sie schlägt sich auch im Reichweitenanspruch nieder. Der Unterschied zwischen den beiden Produktionen ist auch an der Machart deutlich erkennbar: Während in Untold Scandal mit teilweise ungewöhnlich langen Einstellungen gearbeitet wird, beträgt der Szenenlänge zwischen zwei Schnitten in Dangerous Liaision ganz nach neuerem Hollywood-Maßstab im Durchschnitt drei bis maximal sechs Sekunden. Die eindeutige Markierung des Films durch den Klassiker-Titel rekurriert deshalb wohl auch bewusst auf den erfolgreichen Vorläufer aus den USA. Zur Orientierung am Hollywood-Kino passt auch der geradezu prüde Umgang mit der Erotik, die vornehmlich thematisiert und kaum gezeigt wird. Bereits in Untold Scandal ist die Erotik gezähmt, indem sie nicht mehr nur Kriegsschauplatz, sondern durch Liebe motiviert ist, doch wird sie dort sehr bewusst ästhetisiert. Eine breiter avisierte Zielgruppe hat zur Folge, dass auf der inhaltlichen und ästhetischen Ebene ein möglichst großer Konsens nach Hollywood-Vorbild hergestellt wird, weshalb von der literarischen Konstellation nur ganz allgemein das Dreiecksgefüge, die Differenz in der Ausgestaltung der weiblichen Figuren und die Wette bleiben. Die ästhetischen und zielgruppenspezifischen Merkmale sind ein transkulturelles Phänomen, das sich deutlich stärker durch die aus dem Hollywood-Kino übernommenen Normen filmischer Poetik26 denn durch kulturelle Eigenheiten speist. Vielmehr ist die nationalkulturelle Modellierung des Laclosʼschen Stoffes durch Geschichts- und Kulturverweis, genderspezifische Darstellungskonventionen in Dangerous Liaisions (2012) ebenfalls Ausweis einer transkulturellen Praxis der Klassik.

3 Chiho Saitōs Manga-Comic Valmont. Gefährliche Liebschaften Im Hinblick auf Rezeptionsprozesse ist das Nachwort des zweibändigen MangaComics von Chiho Saitō aus den Jahren 2010 und 2011 interessant, weil die Autorin dort selbst auf die reiche intermediale Rezeption des Stoffes verweist, die sie für ihre Adaption studiert habe. „Ich beschloss“, resümiert sie ihre Studien, „mich einfach meiner eigenen Phantasie zu bedienen und gab Valmont den

|| 26 Zur ästhetischen Ausrichtung des chinesischen Kinos vgl. David Bordwell: Transcultural Spaces. Towards a Poetics of Chinese Film. In: Chinese Language Film. Historiography, Poetics, Politics. Hg. von Sheldons H. Lu und Emilie Yueh-yu Yeh. Honolulu 2005, S. 141–162.

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Vornamen Tristan – einer der Helden in Wagners klassischer Oper“27. Die paratextuelle Geste der Selbstverortung rekurriert über das Medium des MangaComics hinaus auf die europäische Kultur, was offenbar die individuelle Aneignung im populärkulturellen Medium autorisieren soll. Die Zeichnerin Chiho Saitō war als Mitglied des Mangakollektivs Be-Papas und Zeichnerin der Serie Utena. A revolutionary Girl (seit 1996 in der Zeitschrift Ciao veröffentlicht) an der Erneuerung des shōjo-Genres beteiligt, des sogenannten MädchenMangas, das bereits in den 1920er Jahren entstand und sich über naive Liebesszenarien in den 1970er zu einem modernen „Laboratorium für GenderExperimente“ entwickelte.28 Der Einfluss des shōjo ist auch der Manga-Adaption des französischen Klassikers insbesondere in ästhetischer Hinsicht anzumerken. Viele geradezu klischeehaft mit dem Genre in Verbindung gebrachte Stilelemente werden hier aufgegriffen: Schlanke weibliche Figuren mit langen Beinen und großen Augen, feminin wirkende Männerfiguren, im Jugendstil gehaltene Zeichnung wallenden Haares, schwebende Sterne, Glitzer oder Blumen als Hintergrund (Abb. 8 unten).29 Der Kontrast zwischen der unrealistischen Figurenzeichnung und dem detailgetreu gezeichneten Interieur ist ebenso typisch für das Genre. Dabei folgt auch die Manga-Adaption der Tendenz, die Opulenz und Dekadenz des Ancien Régime durch die Kostümzeichnung und das Interieur besonders herauszustellen, sodass die einzelnen Seiten, obwohl traditionell in schwarz-weiß gehalten, überladen-prunkvoll wirken (Abb. 8 oben). Auch die dominierende Fokussierung auf die Liebesbeziehung und die stark zurückgenommene Erotik verweisen auf eine jugendlich-weibliche Zielgruppe. Dass der Manga auch in der Sparte des josei, eines Frauencomic-Genres für die Zielgruppe der 18- bis 30-jährigen mit höherem intellektuellen Anspruch, vermarktet wird, verdeutlicht das Potenzial des Stoffes, adressaten-, milieu- und alterskohortenübergreifend zu erschließen. Doch auch wenn es in der interkulturellen Zirkulation kaum möglich ist, die Rezeptionsgruppe eindeutig zu bestimmen,30 wird die genderspezifische Ausrichtung dieser Adaption auch dadurch deutlich, dass die drei Frauenfiguren als distinkte Typen, als experimentelle weibliche Entwürfe gestaltet werden. Dennoch erfolgt auch hier, indem – wie der || 27 Chiho Saitō: Valmont. Gefährliche Liebschaften. Originaltitel: Shishaku Valmont – Kiken na Kankei. Übersetzt von Alexandra Klepper. Stuttgart 2013, Nachwort, Band 2, o.S. 28 Vgl. Japanische Populärkultur und Gender: ein Studienbuch. Hg. von Michiko Mae, Elisabeth Hülsmann und Katharina Scherer. Wiesbaden 2016, S. 23. 29 Vgl. Jaqueline Berndt: Phänomen Manga. Comic-Kultur in Japan. Berlin 1995, S. 95. 30 Es ist etwa bekannt, dass für die männliche Zielgruppe angefertigte Mangas in westlichen Kulturen ebenso stark von jungen Frauen rezipiert werden. Vgl. Michiko Mae, Elisabeth Hülsmann und Katharina Scherer: Japanische Populärkultur und Gender, S. 2.

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Titel nahelegt – auf die Figur Valmont fokussiert wird, die Zuspitzung des Plots auf die Liebesgeschichte. Valmonts Bekenntnis zur Freiheit auf den ersten Seiten rückt die Libertinage als kollektiven Lebensentwurf weitaus stärker in den Vordergrund als in den Verfilmungen. Dieses Moment wird jedoch wieder zurückgenommen, indem Merteuil ihre Liebe zu Valmont erklärt. Ein weiteres Zugeständnis an das jüngere Publikum ist auch das Ende der Liebesgeschichte zwischen Tourvel und Valmont. Expliziter als in Untold Scandal wird die Vorstellung eines transzendenten Happy Ends bedient. Wurde dies in der koreanischen Verfilmung noch als innerer Monolog der katholischen Tourvel-Figur inszeniert, wird die Vereinigung der Liebenden hier in einer glitzernden shōjo-Ästhetik realisiert (Abb. 9).

Abb. 8: Chiho Saitō: Valmont. Gefährliche Liebschaften. Übersetzt von Alexandra Klepper. Stuttgart 2013.

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Abb. 9: Chiho Saitō: Valmont. Gefährliche Liebschaften. Übersetzt von Alexandra Klepper. Stuttgart 2013.

Im Unterschied zu den vorgestellten filmischen Adaptionen wechselt im Manga nicht das Setting im Paris des 18. Jahrhunderts. Im eigentlichen Sinne liegt hier deshalb kein Kultur-, sondern lediglich ein Medientransfer vor. Während es in der chinesischen und der koreanischen Verfilmung individuelle Verfehlungen waren, die auch eine individuelle Reintegration in die moralische Norm ermöglichten, wird hier die kritische Perspektive des Romans auf den Adel aufgegriffen und durch die zeitliche Verortung zusätzlich verschärft. Das Ende der Geschichte wird im Comic in die beginnende Französische Revolution verlagert, die Zeichnerin begründet diese Entscheidung mit dem Gerücht, der Roman habe den Ausbruch der Französischen Revolution mitverursacht und kommentiert: „ein Gedanke, der mich wirklich bewegt!“ Damit spricht sie einen wichtigen Aspekt an: Auch Skandal und Fama gehören zur kulturellen Praxis der Klassik. Im Unterschied zu Untold Scandal, der das erotische Skandalpotenzial, das dem Roman eine langjährige Verbannung aus dem Literaturkanon bescherte, werbewirksam aufgreift, setzt der Manga auf einen politischen Wirkungsmythos. Dieser wird jedoch nicht eigens verhandelt, sondern zur Folie für die vordergründig sich zutragende Liebesgeschichte stilisiert. In den letzten Sätzen wird nochmals die Spannung von Libertinage und amour passion aufgegriffen: „Der Sturm von ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ fegte über das Land. Dies war die Geschichte des Mannes, der kurz vor dem Ausbruch der Französischen Revolution die Freiheit gesucht und die Liebe gefunden hatte.“ In diesem Resümee ist Laclosʼ Vorlage kaum noch zu erkennen, die klarsichtige und provokative Zeit- und Milieuinvektive wird als eine Liebesgeschichte umgedeutet, die auf das Bedürfnis romantischer Unterhaltung von Mädchen und

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jungen Frauen reagiert. Dazu passt auch der komplexitätsreduzierende Umgang mit dem Feld Medium-Authentizität. Die mediale Differenz in der Kommunikation zwischen Dialog und Brief wird durch unterschiedliches Lettering zwar hervorgehoben, bleibt aber als Spannungsgefüge, an dem sich die Frage der Authentizität problematisieren ließe, unberücksichtigt. Vielmehr werden die Emotionen der Figuren den Genrekonventionen des Mangas entsprechend deutlich herausgestellt, indem Wut, Angst oder Verzückung in der Augenpartie durch Tränen oder scharfe Augenbrauenzeichnung abgebildet werden, wie in der Szene, in der Merteuil ihre Liebe zu Valmont gesteht (Abb. 10).

Abb. 10: Chiho Saitō: Valmont. Gefährliche Liebschaften. Übersetzt von Alexandra Klepper. Stuttgart 2013.

4 Fazit In den hier im Überblick präsentierten Beispielen kristallisieren sich gegenüber dem akademischen Diskurs Rezeptionen des Stoffes heraus, die die Funktion populärer romantischer Unterhaltung im Blick haben. Die modellbildenden Deutungslinien von Les liaisons dangereuses variieren in einer intermedialen Perspektive nur leicht. Insbesondere das Medium Film adaptiert in Folge der für die öffentliche Rezeption von Stephen Frearsʼ gesetzten Maßstäbe auch inhaltsfremde Aspekte wie den Status der Darsteller, was sowohl für das US-amerikanische Remake Cruel Intentions (1999) als auch die asiatischen Untold Scandal (2003) und Dangerous Liasions (2012) gilt. Für den Manga-Comic ist dieses kulturelle Kapital offenbar zweitrangig, denn nicht einmal zu Werbezwecken wird auf den Status hingewiesen, den Zeichnerin Chiho Saitō als Akteu-

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rin bei der Erneuerung des shojō-Genres innehat. In allen auf eine breite Rezeption angelegten Adaptionen, die weniger Textexegese als Unterhaltung im Blick haben, wird der Plot auf eine tragische Dreiecks-Liebesgeschichte hin modelliert. In dieser Fokussierung des Stoffes wird die Unterscheidung von Selbstkontrolle und Authentizität bedeutend, die das Original in der Schärfe nicht ausformuliert: Valmont und Merteuil werden zwischen rationalem, eitlem Kalkül und amour passion förmlich zerrieben und die romantische, authentische Liebe dadurch zum eigentlichen Thema. Die dominant ausgestaltete Liebesthematik hängt auch mit dem Medienwechsel vom Briefroman zu den visuellen Medien Film und Comic zusammen. Die visuelle Adaption des Stoffes gerät dort an ihre Grenzen, wo der Brief nicht nur privates Bekenntnis, sondern auch öffentliche Stilisierung ist. Visuelle Medien können diese Spannung inszenieren, indem sie einen Kontrast zwischen dem Gezeigten und dem Gesagten/Geschriebenen eröffnen – damit aber nehmen sie – wie in den vorgeführten Beispielen – die dem Briefmedium eigene Ambivalenz und legen sich auf eine Deutung fest. Auf diese Weise wird die Entwicklung Valmonts vom skrupellosen Verführer zum Liebenden in den filmischen Bearbeitungen wie auch im Comic ungleich eindeutiger, als dies im Medium des Briefromans vermittelt wurde. Zudem tritt in den Verfilmungen als ein weiteres Medium die Musik hinzu, die nicht nur die Romantik untermalt und hervorhebt, sondern in den beiden asiatischen Adaptionen auch einen akustischvisuellen transkulturellen Raum schafft: In Untold Scandal durch eine Dissonanz zwischen barockem Soundtrack zu dem Setting im Korea des 18. Jahrhunderts und in Dangerous Liaisons durch Hybridisierung unterschiedlicher Musikstile und -kulturen. Wie Valmont, wird auch die Figur Merteuils in das Schema der romantischen Liebe eingepasst, doch zieht sich ihre feministische Deutungslinie fort. Dies geschieht, indem die im 81. Brief des Romans enthaltene Binnenerzählung, in der Entwicklung und Motive der Figur offengelegt werden, in den Adaptionen aufgegriffen wird. Im Briefroman, der sonst wenig Raum für die psychologische Motivation der Figuren lässt – Valmont ist einfach der libertine Verführer –, ist dies eine Ausnahmeerscheinung, die auch als Rechtfertigungsstrategie für eine solche weibliche Figur zu verstehen ist. Der Rechtfertigungscharakter ist in den filmischen Adaptionen zurückgenommen. Mithilfe der Coming-of-Age-Story wird bei Kumble Merteuils Libertinismus, der auf die gesellschaftliche, insbesondere sexuelle Doppelmoral reagiert, beispielsweise als geradezu emanzipatorische Geste ausgedeutet. Einzig in der chinesisch-koreanischen Verfilmung werden die

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Emanzipationsbestrebungen mit einem Plädoyer für mehr Frauen in Führungspositionen auf das Berufsfeld explizit formuliert.31 Stärker divergiert die Tourvel-Figur, die sich im Vergleich zur Vorlage, in der sie passiv leidend stirbt, teilweise selbst ermächtigt. Diese Selbstermächtigung wird am deutlichsten in Kumbles Adaption, in der Tourvel/Hargrove mit der Veröffentlichung von Sebastian Valmonts Tagebuch als aktive Akteurin zur Demaskierung Merteuils beiträgt. Auch in der chinesisch-koreanischen Verfilmung liegt eine deutliche Geste der Selbstermächtigung vor: Anstatt ihrem Leben durch Selbstmord ein Ende zu setzen, entschließt sie sich zum Dienst an der Gesellschaft. In Untold Scandal wird die Selbstermächtigungsgeste dagegen gerade als freiwilliger Selbstmord mit transzendenter Happy-End-Aussicht inszeniert. So erfolgt die Modellierung des Stoffes insgesamt entlang dreier Achsen. Zum einen der medialen, in der der Stoff in Interaktion mit technischen und ästhetischen Spezifika und kulturspezifischer Mediengeschichte tritt. Zum zweiten der zielgruppenbedingten, die sich entweder durch Lebensstilmilieu (zugespitzt kann man etwa Arthouse- und Blockbuster-Publikum entgegensetzen), Alterskohorte (Teenager, Erwachsene) oder Genderspezifik strukturiert. Zum dritten tritt eine kulturelle hinzu, die durch das Setting explizite Anspielungen auf Geschichte oder Gegenwart (in der koreanischen Joseon-Dynastie, im Shanghaj der Zeit zwischen den chinesisch-japanischen Kriegen, im französischen Diplomatenmilieu der 1960er Jahre oder im U.S.-amerikanisches Upper-class-milieu der 1990er Jahre) realisiert wird. Diese nationalkulturellen Bezüge werden in den asiatischen Verfilmungen nicht in ‚Reinform‘ adaptiert, sondern bewusst mit westlichen Elementen hybridisiert. Der Manga unternimmt die Hybridisierung in umgekehrter Perspektive, indem er das französische ‚Original‘-Setting der Vorlage aufgreift und im Hinblick auf die medienspezifische Ästhetik adaptiert. Aus diesen Achsen und der jeweiligen Verortung einzelner Aspekte der Adaptionen von Les liaisons dangereuses in ihrem Rahmen ergibt sich eine Matrix partikularer Hinsichten bei der Einbettung von Phänomenen in die je eigenen Sinnstiftungshorizonte. Diese weisen bei jeder Adaption neue Kombinationsmöglichkeiten der modellbildenden Aspekte (Erotik, Liebesgeschichte, Figuren-/Genderkonstellation, luxuriöses Ambiente/prächtige Kostüme, medial bedingte/inszenierte Authentizitätsproblematik) auf. Auch im asiatischen Raum bleibt die nationalkulturelle Modellierungsachse dabei immer nur eine neben zwei weiteren, die gleichzeitig berücksichtigt werden.

|| 31 In einer frühen Szene wird sie für eine Zeitschrift als erfolgreiche Unternehmerin fotografiert und interviewt. Im Zuge des Interviews äußert sie die Überzeugung, sie sei nur die erste, nicht die letzte in der Reihe unternehmerisch erfolgreicher Frauen.

Stephanie Großmann

Carmens Weg in die Townships von Südafrika Über die Aneignungsfähigkeit eines Opern-Klassikers

1 Einleitung Beschäftigt man sich mit den Klassikern der Oper, dann führt kein Weg an Georges Bizets Carmen vorbei. Seit fast 150 Jahren sorgt dieses Werk kontinuierlich für volle Opernhäuser und auch auf der Leinwand präsentiert es sich in verschiedensten Adaptionen einem breiten Publikum. Als textuell gebundenes Werk stellt Carmen einen Klassiker dar, zugleich wird sie aber auch als moderner Mythos über Weiblichkeit, Leidenschaft, Eifersucht und Tod gehandelt.1 Dieser Beitrag möchte sich Carmens Weg in die Townships von Südafrika widmen – angefangen bei Prosper Mérimées Novelle und Bizets Oper, über Otto Premingers CARMEN JONES hin zu Mark Dornford-Mays U-CARMEN EKHAYELITSHA – und dabei vor allem Gedankenlinien zu Carmens Vielsprachigkeit und ihrem Klassiker-Status in den Blick nehmen.

2 Carmens Ursprung und ihre Vielsprachigkeit Im Begriff des Klassikers wird der Werkbezug auf einen konkreten, fixierten Text deutlich, der kontinuierlich rezipiert wird und dessen Kenntnis zur Allgemeinbildung eines Kulturkreises zählt, wohingegen sich im Mythos, zumindest im neuzeitlichen Verständnis des Begriffes, weniger der Bezug auf ein einzelnes Werk spiegelt, sondern vielmehr eine übergeordnete, kollektive Vorstellungsweise, eine weltanschauliche Voraussetzung. Diese lässt sich nicht auf einen einzelnen Ursprungstext fixieren, sondern manifestiert sich in einer Vielzahl von Texten und Werken. Da im Folgenden die Implikationen von Carmen als Klassiker untersucht werden sollen, stehen zunächst die beiden den Ursprung des Carmen-Klassikers konstituierenden Werke und ihre normativen Konzeptionen im Fokus der

|| 1 Vgl. Kirsten Möller, Inge Stephan und Alexandra Tacke: Einleitung. In: Carmen. Ein Mythos in Literatur, Film und Kunst. Hg. von dens. Köln, Weimar, Wien 2011, S. 7–12, hier S. 8. https://doi.org/10.1515/9783110615760-026

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Analyse. Denn sie liefern einen ‚potentiellen Bedeutungsrahmen‘2, der selbst dann nicht völlig überschrieben werden kann, wenn die Adaptionen deutliche Modifikationen und Transformationen vornehmen.

2.1 Prosper Mérimée: Carmen. Novelle Die Revue des Deux Mondes veröffentlichte Prosper Mérimées Novelle Carmen erstmals 1845.3 Diese Novelle verarbeitet den Blick eines französischen Forschers auf das zeitgenössische Spanien. Der Text gliedert sich in vier Teile, wobei der erste Teil die erste Begegnung des Ich-Erzählers mit dem baskischen Banditen und ehemaligen Soldaten Don José Navarro beschreibt. Bereits hier wird ein wissenschaftliches Interesse des Ich-Erzählers an der Figur José deutlich, das ihn zum einen seine Furcht vor dem bewaffneten und gefährlich aussehenden Fremden überwinden lässt und ihn zum anderen dazu verleitet, José nicht an die Obrigkeit auszuliefern, sondern ihn vor den ankommenden Soldaten zu warnen. Im zweiten Teil hält sich der Ich-Erzähler zum Studium einer Handschrift in Córdoba auf, wo er abends der Zigeunerin Carmencita begegnet. Neben ihrem Aussehen fasziniert ihn einerseits, dass er ihre Herkunft nicht auf Grund ihres Dialekts erraten kann, und andererseits ihre Kenntnisse der Geheimwissenschaften und Magie. Um sich die Zukunft deuten zu lassen, begleitet er sie in ihre Wohnung. Dort trifft er erneut auf José Navarro, der ihn allerdings nach einer heftigen und unverständlichen Auseinandersetzung mit Carmen abweist. Daraufhin reist der Ich-Erzähler nach Sevilla weiter, wobei er feststellen muss, dass ihm seine Repetieruhr geklaut wurde. Auf seiner Rückreise über Córdoba erhält der Ich-Erzähler seine Taschenuhr zurück und erfährt, dass José wegen dieses Diebstahls und weiterer Vergehen im Gefängnis sitzt und seine Hinrichtung erwartet. Dort besucht ihn der Ich-Erzähler und verspricht, eine Messe für José und Carmen lesen zu lassen sowie Josés Mutter ein Medaillon als Zeichen seines Todes zu bringen. Im dritten Teil der Novelle berichtet José dem Ich-Erzähler seine Lebensgeschichte, die sich zentral um seine Beziehung zu Carmen dreht. In dieser Binnen-

|| 2 Zum Begriff des ‚potentiellen Bedeutungsrahmens‘ vgl. Stephanie Großmann: Inszenierungsanalyse von Opern. Eine interdisziplinäre Methodik. Würzburg 2013, S. 220. 3 Zur Quellenlage der Novelle vgl. Kirsten Möller: Prosper Mérimées Carmen. Eine französischspanische Beziehungsgeschichte. In: Carmen. Ein Mythos in Literatur, Film und Kunst, S. 13–24, hier S. 13f. und Ulrich Mölk: Über Carmen. In: Romanistik als vergleichende Literaturwissenschaft. Festschrift für Jürgen von Stackelberg. Hg. von Wilhelm Graeber, Dieter Steland und Wilfried Floeck. Frankfurt am Main u.a. 1996, S. 189–197, hier S. 189.

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geschichte, die zwei Drittel vom Umfang des Gesamttextes umfasst, fungiert José als autodiegetische Erzählerinstanz. Die dargestellte Welt der Binnengeschichte lässt sich in die semantischen Räume ‚Bindung‘ und ‚Freiheit‘ gliedern, die mit folgenden oppositionellen Semantiken aufgeladen sind:4 Tab. 1: Semantische Räume „Freiheit“ und „Bindung“ in Prosper Mérimées Carmen. sR ‚Bindung‘

sR ‚Freiheit‘

hierarchisch strukturierte Ordnung

anarchistische/autonome Ordnung

patriarchale Ordnung (Männer > Frauen)

libertäre Ordnung (Männer = Frauen)

Monogamie, Kontinuität

Promiskuität, Diskontinuität

Durchsetzen von staatlicher Ordnung  bewachen, verhaften

Negieren von staatlicher Ordnung  rauben, morden

Soldaten, Spanier

Zigeuner, Schmuggler, Banditen

Religiosität

Wahrsagen, Magie

Akzeptanz von institutionellen Sanktionen

Umgehen von institutionellen Sanktionen

männlich konnotiert

weiblich konnotiert

José Navarro berichtet, dass er in seiner Jugend ein Geistlicher werden sollte, dann aber seine baskische Heimat wegen eines tödlichen Streits mit einem Freund verlassen musste. Darauf tritt er ins Reiterregiment Almanza ein und hofft, in Sevilla als Soldat aufzusteigen. Dort begegnet ihm während seines Wachdienstes bei der Tabakmanufaktur Carmen, die ihm eine Akazienblüte gleich einer Kugel zwischen die Augen wirft, da er zunächst kein Interesse für ihre weiblichen Reize zeigt. Diese Akazienblüte katalysiert ein erotisches Interesse Josés an der Figur Carmen, die sukzessive mit Normverstößen gegen die Ordnung des semantischen Raums ‚Bindung‘ korreliert: Zunächst lässt José Carmen auf dem Weg zum Gefängnis entkommen, nachdem sie eine andere Arbeiterin schwer verletzt hat, dann widersetzt er sich dem Zapfenstreich, um die Nacht bei Carmen zu verbringen und schließlich tötet er aus eifersüchtigen Motiven seinen Leutnant, wodurch er als Geächteter aus dem semantischen Raum ‚Bindung‘ ausgeschlossen wird und in den semantischen Raum ‚Freiheit‘ eintritt, indem er sich der Schmugglerbande um Carmen anschließt.

|| 4 Zur Modellierung von Texten mit der Lotman’schen Grenzüberschreitungstheorie vgl. Hans Krah: Einführung in die Literaturwissenschaft. Textanalyse. Kiel 22015, S. 296–326; Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 41993, S. 311–347 und Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. München 31993.

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Äußerlich geht die Figur Don José im semantischen Raum ‚Freiheit‘ auf, aber innerlich bleibt sie weiter dem semantischen Raum ‚Bindung‘ verhaftet, da sie zentrale soziale und moralische Werte nicht ablegt.5 Dieser Konflikt spitzt sich in seinem Bestreben zu, mit Carmen in einer monogamen Beziehung zu leben. Für die Figur Carmen ist aber ihre Freiheit ein existentieller Wert, der vor allem auch den Bereich einer promiskuitiven Sexualität einschließt: Ich will nicht gequält, schon gar nicht kommandiert werden. Ich will frei sein und tun, was mir gefällt. Hüte dich, mich zum Äußersten zu treiben. Wenn du mich langweilst, werde ich einen gefälligen Burschen finden, der dir tut, was du dem Einäugigen!6

Als ihr erotisches Interesse an dem Pikador Lukas entflammt, stellt José sie vor die Wahl, mit ihm nach Amerika zu fliehen oder von ihm getötet zu werden. Für Carmen stellt Freiheit jedoch einen höheren Wert als ihr biologisches Leben dar, sodass sie den Tod vorzieht. Nachdem José sie mit einem Messer erstochen und im Wald begraben hat, stellt er sich den Wachtposten, um seine Strafe zu erwarten, sodass er letztendlich in den semantischen Raum ‚Bindung‘ zurückkehrt, auch wenn dies für ihn ebenfalls den Tod bedeutet. Die Novelle schließt mit dem vierten Teil, in dem der Ich-Erzähler eine ethnografisch anmutende Abhandlung über die Zigeuner liefert.7 Er beschreibt ihre Tätigkeiten, ihre Physiognomie, ihren Zusammenhalt, ihre Kunst der Wahrsagerei und Magie und ihre Sprache. Dieses Segment unterscheidet sich deutlich von den drei vorangegangenen, da hier nicht mehr die individuellen Erlebnisse des Ich-Erzählers als zeitlich- und räumlich verortete literarische Erzählung aufgegriffen werden, sondern in Anlehnung an einen wissenschaftlich-objektiven Gestus vermeintlich faktuale Ergebnisse zusammengetragen werden.8 In der Figur Carmen überlagert sich in doppelter Hinsicht eine Konzeption von Alterität, die eine existentielle Bedrohung der männlichen Ordnung darstellt: Einerseits repräsentiert sie als femme fatale eine extreme Form der Weib-

|| 5 Vgl. hierzu auch Karl Hölz: Zigeuner, Wilde und Exoten. Fremdbilder in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Berlin 2002, S. 117. 6 Prosper Mérimée: Carmen. Novelle. Übersetzt von Wilhelm Geist. Stuttgart 1993, S. 62. Im Folgenden werden Textstellen aus diesem Text mit der Sigle C_M gefolgt von der Seitenzahl zitiert. 7 Dieser vierte Teil wurde erst in der Veröffentlichung von 1847 hinzugefügt. 8 Zu den ethnozentrisch geprägten Anleihen Mérimées bei völkerkundlichen und -psychologischen Quelltexten seiner Zeit zeigt Karl Hölz, dass „sich Mérimée in jene Gedankenströmung ein[reiht], die sich die Fremdkultur im Gestus eines selbstzentrierten kolonialen Wahrnehmungsmusters zu unterwerfen sucht und gleichzeitig die kulturelle Auseinandersetzung im Paradigma eines Kampfes zwischen den Geschlechtern aufgehen läßt.“ Karl Hölz: Zigeuner, Wilde und Exoten, S. 113.

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lichkeit, die selbstbestimmt ihr erotisches Begehren auslebt, sich nicht von Männern erobern und zähmen lässt, sondern sich, ohne Rücksicht auf soziale Konventionen und Gefühle anderer, ihre Partner raubtierhaft erbeutet.9 Für sie ist ihre absolute Freiheit der höchste Wert und jegliche Form der Bindung lehnt sie konsequent ab. Neben der Genderthematik verweist sie andererseits als (vermeintliche) Zigeunerin auch auf eine ethnische Differenz, wobei die Kultur der Roma mit negativ konnotierten Semantiken wie ‚vorzivilisatorisch‘, ‚verbrecherisch‘ und ‚okkultistisch‘ aufgeladen wird und sich nur in der Figur Carmen darüber hinaus der exotische, die männliche Neugierde weckende Hauch einer rassigen Zigeunerromantik manifestiert.10 In welcher Relation hierbei ihre sexuelle und ethnische Divergenz stehen – ob sich also ihr fatales erotisches Potential kausal aus ihrer kulturellen Zugehörigkeit zu den Roma ableitet, wie es Don José am Ende der Binnenerzählung vermutet „Armes Kind! Die cales haben Schuld, die sie so erzogen haben“ (C_M 70), oder ob sich das in ihr angelegte Potential einer weiblichen Selbstbestimmung unabhängig von ihrer kulturellen Abweichung manifestiert – bleibt in der Novelle offen. Letztendlich stellt sie aber in beiderlei Hinsicht eine zu tilgende Bedrohung für die auf Kontrolle und Vernunft aufbauende männliche Ordnung dar, weil sie einerseits archaische Phantasien über erotische Leidenschaft und Sinnlichkeit heraufbeschwört und andererseits als „Chiffre der kulturellen und sexuellen Untergangsvision“11 fungiert.12 In der Novelle ist die Sprache selbst auf mehreren Ebenen deutlich fokussiert: Innerhalb der Diegese dient Sprache dazu, die Herkunft einer Figur offenzulegen. Allein an der Aussprache des Konsonanten „s“ identifiziert der Ich-Erzähler José als Basken (vgl. C_M 6), was sich dann im von José gesungenen Lied bestätigt, das der Ich-Erzähler aufgrund des musikalischen Idioms und des Textes als Baskisch erkennt (vgl. C_M 11). Auf die Figur Carmen bezogen, scheinen

|| 9 Zu den mit Carmen korrelierten Tiermetaphern und -vergleichen vgl. Claudia Bork: Femme Fatale und Don Juan. Ein Beitrag zur Motivgeschichte der literarischen Verführergestalt. Hamburg 1992, S. 82–86. 10 In vielen Wiener Operetten wird das dort konzipierte Ungarnbild mit ‚Zigeunern‘ korreliert, wobei auch hier die weiblichen Figuren gerade durch ihre Abweichung von den vorgegebenen Rollenmodellen als begehrenswert erscheinen. Vgl. Stephanie Großmann: „Hör’ ich Cymbalklänge...“ Das Ungarnbild in der Wiener Operette. In: Wechselwirkungen II. Deutschsprachige Literatur und Kultur im regionalen und internationalen Kontext. Hg. von Zoltán Szendi. Wien 2012, S. 215–229. 11 Karl Hölz: Zigeuner, Wilde und Exoten, S. 106. 12 Vgl. hierzu auch Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München 1994, S. 266–275 und José Colmeiro: Exorcising Exoticism. Carmen and the Construction of Oriental Spain. In: Comparative Literature 54 (2002) H. 2, S. 127–144, hier S. 128.

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diese Zuordnungskategorien allerdings außer Kraft gesetzt zu sein, denn zum einen ist es dem Ich-Erzähler bei seiner Begegnung mit Carmen nicht möglich, sie anhand ihrer Aussprache einzuordnen (vgl. C_M 19) und zum anderen gelingt es Carmen, José durch ihre besondere Sprachfertigkeit eine falsche Identität vorzutäuschen. Nach der blutigen Auseinandersetzung in der Tabakmanufaktur lässt José Carmen entkommen, weil sie sich, das navarresische Idiom annähernd beherrschend, als Landsmännin ausgibt: Carmen sprach ziemlich gut baskisch. „Laguna ene bihotsarena, Herzenskamerad“, fragte sie mich plötzlich, „sind Sie aus der Heimat?“ Mein Herr, unsere Sprache ist so schön, daß wir vor Freude erzittern, wenn wir sie in der Fremde hören […]. „Ich bin aus Elizondo –“ erwiderte ich ihr baskisch, sehr bewegt, meine Muttersprache zu hören. (C_M 33)

Im Text fungiert Sprache also als ein Konzept, das mit Zugehörigkeit und Identität verbunden wird und das an sich den Wert ‚Heimat‘ transportieren kann, der wiederum normative Verbindungslinien hervorbringt. Carmens Verführungspotenzial ist in der Novelle an Sprache gebunden, mittels ihrer vermag sie es, Männer extrem anzuziehen, indem sie bei ihnen ein Erleben des Eigenen im Fremden evoziert.13 Auch auf der Ebene des Erzählens wird Sprache reflexiv in den Blick genommen: Vor allem die Binnenhandlung um Carmen und Don José ist durchwoben von Sprichwörtern und spezifischen Lexemen aus dem Romani und dem Baskischen, die in Fußnoten übersetzt und erläutert werden.14 Der vierte Teil der Novelle, der einen schließenden, äußeren Rahmen für die Binnenerzählung bildet, ist eine wissenschaftlich anmutende Abhandlung, die auch die Relation von Sprache und Ethnografie thematisiert, verschiedene linguistische Phänomene der europäischen Roma behandelt und deren sprachliche Variationen und Konvergenzen herausarbeitet. Dieser Rahmen stellt die Binnenhandlung um Carmen, Don José und den Pikador Lucas nachträglich in den Kontext einer sprachwissenschaftlichen Forschung und leitet so die Dramatik der präsentierten Geschichte

|| 13 Hier zeichnet sich auch ein deutlicher Unterschied zwischen den initialen Begegnungen der beiden Männerfiguren mit Carmen ab, auf deren Parallelität Kirsten Möller besonders hinweist (vgl. Kirsten Möller: Prosper Mérimées Carmen, S. 17). Carmen gelingt es nämlich nicht, den IchErzähler anhand seiner Aussprache zu identifizieren und so kann sie ihn auch auf der sprachlichen Ebene nicht in ihren Bann ziehen, ihn nicht für sich vereinnahmen (vgl. C_M 19). 14 Vgl. hierzu auch ausführlich Claude Paul: Die Grenzenlosigkeit des Phänomens ‚Literatur‘: Die interkulturelle und intermediale Erinnerung an Carmen in Mérimées Novelle und Saura und Gadès’ Film. In: Vergleichen an der Grenze. Beiträge zu Manfred Schmelings komparatistischen Forschungen. Hg. von Hans-Joachim Backe, Claudia Schmitt und Christiane Sollte-Gresser. Würzburg 2006, S. 143–166, hier S. 148–149.

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um auf ein vermeintlich wissenschaftliches Erkenntnisinteresse. Diese Paratexte, die der autodiegetischen Erzählinstanz der Rahmengeschichte zugeordnet werden können, entschärfen für den Rezipienten das an Sprache gebundene erotische Verführungspotential Carmens, dem Don José in der Binnenhandlung verfällt, da die Fußnoten und sprachlichen Erläuterungen zum einen den Lesefluss immer wieder unterbrechen und den Blick auf das Geschehen als rationaler und reflektierender Beobachter lenken, sodass einer emotionalen Vereinnahmung des Lesers entgegengewirkt wird. Zum anderen lässt der Gesamttext nach dem Ende der Binnengeschichte weder Zeit noch Raum, dem tragischen Schicksal Carmens und Josés nachzuspüren, denn durch das vierte Textsegment wird eine emotionale Verbindung zu den Figuren explizit abgeschnitten und verhindert, indem das Erkenntnisinteresse auf eine wissenschaftliche Perspektive gelenkt wird, aus der die Binnengeschichte nur den Status eines empirischen Beispiels hat. Darüber hinaus kommt die Figur Carmen durch den verschachtelten Vermittlungsprozess nie selbst unvermittelt zu Wort, sie ist vielmehr das Produkt einer doppelten männlichen Erzählinstanz, das Ergebnis männlich fokalisierter und inszenierter Blicke auf ihr Äußeres.15 Neben ihrem Tod in der Binnengeschichte, der die Figur aus der dargestellten Welt biologisch tilgt, erfährt die Figur Carmen einen zweiten metaphorischen Tod in ihrer literarischen Festschreibung durch den Ich-Erzähler der Rahmenhandlung, der die ihr inhärenten, zentralen Semantiken ‚Diskontinuität‘ und ‚Freiheit‘ in ‚Kontinuität‘ und ‚sprachliche Bindung‘ überführt und sie durch die Einbettung in eine männlich fokalisierte Textform ihrer Freiheit beraubt.

2.2 Georges Bizet: Carmen. Oper in vier Aufzügen Mérimées Text wurde 1875 für die Opernbühne adaptiert. Henri Meilhac und Ludovic Halévy erstellten das Libretto und Georges Bizet transponierte die literarische Sprache in die Sprache der Musik. Die in der Novelle nur angedeutete Emotionalität, die sich eher auf der Ebene der retrospektiv berichteten Handlung als

|| 15 Vgl. hierzu auch Alexandra Tacke: Carmen im Blick. Die Funktion der Rahmungen in Prosper Mérimées Novelle & Georges Pichards Comic. In: Carmen. Ein Mythos in Literatur, Film und Kunst, S. 25–34, hier S. 25 und Kirsten von Hagen: Inszenierte Alterität. Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film. München 2009, S. 123. Die Konzeption der Erzählinstanzen weist auch eine deutliche Parallele zu Mary Shelleys Roman Frankenstein or The Modern Prometheus (1818) auf, in dem das von Victor Frankenstein erschaffene Wesen selbst auch nie unmittelbar zu Wort kommt, sondern nur durch eine dreifach verschachtelte Erzählform vermittelt wird.

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in emphatischer Sprachlichkeit äußert, wird nun durch die mediale Transformation von einem Erzähltext zur Oper einerseits auf der sprachlichen Ebene des Librettos verstärkt, da nun die Handlung nicht mit zeitlicher Distanz erzählt wird, sondern sich unmittelbar ereignet und sich die Figuren einer emotional aufgeladenen Sprache bedienen, und andererseits wird sie in der expressiv leidenschaftlichen Musik verdichtet. Hier ist es dann auch nicht mehr so sehr die Sprache, sondern der Gesang, mit dem Carmen die männlichen Figuren verführt. Zwar versucht Carmen sich auch in der Rezitativ-Fassung der Oper als Baskin auszugeben, allerdings entlarvt Don José dies aufgrund ihres Aussehens gleich als Lüge.16 Für sich gewinnen kann sie José erst durch die lockend intonierte Seguidilla, mit der sie ihm auch deren körperlich-tänzerische Einlösung in der Schenke von Lillas Pastia verspricht (vgl. C_B 28). Vergleicht man das Libretto der Oper mit der Novelle, so werden deutliche Modifikationen des Stoffes offenbar: Am gravierendsten ist wohl die Reduktion allein auf die Binnenhandlung, die nun im Modus der zeitgleichen Darstellung präsentiert wird, und nicht mehrfach gerahmt und rückblickend aus der Perspektive eines männlichen Ich-Erzählers.17 In der Figur Micaëla konkretisieren sich zudem die in der Novelle nur in der Erinnerung Don Josés erwähnten hübschen navarresischen Mädchen mit blauen Röcken und auf die Schultern fallenden Zöpfen (vgl. C_M 29), die nun als potentielle Ehefrau und sittsam treuherziges Bauernmädchen als Gegenentwurf zu Carmen fungiert. Durch das Hinzufügen der Figur Micaëla figuriert Carmen nicht mehr, wie noch bei Mérimée, ein allgemein Weibliches, sondern nur eine mögliche Variante, die in der Oper zudem mit ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu den Zigeunern korreliert. Auch das Ende der Handlung erhält eine zentrale Modifikation. Wurde der Pikador Lukas bei Mérimée im Stierkampf noch stark verwundet und ist sein Überleben ungewiss (C_M 65f.), so siegt bei Bizet sein Pendant Escamillo über den Stier. Er tötet ihn hinter der Szene unter den Jubelrufen der Zuschauer genau in dem Moment, in dem Don José Carmen auf der Bühne ersticht, sodass in der semantischen Tiefenstruktur der Oper eine Korrelation zwischen Carmen und dem Stier angelegt ist, die die animalisch triebhaften Tendenzen der Figur verstärkt, und zugleich der || 16 Georges Bizet: Carmen. Oper in vier Aufzügen. Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach der gleichnamigen Novelle von Prosper Mérimée. Hg. von Wilhelm Zentner. Übersetzt von Julius Hopp. Übersetzung der Dialoge der Originalfassung von Wilhelm Zentner. Stuttgart 2009, S. 27. Im Folgenden werden Textstellen aus diesem Text mit der Sigle C_B gefolgt von der Seitenzahl zitiert. 17 Vgl. hierzu auch Kirsten von Hagen: À la recherche de Carmen. In: Alte Mythen – Neue Medien. Hg. von Yasmin Hoffmann, Walburga Hülk und Volker Roloff. Heidelberg 2006, S. 193–216, hier S. 202.

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Jubel der Zuschauer implizit als Siegeschor einer patriarchalen Gesellschaft über das bedrohlich entfesselte Weibliche zu verstehen ist. Auf der musikalischen Ebene wird die Figur Carmen vor allem durch ihr Stimmfach als abweichend semantisiert. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich für die Oper eine klangliche Geschlechterdichotomie durchgesetzt, das heißt, männliche Rollen sind im Tonumfang für Tenor, Bariton oder Bass geschrieben und weibliche Figuren sind im Tonumfang für Sopran, Mezzosopran oder Alt geschrieben.18 Konventionell sind in dieser musikalischen Geschlechterkonzeption die tieferen Frauenstimmen den höheren untergeordnet – sei es aufgrund von Relevanz innerhalb der Diegese, sozialer oder moralischer Aspekte. Die Partie der Carmen ist für einen Mezzosopran komponiert, wodurch ihr – gerade auch im Kontrast zur Sopranpartie Micaëlas – klanglich ein diabolischer, unberechenbarer Charakter eingeschrieben ist. Zugleich demonstriert der geforderte Tonumfang der Carmen-Partie (ais – h2) auch eine große Wandlungsfähigkeit und Dramatik.19 Auffällig ist, dass es sich bei den von Carmen gesungenen Nummern vornehmlich um Lieder im Allgemeinen und Tanzlieder im Speziellen handelt,20 während nur Don José und Micaëla explizit in einer Arie unmittelbar ihre eigenen Gefühle preisgeben. Implizit verschwindet damit die Figur Carmen tendenziell hinter tradierten musikalischen Strukturen, sodass ihre individuelle Persönlichkeit, trotz ihrer unmittelbaren Präsenz auf der Bühne, seltsam verschleiert und skizzenhaft bleibt. Darüber hinaus betonen die Habanera und die Seguidilla über ihre tänzerischen Implikationen die erotische Körperlichkeit Carmens.21 In der Musik Bizets mischen sich vertraute mit exotischen Klängen, die Friedrich Nietzsche als „afrikanisch“22 lobt. Es sind vor allem die chromatischen Wendungen, der harmonische Einbezug der sogenannten „Zigeunermoll-Skala“, sowie die folkloristischen Instrumente Tamburin und Kastagnetten, die das Exotische in der Musik transportieren. Hierbei scheint die musikalische Gesamtkonzeption mit der aparten Schönheit Carmens bei Mérimée zu korrespondieren:

|| 18 Vgl. Rebecca Grotjahn: „Die Singstimmen scheiden sich ihrer Natur nach in zwei große Kategorien“. Die Konstruktion des Stimmgeschlechts als historischer Prozess. In: Puppen, Huren, Roboter. Körper der Moderne in der Musik 1900–1930. Hg. von Sabine Meine und Katharina Hottmann. Schliengen 2005, S. 34–57, hier S. 45f. 19 Vgl. hierzu auch Patricia Fiebrich: Carmen in carmine. Carmen als musikalisches Phänomen. In: Carmen. Ein Mythos in Literatur, Film und Kunst, S. 35–48, hier S. 38f. 20 Habanera (C_B 13f.), Lied (C_B 24), Seguidilla (C_B 28f.) und Zigeunerlied (C_B 31f.). 21 Vgl. Melanie Unseld: Wenn Musik verführt. Carmen und ihre Nachfolgerinnen. In: Carmen. Ein Mythos in Literatur, Film und Kunst, S. 49–61, hier S. 50. 22 Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner [1888]. In: Der Fall Wagner. Schriften – Aufzeichnungen – Briefe. Hg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt am Main 1983, S. 93–129, hier S. 97.

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„Um nicht durch eine zu weitschweifige Beschreibung zu ermüden, sage ich zusammenfassend, daß jedem Fehler eine Qualität gegenüberstand, die vielleicht durch den Kontrast noch stärker heraustrat“ (C_M 21). Auf der medialen Ebene lässt sich bereits für die Oper selbst eine gewisse Vielsprachigkeit beobachten. Die bei der Uraufführung 1875 präsentierte französische Fassung mit gesprochenen Dialogen wurde schon bald bearbeitet. Den durchaus komplexen Inhalt der gesprochenen Dialoge überführte Ernest Guiraud für die Wiener Erstaufführung in Rezitative, die im Vergleich mit den Dialogen die Handlung noch weiter komprimieren und reduzieren. Durch diese Verkürzungen und Auslassungen wird insgesamt der emotional-dramatische Charakter der musikalischen Ebene verstärkt und eine Affekthaftigkeit und Impulsivität der dargestellten Handlung forciert, wenn auch das gesangliche Verführungspotential Carmens tendenziell zurückgenommen wird, da – verglichen mit der DialogFassung – sich der deutlich exzeptionelle Charakter ihres Singens abschwächt, mit dem sie die Rede verweigert (vgl. C_B 24f.). Mit dem Sprung auf die europäischen Bühnen – bereits ein halbes Jahr nach der Pariser Premiere wurde die Oper in Wien erstmals außerhalb Frankreichs aufgeführt – vollzieht sich auch ein sprachlicher Wandel. Denn die in der damaligen Zeit vorherrschende Aufführungstradition sah es vor, Opern in die jeweiligen Landessprachen zu übersetzen, sodass Carmen ins Deutsche, Englische und Italienischer übertragen wurde.23 Für das Verhältnis von Mérimées Novelle und Bizets Oper lässt sich insgesamt feststellen, dass erst die expressive Ausarbeitung der Emotionalität durch die musikalische Ebene die Nobilitierung des Carmen-Stoffes zu einem Klassiker ermöglicht zu haben scheint, sodass die Novelle von Mérimée auch eher sekundär im Schatten der Oper populär wurde. Ähnlich argumentiert auch Kirsten von Hagen, „dass die Begründung des Carmen-Mythos ihren Ursprung vor allem in der Adaption Bizets […] hat.“24 Ein Grund hierfür mag auch darin liegen, dass durch die Überführung von Mérimées Novelle in einen für die Aufführung konzipierten Operntext zugleich auch ein Medienwechsel von einem textuell gebundenen Medium zu einem Präsenzmedium stattfindet, das sich in der unmittelbaren Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern ereignet, einen flüchtigen, ephemeren

|| 23 Ab den 1990er Jahren beginnt sich diese Tradition der sprachlichen Präsentation von Opern allerdings zu verändern und es wird nach und nach wieder populär, Opern in ihrer ursprünglichen Sprache aufzuführen, was auch dadurch begünstigt wurde, dass sich die Technik zur Übertitelung von Aufführungen langsam durchsetzte, sodass heute fast ausschließlich französischsprachige Produktionen auf die Bühne kommen. 24 Kirsten von Hagen: À la recherche de Carmen, S. 206.

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Charakter besitzt und prinzipiell nicht dahingehend angelegt ist, in einer fixierten medialen Form die einzelne Aufführung zu überdauern.25 Diese medialen Bedingungen der Oper als Präsenzmedium scheinen hierbei deutlich die der Figur Carmen inhärenten Semantiken zu unterstützen und zu verstärken.

3 Carmens mediale Vielfalt Kaum ein anderes Sujet wurde in der Filmgeschichte häufiger adaptiert als Carmen. Ann Davies und Phil Powrie verzeichnen mehr als achtzig Carmen-Verfilmungen und mehr als dreißig TV-Produktionen für die Zeitspanne von 1894– 2005.26 Um den Weg Carmens in die Townships von Südafrika nachzuzeichnen, wird im Folgenden zunächst die Produktion in den Blick genommen, die in einer ähnlichen Weise den ursprünglichen Handlungskontext zeitlich aktualisiert und in einen von Rassentrennung geprägten nationalen Kontext überführt.

3.1 CARMEN JONES (USA 1954, Otto Preminger) Im wohl populärsten Beispiel für eine solche Transformation verlagert Otto Preminger die Diegese des 1954 erschienenen Films CARMEN JONES in die Südstaaten der USA. In seiner Tiefenstruktur führt dieser mit einem all-black-cast gedrehte Film vor, dass ein sozialer Aufstieg der afro-amerikanischen Schicht in ein hegemonial-weiß geprägtes Leben aussichtslos erscheint. Perfiderweise wird dieser American Dream von einem besseren Leben hier nicht explizit durch eine weiß geprägte Beschränkung aufrecht erhalten, sondern scheint vielmehr anthropologisch den afro-amerikanischen Figuren eingeschrieben zu sein, die nur an sich selbst scheitern. Die im Ursprungstext angelegte ethnische Trennlinie wird eliminiert und durch eine semantische Grenze zwischen ‚Stadt‘ und ‚Land‘ ersetzt, wobei Joe (Don José) auf seinen sozialen Aufstieg im Militär zur Fliegerstaffel hofft. Sein Kontrahent Husky Miller (Escamillo) hat diesen Aufstieg durch seine körperliche Stärke bereits geschafft, da er als erfolgreicher Boxer in Chicago zu Reichtum und

|| 25 Stephanie Großmann: Präsenzmedien. In: Einführung in die Medien- und Kommunikationswissenschaft. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive. Hg. von Hans Krah und Michael Titzmann. Passau 2017, S. 249–266. 26 Vgl. Ann Davies und Phil Powrie: Carmen on Screen. An Annotated Filmography and Bibliography. Woodbridge 2006.

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Ruhm gekommen ist. Joe hingegen lässt sich durch Carmen von seinem Weg abbringen, wobei dies mit filmischen Mittel explizit markiert wird: Ein Straßenschild bietet Joe die Wahl zwischen einem längeren Weg, um Carmen in Gewahrsam zu bringen, und einem kürzeren, der „Old Road“, auf der jedoch keine motorisierten Fahrzeuge erlaubt sind.27 Indem Joe verbotenerweise die Abkürzung mit dem Auto wählt, die sich als unpassierbar erweist, gerät er überhaupt erst in den Bann von Carmen. Der Film impliziert also in seiner Tiefenstruktur für die männlichen Figuren, dass es zu einem Misserfolg führt, wenn man den Weg des sozialen Aufstiegs abzukürzen versucht. Für die weiblichen Figuren hingegen impliziert der „alte Weg“ eine Rückkehr zu patriarchalischen Geschlechterkonzeptionen, bei denen die Frau den Mann häuslich umsorgt und ihm zu Diensten ist, und auch dieser Weg ist keiner, der zu einem sozialen Aufstieg führt. Im Unterschied zum Ursprungstext findet in CARMEN JONES nicht nur eine Grenzüberschreitung des männlichen Protagonisten statt, sondern auch Carmen verändert sich temporär in ihren Semantiken, was insbesondere über vestimentäre Farbcodes filmisch vermittelt wird: Stehen sich in Cindy Lou (Micaëla) und Carmen zunächst zwei Weiblichkeitskonzeptionen oppositionell gegenüber, wobei Cindy Lou ein hochgeschlossenes Kleid mit rosa-weißem Vichy-Muster und weißem Kragen trägt und Carmen einen enganliegenden, roten Rock und eine tiefausgeschnittene schwarze Bluse (C_P 9:30), so korreliert Carmens rosafarbenes Kleid, in dem sie kontinuierlich nach ihrer romantischen Nacht mit Joe bis zu ihrem gemeinsamen Aufenthalt in Chicago zu sehen ist, mit dem Wandel ihrer Persönlichkeit von einer unzähmbaren, selbstbestimmten Frau hin zu einer sittsamen, treusorgenden Frau, die ihren Schmuck versetzt, um das gemeinsame Leben in Chicago zu finanzieren (C_P 1:09:40). Insgesamt modelliert der Film damit eine Genderkonzeption, in der letztendlich alle Frauen eine Sehnsucht nach einer dauerhaften, festen Bindung in sich tragen, die allerdings mit den sozialen Gegebenheiten in Konflikt geraten kann, denn Carmens Motivation, sich mit Husky Miller einzulassen, gründet vor allem in einem Wunsch nach finanzieller Absicherung und weniger in einem erotischen Interesse. Auch scheint es weniger die Liebe Joes zu sein, die sie einengt, als vielmehr das spartanisch eingerichtete Zimmer in Chicago, das Joe wegen seiner Desertion nicht verlassen kann. Auch wenn CARMEN JONES mit einem all-black-cast sowohl die dem Sujet inhärente Rassenproblematik als auch den in den 1950er Jahren in den Südstaaten praktizierten sozialen und juristischen Grundsatz des ‚separate but equal‘ (Rassentrennung) auf der Oberfläche ausspart, so ist es doch bemerkenswert, dass

|| 27 CARMEN JONES (1954). Regie: Otto Preminger, TC: 21:10. (Musik: Georges Bizet). Im Folgenden werden Stellen aus diesem Film mit der Sigle C_P gefolgt von der Zeitangabe zitiert.

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die Gesangspartien aller Hauptdarsteller von weißen Sängerinnen und Sängern synchronisiert wurden, mit dem Argument, die stimmlichen Qualitäten der afroamerikanischen Darstellerinnen und Darsteller würden den musikalischen Anforderungen nicht genügen. So konstatiert Julia Eckhoff auch, dass der Film die Botschaft transportiert, „dass eine tatsächliche Transgression gerade deshalb nicht möglich ist, weil die ‚Fähigkeit‘ der gezeigten Personen dazu nicht ausreichten.“28 Signifikanterweise ermordet Joe Carmen am Ende auch nicht mit einem Messerstich, sondern wählt die Tötungsart, die am engsten mit der menschlichen Stimme verbunden ist – er bringt sie zum Schweigen, indem er sie erwürgt. Auf eine bizarre Art scheint dies auch homolog auf die Gesamtproduktion übertragbar zu sein, die mit Dorothy Dandridge und Harry Belafonte zwar zwei ausgewiesene Gesangsstars auf die Leinwand bringt, diese aber ihrer (Sing-)Stimmen beraubt.

3.2 U-CARMEN EKHAYELITSHA (ZA 2004, Mark Dornford-May) Auch Dornford-Mays U-CARMEN EKHAYELITSHA manifestiert sich sowohl als sprachliche wie auch als nationale Aneignung der Oper Carmen. Die gesamte Oper wurde in die südafrikanische Sprache Xhosa übersetzt, wobei mit der Übertragung zugleich eine Aktualisierung des Textes einhergeht. Übersetzt wurden die Texte von den beiden aus den Townships stammenden Sängerinnen Pauline Malefane und Andiswa Kedama, die im Film Carmen und Amanda darstellen, und sich in einem auf der DVD mitgelieferten Interview darüber äußern, welchen Stellenwert diese Carmen in ihrer Muttersprache für sie aufweist. Beide stellen deutlich heraus, dass sie diese auf Xhosa gesungene Carmen als Aufwertung ihrer eigenen Sprache und damit zugleich auch als Aufwertung ihrer Identität empfinden. Denn von klein auf hätten sie gelernt, dass ihre Muttersprache im Vergleich mit den Sprachen der herrschenden Klassen Südafrikas – also dem Englischen und Afrikaans – defizitär sei und für sie daher diese Übersetzung der Oper in Xhosa das Gefühl erzeuge, diesen angeblichen Mangel ihrer Sprache zu überwinden.29 In seiner filmästhetischen Sprache repräsentiert U-CARMEN eine stark naturalistisch geprägte Perspektive. Es wird keine seichte Zuckergussromantik geboten, || 28 Julia Eckhoff: Carmen, eine weiße Fantasie. Alterität und Hegemonie in Otto Premingers Carmen Jones (1954). In: Carmen. Ein Mythos in Literatur, Film und Kunst, S. 92–105, hier S. 100. 29 U-CARMEN E-KHAYELITSHA (2004). Regie: Mark Dornford-May. Interview Andiswa Kedama: TC: 1:40. Im Folgenden werden Stellen aus diesem Film mit der Sigle C_D gefolgt von der Zeitangabe zitiert.

