Paulus beispiels-weise: Selbstdarstellung und autobiographisches Schreiben im Ersten Korintherbrief 3110500388, 9783110500387

Gibt es einen roten Faden, der den gesamten 1. Korintherbrief durchzieht? Diese Studie findet das kohärenzstiftende Elem

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Paulus beispiels-weise: Selbstdarstellung und autobiographisches Schreiben im Ersten Korintherbrief
 3110500388, 9783110500387

Table of contents :
Danksagung
Inhalt
Einleitung – Fragestellung und Positionierung
Teil A. Grundlegung
Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen – Annäherungen an Paulus als Autobiograph
Kapitel 2: Wer spricht in den Paulusbriefen?
Kapitel 3: Das Bild des Weisen in der Antike – Erscheinungsformen und Entwicklung
Kapitel 4: Die Gemeinde in Korinth und das Phänomen der Weisheit
Teil B. Die Selbstdarstellung des Paulus im Ersten Korintherbrief
Kapitel 6: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 1–4
Kapitel 7: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 5–6
Kapitel 8 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 7
Kapitel 9 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 8,1–11,1
Kapitel 10 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 11,2–34
Kapitel 11 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 12,1–14,40
Kapitel 12 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 15
Kapitel 13 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 16
Zusammenfassung, Ausblick und Fazit
Literaturverzeichnis
Stellenindex
Sachwortverzeichnis

Citation preview

Dominik Wolff Paulus beispiels-weise

Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft

Herausgegeben von Carl R. Holladay, Matthias Konradt, Hermann Lichtenberger, Judith Lieu, Jens Schröter und Gregory E. Sterling

Band 224

Dominik Wolff

Paulus beispiels-weise

Selbstdarstellung und autobiographisches Schreiben im Ersten Korintherbrief

ISBN 978-3-11-050038-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049876-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049774-8 ISSN 0171-6441 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Für Miriam: „You and me, time and space.“

Danksagung Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner am 28. Januar 2015 verteidigten Göttinger Dissertation. Vom Wunsch ganz zu Beginn, dann von der Idee über die Erarbeitung bis hin zur Fertigstellung des Buches sind einige Jahre ins Land gegangen, sind viele Dinge geschehen. Etliche Menschen haben mich auf meinem Weg begleitet und verschiedentlich gefördert, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Zunächst seien die Personen aus dem akademischen Bereich genannt. An erster Stelle steht hier Professor Dr. Berndt Schaller, dessen Philipperbrief-Vorlesung im Sommersemester 2000 nicht nur den Keim für diese Arbeit legte, sondern auch den für meine Ehe. Ein sehr herzlicher Dank gebührt meinem Doktorvater, Professor Dr. Florian Wilk, der mich in der Zeit der Promotion nicht nur gut betreut und immer wieder zum Denken herausgefordert hat, sondern mir mit der Vermittlung des Promotionsstipendiums die Türen zum Universitätsleben wieder weit öffnete. Professor Dr. Reinhard Feldmeier, meinem Zweitkorrektor, Dr. Frank Schleritt, meinem „Drittbetreuer“, sowie Professor Dr. Bernd Schröder, meinem Drittprüfer, gilt ebenfalls große Dankbarkeit für ihre hilfreiche Begleitung meiner Arbeit. Auch wenn ich den Hinweisen der Gutachter bei der Überarbeitung meines Werkes nicht immer gefolgt bin, habe ich ihre wertvollen Anmerkungen und Anregungen doch sorgfältig bedacht. Als Mitglied und Stipendiat des DFG-Graduiertenkollegs 896 „Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder: Polytheismus und Monotheismus in der Welt der Antike“ bin ich den vielen Kollegiatinnen und Kollegiaten und allen Beteiligten sehr zu Dank verpflichtet. Gerade durch meinen Gang aus dem Berufsleben zurück an die Universität ist mir einmal mehr deutlich geworden: Es ist ein unermessliches Privileg, gemeinsam denken zu dürfen und dafür sogar noch finanzielle Unterstützung zu erhalten. Ebenso möchte ich mich bei den Mitgliedern des neutestamentlichen Doktorandenkolloquiums in Göttingen bedanken, deren Anregungen mich in meinem Nachdenken und Forschen oftmals weitergebracht haben. Die Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG) hat mich zum Ende der Arbeit hin dankenswerterweise ebenfalls mit einem Stipendium unterstützt. Weiterhin möchte ich Professor Dr. Luke T. Johnson, Professor Dr. Steven J. Kraftchick sowie Professor Dr. Carl R. Holladay danken, mit denen ich wertvolle Gespräche während eines Forschungsaufenthaltes an meiner alten Wirkungsstätte, der Emory University in Atlanta, führen durfte. In diesen Dank sei auch Professor Dr. Jonathan Strom eingeschlossen, der mir erneut in Atlanta ein herzliches Willkommen bereitete.

VIII

Danksagung

Den Reigen des wissenschaftlichen Dankes beschließe ich mit den Reihenherausgebern der BZNW, die ebenfalls wertvolle Hinweise zur Verbesserung meiner Arbeit lieferten, sowie dem DeGruyter-Team, hier besonders Herrn Johannes Parche: In dieser Reihe veröffentlicht zu sein, erfüllt mich – ganz unpaulinisch – mit Stolz. Die Freude und die Bereitschaft zur Arbeit an diesem Buch wäre nicht möglich gewesen ohne wichtige Begleiter in meinem persönlichen Umfeld: Meine Eltern StD a.D. Dipl.-Ing. Ernst-Dietrich Wolff und Dipl.-Ing. Sigrun Wolff waren mit Rat, Fragen, Liebe und Tee stetig mit dabei. Wie bei allen wichtigen Etappen im Leben machte mir mein bester Freund PHK Matthias Kölling immer wieder Mut. Gisela Marcellos (meine „Tante aus Amerika“) sowie ihr Mann Peter erleben die Veröffentlichung dieses Buches leider nicht mehr mit; ohne ihre fröhliche und unkomplizierte Unterstützung über viele Jahre wäre ich aber wohl nie so weit gekommen. Meine Schwiegermutter Renate Schmidt-Thiele hat, gerade in Stoßzeiten, uns oft sehr entlastet und unterstützt. Bei Christel Lüdecke und Dietmar Thiele fand ich nicht nur ein Quartier in Göttingen, sondern fast schon ein Zuhause. Für praktische und spielerische Auszeiten war die gesamte Familie Schacht-Märker immer wieder da. Unsere „Göttinger“ Freunde StR’ Sabine und Andreas (†) Sommer boten stets einen Anlauf- sowie (mit Geri) einen Auslaufpunkt für viele gute Gespräche und Zeiten der Entspannung. OStR a.D. Jürgen Timmann, in dessen Haus in St. Peter-Ording einst die ersten Zeilen dieser Arbeit entstanden, hat zum Abschluss hin mit seinem pädagogisch freundlich-kritischen Blick mir und diesem Buch wohl einen größeren Dienst geleistet, als er selbst es wohl ahnte. Allen diesen Menschen (und vielen weiteren) gilt meine Dankbarkeit. Letztendlich haben sie mich einmal mehr daran erinnert, dass Theologie – und in ihr durchaus auch die exegetischen Disziplinen – eine Anwendungswissenschaft ist. Ohne OStR’ Miriam Schmidt-Wolff, wunderbare Freundin, kluge Ehefrau und fantastische Begleiterin, wäre dies alles aber nichts. Ihre Ermunterung, Ansporn, Vertrauen und Liebe in allen Höhen und Tiefen haben mir gut getan und tun mir gut. Für all dies und so viel mehr sei ihr dieses Buch gewidmet.

Inhalt Einleitung – Fragestellung und Positionierung 1  Die Formulierung der Fragestellung 1  Forschungsgeschichtliche Positionierung 7

Teil A

Grundlegung

Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen – Annäherungen an Paulus als Autobiograph 17 17  Das Selbst in der Antike – Wege zur Person des Paulus . Annäherungen an die Person des Paulus 17 . Begriffsklärungen 27 28 . Die paulinische Persönlichkeit . Die Person des Paulus 31 . Die persona des Paulus 32 . Antike Rhetorik und Epistolographie 34 42 . Zum Ethos des Schreibers . Die rhetorische persona 45 . Zusammenfassung 48 49  Die Formen der literarischen Selbstdarstellung in der Antike . Paulus – Ein Mann zweier Welten 50 . Zum Verhältnis von Autobiographischem und Selbstdarstellung 51 . Tendenzen autobiographischer Texte – von der Apologie zur 56 Beratung 61 . Autobiographische Formen in der paganen Literatur .. Hypomnemata 62 .. Reden 63 .. Briefe 65 . Die Briefe des Paulus als Selbstdarstellungen in autobiographischer Absicht 69 . Selbstdarstellungen im jüdischen Bereich 73 .. Selbstdarstellungen in der Schrift 73 .. Selbstdarstellungen im jüdischen Umfeld des Paulus 79 . Zum Wahrheitsanspruch von Selbstdarstellungen 84 87 . Zusammenfassung

X

Kapitel    . . .  .  

Inhalt

2: Wer spricht in den Paulusbriefen? 89 89 Das Problem Ein Lösungsansatz – Karl Dicks „schriftstellerischer Plural“ Kritik an Dick 94 Kritik am Terminus 95 96 Kritik an der Psychologisierung Kritik an den Belegen 103 105 Doch eine globale Lösung? Laurent oder Zahn? Sind die Mit-Absender auch Mit-Verfasser der Briefe? 113 Das Ich bei Paulus 115 116 Zusammenfassung

90

Kapitel 3: Das Bild des Weisen in der Antike – Erscheinungsformen und Entwicklung 118  Religionsgeschichte als Zugang 118 . Der Weise als allgemein religiöse Erscheinung 119 124 . Der Hellenismus und die Weisen . Die Kaiserzeit und die Weisen 130  Die Gestalt des Weisen in der Philosophie der Kaiserzeit 134 . Zu den Quellen im paganen Bereich 134 135 . Die Gestalt des Weisen in der Philosophie der Kaiserzeit .. Der Weise Sokrates in der Darstellung des Xenophon 139 .. Der Weise nach den philosophischen Hauptrichtungen im 142 Hellenismus ... Der Weise nach Platon 146 ... Der Weise nach Aristoteles 147 ... Der Weise nach der Stoa 148 ... Der Weise nach Epikur 154 .. Zusammenfassung 156 . Die Gestalt des Weisen im hellenistischen Judentum 157 .. Der Weise nach Ben-Sira 159 .. Der Weise nach Flavius Josephus 160 .. Der Weise nach Philo Alexandrinus 161 .. Der Weise nach der Sapientia Salomonis 168 .. Zusammenfassung zum jüdischen Weisenbild 176 177 . Der Weise in der außerpaulinischen Christusbewegung (Q) .. Q 10,21 – 22 179 .. Q 11,49 – 51 180 . Äußerlichkeiten des Weisen 182 . Fazit 184

Inhalt

Kapitel    

4: Die Gemeinde in Korinth und das Phänomen der Weisheit 186 Die Stadt Die Gemeinde 188 Weisheit in der Gemeinde 192 Zusammenfassung 196

Kapitel    

5: Grundlegendes zum 1Kor 198 198 Situation und Anlass des 1Kor Das Genre des 1Kor 201 Die Gliederung des Briefes 202 Die durchgehenden Selbstverweise des Paulus im 1Kor mittels 204 κἀγώ Zusammenfassung 207



Teil B Kapitel   . . . .. .. .. . .. .. .. .. . .. .. .. .

XI

186

Die Selbstdarstellung des Paulus im Ersten Korintherbrief 6: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 1 – 4 211 1Kor 1,1 – 3: Das Präskript 211 218 Zur Selbstdarstellung in Kor 1,10 – 4,21 Einordnung und Gliederung 218 1Kor 1,10 – 17: Einleitung 222 225 1Kor 1,18 – 2,5 1Kor 1,18 – 31: Gottes Normen gegen die Weisheit der Welt 225 1Kor 2,1 – 5: Paulus selbst in Korinth (Rückblick I) 228 Die Selbstdarstellung des Paulus in 2,1 – 5 – Deutung 243 1Kor 2,6 – 3,4 247 1Kor 2,6 – 16: Lehrer der Weisheit Gottes für Vollkommene 247 1Kor 3,1 – 4: Paulus selbst in Korinth (Rückblick II) 252 Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 2,6 – 3,4 – Deutung 254 Zum Verhältnis der Selbstdarstellungen von 1,18 – 2 – 5 und 2,6 – 3,4 256 1Kor 3,5 – 4,5 258 1Kor 3,5 – 23: Paulus und Apollos im Hinblick auf Gemeinde und Gericht 258 1Kor 4,1 – 5: Paulus selbst – Beurteilung allein durch den Herrn 266 Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 3,5 – 4,5 – Deutung 269 1Kor 4,6 – 21 270

XII

.. .. .. .  . . . . .

Inhalt

1Kor 4,6 – 13 – Korinther und Apostel 270 1Kor 4,14 – 21: Paulus selbst – Vater der Korinther und ihr 276 Vorbild Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 4,6 – 21 – Deutung Zusammenfassung 1Kor 1,10 – 4,21 281 282 Spuren des Weisen in 1Kor 1 – 4 Spuren des Weisen in 1Kor 1,18 – 2,5 284 286 Spuren des Weisen in 1Kor 2,6 – 3,4 Spuren des Weisen in 1Kor 3,5 – 4,5 289 Spuren des Weisen in 1Kor 4,6 – 21 293 299 Fazit zu den Spuren des Weisen in 1Kor 1 – 4

Kapitel 7: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 5 – 6 302 302  Einleitung  Abgrenzung, Gliederung und genus-Merkmale von 1Kor 5 – 6  Paulus’ Rollen in 1Kor 5 – 6 311 311 . 1Kor 5,1 – 6,11 .. 1Kor 5,3 – 5.9 – 12: Paulus, der Richter 311 .. 1Kor 6,5: Der Weise als Richter bei Paulus 314 .. Spuren des Weisen in 1Kor 5,1 – 6,11 317 317 ... „Die draußen“ ... Der Weise als Richter in hellenistischer Philosophie und Judentum 318 322 ... Paulus als Richter und Weiser . 1Kor 6,12 – 20 324 .. 1Kor 6,12.15: Paulus als Bevollmächtigter 324 .. Spuren des Weisen in 1Kor 6,12 – 20 331 ... Die ἐξουσία des Weisen 331 ... Das Zuträgliche 332 ... Die Freiheit durch Selbstbeherrschung 334  Fazit 335 Kapitel    . . .

8 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 7 Einleitung 337 Aufbau und genus-Merkmale von 1Kor 7 337 339 Einzelzüge von 1Kor 7 1Kor 7,1 – 7 339 1Kor 7,8 – 38 345 1Kor 7,39 – 40 348

337

279

304

XIII

Inhalt

 . . . 

Spuren des Weisen in 1Kor 7 352 352 Die Ehe und der Weise Die Selbstbeherrschung des Weisen Die Meinung des Weisen 356 Fazit 357

Kapitel       . . . . 

9 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 8,1 – 11,1 359 359 Abgrenzung der Texteinheit und Gliederung 1Kor 8,1 – 11: Die Problemlage – Durchgang und Einordnung 362 1Kor 9,1 – 27: Autobiographische Explikation 365 380 1Kor 10,23 – 11,1: Das Fazit Paulus’ Selbstdarstellung in 1Kor 8,1 – 11,1 386 Spuren des Weisen in 1Kor 8,1 – 11,1 387 387 Die Kenntnis des Weisen über die Götter Die Freiheit des Weisen 390 Der Weise als Athlet 392 395 Das Zuträgliche Fazit 395

Kapitel   . .  

10 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 11,2 – 34 397 398 Abgrenzung, Aufbau und genus-Merkmale von 1Kor 11,2 – 34 Einzelzüge der Selbstdarstellung in 1Kor 11,2 – 34 403 1Kor 11,16: Paulus, die Streitsucht, die Gewohnheit und langes 403 Haar 1Kor 11,17 – 34: Paulus, der Mittelsmann der Überlieferungen 409 Spuren des Weisen in 1Kor 11,2 – 34 413 Fazit 416

Kapitel    . . . .  . . 

11 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 12,1 – 14,40 Abgrenzung der Texteinheit und Gliederung 418 1Kor 12 – Durchgang und Einordnung 420 1Kor 13 – Gliederung, Durchgang und Einordnung 424 1Kor 13,1 – 3 426 1Kor 13,4 – 7 432 1Kor 13,8 – 13 434 436 1Kor 13 als epideiktisch 1Kor 14 – Durchsicht der Ich-Aussagen 440 Die Ich-Aussagen in 1Kor 14,1 – 19 440 Die Ich-Aussage in 1Kor 14,37 444 Zusammenfassung der Exegese 445

353

418

XIV

Inhalt



Fazit

447

Kapitel       . . . . . 

449 12 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 15 Zum Aufbau von 1Kor 15 449 1Kor 15,1 – 11: Paulus, der letzte Zeuge 450 458 1Kor 15,12 – 34: Paulus, Zeuge in Lebensgefahr 1Kor 15,50 – 58: Paulus, Geheimnisverkünder 464 467 Zur Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 15 Zur rhetorischen persona als Weiser in 1Kor 15 470 Gnade und Offenbarung 471 472 Die Mühen und das Leiden des Weisen Der Kampf mit den Tieren 474 Unwissenheit und Toren 475 477 Der Weise als Geheimnisträger Fazit 479

Kapitel   

13 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 16 481 Zum Aufbau von 1Kor 16 481 Durchgang 481 Zur Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 16 483

Zusammenfassung, Ausblick und Fazit  Zusammenfassung 486 493  Ausblick  Fazit 495 Literaturverzeichnis 497  Textausgaben und Übersetzungen . Biblica 497 . Judaica 497 . Graeca vel Romana 498  Hilfsmittel 499  Sekundärliteratur 500 Stellenindex

525

Sachwortverzeichnis

544

486

497

Einleitung – Fragestellung und Positionierung 1 Die Formulierung der Fragestellung Die Frage „Wer war Paulus?“ steht im Kern hinter jeder ernsthaften historischkritischen Lektüre seiner Briefe.¹ Es ist die Frage nach der Person, nach dem inneren Wesen dieses besonderen Menschen, der durch eine göttliche Berufung vom Verfolger zum Verkünder des Glaubens an Jesus als den Christus Gottes geworden ist. Auch der vorliegenden Arbeit liegt diese Frage zugrunde. Gleichwohl ist die Frage „Wer war Paulus?“ nicht ohne weiteres zu beantworten, da sie äußerst weit gefasst ist. Um sie einzugrenzen, ließe sich theoretisch in eine bestimmte Richtung weiterfragen, nämlich nach dem Selbstverständnis des Apostels; die Frage lautete dann: „Wer war Paulus für sich selbst?“² Die Schwierigkeiten, die mit solch einer Fragerichtung verbunden sind, sind erheblich. Zwar sind mit seinen Briefen schriftliche Äußerungen von Paulus selbst (wenn man so will als seine vox ipsissima) überliefert, die man im Sinne der Frage untersuchen könnte. Diese stehen jedoch unter dem Vorbehalt, dass sie intentional geschrieben worden sind. Intentionalität stellt in zweierlei Weise einen Vorbehalt gegenüber einer Rekonstruktion des paulinischen Selbstverständnisses dar. Zum einen gilt es zu beachten, dass die Briefe des Apostels an verschiedene Gemeinden in unterschiedlichen Situationen gerichtet sind. Die jeweilige Situation kann ein entsprechend eigenes Eingehen auf die Adressaten erfordern, was Rückwirkungen auf das in dem jeweiligen Brief transportierte Selbstbild hat. Somit ergibt sich in der Summe seiner Briefe nicht notwendigerweise ein einheitliches Selbstbild des Apostels. Zum anderen kann die Intentionalität aufgrund einer bestimmten Situation zur Überdeckung des tatsächlichen Selbstverständnisses des Apostels mittels eines lediglich behaupteten Selbstbildes führen. Unter der Maßgabe bzw. Intention, dass Paulus das feste Band mit seinen Gemeinden nicht lösen will, kann er sich ihnen jeweils und je nach Situation entsprechend anpassen, um sich so ihrer Solidarität zu vergewissern. Im Hinblick auf die angemessene Fragestellung für meine Arbeit tritt somit das Selbstbild an die Stelle des Selbstverständnisses.

 Davon zu unterscheiden ist die präsentisch formulierte Frage „Wer ist Paulus?“ – womöglich erweitert um ein „für mich“ oder „für uns“ –, die einen existentialen Hintergrund hat.  Vgl. etwa T. Holtz, „Zum Selbstverständnis des Apostels Paulus,“ in: ThLZ 91 (1966), 321– 330. Dabei stellt Holtz m. E. überzeugend heraus, dass Paulus’ Verwendung von Jes auf eine besondere Wertschätzung der Gottesknechtsgestalt schließen lässt. In diesem Zusammenhang allerdings von Selbstverständnis zu sprechen, halte ich für gewagt. DOI 10.1515/9783110498769-001

2

Einleitung – Fragestellung und Positionierung

Der Vorbehalt der Intentionalität lenkt also meine Untersuchung weg von der Frage „Wer war Paulus für sich selbst?“ in Richtung der Frage „Wer war Paulus für andere?“ Es geht dabei um die Wahrnehmung seiner Adressaten³ bzw. um die Wirkung, die er bei seinen Adressaten (bzw. den späteren Lesern seiner Briefe) hinterließ. Diese Frage führt zunächst wieder von der Gestalt des brieflichen Paulus weg, obgleich von der Korrespondenz mit seinen Gemeinden nur Schreiben von apostolischer Seite erhalten geblieben sind. Dennoch leistet diese Fragestellung einen wertvollen Beitrag, indem sie den Exegeten dazu veranlasst, einen historisch angemessenen Rahmen für seine Paulus-Deutung zu suchen. Die Frage nach dem Wesen eines Menschen findet ihre Antwort nur innerhalb eines bestimmten Bezugsrahmens. Erst innerhalb dieses Rahmens wird ein Mensch (oder überhaupt ein Objekt) für einen anderen erkennbar.⁴ Somit führt dieser Umstand zugleich zur nächsten Frage: Welcher Bezugsrahmen eignet sich für Paulus (womöglich am besten), um ihm näherzukommen, um ihn besser zu verstehen? In der Forschungsdiskussion sind zu dieser Frage verschiedene Antworten gegeben worden. Die Titel der entsprechenden Arbeiten beinhalten oft ein „Paulus als“,⁵ woran sich der in dem jeweiligen Bezugsrahmen dominierende Aspekt genannt wird, z. B. Paulus als Prophet,⁶ Paulus als Mystiker,⁷ Paulus als Lehrer,⁸ Paulus als Vater bzw. Mutter.⁹

 Wenn ich hier die männliche Form „Adressaten“ verwende, beziehe ich gedanklich auch die Frauen der Gemeinde ein. Man sehe mir nach, dass ich im Interesse der besseren Lesbarkeit und Kürze innerhalb dieses Buches größtenteils nur das Maskulinum für Gruppen aus Männern und Frauen verwende.  Vgl. C. v. Bormann, „Hermeneutik I. Philosophisch-theologisch,“ in: TRE 15 (1986), 117– 131 zu hermeneutischen Grundfragen und Grundlagen; zudem R. Bultmann, „Das Problem der Hermeneutik,“ in: ZThK 47 (1950), 47– 69.  Es gibt selbstverständlich auch zahlreiche Arbeiten, die sich um die Einordnung des Paulus in moderne Verstehenskategorien bemühen. Diese gehen in Richtung einer existentialen Interpretation (vgl. Anm. 1).  Vgl. etwa K. O. Sandnes, Paul – One of the Prophets? A Contribution to the Apostle’s Self-Understanding (WUNT II 43), Tübingen 1991; T. Nicklas, „Paulus – der Apostel als Prophet,“ in: J. Verheyden/ K. Zamfir/ ders. (Hg.), Prophets and Prophecy in Jewish and Early Christian Literature (WUNT II 286), Tübingen 2010, 77– 110; H. Merklein, „Der Theologe als Prophet. Zur Funktion prophetischen Redens im theologischen Diskurs des Paulus,“ in: NTS 38 (1992), 402– 429; S. Grindheim, „Apostate Turned Prophet: Paul’s Prophetic Self–Understanding and Prophetic Hermeneutic with Special Reference to Galatians 3.10 – 12,“ in: NTS 53 (2007), 545 – 565.  Vgl. etwa K. H. Schelkle, „Im Leib oder außerhalb des Leibes. Paulus als Mystiker,“ in: ThQ 158 (1978), 285 – 293.  Vgl. etwa J. Theis, Paulus als Weisheitslehrer. Der Gekreuzigte und die Weisheit Gottes in 1 Kor 1 – 4 (BU 22), Regensburg 1991; Forschungsüberblick bei H. Merkel, „Der Lehrer Paulus und seine

1 Die Formulierung der Fragestellung

3

Um einen historisch angemessenen Rahmen zu finden, ist ein Blick in das Neue Testament als hauptsächliches Überlieferungsmedium paulinischer Traditionen hilfreich.¹⁰ Neben den Paulus-Briefen gibt es im NT zwei weitere Schriften, die auf Paulus Bezug nehmen: die Apostelgeschichte (Apg) sowie der Zweite Petrusbrief (2Petr). Apg zeichnet mittels biographischer bzw. historiographischer Bemerkungen ein Bild des Völkerapostels, geht dabei auf seine Tätigkeit als Briefschreiber (und damit die Briefe selbst) aber gar nicht ein. Das Bild, das sich somit ergibt, weicht allein schon wegen der Ausblendung dieser grundlegenden Kategorie von dem bzw. denen des brieflichen Paulus ab, auch wenn Lukas womöglich doch Kenntnis von den paulinischen Briefen hatte.¹¹ Auf der Suche nach einem Bezugsrahmen zum Verständnis des brieflichen Paulus führt 2Petr weiter. Dieser Brief gehört zu den spätesten Schriften des NTKanons und setzt bei seinen Lesern die Kenntnis der paulinischen Anschreiben voraus.¹² Zum Ende dieser Schrift heißt es (3,14– 16): „Deshalb, Geliebte, da ihr jene Dinge [= den Tag des Herrn und die Neuschöpfung] erwartet, bemüht euch, unbefleckt und ihm [= Gott] gegenüber untadelig in Frieden gefunden zu werden, und haltet die Langmut unseres Herrn für die Rettung, wie auch unser geliebter Bruder Paulus gemäß der ihm gegebenen Weisheit (κατὰ τὴν δοθεῖσαν αὐτῷ σοφίαν) euch geschrieben hat, wie [er] auch in allen (seinen) Briefen [schreibt], da er in ihnen über diese Dinge spricht; in ihnen ist einiges schwerverständlich, was die Ungelehrigen und Ungefestigten verdrehen wie [sie] auch die weiteren Schriften [verdrehen] zu ihrem eigenen Untergang.“

Schüler. Forschungsgeschichtliche Schlaglichter,“ in: B. Ego/ders. (Hg.), Religiöses Lernen in der biblischen, frühjüdischen und frühchristlichen Überlieferung (WUNT 180), Tübingen 2005, 235 – 252.  Vgl. etwa C. Gerber, Paulus und seine ‚Kinderʻ. Studien zur Beziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe (BZNW 136), Berlin / New York 2005.  Zu den Paulusbildern in frühchristlicher Zeit vgl. insgesamt A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion (BHTh 58), Tübingen 1979.  Die Frage, ob Lukas die Paulusbriefe kannte, ist nicht eindeutig zu beantworten. Sicher ist, dass er sie nicht zitiert und ebenso wenig etwas über Paulus als Briefschreiber berichtet. Gleichwohl sagt dies nichts über Lukas’ tatsächliche Kenntnis oder Unkenntnis hinsichtlich der Paulusbriefe aus, vgl. J. Jervell, Die Apostelgeschichte (KEK 3), Göttingen (17)11998, 81– 83.  Zu Einleitungsfragen vgl. H. Paulsen, Der Zweite Petrusbrief und der Judasbrief (KEK 12/2), Göttingen 1992, 89 – 103. Als Entstehungszeit des 2Petr kommt wahrscheinlich das erste Viertel des zweiten Jahrhunderts (vgl. a.a.O. 94) infrage; U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 62007, 462: um 110 n.Chr; H. Conzelmann/ A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament (UTB 52), Tübingen 132000, 428: zwischen 120 und 130.

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Einleitung – Fragestellung und Positionierung

Paulus erscheint hier als jemand, dem von Gott her Weisheit gegeben wurde.¹³ Weisheit wird als Gottesgabe aufgefasst. Dass Paulus in Bezug auf seine göttliche Beauftragung als weise angesehen wird, ist im frühen Christentum nicht ungewöhnlich: Der zeitlich wohl etwas nach 2Petr liegende¹⁴ Brief des Polykarp an die Philipper urteilt ebenso über die uneinholbare Weisheit des ‚seligen und berühmtenʻ Paulus, der genau und sicher das Wort über die Wahrheit lehrte.¹⁵ Dem entspricht die Zeichnung des Apostels durch den wahrscheinlich noch vor 2Petr verfassten¹⁶ Ersten Clemensbrief, der Paulus ebenfalls als selig (μακάριος) und um der Wahrheit willen geistlich handelnd (ἐπ’ ἀληθείας πνευματικῶς) schildert (1Clem 47,1– 3), wenngleich hier das Wort ‚Weisheitʻ nicht ausdrücklich fällt. Auch Paulusʻ Äußeres wird mit einem Bezug zur Weisheit dargestellt, wenn er in frühen bildlichen Darstellungen (4. Jahrhundert) mit ‚Denkerstirnʻ und kurzem Haarkranz sowie Bart ikonographisch in die Nähe der Philosophen – denjenigen, die ‚nach Weisheit strebenʻ – gerückt wird.¹⁷ Der fiktive Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca (vermutlich aus dem 4. Jahrhundert), in dem die beiden als verwandte

 2Petr bezieht die Weisheit auf die Lehre von den letzten Dingen. Der Bezug ist aber nicht eindeutig: Sowohl das Verhalten angesichts des Tags des Herrn (v.14) als auch die Möglichkeit zur Umkehr, die durch Gottes Geduld geschaffen wird, und damit zum Heil (v.15), kommen als Referenzpunkte für die Aussage über Paulus infrage. Gleichwohl gibt es eine Differenz zwischen der Aussage, dass Paulus in allen Briefen solches schreibe, und dem tatsächlichen Befund in den Briefen,vgl. Paulsen, Petrusbrief 174. Gerade die Bemerkung über schwerverständliche Teile in den Briefen des Paulus mag neben der Eschatologie auf seine Lehren zum Umgang mit der Thora, zum Geist und zur Gnade hinweisen, vgl. W. Grundmann, Der Brief des Judas und der zweite Brief des Petrus (ThHK 15), Berlin 31974, 121.  Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch 431 f: „um 130“.  Polyk 3,2: οὔτε γὰρ έγὼ οὔτε ἄλλος ὅμοιος ἐμοὶ δύναται κατακολουθῆναι τῇ σοφίᾳ τοῦ μακαρίου καὶ ἐνδόξου Παύλου, ὃς […] ἐδίδαξεν ἀκριβῶς καὶ βεβαίως τὸν περὶ ἀληθείας λόγον […].  Vgl. Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch 431, die sich für eine Datierung um 96 (dem Todesjahr Domitians, auf dessen Bedrückungen der Gemeinde wohl in 1Clem angespielt wird) aussprechen.  Vgl. M. Lechner, „Paulus,“ in: LCI 8 (1976), 128 – 147 (130 f). Darüber hinaus ist die literarische Darstellung in ActPaul 3 bedeutend, derzufolge Paulus klein von Gestalt war, mit krummen Beinen, kurzgeschorenem Haar, zusammengewachsenen Augenbrauen und einer Hakennase. Diese nach heutigen Maßstäben kümmerlichen Merkmale sind nach antiken physiognomischen Vorstellungen bedeutungstechnisch jeweils stark aufgeladen und weisen insgesamt auf einen maskulinen, furchtlosen und öffentlichkeitstauglichen Charakter hin, vgl. dazu B. J. Malina/ J. H. Neyrey, Portraits of Paul. An Archaeology of Ancient Personality, Louisville 1996, 100 – 152, bes. 127– 148; A. J. Malherbe, „A Physical Description of Paul,“ in: HTR 79 (1986), 170 – 175. In der neuzeitlichen Ikonographie wird diese Auffassung des paulinischen Charakters in entsprechende, zeitgenössisch verständliche Bilder eines kräftigen und hochgewachsenen Mannes umgesetzt,vgl. Lechner, a.a.O. 131.

1 Die Formulierung der Fragestellung

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Denker porträtiert werden, erscheint dahingehend als eine natürliche Entwicklung.¹⁸ Doch bereits viel früher als 2Petr wird der briefliche Paulus in Verbindung mit der Weisheit gebracht, nämlich in den mutmaßlichen¹⁹ Deuteropaulinen Kol und Eph.²⁰ In Kol 1,28 stellt sich ‚Paulusʻ (in der 1.P.Pl.) als Weisheitslehrer aller Menschen dar („zurechtweisend jeden Menschen und lehrend jeden Menschen mit aller Weisheit“ / νουθετοῦντες πάντα ἄνθρωπον καὶ διδάσκοντες πάντα ἄνθρωπον ἐν πάσῃ σοφίᾳ).²¹ In Eph 1,8 werden Weisheit und Verständigkeit (σοφία καὶ φρόνησις) als Gaben Gottes an den Apostel²² gekennzeichnet.²³ Mit der Weisheit ergibt sich also ein Bezugsrahmen, in dem Paulus – und dabei besonders Paulus nach seinen eigenen Briefen – bereits in früher Zeit gesehen wurde. Doch woher stammt diese Ansicht? Es standen ja durchaus noch anderen Konzepte zur Bestimmung und Deutung seines Wirkens zur Verfügung, wie z. B. die göttliche Macht, durch die er Wunder wirkte.²⁴ Hat die Ansicht, Paulus

 Text abgedruckt in A. Fürst/ Th. Fuhrer/ F. Siegert/ P. Walter, Der apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus. Zusammen mit dem Brief des Mordechai an Alexander und dem Brief des Annaeus Seneca über Hochmut und Götterbilder (SAPERE 11 = UTB 3634), Tübingen 2012, 24– 36; vgl. a.a.O. 3 – 22 den einführenden Essay von Fürst.  Als Argumente für eine pseudonyme Verfasserschaft von Kol und Eph wiegen die Unterschiede in Stil und Ekklesiologie schwer, vgl. etwa Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch 49 f.291 f.298 – 300. Hingegen hält L. T. Johnson, The Writings of the New Testament. An Interpretation, Philadelphia 1986, 255 – 257 diese Argumente für nicht ausschlaggebend, da er sowohl feste theologische Überzeugungen als auch einen unwandelbaren Stil bei Paulus nicht gegeben sieht. Durch die Annahme einer paulinischen Schule zu Lebzeiten des Apostels, in der Briefe in dessen Namen verfasst und autorisiert wurden, kommt Johnson zu dem Urteil, dass alle kanonisch erhaltenen Briefe von Paulus stammen. Gegenüber dieser weiten Fassung von Autorschaft lässt sich allerdings kritisch fragen, ob dann nicht etwa auch 3Kor als paulinisch gelten kann.  Kol wird auf etwa 70 datiert,vgl. Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch 295; Eph auf vor 90,vgl. a.a.O. 302.  In Kol 3,16 wird diese Eigenschaft auf die Kolosser übertragen.  Dass die 1.P.Pl. in diesem Abschnitt exklusiv auf den Apostel zu beziehen ist, ergibt sich aus 1,13, wo die Gegenüberstellung zu den Ephesern erfolgt („auch ihr“). Der unlogische Plural hier scheint im Sinne der Selbstvergrößerung als pluralis adrogantiae (s.u. Kapitel 2) gebraucht zu sein, um den Apostel in besonderer Weise hervorzuheben – möglicherweise ein weiteres Argument für eine pseudonyme Verfasserschaft?  Vgl. P. Ewald, Die Briefe des Paulus an die Epheser, Kolosser und Philemon (KNT 10), Leipzig 2 1910, 74– 76.  Dieser Zug erscheint deutlich etwa in Apg 19,11 f; 20,7– 12; 28,1– 6. Zu Paulus als Wundertäter vgl. B. Kollmann, „Paulus als Wundertäter,“ in: U. Schnelle/ Th. Söding (Hg.), Paulinische Christologie. Exegetische Beiträge (FS Hans Hübner), Göttingen 2000, 76 – 96; B. Heininger, „Im Dunstkreis der Magie: Paulus als Wundertäter nach der Apostelgeschichte,“ in: E.-M. Becker/ P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005, 271– 291.

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Einleitung – Fragestellung und Positionierung

sei weise bzw. im Besitz von Weisheit, möglicherweise Rückhalt in der historischen Erinnerung an Paulus selbst, die sich unter Umständen mit seinen Briefen deckt? Dieser Frage soll in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden. Die Weisheit soll also der Rahmen sein, in welchem Paulus näher betrachtet wird. Gleichwohl ist selbst mit der Bestimmung des weisheitlichen Rahmens die Frage „Wer war Paulus?“ noch immer zu ausufernd gestellt. Dies liegt daran, dass die Briefe des Apostels in unterschiedlichen Situationen an verschiedene Adressaten gerichtet sind.Von daher lässt sich aus dieser Materialfülle heraus kaum ein einheitliches (Selbst‐)Bild des Paulus erwarten. Es erscheint deshalb geboten, sich die Korrespondenz des Apostels mit bloß einer Gemeinde genauer anzusehen. In Anknüpfung an die weisheitliche Perspektive rückt dabei die Korinther-Korrespondenz und davon der 1Kor allein schon von der Wortstatistik fast zwangsläufig in den Focus: In keinem seiner anderen Briefe gebraucht Paulus so oft Begriffe aus dem Wortfeld ‚Weisheit/weiseʻ wie in 1Kor.²⁵ Diese Häufung, gerade im Vergleich mit der Seltenheit der Begrifflichkeiten in den anderen Briefen, mag ein Hinweis darauf sein, dass Paulus das Wortfeld durch die Gemeinde in Korinth vorgegeben war. Gleichwohl verweigert sich Paulus nicht der Benutzung dieses Wortfelds, sondern unterwirft es seiner eigenen Argumentation. Paulus setzt sich im 1Kor also kreativ mit dem Wortfeld ‚Weisheit/weiseʻ auseinander. Inwieweit dies auch für seine Selbstdarstellung im 1Kor gilt und welchen Einfluss seine kreative Einlassung mit dem Wortfeld ‚Weisheit/weiseʻ darauf hat, wird Gegenstand meiner Untersuchung sein. Somit soll sich diese Untersuchung mit der Selbstdarstellung des Paulus im 1Kor im Hinblick auf die Weisheitsthematik befassen. Es geht mir dabei darum, zu zeigen, dass und wie sich der Apostel Paulus den Korinthern ‚mit der ihm gegebenen Weisheitʻ präsentiert. In diesem Zusammenhang möchte ich vorführen, dass Paulus sich auch als ein nachzuahmendes Beispiel darstellt. Längst ist erkannt und untersucht, dass Paulus seine Gemeinden zur Nachahmung seiner selbst aufruft.²⁶ Gleichwohl schließt sich natürlicherweise daran die Frage an, was bzw. wer denn dieses nachzuahmende Selbst ist. Denn auch wenn Paulus, der ja in vielen seiner Briefe darauf hinweist, Apostel zu sein,²⁷ mit dieser Bezeichnung

 17mal σοφία (in Röm und 2Kor nur jeweils einmal, nirgends in den anderen Proto-Paulinen), 11mal σοφός (in Röm viermal, nirgends in den anderen Proto-Paulinen).  Vgl. D. M. Stanley „‚Become Imitators of Me‘: The Pauline Conception of Apostolic Tradition,“ in: Biblica 40 (1959), 859 – 877; H. D. Betz, Nachfolge und Nachahmung Jesu Christi im Neuen Testament (BHTh 37), Tübingen 1967 137– 189 (zur imitatio Pauli als imitatio Christi).  In den als authentisch eingestuften Briefen tut er dies in Röm 1,1; 1Kor 1,1; 2Kor 1,1; Gal 1,1. In Phil, 1Th und Phlm fehlt diese Bezeichnung – in 1Th, weil sie zu der relativ frühen Abfassungszeit wohl noch keine große Rolle spielte (nur indirekt in 2,7); in Phil, weil wohl in der äußerst

2 Forschungsgeschichtliche Positionierung

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etwas über sich bzw. seine Rolle aussagt, ist damit sein nachzuahmendes Selbst noch nicht beschrieben – Apostel kann ja nicht ein jeder oder eine jede werden. Mithin gilt es also, gleichsam wie bei einer Zwiebel die äußeren Schalen abzutun und tiefere Schichten freizulegen, um über den Status als Apostel hinaus zu dem dargestellten Selbst des Paulus im Kontext der Weisheitsthematik vorzudringen, das wiederum den äußeren Schichten ihre spezielle Form vorgibt.

2 Forschungsgeschichtliche Positionierung Zur Einordnung meiner Arbeit in die bisherige Forschungsdiskussion²⁸ gehört grundlegend eine Positionierung in der Frage, worin die Weisheit in Korinth besteht. Dies stellt zugleich eine wesentliche Weichenstellung für den weiteren Verlauf der Arbeit dar. Die Frage nach dem Wesen der Weisheit in Korinth hat sich daran entbrannt, dass die Worte, die Paulus in 1Kor 1,17– 2,5 zur Benennung der korinthischen Problematik verwendet, durchaus doppeldeutig sind. Timothy A. Brookins hat in dieser Hinsicht die Frontstellung in der Forschung herausgearbeitet und zugespitzt auf die beiden Alternativen Form und Inhalt.²⁹ Entsprechend differieren die in der Forschung gegebenen Antworten zur korinthischen Weisheit. Sehen die einen in der von Paulus benannten Weisheit eine bestimmte Form, lautet ihre Antwort: Die von den Korinthern angestrebte Weisheit ist die Kunst der schönen Rede, ist Rhetorik.³⁰ Erkennen die anderen in der Weisheit einen bestimmten Inhalt, ist deren Antwort: Die korinthische Weisheit besteht in einer bestimmten

freundschaftlichen Beziehung zwischen Paulus und der Gemeinde keine Autoritätsbezeugung notwendig war; in Phlm, weil eine solche explizite Bezeugung der argumentativen Strategie zuwiderliefe (vgl. v.8 f). Die Apostelbezeichnung wird gleichsam zum Programm in den als Deuteropaulinen angesehenen Briefen (Eph 1,1; Kol 1,1; 1Tim 1,1; 2Tim 1,1; Tit 1,1).  Vgl. den ausführlichen Überblick zur Forschungsdiskussion bei Theis, Paulus 10-111.  Vgl. T. Brookins, „Rhetoric and Philosophy in the First Century: Their Relation with Respect to 1 Corinthians 1– 4,“ in: Neotest. 44 (2010), 233 – 252 (234– 239).  Vgl. etwa S. M. Pogoloff, Logos and Sophia. The Rhetorical Situation of 1 Corinthians (SBL.DS 134), Atlanta 1992; B. W. Winter, Philo and Paul among the Sophists. Alexandrian and Corinthian Responses to a Julio-Claudian Movement, Grand Rapids/ Cambridge 22002. Winter geht sogar so weit, Paulus innerhalb der Korintherkorrespondenz im Widerstreit mit Sophisten zu sehen, indem er versucht, das im zweiten christlichen Jahrhundert aufkommende Phänomen der Zweiten Sophistik bereits in das erste Jahrhundert vorzuverlegen, was allein wegen der schmalen Quellenbasis nicht plausibel ist.

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Einleitung – Fragestellung und Positionierung

Weltsicht, ist im Kern also Philosophie.³¹ Brookins kommt jedoch zu dem Schluss, dass eine trennende Aufstellung von Rhetorik und Philosophie, von Form und Inhalt, in der Antike zwar bestand, jedoch in praktischer Hinsicht nicht absolut gesetzt werden kann. Beides schließt einander nicht aus.Von daher kann Paulus in Korinth sowohl ein Überbetonen rhetorischer Mittel bekämpfen als auch eine seiner Ansicht nach verkehrte Weltsicht und dadurch bedingte Lebensweise.³² Gleichwohl muss im Hinblick auf den Gesamtbrief gefragt werden, welche Konzeption von Weisheit (Rhetorik oder Philosophie) am besten zur Erklärung des 1Kor dienen kann.³³ Mit Brookins sehe ich hierfür die philosophische Konzeption am plausibelsten, ohne damit aber rundweg rhetorische Anklänge auszuschlie-

 Vgl. etwa F. G. Downing, „A Cynic Preparation for Paul’s Gospel for Jew and Greek, Slave and Free, Male and Female,“ in: NTS 42 (1996), 454– 462 (kynische Motive); R. B. Hays, „The Conversion of the Imagination: Scripture and Eschatology in 1 Corinthians,“ in: NTS 45 (1999), 391– 412 (kynisch–stoische Motive); T. Paige, „Stoicism, ἐλευθερία and Community at Corinth“ in: E. Adams/ D. G. Horrell (Hg.), Christianity at Corinth. The Quest for the Pauline Church, Louisville 2004, 207– 218 (stoische Motive); G. Tomlin, „Christians and Epicureans in 1 Corinthians,“ in: JSNT 68 (1998), 51– 72 (epikureische Motive). R. D. Anderson, Ancient Rhetorical Theory and Paul (Contributions to Biblical Exegesis and Theology 18), Leuven 21999, 265 – 276 benennt zwar keine konkrete Weltsicht, arbeitet aber kritisch heraus, dass es in 1Kor 1– 4 nicht um Rhetorik geht. Inhaltlich ließe sich die Weisheit auch füllen mit (proto‐)gnostischen Vorstellungen, so etwa U. Wilckens, Weisheit und Torheit. Eine exegetisch-religionsgeschichtliche Untersuchung zu 1. Kor. 1 und 2 (BHTh 26), Tübingen 1959 (differenzierter H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen (12)21981, 34: „Man mag die Korinther als Proto-Gnostiker charakterisieren“), oder mit der hellenistisch-jüdischen Weisheitstradition, so R. A. Horsley, „Wisdom of Word and Words of Wisdom in Corinth,“ in: CBQ 39 (1977), 224– 239 oder B. A. Pearson, „Hellenistic-Jewish Wisdom Speculation and Paul,“ in: R. L. Wilken, Aspects of Wisdom in Judaism and Early Christianity (University of Notre Dame. Center for the Study of Judaism and Christianity in Antiquity 1), Notre Dame/London 1975, 43 – 66. Die gnostische Position ist inzwischen mit Recht als überholt anzusehen, vgl. O.-Y. Kwon, „A Critical Review of Recent Scholarship on the Pauline Opposition and the Nature of its Wisdom (σοφία) in 1 Corinthians 1– 4,“ in: CRBS 8 (2010), 386 – 427 (392– 400). Die hellenistisch-jüdische Position lässt sich m. E. generell in eine allgemein-hellenistische Perspektive einordnen (s.u.).  Die Schwierigkeit bei der Definition von Weisheit im 1Kor mag durch Paulus selbst veranlasst sein, der womöglich eine „undifferenzierte Vorstellung von griechischer Weisheit“ (D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010, 97) hatte.  So kommt Kwon, Review 411– 421 in seinem umfassenden Forschungsüberblick über das Weisheitsverständnis in 1Kor 1– 4 zu dem Schluss, dass die aus griechisch-römischer Rhetorik herrührende Problematik das beste Antwortmodell für die Situation in Korinth liefert. Fraglich bleibt aber mit dieser auf die ersten vier Briefkapitel beschränkten Betrachtungsweise, ob sie auch den restlichen zwölf Kapiteln gerecht wird.

2 Forschungsgeschichtliche Positionierung

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ßen.³⁴ Mit dieser grundlegenden Einordnung lassen sich nun weitere Linien zu anderen Forschungsergebnissen ziehen. Hans Conzelmann hat in einer kurzen Studie unter dem Titel „Paulus und die Weisheit“ die These aufgestellt, dass der Apostel nach dem Muster und Vorbild der jüdischen Weisheit einer eigenen Schule mit wahrscheinlichem Sitz in Ephesus vorstand.³⁵ Conzelmann macht dies fest an dem diskursiven Umgang mit textlichen Traditionen, in dem Paulus’ jüdische Schulbildung durchscheine. So sei zum einen der Motivzusammenhang zwischen den Paulusbriefen und apokryphen Weisheitsschriften sehr eng, obgleich eine direkte literarische Abhängigkeit nicht nachzuweisen sei. Zum anderen begegne mit dem Diatribenstil ein hellenistischjüdisches (Philo) bzw. christliches (Hebr) Charakteristikum weisheitlicher Schriften. Auch seine missionarische Arbeitsweise, die auf dem längeren Aufenthalt in regionalen Zentren fuße, spreche für eine schulische Prägung seines Wirkens. Alles in allem stehe Paulus damit als hellenistisch-jüdischer Weisheitslehrer fest in den Traditionszusammenhängen Israels. Exemplarisch weist Conzelmann auf den hellenistisch-jüdischen weisheitlichen Hintergrund der Texte Röm 1,18 ff; 1Kor 1,18 ff; 2,6 ff; 11,2 ff; 13; 2Kor 3,7 ff ³⁶ hin. Die These Conzelmanns über eine Paulusschule hat zwar einigen Anklang gefunden,³⁷ jedoch durchaus auch Widerspruch erfahren.³⁸ Unbestritten bleibt dabei aber die Erkenntnis, dass Paulus sich an den genannten Stellen an die hellenistisch-jüdische Weisheitstradition anlehnt. Conzelmann hat darüber hinaus auch auf den Diatribenstil in den Apostelbriefen hingewiesen. Die ‚Diatribeʻ³⁹

 Obwohl es in den ersten Jahrhunderten nach der Zeitenwende die zunehmende Tendenz gibt, die Bezeichnung ‚Philosophʻ gegenüber der Bezeichnung ‚Sophist‘ (der als Unterklasse des Rhetors verstanden wird) zu bevorzugen, vgl. G. R. Stanton, „Sophists and Philosophers: Problems of Classification,“ in: AJP 94 (1973), 350 – 364, sind die anfänglich klar gesteckten Grenzen zwischen Philosophie und Rhetorik im ersten christlichen Jahrhundert verschwommen. So wird dann auch die Rhetorik zum Vehikel und Medium der Popularphilosophie, wie man im zweiten Jahrhundert etwa bei Apuleius, Aelius Aristeides oder Dion von Prusa beobachten kann.  Vgl. H. Conzelmann, „Paulus und die Weisheit,“ in: NTS 12 (1966), 231– 244 (233 f).  Vgl. Conzelmann, „Paulus“ 235 – 244. Conzelmann trifft keine genaue Versabgrenzung.  Vgl. etwa Schnelle, Einleitung 46 – 51; E. Lohse, Paulus. Eine Biographie (Becksche Reihe 1520), München 22009, 183 f.  Vgl. Merkel, „Lehrer“ 247– 250; P. Pilhofer, Das Neue Testament und seine Welt. Eine Einführung (UTB 3363), Tübingen 2010, 209 – 218 hält den Begriff ‚Paulusschuleʻ für eine „Pseudokennzeichnung“.  Th. Schmeller, Paulus und die „Diatribe“. Eine vergleichende Stilinterpretation (NTA NF 19), Münster 1987, 1– 21 kommt zu dem Schluss, dass der Terminus ‚Diatribeʻ tatsächlich verfehlt ist, da er eine eigenständige Literaturgattung meint, was die ‚Diatribeʻ als Unterart der Gattung Dialexis nicht ist. Er empfiehlt daher, den inzwischen gebräuchlich gewordenen Begriff in Anführungszeichen zu setzen. Für K. Berger, Formen und Gattungen im Neuen Testament (UTB 2532),Tübingen/

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Einleitung – Fragestellung und Positionierung

entstammt dem popularphilosophischen⁴⁰ Diskurs, genauer der Moralpredigt oder ethischen Unterweisung,⁴¹ wobei der Schulvortrag (nicht aber die Belehrung der Massen) wohl als Ursprung zu gelten hat.⁴² Formelemente der ‚Diatribeʻ bei Philo⁴³ und Paulus⁴⁴ weisen darauf hin, dass diese popularphilosophische Sprechform in der Kaiserzeit auch im hellenistischen Judentum Fuß gefasst hatte. Obwohl es fulminante inhaltliche Unterschiede zwischen Popularphilosophie und jüdischem Glauben gibt, rückt mit der Übernahme paganer Sprechformen das hellenistische Judentum näher an den popularphilosophischen Diskurs heran und wird in gewisser Weise ein Teil von ihm. Das breite Schrifttum Philos mag dafür als ein Zeugnis stehen.⁴⁵ Doch auch Paulus selbst gerät durch das Aufgreifen von Sprechformen, die der popularphilosophischen Redeweise ähnlich sind, unweigerlich in den Dunstkreis

Basel 2005, 170 ist die ‚Diatribeʻ gegenüber den Gattungen ‚Argumentationʻ und ‚Dialogʻ „eine eigene autoritative Gattung, deren Sitz die Bewältigung von Lebensfragen im Sinne einer Seelenführung durch den überlegenen Lehrer ist“. Berger schlägt für die ‚Diatribeʻ als neuen Gattungsnamen ‚Diatribe/Dialexisʻ vor, da Diatribe lediglich den Sitz im Leben (nämlich die ‚Kollegstundeʻ) anzeige, Dialexis darüber hinaus auf den pseudo-dialogischen Stil und damit auf Gattungsmerkmale hinweise (vgl. a.a.O. 171).  Unter ‚Popularphilosophieʻ versteht man die Verbreitung philosophischer Ansichten in der breiten Bevölkerung. Diese findet im Hellenismus vor allem durch Wanderphilosophen statt. Vgl. E. Lohse, Umwelt des Neuen Testaments (GNT 1), Göttingen 102000, 179 – 186.  P. Wendland, Die hellenistisch-römische Kultur in ihren Beziehungen zu Judentum und Christentum. Die urchristlichen Literaturformen (HNT 1: 2&3), Tübingen 2.31912, 84: „Die Diatribe ist eine in allen Philosophenschulen zur Propaganda verwendete Form“; vgl. zum Gebrauch der ‚Diatribeʻ in der hellenistischen Moralphilosophie insgesamt a.a.O. 75 – 91.  Vgl. Berger, Formen 170 f. Darüber hinaus ist die Herleitung des Diatribenstils aus dem Kynismus (bzw. der Stoa) zu eng gefasst, vgl. G. Schmidt, „Diatribai,“ in: KP 2 (1967), 1577– 1578 (1577).  Vgl. P. Wendland, „Philo und die kynisch-stoische Diatribe,“ in: ders./Kern, O., Beiträge zur Geschichte der griechischen Philosophie und Religion (FS H. Diels), Berlin 1895, 1– 75, wobei Wendland weniger formale als vor allem inhaltliche Übereinstimmungen Philos mit stoischen Abhandlungen vorträgt. Unter der philosophischen ‚Diatribeʻ versteht er „die in zwanglosem, leichtem Gesprächston gehaltene, abgegrenzte Behandlung eines einzelnen philosophischen, meist ethischen Satzes“ (a.a.O. 3). Wendland weist aber a.a.O. 4 selbst darauf hin, dass in der Kaiserzeit der Stil der ‚Diatribeʻ „ruhiger und lehrhafter“ wird.  Vgl. R. Bultmann, Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe (FRLANT 13), Göttingen 1910; A. J. Malherbe, „Hellenistic Moralists and the New Testament,“ in: ANRW II/ 26.1 (1992), 267– 333 (313 – 320).  Die Konformität des Judentums mit dem Griechentum herauszustellen, unternimmt aber etwa auch Flavius Jospehus (Bell. 162– 166; Ant. 171– 173; Vita 10 – 12), indem er die verschiedenen jüdischen Gruppen nach dem Vorbild philosophischer Schulen (αἵρεσεις) präsentiert, vgl. S. Mason, Flavius Josephus und das Neue Testament. Aus dem Amerikanischen von Manuel Vogel (UTB 2130), Tübingen/ Basel 2000, 208 f.

2 Forschungsgeschichtliche Positionierung

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der Popularphilosophie. Dabei ist vorausgesetzt, dass eine ähnliche Redeweise ein entsprechend ähnliches Publikum impliziert.⁴⁶ Dies führt leicht zu der Annahme, dass Paulus nicht allein in der Sprechform, sondern auch in anderen Aspekten (d. h. in diesem Fall in der Selbstdarstellung) sich an popularphilosophische Vorstellungen anlehnte. In dieser Hinsicht haben Abraham J. Malherbe und Hans Dieter Betz gewichtige Argumente vorgebracht, dass Paulus gerade und vor allem im Zusammenhang der hellenistischen Popularphilosophie verstanden werden sollte. In einem grundlegenden Aufsatz über die Berührungspunkte von hellenistischen Moralphilosophen und dem Neuen Testament stellt Malherbe viele formale Ähnlichkeiten zwischen Paulus und den paganen Morallehrern heraus.⁴⁷ Berührungspunkte ergeben sich a) in der Ermahnung als brieflichem Phänomen, b) in der Selbstdarstellung der Lehrperson als ein Weiser, c) in der Seelenführung der Adressaten, d) im Aufstellen von Verhaltensnormen in Form von ‚Haustafelnʻ, e) in der ‚Diatribeʻ, f) in der Behandlung verwandter Topoi. Malherbe betont dabei, dass es beim Auffinden von Parallelen bei Paulus und den Moralisten nicht so sehr darum geht, Unterschiede herauszuarbeiten, sondern vielmehr Ähnlichkeiten zu benennen, diese aber jeweils in ihren paulinischen bzw. philosophischen Kontext einzuordnen und von daher zu erklären – und auf diesem Weg erst möglicherweise auf Unterschiede zu stoßen.⁴⁸ In diesem Zusammenhang fällt es Malherbe nicht weiter schwer, Paulus als einen ‚wise manʻ im Sinne der Gestalt des hellenistischen Weisen zu bezeichnen. Malherbe bezieht sich dabei aber v. a. auf 1Th und 2Kor, weniger auf 1Kor. Gerade die Selbstdarstellung des Paulus im 2Kor 10 – 13 veranlasst Betz, Paulus in einer Linie mit Sokrates zu sehen. Die Selbstverteidigung des Apostels angesichts der gegnerischen ‚Überapostelʻ geschieht Betz zufolge mit dem Hinweis und dem Pochen auf die eigene Nichtigkeit. Die Verlautbarung der eigenen Nichtigkeit entspricht der gedanklichen Anlage der (platonisch‐)sokratischen Apologie („Ich weiß nur, dass ich nichts weiß.“) und findet sich in der philosophischen Diskussion als angemessene Argumentationsweise bis in Paulus’ Zeit hinein.⁴⁹

 Selbst wenn nur die Erwartungshaltung des paulinischen Publikums gegenüber den Sprechformen des Redners ähnlich der eines gewöhnlichen popularphilosophischen Publikums sein sollte, so kommt es doch zu einer gewissen Übereinstimmung von paulinischem und philosophischem Denken, insofern Sprechmuster immer auch Denkmuster nachahmen.  Vgl. insgesamt Malherbe, „Hellenistic Moralists“.  Vgl. a.a.O. 299 – 301  Vgl. H. D. Betz, Der Apostel Paulus und die sokratische Tradition. Eine Untersuchung zu seiner „Apologie“ in 2 Korinther 10 – 13 (BHTh 45), Tübingen 1972, 120 – 130.

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Einleitung – Fragestellung und Positionierung

Die Kritik an Betz’ Entwurf ist nicht ausgeblieben. So macht Edwin A. Judge in einem Aufsatz mit dem Titel „St Paul and Socrates“ darauf aufmerksam, dass Betz’ gesamte These auf dem Wort ‚Apologieʻ basiert:⁵⁰ Wie Sokrates sich einst verteidigte, so tue dies nun Paulus. Das grundsätzliche Problem sei dabei aber, dass der Apostel offenkundig keinen Bezug zu dem Athener herstellt. Judge erhebt deshalb die generelle Frage: „In the mingled riches of Hellenistic literature how does one detect the lines of connection and interaction when the allusions are not clear?“⁵¹ Die Frage von Judge ist als Aufruf zu verstehen, die möglichen Anspielungen deutlich zu begründen und nicht bloß an einem Wort festzumachen. Judge warnt gleichermaßen davor, Paulus geistesgeschichtlich zu sehr in einer bestimmten philosophischen Richtung zu verorten sowie ihn von den philosophischen Gedanken seiner Zeit komplett abzuschneiden.⁵² Tatsächlich muss man sich Paulus als einen flexiblen Denker vorstellen, der sich in der gesamten damaligen Welt bewegen konnte, vielleicht auch gerade deshalb, weil er sein Bürgerrecht im Himmel verankert sah (vgl. Phil 3,20). Um nun aber noch einmal auf die korinthische (philosophisch zu verstehende) Weisheit zurückzukommen: In der jüngeren Zeit hat es verschiedene Untersuchungen dazu gegeben, die (rekonstruierten) ethischen Ansichten der Korinther von einem bestimmten philosophischen System her abzuleiten. Als solche werden abhängig vom Blickwinkel der jeweiligen Untersuchung entweder der Stoizismus, der Kynismus oder der Epikureismus benannt.⁵³ Gerade die jeweilige Einordnung der korinthischen Aussagen in so disparate Systeme wie Stoizismus und Epikureismus sollte einen aufmerken lassen. Dies spricht m. E.

 Vgl. E. A. Judge, „St Paul and Socrates,“ in: ders., The First Christians in the Roman World. Augustan and New Testament Essays. Edited by James R. Harrison (WUNT 229), Tübingen 2008, 670 – 683 (671). Das Wort selbst in 2Kor 12,19 ist eigentlich nicht das Nomen ‚Apologieʻ (ἀπολογία), sondern das Verb ‚eine Apologie abhaltenʻ (ἀπολογεῖσθαι). Paulus vollzieht an dieser Stelle eine doppelte Korrektur: So sei dies weder eine Verteidigungsrede noch dazu gegenüber den Korinthern als Richtern, sondern sowohl ein Reden (Lehren?) im Angesicht Gottes als auch der Erbauung der Gemeinde dienlich.  Judge ebd.  Vgl. Judge, „Paul“ 675. Das eine Extrem wird etwa von Norman W. de Witt repräsentiert, der Paulus durch und durch als Epikureer versteht, vgl. dazu P. Eckstein, Gemeinde, Brief und Heilsbotschaft. Ein phänomenologischer Vergleich zwischen Paulus und Epikur (HBS 42), Freiburg/ Basel/ Wien/ Barcelona/ Rom/ New York 2004, 302– 310. Das andere Extrem besteht in einem rein jüdisch gedachten Paulus.  S.o. Anm. 31; hinzu kommen noch auf der Seite der Stoiker-These A. V. Garcilazo, The Corinthian Dissenters and the Stoics (Studies in Biblical Literature 106), New York/ Washington, D.C./ Bern 2007 sowie jüngst T. Brookins, Corinthian Wisdom, Stoic Philosophy, and the Ancient Economy (SNTSt.MS 159), Cambridge 2014. Außerdem sieht Troels Engberg-Pedersen insgesamt eine Nähe von Paulus zum stoischen Denken, vgl. etwa ders., Paul and the Stoics, Edinburgh 2000.

2 Forschungsgeschichtliche Positionierung

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doch dafür, dass es (ganz im Sinne des Ansatzes von Malherbe) weniger darum geht, im innerphilosophischen Bereich Unterschiede herauszuarbeiten als vielmehr Gemeinsamkeiten zu finden. Wenn es also möglich ist, für die korinthische Position sowohl eine epikureische wie auch eine stoische Verortung zu erreichen, erscheint es mir gegeben, diese Untersuchungsergebnisse gleichsam ‚aufzuhebenʻ und auf eine neue Ebene zu verlagern. Die korinthische Position ist daher in einem, die einzelnen philosophischen Systeme übersteigenden, aber gleichzeitig verbindenden Element zu suchen und zu finden. Es kann nicht darum gehen, die korinthischen Ansichten absolut aus einem bestimmten philosophischen System abzuleiten, sondern man sollte sie als gleichsam populär verwässerte Aussagen in einem synkretistischen Kontext verstehen. Es geht also nicht um eine irgendwie geprägte Popularphilosophie bestimmter Provenienz, sondern tatsächlich um Popularphilosophie als solche. Ein Element, das aber in allen ethisch-philosophischen Ausrichtungen erscheint und sowohl Epikureer und Stoiker, Platoniker und Aristoteliker zusammenbindet, ist die Vorstellung von der Gestalt des Weisen. Von daher scheint es nahe liegend, die ethischen Ansichten in der korinthischen Gemeinde in Verbindung mit der Gestalt des Weisen zu sehen. In der Kombination mit der Selbstdarstellung des Paulus im Kontext der Weisheit und seiner Präsentation als nachzuahmendes Vorbild erscheint infolgedessen diese These plausibel: Paulus bietet sich gegenüber den Korinthern gemäß dem allgemein erstrebenswerten Ideal des Weisen dar. Dies ist dann auch die These meiner Untersuchung, die ich im weiteren Verlauf zu erhärten gedenke.Von daher erklärt sich auch das Wortspiel im Titel meiner Arbeit: Paulus beispiels-weise. In seiner Selbstdarstellung als ein Weiser gibt Paulus den Korinthern sich selbst als Beispiel für eine gottgefällige und christusgemäße Lebensführung vor. Gegen die Position, Paulus wie einen hellenistischen Weisen anzusehen, gibt es in der Forschung durchaus Widerstände. So schreibt etwa Birger A. Pearson: „[I]t is clear that Paul does not regard himself primarily as a ‚sage‘ or a ‚teacher,‘[sic!] but especially as an apostle“⁵⁴. Abgesehen davon, dass sich diese Bestimmung auf das Selbstverständnis und nicht auf die Selbstdarstellung bezieht, ist durchaus richtig gesehen, dass Paulus oftmals bereits in der Absenderangabe seiner Briefe (und dann auch im Briefcorpus) die Apostelbezeichnung hervorhebt und sich nicht etwa als ein Weiser bezeichnet.⁵⁵ Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass Paulus – gerade in 1Kor – auch weisheitliche Sprache und Motive

 Pearson, „Wisdom“ 59, Kursivierung im Original.  S.u. Kapitel 3, weshalb die Selbstbezeichnung als ein Weiser im hellenistischen Kontext schlechterdings nicht möglich ist.

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Einleitung – Fragestellung und Positionierung

gebraucht, die auf ihn selbst Anwendung finden. Somit ist eine Selbstdarstellung des Paulus als ein Weiser – unter dem Vorzeichen und der Bedingung seines Apostelseins – durchaus möglich und denkbar.⁵⁶ In den folgenden Kapiteln werde ich daher die These zu beweisen suchen, dass Paulus sich im 1Kor als ein Weiser nach hellenistischer Prägung darstellt. Meine Arbeit gliedert sich somit in zwei Hauptteile. Der grundlegende Teil A führt sowohl in meine Methodik ein als auch stellt er die beiden Phänomene der Selbstdarstellung sowie der Gestalt des Weisen in historischer Perspektive vor. Der Teil B hat dann die Exegese des 1Kor zum Thema, in welcher ich den Beweis für meine Ausgangsthese zu führen suche. Zu den einzelnen Kapiteln: Im ersten Kapitel gebe ich Aufschluss über meine Methodik im Hinblick auf die Funktionen der paulinischen Selbstaussagen. Ich befasse mich darin eingehend mit der Frage nach dem Selbst sowie den literarischen Darstellungsformen in der antiken Selbst-Darstellung. Im zweiten Kapitel wende ich mich dem sogenannten ‚schriftstellerischenʻ Plural bei Paulus zu. Dies ergibt sich aus dem Vorhergehenden, da notwendig geklärt werden muss, wer da eigentlich wie in den Paulusbriefen spricht, wenn es darum geht, das Selbst in den Briefen herauszuarbeiten. Im dritten Kapitel erfolgt eine Erörterung über die Phänomenologie der Gestalt des Weisen in der Zeit des Paulus. Das vierte Kapitel befasst sich mit der korinthischen Gemeinde im Kontext der Weisheits- und Weisenthematik.Von da aus gehe ich dann in den Teil B und damit zur Exegese des 1Kor über. In jedem Kapitel dieses Teils B wird ein Briefabschnitt des 1Kor behandelt, so dass somit der gesamte Brief durchschritten wird. In diesem exegetischen Durchgang werden die Selbstdarstellung des Paulus in ihren Einzelzügen untersucht und die Ergebnisse im Sinne der Thesenüberprüfung zugeordnet. Die Erhärtung meiner Ausgangsthese, dass sich Paulus im 1Kor nach der Gestalt des Weisen präsentiert, erfolgt dabei auf dem Wege der Kumulation. Nicht ein einzelner Hinweis genügt, sondern die Masse der Hinweise deutet darauf hin. Dabei ist jedoch nicht allein die Quantität der Indizien, sondern auch ihre Qualität maßgeblich. Im Schlussteil werde ich noch einmal alle Ergebnisse gebündelt wiedergeben, einen kurzen fragenden Ausblick auf den 2Kor wagen und ein Fazit ziehen.

 Ich ziehe hier aus dem Pearson-Zitat den gleichen Schluss wie B.Witherington, Jesus the Sage. The Pilgrimage of Wisdom, Edinburgh 1994, 296, der in Paulus allerdings einen „prophetic sage“ innerhalb der jüdisch-hellenistischen Weisheitstradition (Ben-Sira; SapSal) sehen möchte (a.a.O. 330 f). Ich denke, das ist zu eng gefasst.

Teil A Grundlegung

Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen – Annäherungen an Paulus als Autobiograph Selbstdarstellung ist ganz wortwörtlich zunächst die Darstellung des Selbst.¹ Um also der Frage nach der Darstellung des Selbst bei Paulus nachzugehen, müssen beide Aspekte vor einer auf Paulus bezogenen Untersuchung eingegrenzt und gesondert betrachtet werden. Es versteht sich von selbst, dass bei einer historischkritischen Betrachtungsweise gegenüber Paulus die geschichtliche Dimension nicht ausgeblendet wird, sondern vielmehr der Frage vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte des Apostels nachgegangen wird. Insofern ist in diesem Kapitel nach zweierlei Dingen zu fragen. Zum einen: Was ist zu Zeiten des Paulus das Selbst? Zum anderen: Was bedeutet zu Zeiten des Paulus Darstellung des Selbst? Oder noch konkreter: Was sind zu seinen Zeiten übliche Darstellungsformen des Selbst? Der erste Aspekt soll hier zunächst beleuchtet werden.

1 Das Selbst in der Antike – Wege zur Person des Paulus 1.1 Annäherungen an die Person des Paulus Das Interesse an der paulinischen Persönlichkeit und Person ist ungebrochen, wie der 2005 von Eve-Marie Becker und Peter Pilhofer herausgegebene Tagungsband „Biographie und Persönlichkeit des Paulus“² zeigt. Neben zwei Beiträgen in jenem Sammelband befasst sich Becker in dem von Oda Wischmeyer herausgegebenen Lehrbuch „Paulus“³ (22012) mit der Person des Apostels.⁴ Ich gebe im Folgenden Beckers Gedanken zu Paulus als Person wieder und befrage diese kritisch. Dies dient als Annäherung an das Thema, soll zudem aber bereits mögliche Sack-

 Ich verstehe den Begriff Selbstdarstellung nicht abwertend-negativ im Sinne einer eitlen Selbstpräsentation, wie dies bei D. Zeller, Selbstbezogenheit und Selbstdarstellung in den Paulusbriefen, in: ders., Neues Testament und Hellenistische Umwelt (BBB 150), Bielefeld 2006, 201– 213 bereits im Titel impliziert ist.  E.-M. Becker/ P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005.  Vgl. E.-M. Becker, „Die Person des Paulus,“ in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe (UTB 2767), Tübingen/ Basel 22012, 129 – 141.  Außerdem hat Becker unter gleichem Titel einen entsprechenden Beitrag im „Paulus Handbuch“ veröffentlicht, vgl. E.-M. Becker, „Die Person des Paulus,“ in: F. W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 128 – 134. DOI 10.1515/9783110498769-003

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Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen

gassen, dann aber auch gangbare Wege bei der Behandlung der Frage nach der Person des Paulus aufzeigen. Becker definiert zunächst nicht eindeutig, was sie unter ‚Personʻ bzw. ‚Persönlichkeitʻ versteht.⁵ Lediglich in einer Anmerkung gibt sie zu erkennen, dass sie wohl Friedrich Schillers poetischer Definition folgt, wonach Person ‚das Bestehende in der Veränderungʻ sei.⁶ Sie benennt die Darstellung der Person als den Versuch, bleibende Charakteristika eines historischen Individuums zu beschreiben sowie zugleich die Reziprozität von einmaligen biographischen Ereignissen und bleibenden Charakteristika jenes Individuums zu erarbeiten.⁷ Nachdem Becker festgestellt hat, dass die Person des Paulus 1) nicht physiognomisch-ikonographisch, sondern ausschließlich literarisch zu erfassen sei,⁸ nähert sie sich Paulus als Person in verschiedenen Abschnitten anhand 2) seiner Eigenschaften, 3) seiner autobiographischen Äußerungen, 4) seiner Beziehungen zu anderen Personen, 5) seines religiös-biographischen Bruchs sowie schließlich seiner Grenzen bzw. ‚Entgrenzungenʻ (6) Körper und 7) Eschaton) an. Becker übernimmt für ihren zweiten Abschnitt über Paulus als Person aus der philosophischen Anthropologie einen Katalog an Eigenschaften, der für eine Person unter dieser Perspektive charakteristisch sei.⁹ Personalität ist demnach  Becker, „Person“ 130 verweist dabei lediglich auf W. Sparn, „Einführung in die Thematik ‚Biographie und Persönlichkeit des Paulus’,“ in: Becker/ Pilhofer (Hg.), Biographie, 9 – 28, dass zwischen beiden Begriffen unterschieden werden müsse, ohne beide aber näher zu definieren. In ihrem neuesten Beitrag nähert sie sich den Begriffen an, indem sie Person als Fragebegriff für die Identität und Individualität eines menschlichen Lebens nimmt (Paulus 128) und die Verwendung des Begriffs Persönlichkeit über die religionsgeschichtliche Schule zu Kant als Mittel zum „Anteil an der ‚intelligiblen Weltʻ“ (a.a.O. 129) zurückverfolgt.Was dies nun genau bedeutet, bleibt aber im Unklaren.  Vgl. Becker, „Person“ 129 Anm. 2.  Vgl. Becker, „Person“ 129.  Vgl. Becker, „Person“ 130 f. Bis auf seine Ablehnung langer Haare für Männer (1Kor 11,14), die sich sicherlich auf seine eigene Frisur erstreckt haben wird, ist den Paulus-Briefen nichts Ikonographisches zu entnehmen. In der Einleitung zum nächsten Abschnitt kommt Becker noch kurz auf Lukas zu sprechen, der „für seine Prosopographie [sc. des Paulus] einen historiographischen Rahmen“ (131) wähle. Unter Prosopographie versteht Becker demnach nicht das, was heutzutage als historische Methode zur Erforschung von Kollektivbiographien(!) bekannt ist, sondern meint wohl einfach die Beschreibung der Person des Paulus durch einen Dritten. Mir erscheint hier der Begriff ‚Prosopopoeiaʻ (vgl. Johnson, Writings 201), der zugleich das rhetorische Stilmittel des Lukas zutreffend beschreibt, angebrachter zu sein. Der Evangelist schildert Paulus ja nicht neutral historisch, sondern – wie auch Becker zutreffend feststellt – tendenziös historiographisch. Insofern gestaltet Lukas seinen Paulus stilistisch wie auch inhaltlich nach eigenem Interesse.  Vgl. Becker, „Person“ 131– 133; ähnlich dies., „Person“ (2013) 132 f. Woher Becker diesen Eigenschaftskatalog bezieht, ist indes nicht ersichtlich. Die „Person“ 132 Anm. 16 angeführten Lexikonartikel in RGG4 (H.-P. Schütt, „Person II. Philosophisch-anthropologisch,“ in: RGG4 6 (2003),

1 Das Selbst in der Antike – Wege zur Person des Paulus

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bestimmt durch gewisse Konstituenten, nämlich Bewusstsein, Leidensfähigkeit, die Annahme der Perspektive eines anderen, Gedächtnis, Willensfreiheit und IchBewusstsein. Beckers Leitfrage in diesem Abschnitt ist: „Wie lässt [Paulus] sich als Person, d. h. in seinen personalen Grundzügen, erfassen und definieren?“¹⁰ Becker zieht nun Beispiele für die jeweiligen benannten Eigenschaften aus den Briefen des Apostels heran, um zu zeigen, dass Paulus in diesem Sinne der Status einer Person zukommt. Sie versteht also Paulus’ Aussagen jenseits ihres jeweiligen Kontexts und herausgehoben aus der literarischen Ebene als tatsächliche Aussagen über sein Person-Sein. Becker kann auf diesem Wege nachweisen, dass Paulus auch nach anthropologisch-philosophischen Gesichtspunkten Personalität zukommt. Allerdings erscheint die von Becker getroffene Zuordnung nach philosophischen Kategorien theologisch zutiefst fragwürdig. Gerade die ethisch-theologische Diskussion um die Ansichten des Moralphilosophen Peter Singer¹¹ hat deutlich werden lassen, dass ein philosophisch-anthropologischer Person-Begriff für das theologisch-ethische Denken auszuschließen ist. Die auch für Singer (durch John Locke vermittelte und um das Kriterium Bewusstsein angereicherte) basale Person-Konzeption des spätantiken christlichen Philosophen Boethius¹², Person sei die unteilbare Substanz einer vernunftbegabten Natur (naturae rationabilis individua substantia),¹³ hat sich für die Theologie m. E. als ontologischer Irrweg herausgestellt. Denn wenn Person allein durch kognitive Eigenschaften konstituiert wird, ergibt sich zwangsläufig, dass Menschen, denen diese Eigenschaften aufgrund einer Behinderung oder ihres Alters fehlen, nicht als Personen anzusehen sind. Dies führt aber geradewegs auf einen ethischen slippery slope, an dessen Ende die Bejahung der Tötung von Nicht-Personen in letzter Konsequenz nicht vermieden werden kann, und kann deshalb niemals eine theologische Einsicht sein.¹⁴ Insofern ist es theologisch keineswegs sinnvoll, Paulus’ kognitive

1121– 1123; G. Figal, „Mensch III. Philosophisch,“ in: RGG4 5 (2003), 1054– 1057) stehen von ihrer Aussage her gerade diametral zu solch Katalogen, die allein auf kognitive Eigenschaften zielen.  Becker, „Person“ 132 [Kursivierung übernommen].  Vgl. etwa P. Singer, P., Praktische Ethik (Universal-Bibliothek 8033), Stuttgart 21994 und ders., Rethinking Life and Death. The Collapse of Our Traditional Ethics, New York 1994.  Vgl. G. Figal, „Boethius,“ in: RGG4 1 (1998), 1665 – 1666.  Vgl. M. Brasser (Hg.), Person. Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart (UniversalBibliothek 18024), Stuttgart 1999, 47– 53.  W. Härle, „Mensch VII. Dogmatisch und Ethisch. 1. Problemgeschichtlich und systematisch,“ in: RGG4 5 (2002), 1066 – 1072: „Auch das angemessene Verständnis des M[enschen] als Person erschließt sich nicht über die Benennung und Auszeichnung bestimmter Eigenschaften, sondern dadurch, daß sich die Aufmerksamkeit auf die Art der Relation richtet, in der zugänglich wird, was der Begriff ‚Personʻ meint. Deswegen führen die Versuche in die Irre, die den Personbegriff z. B. an

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Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen

Eigenschaften nach einem philosophisch-anthropologischen Schema als Konstituenten für Personalität zu benennen.¹⁵ Ganz abgesehen davon erscheint es ohnehin zweifelhaft, ob die Aufzählung der personalen Eigenschaften bei Paulus irgendetwas austrägt für die Frage nach der historisch-konkreten Person des Paulus. Denn alle Informationen, die Paulus über sich selbst gibt, verbleiben ganz auf der literarischen Ebene und können mitunter auch als reine Rhetorik bzw. Stilistik angesehen werden. So ist sein Bericht über die eigene Vergangenheit in Gal 1– 2 nicht bloß ein Beleg für sein vorhandenes und funktionierendes Gedächtnis, sondern stellt im Zusammenhang des Briefes die Basis für Gesamtargumentation dar.¹⁶ Und gerade die Diskussion um die Freiheit in 1Kor 9 dreht sich ja nicht bloß um Paulus’ „prinzipielle menschliche Freiheit“¹⁷, sondern ist zum einen eng mit seinem Status als Apostel und Augenzeuge des Auferstandenen (9,1!), dann aber auch mit seinem Status als Christusgläubiger verknüpft, der eben nicht ‚prinzipiell menschlichʻ ist. Nochmals: Niemand bestreitet, dass Paulus Person nach philosophisch-anthropologischen Kriterien sein kann. Nur: Was trägt dieser (scheinbare) Erkenntnisgewinn aus? Und müssen Paulus’ Selbstaussagen (oder wenn man so will: Personaussagen) nicht auch und besonders in einem rhetorisch-argumentativen Licht verstanden werden? Mit ihrem dritten Abschnitt¹⁸ kommt Becker auf Paulus als Autor und Autobiograph zu sprechen und spielt den literarischen Charakter der Briefe ein. Über die literarischen Aspekte der Autobiographik hinaus stellt Becker aber einen

den Aufweis bestimmter Fähigkeiten (wie Selbstbewußtsein oder Interesse) knüpfen“ (1070). Daher denke ich, dass für die Theologie Person-Sein sich allein als ein relationales Geschehen denken lässt, und da in einem jeden theologisch gedachten Geschehen Gott der zuerst Sprechende und Handelnde ist, kommt jedem Menschen, insofern er von Gott angesprochen wird, gleichermaßen der Person-Status zu.  Die exegetischen Disziplinen müssen zwar im Verbund der anderen theologischen Disziplinen eigenständig sein, sie sollten aber nie losgelöst von ihnen zu stehen kommen. Gerade Becker betont diesen Punkt als Herausgeberin und Co-Autorin eines Buchs, das die evangelische Theologie als enzyklopädische (d. h. als unter ihren eigenen Teildisziplinen vernetzte) Wissenschaft versteht (dies./D. Hiller, (Hg.), Handbuch Evangelische Theologie. Ein enzyklopädischer Zugang (UTB 8326), Tübingen/Basel 2006). Insofern ist es verwunderlich, dass sie in Bezug auf das Person-Sein des Paulus diesen Anspruch aufgegeben hat. Auch in ihrem jüngsten Beitrag zur Person des Paulus bleibt Becker bei ihrer Ansicht und bezeichnet das Bewusstsein als „zentrale[s] Grundmerkmal von Personalität“ (Person [2013] 130).  Allein deswegen erkennt etwa H. D. Betz, „The Literary Composition and Function of Paul’s Letter to the Galatians,“ in: NTS 21 (1975), 353 – 379 in diesem autobiographischen Stück die narratio einer Verteidigungsrede (362– 367).  Becker, „Person“ 132.  Vgl. Becker, „Person“ 133 f.

1 Das Selbst in der Antike – Wege zur Person des Paulus

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engen Zusammenhang mit der Ausbildung der ‚Personalitätʻ¹⁹ her. Indem sie die Briefe als autobiographisch erkennt, weist sie Paulus Individuierung als die Erfahrung der eigenen Individualität zu. Paulus nimmt sich selbst als eigenständiges Wesen wahr und kann daher – individuiert – auch über sich selbst schreiben und sich durch das autobiographische Schreiben selbst – individuell und individuierend – weiter gestalten. Dies ist durchaus richtig, wobei ein Zusatz in der zweiten Auflage ihres Beitrages (im Folgenden kursiviert) zeigt, worauf Becker den Schwerpunkt legen möchte: „Individuierung und Autobiographie bedingen sich gegenseitig und konstituieren wesentliche Momente der ‚Personʻ auch in Abgrenzung von anderen.“²⁰ Die Abgrenzung von anderen spielt in ihrem nächsten und übernächsten Abschnitt eine wichtige Rolle, insofern Becker die Selbstdarstellung des Paulus als ‚ausgesondertʻ (Röm 1,1; Gal 1,15) betont.²¹ Zuvor kommt Becker aber noch auf den literaturgeschichtlichen Aspekt zu sprechen, dass Paulus sich durch das autobiographische Schreiben (als individuiertes und individuierendes Schreiben) von seiner antiken Umwelt abhebt, da es damals „nicht grundsätzlich verbreitet“²² war. Becker bezieht dieses Urteil ausdrücklich auf jüdische Autoren. Jedoch ist fraglich, ob dem wirklich so ist. Gerade der von Becker angeführte Artikel²³ spricht sich für eine kulturübergreifende breite Vielfalt autobiographischer Elemente in allen literarischen Bereichen aus. Auch sind die von Becker beispielhaft genannten Namen Cäsar, Augustus und Nikolaos von Damaskus keine sicheren Belege für ihre Behauptung, da deren Autobiographien entweder gar nicht oder nur höchst fragmentiert überliefert sind. Zudem geben für den jüdischen Kulturkreis Esra, der Lehrer der Gerechtigkeit, Herodes I. und Flavius Josephus (Letzterer von Becker als Ausnahme eingestuft) Beispiele für autobiographisches Schreiben ab (s.u. 2.6). Es darf hier daran erinnert werden, dass die uns aus der Antike überlieferten Schriften nur einen Bruchteil der tatsächlich existierenden Werke darstellen.²⁴ Insofern können wir stets nur Urteile über das überlieferte Material treffen, das freilich im Bereich der Autobiographie nicht dürftig ist.

 Von Becker, „Person“ 134 ebenfalls in einfache Anführungszeichen gesetzt. Warum? Ist autobiographische Personalität Becker zufolge doch keine echte Personalität?  Becker, „Person“ 134.  Vgl. Becker, „Person“ 135.137.  Becker, „Person“ 134.  Der zudem noch fälschlicherweise Karl Jansen-Winkeln zugeschrieben ist. Richtig ist B. Pongratz-Leisten/ H. Görgemanns/ W. Berschin, „Autobiographie,“ in: DNP 2 (1997), 348 – 353.  Insofern ist auch das Urteil Beckers unrichtig, Josephus sei „der Verfasser der einzigen antiken jüdischen Autobiographie“ („Person“ 137 Anm. 30). Josephus ist vielmehr der Verfasser der einzigen überlieferten antiken jüdischen Autobiographie.

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Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen

Dem vierten Abschnitt, ‚Paulus als Apostelʻ,²⁵ legt Becker die These zugrunde, dass Paulus’ Apostolizität das „entscheidende Wesensmerkmal paulinischer Personalität“²⁶ ist. In drei Unterabschnitten zum Verhältnis von Paulus zu Christus, den Aposteln und den Gemeinden führt Becker diesen Gedanken weiter aus. Dabei betont sie zweimal, dass die Berufung zum Apostel „ad personam“²⁷ geschehen sei. Ob mit dem Gebrauch des Lateinischen eine neue Kategorie von Person eingeführt werden soll, wird nicht deutlich, zumal Becker zum einen davon spricht, dass seine Qualifizierung zum Apostel „mit der gesamten Person und Existenz des Paulus verknüpft“²⁸ ist, und sie zum anderen die „Person Jesu Christi“²⁹ ins Spiel bringt. Kann man die erste Aussage noch als Bündelung aller philosophisch-anthropologischen Eigenschaften verstehen, fragt man sich bei der zweiten, ob damit auf die Trinität angespielt ist. Da Becker nirgendwo deutlich eine Definition von Person angebracht hat und diese gleich bleibend durchhält, bleibt dies alles im Unklaren.³⁰ Der fünfte Abschnitt befasst sich mit ‚Paulus als Jude und Christʻ und dem (angeblichen) Bruch in seiner Person.³¹ Hier stellt Becker die These auf, dass die Person des Paulus „in der Spannung von ‚Judentumʻ und ‚Christentumʻ steht“³². Tatsächlich sei seine religiöse Zugehörigkeit in der Außenwahrnehmung unklar (er gelte den Juden als abgefallener Jude, den Heiden als schismatischer Jude) und zwinge Paulus immer wieder dazu, sie zu verdeutlichen. Den biographischen Bruch, der tatsächlich von einem Religionswechsel herrühre, verstehe Paulus als vor seiner Geburt göttlich bestimmte Aussonderung (Gal 1,15; Röm 1,1).³³ In dieser Aussonderung begegnet also das bereits erwähnte Motiv der Abgrenzung. Schon die Überschrift dieses Abschnitts, dann aber auch die Sprache im Fließtext ist unglücklich gewählt.Von Paulus als einem Christen im Gegenüber zu Juden zu sprechen ist anachronistisch.³⁴ Die von Becker verwendeten einfachen

 Vgl. Becker, „Person“ 134– 136.  Becker, „Person 134; im Original kursiviert.  Becker, „Person“ 135.  Ebd. Die ‚ganze Personʻ des Paulus findet auch noch a.a.O. 136 Erwähnung.  Ebd.  Beachtenswert ist, dass Becker in diesem Abschnitt bei ihrer Einsicht, dass Paulus in einer Spannung von ‚ichʻ und ‚wirʻ steht, stringent in den Aussagen in der 1.P.Pl. den Zusammenschluss des Paulus mit seinen Mitarbeitern oder seinen Adressaten sieht und nicht auf das Konstrukt eines schriftstellerischen Plurals verfällt. Ausführlich zu dieser Problematik s. Kapitel 2.  Vgl. Becker, „Person“ 136 – 138.  „Person“ 137.  Vgl. ebd.  Dieser Anachronismus begegnet auch in weiteren Beiträgen des Paulus-Lehrbuchs, so bei Eva Ebel, „Das Leben des Paulus“ 105 – 118 (114: „Der Jude Paulus“; 115: „Der Christ Paulus“). Ein

1 Das Selbst in der Antike – Wege zur Person des Paulus

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Anführungszeichen um die Worte Judentum und Christentum weisen daraufhin, dass auch sie sich bewusst ist, auf historisch unsicherem Grund zu stehen. Tatsächlich basiert Beckers Schilderung, wie dann auch durch die Stellenangaben deutlich wird, auf der Darstellung der Apostelgeschichte, nicht aber auf den Paulusbriefen. Eine Größe Christentum hat es zu Paulus’ Zeiten noch nicht gegeben, sondern war erst dabei, sich zu bilden.³⁵ Ein Religionswechsel des Paulus kommt daher gar nicht infrage, denn wohin – außer in eine pagane Religion hinein – hätte er wechseln können? Vielmehr sollte man für die Wirkungszeit des Apostels in Bezug auf die von seinem Evangelium überzeugten Menschen von Christusgläubigen statt von ‚Christenʻ sprechen. Diese Christusgläubigen können sich dann sowohl aus dem von jüdischer Warte aus bestimmten religiösen Phänotyp ‚Judeʻ als auch aus dem Phänotyp ‚Heideʻ (d. h. Nicht-Jude) rekrutieren.³⁶ Dass damit allerdings schon eine neue Religion begründet ist, ist zu bezweifeln. Becker selbst spricht von einer „noch diffusen neuen religiösen Gruppierung“³⁷. Diese Gruppierung befindet sich aber m. E. zur Zeit des Paulus und noch Jahrzehnte danach im Bereich des Judentums.³⁸

ausgewogenes Bild vermittelt dagegen in jenem Band Jörg Frey, auch in seiner Kritik an der ‚New Perspective on Paulʻ (vgl. ders., „Das Judentum des Paulus,“ in: Wischmeyer, Paulus, 25 – 65).  Was ‚dasʻ Judentum angeht, gibt es keinen Forschungskonsens. Nach Dunn, „Partings“ 238 f bildete sich erst nach den Katastrophen von 70 und 135 ein ‚normatives Judentumʻ, dem gegenüber und in Abgrenzung dazu dann ‚dasʻ Christentum zu stehen kommt. Aber: „Eine allg[emein] anerkannte, griffige Defintion von J[udentum] fehlt bis heute, da nicht zuletzt auch innerhalb des J[udentums] selbst aufgrund der verschiedenen Strömungen […] kein einheitliches Verständnis des J[udentums] existiert“ (Y. Domhardt/ J. Niehoff, „Judentum,“ in: DNP 5 (1998), 1193 – 1200 [1193]). Behelfsweise verstehe ich unter Juden Angehörige einer monotheistischen Religion, die sich dafür auf die heilige Schrift der Thora berufen, in welcher die Glaubensgemeinschaft als Volksgemeinschaft aufgefasst wird und die Erwählung dieses Volkes durch den einen Gott bezeugt wird, was wiederum (als fromme Antwort) die Gläubigen zur Einhaltung bestimmter, in der Thora festgehaltener kultischer Handlungen und ethischer Normen verpflichtet (Bund). Differenzen mit dem von Paulus propagierten Christusglauben ergeben sich an den Punkten Volksgemeinschaft und Einhaltung kultischer Handlungen, die er neu bestimmte.  Damit lassen sich die Termini ‚Judenchristenʻ und ‚Heidenchristenʻ durch ‚christusgläubige Judenʻ und ‚christusgläubige Heidenʻ ersetzen.  Becker, „Person“ 137.  Vgl. J. D. G. Dunn, The Partings of the Ways. Between Christianity and Judaism and their Significance for the Character of Christianity, London/ Philadelphia 1991, 146 – 149 (zu Paulus’ JudeSein); 160 – 162. Ob eine Absetzbewegung dieser neuen Gruppierung, die zur späteren Loslösung und religiösen Eigenständigkeit des dann berechtigterweise so genannten ‚Christentumsʻ führt, bereits in ihren Lehren (Christologie, Thoraauslegung etc.) angelegt ist, wird kontrovers diskutiert. Gal 6,15, wo von einer „neuen Schöpfung“ gegenüber Beschneidung und Unbeschnittenheit die Rede ist, verfängt m. E. nicht als Beleg für ein religiöses genus tertium. Denn es geht dort (wie auch in Gal 3,25; 1Kor 7,19; Röm 2,28 f) um die Möglichkeit, ein Jude zu sein, ohne äußerlich beschnitten

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Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen

Becker betont dann auch zu Recht, dass Paulus weder seine jüdische Herkunft noch seine Zugehörigkeit zum Judentum verleugnet oder in Zweifel zieht.³⁹ In der Tat ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich jemand, der sich wenigstens fünfmal der Synagogenstrafe der 39 Geißelhiebe⁴⁰ unterworfen hat (2Kor 11,24) und auch sonst seine Zugehörigkeit zu Israel oft betont (Phil 3,5; 2Kor 11,22; Röm 9,3 f; 11,1; Gal 2,15), als vom Judentum gelöst begreift.Von daher kann Paulus in Phil 3,3 über sich und seine jüdischen Mitarbeiter,⁴¹ die dem göttlichen Geist dienen, ihren Stolz im Christus Jesus haben und ihr Vertrauen nicht in die eigene Herkunft setzen, voller Emphase schreiben: ἡμεῖς γάρ ἐσμεν ἡ περιτομή („Wir nämlich sind die Beschneidung“). Ein Bruch in Paulus’ Biographie ist zwar auszumachen (1Kor 15,8; Gal 1,15 f.23; Phil 3,7 f), er wird aber sogleich von ihm selbst eingeordnet: Indem Paulus seine Berufung in die Zeit vor seiner Geburt verlegt (Gal 1,15), enthebt er sich des Vorwurfs, eine gebrochene Biographie zu haben. Auch Becker erkennt diese literarische Strategie an, behandelt Paulus dann aber wie ein modernes Individuum, indem sie ihm als ‚ausgesondertesʻ, und d. h. für sie individuiertes, Wesen in psychologisierender Weise („[m]odern gesprochen“⁴²) einen Religionswechsel unterstellt. So wie das Argument eines Religionswechsels fraglich ist, sehe ich gleichermaßen die Übernahme von modernen psychologischen Kategorien für das Seelenleben eines antiken Menschen kritisch.⁴³ Zudem muss man m. E. den biographischen Bruch des Apostels im Einklang mit seinen eigenen Aussagen ganz anders sehen. Nicht die ‚Aussonderungʻ als vorgeburtliche Berufung oder als Aufnehmen seiner Tätigkeit als Apostel stellt den Bruch dar. Vielmehr gilt doch in der Selbstdarstellung des Paulus (die möglicherweise, was aber nicht definitiv zu sagen ist, seine tatsächliche Selbstsicht bietet): Der Bruch besteht in Paulus’ Verfolgertätigkeit! Diese entsprach nicht seiner vorgeburtlichen Berufung. Deshalb ist es ihm beinahe verwehrt, Apostel genannt zu werden (1Kor 15,9). Dabei markiert die Verfolgertätigkeit des Paulus gleichsam den Höhepunkt seines fortgeschrittenen und außerordentlichen Wandels im Judaismus (Gal 1,13 f; Phil 3,5 f). Diesen herausragenden Status kann der Apostel im Rückblick nicht als zu sein. Das ist freilich eine „neue Schöpfung“, bedeutet aber keineswegs bereits eine völlige Loslösung vom jüdischen mainstream,vgl. Jos.Ant. 20,34– 42 über die beschneidungsfreie Mission des jüdischen Händlers Ananias in Adiabene; obwohl der König Izates sich schließlich doch beschneiden ließ, gab es zeitgleich mit Paulus offensichtlich innerhalb der jüdischen Religion die Auffassung, man könne und dürfe auch ohne Beschneidung ein Jude sein.  Vgl. Becker, „Person“ 138.  Vgl. C. Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (THK 8), Berlin 1989, 233 f.  Vgl. F. Wilk, „Ruhm coram Deo bei Paulus?,“ in: ZNW 101 (2010), 55 – 77 (63).  Becker, „Person“ 137.  S.u. zur Persönlichkeit des Paulus. Das sieht Becker freilich anders, vgl. dies., „Paulus“ 129.

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Gewinn, sondern nur als Schaden beurteilen (Phil 3,7: ταῦτα). Aber angesichts seines Erkenntnisgewinns im Hinblick auf den Christus Jesus kann Paulus ‚freilich allesʻ (μενοῦνγε … πάντα) nur noch als Schaden, ja als Dreck betrachten (3,8). Die jüdische Religionspraxis ist nur ein Teil dessen. Paulus betreibt damit zwar eine Abwertung der jüdischen Religionspraxis, die in der Polemik (Gal 5,12; Phil 3,2) zu einer totalen Abwertung geraten kann. Von seiner eigenen Logik her kommt der jüdischen Religionspraxis jedoch angesichts des Ethnien überwindenden Heils letztlich ein adiaphorer Charakter zu (Gal 2,14– 16).⁴⁴ Der fortgeschrittene Wandel im Judaismus mag Paulus zur Verfolgung der Christusgemeinde angeregt haben, ist aber in sich selbst nicht als Bruch mit seiner vorgeburtlichen Bestimmung zum Völkerapostel zu verstehen. Dieser fand erst statt, als Paulus gegen Gottes erwählte Gemeinde und damit gegen den Christus selbst vorgegangen ist, denn die Aussonderung ist auf das Evangelium Gottes bezogen (Röm 1,1), das in der Botschaft von der Gottessohnschaft und Auferstehung Jesu Christi besteht (1,3 f). Die an Paulus ergehende Offenbarung des Auferstandenen und die damit verbundene Beauftragung zur Evangeliumsverkündigung (Gal 1,16) bestätigt nur die schon vorher geschehene Erwählung im Mutterleib. Damit ergibt sich im Rückblick für Paulus eine konsistente Selbstdarstellung und durchaus kein Religionswechsel.⁴⁵ Diese Sicht auf Paulus entspricht auch mehr seinem zeitgeschichtlichen Umfeld, das den Menschen als Entelechie auffasste (s.u. 2.2) und damit die Auffassung vertrat, dass der Charakter eines Menschen (und damit auch gleichsam sein Lebensweg) unabänderlich feststand. Die Antike scheute das Neue und Unangepasste. Dies war ja auch der Grund für die frühkirchlichen Apologeten, immer wieder auf das ‚eigentlichʻ hohe Alter des Christentums aufgrund seiner Wurzeln im Judentum hinzuweisen. In diesem antiken Denken ist auch Paulus’ Darstellung seiner Biographie zu sehen: Paulus war kein Pietist. Es hätte auf potentielle Anhänger charakterschwach und damit unglaubwürdig und abschreckend gewirkt, hätte der Apostel sich selbst durch sein Christus-Erlebnis gleichsam als jemand ganz Neues präsentiert. Das Christus-Erlebnis stellt viel-

 Thoraobservanz kann Paulus zufolge nur zu einer privaten Gerechtigkeit beitragen,vgl. F.Wilk, „Gottesgerechtigkeit – Gesetzeswerke – eigene Gerechtigkeit. Überlegungen zur geschichtlichen Verwurzelung und theologischen Bedeutung paulinischer Rechtfertigungsaussagen im Anschluss an die ‚New Perspective‘,“ in: ThLZ 135 (2010), 267– 280 (279).  Daher ist es auch angebracht, im Hinblick auf die Christus-Offenbarung (1Kor 15,8; Gal 1,15 f) von einer Berufung im Gegensatz zu einer Bekehrung zu sprechen, da Paulus in diesem Geschehen gegenüber dem Handeln Gottes ganz passiv war, vgl. P.Wick, Paulus (UTB basics), Göttingen 2006, 37.

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mehr eine Korrektur des bisherigen falschen Lebenswandels dar und kittet Paulus’ biographischen Bruch, der durch seine Verfolgertätigkeit entstanden war.⁴⁶ In den beiden letzten Abschnitten zu Grenzen und Entgrenzung der Person via Körperlichkeit bzw. Eschaton verbindet Becker einmal mehr die aus der philosophischen Anthropologie gewonnenen Person-Eigenschaften mit Paulus’ Biographie und seinen theologischen Vorstellungen.⁴⁷ Die Erfahrung von Krankheit bzw. Leiden und das durch Christus begrenzte Ich-Bewusstsein spielen hier eine besondere Rolle, insofern dadurch die personale Existenz in ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Selbstbewusstheit eingeschränkt oder überhaupt infrage gestellt wird. Gerade in diesem Abschnitt wirkt die Darstellung Beckers am stärksten, was auch daran liegen mag, dass die von ihr eingeführten, theologisch fragwürdigen philosophischen Person-Kategorien durch Paulus selbst ausgehebelt bzw. umgedeutet werden. Dadurch, dass Paulus selber Person grundsätzlich somatisch bestimmt,⁴⁸ verlieren auch die zuvor aufgestellten kognitiven Eigenschaften in diesem Abschnitt, der sich mit der Körperlichkeit von Person befasst, an Bedeutung. Beckers Beitrag zur Person des Paulus ist, obgleich inhaltlich an vielen Stellen überaus problematisch, insgesamt hilfreich, da er an sich selbst die Aporien aufzeigt, die sich ergeben, wenn nicht im Vorfeld geklärt ist, wie die Größe ‚Personʻ theologisch und die Gestalt ‚Paulusʻ historisch bzw. religionsgeschichtlich zu verorten ist. Ohne diese Klärung kann sich theologisch wie historisch nur wenig Sinnvolles ergeben. Zum Schluss ihres Einführungsbeitrages zum Sammelband über Biographie und Persönlichkeit des Paulus (2005) formuliert Becker verschiedene Fragen: „Gibt es eine ‚Personʻ Paulus in und hinter einer Biographie,  Kritisch ließe sich einwenden, dass diese Sicht einer (relativ) bruchlosen Biographie nur sub specie Dei, nicht aber im Hinblick auf Paulus’ eigenes Erleben gilt. Doch dieser kritische Ansatz findet letztlich keinen Halt, weil Paulus als von Gott berufener Apostel in seinen Briefen als offiziellen Schreiben eben nur die göttliche Sicht vertreten kann. Gerade aufgrund dieses offiziellen Charakters seiner Schreiben erscheint es mir nicht möglich, Paulus direkt und unvermittelt in die Seele zu blicken (s.u. 1.3). Hinzu kommt, wie oben vermerkt, das antike Selbstverständnis des Menschen als Entelechie: Vermutlich wird Paulus sich nicht nur entsprechend homogen dargestellt, sondern auch so gedacht und nach der Christus-Erfahrung seine Lebensstationen dieser Logik gemäß in seine Biographie eingeordnet haben.  Vgl. Becker, „Person“ 138 – 141.  Vgl. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments. Durchgesehen und ergänzt von Otto Merk (UTB 630),Tübingen 91984, 193 – 203; von Becker als ‚Klassikerʻ angeführt. Allerdings wird auch bei Bultmann letztendlich das kognitive Denken zur Grundlegung für Person, insofern er dafür im Gefolge Sören Kierkegaards (Die Krankheit zum Tode) ein Sich-Verhalten zu sich selbst des Menschen voraussetzt. Für eine ethische Diskussion müsste man an dieser Stelle der Frage weiter nachgehen, ob es – und wenn ja, welche – Stufen von Selbstbewusstsein und Selbstreferentialität gibt und wie sie sich auf den Person-Status auswirken. Das kann hier nicht erfolgen.

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ohne daß ‚Personʻ und ‚Biographieʻ voneinander zu trennen oder miteinander identisch wären? Wer ist die ‚Personʻ Paulus hinter seinen Briefen? Lassen sich die Person oder wenigstens Spuren der Person in den rekonstruierten ‚Paulus-Bildernʻ fassen?“⁴⁹ Diese grundlegenden Fragen bleiben virulent und sind durch Beckers spätere Einlassungen zum Thema nicht zufriedenstellend beantwortet. Diesen Fragen soll daher in einer eigenen Konzeption zur Person des Paulus im Folgenden nachgegangen werden.

1.2 Begriffsklärungen Bevor ich mich möglichen Zugangsweisen zu Paulus über seine Persönlichkeit oder seine Person zuwende, gilt es zu klären, was diese Begriffe jeweils bedeuten. Dabei erfolgt das gedankliche Fortschreiten von modernen Sprech- und Denkkategorien hin zu antiken Begrifflichkeiten und Konzepten von Person und Persönlichkeit, um Paulus in seiner historischen Verortung gerecht zu werden. Gerade ‚Persönlichkeitʻ ist im Deutschen ein sehr schillernder Begriff, kann er doch sowohl ein Individuum als geschichtsträchtig herausragend beschreiben (‚er ist eine bedeutende Persönlichkeitʻ) als auch in psychologischer Hinsicht den Charakter eines Menschen bezeichnen (‚sie hat eine – so und so geartete – Persönlichkeitʻ).⁵⁰ Hilfreich erscheint im Hinblick darauf die lexikalische Definition in psychologischer Perspektive, die Rücksicht auf die historische Ebene nimmt: „Persönlichkeit […] bez[eichnet] die Einmaligkeit eines Menschen, der im Rahmen seiner genetischen und gesch[ichtlich]-biogr[aphischen] Bedingtheit sein Personsein (im philos[ophischen] bzw. theol[ogischen] Sinn […]) verwirklicht.“⁵¹ Es geht bei Persönlichkeit also um die Explikation der eigenen Person.⁵² Walter Sparn schlägt mit einem gewissen Recht vor, den ‚dubiosenʻ⁵³ Begriff ‚Persönlichkeitʻ durch ‚Charakterʻ zu ersetzen.⁵⁴

 Becker, Biographie und Person des Paulus, in: dies./Pilhofer, Biographie, 1– 6 (6).  Von Exegeten der ‚religionsgeschichtlichen Schuleʻ wurde der Begriff in dieser Hinsicht undifferenziert verwendet, insofern von Paulus’ Persönlichkeit wie auch von Paulus als Persönlichkeit gesprochen wurde, vgl. O. Merk, „Die Persönlichkeit des Paulus in der Religionsgeschichtlichen Schule,“ in: Becker/Pilhofer, Biographie, 29 – 45 (34– 45).  H.-J. Fraas, „Persönlichkeit/Persönlichkeitspsychologie,“ in: RGG4 6 (2003), 1138 – 1140 (1138).  F. Niebergall, Person und Persönlichkeit, Leipzig 1911, 19.38 – 58.168 versteht Person und Persönlichkeit in diesem Sinne als die zwei verschiedenen Ichs des Menschen. Während Person, die sich durch ein gewisses Eigenrecht und Eigenart auszeichnet, jedem Menschen naturgegeben zukommt und somit Bedingung für Persönlichkeit ist, stellt Persönlichkeit als Ausdruck schöpferischer Kraft der Selbstverwirklichung eine geistige Größe dar.  So die Überschrift des ersten Vortragskapitels, vgl. Sparn, „Einführung“ 10.

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Was ist nun ‚Personʻ? Hierbei gehe ich von einer gleichsam halbierten boethianischen Definition aus, ohne die Natur einer Person – d. h. also ihre Eigenschaften – in den Blick zu nehmen, und verstehe Person zunächst (s.u.) in einem modernen Sinne als das ungeteilte und distinkte Individuum (‚individua substantiaʻ).⁵⁵ Das Individuum ist gegenüber seiner Umwelt ein unverkennbares Einzelwesen und insofern Person. Unter Person verstehe ich daher (mit Wilfried Joest) „die Bezeichnung für den Menschen als je einzelnes, in seiner besonderen Eigenart begrenztes und von anderen unterschiedenes Individuum“⁵⁶.

1.3 Die paulinische Persönlichkeit Neben der Erforschung des paulinischen Denkens, seiner Theologie, war die Paulus-Forschung auch immer daran interessiert, zur Persönlichkeit des Apostels vorzudringen. Grund dafür bot ihr ja der Umstand, mit seinen Briefen authentische Urkunden von Paulus zu besitzen. So konnte z. B.William Wrede 1904 sagen: „[I]n seinen Briefen vernehmen wir noch heute seine eigene Stimme, unverschleiert, frei von allen Nebentönen, ohne eine andere Mühe als die der Deutung.“⁵⁷ Eine Generation später (1934) schwärmte Hans Lietzmann: „So hat [Paulus] denn auch die Erinnerung an sein Wirken und den Stempel seiner Persönlichkeit dem Gedächtnis der Kirche unverlierbar eingeprägt […]. [I]hm vermögen wir sogar ins Herz zu sehen und sein Glauben, Hoffen und Lieben zu verfolgen.“⁵⁸ Auf dieser Linie

 Vgl. Sparn, „Einführung“ 19. Für Niebergall, Person 32– 38 stellt Charakter das verbindende Moment von Person und Persönlichkeit als natürliche bzw. geistige Größe und damit die Voraussetzung für Persönlichkeit dar.  Die Halbierung der ursprünglichen Definition (rationabilis naturae individua substantia) empfiehlt sich deshalb, da man ethisch-theologisch in schwieriges Fahrwasser gerät, wenn man nur vernunftbegabte Wesen als Personen fasst (s.o.).  W. Joest, Dogmatik. Band 1: Die Wirklichkeit Gottes (UTB 1336), Göttingen 41995, 156. Joest bezieht den Person-Status nicht auf Tiere. Eine ethische Diskussion, die durchaus einige Argumente Singers aufnehmen kann, müsste an dieser Stelle ansetzen und überlegen, ob der PersonBegriff nicht auch auf Tiere bzw. einige Tierarten ausgeweitet werden könnte und müsste. Hier ist nicht der Ort dafür.  W. Wrede, Paulus (RV I/5,6), Tübingen 21907, 1 f. Er urteilt dabei lebensnaher und realistischer als Lietzmann, wo es um die Beurteilung der Person geht, wenn er konzediert (a.a.O. 21): „Briefe spiegeln die Persönlichkeit des Verfassers, aber Briefe täuschen auch darüber. Denn auch wo sie so frei sind von Pose und gemachtem Wesen wie die paulinischen, stellen sie die Persönlichkeit doch immer in das Licht, in dem sie sich selber sieht und in dem sie gesehen zu werden wünscht.“  H. Lietzmann, „Paulus,“ in: K. H. Rengstorf (Hg.), Das Paulusbild in der neueren Forschung (WdF 24), Darmstadt 1964, 380 – 409 (380). Die einzige Konzession, die Lietzmann gegenüber Briefen macht, ist die, dass „Briefe, auch wenn sie diktiert sind, […] noch keineswegs zuverlässig

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liegt heutzutage offenbar auch Udo Schnelle, wenn er in der Einleitung seines Paulus-Buchs (2014) unter Aufnahme eines Zitats von Albert Schweitzer schreibt: „Bei Paulus verdichten sich Biographie und Theologie zu einer spannungsvollen Einheit, denn: ‚Paulus ist der einzige Mensch des Urchristentums, den wir wirklich kennen.ʻ“⁵⁹ Direkt im Anschluss beschreibt Schnelle dann die Aufgabe seiner Untersuchung als „das Erfassen der Persönlichkeit des Apostels“⁶⁰. Doch ist es wirklich möglich, an Paulus als Persönlichkeit heranzukommen? Deutlich ist, dass wir nur Briefe von ihm haben und ihn nicht direkt „von Angesicht zu Angesicht“ (1Kor 13,12 – Luther Übersetzung) vor uns. Zwar gelten Briefe seit der Antike als „Spiegel der Seele“⁶¹; diese (gleichwohl antike) Deutung bezieht sich aber nur auf Privatbriefe.⁶² Die Briefe des Paulus sind dagegen eben keine Privatbriefe, sondern amtliche Schreiben eines göttlich beauftragten Apostels an seine Gemeinden. Dies wird in jedem seiner Briefe sogleich deutlich durch die Absenderangabe in den Präskripten, die eine wie auch immer geartete Titulatur für Paulus beinhaltet.⁶³ Insofern tritt hier innerhalb der direkten brieflichen Kommunikation sozusagen das Amt (des Apostels) zwischen den Menschen Paulus und die jeweilige Adressatengemeinde. Ich meine daher: Über die literarische

ein Bild der mündlichen Rede“ (a.a.O. 390) geben, sie also nur einen Bruchteil des Informationsgehalts einer Rede wiedergeben. Desweiteren stimmt er dem korinthischen Vorwurf 2Kor 10,10 zu, Paulus sei „beim persönlichen Auftreten ein ganz anderer als in seinen Briefen“ (ebd.).  U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/ Boston 22014, 8. S. zudem a.a.O. 21 f: „Die erhaltenen Briefe lassen deutlich die persönlich wie theologisch äußerst komplexe und teilweise spannungsreiche Persönlichkeit des Apostels erkennen.“  A.a.O. 9. Das Erfassen der apostolischen Persönlichkeit erfolge vermittels der „Grundüberzeugungen seines Denkens“ (ebd.).  H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch (UTB 2022), Paderborn/ München/ Wien/ Zürich 1998, 152, der damit Demetrios’ Beschreibung des Briefes als „Abbild der eigenen Seele“ (εἰκόνα […] τὴς ἑαυτοῦ ψυχὴς) (Eloc. 227) wiedergibt. Vgl. auch W. G. Müller, „Der Brief als Spiegel der Seele. Zur Geschichte eines Topos der Epistolartheorie von der Antike bis zu Samuel Richardson,“ in: AuA 26 (1980), 138 – 157.  Tatsächlich hält Demetrios die „langen und hinsichtlich des Stils überdies noch schwülstigen Briefe“ u. a. von Platon nicht für Briefe sondern für Abhandlungen, denen bloß ein Präskript vorgestellt wurde (Eloc. 228). Hätte er viel anders über die paulinischen Briefe geurteilt?  Vgl. Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch 41, wobei sie jedoch Phlm wegen der Selbstbezeichnung δέσμιος (v.1) als Privatbrief ansehen. Allerdings unterschlagen Conzelmann/Lindemann den Zusatz Χριστοῦ Ἰησοῦ, der doch ein qualifizierender Zusatz zu δέσμιος ist und damit dem Präskript titularischen und also dem ganzen Brief amtlichen Charakter gibt. Auch die Nennung von Timotheus als Mitabsender trägt dazu bei, vgl. E. Lohse, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon (KEK 9/2), Göttingen 1(14)1968, 267.