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vielmehr werden in zahlreichen deskriptiven und thematisch begrenzten Syntagmen30 die Townships als Orte expliziter Gewalt, deutlicher Armut und primitiver Lebensführung gezeigt, in denen aber dennoch Momente einer ausgelassenen Lebensfreude spürbar sind.31 Bezogen auf die Genderkonzeption nimmt U-CARMEN eine deutliche Modifikation in den Handlungsverlauf auf. Die beiden männlichen Hauptfiguren erhalten nämlich explizit eine visualisierte Vorgeschichte. Für beide wird in einer gerafften Rückblende ihre Entwicklungsgeschichte vorgeführt. Die vor allem bei Mérimée herausgestellte Nähe Don Josés zum katholischen Glauben ist auch hier Teil der Vergangenheit von Jongikhaya (Don José). Er wird als junger Mann zu Hause betend und in der Kirche die eheliche Treue verfechtend gezeigt. Verlassen musste er nun allerdings seine Heimat, weil er mitverantwortlich für den Tod seines Bruders ist. In einer Szene am Fluss bittet er seine Schwägerin neckend doch mit ins Wasser zu kommen, woraufhin sein Bruder ihn eifersüchtig in einen Streit verwickelt, bei dem er letztendlich ertrinkt (C_D 32:24–35:43). Bereits hier wird Jongikhaya also in Bezug auf Ehe und Treue als eine ambivalente und durchaus schuldbeladene Figur gezeichnet. Der Escamillo repräsentierende Lulamile hingegen muss als Kind miterleben, wie seine Eltern brutal erschossen werden. Er kommt daraufhin in die Obhut der Kirche und beginnt dann eine erfolgreiche Gesangsausbildung (C_D 48:40– 51:13). Indem beiden Männern eine recht ausgedehnte visuelle Vorgeschichte zugestanden wird, erfahren sie im Film eine weitreichendere Psychologisierung als an sich im Libretto der Oper vorgesehen. Carmen hingegen wird eine solche Psychologisierung durch eine die Handlungen der Figur erklärende Vorgeschichte verweigert, ihre Vergangenheit bleibt eine Leerstelle. Durch diese Strategie setzt der Film, dass Carmen allein aus dem Moment heraus agiert und sie sich als Figur durch eine fehlende Kontinuität auszeichnet. Allein ein kleines Mädchen, das in der Bar mit ihr zusammen anwesend ist und schlafend auf ihrem Schoß sitzt, kann implizit als indexikalisches Zeichen für uneheliche Sexualität gelesen werden, wodurch Carmen mit der Semantik der Promiskuität aufgeladen wird (C_D 1:06:01).

|| 30 Zum filmsemiotischen Beschreibungsinventar vgl. Dennis Gräf, Stephanie Großmann, Peter Klimczak, Hans Krah und Marietheres Wagner: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate. Marburg ²2017, S. 157ff und S. 214f. 31 Mit dieser Inszenierungsstrategie scheint sich der Film auch rückzuwenden zu den Rezeptionserfahrungen der Pariser Uraufführung 1875, die nämlich ebenfalls als erschreckend realistisch und brutal empfunden wurde. Zugleich kann in ihr auch ein Bezug zum ethnographischen Interesse von Mérimées Novelle gesehen werden.

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Bezogen auf ethnische Grenzen etabliert die Rückblende auf die Vergangenheit Lulamiles durchaus eine weiße, hegemoniale Vorherrschaft. Sein Aufstieg aus dem südafrikanischen Township zum gefeierten, internationalen Opernstar kann nur gelingen, weil er durch den Tod seines Vaters eine erzwungene Ablösung von seiner Heimat erfährt und ihn bereits im Kindesalter ein weißer, katholischer Priester aus dem Township holt. Erst in einem weißen, christlichen Kontext kann sein gesangliches Talent, das innerhalb der südafrikanischen Kultur explizit verkannt wurde, entdeckt und er in den USA an der New York School of Music gefördert werden (C_D 50:54).

Abb. 1: U-CARMEN E-KHAYELITSHA (2004). Regie: Mark Dornford-May. TC oben: 54:00-56:56, TC unten: 1:52:33-1:56:31.

Noch viel deutlicher transportiert die Bildkomposition eine Semantik der Abtrennung (Abb. 1), denn immer wieder wird der Blick auf die Diegese durch sich im Vordergrund befindliche Gitter, Maschen- und Stacheldrahtzäune behindert, die in der Tiefenstruktur des Filmes redundant eine deutliche Grenze zwischen der dargestellten Welt und den Rezipienten etabliert, die homolog auf eine auch nach dem Ende der Apartheid bestehende Trennlinie zwischen den Townships und der Außenwelt verweist. Vor allem die Figur Carmen erscheint hier gefangen und eingesperrt im sozialen Milieu Khayelitshas.

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4 Carmen – Implikationen eines Klassiker-Status Begründet man den Klassiker-Begriff rein quantitativ, dann ist Bizets Carmen auf jeden Fall und ganz uneingeschränkt als Klassiker des internationalen Opernrepertoires einzuordnen, denn sie zählt kontinuierlich zu den meistgespielten Opern und auch in den opernpublikumsfernen Kreisen sind einzelne Musikstücke wohl bekannt, wie die markant chromatische Habanera und der ToreroMarsch. Auch die große Zahl der medialen Transformationen des Carmen-Sujets belegt aus einer Perspektive der Aneignungsfähigkeit den Klassiker-Status der Oper. Als weitere Indizien können intertextuelle Verweise auf Bizets Carmen fungieren, belegen sie doch, dass Carmen Teil des kulturellen Wissens32 geworden ist und funktional auf Semantiken verweisen kann, die Kondensat ihres Inhalts sind. Das wohl prominenteste Beispiel für eine ausführliche intertextuelle Referenz findet sich im siebten Kapitel von Thomas Manns Zauberberg (1924), und auch Vladimir Nabokovs Lolita (1955) verweist auf Carmen. In seiner polemischen Abgrenzung zu Richard Wagners Musikdramen nobilitiert Friedrich Nietzsche die Oper Carmen zudem, indem er in ihr die einzige der Philosophie würdige Liebeskonzeption verwirklicht sieht: Nicht die Liebe einer „höheren Jungfrau“: keine Senta-Sentimentalität! Sondern die Liebe als Fatum, als Fatalität, zynisch, unschuldig, grausam – und eben darin Natur! Die Liebe, die in ihrem Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todeshaß der Geschlechter ist!33

Wenn man jedoch Klassik normativ als Phase des stabilen Höhepunktes innerhalb einer distinktiven mediengeschichtlichen Periode versteht, wie es z.B. HansJoachim Gehrke vorschlägt,34 so erscheint die Benennung der Oper Carmen als Klassiker als durchaus problematisch, weil sich gerade mit ihrer Uraufführung || 32 Zum Konzept des ‚kulturellen Wissens‘ vgl. Michael Titzmann: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47–61. 33 Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner, hier S. 97 (Hervorhebungen im Original). 34 „Das Klassische gehört (erstens) in den Bereich des Ästhetischen, der Kunst und […] der geistigen Kulturen und bezeichnet dort etwas strikt Normatives. In diesem Rahmen stellt etwas, das man ‚klassisch‘ nennt, (zweitens) etwas besonders Gelungenes, ja schlechterdings Vollkommenes und nicht mehr Überbietbares dar. Gerade aus diesem Grund wird es dann (drittens) als beispielhaft und vorbildlich angesehen, unabhängig davon, wo im einzelnen die Maßstäbe und Kriterien dafür liegen.“ Hans-Joachim Gehrke: Die Griechen und die ‚Klassik‘. In: Die Griechische Welt. Erinnerungsorte der Antike. Hg. von Elke Stein-Hölkeskamp und Karl-Joachim Hölkeskamp. München 2010, S. 584–600, hier S. 585.

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kein Höhepunkt manifestiert, sondern diese vielmehr als durchaus provokativer Bruch mit der französischen Operntradition empfunden wurde. Die von Bizet vorgenommene Gattungsbezeichnung als opéra comique führte zu deutlichen Irritationen beim Publikum, da zum einen ein gattungskonventionelles lieto fine mit der Ermordung Carmens vereitelt wird, und zum anderen die räumliche und soziale Situierung des Sujets als zu realistisch, als zu drastisch und düster empfunden wurde. So urteilte das Premierenpublikum: Welche Realistik, aber was für ein Skandal! […] Aus der niedersten Klasse nehmen neuerdings unsere Autoren die Hauptgestalten unserer Dramen, Komödien und jetzt sogar unserer opéras comiques. […] Carmen ist und bleibt ein schamloses Weib, eine liederliche Zigeunerin.35

Unter diesen normativen Gesichtspunkten ist Carmen daher weniger als Klassiker der romantischen Oper sondern vielmehr als Vorreiterin des Verismo zu deuten. Für einen funktionalen Klassiker-Begriff plädiert hingegen Christian Pietsch, der unter ‚Klassik‘ ein Normensystem [versteht], das in einer je bestimmten historischen Phase für ein je bestimmtes kulturelles Phänomen aus einer bestimmten Bedürfnislage heraus eine funktional optimale Lösung bietet, auf die sich eine Gesellschaft oder gesellschaftliche Gruppe als verpflichtende Basis einigt. Aus der Retrospektive ist sie in dieser Funktion und in ihrem regulativen Leistungsvermögen erkennbar und kann durch kontinuierliche oder intermittierende Rezeption in verändertem Kontext und in mehr oder weniger großer Brechung bzw. Umdeutung weiterhin wirksam bleiben oder es wieder neu werden.36

Die beiden Verfilmungen CARMEN JONES und U-CARMEN EKHAYELITSHA stellen Bizets Oper in eben diesen funktionalen Klassiker-Kontext, indem sie mittels der Oper auf jeweils aktuelle Problemkonstellationen verweisen und sich ihre narrative Struktur aneignen, um die eigenen, auf Alterität beruhenden Konflikte zu lösen. Trotz einzelner Modifikationen auf der Handlungsebene ist das in Carmen bereitgestellte Modell tauglich, ein gestörtes Gleichgewicht in eine kohärente und konsistente Ordnung zu überführen. Der Film U-CARMEN spielt nun selbst explizit mit dem Status der Oper als Klassiker: Der Torero Escamillo hat hier nun als Lulamile den sozialen Aufstieg über eine Karriere als Opernsänger gemacht, der ihn bis nach New York an die Met || 35 Zit. nach Stephan Stompor: Zum Werk. In Peters-Textbücher: Bizet Carmen. Leipzig 1982, S. 232–245, hier S. 239. 36 Christian Pietsch: Einführung zu ‚Klassik als Norm – Norm als Klassik‘: Thema und Tagung. In: Klassik als Norm – Norm als Klassik. Kultureller Wandel als Suche nach funktionaler Vollendung. Münster 2016, S. 1–26, hier S. 14.

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gebracht hat. Eine Fernsehübertragung zeigt ihn in der Rolle des Escamillo (C_D 28:18) und auch am Ende des Filmes singt er beim den Stierkampf substituierenden Konzert den Torero-Marsch (C_D 1:55:57). Somit wird innerhalb der Diegese von U-CARMEN die Oper Carmen selbst – mise-en-abyme – zum Zeichen der Überwindung von sozialen, hegemonialen Grenzen. Paradoxerweise stabilisiert der Film diese Grenze aber letztendlich doch wieder und setzt sie zumindest für die weiblichen Figuren als unüberwindbar, da für Carmen nur der selbstverschuldete und selbstgewählte Tod durch Jongikhayas Messer bleibt und ihr gesangliches Talent ihr keinen sozialen Aufstieg ermöglicht. Vielmehr noch scheint gerade Carmens große Leidenschaft für die europäische Opernmusik ihr tragisches Schicksal zu katalysieren, da sie ihre Kollegin in der Zigarettenfabrik mit einem Messer verletzt, weil diese den Fernseher ausschaltet, während die Übertragung von Lulamiles Torero-Marsch läuft. Dass die in der Oper Carmen angelegte, durchaus problematische Genderkonzeption nicht ein Relikt des 19. Jahrhunderts ist, sondern vielmehr auch die Normen und Werte des 21. Jahrhunderts prägt, wird in U-CARMEN deutlich fokussiert. Durch die Dopplung der Oper, die sowohl innerhalb der Diegese (fragmentarisch und konzertant) auf die Bühne gebracht wird, als auch selbst den Handlungsrahmen der erzählten Geschichte bildet, wird gerade der Realitätsbezug und die Aktualität des Sujets betont, das auf der Bedrohung einer patriarchalen Ordnung durch das weibliche Fremde beruht. Gerade als Klassiker scheint Carmen diese Konzeption nicht nur immer wieder aufs Neue zu legitimieren, sondern auch – vor allem durch ihre emotionsgeladene Musik – zu nobilitieren.

Sandra Wagner und Sabine Egger

Mashing-up Werther Zu (trans-)nationalen Goethe-Adaptionen in der zeitgenössischen Online-Kultur

1 Einführung Die zeitgenössische Online-Kultur ist eine partizipative Kultur, schreibt Henry Jenkins in Confronting the Challenges of Participatory Culture (2009): eine Kultur, in der künstlerische Tätigkeit für jeden möglich ist und wo Kreativität unterschiedlichster Art gegenseitig unterstützt und miteinander geteilt wird: A participatory culture is a culture with relatively low barriers to artistic expression and civic engagement, strong support for creating and sharing creations, and some type of informal mentorship whereby experienced participants pass along knowledge to novices. In a participatory culture, members also believe their contributions matter and feel some degree of social connection with one another (at the least, members care about others’ opinions of what they have created).1

Autorschaft ist hier nicht an Maßstäbe wie Originalität oder Authentizität gebunden, und der Wert eines Textes misst sich weniger an ästhetischer Komplexität als an anderen Codes, wie z.B. der genauen Kenntnis bestimmter Figuren.2 Dabei manifestiert sich eine so strukturierte „Online-Kultur“ nicht nur in digitalen Texten, sondern auch in mit digitalen Medien im Austausch stehenden Theaterstücken oder von Verlagen herausgegebenen Romanen, um hier nur einige Beispiele zu nennen. Was diese Texte verbindet, ist ihr expliziter Bezug auf andere, inneroder außerhalb der Online-Kultur breit rezipierte Texte, die anhand eines funktional-partikularistischen Klassikbegriffs als Klassiker verstanden werden kön-

|| 1 Vgl. Henry Jenkins: Confronting the Challenges of Participatory Culture. Media Education for the 21st Century. Cambridge, MA 2009, S. xii. 2 Kanones lassen „sich als Systeme modellieren, die durch einen Code (dem [sic] ‚Deutungskanon‘ im Sinne Renate von Heydebrands) von ihrer Umwelt differenziert werden; Texte, die dem ‚Kanoncode‘ entsprechen, sind Teil des jeweiligen Kanons“. Leonhard Herrmann: System? Kanon? Episode? Perspektiven und Grenzen eines systemtheoretischen Kanonmodells. In: Kanon, Wertung und Vermittlung: Literatur in der Wissensgesellschaft. Hg. von Matthias Beilein, Claudia Stockinger und Simone Winko. Berlin, Boston 2012, S. 59–76, hier S. 69. https://doi.org/10.1515/9783110615760-027

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nen. Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther (1774) ist ein solcher Klassiker, sowohl im Hinblick auf seine Rezeption im späten 18. Jahrhundert als auch in der Gegenwart. So ist der Werther bis heute eine beliebte Schullektüre und damit in stetigem Gebrauch im Bildungsdiskurs, aber auch Stoff für zeitgenössische Adaptionen in sogenannten Mash-up-Romanen, die, je nach Ansatz, der Unterhaltungskultur bzw. einer partizipativen Internetkultur zugeordnet werden können. Nach einem kurzen Blick auf Goethes Die Leiden des jungen Werther und seine Rezeption und Bewertung im späten 18. und 21. Jahrhundert gilt das Hauptinteresse dieses Beitrags Werther-Adaptionen in Mash-up-Romanen. Hier gibt es Anknüpfungspunkte, aber auch deutliche Unterschiede zur partizipativen Buchkultur des 18. Jahrhunderts. Mash-up-Romane folgen im Hinblick auf ihre Rezeption von verschiedenen Kanones zugeordneten Texten und den Formen ihrer Adaption den Strategien der Online-Fanfiction: Dabei nehmen sie Klassiker als Vorlage und fügen Elemente des Horrors und der Phantastik hinzu. Neben Goethes Werther sind auch Sissi, Heidi und Winnetou zu deutschsprachigen Mashups verarbeitet worden. Da der hier verwendete Klassikbegriff – im Gegensatz zum Kanon – nicht auf literarische Texte bzw. eine Hochkultur begrenzt ist, sondern auch Texte der Pop- und Unterhaltungskultur in unterschiedlicher medialer Form umfasst, erscheint die Bezeichnung sämtlicher der genannten Mash-upPrätexte als Klassiker gerechtfertigt. Der im Weiteren ebenfalls verwendete Terminus ‚Kulttext‘ kann hier als Vorstufe zum Klassiker verstanden werden: Bevor ein Werk die für Klassiker charakteristische breite Rezeption verzeichnen kann, erhält es Kultstatus in einer Subkultur.3 Folgende Fragen stellen sich, die im Beitrag angesprochen werden sollen: So bestimmt die der Online-Kultur zugeschriebene Schrankenlosigkeit auch den – partizipativen – Umgang mit im Rahmen der Hochkultur dem Kanon zugeordneten Texten. Das manifestiert sich nicht zuletzt in der Funktion, die intertextuelle Verweise in den Mash-up-Texten haben. Wirkt sich das auch auf den Kanon aus, oder gibt es hier keine Berührungspunkte zwischen Internet- und Hochkultur, da sich die Wertungskriterien grundsätzlich unterscheiden und Kommunikation außerhalb spezifischer Gruppen selten ist? Gerade im Hinblick auf Goethes Werther

|| 3 Unter Subkultur ist eine Gruppierung zu verstehen, die sich auf der Basis gemeinsamer Interessen und Wertvorstellungen bewusst oder unbewusst von einer dominanten Kultur abgrenzt. Das geht auf Grundannahmen der Cultural Studies zurück, für die subkulturelle Praktiken eine Möglichkeit darstellten, sozialen Widerstand oder Dissens zu fassen, wobei die politische Dimension des Widerstands hier nicht im Vordergrund steht. Vgl. Ruth Mayer: Art. Subkulturen. In: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart, Weimar 1998, S. 515.

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ergeben sich daraus Fragen nach dessen Zugehörigkeit zum Kanon in verschiedenen Epochen, wie auch nach seiner Rezeption unabhängig von seinem Status als kanonischer Text oder „Kitsch“. Wie kann ein funktional-partikularistischer Begriff des Klassikers hier neue Perspektiven eröffnen?

2 Die Leiden des jungen Werther – Ein Kulttext seiner Zeit? 2.1 Stimmungspoetik und „imitatio-Lektüre“ Goethes Werther scheint sich bei deutschsprachigen Mash-up-Autoren als Prätext besonderer Beliebtheit zu erfreuen. Nun gehören Goethes Werke zweifellos zum Kanon der deutschen Literatur bis in die Gegenwart. Das spiegelt sich in der Wertung seiner Texte außerhalb des deutschen Sprachraums als Grundlage der deutschen Klassik und Romantik in den folgenden Jahrhunderten. Die Wertung von literarischen Texten innerhalb eines Kanons wird hier primär aus einer deskriptiven, kulturwissenschaftlichen Perspektive betrachtet, wobei Überlegungen Luhmanns zur Kommunikation in verschiedenen Mediensystemen mit einbezogen werden.4 Aufgrund „seiner umfassenden Bildung, Originalität und Wandlungsfähigkeit sowie seiner hervorragenden Kontakte“ wurde Goethe schon zu Lebzeiten als der bekannteste deutsche Autor wahrgenommen,5 als Klassiker der (europäischen) „Weltliteratur“. Goethe ist insofern ein frühes Beispiel nicht nur für die Präsenz seines Werkes, sondern auch für die Feier des Autors als Berühmtheit durch andere Schriftsteller und Leser, ein Phänomen, das in der Internet-Kultur des 21. Jahrhunderts im Hinblick auf die Wertung der Werke von Gegenwartsautoren eine besondere Bedeutung erhält.

|| 4 Das entspricht nicht dem Verständnis des Kanons als System in einem normativen Sinne. Vgl. Leonhard Herrmann: Kanon als System. Kanondebatte und Kanonmodelle in der Literaturwissenschaft. In: Die Bildung des Kanons. Textuelle Faktoren, kulturelle Funktionen, ethische Praxis. Hg. von Lothar Ehrlich, Judith Schildt und Benjamin Specht. Köln u.a. 2007, S. 21–41. 5 Stefan Neuhaus: Deutschland. In: Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Hg. von Gabriele Rippl und Simone Winko. Stuttgart, Weimar 2013, S. 271–280, hier S. 276. Vgl. auch Georg Jäger: Die Wertherwirkung. Ein rezeptionsästhetischer Modellfall. In: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft, Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972. Hg. von Walter Müller-Seidel. München 1974, S. 389–409.

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Die Leiden des jungen Werther war Goethes größter Publikumserfolg, und das „nicht nur im Sinne des Skandalons und des ‚Bestsellers‘“.6 Laut Martin Andree wurde das Buch nach seiner Veröffentlichung 1774 als Objekt zahlloser Auseinandersetzungen in Pamphleten, Rezensionen und Streitschriften, als Ausgangspunkt von Satiren und Spottgedichten, „schnell zu einem Mythos“.7 Es habe traditionsbegründend gewirkt, da es eine Schwemme von „Wertheriaden“, d.h. Weiter- und Nachdichtungen in Form von Romanen, Dramen und Poesie auslöste, wie Die Freuden des jungen Werther (1775) von Friedrich Nicolai, oder Der Waldbruder, ein Pendant zu Werthers Leiden (1776) von J.M.R. Lenz, um hier nur die populärsten deutschsprachigen Adaptionen zu nennen. In seinem Brief an Johann Heinrich Voß vom Dezember 1774 beschreibt Goethes Zeitgenosse Friedrich Leopold Stolberg die vom Roman ausgelöste (internationale) „Werther-Epidemie, ein Werther-Fieber, eine Werther-Mode“, wobei die Epidemie der vom Beispiel des Romanhelden ausgelösten Selbstmorde einen Superlativ literarischer Wirkung markiert. Der Werther initiiert bei seinen zeitgenössischen Lesern eine „imitatio-Lektüre“ oder „Lesekrankheit“, d.h. eine empathische Lektüre in ihrer radikalsten Form, eine Identifikation mit der Figur des Werther bis hin zum Verlust jeglicher „ästhetischer Distanz“, so Thomas Mann,8 die in einigen Fällen bis zum Äußersten, zum Selbstmord, geht. Wie lässt sich dieser Erfolg beim zeitgenössischen Publikum und entgegen zahlreicher, für den damaligen Kanon einflussreicher Stimmen erklären? Entspricht die Ästhetik des Werther doch weder der Regelpoetik noch dem Anspruch einer empfindsam (moralisch-)erzieherischen Literatur, sondern schreibt die Empfindsamkeit mit einer ‚tragisch‘ endenden Liebesgeschichte scheinbar nur ins Exzessive fort. Außerdem ist das Genre Briefroman auf dem neu entstandenen und gewissermaßen boomenden Literaturmarkt der 1770er Jahre bereits gut etabliert. Goethes cleveres Marketing des Romans aufgrund seines guten Netzwerkes ist sicher nur ein Grund unter anderen. Stefan Hajduk zeigt in seiner Poetologie der Stimmung (2016), inwiefern Goethes Werther mit seiner Ästhetik eine Radikalisierung der sprachlichen und thematischen Darstellung von Emotionalem markiert und insofern sehr wohl ästhetisch innovativ ist. „Stimmung“ wird hier zum ersten Mal zu einer wahrnehmungsästhetisch reflektierten Sensibilität, und Goethes Text schafft damit einen

|| 6 Martin Andree: Wenn Texte töten: Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. München 2006, S. 10. 7 Ebd. 8 Ebd.

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literaturgeschichtlichen Moment der Transformation.9 Der Briefroman erhält statt seiner bisherigen poly- oder dialogischen eine monologische Form; die Konversation empfindsamer Herzen wird von einer Artikulation leidenschaftlicher Liebe übertönt; Gefühle werden nicht mehr in der Natur imaginiert bzw. in einer Landschaftskulisse drapiert, sondern (in Nachfolge Klopstocks) als ein imaginatives Element der Natur hervorgebracht. Denn mit Werthers Briefe schreibenden Aufschwüngen des Gefühls öffnet sich die dessen Gefühl innewohnende und es erst hervortreibende Dimension phänomenologischer Wahrnehmung, so dass die Verwurzelung noch des ‚innersten‘ Gefühls in einem realen Anderen oder existentiellen Außen sichtbar wird, wie es später auch Rilkes ‚Weltinnenraum‘ kennzeichnet. Medial ist Stimmung das ‚Zwischen‘ zwischen zwei Relaten (der Erfahrung des Subjekts und der äußeren Natur), die darin das sie konstituierende Vermittlungsgeschehen finden. Medium und Message werden eins.10 Die intertextuellen Bezüge zum Ossian, zu Shakespeare und zu Klopstock sind Teil dieser Stimmungspoetik. So wird Goethes Werk bereits mit dem Werther stil- und gattungsbildend, wobei die ästhetische Phänomenqualität der Stimmung zunächst in der deutschsprachigen Literatur der Folgezeit Einfluss hat und der in der Romantik wichtig werdenden Autonomieästhetik als Vorbild dient, verbunden mit dem von Goethes Werther geprägten Bild des Autors als Schöpfer, als Genie. Werther entspricht zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung also nicht dem geltenden normativen Kanon, sondern ist zunächst ein Kulttext und wird durch seine innovative Erzählweise und Stimmungspoetik in der Folgezeit im Kanon der deutschsprachigen und europäischen Literatur autonomieästhetisch traditionsbildend. Aus einer deskriptiv-kulturwissenschaftlichen Perspektive lässt sich zudem argumentieren, dass Goethes Werther seine sofortige Popularität seiner ästhetischen Originalität innerhalb der, zumindest in einigen Punkten partizipativen Kultur Ende des 18. Jahrhunderts verdankt, was mit ein Faktor für die Beliebtheit des Textes in der aktuellen Online-Kultur sein mag. Denn in letzterer wird Goethes Werther zugleich als Paradebeispiel eines literarischen Kanons der Hochkultur rezipiert, von dem man sich ironisch, u.a. mittels Parodien, absetzt, und als ein frühes Beispiel von Fandom innerhalb einer partizipativen Kultur, die letztlich gar nicht so weit von der eigenen entfernt scheint.

|| 9 Stefan Hajduk: Poetologie der Stimmung. Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit. Bielefeld 2016, S. 166. 10 Vgl. ebd., S. 155.

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2.2 Zur partizipativen Kultur Ende des 18. und Anfang des 21. Jahrhunderts Es gibt offensichtliche Unterschiede, aber auch Ähnlichkeiten zwischen der partizipativen Online-Kultur des 21. Jahrhunderts und der im späten 18. Jahrhundert entstehenden literarischen Kultur nicht nur in den deutschsprachigen Ländern. Die europäische Kultur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist geprägt von einer verstärkten Alphabetisierung, dem Aufkommen einer Gelehrtenwelt, eines Buchmarktes, der Leihbibliotheken und einer „Literaturgesellschaft“.11 Außerhalb der Höfe (jenseits der Feudalstrukturen und Handelsplätze) entsteht eine bürgerliche Öffentlichkeit, in der die Befindlichkeiten der Zeit sich den Raum zur Kommunikation untereinander schaffen. Zu erinnern wäre an die englischen coffee houses, französischen Salons und deutschen Lesegesellschaften, aber auch an die pietistischen Konventikel, Freimaurerlogen und philosophischen Clubs. An diesen öffentlichkeitskonstitutiven Orten wird nicht nur weiterhin konventionell kommuniziert, sondern in einer gemeinsamen Sprache mündlich und schriftlich interagiert. Letztere wird, zumal in ihren schriftlichen Formen und deren drucktechnischer Produktion, wie Briefen und Briefromanen, zum „metakommunikativen“ Gegenstand einer medienvermittelten Gesprächskultur.12 Es wird verstärkt über literarische Bücher und deren Wirkung gesprochen. Schon aufgrund ihrer immens zunehmenden Anzahl, dank des technischen Fortschritts im Buchdruck, wird schöne Literatur – und damit auch das sich zunehmend etablierende Genre Roman – in ihrer massenmedialen Qualität samt deren sozialer Kohäsionskraft erfahren. Das Gespräch über fiktive Personen und die gemeinsame Vergegenwärtigung ihrer Gefühlswelten13 kennzeichnet eine frühe Form partizipativer Kultur und ermöglicht den – internationalen – Erfolg von Goethes Werther. Dabei wird der Werther zum Zeitpunkt seines Erscheinens, wie gesagt, nur begrenzt als Teil der sich im 18. Jahrhundert etablierenden Hochkultur gesehen.

|| 11 Thomas Anz: Literarische Norm und Autonomie. Individualitätsspielräume in der modernisierten Literaturgesellschaft des 18. Jahrhunderts. In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Hg. von Wilfried Barner. München 1989, S. 71–88, hier S. 85. 12 Stefan Hajduk: Poetologie der Stimmung, S. 192. 13 Vgl. Niklas Luhmann: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie. In: Schriften zu Kunst und Literatur. Hg. von Niels Werber. Frankfurt am Main 2008, S. 102–122, hier S. 115. Vgl. dazu auch Jörn Arens et al.: The Wire. Analysen zur Kulturdiagnostik populärer Medien. Wiesbaden 2014, S. 12–13.

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Sehen Mash-up-Autoren wie andere postmoderne Gegenwartsautoren und Regisseure darin also eine Vorform ihrer eigenen partizipativen, von digitaler Kommunikation bestimmten Online-Kultur des 21. Jahrhunderts, wo sich Grenzen zwischen Hoch- und Unterhaltungskultur zunehmend auflösen und jeder Blogger sich als Autor begreift? Löst der Werther doch zeitübergreifend die Identifikation seitens junger Leser mit einer seinen Gefühlen folgenden, sich als Außenseiter der Gesellschaft fühlenden jungen Hauptfigur aus? So übersetzt die Regisseurin Anja Schöne in ihrem 2013 im Horizont Theater Köln aufgeführten Jugendtheaterstück „WERTHER! I Like“ die Briefkultur des 18. Jahrhunderts in die zeitgenössische Welt sozialer Medien. Hauptmotive des Werther, wie individuelle Freiheit und das Bedürfnis, das Leben mit allen Sinnen zu erfahren, stehen im Mittelpunkt der gefühlvollen Adaption, die Identifikationsmöglichkeiten für ein jugendliches Publikum schafft.14 Bieten diese Motive, oder sogar die Stimmungsästhetik, Anknüpfungspunkte für Mash-up-Romane, die solche Motive in eine eigene Ästhetik überführen und so eine empathische Lektüre innerhalb ihrer Online-Kultur erlauben? In diese Richtung weist die Adaption einer Kanadierin, die den Werther für das Theater mit Popmusik u.a. Bezügen zur zeitgenössischen Popkultur montiert und das wiederum in ihrem Blog aufgreift.15 Aktuelle Adaptionen im deutschen Kino scheinen eher den Celebrity-Status des Autors Goethe in den Mittelpunkt zu stellen. Man denke hier an Philipp Stölzls Film „Goethe!“ von 2010. Das trifft übrigens auch auf „Fack ju Göhte“ zu, die Teenager-Komödie des türkisch-deutschen Regisseurs Bora Dağtekin, die 2013 in deutschen Kinos mit über sieben Millionen Zuschauern der kommerziell erfolgreichste Film des Jahres war, wobei der Goethe-Bezug hier weitgehend auf den Titel beschränkt ist.

|| 14 http://www.horizont-theater.de/produktionen/werther.html [abgerufen am 2.5.2016]. 15 https://fanninawdp.files.wordpress.com/2015/09/werther-programme.pdf [abgerufen am 2.5.2016]. Dagegen beschränkt sich die Episode „The Werther-Project“ der amerikanischen TVSerie Supernatural auf minimale Bezüge zum Original (ein „man of letters“, Außenseiterstatus), während Elemente der Fantasy und digitale Praktiken im Mittelpunkt stehen. http://www.ksite tv.com/supernatural/supernatural-spoilers-the-werther-project/62273/ [abgerufen am 2.5.2016].

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3 Zur Werther-Rezeption in der Online-Kultur 3.1 Fanfiction In Textual Poachers untersucht Henry Jenkins 1992 als einer der ersten Kulturwissenschaftler das Phänomen des Fandom („fandom“) und, in diesem Zusammenhang, der Fanfiction („fan fiction“) als verbreitete Praxis und damit Manifestation der partizipativen Kultur. Im 21. Jahrhundert nehmen partizipative Kulturen in sozialen Netzwerken, über Blogging und Podcasting oder in gemeinschaftlichen Onlineprojekten wie Wikipedia Gestalt an. Entscheidend für unseren Beitrag ist der Ausdruck partizipativer Kulturen durch die Produktion neuer kreativer Formen „such as digital sampling, skinning and modding, fan videos, fan fiction, zines, or mash-ups.“16 Unter Mash-ups versteht Jenkins an dieser Stelle in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs eine Praxis der partizipativen (Online-)Kultur: das Zusammenfügen zweier anscheinend widersprüchlicher Werke – denn nur auf den ersten Blick scheinen die beiden Zutaten nicht zu passen. Durch sorgsames Blending ergänzen sich die Ingredienzien vielmehr in der Produktion von Bedeutungen. So entsteht eine neue Sichtweise auf vom Prätext transportierte Botschaften. Bei Mash-ups kann es sich um Songs handeln, aber auch um Videos und Texte, wie die Mash-up-Romane. Die literarischen Mash-ups, mit denen wir uns noch genauer beschäftigen, nehmen Klassiker der deutschen Kultur und vermischen diese mit Elementen des Horror und der Phantastik. Mash-up-Romane lassen sich in ihrem Aufbau auf Strategien der Fanfiction zurückführen, werden aber ausschließlich in Buchform publiziert. Die meisten Fanfiction-Kategorien wie Slash oder Hurt/Comfort (HC)17 finden ihre Wurzeln in der medialen Fankultur („media fandom“), wie sie sich seit den 1960er Jahren entwickelt hat. Hellekson und Busse (2014) definieren Fanfiction als ein „re-writing of shared media“.18 Was heutzutage unter Fanfiction verstanden wird, hat in den USA ihren Anfang genommen mit den ersten Staffeln der TV-Serie Star Trek. Auch in Deutschland war Fanfiction lange Zeit mehrheitlich auf TV-Serien – hier allerdings japanische Anime-Serien – fixiert.

|| 16 Henry Jenkins: Confronting the Challenges of Participatory Culture, S. xii. 17 Slash ist eine Genre der Fanfiction, das Homosexualität thematisiert. Vgl. dazu auch https://www.fanfiktion.de/p/hilfe_glossary/0#index-s [abgerufen am 19.9.2017]. Oftmals werden dabei zwei männliche Figuren einer Serie als Liebespaar gedacht. Das erste Slash-Paar der Fanfiction waren Spock und Captain Kirk aus der TV-Serie Star Trek. Hurt/Comfort bezeichnet eine Fanfiction-Trope, bei der ein Charakter einen anderen rettet und schließlich umsorgt. 18 Karen Hellekson und Helena Busse: The Fan Fiction Studies Reader. Iowa City, IA 2014, S. 6.

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Im Hinblick auf Ästhetik, Einflüsse, Strukturen und Primärtexte handelt es sich also um ein transnationales Phänomen. Mit Erscheinen der Harry-Potter-Bände und der Expansion des Internets änderte sich die vormalige Tendenz, sodass die gedruckten Bücher um den britischen Zauberlehrling neben der Twilight-Saga und Lord of the Rings (natürlich inklusive der damit verbundenen Franchise)19 mittlerweile die stärksten Fanfiction-Sparten auf Webseiten wie fanfiction.net bilden.20 Fanfiction wird geschrieben, weil die Fans mehr von dem Buch, von der Serie, von dem Film lesen oder sehen wollen oder weil es für ihr Selbstverständnis besondere Bedeutung hat. Dabei gehen die Fans nicht unstrukturiert vor, sondern sie wenden bestimmte Re-Writing-Strategien zur Weiterführung oder Verfremdung an. Mash-ups können mit Fanfiction-Terminologie als Alternative Universe (AU) Stories21 bezeichnet werden, die mit Genre-Shifting, emotionaler Intensivierung und Erotisierung arbeiten. Bei AU-Erzählungen wird ein „Was wäre wenn“-Szenario durchgespielt, in unserem Falle: Was wäre, wenn es zu Werthers Zeiten einen Zombie-Outbreak gegeben hätte? Oder: Was wäre, wenn Werther ein Werwolf gewesen wäre? Diese Fragestellungen beinhalten schon das Genre-Shifting Richtung Horror und Phantastik. Emotionale Intensivierung des Werthers klingt zunächst tautologisch, allerdings bezieht sich diese Strategie auf Szenarien, in denen ein Charakter einen anderen rettet oder beschützt (HC).22 Fanfiction trägt ihren Teil dazu bei, aus einem klassischen Prätext eine „endlessly deferred narrative“23 zu machen. Das endlos fortgesetzte Narrativ umfasst

|| 19 Der Begriff Franchise umfasst nicht nur das originäre Buchprodukt, sondern auch die dazugehörigen Verfilmungen und Fan-Artikel (wie z.B. Rollenspiele etc.). Die Fanfiction zur TwilightSaga und Lord of the Rings basiert somit nicht ausschließlich auf den Romanen sondern auch auf den Verfilmungen. 20 Auf fanfiction.net, der internationalen Hauptwebseite für Fanfiction, finden sich folgende Zahlen: Harry Potter 751 000, Twilight 218 000, Lord of the Rings 55 200 Einträge. Im Vergleich dazu TV-Serien, die davor am stärksten waren: Supernatural 116 000, Doctor Who 72 600 und Sherlock 56 300 Einträge. Weitere Fanfiction-Kategorien sind Cartoons, Anime/Manga, Movies, Comics, Plays/Musicals, Games (am drittstärksten). Im Internet unter https://www.fanfic tion.net/ [abgerufen am 1.10.2016]. 21 „The infusion of paranormal or horror elements is a version of a so-called ‚AU‘ or ‚alternative universe‘ scenario, in which, as Pugh broadly defines the term, a ‚fanfic story […] at some point deliberately departs from the canon on which it is based.‘ Jenkins’ category of ‚genre shifting‘, in which a fan interprets an original text ‚through the filter of alternative generic traditions,‘ can also apply to horror and paranormal hybrids.“ Juliette Wells: Everybody’s Jane. Jane Austen in the popular imagination. London 2012, S. 179. 22 Vgl. Henry Jenkins: Textual Poachers. Television Fans and Participatory Culture. New York, London 1992, S. 174. 23 Matt Hills: Fan Cultures. London 2002, S. 143.

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Plots, die kontinuierlich weitergeführt werden, entweder weil sie ständig wieder geöffnet, oder weil sie nie wirklich beendet werden. Das kann im Rahmen von offiziellen Fortsetzungen durch den Originalautor oder befugte Dritte stattfinden, durch eine Franchise (wie z.B. Star Wars) oder eben durch unauthorisierte Schreiber in Form von Fanfiction. Im Zusammenhang mit den Werther-Mashups ist entscheidend, dass „even texts which appear to offer closure or resolution can be mined by fans for endlessly deferred narrative.“24

3.2 Warum literarische Adaptionen in der Online-Kultur anders sind Literarische Adaptionen, die der Online-Kultur entspringen, unterscheiden sich von bekannten Adaptionen der Buchkultur, wie z.B. Thomas Manns Lotte in Weimar (1939). Luhmann formuliert den Gedanken, dass es sich beim Internet – im Gegensatz zum Buch – nicht um ein Massenmedium handele. Mit der Erfindung des Buchdrucks, so Luhmann, wurde eine Technik erschaffen, die eine direkte Interaktion nicht mehr zulasse. Die massenhafte Produktion von Büchern in der Moderne, die sich an unbestimmt viele Adressaten richten, sei gekennzeichnet durch die Kontaktunterbrechung via Technik.25 Anders verhalte es sich mit dem Internet: zwar werde das Internet massenhaft genutzt, allerdings finde auch reichlich direkte Interaktion in Blogs, Foren, Chats, sozialen Netzwerken statt. Die Technologie des Internets verhindere somit nicht die direkte Interaktion, sondern ermögliche sie erst trotz räumlicher Distanz. Funktioniere die Interaktion beim Massenmedium unidirektional – vom Produzent zum Publikum – so sei die direkte Interaktion des Internets durch eine multidirektionale Interaktion gekennzeichnet: am Beispiel der Fanfiction-Community erläutert bedeutet dies, dass eine Story, bevor sie veröffentlicht wird und für die gesamte Gemeinschaft sichtbar ist, von Betas gelesen wird, die die Publikation genehmigen. Ist die Story online, wird sie von Community-Mitgliedern diskutiert und bewertet. Dadurch erhält der Autor ein direktes, konstruktives Feedback, ob seine Figuren OOC (out of character) handeln oder ob die Story dem Canon oder Fanon26 entspricht. In der Fanfiction-Community ist der Autor zugleich Leser und umgekehrt, die Grenzen || 24 Ebd. 25 Margot Berghaus: Luhmann leicht gemacht. Köln 32011, S. 191f. 26 ‚Canon‘ wird definiert als „offizieller Hintergrund des entsprechenden Fandoms (z.B. für Harry Potter die Bücher von Joanne K. Rowling)“; unter Fanon versteht man den „nicht verifizierte[n], aber vom Fandom anerkannte[n] Hintergrund eines Fandoms“. Im Internet unter http://www.fanfiktion.de/p/hilfe_glossary/0 [abgerufen am 1.10.2016].

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zwischen Reader-Writer verschwimmen gänzlich und Genie-Ansprüche werden auch nicht gestellt – was aber der Originalität keinen Abbruch tut. Das Autorkonzept, wie es zu Zeiten Goethes populär war, ist in der partizipativen Online-Kultur aufgelöst. Es geht um die Arbeit an einem bereits vorhandenen Text, und darum, dass durch diese Arbeit an Klassikern der Literatur und Popkultur auch etwas Neues und Originelles entstehen kann. Der Grad der Intertextualität ist bei Fanfiction höher als bei intertextueller Literatur der postmodernen Buchkultur, da Fanfiction-Stories den intertextuellen Bezug stets deutlich markieren.27 In der partizipativen Kultur geht man direkt vor, um eine möglichst intensive emphatische Lektüre zu ermöglichen. Bei intertextueller Literatur, die der Buchkultur entspringt, ist ein Verweis auf den Prätext nicht immer gegeben, gerade in der postmodernen Literatur wird gern auf Markierungen verzichtet.28 Spin-Offs und Re-Writings wie z.B. Wide Sargasso Sea von Jean Rhys verfügen zwar über einen ähnlich hohen Grad an Intertextualität wie Fanfiction und Mash-ups, der Unterschied liegt hier jedoch in der Wertung der Werke. Wo postkoloniale Re-Writings als hohe Literatur eingestuft werden, werden Mash-ups aus Sicht der E-Kultur als niedere Literatur abgestempelt. An dieser Einschätzung lässt sich trotz der zunehmenden Annäherung von E- und UKultur in den vergangenen Jahrzehnten nicht rütteln. Denn wie Thomas Hecken (2015) feststellt, bestehen gerade in der deutschen Literatur weiterhin eindeutige Grenzen: „Die Literatur ist die Ausnahme von der neuen Regel der stark durchlöcherten Grenzen zwischen dem, was man früher unter hoher und niedriger Kultur verstanden hat, besonders in Deutschland.“29 An dieser Stelle soll allerdings die These aufgestellt werden, dass Mash-ups als Versuch gedeutet werden können, die Lücke zwischen E- und U-Kultur zu schließen.

|| 27 Nach Broich hängt der Grad der Intertextualität auch von der Stärke der Markierung ab. Broich geht davon aus, dass die Verfasser intertextuelle Bezüge auf irgendeine Weise markieren, damit der Leser diese Bezüge sieht und sie auch als intendiert erkennt. Die Stärke der Markierung ist wiederum abhängig von der Zahl der Marker. „Eine besonders extreme Form von Markierung eines intertextuellen Bezugs im werkimmanenten Kommunikationssystem liegt vor, wenn ein Autor Figuren aus anderen literarischen Texten in seinem Text leibhaftig auftreten lässt.“ Manfred Pfister und Ulrich Broich: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 31–33, S. 40. 28 Vgl. ebd., S. 47. 29 Thomas Hecken: Ein neuer Kanon? In: Hohe und niedere Literatur. Tendenzen zur Ausgrenzung, Vereinnahmung und Mischung im deutschsprachigen Raum. Hg. von Annie Bourgignon und Konrad Harrer. Berlin 2015, S. 47.

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Nach Leslie Fiedler gibt es drei verschiedene „Mittel“, um den Graben zwischen hoch und nieder zu überwinden und damit diese überkommene Differenzierung zu unterlaufen: Das erste Mittel besteht in der „Parodie, Übersteigerung, grotesken Überformung der Klassiker“, das zweite in der Aufnahmen von „Pop-Formen“ des Westerns, der Pornographie und der Science Fiction durch zeitgenössische Schriftsteller, das dritte in der damit teilweise verbundenen Hinwendung zu den neuen, maschinell produzierten „mythischen Bildwelten“ der Schlagzeilen, Comics und Fernsehsendungen.30

Und um eine eben solche parodistische oder übersteigerte Aneignung der Klassiker, wie der erste Weg Fiedlers sie beschreibt, handelt es sich bei den Mash-upRomanen. Neben dem offensichtlichen intertextuellen Bezug zu Goethes Werther arbeitet Die Leichen des jungen Werther (2011) von Susanne Picard31 auch mit markierten intertextuellen Verweisen im inneren Kommunikationssystem, zu deren Verständnis ein literarisches Allgemeinwissen beim Leser vorhanden sein muss.32 Wer die Parodie in all ihren Facetten genießen will, sollte sich mit den literarischen Klassikern auskennen und auch das Original gelesen haben.

3.3 Analyse – Intertextuelle Verweise und emphatische Lektüre in Goethes Werther und den Mash-ups Die Leichen des jungen Werther und Werther, der Werwolf 3.3.1 Erotik statt Stimmung, Parodie statt Empathie? Die Leichen des jungen Werther von Susanne Picard ist neben Claudia Kerns Sissi, die Vampirjägerin (2011)33 der in der Online-Kultur erfolgreichste deutschsprachige Mash-up Roman. In Die Leichen des jungen Werther hat Werther, der sich selbst für ungemein genial und attraktiv hält, gegen die Fleischfäule zu kämpfen: das ländliche Wahlheim wird von einer Zombieplage heimgesucht. Erst als es bereits zu spät ist, fällt ihm auf, dass seine geliebte Lotte ebenfalls ein Zombie ist. Anfangs hält er ihre Wortkargheit, blasse Haut und schwarze Augen für Zeichen || 30 Ebd., S. 40. 31 Susanne Picard: Die Leichen des jungen Werther. Frei nach Johann Wolfgang von Goethe. Stuttgart 2011. Zitate aus dem Roman werden im Fließtext mit der Abkürzung ‚Leichen‘ und der Seitenzahl angegeben. 32 So werden im inneren Kommunikationssystem Figuren aus anderen literarischen Werken ‚importiert‘, wie Mrs Danvers aus Daphne du Mauriers Rebecca, oder Frankenstein. 33 Claudia Kern: Sissi, die Vampirjägerin. Scheusalsjahre einer Kaiserin. Stuttgart 2011.

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ihrer Vornehmheit und Tugendhaftigkeit. Werther selbst ist ein arroganter Schwerenöter, der sich die Zeit mit allerlei sexuellen Ausschweifungen und einer guten Portion Selbstmitleid vertreibt. Die Werke, auf die die intertextuellen Verweise in Die Leichen des jungen Werther abzielen, sind transkulturelle Klassiker. Anmerkungen zur Lektüre von Romanen wie die Nouvelle Héloïse von Rousseau und Clarissa (Leichen, S. 69 und S. 166) von Richardson (die oft miteinander verglichen wurden) oder Choderlos de Laclos’ Liaisons Dangereuses (Leichen, S. 192 und S. 221) spielen auf die Entmoralisierung und Erotisierung des Textes an, will Werther doch möglichst viele Frauen zu moralisch verwerflichen Handlungen animieren, um seinen starken Sexualtrieb zu befriedigen. Robert Lovelace, die Hauptfigur aus Clarissa, dient Werther als Vorbild. Ebenso wie Goethes Werther wird auch der Mash-upWerther zum homme copie. Die Charaktere aus den Liaisons Dangereuses dienen zum Vergleich mit Wilhelm (als Vicomte de Valmont) und seiner (angestrebten) Affäre mit Theresie von Wetterfeld.34 So wie Goethes Werther sich vom Homer und dem Ossian beeinflussen lässt, orientiert sich der Mash-up-Werther an Skandalromanen, die jeweils die gewaltsame oder intrigante sexuelle Verführung von Frauen behandeln. Indem die beiden Leitlektüren des Prätextes, Homer und Ossian, hier durch Clarissa und Liaisons Dangereuses ersetzt werden, wird die Verschiebung weg von Naturverbundenheit (und der damit einhergehenden Verbindung zu Werthers Herz / Empfindungen) hin zu Sex und veralteten Gender-Rollen deutlich – eine emphatische Lektüre ist nicht mehr möglich. Gleich bleibt allerdings die Tatsache, dass Werthers Lektüre in beiden Fällen (Lektüre des Ossian vs. Lektüre der Clarissa) im Wunsch nach imitatio mündet. O Freund! Ich möchte gleich einem edlen Waffenträger das Schwert ziehen, meinen Fürsten von der zückenden Qual des langsam absterbenden Lebens auf einmal befreien und dem befreiten Halbgott meine Seele nachsenden.35

|| 34 „Doch ich will dich nur kurz beglückwünschen, dass Du bei Theresie ein Stelldichein für übermorgen um Mitternacht erreichen konntest! Ich bin neidlos imstande, anzuerkennen, dass es ein wunderbarer Schachzug war, dafür auch die Zofe Theresiens von deinem Kammerdiener verführen zu lassen und dann so zu tun, als habest Du sie beide en flagrant erwischt. Hervorragend, das, so konntest Du das kleine Luder erpressen, dass sie Dich in Theresiens Schlafzimmer einlässt! Eine Intrige, die eines Vicomte de Valmont wahrhaft würdig ist! […] Ich kann also nur hoffen, dass sich Theresie als eine Cécile de Volanges erweist und nicht zu Deiner Präsidentin von Tourvel und damit zu Deinem Verhängnis wird!“ Susanne Picard: Die Leichen des jungen Werther, S. 192. 35 Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Stuttgart 1999, S. 177.

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Ich las die Clarissa, die für mich das Gesicht der kleinen Theresie von Wetterfeld trägt, und ging dann zur Witwe Bach, um an ihr mein erhitztes Mütchen abzukühlen. (Leichen, S. 69) Wie dem auch sei, ich konnte wie immer der Schilderung des Robert Lovelace, den Richardson als Bösewicht verkaufen will, auch einige Lehren für mich selbst entnehmen: Wenn man auch nicht immer ein Held sein kann – ein Mann kann man immer sein! (Leichen, S. 166)

Wo im Original die strukturelle Differenz innerhalb der fiktionalen Welt (emphatische Weltsicht – nüchterne Weltsicht) den Leser zur Überwindung der Medialität anregt36 (und im extremsten Falle zur Nachahmung animiert), erreicht die parodistische Herangehensweise in diesem Mash-up das genaue Gegenteil: eine beabsichtigte Distanzierung des Lesers. Erläutert werden soll die distanzierende Leserlenkung an der berühmten Klopstock-Szene. So standen wir am Fenster und genossen die Brise, die das erste Mal seit Wochen frisch zu sein schien. Zumindest für mich duftete sie wundervoll, und der Moment war für mich vollkommen. Ich fragte sie mit innerem Zittern, ob es ihr ähnlich ergehe. Ich bin ehrlich, ich fürchtete mich ein wenig vor der Antwort. Was, wenn sie nicht so empfände wie ich? Eine furchtbare Vorstellung, die die Holde jedoch sogleich zerstreute – wie immer wortkarg, als fiele es ihr schwer, die Sprache zu finden, die Worte zu bilden. Doch nur ein weiterer Beweis ihrer Bescheidenheit ist dies, ihrer Gabe, sich auch kurz fassen zu können und alles, alles auszudrücken, was sie bewegt, in nur einem Worte. Sie sagte: „Klopstock!“ Jedenfalls klang es so. Und ja, als hätte der Himmel verstanden, brachen die Wolken auf und schwere Tropfen fielen zu Boden. Als der Regen herab rauschte, sah auch ich wie Gott selber durch die Landschaft ging, wie dieser begnadete Dichter es schrieb, gekleidet in dunkle Nacht, in die Macht der Natur. Ich nahm Lottens Hand und drückte einen Kuss darauf, in den ich all mein Sehnen legte. (S.98)

An dieser Stelle kennt der Leser den Mash-up-Werther schon gut genug, um zu wissen, dass es sich um ein Missverständnis handelt. Wie so oft interpretiert Werther zu viel in Zombie-Lotte hinein, da diese höchstwahrscheinlich gar nichts denkt außer „Menschenfleisch!“. Tatsächlich klingt ‚Klopstock‘ wie ein Geräusch, das ein Zombie machen würde, um seine Gier nach menschlichem Gehirn zu artikulieren. Sicherlich verbirgt sich hinter Lottes Ausruf nicht die Absicht, auf eine Koryphäe der deutschen Dichtung hinzuweisen, geschweige denn eine Verbindung herzustellen zwischen seinem Werk, dessen Rezeption und dem aufkommenden Gewitter. Der Leser kann sich nur noch für Werther fremdschämen.

|| 36 Vgl. Martin Andree: Wenn Texte töten, S. 176–188.

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Als Identifikationsfigur kann der Aufschneider, dessen Klarsicht von seiner Egozentrik und sexuellen Gier derart getrübt ist, nicht mehr dienen. Im Prätext dient der – einsilbige – intertextuelle Verweis dazu, darzulegen, wie mittels eines von beiden Partien rezipierten Textes die Natur erfahren oder ‚gelesen‘ werden kann.37 Klopstocks Ode Die Frühlingsfeier gilt hier als Anleitung für die emphatische Naturerfahrung. „Das gleichsinnige Verstehen von Weltund Textausschnitten im Zustand der Empathie wird zugleich zur Zielvorgabe für jede Form der Rezeption, auch die des Werther selbst.“38 Die Lektüre bestimmter Werke ist auf undurchschaubare Weise mit der Naturerfahrung und Werthers Herz verbunden. So entsteht der Eindruck, dass Text und Welt durch ein geheimnisvolles, kosmisches Prinzip miteinander verbunden sind – nur wer die richtigen Rezeptionsmuster anwendet, kann die mystischen Verbindungen hinter der uns bekannten Welt entschlüsseln.39

3.3.2 Der Werwolf als metaphorische Übersetzung des Werther Diese im Originaltext angelegte Stimmung oder Mystik, die durch die Gleichsetzung von Lektüre und Welt angedeutet wird und die dem nüchternen Menschen verschlossen bleibt, erfährt in Wolf G. Heimraths Werther, der Werwolf (2011), einem anderen Mash-up, eine Wiederaufnahme.40 Die Figur des Werwolfs verkörpert die Zerrissenheit des Original-Werthers in einer kontemporären Metapher. Der Werwolf und seine Gefühlswelt sind für den zeitgenössischen Leser der Online-Kultur eher nachvollziehbar als Goethes menschlicher Werther. Der Werwolf ist sozusagen eine gelungene Übersetzungschiffre, um den Original-Werther für

|| 37 „Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitswärts, und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellbogen gestützt; ihr Blick durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich; ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte – Klopstock! – Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß. Ich ertrug’s nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen. Und sah nach ihrem Auge nieder – Edler! hättest du deine Vergötterung in diesem Blick gesehn, und möchte ich nun deinen so oft entweihten Namen nie wieder nennen hören!“ Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 53. 38 Martin Andree: Wenn Texte töten, S. 91. 39 Vgl. ebd. 40 Wolf G. Heimrath: Werther, der Werwolf. München 2011. Zitate aus dem Roman werden im Fließtext mit der Abkürzung ‚Werwolf‘ und der Seitenzahl angegeben.