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Ebene hinaus können wir nicht tiefer dringen als bis zu dem, was der Apostel Paulus über den Menschen Paulus preisgeben will.⁶⁴ Hinzu tritt außerdem die Eigenart des antiken Menschen, in der Regel nicht vor einem Publikum über sich selbst in konfessorischer Weise zu sprechen.⁶⁵ ‚Konfessorischʻ meint hier: das eigene Seelenleben auszusprechen. Privat war das nicht ungewöhnlich, wie wir an den Briefen Ciceros sehen,⁶⁶ aber coram publico war dies ungehörig.⁶⁷ Ich halte es daher für unangebracht, wenn nicht gar unmöglich, aufgrund der primär apostolisch-amtlichen Prägung seiner Schreiben zu versuchen, die Persönlichkeit des Paulus in einem modernen Sinne als Charakter⁶⁸ zu erfassen.⁶⁹

 Becker, „Autobiographisches“ 71 sieht im Brief, da er eben ‚Spiegel der Seeleʻ sei, eine „nicht ungeeignete Form autobiographischer Reflexion“, verkennt aber dabei den amtlichen Charakter der paulinischen Briefe. Gleichermaßen trägt sie eine moderne Autobiographie-Auffassung an die Texte heran (68), die ich so nicht nachvollziehen kann.  Vgl. Th. Baier, Autobiographie in der späten römischen Republik, in: Reichel, M. (Hg.), Antike Autobiographien. Werke – Epochen – Gattungen (Europäische Geschichtsdarstellungen 5), Köln/ Weimar/ Wien 2005, 123 – 142 (140) über autobiographisches Schreiben in der römischen Republik und B. J. Malina, Die Welt des Neuen Testaments. Kulturanthropologische Einsichten (aus dem Amerikanischen übersetzt v. G. Guder), Stuttgart/ Berlin/ Köln 1993, 67– 69 generell über die Persönlichkeitsstruktur im 1. christlichen Jahrhundert. G. W. Most, „The Stranger’s Stratagem: Self–Disclosure and Self–Sufficiency in Greek Culture,“ in: JHS 109 (1989), 114– 133 vertritt überzeugend die These, dass es aufgrund des αὐτάρκεια-Konzepts im alten Griechenland bis in hellenistische Zeit hinein als unschicklich galt, über sich selbst zu sprechen. In einer Kultur, die sowohl auf Selbständigkeit als (männliches) Ideal als auch auf Neid gegründet ist, wird Selbstlob als höchst unziemlich, ja aggressiv empfunden. Öffentlich über sich selbst zu sprechen, konnte somit nur in Form der Klage über erlittenes Unheil geschehen. Dann unterwarf man sich sozusagen seinem Gegenüber und lieferte sich dessen Gnade aus, so dass eine Kompensation des erlittenen Unheils möglich wurde.  Selbst wenn Cicero in den Reden oder Paulus in den Briefen auf das eigene Seelenleben zu sprechen kommen, ist doch davon auszugehen, dass hier die Argumentation bzw. der Wille zu überzeugen im Vordergrund stehen. Auch (oder gerade?) an solchen, scheinbar privaten Stellen liegt Rhetorik vor.  Vgl. Malina, Welt 67 f. Nur die Poesie bot die Möglichkeit, das eigene Seelenleben vor einem Publikum auszubreiten, was freilich durch den Akt des Dichtens kein unmittelbarer Vorgang mehr war. Zudem steht gerade die Poesie stets in der Spannung von Dichtung und Wahrheit und damit unter Vorbehalt bezüglich ihres Wahrheitsgehalts. Eigenlob und Selbstruhm galten als verpönt und waren nur Staatsmännern in Ausnahmefällen gestattet, vgl. Plut.mor. 539A–547F, ebenso Cic.fam. 5,12.  Der Vorschlag Sparns, „Einführung“ 13 – 19, den Begriff ‚Persönlichkeitʻ durch ‚Charakterʻ zu ersetzen (s.o.), ist an sich richtig, hilft aber m. E. nicht weiter bei der unmöglichen Aufgabe einer Charakterdarstellung des Menschen Paulus, auch wenn Sparn, a.a.O. 26 f den Schlüssel für das Verstehen des Paulus in dessen Frömmigkeit als maßgeblicher Charaktereigenschaft sieht.

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1.4 Die Person des Paulus Gleichermaßen kann man skeptisch sein, was die Ermittlung der Person des Paulus’ betrifft. Solch eine Skepsis, über das Autobiographische überhaupt an die Person des Paulus heranzukommen, spricht z. B. Günther Bornkamm (1969) aus: „Seine [sc. Paulus’] Briefe sind freilich keine Selbstbiographie, sondern um der dem Apostel aufgetragenen Sache willen verfaßte Schreiben; hinter dieser Sache tritt seine eigene Person zurück.“⁷⁰ Richtig an dieser Sicht ist zweifelsohne, dass Paulus keine Autobiographie verfasst hat – weder in dem Sinne einer ganzheitlichen Schrift, die sein Leben von der Geburt bis zum Zeitpunkt der Niederschrift umfasst, noch in dem Sinne, dass Paulus nach dem modernen Autobiographieverständnis sein Seelenleben mit allen Verwicklungen und Entwicklungen offen darlegt.⁷¹ Dennoch verfehlt Bornkamm hier auch einen wichtigen Punkt, indem er behauptet, Paulus würde seine Person sozusagen hinter seiner Sache verstecken. Ich meine, es kommt hier darauf an, wie man ‚Personʻ definiert. Ist Person modern gesprochen das ‚Individuum in seiner Individualitätʻ⁷², hat Bornkamm wohl recht: Paulus stellt in seinem Wirken für den Christus Jesus durchaus seine  Ebenfalls halte ich eine psychologische Lektüre, wie sie M. Göttel-Leypold/ J. H. Demling, „Die Persönlichkeitsstruktur des Paulus nach seinen Selbstzeignissen,“ in: Becker/Pilhofer (Hg.), Biographie, 125 – 148 oder R. Meyendorf, „Der Apostel auf der Couch. Paulus, mit den Augen eines Psychiaters betrachtet,“ in: Niemann, R. (Hg.), Paulus – Rabbi, Apostel oder Ketzer? Stuttgart 1994, 39 – 54 vornehmen, nur für eine – obgleich interessante – Gedankenspielerei. Diese Ablehnung lässt sich doppelt begründen. Zum einen gibt es mit J. G. Gager, „Some Notes on Paul’s Conversion,“ in: NTS 27 (1981), 697– 704 methodische Vorbehalte: „The basic flaw in all such [d. h. psychoanalytischen] efforts was and remains the absence of detailed clinical data, based on observation and interview, without which all efforts at labelling Paul’s personality must remain largely speculative“ (607). Zum anderen besteht auch bezüglich der menschlichen Psyche der ‚garstige Graben der Geschichteʻ, weshalb C. Pietzcker, Die Autobiographie aus psychoanalytischer Sicht, in: Reichel, M. (Hg.), Antike Autobiographien, 15 – 27 zu Recht warnt: „Wer psychoanalytisch arbeitet, muß sich freilich hüten, Modelle der menschlichen Psyche, die an Individuen des 20. Jahrhunderts gewonnen wurden, unmittelbar in die Untersuchung früherer, z. B. antiker Texte einzubringen. […] Die Psyche wurde im Gang der Geschichte unterschiedlich strukturiert.“ (25 f). Gerade das blenden die genannten Arbeiten aus. Tatsächlich sind in dieser Hinsicht die kulturanthropologischen Arbeiten von Bruce Malina wegweisend, da sie die Menschen des Neuen Testaments in ihrer Zeit und Kultur ernst zu nehmen suchen (s.u.).  G. Bornkamm, Paulus, Stuttgart/ Berlin/ Köln/ Mainz 1969, 12.  Beides hat erst Augustin zusammengeführt und damit die moderne Autobiographie als literarische Gattung begründet, vgl. M. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie (Sammlung Metzler 323), Stuttgart/Weimar 22005, 112 f.  So wird ja ‚Personʻ heute in der Alltagssprache verstanden, vgl. dazu die Einleitung in Brasser, „Person“ 9 – 28.

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Individualität deutlich zurück: Er macht sich im Interesse seiner Mission allen Menschen zum Sklaven (1Kor 9,19); es lebt nicht mehr er selbst, sondern Christus in ihm (Gal 2,20a). Der Apostel verzichtet damit völlig auf Autarkie und Autonomie, welche geläufig vom modernen Denken einem Individuum zugeschrieben werden. Wenn man hingegen in den Denkkategorien der griechisch-römischen Antike bleibt, kann man nicht davon sprechen, die ‚Personʻ des Paulus trete hinter der Sache zurück, wie im Folgenden verdeutlicht wird.

1.5 Die persona des Paulus Unser Wort ‚Personʻ leitet sich vom lateinischen persona ab und meint die Maske des Schauspielers im Theater. Bei den Griechen war diese Maske als πρόσωπον bekannt.⁷³ Ursprünglich geht es bei persona also gar nicht um individuelles Sein, sondern um die Darstellung von Typen. Diese Typen-Darstellung spielt sich in der Antike im echten Leben wie im Theater auch und gerade in sozialen Interaktionen, also in Beziehungen zu anderen, ab, sei dies bei Gericht, in Gesellschaft und Politik oder in der Familie. persona lässt sich insofern als Image erfassen, jedoch nicht nach moderner Auffassung als Individuum.⁷⁴ Doch mehr noch: persona als gesellschaftliche Maske „beschreibt […] die Funktion, die ein Mensch innehat, die Rolle, die er im Leben spielt, als den ‚Wesenskernʻ des Menschen“⁷⁵. Die Identität eines Individuums besteht demnach im Einnehmen der perpetuierten sozialen Rolle,⁷⁶ nicht in der Individuierung des Einzelnen als einem ‚Ausscherenʻ gegenüber dem Kollektiv. In dieser Hinsicht stellen die Untersuchungen von Bruce Malina wichtige neue Einsichten in die antike Persönlichkeitsstruktur bereit.⁷⁷ Malina macht plausibel, dass die Persönlichkeit des antiken Menschen nicht wie die des (post‐)modernen Menschen monadisch, sondern vielmehr dyadisch konstruiert ist. Während sich

 Vgl. E. Lohse, „πρόσωπον κτλ.,“ in: ThWNT 6 (1959), 769 – 781 (770).  Vgl. M. Fuhrmann, „persona, ein römischer Rollenbegriff,“ in: O. Marquard/ K. Stierle, Identität (PuH 8), München 1979, 83 – 106 (88 – 94). Selbst wenn das Wort persona in der Literatur für eine Einzelperson verwendet wird, erscheint diese immer eingebunden in ein relationales System, vgl. a.a.O. 96 f.  Wagner-Egelhaaf, Autobiographie 109 unter Verweis auf Fuhrmann.  Vgl. Fuhrmann, „persona“ 101.  Vgl. zum Folgenden Malina, Welt 67– 84. Die Überlegungen Malinas stellen auch ein Korrektiv zum Konzept der ‚corporate personalityʻ durch H.W. Robinson dar, vgl. A. C. Hagedorn, „Corporate Personality,“ in: EBR 5 (2012), 798 – 799. Als Einführung in die hellenistische kollektive Denkweise hervorragend L. H. Martin, „The Anti-Individualistic Ideology of Hellenistic Culture,“ in: Numen 41 (1994), 117– 140.

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der heutige Mensch gegenüber seiner Umwelt als ein (mehr oder weniger) geschlossenes System, eine Monade, begreift, steht der antike Mensch in einer Vielzahl von Wechselbezügen zu den Menschen seiner Umgebung, die sein Leben bestimmen. Malina nennt dies das Eingebettetsein (‚embeddednessʻ) eines Individuums in andere Individuen, im Falle des antiken Menschen also Familie (und darin insbesondere der Vater bzw. der Ehemann), Dorf, Stadt oder Vaterland⁷⁸. Für eine dyadische Persönlichkeit ist es eminent wichtig, was die Menschen um sie herum über sie denken und welches Selbstbild sie ihnen daher stets vermittelt, insofern dieses Selbstbild mit dem ihrer Herkunftsgruppe übereinzustimmen hat. Das Bedachtsein auf die Wahrnehmung anderer hängt damit zusammen, dass die antike Kultur vom Denken in den Kategorien von Ehre und Schande/Scham bestimmt war.⁷⁹ Ein Verstoß (womöglich eines Individuums) gegen die vom Kollektiv der Gemeinschaft aufgestellten Regeln führte unweigerlich zum Verlust von Ansehen und Ehre und zu sozialer Ächtung. Da das antike Individuum (oder modern gesprochen: die antike Person) als eine soziale Größe immer in ein Kollektiv (Familie, Staat, Kultgruppe) eingebunden ist,⁸⁰ wird es auch immer von außen bestimmt und ist nach außen gerichtet. Es definiert sich über seine Beziehungen nach außen. Somit ist die Person des Einzelnen in der Antike immer öffentliche Rolle und Funktion.⁸¹ Paulus definiert und expliziert ganz allgemein im Rahmen der ἐκκλησία τοῦ θεοῦ seine öffentliche Rolle und Funktion, seine persona, in erster Linie als Apostel des Christus Jesus. Das machen die Präskripte seiner Briefe deutlich. Daneben bzw. gerade aus dieser apostolischen persona heraus kann Paulus in

 Malina, Welt 71 spricht hier von „Nation“; aber abgesehen davon, dass es schwierig ist, den modernen Nationenbegriff für die Antike zu übernehmen, verweist das alte Wort ‚Vaterlandʻ (patria/πατρίς) bereits auf die Denkkategorien einer dyadischen Persönlichkeit: Die regionale Herkunft wird mit familiären Bindungen und darin insbesondere der in patriarchalen Gesellschaften wichtigen Gestalt des Vaters übereins gebracht. Ähnliches gilt für eine Metropole bzw. ‚Mutterstadtʻ von Kolonien.  Vgl. dazu ausführlich Malina, Welt 40 – 66, der sich auf zahlreiche biblische Belege stützt. Das Denken in den Kategorien Ehre/Schande ist aber auch im paganen Raum bestimmend. Für Quintilian (inst. 2,4,20) z. B. stellen das Loben berühmter Männer und das Tadeln schlechter Männer und die Aneignung eines breiten Wissens diesbezüglich grundlegenden Unterrichtsstoff innerhalb der Ausbildung junger Redner dar.  Im Anschluss an Malina/Neyrey, Portraits 16 – 18.  Bereits Martin Luther war der Unterschied des heutigen zum antiken Person-Verständnis klar, weshalb er dann auch 1519 in seinem Kommentar zum Galaterbrief zu 2,6 (πρόσωπον θεὸς ἀνθρώπου οὐ λαμβάνει – „Gott ‚interessiertʻ nicht das Ansehen eines Menschen.“) für gut befindet, „wenn man überall in der Bibel ‚Ansehenʻ statt ‚Personʻ schreiben würde.“ (WA 2, 480; hier nach der Übersetzung der Calwer Luther-Ausgabe hg.v. W. Metzger, Bd. 10, 65)

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Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen

seinen Briefen aber noch viele andere Selbstbeschreibungen vornehmen (hier nur aus 1Kor): Vater (1Kor 4, 14 f.17.21), Lehrer (2,12; 3,1 f; 4,19), Richter (5,3), Diener (3,5; 4,1), Bruder (8,13; 15,58), Sklave (9,19), Ratgeber (7,12.25 f.40), Zeuge (15,15), Gewährsmann (7,25). Dies alles ist er in Bezug auf die Korinther. So definiert er sich selbst gegenüber ihnen; und so deutet er auch sein Leben in Bezug auf sie und die Menschen um ihn herum. Mitnichten tritt also ‚seine Person hinter der Sache zurückʻ (Bornkamm, s.o.). Vielmehr bringt Paulus seine Person voll ‚in die Sacheʻ mit ein. Es ist nun aber nicht die Person nach modernem Verständnis, die es uns erlaubte, gleichsam auf sein Innenleben zu blicken, sondern es ist die äußere Person des Paulus, d. h. es sind seine Funktionen in der Beziehung mit anderen Menschen und mit Gott, die sich auf der sprachlichen Ebene seiner Briefe finden lassen und die wir eben dadurch in rhetorischer Perspektive tatsächlich näher untersuchen können.⁸² Das Stichwort ‚rhetorische Perspektiveʻ führt uns zur nächsten grundlegenden Überlegung zu den Paulus-Briefen: Wie kann eine solche Perspektive aussehen? Inwieweit können und dürfen die paulinischen Briefe einer rhetorischen Analyse überhaupt unterworfen werden? Diesen Fragen soll im folgenden Abschnitt nachgegangen werden.

1.6 Antike Rhetorik und Epistolographie Die neuere Autobiographieforschung plädiert dafür, literarische Selbstzeugnisse als Texte ernst zu nehmen. Eben dadurch sei es möglich, „die Äußerungsformen des autobiographischen Ichs in ihrer Rhetorizität zu beschreiben und die konstitutive sprachliche Verfasstheit von Individualität und Subjektivität wahrzunehmen“⁸³. Gerade die autobiographischen Äußerungen von Paulus sind stets eingebettet in längere Redezusammenhänge. Deren rhetorische Funktion gilt es zunächst zu bestimmen, um dann darin den Zweck seiner Selbstaussagen verorten zu können. Noch einmal: Es geht nicht so sehr darum, herauszufinden, wie sich das Individuum Paulus von Tarsus selber gesehen hat, sondern vielmehr, wie er selbst gesehen werden wollte,⁸⁴ nämlich mittels seiner persona(e). Bei der Be-

 Für Paulus selbst ist letztendlich Gott auch der einzige, der nicht die (äußere) Person (πρόσωπον) anblickt und annimmt (Gal 2,6; Röm 2,11), sondern vielmehr das Innere des Menschen.  Wagner-Egelhaaf, Autobiographie 16 f.  So beschreibt S. Kurczyk, Cicero und die Inszenierung der eigenen Vergangenheit. Autobiographisches Schreiben in der späten Römischen Republik (Europäische Geschichtsdarstellungen 8), Köln/ Weimar/ Wien 2006 die Aufgabe in ihrer Cicero-Arbeit.

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trachtung seiner Selbstaussagen geht es um die Wahrnehmung der textuellen Realität „in ihrer kulturellen, diskursiven und sprachlichen Determiniertheit“⁸⁵. Die Kategorien zur Erfassung der paulinischen Texte ergeben sich somit aus dem zeitlichen Umfeld des Apostels und aus der Kultur, in der er sich als ‚Apostel der Völkerʻ bewegte. Diese ist die Kultur des Hellenismus im ersten christlichen Jahrhundert.⁸⁶ Antike Autobiographie ist um Selbstdarstellung im öffentlichen Raum als die Darstellung der eigenen persona bemüht. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Autobiographie vermutlich aus der antiken Gerichtsrede hervorgegangen ist;⁸⁷ zumindest ist autobiographisches Sprechen und Schreiben sehr eng mit dem Motiv der Selbstrechtfertigung verbunden.⁸⁸ In der Gerichtsrede ging es darum, ein möglichst positives Selbstbild zu zeichnen, ganz gleich, ob man (wie im griechischen Raum) sich selbst verteidigte oder (wie im römischen Raum) jemand anderen verteidigte.⁸⁹ Was die autobiographischen Aussagen des Paulus angeht, so war über lange Jahre eine Sichtweise bestimmend, wie sie z. B. Gerd Lüdemann (1980) in einer Fußnote benennt: „En passant ist anzumerken, dass Paulus offenbar nie von selbst auf seine eigene Person zu sprechen kommt, es sei denn, er ist durch

 Wagner-Egelhaaf, Autobiographie 12.  Vgl. zur Diskussion über Judentum und Hellenismus grundlegend M. Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v. Chr. (WUNT 10), Tübingen 1969, dessen Untersuchung allerdings nicht bis ins 1. christliche Jahrhundert reicht. Als Jude hat Paulus selbstredend noch weitere kulturelle Wurzeln (s. dazu 2.6). T. Vegge, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus (BZNW 134), Berlin 2006, 487– 490 warnt aber davor, Judentum und Hellenismus (in paulinischer Zeit) als ebenbürtige Größen zu verstehen. Vielmehr komme dem Hellenismus die Funktion eines übergreifenden kulturellen Musters zu. Das Judentum sieht sich zwar in einer eigenen kulturellen Identität dem Hellenismus gegenüberstehen; es ist jedoch gleichwohl beeinflusst und geprägt von diesem. Dass Vegge damit richtig liegt, kann man schlicht auch am Gegenbegriff zum ‚Hellenismusʻ, nämlich Ἰουδαϊσμός, sehen, der ja als Kampfbegriff ein griechischer Neologismus des 2. Makkabäerbuchs (2,21; 8,1; 14,38) ist. Allein hieran zeigt sich, wie sehr doch das Griechische (und wohl nicht bloß in der Sprache!) im hellenistischen Zeitalter in das jüdische Denken eingedrungen war und mitbestimmte.  Vgl. H. Sonnabend, Geschichte der antiken Biographie. Von Isokrates bis zur Historia Augusta, Darmstadt 2003, 59 – 61.  Vgl. A. Momigliano, The Development of Greek Biography, Cambridge 1971, 23.57– 62.103; ders., „Second Thoughts on Greek Biography,“ in: MNAW.L (NS) 34 (1971), 243 – 257 (248 f).  Im römischen Justizwesen stellt sich der Strafverteidiger deshalb selbst in einem guten Licht dar, weil dessen Ansehen und gesellschaftlicher Einfluss sozusagen auf den Angeklagten übergreifen, vgl. Kurczyk, Cicero 124– 128.

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gegnerische Anwürfe dazu gezwungen (vgl. besonders 2Kor 11 f).“⁹⁰ Nun hat gegen diese Sichtweise George Lyons bereits 1985 in seiner Dissertation ‚Pauline Autobiographyʻ stark gemacht, dass Paulus mitnichten nur apologetisch über sich selbst spricht, sondern dies vielmehr tun kann, um in beratender Weise auf sich als positives Lehrbeispiel zu verweisen, so z. B. im Gal.⁹¹ Ob nun Autobiographisches zur Selbstverteidigung oder zur Beratung gebraucht wird – in jedem Fall bewegen wir uns damit auf das Feld der öffentlichen Rede und damit der Rhetorik⁹². Die ureigene Aufgabe der öffentlichen Rede besteht darin, andere von einer Sache zu überzeugen, die der Rhetorik hingegen als einer Kunst, die Überzeugungsmittel einer Rede zu erkennen, diese selbst anwenden zu können und anderen zu verdeutlichen. Die antike Redekunst hat dabei drei Redearten bzw. genera causarum (γένη τῶν λόγων) ausgebildet, die Aristoteles und in seinem Gefolge das gesamte Altertum als bestimmend für die Einordnung von Reden ansah: das genus iudicale (γένος δικανικόν) für die Gerichtsrede, das genus deliberativum (γένος συμβουλευτικόν) für die Beratungsrede, das genus demonstrativum (γένος ἐπιδεικτικόν) für die Würdigungsrede⁹³. Antike Rhetorik spielt sich stets innerhalb dieser drei genera ab. Unbestritten ist dabei, dass in einer Rede auch Elemente aus anderen Redegattungen auftauchen können, wobei allerdings ein genus stets das die gesamte Rede bestimmende ist.⁹⁴

 G. Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel. Band I: Studien zur Chronologie (FRLANT 123), Göttingen 1980, 80 Anm. 45. Er fährt weiter fort: „Eine bemerkenswerte Ausnahme macht freilich Phil 1!“ Meint Lüdemann hier etwa Phil 3(2– 11)? Oder spielt er auf den Einblick in Paulus’ Seelenlage (1,21– 26) an? Zum Zusammenhang von Autobiographie und Apologie bei Paulus ganz thetisch Stenger, Biographisches 292: „Autobiographische Absichten liegen Paulus fern. Nur wo Gegner ihn zwingen, führt Paulus sein Leben ins Spiel“. Auch für Berger, Formen 425 – 427 gehören autobiographische Aussagen zu Merkmalen von apologetischen Texten.  Vgl. G. Lyons, Pauline Autobiography. Toward a New Understanding (SBL.DS 73), Atlanta 1985, 174 f.  Vgl. zur Rhetorik H. Hommel/ K. Ziegler, „Rhetorik,“ in: KP 4 (1975), 1396 – 1414.  Oft wird in der Literatur die Rede des demonstrativen genus schlicht als ‚Lobredeʻ bezeichnet. Dies zeigt aber nur die eine Seite der Medaille. In der Epideiktik geht es auch um das Tadeln. Daher wähle ich den Terminus ‚Würdigungsredeʻ.  Vgl. Aristoteles, Rhetorik 1,3,4– 6 (1358b): Wenngleich Redner einer bestimmten Redegattung durchaus auch Zielkategorien der anderen Gattungen mitaufnehmen – bei einer Beratungsrede, die auf Nutzen oder Schaden abzielt, wären dies Ehre oder Schande (aus der Würdigungsrede) bzw. Recht oder Unrecht (aus der Gerichtsrede) –, ordnen sie diese doch stets der gattungseigenen Zielkategorie unter. Ähnliches gilt für die Bevorzugung, aber eben nicht alleinige Behandlung bestimmter Zeitebenen der Betrachtung: Vergangenheit für die Gerichtsrede, Gegenwart für die Würdigungsrede, Zukunft für die Beratungsrede. R. D. Anderson, Ancient Rhetorical Theory and Paul (Contributions to Biblical Exegesis and Theology 18), Leuven 21999, 125 f gibt aber zu be-

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Spätestens seit H. D. Betz’ Kommentar zum Galaterbrief (1979)⁹⁵ hat die antike Redelehre als Instrument zur Aufschlüsselung der paulinischen Briefe Einzug in den Methodenkanon der neutestamentlichen Forschung gehalten. Betz hatte seinerzeit Gal mittels antiker Handbücher genauestens rhetorisch untersucht und wie eine gerichtliche Verteidigungsrede unterteilt.⁹⁶ Sein Ansatz hat inzwischen längst Schule gemacht,⁹⁷ und so finden sich zu jedem paulinischen Brief verschiedene Vorschläge einer Gliederung nach Redemuster.⁹⁸ Die Entwicklung ging teilweise so weit, dass von den Briefen des Apostels behauptet wurde: „Sie sind Reden in Briefform.“⁹⁹ Deutlich ist aber, dass es unter den neutestamentlichen rhetorisch-kritischen Exegeten keinen Konsens über die Gliederung geschweige denn Klassifizierung¹⁰⁰ der paulinischen Briefe gibt. Sicherlich kann man viel von der antiken Redelehre für das Verständnis des Neuen Testaments lernen. Jedoch sollte dabei nicht übersehen werden, dass die

denken, dass Briefe (im Gegensatz zu Reden) durchaus in rhetorischer Hinsicht gattungstechnisch Mischformen sein können.  Deutsche Ausgabe: H. D. Betz, Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und für die deutsche Ausgabe redaktionell bearbeitet von Sibylle Ann (Hermeneia), München 1988.  Gal 1,6 – 11 exordium, 1,12– 2,14 narratio, 2,15 – 21 propositio, 3,1– 4,31 probatio, 5,1– 6,10 exhortatio, 6,11– 18 conclusio, vgl. Betz, Composition – dieser Artikel bietet die Vorarbeit zum Kommentar.  Tatsächlich haben sich inzwischen verschiedene ‚Schulenʻ der rhetorischen Kritik herausgebildet, als deren jeweilige Oberhäupter man H. D. Betz, G. Kennedy und W. Wuellner ansehen kann, vgl. D. L. Stamps, Rhetorical Criticism of the New Testament: Ancient and Modern Evaluations of Argumentation, in: Porter, S. E. & Tombs, D. (Hg.), Approaches to New Testament Study (JSNT Sup. 120), Sheffield 1995, 129 – 169 (130 – 141).  Vgl. die Gliederungen z. B. zu 1Kor M. M. Mitchell, Paul and the Rhetoric of Reconciliation. An Exegetical Investigation of the Language and Composition of 1 Corinthians, Louisville 1993, 184– 186; zu 2Kor 8 und 9 H. D. Betz, 2. Korinther 8 und 9. Ein Kommentar zu zwei Verwaltungsbriefen des Apostels Paulus. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und für die deutsche Ausgabe redaktionell bearbeitet von Sibylle Ann, Gütersloh 1993; zu 2Kor insgesamt B.Witherington, Conflict and Community in Corinth. A Socio-rhetorical Commentary on 1 and 2 Corinthians, Grand Rapids 1995, 335 f; zu Phil D. A. Black, „The Discourse Structure of Philippians : A Study in Textlinguistics,“ in: NT 37 (1995), 16 – 49; D. F. Watson, „A Rhetorical Analysis of Philippians and its Implications for the Unity Question,“ in: NT 30 (1988), 57– 88.  So K. Berger, „Hellenistische Gattungen im Neuen Testament,“ in: ANRW II/25,2 (1984), 1031– 1432 (1291).  Vgl. bloß zum 1Kor das Referat und den eigenen Lösungsvorschlag bei E. Schüssler-Fiorenza, „Rhetorical Situation and Historical Reconstruction in 1 Corinthians,“ in: NTS 33 (1987), 386 – 403: Hier erscheint der 1Kor als entweder epideiktisch, dikanisch oder symbuleutisch (390 – 393). Für die anderen Briefe gilt Ähnliches, vgl. z. B. J. F. M. Smit, „The Letter of Paul to the Galatians: A Deliberative Speech,“ in: NTS 35 (1989), 1– 26.

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Briefe des Apostels Paulus allein ihrer Form nach Briefe und eben keine Reden sind.¹⁰¹ Tatsächlich bleibt die Frage, inwieweit die antike Epistolographie mit der Redelehre Berührungspunkte hatte. Gegenüber den bloß drei genera der Rede waren in der Antike ausgehend vom Lehrbuch τύποι ἐπιστολικοί des PseudoDemetrios mindestens 21 Brieftypen bekannt.¹⁰² Damit lässt sich die Briefliteratur aber leider nicht differenzierter betrachten, denn: „Die Brieftypen des PseudoDemetrios sind als nachträglicher Systematisierungsversuch an der brieflichen Praxis abgelesen und haben selbst nur partiell auf die Praxis zurückgewirkt.“¹⁰³ Das bedeutet dann aber, dass (bei allen äußeren formalen Vorgaben und trotz sicherlich vorhandener Brieftopoi¹⁰⁴) das Abfassen eines Briefes ein genuin kreativer Akt ist, der mehr auf den Inhalt als auf die Form zielt. Gerade deswegen lassen sich Briefe auch eher nach ihrem Inhalt als der Form in ihrer Eigenart erfassen.¹⁰⁵ Ginge eine Analyse aber allein nach der Form, die ja für das genus einer Rede durchaus bestimmend ist,¹⁰⁶ ließen sich Briefe wegen der durch den Inhalt nicht immer gegebenen Einheitlichkeit der Argumentation nicht eindeutig klassifizieren.¹⁰⁷ Das gilt auch und besonders für die Schreiben des Apostels.¹⁰⁸

 Vgl. S. E. Porter, „Paul as Epistolographer and Rhetorician?,“ in: ders./ D. L. Stamps, (Hg.), The Rhetorical Interpretation of Scripture. Essays from the 1996 Malibu Conference (JSNT.S 180), Sheffield 1999, 222– 248: „The epistolary features of the Pauline letters are the clear generic features that allow identification of the literary form, and regardless of whatever else is done with the letters, these elements must be satisfactorily explained before moving to further explanation“ (228).  Vgl. Klauck, Briefliteratur 158 f. Demetrios’ Schrift (griechisch-englische Ausgabe bei Malherbe, Theorists 30 – 41) stammt aus dem 3. christlichen Jahrhundert, verarbeitet aber ältere Traditionen. Die Abhandlung ἐπιστολιμαῖοι χαρακτῆρες des Pseudo-Libanios aus dem 4.–6. christlichen Jahrhundert (bei A. J. Malherbe, Ancient Epistolary Theorists (SBibSt 19), Atlanta 1988, 67– 81) über Briefstile kennt sogar 41 Typen, vgl. Klauck, a.a.O. 163.  Klauck, Briefliteratur 162.  Vgl. insgesamt K. Thraede, Grundzüge griechisch–römischer Brieftopik (Zetemata 48), München 1970; Berger, Formen 335 f. Ein gängiger Brieftopos z. B. ist das Parousia-Motiv als Ankündigung der kommenden körperlichen wie auch als gleichzeitige Versicherung der gegenwärtigen geistigen Anwesenheit des Briefschreibers (vgl. 1Kor 5,3; 2Kor 13,2.10; Phil 1,27; Kol 2,5).  Eben das tut Ps.-Demetrios, wenn er nach der Nennung und inhaltlichen Beschreibung einer Kategorie einen entsprechend inhaltlich bestimmten Brief folgen lässt. Über die Form eines solchen Briefes (z. B. mit oder ohne narratio, probatio oder wie man entsprechende Teile in der Brieftheorie nennen wollte) sagt das aber gar nichts aus. Vorausgesetzt ist bei dieser Kategorisierung, dass ein Brief stets monothematisch ist, vgl. Anderson, Theory 116.  Vgl. Aristot.rhet. 3,13,3.  Anderson, Theory 117: „It is not so that when someone wished to write a private or personal letter that he first had to consider which fixed form he would use, and was then bound to a fixed structure or rules of composition.“ Dieses Urteil lässt sich mit gewissem Recht sogar auf amtliche

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Wichtig ist also zu sehen, dass die rhetorische Analyse nicht bloß sklavisch einen Brief nach Redeteilen gliedern darf, sondern stets den brieflichen Charakter des Schreibens beachten muss. Gerade wegen seiner Schriftlichkeit muss sich ein Brief nicht an die Linearität und Argumentationsweise einer Rede halten und kann auch mehr als ein Thema behandeln, ohne dass er an Argumentationskraft verliert:¹⁰⁹ Was man als Leser nicht verstanden hat, kann man ja mehrmals erneut lesen, bis man die Aussage des Schreibers erfasst hat.¹¹⁰ In meiner Herangehensweise an die autobiographischen Stellen in den Paulus-Briefen schließe ich mich daher an eine Konzeption an, wie sie etwa von Klaus Berger vertreten wird.¹¹¹ Diese ist zugleich kleinschrittiger und gröber als andere Verfahren. Gröber ist deren Methodik, insofern tatsächlich zunächst von den drei aristotelischen genera ausgegangen wird, um eine rhetorische Sinnein-

Schreiben übertragen, wie der Brief des Kaisers Claudius an die Alexandriner (CPJ 153; mit eigener Übersetzung und Kommentar bei Klauck, Briefliteratur 84– 93) deutlich werden lässt. Zwar finden sich darin etliche Formulierungen und Topoi, die auch in anderen Königsbriefen zu lesen sind; gegen Ende bei der Behandlung des Streits zwischen der paganen Bevölkerung und der jüdischen community bedient sich Claudius jedoch eigener Worte, was der besonderen Situation geschuldet ist. Das Briefschreiben als kreativer Akt bedient sich also im Bestreben, der eigenen, situativ eingebundenen und bestimmten Zielsetzung nachzukommen, verschiedener Textsorten und durchmischt sie. In Abwandlung des Bauhaus-Mottos lässt sich damit sagen: ‚Forms follow functionʻ.  Das beste Beispiel für ein Verleugnen der argumentativen Uneinheitlichkeit eines Briefes sehe ich in der Arbeit Margaret Mitchells zum 1Kor. Mitchell versucht, 1Kor als deliberativen (symbuleutischen) Brief unter dem übergreifenden Thema der Versöhnung zu lesen, und gliedert das Schreiben entsprechend nach antiken rhetorischen Gliederungsmaßstäben: 1,10 stellt die Themenangabe/propositio dar, 1,11– 17 die Erzählung/narratio, 1,18 – 15,57 den Beweisgang/probatio und 15,58 den Schluss/peroratio. Mitchell ordnet also sämtliche durchaus disparaten Themen dem Beweisgang unter, wobei auch c.7 in der Versöhnungsthematik eingeebnet wird. Gerade c.7 ist aber – anders als die vorherigen, dem Apostel mündlich berichteten Problemfälle – ein Rekurs auf eine briefliche Anfrage der Korinther an Paulus. Es liegen damit also schon wenigstens zwei völlig verschiedene Ausgangssituationen zum Briefschreiben vor, von den verschiedenen Botschaftergruppen an den Apostel (1,11; 16,17) und dem Anlass der anderen Briefthemen in c.8 – 15 ganz zu schweigen. Die Situation hat m. E. durchaus Einfluss auf die Argumentation. Weitere gewichtige Gründe gegen Mitchells These führt Anderson, Theory 254– 265 an.  Demetrios, der sich freilich auf den freundschaftlichen Brief bezieht, plädiert für eine lose, nicht an die ausschweifende Gerichtsrhetorik angelehnte Weise des Briefschreibens (Eloc. 229), dann aber auch für die Behandlung nur eines einfachen Themas in einfachen Worten (Eloc. 231).  Nichts anderes machen wir Heutigen ja mit den paulinischen Briefen und werden dennoch wohl nie alles gänzlich verstehen.  Vgl. dazu insgesamt Berger, Formen; ders., Einführung in die Formgeschichte (UTB 1444), Tübingen 1987; ders., Gattungen.

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Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen

heit zu qualifizieren.¹¹² Kleinschrittiger ist sie aber, insofern nicht ein Brief als ganzer unter ein genus subsumiert und davon ausgehend analysiert wird,¹¹³ sondern die einzelnen Teile im Argumentationsgang einem der drei rhetorischen genera zugeordnet werden. Dies halte ich für hilfreich, dem doppelten Systemzwang zu entgehen, auf der einen Seite ständig den rhetorischen Musteraufbau einer Rede im Hinterkopf zu haben und dann die vorliegenden Teile diesem Korsett einzupassen,¹¹⁴ zum anderen überhaupt von vorneherein festzulegen, was für ein genus im Großen vorliegt und dann im Nachhinein die einzelnen Argumentationsteile einzig und allein diesem Großen (völlig induktiv) unterzuordnen. Ich gehe also davon aus, dass in einem Brief je nach Argumentation oder Ge-

 Allein die Beibehaltung der Drei-Zahl der rhetorischen genera in den Lehrbüchern bis in die Kaiserzeit hinein zeigt, dass es keine wesentlichen Neuerungen zumindest in diesem Bereich der Redekunst gab. Klauck, Briefliteratur 172 zitiert zwar Quintilian, der zumindest anreißt, dass auch die drei rhetorischen genera nicht hinreichen für diverse Äußerungen (inst. 3,4,3 f); vgl. zudem Anderson, Theory 97 Anm. 187 mit weiteren antiken Abweichlern vom aristotelischen DreierSchema. Jedoch hat sich auch Quintilian nolens volens diesem Schema unterworfen. Klauck scheint in die Systematik ein viertes genus einführen zu wollen, wenn man ebd. seiner kursiven Betonung folgt: das der Exhortation oder Ermahnung, also Paränese. Klauck führt dazu noch Cicero (de or. 2,64) an, der sich beklagt, dass Ermahnungen, Anweisungen, Tröstungen oder Warnungen (cohortationes, praecepta, consolationes, admonita) keinen Ort in den überlieferten Gattungen hätten. Ich denke aber, dass man nicht in Ciceros (und Klaucks) Klage miteinstimmen muss, da Anweisungen und Warnungen ihren Platz in der Symbuleutik finden – es geht dabei ja um ein auf die Zukunft gerichtetes Beraten der Zuhörenden. Tröstungen sind, insofern sie als ein auf die Gegenwart gerichtetes Verhalten gerade im diametralen Gegenüber zum Tadeln stehen, ein Bestandteil der Epideiktik. Lediglich Ermahnungen stehen auf der Grenze zwischen Symbuleutik und Epideitik. Auch Berger ordnet die Paränese der Symbuleutik unter, vgl. Berger, Formen X, erklärt im Haupttext des Kapitels über symbuleutische Gattungen (178 – 279) diese Zuordnung aber nicht weiter. Mitchell, Paul 50 – 53 macht den Unterschied zwischen Paränese und Symbuleutik am allgemeinen Charakter und der universellen Anwendung ersterer fest; insofern können auch paränetische Passagen innerhalb des übergreifenden deliberativen Gefüges von 1Kor auftauchen. Diese Unterordnung der Paränese unter die Symbuleutik spricht für mich ebenfalls dafür, dass zwischen beiden kein Konkurrenzverhältnis im Sinne eines vierten rhetorischen genus besteht.  Dieser Eindruck drängt sich bei Mitchells Arbeit über 1Kor auf, obwohl sie zunächst einen ‚unvoreingenommenenʻ Durchgang durch den Brief vornimmt, um dann in einem zweiten den Brief als symbuleutisch zu bestimmen. Dabei findet sie allerdings auch Elemente aus dem genus der Epideiktik (vgl. Paul 213 – 225).  Diesen Eindruck gewinne ich bei der Arbeit von M. Bünker, Briefformular und rhetorische Disposition im 1. Korintherbrief (GTA 28), Göttingen 1984, der zudem nur einzelne Briefteile als Reden auffasst, was Klauck, Briefliteratur 178 zu Recht nicht unproblematisch findet; vgl. zudem die Kritik bei Anderson, Theory 252.

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genstand verschiedene rhetorische genera vorhanden sind.¹¹⁵ Weiter gehe ich davon aus, dass neben dem Aussageinhalt zu einem genus bestimmte Signalwörter gehören, wie z. B. παρακαλεῖν oder λαλεῖν für die Beratung, ἐπαινεῖν für Lob oder ἀπολογία für die Verteidigung.¹¹⁶ Überhaupt die drei genera als Kategorien zu verwenden, halte ich zum einen für sinnvoll, da die Dreizahl ein einfaches Grundraster, das komplizierte Hypothesenbildungen zunächst vermeidet, ermöglicht. Außerdem entstammen die Redegattungen der Zeit und Umwelt, in der Paulus und seine Gemeinden agierten. Da Paulus auch Redner (also Prediger) war,¹¹⁷ wird er (möglicherweise nur intuitiv bzw. imitativ) in den seiner Zeit bekannten Redegattungen geredet und gedacht haben.¹¹⁸ Allerdings werden seine Briefe aufgrund der materialen Gegebenheiten kaum aus dem direkten Redefluss heraus entstanden sein.¹¹⁹ Vielmehr wird die Langsamkeit des Schreibprozesses auch auf den Denk- und Rede- bzw. Diktierprozess zurückgewirkt und eine Kleinschrittigkeit in der Argumentation befördert haben sowie durchaus einen Wechsel der Redegattungen. Dabei ist die Qualität einzelner Schlüsselpassagen zu beachten, die einem größeren in sich abgeschlossenen Textabschnitt die Verstehensrichtung vorgeben (z. B. 1Kor 10,23 – 11,1, das die vorherige Apologie c.9 ummünzt ins Symbuleutische, s.u.).¹²⁰ Die Einordnung eines Textabschnitts nach dem rhetorischen genus und die Bestimmung der persona, aus der Paulus heraus spricht und mit der er sich selbst darstellt, gehen dabei Hand in Hand. Wenn Paulus z. B. in einem Abschnitt vorrangig forensische Sprache verwendet, kann dies auf das dikanische genus hinweisen, was sich durch eine Analyse der Argumentationsstruktur möglicherweise erhärten

 Vgl. Klauck, Briefliteratur 172: „Muß man schon bei Reden damit rechnen, daß sie gleichzeitig verschiedenen Gattungen angehören bzw. Elemente aus verschiedenen Gattungen in sich aufnehmen können, gilt das erst recht für den Brief.“  Weitere Kriterien, hierarchisch geordnet, listet Berger, Formen 70 auf: Aktionsart der dominanten Verben, Dominanz einer grammatischen Person, Tempus der dominanten Verben, Satzarten, Semantik, Formeln, Verbindung von Semantik und Struktur, Struktur eines Textes, Kürze eines Textes, literarischer und historischer Kontext.  Paulus gebraucht in allen Briefen (außer Phlm) das Wort κηρύσσειν zur Beschreibung der Weitergabe des Evangeliums, worin er ja seine Hauptaufgabe sah (1Kor 1,17).  Man darf dabei nicht übersehen, dass Paulus’ Briefe öffentlich verlesen wurden (1Th 5,27; Kol 4,16), also in den Ohren der versammelten Gemeinde durchaus einen Quasi-Redecharakter gewinnen konnten. Gleichwohl besteht ein großer Unterschied zwischen dem Verlesen eines Briefes und dem Halten einer Rede, die womöglich direkt auf die Reaktionen der Zuhörer eingeht.  Vgl. O. Roller, Das Formular der paulinischen Briefe. Ein Beitrag zur Lehre vom antiken Brief (BWANT 58), Stuttgart 1933, 6 – 9.  Insgesamt mag sich nach der Analyse aller Einzelteile in der Gesamtschau für einen Brief ein übergeordneter Charakter nach einem bestimmten rhetorischen Genus ergeben. Dies hat aber keine Zwangsläufigkeit.

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Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen

lässt. Gleichzeitig muss überprüft werden, in welcher Rolle sich Paulus dann darstellt – als Richter, Angeklagter, Zeuge, Verteidiger oder Ankläger. Bei alledem bleibt es dabei: Die Briefe des Paulus sind keine ‚Reden im Briefumschlagʻ sondern wirkliche Briefe. Sie sind die eine Seite eines Gesprächs, das auf Überzeugung als Zielpunkt ausgerichtet ist: Paulus möchte die adressierten Gemeinden von seiner Sicht der Dinge überzeugen. Dies kann dann innerhalb eines Briefes je verschieden im Modus der Gerichts-, Beratungs- oder Würdigungssprache geschehen. Weil sich die paulinischen Briefe auf der Schnittstelle zur Rede bewegen, ermöglichen sie daher auch eine – gleichwohl vorsichtige! – rhetorisch-analytische Betrachtungsweise.

1.7 Zum Ethos des Schreibers Wenngleich in dieser Arbeit die Methodik der umfassenden rhetorischen Analyse eines Briefes als einer kompletten Rede abgelehnt wird, so halte ich es dennoch für möglich, dass ein Brief ein allen seinen Teilen übergeordnetes Element besitzt. Die Frage ist dabei allerdings, was dieses Element sei. Steve Kraftchick gibt in einem Aufsatz über Paulus’ Selbstdarstellung im Philipperbrief Troels Engberg-Pedersens Ansichten dazu wieder, der drei Möglichkeiten beschreibt, die sich gleichsam als Dilemma der Exegese herausstellen: Entweder a) man arbeitet ein sehr eingegrenztes Motiv als das bestimmende Thema des Briefes heraus unter der Gefahr, dass zuviel anderes außen vor bleibt, oder b) man bestimmt viele einzelne Motive, was das Problem mit sich führt, dass und wie diese miteinander zu verbinden sind, oder c) man beschreibt ein einzelnes, aber sehr allgemeines Motiv als allumfassend, wobei dann Klärungsbedarf darüber besteht, auf welche Weise es alles umfasst.¹²¹ Für Vertreter der rhetorischen Kritik, wie sie die Betz-Schule betreibt, besteht das verbindende Element, redetheoretisch gesprochen, im Logos, also der Rede (bzw. dem Brief) selbst, insofern ein einziges Thema alle Redeteile zusammenschließt. Je nach Herangehensweise entspricht dieser Ansatz den oben genannten Möglichkeiten a) oder c). Die Argumentationslogik, d. h. der Aufbau einer BriefRede gibt vor, wie der Apostel seine Adressatengemeinde(n) überzeugen will, insofern nach klassischem Aufbau der Gerichtsrede nach einer Vorrede (exordium/ prooemium) der Sachverhalt benannt wird (narratio + propositio), dann eine Be-

 Vgl. S. Kraftchick, Self-Presentation and Community Construction in Philippians, in: Gray, P./ O’Day, G. R. (Hg.), Scripture and Tradition. Essays on Early Judaism and Christianity in Honor of Carl R. Holladay (NT.S 129), Leiden/Boston 2008, 239 – 262 (240 f).

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weisführung folgt (argumentatio: probatio & refutatio), die in ein bekräftigendes Schlusswort mündet (peroratio).¹²² Der narratio (und gegebenenfalls propositio) kommt also eine wesentliche Rolle in der Bestimmung des Briefthemas zu. Von daher kann man auch die postulierte narratio als Lackmusstreifen für die gesamte rhetorisch-kritische Analyse eines Briefes heranziehen: Passt ein Briefteil (oder mehrere) nicht zur Themaformulierung, ohne dass man eine rhetorisch gewollte Abschweifung davon (also eine digressio) als Ausweg erfindet, müssen sich Zweifel am Redecharakter des Briefes ergeben. Dies ist, denke ich, bei der Arbeit von Mitchell zum 1Kor durchaus der Fall (s.o.). Kraftchick erkennt in Paulus’ Selbstreferenzen ein wiederkehrendes Motiv, das den gesamten Phil durchzieht, und stellt die These auf, dass der Apostel durch die Darstellung seines Selbst in Christus den Philippern ein Modell an die Hand geben wollte, nach dem sie ihr eigenes kommunitäres Selbst gestalten können und möchten.¹²³ Um bei den rhetorischen Termini zu bleiben, kann man also sagen: Anstatt einer Logos-Argumentation greift Paulus in Phil vielmehr auf eine EthosArgumentation zurück, und Ethos meint in der antiken Rhetorik das Ethos des Redners.¹²⁴ Es gibt nach Aristoteles drei Wege, um ein Publikum zu überzeugen: Ethos, Pathos und Logos (rhet. 1,2,3 – 6 1356a). Während das Überzeugungsmittel des Logos ganz auf die Kraft der Argumente abzielt und das des Pathos über die Gefühle der Zuhörer Einfluss auf deren Urteil zu nehmen sucht, stellt das Mittel des Ethos den Charakter des Redners in den Vordergrund. Insofern eine Rede ihren Sprecher glaubwürdig und anständig erscheinen lässt, vermag sie die Zuhörer zu überzeugen. Tatsächlich besitze das Ethos die größte Überzeugungskraft (rhet. 1,2,4: κυριωτάτην ἔχει πίστιν τὸ ἦθος). Das aristotelische Ethos ist dabei als „die Gesamtheit der Eigenschaften, die wir von einem Menschen als Handelndem aussagen“¹²⁵, zu begreifen. Diese Eigenschaften bestehen nach rhet. 2,1,5 in Verständigkeit (φρόνησις) als Sachkenntnis, Tugend (ἀρετή) als allgemeiner Anständigkeit und Wohlwollen (εὔνοια) als Empathie gegenüber den Zuhörern und Eingehen auf sie.¹²⁶ Insofern der Redner auf diese Ethos-Eigenschaften in ihrer

 Vgl. Klauck, Briefliteratur 174– 176, der betont, dass es zwar Abweichungen im Einzelnen, aber doch ein allgemeines Grundgerüst der antiken Rede gab.  Vgl. Kraftchick, „Self-Presentation“ 241 f.  Ich bin Luke T. Johnson und Steve Kraftchick zu Dank verpflichtet, mir an diesem Punkt Klarheit verschafft und mich ermutigt zu haben, diesen Ansatz auch auf 1Kor anzuwenden.  G. Manolidis, „Einige grundsätzliche Betrachtungen zum Begriff Ethos bei Aristoteles,“ in: Platon 40 (1988), 52– 59 (52).  Vgl. Manolidis, „Betrachtungen“ 56. Zudem werden diese Eigenschaften nach 2,15 – 17 beeinflusst von Wohlgeburt (εὐγένεια), Reichtum (πλοῦτος) und Macht (δύναμις).

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Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen

Gesamtheit (rhet. 2,1,6) zurückgreift, kann er die Zuhörerschaft durch sich selbst von sich und seiner Sache überzeugen. Kraftchick überträgt dann auch den aristotelischen Eigenschaftskanon auf Paulus.¹²⁷ Die Besonderheit des Phil besteht Kraftchick zufolge darin, dass Paulus hierin im Verweis auf sich selbst als nachzuahmendem Modell ein Ideal des Zusammenlebens der Christusgläubigen in der philippischen Gemeinde propagiert. Auch Aristoteles stellt in der Rhetorik Überlegungen zum Gemeinwesen und den Staatsformen an und darüber, wie diese Einfluss auf die Überzeugungskraft der Rede und die Charakterdarstellung des Redners nehmen, indem dieser sich in seiner Selbstpräsentation deren Zielvorstellungen unterwirft (1,8,1– 6). Dabei bemerkt Kraftchick einen Unterschied zwischen der paulinischen und der aristotelischen Konzeption: „whereas Aristotle argued that the community’s ethos determined the shape of the speaker’s character proofs, in Philippians the community’s ethos is to be determined and developed on the basis of Paul’s character presentation“¹²⁸. Sicherlich liegt hier ein Unterschied vor. Jedoch sollte darüber nicht vergessen werden, dass der im Brief dargestellte Charakter des Apostels im Gegenüber zum Gemeinschaftsethos nicht als etwas völlig Fremdes erscheint, sondern apostolischer Charakter und gemeindliches Ethos bereits zuvor, d. h. bei der Anwesenheit des Paulus in Philippi, eine große Schnittmenge besessen haben. Insofern ist die Charakterdarstellung des Apostels im Brief überhaupt erst durch Vorstellungen in der Gemeinde hervorgerufen worden und geht auf diese ein.¹²⁹ So versucht der Apostel mittels einer auf die Gemeinde bezogenen gemeinsamen Sprache, die deren Vorstellungen aufnimmt, zu einem Wandel im Denken der Gemeinde zu gelangen. Insgesamt kann und sollte die Sichtweise Kraftchicks auf Phil auch für den 1Kor und überhaupt für alle anderen Paulus-Briefe fruchtbar gemacht werden. Das Ethos in der Selbstdarstellung des Apostels wird so zum übergreifenden und verbindenden Motiv der Briefanalyse. Es wird zu zeigen sein, dass bei aller Verschiedenheit und großen Zahl der in einem Brief verhandelten Themen, was ja den Hauptunterschied zwischen Brief und Rede markiert, doch das Ethos des Briefschreibers als all diese Themen in ihrer Disparatheit verbindendes Element hervorsticht.Wie schon oben bemerkt, geht es bei dem aristotelischen Ethos nicht um

 Vgl. Kraftchick, „Self-Presentation“ 260 f.  Kraftchick, „Self-Presentation“ 261.  Dies entspricht der empathischen Ethos-Eigenschaft ‚Wohlwollen‘. Phil zeigt ja in Sprache und nach Inhalt, dass Paulus im Großen und Ganzen sehr zufrieden mit der Gemeinde war, also schon eine große Übereinstimmung bestand. Die gemeinsamen Vorstellungen mit der Gemeinde wird Paulus über den Gesandten Epaphroditus (Phil 2,25 – 30; 4,18) bezogen und weiterentwickelt haben.

1 Das Selbst in der Antike – Wege zur Person des Paulus

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einen modernen, rein moralischen Begriff („sittliche Einstellung“¹³⁰), sondern um die Gesamtheit der Eigenschaften Verständigkeit,Tugend und Wohlwollen.Wie bei der persona geht es dabei um den apostolischen Charakter als eine rhetorische Größe. Das Konzept der rhetorischen persona, das im Folgenden erläutert wird, kann helfen, diese apostolischen Charakter in 1Kor in seinem kommunikativen wie kulturellen Kontext zu erfassen, wobei die Ganzheitlichkeit des Briefes beachtet bleibt.

1.8 Die rhetorische persona Die beiden Kommunikationsforscher B. L. Ware und Wil A. Linkugel haben 1982 das Konzept der rhetorischen persona entwickelt.¹³¹ persona verstehen sie der ursprünglichen Bedeutung nach als ‚Maskeʻ. Weiterhin gehen sie davon aus, dass es in allen Kulturen bestimmte archetypische Gestalten gibt. Diese Archetypen existieren in der Geschichte, den Mythen oder der Literatur einer bestimmten Kultur und haben eine derartige Bedeutung, dass die Erinnerung an und der Bezug auf diese Gestalten einem Redner vermehrte Glaubwürdigkeit als Anführer vermitteln. Durch die enge Anlehnung eines Redners an einen Archetyp kommt es gleichsam zu einem Überstreifen von dessen Rolle oder Maske, so dass das bedeutendere Ethos der archetypischen Heldengestalt das Ethos des Maskenträgers erheblich aufwertet.¹³² Die rhetorische persona ist somit „not the rhetor qua person but is an attributed character created by the auditor’s symbolic construction (and implied assessment) of the rhetor“¹³³. Tatsächlich muss man sagen, dass die rhetorische persona als transzendente Form bereits vor der eigentlichen Kommunikation unabhängig vom Redner in der Vorstellung der Zuhörerschaft besteht.¹³⁴ Die konkrete Gestaltung der rhetorischen persona entsteht dann im Wechselspiel von Redner und Angeredeten bzw. innerhalb der miteinander ge-

 s.v. F. Hauck/ E. Herdieckerhoff (Hg.), Theologisches Fach- und Fremdwörterbuch, Göttingen 1967 [im Original kursiviert].  Vgl. zum Folgenden B. L. Ware/ W. A. Linkugel, „The Rhetorical persona: Marcus Garvey as Black Moses,“ in: Communication Monographs 49 (1982), 50 – 62 (50 – 52.61 f).  In ihrer Studie ziehen Ware und Linkugel den afroamerikanischen Politiker und Publizisten Marcus Moziah Garvey als Beispiel heran, der sich in den 1920er Jahren selbst sehr erfolgreich als einen schwarzen Moses darstellte. Weiterhin verweisen die Autoren auf die Staatschefs Franklin Roosevelt und Winston Churchill, die ihrerseits in der Rhetorik auf nationale Mythen zurückgegriffen haben und dadurch rhetorische personae für sich konstruierten.  Ware/Linkugel, „persona“ 51.  Vgl. Ware/Linkugel, „persona“ 52. Das Konzept der rhetorischen persona erweist sich, insofern darin auf transzendent existierende Ideen verwiesen wird, als platonisch (ebd.).

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Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen

teilten Symbolwelt. Der Redner bezieht dazu in seine Redekunst bestimmte Eigenschaften (‚particularsʻ) ein, die die transzendente Form charakterisieren.¹³⁵ Durch die Indienstnahme der particulars in die eigene Rhetorik vermag der Redner an der transzendenten Form zu partizipieren und dadurch seine Redekunst zu verstärken. Ware und Linkugel halten es dabei für möglich, dass bestimmte rhetorische personae typischerweise mit einem bestimmten rhetorischen Genre einhergehen, wobei aber nicht notwendigerweise ein bestimmtes rhetorisches Genre sich stets derselben rhetorischen persona bedient.¹³⁶ Dieses Konzept ist auch von der neutestamentlichen Exegese entdeckt worden. Zunächst hat Gary Selby es in einem Aufsatz über 1Kor 2,1– 16 auf Paulus angewendet.¹³⁷ Selby versteht dabei die Situation der brieflichen Kommunikation des 1Kor derart, dass die korinthische Gemeinde die Autorität des Apostels infrage gestellt hat,¹³⁸ woraufhin Paulus eine Möglichkeit sucht, um diese wieder zu sichern und gleichzeitig den Zwist über den ‚bestenʻ Weisheitslehrer (Apollos, Kephas, Paulus, Christus) zu entschärfen, dabei aber seiner früheren Wahrnehmung durch die Korinther zu entsprechen. Zu diesem Zweck nehme Paulus die rhetorische persona eines apokalyptischen Sehers nach Vorbildern aus der biblischen und frühjüdischen Literatur, z. B. Daniel, Ezechiel oder Henoch, an.¹³⁹ Entgegen der Ethos-Konzeption in der aristotelischen Rhetorik, nach der ein Redner auf sich selbst als Teil der Gemeinschaft, der er sich insgesamt ein- wenn nicht gar unterordnet, verweist und diese durch Verständigkeit, Tugend und Wohlwollen zu überzeugen sucht, versteht Selby die Methode des Apostels in 1Kor 2,1– 16 anders: „Paul seeks to establish his right to speak by assuming the mantle of a character in which that right is already assumed.“¹⁴⁰ Sein Ethos entstamme demnach aus der angenommenen und schon bestehenden Rolle des apokalyptischen Sehers.

 Im Falle Garveys und seiner Erlösungsrhetorik bestehen diese particulars in Erwählung, Gefangenschaft und Befreiung, vgl. ebd.  Vgl. a.a.O. 62. ‚Genreʻ meint hier nicht dasselbe wie das aristotelische genus, sondern weist auf ein übergreifendes rhetorisches Thema hin, im Falle Marcus Garveys auf Erlösung („deliverance rhetoric“).  Vgl. G. S. Selby, „Paul, the Seer: The Rhetorical Persona in 1 Corinthians 2.1– 16,“ in: Porter, S. E./ Olbricht, Th. H., (Hg.), The Rhetorical Analysis of Scripture. Essays from the 1995 London Conference (JSNT Sup. 146), Sheffield 1997, 351– 373.  Selby beruft sich dabei auf N. A. Dahl, G. Fee und J. B. Chance und spricht sich gegen das Ausblenden des apologetischen Aspekts in den Arbeiten von M. Mitchell und B.Witherington aus, vgl. Paul 352 f Anm. 7.  Selby macht dies v. a. an den Termini ‚Geheimnisʻ (1Kor 2,1) und ‚Furcht und Zitternʻ (2,3) fest. Zur Einzelkritik an Selby (und dann auch Gladd) s.u. zu 1Kor 2,1– 5.  Selby, „Paul“ 372.

1 Das Selbst in der Antike – Wege zur Person des Paulus

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Die These Selbys ist hilfreich, da sie die Konzeption der rhetorischen persona für die paulinischen Briefliteratur fruchtbar zu machen sucht. Allerdings erscheint mir diese Übertragung nicht ganz ausgereift. Die rhetorische persona ist nach Ware und Linkugel nicht als ein einmaliges Aufscheinen innerhalb einer Rede zu verstehen, sondern bildet sozusagen den Grundton, der beim Redner stets mitschwingt. Dies scheint an der Wirkungsmächtigkeit der rhetorischen persona aufgrund ihrer Orientierung an einem (historischen, mythologischen oder literarischen) Archetyp zu liegen; andere Rollen oder personae werden damit schlicht übertönt. Anders gesagt: Wenn Paulus in einem Brief mithilfe einer rhetorischen persona und deren particulars auf sich selbst verweist und an ihr partizipiert, dann wird dies im Sinne des Konzepts von Ware und Linkugel auch alle anderen Teile des Briefes betreffen.¹⁴¹ Im Gefolge von Ware und Linkugel ist es somit unwahrscheinlich, dass nach Selby – sollte Paulus tatsächlich sich selbst als apokalyptischen Seher zeichnen – ein wirkmächtiges archetypisches Rollenmotiv (eben die particulars) nur in wenigen Zeilen eines Briefes erscheint und nicht auch in den Rest des Briefes ausstrahlt. In dieser Hinsicht wirkt der Ansatz Benjamin Gladds weiterführend, die Selbstdarstellung des Paulus als eines apokalyptischen Sehers auch in anderen Teilen des 1Kor zu suchen. In seiner Untersuchung über Paulus als danielische Gestalt bezieht sich Gladd direkt auf Selbys Überlegungen und weitet diese noch aus.¹⁴² Der Schwachpunkt bei Gladds Arbeit ist allerdings, dass das von ihm herausgestellte Motiv (μυστήριον/„Geheimnis“) und damit verbunden die Selbstdarstellung des Paulus (Paulus als Seher nach dem Vorbild Daniels) sehr eng, ja zu eng gefasst ist. Tatsächlich beschränkt sich Gladds Untersuchung nur auf die tatsächlichen Vorkommnisse des Terminus ‚Geheimnisʻ im 1Kor. Was aber haben z. B. die rein ethischen Fragen zum geschlechtlichen Leben (1Kor 7) oder der konkrete Fall eines Inzestuösen (c.5) mit der apokalyptischen Geheimniskunde des Apostels zu tun? M. E. klafft somit in Gladds Modell ein Hiatus zwischen der Konkretheit der korinthischen Situation und der Abstraktheit (oder sogar Le Das Festlegen auf eine Rolle bzw. rhetorische persona in dem einen Brief heißt nicht, dass Paulus nicht auch andere Rollen bzw. personae in Schreiben an andere Gemeinden einnehmen kann. Die Kunst der Überzeugung besteht darin, dass, ganz im Interesse einer überzeugenden Selbstdarstellung, diese Rollen nicht im Widerspruch zueinander stehen kommen, sondern sich gegenüber einer Gemeinde ein einheitliches Selbstbild des Apostels ergibt,vgl. Th. J. Bauer, Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie. Kontextualisierung und Analyse der Briefe an Philemon und an die Galater (WUNT 276), Tübingen 2011, 108.  Vgl. B. L. Gladd, Revealing the Mysterion. The Use of Mystery in Daniel and Second Temple Judaism with Its Bearing on First Corinthians (BZNW 160), Berlin/ New York 2008, 120 – 126. Gladd geht allerdings weder auf das Konzept der rhetorischen persona noch auf das Ethos des Apostels näher ein.

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Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen

bensferne) der apostolischen Selbstdarstellung als göttlicher Geheimnisträger. Gladd hat durchaus wichtige Elemente in der paulinischen Selbstpräsentation erkannt und benannt, fasst diese aber, wenn er darin allein ein Nachahmen des apokalyptischen Sehers erkennt, zu eng, um zu einem vollends überzeugenden Modell zu gelangen.¹⁴³ Eine als Archetyp in der Vorstellungswelt der antiken Kulturen übergreifend vorhandene Gestalt ist die Figur des Weisen. Dies werde ich in Kapitel 3 vorführen. Dort werde ich darstellen, wie sich die Gestalt des Weisen in religionsphänomenologischer Perspektive zeigt.

1.9 Zusammenfassung Im Vorangegangenen habe ich zu zeigen versucht, dass die paulinischen Briefe nur wenig über den Menschen Paulus offenbaren, da sie offizielle, d. h. amtliche Schreiben des Apostels an seine Gemeinden sind. Von daher kann es in dieser Untersuchung über das autobiographische Schreiben des Paulus nicht darum gehen zu untersuchen, wie es um das Seelenleben des Paulus bestellt war (Persönlichkeit) oder wie er als Individuum historisch ‚wirklichʻ war und wirkte (Person), sondern wie er wahrgenommen werden wollte (persona).¹⁴⁴ Dass sich bei Paulus persona mit Person und Persönlichkeit ab und an deckt, ist dabei überhaupt nicht unwahrscheinlich, darf aber nicht naiv vorausgesetzt werden. Allerdings verfügen wir über keinerlei Möglichkeiten, diese potentiellen Überschneidungen zu erkennen, schlichtweg deshalb, da uns nur die Briefe des Apostels vorliegen, nicht aber er selbst vor uns steht. Die Fragen Beckers („Gibt es eine ‚Personʻ Paulus in und hinter einer Biographie, ohne daß ‚Personʻ und ‚Biographieʻ voneinander zu trennen oder miteinander identisch wären? Wer ist die ‚Personʻ Paulus hinter seinen Briefen? Lassen sich die Person oder wenigstens Spuren der Person in den rekonstruierten ‚Paulus-Bildernʻ fassen?“) sind demnach zu verneinen bzw. lassen sich schlicht nicht beantworten, insofern man ‚Personʻ in

 Im Vorgriff auf meine Briefexegese kann bereits gesagt werden, dass es richtig ist, dass Paulus in 1Kor auch auf die Gestalt des apokalyptischen Sehers anspielt (wenngleich nicht in 2,1– 5!). Diese ist allerdings nicht bestimmend, sondern vielmehr ein Teilaspekt oder auch eine Ergänzung zu der umfassenderen Figur des Weisen.  Vgl. R.-R. Wuthenow, „Autobiographie, autobiographisches Schrifttum,“ in: Wörterbuch der Rhetorik 1 (1992), 1267– 1276: „Nicht das Was und Warum der Begebenheiten und Erfahrungen zählt, sondern mehr, ja vor allem, der davon geprägte Gemütszustand, also das Wie ihrer Wirkung“ (1274). Aristoteles würde dies in seiner Rhetorik das pathos, also die Wirkung auf die Zuhörer einer Rede, nennen.

2 Die Formen der literarischen Selbstdarstellung in der Antike

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moderner Weise verstehen will. Uns bleiben einzig die Aussagen über seine briefliche(n) persona(e). Die personae teilen sich in zwei Kategorien auf: Zum einen gibt es im Mikrokontext, also in kleineren Briefabschnitten, Rollenzuschreibungen. Diese können Paulus z. B. als Vater der Gemeinde (1Kor 4,14– 21) oder als Sklaven aller Menschen (9,19 – 22) darstellen. Zum anderen gibt es im Makrokontext, also im Gesamtrahmen des Briefes, die rhetorische persona. Sie bezieht sich auf einen in den Vorstellungen von Absender und Adressaten geteilten, kulturellen Archetypen. Beide Kategorien stehen nicht in Widerspruch zueinander, sondern ergänzen einander, indem sie auf das Ethos der apostolischen Selbstdarstellung verweisen. Das Ethos ist somit das Element, das einem Brief einen Zusammenhalt verschafft. Ein Briefautor gestaltet sein Ethos, das sich durch die Eigenschaften der sachbezogenen Verständigkeit, der auf das Selbst bezogenen Tugend und des adressatenbezogenen Wohlwollens auszeichnet. In der Gestaltung der personae beider Kategorien werden diese Eigenschaften immer wieder aufgegriffen. Welche Arten und Weisen es zu Paulus’ Zeiten gab, um das eigene Selbst literarisch darzustellen, behandelt der folgende Abschnitt.

2 Die Formen der literarischen Selbstdarstellung in der Antike Selbstdarstellung ist die Präsentation des eigenen Selbst im öffentlichen Raum. Allerdings ist das in der Öffentlichkeit dargestellte Selbst durch die Eigenschaft, dass ein Selbst sich zu sich selbst verhalten kann¹⁴⁵ bzw. das Ich mit sich selbst als Gegenstand umgehen kann, nicht notwendigerweise das ‚eigentlicheʻ Selbst. Dieser Umgang als Auseinander-Setzung mit sich selbst kann bewusst, aber durchaus auch unbewusst geschehen, weshalb so oder so kein exaktes Selbstbild von einem Individuum zu erwarten ist. Zudem steht das sich selbst darstellende Individuum mit seiner Selbstpräsentation innerhalb des öffentlichen Diskurses, der seinerseits bestimmte Vorstellungen über wie auch Erwartungen an dieses voraussetzt. Selbstdarstellung ist somit ein komplexer Vorgang, in welchem bewusste Entscheidungen mit instinktiven Antworten auf traditionelle Paradigmen interagieren, um eine sorgfältig geformte öffentliche Identität zu produzieren.¹⁴⁶ Mit anderen Worten: Selbstdarstellung ist auch immer Selbstverstellung gegen Vgl. T. Wesche, „Selbst I. Philosophisch,“ in: RGG4 (2004), 1152– 1153.  So versteht M.W. Gleason, Making Men. Sophists and Self–Presentation in Ancient Rome, Princeton 1995, xxvi Selbstdarstellung: „the complex business of self-presentation, in which conscious choices interact with instinctive responses to traditional paradigms to produce a carefully modulated public identity.“

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Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen

über anderen. Von daher werden der Öffentlichkeit von einem Individuum – bewusst und unbewusst – stets besondere Rollen gezeigt.¹⁴⁷ Ich bezeichne diese Rollen als personae (s.o.). Die antiken Erscheinungsformen der bewussten Gestaltung des Selbst gegenüber anderen sollen in diesem Abschnitt näher betrachtet werden. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass Paulus als „Abgesandter an die Völker“ (Röm 11,13: ἐθνῶν ἀπόστολος) im griechisch-römischen Kulturkreis wirkte, aber zugleich der damaligen Subkultur¹⁴⁸ des Judentums (und innerhalb dessen ein Anhänger des Judaismus/Ἰουδαϊσμός: Gal 1,13 f) entstammte und aus dieser viele seiner Vorstellungen und Überzeugungen bezog.

2.1 Paulus – Ein Mann zweier Welten „Hinter Augustin steht Paulus und hinter Paulus die Psalmendichtung des Alten Testaments und die Propheten.“¹⁴⁹ So beschreibt Georg Misch in seinem monumentalen Werk über die Geschichte der Autobiographie eine Sicht auf die Entwicklungslinie der abendländischen Selbstbeschreibung. Gegen diese vereinfachende Darstellung, zumindest in ihrer ersten Hälfte, stellt er später aber mit Recht klar: „Es führt kein grader eigner Weg vom Urchristentum zur Ausbildung der großen religiösen Autobiographie durch die Kirchenväter des 4. Jahrhunderts.“¹⁵⁰

 Vgl. E. Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 1969, 18.19 – 71.230 – 233. Goffman, a.a.O. 223 f ist sich dessen bewusst, dass seine Theorie auf Betrachtungen der westlichen, insbesondere angelsächsischen Gesellschaft beruht. Eine Übertragung auf die antike Kultur und überhaupt auf jede Gesellschaft halte ich aber – selbstverständlich mit Anpassungen – für möglich. Ich befinde mich damit im Gefolge von M. Ludolph, Epistolographie und Selbstdarstellung. Untersuchungen zu den „Paradebriefen“ Plinius des Jüngeren (Classica Monacensia. Münchener Studien zur klassischen Philologie 17), Tübingen 1997, 28 – 36, der dieses Modell auf die Selbstdarstellung Plinius’ d. J. in seinen Briefen anwendet.  E. Hermsen, „Subkultur, religiöse,“ in: RGG4 7 (2004), 1821– 1822 definiert Subkultur als „eine gesellschaftliche Teilkultur, die sich sowohl in ihren Werten, Normen, Einstellungen, Bedürfnissen, Lebensstilen und Zeichen als auch in ihren Verhaltensstrukturen, Organisationen, Institutionen und Traditionen von einer gesellschaftlich dominierenden (Haupt‐)Kultur abgrenzt“ (1821). Dies sehe ich für die antike jüdische (judaisierende) Lebensweise im Gegenüber zum Hellenismus gegeben, wenngleich der Hellenismus als übergreifendes kulturelles Muster auch auf das Judentum eingewirkt hat.  G. Misch, Geschichte der Autobiographie I/1 + I/2. Das Altertum, Frankfurt a. M. 31949 + 31950, 19.  Misch, Geschichte 539.

2 Die Formen der literarischen Selbstdarstellung in der Antike

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Was nun für die Entwicklung von Paulus zu Augustinus gilt, können und müssen wir auch für die Entwicklung von den biblischen Traditionen hin zum Apostel annehmen. Denn mit der Gestalt des Paulus tritt uns ein Mensch entgegen, der nicht in bloß einer geraden Linie zwischen Altem Testament und Alter Kirche steht, sondern viele verschiedene Einflüsse in sich vereint und bündelt. Von ihm führt also zwar eine bestimmte Linie hin zu Augustinus, aber eben eine, neben der noch viele andere liegen – und dies nicht bloß im Bereich der Autobiographik.¹⁵¹ Der Apostel Paulus ist ein Mann zweier Welten.¹⁵² Aufgewachsen und erzogen als Mitglied des Volkes Israel (Röm 11,1; 2Kor 11,22; Gal 1,13 f; Phil 3,5), steht er fest verwurzelt in den Traditionen des jüdischen Glaubens. Gleichzeitig ist er geprägt von seinem hellenistischen Umfeld, dem er sich ja nicht entzog, sondern mit dem er sich – gerade aufgrund seines Selbstverständnisses als göttlicher Abgesandter zu den nichtjüdischen Völkern (Röm 11,13) – im Zuge seiner Missionstätigkeit aktiv auseinandersetzte (1Kor 9,19 – 23). Allein, dass er seine Briefe auf Griechisch schrieb, ist ein Beleg für sein Leben und Streben in der hellenistischen Welt. Daher ist es sinnvoll, bei einer Untersuchung der Funktionen der paulinischen Selbstdarstellung sowohl das literarische Umfeld des autobiographischen Schrifttums in der paganen hellenistischen Antike zu betrachten als auch jenes im jüdischen Bereich. Im Folgenden werden daher kurz die Erscheinungsformen der Selbstdarstellung (mitunter mit einem Seitenblick auf ihre geschichtliche Entstehung) innerhalb ihrer beiden Wirkfelder dargestellt, zunächst des paganen, dann des jüdischen.¹⁵³ Zuvor soll aber noch eine Verhältnisbestimmung von Autobiographischem und Selbstdarstellung vorgenommen werden.

2.2 Zum Verhältnis von Autobiographischem und Selbstdarstellung Das Wort ‚Autobiographieʻ ist ein neuzeitlicher Neologismus. Erstmals kam er Ende des 18. Jahrhunderts auf und setzte sich allmählich zur Bezeichnung des

 Hier lässt sich als Beispiel die Rechtfertigungslehre anführen, die einen Aspekt der paulinischen Theologie ausmacht, der dann von Augustinus aufgenommen und ausgebaut wird, was wiederum von Martin Luther vertiefend sowie gleichermaßen verengend weitergeführt wird.  Misch selbst nennt ihn einmal einen „Weltwanderer“ (Geschichte 543).  Wir tragen mit der Einteilung von Biographie und Autobiographie abendländische literarische Kategorien an die Texte heran.Von daher ist es nur logisch, zuerst das okzidentale Phänomen der schriftlichen Selbstdarstellung zu begutachten, um dann zum orientalen überzugehen.

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Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen

Phänomens einer schriftlichen Selbstbetrachtung durch.¹⁵⁴ Die Bestandteile dieses Begriffs beschreiben dann auch ohne Umschweife, was er selbst ausdrückt: „die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch einen selbst (auto)“¹⁵⁵. Diese Definition des Wortes steckt nur in ganz grober Weise einen Rahmen für die Schriften ab, die sich innerhalb der Gattung ‚Autobiographieʻ versammeln. Deutlich ist, dass es hierbei um schriftliche Phänomene geht und der Autor zugleich Objekt der Darstellung ist. Allerdings ist damit noch nichts über die Berichtsweise noch über den Berichtszeitraum gesagt. Tatsächlich zeichnet sich autobiographisches Schrifttum seit jeher durch seine überaus große Vielfältigkeit in Form und Inhalt aus.¹⁵⁶ Lediglich allgemeine Merkmale lassen sich bestimmen, ohne dabei aber Anspruch auf Ausschließlichkeit erheben zu können.¹⁵⁷ Stefanie Kurczyk benennt

 Vgl. M. Holdenried, Autobiographie (Reclams Universal–Bibliothek 17624), Stuttgart 2000, 19. G. Niggl, Zur Theorie der Autobiographie, in: M. Reichel, (Hg.), Antike Autobiographien. Werke – Epochen – Gattungen (Europäische Geschichtsdarstellungen 5), Köln/ Weimar/ Wien 2005, 1– 13 nennt 1776 (Brief von Lenz an Goethe) als frühestes Belegdatum (1). Mit der Einführung des neuen Begriffs wurde auch der bis dahin übliche Begriff der ‚Memoirenʻ abgelöst. Misch sieht dabei noch einen gewichtigen Unterschied zwischen Memoiren und Autobiographie: Während der Autor von Memoiren in seiner Schilderung von vergangenen Geschehnissen selber oft eine nebengeordnete, mitunter sogar passive Rolle einnehme, stehe in einer Selbstbiographie das eigene Leben des Berichtenden vollkommen im Mittelpunkt, vgl. Misch, Geschichte 8 f. Die Autobiographie beschreibt also die Aktivität des eigenen Lebens, so unbedeutend es dann objektiv wiederum für den Verlauf der Weltgeschichte auch sein mag.  Misch, Geschichte 7.  Vgl. Misch, Geschichte 6 f; Holdenried, Autobiographie 19 – 36.  Die Liste über „Merkmale der Selbstdarstellung in Texten mit autobiographischem Charakter“ bei M. Brusch, Selbstdarstellungen in der Literatur der Antike, in: AU 3/2004, 2– 9 (4) enthält 13 Punkte. Diese sind: 1) die Bestimmung der Texte zur Publikation, 2) die Absichtserklärung, über das eigene Leben zu schreiben, 3) die Darstellung von Teilbereichen, -aspekten des eigenen Lebens, 4) die Retrospektive, 5) die personale Erzählperspektive in 1. oder 3. Person Sg., 6) die Systematisierung des Erlebten, 7) ein chronologischer Aufbau, 8) die adressatenbezogene Selbstdarstellung, 9) unterschiedlich motivierte Anlässe, 10) Auswahl und Bewertung einzelner Lebensabschnitte, 11) eine sinngebende Verknüpfung einzelner Lebensstationen, 12) die Darstellung äußerer bestimmender Einflüsse auf die eigene Entwicklung, 13) die Analyse geistiger und kultureller Strömungen der eigenen Zeit. Aufgrund ihrer ‚idealen Typisierungʻ sind diese Punkte in ihrer Gesamtheit allerdings nicht in allen autobiographischen Texten zu finden (a.a.O. 5). Hieraus wird die Flüchtigkeit konkreter Kriterien des Autobiographischen ersichtlich.Vgl. zudem die Liste über allgemeine Charakteristika (v. a. christlicher) antiker Autobiographik bei A. Kotzé, „Autobiography II. Greco-Roman Antiquity and New Testament,“ in: EBR 3 (2011), 131– 136 (135 f), die aus elf Punkten besteht: 1) Betonung des Typischen (statt des Individuellen), 2) Focus auf spezielle Lebensabschnitte (statt des Gesamtlebens), 3) Einbettung autobiographischer Abschnitte in ein größeres Gesamtwerk, 4) Unterordnung der Funktion des Autobiographischen unter die Funktion des Gesamtwerks, 5) Informationen über ein individuelles Leben oder Selbsttherapie bloß als

2 Die Formen der literarischen Selbstdarstellung in der Antike

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vier Kennzeichen für Autobiographisches: a) die Identität von Autor und berichteter Hauptfigur, b) die Darstellung des eigenen Lebens in reflektierter Weise, c) das Vorherrschen der Vergangenheit als Berichtstempus, d) ein zielgerichteter und intentionaler Öffentlichkeitsbezug.¹⁵⁸ Unabhängig von diesen strukturellen Merkmalen ist für autobiographische Texte die Annahme eines ‚autobiographischen Paktesʻ hilfreich.¹⁵⁹ Dieser Pakt wird zum einen in der Erklärung des Autors, dass das, was er schreibt, tatsächlich autobiographisch ist, sowie in der Zustimmung des Lesers dazu zwischen beiden geschlossen. Als Bekräftigung des Paktes dienen dann Paratexte wie z. B. Buchumschläge, Vorreden oder Nachworte, welche der Identitätsrepräsentation dienen.¹⁶⁰ Aurelius Augustinus hat nach allgemeiner Ansicht mit seinen Confessiones bei der Bildung der Gattung ‚Autobiographieʻ Epoche gemacht hat.¹⁶¹ Dies gilt zum einen in Bezug auf die Reflexion über das eigene Ich, das seither bis in die Neuzeit

sekundärer Zweck des Autobiographischen, 6) Lebensdarstellung zur Etablierung des ErzählerEthos und als rhetorisches exemplum zur Nachahmung, 7) Vorkommen von Autobiographik in Werken mit einem oder mehreren Elementen aus einem spezifischen Konglomerat kommunikativer Zwecke, 8) Orientierung der bewussten Selbstdarstellung an Vorläufern, 9) Auftauchen bestimmter literarischer Topoi, 10) Voreingenommenheit mit Wahrheit, Innenschau und Wohlbefinden der eigenen Seele wie denen der Zuhörer, 11) enge Verbindung zwischen Autobiographie und tief religiösen bzw. philosophischen Empfindungen.  Vgl. Kurczyk, Cicero 55. Die Auflistung bei Kurczyk halte ich aufgrund ihres Charakters als Substrat autobiographischer Merkmale zum weiteren Vorgehen und in der Anwendung auf Paulus für geeigneter als die Listen bei Brusch oder Kotzé, zumal bei Kotzé Entwicklungen der Autobiographik einfließen, die nachpaulinisch sind.  Die Einführung der Kategorie ‚autobiographischer Paktʻ in die Gattungsdiskussion stammt von Philippe Lejeune, vgl. Holdenried, Autobiographie 27 f; Wagner-Egelhaaf, Autobiographie 68 – 72; Lejeune, Der autobiographische Pakt, in: Niggl, Autobiographie 214– 257.  Vgl. Holdenried, Autobiographie 43 f.  Vgl. Misch, Geschichte 637– 678; Holdenried, Autobiographie 89 – 93; Wagner-Egelhaaf, Autobiographie 112– 118; B. Zimmermann, „Augustinus, Confessiones – eine Autobiographie? Überlegungen zu einem Scheinproblem,“ in: M. Reichel (Hg.), Antike Autobiographien. Werke – Epochen – Gattungen (Europäische Geschichtsdarstellungen 5), Köln/ Weimar/ Wien 2005, 237– 249. Es besteht allerdings Uneinigkeit darüber, ob Augustinus’ Werk die Vollendung der bereits in der Antike angelegten geistesgeschichtlichen Entwicklungen ist (Misch) oder ob es in Diskontinuität dazu steht und somit die erste moderne Autobiographie bietet (Neumann, nach Holdenried, Autobiographie 90; Pascal, nach Wagner-Egelhaaf, Autobiographie 105). G. Niggl, „Autobiographie, religiöse,“ in: LThK 1 (1993), 1290 – 1291 sieht in den Confessiones den Beginn der religiösen Autobiographie. Zu weiteren Sichtweisen vgl. G. A. Benrath, „Autobiographie,“ christliche, in:TRE 4 (1979), 772– 789 (772). M. Schramm, „Augustinus’ Confessiones und die (Un‐)Möglichkeit der Autobiographie,“ in: AuA 54 (2008), 173 – 192 relativiert hingegen die Bedeutung des augustinischen Werks für die Geschichte der Autobiographie.

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hinein als festes Motiv der Autobiographien auftaucht und bei Augustinus als ein doppeltes Erkennen und Bekennen (confessio) erscheint, nämlich das der eigenen Sündhaftigkeit sowie das eines vergebenden Gottes. Zum anderen besteht hier ein kontinuierliches Erzählschema, das chronologisch von Geburt über Kindheit, Erziehung und die einzelnen Altersstufen bis zum Zeitpunkt der Niederschrift reicht. Vor Augustinus gab es hingegen lediglich autobiographische ‚Versatzstückeʻ, d. h. einzelne mehr oder weniger kurze niedergeschriebene Episoden über das eigene Leben. Die komplette Betrachtung des eigenen Lebens von Geburt bis zur Textverfassung, wie sie Augustinus bietet, findet sich zuvor nicht. In Kombination beider Aspekte ist deshalb bei Augustinus ein Schema zu finden, das das berichtete Leben als eine Entwicklungsgeschichte auffasst. Daher wird der Beschreibung von Kindheit, Jugend und jungem Erwachsenenalter in den Confessiones nicht wenig Platz eingeräumt (4 von insgesamt 13 Büchern). Dies war vor Augustinus unüblich. Wie man an der Selbstbiographie des aristotelischen Philosophen Nikolaus von Damaskus¹⁶², dann aber auch an der Vita des Flavius Josephus¹⁶³ sehen kann, wurde der Charakter eines Menschen als unveränderbar angesehen. Die Jugendzeit zeigte bereits die Charaktereigenschaften, die dann im Erwachsenenalter den Menschen auszeichneten. Entwicklungen oder gar Brüche sind in diesem Denken nicht vorgesehen bzw. nur insoweit, als sie zur Schilderung des ‚wahrenʻ Charakters des Protagonisten beitragen.¹⁶⁴ Vielmehr versteht das damalige Denken das menschliche Wesen als Entelechie, also als etwas, das seine Vollendung bereits in sich trägt und demnach ausbildet – oder zumindest stellen sich die Menschen vor Augustinus entsprechend dar.¹⁶⁵

 Vgl. Misch, Geschichte 321– 328.  Vita 7– 12; vgl. dazu Misch, Geschichte 328 – 341; S. Mason, Flavius Josephus und das Neue Testament. Aus dem Amerikanischen von Manuel Vogel (UTB 2130), Tübingen/ Basel 2000, 130 – 137.  Insofern ist die Aussage in Hebr 13,8 als ein Bekenntnis zur Wahrhaftigkeit Jesu Christi, da er sich über die Zeiten hinweg als unveränderlich darstellt, auch als Zeugnis des zeitgenössischen (und in der Philosophie verankerten: Platon!) Ablehnens von Entwicklung zu lesen.  Einschränkend dazu ist natürlich auch für Augustinus die Vorstellung des menschlichen Seelenlebens als Entelechie anzunehmen, vgl. Holdenried, Autobiographie 90. Den Grund dafür sehe ich darin, dass er von einem allmächtigen Gott und dessen Prädestination der Geretteten ausgeht. Dennoch gilt diese anthropologische Vorstellung allein von einer christlichen Warte aus und im Rahmen der Heilsgeschichte nur für die Prädestinierten. Demgegenüber, von einem allgemeinen geistes- bzw. literaturgeschichtlichen Standpunkt aus, hat Augustinus durch die Kombination von Selbstreflexion und Entwicklungsgeschichte eben Neuland betreten, das in seinem Gefolge von Rosseau und Goethe weitererforscht wurde, vgl. W. Dilthey, „Das Erleben und die Selbstbiographie,“ in: Niggl, Autobiographie, 21– 32 (26 – 28; ebenso Wagner-Egelhaaf, Autobiographie 112), und sich immer mehr Vorstellungen weg von einer Entelechie öffnete.

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Daher ist es angebracht, bei literarischen Lebensbeschreibungen aus eigener Hand, die in der Zeit vor Augustinus verfasst worden sind, nicht den Begriff ‚Autobiographieʻ anzuwenden. Vielmehr sollte man von Autobiographik¹⁶⁶ sprechen und das entsprechende Produktionsergebnis als ‚autobiographische Schriftenʻ bzw. ‚Autobiographischesʻ oder gar ‚Selbstdarstellungen in autobiographischer Absichtʻ bezeichnen.¹⁶⁷ Dabei halte ich es für angemessen, zwar die rückblickende Perspektive auf das eigene Leben als maßgebliches Merkmal für Autobiographisches anzunehmen, jedoch darüber nicht den Öffentlichkeitsbezug dieser Schriften als Gegenwartsbezug aus den Augen zu verlieren. Die Selbstdarstellung in autobiographischer Absicht entsteht ja doch in einem bestimmten Kontext und zu einem bestimmten Zweck. Dies bedeutet dann aber, auch auf die Gegenwart¹⁶⁸ und sogar die Zukunft¹⁶⁹ bezogene Selbstaussagen zu den retrospektiven Aussagen hinzuzunehmen, um ein umfassendes Charakterbild des Redners oder Schreibers zu erhalten. Gerade vor dem Hintergrund, dass in der Antike der (tugendhafte) Mensch als in allen Zeiten gleich bleibend gesehen wurde, erscheint mir dies angebracht. Insofern lässt sich der Aspekt ‚Biosʻ im Begriff ‚Auto-bio-graphischesʻ für die Antike nicht allein als das in der Vergangenheit gelebte Leben verstehen, sondern auch und insbesondere als das gegenwärtig gelebte Leben, als der Lebensstil oder die Lebensführung.¹⁷⁰ Antike Autobiographik schließt somit Aussagen über das Selbst in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein, da sie alle Zeitebenen zu einem Ganzen zusammenschließt. Autobiographik dient also und ist ein Teil der Selbstdarstellung eines Menschen im öffentlichen Raum. Entgegen einer Psychologisierung dieses Schrifttums

 Holdenried, Autobiographie 20: „[U]nter Autobiographik lässt sich subsumieren, was bislang als ‚autobiographisches Schrifttumʻ alle Gattungsvarianten des Schreibens über sich selbst zusammengefasst hat.“  Die letzte Bezeichnung wird von Brusch, Selbstdarstellungen 2 in Abgrenzung zum modernen Autobiographieverständnis für die antiken selbstdarstellenden Texte vorgeschlagen (und im Rahmen des Themenheftes ‚Selbstdarstellungenʻ (AU 3/2004) von allen weiteren Autoren übernommen).  Kotzé, „Autobiography“ 133: „ancient autobiographical narration sometimes includes or exclusively consists of references to the narrator’s present circumstances or state of mind.“  Wie D. Günther, „‚And now for something completely different‘. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft,“ in: HZ 272 (2001), 25 – 61 feststellt, „ist autobiographisches Schreiben keine Reproduktion des Gewesenen, sie [sic!] stellt vielmehr Kontinuität her, die zur Gegenwart hinführt und prinzipiell zukunftsoffen ist“ (52). Dieses Urteil trifft sie in Bezug auf die Autobiographik des kaiserzeitlichen Deutschland; ich halte es aber ebenso für die Antike für zutreffend.  Vgl. Misch, Geschichte 67– 69.

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muss aber deutlich gesagt werden: „Aus autobiographischen Texten kann nicht geschlossen werden, wie sich ein Mensch tatsächlich selbst gesehen hat, sondern wie er sich seinen Rezipienten gegenüber dargestellt hat, wie er gesehen werden wollte.“¹⁷¹ Dies liegt eben daran, dass autobiographische Texte durch ihren Öffentlichkeitsbezug bestimmte Funktionen gegenüber dem Publikum besitzen (z. B. Selbstverteidigung oder Belehrung). Mag auch der reflexive Zug autobiographischer Texte dazu dienen, einen Sinnzusammenhang des dargestellten Lebens (‐stils) herzustellen und Kohärenz zu stiften, so bleibt dies doch der öffentlichen Intention untergeordnet. Im nächsten Abschnitt erfolgt daher ein Blick auf diese öffentlichen Funktionen.

2.3 Tendenzen autobiographischer Texte – von der Apologie zur Beratung Gemeinhin gilt die Apologie als Geburtshelferin der antiken Autobiographik. Die erste uns erhaltene antike Selbstdarstellung in autobiographischer Absicht ist die Antidosis des athenischen Rhetors Isokrates¹⁷² (436 – 338), die eine fiktive apologetische Gerichtsrede darstellt.¹⁷³ Mit diesem Werk greift er selber zum Mittel der Verteidigungsrede, um sich gegen Kritik zu wehren, und stellt darin sich und sein bisheriges Leben vor.¹⁷⁴ Dass Isokrates theoretisch auch andere Mittel zum Hervorheben seiner selbst zur Verfügung gestanden hätten als die Apologie, zeigt sein Ruf als Erfinder des Prosaenkomions, der Lobrede. War das Enkomion ursprünglich ein Loblied auf bestimmte künstlerische oder sportliche Leistungen, wird es als Prosaenkomion im 4. Jahrhundert durch Isokrates selbst umgestaltet zu einem Lobpreis auf Persönlichkeiten mitsamt ihrem Charakter und ihren Taten.¹⁷⁵ Das Interesse des Enkomions und daran anschließend der zeitgleich aufkommenden Gattung der Biographie liegt darin, ihren Hörern bzw. Lesern ein ganz bestimmtes Leben zu schildern und dabei den Charakter, das ἤθος, der Hauptfigur zu beschreiben. Damit hebt sich die Biographie schon in ihren Anfängen von der Geschichtsschreibung ab, die von den

 Kurczyk, Cicero 31, Kursivierung im Original.  Vgl. H. Gärtner, „Isokrates 2,“ in: KP 2 (1967), 1467– 1470.  Vgl. Misch, Geschichte 158 – 180.  Isokrates hatte für seine Antidosis wohl Platons pseudo-autobiographische Apologie des Sokrates zum Vorbild und stellt sich entsprechend selbst wie der unschuldig angeklagte Sokrates dar, vgl. Momigliano, Development 59 f.  Vgl. Sonnabend, Geschichte 32– 41. Hingegen melden Aristoteles (rhet. 1368a) und in seinem Gefolge Momigliano, Development 49 – 52 Zweifel an der alleinigen Urheberschaft des Prosaenkomions an.

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Taten, den πράξεις, des oder der Protagonisten berichtet.¹⁷⁶ Antike Biographie ist also kein (womöglich streng chronologischer) Faktenbericht über einen Menschen, sondern die Charakterzeichnung eines Lebens. Dadurch bestimmt sich auch die Funktion der antiken Biographie: Sie will nicht allein informieren, sondern vor allem motivieren. In den Prosaenkomien ist dies ebenso deutlich, insofern hier der gewürdigte Mensch als ein Vorbild geschildert wird.¹⁷⁷. Im weiteren Verlauf seiner Geschichte nimmt das Enkomion dann auch einigermaßen feste Formen mit feststehenden Topoi an.¹⁷⁸ Es galt im Altertum jedoch als unfein, sich selbst in der Öffentlichkeit durch Lob hervorzuheben. Aus den Dokumenten des 4. Jahrhunderts, also der Zeit, in der die Autobiographik in Griechenland aufkam, wird deutlich, dass, wenn ein Mensch öffentlich über sich selbst und vor allem in positiver Weise sprach, dies in der Regel im Modus der Verteidigung geschah.¹⁷⁹ Zieht man die rhetorischen genera des Aristoteles heran, blieb also die Epideiktik für die positive Selbstdarstellung verwehrt; lediglich mittels Dikanik konnte man sich selbst zum hehren Objekt seiner Rede machen.¹⁸⁰ Wie bereits im 4. Jahrhundert die positive Rede über das eigene Selbst außerhalb eines Rechenschaftsberichts verpönt war,¹⁸¹ setzte sich dieser apologetische Zug des Autobiographischen in römisch-hellenistischer Zeit fort, wie die commentarii (s.u.) seit dem 1. Jahrhundert v. Chr zeigen.¹⁸² Die

 Vgl. Sonnabend, Geschichte 7. So bezeichnet sich dann – gut 500 Jahre nach Aufkommen der Biographie – Plutarch in der Vorrede zu seiner Doppelbiographie über Alexander und Caesar ausdrücklich nicht als Geschichtsschreiber, sondern eben als Biographen, der gleich einem Porträtmaler die Charakterzüge seines Modells herauszuarbeiten hat (vit. Alex. 1).  Man kann das sehr gut am Enkomion des Isokrates über Euagoras ablesen, das vor allem als „Appell an die Zeitgenossen gedacht gewesen ist, als ein Signal zu einer außenpolitischen Umorientierung“ (Sonnabend, Geschichte 41).  Für eine Zusammenstellung von Auszügen aus antiken Lehrbüchern zum Enkomion vgl. Malina/ Neyrey, Portraits 219 – 224.  M. Erler, „Philosophische Autobiographie am Beispiel des 7. Briefes Platons,“ in: M. Reichel (Hg.), Antike Autobiographien. Werke – Epochen – Gattungen (Europäische Geschichtsdarstellungen 5), Köln/ Weimar/ Wien 2005, 75 – 92: „Der Zusammenhang von apologetischem Kontext und autobiographischen Elementen scheint in der Zeit Platons nicht Ausnahme, sondern eher Regel zu sein […]“ (76).  Gleichwohl konnte man im klassischen und hellenistischen Griechenland sich selbst durchaus auch im Rahmen einer Klage über das eigene Unglück öffentlich darstellen, wie Most, Stratagem herausgearbeitet hat. Aber auch die Klage als Appell an einen Stärkeren (Gott oder Mensch) verbleibt innerhalb der Dikanik.  Vgl. Momigliano, Development 57– 62. Selbst die Anabasis Xenophons ist in ihrer literarischen Nähe zur Gattung des Reiseberichts deutlich apologetisch gehalten und ist sogar, wohl um weniger Angriffsfläche zu bieten, aus der 3.P.Sg. heraus formuliert.  Vgl. Sonnabend, Geschichte 89.

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öffentliche Tätigkeit in der römischen Republik machte die Handelnden angreifbar gegenüber Kritik von politischen Gegnern. Daher wird Autobiographik zur Möglichkeit, dieser Kritik zu begegnen und die eigenen Handlungen und das eigene Leben in ein möglichst positives Licht zu setzen. Diese apologetische Motivation der Selbstbiographie blieb auch in der Kaiserzeit bestehen. Ein Reden über sich selbst nach der Weise eines Enkomions blieb ausgeschlossen. So stellt Plutarch in seiner Schrift über das Selbstlob¹⁸³ deutlich fest, dass dies gesellschaftlich durchaus nicht anerkannt ist. Allerdings ist eine Verschiebung festzustellen, wenn Plutarch feststellt, das Reden über sich selbst sei dem Staatsmann (ὁ πολιτικός ἀνὴρ) lediglich gestattet, wenn es dem eigenen bzw. dem Nutzen anderer dienen kann (De laude ipsius 2 / 539 E–F; 22 / 547F). Neben die Apologetik und deren eigennützliche Selbstrede tritt nun mit dem Nutzen für andere ein weiteres Motiv zum Reden und Schreiben (des Politikers) über sich selbst, und dies scheint mit Augustus zusammenzuhängen.¹⁸⁴ Zunächst hat Augustus 25 v.Chr., also kurz nach seinem Aufstieg zum offiziellen Alleinherrscher (27 v.Chr.),¹⁸⁵ eine Schrift De vita sua verfasst,¹⁸⁶ die leider nicht erhalten ist. Dennoch lässt sich aus Fragmenten der Charakter dieses Werks bestimmen. Augustus hatte gegenüber seinen Vorläufern in Sachen Autobiographik zwei Vorteile: Zum einen gab es ja gar kein autobiographisches Genre, d. h. es gab entsprechend keine feste Erwartungshaltung (seiner selbst wie auch seines Lesepublikums), wie eine Autobiographie aussehen musste.¹⁸⁷ Demnach konnte er, der politisch etwas Neues heraufführte, nun auch literarisch etwas Neues erschaffen. Zum anderen war Augustus in der vorteilhaften Lage, dass er als unangefochtener Sieger aus dem Bürgerkrieg hervorgegangen war und als Befrieder des Reiches in der Rolle eines unabhängigen Schlichters gesehen wurde bzw. sich entsprechend darstellte. Insofern konnte er (im Gegensatz zu den noch ganz im

 Plut.mor. 539A–547F.  D. Pausch, „Formen literarischer Selbstdarstellung in der Kaiserzeit. Die von römischen Herrschern verfaßten autobiographischen Schriften und ihr literarisches Umfeld,“ in: RhM 147 (2004), 303 – 336 spricht von der augusteischen Regierungszeit als einer „Transformations- und Übergangsepoche“ (314) in Bezug auf die autobiographische Literatur, in der Augustus selbst als Begründer der Tradition einer kaiserlichen Selbstdarstellung erscheint (334).  Vgl. R. Hanslik, „Augustus,“ in: KP 1 (1964), 744– 754 (748 f).  Vgl. dazu Misch, Geschichte 268 – 282; E. A. Judge, „Augustus in the Res Gestae,“ in: ders., The First Christians in the Roman World. Augustan and New Testament Essays (WUNT 229), Tübingen 2008, 182– 223; Chr. Smith, „The Memoirs of Augustus: testimonia and fragments,“ in: ders. (Hg.), The lost memoirs of Augustus and the development of Roman autobiography, Swansea 2009, 1– 14; Chr. Pelling, „Was There an Ancient Genre of ‚Autobiography‘? Or, Did Augustus Know What He Was Doing?,“ in: Smith/Powell, a.a.O. 41– 64.  Vgl. Pelling, „Genre“ 41.

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republikanischen Denken und Streben verankerten Diktatoren Sulla und Caesar) aus einer nicht bestrittenen Position der Stärke heraus, ohne also Rücksicht auf mögliche Konkurrenten nehmen zu müssen, in seiner Selbstdarstellung eine Rhetorik der Ehrlichkeit und Unparteilichkeit verwenden. Damit ist das Hauptmotiv seiner Selbstdarstellung De vita sua nicht die politische Selbstrechtfertigung.¹⁸⁸ Augustus zeigt also, dass Apologie nun nicht länger bzw. nicht in jedem Fall ein Motiv für Autobiographik sein muss. Dies scheint gerade dann zuzutreffen, wenn der autobiographische Autor gegenüber seinem Lesepublikum in einer höheren Position ist. Neben dem nicht erhaltenen De vita sua hat Augustus noch einen Tatenbericht (res gestae divi Augusti) verfasst, der über das gesamte Reich in Inschriften dem Volk zu lesen vor Augen gestellt war.¹⁸⁹ Insofern Augustus in ihnen direkt über seine Taten der vergangenen Jahre spricht, sind die res gestae zwar keine Autobiographie, aber durchaus autobiographisch, auch wenn in ihnen kein reflexives Selbstporträt enthalten ist. Es ist nicht verkehrt, in den res gestae auch eine Verteidigung der Taten des princeps zu sehen: Augustus erweckt mit der Aufzählung den Eindruck, dass die neue Ordnung, die durch sein Prinzipat faktisch gegeben war, lediglich eine Erneuerung des alten Systems darstelle, und beugt damit Vorwürfen vor, er hätte eine Monarchie (womöglich nach orientalischem Vorbild) eingeführt. Interessanterweise bleibt es in den res gestae jedoch nicht beim Motiv der Apologie allein, wenn Augustus (Mon.Anc. 8) schreibt, wie es Paulus auf seinen Reisen im galatischen Ankyra oder im pisidischen Antiochia

 Vgl. Pelling, Genre 57 f. Auch J. Malitz, „Autobiographie und Biographie römischer Kaiser im 1. Jhdt. n.Chr.,“ in: Weber, G./ Zimmermann, M. (Hg.), Propaganda – Selbstdarstellung – Repräsentation im römischen Kaiserreich des 1. Jhs. n. Chr. (Historia.E 164), Stuttgart 2003, 227– 242 verweist auf die Originalität von Augustus’ De vita sua gegenüber den autobiographischen Schriften anderer Autoren zuvor (228 – 231). Allerdings impliziert er einen apologetischen Charakter des Werkes, wobei er aufgrund des Verlustes lediglich von der „grundsätzlich zu vermutenden politischen, ‚propagandistischenʻ Tendenz des Gesamtwerks“ (a.a.O. 231) spricht.  Vgl. Misch, Geschichte 282– 298; Judge, Augustus 182– 223. Sonnabend, Geschichte 114 hält die res gestae weder für Biographie noch für eine Autobiographie und damit für „kein Selbstporträt des Augustus, sondern ein Dokument für die Propagierung einer neuen staatlichen und politischen Ordnung, deren Neuheit Augustus dadurch zu verschleiern versuchte, dass er behauptete, das alte System restituiert zu haben“. Die Funktion der res gestae hat Sonnabend damit zweifelsohne richtig bestimmt. Dass Augustus in ihnen kein Selbstporträt vornehme, kann man aber so nicht gelten lassen. Zum einen sprechen die Taten für sich (und damit für das Ethos des Augustus), zum anderen macht der Schluss der Inschrift (34 f) deutlich, dass Augustus nichts dagegen hat, vom Senat bzw. auch von den Rittern und dem ganzen Volk die Titel „Augustus“ und „Vater des Vaterlandes“ verliehen zu bekommen. Dies ist zwar ein indirektes (ganz im Sinne der eigenen Propaganda), aber dennoch vorhandenes Selbstporträt. Die res gestae entsprechen damit durchaus den Anforderungen an eine Selbstdarstellung in autobiographischer Absicht.

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oder Apollonia auf Griechisch lesen konnte¹⁹⁰: αὐτὸς πολλῶν πραγμάτων μείμημα ἐμαυτὸν τοῖς μετέπειτα παρέδοκα. („Ich selbst habe für viele Dinge als ein Vorbild mich selbst den Nachfolgenden [sc. Generationen] übergeben.“) Im lateinischen Teil der Inschrift heißt es lediglich: ipse multarum rerum exempla imitanda posteris tradidi („Ich selbst habe für viele Dinge nachzuahmende Beispiele den Nachfolgenden [sc. Generationen] übergeben.“).¹⁹¹ So oder so: Neben das Motiv der Selbstverteidigung tritt in der Selbstdarstellung in autobiographischer Absicht also auch das Motiv, mit dem eigenen Leben und Handeln ein Vorbild für andere (in diesem Fall: die nachkommenden Generationen) zu sein – sei es, dass man selber Beispiele weitergibt (etwa durch das Verweisen auf andere oder möglicherweise auf sich selbst), wie es die lateinische Wiedergabe formuliert; sei es, dass man explizit selbst zu einem nachahmenswerten Beispiel für andere wird, wie die griechische Übersetzung das Original verstanden hat. Oder um es in den rhetorischen Kategorien nach Aristoteles zu sagen: Zur Dikanik als Medium des Autobiographischen tritt nun die Symbuleutik hinzu. Es ist damit nicht unwahrscheinlich, dass mit dem zeitlichen Abstand einer Generation nach Augustus auch in einer religiösen Gruppierung wie der Christusbewegung, die sich für ihre Verfasstheit durchaus auch politischer

 Die nachpaulinische Tradition weiß über Aufenthalte des Apostels im pisidischen Antiochia zu berichten: Apg 13,14; 14,19 – 21; 2Tim 3,11. Ob man sich vorstellen kann, dass Paulus die augusteische Inschrift in Ankyra begegnet ist, hängt auch davon ab, welche Reiseroute des Apostels man in Galatien für möglich hält. Vgl. zu Provinz- und Landschaftshypothese etwa J. Frey, „Der Galaterbrief,“ in: Wischmeyer, Paulus, 232– 256 (240 – 245). Die weite Verbreitung der Inschrift im Reichsgebiet macht es zudem wahrscheinlich, dass auch an anderen Orten Paulus mit der augusteischen Vorstellung einer paradigmatischen Selbstdarstellung in Berührung gekommen ist – ganz unabhängig von der Frage, ob Paulus die res gestae des Augustus tatsächlich gelesen hat.  Hier könnte der griechische Übersetzer das lateinische Original missverstanden haben, das möglicherweise mit den exempla imitanda die Vorbilder der römischen Vorfahren in der von Augustus geförderten Kunst (Dichtung, Geschichtsschreibung, Standbilder) meint, vgl. Augustus, Meine Taten. Res Gestae Divi Augusti. Nach dem Monumentum Ancyranum, Apolloniense und Antiochenum. Lateinisch–griechisch–deutsch (übersetzt und hg.v. E. Weber) (Sammlung Tusculum), Düsseldorf/Zürich 61999, 67. Da das Lateinische hier selber missverständlich formuliert ist, kann allerdings auch die griechische Variante eine Klarstellung bedeuten. Wie dem auch immer sei: Es bleibt signifikant, dass es in augusteischer Zeit möglich war, den neuen princeps so zu verstehen, dass er nicht in apologetischer, sondern in beispielhafter Weise über sich selbst sprach und schrieb. E.-M. Becker, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief (Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 4), Tübingen/ Basel 2002, 233 Anm. 1177 missversteht damit gerade diese Textpassage, wenn sie sie als ‚apologetisch-propagandistischʻ in eine Reihe mit den autobiographischen Schriften Hadrians und Septimus Severus stellt. Sicherlich ist diese augusteische Textstelle propagandistisch, aber eben nicht apologetisch, sondern paradigmatisch!