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Teilnehmer der partizipativen Kultur verständlich zu machen. Werther, der Werwolf bleibt – anders als Die Leichen des jungen Werther – nah am Original und bemüht sich, dem originären Handlungsverlauf treu zu bleiben und dem Prätext gerecht zu werden (wie z.B. die Darstellung des inneren Zwiespalts des Werther, hier metaphorisiert durch den buchstäblich ‚zwiegespaltenen‘ Werwolf41). Die Klopstock-Szene in Werther, der Werwolf ist eine metaphorische Aufnahme dessen, was im Original von Werther und Lotte gefühlt wird. Der Leser erlebt die erste Teilverwandlung Werthers, die ausführlich beschrieben wird. Die Verwandlung vollzieht sich nicht im Ballsaal, sondern im strömenden Regen im Hof des Anwesens. Ich sah meine Hände, Wilhelm! Zu Klauen gebogen, sah Haar wie Tierfell aus ihnen sprießen. Ich hörte Laute aus meiner Brust, die nichts Menschliches hatten, keinen Hund, keinen Vierbeiner habe ich je so grausig knurren und hecheln hören. Und da mir’s so wund und schmerzvoll war, riß ich den Kopf hoch, hielt mein Gesicht in den unendlichen Regen und rang ein verzweifeltes Heulen hervor, das mir Erleichterung schuf. So rasch wie sie gekommen, drehte meine Verwandlung sich in ihr Gegenteil um; ich fühlte mich schwach, elend, voll der widerstreitendsten Gefühle, zugleich aufs neu erfüllt von reinigender Vernunft. […] Ich machte mich auf die Suche nach Lotten und fand sie am Fenster. Der erquickendste Wohlgeruch warmer, feuchter Luft stieg dort zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellenbogen gestützt, ihr Blick durchdrang die Gegend – hatte sie die Entgleisung meiner Selbst geschaut? Sie sah gen Himmel und auf mich, ihr Auge tränenvoll, und plötzlich legte sie ihre Hand auf die meinige. Da versank ich in einem Strom von Empfindungen, den sie über mich ergoß, neigte mich auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollsten Seufzern. Sah nach ihrem Auge wieder – o edler Freund! Hättest Du die Verzückung in ihrem Blick gesehn, Du wärst wie ich hingestürzt zu Füßen der Einzigen – doch nur für einen Moment. Danach trieb’s mich fort, in die Nacht, die Verklärung, die Einsamkeit. (Werwolf, S. 24)

Nicht die Nennung Klopstocks dient hier als Auslöser des beidseitigen Gefühlsausbruchs, sondern die Verwandlung Werthers in einen übernatürlichen und doch so natürlichen Werwolf, deren Zeugin Lotte wurde. Literatur ist nicht länger der Schlüssel zum Weltverstehen, sondern die aktive, körperliche Veränderung und ursprüngliche Erfahrung selbst: Erleben am eigenen Leib überbietet jedwede Fremderfahrung durch Lektüre.

|| 41 Der Leser erlebt die Qualen Werthers minutiös mit durch die detaillierte Schilderung seiner Empfindungen. Werther, der Werwolf, ist ein romantischer Held, der auch in Wolfgestalt sprechen kann und von Lotte als romantischer Partner in Erwägung gezogen wird. Er wird wenig monströs geschildert, daher fällt es dem Leser leicht, Sympathien für ihn zu entwickeln. Es handelt sich um die klassische Strategie der ‚Paranormal Romance‘.

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Die Lektüre von Ossian und Homer spielt in Werther, der Werwolf eine andere Rolle als im Original – nämlich die, Werthers Werwolfnatur zu bezähmen oder ihr gegenüberzustehen. Die Lektüre des Homer kontrastiert mit dem Wilden, Ursprünglichen: Die Literatur gehört dem Bereich der Kultur an, bzw. steht stellvertretend für das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Ich aber soll mit dem Herzen Wolf sein, im Benehmen aber weiter als wohlerzogener Mensch hindümpeln! Was bin ich, Vieh oder Edelmann, schlag ich meine Zähne in Alberts Hals und entledige mich des Buhlen, oder greif ich mit artig gestutzten Fingernägeln den Homer vom Regal, ergetz mich an schönen Gedanken und erscheine im Sonntagsanzug bei Charlottens Hochzeit? (Werwolf, S. 123) Ossian verdrängt aus meinem Herzen, was da noch knurrend und aufsäßig gegen mein Schicksal gewesen. In dämmerige Welt entführt mich der Gute! […] Wimmernd nach dem Stern des Abends hinblickt, möchte ich mich gern von der zückenden Qual seines und meines langsam absterbenden Lebens befreien und dem Halbgott im Buche meine besänftigte, schläferige Seele hinterher gleich senden. (Werwolf, S.126)

Die Zivilisation erstickt alles Natürliche und Ursprüngliche im Menschen, macht ihn träge und zahm. Konnte sich der Leser im 18. Jahrhundert mit der strukturellen Differenz Emphase vs. Nüchternheit identifizieren, so ist für den Leser unseres hochtechnisierten, digitalisierten und urbanisierten Zeitalters der Gegensatz Ursprung – Zivilisation bzw. Natur – Kultur aktuell und damit relevant. Das bis in die heutige Zeit erhalten gebliebene romantische Naturbewusstsein42 – die Natur als Raum des Rückzugs und des Ursprünglichen – steht zunehmend in Diskrepanz zur fortschreitenden Technologisierung des zeitgenössischen Lebens. Das Gefühl des Kontaktverlusts zur Natur und damit des Ursprungs des Menschen ist momentan besonders groß. Eine Trendwende zur Rückbesinnung auf die Naturverbundenheit scheitert an dem Fakt, dass fast die gesamte Natur Deutschlands wirtschaftlich erschlossen und für die Nutzung des Menschen aufbereitet ist. Damit wird die Suche nach unserer Herkunft zur Farce; die uns verbleibende Natur ist bereits Teil der Kultur.

|| 42 Vgl. Albrecht Lehmann: Wald. Die Volksliteratur und deren Weiterwirken im heutigen Bewusstsein. In: Der Wald als romantischer Topos. Hg. von Ute Jung-Kaiser. Bern u.a. 2008, S. 37– 52, hier S. 48.

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4 Fazit Zwar lässt sich die Rezeption von Mash-up-Romanen insgesamt als transkulturelles Phänomen betrachten (z.B. wurden Jane-Austen-Adaptionen wie Pride and Prejudice and Zombies in mehrere Sprachen übersetzt), allerdings gibt es seitens der Mash-up-Autoren (sowohl im englischsprachigen Raum als auch im deutschsprachigen) eine Hinwendung zu Texten, die als Klassiker der Nationalliteratur angesehen werden. Auffallend ist die Popularität des Werther als Stoff deutschsprachiger Mash-up-Romane, die man als eine spezifische Form seiner Aktualisierung als Klassiker deuten könnte. Der funktional-partikularistische Klassikerbegriff erlaubt insofern eine Evaluation des Textes, wobei sich sein KlassikerStatus in der zeitgenössischen Online-Kultur sowohl durch den frequenten Gebrauch als Schullektüre als auch durch seinen Status als Kulttext seiner Zeit erklären lässt. Mit ihrer Positionierung innerhalb der deutschen Literatur bewegen sich die besprochenen Mash-ups entgegen einer globalen kulturellen Vereinheitlichung im Kanon der Online-Kultur. Ein Grund dafür ist wohl die Suche nach einer Nische nicht nur im Hinblick auf Originalität innerhalb der Online-Kultur, sondern auch des Mash-up-Buchmarktes in den deutschsprachigen Ländern. An dieser Stelle muss auf den Unterschied zwischen den im Hinblick auf Leserzahlen und Medienpräsenz weder in der deutschsprachigen U- noch E-Kultur besonders erfolgreichen deutschen Mash-up-Romanen und ihren englischsprachigen Pendants verwiesen werden: Wo die englischsprachigen Mash-ups nicht nur hohe Verkaufszahlen verbuchen, sondern auch innerhalb der Kultur- und Literaturwissenschaft merklich Beachtung finden und darüber Einfluss auf die englischsprachige E-Kultur nehmen, berühren die deutschsprachigen Mash-ups die deutsche E-Kultur kaum. Aber auch umgekehrt hat der Kanon der E-Kultur insgesamt scheinbar wenig Einfluss auf die deutsche U-Kultur, was den geringen Erfolg der deutschen Mash-ups innerhalb der Unterhaltungsindustrie erklärt. Dieser Aspekt steht interessanterweise im Gegensatz zur merkbaren Rezeption der Mash-ups innerhalb der Fanfiction-Szene. Der Graben zwischen E- und U-Kultur besteht weiterhin, zumindest aus der Sicht der E-Kultur. Dagegen lassen sich die besprochenen Mash-up-Romane und Fanfiction als Versuch einzelner Autoren der partizipativen Online-Kultur deuten, diesen Graben zu überqueren. In der englischsprachigen Kultur besteht ein reger Austausch zwischen beiden Seiten, wobei der Graben selbst verschoben bzw. in Frage gestellt wird. In der deutschsprachigen Hochkultur wird U-Kultur nach wie vor eher misstrauisch beäugt – die Akzeptanz von U-Literatur und anderen Formen der U-Kultur als Forschungsge-

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genstand innerhalb der deutschsprachigen Literaturwissenschaft ist bisher gering. Ob sich das im Zuge transkultureller bzw. transnationaler Tendenzen innerhalb der Online-Kultur in absehbarer Zeit ändert, bleibt abzuwarten.

Linda-Rabea Heyden

Zwischen Originalität und Trivialität Goethes Faust von Flix im Comic adaptiert Goethes Faust als Comic. Das heißt zunächst scheinbar ganz trivial: Ein Klassiker wird intermedial, also einem anderen medialen Kontext, für andere Rezipienten adaptiert. Trivial oder gar wertfrei ist an dieser Begebenheit jedoch nichts. Denn aus der gängigen Wertung von Goethes Faust und dem Medium Comic ergeben sich zwei dichotom konnotierte Verweisgruppen, die in der KlassikerAdaption aufeinandertreffen. Auf der einen Seite steht Goethes Werk: kanonischer Text der Weltliteratur, normativer Klassiker, poetisch, ästhetisch ausgefeilt. Auf der anderen Seite steht das ‚niedere‘ Medium Comic, darüber hinaus eine Adaption – unoriginell, von kurzlebiger Aktualität, eben trivial. Im Folgenden1 werde ich einen genaueren Blick auf die parodistische FaustAdaption von Flix2 werfen, die genau diese Differenz von originärem Einzelwerk und trivialer Massenkultur reflektiert, indem sie diese zunächst zugrunde legt und sich damit in den Diskurs über die Wertung der Künste explizit einschreibt. Sie erschöpft sich aber nicht in dieser Opposition, sondern unterläuft diese ausgerechnet durch Wiederholung auf inhaltlicher und struktureller Ebene dezidiert und führt die wertende Gegenüberstellung als unhaltbares Konstrukt vor. Dabei geht der Comic in einer Bewegung vor, die immer das eigene neben das Übernommene stellt, Differenzen und Gemeinsamkeiten sowohl inhaltlich darstellt als auch auf medial-struktureller Ebene reflektiert. Goethes Drama erscheint als kanonisches Werk auf zweifache Weise im Comic präsentiert: als kanonwürdig und als durch den Kanon in seiner ständigen Verfügbarkeit trivialisiert. Im Gegensatz zur Handlung, aus der durchaus Sinnhaftes gezogen wird, zeigen die Dramenverse in Form kurzer Zitate ihre Trivialität. In der Figur der Wiederholung, so werde ich im Folgenden zeigen, liegen Klassizität und Trivialisierung eng beieinander.

|| 1 Bei diesem Aufsatz handelt es sich um eine verkürzte und leicht umgearbeitete Fassung des entsprechenden Analysekapitels in meiner in Arbeit befindlichen Dissertation zu „Goethes Faust als Comic“. 2 Flix: Faust. Der Tragödie erster Teil. Hamburg 2010. https://doi.org/10.1515/9783110615760-028

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1 „Nochmal?“ - „Ja!“ –Wiederholung als Grundprinzip Mit den Faust-Comics nach Goethe setzt im 20. Jahrhundert eine weitere Rezeptionsform, eine weitere andersmediale Wiederholung von Goethes Werk ein. Tatsächlich entstehen die ersten Faust-Comics zunächst außerhalb Deutschlands in Japan, Italien, den USA. Insgesamt handelt es sich bei Faust-Comics um Einzelfälle. Erst ab den 1990er Jahren bis heute erscheinen im Abstand einiger Jahre mehrere Adaptionen, davon auch nun eine nennenswertere Zahl in Deutschland, sowie in Frankreich und Kanada und vor allem in Japan.3 Die hier untersuchte Comic-Adaption von Flix ist nicht nur die aktuellste und medienwirksamste der deutschsprachigen Faust-Comics. In der Tat stellt diese Adaption einen der komplexeren Faust-Comics dar.

Abb. 1: Flix: Faust. Der Tragödie erster Teil. Hamburg 2010, S. 1.

|| 3 Insgesamt sind mir weltweit um 15 Faust-Comics bekannt. Die kleine Zahl ergibt sich u.a. daraus, weil sich die Adaptionen im Korpus nachweisbar auf Goethe beziehen müssen. Auch die Verlagsveröffentlichung spielt hier eine Rolle: Nicht gezählt wurden Onlineveröffentlichungen, Webcomics und solcher Art kleine Projekte, die nicht auf einen professionellen Verkauf abzielen.

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Die Adaption geht insgesamt in einer dialektischen Bewegung von Sinnsetzung und Sinnverweigerung vor, die neben dem Drama immer auch das Eigene mit einschließt. Ein wichtiges Element ist hierbei das Prinzip der Wiederholung. Zum einen ist jede Adaption eine Wiederholung, der immer auch der Verdacht anhängt, das Original nie ganz erreichen zu können,4 gleichzeitig aber bestätigt und festigt die Adaption den Status des Klassikers. Diese Beobachtung trifft grundsätzlich auf alle Faust-Comics zu. Wiederholung bestimmt beim Faust-Comic von Flix allerdings nicht nur das Werk in seiner Gesamtheit (als Adaption), sondern strukturiert auch dessen kleinere Einheiten. Der eigentlichen Handlung ist eine Seite vorangestellt, auf der ähnlich einem Motto nur ein einziges Panel zu sehen ist. Dieses ist wie ein Browserfenster gestaltet, in dem die Frage „Nochmal?“ steht (Abb. 1). Der darin abgebildete Cursor zeigt auf den Antwortbutton „Ja“. Erst dann beginnt die eigentliche Handlung mit dem ‚Prolog im Himmel‘. Dieses „Ja“ ist ein Bejahen der Wiederholung, die bereits hier als positiv-produktives Gestaltungsmoment für den gesamten Comic postuliert wird. Im Laufe der Analyse wird sich herausstellen, wie vielschichtig wiederholende Elemente auf unterschiedlichen Ebenen diesen Faust-Comic strukturieren. Die im Comic auftauchenden Floskeln stellen das Resultat exzessiv wiederholter Faust-Zitate dar. Doch auch dramenfremde Elemente werden systematisch wiederholt. So zitiert sich der Comic beispielsweise selbst und erzeugt durch Wiederholung Running Gags. Das Wiederholungsprinzip wird ebenso auf stilistischer Ebene vorgeführt. Die verwendeten Stilmittel sind an ihrem konventionellen Gebrauch in Comics orientiert. Im Gegensatz zu anderen Faust-Comics, die künstlerische oder theatrale Mittel adaptieren, wird die dem Medium nachgesagte stilistische Einfachheit von Flix besonders herausgestellt. Damit wird das Eigene gegenüber dem hochliterarischen Klassiker abgegrenzt und gestärkt. Entgegen allen Klischees geht der Comic jedoch in dieser dichotomen Gegenüberstellung von hochliterarischem Klassiker und trivialem Comic nicht auf, weil der Comic sowohl die eigenen als auch die hinsichtlich Goethes Faust bereits geschehenen Trivialisierungsprozesse reflektiert. Damit entgeht er selbst dem Verdacht der Trivialität. Aufgrund dieses hohen Grades an Selbstreflexion erweist sich dieser Comic in seiner Ausführung deutlich vielschichtiger, als es bei anderen Faust-Comics zu beobachten ist.

|| 4 Vgl. Linda Hutcheon: A Theory of Adaptation. New York, London 2006, S. XII, S. 3, passim. Sowie Thierry Groensteen: Parodies. La bande dessinée au second degré. Paris 2010, S. 9f.

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2 „Das ist schlechter Stil“ – Konvention und Originalität Dass die Faust-Adaption von Flix eine Parodie ist, wird schon bei einem ersten Blick auf den Buchumschlag deutlich. Der feste Einband des kleinformatigen Albums erinnert gestalterisch an ein abgegriffenes Reclam-Heft.5 Nachgebildete Wasser- und Schmutzflecken signalisieren Faust als oft gelesenes, aber auch achtlos behandeltes Werk des Schulkanons. Auf dem Einband sind allerdings anders als bei Reclam-Einbänden der Universalbibliothek üblich, die meist keine Titelbilder aufweisen, schon Mephisto und der Herr in einem kindlichen Streit dargestellt.6 Der erste äußere Eindruck weckt beim Leser bereits die Erwartung einer Faust-Parodie. Der cartoonhafte Umrissstil erlaubt einen Rückschluss auf die Gattung der Funnys.7 Als parodistisches Mittel wird in dieser Adaption ein comikaler, d.h. ein comictypischer Stil ins Feld geführt, der die Medialität der Adaption von der der Vorlage deutlich abhebt. Implizit wird hier auf die bewertende Hierarchisierung der Medien angespielt. Geht man davon aus, dass sich eine Adaption nicht nur inhaltlich, sondern auch auf strukturell-medialer Ebene mit ihrer Vorlage auseinandersetzt, so fällt in diesem Faust-Comic auf, dass die Vorlage zwar als dramatische benannt, dann aber so nicht übertragen wird. Zum einen wird der Untertitel zwar mit der Gattungsbezeichnung „Tragödie“ übernommen, die ComicHandlung aber ist eine komische. Zum anderen wird in der Handlung selbst auf die Versform und Theatralität des Dramas hingewiesen. Gleich zu Beginn des Comics wird es deutlich: Der ‚Prolog im Himmel‘ beginnt wie im Drama mit der ersten Strophe des Erzengels Raphael. Auch die daran anschließenden ersten Sätze Mephistos sind im Comic gereimt. Allerdings handelt es sich hier nicht mehr um Faust-Zitate. Der Witz zu den Versen vorher liegt in der Umkehrung von Form und Inhalt. Während die ersten Verse des Erzengels im Rahmen eines profanen Browserfensters zitiert werden, wird von Mephisto die banale Information, dass er dem

|| 5 Faust I wurde 1867 als erster Band in die Reclam-Universalbibliothek aufgenommen. 6 Mephisto zieht dem Herrn eine lange Nase, welcher cholerisch wutentbrannt auf sich selber zeigt. Hier geht es offenbar um den Triumph Mephistos über den Herrn. 7 Terminus gebraucht wie bei Dietrich Grünewald zur Unterscheidung von lustigen Comics gegenüber realistischen Abenteuer-Comics. Die Kennzeichnung Funnys schließt den cartoonhaften Zeichenstil mit ein. Zum Begriff Funny vgl. Glossar bei Dietrich Grünewald: Vom Umgang mit Comics. Berlin 21996, S. 111, S. 113. Nicht abwertend wie bei Gilbert Seldes: The ‚Vulgar‘ Comic Strip. In: A Comics Studies Reader. Hg. von Jeet von Heer und Kent Worcester. Jackson 2009, S. 46–52, hier S. 48.

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Herrn eine neue Schreibtischlampe bringt, in die unnötig gehobene Form des Reimens gekleidet.8 Der Comic beginnt also zunächst mit einer sprachlichen Referenz zur Vorlage, dies wird dann aber sofort explizit mit dem Einwurf des Herrn, dass dichten „unzeitgemäß“9 sei, unterbunden. Fortan wird in Prosa gesprochen, was die eingestreuten Dramenzitate umso deutlicher hervortreten lässt. So fordert auch Wagner nur wenig später: „Faust! Schluss mit dem Theater! Komm sofort runter!!!“10 Diese Äußerungen können als metaleptischer Kurzschluss gelesen werden, weil eine intradiegetische Figur die Kategorie der Form kommentiert, welche unter den normalen Bedingungen einer fiktionalen Welt für sie nicht zugänglich wären. Es handelt sich jedoch hier nicht um einen echten Ebenensprung, denn die Figuren kommentieren wohlgemerkt nicht innerhalb der intradiegetischen Welt deren mediale Beschaffenheit, sondern Wagners Äußerung wird in dieser Lesart dem Rezipienten nahegelegt, der gerade durch die Verse und das Signalwort „Theater“, mit der Medialität der Vorlage konfrontiert wurde.11 Im zeitgenössischen Comic hat die alte Form des Dramas keinen Platz, so suggeriert es die Adaption zumindest auf stilistisch-formaler Ebene. Im gleichen Zug wird die eigene Medienspezifik gegenüber der Vorlage legitimiert. Dies geschieht zum einen durch die explizite Absage an die Medialität der Vorlage und zum anderen durch den Stil der Adaption, da sich dieser an den Erzählkonventionen von Comics – vor allem dem der Funnys orientiert – und damit an der gattungseigenen Form. Geht man wie Thierry Groensteen davon aus, dass in einem parodistischen Comic sowohl das unedle („ignoble“12) Medium Comic als auch die niedrige literarische Gattung der Parodie zusammentreffen,13 so liegt mit einem parodistischen Faust-Comic die größtmögliche Distanz zu Goethes Faust vor, der zur sogenannten Höhenkammliteratur zählt. Das Eigene, Comichafte und Paro-

|| 8 Vgl. Flix: Faust, S. 2–4. Ein weiterer Witz liegt darin, dass der Herr entgegen seines Schöpfungsprogramms nicht ‚vornehm‘ spricht, sondern in klassischer Comic-Manier flucht: „Du verflixter %@*!“ Ebd., S. 4. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 26. 11 Ebenso können die Handpuppen, mit denen im Himmel Telefonate – quasi in einer abgewandelten Form der Videotelefonie – übertragen werden, als Reminiszenz an die Puppenspiele verstanden werden. Sie sind hier vor allem für ihr kindisch-komisches Potential in Gebrauch. Der Assistenten-Engel hält dafür eine Handpuppe, welche den Anrufer darstellt. Vgl. ebd., S. 52. 12 Thierry Groensteen: Parodies, S. 10. Das Begriffspaar „art ignoble“ – „art noble“ geht zurück auf Pierre Sterckx, vgl. ebd. 13 Ebd., S. 9f.

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distische fallen im ‚Comic‘-Teil dieses Faust-Comics zusammen. Die Medienspezifik des Comics, gerade in ihren stereotypen Erscheinungen, wird dabei dem hochliterarischen Klassiker nicht untergeordnet. Der comichafte Stil der Adaption kann daher insgesamt als implizit weitergetragener Kommentar zur medialen Differenz und der daran geknüpften Wertung von Vorlage und Adaption verstanden werden. Bei Goethes Faust werden die Werkgrenzen durch das explizite Ausstellen der eigenen Mittel (‚Vorspiel auf dem Theater‘, Mephistos Rollenwechsel) und die vorhandenen Rezeptionsangebote von Bühnenwerk, Vorlesestück und Lesedrama vielfach reflektiert und ausgelotet.14 Demgegenüber werden in Flix’ Comic die eigenen medialen Mittel nur punktuell explizit reflektiert und sie bleiben an einen konventionellen Gebrauch angelehnt. Dennoch stellen beide Autoren auf besondere Weise die mediale Seite der Werke aus: Goethe durch Überschreitungen und Reflexionen und Flix durch exzessiven Gebrauch medieneigener Mittel. Die Adaption nutzt besonders viele ‚typische‘ medienspezifische Eigenschaften, die insgesamt als medialer Systemverweis auf Comics und deren soziokulturelle Wertung verstanden werden können. Perspektivenwechsel, Farbwechsel, lettering, Bewegungslinien, Geräuschwörter und symbolische Comic-Zeichen haben in ihrer Gesamtheit die Dynamisierung der Handlung und die Lebendigkeit des Gezeigten zur Folge. Als mögliche gattungstypische Merkmale werden sie in dieser Faust-Adaption variantenantenreich realisiert. Auffällig ist die große Vielfalt bei der Verwendung lischer Zeichen, Sprechblasenvariationen und lautlichen Äußerungen. Ein Drittel der Gesamtanzahl von letzteren wird im Comic nur ein einziges Mal benutzt. Nicht einmal zwanzig Inflektive und Onomatopöien werden mehrmals verwendet. Dafür tauchen einige, wie „chrr“ (eine Variante für Schnarchgeräusche), „hechel“, „klopf“, „ringring“ (Telefonklingeln), „schnauf“, „snipp“ (schnipsen) und „tak“ recht häufig (je zwischen 7 und 17 Mal) auf. Hinzu kommen comictypische Scherze wie die von einem Panel ins nächste fallende Schreibtischlampe des Herrn15 oder der Slapstickhumor im grafischen Bereich. Der Umfang der in dieser Adaption eingesetzten medieneigenen Mittel ist im Vergleich mit anderen Faust-Comics durchaus bemerkenswert, auch wenn sie für sich genommen zunächst nicht besonders innovativ erscheinen.16 Der

|| 14 Vgl. Albrecht Schöne: Goethes Faust. Kommentare. Frankfurt am Main 2005, S. 9–26, hier S. 20. 15 Flix: Faust, S. 47. 16 Der Einsatz der Soundwords zeigt ja, dass hier nicht ein simples Muster einfach wiederholt wird, sondern dass der Gebrauch durchaus abwechslungsreich ist.

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göttliche Blitzschlag, der Faust und Margarethe trifft und so den erfüllten Augenblick auf der Erde verhindert, sticht deutlich unter ihnen hervor, weil er so auf der Seite platziert ist, dass das Album für die Ansicht um 90° gedreht werden muss.17 Ein zu innovativer Einsatz der Mittel wäre auffällig und würde den Lesefluss unterbrechen. Gerade durch seine Konventionalität setzt sich die Adaption bewusst von der medialen Eigenschaft der Vorlage ab. Obwohl die Adaption keinen medienreflexiven ‚Prolog‘ wie das Vorspiel auf dem Theater aufweist, kann sie durch die Verwendung der medialen Mittel diese implizit kommentieren. Besonders im Zusammenhang des oft paratextuell geführten Diskurses um die Legitimität einer Faust-Adaption im Comic, indem etwa in Vorworten,18 Nachworten19 und Klappentexten20 das Projekt des jeweiligen Faust-Comics verteidigt wird, gewinnt die deutliche Markierung der comicspezifischen Medialität an Kontur. Der Einsatz der comiceigenen Mittel darf hier eben nicht nur als integraler Bestandteil eines bestimmten Comic-Stils verstanden werden, sondern vor allem auch als Kommentar und als Selbstreflexion über das Verhältnis von Prätext und Adaption. Die Stilmittel sind also für die Gattung der Funnys konventionell, aber im Kontext einer Literaturadaption allgemein sowie im Vergleich mit anderen Faust-Adaptionen durchaus als bedeutungstragend einzuordnen. Innerhalb dieses Kontextes wird auch deutlich, dass der Einsatz der Mittel keinesfalls trivial ist, sondern im Rahmen einer Medienreflexion der dem Medium Comic häufig unterstellten Trivialität entgeht.

3 Eine altbekannte Handlung für eine neue Zeit Bevor vor allem auf struktureller Ebene das Motiv der Repetition untersucht wird, soll ein Blick auf die Handlung geworfen werden.21 Es wird sich zeigen, in welchen Aspekten der Klassiker als sinnhafte Grundlage dient und inwieweit er ausgedient hat.

|| 17 Vgl. Flix: Faust, S. 90. Am Rand befindet sich der bildliche Hinweis, das Album im rechten Winkel nach links zu drehen. 18 Vgl. Joachim Kaps: Noch’n Faust? Anmerkungen zu des vorliegenden Pudels Kern. In: Faust. Hg. von Falk Nordmann. Hamburg 1996, o.S. 19 Vgl. Illustrierte Klassiker Nr. 129 (1962), S. 48. 20 Vgl. Christian Schieckel: Faust. Gezeichnet von Christian Schieckel. Köln 1991. 21 Die detaillierte Analyse der durchaus komplexen Handlungsstruktur sind dem entsprechenden Kapitel der Promotionsschrift zu entnehmen.

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Bei Flix’ Faust-Comic wird Goethes Drama, entgegen des Titels („Eine Tragödie“) zu einem lustigen Gegenstand. Doch das Lachen geht nicht auf Kosten von Goethes Werk selbst. Ziel der Parodie ist vor allem dessen soziokultureller Status als Klassiker. Die Gattung Parodie ermöglicht in besonderem Maße den freien Umgang mit der Vorlage, Hauptsache der Wiedererkennungseffekt ist gegeben. Zur Bekanntheit des Dramas gehört, dass bestimmte Szenen immer wiederholt und somit leicht wiedererkannt werden, ohne dass ihr genauer Ort innerhalb der Dramenchronologie von Bedeutung ist. Daher ist es zum Beispiel zweitrangig, ob die Abfolge einzelner Szenen, wie etwa der Besuch im Dante Club (‚Auerbachs Keller‘) und der Hexenküche, im Comic vertauscht sind, solange sie zeitnah zu einander auftauchen. Eine Adaption wie die von Flix, die Goethes Faust vor allem in seinen heutigen Klischees wahrnimmt, zeigt genau diese bekannten Szenen und Handlungselemente. Zu ihnen gehören die Wette im Himmel, die Klage Fausts in der Szene ‚Nacht‘, der Osterspaziergang, die Verwandlung des Pudels, der Pakt, der Besuch in Auerbachs Keller und der Hexenküche, die erste Begegnung von Faust und Gretchen, das Treffen bei Marthe Schwerdtlein, die Ohnmacht im Dom sowie die letzte Szene im Kerker. Alle diese Szenen werden in der Adaption aufgegriffen. Sie werden jedoch nicht in dieser klaren chronologischen Reihenfolge übernommen, sondern neu arrangiert und zum Teil mehrfach transformiert. Dies ist im Rahmen der Faust-Comics äußerst ungewöhnlich. Die meisten Adaptionen – darunter alle deutschen – halten sich an die Szenenfolge des Dramas, was die Scheu im Umgang mit dem sakralisierten Klassiker einmal mehr beweist. Maximal werden Szenen zusammengefasst22 oder ausgelassen.23 Kleinere Umstellungen finden sich noch bei David Vandermeulen und Ambre, ansonsten geht nur noch Osamu Tezuka so frei mit den Handlungselementen des Dramas um wie Flix. Noch eine Besonderheit weist die Adaption auf: Für die meisten FaustComics gilt, dass jede adaptierte Dramenszene nur ein einziges Mal übertragen wird. In Flix’ Adaption kommen einige Dramenszenen allerdings mehrfach vor. Hierbei werden nicht die gesamten Szenen wiederholt, sondern durch die Wiederholung von Ereignissen aus bestimmten Szenen werden diese immer wieder aufgerufen. So hat sich z.B. die erste Begegnung von Faust und Gretchen

|| 22 Z.B. bei den Illustrierten Klassikern und bei der Adaption von David Vandermeulen und Ambre: Faust. Frontignan 2006; Faust. In: Illustrierte Klassiker Nr. 129 (1962); Osamu Tezuska: Faust. Tokio 1994. 23 Daraus ergibt sich genau genommen keine Änderung der Szenenabfolge, aber doch eine Veränderung des Handlungsverlaufs.

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mit seinen berühmten ersten Worten „Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, / Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?“24 in den kollektiven deutschen Zitatenschatz eingeschrieben. Die Adaption spielt mit der Erwartung dieses Zitats seitens der Leser. Dreimal wird die Erwartung im Comic aufgerufen. Dreimal wird sie enttäuscht. Beim ersten Erblicken im Gemüseladen ist Faust so überfordert, dass er überhaupt kein Wort mehr herausbringt.25 Vor dem Dante erbricht er vor Margarethes Füßen, womit er zwar genau genommen nun ‚etwas herausbringt‘ – aber es ist nicht das erwartete Zitat. Erst bei der dritten Begegnung im Park erlauben es die Umstände, dass Faust Margarethe mit dem richtigen Spruch für sich einnimmt. Das Faust-Zitat fällt ihm zwar als „Opener“ ein, wird aber von Mephisto als völlig unbrauchbar eingestuft (Abb. 2).26 Statt wortgewandt wie im Drama fallen dann seine tatsächlichen ersten Sätze besonders banal aus. Der Witz besteht darin, dass das Zitat nach zweimaligem Anlauf doch endlich fällt, aber sofort depotenziert wird. Bewusst unterläuft der Comic hier die Rezeptionserwartung, wenn er zweimal auf die bekannte Szene anspielt. Dadurch ergibt sich ein Spannungsbogen, der den Moment des Zitats im Comic zu einem Höhepunkt stilisiert. Als das Zitat dann aber fällt, handelt es sich eigentlich um eine Antiklimax, weil es direkt als ungeeignet abgetan wird. Im gleichen Zug stellt der Comic die Kanonizität der Floskel aus und identifiziert sie als in der Gegenwart trivialisiert und überholt. Eigenwilliger Weise behält die Szene gerade durch die Loslösung vom Zitat ihre Wichtigkeit. In Bezug auf die Handlung ist die Szene also weiterhin sinnstiftend, in Bezug auf ihre Trivialisierung, die durch die Floskel angezeigt wird, verwirft die Adaption sie. Zwar wird die Dramenhandlung in ihren groben Zügen übernommen, doch im großen Ganzen werden die Szenen aus dem Drama frei nach Belieben ‚angespielt‘ und darüber hinaus durch eigene Szenen ergänzt (etwa humoristische Szenen im Innern eines mechanisch betriebenen Pudels). Dabei wird gerade im freien Umgang das Detailwissen hinsichtlich der zugrundeliegenden Dramenhandlung deutlich. Indem Goethes Prätext reichhaltig und vielfältig aufgegriffen wird, bestätigt die Adaption dessen Kanonizität. Indem die Handlung aktualisiert, umgeformt und ergänzt wird, stellt sich das Eigene selbstbewusst auf gleicher Stufe daneben. Stets wird dabei beides – Übernommenes und Aktuelles – lächerlich gemacht. Obwohl der Comic zunächst so erscheint, entpuppt er sich nicht als eine solche Parodie, die den zugrundeliegenden Text abwertet. Es ist

|| 24 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie Erster Teil. Stuttgart 2000, V. 2605–6. 25 Die Worte „Aspirin! Eine Großpackung! Schnell!“ spricht er mit geschlossenen Augen. Vgl. Flix: Faust, S. 22. 26 Ebd., S. 58.

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zwar richtig, dass das Drama als Anlass für Gags dient, gleichzeitig fungiert es innerhalb der Adaption als Handlungsbasis.

Abb. 2: Flix: Faust. Der Tragödie erster Teil. Hamburg 2010, S. 58.

Die in der Faust-Rezeption oft idealisierte Gelehrten-Tragödie bzw. ihre Faust-Figur27 wird entsprechend der Gattung Parodie eindeutig banalisiert. Statt existentieller Probleme und erkenntnisphilosophischer Fragen quälen den Comic-Faust die kleinen alltäglichen Zwistigkeiten mit seinem Mitbewohner Wagner. Aus der Suche nach Erkenntnis, von der der Dramen-Faust in der Szene ‚Nacht‘ noch hinsichtlich seiner zurückliegenden Studien spricht, wird im Comic das Langzeitstudium ohne Ziel, das als Zukunftsperspektive nur noch die Arbeit in einem Taxiunternehmen bietet. Dadurch wird gleichermaßen der „strebende“ Doktor Faust28 wie auch der heutige Langzeitstudent parodiert. Angegriffen wird durch die Ironisierung jedoch nicht die Dramenfigur, sondern die ideologisch idealisierende Deutung, die sie vereinnahmt und mit Goethes Werk nur wenig gemein hat. Der wissenschaftliche Bildungsweg taugt heute nicht mehr zu idealisierender Deutung. Doch der Comic-Faust zeigt Verhaltensweisen, die in der heutigen Gesellschaft als politisch korrekt – eben als ideal – gelten: Er geht beim lokalen Gemüsehändler einkaufen, wohnt mit einem Mitbewohner ‚mit Migrationshintergrund‘, der im Rollstuhl sitzt, und er bezeichnet Mülltrennung sogar als Hobby.29 Hierin lässt sich die strukturelle Übertragung einer positiv gewerteten Faust-Fi-

|| 27 Für einen kurzen Abriss über die das Drama missverstehende idealisierende Deutung der Faust-Figur vgl. Albrecht Schöne: Kommentare, S. 36–42. 28 Johann Wolfgang von Goethe: Faust, V. 318, V. 11936–7. 29 Vgl. Flix: Faust, S. 8, S. 59.

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gur erkennen. Doch die Adaption stellt keinen neu idealisierten Faust dar. Obwohl der Comic-Faust zwar in Ansätzen eine richtige (politisch korrekte) Lebensweise zeigt, bleibt er in der konkreten Ausführung hinter dem Ideal der political correctness zurück: Mit seinem Mitbewohner lebt er statt in Harmonie in ständigem Streit, sein vermeintliches Bio-Gemüse kommt letztlich vom Großmarkt und der in der Wohnung stehen gelassene Abfall häuft sich dermaßen, dass Mephisto ihm als Teil des Paktes eine Putzhilfe anbietet.30 Als Taxifahrer (Abb. 3), WG-Bewohner, und ‚Öko‘ entspricht der Comic-Faust den Klischees des heute in einer Großstadt lebenden Akademikers. Zur Idealisierung taugt er genau so wenig wie der Gelehrte des Dramas. In der Adaption wird die Figur des Gelehrten somit zweifach parodiert: zum einen in einer idealisierenden Lesart und zum anderen in ihrem zeitgenössischen Äquivalent.

4 Vom Sinn der Floskeln Die Sprache des Comics ist an einer aktuellen Alltagssprache orientiert, in die Dramenverse als direkte wörtliche Zitate eingestreut sind. Grob betrachtet gibt es demnach zweierlei Wort-Zitatarten im Comic: Goethe-Zitate und Nicht-Goethe-Zitate. Die dramenfremden Zitate stammen nicht aus einem Zitatenschatz der klassischen Literatur, sondern dezidiert aus einer aktuellen Alltagswelt. So unterschiedlich auch der soziokulturelle und zeitliche Kontext der dramenfremden und drameneigenen Zitate ist, so ähnlich ist doch ihre Verwendung. Wurde das Drama für die eigene Handlung noch als Grund- und Ausgangslage genutzt, kann dies von den Wort-Zitaten nicht behauptet werden. Während die Übernahme der Handlung sinnhaft-produktiv genutzt wird, gilt für die Zitate umgekehrt zum größten Teil ihre Sinnentleerung als Prinzip. Statt der Adaption anhand von Goethe-Zitaten literarische Aufwertung oder gar den Nimbus gelehrter Kenntnis zu verleihen,31 erzeugt ihre stilistische Differenz zur Alltagssprache ironische Distanz. Zumeist handelt es sich um bekannte Zitate, doch selbst die weniger bekannten fallen durch ihr rhythmisiertes Syntagma, Inversion der Wortstellung oder der Wortwahl gegenüber der Alltagssprache auf. Insgesamt wirken die Zitate, obwohl sie in einer Faust-Adaption erscheinen und dort einen ihnen angemessenen Platz hätten, vor allem im Vergleich mit

|| 30 Vgl. ebd., S. 39. 31 Zur Verwendung von Zitaten zum Zweck, dem eigenen Werk Prestige zu verleihen vgl. Linda Hutcheon: Parody, S. 40f.

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anderen Faust-Comics unangemessen: Denn die Faust-Verse werden in Flix’ Adaption nicht bloß in den neuen Kontext der Adaption zitiert, sie werden bewusst und in mehrfacher Hinsicht aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen. Dabei wird nicht das Drama als Gesamtwerk in seiner Sinnhaftigkeit angezweifelt. Vielmehr sind die Zitate auch in der realen Alltagswelt des Rezipienten bereits trivialisiert und dieser Zustandsbefund wird in extremer Übertreibung in der Adaption vorgeführt. Im Comic werden die Zitate also nicht einfach nur als bekannt vorausgesetzt, sondern dezidiert als Gemeinplätze. Dies führt der Comic vor allem dann vor, wenn er die Verse lediglich als Plattitüden gebraucht. Ihr ursprünglicher – nicht zuletzt auch philosophischer – Kontext ist damit suspendiert. Wenn das Radio den Wetterbericht mit den ersten Zeilen des Ostermonologs beginnt, dann liegt der Witz darin, dass den Versen nicht eine neue Bedeutung zukommt, sondern dass ihr Zitatkontext noch bedeutungsloser ist als das durch vielfache Wiederholung bereits sinnentleerte Zitat.32 Die Zitate werden in ihrer Dekontextualisierung gezeigt und somit eindeutig als Floskeln markiert. Statt philosophischer Lebensfragen kommentieren die Zitate im Comic nur Banalitäten. Sie sind komisch, weil sie von ihrem Ursprung aus dem Drama her unangemessen sind. Diese Unterscheidung ist durchaus wichtig: Es heißt gerade nicht, dass das Drama als Ansammlung von Banalitäten gewertet wird. Den Versen, auch im Comic, ist ihre Fähigkeit zur Sinnsetzung ungenommen. Doch Goethes Faust als Zitatenschatz bedeutet vielfach den Versuch, eine Aufwertung des Eigenen erlangen zu wollen, aber meist nur eine Trivialisierung der Dramenverse zu erreichen. Parodiert wird im Comic ein trivialisierender Umgang mit den Versen – ein Umgang, der die durchaus sinnhaften Verse des Dramas zu trivialen gemacht hat. Gerade Zitate, die mehrmals vorkommen, machen dies deutlich. So wird die für den Ausgang der Wette wichtige Bedingung des Augenblicks, der verweilen soll, im Comic gleich zweifach genannt. Das erste Mal erfolgt die Nennung ähnlich wie im Drama im Rahmen eines Paktschlusses. Allerdings gehören die Worte hier zu Mephistos Verkaufsstrategie.33 Beim zweiten Mal erinnert Faust ihn an diese Bedingung. Doch auch hier werden die Worte nicht in ihrem erfüllenden Augenblick, sondern aus dem Negativum heraus gesprochen. Denn nach der desaströsen Begegnung mit Margarethe vorm Dante ist Faust „nie ferner davon, zum Augenblick zu sagen, verweile doch, du bist so schön!“34 Gerade der Mehr-

|| 32 Vgl. Flix: Faust, S. 21. 33 Vgl. ebd., S. 33. 34 Ebd., S. 54.

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fachgebrauch so bekannter Verse zeigt diese als Alltagsgegenstand und in ihrer totalen Verfügbarkeit. Gerade die Gattung Parodie bedeutet eine deutliche Neukontextualisierung der Zitate und ermöglicht in besonderem Maße den freien Umgang mit ihnen. Dabei birgt vor allem der Austausch von Sprecher und Adressat ihren besonderen Witz. Jedoch scheint es im Kontext der Adaption schlussendlich genauso zweitrangig, wer die Verse spricht, wie die Frage, ob die Zitate wörtlich unverändert übernommen werden. Die wenigsten Verse werden tatsächlich wörtlich übernommen. Sie sind aufgrund ihres großen Bekanntheitsgrades trotzdem weiterhin als Faust-Zitate erkennbar. Einige Verse werden zum Beispiel durch Abänderung einzelner Wörter an den heutigen Sprachgebrauch angeglichen.35 Bei anderen wird die Lesbarkeit entweder durch einen Zusatz36 oder auch durch Auslassungen erhöht, was die Zitate im Kontext der Comic-Handlung vereinfacht. So flucht Faust, als es ihm nicht gelingt, den Autoschlüssel in das Zündschloss zu stecken, „[…] ihr solltet Schlüssel sein, doch hebt ihr nicht den Riegel!!!“37 (Abb. 3) Das Zitat fällt sofort als solches, als Fremdkörper, auf. Für den Comic ist es dabei unerheblich, ob der ursprüngliche Kontext erkannt wird oder dass das Zitat gekürzt ist. Im Drama beklagt Faust mit diesen Versen, dass ihm weitere Erkenntnisse verborgen (verschlossen) bleiben. Diese Bedeutung entfällt im Comic, wenn die Verse auf eine banale Autofahrt bezogen werden. Diese Unangemessenheit (Trivialisierung) bietet einen besonderen Witz für alle, die den Originalkontext der Verse kennen, eine Fallhöhe in Ausdrucksweise und Referenzobjekt ist allerdings in jedem Fall deutlich. Indem im Comic durch das Zitat zwei Stilebenen verknüpft werden, stellt die Adaption in humoristischer Weise die Verse als trivialisierte Gemeinplätze aus. Andere kleinere Veränderungen tragen mehr Gewicht: Die begeisterten Worte Mephistos „Ah bravo! Find ich euch in Feuer?! In kurzer Zeit ist Margarethe euer!“38 weisen im Vergleich zum Drama einen wichtigen Unterschied auf, da der

|| 35 Aus „Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel.“ (V. 368) wird „Mich plagen weder Skrupel noch Zweifel“; vgl. ebd., S. 17. 36 Fausts Beschwörungsspruch zum Exorzieren des Pudels wird durch den Zusatz etwas Leierhaftes gegeben; vgl. ebd., S. 61: „Wer sie nicht kennte, die Elemente, in ihrer Kraft und Eigenschaft, wäre kein Meister über die Geister.“ (Meine Betonung der Änderung) – Im Comic geht es an dieser Stelle nicht um Geisterbeschwörung, sondern um Fausts Erfolg bei Margarethe. 37 Vgl. ebd., S. 18 und Johann Wolfgang von Goethe: Faust, V. 670–1: „[…] ihr solltet Schlüssel sein; / Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel.“ Im Gegensatz zur metaphorischen Sprache des Dramas geht es im Comic um einen gegenständlichen Schlüssel. 38 Flix: Faust, S. 65.

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Kosename „Gretchen“ durch die Langform Margarethe ersetzt ist. Dadurch fallen auch die mit der Kurzform einhergehenden Assoziationen weg, welche die Rezeption der Figur bis heute dominieren.39 Obwohl Margarethe zu keiner Zeit der Comic-Handlung als Gretchen bezeichnet wird, tritt die Bedeutung der konsequent anderen Benennung erst im Zitat so deutlich hervor. Dass die Mutter Margarethe „Özlem“ ruft, bedeutet eine weitere – ironische – Depotenzierung der gängigen Gretchen-Rezeption.40

Abb. 3: Flix: Faust. Der Tragödie erster Teil. Hamburg 2010, S. 18.

Während die meisten Zitate durch ihren Kontext als Floskeln vorgeführt werden, werden andere sogar explizit als überholt, unbrauchbar oder sinnlos abgetan. Fausts erster Satz an Gretchen im Drama und die Ablehnung dieses Satzes im Comic wurden bereits angeführt. Ebenso wird der halbherzige Versuch Mephistos, mit dem Hexen-Einmaleins die horrenden Ausgaben für den Pullover zu rechtfertigen, von Faust mit einem energischen „Unsinn!“ unterbunden.41 Während hier nicht klar ist, ob Faust das Zitat als Zitat erkennt, werden andere Verse auch auf intradiegetischer Ebene eindeutig als Zitate markiert. Auf Fausts Einwand, ein

|| 39 Vgl. Albrecht Schöne: Kommentare, S. 191f. Im Gegensatz zum Drama schreibt sich der Name im Comic mit „th“. 40 Vgl. Flix: Faust, S. 40. 41 Vgl. ebd., S. 47.

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einstündiges Treffen mit Margarethe sei doch sehr kurz,42 reagiert Mephisto unter anderem mit dem Zitat auf zweiter Ebene „Ich weiß, ich weiß. ‚Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang.‘ Blablablablabla…“43 Mephistos Abwertung macht deutlich, dass er das Zitat als abgegriffene Plattitüde begreift. An anderer Stelle beruft sich Mephisto explizit auf Goethe: „Vertrau deinem Coach! ‚Sobald du ihm vertraust, sobald weißt du zu leben.‘ Das wusste schon Goethe.“44 Selbst die Berufung auf den Autor verleiht den Zitaten nicht mehr Gewicht. Ganz im Gegenteil: Das anhaltende Zitieren Goethes als Autorität und Urheber von Lebensweisheiten wird hier lächerlich gemacht. Zumal Mephisto das Zitat bezeichnenderweise gerade bei expliziter Zitation falsch – oder immerhin verändert – wiedergibt.45 Es finden sich noch weitere explizite Verweise auf Goethe als Autor. Dabei geht es nicht um ein besonderes Wissen Eingeweihter, sondern gerade um das, was jeder weiß. Für den Goethe-Kenner mag der Pudelname, Charlotte von Stein, besonderen Witz bergen (oder ein besonderes Ärgernis sein), doch nicht nur Kenner werden ihn zumindest mit Goethe assoziieren. Diese extradiegetischen Verweise wie auch die Zitate selbst haben immer auch ein metafiktionales Potential, da dadurch im Comic Aussagen von Figuren über ihre eigene fiktionale Welt gemacht werden. Den Comic-Figuren ist jedoch nicht bewusst, dass sie ihre Vorlagen implizit kommentieren. Dem Spruch von der Kenntnis der Elemente aus der Pudel-Beschwörung des Dramas folgt im Comic die rhetorische Anmerkung „aber wem sage ich das!!!“ Ganz so, als hätte der Comic-Faust die Beschwörungsworte ebenso wie der Dramen-Faust gesprochen. Dies ist aber nicht der Fall, weshalb sich hiermit ein metaleptischer Kurzschluss ergibt. Zu keiner Zeit ist den Figuren bewusst, dass sie sich in einer Faust-Adaption bewegen. Darum liest der Herr auch einen möglichen Plotverlauf nicht in Goethes Faust nach, sondern in einem Handbuch von Syd Field, der vor allem für seine Tutorien zum Drehbuchschreiben bekannt ist.46 Aus demselben Grund kann Mephisto in einer stillen Minute zum Drama greifen und innerhalb der

|| 42 Vgl. Fausts eigene Worte: „WTF? Eine Stunde?!“ Ebd., S. 65. 43 Ebd. Das Zitat ist doppelt, weil es sich hierbei um einen Hippokrates-Aphorismus handelt; vgl. Albrecht Schöne: Kommentare, S. 222 und S. 265. 44 Flix: Faust, S. 46. 45 Im Drama spricht Mephisto eben gerade nicht davon, ihm zu vertrauen, sondern rät Faust Vertrauen zu sich selbst – also das genaue Gegenteil. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Faust, V. 2062. 46 Vgl. Flix: Faust, S. 60, S. 94. In Flix’ erster Adaption wird noch das Drama als Beleg zu Rate gezogen; vgl. Flix: Who the fuck is Faust? Eine Comic-Tragödie in 7 Tagen frei nach J.W. Goethe. Frankfurt am Main 1998, S. 62. Dass das Drama mit offener Struktur gerade durch Syd Fields vereinfachende Plot-Struktur ersetzt wird, hat natürlich seinen eigenen Witz.

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Faust-Adaption Goethe lesen, ohne Parallelen zu seinem Dasein zu empfinden.47 Die Komik des Rahmenbruchs entfaltet sich nur für den Leser. Das Drama wird hier auf eine dritte Art als Teil der fiktiven Welt gezeigt: Es ist nicht nur Muster für den Handlungsverlauf und in den Zitaten in den Figurenreden präsent, sondern taucht auch als materieller Gegenstand im Faust-Comic auf. Die Allgegenwärtigkeit des Faust-Dramas, die im Comic parodiert wird, ist damit einmal mehr hervorgehoben. In der Faust-Adaption verlieren die Goethe-Zitate niemals ihre Komik – zu keinem Zeitpunkt erscheinen sie selbstverständlich oder gar unauffällig. Es geht also nicht darum, die Zitate besonders sinnvoll einzusetzen, ihnen einen tieferen Sinn zu entlocken oder das ‚richtige‘ Verständnis des Kontextes – des Dramas – vorzuführen. Dafür werden sie in ihrer Floskelhaftigkeit überzogen – und nur so funktioniert die Parodie auf die Alltäglichkeit des Faust. In den Faust-Zitaten wird das Drama nur noch als Floskel, als sinnentleerte Phrase, widergespiegelt. Die Zitate bieten keine tieferen Einsichten mehr. Im Gegensatz zum Klassikersturz der 60er und 70er Jahre aber muss diese Adaption den Klassiker nicht mehr vom Podest stoßen. Dies ist schon längst geschehen. Der Comic nimmt diesen Zustandsbefund, treibt ihn ins Extrem und parodiert ihn dadurch. Dass Goethes Faust in der Adaption nur noch in Form von Plattitüden vorkommt, kann zu der Fehlannahme führen, dass das Drama die Angriffsfläche der Parodie darstellt. Es wird jedoch nicht das Drama selbst, sondern ein bestimmter Umgang mit diesem parodiert. Darüber hinaus nutzt die Adaption die Parodie, um aktuelle gesellschaftliche Verhältnisse und Diskurse zu ironisieren. Die Untersuchung der Figurenrede zeigt einen hohen Anteil an Floskeln/verbalen Versatzstücken, die im Gegensatz zu den Faust-Zitaten als Systemreferenzen einzuordnen sind, weil sie in ihrer Gesamtheit aus dem späten 20. und frühen 21. Jahrhundert stammen. Dies können komplette Sätze sein wie „I don’t think so, my friend”48 oder „[t]hat’s why I’m da [sic] coach, man“49, aber auch kürzere Wendungen wie „[n]ice try, dude“50, „Bad news“51, „[i]t’s Party-Time“52 oder das in einen ansonsten deutschen Satz eingestreute „[…] all night long […].“53 Die Figurenrede im Comic parodiert den Soziolekt einer bestimmten zeitgenössisch informierten und international orientierten Sprechergruppe. Sie passen daher || 47 Vgl. Flix: Faust, S. 44–45. 48 Flix: Faust, S. 52. 49 Ebd., S. 62. 50 Ebd., S. 61. 51 Ebd., S. 63. 52 Ebd., S. 73. 53 Ebd., S. 77. Die Wendung „all night long“ bezieht sich zusätzlich auf den Titel eines Hits von Lionel Richie aus dem Jahr 1983.

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hervorragend in Mephistos Wortschatz, der sich Faust als „Coach“54 vorstellt und sich im ‚Prolog‘ wie jemand aus einem global agierenden Wirtschaftsunternehmen artikuliert, wenn er dem Herrn an einem Flipchart Aktienkursverläufe vorlegt.55 Die englischsprachigen Anteile verweisen darüber hinaus implizit auf die Diskussionen über ‚guten Stil‘ oder ‚richtiges Deutsch‘, das keine Anglizismen aufweisen sollte. Die implizite Aufnahme dieses Diskurses durch die sprachlichen Verweise greift indirekt die Polarisierung von ‚deutscher Dichtersprache‘ und ‚Modesprache‘ auf, die wiederum als Variante der Differenz Comic versus Drama verstanden werden kann. Die Adaption zeigt hingegen, dass diese Opposition nicht haltbar ist. Dies geschieht jedoch nicht, indem der Alltagsrede eine besondere Wertigkeit zugesprochen wird. Im Gegenteil: Der Befund, dass die Zitate keinen tieferen Sinn mehr enthalten, ist auf die Sprechweise des Comics insgesamt zu übertragen.56 Daran ändert auch das Tucholsky-Zitat „Freundschaft, das ist wie Heimat“57 nichts. Es handelt sich hier zwar zunächst um ein Zitat aus einem ‚höheren‘ kulturellen Bereich (der Literatur), doch auch dies hat im Comic nur noch den Wert einer Floskel. Es ist wie die anderen Verweise als Gemeinplatz in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Dieses Zitat aus Schloss Gripsholm folgt übrigens in direktem Anschluss an die Casablanca-Referenz, wodurch es seine etwaige ‚Aura‘ gleich wieder einbüßt: Es ist nicht weniger Phrase als das Film-Zitat. Auch wenn die Herkunft der Verweise hier aufgeführt wurde, ist sie im Comic weitgehend unerheblich. Die Zitate sind dermaßen Teil der Alltagssprache geworden, dass sie als einzelne Phrasen vom Kontext losgelöst stehen können. Im Gegensatz zu Literaturzitaten, bei denen meistens auch ihr Ausgangsort für ihre Sinnhaftigkeit eine Rolle spielt, ist für diese Zitate weder ihr Ursprungsort von Bedeutung, noch ein ihnen möglicherweise innewohnender Sinn, der den neuen Kontext dialogisch transzendiert. Die Verweise geben kein esoterisches Wissen von besonderer Gelehrtheit preis. Als Teil der Massenkultur handelt es sich um ‚Allerweltswissen‘. Sie offenbaren sich beispielhaft als Endprodukte eines Trivialisierungsprozesses, der alles einverleibt. In dieser Hinsicht sind sie den Faust-Zitaten innerhalb der Adaption in ihrer Wertstellung angeglichen. Damit lässt sich in der Zusammenschau von Goethe-Zitaten, anderweitigen Zitaten

|| 54 Ebd., S. 32 55 Vgl. ebd., S.7. 56 Das heißt natürlich nicht, dass die Rede im Comic sinnlos ist, sondern nur, dass sie sich nicht aus Sinnverweisen speist. 57 Flix: Faust, S. 36.