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Vorstellungen bediente,¹⁹² die führenden Männer dieser Gemeinschaft, ebenso wie die Staatsmänner der weltlichen Volksversammlung (ἐκκλησία), nicht allein in apologetischer Motivation, sondern zudem in beratender und beispielhafter Weise von sich selbst sprachen.

2.4 Autobiographische Formen in der paganen Literatur Die griechisch-römische Antike kannte gerade in Bezug auf die Öffentlichkeit viele Arten der Selbstdarstellung: Herrscher ließen ihr Abbild auf Münzen prägen oder Statuen von sich errichten. Diese Formen dienten im selben Maß (gleichsam Insignien) als Repräsentation des herrschaftlichen Amtes wie auch als Mittel zur Propaganda.¹⁹³ Neben diesen nichtliterarischen Formen der Selbstdarstellung sind für die Fragestellung dieser Arbeit natürlich die literarischen Selbstzeugnisse wichtig, die in den Bereich der Selbstdarstellung fallen.¹⁹⁴

 Zuerst sei hier die Gemeindebezeichnung als ἐκκλησία (für paulinische Ortsgemeinden gebraucht in Röm 16,1; 1Kor 1,2; 2Kor 1,1; Gal 1,2; Phil 4,15; 1Th 1,1) benannt, die gerade im paganen Bereich – trotz ihrer möglichen Herleitung aus der LXX – politische Konnotationen trägt, vgl. A. C. Miller, „Not With Eloquent Wisdom: Democratic Ekklēsia Discourse in 1 Corinthians 1– 4,“ in: JSNT 35 (2013), 323 – 354 (324– 328). Desweiteren verwendet Paulus im Phil eine politische Motivik (1,27: πολιτεύεσθε; 3,20: πολίτευμα), die auf die gedankliche Auseinandersetzung mit dem weltlichen Gemeinwesen hinweist.  Vgl. G. Weber/ M. Zimmermann, „Propaganda, Selbstdarstellung und Repräsentation. Die Leitbegriffe des Kolloquiums in der Forschung zur frühen Kaiserzeit,“ in: dies. (Hg.), Propaganda, 11– 40 und alle weiteren Beiträge in dem von beiden herausgegebenen Sammelband zu Propaganda und Selbstdarstellung im römischen Kaiserreich des 1. christlichen Jahrhunderts.  Ob sich diese in historischer Perspektive allesamt übergeordnet der Kategorie ‚Ego-Dokumenteʻ zuordnen lassen ist umstritten. Ego-Dokumente sind „alle jene Quellen […], in denen ein Mensch Auskunft über sich selbst gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig – also etwa in einem persönlichen Brief, einem Tagebuch, einer Traumniederschrift oder einem autobiographischen Versuch – oder durch andere Umstände bedingt geschieht“ (W. Schulze, „Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung ‚EGO-DOKUMENTE‘,“ in: ders. (Hg.), Ego–Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996, 11– 30 [21]; vgl. zudem a.a.O. 28). Vom sozialgeschichtlichen Standpunkt aus ist diese Sicht wichtig, weil dadurch auch Selbstaussagen illiterater Menschen ins Blickfeld der Forschung genommen werden (z. B. Prozessakten). Für die vorliegende Arbeit sind natürlich die Selbstaussagen freiwilliger Natur betrachtenswert. Holdenried, Autobiographie 20.23 hält die Kategorie ‚Ego-Dokumenteʻ von literaturwissenschaftlicher Warte aus für rückschrittig, da hier der Wert eines Textes aufgrund seiner Nutzbarkeit als historischer Quelle bestimmt wird und somit autofiktionale Texte als wertlos angesehen werden. Diese Kritik ist vordergründig durchaus verständlich. Allerdings kann sich ja auch ein Ego-Dokument als autofiktional erweisen und dennoch historischen wie literaturwissenschaftlichen Wert besitzen.

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Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen

Das Feld der literarischen Selbstdarstellung in autobiographischer Absicht in der griechisch-römischen Antike ist sehr weit: Es reicht von manchem (gleichwohl nachgelassenen) Epitaph¹⁹⁵ bis zu einer ausgedehnten autobiographischen Lebensbeschreibung¹⁹⁶, wie sie z. B. Augustus mit De vita sua (s.o.) vorgelegt hat. Dazwischen liegen vielfältige Gruppen von Texten, wie die Hypomnemata bzw. im römischen Bereich die Commentarii, Reden und Briefe.

2.4.1 Hypomnemata Die ὑπομνήματα (Hypomnemata)¹⁹⁷ sind eigentlich Erinnerungsnotizen, die seit der Zeit Alexanders des Großen von Herrschern und Politikern verfasst wurden, um öffentlich über ihr Wirken zu berichten und Rechenschaft abzulegen. Sie dienen der politischen Rechtfertigung und befinden sich damit gleichsam am Wurzelgrund der antiken Autobiographik, deren Hauptmotiv und Hauptmerkmal

Kurczyk, Cicero 32 f sieht gar in der Kategorie ‚Ego-Dokumenteʻ einen Gegenentwurf zu autobiographischen Texten, insofern in Ego-Dokumenten aufgrund ihrer rein auf den Moment oder die Situation bezogenen Entstehung keine Selbstreflexion stattfinde und vor allem keine öffentliche Wirkung intendiert sei. Den ersten Punkt halte ich nicht für stichhaltig, da etwa in Prozessakten durchaus ein selbstreflexives Moment enthalten sein kann. Allein der zweite, auf eine Veröffentlichung der Selbstäußerungen bezogene Punkt hat einiges Recht für sich. P. Kuhlmann, Autobiographische Zeugnisse auf Papyri. Einblicke in die antike Alltagskultur, in: M. Reichel (Hg.), Antike Autobiographien, 109 – 121 betont, dass speziell die antiken Papyribriefe „keine wirklichen Autobiographien“ (109), sondern Ego-Dokumente sind, da ihnen die Retrospektive, der Öffentlichkeitsbezug und eine situative Ungebundenheit fehle.  Vgl. Gleason, Men 14 f; R. Heinze, „Von altgriechischen Kriegergräbern,“ in: Pfohl, G. (Hg.), Das Epigramm. Zur Geschichte einer inschriftlichen und literarischen Gattung, Darmstadt 1969, 47– 55 (mit einigen Beispielen aus dem alten Korinth).  Misch, Geschichte 190, Anm. 1: „Ganze Werke haben wir nur neun, und sie sind nur zum Teil Autobiographien im strengsten Sinne; zumeist bieten sich nur geringe Fragmente oder bloße Nachrichten, daß etwas vorhanden war, wobei es zuweilen unsicher bleibt, ob es sich um eine Selbstbiographie handelt oder nicht. – Die erhaltenen Selbstbiographien sind, in zeitlicher Folge: die von Cicero im Brutus (46 v.Chr.); Nikolaus von Damaskus, der zur Zeit von Augustus und Herodes des Großen lebte, über das eigene Leben (περὶ τοῦ ἴδιου βίου); Ovid, Tristia, IV, 10 (10 n.Chr.); die Res gestae Divi Augusti (vor 14 n.Chr.); Josephus’ Bios (um 90 n.Chr.); Lukians Traum (um 165 n.Chr.); die Selbstbetrachtungen des Kaisers Mark Aurel (vor 180 n.Chr.); die ‚heiligen Reden‘ Aelius Aristides’ (um 190 n.Chr.); Gregor Thaumaturgos in s. Dankrede an Origenes (239 n.Chr.).“  Vgl. J. Engels, „Die ΥΠΟΜΝΗΜΑΤΑ-Schriften und die Anfänge der politischen Biographie und Autobiographie in der griechischen Literatur,“ in: ZPE 96 (1993), 19 – 36; F. Montanari, „Hypomnema,“ in: DNP 5 (1998), 813 – 815; Sonnabend, Geschichte 79 f. Zusammenstellung in FrGH 227– 238, erweitert bei Engels, a.a.O. 29 f.

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die Apologie ist. Als commentarii ¹⁹⁸ sind sie bei den Römern seit der Zeit der Gracchen bekannt und erlebten gerade in der Republik eine Hochzeit, wobei das Motiv der Apologie besonders evident wird.¹⁹⁹ Die öffentliche Selbstdarstellung römischer Politiker war zum einen wohl deshalb sehr beliebt, da solche, die sich durch eigene Taten oder Erlittenes besonders hervorgehoben hatten, der Öffentlichkeit überhaupt ihre Sicht der Dinge vermitteln wollten,²⁰⁰ zum anderen deshalb, da in dem sehr auf Ausgewogenheit bedachten aristokratischen System der Senatspolitik stets der Druck zur Selbstrechtfertigung bestand, wenn man als Einzelner aus der Masse herausstach. Die öffentliche Tätigkeit in der römischen Republik machte die Handelnden angreifbar gegenüber politischen Gegnern. Daher wird die Autobiographik zur Möglichkeit, der Kritik dieser Gegner zu begegnen und die eigenen Handlungen und das eigene Leben in ein möglichst positives Licht zu setzen. Das bekannteste Beispiel für die Gattung bildet Julius Caesars De bello Gallico. ²⁰¹

2.4.2 Reden Reden im öffentlichen Raum dienten ebenso zur positiven Selbstdarstellung. Eine besondere Rolle spielt hierbei die Gerichtsrede²⁰², da in ihr mit der Verteidigung auch die (Selbst‐)Darstellung des Beklagten Platz findet. Bei den Griechen war es üblich, dass sich ein Angeklagter vor Gericht selbst verteidigte²⁰³ und nur in Ausnahmefällen einen Anwalt für sich sprechen ließ, während es in Rom umgekehrt war; hier bürgte ein (oder bürgten mehrere) Verteidiger als eine Art Beschützer für den Beklagten und redete in dessen Interesse; das Verhältnis von Verteidiger und Verteidigtem entsprach dem allgemein römischen von Patron und Klient. Ziel der Verteidigungsrede war es, das Gericht von der eigenen Unschuld (bzw. von der des zu verteidigenden Klienten) zu überzeugen, wozu – neben Logos der Rede und Pathoserzeugung beim Publikum – vor allem das Ethos des Redners ausschlaggebend war. Hierin lag dann auch das Motiv für eine diesem Ziel förderliche Selbstdarstellung des Redners. Während allerdings in Griechenland das Ethos des Redners über die Praxis und damit den Vorgang des Redenhaltens selbst

 Vgl. J. Rüpke, „Commentarii,“ in: DNP 3 (1997), 99 – 100.  Vgl. Sonnabend, Geschichte 89.  Vgl. M. Fuhrmann, Geschichte der römischen Literatur, Stuttgart 1999, 114.  Vgl. Misch, Geschichte 248 – 252; Fuhrmann, Geschichte 169 – 172.  Vgl. zum Folgenden G. Kennedy, „The Rhetoric of Advocacy in Greece and Rome,“ in: AJP 89 (1968), 419 – 436; Kurczyk, Cicero 121– 133.  Sah sich der Beklagte nicht in der Lage, selbst eine Rede zu verfassen, stellte er für diesen Zweck einen Logographen ein, vgl. Kennedy, Rhetoric 427 f Anm. 12.

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vermittelt wurde und auf die Darstellung der Vertrauenswürdigkeit des Redners zielte,²⁰⁴ war in Rom die auctoritas des Redners, d. h. sein gesellschaftlicher Stand und Einfluss, für eine gelingende Verteidigung von hoher Bedeutung.²⁰⁵ In beiden Fällen jedoch war es dabei unumgänglich, dass der Redner über sich selbst sprach und sich in einem positiven Licht zeichnete. Von daher erklärt sich ohne weiteres der hohe Anteil von autobiographischen Passagen in den Gerichtsreden Ciceros.²⁰⁶ Wie bereits oben gesehen, bleibt die Apologie in der Kaiserzeit nicht das einzige Motiv, wenn ein Individuum in autobiographischer Absicht sich selbst darstellt. Dies gilt auch für den Bereich der rhetorischen Kunst. So gibt z. B. Lukian von Samosata (ca. 120 – 180)²⁰⁷ in der Rede über seinen Traum bzw. über seinen Bios (ΠΕΡΙ ΤΟΥ ΕΝΥΠΝΙΟΥ ΗΤΟΙ ΒΙΟΣ ΛΟΥΚΙΑΝΟΥ) einen Einblick in sein Werden als Sophist. So habe er einst als Jugendlicher (nach dem ersten, beschwerlichen Tag als Steinmetz-Lehrling) von zwei Frauen geträumt, die sich ihm als die Bildhauerkunst (Ἑρμογλυφικὴ τέχνη) bzw. als die Bildung (Παιδεία) vorstellten und um ihn warben. Ohne großes Zögern habe er sich für die Bildung entschieden (6 – 16).²⁰⁸ Das Reden über sich selbst geschieht hier aber nicht aus Gründen der Verteidigung, sondern,wie Lukian selbst sagt, damit die jungen Leute sich zu den besseren Dingen hinwenden und sich an die Bildung halten (18: ὅπως οἱ νέοι πρὸς τὰ βελτίω τρέπωνται καὶ παιδείας ἔχωνται). Gerade ein junger Mensch, der nun vor einer ähnlichen Entscheidung wie einst Lukian selbst steht, werde sich den Sophisten und dessen Entscheidung für die Bildung als geeignetes Beispiel vorstellen (18: ἱκανὸν ἑαυτῷ παράδειγμα ἐμὲ προστησάμενος, ἐννοῶν οἷος μὲν ὢν πρὸς τὰ κάλλιστα ὥρμησα καὶ παιδείας ἐπεθύμησα). Lukian dient derart mit seinem Bios – und das schließt das bisherige Leben wie seine gegenwärtige Lebensführung ein – als ein Paradigma, als ein nachahmenswertes Beispiel für andere.²⁰⁹

 Vgl. Manolidis, „Betrachtungen“ 56: Das Ethos setzt sich zusammen aus Sachkenntnis, Anständigkeit und Hörerempathie.  Vgl. Cic. de or. 2,182.  Vgl. hierzu eingehend insgesamt Kurczyk, Cicero.  Vgl. Misch, Geschichte 385 – 403; K. Wegenast, „Lukianos 1,“ in: KP 3 (1969), 772– 777.  Dies ist wie eine Hommage an die bekannte Erzählung von Herakles am Scheideweg, dem die Schlechtigkeit (Κακία) und die Tugend (᾿Aρετή) personifiziert als Frauen gegenübertreten, vgl. Xen.mem. 2,1,21– 34.  Selbst wenn Lukian seinen Traum als eine Satire darstellt (eben als eine literarische Anspielung auf die Herakles-Episode), bleibt es doch dabei, dass Apologie als Motivation für den autobiographischen Bericht hier keine Rolle spielt. Anders liegt dies bei einer anderen lukianischen Selbstdarstellung in autobiographischer Absicht, nämlich in dem Dialog ΔΙΣ ΚΑΤΗΓΟΡΟΥΜΕΝΟΣ (Doppelt angeklagt), der einer Gerichtsverhandlung nachempfunden ist.

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2.4.3 Briefe Briefe sind eine weitere Textgruppe, in der sich Menschen in autobiographischer Absicht selbst darstellen können. Sie gehören der reflexiv-essayistischen Hauptgattung des Autobiographischen an und stehen damit der anderen, primär narrativen Hauptgattung gegenüber.²¹⁰ Beispiele für Briefe mit Selbstdarstellungen liefern etwa Platons siebter Brief ²¹¹, die Korrespondenz Ciceros²¹², Senecas ethische Briefe an Lucilius²¹³ und das Briefcorpus Plinius’ des Jüngeren²¹⁴. Ob diese Selbstdarstellungen – wie auch weitere von anderen als den genannten Briefautoren – allesamt einen autobiographischen Charakter tragen, bleibt allerdings fraglich. Dies hängt mit den Merkmalen zusammen, die für Autobiographik gelten. Diese, zur Erinnerung, sind (nach Kurczyk, s.o.): a) die Identität von Autor und Hauptfigur, b) die reflektierte Darstellung des eigenen Lebens, c) das Vorherrschen der Vergangenheit als Berichtstempus, d) ein zielgerichteter und intentionaler Öffentlichkeitsbezug. Merkmal a) kann man bei einem Brief ohne weiteres voraussetzen, ebenso c), insofern auch über das vergangene Leben berichtet wird. Allerdings bereiten Merkmale b) und d) in der Verbindung mit brieflicher Kommunikation mitunter Probleme. Dies liegt daran, dass Briefe bezüglich sowohl der Schreibsituation als auch der Verfasserintention insgesamt sehr uneinheitlich sind: Einige tragen private Züge und sind auch ursprünglich nur für vier Augen verfasst worden (z. B. die Privatkorrespondenz Ciceros), andere sind – scheinbar – privat, wurden aber für eine spätere Veröffentlichung konzipiert (z. B. Seneca und Plinius), andere sind von vorneherein als öffentliche Schreiben angelegt (z. B. Platon). Man muss bei all diesen verschiedenen Briefen bzw. Briefcorpora also differenzieren, da Briefe aufgrund ihrer Vielgestaltigkeit unterschiedlich kategorisiert werden können.²¹⁵ Der mögliche autobiographische

 Vgl. Holdenried, Autobiographie 35.  Vgl. Misch, Geschichte 114– 158; Erler, „Autobiographie“ 75 – 92. Es ist noch strittig, ob dieser Brief (wie auch der sechste und achte der Sammlung) authentisch ist, vgl. Klauck, Briefliteratur 103 f (mit Literatur). Momigliano, Development 60 – 62 hält ihn für authentisch und damit autobiographisch.  Vgl. Misch, Geschichte 357– 372.  Vgl. Misch, Geschichte 421– 441; K. Abel, „Das Problem der Faktizität der senecanischen Korrespondenz,“ in: Hermes 109 (1981), 472– 499.  Vgl. Ludolph, Epistolographie; J. Radicke, „Die Selbstdarstellung des Plinius in seinen Briefen,“ in: Hermes 125 (1997), 447– 469.  Ich beziehe mich hier nicht auf die 21 bzw. 41 Brieftypen der antiken Epistolographie, vgl. Klauck, Briefliteratur 157– 164, deren Differenzierung sich durch verschiedene vorgestellte situative Anlässe herleitet. Jene Brieftypen verweisen rein auf Privatkorrespondenz. Hier geht es jedoch um die grundlegende Frage,wie ein Brief im Rahmen der Unterscheidung von privat und öffentlich eingeordnet werden kann.

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Charakter der auktorialen Selbstdarstellung (Reflexion) ist ein weiteres Problem. Hier zu einer Klärung zu gelangen, ist für den weiteren Umgang mit den Briefen des Apostels und der darin enthaltenen Selbstdarstellung erforderlich. In der Forschung ist die Notwendigkeit der Brief-Kategorisierung längst erkannt, es besteht jedoch Uneinigkeit über die Art der Kategorien. Bereits Cicero unterschied Briefe nach den Kategorien ‚privatʻ (litterae privatae) und ‚geschäftlichʻ bzw. öffentlich (literrae publicae),²¹⁶ wobei die Privatbriefe in sich eine mindestens zweifache Zielsetzung tragen, die wenigstens aus den Elementen des Mitteilens (narrare) sowie des Unterhaltens (loqui/iocari) besteht.²¹⁷ In der Neuzeit wollte Gustav Adolf Deißmann die Trennlinie zwischen ‚echtemʻ Brief (wie den Papyrusbriefen und den Paulinen) und literarischem Kunstbrief, d. h. der ‚Epistelʻ, ziehen.²¹⁸ Auch die neuere und verfeinerte Scheidung in Gebrauchsbriefe und literarische Briefe geht in diese Richtung.²¹⁹ Allerdings wird die Unterteilung Deißmanns inzwischen zu Recht als überholt angesehen wird,²²⁰ da sie schlicht zu rigide ist.²²¹ William G. Doty versucht diese Rigidität durch eine Unterteilung in ‚more private lettersʻ und ‚less private lettersʻ (bzw. ‚more public lettersʻ) abzumildern.²²² Eine pragmatische Herangehensweise schlägt Hans-Josef Klauck vor, indem er Briefe in nichtliterarische, diplomatische und literarische unterteilt.²²³

 Cic.Flacc. 37.  Vgl. Thraede, Grundzüge 27– 38 (bes. 34). Als Belegstellen zieht er Cic.fam. 2,4,1; 4,13; 6,10,4; 15,19,1; Att. 5,51; 7,5,4 f; 6,5,4; 8,14,1; 9,4,1; 9,10,1; 12,53; ad Q.fr. 1,1,45; Phil. 2,7 heran. Nach fam. 2,4,1 unterscheidet Cicero anhand des Seelenslebens des Absenders tatsächlich drei Elemente: den reinen informativen Bericht, das vertraute Scherzen, das schwermütige Ernstsein, wobei die letzten beiden Elemente gegenüber dem neutralen Berichten als emotionale Modi zu einer Gruppe zusammengefasst werden können.  Vgl. G. A. Deißmann, Bibelstudien. Beiträge, zumeist aus den Papyri und Inschriften, zur Geschichte der Sprache, des Schrifttums und der Religion des hellenistischen Judentums und des Urchristentums, Marburg 1895, 189 – 252. Er sieht die Epistel sehr negativ: „Glich der wahre briefliche Brief dem Gebete, so war die nachahmende Epistel nur ein Plappern; lächelte aus dem Briefe ein geheimnisvolles Kindergesicht, so grinste die Epistel starr und dumm wie eine Puppe.“ (a.a.O. 197).  Vgl. Ludolph, Epistolographie 27: „Gebrauchsbriefe müssen solche Briefe heißen, die nur für den oder die Adressaten bestimmt sind und ihre Funktion allein in der aktuellen Kommunikation haben; literarisch müssen solche Briefe heißen, deren Autor eine synchron und diachron nicht eingeschränkte Leserschaft im Auge hat und zeitliche Überdauerung seiner Briefe intendiert oder zumindest mit ihr rechnet.“  Vgl. z. B. Schnelle, Einleitung 52; Berger, Formen 79 f.  Vgl.; Klauck, Briefliteratur 73; W. G. Doty, „The Classification of Epistolary Literature,“ in: CBQ 31 (1969), 183 – 192; Kurczyk, Cicero 56.  Vgl. Doty, „Classification“ 192– 199.  Vgl. Klauck, Briefliteratur 72 f.

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Gerade in der Verbindung von Autobiographik und Briefen ergibt sich hier ein Grundproblem mit den Kategorien. Denn tatsächlich muss dann geklärt werden, was als ‚autobiographischʻ anzusehen ist. Misch hielt gerade die Privatbriefe Ciceros für autobiographisch, da man in ihnen M. Tullius sozusagen fast direkt in die Seele blicken könne.²²⁴ Für ihn galt im Bereich der antiken Autobiographik ja auch der gegenwärtige Bios als wesentlicher Teil der Selbstdarstellung (s.o.). Hingegen sehen neuere Arbeiten Ciceros Privatbriefe gerade nicht als autobiographisch an, da sie zum einen als situationsgebundene Gebrauchsbriefe kein intentional geprägtes Selbstbild mit Rückgriff auf die eigene Lebensgeschichte enthalten und zum anderen nicht für eine Veröffentlichung vorgesehen waren.²²⁵ Es wäre schön, wenn man Briefe in Verbindung mit Selbstdarstellungen direkt kategorisieren könnte, jedoch halte ich dies für nicht praktikabel. Dafür ist das Genre Autobiographik an sich zu flüchtig und fließend. So wie sich Selbstdarstellungen in autobiographischer Absicht in verschiedenen Textgruppen erfassen lassen, gilt dies ebenso für Untergruppen von Texten, in diesem Fall für die verschiedenen Briefarten, die auf der Linie zwischen den Polen ‚privatʻ und ‚öffentlichʻ liegen. Letztlich muss sowohl auf inhaltliche wie auch auf formale Kriterien geachtet werden, um zu entscheiden, ob man einen bestimmten Brief als autobiographisch ansehen kann. Von daher müssen die Kategorien der Situationsungebundenheit (inhaltliches Kriterium) wie auch des Öffentlichkeitscharakters (formales Kriterium) autobiographischer Schriften im Hinblick auf diese überdacht werden. So kann einerseits Situationsgebundenheit an sich kein Ausschlusskriterium für Autobiographik sein, sagt dies doch nichts über das Reflexionsniveau oder die Intentionsprägung des Selbst in einem bestimmten Schreiben aus. Nur weil ein Brief ein Gelegenheitsschreiben ist, bedeutet dies nicht, dass er damit nicht als autobiographisch anzusehen ist. Wenn z. B. Platon in seinem siebten Brief ausführlich über seine früheren Besuche auf Sizilien bei dem (inzwischen gestürzten) Tyrannen Dionysios berichtet, dann geschieht dies durchaus situationsabhängig, ist doch gerade Dion ermordet worden, der als Freund und Schüler Platons seinen  Zwar schreibt Misch, Geschichte 359 zu Beginn seiner Betrachtungen über Ciceros Briefe, dass „Privatbriefe […] gewiß nicht schlechtweg als der wahre Ausdruck einer Persönlichkeit hingenommen werden [dürfen]“, gleichwohl wirkt seine Darstellung über Ciceros Seelenleben im Folgenden sehr intim und kommt damit der modernen Erwartungshaltung an Selbstdarstellungen (372) entgegen.  Vgl. Kurczyk, Cicero 56 – 59; Baier, „Autobiographie“ 128 – 134; im Gegensatz zur Edition nur eines Buches innerhalb der Empfehlungsbriefsammlung ad familiares, die der Imagepflege zu Lebzeiten diente, sind seine Privatbriefe erst nach seiner Ermordung durch seinen Sekretär Tiro wohl als Ergänzung zu dessen Cicero-Biographie veröffentlicht worden. Es ist nicht sicher, ob Cicero noch zu Lebzeiten eine (nicht selbstverantwortete) Veröffentlichung zugelassen hätte.

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Lehrer überhaupt erst an den Fürstenhof Dionysios’ eingeladen hatte und später als Nachfolger im Amt des Herrschers scheiterte. Der Brief richtet sich an die Verwandten und Freunde eben dieses Dion, die nun von Platon zu ihrem weiteren Vorgehen im Kampf um die Herrschaft auf Sizilien beraten werden wollen. Gerade in der Bindung an die konkrete Situation der sizilianischen Nachfolgekämpfe aber zeichnet Platon von sich ein Bild als unerschütterlicher Lehrer der Philosophie.²²⁶ Und selbst wenn – um ein anderes Beispiel zu nehmen – M. Tullius in situationsgebundener Korrespondenz an seinen Bruder Quintus schreibt – was ja aufgrund der privaten Natur dieser Korrespondenz gegen den autobiographischen Charakter des ciceronischen Briefwechsels spricht –, kann er damit dennoch eine bestimmte Präsentation seines Ichs verfolgen.²²⁷ Situationsgebundenheit spricht nicht gegen eine ausgefeilte Selbstdarstellung. Es gilt also auch bei brieflichen Gelegenheitsschreiben immer darauf zu achten: Was und wie schreibt der Autor über sich selbst? Erscheint es reflektiert oder intentional geprägt, damit es als autobiographisch gelten kann? Andererseits muss auch das Kriterium der Briefveröffentlichung bedacht werden. Es muss geklärt werden: Was gilt als Öffentlichkeit? Kann eine Öffentlichkeit nur als Lesepublikum eines publizierten Briefcorpus gedacht werden? Oder genügen auf der Empfängerebene mehrere Rezipienten, um eine Öffentlichkeit zu generieren?²²⁸ Und wenn ja, dringt dann das briefliche Ich mit seiner Selbstdarstellung in einem Brief an mehrere Adressaten bereits in den Bereich der Autobiographik vor? Hier halte ich es für geboten, ebenfalls nach dem Kontext der Briefe zu entscheiden.Von daher ist Dotys fließende bzw. permeable Einteilung in mehr und weniger private Briefe (s.o.) ernst zu nehmen. Sicherlich können Briefe und Briefcorpora, die für die Veröffentlichung gegenüber einem Lesepublikum bestimmt waren, als Selbstdarstellungen in autobiographischer Absicht gelten, sofern sie die anderen Merkmale autobiographischer Schriften aufweisen. Die Sammlungen Senecas und Plinius’ fallen deutlich darunter, auch wenn sich die einzelnen Briefe jeweils an nur einen (und womöglich fiktiven) Adressaten richten.  In Plat.epist. 7 begegnet übrigens schon recht früh die Verbindung von apologetischer Autobiographik und der Symbuleutik, insofern er die Verwandten und Freunde Dions auf deren Wunsch hin berät (323E: κοινωνεῖν διεκελεύεσθέ μοι, καθ’ ὅσον οἷός τ’εἰμὶ ἔργῳ καὶ λόγῳ; 352 A: ξυμβουλεύω) und dies Motiv den Rahmen stellt, auch wenn dann sonst die Selbstdarstellung Platons vor allem dem Zweck der Selbstverteidigung gegenüber Vorwürfen über seine Rolle in dem Konflikt dient.  Z. B. präsentiert sich Cicero in dem aus dem Exil verfassten ad Q.fr. 1,3 als zu Unrecht leidenden Gerechten, der bloß noch das „Abbild eines lebenden Toten“ (1: effigiem spirantis mortui) ist.  Ludolph, Epistolographie 27 Anm. 21 nennt dafür als Beispiele die Apostelbriefe des Neuen Testaments.

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Gegenüber diesen Schreiben, die auf das Lesepublikum einer Briefsammlung abzielen, sind einzelne Briefe zu sehen, die sich an mehrere Adressaten wenden. Mehrere Adressaten allein bedingen noch keine Öffentlichkeit. Allerdings kommt es hier auf die Größe und die Zusammensetzung der Gruppe an, so dass der siebte Brief Platons „an die Verwandten und Freunde Dions“ (τοῖς Δίωνος οἰκείοις τε καὶ ἑταίροις) durchaus als öffentlicher Brief zu verstehen ist. Zudem heben Titel oder Ehrenbezeichnungen der Adressaten einen Brief aus dem Privatbereich und stellen einen Öffentlichkeitsbezug her.²²⁹ Da wir die Selbstäußerungen des Apostels Paulus nur in Briefen vor uns haben, soll nun im folgenden Schritt geklärt werden, ob seine Briefe bzw. Passagen darin überhaupt in den Bereich der Autobiographik fallen.

2.5 Die Briefe des Paulus als Selbstdarstellungen in autobiographischer Absicht Zur Prüfung, ob Paulus’ Selbstdarstellung auch eine autobiographische Absicht zugestanden werden kann, seien die Merkmale der Paulinen mit den vier von Kurczyk bestimmten Kennzeichen antiker Autobiographik abgeglichen. Diese Kennzeichen bilden gleichsam vier Pfeiler, auf denen die autobiographische Darstellung ruht. a) Die Identität von darstellendem und dargestelltem Individuum ist in den Paulusbriefen gegeben. Hierbei übernehmen die Präskripte der Briefe die Rolle von Paratexten, die den autobiographischen Pakt zwischen Autor und Lesern herstellen: Der Briefautor autorisiert mit seinem Namen alle folgenden Aussagen als authentisch von ihm selbst stammend, auch die Aussagen über sich selbst. Dazu ist allerdings einschränkend festzustellen, dass in den Präskripten stets

 Dazu ein paar Beispiele aus der Papyrusbriefsammlung bei S. Witkowski, Epistulae Privatae Graecae Quae in Papyris Aetatis Lagidarum Servantur, Leipzig 1911: Ein Brief wie Nr. 24 (P. Flind. Petr. II 40 a), der sich an mehrere Ägypter wendet, ist dadurch als öffentliches Schreiben zu verstehen, dass er neben die namentlich genannten Adressaten auch „andere Bürger“ (τοῖς τ’ ἄλλοις πολίταις) stellt, also eine offizielle Bezeichnung einfügt; ebenso Nr. 57 (P. Amh. II 39 + P. Grenf. I 30), der von dem Hegemon Porteis und den Bannerjünglingen (οἱ ἐκ τοῦ σημείου νεανίσκοι) an Patetes, Pachrates und alle anderen Soldaten (τοῖς ἄλλοις στρατιώταις πᾶσι) geht. Nr. 61 (P. Tebtynis I 59), geschrieben von einem Poseidonios, wird durch seine Adresse an die Priester in ‚Teptynisʻ offiziell und wenigstens in deren Kreisen öffentlich. Natürlich sind diese Schreiben nicht autobiographisch, da in ihnen keine reflektierte, vergangenheitsorientierte Selbstdarstellung vorgenommen wird.

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(außer in Röm) Paulus im Verbund mit anderen als Absender genannt ist.²³⁰ Gleichwohl ist aber auf einer rezeptionellen Ebene zunächst davon auszugehen, dass die im Brief in der 1.P.Sg. getroffenen Aussagen (sofern sie nicht als Zitat erkennbar sind oder durch den Kontext deutlich abgesetzt erscheinen) allesamt Paulus als eigentliche Autorität innerhalb des Briefstellerkollektivs bezeichnen,²³¹ somit also auch die möglichen autobiographischen Passagen. Wie es um den autobiographischen Charakter von Aussagen in der 1.P.Pl. und im sogenannten ‚schriftstellerischen Pluralʻ bestellt ist, zeigt das folgende Kapitel. b) Die rückblickende Perspektive in Bezug auf das eigene ²³² Leben, besonders im Verbund mit der Geschichte der jeweiligen Gemeinde, erscheint erstaunlich oft in den Paulus-Briefen:²³³ Röm 1,5; (7,7– 25)²³⁴ 11,1; 15,19 – 22; 1Kor 1,14– 17; 2,1– 5; 3,1– 4.5 – 6.10; 4,9 – 13.15; 9,19 – 22; 11,23; 13,11; 15,1– 3.8 – 10.32; 2Kor 1,8 – 12.19; 2,5²³⁵.12 f; 3,4– 6; 4,1.6; 7,2; 11,2b.7– 9.22.23b–28.32 f; 12,2– 4.7– 9.12.16 – 18; Gal 1,9.12– 2,14(21); 4,3 f.13 – 15; 5,21; Phil 1,12.20; 2,16; 3,5 – 7; 4,15 – 17;1Th 1,5; 2,1– 10.18; 3,1– 7; 4,2.11; Phlm 7.10. In jedem der authentischen Paulus-Briefe befinden sich also retrospektive Momente. Diese Momente dominieren zwar nicht den Rest des jeweiligen Briefes, sind aber ein wesentlicher Bestandteil seiner Argumentationsstruktur. Von daher sind sie unverzichtbar und untermauern insgesamt die

 Die Mitabsender sind Sosthenes (1Kor 1,1), Timotheus (2Kor 1,1; 1Th 1,1; Phil 1,1; Phlm 1), ‚alle Brüder mit mirʻ (Gal 1,2) und Silvanus (1Th 1,1).  Deshalb macht ja auch in Röm 16,22 der Sekretär des Briefes, Tertius, die eingefügten Grüße als seine eigenen kenntlich.  Ich habe hier auch einige retrospektive Stellen angeführt, die in der 1.P.Pl. formuliert sind, in denen sich Paulus mit anderen zusammenschließt, sowie die berühmte Passage 2Kor 12,1– 10, in der Paulus mit der 3.P.Sg. auf sich selbst hinweist, vgl. dazu O. Wischmeyer, „2 Korinther 12,1– 10. Ein autobiographisch-theologischer Text des Paulus,“ in: dies./Becker, E.-M. (Hg.), Was ist ein Text? (NET 1), Tübingen/ Basel 2001, 29 – 42.  Vgl. zudem die Aufzählungen nach eigenen Kriterien bei Becker, Autobiographisches 82 f und L. Bormann, „Autobiographische Fiktionalität bei Paulus,“ in: Becker/Pilhofer, Biographie, 106 – 124 (110 f).  Die Frage, ob Paulus in Röm 7,7– 25 tatsächlich über sich selbst schreibt oder die 1.P.Sg. nur als Stilmittel verwendet, kann hier nicht abschließend beantwortet werden. Die Forschungsmeinungen dazu gehen noch immer weit auseinander, vgl. G. Theißen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, Göttingen 21993, 181– 268 (237: „Röm 7 schildert […] einen damals unbewußten Konflikt, der Paulus erst später bewußt geworden ist.“) gegenüber E. P. Sanders, Paulus. Eine Einführung (Reclam Universal-Bibliothek 9365), Stuttgart 1995, 119 – 128 (128: „Röm. 7 beschreibt in Wahrheit überhaupt niemanden – ausgenommen vielleicht den Neurotiker.“). Dennoch habe ich diese Stelle der Vollständigkeit halber hier angeführt.  Die vorherige Passage 2Kor 2,3 f über den sog. ‚Tränenbriefʻ rechne ich nicht der Vergangenheit zu, sondern der Gegenwart (brieflicher Aorist).

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Ansicht, die paulinischen Briefe im Ganzen in die Nähe von Selbstdarstellungen in autobiographischer Absicht zu stellen. An dieser Stelle sei zudem noch einmal daran erinnert, dass antike Autobiographik nicht allein den Bios als das vergangene Leben zum Thema hat. Vielmehr stellt der Bios als das gegenwärtig (und zukünftig) gelebte Leben den Lebensstil ins Zentrum der Betrachtung.Von daher ist antike Autobiographik nicht allein an der Vergangenheit, sondern auch an einer die Zeitebenen überschreitenden Selbstdarstellung orientiert. Somit findet sich in diesem Zusammenhang kein Argument dagegen, dass Paulus sich selbst in seinen Briefen in autobiographischer Absicht präsentieren kann. c) Nach Kurczyk bedeutet Intentionalität im Rahmen von Autobiographik „die überlegte Ausrichtung der Selbstdarstellung auf eine bei den Adressaten zu erzielende Wirkung“²³⁶. Paulus’ Briefe sind Gelegenheitsschreiben.²³⁷ Die Situationsgebundenheit von brieflichen Schreiben bedeutet jedoch, wie eben festgestellt, kein Ausschlusskriterium für die Zuordnung zur Autobiographik, insofern auch (und vielleicht gerade) in den paulinischen Briefen der Absender bei seinem Lesepublikum eine bestimmte Wirkung erreichen möchte. Aufzuzeigen, dass zu dem Argumentations- und Überzeugungsprogramm des 1Kor die briefliche persona des Absenders dazugehört, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit.²³⁸ Die briefliche Selbstdarstellung des Apostels unterstützt wesentlich die theologische Argumentation gegenüber den angeschriebenen Gemeinden. Demgemäß ist mit der Intentionalität seiner Schreiben auch der dritte autobiographische Pfeiler in den Briefen des Paulus zu finden. d) Gleichermaßen ist der Öffentlichkeitsbezug autobiographischer Schriften durch den breiten Adressatenkreis der paulinischen Briefe gewahrt. Jeder paulinische Brief geht an eine Gruppe, der anhand ihrer Menge wie auch der Titulatur²³⁹ der Adressaten ein öffentlicher Charakter zukommt. Selbst der Phlm richtet sich nicht an Philemon allein, sondern zudem an eine Apphia und einen Archippos samt der Hausgemeinde (Phlm 2) und stellt somit eine, wenn auch überschaubare, Öffentlichkeit her. Paulus’ Briefe überschreiten somit den privaten Rahmen. Auch wenn sie nicht für die Allgemeinheit aller Menschen einer Stadt, sondern nur für den Kreis der Christusgläubigen einer Stadt bestimmt sind, sorgt doch gerade der

 Kurczyk, Cicero 55.  Vgl. Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch 8.  Lyons, Autobiography hat dies überzeugend für 1Th und Gal nachgewiesen.  Röm 1,7: „Geliebte Gottes, berufene Heilige“; 1Kor 1,2 „Versammlung Gottes in Korinth, Geheiligte in Christus Jesus, berufene Heilige“; 2Kor 1,1: „Versammlung Gottes in Korinth“; Gal 1,2: „Versammlungen Galatiens“; Phil 1,1: „allen Heiligen in Christus Jesus in Philippi“; 1Th: „Versammlung der Thessalonicher in Gott Vater und im Herrn Jesus Christus“.

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Anspruch, sich nur an die dortige christusgläubige Versammlung (ἐκκλησία) zu richten, durch diese konkurrierende Bezeichnung gegenüber der politischen Volksversammlung für einen ‚exklusiven Öffentlichkeitsanspruchʻ.²⁴⁰ Dies mag angesichts der historischen Gegebenheiten paradox anmuten; der paulinischen Logik folgend ist dies aber ganz natürlich: Diejenigen Wenigen, die durch Gottes Gnade seinen Geist verliehen bekommen haben und (in der Anerkennung Jesu als des Auferstandenen: 1Th 1,9 f) zum Gottesvolk gehören, stellen (neben der Synagoge als erster Anlaufstation) die einzig relevante Ansprechstelle einer Stadt oder Region dar; „die draußen“ (1Kor 5,12; 1Th 4,12) besitzen für den Apostel lediglich Relevanz als noch zu bekehrende Menschen sowie als Kontrastfolie bzw. Korrektiv in Bezug auf das tadellose Verhalten der Christusgläubigen. Allein die von Gott begnadeten Christusgläubigen bilden als ἐκκλησία für den Apostel die einzig legitime Öffentlichkeit eines Ortes. Insofern also die Briefe des Paulus die vier entscheidenden Kennzeichen der antiken Autobiographik zeigen, stellen sie in den entsprechenden Passagen jeweils eine Selbstdarstellung in autobiographischer Absicht bereit. Dieses Urteil gilt allerdings zunächst nur für die rezeptionelle Ebene der damaligen, sich zum Großteil aus den nichtjüdischen Völkern rekrutierenden Briefempfänger. Von ihren Hör- und Lesegewohnheiten im Rahmen der paganen Literatur her lassen sich die Selbstaussagen des Apostels als autobiographisch verstehen. Paulus entstammte jedoch als gebürtiger Jude innerhalb des Hellenismus der religiösen Subkultur des Judentums (und darin der Spielart des Ἰουδαϊσμός, vgl. Gal 1,14)²⁴¹ und brachte aus diesem seine Vorstellungen und Traditionen mit – auch bezüglich der Selbstdarstellung und Autobiographik. Daher folgt nun ergänzend ein Überblick über die biblischen und zeitgenössischen jüdischen Präsentationen des Selbst.

 Ἐκκλησία bezeichnet im profanen Sprachgebrauch die Versammlung des Volkes (δῆμος) in Athen und den meisten griechischen Stadtstaaten (πόλεις), vgl. K. L. Schmidt, „έκκλησία,“ in: ThWNT 3 (1938), 502– 539 (516). Dieser Gebrauch findet sich auch in Apg 19,32.39 f. Auch wenn die Christusgläubigen ihre Versammlung durch den Zusatz „Gottes“ (θεοῦ) näher bestimmen und damit von profanen politischen Versammlungen abgrenzen, bleibt es dennoch bei der Beanspruchung des politisch geprägten Wortes ἐκκλησία für die christusgläubigen Zusammenkünfte.  Paulus verwendet diesen Begriff wohl als radikale und polemische Kennzeichnung seiner eigenen Lebensweise gegenüber neuen religiösen Bewegungen innerhalb der jüdischen Subkultur, vgl. H. Frankemölle, Frühjudentum und Urchristentum. Vorgeschichte – Verlauf – Auswirkungen (4. Jahrhundert v. Chr. bis 4. Jahrhundert n. Chr.) (KStTh 5), Stuttgart 2006, 30 f. Die griechische Wortbildung nach dem Schema Volksname + tätigkeitsanzeigendes Suffix -ίζειν/-ίσμος drückt eine positive und wohl auch parteiische Haltung gegenüber dem bezeichneten Volk aus, vgl. etwa μηδίζειν/μηδισμός bei Hdt. 4,144.165 (Meder) oder χαλδαΐζειν bei Philo Abr. 70 (Chaldäer).

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2.6 Selbstdarstellungen im jüdischen Bereich 2.6.1 Selbstdarstellungen in der Schrift Die Geschichte des Volkes Israel ist in der Hebräischen Bibel aufgezeichnet. Darin wird auch über besondere Menschen und ihre Geschichte berichtet, so über Könige und Propheten. Bei ihrer Entstehung werden all diese Erzählungen und Berichte eine eigene Motivation gehabt haben. Die Geschichten, wie sie Paulus in seiner Bibel vorgelegen haben, sind jedoch von einer besonderen Prägung gekennzeichnet. Denn mit der Zusammenstellung der Geschichten und Erzählungen Judas und Israels, die in der Ausbildung eines religiösen Kanons gipfelte,²⁴² hat eine entscheidende (Um‐)Deutung stattgefunden: Nun sind jene Geschichten stets eingebettet in die größere Geschichte des Gottes Israels mit seinem Volk. Unter diesem Vorzeichen spielen sich die ‚kleinerenʻ Lebensgeschichten nach wie vor großer Gestalten ab. Ob man hier von Biographien im engeren Sinne sprechen kann, bleibt daher fraglich. Es herrscht doch in den erzählenden Passagen der Hebräischen Bibel ein historiographisches Interesse vor. Wenn man die griechischen Termini an sie heranträgt, so sind die Erzählungen, die von den Erzvätern bzw. Erzeltern über Mose und die Richter bis zu den Königen reichen, doch mehr an den πράξεις („Taten“) interessiert als an den ἤθη („Charaktereigenschaften“) bzw. an diesen nur insoweit, als sich daraus eine Handlungsanweisung ergibt. So interessiert es z. B. in der Endgestalt des Enneateuchs nicht wirklich, ob ein König im Sinne eines Tugendkatalogs gut und gerecht gewesen ist, sondern ob er sich an die kultischen Vorgaben gehalten hat.²⁴³ Neben diesen Fremddarstellungen finden sich in der hebräischen Bibel auch mehrere Selbstdarstellungen.Wenn Paulus seine Bibel (in der Fassung der LXX)²⁴⁴

 Zu Paulus’ Zeiten war dieser Kanon noch im Entstehen begriffen, zeigte aber schon deutliche Konturen: Sir Vorrede; 44– 49; Mt 5,17; Lk 24,44.  Vgl. dazu die (wohl sekundären) Urteile in 1&2 Kön im Sinne des Dtn, z. B. 2Kön 3,2 f; 12,1– 4; 13,1 f. Von 1&2 Chr wird dies übernommen und in ein Erzählschema verwandelt.  Es ist allgemeiner Forschungskonsens, dass Paulus die Schrift nach der LXX-Fassung zitiert und somit in dieser Form auch gelesen hat, vgl. F.Wilk, „Schriftbezüge im Werk des Paulus,“ in: F. W. Horn, (Hg.), Paulus Handbuch, 479 – 490 (480). Es gilt allerdings,Vorsicht bei der Verwendung der Sammelbezeichnung ‚LXXʻ zu üben, da sie ursprünglich nur die Pentateuch-Übersetzung meinte, dann aber auch eine Einheitlichkeit des Gesamttextes (sowie der hebräischen Vorlage) suggeriert, die schlicht nicht gegeben ist, vgl. Chr. D. Stanley, Paul and the Language of Scripture. Citation Technique in the Pauline Epistles and Contemporary Literature (SNTS.MS 74), Cambrigde 1992, 37– 51. Paulus haben bei der Lektüre und der Briefabfassung mitunter von der Hauptüberlieferung abweichende Textausgaben vorgelegen, vgl. F.Wilk, Die Bedeutung des Jesajabuches

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zur Hand nahm, konnte er die Selbstzeugnisse früherer Repräsentanten (des Gottes) Israels nachlesen.²⁴⁵ In der Lesereihenfolge der biblischen Bücher begegneten ihm zuerst Selbstaussagen in den Esra-Büchern, also den Büchern, die uns als Esra und Nehemia bekannt sind. Weiter fortschreitend im Bibeltext sprachen zu ihm Einzelne aus den Psalmen in Dank oder Klage und der Prediger Salomo. Schließlich fand er Selbstaussagen in den Büchern der Propheten. Im Folgenden interessiert nicht so sehr die Entstehungsweise dieser biblischen Bücher. Vielmehr liegt der Schwerpunkt der Betrachtung auf dem Endtext, wie er Paulus (in ähnlicher Gestalt) vorgelegen haben und bekannt gewesen sein mag. Denn in dieser Endgestalt – nicht aus irgendwelchen literarischen Vorstufen – hat er seine möglichen Vorbilder vor sich gehabt. Bei folgendem Durchgang werden auch die Tendenzen in der Motivation zur Selbstdarstellung beachtet. a) Zunächst zum Doppel-Buch Esra-Nehemia: ²⁴⁶ Der Priester Esra kommt nach einer Fremdschilderung über sein Tun zum Ende des ersten Buchteils selber zu Wort (Esr 7,27– 9,15). Mit dem göttlichen Auftrag und der persischen Erlaubnis, den Tempel wiederaufzubauen, macht sich Esra mit vielen judäischen Sippen aus Babylon auf den Weg nach Jerusalem. In einem autobiographischen Teil berichtet Esra über eine von ihm angeleitete Fastenaktion, die reichlichen Spenden der Sippen für den neuen Tempel und ein Verbot, das er über Mischehen²⁴⁷ zwischen Judäern und den anderen Völkern des Landes ausspricht (9,12). Auch wenn es in der Wissenschaft Zweifel gibt, dass diese Worte tatsächlich von Esra stammen, ja dass es Esra überhaupt gegeben hat,²⁴⁸ sind rein formal die Kategorien für autobiographisches Schreiben erfüllt. Diese Passage lässt sich gut verstehen als die Selbstverteidigung Esras gegen Vorwürfe, dass der Tempelbau für einige zu teuer oder auch dass das Verbot der Mischehen nicht gerechtfertigt gewesen sei.

für Paulus (FRLANT 179), Göttingen 1998, 42 (für Jes); B. Schaller, „Zum Textcharakter der Hiobzitate im paulinischen Schrifttum,“ in: ZNW 71 (1980), 21– 26 (für Hi).  Für mich ist es an dieser Stelle irrelevant, ob Paulus alle biblischen Bücher tatsächlich gelesen hat (wenngleich dies angesichts seines eigenen Anspruchs Gal 1,14; Phil 3,5 f nicht unwahrscheinlich ist), was sich letztlich nur anhand von Schriftbezügen belegen ließe.Vielmehr geht es mir hier um eine Beschreibung des gedanklichen Klimas, das die Schrift mit den in ihr enthaltenen Selbstdarstellungen für die Frage der Selbstdarstellung des Paulus erschafft.  Vgl. Misch, Geschichte 46 – 49. Das Buch Esra-Nehemia ist in LXX doppelt überliefert: einmal (als Esdrae II) ist es eine Aneinanderfügung der beiden Bücher Esra und Nehemia; zum zweiten gibt es (als Esdrae I) eine gekürzte Zusammenfassung beider Bücher. Ich ziehe hier die längere Fassung heran.  Vgl. ausführlich Z. W. Falk, „Mischehe I. Judentum,“ in: TRE 23 (1994), 3 – 7.  Vgl. R. G. Kratz, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments. Grundwissen der Bibelkritik (UTB 2157), Göttingen 2000, 82 f; M. Sæbø, „Esra/Esraschriften,“ in: TRE 10 (1982), 374– 386 (380 f).

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b) Im Gegensatz zu Esra ist Nehemia ²⁴⁹ historisch besser zu greifen. Er wirkte als Statthalter von Juda im Auftrag der Perser in der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts. Der Selbstbericht Nehemias wird in der alttestamentlichen Forschung seit Sigmund Mowinckel als ‚Nehemia-Denkschriftʻ bezeichnet.²⁵⁰ In seinem Werk berichtet Nehemia über seine Ernennung vom königlichen Mundschenk zum Statthalter Jerusalems durch König Artaxerxes und seiner Reise dorthin. Er sollte dort für die Wiedererrichtung der Stadtmauern sorgen und musste dabei gegen Gegner von außen bestehen wie auch nach innen Ordnung schaffen. Den feindlichen Kräften außerhalb Jerusalems setzte Nehemia die Stadtmauer entgegen; im Innern setzte er Armenfürsorge, die Heiligung des Sabbats und ein Verbot von Mischehen durch. Flavius Josephus bescheinigt Nehemia in seinen Altertümern dann auch, „tüchtig und gerecht“ gewesen zu sein (Ant. 11,183: χρηστὸς … καὶ δίκαιος). Wie so viele andere autobiographische Schriften sträubt sich auch das Buch Nehemia gegen eine eindeutigen Gattungsbestimmung: Ist es autobiographisch nach ägyptischem Vorbild,²⁵¹ stellt es eine monumentale Denkschrift dar, oder ist es eine Variante der alttestamentlichen Klage des Einzelnen?²⁵² Sicherlich schillert das Buch Nehemia in seiner Endgestalt deshalb so stark, weil es eben so stark literarisch bearbeitet worden und angewachsen ist. Man kann sich aber ohne weiteres Otto Kaiser in seinem abschließenden Urteil anschließen: „Insgesamt gewinnt der Leser den Eindruck, dass sie [= Nehemiadenkschrift] ebenso der Rechtfertigung Nehemias angesichts seiner Feinde wie seinem Nachruhm bei den Menschen und seiner Bitte um göttlichen Beistand dient.“²⁵³ Die Motive sowohl der Apologie wegen unpopulärer Maßnahmen als auch der Sorge um das eigene Ansehen bei späteren Generationen und bei Gott selbst vereinen sich somit im Buch Nehemia zu einem Ganzen.

 Vgl. A. Tångberg, „Nehemia/Nehemiabuch,“ in: TRE 24 (1994) 242– 246.  Vgl. G. v. Rad, „Die Nehemia-Denkschrift,“ in: ZAW 35 (1964), 176 – 187. Die Nehemia-Denkschrift findet sich in ihren Grundzügen in Neh *1– 3; 7; 12– 13 und stellt wohl die Grundschicht des Buches dar, der im Laufe der Zeit an sich und zudem im Verbund mit dem Buch Esra in mehreren Schichten weitere Zusätze bis zum jetzigen Buch Nehemia zugewachsen sind. Zu Vorschlägen der etwas verworrenen Entstehung des Esra-Nehemia-Doppelwerkes vgl. O. Kaiser, Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des Alten Testaments. Band 1: Die erzählenden Werke, Gütersloh 1992, 133 – 142; Kratz, Komposition 68 – 74.91 f (Schema).  Kratz nennt eine ägyptische Parallele zu diesem Ich-Bericht, vgl. a.a.O. 68, Anm. 71. Auch Rad, „Nehemia-Denkschrift“ 176 – 187 macht einen Vergleich mit zeitgenössischen ägyptischen Votivinschriften auf Beamtenstelen stark, wenngleich er sie nicht als direktes Vorbild ansieht (186).  Vgl. Kaiser, Grundriß I 140.  Ebd.

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c) Der Psalter, gleich ob als ‚Gesangbuch der nachexilischen Gemeindeʻ oder als deren Lese- und Meditationsbuch oder gar als deren ‚Lehrbuch des Gebetsʻ,²⁵⁴ bietet mit seinen Psalmen eine Fülle von Aussagen einzelner Beter. Trotz ihres liturgischen Gebrauchs stehen im Hintergrund nicht weniger Psalmen wohl individuelle Erfahrungen in konkreten Anlässen.²⁵⁵ Dass solche Psalmen eines Einzelnen (mit Lob, Klage oder Dank) aber zu Paulus’ Zeiten als autobiographisch ausgedeutet wurden, ist sehr fraglich. Psalmen als Gebetsformulare sind zwar an sich nachgerade deutungsoffen, so dass ein jeder mit ihren Worten mitbeten kann. Allerdings hat ja gerade durch die spätere Hinzufügung von Überschriften eine Personalisierung der Psalmen begonnen, so dass sie nun zumeist David zugeschrieben wurden und dazu mitunter auch Notizen zu deren ‚historischerʻ Verortung angeben wurden.²⁵⁶ Die Autorenschaft der David-Psalmen wird im Neuen Testament anerkannt, was Auswirkungen auf die Psalmeninterpretation hat (Mk 12,36 par. und Apg 2,34 f über Ps 110,1/109,1LXX; Apg 2,25(–28) über Ps 16,8 – 11/15, 8 – 11LXX), auch wenn dann eine christologische Deutung auf Jesus erfolgt.²⁵⁷ Ebenso wie Paulus die Autorenschaft der David-Psalmen anerkennt (Röm 4,6 über Ps 32,1 f/31,1 fLXX; Röm 11,9 über Ps 69,23 f/68,23 fLXX), schließt er sich auch an die christologische Interpretation dieser Psalmen an (Röm 15,3: Ps 69,10/68,10LXX; 1Kor 15,25: Ps 110,1/109,1LXX), wobei dies aber nicht den einzigen Psalmengebrauch darstellt. Ebenso kann Paulus Psalmen für eine eschatologische Gegenwartsbeschreibung nutzen (Röm 3,10 – 18)²⁵⁸, sowie sie – für meine Untersuchung besonders interessant – in der Perspektive der 1.P. auf sich und seine Mitarbeiter anwenden (2Kor 4,13: Ps 116,10). Paulus hat also im Psalter die Möglichkeit gesehen, vorformulierte religiöse (Gebets‐)Texte auf seine eigene Existenz zu über-

 Vgl. K. Seybold, „Psalmen/Psalmenbuch I. Altes Testament,“ in: TRE 27 (1997), 610 – 624 (621).  Vgl. Seybold, „Psalmen/Psalmenbuch“ 614 f.  So etwa Ps 3,1 oder 7,1. Vgl. insgesamt zu den Psalm-Überschriften O. Kaiser, Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des Alten Testaments. Band 3: Die poetischen und weisheitlichen Werke, Gütersloh 1994, 28 f.  Eine Analogie zum freien interpretativen Umgang der Christus-Bewegung mit biblischen Psalmen zeigt Qumran: Dort werden die Psalmen in prophetischer Weise auf die geschichtliche Situation der Gemeinde hin ausgedeutet, vgl. z. B. 4QpPs37.  Röm 3,10 – 18 enthält u. a. Zitate aus Ps 5,10LXX; 10,7; 14,1– 3; 35,2LXX; 139,4LXX. Womöglich hat Paulus diese Zusammenstellung bereits als Teil seiner mündlichen Verkündigung zur Verfügung gestanden, vgl. E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 1(15)2003, 123.Vgl. dazu auch M. Pulkkinen, „‚There is no one righteous‘. Paul’s Use of Psalms in Romans 3,“ in: M. S. Pajunen/J. Penner, (Hg.), Functions of Psalms and Prayers in the Late Second Temple Period (BZAW 486), Berlin/ Boston 2017, 384– 409.