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und den rhetorischen Versatzstücken die gesamte Rede des Comics als floskelhaft bezeichnen. Rein quantitativ ist die Anzahl fremdmedialer Zitate ungefähr so hoch wie die der Goethe-Zitate.58 Doch wenn man die Verweise anhand ihrer medialen Herkunft gegenüberstellt, ergibt sich ein Übergewicht ersterer im Vergleich zu Zitaten aus Faust. Es wird nicht jedes einzelne durch die Verweise aufgerufene Medium im Comic reflektiert, sondern sie alle gemeinsam als Vertreter einer ganzen Mediengruppe: Massenmedien des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. In dieser zeitlichen und soziokulturellen Gegenüberstellung liegt die Reflexion der Differenz. Der Abstand der beiden Pole dieser Differenz wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass keine weiteren Faust-Bearbeitungen genannt werden, wie sie zum einen in Flix’ erster Faust-Adaption und zum anderen in einigen Faust-Comics anderer Autoren vorkommen.59 Indem seine Rezeptionsgeschichte ausgespart wird, erscheint der Klassiker in seiner historischen Vergangenheit isoliert.60 Darüber hinaus werden die anderen Medien auch nicht auf formal-ästhetischer Ebene thematisiert. Fernseher und Fernsehbilder werden zwar gezeigt und Sendungen benannt, doch das Darstellungsverfahren des Comics ist keine selbstreflexive Auseinandersetzung mit kinematografischen Mitteln oder mit RealityTV. Die Filmaufnahme von Mephistos Besuch bei Margarethes Mutter dient eben gerade nicht als Anstoß zur Reflexion von medialer Vermittlung über Kameras als gestalterisches Mittel, sondern die mediale Vermittlung durch Heimvideos über Plattformen wie YouTube gehören zu einer alltäglichen Teilnahme an Geschehnissen. Sie sind Bestandteil unserer Alltagswelt und werden als solche präsentiert. Gleichzeitig sind sie mehr als ein bloßer Wirklichkeitseffekt. Erst Ihre Vielzahl, als Stilmittel der Übertreibung verstanden, legt die Überlegung einer Medienreflexion nahe. Dabei ist die Zeitlichkeit dieser Medien durchaus beachtenswert: Die Ähnlichkeit, welche zwischen den Medien hergestellt wird, ist ihre gemeinsame Existenz im Alltag des 20. bis 21. Jahrhunderts sowie ihr Status in

|| 58 Es wurden jeweils ca. 30 gezählt. Dies ist natürlich keine fixe Anzahl, da das Erkennen von Zitaten leserabhängig ist. 59 Vandermeulen und Ambre zitieren vor allem Faust-Bearbeitungen vor Goethe wie das Volksbuch von Johann Spies oder verweisen durch die Marionette im Zuschauerraum auf die Puppenspiele. Jürgen B. Kuck und Christian Schickel nehmen bekannte Illustrationen in ihre Hintergrundgestaltung auf, darunter Moritz Retzschs Darstellung von Gretchens Stube. Jürgen B. Kuck: Johann Wolfgang Goethe: Faust. Berlin 2005, S. 17, passim; Christian Schieckel: Faust, S. 62, passim. 60 Deutlich wird diese Isolationsstrategie vor allem im Vergleich mit Flix’ erster Faust-Adaption. Dort werden auch die Gründgens-Inszenierung sowie Klaus Manns Mephisto erwähnt. Vgl. Flix: Who the Fuck is Faust? S. 45.

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der Gesellschaft. Die Adaption versteht sich als Teil dieser zeitgenössischen Medien. Hinsichtlich der Medialität ist das Eigene nicht auf ein Medium (Comics) reduziert, sondern erstreckt sich auf die Gesamtheit der aktuellen, ‚trivialen‘ Medien.61 Ein Grund für die unterschiedliche Wertung der Idee von originärem Einzelwerk und der trivialen Massenmedien ist das Vorurteil, dass letztere auf der Wiederholung einfacher und einfach zu rezipierenden Schemata beruhen.62 Nun hat Goethe sein Werk zwar als das eines „Kollektivwesens“63 bezeichnet, doch dessen kanonische Stellung stützt sich auf die Vorstellung eines genialisch-originären Werks und Autors. Wie jedoch die Untersuchung der Faust-Zitate bereits deutlich gezeigt hat, ist das Drama nicht in dieser Form in der Adaption präsent, sondern als ein zu Floskeln reduziertes. Damit wird klar, dass der Comic eine Destruktion dieser Hierarchie anstrebt. Für die Faust-Zitate gilt nichts anderes als für die zeitgenössische Rede: Wie diese werden die Dramenverse als sinnentleerte Phrasen wiedergegeben. Eigenes und Übernommenes bilden somit kein Gegensatzpaar, sondern sind einander angeglichen. Da auch die Sprache des 21. Jahrhunderts keine größere Bedeutung für sich beansprucht, als der trivialisierte Klassiker, werden Klassiker und Populärkultur in diesem Faust-Comic auch in dieser Richtung gleichwertig. Die eigene, aktuelle Welt ist der Zeit der Klassik nicht überlegen. Genauso wenig hat das Drama im heutigen Alltag eine stärkere Relevanz. Der Comic verfällt also nicht der Nostalgie. Es wird nicht einem klassischen Zeitalter nachgetrauert oder dieses gar heraufbeschworen. Umgekehrt entfaltet sich das parodistische Potential der Adaption nicht, weil das Eigene dem Übernommenen gegenüber überlegen erscheint. Als Teil der Alltagskultur steht das Drama

|| 61 Das eigene Medium Comic wird kaum in den Referenzen angeführt. Nur zweimal wird fast unauffällig im Bildteil auf andere Comics verwiesen. Auf die Serie Hellboy anhand eines Buchrückens, auf Watchmen mit den Skeletten von Faust und Margarethe, die an die Skelette von Nite Owl und Silk Spectre während der Atombombenexplosion erinnern. Vgl. Flix: Faust, S. 43, S. 91. Vgl. Alan Moore und Dave Gibbons: Watchmen. New York 2008 (zuerst 1986–7), Heft 7, S. 16f. 62 Zu diesem Vorwurf in Bezug auf Comics, vgl. Thierry Groensteen: Why Are Comics Still in Search of Cultural Legitimization? In: A Comic Studies Reader, S. 3–11, hier S. 9: „Some will answer that comics have taken form literature and drawing their least noble parts: from the former stereotyped plots and over-referenced genres, and from the latter caricature and schematization.“ Zur vermeintlichen Einfachheit dieser Zeichen, die nach Frahm eigentlich eine „Überforderung“ darstellen, vgl. Ole Frahm: Die Sprache der Comics, Hamburg 2010. 63 Worte überliefert von Fréderic Soret, in: Goethes Gespräche. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Frhrn. von Biedermann. Zitiert nach Albrecht Schöne: Kommentare, S. 27.

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gleichwertig oder eben gleich wertlos neben solchen Zitaten, die größtenteils aus einem aktuelleren Zeitraum und der Populärkultur entstammen.

5 Running Gags – Der Witz durch Wiederholung Eine besondere Form des wiederholenden Zitats ist eine spezifische Variante des intramedialen Selbstzitats. Die Adaption bildet durch dieses Verfahren ihre eigenen Running Gags aus, die durch ihren leicht hysterischen Slapstickhumor entschieden den Ton der Adaption prägen. Als Running Gag sind die Verweise deutlich zitierende Wiederaufnahmen, erlauben aber gleichzeitig eine gewisse Offenheit für Variation. Während beispielsweise in der Rede wörtlich zitiert wird, kann sich die Figurensituation ändern. Auch andere Variationen sind denkbar, ohne dass die Deutlichkeit des Verweises darunter leidet. Somit ist es auch möglich mehrere Selbstzitate in einer Situation zusammenzulegen. Ein Beispiel für einen solchen Running Gag sind die gehäuften, plötzlichen Todesfälle von Faust, Marthe, Margarethes Mutter und Valentin.64 Durch die slapstickhafte Überzeichnung bekommen zudem alle Todesfällte etwas Drastisches in ihrer Plötzlichkeit, während die hyperbolische Darstellung gleichzeitig für einen comic-relief sorgt. Ihre visuelle Übereinstimmung besteht vor allem darin, dass die Betroffenen fast alle wie ohnmächtig zu Boden stürzen, weswegen auch Margarethes Ohnmacht in der Kirche65 dazugezählt werden kann.66 Teil dieser Handlung ist entweder ein Blick ins Jenseits (Faust allein und Faust mit Margarethe) oder das Auftauchen des Todes in Person (Marthe, Valentin) oder sogar beides (Mutter). Der Tod kündigt sich beim Auftauchen als Paketdienst mit dem Satz „[i]ch soll hier ein Päckchen abholen“ an.67 Ebenso ist die „Nummer vom Notarzt“ Teil dieses Gags: Bei Marthes Herzinfarkt fragt Mephisto Faust noch hektisch danach, beim Zusammenbruch der Mutter sagt Faust sie schon fast resigniert auf.68

|| 64 Vgl. Flix: Faust, S. 49–51, S. 69, S. 75f., S. 79f. 65 Vgl. ebd., S. 82. 66 Davon unterschieden ist der Tod des Liebespaares, die im Stehen sterben. 67 Ebd., S. 70, S. 80. 68 Vgl. ebd., S. 70, S. 75. Der Gag wird durch die Stellung in der rechten unteren Ecke (letztes Panel der Seite) und im zweiten Fall zusätzlich durch ein rahmenloses Panel betont.

Goethes Faust von Flix im Comic adaptiert | 475

Neben diesem recht umfangreichen Situationsgag mit variierenden Wiederholungen von Figur, Rede und Ort, gibt es auch kleinere Selbstzitate. Der häufigste Running Gag ist der bei jeder Gelegenheit pupsende Pudel.69 Andere dienen der Charakterisierung. Sein Lieblingsgetränk, ein „[…] doppelte[r] Ramazotti ohne Zitrone mit Eis und Schirmchen“ zeigt den Herrn als Exzentriker.70 Weil das auch optisch auffällige Getränk einmal so umfassend benannt ist, reicht es aus, es im Laufe der Handlung ohne weitere wörtliche Benennung zu zeigen.71 Dieses Getränk ist dem Herrn so lieb, dass er in größter Verzweiflung danach fragt, anstatt „was zu tun“72, und Mephisto es deshalb geschickt als Überzeugungsmittel einsetzt, um den Herrn für zwei Kisten davon die Wette einschlagen zu lassen.73 Es lassen sich noch weitere Beispiele für diese Form des intramedialen Selbstzitats als Running Gag finden, doch zeigt der kleine Überblick schon die verschiedenen Verfahren, dieses einzusetzen. Wie die allgemeineren Selbstverweise tragen auch die Selbstzitate entschieden zur Erschaffung der fiktionalen Welt, dem ‚world-building‘, bei. In ihrer ‚Plattheit‘ wiederum korrespondieren sie mit der floskelhaften Rede. Ihre besondere Bedeutung liegt jedoch vor allem im expliziten Verweis auf das Prinzip der Wiederholung bzw. auf Wiederholung als Prinzip. Durch die Überzeichnung der komischen Wiederholungen wird auf ihr Vorhandensein und ihre Beschaffenheit Aufmerksamkeit gelenkt. Indem bestimmte Ereignisse schematisch wiederholt werden, wird nicht nur die Figurenrede als Floskel gezeigt, sondern die übergreifende Struktur des Comics. Versteht man die Handlung in ihrer Ganzheit als Syntagma, dann ist diese syntagmatische Äußerung von sich wiederholenden Elementen (Selbstzitaten) geprägt. Hier spiegelt sich auf der Mikroebene der Handlung das Prinzip, das für den Comic in seiner Gesamtheit als Adaption gilt: die Wiederholung. Die Adaption bestätigt also die sie einleitende Frage „nochmal?“ sowohl auf Handlungs- als auch auf Diskursebene. Durch die doppelte Bestätigung reflektiert die Adaption metafiktional ihre eigene Beschaffenheit. Wichtiger noch: Obwohl Floskeln und Plattitüden das Material der Wiederholungen darstellen, reflektiert und widerlegt die Adaption den Vorwurf der sinnentleerten Reproduktion im Massenmedium und entgeht so einer in der Medienhierarchie angenommenen Trivialität der ComicAdaption.

|| 69 Vgl. ebd., S. 27, S. 28–31, S. 36f., S. 64, S. 86. 70 Ebd., S. 4. 71 Vgl. ebd., S. 52, S. 82. 72 Ebd., S. 87. 73 Vgl. ebd., S. 7.

Hannes Höfer

Transatlantischer Klassiker-Transfer Wie aus der Moritat von Mackie Messer der Jazz-Standard Mack the Knife wurde Die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht und Kurt Weill gehört zu den größten Theatererfolgen der Weimarer Republik. Sie wurde nach ihrer Uraufführung am 31. August 1928 im Theater am Schiffbauerdamm auf nahezu allen großen Bühnen des Landes inszeniert, der Stoff wurde 1931 verfilmt, die Songs der Dreigroschenoper wurden in Klavierauszügen verkauft, es gab unzählige Einspielungen von berühmten Unterhaltungsorchestern und in Berlin eröffnete sogar das Lokal Dreigroschen-Keller, das mit seinem Namen an der Popularität des Stückes teilhaben wollte und diese gleichzeitig weiter vorantrieb.1 Der Erfolg des Theaterstücks ist also von Anfang an ein multimedialer, der über verschiedene Wege Eingang in die Alltagskultur findet. Diese umfassende Popularität hat einen nicht zu vernachlässigenden Anteil daran, dass Die Dreigroschenoper heute als ein Klassiker des deutschen Theaters gilt. Sowohl Brecht als auch Weill haben die multimediale Verbreitung ihres Stückes aktiv vorangetrieben. Und Weill ging die Popularisierung seiner Musik entschieden zu langsam. Am 25. Oktober 1928 schreibt er an seinen Verlag Universal-Edition: Ich hätte gern noch einmal mit Ihnen ausführlich über die Auswirkungsmöglichkeiten meiner schlagerartigen Kompositionen gesprochen. Ich bin über die bisherigen Erfolge dieser Stücke und über die Aussichten, die sie augenblicklich haben, tief beunruhigt. […] Ich bin überzeugt, dass meine Begabung, eine völlig neue Art volkstümlicher Melodien zu schreiben, heute vollkommen konkurrenzlos ist. Wenn diese Sache in einer grosszügigen, neuartigen Weise aufgezogen wird, so besteht kein Zweifel darüber, dass meine Schlagerkompositionen an die Stelle der jetzt gerade etwas abgelebten amerikanischen Jazzkompositionen treten können. Das ist auch die einstimmige Meinung aller ausländischen Hörer der Dreigroschenoper. […] Besonders möchte ich Ihnen den dringenden Vorschlag machen, die besten Nummern aus der Dreigroschenoper für Amerika einem der dortigen Schlagerverleger

|| 1 Vgl. Pamela Katz: The Partnership. Brecht, Weill, Three Women, and Germany on the Brink. New York u.a. 2015, S. 242. https://doi.org/10.1515/9783110615760-029

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zu übergeben, da ich sonst keine Möglichkeit einer Ausnützung der ungeheuren Chancen meiner Musik für Amerika sehe.2

Als es 1933 zur ersten Inszenierung der Dreigroschenoper in New York kommen soll, ist Weill wiederum bemüht, deren Erfolg umfassend vorzubereiten. Neben der Aufforderung, dringend eine Originalpartitur nach New York zu schicken, verlangt er von seinem Verlag: Ich bitte Sie auch, Herrn Dreyfus, dem Leiter des Harms Verlags, der, wie mir Wreede sagt, selbst ein sehr guter Musiker sein soll, ausführlich zu schreiben, dass er die musikalische Einstudierung der 3 Gr.-O. mit der gleichen Sorgfalt betreuen soll, wie er es bei den Gershwin-Werken macht, ihm ein bischen [sic] die musikalischen Besonderheiten des Werks darzustellen, dass es keine Jazz-Musik im amerikanischen Sinne ist sondern ein ganz eigener, neuer Klang, der nur durch die sorgfältigste Herausarbeitung der Originalpartitur zu erreichen ist. Ferner bitte ich Sie, ganz ausführliches Propaganda-Material nach New York zu schicken, ausführliche Darstellungen darüber, welche Bedeutung diese Musik für die musikalische Entwicklung der letzten Jahre hatte, welcher Befreiungsprozess von ihr ausgegangen ist, wie sie in allen Lagern der deutschen Musik Schule gemacht hat usw.3

In beiden Briefen geht es darum, den Erfolg der Dreigroschenoper tatkräftig zu befördern. Die jeweiligen Strategien unterscheiden sich jedoch. Betont Weill 1928 in Bezug auf die Popularisierung der Dreigroschenoper in Deutschland das internationale Potenzial einzelner Songs durch einen Vergleich mit populärer Tanzmusik, legt er 1933 für eine Aufführung in den USA gerade Wert auf das Avantgardistische und Seriöse seiner Musik. Beides hat tagesaktuelle Gründe: 1928 ist US-amerikanische Musik der letzte Schrei auf den Tanzdielen deutscher Großstädte und Weill signalisiert, dass es seine Songs durchaus mit den US-Importen aufnehmen könnten. Unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten legt Weill größten Wert darauf, dass seine Musik in den USA nicht mit den Nazis in Verbindung gebracht wird, sondern als etwas Neues wahrgenommen werden soll, das in erfolgreicher Opposition zu einem reaktionären Musikverständnis steht. Gleichzeitig insistiert er vehement auf einer originalgetreuen Wiedergabe seiner Musik. Denn Weill versteht seine Bühnenmusik als „Gebrauchsmusik“, die im Zusammenhang mit der jeweiligen Dramenhandlung eine

|| 2 Kurt Weill an Universal Edition, 25. Oktober 1928. In: Kurt Weill. Briefwechsel mit der Universal Edition. Hg. von Nils Grosch. Stuttgart, Weimar 2002, S. 148f., hier S. 148f., Hervorhebungen im Original. 3 Kurt Weill an Universal Edition, 14. März 1933. In: Ebd., S. 459–462, hier S. 460f. Hervorhebung im Original.

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konkrete dramaturgische Funktion erfüllt. 4 Deswegen sollen bei einer Aufführung Text und Musik nicht geändert werden. Dies gilt wohlgemerkt nur für den Wirkungszusammenhang des Bühnenwerks, gegen eine Auskopplung seiner Songs zur populären Verbreitung hat Weill nichts einzuwenden, wie der Brief von 1928 zeigt. Und noch etwas ist bemerkenswert: In beiden Briefen vergleicht Weill seine Musik mit Jazz, beide Male in abgrenzender Absicht. 1933 betont er, dass seine Musik im Ursprungsland des Jazz nicht einfach eingemeindet werden dürfe, 1928 betont er ebenfalls einen musikalischen Unterschied zwischen seinen Songs und Jazz, jedoch eine Gemeinsamkeit im populären Wirkungspotenzial. Und mit letzterem hat Weill völlig recht. Seine Moritat von Mackie Messer wurde zu einem der berühmtesten Pop- und Jazz-Titel aller Zeiten, auch wenn der Song laut Weill kein Jazz ist. Dass er es dennoch wurde, liegt nicht daran, dass man Weills Moritat musikalisch Gewalt antat, sondern ihn aus seinem Funktionszusammenhang herauslöste. Weills Verständnis von „Gebrauchsmusik“ ermöglicht es ihm, auf unterschiedliche Musikstile zuzugreifen und diese je nach der von ihm intendierten dramaturgischen Wirkung einzusetzen.5 Er kann also Elemente des damals üblichen Jazz aufgreifen und für seine Moritat nutzen. Dieser Jazz hat allerdings mit der damaligen afroamerikanischen Musik aus New Orleans oder Chicago wenig zu tun, sondern entspricht eher den professionell produzierten Tin Pan Alley-Tanzschlagern aus New York. Diese kennt Weill sehr gut, denn sie werden in den 1920er Jahren als Notendrucke in Deutschland vertrieben und sind die Grundlage für viele deutsche Jazz-Lehrbücher, die Weill wohl konsultierte.6 Man könnte Weill also zustimmen, dass seine Moritat kein Jazz ist, weil er überwiegend nur mit angejazzten US-Schlagern vertraut ist und weniger mit der Musik von Louis Armstrong oder Fletcher Henderson. Weill unterscheidet seine Musik jedoch nicht deswegen von Jazz, sondern aufgrund der völlig anderen Wirkungsabsicht: Es ist Bühnen- und keine Tanzmusik. Losgelöst von diesem dramaturgischen Zusammenhang bleibt dann jedoch die Jazz-Nähe dieser Komposition bestehen. Und die ersten Interpreten, die sich die Moritat von Mackie Messer als Jazzstück aneigneten, achteten wenig auf den von Weill eingeforder-

|| 4 Vgl. Heinz Geuen: Von der Zeitoper zur Broadway Opera. Kurt Weill und die Idee des musikalischen Theaters. Schliengen 1997, S. 87–119. 5 Vgl. ebd., S. 88. 6 Vgl. J. Bradford Robinson: Zur „Jazz“-Rezeption der Weimarer Periode. Eine stilhistorische Jagd nach einer Rhythmus-Floskel. In: Jazz und Komposition. Hg. von Wolfram Knauer. Hofheim 1992, S. 11–25. Zu Weills Beziehung zu Amerika und amerikanischer Musik vgl. grundlegend: Amerikanismus Americanism Weill. Die Suche nach kultureller Identität in der Moderne. Hg. von Hermann Danuser und Hermann Gottschewski. Schliengen 2003.

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ten Zusammenhang von Musik und Theater. Doch spielt gerade dieser Zusammenhang eine entscheidende Rolle, wenn im Folgenden die Entwicklung der Moritat von Mackie Messer zu dem Jazz-Standard Mack the Knife nachgezeichnet wird. Denn der Medienwechsel von der Theatermusik zum eigenständigen Song geschieht zwar über die Entkopplung von Musik und Dramenkontext. Diese Entkopplung vollzieht sich jedoch nur in den USA vollständig, in Deutschland bleibt der Song zu jeder Zeit mit seinem ursprünglichen Kontext der Dreigroschenoper verbunden, wie ein vergleichender Blick auf die Geschichte von Mack the Knife in beiden Ländern verdeutlichen soll. Dieser Blick lässt sich methodisch schärfen, wenn man den in diesem Band vorgeschlagenen ‚Klassiker‘-Begriff anwendet. Denn so wird sich nicht nur zeigen, dass Mack the Knife ein Klassiker geworden ist, sondern dass die Rede vom ‚Klassiker‘ Mack the Knife zwei entscheidende Vorteile hat: Erstens lässt sich so genauer fassen, welche Versionen des Songs einflussreich und populär wurden, als es die gewohnte Bezeichnung von Mack the Knife als Jazz-Standard zulässt, weil genauer analysiert werden kann, welche populäre Reichweite eine bestimmte Spielweise eines Standards hat. Zweitens gewährt die Analyse Einblick in die Möglichkeiten und Grenzen eines interkulturellen Klassiker-Transfers, denn sowohl der Theater-Klassiker Dreigroschenoper wandelt sich, ehe er in den USA als Threepenny Opera berühmt werden kann, als auch die Moritat von Mackie Messer. Der Song wird allerdings nicht nur zum US-amerikanischen JazzKlassiker Mack the Knife, sondern wandelt sich erneut, wenn er als dieser Klassiker den Rückweg nach Deutschland antritt, weil dort der Zusammenhang von Weills Song mit Brechts Drama viel größer ist. Bevor dies im Detail nachgezeichnet werden kann, geht es im Folgenden allgemein um den Begriff des ‚Klassikers‘ im Jazz, denn dieser ist dort – wie in wohl allen Künsten – nicht gerade unproblematisch.

1 ‚Klassiker‘, ‚klassisch‘ und ihre Verwendung im Jazzdiskurs Der Begriff des ‚Klassikers‘ im Jazz kann sehr viel bezeichnen. Das zeigt schon ein Blick in zwei einschlägige Lexika: Im The New Grove Dictionary of Jazz findet sich unter „Classic Jazz“ der Eintrag: „Record label, subsidiary of INNER CITY.“7 Das

|| 7 Art. ‚Classic Jazz‘. In: The New Grove Dictionary of Jazz. Hg. von Barry Kernfeld. London, New York 2000, S. 219. Hervorhebung im Original.

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deutschsprachige Jazz-Lexikon hingegen begnügt sich mit einem Verweis: „Klassischer Jazz s. New Orleans-Stil“.8 Ist die Bezeichnung der frühesten Entwicklungsstufe des Jazz in New Orleans zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ‚klassisch‘ durchaus verbreitet,9 wirkt der Eintrag im New Grove wie ein ironischer Kommentar auf die vielfältigen und teils kuriosen Verwendungen des Klassiker-Begriffs im Jazz. Bei einem Jazz-Sampler wie z. B. Jazz Bar Classics10 dient der Begriff des ‚Klassikers‘ freilich zuerst einmal als Verkaufsargument. Gleichzeitig verweist er auf eine im Jazz gängige Sprechweise, die sich deutlicher bei dem Editionsprojekt The Smithsonian Collection of Classic Jazz11 zeigt: Als ‚Klassiker‘ bezeichnet man bestimmte Aufnahmen eines Interpreten oder auch gesamte Alben, die entweder ein großer Verkaufserfolg sind oder einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung des Jazz geleistet haben. Miles Davisʼ Kind of Blue (1959) oder John Coltranes A Love Supreme (1964) z. B. erfüllen beide Kriterien. Sie sind Longseller, von Musikern wird erwartet, dass sie sich mit diesen Alben auseinandersetzen, ebenso wie von jazzinteressierten Hörern erwartet wird, dass sie diese auf jeden Fall kennen. In ihrer Funktion als sowohl rezeptions- als auch produktionsleitend (im Sinne von ‚mustergültig‘) entspricht die Bezeichnung solcher Aufnahmen als ‚Klassiker‘ weitgehend dem Gebrauch, wie man ihn auch in anderen Künsten kennt. Problematischer wird es bei dem Wort ‚klassisch‘. Ist dieses Wort noch völlig ungefährlich, wenn es im Zusammenhang mit Crossover-Projekten zwischen Jazz und klassischer Musik auftaucht, wird es zum Kampfbegriff, wenn es zur Bezeichnung von Jazz selbst genutzt wird, und zwar nicht, wie in dem Jazz-LexikonArtikel für eine bestimmte Stilrichtung oder Epoche des Jazz, sondern für Jazz insgesamt, beispielsweise als die ‚klassische Musik‘ der USA. Den ersten Versuch in diese Richtung unternahm Grover Sales im Jahr 1984. Er rechtfertigt sein Unternehmen damit, dass Jazz eine „universal language“ geworden sei, „because America’s classical music seized people regardless of age, nation, or class in a unique emotional grip and urged their bodies and minds to move in very special ways“12. Diese eher laudative Formulierung legt zwar Wert auf die lebendige kulturelle Aneignung von Jazz, doch bleibt es die durchgehende Strategie von Sales‘

|| 8 Art. ‚Klassischer Jazz‘. In: Jazz-Lexikon. Hg. von Martin Kunzler. Reinbek 2002. Bd. 1: A–L, S. 679. Hervorhebung im Original. 9 Vgl. z.B. James Lincoln Collier: Classic jazz to 1945. In: The Cambridge History of TwentiethCentury Music. Hg. von Nicholas Cook und Anthony Pople. Cambridge 2004, S. 123–151. 10 Jazz Bar Classics. Zyx Music 2014. 11 The Smithsonian Collection of Classic Jazz. Smithsonian Collection 1973. 12 Grover Sales: Jazz. America’s Classical Music. New York 1992 (zuerst 1984), S. 12.

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Buch, Jazz als gleich-, wenn nicht höherwertig zu klassischer Musik zu konstruieren,13 und so indirekt vom kulturellen Kapital der Klassik zu profitieren, um Jazz selbst diesen Status zu verleihen. Sales’ Buch hatte einerseits Wirkung auf die Institutionalisierung von Jazz als „rare and valuable national American treasure“14 durch den US-amerikanischen Kongress 1987,15 andererseits findet sich seine Position in unterschiedlichen Akzentuierungen bis heute im Jazzdiskurs. Am wirkmächtigsten ist hierbei das Umfeld von Wynton Marsalis und seinem Jazz at Lincoln Center. Dessen Mitbegründer Albert Murray lieferte auch die intellektuelle Grundlage für Marsalis’ Musikpolitik, die als ‚neo-konservativ‘16 oder ‚neo-klassizistisch‘17 bezeichnet wird: Those who regard Ellington as the most representative American composer have good reasons. Not unlike Emerson, Melville, Whitman, Twain, Hemingway, and Faulkner in literature, he quite obviously has converted more of the actual texture and vitality of American life into first-rate universally appealing music than anybody else. […] By comparison the sonorities, not to mention the devices of Charles Ives, Walter Piston, Virgil Thomson, Aaron Copland, Roger Sessions, John Cage, and Elliott Carter, for example, seem if not downright European, at least as European as American.18

Albert Murray und seine Mitstreiter Stanley Crouch oder Wynton Marsalis würden dabei gar nicht ablehnen, dass Jazz universale Werte vertrete wie beispielsweise Demokratie und respektvolles Miteinander.19 Jedoch schränken sie Jazz musikalisch und ethnisch radikal ein: Als ‚Jazz‘ gilt für sie nur blues- und swingbasierte Musik, und zwar ausschließlich diejenige, die aus einer afro-amerikanischen Kul-

|| 13 „The Trombone Concerto Rimsky-Korsakoff wrote as an endurance contest is something J. J. Johnson and the late Kai Winding could play in their sleep.“ Ebd., S. 45. Hervorhebung im Original. Zu Sales’ Strategie, Jazz zu einer autonomen und seriösen Musik aufzuwerten vgl. David Ake: Jazz Cultures. Berkeley, Los Angeles, London 2002, S. 51–54. 14 Zitiert nach Scott DeVeaux: Constructing the Jazz Tradition. In: The Jazz Cadence of American Culture. Hg. von Robert G. O’Meally. New York 1998, S. 483–512, hier S. 484. 15 Vgl. Andy Hamilton: Jazz as Classical Music. In: Improvisation. Between Technique and Spontaneity. Hg. von Marina Santi. Newcastle 2010, S. 53–75, hier S. 55. 16 Vgl. Christian Broecking: Intro. In: Der Marsalis-Faktor. Gespräche über afroamerikanische Kultur in den neunziger Jahren. Hg. von Christian Broecking. Waakirchen 1995, S. 7. 17 Vgl. Scott DeVeaux: Constructing the Jazz Tradition, S. 504. 18 Albert Murray: Stomping the Blues. New York 1989 (zuerst 1976), S. 224. 19 Das ist die Grundaussage der Autobiographie von Wynton Marsalis: Jazz, mein Leben. Von der Kraft der Improvisation. München 2010.

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tur hervorgeht im Gegensatz zu der europäisch beeinflussten Kultur der Weißen.20 Jazz ist also durchaus die ‚klassische‘ Musik der USA, aber nicht alles ist ‚Jazz‘. Dieser Ansicht und der damit verbundenen Musikpolitik am Jazz at Lincoln Center wird bis zum heutigen Tag vehement widersprochen.21 Und auch einige Verteidiger von Jazz als klassischer Kunst betonen entweder die zeit- und kulturunabhängige Qualität von Jazz, die ihn klassisch mache,22 oder die Klassizität des Jazz als transnationale Kunst in unserer heutigen globalisierten Zeit, wie Reinhold Wagnleitner betont: „Jazz is a transnational music through and through and the secret of its global attraction is no real mistery. It is already contained in the global ingredients of early jazz. Jazz is the original sound of creolization, the classical sound of hybridity and musical syncretism.“23 Versuchen Murray und Marsalis ‚wahren‘ Jazz an die afroamerikanische Kultur zu koppeln, öffnet Wagnleitner den Jazz wieder für alle, indem er die Erfahrungen der Afroamerikaner zum Inbegriff aller „global counter-identities“24 macht. Gegen solche Versuche, den transkulturellen Stellenwert von Jazz über die Allgemeingültigkeit der Erfahrungen und Emotionen, die sich in ihm äußern, zu rechtfertigen, hat der Jazzforscher Krin Gabbard bereits 1995 Einspruch erhoben: They [die Jazzforscher; Anm. v. mir] must also confront the possibility that a solo by a canonical jazz artist in no way communicates universal emotions but rather communicates to both the initiated and uninitiated listener through highly mediated complexes of cultural forces. Jazz studies will come of age only when these cultural forces have been thoroughly investigated.25

|| 20 „Mit der Universalität ist das nämlich so eine Sache. Auch wenn auf der ganzen Welt schwarze Musik gehört und gemocht wird, bleibt sie doch schwarz. Sie sagen doch wohl auch nicht, daß Tacos deshalb nicht mehr mexikanisch sind, weil Sie sie auch essen. […] Ich kenne keinen Europäer, der einen entscheidenden Beitrag zur grundlegenden Charakteristik des Jazz geschaffen hätte.“ Albert Murray: Soundtrack for an affirmative lifestyle. In: Der Marsalis-Faktor. Gespräche über afroamerikanische Kultur in den neunziger Jahren. Hg. von Christian Broecking. Waakirchen 1995. S. 60–73, hier S. 71f. 21 Vgl. z.B. Lee B. Brown: Jazz: America’s Classical Music? In: Philosophy and Literature 26 (2002) H. 1, S. 157–172. 22 Vgl. Andy Hamilton: Jazz as Classical Music, S. 72. 23 Reinhold Wagnleitner: Jazz – The Classical Music of Globalization. In: Satchmo Meets Amadeus. Hg. von Reinhold Wagnleitner. Innsbruck, Wien, Bozen 2006, S. 280–322, hier S. 301. 24 Ebd. 25 Krin Gabbard: Introduction. The Jazz Canon and Its Consequences. In: Jazz among the Discourses. Hg. von Krin Gabbard. Durham, London 1995, S. 1–28, hier S. 17.

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Diese Forderung wird von einigen neueren Ansätzen der deutschen Jazzforschung nur halbherzig eingelöst, die im Jazz zwar keine explizit ‚klassische‘, jedoch eine ‚paradigmatische‘ Kunstform sehen: Im Jazz würden grundlegende, aber häufig implizit bleibende Elemente jeglicher Kunstpraxis explizit sichtbar, vor allem deren Werkcharakter, ihre Zeitlichkeits- und Kommunikationsstruktur.26 Jazz wird so indirekt zum Sieger in einem Wettstreit zeitgenössischer Künste. Sind solche Abstraktionen hilfreich für ein Überdenken gängiger Annahmen der Ästhetik, ignorieren sie jedoch ebenfalls die historische und soziokulturelle Dimension von Jazz, die möglicherweise bei keiner anderen Kunstart so zentral ist. 27 Dass man den Begriff des ‚Klassischen‘ offenkundig zugunsten des ‚Paradigmatischen‘ vermeidet, ist mit Blick auf die eben umrissene Debatte aber mehr als verständlich: So bedenklich es ist, die Reinheit einer Musik aufgrund irgendwelcher ethnokultureller Grenzziehungen konstruieren zu wollen, so gedankenlos ist es, den maßgeblichen Beitrag afro-amerikanischer Musiker zur Entwicklung des Jazz eingemeinden zu wollen in die Bestrebungen, Jazz als eine westliche klassische Musik zu behaupten, zumal den meisten afro-amerikanischen Innovatoren des Jazz lange Zeit der Zugang zu dieser sich global gebärdenden westlichen Hochkultur verwehrt wurde. Das heißt allerdings in der Konsequenz, dass die Frage nach dem ‚Klassischen‘ oder der ‚Klassizität‘ im und von Jazz bis heute so ideologisch vermint ist, dass die Rede vom Jazz als ‚klassischer‘ Musik entweder ignorant gegenüber kulturellen Befindlichkeiten oder unsachlich wird. Das macht sie für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung unbrauchbar. Möglicherweise lässt sich jedoch ein Stück Sachlichkeit zurückgewinnen, wenn im Folgenden nicht nach dem ‚Klassischen‘ des Jazz gefragt wird, sondern danach, was ‚Klassiker‘ des Jazz sein können und welche Rolle sie im Jazz spielen, und somit nicht die historische und soziokulturelle Dimension und Wirkung dieser Musiktitel aus dem Blick zu verlieren.

|| 26 Vgl. Daniel Martin Feige: Philosophie des Jazz. Berlin 2014. Vgl. ebenfalls Georg W. Bertram: Jazz als paradigmatische Kunstform. Eine Metakritik von Adornos Kritik des Jazz. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 59 (2014) H. 1, S. 15–28. 27 Vgl. Scott DeVeaux: Constructing the Jazz Tradition, S. 505.

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2 Jazz-Standards und ‚Klassiker‘ – Vergleichsaspekte Wendet man den Begriff des ‚Klassikers‘ – wie oben – auf erfolgreiche und / oder musterbildende Aufnahmen eines Musikstücks an, dann ist Mack the Knife zweifelsfrei ein Klassiker. Die Datenbank Coverinfo listet 280 Coverversionen des Originals Die Moritat von Mackie Messer, darunter Aufnahmen aus Jazz, Pop, Rock und Klassik.28 Die Interpretation eines Songs von verschiedenen Musikern über einen längeren Zeitraum hinweg ist im Mainstream-Jazz nicht unüblich. Man nennt diese Songs ‚Standards‘. Dass ein Song zu einem Standard wird, hat meines Erachtens hauptsächlich zwei mögliche Gründe: 1. Ein Titel kann von einem berühmten Musiker gespielt werden und so zu einer Messlatte für das Können folgender Interpreten werden; 2. Ein Titel kann neben der Bekanntheit seines Interpreten bestimmte musikalische Eigenschaften haben (z. B. einen besonderen Rhythmus oder einen originellen Harmonieverlauf), von denen sich nachfolgende Musiker zu einer Aktualisierung herausgefordert fühlen. Das Repertoire an Jazz-Standards ist gleichzeitig relativ konstant und historisch variabel, vor allem ist es zeitlich nicht abgeschlossen, es können immer weitere Titel dazukommen. Es ist versammelt in zwei Büchern, einem fiktiven und einem realen. Fiktiv ist das sogenannte Great American Songbook. Mit diesem Namen bezeichnet man die Songs, die zwischen 1925 und etwa 1950 von Songwritern wie George Gershwin, Jerome Kern oder Cole Porter geschrieben wurden, hauptsächlich für den Broadway oder Hollywood.29 Das zweite Buch existiert tatsächlich und heißt – allerdings aus einem anderen Grund – Real Book. Das Real Book wurde erstmals Mitte der 1970er Jahre von Dozenten und Studenten des Berklee College of Music zusammengestellt. Es ist eine Sammlung aus Titeln, die einerseits ebenfalls zum Great American Songbook gehören und sich in den '70ern als Standards etabliert hatten und andererseits berühmt gewordenen Jazzkompositionen aus den letzten 20 Jahren.30 Das Real Book ist heute in seiner sechsten Ausgabe und enthält etwa 400 Titel, wobei in jeder einzelnen Ausgabe einige Titel herausgenommen und

|| 28 Vgl. http://www.coverinfo.de; die Seite listet alle veröffentlichten Aufnahmen dieses Titels, die die Redaktion gefunden hat, wobei Wiederveröffentlichungen oder unterschiedliche Tonträger keine Rolle spielen. Es gibt wahrscheinlich noch einige Aufnahmen mehr. 29 Vgl. Allen Forte: Listening to Classic American Popular Songs. New Haven, London 2001; vgl. ders.: The American Popular Ballad of the Golden Era. 1924–1950. Princeton 1995. 30 Vgl. Barry Kernfeld: The Story of Fake Books. Bootlegging Songs to Musicians. Lanham, Toronto, Oxford 2006.

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andere ergänzt werden. Inzwischen gibt es auch genrespezifische Real Books wie z.B. The Real Latin Book oder auch speziell für Gesangstitel The Real Vocal Book. Jazz-Standards sind also gemäß der in diesem Band vorgeschlagenen Terminologie zuerst einmal nicht ‚klassisch‘, sondern ‚kanonisch‘, denn zumindest das Real Book ist eine zwar immer wieder aktualisierte, aber verbindliche nachgängige Sammlung bedeutender Jazz-Titel, die ihre Bedeutung als ‚Standards‘ durch die Aufnahme ins Real Book nicht nur bestätigt, sondern ebenso verliehen bekommen. Beim Great American Songbook liegt der Fall insofern anders, als dies eine Sammelbezeichnung für US-amerikanische Broadway- und Filmsongs zwischen etwa 1925 und 1950 ist. Wenn Allen Forte diese als ‚Classic American Popular Songs‘ bezeichnet,31 entspricht das einerseits dem hier vertretenen Verständnis von ‚klassisch‘, denn es handelt sich um ein Korpus an Songs, aus dem immer wieder einzelne Titel herausgenommen und aktualisiert werden können. Forte selbst meint mit ‚classic‘ jedoch vor allem die Zeitlosigkeit und das universale Wirkungspotenzial dieser Songs.32 Die Klassizität der Musik besteht für ihn also in werkimmanenten Eigenschaften. Dass dies auf einen Song wie Mack the Knife nicht zutrifft, sollen die Ausführungen im nächsten Abschnitt zeigen. Es finden sich auch beim Great American Songbook Kanonisierungstendenzen. Diese sind freilich nicht so eindeutig wie bei einer Ausgabe des Real Book, doch liefern Plattenfirmen und vor allem Musiker immer wieder ihre persönliche Auswahl aus dem Great American Songbook, die dann eine große Verbindlichkeit für folgende Musiker hat. Für den Jazz maßgeblich sind hier z. B. die Aufnahmen von Ella Fitzgerald, die ab 1950 Alben herausbrachte, die je einem bedeutenden Komponisten aus der Epoche des Great American Songbook gewidmet waren, wie beispielsweise Ella Fitzgerald Sings the Cole Porter Songbook (1956) oder Ella Fitzgerald Sings the Johnny Mercer Songbook (1964). Interessant werden gegenseitige Beeinflussungen wie bei Bob Dylans Album Fallen Angels von 2016: Mit seiner Auswahl stellt sich Dylan freilich nicht nur in die Tradition des Great American Songbook und seiner namhaften Interpreten, sondern forciert ebenso eine Selbstkanonisierung als Verfasser von neuen populären Songs, die denselben Status beanspruchen wie die des Great American Songbook. Ein Jazz-Standard kann aber noch auf eine ganz andere Weise ein ‚Klassiker‘ werden: Nämlich im Bereich der Jazz-Ausbildung. Ein Beispiel wäre There Will Never Be Another You. Diesen Song hört man nicht so häufig auf Alben oder in Konzerten, sondern eher auf Jam-Sessions. Er gilt als Paradebeispiel für „viele

|| 31 Allen Forte: Listening to Classic American Popular Songs. 32 Vgl. ebd., S. XII.

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typische Funktionsabläufe (Zwischendominanten, sekundäre II-V-Verbindungen etc.)“ und ist „daher eine pädagogisch wertvolle Komposition“33. Mit diesem Standard lernen Musiker Improvisieren. Spätestens seitdem Frank Sikora diesen Titel in seine bis heute maßgebliche Harmonielehre – aus der obiges Zitat stammt – aufgenommen hat, kennt ihn jeder ausgebildete Jazz-Musiker in- und auswendig. Dass diese Musiker ihr Improvisationshandwerk in der Öffentlichkeit dann lieber an eigenen oder zumindest anderen Songs vorführen, macht There Will Never Be Another You nicht zu einem populären, sondern zu einem didaktischen ‚Klassiker‘. Beides schließt sich jedoch nicht grundlegend aus. Wer lernen möchte, wie modale Improvisation funktioniert, hört das Gründungsdokument So What. Dass sich dieser Song gleichzeitig auf der wohl meistverkauften JazzPlatte aller Zeiten, Miles Davis‘ Kind Of Blue, befindet, ist kein Widerspruch. Der Titel erfüllt lediglich mehrere Funktionen von ‚Klassikern‘: er ist ein populärer, epochemachender und eben auch ein didaktischer ‚Klassiker‘. Es zeigt sich also: ‚Standard‘ und ‚Klassiker‘ sollte man nicht bedeutungsgleich verwenden, sie bezeichnen Unterschiedliches. Jedoch kann es aufschlussreich sein, den in diesem Band vorgeschlagenen Klassiker-Begriff auf Jazz-Standards anzuwenden und so sowohl die jeweilige Funktion als auch die Wirkungsgeschichte von Standards genauer nachzuzeichnen.

3 Von der Moritat von Mackie Messer zu Mack the Knife Kurt Weill hat laut Tom R. Schulz elf Songs verfasst, die dem Great American Songbook zugerechnet werden, am berühmtesten ist wohl Speak Low von 1943. So wie dieser sind auch die meisten anderen Songs Balladen und fast alle in Weills Zeit in den USA entstanden.34 Der einzige Song Weills, der nicht diesem Muster entspricht und dennoch populär geworden ist, ist Mack the Knife. Er findet sich heute im Real Vocal Book. Dass er dort ist, hat sowohl musikalische als auch außermusikalische Gründe. So, wie der Song dort notiert ist, entspricht er

|| 33 Frank Sikora: Neue Jazz-Harmonielehre. Mainz 42004, S. 481. 34 Vgl. Tom R. Schulz: Weill works. Von Glenn Miller bis PJ Harvey: Wie Musiker aus Jazz, Rock und Pop zum Nachruhm Kurt Weills beitragen. In: Neue Zeitschrift für Musik 161 (2000) H. 2, S. 48–51, hier S. 49. Schulz’ Behauptung wird bestätigt durch Allen Forte, der Weill nur in seinem Balladen-Buch ausführlich erwähnt, in Listening to Classic American Popular Songs kommt Weill nicht vor; vgl. Allen Forte: The American Popular Ballad, S. 269–274.

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in Melodieführung und Harmonisierung weitgehend der Komposition von Kurt Weill. Mit seinem Sextakkord und den II-V-I-Verbindungen bzw. der Quintfallsequenz in den Takten 3-8 und 9-16 weist bereits Weills Komposition typische Merkmale der Songs aus dem Great American Songbook auf.35 Dass der Titel es ausgerechnet ins Real Vocal Book schaffte, liegt an einer Jazzsängerin, die in den 1950er und 60er Jahren ihr Repertoire aus dem Great American Songbook bezog und aufgrund ihrer Interpretationen diese Songs zu Jazz-Standards machte: Ella Fitzgerald.36 Damit befindet man sich bereits mitten in der Geschichte eines vielfältigen transatlantischen Klassiker-Transfers. Ella Fitzgerald singt Mack the Knife erstmals auf einem Konzert am 13. Februar 1960 in West-Berlin. Ein Live-Mitschnitt des Konzerts erscheint unter dem Titel Mack the Knife – Ella in Berlin im selben Jahr. Dass ausgerechnet dieser Song titelgebend wird, hat seinen Grund: Fitzgerald hat Mack the Knife vorher nicht aufgeführt, sie nimmt ihn speziell für ein deutsches Publikum ins Repertoire. Dass sie bewusst etwas Bekanntes bieten möchte, wird dadurch unterstrichen, dass sie vor diesem Titel ein Stück namens Lorelei singt. Dieses stammt zwar von den Gershwin-Brüdern, die es 1933 für ein Musical schrieben, und wurde von Fitzgerald bereits ein Jahr früher eingesungen, handelt aber natürlich von der in Deutschland allseits bekannten Geschichte. Diese Reverenz vor dem Publikum wird nun jedoch etwas konterkariert, denn Fitzgerald hält sich nicht an den Songtext von Mack the Knife. Die Anekdote möchte es so, dass sie schlicht noch nicht textfest war, weil sie den Song ja extra für ihr Deutschlandkonzert ins Programm genommen hatte. Wie dem auch sei, interessant an ihrem originellen Behelfstext ist nicht nur, dass das Publikum deutlich hörbar begeistert reagiert (was die Entscheidung, das Album danach zu benennen, befördert haben mag), sondern dass sie dem Song eine US-amerikanische Geschichte verpasst. Nach drei Strophen mit korrektem Text muss Fitzgerald anfangen zu improvisieren. Es folgen zwei eher ratlose Strophen, in denen sie immerhin noch die Reimwörter weiß, danach wird sie völlig eigenständig: Oh Bobby Darin and Louis Armstrong They made a record, oh but they did

|| 35 Mack the Knife. In: Real Vocal Book. Bd. 2. o.O. ca. 1988, S. 21f. Zu den typischen Merkmalen vgl. Allen Forte: Listening to Classic American Popular Songs, S. 1–27, hier S. 14f. und 16f. 36 Die im Real Vocal Book angegebene Referenz-Aufnahme von Lambert, Hendricks & Ross war nicht auffindbar, möglicherweise hat dieses Gesangstrio den Titel nur live gespielt. Dass diese Version als Referenz genannt wird, liegt dann möglicherweise daran, dass das Gesangstrio den Originaltext der Übersetzung von Marc Blitzstein gesungen hat, von dem Fitzgerald abweicht.

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And now Ella, Ella, and her fellas We're making a wreck, what a wreck of Mack the Knife […] And so we leave you, in Berlin town Yes, we've swung old Mack, we've swung old Mack in town For the Darin fans and for the Louis Armstrong fans, too We told you look out, look out, look out old Macheath's back in town37

Die Moritat von Mackie Messer ist „back in town“, zurück in der Stadt, in der sie zum ersten Mal erklang, allerdings nicht mehr als ein Lied von Bertolt Brecht und Kurt Weill, sondern als ein Song von Louis Armstrong und Bobby Darin. Die umjubelte ‚Heimkehr‘ hat eine wechselvolle Vorgeschichte. Die Dreigroschenoper ist Brechts erfolgreichstes Theaterstück. Sie ist es nicht nur, aber auch wegen der Songs von ihm und Kurt Weill. Der Versuch jedoch, den Erfolg in die USA zu übertragen, scheitert:38 Eine erste Inszenierung der Dreigroschenoper in New York 1933 wird nach wenigen Aufführungen eingestellt. Weill schiebt es später auf die schlechte, weil zu wörtliche Übersetzung. Das Textbuch von Gifford Cochran und Jerrold Krimsky ist allerdings nicht erhalten geblieben. Die New Yorker Kritiker vergleichen die Inszenierung auch weniger mit der Version von Brecht und Weill, sondern mit der Vorlage The Beggar’s Opera von John Gay, die im englischsprachigen Raum damals sehr bekannt ist. Sie sehen also kein modernes Musiktheater aus Deutschland, sondern eine deutsche Bearbeitung eines für sie bekannten Stoffes. Und diese Bearbeitung finden sie einhellig zu unlustig angesichts der sowieso schon deprimierenden wirtschaftlichen und politischen Weltlage. Nach der Absetzung des Stücks nach nur zwölf Aufführungen schreibt Stephen Rathbun in der New York Sun: The fact that Bert Brecht’s modernization of The Beggar’s Opera is somber and depressing is, no doubt, the reason why it was unsuccessful on Broadway. In these days, if people want to be depressed, they can be depressed at home! Why should they pay money to be depressed in the theatre? … Let us be Gay, but let us not be Brecht at the expense of gayety.39

Nach seiner Ankunft in den USA 1941 verhandelt Brecht umgehend mit Weill über eine Wiederaufnahme der Arbeit an der Dreigroschenoper. Da sich beide jedoch nicht über die Vertragsbedingungen und das englischsprachige Libretto von || 37 Ella Fitzgerald: Mack The Knife – Ella in Berlin. Verve 1960. Zitiert nach: http://www.songtexte.com/songtext/ella-fitzgerald/mack-the-knife-23d73497.html [abgerufen am 11.11.2017]. 38 Für die folgenden Ausführungen vgl. Kim H. Kowalke: ‚The Threepenny Opera‘ in America. In: Kurt Weill. The Threepennny Opera. Hg. von Stephen Hinton. Cambridge u.a. 1990, S. 78– 119. 39 Zitiert nach ebd., S. 86.

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Marc Blitzstein einig werden, kommt es vorerst zu keiner Neuinszenierung in den USA.40 Das Stück wird ab 1946 von einigen Studentenschauspielgruppen inszeniert und kommt erst 1954 zurück an den New Yorker Broadway. Diesmal wird es ein durchschlagender Erfolg. Das Stück wird bis 1964 in 2611 Aufführungen gegeben und damit zu dem bis dahin am längsten gespielten Stück in der US-amerikanischen Theatergeschichte.41 Das liegt maßgeblich an der Neuübersetzung und musikalischen Bearbeitung von Marc Blitzstein. Kim H. Kowalke betont jedoch ebenso die umfassende ‚Gunst der Stunde‘: It is a simplistic but irrefutable fact that the off-Broadway production also ‚came at the right time‘. The reopening of the show in 1955 coincided with the date of James Dean’s car crash; that year Brando won an Academy Award for On the Waterfront; the rebellious beat generation could identify with certain anti-Establishment aspects of The Threepenny Opera as well. McCarthyism was finally precipitating an inevitable cultural backlash, even in middleclass America. Brecht had belatedly achieved overdue recognition in America as a major playwright, at least within certain intellectual and political circles. The American musical had reached maturity and could now embrace works that stretched its boundaries and challenged its formulas. A post-war nostalgic view of the perceived decadence of the Weimar Republic, personified in Lenya, may have undercut Brecht’s social criticism, but it still enlivened the doldrums of the fifties. Language, themes and situations that had both shocked and titillated an audience in Philadelphia in 1933 [dort fand ein ‚Testlauf‘ des Stückes kurz vor der ersten Broadwayinszenierung statt; Anm. v. mir] now seemed deliciously exotic – at least in the theatre. Without minimizing Blitzstein’s own unique contribution, America had come of age; it could accept the form, understand (if not endorse) the message, and appropriate as its own music of The Threepenny Opera.42

Dass die USA ‚erwachsen werden‘ mussten, um die Dreigroschenoper zu akzeptieren, ist freilich eine übertriebene Behauptung. Vielmehr zeigt Kowalke, wie es zu einer gegenseitigen Annäherung kam. Blitzstein konnte das Stück so übertragen, dass es weiterhin ein Stück von Brecht und Weill war, das dann auf sehr erfolgfördernde Umstände in den USA traf. An diesem Publikumserfolg wollen nicht nur weitere Theater, sondern vor allem US-amerikanische Musiker unmittelbar teilhaben. Bereits 1955 veröffentlicht Louis Armstrong Mack the Knife unter dem Titel A Theme from The Threepenny Opera als Gesangs- und Instrumentalstück. Armstrong singt selbst, das Arrangement ist im Hot-Jazz-Stil gehalten, mit dem Armstrong berühmt wurde und

|| 40 Vgl. dazu ebenfalls Michael H. Kater: Weill und Brecht. Kontroversen einer Künstlerfreundschaft auf zwei Kontinenten. In: Brecht und seine Komponisten. Hg. von Albrecht Riethmüller. Laaber 2000, S. 51–73, hier S. 62–67. 41 Vgl. Kim H. Kowalke: ‚The Threepenny Opera‘ in America, S. 79. 42 Ebd., S. 114f. Hervorhebungen im Original.

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der zwar 1955 seit mehreren Jahrzehnten veraltet ist, jedoch gerade ein Revival erlebt. Der direkte Bezug auf die Dreigroschenoper im Titel partizipiert an Erfolg und Bekanntheit, den das Broadway-Stück zu dieser Zeit hat, die Hot-Jazz-Stilistik hingegen signalisiert, dass sich Armstrong den Titel in seiner eigenen Spielweise aneignet. Und die Aneignung geht noch weiter: Später einmal darauf angesprochen, warum sich Armstrong ausgerechnet diesen Song ausgesucht hatte, soll er geantwortet haben, dass ihn der Text sofort angesprochen habe, weil ihm solche Ganoven wie Mackie aus seiner Zeit in New Orleans und Chicago bekannt seien.43 Damit macht Armstrong aus der Moritat von Mackie Messer einen JazzTune aus New Orleans. Diese Geschichte des Gangsters Mack aus New Orleans wird zu einem Klassiker mit begrenzter Reichweite. Er stößt auf offene Ohren in Europa. Denn auch in Deutschland gibt es in den 1950er Jahren ein großes Dixieland-Revival, in dem dieser Song sehr willkommen ist, denn bekannt ist die Melodie in Deutschland immer noch und Armstrongs Version legitimiert die Aufnahme des Stücks in das Repertoire einer Dixieland-Kapelle.44 In solchen Bands kann man das Stück bis zum heutigen Tag noch hören, beispielsweise auf dem Dixieland-Festival in Dresden. Mack the Knife ist also ein Oldtime-Jazz-Klassiker. Populärer hingegen wird er außerhalb dieser traditionellen Stilrichtung. 1959 gelingt dem Sänger Bobby Darin eine vor Swing-Freude berstende BigBand-Aufnahme von Mack the Knife, die ihm Platz 1 der Billboard-Charts, der englischen Single-Charts und einen Grammy beschert. Zu dieser Zeit ist die Hochphase der berühmten Tanz-Big-Bands in den USA längst vorbei, doch hat Darins Version des Stücks einen immensen Einfluss auf folgende Aufnahmen. Wie auch Armstrong gehört Darin zu dem Typ des Musiker-Schauspieler-Entertainers. Und für exakt diesen Typus wird Darins Version zum Klassiker, interessanterweise in zwei Sprachen: Auf US-amerikanischer Seite gibt es Einspielungen im Big-BandSwingstil von Bing Crosby, Liberace oder Frank Sinatra.45 Auf deutscher Seite interpretieren den Song zum Beispiel Hildegard Knef oder Harald Juhnke. Beide spielen den Titel als US-amerikanisches Big-Band-Stück, allerdings mit dem

|| 43 Vgl. Hans-Jürgen Schaal: Mack The Knife (Die Moritat vom Mackie Messer). In: Jazz-Standards. Das Lexikon. Hg. von Hans-Jürgen Schaal. Kassel 52012, S. 300f., hier S. 301. 44 Das Stück findet sich dementsprechend auch in Dixieland-Notensammlungen, allerdings scheint den Herausgebern die Popularität des Titels eher störend, wie folgender gedruckter Kommentar auf dem Leadsheet zeigt: „This is one of those musically dull tunes which bores the band to tears, but the general public really likes. Smile as you play it and they’ll hire you again next year!“ Mack the Knife. In: The Firehouse Jazz Band. Commercial Dixieland Fake Book. o. O. u. J., Nr. 130. 45 Vgl. Bing Crosby with Bob Scobey’s Frisco Jazz Band: Bing With A Beat. RCA Victor 1957; Liberace: Here’s Liberace. Vocalion 1965; Frank Sinatra: Mack the Knife. Qwest Records 1984.

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deutschen Text.46 Die zunehmende internationale Bekanntheit von Mack the Knife und seine ‚Heimkehr‘ durch Ella Fitzgerald machen es deutschen Interpreten also möglich, ein Stück deutsche Theatergeschichte und den Glamour der Vorkriegsmetropole Berlin wieder zum Strahlen zu bringen mit einem US-amerikanischen Broadway-Sound. Der Mackie Messer von Knef und Juhnke ist damit nicht mehr der sozialkritische Schurke des Brecht-Theaters, sondern ein schillernder internationaler Broadway-Star mit deutschen Wurzeln, eine Aktualisierung, die beide wohl auch als Selbstbeschreibung nicht abgelehnt hätten. Als Roger Cicero Mack the Knife 2015 einspielt, singt er auf Englisch, schließlich heißt sein Programm Roger Cicero sings Sinatra. Bekannt geworden war Cicero mit BigBand-Swing und deutschen Texten, bei Mack the Knife bezieht er sich jedoch ausdrücklich auf die US-amerikanische Tradition und nicht auf die deutsche Knefs und Juhnkes. Aber auch nicht vollständig: Frank Sinatra hatte in seiner Einspielung von Mack the Knife die Geschichte, die Ella Fitzgerald improvisierte, einfach weitererzählt: Old Satchmo, Louis Armstrong, Bobby Darin They did this song nice, Lady Ella too They all sang it, with so much feeling That Old Blue Eyes, he ain’t gonna add anything new But with this big fat band, jumping behind me Swinging hard Jack. I know I can’t lose When I tell you, all about Mack the knife babe It’s an offer, you can never refuse.47

Der Gentleman mit Mafiakontakten Frank Sinatra weiß, wie gut der Song zu ihm passt. Durch seine Bescheidenheitsgeste verdeutlicht er nur umso stärker, dass er der optimale Interpret ist. Dieses Image passt nicht zu Cicero. Deswegen lässt er die Genealogie des Songs einfach weg zugunsten eines Band-Features, an das er dann passend das Band-Lob in Sinatras Worten anschließen kann.48 Der populäre Erfolg Ciceros hängt eng zusammen mit Swing-Projekten anderer Pop-Stars wie Robbie Williams oder Michael Bublé. Beide singen ebenfalls Mack the Knife,49 jedoch beziehen sie sich nicht auf Sinatras Version. Williamsʼ Arrangement ist

|| 46 Vgl. Hildegard Knef: Die großen Erfolge. Decca 1977; Harald Juhnke: His Way – Juhnke singt Sinatra. Koch International 1998. 47 Frank Sinatra: Mack The Knife; Text zitiert nach: http://www.lyricsfreak.com/f/frank+ sinatra/mack+the+knife_20055546.html [abgerufen am 7.10.2017]. 48 Vgl. Roger Cicero: Cicero Sings Sinatra Live In Hamburg. Sony Music 2015. 49 Vgl. Robbie Williams: Swing When You’re Winning. Chrysalis 2001; Michael Bublé: Come Fly With Me. Reprise Records 2004.

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ein fast ‚wortwörtliches‘ Zitat des Bobby Darin-Arrangements, gleichzeitig gibt es einen tatsächlich wörtlichen Hinweis. Bobby Darin singt in der sechsten und siebten Strophe seiner Version die Namen „Jenny Diver“, „Sukey Tawdry“, „Lotte Lenya“ und „Lucy Brown“.50 Williams und Bublé tun es ihm nach. Im Originaltext der englischen Übersetzung der Dreigroschenoper heißt es aber „Polly Peachum“, anstatt „Lotte Lenya“.51 Die Anekdote will es so, dass Lotte Lenya im Studio war, als Louis Armstrong 1955 seine Version von Mack the Knife einsang. Ob ein Duett geplant war und warum es nicht zustande kam, lässt sich heute nicht mehr klären, auf jeden Fall änderte Armstrong den Text spontan und verewigte so Lotte Lenya in seiner Aufnahme.52 Darin übernimmt anscheinend ungeprüft die Textversion von Armstrong und Williams und Bublé beziehen sich auf Darin. Sinatra hingegen – wie auch Bing Crosby –53 singen in dieser Strophe den Originaltext, der dann auch bei Cicero zu hören ist. Trotz dieser textlichen Unterschiede ist in Bezug auf Stilistik, Arrangement und Besetzung Bobby Darin der Urheber dieses Rezeptionszweigs von Mack the Knife. Darin hat einen Klassiker geschaffen, und zwar einen, der sich trotz geänderter Medienlandschaft aktualisieren lässt. Bobby Darin, Frank Sinatra, Dean Martin und auch Hildegard Knef und Harald Juhnke gehören zu einem Typus des singenden und schauspielernden Entertainers, den es in der Form heute nicht mehr gibt. Musiker wie Michael Bublé, Robbie Williams und Roger Cicero profitieren von einer Swing- und Big-Band-Retrowelle, in der angeswingte Gassenhauer ein breites Publikum finden. Wie lang diese Welle noch andauert, wie lang also der Big-Band-Mackie noch ein Klassiker ist, bleibt abzuwarten. Als Ella Fitzgerald 1960 Mackie Messer unter seinem neuen Namen Mack the Knife zurück nach Deutschland bringt, hat sie also zwei Klassiker im Gepäck. Mack the Knife in der Hot-Jazz-Version von Louis Armstrong und in der Big-BandSwing-Version von Bobby Darin werden bis zum heutigen Tag gespielt, und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks, in den USA in englischer Übersetzung, in Deutschland sowohl in Übersetzung als auch im Original. Inwiefern Fitzgerald dies 1960 hellsichtig vorausahnte oder inwiefern ihre improvisierte Geschichte des Songs selbst diese Rezeption beeinflusste, lässt sich heute nur noch schwer klären. Klar ist hingegen, dass sie zur Popularisierung des Songs beigetragen hat.

|| 50 Bobby Darin: That’s All. ATCO Records 1959. 51 Mack the Knife. In: Real Vocal Book, S. 22. 52 Vgl. Ted Gioia: Mack the Knife. In: ders.: The Jazz Standards. A Guide to the Repertoire, Oxford u.a. 2012, S. 252–254, hier S. 253. 53 Vgl. Frank Sinatra: Mack The Knife; Bing Crosby with Bob Scobey’s Frisco Jazz Band: Bing With A Beat.

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Dass sich Mack the Knife heute im Real Vocal Book findet, geht wohl maßgeblich auf Ella Fitzgerald zurück. Ihre eigene Version lässt sich in gewisser Weise auch als ‚Klassiker‘ bezeichnen, jedoch in einem völlig anderen Sinne als bei Armstrong und Darin. Fitzgeralds Mack the Knife ist in die Jazzgeschichte als Paradebeispiel für Souveränität bei plötzlicher Textschwäche und Genialität im Spontandichten eingegangen. Dafür ist ihre Version bis heute bekannt und trägt zur Stilisierung Fitzgeralds als eine der größten Jazzsängerinnen aller Zeiten bei. Es verunmöglicht jedoch gleichzeitig eine produktive Fortsetzung. Wer auf der Bühne seinen Text vergisst, muss das ja nicht unbedingt bei Mack the Knife tun. Und sollte es tatsächlich bei diesem Song passieren, wäre eine Wiederholung von Fitzgeralds Spontantext eben das genaue Gegenteil von Spontanität. Dieser Widerspruch verhindert gleichzeitig eine Wiederaufnahme des Titels in ein EllaFitzgerald-Tribute-Programm. Ella Fitzgeralds Version von Mack the Knife ist kein Klassiker von Mack the Knife, sondern ein Klassiker der Spontanität im Jazz. Er fände jedoch wahrscheinlich auch deswegen nicht seinen Weg in ein TributeProgramm, weil der Song textlich rein gar nicht zu dem Image von Ella Fitzgerald passt, das freilich mit ihrem sonstigen Repertoire verknüpft ist. Fitzgerald gibt Liebe, Leid und Sehnsucht einen musikalischen Ausdruck, nicht Ganoven. Obwohl sie also ihrer Version von Mack the Knife das musikalische Gewand eines zwar swingenden, aber doch recht modernen Vocal-Jazz-Tunes gibt, scheint der Text eine produktive Weiterverwendung zu erschweren. Das wird insbesondere im amerikanisch-deutschen Vergleich gerade dann auffällig, wenn der Text eigentlich überhaupt keine Rolle mehr spielt: in den Instrumentalversionen von Mack the Knife. Den Anfang macht der Saxophonist Sonny Rollins 1956, also nur ein Jahr nach den Instrumental- und Vokal-Versionen von Louis Armstrong. Auf Rollins’ Album Saxophone Colossus finden sich drei Eigenkompositionen und zwei Coverversionen, You Don’t Know What Love Is, eine Ballade von 1941, und Mack the Knife, das bei Rollins allerdings näher am deutschen Original Moritat heißt. Ganz nebenbei lässt sich an diesem Album prägnant die Entstehung von Jazzstandards zeigen. Denn die Ballade und Mack the Knife sind 1956 bekannte Titel, die später ins Real Book aufgenommen werden. Rollins’ Eigenkomposition St. Thomas, der Opener des Albums, wird erst noch erfolgreich und von anderen Musikern gecovert werden. Er gehört heute ebenfalls fest zum Real-Book-Repertoire. Aufschlussreich für die Entwicklung von Mack the Knife zum instrumentalen JazzKlassiker sind die liner notes zum Album: You Don’t Know What Love Is is the ballad standard; one which has not been overdone as yet. Add Sonny’s heartfelt version to those of Miles Davis and Dinah Washington as meaningful ones that come immediately to mind.

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The German musical mentioned before is The Three Penny Opera and the song Moritat, or as it is popularly known, The Theme From The Three Penny Opera. Sonny shows how a jazzman can make something fresh and different out of material by his very approach and interpretation. When Louis Armstrong recorded it in a vocal and instrumental version, it quite naturally had a jazz feeling, but it was more directly in the realm of ‚entertainment‘. Sonny seems to feel it in a Pres vein as much of his phrasing indicates.54

Eine Ballade pro Album muss sein. Neben diesem Verkaufsargument erhält sie ihre Daseinsberechtigung und Aufwertung dadurch, dass sie in eine Reihe mit Interpretationen großer Stars gestellt wird. Der Titel Moritat hingegen wird scharf abgegrenzt von den Vorgängerversionen. Es geht hier nicht um Unterhaltung, sondern um Jazzmusik, weswegen auch ein anderes Vorbild genannt werden muss: „Pres“, der Tenorsaxophonist Lester Young, der jazzhistorisch an der Schwelle zwischen Swing und den neuen Jazz-Stilen seit den 1940er Jahren steht. Und so klingt Rollins‘ Version von Mack the Knife tatsächlich wie ein Modern Jazz-Titel der 1950er Jahre. Durch Synkopierungen und gestützt von seinem sehr voluminösen Ton kann Rollins das Ohrwurmpotenzial der Melodie voll ausspielen. Harmonisch passt er den Titel leicht den Hörgewohnheiten des Modern Jazz an:55 Der Sextakkord zu Beginn von Weills Komposition weicht einem schwebenderen Majorseptakkord und es kommen einige II-V-I-Verbindungen hinzu. Das sind keine gravierenden Abweichungen von Weills Original, aber sie erweitern das Tonmaterial für die Improvisation: z. B. bringt Rollins durch die II-V-I-Verbindung über A-Moll im achten Takt seines Solos die Tonart E-Dur in seine Version, die in Weills Komposition in C-Dur nicht vorkommt. Durch eine Tritonussubstitution kann er z. B. in Takt 6 oder 16 seines Solos über den G7-Akkord mit dem Tonmaterial von Des-Dur spielen. Das alles sind typische Elemente des Jazz seit Entstehung des Bebop Mitte der 1940er Jahre. Mack the Knife rückt durch die Benennung Moritat damit einerseits wieder näher an den ursprünglichen Text von Brecht, andererseits jedoch durch das Fehlen des Textes und die Besonderheiten von Rollins‘ Interpretation weg von Broadway und Entertainment hinein in den US-amerikanischen modernen Jazz. Dort befindet sich dieser Titel bis heute, wie eine Aufnahme von 2014 zeigt.

|| 54 Ira Gitler: Liner notes zu: Sonny Rollins: Saxophone Colossus. Prestige 1956. Hervorhebungen im Original. 55 Im Folgenden beziehe ich mich auf eine Solo-Transkription, im Internet zu finden unter: http://www.thekevinsun.com/2012/07/sonny-rollins-on-moritat.html [abgerufen am 8.11.2017].

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Moritat (Mack the Knife) ist der Opener auf dem Album Trios Live des Tenorsaxophonisten Joshua Redman.56 Die Namengleichheit im Titel und die Triobesetzung mit Saxophon, Schlagzeug und Bass sind ein deutlicher Bezug auf Sonny Rollins, der zwar Moritat im Quartett einspielte, aber jazzhistorisch als ein Großmeister des Saxophontrios gilt. Redmans Interpretation ist so eindeutig als Mack the Knife zu erkennen, wie es rhythmisch, harmonisch und melodisch von der Weillschen Komposition abweicht. Den Unterschieden kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Lediglich eine Änderung soll die Aktualisierung, die Redman vornimmt, exemplarisch verdeutlichen: Redman fügt eine zweitaktige Figur ein, die vor und nach der Songmelodie mehrfach wiederholt wird. Sie ist ein kleiner Orientierungshaken, der immer wiederkehrt und die virtuosen Höhenflüge der drei Musiker erdet, sowohl harmonisch (die Figur besteht aus einer einfachen Melodie in E, wobei die Dur-Moll-Zugehörigkeit nicht festgelegt ist) als auch rhythmisch. Solche kurzen „vamps“ finden sich häufig im Jazz, nicht nur in seinen groovebetonten Spielweisen. Dort allerdings werden sie sehr gern zur Aktualisierung älterer Standards verwendet. Das Stück ist rhythmisch vertrackt, hat aber stets eine erkennbare Zählzeit. Skalen- und harmonietheoretisch ist es sehr avanciert, besitzt aber immer ein harmonisches Grundgerüst. So kombiniert Redman traditionelle Jazzelemente mit aktuelleren Vorstellungen von Groove und Sound und verortet den Titel damit in einer Spielweise, die seit einigen Jahren im Mainstream-Jazz sehr populär ist. Redman schafft es also durch seine Aktualisierung von Mack the Knife gleichzeitig den Gründervätern des Modern Jazz seine Reverenz zu erweisen und das Stück im zeitgenössischen Jazz zu verorten. Standards mit einer avancierten Improvisationstechnik bei gleichzeitiger Betonung von Groove zu aktualisieren, wie es Joshua Redman und viele seiner USamerikanischen Kolleginnen und Kollegen tun, ist ebenfalls im zeitgenössischen deutschen und europäischen Jazz sehr üblich. Diese Art mit Standards umzugehen, ist international. Allerdings versperrt sich Mack the Knife dieser Internationalität. Es gibt keine bekanntere deutsche Interpretation von Mack the Knife als instrumentalem Standard des Modern Jazz. Der Song gehört in Deutschland zum Theaterrepertoire, man weiß um seine Zugehörigkeit zu Brecht und Weill und man kennt den Text. Das soll nicht heißen, dass diese Herkunft in den USA unbekannt ist, allerdings erschwert in Deutschland anscheinend die Verankerung in einer genuin deutschen Theatertradition Mack the Knife so zu spielen, als wäre es ein US-amerikanischer Modern Jazz-Titel. Gelang die Rückkehr von Mackie Messer als zwielichtigem Broadway-Schurke von den USA nach Deutschland völ-

|| 56 Joshua Redman: Trios Live. Nonesuch 2014.

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lig problemlos, kann Mack the Knife als instrumentales Modern Jazz-Stück in seinem Herkunftsland nicht Fuß fassen; und dass, obwohl es ohne Text daherkommt. Möglicherweise ist in Deutschland der Text und dessen Zugehörigkeit zum Brechtschen Theater so präsent, dass man dem Stück seine Zugehörigkeit zur US-amerikanischen Kunstform Jazz nicht abnimmt. Mack the Knife ist in der Instrumental-Version ein Klassiker des US-amerikanischen Mainstream-Jazz. Das bleibt der Song auch für seine Hörer in Deutschland, er wird jedoch nicht zu einem Klassiker des deutschen Mainstream-Jazz.

4 Die kulturelle Aneignung der Moritat von Mackie Messer und Mack the Knife Jazz-Standards sind nicht per se ‚Klassiker‘, das macht Hans-Jürgen Schaal gleich zu Beginn von Jazz-Standards. Das Lexikon mit Blick auf klassische und Pop-Musik deutlich: Die Geschichte der klassischen Musik lässt sich anhand ihrer Meisterwerke darstellen, die Geschichte der Popmusik anhand ihrer Hits. Im Jazz ist das ein wenig anders: Hier zählt das Material weniger als die Art, wie damit umgegangen wird. Die Geschichte des Jazz ist daher in erster Linie eine Geschichte individueller und kollektiver Stilistiken, ImprovisationsStrategien, Phrasierungs- und Intonationsweisen, kurz: eine Interpretations-Geschichte. Ein Buch über die beliebtesten Melodien der Jazz-Musiker kann sich darum nicht auf die Kompositionen selbst beschränken, auf ihre Form, ihre Autoren, ihr schöpferisches Umfeld. Es muss auch von den Schicksalen dieser Stücke erzählen, ihrer Entdeckung oder Wiederentdeckung im Jazz, ihren Schule machenden Einspielungen, ihren interpretatorischen Traditionen – all den Entwicklungen, die sie zu dem machten, was sie heute sind: JazzStandards.57

In seinem Eintrag zu Mack the Knife kommt Schaal dementsprechend zu folgendem Résumé: „Ob Dixieland-Spaß, virtuose Pianisten-Zugabe, Jazz-Avantgarde oder ganz fragile Ballade […]: Das monotone Bänkellied vom Gangster, dem man’s nicht ansieht, ist auch im Jazz unsterblich geworden.“58 Versteht man ‚Standards‘ mit Schaal als diejenigen Musikstücke im Jazz, die in mehreren unterschiedlichen Stilistiken vorliegen, weil sie immer wieder neu und anders interpretiert werden, kann der hier verwendete Begriff des ‚Klassikers‘ helfen die

|| 57 Hans-Jürgen Schaal: Vorwort. In: Jazz-Standards. Das Lexikon. Kassel 52012, S. 7–10, hier S. 7. 58 Hans-Jürgen Schaal: Mack The Knife, S. 301.

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Entwicklungslinien dieser Stilvielfalt genauer zu analysieren. Die beiordnende Auflistung der unterschiedlichen Stile von Mack the Knife bei Schaal, die sicher auch der Kürze der Gattung Lexikoneintrag geschuldet ist, kann so exakter hierarchisiert werden: Die Big-Band-Variante hat die größte populäre Reichweite und vereint Hörer von Frank Sinatra, Robbie Williams und Harald Juhnke. Die Oldtime- und die Avantgarde-Varianten erreichen nur ihr jeweiliges Fan-Publikum, wobei die vielfältigen zitierenden Bezugnahmen innerhalb der AvantgardeInterpretationen ein Potenzial für einen noch kleineren Kreis an ambitionierten Jazz-Kennern bieten, das es im Oldtime-Bereich mit der maßgeblichen Einspielung von Louis Armstrong nicht gibt. Eine Untersuchung von Standards im Hinblick auf ‚klassisch‘ gewordene Einspielungen, ist bei Mack the Knife insofern zusätzlich ertragreich, als es bei diesem Stück zu einem transatlantischen Klassiker-Austausch kommt. Die Begeisterung, die Die Dreigroschenoper mit ihrem Sujet und ihrer Musik ab 1928 in Deutschland auslöste, ließ sich nicht so einfach in die USA übertragen. Der Transfer scheiterte einerseits an einem ganz wörtlich zu verstehenden Übersetzungsproblem. Es dauerte bis 1954, ehe eine Übersetzung der Songs gelang, die textlich nah an der Ursprungsfassung liegt und gleichzeitig so flüssig zu den vorgegebenen Melodien gesungen werden kann, dass es nicht unnatürlich und gespreizt klingt. Maßgeblicher jedoch waren die unterschiedlichen Produktionsund Rezeptionsbedingungen in den USA, die einen Erfolg 1933 verhinderten und sich dann jedoch so wandelten, dass The Threepenny Opera in den 1950er Jahren ihren Durchbruch feierte: aus einem unterhaltsam-sozialkritischen Theaterklassiker in Deutschland wurde in den USA ein Broadway-Klassiker, sicher auch deshalb, weil Weill in den USA zu diesem Zeitpunkt ausschließlich als Broadwayund Hollywood-Komponist bekannt war. Da Weill schon bei der Dreigroschenoper harmonische Abläufe und Rhythmen US-amerikanischer populärer Musik genutzt hatte, konnte die Moritat von Mackie Messer nach dem Erfolg der Threepenny Opera ihren Weg in den US-amerikanischen Pop und Jazz finden, dessen Standard-Repertoire aus vielen Musical-Melodien besteht. Doch wie schon beim Transfer des deutschen Theaterstücks in die USA gelang der Rücktransfer von Mack the Knife nach Deutschland nicht ohne Anpassungen. Die kulturelle Aneignung von Mack the Knife in der Oldtime-Variante von Louis Armstrong war einerseits aufgrund der Popularität des Interpreten in Deutschland kein Problem. Zusätzlich verpasste Armstrong dem Song musikalisch eine Gestalt, die in der Entstehungszeit der Dreigroschenoper ja tatsächlich zeitgenössisch war, wenn auch nur in den USA, der deutsche Jazz Ende der 1920er Jahre war um einiges hüftsteifer und noch mehr an den Klangvorstellungen des Salonorchesters orientiert als an der Hot-Spielweise aus New Orleans und Chicago. Spielt man in

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Deutschland Die Moritat von Mackie Messer im Stil von Louis Armstrong, erklingt also nicht ein Broadway-Titel in einem eher traditionellen Gewand, sondern ein Stück deutsche Theatertradition in einer musikalischen Weise, wie man sich die wilden 20er Jahre in Deutschland gerne vorstellt, wie sie jedoch – zumindest was die Musik betrifft – nicht waren. Das gleiche Stück klingt in den USA also ‚altmodisch‘, in Deutschland ‚nostalgisch‘. Das ist freilich kein großer Unterschied, aber einer, der durch die jeweiligen kulturellen Kontexte in den beiden Ländern entsteht. Ähnlich verhält es sich bei der Bigband-Variante von Mack the Knife. Diese macht Mackie Messer zu einem Vertreter des Broadway und des internationalen Showbiz. Zurück in Deutschland bekommt diese Version die zusätzliche Konnotation des Sehnsüchtigen, mit dem deutschen Text noch deutlicher als mit dem englischen. Wenn Hildegard Knef oder Harald Juhnke diesen Titel spielen, klingt darin die Sehnsucht nach einer internationalen Popularität mit. Deutsche Theater-, Musik- und Filmproduktionen der Weimarer Republik waren auf dem Weg, diese Popularität zu erlangen. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten hat dies – und nicht nur dies – allerdings nachhaltig zerstört, bis zum heutigen Tag. Sowohl bei der Oldtime- als auch bei der Bigband-Variante von Mack the Knife zeigt sich, dass deren kulturelle Aneignung in Deutschland ohne den Entstehungshintergrund der Dreigroschenoper nicht zu haben ist. Der deutsche Theaterklassiker beeinflusst die Rezeption des US-amerikanischen Pop- und JazzKlassikers vehement; so vehement, dass Mack the Knife in der Modern Jazz-Variante in Deutschland nicht Fuß fassen konnte. Das Wissen um die deutsche Herkunft und Tradition dieses Stückes verhindert in Deutschland eine kulturelle Aneignung von Mack the Knife in einem vollständig amerikanischen Gewand. Dies lässt sich sicherlich nicht als Antwort auf die Frage nach der Transkulturalität von Klassikern verallgemeinern, doch zumindest für die Moritat von Mackie Messer ist der Befund eindeutig: Weder der Klassiker Dreigroschenoper noch die verschiedenen Klassiker Mack the Knife haben allein aus sich heraus das Potenzial transkulturell populär zu werden. Dass die Threepenny Opera nach 1954 in den USA so durchschlagend erfolgreich wird, liegt maßgeblich an den geänderten gesellschaftlichen, kulturellen und ästhetischen Bedingungen, die diesen Erfolg ermöglichen und befördern. Beim Rücktransfer von Mack the Knife nach Deutschland ist es ähnlich, einige Versionen fallen auf einen günstigen kulturellen Boden, andere nicht. Die Behauptung, Klassiker hätten, eben weil sie Klassiker sind, ein hohes transkulturelles Potenzial, vertauscht also möglicherweise Behauptung und Beweis. Ob ein Kunstwerk über seine kulturellen Entstehens- und Rezeptionszusammenhänge hinaus auch in anderen Kulturen wirken kann, hat wohl wenig damit zu tun, ob es ein Klassiker ist. Eher scheint die glückliche –

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und sicherlich manchmal zufällige – Kombination aus einem werkinternen transkulturellen Potenzial und günstigen werkexternen kulturellen, gesellschaftlichen, politischen und / oder ästhetischen Gegebenheiten eine Bedingung dafür zu sein, dass ein Werk zu einem transkulturellen Klassiker wird. Mack the Knife ist so ein transkultureller Klassiker, und zwar einer mit je kulturell spezifischen Besonderheiten in Deutschland und den USA. Die Geschichte des Jazz-Standards Mack the Knife lässt sich ebenfalls als Hinweis auf die Möglichkeiten und Grenzen einer intermedialen Umwandlung von Kunstwerken lesen: Die Auskopplung von Mack the Knife als Song aus seinem Dramenkontext war in den USA völlig problemlos, in Deutschland hingegen ist dieser Kontext immer präsent. Das liegt allerdings nur zum Teil an der ursprünglichen kulturellen Zugehörigkeit des Dramas. Wichtiger scheint die jeweilige kulturspezifische Wahrnehmung. In den USA gilt The Threepenny Opera als Musical. Und aus Musicals haben sich Jazz- und Popmusiker schon immer recht unbedarft bedient. In Deutschland ist Die Dreigroschenoper ein zwar unterhaltsames, aber gesellschaftskritisches Theaterstück von Bertolt Brecht. Sowohl das ernste Anliegen als auch die Autorschaft des einflussreichsten deutschsprachigen Dramatikers des 20. Jahrhunderts erschweren die Herauslösung der Moritat aus ihrem Kontext, die Kanonizität des Dramas verhindert die Klassizität des Songs. Wie umfassend hingegen die Transformation der Dreigroschenoper zum Musical The Threepenny Opera in den USA gelungen ist, verdeutlicht ausgerechnet Grover Sales in seinem Buch über Jazz als klassische US-amerikanische Musik. Er beklagt, dass seit den 1950er Jahren kaum noch Musical-Melodien geschrieben würden, die eine größere Bekanntheit erlangten. Er sieht den Grund hierfür darin, dass die Musik zu lieblos komponiert und vor allem zu wenig ‚echter‘ Jazz sei, und hat gleich eine Lösung parat: Whoever creates an American Threepenny Opera – the first authentic jazz musical of the 1980s – will make history as surely as Kurt Weill and Bertolt Brecht did.59

Sales kann also für seine Forderung nach einem neuen ‚echten‘ und ‚klassischen‘ US-amerikanischen Jazz problemlos ein deutsches Theaterstück inanspruchnehmen. Diese interkulturelle Unbedarftheit ist ihm hoch anzurechnen, zumal in Zeiten sich verschärfender kultureller Grenzziehungen. Und Kurt Weill hätte die Bezeichnung seiner Musik als „authentic jazz“ sicherlich gefallen. Doch wusste dieser schon 1933 um die kulturellen und musikalischen Unterschiede seiner Musik im Verhältnis zum US-amerikanischen Jazz. Und diese sollten gerade nicht

|| 59 Grover Sales: Jazz, S. 227.

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eingeebnet werden, um einen problematischen Begriff zeitloser und universell gültiger ‚Klassik‘ zu stützen. Vielmehr gilt es diese Unterschiede zu beachten und zu klären, was wann für wen ein ‚Klassiker‘ ist. Denn nur so lässt sich besser verstehen, wie die intermediale und interkulturelle Aneignung von Kunstwerken funktioniert und diese zu ‚Klassikern‘ werden lässt.

Zbigniew Feliszewski

Baal im Film Bertolt Brecht, der nach wie vor zu den vielgespielten Autoren auf deutschen Bühnen gehört, wurde überraschend oft mit dem Attribut des Klassikers belegt, ohne dass sich eine solche bedeutungsverträgliche Verbindung im öffentlichen Literaturfeld etabliert hätte und geschweige denn in die Literaturgeschichte als Terminus eingegangen wäre. 1928 sieht Kurt Tucholsky im jungen Brecht „ein sehr beachtliches Talent, und in der Lyrik mehr als das“1, Max Frisch wundert 1964 die „durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers“2, Hellmuth Karasek stellt in seinem Brecht-Essay das Klassische bereits im Titel aus: 1978 gibt er ihn als Bertolt Brecht. Der jüngste Fall eines Theaterklassikers und 1995 als Bertolt Brecht. Vom Bürgerschreck zum Klassiker heraus. Die Ursache Brechts Folgenlosigkeit als Klassiker3 liegt nach Karasek in der deutschen Geschichte, die ihn zum Exil zwang und die die Nachvollziehung seiner geistigen, ästhetischen und politischen Entwicklung wesentlich erschwerte. Karasek behauptet: Daß sich zwischen dem jungen Brecht und dem alten Brecht nicht etwa nur das wiederholt, was in der deutschen Geistesgeschichte als Weg des Stürmers und Drängers zum Klassiker

|| 1 Bertolt Brecht. Hg. von Günther Berg und Wolfgang Jeske. Stuttgart, Weimar 1998, S. VII. 2 Ebd., S. VIII. Marcel Reich-Ranicki erklärt das folgendermaßen: „Nach Brechts Tod war es zunächst Max Frisch, der ihn einen Klassiker nannte – freilich gleich mit einer wichtigen Einschränkung. Er bescheinigte dem Stückeschreiber Brecht ‚die durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers‘ – was wohl heißen sollte: enormer Erfolg, jedoch keine reale Wirkung. Das mag zutreffen, nur sollte man noch klären, welchem Dramatiker der Weltliteratur sich beweisbare Wirkung nachrühmen ließe.“ Marcel Reich-Ranicki im Interview mit Claudia Roth: Hat Shakespeare die Welt verändert? In: FAZ (20.9.2010): http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/fragen-sie-reich-ranicki/fragen-sie-reich-ranicki-hat-shakespeare-die-welt-veraen dert-11035775.html [abgerufen am 5.5.2016]. Hervorhebung Z. F. 3 Florian Vaßen: Nowe bierze swój początek w nieznanym. Eksperymenty teatralne Bertolta Brechta i ich oddziaływanie w XXI wieku. In: Wokół Bertolta Brechta. Studia i szkice. Hg. von Grażyna B. Szewczyk, Zbigniew Feliszewski und Marta J. Bąkiewicz. Kraków 2016, S. 11. Der Text in der deutschen Fassung: Das Neue kommt aus dem Fremden – „sehr scharf und modern“. Zu Brechts Theater-Experimenten und ihrem Weiterwirken im 21. Jahrhundert wurde auf der Konferenz Theater – Drama – Gesellschaft. Die heutige Perzeption des Werkes von Bertolt Brecht 2012 in Katowice gehalten. Der Satz lautet: „Bertolt Brecht galt zumindest in Deutschland in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vielfach als ‚folgenloser Klassiker‘, als langweiliger Didaktiker mit erhobenem Zeigefinger und damit letztlich als ‚toter Hund‘ des Theaters, wie Feuilleton und Theaterkritik polemisch formulierten.“ https://doi.org/10.1515/9783110615760-030

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bekannt ist, Goethe zum Beispiel, ist auch deshalb so, weil unserem Bewußtsein das „Zwischenstück“ weitgehend fehlt. Brechts Biographie ist für uns unterbrochen wie die deutsche Geschichte unterbrochen ist.4

Der Kontinuitätsmangel in seiner Werkrezeption fällt für Brecht ungünstig aus. Der einstige rebellische Dichter der Berliner und Schwabinger Bohème mit seinem provokanten „Proletkult-Look“5, der seine Selbstinszenierung perfekt unter Kontrolle hatte,6 zeigte sich nach der Rückkehr nach Ostberlin 1948 als ein schlicht gekleideter Weiser mit festen marxistischen Überzeugungen. Die begleiteten ihn jedoch schon seit Ende der 20er Jahre, als er die Schriften Marx’ zum Gegenstand seiner Studien machte und fundierten weitgehend sein späteres Werk, dessen Akzente viel stärker auf soziale Bezüge gesetzt wurden. Seit ungefähr Mitte der 50er Jahre äußert er sich distanzierend über seine frühen Stücke, denen er mangelnde Weisheit, Widersprüchlichkeit, Huldigung der negativen Helden und eine allgemeine Unbeholfenheit attestiert.7 Die kommunistischen Ideen, an denen er festhielt, machten ihn in der Bundesrepublik und in Österreich zum politischen Enfant terrible. In Österreich nahmen das Desinteresse, die Abneigung, ja die Ablehnung gegenüber Brecht im Zeitraum von 1945 bis hin in die 1980er Jahre, von wenigen Ausnahmen abgesehen, regelmäßig zu: Von der kritischen Einstellung zum Autor, über die Auseinandersetzung mit seiner Theatervision und seiner Weltanschauung bis hin zum offenen Boykott seiner Stücke auf österreichischen Bühnen.8 In der Bundesrepublik gab es auch Aufführungsverbote und Boykottaufrufe. Die Versuche, Brecht zu verteidigen, indem der Künstler Brecht von dem Politiker Brecht voneinander getrennt werden sollten,9 waren temporär erfolgreich, hatten aber keine nachhaltige Wirkung. Auch in der DDR war die Rezeption dichotom: als Aushängeschild betrachtet, wurde er zugleich „mit dem Dogma des „echte[n] sozialistische[n] Realismus“, wie Brecht schon 1938 spöttisch formulierte, bekämpft.“10

|| 4 Hellmuth Karasek: Bertolt Brecht. Vom Bürgerschreck zum Klassiker. Hamburg 1995, S. 9. 5 Ebd. 6 Vgl. Reinhold Jaretzky: Bertolt Brecht. Reinbek bei Hamburg 2010, S. 8. 7 Vgl. Hellmuth Karasek: Bertolt Brecht, S. 10–11. Trotz dieser selbstverreißenden Worte hatte Brecht in den 50er Jahren vor, sein Frühwerk herauszugeben. Vieles spricht dafür, dass die Selbstkritik die eventuellen Zensoren beschwichtigen sollte. 8 Vgl. Ewa Mazurkiewicz: Komunista czy artysta? Bojkot Bertolta Brechta w Austrii. In: Wokół Bertolta Brechta. Studia i szkice. Kraków 2016, S. 219–230. 9 Vgl. Florian Vaßen: Nowe bierze swój początek w nieznanym, S. 12. 10 Ebd.

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Dass er zu Lebzeiten oft zum Gegenstand gemeiner Invektiven wurde, spielt dabei ebenfalls eine nicht geringe Rolle. Im Vorwort zur 1998 erschienenen Biografie Brechts haben Günter Berg und Wolfgang Jeske diese zusammengestellt: Brecht, das Ärgernis. […] Brecht, der Plagiator ohne eigene Ideen. Brecht, der Ausbeuter. Brecht, das Scheusal. […] Brecht, der Kommunist. Brecht, der Stalinist. Usw.11

Seine Theatertheorien – von ihm selbst zum zentralen Kriterium der Arbeit am Stück und seiner Konzeptualisierung auf der Bühne gekürt – prägten die Theaterlandschaft in beiden deutschen Staaten und im Ausland, bis heute sind sie ein Bezugsystem für überraschend viele Dramenautoren. Ob sie die Theatervision Brechts um die Gegenwartsbedingungen ergänzen oder diese ablehnen, immerhin bleiben sie im Feld, dessen Konturen großmaßstäblich Brecht gezeichnet hatte. Auch mit seinem Werk auf der Bühne wird dichotom vorgegangen: Der Beugung vor dem „Meister“, der die genauen Richtlinien für die Aufführungen in seinen Schriften festlegte, stehen die Demontage-Versuche seiner Vorlagen entgegen. Und zu guter Letzt bleiben die Filmadaptionen übrig, die aufgrund ihres medialen Wirkungspotentials zum Etablieren eines „Klassikers“ wesentlich beitragen können. Insgesamt wurden Brechts Werke achtmal verfilmt. Chronologisch aufgezeichnet sind es: Die Dreigroschenoper (1931, Regie: Georg Wilhelm Pabst), Herr Puntila und sein Knecht Matti (Regie: Alberto Cavalcanti) – gedreht 1955, uraufgeführt 1960, Die Mutter (1958, Regie: Harry Bremer), Mutter Courage und ihre Kinder (1961, Regie: Manfred Wekwerth und Peter Palitzsch), Die Dreigroschenoper (1962, Regie: Wolfgang Staudte), Baal (1970, Regie: Volker Schlöndorff), Die Rundköpfe und die Spitzköpfe (1985, Regie: Annelies Thomas), und Baal aus dem Jahr 2004 (Regie: Uwe Janson). Brecht war zweifelsohne ein Filmkenner, dessen Begeisterung für die Filmkultur nicht lediglich aus seiner Leidenschaft etwa für Charlie Chaplin oder die sowjetischen Filme der 20er Jahre hervorging, sondern in seiner Arbeit für die Filmbranche ihren Ausdruck fand, wie im Fall von Kuhle Wampe oder wem die Welt gehört (1932), einem proletarischen Film, zu dem Brecht das Szenario lieferte, und der sich als ein Flop erwies. Brecht nahm den Film (wie vorher das Radio) nicht für bare Münze, im Gegenteil, er stellte hohe Anforderungen an ihn, ähnlich denen, die er in seinen Theater- und Gesellschaftstheorien formulierte. Wie im epischen Theater sollte sich auch hier der Empfänger nicht lediglich auf

|| 11 Bertolt Brecht. Hg. von Günther Berg und Wolfgang Jeske, S. VII.

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pure Rezeption des Textes beschränken, sondern ihn kritisch analysieren und sogar am Prozess der Produktion beteiligt sein. Wahrscheinlich aus diesem Grund provozierten alle Brechtfilme, wie Karsten Witte vermerkt, „Kontroversen, Proteste und Prozesse“12 und dies sowohl im Falle der Produktionen, an denen der Autor persönlich mitgewirkt hat als auch oft in Filmen, die nach seinem Tode entstanden sind, man denke an Schlöndorffs Baal. Beide Baal-Verfilmungen sind für das Fernsehen entstanden. 1969 wurden die Dreharbeiten zu Schlöndorffs Film beendet. Der Regisseur, der seine Filme im Zeichen des Oberhausener Manifestes (1962) drehte, orientierte sich bei dieser Produktion an der Ästhetik und den Tendenzen der französischen Nouvelle Vague und des zeitgenössischen Dokumentarfilms. Mit Baal wollte er offensichtlich ein neues Modell für Theaterinszenierungen im Fernsehen schaffen, das die überkommene Studioästhetik überwinden sollte. Um es zu erreichen, griff er „Schauplätze in der Wirklichkeit“13 auf und setzte gezielt eine Ästhetik der unscharfen, „aus der Hand gedrehten“ Bilder und mangelhafte Tonqualität, die nicht alle Dialoge akustisch nachvollziehen lässt, als Kunstmittel ein. Die Besetzung der Titelrolle mit dem jungen Rainer Werner Fassbinder, einem sich nachlässig inszenierenden Provokateur, der Ende der 60er Jahre seine ersten kompromisslosen Theateraufführungen und rebellischen Filme hinter sich hatte, machte das Werk zu einer „Hommage auf einen anarchistischen Einzelkämpfer“14, wie es Joachim Lang in seiner Analyse der Brechtverfilmungen andeutet. Die Erstausstrahlung fand am 21. April 1970 in der ARD statt, noch am selben Abend wurde der Film von Helene Weigel, der Witwe Bertolt Brechts und der einzigen Erbin seines Nachlasses, für weiteren Vertrieb gesperrt. Brecht, der gerade auf bestem Wege war, ein Klassiker zu werden, zumindest in der DDR, wurde im Film, so Hans Georg Rodek, „nicht als staatstragender, sondern als anarchistischer Dichter dargestellt“15. Diesen Standpunkt bestätigt Volker Schlöndorff in dem Spiegel-Interview aus dem Jahr 2014:

|| 12 Karsten Witte: Brecht und der Film. Das zu Sehende jedermann sichtbar machen. In: Bertolt Brecht I. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 2006, S. 81. 13 Joachim Lang: Episches Theater im Film. Bühnenstücke Bertolt Brechts in den audiovisuellen Medien. Würzburg 2006, S. 346. 14 Ebd., S. 345. 15 Hans Georg Rodek: Werft diesen Fassbinder in siedendes Öl! In: Die Welt (10.1.2014): http://www.welt.de/kultur/kino/article123739200/Werft-diesen-Fassbinder-in-siedendes-Oel. html [abgerufen am 1.5.2016].

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Die [Helene Weigel] hatte einen Horror, dass an Brechts anarchistische Anfänge erinnert wird. Er sollte auf einem Sockel neben Goethe stehen, als der Klassiker der DDR. Und dann kommt auf einmal diese Ausgeburt „Baal“ im Fernsehen, jede Textzeile von Brecht. Um Gottes Willen! Die Figur Baal war ideologisch inkorrekt: Ein total Asozialer, der auf alles scheißt und Holzfäller beschimpft – und das im Arbeiter- und Bauernstaat.16

Wenn auch Schlöndorffs Diagnose etwas übertrieben klingt, lässt die Kontroverse um den Film, der seine zweite Prämiere auf der Berlinale im Jahre 2014 erfuhr, über die „Kanonisierungsmechanismen“ der Schriftsteller zu Klassikern und die Rolle der elektronischen Medien in diesem Prozess nachdenken. Dass Schlöndorffs Baal nach 44 Jahren ohne Einschränkungen gezeigt werden durfte, wurde durch eine Neuorientierung am Werk Brechts ermöglicht, die im Kreise der Literaturwissenschaftler bereits 2006, also zum 50. Todestag des Autors von Jan Knopf mit einem Beitrag unter dem Titel Der entstellte Brecht. Die Brecht-Forschung muss (endlich) von vorn anfangen postuliert wurde.17 Zehn Jahre vor der „zweiten Premiere“ des Films von Volker Schlöndorff konnten die Fernsehzuschauer in Deutschland die neueste Verfilmung des Dramas sehen. Uwe Janson nahm sich der Vorlage auf Anregung der Fernsehsender ZDF-Theaterkanal und Arte an, mit der Absicht, eine moderne Form für das Theater im Fernsehen zu finden. Janson geht antidokumentarisch vor, seine Bilder knüpfen in keinerlei Weise an die Ästhetik des Neuen Deutschen Films an, die Schlöndorff vor über 30 Jahren vorgeschlagen hatte, im Gegenteil. Sein Film wirkt künstlich, auch wenn er, wie Schlöndorff, das Filmstudio verlässt, um in der Natur zu drehen, denn durch entsprechende Kunstbeleuchtung gewinnen seine Naturbilder eine gekünstelt-synthetische Dimension, als hätte man nicht mit naturnaher Realität, sondern mit Visionen eines Ecstasykonsumenten zu tun. Kerstin Decker erklärt die Ästhetik folgendermaßen: Die Lichtregie ist umwerfend künstlich. Kein Film, der Wirklichkeit simuliert, dürfte sich solche Beleuchtung leisten. Janson darf. Denn für nichts hat Baal, hat Brecht, hat Janson (hat das Theater) größere Verachtung als für die Wirklichkeit.18

|| 16 Volker Schlöndorff im Interview mit Anne Backhaus: „Ich freue mich. Ich habe es fertig gebracht, dass Leuten zum Kotzen ist“. In: Spiegel Online (19.4.2014): http://www.spiegel.de/ einestages/volker-schloendorff-ueber-die-umstrittene-brecht-verfilmung-baal-a-964396.html [abgerufen am 1.5.2016]. 17 Jan Knopf: Der entstellte Brecht. Die Brecht-Forschung muss (endlich) von vorn anfangen. In: Bertolt Brecht I. München 2006, S. 5. 18 Kerstin Decker: Mehr als Punk. Die Entdeckung des Filmtheaters: Matthias Schweighöfer versucht sich als „Baal“. In: Tagesspiegel (29.3.2004): http://www.tagesspiegel.de/medien/mehrals-punk/503306.html [abgerufen am 2.5.2016].

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Von der Poetik des Films abgesehen, bleibt die Frage nach den möglichen Reinkarnationen des Stoffes, den Brecht mit seinem Baal lieferte, seinen Neuerscheinungen, die gerade den Rezipienten von heute ansprechen sollen, offen. Denn darum geht es in erster Linie bei den Filmadaptionen alter Stoffe: den Zuschauer von heute durch die Folie des Klassischen zu erkunden, um zu erfahren, wie es um die Verfassung des Heutigen bestellt ist. In der Figur Baals platzierte der zwanzigjährige Brecht mit ganzer jugendlicher Wucht seinen Zorn über das Pathos, von dem Künstlerfiguren in herkömmlichen Dramen umwoben wurden, insbesondere Christian Dietrich Grabbe, dem Hanns Johst 1917, also 20 Jahre vor seinem NSDAP-Beitritt, sein expressionistisches Drama Der Einsame widmete. Die künstlich arrangierte Welt eines Dichters, der in seiner Kammer vereinsamt, von den Zeitgenossen unverstanden haust, musste dem jungen Brecht wie eine leibhaftige Hölle vorgekommen sein. Die Antwort darauf ist das Stück über einen Poeten, den die Gesellschaft begehrt, der seiner Größe bewusst, diese skrupellos benutzt, indem er die Grenzen ihrer Langmut testet und kompromisslos sein „unstillbare[s] Glücksverlangen“19 auslebt und daran zu Grunde geht.20 Baal verachtet die Gesellschaft wegen ihrer Engstirnigkeit, wegen ihrer Scheinmoral, ihres Drangs zur Vermarktung von allen Gütern, die ihr zur Verfügung stehen,21 ihres Drangs zur Verwertung des Unverwertbaren, und nicht zuletzt zur „Verwurstung“ der Kunst. Doch der asoziale Poet ist zugleich, um Joachim Lang nochmals zu zitieren, „ein Produkt dieser Gesellschaft, sie hat ihn hervorgebracht, und deswegen fallen seine Taten auf sie zurück.“22 Zwischen seinem Leben und seiner Kunst will er keine Trennung ziehen. Vor der verachteten Gesellschaft flüchtet er in die Natur (sei es der Wald oder der Geschlechtsakt), doch diese befindet sich schon lange in ihren schmutzigen Händen. Als er seinen geliebten Freund Ekart in Eifersucht ersticht, geht er in eine Hütte im Wald, wo er in Einsamkeit stirbt. Bei Schlöndorff wird dieses Problem mit einem viel stärkeren sozialen Hintergrund als bei Brecht untermauert.

|| 19 Hellmuth Karasek: Bertolt Brecht, S. 17. 20 Schnell hat sich das Drama von seiner Vorlage gelöst und eine „Eigendynamik“ gewonnen. Brecht hat vieles an dem Stück geändert und so stehen heute fünf Fassungen zur Verfügung, in denen die Akzente verschieden gesetzt werden. Im Großen und Ganzen geht es um die Versuche, den Bürgerschreck Baal in die Gesellschaft mehr oder weniger zu integrieren. 21 Vgl. Zbigniew Feliszewski: Bertolt Brecht in der Theorie des Konsums. In: The Brecht Yearbook/Das Brecht-Jahrbuch 38 (2013), S. 244–259. 22 Joachim Lang: Episches Theater im Film, S. 312.

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Die bürgerliche Gesellschaft ist ein Störfaktor bei der Entfaltung des Individuums, sie schränkt seine Freiheit ein. Dabei handelt es sich nicht um die Gesellschaft schlechthin, sondern um die der Bundesrepublik am Ende der 1960er Jahre. Deshalb bedient sich Schlöndorff der authentischen Requisiten, die den Hintergrund des Films ausmalen: Kleidung, Autos, Innenräume etc. Er verzichtet auf eine der Schlüsselszenen im Stück: als Baal für seinen Freund ein Stierspektakel veranstalten möchte. In dieser Szene löst sich Baal quasi von der Handlung,23 um der Reflexion über die Ontologie der Kunst, die als Spektakel immer gegen die Gesellschaft gerichtet ist, Platz zu machen. Die Tendenz zur Aktualisierung ist auch in der Soiréeszene zu sehen, als Baal von der noblen bürgerlichen Gesellschaft umgeben, vor den multiplizierten Hitler-Fotos steht. Das Porträt des Diktators wurde hier zur ästhetischen Größe hervorgehoben. Das Paradoxe daran ist, dass das „Kunstwerk“ ästhetisch an die Popart anknüpft, inhaltlich jedoch die Ideologie vermittelt, die gegen jegliche progressive Kunst gerichtet war. Die Gesellschaft gibt sich modern, weltoffen und tolerant, hat sich im Grunde genommen jedoch noch nicht von der Nazi-Ideologie befreit. Dieses Thema wurde überdurchschnittlich häufig von den Autoren des Jungen Deutschen Films aufgegriffen, man denke an die Filme von Peter Fleischmann Jagdszenen aus Niederbayern, Rainer Werner Fassbinder (etwa Katzelmacher) oder Hans Jürgen Syberberg (Hitler, ein Film aus Deutschland). Dass Baal in der Szene in die andere Richtung schaut als es das Bild Hitlers suggeriert, deutet darauf hin, dass der junge Künstler seinen eigenen Weg gehen wird.24 Freiheit des Individuums steht im Widerspruch zur gesellschaftlichen Ordnung. Jeder Verstoß gegen sie wird dem Anarchismus gleichgesetzt. Joachim Lang erklärt das folgendermaßen: Das Drehbuch rückt die utopische anarchistische Komponente der Befreiung in den Mittelpunkt. Im Stück dagegen ist Baals Anarchismus nicht positiv, gesellschaftlich umsetzbar, sondern gekennzeichnet durch Negation und Verweigerung. Die Textänderungen im Drehbuch akzentuieren die Titelfigur tendenziell unabhängiger, freier von gesellschaftlichen

|| 23 Vgl. ebd., S. 320. 24 Joachim Lang sieht in Baal eine visuelle Ähnlichkeit mit dem abgebildeten Hitler: Wie der Diktator hat auch Baal ein Bärtchen, was darauf hinweisen würde, dass Baal ein Produkt dieser Gesellschaft sei. „Wenn er sie auch kompromisslos und radikal hinter sich lässt, er ist von ihr determiniert. Wenn er später Mensch und Natur verwertet, entspricht er den Gesetzen der Zivilisation, die er verachtet.“ Ebd., S. 332. Diese Analyse ist nicht für bare Münze zu nehmen. Baal verwertet Menschen und Güter eher, um die Sinnlosigkeit und Verlogenheit der Gesellschaft hyperbolisch zu überspitzen. Deshalb spielt er in der Umgebung der Bürgerlichen immer einen Narren, während er im Gespräch mit dem verliebten Johannes oder mit Außenseitern der Gesellschaft nüchtern und ernst wirkt.

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Bedingungen und deuten eine utopische Alternative an […]. Er [Schlöndorff] wollte mit seiner Verfilmung „dem letzten anarchistischen Einzelkämpfer ein kritisches Denkmal setzen“.25

In der Schlussszene, als Baal vor die Hütte kriecht, um im Regen zu sterben, lässt Schlöndorff, anders als in Brechts Vorlage, den Holzfäller konstatieren: „Wer heute noch verrecken gehen kann. Hut ab!“ Der Bürgerschreck ist tot, doch bleibt die Hoffnung, dass sein Leben nicht ganz nutzlos war. Anders also als in Brechts Stück ist hier Baal bei all dem Widerwillen, den man ihm entgegenbringen möchte, doch eine eher positive Figur. Nicht zuletzt durch Andeutungen seiner Zerrissenheit gewinnt der Hedonist und Anarchist sympathische Züge. Schlöndorffs Auffassung korrespondiert mit den Tendenzen des Oberhausener Manifestes und des Jungen Deutschen Films, die aus der Widerstandshaltung gegen ein erstarrtes „Papas Kino“ entstanden und überdurchschnittlich oft den Auflehnungswillen in verschiedenen Facetten thematisierten, sei es als Generationenkonflikt, Frauenemanzipation oder Konsumgesellschaft. In Schlöndorffs Baal „steht die Unabhängigkeit von der bürgerlichen Gesellschaft als Voraussetzung für die Freiheit im Mittelpunkt“.26 Dagegen scheinen der Künstler und die Gesellschaft in Uwe Jansons Verfilmung von ganz anderen Denkweisen und Haltungen geleitet zu sein. Für den Zuschauer im 21. Jahrhundert gedacht, verschiebt der Film die Akzente vom Kampf zwischen dem Einzelnen, seiner Umgebung und ihrer Wechselbeziehung auf die subjektiven Erlebnisse eines Künstlers. Baal (dargestellt von Matthias Schweighöfer) ist ein Individuum, ein Außenseiter, doch seine Umgebung hat sich mittlerweile an jegliches Anderssein gewöhnt, niemand schert sich um die draufgängerischen Frechheiten eines exzentrischen Rockmusikers. Eingegriffen wird, wenn seine Handlungen die gesellschaftliche Ordnung wesentlich beeinträchtigen, doch dazu dienen die Staatshüter, etwa die Polizei. In den Zeiten der Entstehung des Dramas ging es um die Wechselwirkung Individuum/Gesellschaft, welche jahrzehntelang einen der zentralen Punkte der Deutung bildete. Während Schlöndorff die Bedeutung des Individuums für die Gesellschaft hervorhebt und den kompromisslosen Baal als einen anarchistischen Künstler zeigt, der zwar zu Grunde gehen muss, aber die Veränderung der Gesellschaft möglicherweise einleitet, scheint in Jansons Film jede Andersartigkeit und Fremdheit von der Massenkultur einverleibt zu sein.

|| 25 Ebd., S. 320–321. 26 Ebd., S. 320.

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Baal ist hier ein Popanarchist, der seine Kunstvisionen auslebt und bei dem sogar das Hässliche (wie etwa Kot und Speichel, die er ausscheidet) ästhetisch verträglich sein muss. Dieser Baal ist ein Besessener. Ein Entgrenzungsereignis. Mindestens so flüssig will er werden wie der Schnaps, den er trinkt. Dauernasses Haar und feuchte Halbnacktheit von Anfang bis Ende genügen da nicht. Den Besessenen, den Wahnhaften glaubt man Schweighöfer nicht. Er kokettiert damit, und das ist ungefähr das Schlimmste, was dem Menschenfresser Baal, der am Ende sich selbst fressen muss, passieren kann.27

Dies bestätigen Variationen seines Umgangs mit Frauen. Brecht zeigt Baal als einen Ausbeuter, für den die Frauen interessant sind, solange er Lust an ihnen hat. Wie das Essen oder Trinken, genießt er sie, um sie auszuspucken, ohne an die Konsequenzen zu denken. Schlöndorff hebt die gesellschaftlichen Bedingungen hervor. Alle Frauen sind stärker an die gesellschaftlichen Regeln gebunden. Der Konflikt resultiert aus dem Streitverhältnis zwischen den gesellschaftlichen Normen und dem quasi biologischen Ruf, einem Naturkünstler zu folgen. Janson führt eine kleine Innovation ein: Sophie Berger – gespielt von Sheri Hagen – verleiht er einen Charme, der beiden früheren Vorlagen fehlt. Sie verführt Baal, inspiriert ihn, zeitweise scheint sie bewusst und vielleicht sogar emanzipiert, wenn sie auch, wie in der literarischen Vorlage, am Ende von Baal verlassen wird. Brecht-als-Klassiker stellt ein Problem dar, weil, wie Helmut Koopmann behauptet: „Dem Werk Bertolt Brechts […] bislang versagt geblieben [ist], was anderen Schriftstellern seiner Zeit zu Verständnis und Anerkennung verholfen hat: eine plausible, widerspruchslose Deutung.“28 Doch damit ist auch die Sache nicht erledigt. Während das klare, eindeutige Werkverstehen, was im Übrigen nur bedingt anzunehmen ist, noch in den Zeiten der Moderne oder der „klassischen Moderne“29 (also bis ca. in die 1970er Jahre hinein) bei der Etablierung des Klassikers behilflich sein konnte, scheint nun in der Zeit der „Spätmoderne“ mit ihrer „radikalen Demontage aller sozialen Verbindungsglieder“30 nicht nur ineffizient, sondern auch ganz falsch zu sein. Wenn Hellmuth Karasek etwas ausfällig in Brecht einen „Klassiker, ein[en] tote[n] Autor“31 sieht, so könnte man hinzufügen,

|| 27 Kerstin Decker: Mehr als Punk. 28 Helmut Koopmann: Brecht – Schreiben in Gegensätzen. In: Bertolt Brecht – Aspekte seines Werkes, Spuren seiner Wirkung. Hg. von dems. und Theo Stammen. München 1994, S. 9. 29 Hartmut Rosa: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Berlin 2014, S. 25. 30 Zygmunt Bauman: Flüchtige Moderne. Übersetzt von Reinhard Kreissl. Frankfurt am Main 2003, S. 12. 31 Hellmuth Karasek: Bertolt Brecht, S. 202.