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tragen (Röm 15,9)²⁵⁹ und deren religiöse Rede zu seiner eigenen zu machen, und neben der direkten Zitierweise sicherlich auch sonst ‚Formulierungshilfenʻ für eigene Selbstaussagen gegenüber Gott gefunden. Der Gebetscharakter der Psalmen enthebt sie einer apologetischen Motivation: Vor Gott kann man sich schlichtweg nicht selbst verteidigen. Vielmehr sind die Psalmen motiviert als Ausdruck des doppelten Bekenntnisses, nämlich der eigenen Schuld wie auch der Größe Gottes.²⁶⁰ d) Eine besondere Selbstdarstellung in autobiographischer Absicht konnte Paulus in Prov 8,4 – 36 finden.²⁶¹ Dort spricht nicht ein Mensch, sondern die personifizierte göttliche Weisheit. Sie spricht öffentlich (8,2) über ihre Vergangenheit als ein Dasein vor aller Zeit, ihre Aufgabe und ihr Wirken, was tatsächlich alle Kriterien autobiographischen Schreibens erfüllt – natürlich unter der Annahme, dass Autorin und dargestellte Hauptfigur identisch sind und überhaupt existieren, was in der Fiktion dieser Passage aber bedenkenlos vorausgesetzt wird. Wiederum erscheint die Rede über den eigenen βίος nicht aus apologetischen Motiven, sondern dient der Autorisierung innerhalb der Beratung: Wer wie Frau Weisheit bereits vor Beginn der Schöpfung bei Gott hohes Ansehen genossen hat (v.30) und zu allen Zeiten für Ordnung und Erfolg in der Welt gesorgt hat (v.14– 21), der besitzt gute Bürgen gegenüber potentiellen neuen Schülern (v.4 f), die des Rates und der Unterweisung bedürfen. e) Der ‚Versammlungsrednerʻ (ἐκκλησιάστης oder Qohelet)²⁶² schreibt sein Werk unter der Maske des (namentlich nicht explizit benannten) Königs Salomo (Qoh 1,12). Als Pseudepigraphie kann das Buch nach modernen Maßstäben nicht als autobiographisch gelten, wobei es sich aber möglicherweise in die literarische Tradition der westsemitischen Königsinschriften stellt.²⁶³ Auch wenn der Leser

 Allerdings besteht in Röm 15,9 auch die Möglichkeit, das im Psalmzitat verbürgte Bekennen und Singen des Beters Jesus Christus selbst in den Mund zu legen, vgl. O. Michel, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 111957, 322 f. Dass Paulus die Frage, wer als Sprecher des Zitats zu identifizieren ist, völlig gleich war, solange nur das Gotteslob bei den Völkern erklingt, vgl. Lohse, Brief 388, halte ich für wenig überzeugend.  Selbst im Fall des schuldlosen Leidens des Beters bleibt doch stets der andere Aspekt des Bekennens, die Größe Gottes, gewahrt. Dies wird auch deutlich außerhalb des Psalters, nämlich im Buch Hiob: Die Klagen Hiobs angesichts seines schuldlosen Leidens wandeln sich zwar in Anklagen Gottes; eine Verteidigung gegenüber Gott findet aber nicht statt. Ganz im Gegenteil: Nach Gottes doppelter Antwort auf seine Anklage verzichtet Hiob auf jede Verteidigung (Hi 40,3 – 5; 42,1– 6).  Vgl. T. Longman, „Autobiography I. Ancient Near East and Hebrew Bible/Old Testament,“ in: EBR 3 (2011), 129 – 131.  Vgl. D. Michel, „Koheletbuch,“ in: TRE 19 (1990), 345 – 353.  Vgl. Longman, „Autobiography“ 130.

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nicht viel Konkretes über den βίος des (fiktiven) königlichen Autors erfährt, so ist die Schrift doch durchgehend in der Vergangenheit formuliert, wenn es um das Leben des Autors geht, und trägt von dieser Königstravestie ausgehend der Leserschaft den ‚salomonischenʻ Weg zur Erkenntnis, der in skeptische Gedankengänge mündet, vor. Hierin mag Paulus ein Beispiel gehabt haben, auf das eigene frühere Leben zurückblicken, wenngleich sein Erkenntnisweg nicht in Aporie endete.²⁶⁴ Die Selbstrede in Qoh ist nicht apologetisch motiviert, sondern PseudoSalomo bietet sich als Paradigma für ein standhaftes Leben in einer dem menschlichen Verstehen verschlossenen Welt an. f) Die Prophetenbücher des Alten Testaments enthalten viele Selbstaussagen autobiographischer Natur, insofern hier die Berichtenden in öffentlicher Weise über vergangene Ereignisse in ihrem Leben und deren Auswirkung auf die Gegenwart schreiben. Dies wird bei den sog. ‚großenʻ Propheten – Jesaja, Jeremia, Ezechiel – deutlich, wenn sie über ihre Berufung berichten (Jes 6; Jer 1; Ez 1– 3).²⁶⁵ Aber auch die Lebensweise und Zeichenhandlungen, die ihnen durch ihre Berufung abverlangt werden, heben diese Menschen in besonderer Weise hervor:²⁶⁶ So muss Jesaja seinen Kindern besondere Namen geben, Jeremia darf nicht heiraten, Ezechiel vollführt viele merkwürdige Handlungen. Weiterhin schreiben die Propheten mit eigenem Griffel über Visionen (z. B. Am *7– 9) oder Auditionen (z. B. Jes 5,9 ff), in denen Gottes Wille zum Ausdruck kommt. Die Selbstdarstellungen der Propheten geschehen allesamt weniger aus apologetischen Gründen als vielmehr zum Erweis der Macht Gottes. In ihren Zeichenhandlungen nehmen sie einen Vorgriff auf die bei Gott schon längst beschlossene Zukunft vor.²⁶⁷ Diese sind damit selbst schon Realität des göttlichen Handelns, erfüllen daneben aber durchaus auch einen belehrenden Zweck gegenüber dem Publikum der Propheten. Und wenn in den sog. Konfessionen Jeremias (Jer 11,18 – 12,6; 15,10 – 21; 17,12– 18; 18,18 – 23; 20,7– 18) die inneren Kämpfe, die ein Prophet zu erleiden hat, deutlich werden, so dient dies ebenfalls nicht der Selbstverteidigung, sondern der Darstellung des

 Die Bezüge auf Qoh in Röm 3,10; 8,20; 2Kor 5,10 machen wahrscheinlich, dass Paulus das Werk kannte.  Vgl. Misch, Geschichte 546 – 548 (besonders zu Jeremia).  Dabei ist es auf der Leseebene, die wir mit Paulus einnehmen, irrelevant, wie viele Hände zu dem jetzigen Endtext beigetragen haben. Auch die Frage, ob dies alles ‚wirklichʻ und in dieser Weise geschehen ist, bleibt in dieser Perspektive unwichtig.  Vgl. G. Fohrer, „Die Gattung der Berichte über symbolische Handlungen der Propheten,“ in: ZAW 64 (1952), 101– 120: Eine zukünftige Handlung Gottes wird gleichsam ‚nachgeahmtʻ (119).

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exemplarischen leidenden Gerechten, in dessen unheilvolles Geschick sich entsprechend Betroffene ohne weiteres hineinversetzen können.²⁶⁸ Paulus hat in den Prophetenbüchern literarische Vorbilder vorgefunden, die ihm Worte an die Hand gegeben haben, mit denen er seine eigene Gotteserfahrung ausdrücken konnte. Dass er sich selbst zumindest in gewisser Weise in der prophetischen Tradition stehend darstellt, um von daher eine Legitimation seines apostolische Amtes zu beziehen, zeigen die literarische Anspielung in Gal 1,15 auf Jes 49,1 bezüglich seiner göttlichen Berufung im Mutterleib²⁶⁹ und auch sonst sein Gebrauch des Jesajabuchs.²⁷⁰ Besonders im zweiten Teil des Jesajabuches ist Paulus eine Gestalt begegnet, in deren Worte er offensichtlich einstimmen und deren Taten er nachvollziehen konnte: der Gottesknecht, genauer der Gottesknecht des zweiten und dritten Ebed-JHWH-Liedes (Jes 49,1– 6; 50,4– 9).²⁷¹

2.6.2 Selbstdarstellungen im jüdischen Umfeld des Paulus a) Wie bei vielen Herrschergestalten vor und nach ihm ist auch über den judäischen König Herodes I. ²⁷² überliefert, dass er eine Autobiographie in der Form von

 Vgl. dazu O. Kaiser, Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des Alten Testaments. Band 2: Die prophetischen Werke, Gütersloh 1994, 74. R. G. Kratz, Die Propheten Israels (Becksche Reihe 2326), München 2003, 82 hat wohl aber Recht: „In [den Konfessionen] spricht nicht der historische Jeremia, sondern die Gruppe der Überlieferer, die unter seinem Namen schreibt und sich zu den Gerechten zählt. Es verhält sich hier wie sonst in der Überlieferung von Heiligen: Je mehr man über die Person und das Innenleben der Propheten erfährt, desto weiter ist man vom historischen Ursprung entfernt.“  Zu diesem Zusammenhang vgl. W. Stenger, „Biographisches und Idealbiographisches in Gal 1,11– 2,14,“ in: ders., Strukturale Beobachtungen zum Neuen Testament (NTTS 12), Leiden/ New York/ Kobenhavn/ Köln 1990, 292– 309, auch wenn Stenger zu weit geht, indem er die Aussonderung des Paulus als Aussonderung aus dem Judentum (!) versteht (a.a.O. 302). Ausgehend von Paulus’ sonstigem Gebrauch des Jes-Buches ist es plausibel, dass in Gal 1,15 ein Bezug auf Jes 49,1 anstelle von Jer 1,5 vorliegt, vgl. Wilk, Bedeutung 292– 297.  Vgl. zusammenfassend Wilk, Bedeutung 367– 369.  Vgl. Holtz, „Selbstverständnis“ 329 f. Etliche Arbeiten führen das paulinische Selbstverständnis als Heidenapostel auf Jes 49 zurück, vgl.Wilk, Bedeutung 4 f, wobei Paulus über den wohl ursprünglichen Rahmen dieses und der weiteren Lieder hinausgeht, so dass er auch erklärende Aussagen über den Gottesknecht bzw. Ausschmückungen dessen Ich-Rede auf sich bezieht: Jes 42,6; 49,7 f; 52, 7– 12; 61,1– 3 (vgl.Wilk, a.a.O. 406). Die Möglichkeit, dass Paulus sich selbst in dieser Figur bzw. in ihren Ich-Reden ‚wiedergefundenʻ (ebd.) und aus ihr sein Selbstverständnis als Apostel Jesu Christi gezogen hat, ist in der Tat nicht auszuschließen. Gleichwohl urteile ich vorsichtiger, insofern ich mich auf Paulus’ Selbstdarstellung (innerhalb nur eines Briefes) beschränke und nicht sein Selbstverständnis in den Blick nehme.  Vgl. insgesamt E. Baltrusch, Herodes. König im Heiligen Land. Eine Biographie, München 2012; M. Vogel, Herodes. König der Juden, Freund der Römer (Biblische Gestalten 5), Leipzig 2002.

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Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen

ὑπομνήματα verfasst hat.²⁷³ Auch wenn die Familie des Herodes ursprünglich aus dem erst unlängst (zwangs‐)judaisierten arabischen Stamm der Idumäer kam und er selbst im pagan geprägten Aschkelon aufgewachsen war, muss er doch nach Dtn 23,7 f in religiöser Hinsicht als vollgültiger Jude angesehen werden.²⁷⁴ Insofern ist Herodes die Auszeichnung zuzugestehen, als erster Jude autobiographisch tätig gewesen zu sein.²⁷⁵ Da die herodianischen Memoiren bloß fragmentiert überliefert sind, lässt sich nur wenig über die Tendenz der Schrift sagen. Aus der zuvor berichteten Episode vom Todesbeschluss über den Herodes-Konkurrenten Hyrkanus (Ant. 15,165 – 173 / 15,6,2), auf die sich die Notiz bezieht, und einen nachfolgenden pro-hyrkanischen Bericht (15,174– 178 / 15,6,3) kann man eine apologetische Tendenz ableiten: Die Anhänger des Hyrkanus malten ein friedvolles Bild des letzten hasmonäischen Herrschers und ein umso düsteres des neuen Königs, das Herodes als hinterhältig darstellt und gegen das er in seinen Memoiren eine andere Version der Ereignisse setzt. In dieser wird ihm die Nachricht über den Verrat des Hyrkanus ohne eigenes Zutun überbracht, so dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als den Hochverräter entsprechend zu verurteilen. Somit kann Herodes seine Hände in Unschuld waschen.²⁷⁶ Mit seinen Memoiren steht Herodes damit ganz in der Tradition der hellenistischen Könige, von denen er sich in seiner Selbstdarstellung²⁷⁷ nicht wesentlich unterschied.  Diese Erkenntnis verdankt sich der Notiz bei Josephus, Ant. 15, 174 / 15,6,3 (ἐν τοῖς ὑπομνήμασιν τοῖς τοῦ βασιλέως Ἡρώδου; „in den Memoiren des Königs Herodes“); s.a. FGrHist 236 F 1, vgl. Engels, ΥΠΟΜΝΗΜΑΤΑ-Schriften 29.32. Ob jedoch Josephus selbst Zugriff auf die Königsmemoiren hatte oder an dieser Stelle Nikolaus von Damaskus zitiert, ist umstritten, vgl. zur Diskussion B. Eckhardt, Ethnos und Herrschaft. Politische Figurationen judäischer Identität von Antiochos III. bis Herodes I. (Studia Judaica 72), Berlin/Boston 2013, 22 Anm. 62.  Vgl. Vogel, Herodes 212– 214. Der Vorwurf, Herodes sei als Idumäer bloß ein ‚Halbjudeʻ bzw. ‚Halbjudäerʻ (Ant. 14, 403 / 14,15,2: Ἡρώδῃ … ὄντι καὶ Ἲδουμαίῳ, τουτέστιν ἡμιιουδαίῳ), ist daher tatsächlich wohl eher als ethnisch-geographische denn als religiöse Beleidigung zu verstehen,vgl. Vogel, a.a.O. 214– 218.  Es ist daher nicht richtig zu behaupten, „dass Josephus der Verfasser der einzigen antiken jüdischen Autobiographie ist“ (Becker, „Person“ 137 Anm. 30). Becker möchte ebd. das Phänomen der Selbstdarstellung in autobiographischer Absicht bei Josephus mit dessen ‚biographischem Bruchʻ (Übersiedlung von Palästina nach Rom und Hinwendung zu den Flaviern) in Verbindung bringen. Wenn aber ein biographischer Bruch für einen antiken Menschen jüdischer Herkunft notwendig gewesen wäre zum Abfassen einer autobiographischen Selbstdarstellung, wo wäre dieser bei Herodes zu finden?  Ob auch die Geschichte über die eigentliche Urheberin des Verrats, die Hyrkanus-Tochter Alexandra, aus Herodes’ Memoiren stammt, lässt sich nicht erweisen. Sie passt aber hervorragend zur apologetischen Richtung der Gesamtepisode.  Vgl. Eckhardt, Ethnos 247– 256; Baltrusch, Herodes 219 – 251 (220: „Herodes wollte […] nicht ‚hellenistischʻ regieren, er tat es einfach, weil dies der Zeit und dem Herrschaftsraum entsprach und weil es sich bewährt hatte.“; Kursivierung übernommen).

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b) Weiterhin muss man bezüglich der Selbstdarstellungen im jüdischen Bereich auch Philo nennen, der ab und an autobiographische Stücke in seine Abhandlungen einstreut, so bei seinen Betrachtungen über den göttlichen Geist²⁷⁸. In migr. 34 f z. B. beschreibt Philo, wie sein eigenes schriftstellerisches Treiben vom Geist abhängig ist und er dies tausende Mal (34: μυριάκις) bereits erfahren hat – mal beschloss Gott, ihm ‚den Mutterleib der Seeleʻ zu verschließen (τὰς τῆς ψυχῆς … συγκλείεσθαι μήτρας συμβέβηκεν), mal konnte er urplötzlich durch göttliche Eingebung wie ein Wahnsinniger viel produzieren (35: ὑπὸ κατοχῆς ἐνθέου κορυβαντιᾶν). Philo dient hierin also selbst als Paradigma für das Wirken des göttlichen Geistes. Die Selbstdarstellung als Schriftsteller in spec.leg. 3,1– 6 unterscheidet sich vom vorherigen Beispiel durch den bewussten Entschluss, etwas zu bedenken und darüber zu schreiben. Sie bietet beinahe schon eine Entwicklungsgeschichte über Philos philosophisches Schaffen: Er berichtet über seine Entwicklung weg von der einstigen (3,1: ποτε χρόνος) positiven Lebensweise als Philosoph hin zur gegenwärtigen²⁷⁹ negativen Existenz im politischen Leben (3,3.5: ἐν πολιτείᾳ); nur noch in wenigen Momenten kann er sich der Politik entziehen und seinen Geist dem Nachsinnen über Gott und die Schrift widmen. Sicherlich kann man diese Selbstaussage als Apologie eines Schriftstellers verstehen, der präventiv dem Vorwurf der mangelnden Güte seines Werks durch den Hinweis auf seine mangelnde Muße begegnet. Dennoch zeigt Philo hier an sich selbst die philosophische Arbeitsweise auf, was gleichermaßen als Paradigma für die besondere Lebensart eines Denkers stehen kann. Von einer überaus wichtigen Episode in seinem Leben in der Politik erzählt die Schrift über den Besuch bei Kaiser Gaius Caligula (ad legationem Gaium). Sie gehört eindeutig in den Bereich der antiken Autobiographik, da Philo sich darin mittels des drastischen Porträts eines überaus grausamen und unberechenbaren Herrschers durchaus gegenüber Vorwürfen, seine Delegation habe bei Hof nicht recht verhandelt, rechtfertigt. Während also in den Selbstdarstellungen innerhalb seiner philosophischen Schriften das Motiv der Apologetik fehlt bzw. zurücktritt gegenüber dem Motiv des Paradigmas, ist es in dem Delegationsbericht durchaus präsent. Dies ist aber unabhängig von einem Öffentlichkeitsbezug, denn alle seine Schriften richten sich ja an ein Publikum, nur jeweils eben unter anderen Vorzeichen.

 Vgl. J. R. Levison, „Inspiration and the Divine Spirit in the Writings of Philo Judaeus,“ in: JSJ 26 (1995), 271– 323 (280 – 307).  Ausgedrückt durch Verben und Partizipien im Präsens.

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c) Einen weiteren autobiographischen Bericht aus dem frühjüdischen Bereich stellen die qumranischen Loblieder (1QH) dar – wenn man sie denn autobiographisch lesen und verstehen möchte.²⁸⁰ Folgt man dahingehend Gert Jeremias’ Analyse,²⁸¹ dann sind die Lob- oder Danklieder vom Gründer der Gemeinde, dem Lehrer der Gerechtigkeit, verfasst worden und bieten insgesamt eine ausführliche Selbstdarstellung in autobiographischer Absicht. Der Lehrer der Gerechtigkeit schildert in den Hodajot seine Erlebnisse mit den Gegnern seiner Ansichten und Überzeugungen und preist Jhwh für die Rettung vor ihnen.²⁸² Die Schilderung geschieht (wie in den alttestamentlichen Psalmen) in poetischer Form. Diese Form ermöglicht (wiederum wie in den Psalmen) die Öffnung zu anderen Verstehensweisen jenseits einer rein individuellen, autobiographischen Lesart, so dass auch andere Menschen diese Worte für ihre eigenen Lebenserfahrungen beanspruchen und mit ihnen zu Gott beten können. Wie bereits in den Psalmen ist nicht Apologetik das Motiv zur Selbstrede, sondern das Bekenntnis. d) Obgleich Flavius Josephus ²⁸³erst nach Paulus lebte (37 – nach 100) und wirkte, ist ein Blick auf seine Vita unerlässlich.²⁸⁴ Sie ist ohne Einschränkung eine Selbstdarstellung in autobiographischer Absicht aus jüdischer Feder. Die Vita ²⁸⁵ wurde von der Forschung lange Zeit als eigenständiges Werk angesehen, obwohl sie eigentlich als Anhang zu den Antiquitates geschrieben wurde (Ant. 20, 266).

 Vgl. H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch (Herder Spektrum 4128), Freiburg/ Basel/ Wien 41994, 150 f. Dieses Verständnis ist in der neueren QumranForschung nicht unumstritten. K. Berger, Qumran. Funde – Texte – Geschichte (Reclam UB 18820), Stuttgart 2011, 45 f.142 f etwa hält dies für nicht erweisbar.Vielmehr versteht er 1QH generisch bzw. gattungstechnisch als „Klagelieder des einzelnen mit besonderer Zuspitzung“ (a.a.O. 143). A. K. Harkins, „Reading the Qumran Hodayot in Light of the Traditions Associated with Enoch,“ in: Henoch 32 (2010), 359 – 400 etwa sieht einen großen Einfluss der Henoch-Traditionen auf 1QH mit dem Ziel, die Leser (und Beter) durch die Rede in der 1.P.Sg. eine Henoch ähnliche, starke religiöse Erfahrung direkt(er) nachvollziehen zu lassen.  Vgl. G. Jeremias, Der Lehrer der Gerechtigkeit (StUNT 2), Göttingen 1963; zwar fehlt eine Eigenbezeichnung in 1QH, die Hinweise dort passen aber offenkundig gut zur Gestalt des ‚Lehrers der Gerechtigkeitʻ aus der Damaskusschrift (CD 1,11: ‫ )מורה צדק‬oder dem Habakuk-Kommentar (1QpHab 1,13 u. ö.: ‫)מורה הצדק‬. Diese These wird aufgegriffen und ausgeführt von Schulz, Autoritätsanspruch, der das Ich der Hodajot eben aufgrund ihres besonderen Autoritätsanspruches dem Lehrer der Gerechtigkeit zuspricht (a.a.O. 5).  Jeremias, Lehrer 168 – 177 sieht folgende Stellen als autobiographisch an (171):1QH 2,1– 19.31– 39; 3,1– 18; 4,5 – 5,4; 5,5 – 19; 5,20 – 7,5; 7,6 – 25; 8,4– 40.  Vgl. G. Mayer, „Josephus Flavius,“ in: TRE 17 (1988), 258 – 264.  Zur Vita vgl. Mason, Flavius 130 – 137 und ausführlich ders., Life of Josephus. Translation and Commentary, Leiden/ Boston 2001.  Der Titel Ἰωσήπου βίος verdankt sich der Überlieferung des Werks als unabhängige Schrift, vgl. Mayer, „Josephus“ 262.

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Jerome Neyrey stellt die These auf, dass Josephus’ Schrift in sich ein formales Enkomion ist.²⁸⁶ Ein Enkomion, also die antike Form des Lobens eines Menschen, besteht aus vier aufeinanderfolgenden Teilen: a) Abstammung/Geburt, b) Erziehung/Ausbildung, c) Errungenschaften/Taten, d) Vergleich (Synkrisis).²⁸⁷ Neyrey möchte zeigen, dass das Ziel des Enkomions, nämlich einen Menschen auf Kosten von in der Synkrisis getadelten Menschen zu loben, durch den eigenen Lebensbericht auch auf Josephus und dessen Gegner Justus von Tiberias Anwendung findet. Die Funktion der Vita wäre damit im Kern apologetisch.²⁸⁸ Neyreys These überzeugt jedoch nicht. Dies liegt daran, dass der von ihm als enkomiastisches Merkmal herausgestellte Vergleich in Josephus Vita (nämlich mit dem konkurrierenden Historiographen Justus von Tiberias) nicht am Schluss erfolgt, sondern exkursartig mitten im Lebensbericht (336 – 367). Wenngleich die Vita also kein formales Enkomion ist, so scheint mir Neyrey dennoch damit richtig zu liegen, dass Joesphus hier weitreichend enkomiastisch schreibt, um sich selbst lobenswert erscheinen zu lassen. Dabei stellt Josephus seine Taten durchweg als tugendhaft und überhaupt moralisch vorbildlich dar. Steve Mason ordnet diese Beobachtung historisch ein, indem er auf Josephus’ römischen Kontext hinweist.²⁸⁹ In diesem war die Ämterlaufbahn sehr wichtig, so dass der römische Kontext auch den Grund liefert, warum der flavische Günstling sich in der Vita so sehr auf seine militärische Tätigkeit konzentriert und weniger auf den Rest seines Lebens eingeht. Josephus zeichnet sich demnach als Mann, der sich im öffentlichen Leben bewährt hat.²⁹⁰ Somit tritt Masons Analyse zufolge das Motiv der Apologetik gegenüber einem epideiktischen Moment deutlich zurück. Statt sich gegen einen Konkurrenten zu verteidigen, geht es Josephus darum, anhand der im  Vgl. J. H. Neyrey, „Josephus’ Vita and the Encomium: A Native Model of Personality,“ in: JSJ 15 (1994), 177– 206 (205: „Josephus’ Vita is not just encomiastic in form but a formal encomium.“)  Vgl. Neyrey, „Vita“ 179 f. Berger, Formen 401– 403 lässt die abschließende Synkrisis weg, setzt vorne aber ein Proömium ein. Zwar existiert die Synkrisis auch als unabhängige Disziplin innerhalb der antiken Progymnasmata, vgl. Malina/Neyrey, Portraits 22 f, Menander Rhetor sowie Hermogenes empfehlen sie aber als festen Bestandteil eines Enkomions, vgl. ebd. 33.223. Auch für Quintilian (inst. 2,4,20 f) ist es nur ein kleiner und beinahe natürlich wirkender Schritt, von einer würdigenden Darstellung zu einem Vergleich zu gelangen. In den Parallelbiographien Plutarchs findet sich die Synkrisis ebenfalls als untergeordneter Teil eingebettet in einen größeren literarischen Zusammenhang, vgl. dazu H. Erbse, „Die Bedeutung der Synkrisis in den Parallelbiographien Plutarchs,“ in: Hermes 84 (1956), 398 – 424. Dies alles spricht dafür, die Synkrisis als natürlichen (wenngleich nicht notwendigen) Bestandteil eines Enkomions anzunehmen.  Vgl. Neyrey, „Vita“ 204.  Vgl. Mason, Life XLI–XLIII.  Als ein öffentlich bewährter Mann war es ihm durchaus erlaubt, sich selbst lobend hervorzuheben, obgleich es in der Vita auch nach heutigem Geschmack etwas dick aufgetragen erscheint.

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Anhang Vita geschilderten eigenen aristokratischen Tugenden die Glaubwürdigkeit des Gesamtwerkes Antiquitates zu erhöhen. Fazit: Wie aus diesen Beispielen deutlich wird, gab es in der jüdischen Lebenswelt, der Paulus entstammte, bereits vor seiner literarischen Tätigkeit viele Formen, in denen autobiographisch gedacht, geschrieben und gelehrt werden konnte und wurde. Das Motiv der Apologie spielt auch hier zu Beginn eine Rolle (Esra-Nehemia). Je näher wir an Paulus’ Zeit herankommen, desto unbedeutender scheint es aber zu werden (Ps; Prov; Philo philosophisch), wenngleich es doch bestehen bleibt (Herodes; Philo politisch).²⁹¹ Statt bloß im apologetischen Kontext kann Selbstdarstellung auch in enkomiastischer Weise (Josephus) oder auch paradigmatisch im Rahmen der Symbuleutik und zum Zweck der Belehrung geschehen. Hier verlaufen also die Entwicklungen im jüdischen und im paganen Bereich offenbar analog. Für die Selbstdarstellungen in autobiographischer Absicht in Paulus’ Briefen bedeutet dies, dass sie nicht notwendigerweise aus einem Bedürfnis der Selbstverteidigung entstanden sind; sie können ihre Existenz durchaus auch den Bedürfnissen nach bzw. Erfordernissen von Lob und Tadel sowie Beratung verdanken. Es wird eine Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein,von Fall zu Fall zu klären, welcher der drei rhetorischen Kategorien die jeweilige Selbstdarstellung zuzuordnen ist.

2.7 Zum Wahrheitsanspruch von Selbstdarstellungen Nachdem in den vorherigen Abschnitten das Phänomen antiker Selbstdarstellung in autobiographischer Absicht behandelt wurde, stellt sich gerade in der historischen Perspektive die Frage, wie es bei all der bewussten (und unbewussten) Selbstpräsentation um den Wahrheitsanspruch jener Selbstdarstellungen bestellt ist. Soll und kann man die antiken Selbstdarstellungen als objektiv wahr und damit als historische Faktenlieferanten verstehen? Oder stellen sie eine Fiktion dar? Dies wird gerade dann virulent, wenn, wie dies hier geschieht, das Selbst stets als unter einer Maske (persona) befindlich vorgestellt wird (s.o.). Sind diese Selbstdarstellungen (als Selbstverstellungen) dann überhaupt noch glaubhaft? Konkret: Können wir Paulus noch glauben? Was also ist Wahrheit im Bereich der Autobiographik? Am Beginn der Autobiographieforschung stand eine romantisch-idealistische Auffassung der Selbstbiographie. Sie wird verstanden als Idealfall des mensch-

 Dieses Urteil muss angesichts der schmalen Quellenbasis vorsichtig ausfallen.

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lichen Geistes, insofern dieser über sich selbst zum Verstehen gelangt.²⁹² Nicht einmal die Vielfalt autobiographischer Formen, in denen dies Selbst-Verstehen je wiedergegeben werde, könne verhindern, immer wieder auf den Autor und dessen Persönlichkeit hinter der jeweiligen Schrift zu stoßen.²⁹³ Einer skeptischen Betrachtungsweise, die eben nur auf die äußere(n) und unglaubwürdige(n) Lebensrolle(n) von Menschen, also die persona(e), abhebt, stellt Georg Misch den unbesiegbaren Wahrheitsanspruch des Autobiographischen entgegen. Dabei weiß Misch sehr wohl um die Selbsttäuschung, der der autobiographisch tätige Mensch stets unterworfen ist.²⁹⁴ Doch selbst ein Lügner, der bewusst Unwahrheiten über das eigene Leben verbreitet, offenbare seinen wahren Charakter aufgrund seines lügnerischen Geistes.²⁹⁵ Deshalb sei „der Geist, der über den Erinnerungen schwebt, das Wahrste und Wirklichste in einer Autobiographie. Dieser Geist spiegelt sich in den Ereignissen und Personen, von denen die Autobiographie handelt; er wird greifbar in der Art wie der Selbstbiograph sein Leben als Ganzes auffasst, in dem Aufbau der Darstellung, der Auswahl des Stoffes und der Gewichtsverteilung zwischen Wichtigem und Unwichtigem – kurz im ‚Stilʻ [,] in der ‚inneren Formʻ des Werkes.“²⁹⁶ Sicherlich ist Misch zuzustimmen, wenn er das allgemeine Interesse an Autobiographik auf die Suche nach der Persönlichkeit eines Menschen zurückführt.²⁹⁷ Nun ist allerdings die Frage, vor die sich die historisch-kritische Forschung gestellt sieht, nicht, wie es um die Persönlichkeit des Paulus gestellt ist. Diese Frage habe ich bereits als irrelevant abgewiesen; sie ist ohnehin unmöglich zu beantworten (s.o.). Tatsächlich können wir als reine Leser (ohne leibhaftige Kenntnis des Individuums Paulus) nur die persona(e) aus den Texten zu ermitteln versuchen. Statt aus den autobiographischen Zeugnissen das Selbst-Verständnis des Individuums Paulus herauszudestillieren, lässt sich lediglich dessen SelbstDarstellung nachgehen und kenntlich machen. Dabei muss die Untersuchung

 Wilhelm Dilthey hat hier maßgeblich vorgearbeitet, vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie 20 – 24; Günther, Prolegomena 26 f.  Misch, Geschichte 13: „Hinter allen geistigen Schöpfungen, in Philosophie oder Dichtung, Kunst oder Religion, selbst hinter den abstraktesten Begriffssysteme, findet unser Wirklichkeitssinn den Menschen.“  Vgl. Misch, Geschichte 14.  Vgl. Misch, Geschichte 13.  Ebd.  Dies hängt möglicherweise damit zusammen, dass sich die moderne Autobiographie (im Gefolge von Rosseaus Confessions) als ‚Tochter des psychologischen Romansʻ erweist,vgl. Glagau, Die moderne Selbstbiographie als historische Quelle, Marburg 1903, 5. Dies führt das heutige Lesepublikum zu einer entsprechenden Leseerwartung. Gegenüber antiken Texten ist diese Leseerwartung allerdings verfehlt.

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Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen

zunächst auf einen Brief beschränkt bleiben, denn die Selbst-Darstellung zusammen mit ihren zugehörigen personae findet nicht gleichsam im Vakuum statt; sie ist vielmehr von Paulus in einer bestimmten Abfassungssituation angesichts der besonderen Gegebenheiten und Geschehnisse in einer Gemeinde entwickelt worden.²⁹⁸ Im Herausarbeiten dieser am Text zu bestimmenden persona(e) sehe ich dann auch das Kerngeschäft einer historischen Kritik, die sich antiker Selbstzeugnisse annimmt. In diesem Zusammenhang darf bei Paulus’ autobiographischen Aussagen nie deren Tendenziösität außer Acht gelassen werden. Bereits 1966 mahnte Jack T. Sanders in einem Aufsatz über Gal 1 f zur Vorsicht im Umgang mit Paulus’ autobiographischen Angaben.²⁹⁹ Man dürfe sie nicht schwerer gewichten als die Angaben der Apg, nur weil sie aus erster Hand stammten. Auch die Selbstaussagen in 2Kor 10 – 13 könne man nicht von vorneherein als authentisch ansehen.³⁰⁰ Vielmehr müsse man fragen, in welchem Kontext der Apostel zu seinen Aussagen komme. Daher sei der angemessene Zugang zu Paulus’ autobiographischen Äußerungen, „to ascertain what point is being scored by Paul in his argumentation, and then to see how he makes ‚autobiographical‘ events underscore that point“³⁰¹. Paulus legt mit seinen Selbstzeugnissen somit nicht historisch, sondern vielmehr geschichtlich Rechenschaft ab, wobei ‚geschichtlichʻ in dem Sinne zu verstehen ist, dass die getroffenen Aussagen über sein damaliges Selbst im gegenwärtigen kommunikativen Kontext bedeutsam und d. h. geschichtlich wirksam werden.³⁰² Diese Arbeitsweise des Apostels lässt sich mit heutiger Begrifflichkeit als ‚Autofiktionʻ bezeichnen.³⁰³ In diesem Begriff wird die Grundbewegung der Autobiographik beschrieben, insofern Dichtung und Wahrheit stets die Pole sind,  Es gilt beides zu beachten: sowohl die Schreibsituation des Apostels als auch die Veranlassungssituation in der Gemeinde. Aus den Briefen lässt sich zwar leichter etwas über die Veranlassungssituation entnehmen (z. B. Streitereien in Korinth; Trauer über Todesfälle in Thessaloniki). Gleichwohl bestimmt auch die Schreibsituation des Apostels seine Briefe und trägt zu seiner Selbstdarstellung bei (z. B. Phil & Phlm: Gefangenschaft).  Vgl. J. T. Sanders, „Paul’s ‚Autobiographical‘ Statements in Gal 1– 2,“ in: JBL 85 (1966), 335 – 343.  Methodisch geht Sanders dabei so vor, dass er autobiographische Aussagen in den im Kampf um die Gemeinde geschriebenen Briefen Gal und 2Kor solchen aus dem vergleichsweise ruhigen 1Kor gegenüberstellt.  Sanders, „Statements“ 343.  Vgl. Sanders ebd. Im Englischen bestehe der Unterschied zwischen ‚historicalʻ und ‚historicʻ i.S.v. ‚significantʻ.  Vgl. Bormann, „Fiktionalität“ 113 – 117; Holdenried, Autobiographie 20. Zur neutestamentlichen Diskussion über literarische Fiktion vgl. E. Reinmuth, „Narratio und argumentatio – zur Auslegung der Jesus-Christus-Geschichte im Ersten Korintherbrief. Ein Beitrag zur mimetischen Kompetenz des Paulus,“ in: ZThK 92 (1995), 13 – 27 (14– 20).

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zwischen denen reflexive Selbstaussagen getroffen werden.³⁰⁴ Dies hängt allzumal mit der Funktionsweise des menschlichen Gehirns zusammen, da jeder Vorgang des Erinnerns die Gedächtnisspuren (Engramme) im Gehirn überschreibt und in einem konstruktiven Akt der Sinnstiftung aktualisiert.³⁰⁵ Neben diesem unbewussten Vorgang ist aber ebenso das Erinnern als eine willentliche, d. h. bewusste Verschleierung oder gar Verfälschung der eigenen Vergangenheit zu berücksichtigen.³⁰⁶ Hierbei mögen sogenannte literarische Fiktionalitätsindices als Hinweise auf einen nicht gegebenen Wahrheits- bzw. Wirklichkeitsgehalt dienen, wie sie auch Paulus offensichtlich gebraucht.³⁰⁷ Es wäre zu simpel und geisteswissenschaftlich auch nicht redlich, an autobiographische Schriften und eben auch an Paulus’ Selbstzeugnisse mit einem Denken, das allein in der Diastase der Kategorien ‚Lügeʻ und ‚Wahrheitʻ besteht, heranzugehen und historisch falsche Aussagen als gelogen abzuqualifizieren. Der Apostel schildert sein Leben in Vergangenheit und Gegenwart, wie es ihm in einer speziellen kommunikativen Situation sinnvoll erscheint. Insofern bleiben die Äußerungen des Paulus in ihrem jeweiligen Zusammenhang glaubhaft.

2.8 Zusammenfassung Paulus ist in seiner Umwelt eingebettet in eine Fülle von verschiedenen Formen der Selbstdarstellung. Gerade weil seine Schreiben an eine Öffentlichkeit gerichtet sind, lassen sie sich als autobiographisch im Sinne einer intentionalen Darstellung des Selbst verstehen. Sowohl auf jüdischer wie auch auf römisch-griechischer Seite gibt es vor und neben Paulus zahlreiche Belege Zeugnisse für Autobiographik, sei dies nun in der Form der Memoiren, der Rede, des Briefes oder des Gebets. Dabei bleibt das Genre der Selbstdarstellung nicht beschränkt auf die Apologetik, sondern hat sich bereits zur Beratung hin geöffnet; d. h. man kann das eigene Selbst oder vielmehr den eigenen Bios (Lebensstil) als Paradigma für andere empfehlen. Die Epideiktik hingegen blieb der Selbstdarstellung weitgehend verschlossen, da das positiv enkomiastische Reden über einen selbst verpönt war.³⁰⁸

 Vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie 1– 5.  Vgl. W. Singer, „Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für den Umgang mit der Geschichte,“ in: PTh 99 (2010), 330 – 342 (335 – 339).  Vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie 12 f.  Vgl. Bormann, „Fiktionalität“ 117– 120.  Eine negativ enkomiastische Redeweise schließt dies jedoch nicht aus, wie ich für die Selbstdarstellung in 1Kor 15 zeigen werde, s.u. Kapitel 12.

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Kapitel 1: Das Selbst und seine Darstellungen

Insgesamt lässt sich sagen: Insofern sich Paulus’ Selbstaussagen sowohl als Mittel der Darstellung eines bestimmten Selbst (persona bzw. personae) als auch vor dem Hintergrund seiner Zeit nach den rhetorischen genera einordnen und deuten lassen, kommen ihnen unterschiedliche Funktionen in der Kommunikation mit seinen Adressaten zu. Die Darstellung seiner übergreifenden rhetorischen persona fügt sich darin ein.

Kapitel 2: Wer spricht in den Paulusbriefen? 1 Das Problem Selbstaussagen geschehen sprachlogisch in der Regel in der 1. Person Singular. Abweichend von dieser Regel können autobiographische Aussagen auch in eine Erzählung in der 3. Person Singular verpackt werden.¹ Deutlich aber ist, dass das beschriebene handelnde Subjekt in der Einzahl auftritt, da es bei der Autobiographik bzw. der Selbstdarstellung schließlich um nur ein Leben geht, über das berichtet wird, bzw. nur um ein Selbst, das präsentiert wird. Nun findet sich in den Paulinen allerdings neben der singularischen des Öfteren auch die pluralische Sprechweise in der 1. Person, die nicht immer eindeutig auf eine tatsächliche Gruppe – sei es Autor und Adressaten, sei es Autor und eine andere Gruppe zusammenschließend – zu deuten ist. Man kann in solchen Fällen von einem ‚unlogischen Pluralʻ sprechen.² Als hervorstechendes Beispiel dafür sei Röm 1,5 genannt, wo Paulus als alleiniger Briefautor (1,1) offenbar im Plural davon spricht, die Beauftragung zum Apostel von Gott empfangen zu haben (δι’ οὗ ἐλάβομεν χάριν καὶ ἀποστολὴν).³

 Vgl.Wagner-Egelhaaf, Autobiographie 7. Dieses Kunstmittel verwendet wohl auch Paulus in 2 Kor 12,1– 4.  So tut es etwa H. Zilliacus, Selbstgefühl und Servilität. Studien zum unregelmäßigen Numerusgebrauch im Griechischen (Societas Scientiarum Fennica. Commentationes Humanarum Litterarum XVIII/3), Helsinki 1953, 8 und öfters, der das Adjektiv allerdings in Anführungszeichen setzt.  Gerade Röm 1,5 ist in der Forschung ein wesentlicher Ausgangspunkt für die Diskussion um die 1.P.Pl. bei Paulus gewesen (s.u.). In Röm 1,4 verwendet Paulus in der Formel τοῦ κυρίου ἡμῶν ein allgemein-christusgläubiges Wir, das aber wegen der Besonderheit des paulinischen Apostolats (vgl. etwa 1Kor 9,1 f; 12,29; 15,9) einer Gleichsetzung mit dem darauffolgenden Wir Schwierigkeiten bereitet. Eine Eingliederung Paulus’ in die Gesamtheit der Apostel, vgl. Th. Zahn, Der Brief des Paulus an die Römer (KNT 6), Leipzig 1910, 43 f, erscheint mangels eines weiteren (außer dem Übergang in den Plural) sprachlichen Signals unwahrscheinlich. Die Aussage Röm 1,5 aufzuspalten in den Empfang der Gnade (χάρις) für Paulus und alle Christusgläubige, des Apostolats (ἀποστολή) aber nur für Paulus, vgl. BDR § 280, erscheint gezwungen. Röm ist ein Brief, der Paulus der ihm fremden römischen Gemeinde empfehlen soll, was das kunstvolle und theologisch dichte Präskript bereits zeigt. Hierin gleich zu Beginn unscharf zu formulieren, entspräche nicht dem Anspruch des Paulus. M. Theobald, „Warum schrieb Paulus den Römerbrief?,“ in: ders., Studien zum Römerbrief (WUNT 136), Tübingen 2003, 2– 14 sieht als Zweck des Schreibens die „Eröffnung einer apostolischen Partnerschaft“ (a.a.O. 11). Kann aber Paulus einer ihm fremden Gemeinde einen derart gehobenen Status zuerkennen? Er selbst nennt sich in Röm 1,1 „berufener Apostel“, und auch die Römer bezeichnet er zwar als „berufen“ (v.6). Sonst sind bei Paulus aber Apostel (neben den Gemeindeaposteln: Phil 2,25; 2Kor 8,23) nur Menschen, die in einer ganz engen Beziehung zum Herrn stehen (Augenzeugen des Auferstandenen bzw. der ‚Urjüngerʻ-Kreis: 1Kor 9,1 f; DOI 10.1515/9783110498769-004

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Kapitel 2: Wer spricht in den Paulusbriefen?

Gerade für die Selbstdarstellung des Paulus in seiner Korrespondenz ist zu klären, wer eigentlich spricht: Können nur die singularischen Aussagen als genuin paulinische Aussagen gelten? Oder ist es ebenso legitim, darüber hinaus die im Plural gehaltenen Selbstaussagen heranzuziehen? Und wenn ja, in welchem Ausmaß? Stehen die pluralisch formulierten Sätze nach einer Art Pluralis maiestatis für Paulus selbst? Oder sind sie der Ausdruck einer Gruppe von christusgläubigen Missionaren, in der der Apostel als primus inter ceteros steht? In seiner Arbeit über die paulinische Autobiographie kommt auch George Lyons kurz auf dieses sprachliche Phänomen zu sprechen. Er zieht den Schluss: „It is impossible to account for every first person plural in Paul’s letters by appeal to some kind of genuine plural. The conclusion that ‚we‘, at least sometimes, means only ‚I‘ cannot be avoided“⁴. Lyons verweist dabei auf das Beispiel Ciceros, der in seinen Privatbriefen öfters zwischen der singularischen und pluralischen Sprechweise in der 1. Person wechselt.⁵ Mit seiner Folgerung stellt Lyons sich bewusst in eine lange Tradition der neutestamentlichen Forschung, die mit Karl Dick ihr exponiertes Sprachrohr, wenn nicht gar in dieser Form ihren Urheber hat.⁶

2 Ein Lösungsansatz – Karl Dicks „schriftstellerischer Plural“ In seiner Halleschen Inaugural-Dissertation von 1899 „Der schriftstellerische Plural bei Paulus“⁷ behandelt Dick eingehend die augenscheinlich pluralische und damit unlogische Sprechweise eines Individuums in der antiken Literatur. Dick bezeichnet dieses Phänomen als ‚schriftstellerischen Pluralʻ⁸. In seiner Untersuchung gelangt er im Hinblick auf Paulus zu der Annahme, der Apostel verwende gelegentlich den sog. ‚schriftstellerischen Pluralʻ, um auf sich selbst zu verweisen.⁹

15,7; Gal 1,17.19). Seinen eigenen Gemeinden – selbst der besonders geliebten in Philippi (Phil 2,25 nennt nur den Gemeindeapostel Epaphroditus) – versagt er solch einen Status, den er nun der römischen Gemeinde zuerkennt. Stehen die römischen Christusgläubigen so viel besser da oder ist Paulus’ Präskript nur eitle Schmeichelei?  Vgl. Lyons, Autobiography 15.  Dieser Verweis (Autobiography 16), der auch Flavius Josephus einschließt, erfolgt aber ohne jedwede Stellenangaben.  Lyons, Autobiography 15 bezeichnet Dicks Arbeit dann auch als „definitive“.  Ein Jahr später unter demselben Titel als Monographie veröffentlicht: Der schriftstellerische Plural bei Paulus, Halle a. d. Saale 1900.  Dick wählt diesen deutschen Ausdruck wohl als Wiedergabe des lateinischen Terminus Pluralis auctoris. Er erklärt nirgends, woher er diesen deutschen Ausdruck hat.  Vgl. Dick, Plural 3.

2 Ein Lösungsansatz – Karl Dicks „schriftstellerischer Plural“

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Dass ein einzelner Mensch von der singularischen Sprechweise über sich selbst in den Plural (und wieder zurück) wechselt, dabei offenbar aber weiterhin nur sich selbst meint, ist Dick zufolge ein aus der griechischen wie der lateinischen Literatur bekanntes sprachliches Phänomen und eine nicht ungewöhnliche Erscheinung im Altertum.¹⁰ Gerade in der „späten Gräcität“, was wohl die nachklassische Zeit meint, nehme der Gebrauch des ‚schriftstellerischen Pluralsʻ zu.¹¹ Zur Untermauerung seiner These verweist Dick auf Beispiele aus verschiedenen literarischen Gattungen. Als Kronzeuge jedoch für die Umgangssprache dient ihm (Pseudo‐)Plutarch,¹² der in seiner Schrift über das Leben und die Dichtkunst des Homer schreibt: „Es ist aber zu sehen, wie er [= Homer] auch, indem er die Zahlen vertauscht, den Plural anstelle des Singulars setzt, wie oft ἐν τῇ συνηθείᾳ, wenn jemand, der über sich selbst spricht, das Wort wie auf viele Dinge bezieht, wie darin: ‚Von den Dingen irgendwoher, Göttin Zeus-Tochter, sag auch uns!ʻ anstelle des mir.“¹³ Den Terminus ἐν τῇ συνηθείᾳ versteht Dick dabei als „dialectus vulgaris“,¹⁴ also als im Volk geläufige Redeweise. Um aber einen Vergleichspunkt für den Gebrauch des ‚schriftstellerischen Pluralsʻ bei Paulus zu erhalten, empfiehlt es sich für die vorliegende Arbeit, die sich mit brieflichen Selbstaussagen des Paulus befasst, vor allem antike Briefe als Vergleichsmaterial heranzuziehen. Auf den Wechsel des Personennumerus bei dem lateinischen Briefsteller Cicero hat Lyons erneut aufmerksam gemacht.¹⁵ Für

 Vgl. Dick, Plural 15 f. Der anonyme Autor des Hebräerbriefs verwende in 5,11; 6,1.3.9.11; 13,18 f.22 f wohl ebenfalls den Pluralis auctoris, vgl. Dick, Plural 24, ebenso BDR § 280,2.  Vgl. Dick, Plural 16 f.  Vgl. Dick, Plural 19.  Plutarch, De vita et poesie Homeri B 56: ἔστι δ’ἰδεῖν ὅπως καὶ τοὺς ἀριθμοὺς ἐναλλάσσων τὸν πληθυντικὸν ἀντὶ τοῦ ἑνικοῖ τίθησιν, ὡς πολλάκις ἐν τῇ συνηθείᾳ, εἴ τις περὶ ἑαυτοῦ λέγων ὡς ἐπὶ πολλῶν ἀναφέρει τὸν λόγον, ὡς ἐν τούτῳ „τῶν ἁμόθεν γε, θεὰ θύγατερ Διὸς, εἰπὲ καὶ ἡμῖν“(α’ 10) ἀντὶ τοῦ ἐμοί. (bei Dick im Original, oben meine eigene Übersetzung).  Vgl. Dick, Plural 19 Anm. 3.  Vgl. dazu auch R. S. Conway, „The Use of the Singular Nos in Cicero’s Letters,“ in: Transactions of the Cambridge Philological Society 5 (1904), 1– 79 und als allgemein verständlicher Vortrag ders., „The Inner Experience of Cicero,“ in: ders., New Studies of a Great Inheritance. Being Lectures on the Modern Worth of Some Ancient Writers, London 1921, 1– 17. Conway stellt in seiner Arbeit neun verschiedene Kategorien für den singularischen Gebrauch des Plurals auf, die mir allerdings im Vergleich mit Slottys Einteilung (s.u.) als zu formalistisch erscheinen. L. C. Purser, „Conway’s NOS in Cicero’s Letters (Rezension),“ in: ClR 14 (1900), 138 – 140 stellt Conways Hauptthese zutreffend so dar: „He [= Conway] says (p. 16) ‚Nos had come to be used by a speaker of himself alone when he thought not of the ego he was to his own consciousness, but of the person visible or admirable to his neighbours …in a word, of a personage‘ – in fact that it is a Pluralis Dignitatis or Fiduciae, not to say Adrogantiae“ (139). Conway nennt diesen Pluralgebrauch „‚self-projective,‘ or simply ‚projective‘“ (Conway, Use 17). Dieser Charakter der 1.P.Pl. wird sich im weiteren auch für die grie-

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die Griechen listet Dick nun Epikur auf.¹⁶ In den Papyri allerdings findet Dick keine Belege für diese von ihm behauptete umgangssprachliche Stilart des unlogischen Plurals, ein Umstand, der Dick selbst „stutzig“ macht, den er aber mit Verweis auf die ungebildete und unhellenische Sprache der ägyptischen Autoren für nichtig erklärt: Dies sei „hier ganz normal, da die Verfasser der Briefe fast durchweg Semiten sind, und diese Redeform dem Semitischen fremd ist“.¹⁷ Dick positioniert sich mit seiner Arbeit zwischen zwei Pole innerhalb der damaligen neutestamentlichen Exegese: Auf der einen Seite steht J. C. M. Laurent, der für die Thessalonicherbriefe die These aufstellte, dass Paulus, wenn er offenbar von sich im Plural schreibt, „im Gefühl seiner Amtswürde“ spreche; den Singular verwende er hingegen „so zu sagen privatim“.¹⁸ Auf der anderen Seite steht Theodor Zahn, der, ausgehend von den brieflichen Präskripten, in denen

chische Sprache erweisen (s.u.). Zum Gebrauch des unlogischen Plural der 1.P. bei Horaz, Vergil und Catull vgl. E. Hancock, „The Use of the Singular Nos by Horace,“ in: CQ 19 (1925), 43 – 55; E. H. W. Conway, „The Singular Nos in Vergil,“ in: CQ 15 (1921), 177– 182;W. S. Maguinness, „The Singular Use of Nos in Catullus,“ in: Mn. 7 (1938), 148 – 156; ders., „The Singular Use of NOS in Virgil,“ in: CQ 35 (1941), 127– 135. Maguiness spricht sich allerdings gegen R. S. Conways These einer Selbstvergrößerung des Sprechers durch die 1.P.Pl. (‚projective pluralʻ) aus und plädiert stattdessen für den traditionellen Pluralis modestiae. Dass Maguiness bei den Dichtern Catull und Vergil nur einen modesten Pluralgebrauch, aber keinen selbstvergrößernden entdeckt, scheint mir jedoch auch durch den Unterschied der literarischen Gattungen bedingt zu sein: Gedichte sind anders als Briefe, und ein Poet schreibt und spricht ander(e)s als ein Politiker.Vgl. zu der Problematik bereits Conway, Experience 5 im Hinblick auf Ovid als den römischen Dichter schlechthin: „[T]hat gay rhymester Ovid […] after all, was capable of anything in the matter of grammar – at least, anything that would scan.“  Den Schluss des Briefs Epikurs an seine Mutter, in welchem der Philosoph abwechselnd im Singular und im Plural schreibt, vgl. Dick, Plural 19 f. Dick schließt aus, dass mit dem Plural die Gruppe um Epikur gemeint sein könnte.  Dick, Plural 22, Hervorhebung im Original. Dick übersieht hier aber Stellen wie Gen 1,26 oder 3,22 zu erwähnen, wo Gott im Plural über sich selbst spricht. Freilich ist umstritten, ob hier ein Pluralis maiestatis vorliegt oder ein Plural, der sich auf den gesamten himmlischen Hofstaat bezieht.  Vgl. J. C. M. Laurent, „Der Pluralis maiestaticus in den Thessalonicherbriefen,“ in: ThStKr 41 (1868), 159 – 166 (Zitate: 159). Laurent nannte den unlogischen Plural noch ganz nach dem humanistischen Verständnis ‚Pluralis maiestatiticusʻ. Tatsächlich geht der Terminus Plularis maiestati(cu)s auf J. Reuchlin zurück, der den Plural einiger hebräischer Gottesbezeichnungen (z. B. ‫אלוהימ‬/elohim) mit dem Verweis auf die Majestät Gottes erklären wollte, vgl. P. Maas, „Studien zum poetischen Plural,“ in: ALLG 12 (1902), 479 – 550 (481). [Eine Einschränkung für die These Laurents ist der Umstand, dass Kaiser und Päpste den Pluralis maiestatis erst ab dem 5. Jahrhundert in ihren amtlichen Verlautbarungen verwenden, vgl. F. Slotty, „Der soziative und affektische Plural der ersten Person im Lateinischen,“ in: IGF 44 (1927), 264– 305 (279). Es erscheint doch recht unwahrscheinlich, dass der Apostel wenn nicht als Erfinder, dann doch als ausgiebiger Verwender dieser herrschaftlichen Sprechweise gelten sollte.]