512 | Zbigniew Feliszewski

Brecht sei ein Klassiker geworden, weil er ein toter Autor ist. Andere notwendige Voraussetzungen lassen ihn in der Schwebe zwischen Klassiker und Bürgerschreck hängen und ihm somit keine Denkmäler setzen. Brecht bleibt ein Streitautor und deshalb offen. Die Demontageversuche, die Baal als Stück erfahren hat, zunächst von Brecht selbst, dann von den beiden Filmemachern, versetzen es in den Bereich, in dem es fortwährend am Köcheln gehalten wird. Und somit, an die Ästhetik des Dramas anknüpfend, auch für den heutigen Magen verträglich.

| Teil VI: Kulturelle Aneignung: Intertextualität

Sophie Picard und Paula Wojcik

Kulturelle Aneignung: Intertextualität Innerhalb des intertextuellen Aneignungsprozesses von Klassikern stehen zwei Praktiken im Vordergrund: Zum einen der kulturelle Transfer durch Übersetzungen und zum anderen die poetische oder auch poetologisch motivierte Auseinandersetzung mit fremden Werken. Im Fall der Übersetzung lässt sich pointieren, dass der Klassiker im Fokus steht, im anderen Fall das im Dialog mit dem Klassiker neu entstehende Werk. In beiden Fällen betreffen die intertextuellen Bezugnahmen jedoch mehr als den bloßen Gegenstand, nämlich dessen semantischen Überschuss. Im Übersetzungsprozess, der nicht eine bloße Übertragung des Ausgangstextes in eine andere Sprache ist, sondern u.a. auch Vermarktungslogiken einschließt, wird der kulturelle Standort des Ausgangstextes reflektiert. In der poetologischen Aneignung verortet sich der Autor selbst in einer literarischen Tradition. Dass nicht nur die Mediengeschichte Teil der Klassikergeschichte ist, sondern die Übersetzungsgeschichte am Klassikerstatus kräftig mitwirkt, thematisiert Marc Franz in seinem Beitrag Die Neuübersetzung im Prozess der Klassikerbildung. Gerade weil die Übersetzung einerseits das Original ersetzt, andererseits aber nur ein „Stellvertretertext“ bleibt, evoziert sie einen Begleitdiskurs, in dem je nach Standpunkt zu viele, zu deutliche oder zu wenige Eingriffe in den Originaltext besprochen und gegebenenfalls moniert werden. Die Balance zwischen Historizität und Aktualität genauso wie diejenige, die notwendig ist, um den richtigen Sprachduktus zwischen feierlichem Ton und Alltagssprache zu treffen, wird vom Standpunkt des Klassikerstatus her bewertet. Man könnte durchaus von einem normierenden Einfluss des Status auf die Übersetzungen sprechen, wenn man die von Franz untersuchten Beispiele betrachtet: Die chinesische Tagore-Übersetzung Feng Tangs wurde vom Markt genommen, weil sie der Repräsentation des Schriftstellers in der Öffentlichkeit zuwider kam, Raoul Schrotts Illias wurde der Vulgarität bezichtigt und Friedhelm Rathjens Moby Dick derart ‚begradigt‘, dass der Übersetzer seinen Namen nicht mehr dafür hergeben wollte. Hier geraten offenkundig der künstlerische Anspruch in der Auseinandersetzung mit dem Klassiker und Marktgesetzlichkeiten, die den verkaufsfördernden kanonischen Status im Blick haben, aneinander. Die drei weiteren Beiträge dieser Sektion stehen für unterschiedliche Formen einer möglichen künstlerischen Auseinandersetzung mit als Klassiker geltenden Werken. Ilse Nagelschmidt stellt das interkulturelle Potenzial in der Aktualisierung von Klassikern am Beispiel von Feridun Zaimoglus Liebesmale, Scharlachrot ins Zentrum ihrer Überlegungen. Das anhaltende Interesse an einer ästhetischen https://doi.org/10.1515/9783110615760-031

516 | Sophie Picard und Paula Wojcik

Auseinandersetzung mit Goethes Briefroman, das auch das Beispiel der Mash upNovels (vgl. Wagner/Egger in diesem Band) belegt, erklärt Nagelschmidt durch dessen Status als Kultbuch. Den Kultbegriff führt bereits Moritz Baßler im ersten Abschnitt des Bandes ein, Nagelschmidt schließt sich Christian Kleins Arbeit zum Thema1 an und referiert Aspekte, die den nachhaltigen Kultstatus begründen, indem sie eine Identifikation des Lesers mit Werk und (implizitem) Autor trotz des zeitlichen Abstands befördern. Diese Determinanten sieht sie fruchtbar in Zaimoglus Adaption aufgehen, wobei zumindest zwei strukturelle Unterschiede festzuhalten sind: Die monologische Struktur des Prätextes wird erstens zugunsten einer dialogischen aufgelöst, wodurch die beiden Kulturen, zwischen denen die Protagonisten verortet sind – Türkei und Deutschland – in einen Dialog miteinander treten und zweitens wird die konsequente Objektivierung Lottes bei Goethe durch selbstbewusste weibliche Stimmen bei Zaimoglu geradezu konterkariert. Die strukturellen Verschiebungen führen zu einer Aktualisierung des Themenkomplexes um „Eros, Kunst und Identifikation“, wie Nagelschmidt schreibt. Im intertextuellen Bezug wird die mangelnde Passfähigkeit Werthers in der Gesellschaft geradezu zu einer gesamtgesellschaftlichen Diagnose, weil sich in ihr die Displacement-Situation aller Figuren aus Liebesmale, Scharlachrot spiegelt. Dass Intertextualität eine verbreitete Strategie für Schriftsteller darstellt, sich künstlerisch selbst zu verorten und eine eigene, subjektive Klassikergeschichte zu entwerfen, belegt besonders prägnant der iranisch-deutsche Autor Navid Kermani. Emmanuelle Terrones untersucht in ihrem Beitrag „Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe“ – Navid Kermanis Lektüre der Klassiker als Poiesis am Beispiel von Kermanis Opus Dein Name und seinen Frankfurter Poetikvorlesungen, wie die in unterschiedlichen Zusammenhängen hergestellten Klassikerbezüge eine eigene, am romantischen Postulat einer progressiven Universalpoesie ausgerichtete Poetik entstehen lassen. Bemerkenswert ist daran, dass der Orientalist Kermani diese Bezüge häufig in einen unerwarteten Kontext, wie etwa den der islamischen Mystik stellt, wodurch die deutschen Klassiker als Weltliteratur erscheinen. Louise-Hélène Filion präsentiert in ihrem Beitrag „Klassiker-Parodien interkulturell. Thomas Bernhard in einem zeitgenössischen Roman aus Quebec“ einen Sonderfall der intertextuellen Aneignung eines Klassikers im Kontext der postkolonialen Literatur. Denn in dem von ihr analysierten Roman der quebecer Autorin Nicole Filion zielt die Auseinandersetzung mit einem Klassiker der europäischen

|| 1 Christian Klein: Kultbücher. Theoretische Zugänge und exemplarische Analysen. Göttingen 2014.

Kulturelle Aneignung: Intertextualität | 517

Literatur, Thomas Bernhard, nicht, wie zu erwarten wäre, auf eine Kritik der dem westlichen Kanon inhärenten Herrschaftsverhältnisse, sondern vielmehr auf die Gestaltung eines interkulturellen Bezugsraums. In Filions Gebrauch vom Bernhardschen Prätext sieht sie eine Sonderform von parodistischem Bezug realisiert, der es ermöglicht auf die Ähnlichkeiten der gesellschaftlichen Situation in Quebec und Österreich hinzuweisen und zugleich das Fremde des literarischen Vorbilds zu markieren. Die vier in dieser Sektion vorgestellten Fälle intertextueller Aneignung von Klassikern zeichnen sich durch ihren interkulturellen Charakter auf unterschiedlichen Ebenen aus. Bei Franz liegt ein expliziter Kulturtransfer inklusive Sprachwechsel vor, bei Nagelschmidt und Terrones findet eine Aktualisierung im Horizont prinzipiell interkulturell geprägter Gesellschaften statt und bei Filion eine Form, die man als hermeneutischen Kulturtransfer bezeichnen könnte: Die Fremdheit des Prätextes ist Deutungs- und Reflexionsvehikel für die eigene Gegenwart.

Marc Franz

Neue Originale Die Neuübersetzung im Prozess der Klassikerbildung

1 Seltsame Doppelbotschaft Als ich vor einiger Zeit in einem Drogeriemarkt etwas ratlos vor einem Regal mit zu vielen Mundhygieneprodukten stand, weckte eine Zahnpastaverpackung meine Aufmerksamkeit. Eine seltsame Doppelbotschaft irritierte mich. Eigentlich handelte es sich bloß um zwei Wörter. Aber wie in aller Welt passten sie zusammen? War es eine Gedankenlosigkeit der Marketingabteilung? Ein selbstentlarvender Etikettenschwindel? In der oberen rechten Ecke stand, in Versalien und von einem Rahmen umgeben, das Wort „neu“. Nicht ungewöhnlich: Ohne diesen Hinweis kommt heute vermutlich kaum ein Produkt aus. Was mich nachdenklich machte, war erst das zweite, ebenfalls in Großbuchstaben aufgedruckte Wort. Man musste beide Begriffe zwangsläufig zusammenlesen, denn sie waren untereinander platziert und durch eine Linie, die vom Rahmen hinunterführte, gewissermaßen miteinander verbunden. Dort stand: „Original“. Allen Ernstes versuchte man also etwas als anders und noch nicht da gewesen (implizit als weiterentwickelt und verbessert) zu verkaufen, von dem es zugleich wie eine Versicherung hieß, es sei das echte, ursprüngliche Erzeugnis. Wie ging das zusammen? Wie groß darf eine Abweichung maximal sein, um noch vom „Original“ sprechen zu können. Oder umgekehrt: Wieviel Neues muss es enthalten, um ihm das Label „neu“ geben zu dürfen? Kurz: Wie kann etwas neu und zugleich noch das authentische Original sein? Dies wäre hier natürlich nicht der Rede wert, wenn es dabei nur um Werbung ginge. Tatsächlich jedoch bemerkte ich plötzlich, dass ich dieses Versprechen schon häufiger gehört hatte, als mir bewusst gewesen war, und zwar im Zusammenhang mit den diversen Klassikerneuübersetzungen, mit denen ich mich bereits seit geraumer Zeit befasst hatte. Auch sie versichern dem Leser immer wieder auf unterschiedliche Weise: Dies ist ein anderer Text, aber keine Sorge, lieber Leser, es handelt sich nach wie vor um das Original, es ist bloß ein verbessertes Original.

https://doi.org/10.1515/9783110615760-032

520 | Marc Franz

Mir fiel auf, dass auch die als Klassiker geltenden Texte – Jan und Aleida Assmann nennen sie kulturelle Texte1 – auf der einen Seite permanent nach Aktualisierung und Erneuerung verlangen, um ihren Status langfristig wahren zu können. Dass sie jedoch auf der anderen Seite unter einem besonderen Schutz stehende „heilige“ Texte darstellen, an denen im Prinzip nichts verändert werden darf. Besonders deutlich zeigt sich dies an den Übersetzungsgeschichten der allochthonen kulturellen Texte, der importierten Klassiker.

2 Das Dilemma der Klassikerneuübersetzung Zwischen der Zahnpasta und den Neuübersetzungen gibt es einen bedeutenden Unterschied: Im Fall der Neuübersetzungen ist das „verbesserte“ Produkt nicht das Original. Denn dieses fehlt bei importierten Klassikern. Natürlich existiert es. Doch mit Ausnahme weniger Experten kennt es kaum jemand. Was der Leser einer Übersetzung kennenlernt, ist lediglich ein Stellvertreter, eine Version, die vorgibt, das Original zu sein. Neuübersetzungen stellen insofern optimierte Stellvertreter dar. Im Fall der allochthonen kulturellen Texte, der importierten Klassiker, gibt es immer nur ein oder zwei (selten drei) autoritative Stellvertretertexte. Mit jeder neuen Version (Neuübersetzung) eines importierten Klassikers entsteht ein „Kampf“ – unter anderem um diese Position des autoritativen Stellvertreters.2 Das ist also das Besondere an den allochthonen kulturellen Texten – man kann das nicht stark genug betonen: Die Ilias, Das Dschungelbuch, der Don Quijote, Madame Bovary, Ein Sommernachtstraum, die Geschichten von Edgar Allan Poe etc. – diese Texte sind zwar in unserer Kultur verankert, aber nur in Form von Repräsentationen. Die Originale sind abwesend. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zu den autochthonen Klassikern wie Goethes Faust, Schillers Wilhelm Tell oder Brechts Dreigroschenoper – sehen wir einmal von wenigen Ausnahmen wie beispielsweise dem Simplicissimus ab, der 2009 von Reinhard Kaiser in ein zeitgemäßes Deutsch übersetzt worden ist. Insofern scheint im Fall der Neuübersetzungen das Versprechen/die Doppelbotschaft „neu – und das Original“ kein Etikettenschwindel zu sein. Denn hier lautet es eher: „Neu – und nun noch näher am Original.“

|| 1 Aleida Assmann: Was sind kulturelle Texte? In: Literaturkanon – Medienereignis – kultureller Text. Hg. von Andreas Poltermann. Berlin 1995, S. 232–244. 2 Die Frage übrigens, welche Bedingungen gegeben sein müssen, um sich in diesem „Kampf“ behaupten zu können, ist ein spannendes Feld. Ohne an dieser Stelle weiter ins Detail gehen zu können: Die philologische Qualität der Übersetzung spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.

Neue Originale. Die Neuübersetzung im Prozess der Klassikerbildung | 521

Es stellt sich allerdings eine andere grundlegende Frage: Wer will das wissen? Klassikerneuübersetzungen haben nämlich ein Problem: Sie sind Umschreibungen von Artefakten, die unter einem besonderen Schutz stehen. Anders als bei Erstübersetzungen existieren bereits Versionen, die nicht nur einen herausragenden Status haben – sonst wären sie ja nie zu Klassikern avanciert –, sondern auch ein spezifisches, mitunter sakrosanktes Klassikerbild geformt haben. Diese Situation stellt für Übersetzer eine besondere Herausforderung und Bürde dar, was Christian Hansen, Übersetzer von Roberto Bolaño, in einem Interview zu der Bemerkung veranlasste: „[E]inen fast unbekannten Autor zu übersetzen oder einen Klassiker zu übersetzen, sind zwei grundverschiedene Dinge. Man kann dieses Gefühl von wachsender Verantwortung nicht ausblenden. Seine Stimme ist, um es pathetisch auszudrücken, verstummt, und was bleibt, sind einzig die Stimmen seiner Übersetzer.“3

2.1 Der vulgäre Tagore Dass neue Stimmen zum Teil erhebliche Schwierigkeiten haben, auf offene Ohren zu treffen, zeigt ein besonders krasser Fall aus Asien: die 2016 erschienene chinesische Neuübersetzung von Rabindranath Tagores „Stray Birds“, die der in China sehr bekannte Autor Feng Tang (Zhang Haipeng) anfertigte. Nach dem Erscheinen der Neuübersetzung schlug Übersetzer und Verlagshaus eine Welle der Empörung entgegen.4 Vor allem auf den Verleger wurde viel Druck ausgeübt. Eine große Leserschaft sowie verschiedene Autoritäten aus Kultur und Politik sowohl aus China als auch aus Indien (!) verlangten, die Neuübersetzung wieder vom Markt zu nehmen. Der Druck war am Ende so groß, dass sich der Verleger gezwungen sah, der Forderung nachzukommen, Tangs Neuübersetzung tatsächlich vom Markt nahm und versprach nachzubessern. Doch warum? Wie lautete der Vorwurf? Die Kritik entzündete sich insbesondere an zwei Punkten. Der erste Vorwurf lautete: Die Neuübersetzung sei vulgär. Der zweite: Ebendies sei nicht Tagore, sondern Feng Tang. Tangs vermeintliches Vergehen bestand also nicht nur darin, falsch übersetzt zu haben. Nach dem Ein-

|| 3 Julieta Mortati: Der verborgene Interpret. Ein Interview mit dem Bolaño-Übersetzer Christian Hansen. In: alba – Lateinamerika lesen 3 (2013), S. 52–57, hier S. 56. 4 Die Aufregung war so groß, dass sie sogar Teilen der internationalen Presse eine Meldung wert war. Vgl. zum Beispiel: Chinese publisher pulls ‚vulgar‘ translation of Indian poet. The Guardian International (1.1.2016): www.theguardian.com/world/2016/jan/01/chinese-publisher-pulls-vul gar-translation-indian-poet-rabindranath-tagore [abgerufen am 13.2.2018].

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druck der Leser hat er sich auch der literarischen Selbstbehauptung schuldig gemacht und damit gegen das Gebot verstoßen, als Übersetzer unsichtbar zu bleiben.5 Argumente, mit denen Tang versuchte zu belegen, dass seine Neuübersetzung näher am Original sei als alle früheren Fassungen, verfingen nicht. Selbst die Einschätzung einiger Experten, wonach an seiner Übersetzung in der Tat philologisch nichts auszusetzen sei, konnten die Leser nicht beschwichtigen. Denn Feng Tang hatte das Pech, mit einem starken Stellvertretertext zu konkurrieren, und zwar mit der in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts entstandenen Übersetzung von Zheng Zhenduo, die das Tagore-Bild in China bis heute prägt und dort nach wie vor als autoritative Fassung angesehen werden muss.

2.2 Der nichtfeierliche Homer Als derb und vulgär wurde vor ein paar Jahren auch eine deutsche Neuübersetzung kritisiert: Raoul Schrotts Ilias-Übersetzung. Schrott, mit allen Wassern der philologischen Kritik gewaschen, arbeitet auf einem sehr hohen reflexiven Niveau. Er ahnte sicherlich, dass seine Fassung, die er bekanntlich für den Rundfunk anfertigte, in akademischen Kreisen zu einem Problem erklärt werden könnte. In seinem Vorwort und in diversen Interviews versuchte er deshalb, den zu erwartenden Vorwürfen zuvorzukommen. Dafür wählte er eine geschickte Strategie: Er gestand offen, keine philologische Übersetzung vorgelegt zu haben, und identifizierte seine Rolle als Übersetzer ausdrücklich mit der des Rhapsoden, der sich ebenfalls Freiheiten nahm, seinen Text situationsspezifisch ausdeutete und an die jeweils aktuellen Gegebenheiten anpasste. Schrott wollte – und hier griff er auf Wieland zurück – so übersetzen, als wäre Homer in unsere Zeit versetzt, als wollte Homer einem heutigen Publikum mit den heutigen Mitteln seine Geschichte erzählen. „Homer ins Heute bringen“, lautete sein Ziel. Im Gegensatz zu den früheren Übersetzern versucht Schrott daher nicht, wie z.B. noch Schadewaldt, „den Hexameter zu imitieren“6, denn dies, so Schrott, „beschneidet wahre Texttreue“7. Auch auf anderen Ebenen ist er bemüht, ‚falsche‘ Texttreue zu vermeiden. Ohne an dieser Stelle weiter ins Detail gehen zu wollen – die Symptome von Schrotts Übersetzungsansatz sind: kolloquialer Stil, lexikalische Modernisierung, Textuntreue zum Zwecke der Verständnisbildung || 5 Ein Vorwurf, der übrigens auch Arno Schmidt als Übersetzer E. A. Poes gemacht wurde. Vgl. Ulrich Greiner: Kein Glück mit dem Klüver. Über das Elend deutscher Übersetzungen Edgar Allan Poes. ZEIT ONLINE (19.2.2009): www.zeit.de/2009/09/L-Poe [abgerufen am 13.2.2018]. 6 Homer: Ilias. Übertragen von Raoul Schrott. München 2008, S. XXXI. 7 Ebd.

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sowie zur Pointierung, interpretatorische Aktualisierung.8 Dadurch verleiht er der Ilias ein völlig neues Gepräge, und das kann für Liebhaber der klassischeren Übersetzungen zu Irritationen führen. Die Figuren reden zum Beispiel „plötzlich“ nicht mehr gehoben, sondern umgangssprachlich, oder auch derb und vulgär. Der Bruch mit den Erwartungen an einen Klassiker wie die Ilias, die ja durchaus bestehen können ohne die geringste vorherige Textkenntnis, bedeutet hier auch einen Widerstreit verschiedener idealer Texte (Klassikerbilder). Dieser Widerstreit wird in einer Debatte deutlich, die Schrott mit Friedrich Kittler in einer Fernsehsendung führte. Kittler lässt sich hier als Vertreter des Homerbildes, das noch stark am Ideal der deutschen Klassik orientiert ist, verstehen. Er ist der Meinung, der Ton der Ilias sei „feierlicher“ als Schrotts Version, die zum Teil „deftig übersetzt“ sei. Auf der anderen Seite steht Schrott, der das genaue Gegenteil behauptet: „Homer ist nicht feierlich“.9 Hier zeigt sich anschaulich ein Kernproblem, mit dem Schrotts Neuübersetzung konfrontiert ist. Indem sie der Ilias die vertraute Form nimmt, eben die Formelsprache, aber auch mit Bildern und Begriffen arbeitet, die eine „klassische“ und kanonische Übersetzung wie die Voßsche nicht enthalten könnte, kündigt er nicht nur den Vertrag mit dem herkömmlichen Homer/Ilias-Bild, sondern auch den mit eben jenem Leser, für den diese Formelsprache sowie sonstiges sprachliches Repertoire nach wie vor wesentliche Bestandteile seiner Erwartungen an eine Übersetzung des Textes sind. Gerade dort, wo die Klassikerbilder, die Interpretationen stark voneinander abweichen, spürt der Leser die Abwesenheit des Originals besonders stark, sodass er sich fragen könnte, was er denn nun glauben soll. Übersetzer und Verleger wissen das und setzen deshalb – wie Schrott und der Hanser Verlag – diverse Mittel ein: Vor- und Nachworte sowohl der Übersetzer als auch von anderen als Leumundszeugen fungierenden Autoritäten, Interviews: im Radio, im Fernsehen, in Blogs u.v.m., um uns davon zu überzeugen und uns zu versichern: Dies ist eine neue Version, die abweicht von unserem bisherigen Bild, aber sei beruhigt, Leser, diese Fassung ist näher am Original. Was du bisher kanntest, war nur ein schlechtes Abbild des Originals. Jetzt bekommst du den echten Homer, Cervantes, Shakespeare ...

|| 8 Vgl. Markus Janka: Neue Rhapsoden braucht das Land. Christoph Martin und Raoul Schrott auf der Suche nach einem deutschen Homer der Postmoderne. In: Text+Kritik. Sonderband VIII/10: Homer und die deutsche Literatur. Hg. von Heinz-Ludwig Arnold und Hermann Korte, S. 242–261, hier S. 256f. 9 Rätsel Troja – Homer, die Griechen und wir. ZDF Nachtstudio mit Volker Panzer (14.9.2008): www.youtube.com/watch?v=A2qDPDRZ2ac, TC: 6:10–10:21 [abgerufen am 13.2.2018].

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2.3 Der unleserliche Moby-Dick Beim Streit der Interpretationen geht es aber nicht nur um das Original, den Quelltext. Es geht mindestens genauso sehr um das, was wir als Leser sehen wollen und benötigen, das heißt: um die Interessen der Zielkultur. Dieser Standort des Übersetzers, die Schule, der er angehört, seine Gesinnung und Ideologie, sein kultureller Background ist in den allermeisten Fällen ein blinder Fleck der (Neu-)Übersetzung, auch wenn heute meistens auf einem hohen Reflexionsniveau gearbeitet wird. Einer der wenigen Übersetzer, die versuchen, ihre Position so genau wie möglich zu beschreiben, ist Friedhelm Rathjen. Dies hat er zum Beispiel im Zusammenhang mit seiner 2004 bei Zweitausendeins erschienenen Moby-Dick-Übersetzung getan – womöglich aber auch nur, weil er sich dazu aufgrund der Kontroverse, die um seine Neuübersetzung entbrannt war, gezwungen sah. Doch ich muss anders anfangen. Rathjen wurde vom Hanser Verlag beauftragt, den Moby-Dick neu zu übersetzen. Da er ein Faible für ambitionierte Übersetzungsprojekte hat, sagte er zu. Es stellte sich schnell heraus, dass er eine andere Philosophie besitzt als die meisten Übersetzer. Sein Credo lautet: Du sollst nicht interpretieren, sondern an der sprachlichen Oberfläche arbeiten.10 (Inwieweit dies überhaupt möglich ist, möchte ich hier nicht thematisieren.) Jedenfalls führt diese Einstellung dazu, dass seine Übersetzungen dem Leser einiges zumuten. Sie orientieren sich stärker als andere an der Sprache des Originals, was auch dazu führt, dass sie mitunter nicht „flüssig“ oder „leicht lesbar“ sind, wie man ja gerne in Rezensionen liest, wenn eine Neuübersetzung mal wieder gelobt wird. Rathjen argumentiert: Wenn das Original sperrig ist, dann muss es auch die Übersetzung sein.11 So verfuhr er auch im Fall der Moby-Dick-Übersetzung. Der Verlag bekam aber Bedenken und fragte Rathjen, ob er damit einverstanden sei, wenn man einen Lektor das Ganze noch mal leicht überarbeiten lasse, schließlich wolle man die Übersetzung ja auch noch verkaufen. Rathjen war einverstanden – zumindest anfangs. Am Ende jedoch erkannte er seine Übersetzung nicht mehr wieder. Es gab Streit, der dazu führte, dass Rathjen dem Verlag das Recht entzog, die Neuübersetzung unter seinem Namen herauszugeben. Die heute im Hanser Verlag zu findende Neuübersetzung von Moby-Dick firmiert deshalb unter dem allei-

|| 10 Vgl. Friedhelm Rathjen: Wie ich Herman Melvilles Moby-Dick neu übersetzt habe. In: Hermann Melville: Moby-Dick; oder: Der Wal. Übersetzt von Friedhelm Rathjen. Frankfurt am Main 2004, S. 948. 11 Vgl. ebd.

Neue Originale. Die Neuübersetzung im Prozess der Klassikerbildung | 525

nigen Namen seines damaligen Lektors Matthias Jendis. Sie ist aber eigentlich eine (wenn auch relativ stark) redigierte Rathjen-Übertragung. An diesem Beispiel sehen wir gleich mehrere Felder, auf denen miteinander gerungen wird: das der übersetzerischen Methode und das, das von der Frage gebildet wird, wieviel Fremdes wir in unsere Sprache dringen lassen wollen. Außerdem sehen wir die Konkurrenz zwischen translatorischem Ideal und ökonomischen Interessen – und, was selten vorkommt, einen Akteur, der in der Regel noch versteckter ist als der Übersetzer: den im Geheimen mitwirkenden Lektor.

3 Kanon und Markt Auch wenn Übersetzer nur selten den Ort, von dem aus sie übersetzen, angeben können, wissen sie heute doch meistens, dass ihre neue Version nicht die letztgültige ist und sein kann, sondern bloß eine weitere Fassung, eine weitere Facette des Klassikers.12 Für viele ist dies ein hinreichender Grund, der (zum Teil reichen) Übersetzungsgeschichte eines Textes ein weiteres Kapitel hinzuzufügen. Nicht selten begründen Übersetzer ihre Neuübersetzungen dann mit der Vieldeutigkeit des Originals, wobei die Vieldeutigkeit als besondere Qualität gewertet wird, die seine „Zeitlosigkeit“ begründe und damit wiederum das Recht auf Kanonizität. Die Anzahl an Neuübersetzungen, der sogenannte „Übersetzungsschweif“, wird dann zum Indikator für den Klassikerstatus eines Textes. Was mich zu einem weiteren „Feld“ der Auseinandersetzung führt, das im Rahmen der Neuübersetzung – das heißt sowohl durch den Text der Neuübersetzung als auch durch die Peri- und Epitexte – verhandelt wird: dem Kanon selbst. Hier haben Verlage eine bedeutende Macht. Allein die Auswahl eines Textes für eine Neuübersetzung ist ein Statement: entweder a) als Affirmation des Kanons: Ilias, Don Quijote, Moby Dick … oder aber b) als Versuch, den Kanon zu erweitern oder zu verändern.13 Dann werden Texte ausgegraben, die bereits vergessen sind, denen man wieder zu Ruhm verhelfen will. Doch machen wir uns nichts vor: Für die Verlage geht es hier nicht (oder sagen wir vorsichtshalber: nur in den seltensten Fällen) um diese kulturpolitische Dimension. Neuübersetzungen sind – gerade zurzeit – einfach ein gutes Geschäft. Denn es scheint ein besonderes Bedürf-

|| 12 „Mit dieser Unvollkommenheit muss der Übersetzer übrigens in jedem Fall leben. Sein Werk ist vorläufig, ist eine Annäherung, die nie das ganze Original erfassen kann.“ Esther Kinsky: Fremdsprechen. Gedanken zum Übersetzen. Berlin 2013, S. 23. 13 Vgl. hierzu auch: Lawrence Venuti: Retranslation. The Creation of Value. In: Ders.: Translation Changes Everything. Theory and Practice. London, New York 2013, S. 96–108.

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nis nach ihnen zu geben.14 Es stellt sich allerdings abermals die Frage: Wo hat dieses Bedürfnis seinen Ursprung? Ist es der Wunsch nach Innovation, der Glaube daran, dass eine neue Übersetzung immer auch eine bessere Übersetzung darstellt? Ist es eine Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, nach größerer Authentizität? Verlage sehen in erster Linie das wirtschaftliche Potenzial der klassischen Texte. Denn die Rechte sind in der Regel günstig zu haben und die Übersetzerhonorare (bedauerlicherweise) nach wie vor kaum der Rede wert. Ihr Investment, das Risiko, ist also nicht sehr groß.15

4 Klassiker neu gesetzt Ich möchte am Ende noch auf einen Aspekt aufmerksam machen, den man nach dem, was bisher gesagt wurde, und angesichts des Begriffs ‚Neuübersetzung‘ so vielleicht nicht unbedingt erwartet. Hierzu die deutschen Titel des Quijote (El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha) von 1775 bis 1963: – Bertuch: Leben und Thaten des weisen Junkers Don Quixote von Mancha – Tieck: Leben und Thaten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha – Soltau: Der sinnreiche Junker Don Quixote von La Mancha – Müller: Leben und Thaten des sinnreichen Junkers Don Quixote von der Mancha – Forster: Der scharfsinnige Junker Don Quixote von la Mancha – Anonym: Der sinnreiche Junker Don Quixote von La Mancha – Keller: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha – Zoller: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha – Braunfels: Der sinnreiche Junker Don Quixote von der Mancha – Thorer: Der scharfsinnige Ritter Don Quijote von der Mancha

|| 14 Dafür sprechen zumindest die beständig wachsende Zahl an Klassiker-Neuübersetzungen renommierter Verlage wie Hanser, Reclam, Manesse etc. sowie deren relative Verkaufserfolge. Vgl. hierzu u.a.: Elke Schröder: Klassiker als Neuheit: Auflagenerfolge mit texttreuen Ausgaben. In: Neue Osnabrücker Zeitung (14.3.2013): www.noz.de/deutschland-welt/kultur/artikel/ 114284/klassiker-als-neuheit-auflagenerfolge-mit-texttreuen-ubersetzungen [abgerufen am 13.2.2018]; Andreas Platthaus: Alter Kunstwerkmeister, steh uns bei! In: FAZ (7.10.2012): www. faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/neu-uebersetzte-klassiker-alter-kunstwerkmeister-steh-unsbei-11914889.html [abgerufen am 13.2.2018]. 15 Vgl. hierzu auch: Şehnaz Tahir Gürçağlar: Retranslation. In: Routledge Encyclopedia of Translation Studies. Hg. von Mona Baker und Gabriela Saldanha. London, New York 22011, S. 233–236.

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Schacht: Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quijote von La Mancha Rothbauer: Der scharfsinnige Edle Herr Don Quijote de la Mancha

Bei Isolation des Kernelements, des Epithetons ingenioso hidalgo, sieht man schnell: Die Fassungen von Müller, Forster, Anonymus, Keller, Zoller, Braunfels, Schacht und Rothbauer sind „lediglich“ Wiederholungen oder variierende Wiederholungen der Übersetzungen von Bertuch (weiser Junker), Tieck (scharfsinniger Edler) und, zumindest prima vista, Soltau (sinnreicher Junker – aber auch diese Lösung geht auf eine Übersetzung Tiecks zurück). Erst Susanne Lange hat 200 Jahre nach Tieck mit ihrem Titel Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha eine Innovation an der prominentesten Stelle des Romans gewagt. Es ist bemerkenswert, wie spärlich die Übersetzer ihre Möglichkeiten genutzt haben. Schließlich sind durchaus noch ein paar Lösungen für ingenioso hidalgo denkbar. Wie wäre es beispielsweise mit begabter, erfinderischer, einfallsreicher oder, wie Harald Weinrich einmal vorschlug,16 feinsinniger Hidalgo oder Edelmann? Der Begriff ingenioso birgt ein relativ großes, bisher weitgehend unausgeschöpftes semantisches Potential. Warum nicht Der findige Edelmann Don Quijote von der Mancha oder, falls man der nachvollziehbaren Ansicht sein sollte, der durch die Ciceronianismus-Debatten von Quintilian bis Erasmus und die quasi intelligenz- und kreativitätstheoretischen Überlegungen von Huarte (und anderen) aufgeladene Terminus technicus sei nicht recht zu übersetzen, nah am Original Der ingeniöse Hidalgo17…? Natürlich wäre es im Allgemeinen voreilig und wenig plausibel, wollte man allein aus der Beobachtung der Titel Rückschlüsse auf die Übersetzungen im Ganzen ziehen. Ein Titel kann schließlich falsche Erwartungen wecken oder gar als Etikettenschwindel auffliegen.18 Im Fall des Quijote aber spiegeln sie recht gut den Innovationsgrad der Übersetzungen. Und was wir hier sehen, ist kein Einzelfall: Wiederholung ist die Regel, Abweichung die Ausnahme. Dies bemerkte auch schon Jörn Albrecht in seinem Standardwerk zur Theorie und Geschichte des Übersetzens: || 16 Harald Weinrich: Das Ingenium Don Quijotes. Münster 1956, S. 117. 17 Dies übrigens schon ein impliziter Vorschlag Heinrich Heines: „Keiner hat die närrische Grandezza des ingeniosen Hidalgo von La Mancha so gut begriffen und so treu wiedergegeben, wie unser vortrefflicher Tieck.“ Heinrich Heine: Die romantische Schule. Kritische Ausgabe. Hg. von Helga Weidmann. Stuttgart 2002, S. 85. 18 Wie z.B. im Fall der bei Dieterich erschienenen deutschen Ausgabe des Quijote von 1953, die erst auf der Rückseite des Titelblatts kleingedruckt offenlegt, dass sie keine Neuübersetzung ist, wie der Titel suggeriert, sondern bloß die Wiederauflage von Braunfels Fassung.

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Bei genauerem Hinsehen ist allerdings der Begriff „Neuübersetzung“ zu relativieren. Literarische Übersetzer sind fast immer tüchtige Übersetzungshistoriker. Sie verstehen sich darauf, auch entlegene ältere Übersetzungen aufzuspüren und für ihre Zwecke zu nutzen.19

Wer ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit sucht, blicke einmal in die Dschungelbuch-Neuübersetzung von Andreas Nohl und vergleiche diese mit der von Gisbert Haefs aus den späten 80ern – sie oder er wird womöglich überrascht sein, wie viel die „Neuübersetzung“ von 2016 noch der mittlerweile vergriffenen Haefs-Übersetzung verdankt. Trotzdem werden Ausgaben wie die von Nohl sehr häufig als „neu“ deklariert – und damit auf dem Markt als Alternative zum (vermeintlich) Alten, Überkommenen in Stellung gebracht. Allerdings ist es auch nicht so, dass sich in solchen Fällen gar nichts verändern würde. Die Verlage erneuern die Klassiker immer mindestens an der Oberfläche (so auch in Nohls Fall). Auch diese Eingriffe sind meines Erachtens bedeutsam: Einband, Cover, Schrifttype, Papier, Ausstattung: Abbildungen, Nachworte, Glossare … All das wird eingesetzt, um eine neue Fassung auf dem Markt zu platzieren. Man sollte den Einfluss dieser „oberflächlichen“ Elemente auf den Klassiker nicht unterschätzen. Sie sind, wie mir scheint, beinahe genauso wichtig wie der Text selbst. Nicht nur weil sie an der Wissensvermittlung über den Text beteiligt sind, sondern auch weil sie uns – das ist womöglich noch entscheidender und wird, soweit ich es bisher beurteilen kann, in Untersuchungen nicht sehr häufig berücksichtigt –, weil sie uns ein bestimmtes Gefühl für einen Text vermitteln. Dieses Gefühl ist nicht nur kaufentscheidend. Es beeinflusst auch unsere Einstellung dem Klassiker gegenüber. Verlagen stehen hier eine Menge Mittel zur Verfügung, um die Bedeutung eines Textes auf diese Weise zu unterstreichen: Man denke z.B. an Prachtausgaben mit besonderem Papier, spezielle KlassikerEditionen usw. Diese Elemente erreichen uns Leser direkt, emotional.20 Die Frage nur ist: Können wir noch von einer „Neuübersetzung“ sprechen, wenn es sich tatsächlich bloß um eine neu verpackte Zusammenstellung und Bearbeitung früherer Fassungen handelt?

|| 19 Jörn Albrecht: Literarische Übersetzung. Geschichte, Theorie, kulturelle Wirkung. Darmstadt 1998, S. 340. 20 Die Hanser-Klassiker-Reihe ist hierfür ein gutes Beispiel. Wobei die Neuübersetzungen, die im Hanser-Verlag erscheinen, meistens auch textlich innovativ sind.

Neue Originale. Die Neuübersetzung im Prozess der Klassikerbildung | 529

5 Schluss Zum Schluss ein Vorschlag: Wir können Neuübersetzungen, die eklektisch verfahren und nach dem Prinzip der variierenden Wiederholung arbeiten, konservativ nennen. Konservative Neuübersetzungen weisen methodisch, interpretatorisch und / oder editorisch einen eher geringen Originaritätsgrad auf. Der Übersetzer, der eine solche Neuübersetzung schafft, zeigt nur eine geringe literarische Ambition und agiert relativ diskret als Bearbeiter. Insofern konservative Neuübersetzungen keine neuen Impulse setzen, sondern „nur“ bereits Bekanntes repetieren, kann man sie als Wissen bewahrend beschreiben. Ihre Funktion ist primär gedächtnispolitischer Natur: Sie halten die Erinnerung an den Klassiker am Leben und animieren zur Relektüre. Demgegenüber lassen sich Neuübersetzungen wie die von Tang, Schrott oder Rathjen als kreative Neuübersetzungen beschreiben. Sie weichen methodisch, interpretatorisch und / oder editorisch signifikant von den Vorübersetzungen ab. Nicht immer, aber sehr häufig lassen die Übersetzer kreativer Neuübersetzungen eine erhöhte literarische Ambition erkennen. Je nachdem, wie hoch ihr Grad an Originarität ist, sorgen sie bei der Zielkultur unter Umständen für Irritationen. Kreative Neuübersetzungen sind Wissen schaffend, insofern sie versuchen, das gängige Klassikerbild um neue Facetten zu ergänzen oder zu ersetzen. Dabei stoßen sie nicht selten auf Ablehnung, wenn das Klassikerbild, das sie produzieren, zu stark im Widerspruch steht zur herrschenden Vorstellung über den jeweiligen Klassiker. Dann hilft auch die Versicherung nicht, dass die neue Fassung dem Original so nahe kommt wie keine Übersetzung vor ihr. Als autoritativer Text steht der Klassiker nun mal unter einem besonderen Schutz. Vom Standpunkt des Klassikers aus betrachtet, spielt es allerdings am Ende keine Rolle, ob die Neuübersetzung auf große Ablehnung stößt oder die gängigen autoritativen Stellvertretertexte ablöst, solange nur der Streit, die Debatte, das Ringen um den Text über Generationen hinweg aufrechterhalten wird. Aus einer solchen Makroperspektive stellt der dauernde „Kampf“ ums Original eine einzige gemeinsame Anstrengung dar – eine Form der überzeitlichen Kooperation im Dienst des Klassikers.

Ilse Nagelschmidt

Vom Klassiker zum Kultbuch Goethes Werther und Feridun Zaimoglus Liebesmale, scharlachrot Mit der Aufgabe des verbindlichen Lektürekanons in Deutschland vor nunmehr über zehn Jahren sowohl an den Gymnasien als auch im Prozess der Modularisierung der Studiengänge in der Umsetzung der Beschlüsse von Bologna setzte nicht nur eine andere Art des Umgangs mit den ‚Klassikern‘, sondern gleichermaßen eine gestalterische Freiheit ein, die nur schwer zu handhaben ist. So kann heute ein_e durchaus erfolgreiche_r Germanistikstudent_in am Ende des Studiums darauf verweisen, während dieser Zeit gar nicht oder kaum mit Schiller, Goethe, Heine, Büchner, Werfel oder Thomas Mann in Berührung gekommen zu sein. Inzwischen hat sich die Situation an den Schulen des Landes, die nach wie vor den Kultusministerien der einzelnen Bundesländer unterstellt sind, insoweit etwas geändert, das mit dem Zauberwort ‚Zentralabitur‘ wieder vergleichbare und v.a. verbindliche Lektüreempfehlungen erstellt werden. Mit dem Verzicht auf den über Jahre standardisierten und nur marginalen Veränderungen unterworfenen Kanon ist nun im neuen Jahrtausend ein gänzlich veränderter Spagat zu beobachten. Dieser liegt im Spannungsfeld zwischen 1. den über viele Jahre kanonisierten Autoren, die zum ‚Kulturgut‘ des Landes gehören – Goethe, Schiller, Fontane, Kafka – und dominant Männer sind; 2. den Bestsellern der letzten Jahre, die internationale Anerkennung erfahren haben – Benjamin Stuckrad-Barre, Patrick Süßkind, Bernhard Schlink; 3. der politisch engagierten ‚neuen deutschsprachigen Literatur‘ – Juli Zeh, Uwe Tellkamp, Hertha Müller; 4. der Vielzahl von Texten, Liedern, Bühnenstücken, Filmen, die das Lebensgefühl der jungen – an den Medien geschulten und mit diesen aufgewachsenen – Generation spiegeln und für diese wichtige Identifikationsmuster liefern – Harry Potter, Herr der Ringe, Fanfiction, Fack ju Göhte. Über dieses Dilemma eines verordneten Kanons und den zwanghaften Charakter mancher Deutschstunden dachte Siegfried Lenz im ersten Satz seines längst ‚klassisch‘ gewordenen Romans Deutschstunde (1968) nach: „Sie haben mir eine Strafarbeit gegeben.“1 Roland Berbig, Literaturwissenschaftler an der Humboldt || 1 Siegfried Lenz: Deutschstunde. Hamburg 1968, S. 7. https://doi.org/10.1515/9783110615760-033

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Universität zu Berlin, sieht im Kanon nichts Bedrohliches: „Er hilft Lesen zu schulen, es in Bezugsräume zu stellen, die einmal gültig waren und ihre Gültigkeit noch nicht verloren haben.“2 In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage, was Texte zu Klassikern macht, sodass sie von späteren Generationen immer wieder gelesen, das Krisenpotenzial von diesen erkannt wird, und die einen hohen Wiedererkennungswert haben. In der Auslotung der Auffassungen von ‚klassisch‘ und ‚Klassiker‘ im Sinne eines partikularistischen Funktionsbegriffes und somit als umfassendes soziales und kulturelles Orientierungsmuster, das seine Geltung einer breiten Konsensbildung und populärer Anerkennung verdankt,3 sowie der übergreifenden Definition von ‚klassisch‘, wie es das Metzler Lexikon Literatur ausweist („kanonisch, überzeitlich gültig […], häufig und kontinuierlich rezipiert“4), wird das Problem verfolgt, was Texte als klassische Werke auszeichnet, was unter Kultbüchern zu verstehen ist und ob und wieweit Zusammenhänge hergestellt werden können. Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Christian Klein erschließt in seinem Buch Kultbücher. Theoretische Zugänge und exemplarische Analysen den Zusammenhang von Kult und Literatur und arbeitet in den theoretisch-methodologischen Zugängen sowohl zum Kultbuch, zur Kultur jenseits des Buches im literarischen Feld und zum ‚Kultigen in der Gegenwartsliteratur‘. Er arbeitet drei Faktoren heraus, die das Phänomen Kultbuch im engeren Sinn bestimmen: 1. „ein Initiierungserlebnis bei der Lektüre, die sich als überindividuelles Phänomen abzeichnet, wobei der Kern dieses Initiierungserlebnisses ein Erleben von Nähe ist, das auf einen Authentizitätseffekt zurückgeht. […] 2. die Ausbildung einer spezifischen Praxis, die mehr oder weniger stark kodifiziert und sozial manifest sein kann […]. In dieser spezifischen Praxis drückt sich die Anerkennung der besonderen Qualität des Textes (Charisma) aus. 3. die Unabhängigkeit der Lektüre von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe.“5

|| 2 Zitiert nach: Nina May: Fack ju Göhte? Goethe, Schiller, Brecht und die „Deutschstunde“ in der Deutschstunde. In: Leipziger Volkszeitung (27./28.2.2016), Sonntag: Das Wochenendmagazin, S. 1. 3 Vgl.: Projektbeschreibung des Forschungsprojektes „Klassik – Popularität – Krise“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena: http://www.kpk.uni-jena.de/Projektbeschreibung.html [abgerufen am 4.10.2017]. 4 Metzler Lexikon Literatur. Hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff. Stuttgart 32007, S. 386. 5 Christian Klein: Kultbücher. Theoretische Zugänge und exemplarische Analysen. Göttingen 2014, S. 70–71.

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Mich interessieren in Bezug auf mein Thema der intertextuellen Klassikeradaption im Kontext interkultureller Literatur6 v.a. die Schwerpunkte Zeit- und Kulturumbrüche, das Verhältnis von Zeitgeist zu der Identifikation der eigenen sowie späterer Generationen, Identitäts- und Selbstfindungsprozesse, Bewältigungsstrategien des Geschehenen und Beobachteten über den Authentizitätsanspruch sowie die gefundene Form des Erzählens und das Innovationspotenzial von Sprache. Ich konzentriere mich auf zwei Texte, die im Kontext der Schwerpunktsetzung sowie der gewählten Gattung, der sprachlichen Innovationen, der Verbindung von anschlussfähigen Erfahrungen authentischer Grunderlebnisse – bei beiden Autoren sind biographische Details erschließbar – und des Reibens an Grenzen vergleichend betrachtet werden können: Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) und Feridun Zaimoglus Liebesmale, scharlachrot (1999). Goethes Briefroman hat neben Gottfried August Bürgers Münchhausen in den von der Duden-Redaktion herausgegebenen Bänden „Klassiker der Weltliteratur“ sowohl in der 1. als auch in der 2. Auflage für die Zeit des literarischen Sturm und Drang mit folgender Begründung Aufnahme gefunden: „Als Ausdruck radikaler, leidenschaftlicher Subjektivität schlug Goethes Briefroman Generationen von Lesern in seinen Bann und verkörpert die emotionale Kompromisslosigkeit des Sturm und Drang.“7 Der erstmals zur Ostermesse des Jahres 1774 veröffentlichte Roman von Goethe sprengte Grenzen. Zum einen stellte dieser Rekurs auf || 6 Dabei erweist sich sowohl in der germanistischen Literaturwissenschaft als auch in der Kulturwissenschaft der Begriff der interkulturellen Literatur als differenziert und erfordert immer wieder neue Zugangsweisen. Mit Blick auf die Entwicklung deutscher Kultur und Literatur zeigt sich eindeutig, dass der Aspekt der Interkulturalität ein grundierendes und beförderndes Moment ist und sich über Jahrhunderte verfolgen lässt. Im Bewusstsein dieser ständigen Austauschprozesse ist es falsch, interkulturelle Literatur als eine gesonderte Gattung zu begreifen, sie ist vielmehr der Ausdruck für die Vielfalt deutscher Literatur. Als Reflex auf die veränderte Gesellschaftssituation setzt ab den 1960er Jahren in der Bundesrepublik eine Beschäftigung mit der ‚Gastarbeiterliteratur‘ ein, diese wird in den 1980er Jahren unter dem übergreifenden Thema ‚Multikulturelle Literatur‘ in der Auseinandersetzung mit der ‚Migrantenliteratur‘ weitergeführt. Am Beginn des neuen Jahrtausends zeigt sich jedoch, dass diese Begriffe überdacht werden müssen, da sie nicht mehr den Lebensrealitäten der Autorinnen und Autoren entsprechen. Bernd Stratthaus hat in seiner Dissertation „Was heißt ‚interkulturelle Literatur‘?“ über das Leben und das Werk verschiedener Autorinnen und Autoren, die vielsprachig aufgewachsen sind und in verschiedenen Kulturräumen ihre Prägungen erfahren haben, Zuschreibungen und Begriffsbestimmungen in ihrer Differenz diskutiert. Bernd Stratthaus: Was heißt ‚interkulturelle Literatur‘? Duisburg-Essen 2005. 7 Duden: Bücher, die man kennen muss – Klassiker der Weltliteratur. Mannheim, Zürich 2011, S. 99; Duden: Klassiker der Weltliteratur. Bücher, die man kennen muss. Berlin 22015, S. 99.

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die im 18. Jahrhundert sehr populäre Gattung des Briefromans einen Wendepunkt dar, indem mit der Absage an die weibliche Fiktion – Samuel Richardson: Pamela – der männliche Blick zur „ästhetischen Norm“8 erhoben und somit der Roman „monologisch um die Person des männlichen Helden zentriert“9 wird. Zum anderen ist Becker-Cantarino zuzustimmen, dass damit eine insoweit verhängnisvolle Differenzierung beginnt; Texte von Sophie La Roche, Friederike Unger oder Sophie Mereau werden in die Sparte der ‚Frauenliteratur‘ verwiesen, was zu folgenschweren Ausgrenzungen geführt hat. Fiktionale Frauengestalten sind in Texten männlicher Autoren auf der Figurenebene lediglich Objekte frustrierten männlichen Begehrens, die im Falle von Lotte in Goethes Werther Schuld auf sich nehmen, ohne schuldig zu sein. Sie gab das unglükliche Gewehr dem Knaben, ohne ein Wort vorbringen zu können, und als der zum Hause draus war, machte sie ihre Arbeit zusammen, ging in ihr Zimmer in dem Zustand des unaussprechlichen Leidens. Ihr Herz weissagte ihr alle Schröknisse. Bald war sie im Begriff sich zu den Füssen ihres Mannes zu werfen, ihm alles zu entdekken, die Geschichte des gestrigen Abends, ihre Schuld und ihre Ahndungen.10

Gerade fünfundzwanzigjährig traf der junge Dichter den Nerv der vorrevolutionären Zeit, in der Revolte gegen die Ständehierarchie, der Einforderung des Rechts auf Gefühle – des Haltens der Balance von Kopf und Herz – im Affront gegen das Bestehende, aber auch gegen das Entstehende, gegen Konformismus und feststehende Bilder. Der sich so verändernde Blick in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowohl auf die sozialen als auch die individuellen Prozesse erforderte Grundlagentexte, in denen Weiblichkeit und Männlichkeit normiert werden. Dazu gehört Rousseaus Erziehungsroman Emile oder Über die Erziehung (1762). Im 5. Buch „Sophie oder die Frau“ werden die verengten Rollenzuschreibungen für die Frau durch ihre ‚Natur‘ und somit durch ihren spezifischen weiblichen Geschlechtscharakter legitimiert:

|| 8 Barbara Becker-Cantarino: Leben als Text. Briefe als Ausdrucks- und Verständigungsmittel in der Briefkultur und Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann. Stuttgart, Weimar 1999, S. 129–146, hier S. 144. 9 Ebd. 10 Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Paralleldruck der beiden Fassungen. Studienausgabe. Stuttgart 1999, S. 266. (Im folgenden Text wird nach dem Zitat aus diesem Band die Seitenzahl genannt.)

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Der Mann ist nur in gewissen Augenblicken Mann, die Frau aber ihr ganzes Leben lang Frau, oder wenigstens ihre Jugend hindurch. Alles erinnert sie unaufhörlich an ihr Geschlecht, und um dessen Aufgabe erfüllen zu können, braucht sie eine entsprechend Konstitution.11

Hand in Hand mit diesem Programm der Polarisierung der Geschlechtscharaktere geht der neue Typ des Weiblichen: die Empfindsame. Der von Silvia Bovenschen konstatierte Paradigmenwechsel12 kehrt das Ideal der empfindsamen Frau um. Das veränderte Frauenbild wird bestimmt durch die bei Frauen vermuteten Gefühlswerte und ihre natürliche Tugend, die durch künstliche Bildungseinflüsse nur verzerrt oder korrumpiert werden. Folge ich Bovenschen, so ist zu schlussfolgern, dass der Typ der empfindsamen Frau supplementär dazu steht, indem er dem männlichen Geschlechtscharakter entgegengesetzt gedacht wird. Goethe hat Rousseau bereits früh gelesen und somit wesentliche Anregungen im Prozess der eigenen Selbstbestimmung erfahren. Folge ich der Argumentation von Bovenschen weiter, so ist der von Rousseau gedachte Ergänzungsansatz – der Mann (Kultur) wird erst dann zum vollkommenen Menschen, wenn er durch das Prinzip der Frau (Natur) ergänzt wird –, zum einen für den jungen Autor mehr als faszinierend gewesen. Gleichermaßen ist zum anderen der zivilisationskritische Impuls des Philosophen, sich gegen blinde Fortschrittsgläubigkeit zu richten und in der Natur das Wahre zu sehen, ein Ansatz, der die Figurenanlage bestimmt. Auf dieser Basis wird mit Werther eine fiktive Männergestalt geschaffen, die seine Grenzen in der sich auflösenden Ständegesellschaft auslotet, ihren Nonkonformismus in dem Freiheitsdrang und dem Nicht-Eingebundensein-Wollen auslebt und die gleichzeitig sowohl bürgerliche Moralvorstellungen als auch eingeschränkte Kunstvorstellungen beider Stände auf den Prüfstand stellt. Und der Fürst fühlt in der Kunst, und würde noch stärker fühlen, wenn er nicht durch […] die gewöhnliche Terminologie eingeschränkt wäre. Manchmal knirsch ich mit den Zähnen, wenn ich ihn mit warmer Imagination so an Natur und Kunst herum führe und er’s auf einmal recht gut zu machen denkt, wenn er mit einem gestempelten Kunstworte drein tölpelt. (S. 158)

|| 11 Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung. Übersetzt von Eleonore Sekommodau. Stuttgart 1963, S. 727. 12 Vgl. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt am Main 1979.