2 Ein Lösungsansatz – Karl Dicks „schriftstellerischer Plural“

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Paulus einen oder mehrere Mitabsender nennt, die Gegenthese zu Laurent formulierte, der Apostel wolle in den Pluralen eben diese Mitabsender stets mitgemeint wissen. Über die Thessalonicherkorrespondenz hinausgehend kam Zahn zu einem globalen Urteil über die paulinischen Briefe: „[Es] ist zu behaupten, daß Pl an keiner einzigen Stelle seiner Briefe, am allerwenigsten Rm 1,5, jenes ‚Wirʻ = ‚Ichʻ anwendet. Da Pl 1Th 1,1; 2Th 1,1 Silvanus und Timotheus, die Mitstifter der Gemeinde, als Mitverfasser der Briefe einführt, so versteht sich von selbst, daß Pl, wenn er darauf nicht wie 1Kor 1,4; Gl 1,6; Phl 1,3 mit einem ‚Ichʻ, sondern mit einem ‚Wirʻ in den Brief selbst eintritt, damit sagen will, jene beiden seien mitbeteiligt an allem, was er in dieser Form vorträgt. Gilt das ohne Frage von den Danksagungen, womit beide Briefe anheben, so ist auch weiterhin keine Grenze zu ziehen, jenseits welcher das ‚Wirʻ zu einem ‚Ichʻ zusammengeschrumpft wäre.“¹⁹ Die von Paulus verwendeten Plurale sind Zahn zufolge also allesamt zunächst so zu verstehen, dass sie echte (und keine unlogischen) Plurale sind. Im Gegensatz zu diesen globalen, sich gegenseitig ausschließenden Ansätzen will Dick keine feste Regel für den Gebrauch des Plurals in den Apostelbriefen formulieren: „Es wird sich finden, […] dass der paulinische Gebrauch des ‚Wirʻ überhaupt nicht mit einer zusammenfassenden Formel zu umspannen ist, dass er nicht mechanisch, sondern psychologisch begriffen werden muss.“²⁰ Man müsse demnach je von Fall zu Fall sehen, wen Paulus gerade mit ‚Wirʻ, ‚unsʻ oder ‚unserʻ meine. Ein wichtiger psychologischer Grund für die pluralische Redeweise liege dabei in der Bescheidenheit des Sprechers bzw. Schreibers begründet.²¹ Über das gemeinschaftliche Wir beziehe ein Sprecher andere in seine eigenen Taten und Handlungen mit ein, was auf eine Art Selbst-Verbergen im ‚Wirʻ hinausläuft.²² Im Falle des Apostels sieht Dick ein doppeltes Moment in Bezug auf das Sprechen im Plural wirken: „Das eine ist, dass er sich allen seinen Genossen übergeordnet wusste und auch von seiner beruflichen Stellung abgesehen durch die Macht seiner Persönlichkeit der schlechthin tonangebende war; das andere, dass er nach der rücksichtsvollen Zartheit seines Empfindens seine Genossen möglichst als an seinen Arbeiten beteiligt einzuführen suchte. Aus dem letzteren Umstande begreift sich, dass er mündlich wie schriftlich sie an seine Seite stellt, aus dem ersteren, dass er der Sache nach so gut wie gar keine Rücksichten auf sie nimmt,

 Th. Zahn, Einleitung in das Neue Testament I, Leipzig 1897, 150.  Dick, Plural 35, Hervorhebung im Original.  Vgl. das entsprechende Zitat aus der Grammatik von Kühner-Gerth § 371,3 bei Dick, Plural 15.  Vgl. Dick, Plural 80. Dick räumt dabei ein, dass es durchaus Fälle gibt, in denen das Ich im Gegensatz zum Wir als Ausdruck von Bescheidenheit erscheint.

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Kapitel 2: Wer spricht in den Paulusbriefen?

sondern, wie es ja auch den thatsächlichen Verhältnissen entsprach, immer nur seine Gedanken und seine Entschlüsse es sind, mit denen er es zu thun hat.“²³ Auch wenn demzufolge Paulus trotz seiner ‚rücksichtsvollen Zartheitʻ alles andere als nachgiebig im Umgang mit seinen Mitarbeitern war, wurde dieses psychologische Argument Dicks im Weiteren von vielen Exegeten gerne aufgenommen, spiegelt sich in der Bescheidenheit doch eine christliche Kardinaltugend wieder, die gerne für Paulus als ‚Urchristenʻ par excellence in Anschlag gebracht wurde. So schreibt etwa Dobschütz über den unlogischen Plural bei Paulus im Anschluss an Dick: „Dies Wir heißt Ich, d. h. es ist rein schriftstellerisch. Es entspringt der Bescheidenheit, die die eigene Person nicht gern in den Vordergrund schiebt.“²⁴ Insofern könnte man, wenn man der These Dicks folgt, aber seine etwas unglückliche Nomenklatur umgehen will, von einem Pluralis modestiae oder Pluralis reverentiae²⁵ sprechen.

3 Kritik an Dick Die These eines ‚schriftstellerischenʻ Plurals bei Paulus im Anschluss an Dick ist von der theologischen Forschung weitestgehend und als maßgeblich übernommen worden.²⁶ Jedoch hat in jüngerer Zeit auch die Kritik an dem Verständnis des ‚schriftstellerischenʻ Plurals bei Paulus zugenommen. Zu ihren Vertretern gehören Samuel Byrskog²⁷ und Markus Müller²⁸. Während Byrskog dabei etwas ausglei-

 Dick, Plural 81, Hervorhebung im Original.  E. v. Dobschütz, „Wir und Ich bei Paulus,“ in: ZSTh 10 (1932), 251– 277 (Zitat: 255). Ähnlich und pathetischer E. Stauffer, „ἐγώ,“ in: ThWNT 2 (1935), 341– 360: „Es ist der Stil des feinen Mannes, der mit seiner Person und seinen Privatangelegenheiten möglichst im Hintergrunde bleiben will“ (354). Man kann an diesem Zitat beispielhaft die Perpetuierung von Meinungen als auch deren rhetorische Ausschmückung im Laufe der exegetischen Forschung sehr gut beobachten.  Die Bezeichnungen Pluralis modestiae bzw. reverentiae sind wohl erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommen, vgl. F. Slotty, „Der sogen. Pluralis modestiae,“ in: IGF 44 (1927), 155 – 190 (156 f). Zilliacus, „Selbstgefühl“ 11 bezeichnet nur unterwürfige und damit ‚ihrzendeʻ Plurale der 2.P. als Plurales reverentiae; sie bilden damit die dialogische Entsprechung zum Pluralis maiestatis der 1.P.Pl.  Vgl. etwa Zeller, Brief 184 (zu 1Kor 4,9 – 13); Conzelmann, Brief 318 Anm. 4 (zu 1Kor 15,30), ebenso Zeller, Brief 501 Anm. 274 („hauptsächlich“); H.-J. Klauck, 1. Korintherbrief. 2. Korintherbrief, Leipzig 1990, 140 f (zu 2Kor); F. Lang, Die Briefe an die Korinther (NTD 7), Göttingen/Zürich 1(16) 1986, 269 (zu 2Kor); H.W. Schmidt, Der Brief des Paulus an die Römer (ThHK 6), Berlin 21966, 20 (zu Röm 1,5; 3,7 f), ebenso Lohse, Brief 67 (nur 1,5); Wolff, Brief 193 f (zu 1Kor 9,10 f); ders., Brief II 10 f (zu 2Kor).  Vgl. S. Byrskog, „Co-Senders, Co-Authors and Paul’s Use of the First Person Plural,“ in: ZNW 87 (1996), 230 – 250.

3 Kritik an Dick

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chender ist, steht Müller ganz an der Seite Zahns und lehnt jede Form eines ‚schriftstellerischenʻ Plurals bei Paulus ab. Der Kritik an Dick möchte ich mich anschließen, ihr weitere Argumente an die Hand geben, dann aber auch zu einem eigenen differenzierten Urteil gelangen. Unbestritten ist dabei, dass es in vielen uns überlieferten griechischen Dokumenten wie auch in den Paulusbriefen einen Numeruswechsel aufseiten der redenden Person gibt. Dieser Wechsel will erklärt werden. Im Falle Laurents geschieht dies mit der Annahme des Stilmittels Pluralis maiestatis. Im Falle Zahns geschieht dies mit der Annahme eines Sprechens bzw. Schreibens im Kollektiv. Im Falle Dicks geschieht dies mit der Annahme eines ‚schriftstellerischenʻ Plurals auf Basis des Pluralis modestiae. Insofern ist im Folgenden auch zu prüfen, ob diese Annahmen in der griechischen Sprachgeschichte einen Anhalt haben.

3.1 Kritik am Terminus Zunächst erscheint der Terminus ‚schriftstellerischer Pluralʻ äußerst unglücklich gewählt.²⁹ Dies liegt daran, dass (doch auch bereits zu Zeiten Dicks) unter dem Begriff ‚Schriftstellerʻ ein Literat zu verstehen ist. Den ‚schriftstellerischenʻ Plural will Dick nun aber in Privatbriefen (Epikur an seine Mutter) nachweisen, die eben gerade nicht von Autoren in der Funktion als Schriftsteller verfasst wurden, sondern als nicht-öffentliche, familiäre Schreiben. Dick vermischt mit seiner Bezeichnung also die Genres (Schriftstellerei als hochliterarisches Werk vs. Privatschreiben) auf unzulässige Weise miteinander. Gleichermaßen erscheint es schwierig, den Terminus ‚schriftstellerischerʻ Plural bei einer Rede, also einem mündlich vorgetragenen – wenn nicht überhaupt zuallererst mündlich formulierten – Stück, anzuwenden; ein Redner ist nicht notwendigerweise auch ein Schriftsteller.³⁰

 Vgl. M. Müller, „Der sogenannte ‚schriftstellerische Pluralʻ – neu betrachtet. Zur Frage der Mitarbeiter als Mitverfasser der Paulusbriefe,“ in: BZ 42 (1998), 181– 201.  Bereits 1902 plädiert A. Deissmann, „Die Sprache der griechischen Bibel,“ in:ThR 5 (1902), 58 – 69 dafür, den Terminus „wohl besser durch einen anderen zu ersetzen“ (65), bringt aber keine Begründung für diese Meinung. Dick bringt keine Erklärung, wie er zu seinem Terminus gekommen ist; vermutlich liegt ihm aber eine (recht einseitige) Übersetzung des lateinischen Kunstbegriffs Pluralis auctoris zugrunde.  Auch gibt die Sprachwissenschaft eine andere Definition als Dick. So versteht z. B. Zilliacus, Selbstgefühl 18 unter dem schriftstellerischen Plural „den Versuch, das eigene Ich mit einem grösseren Rückhalt zu stützen“ in moderierender Absicht. Das kommt bei Paulus durchaus vor, z. B. Röm 2,2; 3,8.9.28; 4,1; 5,1.8; 6,1.3 – 9; 7,4– 6.14; 8,4.22 ff; 15,1, wobei einige der Formulierungen sicherlich unter dem Einfluss der ‚Diatribeʻ stehen, vgl. Bultmann, Stil 67. Unbenommen bei diesen

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Kapitel 2: Wer spricht in den Paulusbriefen?

Jedoch sind auch andere Bezeichnungen für den unlogischen Plural nicht gelungen. Der Vorschlag ‚poetischer Pluralʻ³¹ ist ebenfalls unpassend, da damit nur die Erscheinung innerhalb der Dichtersprache abgedeckt wird. Daneben tauchen in der Literatur noch auf:³² ‚apostolic pluralʻ, ,author’s pluralʻ, ,editorial pluralʻ, ,epistolary pluralʻ, ,writer’s pluralʻ. Bei dieser Fülle von Vorschlägen, die allesamt in irgendeiner Weise zu verengend sind, erscheint es doch angebrachter (wenn auch zweifelsohne unromantischer), mit Henrikus Zilliacus³³ zunächst bei der Beschreibung des Phänomens einfach von einem ‚unlogischen Pluralʻ zu sprechen.Will man von einer Eindeutschung des Terminus ‚Pluralis auctorisʻ nicht lassen, übersetze man diese Klassifizierung am besten mit ‚Plural des Wortführersʻ. Tatsächlich muss man dann aber auch die Konfusion durchbrechen, die offensichtlich gegenüber dem Phänomen des unlogischen Plurals und der Verwendung des Begriffs Pluralis auctoris herrscht. Ein Pluralis auctoris, also der Plural des Wortführers, liegt dann vor, wenn der Wortführer (aus welchem Grund auch immer) von der 1.P.Sg. in die 1.P.Pl. wechselt und dadurch seine Zuhörer oder Leser in seine Gedanken und Handlungen direkt hinein nimmt und einbezieht. Unlogisch ist der Plural dann, wenn das ausgesprochene ‚Wirʻ (bzw. ‚unsʻ oder ‚unserʻ) nicht auf eine Gruppe gedeutet werden, sondern nur den doch eigentlich singularischen Sprecher selbst meinen kann.

3.2 Kritik an der Psychologisierung Weiterhin muss das psychologische Argument Dicks hinterfragt werden. Woher nimmt Dick seine Überzeugung, dass Paulus über eine ‚rücksichtsvolle Zartheitʻ verfügte? Woher weiß er, dass Paulus nicht bloß schriftlich, sondern auch mündlich (!) seine Mitarbeiter an seine Seite stellt? Es erscheint mir, dass Dick hier seine eigenen, allein durch die romantisierende Sprache bereits verdächtigen Vorstellungen in Paulus hineinliest. Der Einfluss, den Dick mit seiner psychologisierenden Begründung des unlogischen Plurals auf die theologische Exegese hatte, ist oben bereits angespro-

Formulierungen ist aber der soziative Hintergrund, der die einfache und eben unlogische Gleichung von Wir = Ich ausschließt.  Eingeführt von Maas, Studien 480: „‚[P]oetischʻ ist ein Plural in der Dichtersprache dann, wenn die Prosa in demselben Fall den Singular gefordert hätte“.  Vgl. Byrskog, „Co-Senders“ 230 Anm. 3. Leider bringt Byrskog keine Stellenangaben dazu.  Vgl. ders., Selbstgefühl 8.

3 Kritik an Dick

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chen worden. Doch stimmt diese Prämisse überhaupt? Ist der unlogische Plural bzw. der Pluralis auctoris mit dem Pluralis modestiae gleichzusetzen? In einer Reihe von linguistisch umsichtigen Aufsätzen von der Warte der Indogermanistik aus hat Friedrich Slotty bereits 1927/28 plausibel gemacht, dass der sogenannte ‚Pluralis modestiaeʻ wohl eher eine Fiktion bzw. Projektion der Sprachforschung ist:³⁴ Der Anspruch, bescheiden sein bzw. so wirken zu wollen, ist weder in den modernen noch den alten Sprachen die Triebfeder, beim Sprechen vom Singular in den Plural zu wechseln. Vielmehr drückt sich im pluralischen Sprechen immer ein Gemeinschaftsgedanke aus, der das sprechende Individuum mit einem anderen Individuum und/oder einer anderen Gruppe zusammenschließt.³⁵ Im Hintergrund der pluralischen Sprechweise steht ein kollektives Denken, weshalb Slotty den sogenannten ‚Pluralis modestiaeʻ in ‚Pluralis sociativusʻ umzubenennen vorschlägt.³⁶ Dieser Plural ist offensichtlich allen indogermanischen Sprachen gemeinsam;³⁷ das Lateinische wie auch das Griechische bilden in dieser Hinsicht also keine Ausnahmen. Da Paulus seine Briefe auf Griechisch verfasst hat, lohnt sich ein Blick auf Plutarch, den vielseitigen griechischen Schriftsteller und ungefähren Zeitgenossen des Apostels, um etwas über das natürliche hellenische Sprachgefühl bezüglich des Plurals zu erfahren. Eine Anekdote aus Plutarchs Jugendzeit (mor. 816 D–E³⁸) verschafft dahingehend Aufklärung:³⁹ Als Plutarch von einer Mission zum römischen Prokonsul heimkehrte, auf die er eigentlich mit einem weiteren Gesandten gehen sollte, der dann aber verhindert war, riet ihm sein Vater, in dem Besuchsbericht vor dem Rat nicht zu sagen: „Ich war fort“ (ᾠχόμην) und „Ich habe

 Zu dem gleichen Ergebnis in bezug auf Cicero war ja schon 1904 Conway als Latinist gekommen (s.o. Anm. 15).  Vgl. Slotty, „Pluralis“ 159 f.  Vgl. Slotty, „Pluralis“ 185. Zilliacus, Selbstgefühl 11 hält es allerdings lediglich für eine „Geschmacksache, ob man diesen Plural soziativ oder modest nennt“. Dieses Urteil kann ich nicht nachvollziehen, zumal Zilliacus selbst den Pluralis modestiae als Unterkategorie des soziativen Plurals begreift (vgl. ebd.). Im Endeffekt beugt er sich damit also Slottys Kategorisierung. Infolge seiner Annahme findet Zilliacus im klassischen griechischen Drama auch viele Beispiele für den Pluralis modestiae, der von Angehörigen sozial niedergestellter Gruppen verwendet wird, so von Frauen, Bedürftigen, Kindern gegenüber ihren Eltern, vgl. a.a.O. 24– 26. Gleichwohl hält Zilliacus es für unwahrscheinlich, dass dieser Sprachgebrauch auch in die Umgangssprache eingeflossen ist, da dies ansonsten Spuren in der Komödiensprache hinterlassen hätte, was nicht der Fall ist, vgl. a.a.O. 32.  Vgl. Slotty, „Die Stellung des Griechischen und anderer idg. Sprachen zu dem soziativen und affektischen Gebrauch des Plurals der ersten Person,“ in: IGF 45 (1927), 348 – 363 (362 f).  Aus der Schrift über die politischen Vorschriften (Πολιτικὰ παραγγέλματα / Praecepta gerendae reipublicae).  Vgl. Slotty, „Stellung“ 348 f. Ebenso angeführt bei Zilliacus, Selbstgefühl 44 f.

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Kapitel 2: Wer spricht in den Paulusbriefen?

gesprochen“ (εἶπον), sondern: „Wir waren fort“ (ᾠχόμεθα) und „Wir haben gesprochen“ (εἴπομεν). Dieser väterliche Rat sollte, indem Plutarch den verhinderten Weggefährten freundlicherweise in seinen Tatenbericht mit einbezog, sowohl Missgunst ausräumen als auch Menschenliebe ausdrücken. Hieran zeigt sich, dass im alltäglichen Griechisch die Bedeutung eines Wechsels zwischen den Numeri durchaus bekannt war. Tatsächlich wird der Plural in dieser Anekdote als höflich und modest verstanden, aber nicht weil Plutarch damit auf sich als einzelnen Sprecher verwiesen hätte, sondern nur aus dem Grunde, weil er jemand Anderen und wirklich Existierenden in diesen Plural einbezieht, und dazu noch jemanden, der gar nicht selber am Geschehen beteiligt war! Insofern ist hier der logische (wenngleich erlogene) Plural ein Pluralis modestiae, nicht der unlogische.⁴⁰ Für seine Untersuchung unterscheidet Slotty zwischen vier verschiedenen Weisen des pluralischen Sprechens und unterteilt sie in Gruppen.⁴¹ Die erste Gruppe⁴² bildet sich aus echten, logischen Pluralen: Hier spricht eindeutig eine Größe, die aus einem Ich und einem anderen Ich und/oder einer weiteren Gruppe besteht. Bei der zweiten Gruppe ist dieses Sprecherkollektiv nicht klar erkennbar, aber aus dem Sachverhalt relativ leicht zu erschließen, zumal für diese Gruppe „die Nebenvorstellung der Gemeinschaft und der Gefühlston der Kameradschaftlichkeit,Vertraulichkeit, Güte, Freundlichkeit u. ä. ausschlaggebend“⁴³ sind. Bei der dritten Gruppe tritt das sprechende Kollektiv als klar zuzuordnende Größe „in dem Sachverhalt ganz zurück“⁴⁴. Damit ist auch der ‚Pluralis auctorisʻ, also der Plural des Wortführers, unter den Plural des Gemeinschaftsgefühls zu fassen, bezieht er doch den oder die Hörer oder Leser in das Geschehen und in die seelische oder geistige Verbundenheit mit dem Sprecher bzw. Autoren mit ein.⁴⁵ Dies geschieht sowohl in einer inkludierenden Wendung nach der zweiten Gruppe wie:

 Für Slotty wie für Zilliacus ist diese Anekdote allerdings ein Beleg für die Volkstümlichkeit des unlogischen Plurals. Diese Lesart teile ich nicht. Es geht Plutarchs Vater hier doch darum, mittels eines höflichen echten Plurals, der freilich einer frommen Lüge entspringt, das Aufkommen von Neid und Missgunst innerhalb der Beamtenschaft zu unterbinden. Der Rat des Vaters an Plutarch besteht ja neben der pluralischen Redeweise darin, „bei allen anderen Dingen den Partner/Kollegen in dieser Weise auch als Teilnehmer zu melden“ (καὶ τἄλλα συνεφαπτόμενον οὕτω καὶ κοινούμενον ἀπαγγέλλειν, 816D). Plutarch will in diesem Abschnitt die Wichtigkeit eines guten partnerschaftlichen Verhältnisses unter Kollegen aufzeigen, oder wie er es ausdrückt: „Die Ehre eines Amtes liegt in der Eintracht und Freundschaft zu den Mitbeamten/Kollegen.“ (τιμὴ δ’ ἀρχῆς ὁμοφροσύνη καὶ φιλία πρὸς συνάρχοντας: 816B).  Vgl. Slotty, „Pluralis“ 162.  Vgl. Slotty, „Pluralis“ 162– 167.  Slotty, „Pluralis“ 170.  Slotty, „Pluralis“ 162.  Vgl. Slotty, „Pluralis“ 167.170.174 f.

3 Kritik an Dick

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„Wir haben in der letzten Stunde gesehen…“ als auch in einer unechten (bzw. unlogischen) pluralischen Wendung nach der dritten Gruppe wie: „Wir haben in der letzten Stunde gezeigt…“ In dem letzteren Fall wird durch den Plural zwar nicht eine Aktivität der im ‚Wirʻ mit-gemeinten Gruppe ausgedrückt, ⁴⁶ sehr wohl aber die „seelische Anteilnahme“⁴⁷ des bei dieser Aktivität passiveren Teils der Wir-Gruppe, was wiederum Sprecher und Angesprochene zu einer Gemeinschaft zusammenschließt.⁴⁸ Dennoch räumt Slotty mit der vierten Weise des pluralischen Sprechens die Möglichkeit ein, dass ein Sprecher ohne Bezug auf eine Gruppe von sich in der Mehrzahl reden kann. Diese Redeweise stellt aber die Ausnahme von der Regel dar.⁴⁹ Nach Slotty findet sie im Affekt statt, weshalb er sie mit ‚Pluralis affectusʻ bezeichnet.⁵⁰ Als Affekte nennt Slotty Stolz⁵¹, Zorn⁵² und leidenschaftliche erotische Liebe, die mitunter in Verzweiflung und Eifersucht übergehen kann.⁵³ Durch ihre Affekthaftigkeit geschehen diese pluralischen Äußerungen abrupt⁵⁴ und im Wechsel mit der regulären singularischen Sprechweise.⁵⁵ Es kann im Griechischen, aber auch sonst zu einem schnellen Wechsel der Numeri kommen, wenn der soziative Hintergrund entsprechend gegeben ist.⁵⁶

 Das Beispiel aus dem Ersten Weltkrieg, das Slotty, Stellung 352 dazu gibt, lässt sich ohne weiteres durch eines aus dem heutigen Leben ersetzen, so etwa, als deutsche Fußballfans im Sommer 2014 nach dem in Brasilien stattfindenden Finalspiel zuhause jubelten: „Wir haben die Argentinier besiegt.“ Die seelische Anteilnahme, nicht aber eine tatsächliche Aktion bestimmt den Gebrauch des Plurals.  F. Slotty, „Der soziative und affektische Gebrauch des Plurals der ersten Person und das Subjektspronomen im Lateinischen,“ in: Glotta 16 (1927/28), 253 – 274 (Zitat: 253).  Dass das Ganze dann (auf uns Heutige) modest wirken kann, bestreitet Slotty gar nicht, vgl. ders., „Gebrauch“ 253 f. Die (mögliche) Wirkung ist aber nicht mit der Veranlassung zu verwechseln.  Conway, Use 12 errechnet für Cicero ein Verhältnis von 1:30 von unlogischem Wir zu logischem Ich.  Vgl. Slotty, „Pluralis“ 185 f.  Vgl. Slotty „Pluralis“ 186 und „Plural“ 281 (von Nero), 283 f (von Germanicus und einem SejanAnhänger) und „Stellung“ 360 (von Aias).  Vgl. Slotty, „Stellung“ 360.  Vgl. Slotty, „Plural“ 298 – 305 (von Catull gegenüber Lesbia/Clodia und Juventius).  Inwieweit man bei literarischer Produktion von Abruptheit sprechen kann, muss allerdings fraglich bleiben, war doch gerade in der Antike das Aufschreiben von Texten eine äußerst zeitaufwändige Tätigkeit, vgl. etwa Roller, Formular 4– 14. Die Bezeichnung Pluralis affectus halte ich dennoch für gerechtfertigt, insofern darin die Motivation zum Gebrauch des unlogischen Plurals zum Ausdruck kommt.  Vgl. Slotty, „Stellung“ 360.  Vgl. Slotty, „Stellung“ 354– 357.

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Kapitel 2: Wer spricht in den Paulusbriefen?

Sicherlich gibt es in der griechischen Sprache auch den Pluralis maiestatis, also den unlogischen Plural, der von einem Herrscher gegenüber seinen Untergebenen gebraucht wird. Sprachgeschichtlich ist der majestätische Plural eine recht späte Bildung: Erst im hellenistischen Zeitalter taucht der Pluralis maiestatis in Königsbriefen auf. Der Pluralis maiestatis ist dabei aber nicht aus dem Pluralis affectus hervorgegangen,⁵⁷ sondern hat sich aus dem Pluralis sociativus entwickelt: Nach dem Zusammenbruch der Polisstaaten und dem Aufstieg einzelner Monarchen lag die ehemals gemeinschaftlich von der Volksversammlung ausgeübte Staatsgewalt nun in der Hand eines Einzelnen. Der Gedanke an eine kollektive Staatsautorität blieb aber weiter erhalten und hat sich in königlichen Beschlüssen sprachlich in der 1.P.Pl. niedergeschlagen.⁵⁸ Freilich war der hellenistische Pluralis maiestatis „im grossen und ganzen eine isolierte Erscheinung“⁵⁹, der erst wieder in der späteren Kaiserzeit Einzug in die lateinische Sprache hält.⁶⁰ Vorherrschend bleibt im Denken, Sprechen und Schreiben der Menschen der soziative Plural.⁶¹ Trotz des kurzen Zwischenspiels des Pluralis maiestatis in der griechischen Sprachgeschichte machen Slottys umfassende Untersuchungen sehr wahrscheinlich, dass ein ‚schriftstellerischer Pluralʻ sowohl im Sinne eines Pluralis modestiae als auch im Sinne einer generellen, sich durchziehenden Erscheinung

 Zwar erfüllt auch der Pluralis affectus die Kriterien des Pluralis maiestatis, insofern er „Pondus und Autorität des eigenen Ich zu steigern und hervorzuheben“ (Zilliacus, Selbstgefühl 12) sucht. Gerade der von Slotty angeführte Affekt des Stolzes geht deutlich in diese Richtung. Und auch die anderen von ihm benannten Affekte Zorn und Begehren zielen darauf, sich selbst gegenüber anderen durchzusetzen. Allerdings hat das antike Sprachgefühl die Redeweise in der 1.P.Pl. eben nicht als majestätisch, sondern als soziativ bzw. – insofern im Plural auch andere Beteiligte in logischer Weise mitgemeint waren (s. Plutarch) – als modest empfunden (a.a.O. 44 f).  Vgl. Zilliacus, Selbstgefühl 43.  Zilliacus, Selbstgefühl 43. Das gleiche Urteil gilt dann auch für den Pluralis reverentiae, vgl. a.a.O. 53, also die Anrede eines Individuums mit der 2.P.Pl. Sie entwickelt sich erst in spätrömischer Zeit aus dem unbestimmten Pluralis sociativus privater Familienbriefe; das Kollektiv der Familie gibt dann die pluralische Anrede an Einzelpersonen wie Vater oder Mutter vor, vgl. a.a.O. 56.  Vgl. Zilliacus, Selbstgefühl 53.  Tatsächlich kann man die Plurale in den bei W. Schubart, „Bemerkungen zum Stile hellenistischer Königsbriefe,“ in: APF 6 (1920), 324– 347 gegebenen Beispielbriefen zum großen Teil als logische Plurale soziativen Typs verstehen, auch wenn er meint (328): „[E]benso wenig lege man Wert auf den Wechsel von Singular und Plural in der Bezeichnung des Königs, wenn es auch gerade hier [= Inschriften von Milet ΙII Nr. 139 = Welles Nr. 14] besonders bunt durcheinander geht: ἔποιουμην mit διδοὺς und ἐπιμελόμενος [sic], πατερά τὸν ἡμέτερον, πρὸς ἡμᾶς, μοι, πρὸς ἡμᾶς, ἐπαινοῦμεν, πειρασόμεθα, παρακαλοῦμεν, πρὸς ἡμᾶς, συντετάχαμεν, παρ’ ἡμῶν; auch diese Regellosigkeit findet man häufig.“

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als Ersatz für einen Selbstverweis im Singular im allgemeinen griechischen Sprachgefühl nicht existiert hat. Gegen die Annahme von Modestie beim griechischen unlogischen Pluralgebrauch spricht auch das Zeugnis des Stilkritikers Ps.-Longinοs, der wohl ein Zeitgenosse des Apostels war.⁶² In seiner Schrift ‚Vom Erhabenenʻ (περὶ ὕψους/De sublimitate) schreibt er über die Vertauschung der Numeri: „Es gibt Fälle, wo der Plural großrednerischer auftritt und schon durch die Masse der Zahl um Beliebtheit wirbt.“ (ἔσθ’ ὅπου προσπίπτει τὰ πληθυντικὰ μεγαλορρημονέστερα καὶ αὐτῷ δοξοκοποῦντα τῷ ὄχλῳ τοῦ ἀριθμοῦ, 23,2) Allerdings sei das nur schicklich, wenn der Redestoff „eine Vergrößerung oder Vermehrung oder Übertreibung oder Pathos“ (αὔξησιν ἢ πληθὺν ἢ ὑπερβολὴν ἢ πάθος, 23,4) zulässt. Generell gelte über den Wechsel vom Singular in den Plural: „Wo nämlich die Wörter im Singular stehen, ist ihr Versetzen in den Plural wider Erwarten leidenschaftlich“ (ὅπου τε γὰρ ἑνικὰ ὑπάρχει τὰ ὀνόματα, τὸ πολλὰ ποιεῖν αὐτὰ παρὰ δόξαν ἐμπαθοῦς, 24,2).⁶³ Zugegebenermaßen spricht Longinos hier nicht über den verbalen Gebrauch des Plurals. Allerdings lässt sich seinen Bemerkungen ohne weiteres entnehmen, dass der Plural allgemein seiner Natur nach bei den Griechen (gerade zu Paulus’ Zeiten) für Größe und Erhabenheit und nicht für Bescheidenheit stand. Gerade deshalb sprechen vor allem die ptolemäischen Herrscher im Plural von sich, spiegelt dies doch das von ihnen avisierte Ideal der τρυφή („Schwelgerei/Prunk“)⁶⁴ auf sprachlicher Ebene wider. Das Motiv der Selbstvergrößerung scheint mir auch der Grund zu sein, warum sozial Marginalisierte in der griechischen Tragödie von sich in der Mehrzahl sprechen: Nur indem sie sich quasi selbst vergrößerten, konnten (und durften?) sie sich gegenüber Höhergestellten zu Gehör bringen. Dies kann man möglicherweise noch in Joh 20,2 erkennen, wo Maria gegenüber ihren Höhergestellten Simon Petrus und dem sog. Lieblingsjünger den Plural gebraucht (οἴδαμεν). Den Engeln im Grab und dem vermeintlichen Gärtner gegenüber aber spricht sie im Singular (v.13: οἶδα; v.15: εἰπέ μοι … κἀγὼ αὐτὸν ἀρῶ), weil diese als Untergeordnete⁶⁵ zu ihrem Stand gehören. Nicht Modestie, sondern Selbst-

 Vgl. H. Blume, „Ps. Longinos,“ in: KP 3 (1969), 733 – 734.  Dies macht auch Conway, Experience 6 mit seiner pathetischen Beschreibung des Pluralgebrauchs bei Cicero deutlich: „To call myself WE is to put myself on a pedestal and gaze at the result. ‚WE‘ is the person I exhibit to my neighbours, the man to whom, as I imagine, they look up with respect or admiration. Ego hopes and fears and blushes unseen; the magnificent WE plays a part on the world’s stage; saves the country, leads the Senate, writes books, builds a great house with gardens and statues, keeps an excellent balance at the bank; and when my letter to a friend touches on such matters WE is forthwith called to the front and marches over the page with appropriate dignity.“  Vgl. dazu etwa S. L. Ager, „The Power of Excess: Royal Incest and the Ptolemaic Dynasty,“ in: Anthropologica 48 (2006), 165 – 186 (177 f).  Engel gehören zwar der göttlichen Sphäre an, stellen aber ganz dem Wortsinn ihrer Bezeichnung nach tatsächlich nur Boten dar, die als solche nicht über den Menschen stehen (vgl. etwa 1Kor 6,3). Zum untergeordneten Status der Engel im Judentum vgl. G. Kittel, „ἄγγελος κτλ. C– D,“ in:ThWNT 1 (1933), 79 – 87 (81). Auch wenn in Joh 20 die beiden Engel als in Weiß gekleidet und damit als besondere Wesen dargestellt sind, fehlt hier aufseiten Marias gegenüber den anderen Auferstehungsgeschichten (Mt 28,4 f; Mk 16,5 f; Lk 24,5) wie überhaupt auch anderen Angelophanien das Element der (Ehr‐)Furcht gegenüber den Gottesboten.

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vergrößerung evoziert also die 1.P.Pl.⁶⁶ Wenn Longinos selbst die 1.P.Pl. verwendet, tut er dies entweder ganz soziativ (z. B. De subl 1,1) oder affektativ (bzw. mit seinen Worten: pathetisch), um mit nicht geringem Stolz auf sich selbst zu zeigen (z. B. 1,2).

Wenn ein Numeruswechsel vom Singular in den Plural stattfindet, dann ist er in der Regel soziativ, ganz selten nur affektativ im Sinne des Stolzes und der Selbstvergrößerung begründet. Gerade das ist doch wohl auch der Grund dafür, dass Dick keinen Beleg für seinen ‚schriftstellerischen Pluralʻ aus den Papyri anführen kann.⁶⁷ In der griechischen Umgangssprache war dieses unlogische Sprechen einfach nicht geläufig.⁶⁸ Überhaupt ist auch der Hinweis Dicks auf die semitische Abstammung der Papyrusbriefverfasser und den daraus resultierenden Nicht-Gebrauch eines ‚schriftstellerischenʻ Plurals nicht schlüssig, da dann Paulus selbst, der sich stets zu seinem Jude-Sein bekannt hat (Gal 1,13 f; Phil 3,5; 2Kor 11,22), ebenfalls sozusagen ‚von Haus ausʻ diesen Plural nicht verwendet hätte, was Dick ja gerade bestreitet.⁶⁹

 Der Begriff Pluralis modestiae sollte auch deswegen vermieden werden, weil Bescheidenheit eine (mehr oder minder freie) psychologische Bewegung darstellt, die als solche erst seit der Neuzeit Sinn ergibt; für die Antike hingegen entspricht die pluralische Redeweise einer niedergestellten Person ihrem sozialen Status, ohne dass ihr eine freie Entscheidung zugrunde läge.  Zwar nennt E. Mayser, Grammatik der griechischen Papyri aus der Ptolemäaerzeit mit Einschluss der gleichzeitigen Ostraka und der in Ägypten verfassten Inschriften (II/1 Satzlehre. Analytischer Teil), Berlin/ Leipzig 1926, 41– 43 (fast 30 Jahre nach Dicks Diktum) mehrere Fälle, in denen sich in Papyri 1.P. Singular und Plural abwechseln. Jedoch sind bei einigen Papyri die Präskripte weggebrochen, so dass nichts über die Anzahl des Autors bzw. der Autoren bekannt ist. Zudem vermutet auch Mayser bei vielen der angeführten Stellen Begleiter oder gar eine Kanzlei auf der Absenderseite, was auf den Gebrauch eines Pluralis sociativus hinausläuft.  Die Papyri-Belege aus ptolemäischer Zeit (bei Witkowski, Epistulae), die Zilliacus, Selbstgefühl 45 f anführt, schwanken zwar oft im Numerusgebrauch, erlauben aber keinen Rückschluss auf einen unlogischen Plural. Vielmehr lassen sich die zunächst irritierenden Plurale als soziativ deuten (gerade bei Familienbriefen, über deren Hintergrund wir wenig wissen) oder aber auch als Anakoluthe (Griechisch als Fremdsprache im ptolemäischen Ägypten). Für die Ptolemäerzeit schließt Zilliacus, a.a.O. 47: „Der soziative Plural scheint nunmehr völlig idomatisch [sic!] zu sein, und zwar in allen sozialen Schichten. Es sagt sich von selbst, dass er auch im Briefwechsel offizielleren Charakters auftritt […].“ Für die griechischen Papyrusbriefe aus römischer Zeit bemerkt er (a.a.O. 52): „[Die] Verwendung [des soziativen Plurals der 1. Person] ist für lange Zeit ein Konstantes geworden […].“ Erst für das 3. christliche Jahrhundert lässt sich eine Häufung des Pluralis reverentiae, also der Anrede eines Individuums in der 2.P.Pl., bemerken, vgl. a.a.O. 55, die dann auch möglicherweise eine Rückwirkung auf das pluralische Sprechen in der 1.P. hätte. Es gilt: „Vor dem [5. Jahrhundert] dürfte es kaum nachzuweisen sein, dass ein höherer Beamter von Untertanen oder Klienten mit einem ὑμεῖς angeredet worden wäre.“ (a.a.O. 56).  Hinzu kommt der Umstand, dass das, was Dick in den Papyri als ‚semitischʻ bezeichnet, doch vielmehr koptisch-mazedonischer Herkunft ist, vgl. Roller, Formular 578 Anm. 477.

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3.3 Kritik an den Belegen Die vielen Belege, die Dick aus der griechischen Literatur anführt, sind in einem Aufsatz von Markus Müller einer kritischen Prüfung unterzogen worden.⁷⁰ Müller erkennt in einer Vielzahl der Belegstellen soziative Plurale.⁷¹ Auch wenn Müller freilich von Slotty keine Kenntnis genommen hat, kann man diese Plurale nach dessen Kategorisierung in die drei bekannten Gruppen einteilen.⁷² Der Beleg aus Epikurs Brief an die Mutter wird von Müller mangels überlieferten Briefformulars stark in Zweifel gezogen.⁷³ Alle anderen Belege werden aufgrund ihres im Vergleich zu den Paulinen späten Datums zu Recht als irrelevante Zeugen abgewiesen. Allerdings scheint der von Dick angeführte Beleg aus Pseudo-Plutarch, Vita Homeri (B 56), der den Gebrauch des Numeruswechsels in der Umgangssprache aussagen soll, zunächst ziemlich schlagend.⁷⁴ Jedoch bedient sich Dick hierbei eines linguistischen Tricks: Das fragliche Wort für ‚Umgangsspracheʻ, συνήθεια, muss eben nicht derart übersetzt werden. Aus dem NT ist συνήθεια bekannt als ‚Gewohnheitʻ (Joh 18,39; 1Kor 8,7; 11,16), wobei hier zwischen subjektiver Gewohnheit und objektiver Gewohnheit (= Gepflogenheit, Brauch) unterschieden werden muss.⁷⁵ Demzufolge verstehe ich die Pseudo-Plutarch-Stelle als ein Beispiel für die subjektive Gewohnheit, in diesem Fall des Homer selbst, der ja Thema der gesamten (pseudo‐)plutarchischen Schrift ist, zuweilen statt der 1.P.Sg. den unlogischen Plural der 1.P. zu setzen.⁷⁶ Sein Sprachgebrauch ist es, der ungewöhnlich für den späteren Leser ist, was ja schließlich überhaupt der Anlass für Pseudo-Plutarchs Schrift ist. Die Aussage ὡς πολλάκις ἐν τῇ συνηθείᾳ bezieht sich

 Vgl. Müller, „Plural“ 181– 201.  Vgl. Müller, „Plural“ 184– 186. Die Belege sind im einzelnen aus: Philostr.vit.Ap. 7,19 – 22; Lukian, Skythes 4 (340); Flav.Jos.Vita 10.27.83.122.216.  Gruppe 1 für Philostratos, Gruppe 2 für Lukian und Gruppe 3 für Josephus.  Dennoch kann sich Müller, „Plural“ 185 der starken exegetischen Tradition des Bescheidenheitstopos nicht erwehren, wenn er konzediert: „Aber gerade hier mag der Gebrauch des Plural [sic] tatsächlich für seine [= Epikurs] Bescheidenheit sprechen […].“  So übernimmt ihn z. B. M.Vogel, Commentatio mortis. 2Kor 5,1 – 10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi (FRLANT 214), Göttingen 2006, 33 von Dick als Beleg für den umgangssprachlichen Gebrauch des unlogischen Plurals der 1.P. Kurioserweise setzt sich Müller mit diesem Text gar nicht auseinander.  Vgl.W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur, Berlin/ New York 51971, s.v.  Vgl. zu diesem Thema auch die Arbeit von H. L. Jones, The Poetic Plural of Greek Tragedy in the Light of Homeric Usage (CSCP 19), Ithaca 1910, bes. 127– 140. Jones findet 12 Beispiele für den unlogischen Plural bei Homer und weitere Belege bei den nach-homerischen Tragikern.

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also auf Homer selbst und dessen ungewöhnliche Stilgewohnheiten. Ebenso ist das τις („jemand, der über sich selbst spricht“) nicht auf einen Zeitgenossen Pseudo-Plutarchs zu beziehen, sondern auf die Figuren in den homerischen Werken, wie ja auch das direkt folgende Zitat als Beispiel verdeutlichen soll. Das Argument Dicks für einen umgangssprachlichen Gebrauch seines ‚schriftstellerischen Pluralsʻ zu Zeiten des Paulus ist damit also widerlegt.⁷⁷ Wenn demnach ein Autor zu Paulus’ Zeiten ‚Wirʻ sagt, meint er es auch so, bzw. bildet wenigstens irgendeine Gemeinschaft den geistigen Hintergrund für diese Redeweise.⁷⁸ Lediglich momentane Umschwünge vom Singular in den Plural lassen sich mittels des Pluralis affectus erklären. Sie stellen aber die Ausnahme von der Regel dar. Diese linguistische Einsicht passt auch sehr gut zu der soziologischen Erkenntnis, dass sich der antike Mensch stets als ein Wesen innerhalb eines Kollektivs verstanden hat, sei dies nun die Familie (familia/οἶκος) oder der Staat (res publica/πόλις).⁷⁹ Insofern kann sich der gewöhnliche antike Mensch selbst gar nicht als Vielzahl denken, geschweige denn, – abseits eines herrschaftlichen Amtes oder einer punktuellen notwendigen Selbstaufwertung gegenüber Höhergestellten – derart von sich reden. Der Vergleich mit den Cicero-Briefen, den Lyons anregt, ist insofern hilfreich, als dass aus den ciceronischen Schreiben deutlich wird, dass der römische Politiker als Normalform in der 1. Person Singular von sich schreibt. Er wechselt hauptsächlich dann in den Plural, wenn es um Politik bzw., ganz selten und bei weitem nicht durchgehend, wenn es um seine Arbeit als Schriftsteller geht.⁸⁰ Gerade in der Korrespondenz mit seinem Bruder Quintus ergibt sich der Eindruck, dass Cicero oftmals den Plural ganz im Sinne eines römisch verstandenen Fa-

 Selbst wenn man dieser Argumentation nicht folgen will, muss man sich dem Umstand fügen, dass die Schrift De Homero höchstwahrscheinlich nicht auf Plutarch zurückgeht, sondern auf einen Autor aus späterer Zeit, vgl. dazu M. Hillgruber, Die pseudoplutarchische Schrift De Homero (BzA 57), Stuttgart/Leipzig 1994, bes. 1– 5. Dies ist dann ohnehin ein Ausschlusskriterium für die Vergleichbarkeit mit einem zeitlich früheren Sprachgebrauch bei Paulus.  Insofern ist es beinahe schon perfide gegenüber Dick, wenn DBR § 280, der sich in Anm.1 direkt auf Slotty bezieht, mit „Der ‚schriftstellerische Pluralʻ (Pluralis sociativus)“ überschrieben ist. Der Slotty’sche Pluralis sociativus ist ja gerade nicht mit dem Dick’schen ‚schriftstellerischen Pluralʻ gleichzusetzen. Nach Dick meint Paulus ja nur sich selbst, wenn er zuweilen in der 1.P.Plural spricht. Von einer Gemeinschaft, und sei sie nur als gedanklicher Hintergrund vorhanden, will Dick da gar nichts wissen. Daher könnte man höchstens den Pluralis affectus mit der Dick’schen Größe übereinbringen.  Vgl. Malina/Neyrey, Portraits 16 – 18.  Und hier schwingt dann doch wohl Stolz auf die eigene Leistung mit, sei es als Politiker (der von seinem vergangenen Ruhm als Retter der Republik zehrt), sei es als Literat (dessen Werk Beifall finden möge).

4 Doch eine globale Lösung? Laurent oder Zahn?

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milienbegriffs verwendet: ‚Wirʻ meint dann nicht Marcus Tullius allein, sondern die familia, der Quintus und Marcus angehören, und die sich im Gegenüber zu den anderen rivalisierenden familiae innerhalb der römischen Gesellschaft befindet; es geht dann nicht um Einzel-, sondern vielmehr um Familieninteressen.⁸¹ Es findet sich hier also auch die Regel des Pluralis sociativus bestätigt.⁸² An dieser Stelle ist zudem die Beobachtung von R.S. Conway bezüglich des unlogischen Plurals bei Cicero interessant. Conway bemerkt, dass Cicero, wenn er sich mit anderen Menschen friedlich einigen will, den Plural nicht verwendet, wohl weil diesem ein Hauch von Überlegenheit anhaftet. Diese Überlegenheit anbzw. auszusprechen wäre aber kontraproduktiv.⁸³ „Cicero carefully avoids it [= das singularische nos] when for any reason he desires to avoid all appearance of vainglory. Thus he uses ego when he is not sure of his ground or is sure of meeting hostility; in making an apology, for himself, or for a friend; in approaching a dangerous or difficult person; or in relating the words or actions of his enemies towards himself.“⁸⁴ Entsprechende problematische Situationen lassen sich auch bei Paulus nachweisen. Es ist daher zu bedenken, ob nicht auch der Apostel gerade in Konfliktfällen das singularische ἡμεῖς vermeidet, um nicht noch mehr ‚Öl ins Feuer zu gießenʻ.Wenn sich in konfliktbeladenen Briefen der Plural findet, könnte damit analog zu Ciceros Vermeidungsstrategie tatsächlich auf eine echte Gruppe abgezielt sein. Auf der anderen Seite könnte Paulus den unlogischen Plural gerade in Ablehnung des ciceronischen ‚Appeasementsʻ benutzen, um sich selbst gegenüber Gegnern in einem Konflikt zu vergrößern. Dies wird bei der Exegese der einzelnen Stellen zu klären sein.

4 Doch eine globale Lösung? Laurent oder Zahn? Die Stärke, aber auch gleichzeitige Schwäche von Dicks These liegt darin, dass er keine feste Regel formuliert bzw. formulieren will, nach der man einen gewöhnlichen von einem ‚schriftstellerischenʻ Plural unterscheiden kann. Letztendlich bleibt die Entscheidung allein dem Leser überlassen. Das aber scheint dem Wunsch Paulus’ (wie überhaupt eines jeden Autors),von seinen Lesern verstanden werden zu wollen (1Kor 14,37; 2Kor 1,13 f), entgegenzustehen. Sollten nicht gerade

 Vgl. z. B. ad Q.fr. 2,4,1 („Sestius noster“ als Freund der Familie). Der Unterschied zwischen Wir und Ich wird von deutschen Übersetzungen leider meist unterschlagen.  Zilliacus, Selbstgefühl 48 bemerkt zu Cicero und Horaz, dass sie den unlogischen Plural „in einer vielfach verklausulierten Skala von soziativen und affektativen Nuancen“ verwenden.  Vgl. Conway, „Use“ 32.  Conway, „Use“ 19.

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Kapitel 2: Wer spricht in den Paulusbriefen?

dann sprachliche Signale im Text deutlich machen, wann Paulus, wenn er einen Plural verwendet, nicht nur sich selbst, sondern auch andere mitgemeint wissen will? Ein solches sprachliches Signal in einem Brief könnten tatsächlich die Präskripte darstellen. Nur kommt es dabei darauf an, worauf man als Leser den Schwerpunkt legen möchte – auf die Titulatur des Absenders⁸⁵ oder auf die Nennung von Mitabsendern⁸⁶. Wenn die Titulatur des Absenders im Focus des Lesers liegt, könnten die Apostelbriefe als amtliche Schreiben aus sich selbst heraus die damaligen Sprachgewohnheiten vorgeben, so dass einem antiken Leser durch den zu Beginn erwähnten Titel gleich deutlich wurde: Im weiteren Briefverlauf kann Paulus auch im Plural von sich sprechen, da ein offizielles Dokument meist die 1.P.Pl. aufseiten des Höhergestellten erfordert. Stehen hingegen die Mitabsender für den Leser im Vordergrund, könnten für ihn die im Präskript Genannten als Mitautoren des jeweiligen Briefes und damit als Teil eines kollektiven, logischen Wir zu verstehen sein. Auf Paulus übertragen bedeuten die bisherigen Erkenntnisse, dass man den offenbar unlogischen Gebrauch des pluralischen Sprechens bei ihm nur aus zwei Sprechweisen ableiten kann: Entweder muss man die Verwendung der 1.P.Pl. aus einem wie auch immer gearteten Gemeinschaftsgefühl herleiten (soziativer Plural), wobei gelegentlich ein unlogischer Plural von einem Affekt herrühren kann. Oder man versteht die pluralische Redeweise des Apostels so, dass Paulus von seinem Amt her im Stil hellenistischer Königsbriefe den Pluralis maiestatis verwendet. Andere Möglichkeiten des Verstehens gibt das Griechische zur Zeit des Paulus nicht her. Die Klärung dieser Frage bedeutet aber sozusagen eine Weichenstellung, da das Verständnis des paulinischen Plurals dann gleichsam zur Frage von Paulus’ Verständnis seines Amtes als Apostel überleitet. Führt das apostolische Amt Paulus zu einer autoritären, ‚majestätischenʻ Redeweise, durch welche er bei offiziellen oder mehr generellen Passagen und Aussagen im Plural von sich spricht, bei privaten Äußerungen aber im Singular? Dies besagt die alte These Laurents zu den Thessalonicherbriefen. Oder stellen die pluralischen Aussagen tatsächliche Aussagen eines Kollektivs, d. h. seiner Mitarbeiter, vielleicht auch seiner Mitabsender, dar, wohingegen die singularischen Äußerungen sein Hinaustreten aus diesem Kollektiv signalisieren? Dies entspricht der These Zahns. Zur Klärung dieser Frage kann ein Vergleich mit den Schriften beitragen, die sowohl amtliche Schreiben sind, als auch tatsächlich den majestätischen Plural beinhalten: die hellenistischen Königsbriefe. Auch wenn der majestätische Plural

 Bis auf 1(&2)Th findet sich in allen Briefen eine irgendwie geartete Titulatur für Paulus.  Paulus nennt in allen seinen Briefen außer Röm weitere Absender.

4 Doch eine globale Lösung? Laurent oder Zahn?

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im hellenistischen Zeitalter Episode blieb, verdienen die hellenistischen Königsbriefe Beachtung,⁸⁷ gerade da sie als Briefe der gleichen literarischen Gattung wie Paulus’ Schreiben angehören. In ihnen ist klar der Sprachgebrauch des Pluralis maiestatis zu erkennen, demzufolge der König qua Amt im Plural von sich spricht, jedoch als Individuum im Singular.⁸⁸ Da sich das Wirkungsgebiet des Paulus (Kleinasien und Syrien) im ehemaligen Herrschaftsbereich der Seleukiden befand, könnte es hier – sei es über Inschriften, sei es über regionale mündliche Sprachtradition – zu einer sprachlich-stilistischen Beeinflussung gekommen sein. Auch die in den Makkabäer-Büchern erhaltenen Königsbriefe könnten Paulus sprachlich beeinflusst haben und ihn diesen Stil für offizielle Schreiben übernehmen lassen haben.⁸⁹ Doch bevor man diese Hypothesen als wahr annimmt, gilt es, beide Schriftengruppen miteinander zu vergleichen. Die zu vergleichenden Größen beider Briefgruppen bestehen in den Anweisungen. Bei den Königsbriefen ist dies deutlich: Sie wurden ja einzig zu dem Zweck verfasst, die in ihnen gegebenen herrschaftlichen Anweisungen und Beschlüsse öffentlich zu machen. Beim Apostel Paulus muss man in dieser Hinsicht differenzieren: Auch Paulus gibt an seine Gemeinde offizielle Sachen heraus. Unter offiziellen Sachen verstehe ich Dinge, die eine Gemeinde sich nicht selbst geben kann, bzw. Sätze, die sie sich nicht selbst sagen kann, die nur ein vom Herrn bestallter Apostel ihr von außen geben kann. Dies ist zum einen natürlich seine Freudenbotschaft, das Evangelium. Zum anderen sind dies aber auch seine Anweisungen. Die Anweisungen bilden also sozusagen die Schnittmenge von

 Klauck, Briefliteratur 80 beklagt, dass dies zu selten in der exegetischen Diskussion stattfindet.  Zudem sind einige der Königsbriefe auch von mehr als nur einer Person abgesandt (und auch verfasst?) worden. Auch darin spiegelt sich eine Nähe zu den Paulinen. Allerdings verwenden die gemeinsam autorisierten Briefe (C. B. Welles, Royal Correspondence in the Hellenistic Period. A Study in Greek Epigraphy, New Haven/ London/ Prag 1934, Nr. 9 und 35; OGIS I 168) durchgehend die 1.P.Pl. Ein Numeruswechsel zum Singular wie in den Paulinen findet nicht statt.  Die seleukidischen Königsbriefe in 1Makk 10,18 – 20.25 – 46; 11,30 f.32– 37; 13,36 – 40; 2Makk 11,22– 26.27– 33 kennen und verwenden jedenfalls auch den Pluralis maiestatis, wenngleich nicht durchgehend (1Makk 10,29.33; 2Makk 11,32). Schubart, Bemerkungen 343 hält sie allesamt aufgrund stilistischer wie inhaltlicher Gründe für gefälscht. Nur der Brief des späten Herrschers Antiochus VII. gebraucht die 1.P.Sg. (1Makk 15,2– 9), wie es typisch für die späte Seleukidenzeit ist, vgl. Welles, Correspondence 137. Die beiden Briefe des Ptolemaios IV. (3 Makk 3,12– 30; 7,1– 9) sind gleichfalls in der 1.P.Pl. gehalten (mit der Ausnahme von 3,13, die sich aber in den Inschriftenbefund einfügt, vgl.Welles, Correspondence Nr. 33).Vom Pluralis maiestatis unberührt sind die von einem Kollektiv geschriebenen Briefe (1Makk 12,6 – 18; 14,20 – 23; 2Makk 1,1– 9; 1,10 – 2,18; 11,34– 38) zu nehmen wie dann auch der Brief des Spartanerkönigs Arius (1Makk 12,20 – 23), dessen Plurale soziativ aufgefasst werden müssen. Die Plurale im Brief des römischen Konsuls Lucius (1Makk 15,16 – 21) mögen hingegen vom seleukidischen Stil beeinflusst und damit majestätisch zu lesen sein.

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Kapitel 2: Wer spricht in den Paulusbriefen?