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In dieser Unmittelbarkeit und Emotionalität werden im Entstehen begriffene Grenzen durchbrochen und Werther wird zu einer Leit- und Identifikationsfigur, deren Wirkung weit über die vielfach in der Literatur beschriebene Erlösung von der ‚Grille des Selbstmordes‘ hinausgeht. In seiner Erschließung des Werther und der Wertherwirkung geht Klaus Scherpe von der vom Roman ausgehenden Bedrohung für die „Advokaten bürgerlicher Lebensordnung“13 aus, indem er die These vertritt, dass Goethe an die Stelle des bürgerlichen Tugendkanons Wirklichkeit setzt. So ist es möglich, die bürgerliche Moral direkt beim Wort zu nehmen. Gegen den bürgerlichen Individualismus, „der den Menschen zum Objekt seines eigenen Leistungs- und Besitzanspruches macht, setzt er [Goethe, I. N.] die Freiheit des Individuums, das über die Entfaltung seiner natürlichen Anlagen und Fähigkeiten selbst entscheidet“14. Scherpe führt die Werther-Figur in ihrer Funktion als ‚Warninstanz‘ gegen all die vor, die sich von der literarischen Figur bedroht sahen und diese als Unruhestifter und Aufwiegler deklassieren wollten. Goethes Werther fragt vielmehr direkt nach den Ursachen bürgerlicher Misere und sieht diese in den Gesetzgebern bürgerlicher Moral selbst. So heißt es im Brief vom 22. Mai 1771: Daß die Kinder nicht wissen, warum sie wollen, darinn sind alle hochgelahrte Schul- und Hofmeister einig. Daß aber auch Erwachsene, gleich Kindern, auf diesem Erdboden herumtaumeln, gleichwie jene nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, eben so wenig nach wahren Zwekken handeln, eben so durch Biskuit und Kuchen und Birkenreiser regiert werden, das will niemand gern glauben und mich dünkt, man kann’s mit Händen greifen. (S. 22)

Dieser Rekurs auf bloßes Nützlichkeitsdenken auf der Darstellungsebene und die Art der Sprache auf der Erzählebene, die sich selbst als Inhalt versteht, trägt bereits Spuren romantischer Vorstellungs- und Gestaltungswelten in sich. Goethe hat mit diesem Roman Linien begründet, die für sein ganzes literarisches Schaffen nachweisbar sind. In der Gestaltung von Ambivalenzen werden Polarisierungen immer wieder in Frage gestellt. Ich stimme der These von Helmut Fehrmann15 zu, der eine Reihe von Spannungsfeldern entwickelt, die sich auf Leben und Werk des Autors ausgewirkt haben: der in der Kindheit und Jugend erfahrene Gegensatz zwischen der lebensfrohen – aber ungebildeten – Mutter und

|| 13 Klaus R. Scherpe: Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert. Bad Homburg v.d.H., Berlin, Zürich 1970, S. 31. 14 Ebd. 15 Helmut Fehrmann: Der schwankende Paris. ‚Bild‘ und ‚Gestalt‘ der Frau im Werk Goethes. In: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstiftes (1989), S. 37–126.

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der ihm ebenbürtigen Schwester, die mit ihm zunächst in Frankfurt eine gemeinsame Bildung und Erziehung erfuhr, der Widerspruch zwischen der Egalitätsauffassung der Frühaufklärung und der komplementären Geschlechtertheorie Rousseaus, die Differenz zwischen adliger Tradition und bürgerlichen Modernisiesierungsbestrebungen, der Widerspruch zwischen dem Künstler und den Bedürfnissen des Mannes Goethe und schließlich der Gegensatz zwischen der Hierarchisierung der Geschlechterordnung im 18. Jahrhundert und der ihn faszinierenden Androgynie. Aus diesen Gründen ist es fragwürdig, sowohl dem Autor als auch der literarischen Figur des Werther eine „Zwitterhaftigkeit“ zu unterstellen, wie es Petra Willim16 mit Verweis auf Ulrike Prokop als Vorwurf unternimmt. Goethe ist es mit diesem Roman möglich, ein Identifikationsangebot für die junge männliche Generation zu geben und Hierarchien zu durchbrechen, die Figur der Lotte dagegen wird einer Realität enthoben und zur Projektionsfläche männlicher Imaginationen. Sie wird auf Unschuld, christliche Tugend, Aufopferungsbereitschaft und Disziplin reduziert. Die Relektüre der Texte von Goethe zeigt, dass die sein Leben bestimmenden Ambivalenzen auch für sein Werk zutreffend sind. Als bürgerlicher Autor in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs sowie auf der Basis seines Traditionsverständnisses hat er viele Aspekte ständig vor- und weitergedacht. Dabei erweist er sich als ‚Brückenbauer‘ zwischen Lebens- und Kulturmustern. Im Bewusstsein der Krisenhaftigkeit im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts begegnet er der Orientierungslosigkeit und der Krisenanfälligkeit vor allem der jungen bürgerlichen Männergeneration. Unter Einbindung der eingangs festgehaltenen Begriffsbestimmungen zum Klassischen und zum Kultbuch wird zunächst festgehalten, was diesen Briefroman zum Klassiker gemacht hat und worauf seine Wirkung und Nachhaltigkeit bis heute beruhen: 1. Die Suggestion, dass es sich um Wirklichkeit handle, wird über die konkreten Zeitangaben erreicht; die Wahrhaftigkeit des Dargestellten wird zum Leseimpuls. 2. Die Rhetorik der Authentizität, des Unmittelbaren und des Sinnlichen wird über den Briefroman erreicht, die sich der direkten Kommunikation mit dem Adressaten weitestgehend entzieht und vielmehr den Leser als Kommunikationspartner direkt einbezieht. Daraus erwächst die Popularität des Romans weit über die Entstehungszeit hinaus.

|| 16 Petra Willim: So frei geboren wie ein Mann? Frauengestalten im Werk Goethes. Königstein/Taunus 1997, S. 63.

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3.

Die fiktive Gestalt des Herausgebers imaginiert sich auf der extradiegetischen Ebene des Romans und unterstreicht somit die scheinbare Realität des Geschehenen. 4. Sowohl Werther als auch die Herausgeber suggerieren Reflexionen auf eine Wirklichkeit, die den Lesern fremd und vertraut zugleich ist. In der Artikulation dieses Krisenbewusstseins werden Denkmuster für eigene Handlungsstrategien begründet. 5. Über das Abrufen zeitgenössischer Lektüreerlebnisse – Klopstock, Homer, Ossian, Shakespeare, Lessing – wird eine scheinbare Vertrautheit mit den Lesern über die eigenen Deutungs- und Erlebnismuster hergestellt. 6. Die Philosophie des Eins-Seins mit der Natur und die rückhaltlose Darlegung der Empfindungs- und Erfahrungsbereiche Natur – Liebe – Kunst – Tod öffnen in einer Zeit der Disziplinierung des Individuums den Blick auf sich selbst und tragen große Identifikationspotenziale im Hinblick auf die eigene Identitätsfindung in sich. Christian Klein spricht unter Einbeziehung der für das Kultbuch bestimmenden Faktoren von Goethes Werther-Roman als einem „prototypische(n) Kultbuch“17. Dieses versteht er als „ein Phänomen, das sich auf zwei Ebenen abspielt: Aus dem (1) individuellen Lektüreerlebnis wird (2) ein überindividuelles Phänomen, weil (a) viele Leser das spezifische individuelle Lektüreerlebnis teilen und sich (b) die Wertschätzung in einer (mehr oder weniger kodifizierten) spezifischen Praxis (mehr oder weniger sozial manifest) niederschlägt“18. Dieser Auffassung stimme ich zu und erweitere sie gleichzeitig dahingehend, dass es sich bei Goethes Roman um einen ‚Kult-Klassiker‘ handelt. Diese These soll unterlegt werden: 1. Indem den Figuren im Roman Handlungsoptionen zugeschrieben werden, setzt ein Initiierungsprozess bei den Lesern für eigene Handlungen ein. Sie werden von der Lektüre nachhaltig beeinflusst und diese wird ihre Handlungsoptionen bestimmen. 2. Die Identifikation des (männlichen) Lesers findet ihren Höhepunkt in der Aufnahme der Kleidung, des Auftretens sowie der Sprache Werthers. 3. Goethe widersetzt sich mit Werther dem auf Disziplin und äußere Gestaltung gerichteten Männlichkeitsbild seiner Zeit über die Gestaltung von Kontrastfiguren. 4. Indem im Roman Fiktion in die Wirklichkeit geholt wird, zeigen sich Folgen für diese in dem Willen nach Veränderungen.

|| 17 Christian Klein: Kultbücher, S. 65. 18 Ebd., S. 65–66.

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Dieses Phänomen spiegelt sich in den Worten Thomas Manns wider, der in seiner Deutung des Werther festhielt: „Eine ganze Generation junger Menschen erkannte ihre Seelenverfassung in der Werthers wieder.“19 Goethe hat ein über die Zeiten wirkendes Muster begründet, das über einen hohen Wiedererkennungswert verfügt. Nachfolgend haben Autorengenerationen diese hier thematisierten Grundwidersprüche der Moderne aufgenommen und wie Ulrich Plenzdorf im 20. Jahrhundert bis in den Titel und den Plot direkt den Bezug zu Goethes Text über die Reproduktion individueller Erfahrungen hergestellt. Waren Freiheit und das Weggehen-Können bei Goethe im 18. Jahrhundert noch das höchste Gut, so sieht das am Ende des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts bei der in Deutschland aufgewachsenen Migrant_innengeneration ganz anders aus. Werther erweist sich in vielfältigen Dimensionen als Grenzgänger, seine Identität wird jedoch nicht in Frage gestellt. Im Gefolge von Migration und Globalisierung werden Kategorien wie Religion, Nationalität und Muttersprache, die seit dem 18. Jahrhundert im Zuge der Nationenbildung und damit der Fokussierung auf die Nationalstaatlichkeit zu den wichtigen Säulen von Identitätsbestimmung gehören, im 20. Jahrhundert immer uneindeutiger, wodurch sich immer mehr Menschen in borderline- und displacement-Situationen befinden. Die Fremden – einst die Außenseiter – sind nach der Auflösung der Kolonialreiche und der Gastarbeiterbewegungen Angehörige der modernen Nationen. Die Gekommenen und vielfach ihrer Wurzeln Enthobenen können sich nur schwer einer Kultur zuordnen, sie befinden sich vielfach in permanenter Mobilität zwischen den unterschiedlichen kulturellen Welten. Durch diese Identitäts-Entfremdungen – des überall und nirgendwo Dazugehörens – werden kulturelle Mythen und Diskurse, auf die jede_r bei der eigenen Identitätsentwicklung zurückgreifen kann, neu gewichtet. Im Weiterdenken dieses Ansatzes ist es zwingend, sich vom Konzept einer immanenten Identität zu lösen und im Sinne Homi K. Bhabhas von Identifikationen zu sprechen.20 Postkoloniale Identitätskonzepte eröffnen die Betrachtungsweise, dass es sich bei Identitäten um fragmentarische und prozessuale Konstrukte handelt, die immer erst diskursiv aus dem Zusammentreffen mit dem Anderen hervorgehen. Mit der Analyse des Romans Liebesmale, scharlachrot21 von Zaimoglu, 1964 in der Türkei geboren und seit 1965 in Deutschland lebend, soll gezeigt werden,

|| 19 Thomas Mann: Goethe’s Werther. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band IX: Reden und Aufsätze I. Frankfurt am Main 1990, S. 640–655, hier S. 640. 20 Vgl.: Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000. 21 Feridun Zaimoglu: Liebesmale, scharlachrot. Köln 2009. (Im folgenden Text wird nach dem Zitat aus diesem Roman die Seitenzahl genannt.)

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welche Anschlüsse es an den 225 Jahre zurückliegenden Kult-Klassiker von Goethe gibt und was dazu geführt hat, dass Zaimoglu mit seiner Art des Schreibens und der Weltbetrachtung Grundlagen für einen neuen Klassiker gelegt hat. Der Autor, der diesen Roman zunächst mit Die neuen Leiden des jungen Ali untertitelte, verhandelt zwischen der deutschen und der türkischen Kultur. Er selbst gehört der zweiten Generation der sogenannten ‚Gastarbeiter‘ an, die bereits in Deutschland sozialisiert wurde und zu deren Grundmustern die borderline-Situation gehört: Den Eltern, die in der Zeit des ‚Wirtschaftswunders‘ in die Bundesrepublik gekommen sind, wurde die Chance der Assimilation und Integration auf Grund ihrer Herkunft und ihrer Bildung verwehrt.22 Deren Kinder – wie Zaimoglu, aufgezogen im Sinne einer „osmanisch-preußischen Erziehung“23 – wachsen einerseits im Geist einer Integration auf und erleben andererseits nur zu häufig die von außen wirkenden gesellschaftlichen Ausgrenzungen (Bürokratie, Ämter, Schulen). In einem solchen System zwischen Gebrauchtwerden und permanenter Zurückweisung findet diese zweite Generation im Wissen um die Lebenssituationen im für sie noch immer fremden Land mit den nach wie vor geltenden Gesetzen der Eltern sowie in Abgrenzung von diesen Mustern und der vorherrschenden deutschen Sprache ihre eigene Sprache: die Kanak Sprak. In seinem inzwischen zum Kultbuch avancierten Text Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (1995) beschreibt Zaimoglu diese Situation im Spannungsfeld zwischen Gebrauchtwerden, Abstoßung, Scheinheiligkeit – der „arme herzensgute Türke Ali“ – und misslungener Integration. In einem solchen Klima entwickelt diese Generation einen eigenen „Untergrund-Kodex“ und spricht ihren eigenen Jargon: „die ‚Kanak Sprak‘, eine Art Creol oder Rotwelsch mit geheimen Codes und Zeichen“24. Die Kanaken – Schimpf- und Identifikationswort zugleich – sprechen ihre eigene Muttersprache nur noch fehlerhaft, das ‚Alemannische‘ ist ihnen nur bedingt geläufig. Und so setzt sich ihre Sprache aus ‚verkauderwelschten‘ Vokabeln und Redewendungen zusammen, die in keiner der beiden Sprachen vorkommen.25 „Sie bilden die eigentliche Generation X, der Individuation und Ontogenese verweigert worden sind.“26

|| 22 Vgl.: Thomas Ernst: Literatur und Subversion. Politisches Schreiben in der Gegenwart. Bielefeld 2013, S. 282–285. 23 Feridun Zaimoglu: Mein Vater. In: Focus 4 (2014), S. 119. 24 Feridun Zaimoglu: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Hamburg 1995, S. 12. 25 Ebd., S. 13. 26 Ebd., S. 12.

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Thomas Ernst spricht von der Aufnahme dieser Sprache in die Literatur als die der „minoritären Literatur“27 bzw. Minderheitenliteratur in Abgrenzung vom Begriff der Migrantenliteratur. In seiner Begründung der Aufnahme von Zaimoglu in diese „minoritäre Literatur“ führt er an, dass der Autor den Übergang von der ‚Migrationsliteratur‘ zu einer ‚Kanak-Bewegung‘ vollzieht und sich daher dessen Texte für eine Untersuchung der Etablierung neuer subversiver literarischer Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur anbieten. Die im Roman zwischen den beiden Kulturen stehenden jungen Türken spiegeln sowohl die beiden Länder als auch deren Kulturen im Durchwandern von Orten, die wiederum kulturell besetzt sind, im Briefwechsel. Zum einen sind sie die exotischen Anderen, die mit Bildern und Stereotypen wie sexuell aktiv, arbeitsscheu und kriminell belegt werden und somit als Grenzfiguren die Außenseiter sind, und die sich zum anderen von den Vorstellungen der Elterngeneration und deren Projektionen auf ihre Generation trennen müssen. Gleichermaßen nutzen sie die Chance der permanenten Mobilität und der vielfältigen Identifikationsangebote, so dass die Dichotomie zwischen Deutschen und Ausländern für sie nicht das Grundthema ist. Im Rückgriff auf postkoloniale Theorieansätze zeigt sich, dass die Figuren im Roman zwischen Identitätszuschreibungen oszillieren und diese immer wieder unterlaufen. Somit wird ein ‚dritter Raum‘ der Gesellschaft als Ort der Verhandlung kultureller Differenzen – im Briefwechsel der jungen Männer – und den Diskursen über beide Kulturen eröffnet. Die Orte des Romans sind der südländische türkische Badeort nahe Burhaniye und die norddeutsche Stadt Kiel. Unter Einbeziehung der geschlechtsspezifischen Determinanten beider Orte kann die Türkei mit Natur und Weiblichkeit assoziiert werden, während Kiel den männlichen Kontrast dazu darstellt. Natascha Würzbach geht in ihren Ausführungen zur Raumdarstellung in den Teilkapiteln „Geschlechterstereotype. Symbolisierung von Räumen“ und „Raum als Schauplatz“28 von Erkenntnissen der Sozialgeographie aus, die sich an der Prägung der sozialen Raumordnung durch die Geschlechterforschung orientiert. Auch wenn ich mir bewusst bin, dass der Rückgriff auf Rousseau und dessen Konzipierung von Natur (weiblich) und Kultur (männlich) kompliziert ist, so kann eine weiterführende Analyse dieser beiden Orte im Roman unter der Fragestellung männlicher Identifikationsmuster weitere Aufschlüsse über das Verhandeln von Kulturen geben.

|| 27 Thomas Ernst: Literatur und Subversion, S. 279–280. 28 Natascha Würzbach: Raumdarstellung. In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hg. von Vera und Ansgar Nünning. Stuttgart, Weimar 2004, S. 50–58.

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Thema des Romans ist die Beziehung von Kunst, Eros und Identifikation. Als Textsorte hat Zaimoglu die traditionelle Form des Briefromans gewählt. Im Vergleich zu Goethes Werther und der dort dominanten Monologstruktur mit Autorenkommentaren treten Serdar – für Monate bei seinen Eltern in der Türkei lebend – und Hakan – in Kiel – über ihre Briefe in einen Dialog, von dem auch Frauen nicht ausgeschlossen sind. Der Plot liegt in der Flucht Serdars vor seinen vielfältigen Frauenbeziehungen in Deutschland und in der Hoffnung, sich in dem türkischen Ort ganz dem Schreiben widmen zu können. Hier hat er jedoch sowohl Schreibblockaden als auch Probleme mit seiner Erektion, die sich erst auf dem Flug nach Deutschland beheben. Bei Liebesmale, scharlachrot handelt es sich um einen multiperspektivischen Briefroman; die Vorlage von Goethes Werther ist jedoch unverkennbar. Ein direkter Verweis findet sich im ersten Brief von Hakan: „Hör auf mit der Goethe-Nummer, pfeif drauf und lass einfach die Wolken ziehen“ (S. 18). Im ständigen Wechsel der sowohl männlichen als auch weiblichen Erzählerstimmen realisiert sich das ‚unzuverlässige Erzählen‘. In den einzelnen Erzählerhaltungen treten nicht lösbare Widersprüche auf, so dass die Leser_innen auf der Basis der Konstruktion sowohl (post-)kolonialer als auch gender-Diskurse gezwungen sind, die Perspektiven ständig zu hinterfragen. Die beiden Protagonisten bemühen sich um eine eindeutig – kulturell determinierte – männliche Geschlechterperformance. Mit dieser Betonung auf der Inhaltsebene und dem Willen, Bildern zu entsprechen, wird auf der Darstellungsebene die Fragilität und Bedrohung der männlichen Identität bewusst. An die beiden Männer werden verschiedene und widersprüchliche Vorstellungen von Männlichkeit herangetragen, denen sie nur bedingt genügen können und wollen. Während die Elterngeneration von ihnen die Reproduktion des alleinverdienenden Familienvaters erwartet, setzen die starken und emanzipierten westeuropäischen Frauen auf aktive und potente Männer mit hohem (sub-)kulturellem Potenzial. Sowohl Anke, die Freundin, von der sich Serdar getrennt hat, als auch Dina, die Geliebte mit jüdischen Wurzeln, spiegeln in ihren Briefen eine weitere displacement-Situation. In deinen Bildern und Gleichnissen erkenne ich vieles, das mir von meinem Stamm vertraut und bekannt ist. Es waren auch Menschen und deren Augenwinkel. Der verfluchte Wüstensand war bis in dieses gottverdammte Land vorgedrungen und rieb die Stämme. Da war eine Art Heimat, die nicht aus Steinen bestand, sondern aus Pupillen-Rotglut und Kaftan, und heute aus Scheitan und Ölpfütz. (S. 200)

Als gescheiterter Medizinstudent und erfolgloser Lyriker, der sich in der Kunst der japanischen Haiku-Lyrik perfektionieren will, dabei die Literatur seines Hei-

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matlandes missachtend, ist er bestrebt, allen von außen kommenden Anforderungen gerecht zu werden. Das erfolgt über die Selbst- und Identitätsverleugnung: „Du konntest nur nicht in dieser ewigen Grätsche leben, und so hast du dieses Versteckspiel perfektioniert und deinen Eltern die heile Welt vorgegaukelt.“ (S. 167) Der Briefwechsel und somit die körperliche Abwesenheit des/der jeweiligen Briefpartners und Briefpartnerin erlauben es, vieldimensional widersprüchliche Identitätskonzepte zu diskutieren und diese über Sprache zu markieren. Während Serdar seine intellektuellen Fähigkeiten ins Spiel bringt und in seiner Sprache zunehmend zwischen dem Soziolekt und der hochdeutschen Schriftsprache changiert, rekurriert Hakan auf sein mangelhaftes intellektuelles Verständnis und fühlt sich den Minderheitsszenen in Deutschland zugehörig. Über die Identifikation mit Sex, mit der Kanak-Sprak – der wahre „Kanak-Poet“ vor Ort (S. 37) –, mit den Szenen sowie den Drogen (S. 203ff.) entwirft er sein Identitätskonstrukt. In der Isolation des türkischen Badeortes und der ständigen Diskussion von Differenzen sowohl zwischen als auch innerhalb der Kulturen erschließt Serdar über den Diskurs zwischen Minnesang und japanischer Versdichtung die ihm zugewiesenen Rollenmuster. Die Invasion der Barbaren ist so sicher wie das Amen in der Moschee. Zumindest wollen sie es uns in Almanya weismachen. Also bin ich der ungestüme Machetenmann, der es ihnen mit Haikus besorgt, der sie mit Feigwarzenprosa verhätschelt. In Zeiten feindlicher Übernahmen ist gelehrter Müßiggang obligatorisch, und die oberste Forderung sollte lauten: Gebet dem Empfindsamen Raum und Weg! (S. 32)

In der Aushandlung zwischen der türkischen Alltagskultur (S. 49) und dem Nachahmungsdiskurs der in Deutschland lebenden Türken (S. 51) entsteht über die permanente Auseinandersetzung und das Verhandeln von inneren und äußeren Räumen sowie den Vorstellungs- und Beobachtungswelten der dritte Raum, der eindeutige Identifikationen unmöglich macht. In der scheinbaren ‚Heimat‘ ist Serdar der „Deutschländer“ (S. 104), in Deutschland ist er der Kanake. Über die Näherung an Rena – hier weist die Handlung Ähnlichkeiten mit dem courtship auf – und dem Wissen, Ordnung in sein Leben gebracht zu haben, dringt er in diesem Feld zwischen Blockaden und Erkenntnissen zu dem eigentlichen Problem vor: Wo liegt die Heimat und was ist sie? Im Beschluss, wieder in die „kalte Heimat“ (S. 290) zurückzukehren, wird im Epilog nicht nur der Austritt aus dem Club der Haiku-Dichter erklärt, gleichermaßen wird den Landsleuten über den impliziten Autor noch eine auf Erfahrung beruhende Empfehlung über die Erzählstimme auf den Weg gegeben.

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Ich empfehle jedem ausreisewilligen Türkenkopf, der aus Almanya in die Heimat ziehen will, ein Fußbad im kochend heißen Wasser, in das er drei Esslöffel mittelscharfen Senfs einrühren möge. Der Senf wirkt lange nach und hat den Effekt, dass die Füße brennen wie nach einem langen Marsch durch die Wüste. Dann kommt man nicht mehr auf solch törichte Gedanken. (S. 295f.)

Die „Kanak Sprak“ Zaimoglus ist durch die Kombination verschiedener Stilebenen – vulgär mündlicher und poetisch gehobener Stil – sowie vielfältige Soziolekte (Jugendsprache, (nord-)deutsche Redewendungen und bildungsbürgerliche Begriffe) gekennzeichnet, die als Ausdruck heterogener, in sich widersprüchlicher und mit Konzeptionen ringender heterogener Identitäten zu verstehen ist. Auch wenn diese Sprache zunächst mit der Betonung von Sexualität und Aggressivität Männlichkeit reproduziert, so versteht sie sich aus der Perspektive von Julia Kristevas Intertextualitätstheorie auch als nichtmännliche Avantgardeliteratur, da das Subjekt des Textes, traditionell der allmächtige Autor, jetzt um seine eigene Entstehung aus dem Trieb- und Gesellschaftsprozess und damit auch um die Vergänglichkeit [weiß], die sein Text hervorbringt. Daher sind Avantgardetexte nicht mehr traditionelle Erzählungen, sondern formale Experimente; sie thematisieren nicht nur Inhalte, sondern auch den sprachlichen Sinngebungsprozeß selbst, der diese Inhalte hervorbringt.29

In der Aufnahme der zeitumspannenden Themen Eros, Liebe, Heimat, Identität sowie in dem hohen Wiedererkennenswert über die Gattung und den Plot hat Zaimoglu mit seinem Roman die von Goethe begründete Linie der Spieglung einer und folgender Generation in der Literatur weiter verfolgt. Sowohl Goethe als auch der türkischstämmige Autor haben, indem sie kulturelle Leitdiskurse ihrer Zeit hinterfragen, Avantgardetexte geschrieben, indem Grenzen aufgehoben und die Öffentlichkeit über Inszenierungen – Kleidung, Lebensstil, Sprache – bewusst gesucht und diese provoziert wird. Bei diesen Gemeinsamkeiten bestehen Unterschiede. Während Goethes Text auf die Identifikation des männlichen Lesers zielt und somit die veränderte männliche Leitkultur über die traditionelle Erzählung eingebracht wird, ist Liebesmale, scharlachrot als ein formales Experiment zu lesen, in dem durch den sprachlichen Sinngebungsprozess Inhalte hervorgebracht werden. Zaimoglu widersetzt sich bewusst dem stereotypen Geschlechterbild in der Gestaltung hybrider Identitäten und schreibt einen kanonisierten Text nicht nur weiter, sondern erweitert diesen popkulturell. Mit der Adaption des GoetheRomans schafft er eine neue Lese- und Spielart des Briefromans und kreiert mit

|| 29 Lena Lindhoff: Einführung in die feministische Literaturtheorie. Stuttgart, Weimar 1995, S. 114.

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dieser anderen Art des Denkens und Schreibens ein ‚Kultbuch‘ innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Feridun Zaimoglu setzt über den Authentizitätsanspruch – Aufnahme des Gruppenphänomens der Kanak-Sprak – auf den identifikatorischen Aspekt. Sein Text entwickelt über die Dialoge zwischen den Kulturen, den Generationen, den Geschlechtern und den spezifischen Vorstellungen von Männlichkeit ein Charisma, das den Initiierungsaspekt von Nähe zulässt. Dieser Text ist jedoch im Vergleich zum Werther-Roman nicht als zeitübergreifend und im Sinn von Kriseninterventionen zu verstehen, sondern realisiert sich im Geist und der sozialen Situation am Beginn des Jahrhunderts. In Anlehnung an die Auffassungen von Homi K. Bhabha, dass die Innovationen von denen kommen, die an den Rändern leben, kommt es zu einer Erneuerung, die aus „formalen Innovationen“ sowie einer „Vielzahl stofflicher und ästhetischer Einflüsse“ besteht, die „vor allem durch bilinguale Autoren in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur eingebracht werden“30. Gleichermaßen begründet sich über diese von den Migrantinnen und Migranten eingebrachten poetologischen und narrativen Innovationen und dem Bewusstsein hybrider Identitäten eine intertextuell und poporientierte deutschsprachige Gegenwartsliteratur, die im Sinn interkultureller Dialoge um die Auflösung der Identitätspolitiken bemüht ist. So wird mit der Jahrhundertwende eine Literatur wie die von den „Kanak Attak-Aktivisten“ oder die der Gruppe „Kanaksta“ geschrieben, die über ein hohes Innovationspotenzial verfügt und Einfluss auf die kulturellen Prozesse besitzt. Warten wir also gemeinsam ab, was die nächsten Jahre in diesen Prozessen von Auflösung und Neuausrichtung bringen werden – Schritte von den klassischen zu den ‚kultischen‘ Texten sind keine Erfindung der letzten Jahre.

|| 30 Thomas Kraft: Schwarz auf weiß: oder Warum die deutschsprachige Literatur besser ist als ihr Ruf. Eine Werbeschrift. Idstein 2005, S. 117.

Emmanuelle Terrones

„Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe“ Navid Kermanis Lektüre der Klassiker als Poiesis Navid Kermani, deutscher Schriftsteller iranischer Herkunft, habilitierter Orientalist und Publizist, greift sowohl in seinem 1200-seitigen Opus Dein Name (2011) als auch in seinen im Frühjahr 2010 gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesungen Über den Zufall auf zwei deutsche Klassiker ausführlich zurück: Hölderlin und Jean Paul. Dass er zwei prominente Schriftsteller im Umkreis der Romantik auswählt, ist alles andere als ein Zufall, gehören sie doch beide einer Zeit an, „[...] in der Selbstbezüglichkeit und Selbstreflexion zum Ausgangspunkt von Literatur und Philosophie werden“1. Eben dieses Potential beschäftigt Kermani in seinem schwer einzuordnenden Roman, der anfangs als „Totenbuch“ konzipiert war und sich u.a. auch als teils fiktives, teils autobiografisches Schriftstellertagebuch, als Familienroman und Einwandererepos lesen lässt, und in dem der (Ich-)Erzähler mit seinen zahlreichen Facetten – im Roman auch „Kermani“ oder „Romanschreiber“ genannt – eine zentrale Rolle spielt. Der Untertitel der Vorlesungen „Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe“2 deutet darauf hin, wie eng das Lesen der Klassiker und das eigene Schreiben miteinander verwoben sind. Kermanis philologische Auslegungen und ihre Auswirkungen auf sein Schreiben, die in den Vorlesungen zentral sind, nehmen im Roman einen beträchtlichen Platz ein. Die Lektüre der Klassiker erscheint geradezu als Medium der poetologischen Selbstreflexion und der poetischen Produktion. Die Analyse der Interdependenz der Texte Kermanis und der beiden Dichter soll seine spezifische Aneignung der Klassiker sowie die damit verbundene Inszenierung der Fiktion als poetologischer (Selbst-)Reflexion verdeutlichen, und dabei der Frage nachgehen, inwiefern die Lektüre der Klassiker in Dein Name als Poiesis fungiert.

|| 1 Navid Kermani: Dein Name. München 2011, S. 1065. Von nun an DN. 2 Navid Kermani: Über den Zufall. München 2010. Von nun an ÜZ. https://doi.org/10.1515/9783110615760-034

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1 Schöpferische Präsenz der Klassiker In Kermanis Roman Dein Name sind „Jean Paul und Hölderlin Zeugen genug“3, zwei „Wegbegleiter in der schriftstellerischen Lebensbewältigung“4. Die jeweiligen Gesamtwerk-Bände werden vom fiktiven Romanschreiber zu Hause gelesen oder mit auf Reisen genommen, das Vorankommen der Lektüre ist Gegenstand des Schreibens und beide Klassiker werden durch Anspielungen, Anekdoten, kommentierte oder unkommentierte Zitate sowie ausführliche Auslegungen präsent: Sie gehören ja zum „Nächstliegenden“, dessen Darstellung die Autorfigur sich vorgenommen hat.5 Dabei wird unaufhörlich die Simultaneität von Lesen und Schreiben suggeriert. Hölderlin und Jean Paul werden immer wieder passend zur Situation zitiert und dies bis zum Exzess. Nach mehreren Zitaten Jean Pauls ruft einmal der Romanschreiber mit gespielter Verzweiflung entnervt aus: „Kann Jean Paul mich nicht einmal einen Gedanken zu Ende bringen lassen? Ich frage mich, wie man nur mit einem Roman vorankommen will, wenn man nebenher Jean Paul liest.“6 Hinter der Esprit zeigenden Art zu schreiben verbirgt sich immer ein komplexes Beziehungsgeflecht: Beispielsweise bringt ein Gespräch mit dem Gärtner einer Gärtnerei den Romanschreiber (hier als Kunden) darauf, die erste Strophe von Hölderlins Gedicht „Hälfte des Lebens“ vorzutragen. Als der Gärtner später über seine kürzlich unter dem Schnee eingebrochene Blumenhalle bedrückt berichtet, heißt es: „Als sei es ein Trost – es ist das Gegenteil –, rezitiert der Kunde auch die zweite Strophe.“7 Diese wird im Text nicht wiedergegeben, dafür aber ein poetologischer Kommentar, während das eigentliche Gespräch mit dem Gärtner fortgeführt wird: „Überhaupt wandelt das Wortlose in einem guten Gedicht umher wie in Homers Schlachten die nur von wenigen gesehenen Götter“, sagt es Klopstock besonders schön, in der „Hälfte des Lebens“ etwa die unnatürliche, den Sprechfluss störende Häufung starker Betonungen dadurch, dass einzelne Wörter isoliert, aus dem Satz gleichsam herausgehoben werden. Ist das von Ihnen? fragt der Gärtner, der am ersten Weihnachtstag vor der verschwundenen

|| 3 DN, S. 1201. 4 Uwe Rauschelbach: Das eigene Leben erschreiben. Mannheimer Morgen (6.12.2011): http://www.morgenweb.de/nachrichten/kultur/das-eigene-leben-erschreiben-1.144808 [abgerufen am 6.6.2016]. 5 DN, S. 900. 6 DN, S. 1123. 7 DN, S. 332.

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Blumenhalle kniend heulte. Nein, zweihundert Jahre alt, sagt der Städter, der sich immer noch nicht entscheiden kann, ob mit oder ohne sieben zusätzliche Reihen.8

Aufgehoben wird hier, wie auch so oft im Roman, die Trennung zwischen Poesie, Poetik und alltäglichem Leben, indem mehrere Fäden miteinander verwoben werden: die erwähnte, jedoch im Text noch nicht erscheinende zweite Strophe (sie wird erst achtzig Seiten später zitiert), die philologischen Auslegungen, das gegenwärtige Gespräch mit dem Gärtner, die nacherzählte Geschichte der eingebrochenen Blumenhalle, sowie die noch ausstehende Entscheidung des fiktiven Autors und Kunden, hier Städter genannt, über Steinplatten und Rasen vor seiner Küche. So heterogen all diese Elemente auch sein können, ihre Zusammenfügung findet eine Rechtfertigung in dem gemeinsamen Bezug auf die zweite Strophe von Hölderlins Gedicht. Mit anderen Worten: Hölderlins Verse verleihen den durch das Leben und den Zufall scheinbar zusammengewürfelten Aspekten Sinn und Form. Dass sie dennoch im Text nicht wiedergegeben werden, ist paradoxerweise die Veranschaulichung dafür, wie „präsent“ im Sinne von „vorhanden“ das Wort Hölderlins ist,9 das nicht einmal zitiert zu werden braucht, und wie „präsent“, diesmal im Sinne von „gegenwärtig“ und „aktuell“, es noch ist, wie die Verwechslung des Gärtners es bezeugt. Der Leser Kermani übernimmt bei der Lektüre der Klassiker die doppelte Aufgabe der Aktualisierung und Aneignung und wird damit zum Erben. Er ist ja derjenige, der nicht nur die Präsenz und Bedeutung der Klassiker für sich erkennt, sondern auch beide Dichter neu interpretiert. Navid Kermani – und mit ihm der Romanschreiber – ist Orientalist und nicht zuletzt als solcher liest er die beiden Klassiker, vor allem im Hinblick auf die arabische Mystik: „Hölderlin, der sich für den Orient nicht sonderlich interessierte, ist der Sufi der deutschen Literatur [...].“10 Eine solche überraschende Anfangsintuition erweist sich im Roman als ergiebige Quelle von Bezügen und Verbindungen, namentlich zwischen arabischer und pietistischer Mystik. Beispielsweise werden bei der Deutung von Hölderlins Briefen an Suzette gemeinsame Grundzüge mystischer Literaturen genannt: „Wie in aller mystischen Dichtung konvergieren Außen- und Innenwelt, Sein und Gegenüber, wird die Sehnsucht nach der Geliebten ununterscheidbar

|| 8 DN, S. 332f. 9 Das „Vorhandensein“ Hölderlins wird einmal wie folgt formuliert: „da lese ich ein ums andere Mal laut das Gedicht in seinen sehr unterschiedlichen Varianten, [...] so unmittelbar, so direkt, als säße jemand vor mir und sänge leise, was ihn bedrängt, was er fürchtet, wo er beharrt.“ DN, S. 297. 10 DN, S. 181f.

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von der Sehnsucht nach dem Absoluten, ist Vereinigung sexuell und seelisch zugleich gemeint.“11 Dabei finden Hölderlins Worte in der islamischen Mystik Äquivalente, die der Orientalist präzise aufzeigt: Und in allen mystischen Traditionen wird mit ähnlichen Bildern der Zustand umschrieben, während dem der ‚Verlierende‘, fâqid, wie die islamischen Mystiker den Erlebenden nannten, im Verlust des Eigenen zum ‚Findenden‘ wird, zum wâdjid: „Es giebt ein Vergessen alles Daseyns, wo uns ist, als hätten wir alles gefunden“.12

Der Romanschreiber und Philologe beschreitet neue Wege der Interpretation und eröffnet neue Bedeutungshorizonte: Jean Paul als Naturlyriker „trifft sich mit Hölderlin und ist vor allem ein Mystiker, der wie alle Mystiker in der Natur die eigene Seele erkennt, man denke nur ... warum nicht auch an Agha Seyyed Abolhassan Tabnejad, die Pupille in der Himmelskugel und die Himmelskugel in der Pupille.“13 Der Orientalist begnügt sich nicht mit einzelnen Analogien, so bereichernd sie auch sein mögen, vielmehr lässt er einen Dialog zwischen den Klassikern entstehen, seien sie abendländischer oder orientalischer Herkunft. So legt er Hölderlins Tod des Empedokles als sufisches Lehrgedicht ausführlich aus, zitiert dabei abwechselnd Worte von Hölderlin und von Sufi-Dichtern und -Gelehrten, bevor er folgende Schlussfolgerung zieht: „Hölderlin schöpft also tatsächlich aus derselben Quelle wie Sohrawardi oder Halladsch, die ihre physische Vernichtung als Fest begingen.“14 So vermittelt Kermani auch mit seinen „genaue[n] und erfrischende[n] Hölderlin- und Jean Paul-Exegesen“15 zwischen westlicher und östlicher Literatur und Kultur16 und wird damit dem von Genette herausgestellten literarischen Anspruch gerecht, „die alten Werke ständig in einen neuen Sinnkreislauf einzuspeisen“17. Auch die vielfältigen Bezüge auf abendländische moderne und postmoderne Literatur tragen zu dieser spezifischen Aneignung bei: Jean Paul wird als Vorwegnahme von Beckett, Brecht oder Coetzee gelesen, er sei

|| 11 DN, S. 181. 12 DN, S. 181. 13 DN, S. 466f. 14 DN, S. 1139. 15 Roman Bucheli: Das Heilige und die Waschmaschine. In: Neue Zürcher Zeitung (8.10.2011): http://www.nzz.ch/das-heilige-und-die-waschmaschine-1.12889384 [abgerufen am 6.6.2016]. 16 So wie er es auch u.a. in seinen „West-östliche[n] Erkundungen“ als Essayist weiterhin tun wird. Siehe Navid Kermani: Zwischen Koran und Kafka. West-östliche Erkundungen. München 2014. 17 Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt am Main 1993, S. 534.

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ja sogar postmoderner als die Postmoderne selbst.18 Dabei wird weniger die Aktualität der Werke Jean Pauls betont als die Permanenz der Fragestellung, die Kermani in erster Linie interessiert, nämlich die selbstbezügliche und selbstreflexive Dimension der Dichtung: Kein Alleinbesitz der Moderne und Postmoderne also, sondern eine immer wieder aktualisierte Problematik, die er lieber von den Klassikern erbt, als sie der Gegenwartsliteratur zu entnehmen. Zudem bringt Kermani die Poetiken beider so unterschiedlichen Dichter seiner eigenen dialektischen Poetik näher, bzw. einer Poetik im Spannungsfeld von Wirklichem und Erhabenem, Alltäglichem und Heiligem. Bei Hölderlin interessiert ihn folglich das Paradox einer gestelzten Dichtung, in der die realen Erfahrungen des Dichters doch immer sichtbarer werden19 – ein Paradox, das wiederum von Hölderlins eigener Dialektik herrührt, namentlich der dem Idealismus zu verdankenden Spannung zwischen Fremdem und Eigenem. Bei Jean Pauls autobiographischen Schriften fokussiert er sich u.a. auf alle Enthüllungen und Entblößungen, die „nur kaum etwas, jedenfalls nichts Zuverlässiges über Jean Paul“20 aussagen – auch da ein widersprüchliches Merkmal, das der Romanschreiber und Poetologe auf Jean Pauls dialektische Ästhetik zwischen Naturund Kunstcharakter der Erzählung zurückführt. Nicht von ungefähr versteht er Poetiken und Schreibpraktiken der Klassiker als „Gegenprogramm“21 und liest über die Unterschiede hinausgehend „Hölderlins Werk als Komplementärpoetik zu Jean Paul“22: Und so treffen sich Hölderlin und Jean Paul, die so unterschiedlich sind, als seien sie zwei Dichter verschiedener Epochen, Sprachen, Kulturen, so treffen sie sich wie zwei elliptische Kurven, die sich zum Kreis schließen: nicht die Welt stellen sie dar, sondern das Ich, das Welt ist, literaturgeschichtlich begriffen das alte Motiv der Seelenreise durch Himmel (bei Hölderlin) oder Erde (bei Jean Paul) zu sich selbst.23

Hier bieten beide Dichter an sich und in ihrer Kombination dialektische Reflexionsansätze, die Kermani ausdrücklich in sein Werk aufnimmt, gehört doch das kombinierte Thema der Selbstkenntnis und der Autobiographie – in Anlehnung an Jean Paul auch „Selberlebensbeschreibung“ genannt – zu den in Dein Name

|| 18 Siehe DN, S. 395. 19 DN, S. 1056. 20 DN, S. 1057. 21 DN, S. 1052. 22 Torsten Hoffmann: Art. Navid Kermani. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (15.5.2014): http://www.munzinger.de/document/16000000779 [abgerufen am 6.6.2016]. 23 DN, S. 1069 und ÜZ, S. 100.

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wesentlichen Antrieben im Schreibprozess. So liest und schreibt Kermani mit dem strukturalistischen Bewusstsein, dass nichts erfunden wird, weil das Schreiben nichts Anderes sein kann als ein Neuschreiben – Wiederholung und Variante. „Der Schreiber kann“, laut Roland Barthes, „nichts als eine immer schon geschehene, niemals originelle Geste nachahmen. Seine einzige Macht besteht darin, die Schriften zu vermischen und sie miteinander zu konfrontieren.“24 In Kermanis Roman kommt dieses Prinzip besonders deutlich zum Ausdruck.

2 Inszenierung der Fiktion als poetologische (Selbst-)Reflexion Die Anwesenheit Jean Pauls und Hölderlins in Dein Name wird als purer Zufall inszeniert und, so notwendig sie für den Romanschreiber auch sein mag, nichts scheint diese Kombination begründen zu wollen. Dass die Leser „von den zeitgenössischen bis zu den heutigen, den Gelehrten und Laien, [...] Hölderlin und Jean Paul, soweit ich sehe, kaum je in einen Zusammenhang gebracht [haben]“25, führt sowohl den Romanschreiber als auch den Poetologen zu folgender Schlussfolgerung: „Ich bin es, für den Jean Paul und Hölderlin notwendig verbunden sind.“26 Rechtfertigen, inwiefern beide „notwendig verbunden“ sind, bedeutet für Kermani seiner eigenen ästhetischen Problematik auf den Grund zu kommen. Und dies schon von vornherein beim Nachdenken über die „Wahl“ beider Klassiker, die einen Teil des im Roman geführten Lebensprotokolls für sich beansprucht. Die gleich am Anfang des Romans im Internet zufällig gefundene, herabgesetzte Gesamtausgabe Hölderlins und später der jahrelang vergessene und nach unzähligen Zufällen wiederentdeckte Karton mit der Dünndruckausgabe von Jean Pauls Werken führen direkt in die Problematik des Romans: Welcher Grad an Zufall, welcher Grad an Konstruktion darf in die Fiktion aufgenommen werden, wenn es um das eigene Leben, bzw. um das eigene Schreiben geht? Darauf beruht auch das strukturelle Konzept des Romans: Da der Erzähler den Zufall als literarische Strategie nicht annehmen und seine Lebensbeschreibung möglichst glaubwürdig darstellen will, muss er ständig darauf achten, dass die richtige Ba-

|| 24 Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. von Fotis Jannidis. Stuttgart 2000, S. 190. 25 DN, S. 1059. 26 DN, S. 1059.

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lance zwischen Leben und Dichtung, Unwahrscheinlichkeit und Wahrscheinlichkeit nie verlorengeht. Zufall und Konstruktion spielen im Laufe der Lektüren der Klassiker mit- und gegeneinander und finden beim Schreiben eine Synthese: „[D]ie Verwandlung des Zufalls in Notwendigkeit wird zum Bestandteil des Schreibprozesses.“27 So wird auch die Verbindung der beiden Klassiker, die zunächst als Zufall, dann in den literarischen Analysen des fiktiven Romanschreibers als ästhetische Ahnung verstanden werden will, letztendlich in den auf die Poetikvorlesung vorbereitenden Reflexionen aus philologischer Sicht eingehend betrachtet. Auch die Lektüre der Klassiker im Roman wirkt ebenso zufällig wie zweckorientiert. Im Spiel mit dem Zufall will „Kermani“ seine Lektüre der Klassiker als „utilitaristisches Geschäft“28 betreiben. Sie scheint Nahrung zu sein, die er unmittelbar assimiliert. In der Poetikvorlesung wird auch von vornherein angekündigt: „Der Roman selbst, den ich schreibe, bildet seine Poetik im Laufe der Lektüre von Jean Paul und Hölderlin aus.“29 Das zum geplanten Totenbuch bzw. zum Schreiben gegen die Vergänglichkeit am besten geeignete Stilmittel findet der Erzähler zum Beispiel bei Hölderlin. Die bestellte Ausgabe Hölderlins bewahrt sämtliche Dokumente aus dem Leben und Werk des Dichters, lässt weder Korrekturen, noch Varianten aus: „So lebensnah wie ein Abfallkorb hat er sich Hölderlin nun auch wieder nicht vorgestellt. Und doch faszinieren mich sonderbar die Aufzählungen, Urkunden und Listen, weil sie mit wenigen Buchstaben ganze Existenzen anzeigen [...]. Sie sind nur noch Namen. Sie haben immer noch einen Namen.“30 Hier handelt es sich um eine Literatur und die entsprechende verlegerische Arbeit, die sich zum Ziel gesetzt hat, das aufzubewahren, was dabei ist zu verschwinden, oder schon verschwunden ist. Und so kann er dreißig Seiten später sein eigenes stilistisches Programm durchsetzen, wohl wissend, dass seine Leser dessen Grundlage unvermeidlich seiner Lektüre Hölderlins zuschreiben werden: „Nichts wird weggeworfen, nichts überspielt, die erste Aufnahme genommen, eine litterature veritée [sic]. [...] Nichts geht verloren, alles ist wert, aufbewahrt zu werden, alles von gleichem Gewicht, das Heilige und die Waschmaschine.“31 Somit gibt der Romanschreiber zu verstehen, dass seine Leseerkenntnisse (na-

|| 27 Martin Ebel: Über alles. In: Berliner Zeitung (29.8.2011): http://www.berliner-zeitung.de/nav id-kermani-erkundet-in-seinem-riesentagebuchroman--dein-name--seinen-platz-in-der-weltueber-alles-14890574 [abgerufen am 8.9.2015]. 28 ÜZ, S. 78. 29 ÜZ, S. 8. 30 DN, S. 83. 31 DN, S. 131.

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mentlich „die Aufgabe, das Ich, jedes Ich, über seine Vernichtung zu behaupten“32) unmittelbar in die eigene Schreibpraxis übernommen werden, und fingiert Transparenz in einem quasi performativen Schreibprozess gerade da, wo die Undurchschaubarkeit der Erzählung den Fortgang des Romans bedroht. Der Romanschreiber lässt es aber nicht bei einer epigonenhaften Eins-zueins-Umsetzung poetischer Prinzipien bewenden. So paradox es klingen mag, seine Lektüre der Klassiker erweist sich angeblich erst im Nachhinein als programmatisch. Am Anfang des Romans bedauert er, einen Band Hölderlin allzu schnell unbeachtet gelassen zu haben: „Dabei hätte er nur aufmerksamer lesen müssen, um das Programm des Romans zu finden, den ich schreibe“33, und zitiert anschließend Hyperions zehnten Brief an Bellarmin über das Bedauern der Toten, das Trauern und Selbsttrauern. Auf genau diese Textstelle greift er in der Mitte des Romans wieder zurück, nachdem er auf die eigene Fragestellung zurückgekommen ist: „Der Roman, den ich schreibe, setzt ein, als er nur mehr festhalten will, wer in seinem Leben stirbt. Das Programm seines Totenbuchs hätte er schon nach den ersten Seiten bei Hölderlin finden können, wenn er den Hyperion nicht, vielleicht erinnern Sie sich, zunächst in die Ecke gefeuert hätte“34. Damit will Kermani den widersprüchlichen Eindruck wecken, dass er ohne Hölderlin seinen Roman geschrieben hat (der Er-Erzähler findet erst später das programmatische Zitat), und ihn jedoch ohne Hölderlin nicht hätte schreiben können (der Ich-Erzähler gibt gleich am Anfang das Zitat an). Indem er Hölderlins Zitat als Bestätigung und Auslöser des eigenen ästhetischen Programms wirken lässt, enthüllt und verstellt sich der Romanschreiber zugleich, wie es das Lavieren zwischen Er- und Ich-Erzähler in ein und demselben Satz schon suggeriert. Bei der Lektüre Jean Pauls wird es einmal sogar noch deutlicher: „In der lesbaren Fassung des Romans, den ich schreibe, werde ich tun, als hätte ich die Vorschule zur Ästhetik früher gelesen, um hier und dort Jean Pauls eigene Erläuterungen zu übernehmen, wo meine eigenen zu nichts führen.“35 Expliziter kann die Lektüre der Klassiker als Impetus der poetologischen Selbstreflexion und des Schreibens kaum inszeniert werden. Durch die Interdependenz zwischen Hölderlins, Jean Pauls und der eigenen Poetik werden die Widersprüche einer Poetik im Werden bis ins geringste Detail dargestellt. Um ein anschauliches Beispiel dafür zu geben, gilt eine mögliche Kritik an Jean Paul dem Romanschreiber selbst, nämlich: „dass seine Romane der

|| 32 DN, S. 1082. 33 DN, S. 56. 34 DN, S. 734. 35 DN, S. 1118.

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Überfülle seiner Einfälle und Gesichte nur eine notdürftige Form geben“36. Wenn die Kritik an Jean Paul anfangs als indirekte Infragestellung der eigenen Poetik verstanden werden kann, so dient sie doch gleich dem Romanschreiber als Rechtfertigung seines eigenen Vorhabens, wonach alles zusammen erst den Roman ergibt.37 Hier wird eine Poetik entworfen und dargelegt, die sich selbst ständig und unmittelbar erfindet, bezweifelt und sich auch jeder programmatischen Festlegung entziehen kann. Denn jeder Aspekt, so fest er sich im Roman verankert hat, kann jederzeit revidiert werden, auch die eben erwähnte Rechtfertigung: Er dachte tatsächlich eine Zeit lang, dass die Wirkung der Einzelstücke [...] sich potenzieren würde, wenn sie in dem unbeabsichtigten Zusammenhang zu sehen wären, den das Leben darstellt. Das ist ein Trugschluss, wie er längst weiß, ohne freilich zu wissen, welchem Trugschluss er damit wieder unterliegt.38

Erst am Ende findet dieses poetische Prinzip doch in den Worten eines (fiktiven?) Verlegers eine Bestätigung, der auf den gesamten Roman zurückblickend die Art bewundert, wie das Verrinnen der Zeit nachgeahmt wird.39 Damit bringt er das Eigentliche dieser Poetik auf den Punkt und weist wiederum unwissentlich auf den in der Mitte des Romans einmal erwähnten poetischen Anspruch Jean Pauls hinaus, „der Simultanität des Erlebens [...] bis in die Sprachmelodie eine literarische Entsprechung zu geben“40. Deswegen kann sich auch der Erzähler letztendlich alles leisten, Ausschweifungen wie Unterbrechungen, Wiederholungen und Varianten: So wie bei Jean Paul kann der Roman alles assimilieren, sogar den Widerspruch, die eigene Infragestellung und Selbstreflexion. Die Lektüre der Klassiker durch den Romanschreiber trägt dergestalt wesentlich dazu bei, die literarische Vorgehensweise im Roman kritisch zu reflektieren.

3 Dein Name: Lektüre der Klassiker als Poiesis Entscheidend ist letztendlich der langsame und verwickelte Weg der poetologischen (Selbst-)Reflexion, auf der die Fiktion gebaut wird, und deren Inszenierung implizit oder explizit durchscheint. Als ein wesentliches Element dieser Inszenierung erweist sich die Frankfurter Poetikvorlesung, die Kermani „simultan“ || 36 DN, S. 988. 37 DN, S. 989. 38 DN, S. 1016. 39 DN, S. 1221. 40 DN, S. 539.

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schreibt. Zentrales Anliegen seiner Vorlesung ist gerade die Frage nach dem Grund beider Klassiker-Lektüren. Zum einen geht Kermani – anders als im Roman, in dem die Lektüren und Reflexionen über Hölderlin und Jean Paul angeblich dem Zufall zu verdanken sind – nun systematischer, geradezu didaktisch vor: Die ersten drei Teile der Vorlesung antworten auf die jeweiligen Fragen „Warum Jean Paul?“41, „Warum Hölderlin?“42 und „Warum Hölderlin und Jean Paul?“43 und übernehmen dabei wortwörtlich oder mit leichten Variationen Fragmente, die im ganzen Roman verstreut sind, deswegen heißt es auch in der Vorlesung: „Dies ist der Roman, den ich schreibe.“44 Zum anderen wird in den letzten zweihundert Seiten des Romans der gleichzeitige Fortschritt des Romans und der Poetikvorlesung simuliert. Durch die (fiktive oder nacherzählte) Vorbereitung der Vorlesung setzt sich Kermani mit seiner Lektüre der Klassiker erneut synthetisierend auseinander und übernimmt dazu längere Passus aus der Vorlesung als Teil der Fiktion, daher die Behauptung im Roman „Die Vorlesung ist der Roman, den ich schreibe.“45 Das dem Roman innewohnende Prinzip einer inszenierten Wechselbeziehung zwischen den Poetiken der Klassiker und seiner eigenen Poetik wird mithin eine Stufe höher fortgeführt, denn die Vorlesung mit dem vielsagenden Untertitel „Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe“ lässt die Lektüre der klassischen Dichter als Poiesis erscheinen: „l’action qui fait des eigenen Werks“46. Und sosehr der Romanschreiber gegen Ende des Romans noch befürchtet, dass er je „zwischen Wille und Werk wenigstens einen Minimalzusammenhang herzustellen [vermöchte]“47, wird eben die Erarbeitung dieser speziellen Poiesis im Roman selbst ausführlich vor Augen geführt. Es geht hier nämlich darum, die „Romanhaftigkeit“ des Romans ständig zu vergegenwärtigen, wie der Romanschreiber es bei Jean Paul einmal beobachtet: „Wie im epischen Theater, gleichwohl ohne Didaktik, kommentiert der Romanschreiber [hier Jean Paul] das eigene Romanschreiben und stellt es somit in seiner Romanhaftigkeit heraus.“48 In dieser Mise en abyme, die Jean Pauls Werk als Vorwegnahme von Brechts Theaterpraxis interpretiert und an sich schon einen der im Roman zahlreichen Verfremdungseffekte darstellt, liefert der Erzähler als Exeget einen der Hauptschlüssel seiner eigenen Exegese. In der Vorlesung kommt || 41 ÜZ, S. 10. 42 ÜZ, S. 41. 43 ÜZ, S. 83. 44 ÜZ, S. 20. 45 DN, S. 1105. 46 DN, S. 1118. 47 Ebd. 48 DN, S. 394.

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dieser poetologische Aspekt deutlich zur Sprache, wenn vermerkt wird, dass, wie Jean Pauls Romane, „auch der Roman, den ich schreibe, ständig mitbedenkt, wie er geschrieben ist“49. Als ob er sich selber beim Schreiben belauschen würde, entlarvt der Romanschreiber de facto den geringsten Aspekt seiner poetischen Reflexionen, jede Lüge oder Selbstlüge, die eigenen Paradoxe und (Schein-)Lösungen, die Inszenierungen und Selbstinszenierungen, Zweifel und Selbstzweifel.50 In Dein Name findet somit das romantische unendliche Streben eines Ichs, bzw. eines schreibenden Ichs, zur Selbstkenntnis zu kommen, „Schlegels frühromantische Poetik der unendlichen Selbstreflexion“51, eine aktuelle Variante. Was bei der Darstellung der Klassikerlektüre sowohl in der Vorlesung als auch im Roman durchscheint, ist nämlich das romantische und idealistische Anliegen, das Kermani für sich in Anspruch nimmt, nämlich das Konzept einer „progressiven Universalpoesie“, so wie Friedrich Schlegel es einst im Fragment 116 des Athenäums definierte.52 Progressiv und universell stellt sich diese Prosa dar, in dem Sinne als sie ewig danach strebt, „alles umzufassen“, um Schlegels Wort zu übernehmen. Dem Romanschreiber ist ein solch hoher Anspruch zumutbar, selbst wenn er um das Unzumutbare des Projekts weiß. Es geht zunächst um nichts weniger, als dem Ganzen Sinn und Form zu geben, und auch da wird Jean Pauls Poetik angeführt und zwar sein Verständnis des Begriffs Zufall: Jean Pauls Romane sind die Behauptung, dass die Zufälle, die für den Romanschreiber und die anderen Figuren keine Struktur ergeben, sich für den Leser zu einer Ordnung fügen. Darin sind sie ein religiöses Unterfangen. Der Roman, den ich schreibe, ist die Behauptung,

|| 49 ÜZ, S. 20. 50 Ein wesentlicher Aspekt im Roman, den Torsten Hoffmann mit Recht betont: „In poetologischer Hinsicht ist das Zweifeln von fundamentaler Bedeutung gerade für das Gelingen des Textes, der nur auf dieser Basis seine enorme Ambitioniertheit ohne Hybris formulieren kann (und im gleichen Moment schon infrage stellt).“ Torsten Hoffmann: Kermani. 51 DN, S. 1065. 52 Friedrich Schlegel: Werke. Kritische Ausgabe. Band II. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Paderborn, München, Wien 1958ff., S. 182f.: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang.“

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dass die Zufälle, die für den Romanschreiber und die anderen Figuren keine Struktur ergeben, sich für den Leser zu einer Ordnung fügen. Darin ist er ein religiöses Unterfangen.53

Form und Sinn verleiht Literatur dem, was auf den ersten Blick form- und sinnlos erscheint. Doch was bei Kermani Ordnung stiftet, ist eben das Gegenteil von einer Ordnung, nämlich der Zufall, was sich als besonders schöpferisch erweist: „Es ist gleich tödlich für den Geist“, schreibt Friedrich Schlegel 1798 im Athenäum, „ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen, beides zu verbinden.“54 Der Zufall – Titel der Vorlesung, verstanden im Roman als innere, von Leben und Tod gebildete Notwendigkeit,55 als System und Gegensystem in einem – konstruiert und dekonstruiert die Fiktion. So versteht der Romanschreiber Jean Pauls Romane als „das Paradox eines ‚Kunstgartens des Zufalls‘“56. Das genannte Paradox zwischen Natur- und Kunstcharakter der Dichtung, das Kermani bei Jean Paul und Hölderlin ausführlich analysiert und das das Romanschreiben immer weiter vorantreibt, bildet ein bedeutendes Beispiel dafür, wie die Gegensätze sowie ihre intendierte Aufhebung im Roman reflektiert werden. „[Kermani]“, so Martin Ebel, „begreift – nicht zuletzt durch ausgiebige Jean-Paul-Lektüre –, dass Unmittelbarkeit nichts Gegebenes, sondern etwas Hergestelltes ist.“57 In seiner Struktur überwindet der Roman dieses Paradox, gerade indem er zugleich den Prozess dieser Überwindung veranschaulicht. Dieses Paradox eben, an dem der dialektische Gedankengang des Autors wieder sichtbar wird, erweist sich für die Poetik einer „littérature vérité“, die das Leben in all seinen Aspekten zu assimilieren trachtet, als besonders ergiebig. Der übermäßige Anspruch, der den Romanschreiber von Anfang an antreibt, „alles umzufassen“, religiöses Unterfangen und ästhetische Zumutung gleichzeitig, läuft darauf hinaus, die unerreichbare Totalität des Menschen darzustellen – und sei sie mehr als die Summe seiner zahlreichen Facetten. So wird der Anfangssatz der Vorlesung mit der Aufzählung der Identitäten des Romanschreibers im Roman oft wiederholt und variiert. Bei Jean Paul und Hölderlin hebt er es wieder hervor: „Was Jean Paul empfand und Hölderlin besser beschrieb, ist nicht bloß ihr individueller, es ist ein allgemeiner oder idealer Moment innerhalb des poeti-

|| 53 ÜZ, S. 32. 54 Friedrich Schlegel: Werke, S. 173. 55 DN, S. 1114: „Die absolute Grenze und damit die umfassendste Erfahrung der Kontingenz bildet zweifellos der Tod, der dem Roman, den ich schreibe, deshalb die unvorhersehbare Struktur gibt [...].“ 56 DN, S. 1129. 57 Martin Ebel: Über alles.

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schen Prozesses: ein einzelner zu sein und doch das Ganze in sich zu tragen.“58 Das Individuum wird für sich und als Spiegel des Ganzen in Betracht gezogen. „Dieser modernen Universalpoesie entspricht“, laut Torsten Hoffmann, „die Darstellung eines Lebens, das […] den Menschen in ‚der vollständigen anthropologischen Schätzung‘ (Schiller) präsentiert, mithin die Forderung einlöst, mit Literatur den ‚ganzen Menschen‘ vorzuführen und anzusprechen.“59 Deswegen kann das Unterfangen auch nicht abgeschlossen werden. Dass ein Autor sein Werk unvermeidlich als unvollkommen betrachtet – Hölderlin und Jean Paul sind ja gute Beispiele dafür – geht von Anfang an deutlich als Konzept in den Schreibprozess ein und führt am Ende des Romans zur folgenden Schlussfolgerung: „[Es] wird immer reicher sein, was die Zuhörer [der Vorlesung] sich unter dem Roman vorstellen, den ich schreibe, als was die Leser je in den Händen halten und poetologisch wäre es die beste Pointe, wenn es den Roman überhaupt nicht gäbe.“60 Vorrangig ist die ästhetische Dimension, nämlich die veranschaulichte Poiesis durch die Lektüre der Klassiker, die soweit gedacht wird, dass sie sogar die Negierung des Romans mit einbeziehen kann. Ob sich Kermani als Leser, Exeget oder dialektischer Dichter und Poetologe Jean Paul und Hölderlin aneignet, die angeblich zufällige Verbindung der beiden Klassiker in Dein Name gewährt ihm Einsicht in die eigene dialektische Poetik. Jean Paul und Hölderlin bieten als entgegengesetzte ästhetische Pole poetische Reflexionsansätze, die sich in Kermanis Roman zusammenfügen: etwa zum Tod und seiner literarischen Darstellung, zu Zufällen und Zeichen, Abfällen, die für Literatur keine sind, zum autobiographischen Schreiben, zum Ich und seinen multiplen Facetten, zur Simultaneität von Literatur und Leben, Ausschweifungen und Dringlichkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit. Explizit oder nicht inszeniert er seine Fiktion als poetologische Reflexion: Der Romanschreiber erkennt sein entstehendes Programm im Laufe seiner Lektüren wieder und findet bei den Klassikern Antrieb und Bestätigung. Die Lektüre der beiden Dichter trägt hiermit wesentlich zu seiner Poetik im Werden bei, und nicht zuletzt, wenn die „Romanhaftigkeit“ des Romans anschaulich gemacht werden soll. „Roman und Poetik sind eins“61, so das Postulat Kermanis in Dein Name, dem seine spezifische Poiesis entspricht. Indem er anhand seiner Lektüre der Klassiker namentlich die Gegensätze zwischen Literatur und Leben, Poesie und Poetik zugleich ergründet

|| 58 DN, S. 1140. 59 Torsten Hoffmann: Kermani. 60 DN, S. 1158. 61 DN, S. 1065.

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und aufhebt, der Fülle des Materials Sinn und Form gibt und unendlich danach strebt, den Forderungen einer littérature vérité in einem sich selbst reflektierenden und die verschiedensten Bereiche umfassenden Roman nachzugehen, verleiht Kermani der frühromantischen „progressiven Universalpoesie“ eine neue, moderne Form. Emmanuelle Terrones (ICD - EA 6297)

Louise-Hélène Filion

Klassiker Parodien interkulturell Thomas Bernard in einem zeitgenössischen Roman aus Quebec Die angelsächsische Literaturkritik hat in den letzten Jahrzehnten wiederholt zu Kanonrevisionen angestoßen. Ausgangspunkt waren postkoloniale Theorien und Argumente, die maßgeblich auf dem Begriff der „Identität“ beruhten, mit Rekurs auf Konzepte von Nation, Klasse, Gender usw. Diese Tendenz findet bis heute Resonanz, sodass Forscher aus dem breiten Feld der Adaptation Studies manchmal Mühe haben, sich Stellungnahmen zu den zahlreichen Arbeiten zum Thema des writing back zu entziehen. Treten Texte der Gegenwartsliteratur jedoch in einen produktiven Dialog mit Klassikern, folgen sie häufig einer anderen Logik als der (postkolonialer) „Machtverhältnisse“. So ist auch in aktuellen parodistischen Texten eine von Interkulturalität gekennzeichnete Gedankenwelt zu finden, in der die Autoren den wechselseitigen Austausch hervorheben und der (kulturellen) Erinnerung an den Anderen Reverenz erweisen, anstatt eine „dominierte“ und eine „dominierende“ Kultur gegenüberzustellen. Dem entsprechen auch die Überlegungen von Daniel Sangsue, der die Aktualität des parodistischen Schreibens betont und dieses von vergangenen, häufig polemisch ausgerichteten Formen der Parodie abgrenzt (etwa die der russischen Formalisten, die die Parodie als Mittel der Vernichtung des parodierten Textes auffassten): Tout se passe […] comme si notre époque, dans son désir de réhabiliter une parodie qui avait mauvaise presse, souffrant à la fois de son acception populaire péjorative et d’un passé critique où elle était souvent apparue comme une pratique dégradante (l’une étant la conséquence de l’autre), lui avait enlevé son pouvoir d’opposition et de transgression, avait en quelque sorte „arrondi ses angles“ pour la faire mieux accepter, ou pour qu’elle corresponde à un certain consensus culturel qu’on peut voir s’installer au XXe siècle ou avec la postmodernité.1

Die Vorschläge von Sangsue geben Anlass zur Annahme, dass sich das parodistische Schreiben unserer Zeit mehr in Richtung einer Suche nach Harmonie und Ausgleich bewegt. Der Roman Noces villageoises2 der quebecer Autorin Nicole Filion kann zum Teil mit dieser Auffassung in Verbindung gebracht werden. Filions

|| 1 Daniel Sangsue: La parodie, une notion protéiforme. In: Du pastiche, de la parodie et de quelques notions connexes. Hg. von Paul Aron. Quebec 2004, S. 99. 2 Nicole Filion: Noces villageoises. Trois-Pistoles 2002. https://doi.org/10.1515/9783110615760-035

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Roman, dessen Analyse den Schwerpunkt dieses Beitrags bildet, tritt in einen als parodistisch zu bezeichnenden Dialog mit Korrektur,3 einer Erzählung von Thomas Bernhard. Wenn sich die quebecer Autorin auch nicht voll dem „kulturellen Konsens“ im Sinne Sangsues verschreibt, zeugt ihr Werk jedoch von einer eher wohlwollenden Haltung gegenüber dem parodierten Schriftsteller und seinem Werk. Darüber hinaus öffnet die Parodie bei Filion den Weg zu einer interkulturellen Annäherung; denn die Autorin identifiziert in Korrektur, diesem modernen Klassiker der deutschsprachigen Literatur, eine Satire des österreichischen Justizsystems, die sie zu einer umfangreichen Satire des Rechtswesens in der kanadischen Provinz Quebec inspiriert. Mit der Entscheidung für eine hypertextuelle Schreibweise mit Rekurs auf den Roman von Thomas Bernhard bringt Filion auf eindeutige Art und Weise ihren Wunsch zum Ausdruck, eine gemeinsame kulturelle Basis zu schaffen. Ihr scheint es vor allem ein Anliegen zu sein, eine „interkulturelle Hypertextualität“ zu begründen. Damit ist gemeint, dass der literarische Text sich mittels hypertextueller Verfahren der Welt oder dem Interkulturellen öffnet.4 In Filions Roman sind es eben jene Verfahren des hypertextuellen Schreibens, die die interkulturelle Intention der Autorin offensichtlich werden lassen. Wenn man in der literarischen Adaption von Korrektur nicht – im Sinne des writing back – eine politisch subversive Geste sieht, sondern in der interkulturellen

|| 3 Thomas Bernhard: Korrektur. Frankfurt am Main 2014 (zuerst 1975). 4 Die Vorstellung von ‚offener‘ Hypertextualität war lange Zeit nicht selbstverständlich, da sie dazu führte, das Postulat von einer radikalen Trennung zwischen Literatur und Welt zu relativieren, auf dem sowohl die Idee von Hypertertextualität als auch von Intertextualität beruhen. Siehe dazu meine Dissertation: Louise-Hélène Filion: Les usages littéraires de Thomas Bernhard et de Peter Handke au Québec: les modalités d’une affiliation interculturelle. Dissertation Montreal 2017, https://archipel.uqam.ca/10591/ [abgerufen am 26.5.2018]. Ausgangspunkt meiner Überlegungen zur „interkulturellen Hypertextualität“, die ich hier nur anreißen kann, sind die Publikationen Tiphaine Samoyaults und Sophie Rabaus zur Intertextualität: Beide greifen die Diskussion zur „littérature référentielle“ bzw. „littérature non référentielle“ auf und stellen einen Bezug zur Frage der Intertextualität her. Vgl. Tiphaine Samoyault: L’intertextualité. Mémoire de la littérature. Paris 2008 (zuerst 2001) und Sophie Rabau: L’intertextualité. Introduction, choix de textes, commentaires, vade-mecum et bibliographie. Paris 2002. Auch Frank Wagners Beitrag ist richtungsweisend. Er fordert dazu auf, die Frage des Verhältnisses zwischen Referenzialität und Hypertextualität neu zu stellen, da dieses Verhältnis in Adaptionstheorien bislang marginalisiert wurde und stellt fest: „non seulement l’hypertextualité ne récuse pas la problématique de la référentialité du texte littéraire, mais au contraire elle est susceptible de favoriser, certes indirectement, sa réhabilitation.“ Frank Wagner: Les hypertextes en questions: note sur les implications théoriques de l’hypertextualité. In: Études littéraires 34 (2002) H. 1–2, S. 297–314, hier S. 297.

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Offenheit das Anliegen der Autorin erkennt, mit den Mitteln der Parodie ein konstruktives Gedächtnis zu begründen, das kulturelle und literarische Räume transzendiert, betritt man im Hinblick auf die Literaturtheorie ein noch wenig erforschtes Terrain. Bei der Analyse von hypertextuellen Schreibpraktiken unterscheidet die Forschung nicht immer zwischen einer inter- und intrakulturellen Hypertextualität. Der vorliegende Beitrag geht von der Annahme aus, dass ein Unterschied zwischen den Schreibweisen besteht, was im Folgenden an dem Roman von Filion und dem dort vorherrschenden hypertextuellen Verfahren, der Parodie, verdeutlicht werden soll. Hierzu sollen die am häufigsten verwendeten Parodietheorien herangezogen werden.5 Ziel ist es, eine präzise Begriffsbestimmung zu identifizieren, die dazu geeignet wäre, die Reflexion über die beschriebene Form inter-kultureller Hypertextualität voranzubringen und Aufschluss über zeitgenössische hypertextuelle Praktiken zu geben, die eine gewisse Tradition fortschreiben, zu der sie sich zwar abweichend verhalten können, insgesamt jedoch den großen Werken der Vergangenheit niemals völlig ikonoklastisch gegenüberstehen.

1 Satire des Justizsystems und Metafiktion Der Roman Noces villageoises von Nicole Filion handelt von einem Streit unter Nachbarn um ein Wegerecht. Die vier beteiligten Parteien verwickeln sich nach und nach in einen Konflikt, der auf dem Höhepunkt schließlich unglaubliche Ausmaße annimmt: Die Nachbarn ziehen Anwälte zurate, Bürger wie auch Vertreter der Justiz tragen Beweisstücke, Verträge und andere Verkaufsurkunden zusammen, bis sie buchstäblich unter ihrem erdrückenden Gewicht „verschüttet“ („enseveli[s]6“) werden. Die Justiz wird als ein außerordentlich bürokratisches System dargestellt, das nicht der Klärung der Streitsache dient, sondern vielmehr die Angelegenheit verwirrt und verzögert. Der Roman entwickelt sich zu einer umfassenden Satire, in der niemand, seien es Richter, Anwälte oder Notare, verschont bleibt. All den Verhandlungen und Auseinandersetzungen zwischen

|| 5 Annick Bouillaguet: L’écriture imitative. Pastiche, parodie, collage. Paris 1996; Michele Hannoosh: Parody and Decadence. Laforgue’s Moralités légendaires. Columbus 1989; Linda Hutcheon: A Theory of Parody. The Teachings of Twentieth-Century Art Forms. Urbana und Chicago 2000 (zuerst 1985); Margaret A. Rose: Parody//Meta-fiction. An analysis of parody as a critical mirror to the writing and reception of fiction. London 1979; Margaret A. Rose: Parody: ancient, modern and post-modern. Cambridge 1993. 6 Nicole Filion: Noces villageoises, S. 23.

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Nachbarn, Anwälten, Vermessungsingenieuren, Bankangestellten oder Polizisten liegt etwas Absurdes inne, denn das eifrige Engagement, mit dem sie zahlreiche Dokumente, Briefe oder Beschimpfungen untereinander austauschen, bleibt wirkungslos. Am Ende siegt nicht die Gerechtigkeit, denn zum Besitzer des Wegs wird derjenige, gegen den die Aktenlage eigentlich spricht. Die Gerichtsverhandlung artet in eine Komödie aus, bei der es zu Falschaussagen kommt und langjährige Streitereien zwischen dem Richter und einem der Anwälte hochkochen. Zwei Auszüge aus Filions Roman verweisen direkt auf eine gleichartige Passage aus Korrektur, in der es um das Besitztum Altensam geht. In Bernhards Werk widmet Roithamer, ein geachteter Wissenschaftler und Cambridge-Professor, dem Familiensitz in Oberösterreich eine Studie. Aber er verbessert und korrigiert immer wieder die Arbeit, die zu seinem Lebenswerk werden soll. Im Zentrum stehen langjährige Pläne für die Errichtung eines Wittgenstein-Kegels, die den Gelehrten letztlich in den Wahnsinn treiben. Angelegt als Asketen-Figur, wie sie sich häufig in Bernhards Werk findet, versucht Roithamer tagtäglich erneut, einen Zustand perfekter Konzentration in seinen intellektuellen Werken zu erreichen. Die Familie spielt in der Erzählung ebenfalls eine wichtige Rolle: Der Kegel ist als Geschenk an die Schwester Roithamers vorgesehen, die beim Anblick des Objekts das absolute Glück erleben soll. Die Schwester begeht jedoch beim ersten Anblick Selbstmord und Roithamer, der einen enormen Anteil seines Erbes für die Errichtung des Kegels aufgebracht hatte, bringt sich später ebenfalls um. Es finden sich also auch hier die für Bernhard typischen, mitunter zweideutigen Beziehungen wieder, die seine Erzähler zu ihren Familiengütern unterhalten. Im Abschnitt, der in Filions Noces villageoises eine Entsprechung findet, geht es um den möglichen Verkauf von Altensam: Dem Notar auf die Finger schauen und ihn nur seiner tatsächlichen Leistung, nicht nach den offiziellen gesetzmäßigen Vorschriften (und notariellen Ansichten) honorieren. Das Honorar hat ein tatsächliches Erfolgshonorar zu sein. Es ist aber die Frage, ob ich nicht selbst, aus eigenem, vielleicht durch einen glücklichen Zufall, Altensam verkaufe, dann keinerlei Vermittlungsgebühr. Alle sind sie immer von den Notaren und von den Rechtsanwälten hereingelegt worden, das hat sich nicht geändert. […] Wir lehnen alles, das mit Verträgen zusammenhängt, ab, weil wir die Bürokratie ablehnen insgesamt, aber die Tatsache ist, daß die Welt nut mir Verträgen zusammengeflickt ist, das sehen wir sehr bald und in diesen Netzen von Hunderten und Tausenden und Hunderttausenden und Millionen und Milliarden von Verträgen zappeln die darin gefangenen Menschen. Um Verträge ist nicht herumzukommen, außer durch Selbstmord. Überall Verträge, die schon alles erstickt haben, eine in Verträgen erstickte Welt, […] die absehbare Zukunft sind Verträge, schriftliche Abmachungen und die daraus resultierenden Verzweiflungen, Behinderungen, Krankhei-

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ten, Todesursachen, sonst nichts. Wir sind mit unserem ganzen Wesen an Verträge, schriftliche Abmachungen, Feststellungen gebunden, lebenslänglich darin gefangen.7

Der Verweis auf Bernhard in den Noces villageoises dient dann auch dazu, die Satire des Justizsystems zu stärken, wie zum Beispiel im folgenden Auszug deutlich wird: Je laisse tomber le rideau. Dix ans maintenant que nous sommes aux prises avec cette histoire sans queue ni tête, que nous nous débattons comme de beaux diables, étouffés par ces centaines de milliers, de millions et de milliards de contrats qui rapiècent le monde, comme l’écrit Thomas Bernhard. Et que fait le reste de l’humanité pendant ce temps? Certains séquencent le génome humain, d’autres s’en prennent à la mondialisation ou aux soins de santé. J’en connais qui ont appris l’allemand, l’espagnol. La Terre a effectué des milliers de rotations sur elle-même, des couples se sont faits, défaits, refaits; […]. Nos amis les Sarrasin se sont lancés en affaires et ça va plutôt bien pour eux. Ils parlent d’ouvrir une succursale à Lyon où ils ont de la famille. Si nous avions fait la même chose, nous serions riches et nous sèmerions la joie autour de nous.8

In der französischen Übersetzung wie sie Filion zur Verfügung stand, ist von „centaines de milliers, de millions et de milliards de contrats“9 die Rede, was nur leicht abgeändert wurde. Abgesehen davon schafft Filion einen komischen Effekt durch den Kontrast zwischen dem Original, in dem ein äußerst düsteres Portrait des Justizsystems gezeichnet wird, und dem Zieltext, der deutlich humoristisch überzeichnet ist, weshalb man von einer parodistischen Beziehung zu Bernhard sprechen kann. Dieser parodistische Bezug kann als Form der gemischten Parodie verstanden werden, wie sie Genette in Palimpsestes10 beschreibt und die YenMai Tran-Gervat wie folgt charakterisiert: „[Ce rapport parodique repose sur le souhait] de mettre à nu des procédés ‚mécanisés‘, caractères usés d’un genre ou d’un style donné, et de les réinvestir dans un nouveau contexte, où leur reconnaissance par le lecteur s’accompagne d’un effet comique.“11 Der Satz, der auf die „Tausende, Millionen und Milliarden“ Verträge hinweist, ist eine Gradation. Bei Thomas Bernhard dient die Gradation oft der Übertreibung, Karikatur oder Iro-

|| 7 Thomas Bernhard: Korrektur, S. 183f. 8 Nicole Filion: Noces villageoises, S. 74f. 9 Thomas Bernhard: Corrections (französische Übersetzung von Albert Kohn). Paris 1978, S. 234f. 10 Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris 1982. 11 Yen-Mai Tran-Gervat: Pour une définition opérationnelle de la parodie littéraire: parcours critique et enjeux d’un corpus spécifique. In: Cahiers de narratologie 13 (2006): http://narrato logie.revues.org/372 [abgerufen am 26.5.2016].

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nie, um verschiedene negative Erscheinungen hervorzuheben und so zu denunzieren. Als Beispiel kann das Thema des Suizids im österreichischen Kontext genannt werden. Als die Nation mit der höchsten Selbstmordrate werden die Österreicher bei Bernhard buchstäblich ununterbrochen von Selbstmordgedanken heimgesucht. In einigen Werken setzt Bernhard spezifische rhetorische Mittel ein, um die andauernde Präsenz von Suizidgedanken auszudrücken: Wiederholung von Superlativen, übersteigerter Gebrauch von Zeitadverbien, die sich auf die Ewigkeit beziehen, oder auch von Präpositionen, die Entbehrung oder Exklusion ausdrücken. Indem Filion den Satz herausgreift, der die „Tausende, Millionen und Milliarden“ von Verträgen thematisiert, und in einen Kontext von Spott und Ironie überträgt, scheint sie genau die stylistischen Verfahren zu identifizieren, die bei Bernhard das Gefühl von Ausweglosigkeit vermitteln und zugleich die kritische Tragweite seiner Äußerungen abschwächen. Bernhard soll dadurch nicht im Sinne der Parodie lächerlich gemacht, sondern es soll vielmehr auf die schöpferischen Mittel des österreichischen Schriftstellers rekurriert werden. Die parodistische Dimension bleibt dabei reduziert, da Bernhards stilistische Verfahren nicht völlig umgeformt werden. Dennoch hat man es mit einer parodistischen Beziehung zu tun, im Sinn einer „réécriture ludique d’un système littéraire reconnaissable (texte, style, stéréotype, norme générique…), exhibé et transformé de manière à produire un contraste comique“12. Im Roman Korrektur wird ein erbarmungsloses Justizsystem kritisiert und Bernhard führt vor, wie die Hinnahme einer sterilen und äußerst bürokratischen Justiz psychologische Verzweiflung, ja sogar den Tod zur Folge haben kann. In Noces villageoises ist das System nicht so mörderisch. Die Funktionsweise des quebecer Justizsystems erscheint dort zwar unverständlich, schwerfällig und ineffizient, die recht blödsinnige Geschichte des Wegerechts und die gerichtlichen Scherereien, die darauf folgen, erscheinen jedoch zu albern, als dass damit eine bedrohliche Charakterisierung des Justizsystems einherginge. Wenn es eine „erneuernde Funktion der Wiederholung“ („fonction rénovatrice de la répétition“13) im parodistischen Gestus von Filion gibt, so erkennt der mit Korrektur vertraute Leser darin eher das Potential der Ineffizienz des Stils und der Poetik Thomas Bernhards. Denn die Übertreibung und die unablässige Wiederholung, die für Bernhards Schreibweise charakteristisch sind, laufen meist nur auf den Humor oder das Absurde hinaus. Um diesen Aspekt der Ineffizienz, den die Kritik in Bernhards Werken nicht immer bemerkt hat, zu betonen, integriert Filion den

|| 12 Ebd. 13 Ebd.

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Verweis auf Bernhard in das Universum ihres Romans, in dem das Unsinnige und das Burleske Vorrang vor einer ganz und gar unseligen Diagnose haben. In einer anderen komischen Episode von Noces villageoises fragt sich die Erzählerin im Gespräch mit einer gewissen Catherine, inwiefern ihr Anwalt das Recht hat, das Affidavits in Rechnung zu stellen, das sie selbst aufgesetzt hat. Das bereits zuvor genutzte Zitat aus Korrektur wird an dieser Stelle von neuem herangezogen: Et je soupire à mon tour. Les honoraires ne devraient-ils pas honorer un résultat effectif? „Avoir le notaire à l’œil et lui payer ses honoraires seulement d’après son résultat effectif et non d’après les prescriptions officielles et légales (et les opinions notariales). Les honoraires doivent honorer un succès effectif“, écrit Thomas Bernhard, page 184.14

Im Dialog, aus dem das Zitat entnommen ist, geht es darum, dass der Anwalt Geld für etwas verlangt, das gar nicht von ihm selbst, sondern von seinen Mandanten ausgeführt worden ist. Der Sachverhalt wird so dargestellt, dass das Lächerliche der Situation hervorgehoben wird, und nicht – wie so oft bei Bernhard – ihre Bedrohlichkeit, die letztlich bei den Opfern des Justizsystems zur Verzweiflung führt. Filion macht in ihrem Roman außerdem Gebrauch von humoristischen Fragespielen, die sie als gestalterisches Mittel einsetzt. Auch das spricht dafür, das Werk unter dem Gesichtspunkt einer (metafiktionellen) parodistischen Beziehung zu Bernhard ins Auge zu fassen. Neben der Verwendung von erläuternden Fußnoten und einem Personenregister, die als eine Art humoristischen Appell an die Adressaten verstanden werden können, enthalten die Noces villageoises auch Zusammenfassungen und Fragen am Ende von manchen Kapiteln, die an Schulaufgaben erinnern. Eine dieser Schulaufgaben weist direkt auf Thomas Bernhard hin: Quel est le taux d’intérêt préconisé par Le Bâton en ce qui concerne les honoraires professionnels des avocats? Qu’est-ce qui justifie ce taux, à votre avis? Résumez l’opinion de Thomas Bernhard à ce sujet. (Qui est Thomas Bernhard?)15

An diesem Beispiel kann man deutlich die reflexive Dimension des Romans erkennen, was das interkulturelle Potenzial der Parodie betrifft. Denn obwohl die Frage zu Bernhard zunächst einen spielerischen Aspekt aufweist, besteht ihre Funktion vor allem darin, an einen Schriftsteller zu erinnern, der ebenfalls eine

|| 14 Nicole Filion: Noces villageoises, S. 100. 15 Ebd., S. 130.

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Satire über das Justizsystem verfasst hat. Der literarische Text wird hier gewissermaßen zum Wissensspeicher, ausgerichtet auf die Konzeptionalisierung eines interkulturellen Gedächtnisses: Gerade die Frage „Wer ist Thomas Bernhard?“ weist darauf hin, dass sich die Autorin bewusst ist, dass sie sich an ein Publikum richtet, das den österreichischen Schriftsteller wahrscheinlich nicht kennt – von einer gewissen gebildeten Elite abgesehen. Gleichzeitig stellt sich Filion damit neben Bernhard und sieht sich in einer Reihe mit dem Schriftsteller, der die Härte der Gesetze seiner Gesellschaft und ihre Ungerechtigkeit angeprangert hat. Der Schriftsteller und das parodierte Werk werden somit Teil einer quebecer Rezeptionskultur, in der sie sonst unbekannt geblieben wären.16 Zu den Textsignalen für Parodie gehören nach Margaret A. Rose die Mittel des „direct statement“, die „comments on the parodied text or on the author of the parody, or on their readers17“, „comments on or to the reader of the parody“18, und „comments on the parody as a whole text“19 enthalten. Diese Mittel heben auch den wesentlichen, komischen Effekt der Diskrepanz zwischen dem Original und seiner Parodie hervor.20 Die Einbindung der Frage, in der Bernhard explizit erwähnt wird, verweist bei Filion auf die Strategie des „direct statement“. Damit ist auch schon der eingangs angesprochene Aspekt der „offenen“ Hypertextualität in Filions Roman berührt. Folgt man Samoyault, können intertextuelle Verweise als „Vermittler“ zwischen Text und Welt fungieren. Noces Villageoises nutzt das „direct statement“, um auf einen interkulturellen Aspekt im Roman hinzuweisen; da nur wenige Menschen in Quebec Thomas Bernhard kennen oder gelesen haben. Nach Samoyaults Systematik, handelt es sich um einen Fall von „offener Intertextualität“: „L’intertextualité ouverte permet de voir dans les textes, au-delà de leurs caractères propres, des signes du monde: sans être directement référentiels, ceux -ci renvoient au monde comme généralité.“ 21 Wichtig ist bei dieser Form von Intertextualität, dass das Verfahren transparent gehal-

|| 16 In Parodietheorien wird üblicherweise die Parodie als eine Form der literarischen Adaption vorgestellt, die im Vergleich zu anderen viel leichter als solche zu erkennen ist. Sie gehen davon aus, dass die Parodie auf der Wiederaufnahme (oder der „Veruntreuung“) eines Textes basiert, der von einer breiten Leserschaft wohlbekannt ist. Vgl. zum Beispiel Annick Bouillaguet: L’écriture imitative, S. 152. In Anbetracht dieser Feststellung ist Filions Ansatz bemerkenswert, denn sie nimmt explizit die gegenteilige Position ein, was die Aspekte des Kulturtransfers und die Bedeutung des quebecen Rezeptionskontexts unterstreicht. 17 Margaret A. Rose: Parody, S. 38. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 36f. 21 Tiphaine Samoyault: L’intertextualité, S. 86f.

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ten wird, etwa durch einen Hinweis auf den ‚realen Gegenstand‘ (etwa Buch oder Bibliothek), dem der parodierte Text entnommen ist. In den oben erwähnten Fragen und Aufgaben nimmt Filion zwar auf keinen ‚realen Gegenstand‘ Bezug, dafür verweist sie auf den ‚realen‘ Schriftsteller, zweimal überdies, und sie geht sogar so weit, seine Existenz anzuzweifeln. Ein weiteres Bernhard-Zitat verweist durch eine „offene Hypertextualität“ auf Korrektur – wenn man von der Systematik Samoyaults ausgeht und sie auf diesen Fall von expliziter Hypertextualität anwendet: „‚Les honoraires doivent honorer un succès effectif‘, écrit Thomas Bernhard, page 184.“22 Hier wird das intertextuelle Verfahren definitiv ‚offen‘ gehalten, weil auf die genaue Seite des Buches, aus dem die Formulierung gezogen ist, verwiesen wird. Die Verwendung der referentiellen Hinweise ist konkret: Sie verstärkt die Verbindung zu Korrektur und erlaubt es Filion, auf die tatsächliche Existenz des Werkes hinzuweisen (und damit auch des Schriftstellers, der dahinter steht). Wann man Noces villageoises als Ganzes betrachtet, dann kann man die Frage „Qui est Thomas Bernhard?“ tatsächlich als konkreten Hinweis bzw. als Mittel der Hypertextualität deuten, eine Hypertextualität, die als Metafiktion zu verstehen ist. Mit der Frage „Qui est Thomas Bernhard?“ bezieht sich der Text unter Bezugnahme auf die Existenz des ‚echten‘ Schriftstellers Thomas Bernhard der Welt außerhalb der Diegese. Durch diese Frage öffnet der Text aber auch eine interkulturelle Perspektive: Denn durch sie wird Quebec als ein kultureller Ort vorgestellt, dessen Kenntnis über wichtige Autoren der Weltliteratur des zwanzigsten Jahrhunderts begrenzt ist. In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, dass die Satire des Justizsystems in Noces villageoises bis in alle Einzelheiten fest im quebecer Kontext verankert ist: Les avocats sont inquiets, lit-on à la une du journal. […] En réalité, Le Bâton s’oppose à ce que des pouvoirs jusqu’ici exclusivement réservés aux greffiers et aux juges soient étendus aux quelques 3500 notaires du Québec. Ce qui m’inquiète, moi, c’est qu’il y ait 3500 notaires au Québec! On aurait souhaité qu’ils réservent leurs activités pour les grands centres comme le font les médecins, mais non! Il semble que chaque municipalité ait le sien. L’IsleVerte, par exemple! Un village paisible, presque endormi, en bordure du fleuve. Eh bien, il y a un notaire à L’Isle-Verte! Si je le sais avec une telle certitude, c’est que nous y sommes passés, l’été dernier, et que nous y avons découvert une sorte d’enclave avec pancartes, drapeaux et oriflammes; on se serait cru sur le petit chemin!23

|| 22 Nicole Filion: Noces villageoises, S. 100. 23 Ebd., S. 105.

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Der Hinweis auf L’Isle Verte, eine Gemeinde von gerade einmal 1300 Einwohnern am Südufer des Saint-Laurents, trägt hier zur Verankerung des Romans in einem ländlichen Horizont bei, was der Haupthandlung entspricht: Diese spielt ebenfalls in einem abgelegenen Dorf in Quebec, dessen Name zwar unbekannt bleibt, von dem man aber vermutet, das es entfernt von größeren Städten liegt und sich keineswegs als offen für Fragen der kulturellen Diversität erweist. Vor dem Hintergrund dieses provinziellen Universums, in dem unter Ortsansäßigen sonst nur alltägliche Gespräche geführt werden, wird der Hinweis auf Thomas Bernhard selbst den gebildeten quebecer Leser verwundern. Es handelt sich hier um eine interkulturelle – oder vielmehr Kultur transferierende – „Hypertextualität“. Filion imitiert den kanonischen Text vor allem deshalb, weil sie darin eine soziokulturelle Problematik erkennt – die Schwachstellen des (österreichischen) Justizsystems – und durch das Mittel der Fiktion vorschlägt, diese Problematik auch auf den quebecer Kontext zu übertragen. Die Übernahme der Zitate von Thomas Bernhard in Filions Roman dient zwar dazu, eine häufig ins Karikaturhafte gleitende Stimmung zu schaffen; die Schriftstellerin sieht im österreichichen Autor aber vor allem einen Verbündeten bei der Kritik der quebecer Lebenswirklichkeit. Ungeachtet der Tendenz zu einer gewissen Ungezwungenheit, hat die Satire des Justizsystems in den Noces villageoises eine erhebliche Tragweite. Die satirische Intention macht in Filions Roman den Text im Kern aus. Bei Bernhard dagegen ist der Roman nicht als systematische Satire der Justiz angelegt. Denn die typischen Themen Bernhards wie Erbe, Suizid, Suche nach Perfektion und absoluter Erkenntnis in der Wissenschaft spielen, wie oben bereits erwähnt, in Korrektur eine zentralere Rolle als die Kritik der Justiz. Demnach kann hier nicht von einer „umfassenden Parodie“ von Bernhards Roman gesprochen werden. Im Gegenteil, die parodistische Beziehung zielt nicht auf eine umfassende Transformation des Ausgangstextes ab, sondern bleibt sehr spezifisch und vor allem auf Fragen der Justiz gerichtet. Trotzdem sind die Verweise auf Bernhard als parodistisch zu bezeichnen, denn ihre Übertragung in einen dezidiert burlesken Kontext zeigt, dass Filion sich von den düstersten Seiten der Sicht Bernhards auf die Justiz distanziert. Es geht der quebecer Schriftstellerin vor allem darum, Bernhards Kritik an der Institution der Justiz weiterzuführen – allerdings mit etwas anderen, weniger scharfzüngigen Mitteln.

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2 Zur Form der parodistischen Beziehung – einige theoretische Vorschläge Nach diesen Beispielen und Bemerkungen ganz nah am Text, soll nun Noces villageoises genauer im Verhältnis zu wesentlichen Charakteristika der Parodie betrachtet werden. Wie bereits erwähnt, hat sich die quebecer Schriftstellerin nicht für eine „umfassende Parodie“ („parodie intégrale“24) entschieden, die Annick Bouillaguet vom „parodistischen Zitat“ („citation parodique“) unterscheidet. Würde also der Begriff des „parodistischen Zitats“ im Sinne Bouillaguets für die beiden mehr oder weniger direkten Zitate aus dem Text von Bernhard zutreffen? Auf den ersten Blick könnte man geneigt sein, diesen Vorschlag zu übernehmen, der vom Begriff des regulären („kanonischen“) Zitats abgeleitet wird: Le recours, en littérature, à la citation canonique, suppose le déplacement d’un fragment du texte premier dans un texte second. L’opération induit nécessairement un changement de contexte, qui ne peut qu’altérer le sens premier. Lorsque cette altération est consciemment recherchée, et que le détournement est flagrant, la citation devient parodique.25

Im Hinblick auf die Bedeutung der Rekontextualisierung ist dieser Theorieansatz überzeugend; Bouillaguet ist jedoch der Ansicht, dass diese Rekontextualisierung allgemein im Sinne einer Abwertung erfolgen muss („s’opère généralement dans le sens de la dévalorisation“26). Dagegen ist einzuwenden, dass es auch möglich ist, einen Text zu parodieren, ohne ihn herabzuwürdigen oder auch in eine kritische Auseinandersetzung mit ihm zu treten. Warum sollte es nicht möglich sein, eine spielerische Position einem Text gegenüber einzunehmen, von dem man manche Aspekte ablehnt, aber grundsätzlich andere Dimensionen wertschätzt? Der Ansatz Bouillaguets eignet sich daher weniger dazu, Fälle einer tatsächlichen Affiliation mit den Mitteln der Parodie zu betrachten. Auch die Ausführungen zur Parodie bei Linda Hutcheon scheinen für eine Analyse von interkulturellen Parodien der Klassiker nicht sehr produktiv zu sein. Denn Hutcheon definiert die Parodie in der Tat als „a form of repetition with ironic critical distance, marking difference rather than similarity“27. Sie unterstreicht also, dass es etwas wie eine „paradoxical essence“ im parodistischen

|| 24 Annick Bouillaguet: L’écriture imitative, S. 22. 25 Ebd., S. 67. 26 Ebd., S. 95. 27 Linda Hutcheon: A Theory of Parody, S. xii.

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Gestus gibt, „between conservative repetition and revolutionary difference“28, doch auch bei Hutcheon dominiert die Vorstellung der Abweichung und radikalen Distanzierung. Müssen nun aber die ironische Umkehrung, die Hutcheon wichtig ist, der Humor und die Satire in erster Linie Ablehnung und Diskrepanz voraussetzen? Bei Michele Hannoosh ist dagegen zu begrüßen, dass die Parodie als eine Form produktiver Aneignung angesehen wird: Die Haltung des Autors der Parodie wird bei ihr beschrieben als „necessarily both irreverent and admiring, daring to alter an established text and revising it so as to serve his purposes; the parody must both play with it and reaffirm it, ‚destroy‘ it in its original form and renew and revitalize it in another one“29. Auch wenn Hannoosh diese ambivalente Positionierung dem parodierten Werk gegenüber anführt, so setzt die wichtigste Definition eine Veränderung der charakteristischen Aspekte des Hypotextes voraus: „I shall use the term parody to denote the comical reworking and transformation of another text by distortion of its characteristic features.“30 Eine „Verzerrung“ der signifikantesten Aspekte der Werke des Kanons – diese Vorstellung ist weit entfernt vom Anliegen Filions, mit den Mitteln der Parodie ein konstruktives Gedächtnis zu begründen, das kulturelle und literarische Räume überschreitet. Filion macht sich freilich auch über einige Aspekte des parodierten klassichen Werks lustig, aber eine solche Haltung kann nicht als unbedingt konstitutiv für ihre Vorgehensweise betrachtet werden. Es kann also nicht von einer radikalen Distanzierung gegenüber Bernhard die Rede sein, wie bereits gezeigt wurde. Für den Fall interkultureller Parodien erscheint dagegen der Ansatz von Margaret A. Rose vielversprechend. Denn bereits 1979 beschrieb sie die Parodie als „the critical quotation of preformed literary language with comic effect, and, in its general form, the meta-fictional ‚mirror‘ to the process of composing and receiving literary texts“31. Das „literarische Material“ kann verschiedener Art sein; aber wenn (literarische) Texte als Ausgangspunkt dienen, versteht Rose die Parodie im Sinne eng verflochtener Verzweigungen – wie beim Einsetzen von Zitaten mit komischer Funktion. Für den hier betrachteten Fall haben die Hypothesen von Rose den Vorteil, dass sie Parodie und Metafiktion in Verbindung bringen; darüber hinaus legt die Autorin dar, dass im parodistischen Schreiben

|| 28 Ebd., S. 7. 29 Michele Hannoosh: Parody and Decadence, S. 16. 30 Ebd., S. 9. 31 Margaret A. Rose: Parody//Meta-fiction, S. 59.

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per se die Einschreibung und Zirkulation der literarischen Werke in einer spezifischen Kultur zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt inszeniert wird.32 In der parodistischen Verbindung zwischen Noces villageoises und Korrektur wird auf die Frage der Rezeption oder der „Präsenz“ eines ausländischen literarischen Werks im sozialen Kontext und der literarischen Tradition Quebecs mit der bereits erwähnten Frage „Qui est Thomas Bernhard?“ aufgegriffen. Nicht alle Parodisten verorten sich in solch direkter Weise im Metafiktionellen; aber es kann angenommen werden, dass Verfahrensweisen, mit denen Parodie und Metafiktion eng verknüpft werden, geradezu prädestiniert dafür sind, um so etwas wie eine „interkulturelle Hypertextualität“ zu begründen. Bei Filion nimmt die Metafiktion verschiedene Formen an: Fußnoten oder geradezu absurd erscheinende erläuternde Zusammenfassungen, ein komisch ausgestaltetes Personenregister im Anhang und mitunter Selbstreferenzialität. Das parodistische Verfahren richtete sich bei Filion mit Hilfe von Codes an den Leser, die dieser mit dem „Kodierer“ („encoder“33) teilt (oder eben gerade nicht teilt; denn man muss davon ausgehen, dass Bernhard den quebecer Lesern nicht bekannt ist). Die Tatsache, dass die metafiktionale Parodie ohne Umschweife den „Dekodierer“ („decoder“34) durch die erwähnten Aufgaben direkt anspricht, umreißt in erster Linie den dazugehörigen kulturellen Kontext, der sich als nur wenig mit den großen Autoren einer Weltliteratur des 20. Jahrhunderts vertraut herausstellt, die nicht nur französisch- und englischsprachige Werke umfasst.35 || 32 Ebd., S. 66. 33 Ebd., S. 107. 34 Ebd. 35 Innerhalb der Minderheitenkulturen geben Beziehungen zu den großen Werken der Weltliteratur oder mit der ausländischen Literatur oft Anlass zu Kontroversen. Wie Noces villageoises 2002 erschienen, beschreibt der Roman Ça va aller der quebecer Schriftstellerin Catherine Mavrikakis in einer sehr bissigen Art und Weise die literarische Institution Quebecs als egozentrisch – eine Institution, deren Vertreter, seien es Autoren oder Professoren, sich verpflichtet fühlten, sich ständig zu rechtfertigen. Vgl. Catherine Mavrikakis: Ça va aller. Montreal 2002. Im Fall des Romans Ça va aller geht es insbesondere darum, eine Haltung von quebecer Intellektuellen und Künstlern darzulegen, die darauf bestehen, zu beweisen, dass Québec auch über wichtige, wesentliche Künstler und Schriftsteller verfüge. Durch Erwähnung oder Zitat nimmt Filion eine Haltung gegenüber den bekannten ausländischen Schriftstellern ein, die man als „ungehemmt“ bezeichnen könnte. Ein solcher „ungezwungener“ Blick, mehr respektlos als ehrfürchtig, ist in Quebec verbreitet, wenn es darum geht, die großen Meister zu schildern – während ein solcher Blick in anderen Kulturen quasi nicht vorhanden ist. Das belegen Arbeiten zur Shakespeare-Rezeption in Quebec: Bereits ab den 1950er Jahren hat die quebecer Literaturkritik den Ausdruck „der große Will“ („le grand Will“) angenommen, um Shakespeare zu erwähnen. In ihrem 2000 erschienenen Buch hat Leanore Lieblein auch gezeigt, dass ein solcher Ausdruck „continue à être utilisé, spécialement par les journalistes et les critiques, jusqu’à ce jour“. Analog

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In seinem Essay zur vergleichenden Geschichte Genèse des nations et des cultures du Nouveau Monde,36 in dem er sich mit der Entwicklung von kollektiven Vorstellungswelten und Identitäten in den „neuen“ Nationen (Quebec, das anglophone Kanada, die Vereinigten Staaten von Amerika, Lateinamerika, Australien und Neuseeland) beschäftigt, weist Gérard Bouchard auf verschiedene Verfahren kultureller Emanzipation gegenüber der Kultur der Mutterländer hin. Ohne unterstellen zu wollen, dass Filion versucht, sich in den Noces villageoises von einer als „dominant“ angesehenen französischen Tradition abzuwenden, so liegt ihrem Wunsch, die quebecer Literatur für ausländische Einflüsse zu öffnen, doch etwas Einzigartiges inne. In ihrem Roman wird mit Rekurs auf Thomas Bernhard Kritik an der Justiz als Institution geübt, d.h. an einer grundlegenden Struktur der sozialen Organisation in Quebec. Darüber hinaus soll vermittelt werden, dass Bernhard außerhalb von Intellektuellenkreisen in Quebec verkannt ist, und zu einer nationalliterarischen Tradition der österreichischen bzw. der deutschsprachigen Literatur gehört, die nicht zu den üblichen Bezugspolen oder typischen Einflussbereichen der quebecer Literatur(geschichte) gehört. Filion greift nicht nur auf ein Vorbild außerhalb der französischen und angelsächsischen literarischen Tradition zurück, sondern „verwendet“ dieses Vorbild, um eine soziale und fundamentale Institution Quebecs in Frage zu stellen. Sie scheint die Strategie des „Synkretismus“ im Sinne Bouchards produktiv zu machen, der darunter den Zusammenfluss aller möglichen Beiträge und Traditionen versteht, so uneinheitlich und widersprüchlich diese auch sein mögen.37 Unter Berufung auf die Arbeiten von Zilà Bernd erinnert Bouchard daran, dass aus dieser Strategie eine neue, eigene Konfiguration entstehen kann, die sich binären Oppositionen entzieht und eine Art Kultur der Zwischenräume darstellt.38 Wenn ich auf die Hypothesen von Bouchard rekurriere, dann deshalb, weil die anderen intertextuellen Verweise bei Filion – etwa auf die französische Literatur (z.B. Jean Giono, der in Quebec sicherlich viel bekannter als Bernhard ist), auf fremdsprachige

|| dazu existiere kein gleichwertiger Ausdruck in den kritischen Diskursen, die sowohl in Frankreich als auch in der anglophonen Welt Shakespeare gewidmet sind. Leanore Lieblein: Le „Remaking“ of le Grand Will: Shakespeare in Francophone Quebec. In: Shakespeare in Canada: „A World Elsewhere?“ Hg. von Diana Brydon und Irena R. Makaryk. Toronto, Buffalo und London 2002, S. 174–191, hier S. 179. 36 Gérard Bouchard: Genèse des nations et des cultures du Nouveau monde. Essai d’histoire comparée. Montreal 2000. 37 Ebd., S. 375 („la nouvelle culture doit naître de la fusion de tous les apports et de tous les héritages, aussi hétéroclites et contradictoires soient-ils“). 38 Ebd., S. 375–376 („peut conduire à une configuration originale échappant aux oppositions binaires, une sorte de culture des interstices“).

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Texte (z.B. Kafka), oder auch auf einige quebecer Texte – niemals die Tragweite der Referenzen auf Thomas Bernhard einnehmen, die in aller Deutlichkeit Filions Wunsch erkennen lassen, die Erinnerung an Bernhard in den kulturellen Horizont der Quebecer einzuschreiben. Dazu überträgt sie eine literarische Kultur (oder Hochkultur), die durch den Bezug auf Bernhard zum Ausdruck kommt, in eine groteske Geschichte, die in überaus „dörflichen“ Verhältnissen spielt und vom lokalen und sehr familiären Sprachgebrauch geprägt ist („J’te défends d’passer par là!“/ – „J’vais passer pareil!“39). Dennoch geht es nie um die Entweihung Bernhards oder seines Romans, so wie es häufig bei Aneignungen der französischen und englischen Klassiker durch quebecer Autoren der Fall ist – Bouchard formuliert zugespitzt, dass diese geradezu „durch den Dreck der lokalen Kultur, also der populären Alltagskultur, gezogen werden“40. In Filions Roman ermöglicht es die Vermischung von Hochund Populärkultur vielmehr, sich diesen klaren Gegensätzen zu entziehen. Wenn Bernhard also als Verbündeter in der Kritik an die Justiz bemüht wird, so geht es der Autorin jedoch keineswegs um eine Auf- oder Abwertung der literarischen oder gebildeten Kultur. In diesem Sinne ist der hier vorgestellte Roman ein paradigmatisches Beispiel dafür, dass nicht jede Aneignung der Literatur aus als ‚hegemonial‘ verstandenen Kulturräumen im postkolonialen Kontext die Qualität des writing back besitzt. Filions Roman stellt Bernhard als das wichtigste Vorbild für eine Satire des Justizsystems dar – und nicht Kafka. Dies mag verwunderlich erscheinen, da doch die Frage der Justiz im Werk des letzteren einen viel bedeutenderen Platz einnimmt. Filion scheint also eher ein unerwartetes Vorbild ins Zentrum zu rücken, zumal die Romane Kafkas in Quebec über einen größeren Bekanntheitsgrad verfügen als die Bernhards. In kleinen Intellektuellenkreisen besteht aber auch eine Vorliebe für Bernhard. Eine ganze Reihe quebecer Kritiker und Essayisten haben sich für die Frage nach der – je nachdem – möglichen oder unvorstellbaren Existenz eines „Thomas Bernhard québécois“ interessiert. So schrieb beispielsweise Régine Robin 2001 in der Zeitschrift Etudes françaises: Le Québec a réussi ce tour de force de ne pas produire un seul vrai écrivain ou intellectuel dissident, un Thomas Bernhard, un trublion détesté (un Mordecai Richler québécois, je veux dire canadien-français) mais qui marquerait de sa forte empreinte la pensée et participerait, par sa provocation et ses polémiques, à la constitution d’une pensée politique plu-

|| 39 Nicole Filion: Noces villageoises, S. 85. 40 Gérard Bouchard: Genèse des nations et des cultures du Nouveau monde, S. 373 („de [les] traîn[er] pour ainsi dire dans la boue de la culture locale, en l’occurrence la culture populaire au quotidien“).

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rielle ici, qui ne se réduirait pas à l’éternel faux dialogue entre „fédéralistes“ et „souverainistes“… Bla Bla Bla… Des débats, certes, quelques polémiques, mais ne remettant jamais en question un noyau inentamable, celui du nationalisme et de ce qu’il implique.41

Was veranlasst Régine Robin zu dieser Äußerung? Etwa die Überzeugung, dass Quebec lange seine Intellektuellen gebraucht hat, um das Projekt der neu zu gründenden Nation zu unterstützen? Oder geht es ihr um die häufig angeführte These, dass die polemische Auseinandersetzung der Kultur Quebecs völlig fremd sei?42 Ohne hier letztlich eine Entscheidung treffen zu wollen, kann sicherlich festgehalten werden, dass die Literaturkritik seit den 1980er Jahren von der Figur Bernhards fasziniert war: In kulturellen und intellektuellen Zeitschriften in Quebec wurde der österreichische Schriftsteller immer wieder angeführt, um den Bedarf nach einem zutiefst gegen die Institutionen eingestellten Schriftstellers zu diskutieren. Die Position Filions im literarischen Feld in Quebec ist eine ganz andere: Ihr Werk selbst wird von der akademischen Forschung kaum wahrgenommen.43 Das ist insofern erstaunlich, als andere quebecer Autoren, die sich in ihren Werken produktiv mit Bernhard auseinandergesetzt haben, zum Teil bis heute prominente Stellungen im quebecer Literatur- und Kulturbetrieb innehaben. Um nur einige Beispiele zu nennen: Catherine Mavrikakis ist Professorin an der Universität Montreal, ihre Werke werden stets breit rezipiert; Normand de Bellefeuille ist seit langem als Verleger tätig und hat zahlreiche Texte in Zeitschriften wie der Barre du jour oder auch den Herbes rouges veröffentlicht; Diane-Monique Daviau war die einzige wirkliche Germanistin im Zirkel der Zeitschrift Liberté, die sie dazu nutzte, um dem quebecer Publikum deutschsprachige Autoren nahezubringen. Filions Rezipientenkreis ist nicht identisch mit dem Mavrikakis’, De Bellefeuilles oder Daviaus. So erstaunt es auch nicht, dass sie Bernhard wie einen Schriftsteller vorstellt, der einem bestimmten Lesertypus unbekannt ist – einem Leser, der eben nicht zu jenen intellektuellen Zirkeln zählt. Der Fall Filion ist insofern besonders anregend. Die Frage „Qui est Thomas Bernhard?“ könnte man || 41 Régine Robin: Vous! Vous êtes quoi au juste? Méditations autobiographiques autour de la judéité. In: Études françaises 37 (2001) H. 3, S. 111–125, hier S. 122f. 42 Diese Hypothese wurde jedoch in neueren Arbeiten zurückgewiesen, vgl. z.B. Dominique Garand, unter Mitwirkung von Philippe Archambault und Laurence Daigneault-Desrosiers: Un Québec polémique: éthique de la discussion dans les débats publics. Montreal 2014. 43 Das Interesse der Literaturkritik für den Roman Noces villageoises war gering. Ähnliches gilt für die im selben Jahr erschienene Novelle Sans commentaire, die wenig Beachtung von der Kritik erfuhr, obwohl sie ebenfalls eindeutig vom Einfluss Thomas Bernhards zeugt. Nicole Filion: Sans commentaire. In: Histoires à jeter après usage: nouvelles. Paroisse Notre-Dame-desNeiges 2002, S. 177–181.

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vor dem Hintergrund der eben umrissenen literarischen Debatten auch als eine ironische Anspielung an das enge Milieu der quebecen Literaturkritik sehen: Es scheint, als würde Filion, indem sie die Figur des großen Thomas Bernhard unter solch prosaïschen, provinziellen und teilweise komischen Umständen integriert, sich bewusst abseits von einem verschlossenen intellektuellen Mikrokosmos positionieren wollte. Durch metafiktionelle Verfahren, die man als eindeutige Signale an den Leser deuten kann, scheint Filion sich von vornherein als eine Schriftstellerin zu präsentieren, die nicht nur das Intellektuellenmilieu, sondern breitere Rezipientenkreise in Quebec ansprechen möchte. Es kann natürlich nicht einfach behauptet werden, dass Filion sich mit ihrem Roman an die breite Leserschaft wendet um eine größere Hinwendung zu fremden Literaturtraditionen zu fordern. Denn es könnte ihr auch darum gehen, Kritik an den literarischen Institutionen wie Schule, Universität, Verlage auszuüben, die bei der Verbreitung der Weltliteratur in Quebec ihrer Aufgabe nicht gerecht werden. Die Hinweise auf Bernhard sind so gestaltet, dass sie zum Nachdenken über die Kenntnis bzw. Unkenntnis seiner Werke in Quebec anregen, sowie über die Schwachstellen, die noch zu Beginn der 2000er Jahre in der Rezeption und der Verbreitung fremder Texte – abgesehen von der französisch- und englischsprachigen Literatur – bestehen. Daher kann man im Fall der Noces villageoises von einer für Interkulturalität offenen Hypertextualität sprechen.