Apostelbriefen und Königsbriefen. Insofern gilt es, nach den Anweisungen und ihrem Stil zu sehen, um einen Eindruck sowohl von der hellenistisch-königlichen als auch von Paulus’ Amtsführung und damit auch von ihrer Redeweise zu bekommen. Aus dem Gebrauch oder Nicht-Gebrauch des Pluralis maiestatis im Verbund mit Anweisungen lässt sich erschließen, wie der jeweilige Briefautor sich und sein Amt verstanden hat. Zunächst zu den hellenistischen Königsbriefen:⁹⁰ Was ihren Gebrauch des Plurals (nach der Sammlung von C. B. Welles) angeht, zeigen sie sich ihrem Stil nach als nicht einheitlich.⁹¹ Auch wenn in ihnen zumeist eine pluralische Redeweise vorherrscht, muss und kann dies nicht immer auf einen Pluralis maiestatis zurückgeführt werden; oft genug lassen sich die Plurale auch als soziativ deuten.⁹² Dennoch unterscheiden – im Sinne des majestätischen Plurals – Seleukos I., Ziaelas (Bithynien), die Attaliden (Pergamon und westliches Kleinasien), die frühen Ptolemäer, einige Kleinkönige und später römische Offiziere zwischen sich selbst als Individuen und als Repräsentanten eines Staates.⁹³ Von ihnen allen wird also der Pluralis maiestatis,wenngleich dosiert,verwendet. Daneben gibt es in den hellenistischen Königsbriefen den Pluralis maiestatis als eine sich durchziehende Größe, und zwar bei den Seleukidenherrschern nach Seleukos I., geographisch also im kleinasiatischen Raum über Syrien bis nach Palästina und Persien.⁹⁴ Der ununterbrochene Gebrauch des majestätischen Plurals bei den Seleukiden wird dann unter dem späteren ptolemäischen Einfluss gegen Ende der Dynastie durch den in Ägypten üblichen Gebrauch des Singulars in königlichen Schreiben verdrängt.⁹⁵ Um einen aussagekräftigen Vergleich der Herrscherbriefe mit den Apostelbriefen anzustellen, sind Wortfelder und Vorstellungen heranzuziehen, die in beiden Schriftgruppen vorkommen.⁹⁶ Diese Wortfelder werden von den Apostel-

 Vgl. die Liste bei Schubart, „Bemerkungen“ 346 f und das grundlegende Werk von Welles.  Vgl. dazu auch Zilliacus, Selbstgefühl 36 – 45.  Dies ergibt auch gerade Sinn, da der Pluralis maiestatis ja aus dem Pluralis sociativus hervorgegangen ist (s.o.) und manche später klaren Grenzen in dieser Phase noch verschwimmen.  Vgl. Welles, Correspondence 10 und 134: Nr. 1; 5; 14; 25; 30; 33; 64 + SIG 593. Die dort auftauchenden Plurale sind z.T. allerdings auch soziativ zu verstehen. Der von Welles angeführte Brief eines römischen Offiziers steht dem Stil nach aber gegen die späteren griechischen Kaiserbriefe, die ganz klar keinen Pluralis maiestatis kennen, vgl. nur zum 1. christlichen Jahrhundert SIG 780 (Augustus); 801 (Claudius); 810 (Nero); 821.C (Domitian); 821.D (Prokonsul von Achaia).  Vgl. Welles, Correspondence 137.  Vgl. Welles, Correspondence 137.285.  Daneben gibt es selbstverständlich auch in den Königsbriefen häufig gebrauchte Worte, die beim Apostel fast bzw. überhaupt nicht vorkommen: συγχωρεῖν, ἀποδέχεσθαι, οἴεσθαι (nur Phlm 1,17).

4 Doch eine globale Lösung? Laurent oder Zahn?

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briefen als letztendlichem Zielpunkt des Vergleichs vorgegeben.⁹⁷ Im Folgenden werde ich die Wortgruppen um die Vorstellungen des Anordnens (Stämme τασσ-, παραγγελ- und γραφ‐) und des Lobens (ἐπαιν‐) in beiden Schriftengruppen näher beleuchten und auf ihren Gebrauch in Bezug auf den Numerus des Sprechers miteinander vergleichen. a) Das Wortfeld um die Stammgruppe τασσ- als Ausdruck für Anordnungen gibt über den paulinischen Anweisungsstil Aufschluss, denn „[d]as διατάσσεσθαι gehört offensichtlich zum apostolischen Amt“⁹⁸. Es ist auffällig, dass Paulus an allen Fundstellen, in denen er sich selbst mit τασσ-Derivaten in Verbindung bringt (διατασσ-: 1Kor 7,17; 11,34; 16,1; ἑπιτασσ-: Phlm 8; 1Kor 7,6.25; 2Kor, 8,8) – die noch darüber hinaus in Briefen stehen, in deren Präskripten weitere Personen neben Paulus angegeben sind – in der 1. Person Singular schreibt. Auch die hellenistischen Herrscher nehmen in ihren Briefen die Aufgabe der Anordnung wahr, was durch die Worte τάσσειν (Nr. 27; 31; 34; 48), συντάσσειν (Nr. 3; 4; 5; 10; 11; 12; 14; 18; 19; 44; 48), προστάσσειν/πρόσταγμα (Nr. 51; 54 / Nr. 20; 37; 66; 67), διατάσσεσεθαι (Nr. 67) und ἐπιταγή/ἐπίταγμα (Nr. 68 / Nr. 75) ausgedrückt wird. Hier fällt auf, dass die Anordnungen von Herrscherseite aus in Verbindung mit der 1.P.Pl. stehen.⁹⁹ Gerade das beim Apostel so hervorstechende διατάσσεσεθαι wird im Plural gebraucht. Neben der τασσ-Gruppe steht auch παραγγέλλω/παραγγελία bei Paulus für das Anordnen. Beim Gebrauch dieser Wortgruppe ist allerdings wohl eine Entwicklungstendenz¹⁰⁰ bei Paulus zu beobachten: Während er im frühen¹⁰¹ 1Th, den

 Das ermahnende Ermuntern (παρακαλεῖν) ist ebenfalls ein Phänomen, das sich sowohl beim Apostel als auch in den Königsbriefen findet. Allerdings sind es in den Königsbriefen die Herrscher, die zu einem Handeln ermuntert werden; sie selbst ermuntern nicht (Ausnahme: Nr. 34, aber leider fragmentiert und unverständlich). – Das Wortfeld um den Stamm κριν- gibt für die Apostelbriefe als einzige Aussage, die in die Angelegenheiten der Gemeinde eingreift, nur den Beleg 1Kor 5,3 her. Hier spricht Paulus in der 1.P.Sg. Die Königsbriefe schwanken jedoch im Numerus beim Gebrauch von κρίνειν; dabei können dann einige Plurale majestätisch (Nr. 23; 36; 49; 75), andere wiederum – bei gleichzeitig verwendeter Singularform des Verbs – rein soziativ (Nr. 65; 66) sein. Deutlich ist aber, dass Paulus das Wort, wenn er es auf sich selbst bezieht, nur in der 1.P.Sg. verwendet.  G. Delling, „τάσσω κτλ.,“ in: ThWNT 8 (1969), 27– 49 (Zitat: 35).  Ausnahmen hiervon stellen Nr. 10,11 und 12 dar, wo Meleager im Auftrag des Königs Anweisungen geben soll, ebenso Nr. 18 und 19 Metrophanes und Nr. 44 ein unbekannter Statthalter – allesamt Imperative im Singular. Auch die Attalidenbriefe Nr. 34 (Attalus I.), Nr. 48 (Eumenes II.), Nr. 51, 54 und 68 stehen mit der 1.P.Sg., sie verwenden aber sowieso als Ausgangsform die 1.P.Sg.  Auch Roller, Formular 174 sieht in den Briefen des Paulus (freilich einschließlich der Deuteropaulinen) eine Entwicklung vom Kollektiv zum Individualismus, die sich im abnehmenden Gebrauch des ‚Wirʻ gegenüber dem ‚Ichʻ niederschlägt: „Zu Anfang war die Teilnahme der Mitabsender unbestritten und vorherrschend, später trat sie zurück gegenüber der sich entwi-

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Kapitel 2: Wer spricht in den Paulusbriefen?

er im Kollektiv mit Silvanus und Timotheus schreibt,¹⁰² die Anweisungen ebenfalls im Plural gegeben sein lässt (4,2: παραγγελίας ἐδώκαμεν; 4,11: παρηγγείλαμεν), ist es im späteren 1Kor Paulus allein, der anordnet (7,10: παραγγέλλω; 11,17: παραγγέλων). Dabei geschieht das Anordnen im engen Verbund mit dem Herrn, wie aus 7,10 deutlich wird: Paulus muss hier deutlich machen, dass es in diesem Fall nicht er selbst ist, der eine spezielle Anweisung gibt, sondern der Herr selbst (οὐκ ἐγὼ ἀλλα ὁ κύριος). Nicht nur insofern stellt der 1Th die Ausnahme von der Regel dar.¹⁰³ Das Wort παραγγέλλω nimmt in den Königsbriefen nach der Welles-Sammlung nur eine mindere Rolle ein: Allein der Brief Nr. 44 (Antiochus III.) bietet es. Hier steht es jedoch in einer Pluralform (παραγγείλαντας), die auf den König zurückverweist. Bei Paulus werden sowohl die Vollmacht zum singularischen Anordnen als auch die enge Verbindung mit dem Herrn in 1Kor 14,37b ganz deutlich: „Was ich (!) euch schreibe (γράφω): des Herrn Gebot (ἐντολή) ist es.“ Dieser Vers stellt dabei eine pauschale Aussage dar.¹⁰⁴ Bis auf 2Kor 1,13 (γράφομεν) verwendet Paulus sonst stets eine Singularform, um auf das eigene Schreiben zu verweisen: Röm 15,15; 1Kor 4,14; 5,9.11; 9,15; 14,37; 2Kor 2,3.4.9; 7,12; 9,1; 13,10; Gal 1,20; 6,11; Phil 3,1;

ckelnden Selbständigkeit des Apostels, welche in seinen letzten Wirkungsperioden die Mitarbeiter immer mehr in den Hintergrund schob und sie endlich ganz, auch aus den Superscriptionen beseitigte.“  Vgl. etwa Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch 232 f. Lüdemann, Paulus I 272 f setzt 1Th (wegen dessen gegenüber 1Kor 15 oder Phil ganz in der Naherwartung stehenden Eschatologie und des Fehlens von Mitteilungen über die Kollekte) in den 40er Jahren („um 41“) an. Ganz gleich, wie man hier entscheidet, bleibt 1Th der früheste Brief des Apostels. Mit dieser Erkenntnis lassen sich in jedem Fall auch andere formale Abweichungen gegenüber den übrigen Briefen erklären.  Vgl. etwa G.Wohlenberg, Der erste und zweite Thessalonicherbrief (KNT 12), Leipzig 21909, 20. Paulus beansprucht im Präskript (1,1) keine gesonderten Titel für sich. Ebenso kommen insgesamt nur drei Stellen in der 1.P.Sg. vor (2,18; 3,5; 5,27), die sich auf Paulus beziehen. Hierbei sind die ersten beiden Stellen durch die Personalpronomen ἐγὼ (μὲν Παῦλος) und κἀγώ als sprachliche Marker von ihrem pluralischen Kontext abgehoben. Lediglich die letzte Singularform 5,27 weist keinen sprachlichen Marker auf. Dieser Satz könnte aber im Original auch ein eigenhändiger Satz des Apostels am Briefende gewesen sein, wie dies in 1Kor 16,21; Gal 6,11; Phlm 19 der Fall ist und es dieser Usus auch für 2Th 3,17 und Kol 4,18 vorgab.  Auch der Aufbau des 1Th mit seinem nach hinten offenen Proömium, vgl. Conzelmann/ Lindemann, Arbeitsbuch 228, ist gegenüber den anderen Briefen ebenso ungewöhnlich wie das Fehlen eines Bezugs auf das Alte Testament, vgl. a.a.O. 232.  Vgl. Zeller, Brief 448.

4 Doch eine globale Lösung? Laurent oder Zahn?

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Phlm 19.¹⁰⁵ Das Schreiben, damit aber auch das Weitertragen des Herrengebots, ist also seine ureigene Aufgabe als Apostel.¹⁰⁶ In den Königsbriefen erfolgt ab und an ebenfalls ein Hinweis auf das eigene Schreiben. Jedoch gibt es in der Sammlung von Welles nur einen Beleg für eine singularische Form (Nr. 46), der zudem aus einem stark fragmentierten Fund stammt. Ansonsten wird auf das eigene Schreiben in der 1.P.Pl. bzw. mit anderen (nicht-singularischen) Konstruktionen verwiesen. b) Neben dem Anordnen und Schreiben gibt es als weiteres Vergleichsmaterial das Loben. Paulus lobt und tadelt in der 1.P.Sg. Dies tut er in direkter (und nicht umschreibender) Weise besonders gegenüber der korinthischen Gemeinde: 1Kor 4,14; 6,5; 11,2.17.22; 15,34. Während die Königsbriefe einen Tadel nicht kennen (dies würde ja auch wenig Sinn in einer öffentlichen und ‚für die Ewigkeitʻ produzierten Inschrift ergeben), findet sich darin durchaus Lob (Nr. 14; 15; 26). Allerdings geschieht das Loben stets im Pluralis maiestatis. Aus den gemachten sprachlichen Beobachtungen ist es somit evident, dass das Anordnen wie auch das Loben und Tadeln Paulus’ persönliches Privileg darstellt, das er mit niemand anderem teilt.¹⁰⁷ Aus 1Kor 14,37 wird zudem deutlich, dass sich  Der im Kollektiv geschriebene 1Th bringt nur indirekte Wendungen (4,9; 5,1) ohne Hinweis auf den Numerus des bzw. der Schreibenden.  Für 2Kor 1,13 lässt diese Erkenntnis aber nur die Möglichkeiten zu, dass Paulus mit der 1.P.Pl. tatsächlich sich selbst und Timotheus (1,1) als Mitautoren meint (Pluralis sociativus) oder dass Paulus hier in einem Affekt (heftige Liebe? Oder Stolz: 1,12?) von sich spricht (Pluralis affectus). Dadurch, dass Paulus in 1,13 die Korinther direkt anspricht, fällt die Möglichkeit aus, dass er sie hier mitgemeint wissen will.  Interessanterweise werden diese Wortfelder in den Pseudepigraphen Kol und Eph im Hinblick auf ‚Paulusʻ nicht verwendet (die Aufgabe des Lobens (1,6.12.14: ἔπαινος) ist auf Gott ausgerichtet und ist damit eine allgemein christliche). Dick, Plural 118 – 124 spricht sich dafür aus, die meisten Plurale der 1.P. in Kol als ‚schriftstellerischʻ, d. h. unlogisch zu deuten. Tatsächlich ist aber auch hier eine soziative Deutung sehr gut möglich. Der ‚Paulus‘ des 2Th gibt Anweisungen wie im 1Th durch das Absenderkollektiv (2Th 1,1) in der 1.P.Pl. heraus (3,4.6.10.12). Die beiden einzigen Stellen im 2Th in der 1.P.Sg. 2,5 und 3,17 haben wohl nur deshalb einen Numeruswechsel, um Paulus in besonderer Weise hervorzuheben: Dies geschieht zum einen durch den Aufruf, sich an die persönliche Anwesenheit des Apostels und seine Lehren zu erinnern (2,5), zum anderen durch den eigenhändigen Gruß (3,17) zur Abwehr von Pseudepigraphen (2,2!), der natürlich nur in der Einzahl erfolgen kann. In 3,17 koinzidieren die literarische Fiktion der eigenhändigen Briefautorisierung und der original paulinische, singularische Gebrauch des Verbs γράφειν. Eine ähnliche Koinzidenz zwischen literarischer Fiktion und singularischer Verwendung von γράφειν bzw. von παραγγέλειν/παραγγελία findet sich in 1Tim 3,14 bzw. 1,18; 6,13. Die Ausgangssituation von 1Tim (wie auch der übrigen Past) ist, dass der einsame Apostel seine Anweisungen an einen einzelnen Schüler weitergibt, weshalb hier durchgehend die 1.P.Sg.verwendet

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Kapitel 2: Wer spricht in den Paulusbriefen?

das eigene Schreiben und damit jede brieflich formulierte und festgehaltene Handlung des Apostels direkt auf den Herrn zurückführt und ihn selbst repräsentiert. Das apostolische Anordnen geschieht gerade nicht aus dem Plural heraus. Damit fallen aber für dieses apostolische Spefizikum sowohl die Möglichkeit des Pluralis sociativus als auch des Pluralis maiestatis weg: Paulus als Apostel benötigt für seine Anweisungen weder ein Kollektiv, aus dem heraus er seine Anordnungen gibt, noch die sprachlich fiktive Gestalt einer gegenüber der Gemeinde abgehobenen Mehrheit. Als Apostel ist Paulus ganz auf sich selbst geworfen, kann dies aber auch sein, da er sich im engen Verbund mit dem Herrn weiß. Alles in allem ist Zahn also gegen Laurent Recht zu geben: Paulus hat nicht im Pluralis maiestatis von sich selbst gesprochen. Doch auch die globale Lösung Zahns, dass Paulus niemals ein ‚Wirʻ für ein ‚Ichʻ gebraucht habe, kann nicht überzeugen, wie an Röm 1,5 deutlich wird. Diese zunächst schwierige Stelle fügt sich allerdings sehr gut in das vorgestellte Erklärungsmuster Slottys. Es ist deutlich, dass Paulus nach seinem eigenen Amtsverständnis den Apostolat nicht auf die in 1,4 benannte Gemeinde (bzw. die gesamte Christenheit) beziehen kann. Es steht also keine Gruppe im Hintergrund dieser Redeweise. Wenn Paulus hier also in unlogischer Weise die 1.P.Pl. verwendet, kann er dies nur im Affekt tun. Von den von Slotty genannten Affekten Stolz, Zorn und (erotische) Liebe scheint mir hier der erste die beste Erklärung zu liefern. Paulus zeigt gleich im Präskript gegenüber der römischen Gemeinde seine herausgehobene Position an. Dass er hier auf den Affekt Stolz verfällt, nimmt nicht wunder, da es sich ja beim Röm um ein Vorstellungsschreiben an die ihm noch unbekannte Gemeinde handelt.¹⁰⁸ Paulus versucht mit dem Röm, einen guten und starken Eindruck auf sie zu machen, und dazu passt es sehr gut, dass er voller Selbstbewusstsein und eben voller Stolz verkündet, von Gott das Amt eines Apostels empfangen zu haben. Es handelt sich demnach in Röm 1,5 um einen Pluralis affectus. Tatsächlich muss man also die meisten (auf den ersten Blick) unlogischen Plurale in den Paulus-Briefen als solche erklären, die in irgendeiner Weise eine Gemeinschaft als Sprachhintergrund annimmt; erst an zweiter Stelle und recht

wird. Gerade das παραγγέλειν wird als apostolische Aufgabe Timotheus als dem Nachfolger Paulus’ oft genannt (1,3.5; 4,11; 5,7; 6,17). Die in den Past vorkommenden Plurale der 1.P. sind allesamt soziativ zu verstehen. Es lässt sich somit aus den Deuteropaulinen im Hinblick auf den unlogischen Plural kein grob abweichender Sprachgebrauch gegenüber den Protopaulinen nachweisen. Damit fügen sich diese epigonalen Schriften ebenfalls in den allgemein üblichen Sprachgebrauch ein.  Zu den Faktoren für Abfassung und Zweck des Röm vgl. Schnelle, Einleitung 129 – 131.

5. Sind die Mit-Absender auch Mit-Verfasser der Briefe?

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selten kommt eine affektische Lesart für die unlogischen Plurale infrage. Paulus entpuppt sich damit einmal mehr als Kind seiner Zeit und Umwelt.

5. Sind die Mit-Absender auch Mit-Verfasser der Briefe? In zwei Aufsätzen haben Byrskog (1996) und Müller (1998) sich gegen den Forschungskonsens gewendet, der seit Dicks Arbeit vorherrschte. Beide beschäftigen sich erneut mit der Frage, wie das Phänomen des Wechsels zwischen Singular und Plural in den Paulusbriefen zu erklären ist, gerade wenn ein Brief mehrere Personen in der Absenderangabe trägt.¹⁰⁹ Sie kommen zu einer Differenzierung im Gebrauch des brieflichen ‚Wirʻ, die in folgender Tabelle und zum Vergleich mit Vertretern der Dick’schen These dargestellt ist. Tabelle 1: Deutungen des ‚Wirʻ in den Paulusbriefen H.-J. Klauck, Korintherbrief 

Chr. Wolff, Brief II 

gemeinchristliches / kommunikatives Wir (Paulus & alle Christen)

allgemeinchristliches Wir

S. Byrskog, Co-Senders 

allgemeines Wir (Paulus & alle Menschen / Christen) pluralis sociativus kommunikatives Wir (Paulus & Adressa- (Paulus & Adressaten) ten) pluralis sociativus (Paulus & Teil der Adressaten)

missionarisches Wir des PauWir luskreises (Paulus & Mitarbeiter) apostolisches Wir (Paulus & Apostel)

M. Müller, Plural 

Wir einer individuellen konkreten Gruppe

Wir der Artbezeichnung (z. B. „Apostel“ oder „Gläubige“)

Wir = Paulus & „persons being or working with Paul“

Wir der Apostel

schriftstellerisches Pluralis moWir destiae (Paulus allein)

literary plural

–/–

 Vgl. Byrskog, „Co-Senders“ 232; Müller, „Plural“ 181 f. Müller, a.a.O. 190 präzisiert dies als These noch weiter: „Es gilt, nicht irgend einen Numeruswechsel zu erklären, sondern exakt den Numeruswechsel vom Plural zum Singular“ [im Original kursiviert].

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Kapitel 2: Wer spricht in den Paulusbriefen?

Kategorien für den Plural bei Paulus zu erstellen, ist lobenswert. Dennoch zeigen alle Aufteilungen jeweils Mängel. Bei Klauck und Wolff ist es die Annahme eines unlogischen Plurals aus Gründen der Bescheidenheit; dieser wurde oben begründet abgewiesen. Bei Byrskog ist es die Hereinnahme der Kategorie ‚Paulus und ein Teil der Adressatenʻ; sie erscheint unnötig, zumal sie nur in 1Kor 8 – 10 auftaucht, wo Paulus sich mit den Starken der Gemeinde zusammenschließt. Der Mangel an Müllers Einteilung ist dessen kategorische Ablehnung eines unlogischen Plurals bei Paulus; ebenso leuchtet seine Unterscheidung zwischen einem allgemeinen und einem kommunikativen Wir nicht ein, da doch bei der allgemeinen Sprechweise die Adressaten bereits immer mit eingeschlossen sind. Hingegen kommt seine weitere Einteilung dem Phänomen des Pluralis sociativus am nächsten, insofern er weniger nach der Verschiedenheit der Gruppen (Mitarbeiter vs. Apostel) fragt, sondern überhaupt nach Gruppen. Auch wenn Byrskog die Verwendung eines schriftstellerischen Plurals bei Paulus noch gelten lässt,¹¹⁰ sieht er sie stark eingeschränkt: „The plurals are mostly real plurals.“¹¹¹ Extremer urteilt Müller: Er bestreitet die Verwendung des schriftstellerischen Plurals durch Paulus in toto. ¹¹² Vielmehr schreibe Paulus seine Briefe aus dem Kollektiv eines Kreises von Mitarbeitern bzw. Schülern heraus und verwende daher den Plural dort, „wo es um den Apostolat des Paulus und damit um ‚seinʻ Missionswerk insgesamt geht“¹¹³. In der 1.P. Singular spreche Paulus nur, wenn es um ihn ganz persönlich geht, so dass er dann aus dem Kollektiv-Kreis seiner Mitarbeiter heraustrete.¹¹⁴ Die Frage, der sich Byrskog und Müller jeweils stellen, nämlich ob die PaulusBriefe neben Paulus noch weitere Mitverfasser bzw. ‚Co-Authorsʻ haben, wird von beiden wenn auch nicht glattweg bejaht, so doch als mit einer hohen Wahr-

 Etwa für 1Kor 15,30, vgl. Byrskog, „Co-Senders“ 243.  Byrskog, „Co-Senders“ 249.  Dies tut er guten Gewissens, da er – im Gegensatz zu Byrskog – die von Dick zur Begründung seiner These angegebenen nicht-paulinischen Quellentexte aufs Neue untersucht und zu dem Ergebnis kommt, dass der schriftstellerische Plural sowohl ein recht seltenes als auch – im Vergleich mit Paulus – spätes Phänomen in der antiken griechischen Literatur war (s.o.), vgl. Müller, „Plural“ 184– 187. Dennoch ist sein Durchgang durch die paulinischen Briefe leider sehr oberflächlich durchgeführt. Eine Aussage wie „So kann der Römerbrief als Gegenprobe dafür dienen, daß in Briefen, in denen es ausschließlich um die Person des Apostels geht, ein durchgehender Ich-Stil dem formal-epistolographischen Merkmal der Absenderangabe im Singular bis hin zum Briefschluß selbst entspricht“(190) sollte doch erst dann getroffen werden, wenn wenigstens in einer Anmerkung auf Röm 1,5 oder etwa 3,7 f eingegangen worden ist, was Müller aber nicht tut.  Müller, „Plural“ 183.  Vgl. ebd.

6 Das Ich bei Paulus

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scheinlichkeit positiv beantwortet.¹¹⁵ Das ‚Wirʻ in den Paulus-Briefen deutet also wohl (fast) immer auf ein echtes Wir hin und nicht etwa auf den einsamen Apostel, womöglich noch hinter einer literarischen Maske der Bescheidenheit. Diese Erkenntnis muss für die folgende Arbeit sehr ernst genommen werden. Sie darf jedoch nicht in den Automatismus verfallen, sämtliche Wir-Stellen auf Paulus und seine(n) Mitabsender als Mitverfasser zu beziehen. Vielmehr muss bei jedem Wir stets danach gefragt werden, welche Gruppe Paulus damit nun meinen könnte, in die er sich einbezieht. Hier kommt also Dick mit dessen exegetischen Caveat, dass es keine feste Regel gibt, zu seinem Recht. Es empfiehlt sich insofern eine Subtraktionsmethode, um Texte nach dem in ihnen erwähnten ‚Wirʻ zu befragen. Zunächst gilt die Möglichkeit, dass Paulus mit einem ‚Wirʻ die Gesamtheit aus Gemeinde und Absender/n (sich selbst und eventuelle Mitabsender), wenn nicht gar die gesamte Menschheit meint. Sprachliche Indikatoren dafür sind natürlich ein πάντες ἡμεῖς o. ä. (z. B. Röm 14,10; 1Kor 10,17). Ein ‚Ihrʻ im Kontext eines ‚Wirʻ kann, muss aber kein Indikator dafür sein, dass eine neue Gruppe den Adressaten gegenüber aufgeführt wird (z. B. 1Kor 1,30 – offenes Wir). Sozusagen ein Antagonismus zwischen der Gemeinde auf der einen Seite und einem Kollektiv auf der anderen Seite, das aus Paulus und einer noch zu bestimmenden weiteren Größe besteht, ist an vielen Stellen aber recht deutlich zu erkennen. Diese weitere Größe können andere Apostel, Missionare oder Mitarbeiter sein (z. B. 1Kor 4,6.9). Wenn Paulus sie nicht bereits irgendwie benannt hat, ist zur weiteren Festlegung ihrer Identität auf Schlüsselworte zu achten, die darüber Aufschluss geben können.¹¹⁶ Scheidet auch diese Möglichkeit aus, so muss davon ausgegangen werden, dass sich hinter diesem ‚Wirʻ ein Absenderkollektiv verbirgt. Sollte letzten Endes auch diese Möglichkeit nicht weiterführend sein (etwa in Röm 1,5, da Röm nur Paulus als Absender aufführt), kann nur ein affektischer Plural vorliegen, der auf Paulus selbst zu deuten ist und mit dem Motiv zur Selbstvergrößerung Anwendung findet.

6 Das Ich bei Paulus Nachdem ausführlich geklärt worden ist, wie es um die 1.P. Plural bei Paulus steht, soll noch ein kurzer Blick auf die 1.P. Singular geworfen werden. Auch in Bezug auf das in den Briefen auftauchende Ich gibt es zuweilen Verstehensschwierigkeiten.

 Vgl. Byrskog, „Co-Senders“ 249; Müller, „Plural“ 199.  Dies können z. B. Verben sein, die nur auf bestimmte Personengruppen Anwendung finden und somit deren Identifizierung erlauben.

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Kapitel 2: Wer spricht in den Paulusbriefen?

Meint die 1.P.Sg. immer den Apostel? Wenn dem so wäre, stünde man spätestens bei Röm 7 vor dem Problem, wie die Gesetzlosigkeit des Ich (v.9) im Hinblick auf Paulus deuten ist.¹¹⁷ Zudem ist ein sprachliches Charakteristikum der ‚Diatribeʻ, deren Einfluss auf Paulus ja geltend gemacht werden kann, dass sie mitunter (fiktive) Dialoge in ihre Argumentation einflechtet. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass ein Ich zur Sprache kommt, das nicht dem des Redners entspricht.¹¹⁸ Somit steht zu vermuten, dass auch bei Paulus nicht jedes Ich das apostolische Ich meint. Brian J. Dodd versucht darüber hinaus zu zeigen, dass Paulus ab und an ein Ich verwendet, das wie ein Du zu verstehen ist. Dabei ahme dieses Ich einen Teil des typischen Verhaltens der Adressaten nach. So finde quasi ein Brückenschlag zu ihnen statt. Gleichzeitig repräsentiere dieses Ich aber auch eine vorbildliche Verhaltensweise und ermahne dadurch die Adressaten zu einer Verhaltensänderung.¹¹⁹ Dodd nennt dieses Ich „paradigmatic ‚I‘“ und stellt die These auf, dass sich entsprechende Aussagen zur Selbstdarstellung des Paulus in jedem Abschnitt des 1Kor – mit der Ausnahme von 11,2– 34 – finden.¹²⁰ Gleichwohl ergibt sich auch hier keine feste Regel, nach der ein Ich sich als paradigmatisch oder genuin apostolisch erweist. Es muss daher jeweils von Stelle zu Stelle neu geprüft werden, wer mit der 1.P. Singular gemeint ist. Bei alledem ergibt sich als meine Arbeitshypothese, dass, wie jedes Wir in den Paulusbriefen zunächst als Gruppenaussage gedeutet werden muss, auch jedes Ich zunächst auf den Apostel selbst bezogen werden muss. Nur falls sich extreme Verständnisschwierigkeiten daraus ergeben, kann in Betracht gezogen werden, die 1.P.Sg. in irgendeiner anderen Weise zu verstehen – entweder auf die Adressaten bezogen oder auf eine andere, näher zu bestimmende Größe.

7 Zusammenfassung Die Untersuchung des ‚schriftstellerischenʻ, d. h. unlogischen Plurals bei Paulus ergab, dass der Apostel als einzelner Mensch fast nie von sich selbst in der 1.P. Plural schreibt. Tatsächlich widerspräche das insofern dem allgemeinen grie-

 Vgl. Th. Söding, „Der Mensch im Widerspruch (Röm 7),“ in: Horn, F. W. (Hg.), Paulus Handbuch, 371– 374 zur Diskussion und Lösungsansätzen bezüglich Röm 7.  Vgl. Bultmann, Stil 10 – 19 allgemein zu dialogischen Elementen der ‚Diatribeʻ. Schmeller, Paulus 194– 199 vermutet bei Epikt.Diss. 1,12 ein die Hörergruppe umfassendes Ich (195).  Vgl. in dieser Hinsicht B. J. Dodd, Paul’s Paradigmatic ‚I‘. Personal Example as Literary Strategy (JSNT.Sup 177), Sheffield 1999, 78 – 90 zu 1Kor 6,12.  Vgl. Dodd, ‚I‘ 33.

7 Zusammenfassung

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chischen (wie römischen) Sprachgefühl, als der Plural zur Selbstvergrößerung (nicht aber als Demutsbezeugung) gebraucht wird. Wenn Paulus einen Plural verwendet, ist es in der Regel ein echter Plural, der sich auf eine Gruppe bezieht. Dieses Ergebnis hat Auswirkungen auf die Exegese der Paulusbriefe im Allgemeinen, speziell aber auf die Exegese hinsichtlich der Selbstdarstellung des Apostels. Nur wo Paulus von sich in der 1.P. Singular spricht, können wir davon ausgehen, den Apostel zu vernehmen. Dies gilt allerdings nur, wenn sich dabei nicht unüberwindbare Verstehenshindernisse einstellen. Aussagen in der 1.P. Plural beziehen sich zwar auch auf den Apostel, allerdings inmitten einer Gruppe und kommen nur bedingt, d. h. nur insofern Paulus dadurch distinkt kenntlich wird,¹²¹ für die Selbstdarstellung infrage.

 Die distinkte Kenntlichkeit geschieht im Briefverlauf durch eine Absetzbewegung gegenüber den Adressaten und in der Bezogenheit auf sie. Im Vorgriff auf den 1Kor sei hier als Beispiel die gemeinsame Kennzeichnung des Paulus mit Apollos als Diener (3,5; 4,1) genannt, da der Apostel sich dadurch von der angeschriebenen korinthischen Gemeinde absetzt und unterscheidet. Als negatives Beispiel kann das gemeinsame Richten über Engel (6,3) gelten: Zwar stellt sich Paulus mit den anderen Gemeindegliedern in eschatologischer Perspektive als Richter der Engel dar; distinkt kenntlich wird er dadurch aber lediglich im Gegenüber zu Nicht-Christusgläubigen, was als Erkenntnisgewinn im Hinblick auf die individuelle Selbstdarstellung nur wenig erbringt.

Kapitel 3: Das Bild des Weisen in der Antike – Erscheinungsformen und Entwicklung 1 Religionsgeschichte als Zugang Um Paulus zu verstehen, ja um überhaupt eine Einzelpersönlichkeit in ihrem geistesgeschichtlichen Kontext zu verstehen, bedarf es zunächst einer Kenntnis dieses Kontextes. Erst wenn das Allgemeine bekannt ist, kann das Besondere des Einzelfalls entdeckt werden. Diesen Zugang verschafft die Religionsgeschichte. Sie fragt auf der Grundlage schriftlicher Quellen nach den Äußerlichkeiten der religiösen Erscheinungen (Phänomene), vergleicht sie ohne Wertung und ordnet sie dann in Analogie oder in Abhängigkeit einander zu.¹ Die Korintherkorrespondenz, explizit der 1Kor in den ersten vier Kapiteln, gibt den geistesgeschichtlichen Kontext vor, in den sich Paulus selbst hineinstellt bzw. der ihm durch die Korinther vorgegeben² ist: Es geht um die Weisheit (σοφία). Religionsgeschichtlich ist daher zu fragen: Wie stellt sich das Phänomen Weisheit zu Paulus’ Zeiten dar und wie ist es lebensweltlich verankert? Gerade der lebensweltliche Bezug ist entscheidend, da Paulus mit den Korinthern keine rein theoretische Debatte über Weisheit führt. Die Spannungen innerhalb der korinthischen Gemeinde rühren nicht primär von einem ‚philosophischʻ-theoretischen Streit über das Wesen der göttlichen Weisheit ohne Bezug zum menschlichen Leben, sondern sind vor allem sozialer Natur.³ Durch seine Aussage, dass die göttliche Weisheit der Gekreuzigte selbst ist (1Kor 1,23 f.30), verbindet Paulus Theorie und Praxis und nimmt eine zentrale Bestimmung über die soziale Ausrichtung eines Lebens in dieser göttlichen Weisheit vor. Von daher geht es ihm nicht allein um Weisheit als abstraktes Phänomen, sondern vor allem um das konkrete Leben in der Weisheit. Lebensweltlich deutlich wird dies nun in den von Weisheit berührten Menschen. Gemeinhin kann man diese als die Weisen (οἱ σοφοί) bezeichnen.

 Vgl. Schnelle, Einführung 139 f; B. Maier, Artikel Religionsgeschichte (Disziplin), in: TRE 28 (1997), 576 – 585 (583).  Vgl. J. Theis, Paulus 283 – 286.  Wolff, Brief 10 weist mit Recht darauf hin, dass es sich bei den widerstreitenden Gruppen in der korinthischen Gemeinde „nicht um Parteien mit tiefen theologischen Differenzen handelte; keine der Gruppen erscheint Paulus als mehr bzw. weniger irrend“ (Kursivierung im Original). Vielmehr geht es um ein falsches moralisches Handeln, das sich in Aufgeblasenheit gegeneinander auszeichnet (1Kor 4,6). DOI 10.1515/9783110498769-005

1 Religionsgeschichte als Zugang

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Bei alledem ist zum einen zu beachten, dass Paulus mit den Korintherbriefen an eine sich zu einem nicht geringen Teil aus Heiden rekrutierende christusgläubige⁴ Gemeinde schrieb.⁵ Ihr Hintergrund, also die griechisch-römische Geistesgeschichte, will bedacht sein. Doch ebenso ist auf die Herkunft des anderen Gemeindeteils wie auch des christusgläubigen Juden Paulus selbst zu achten, der vor dem Bildungshintergrund als Pharisäer (Phil 3,2) fest in der Tradition des Volkes Israel steht. Auf beiden Kulturfeldern, dem griechisch-römischen wie dem alttestamentlich-frühjüdischen, ist das Phänomen der Weisheit und ihrer lebensweltlichen Konkretion in der Gestalt des Weisen bereits in vorhellenistischer Zeit stark ausgeprägt worden und hat durch den Hellenismus neue Züge gewonnen.

1.1 Der Weise als allgemein religiöse Erscheinung In der Tat zeichnet sich das Phänomen Weisheit dadurch aus, dass es sich nicht ohne weiteres definieren lässt. Charles K. Barrett spricht mit einigem Recht davon, dass „Genauigkeit eines der wenigst hervorstechenden Merkmale der Weisheitsliteratur ist“⁶. Dies mag zum Teil daran liegen, dass Weisheit eine alle antiken Kulturen übergreifende Erscheinung ist und wegen dieser Allgemeinheit konturlos und verschwommen wirkt. Dennoch soll hier der Versuch unternommen werden, dieser Unkonturiertheit entgegenzuwirken, um schließlich Paulus in diesem Phänomen verorten zu können. Das Phänomen Weisheit begegnet in allen der alten Welt bekannten Kulturkreisen: China, Indien, Persien, Kleinasien, Ägypten, Griechenland. Rein sprachlich lässt sich dies an der indogermanischen und damit vielen Völkern gemeinsamen Wurzel *ueid des Wortes ‚Weisheitʻ ablesen: Es beschreibt demnach die Einsicht in bestimmte Lebens- und Weltzusammenhänge und das aus Reflexion und gewonnener Erkenntnis darauf reagierende Verhalten.⁷ Als „praktische  Zur Erinnerung: Ich vermeide bewusst den Begriff ‚Christenʻ für die Christus-Gläubigen des 1. Jahrhunderts, da er einen Anachronismus darstellt. Eine Differenzierung zwischen Juden, Heiden und Christen ergibt sich erst seit der Zerstörung des Tempels (70). Nach seinem eigenen Selbstverständnis war Paulus kein Christ, sondern ein Jude, der an Christus glaubte.  Vgl. 1Kor 12,2; Wolff, Brief 5.  C. K. Barrett/C.-J. Thornton (Hg.), Texte zur Umwelt des Neuen Testaments (UTB 1591), Tübingen 2 1991, 337.  Vgl. K. Rudolph, „Weisheit/Weisheitsliteratur I. Religionsgeschichtlich,“ in:TRE 35 (2003), 478 – 486 (478). Im Griechischen begegnet diese Wurzel beim eigentlich perfektischen οἶδα (‚ich habe gesehen/kennengelerntʻ = ‚ich weißʻ), vgl. K. Lahmer, γραμματεῖον. Grammateion. Griechische Lerngrammatik – kurzgefaßt, Stuttgart 1989, 39, im Lateinischen bei video, im Englischen bei ‚witʻ,

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Kapitel 3: Das Bild des Weisen in der Antike – Erscheinungsformen und Entwicklung

Erkenntnis“⁸ ist so zu verstehende Weisheit unter anderer Wortwurzel auch in anderen Sprachen nachzuweisen, ob im Hebräischen (‫)חכמה‬,⁹ Akkadischen oder Griechischen (σοφία).¹⁰ Weisheit ist oft auf Weitergabe ausgerichtet, konstituiert also ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, und ist nicht an gegebene religiöse Ordnungen oder Organisationen gebunden, sondern kann sich ebenso daneben bewegen. Neben dem vorherrschenden Typus des männlichen Weisen gibt es – zumindest im israelitischen Bereich – auch die Vorstellung der weisen Frau (2Sam 14,2; 20,16.22)¹¹ sowie der Weisheit selbst als Frau (Prov 1,20 – 23; 7,4; 8 – 9). Obwohl die Weisheitsvorstellungen der einzelnen Kulturen und Völker notgedrungen differieren, da sie jeweils historisch eingebunden sind, lassen sich doch religionsgeschichtliche Grundzüge ausmachen, die entwicklungsmäßig fortschreiten:¹² a) Weisheit erscheint zunächst bezogen auf den Menschen als Fähigkeit und realisiert sich in dualistischen Gegensatzpaaren wie Weisheit – Dummheit, Gerechtigkeit – Ungerechtigkeit, Leben – Tod, Ordnung – Chaos. b) Dann wird Weisheit im Rahmen des rationalen Denkens begriffen, so dass sie zur Kosmosdeutung beiträgt und innerhalb der Philosophie und den Wissenschaften zur Geltung kommt. c) Schließlich erscheint die Weisheit als Eigenschaft, Hypostase oder Personifikation des Göttlichen oder als Göttin selbst, wobei diese religiöse Entwicklung nicht in jedem Kulturkreis anzutreffen ist. In Bezug auf die Weisheit in den für diese Arbeit relevanten Kulturräumen können wenigstens zwei dieser drei Stufen durch Datierungen und Lokalisierungen näher bestimmt werden.¹³ So ist nämlich zum einen die Stufe a) (und b)) im 3. und 2. vorchristlichen Jahrtausend in den Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens auszumachen. Hier wurde allgemein anerkanntes weisheitliches Spruchgut in sich herausbildenden staatlichen Schreiberschulen literarisch fest-

im Deutschen eben bei ‚wissenʻ bzw. ‚Weisheitʻ. Auch das hebräische ‫ ידע‬scheint damit verwandt zu sein.  Rudolph, „Weisheit/Weisheitsliteratur“ I 478.  Vgl. M. Köhlmoos, „Weisheit/Weisheitsliteratur II. Altes Testament,“ in:TRE 35 (2003), 486 – 497 (486).  Vgl. Rudolph, „Weisheit“ I 478.  Vgl. C.V. Camp, „The Female Sage in Ancient Israel and in the Biblical Wisdom Literature,“ in: J. G. Gammie/ L. G. Perdue, The Sage in Israel and the ancient Near East, Winona Lake 1990, 185 – 203.  Vgl. Rudolph, „Weisheit“ I 479 f.  Vgl. zum Folgenden A. Assmann, „Was ist Weisheit? Wegmarken in einem weiten Feld,“ in: dies. (Hg.), Weisheit (Archäologie der literarischen Kommunikation 3), München 1991, 15 – 44 (20 – 24).

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gehalten und tradiert.¹⁴ Aleida Assmann nennt diese Weisheit aufgrund ihres allgemein-menschlichen Charakters, ihrer Transkulturalität und Redundanz ‚Weisheit im Pluralʻ. Demgegenüber steht die ‚Weisheit im Singularʻ, die sich seit dem vierten vorchristlichen Jahrhundert – also mit dem Beginn des hellenistischen Zeitalters – als dritte Stufe c) von ihren Vorläufern abhebt. Sie erscheint in den griechischen Philosophenschulen wie auch im nach-exilischen Judentum und gnostischen Sekten und weist auf eine Tendenz zur Spiritualisierung der Weisheit (s.u.) hin. Weisheit und die Weisen als deren Träger sind also ein allgemein kulturelles und religiöses Phänomen des Altertums. Allerdings macht sich in der Zeit des Hellenismus ein Unterschied zwischen den Kulturen des Westens und des Ostens in ihrem jeweiligen Verständnis des Weisen bemerkbar. Dies ist bedingt dadurch, dass „the wisdom tradition cannot be understood apart from the larger social history of the cultures in which it took root and flourished and […] the understandings and changing roles of sages assumed their shape and transmuted within a variety of social locations over the centuries within each culture“¹⁵. Der Weise im Orient wird als Teil der Schriftgelehrten verstanden. Der Zusammenhang von schriftlicher Gelehrsamkeit und Weisheit ist für den gesamten (alten) Orient bezeichnend.¹⁶ Er setzt sich entsprechend im entstehenden Judentum über die Verzahnung von Recht und Religion in den Setzungen der Thora und ihrer Auslegung bzw. der Auslegung anderer heiliger Schriften fort.¹⁷ So ist im Judentum sogar die apokalyptisch-prophetische Weisheit, die sich auf göttliche Offenba-

 Ein Pendant dazu auf griechischer Seite aus späterer Zeit stellen die sog. Sprüche der Sieben Weisen dar, die auf Steintafeln am delphischen Apolltempel angebracht waren (vgl. Plat.Prot. 343 A; Charm. 164D) und kurze weisheitliche Ratschläge (Gnomen) enthielten (Textbeispiel aus Miletopolis bei W. Dittenberger, Sylloge Inscriptionum Graecarum, Leipzig 31915 – 1924, 1268). In diesem Stil ist auch das Lehrgedicht des Ps.-Phokylides, der höchstwahrscheinlich hellenistischer Jude war und sich hinter der Maske des anerkannten griechischen Dichters verbarg, vgl. J. J. Collins, „Weisheit/Weisheitsliteratur III. Judentum,“ in: TRE 35 (2003), 497– 508 (502 f), gehalten.  L. G. Perdue, „Sages, Scribes, and Seers in Israel and the Ancient Near East: An Introduction,“ in: ders. (Hg.), Scribes, Sages, and Seers. The Sage in the Eastern Mediterranean World (FRLANT 219), Göttingen 2008, 1– 34 (Zitat: 1). Es ist bedauerlich, dass in dem zugehörigen Aufsatzband kein Beitrag aus neutestamentlicher Perspektive zu finden ist (der Aufsatz des Neutestamentlers A. Bedenbender befasst sich mit den apokalyptischen Büchern Dan und Hen).  Vgl. Perdue, „Sages“ 17– 34 zusammenfassend zu Weisen und Schreibern in Ägypten, Mesopotamien, Ugarit und Aram. Diese Einschätzung mag allerdings dadurch etwas eingefärbt sein, dass die Weisheitsliteratur eben als Literatur auf uns gekommen ist und Texte über unliterarische Weise nicht erhalten sind.  Vgl. Perdue, „Sages“ 3 – 17 zur Entwicklung des jüdischen Weisen. Zur Identifikation von Weisheitslehrer mit Schriftgelehrtem bei Ben-Sira vgl. Hengel, Judentum 246– 249.

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rungen beruft, an den schriftlichen Nachlass der vorangegangenen Propheten gebunden, wie etwa Dan 9 zeigt.¹⁸ Dies hängt durchaus auch mit der sog. ‚Krise der Weisheitʻ zusammen, die die bis dato geordnete weisheitliche Weltsicht (Tun-Ergehen-Zusammenhang) durch Kontingenzerfahrungen in eine Aporie führte.¹⁹ Die Bücher Hi und Qoh etwa sind jeweils Ausdruck dieser weisheitlichen Krise. Der (Rück‐)Bezug auf die heiligen Schriften und die darin tradierten Geschichten und Gestalten kann als Möglichkeit verstanden werden, sich trotz aller Widerstände der einst gemachten, grundlegenden Erfahrung eines den Menschen (und speziell Israel) zugewandten Gottes zu vergewissern.

Demgegenüber erscheint der Weise im Okzident unabhängig von literarischer Tätigkeit. Vielmehr betreibt und beschreibt der Weise westlicher Prägung seine Lehren durch sich selbst. Der Weise steht somit für den Menschen, der die Beziehung zwischen Denken und Handeln zu reflektieren vermag und so in sich Lehre und Leben, Theorie und Praxis vereint und harmonisch vereinigt.²⁰ Dabei gilt für die griechisch-römische Antike weiter zu beachten, dass es dort keinen wesentlichen Unterschied zwischen Weisheit und Philosophie bzw. zwischen Weisen und Philosophen gibt und beide Bezeichnungen austauschbar waren: „Philosopher could designate a wise man and sophos a philosopher. Philosophy was as much concerned with life as it was with ideas.“²¹ Für die Zeit des Hellenismus bedeutet all dies ein zweigeteiltes Verständnis des Weisen: Während er nach der (alt)orientalisch-biblischen Auffassung ein

 Vgl. Hengel, Judentum 374– 378.  Vgl. Köhlmoos, „Weisheit II“ 491– 493.  Vgl. W. Gent, „Der Begriff des Weisen. Eine historisch-kritische Untersuchung,“ in: ZPhF 20 (1966), 77– 117 (77). Überhaupt ist der Aufsatz Gents von 1966 insofern noch immer lesenswert, als dass er den ‚Begriff des Weisenʻ von der Antike bis zur Moderne nachzeichnet. Der Weise erscheint damit als ein, wenn auch nicht zeitloses, so doch durchaus als ein die Zeiten übergreifendes und verbindendes Phänomen. Ein Bruch in diesem Zeitenübergriff ist allerdings nach Gent seit dem 20. Jahrhundert zu beobachten – zumindest für die 1960er Jahre konstatiert Gent, dass die Weisheit wie auch der Weise keine Konjunktur mehr haben und „uninteressant“ geworden sind (a.a.O. 117). Inwieweit dies auch für das 21. Jahrhundert gilt, bleibt abzuwarten. Für die Postmoderne scheinen sich neue Modelle der Weisheit zu entwickeln, die allerdings eher skeptischer Natur sind, vgl. Assmann, „Weisheit“ 27.42 f.  R. L. Wilken, „Wisdom and Philosophy in Early Christianity,“ in: ders. (Hg.), Aspects, 143 – 168 (Zitat: 144). Bei Platon sieht das noch etwas anders aus (Phaedr. 278D): Weise ist nur Gott zu nennen – wer sich mit Weisheit beschäftigt und nach ihr strebt, sollte daher lediglich ‚Philosophʻ genannt werden. Später differenziert er (Lys. 218 A–B; Symp. 204 A): Auch ein Mensch mag wie ein Gott weise sein, wobei er dann aber kein Philosoph mehr sein kann bzw. nicht länger sein muss.

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genauer Kenner der heiligen Schriften ist,²² ist für das hellenistisch-pagane Verständnis der Primat der an der eigenen Lehre ausgerichteten Lebensführung entscheidend. Es ist dabei beinahe schon paradox zu nennen, dass die altherkömmliche ‚Weisheit im Pluralʻ aufgrund ihres transkulturellen Charakters im Kern singularistisch erscheint, d. h. als einheitliches und einigendes Moment im Dialog der Kulturen. Demgegenüber steht die sich im Hellenismus ausprägende, göttlich verstandene ‚Weisheit im Singularʻ, die sich trotz oder gerade wegen ihres Absolutheitsanspruches im Kern als pluralistisch erweist, insofern ihre Träger, also die jeweiligen Weisen unterschiedlicher ‚Schulenʻ oder Lehren, nebeneinander ihre jeweiligen weisheitlichen Überzeugungen proklamieren und leben. Gleichwohl gibt es ebenfalls seit der hellenistischen Zeit Tendenzen, die verschiedenen Weisenvorstellungen einander anzugleichen und anzupassen (s.u.). Bei alledem ist die Gestalt des Weisen in westlicher wie östlicher Ausprägung als lebensweltliche Konkretion der Weisheit nicht abgehoben und weltfern, sondern wird zu einem Vorbild des gelingenden Lebens, zu einem Ideal. Nicht von ungefähr lagern sich im Laufe der Zeit an das Wortfeld ‚Weise/Weisheitʻ Synonyme wie ‚gerechtʻ, ‚gottesfürchtigʻ, ‚geradlinigʻ oder ‚rechtschaffenʻ an.²³ Im Gegensatz dazu erscheint in beiden Kulturkreisen die Gestalt des Toren oder Uneinsichtigen als warnendes Beispiel für ein verpfuschtes, gescheitertes Leben. Trotz aller Verschiedenheit und Pluralität ist sich der antike Mensch doch sicher, dass es Weisheit und Weise überall in der Welt gibt und was sie generell bedeuten.²⁴ Dies gilt auch und gerade für die Zeit des Hellenismus, als die verschiedenen Kulturkreise allerorten stärker als je zuvor miteinander in Berührung kommen.

 So verweist Ben-Sira dann ohne weiteres auf den Zusammenhang von Weisheit und Gesetz (Sir 19,20; 21,11) und beschreibt die Aufgabe des Weisen eben als das genaue Studium überlieferten Wissens (39,1– 3); letztendlich besteht für Ben-Sira im Gesetz die Weisheit, vgl. Hengel, Judentum 252 f. Die Verbindung von Weisheit und Gesetz findet sich im Neuen Testament sogar bei theologischen Antipoden: Während Matthäus als ein überaus thoratreuer Evangelist (Mt 5,17– 20) ebenfalls Schriftgelehrsamkeit und Weisheit zusammendenkt und deren Verkörperungen nebeneinanderstellt (Mt 23,34), kann auch Paulus im gleichen Zug fragen: „Wo ist ein Weiser? Wo ist ein Schriftgelehrter?“ (1Kor 1,20).  Für das Alte Testament vgl. Köhlmoos, „Weisheit/Weisheitsliteratur II“ 486 (mit Verweis auf Ps 7,11; Hi 4,7; Prov 1,7; 9,9; 11,30; 23,24); 491 (frühe Weisheit: Prov 10 – 15). Für den griechischen Weisen s.u. die stoischen Synonyme unter 2.2.2 sowie die epikureische Gleichung von gerecht und weise (s.u. 2.2.2.4).  Dies kann dann auch durchaus exklusive und abgrenzende Züge annehmen, wenn etwa Sir 24 die Weisheit auf Israel konzentriert oder Epikur behauptet, nur ein Grieche könne Weisheit anstreben (Clem.Al., Stromata 1,15). Es ändert aber nichts daran, dass generell Weisheit und Weise in der Welt erkannt werden können.

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1.2 Der Hellenismus und die Weisen In seinen 1973 in Cambridge gehaltenen Treveleyan Lectures hat sich der Althistoriker Arnaldo Momigliano²⁵ mit den kulturellen Verbindungen zwischen Griechen, Römern, Kelten, Juden und Iranern im Hellenismus²⁶ befasst. Diese Vorträge wurden 1974 in dem Band „Alien Wisdom. The Limits of Hellenization“ vereint herausgebracht.²⁷ Nach Momigliano bilden die Griechen, allein schon wegen ihrer Sprache als verbindendes Element, zwar sozusagen die Basis für die Interdependenz der verschiedenen Völker. Allerdings gibt es seit dem internationalen Auftreten der Römer ab dem 2. Jahrhundert v.Chr. einen starken römischen Einfluss auf die geistigen Beziehungen der anderen Völker untereinander.²⁸ Die Leistung des hellenistischen Zeitalters ist dabei die internationale Verbreitung von Ideen und das gleichzeitige Entkräften ihrer revolutionären Potentiale. „Seen in comparison with the preceding axial age, the Hellenistic age is tame and conservative. Until St Paul arrives on the scene, the general atmosphere is one of respectability.“²⁹ Der letzte Satz ist freilich ein Urteil, dessen Prüfung noch aussteht. Die hellenistische Zivilisation³⁰ war im Wesentlichen eine kosmopolitische. Doch war sie Momigliano zufolge vor allem durch ein Dilemma geprägt, das sich

 Leben und Werk Momiglianos werden ausführlich gewürdigt von K. Christ, Neue Profile der Alten Geschichte, Darmstadt 1990, 248 – 294.  Vgl. zum Begriff des Hellenismus H. D. Betz, „Hellenismus,“ in:TRE 15 (1986), 19 – 35 (19 f) und Hengel, Judentum 2– 5. Momigliano selbst versteht den Zeitraum des Hellenismus als ungefähr „the period between Alexander and Jesus“ (A. Momigliano, „J. G. Droysen between Greeks and Jews,“ in: HTh 9 (1970), 139 – 153 [Zitat: 140]). Bei Droysen selbst schwankt diese Abgrenzung aber, was wohl an seiner eigenen doppeldeutigen und unabgeschlossenen Konzeption des Hellenismus liegt, vgl. a.a.O. 139 – 153.  A. Momigliano, Alien Wisdom. The Limits of Hellenization, Cambridge/ London/ New York/ Melbourne 1975. Die Aufsatzsammlung war in der Fachwelt nicht unumstritten, vgl. H. Kreißig, „Momigliano, Arnaldo: Alien Wisdom. The Limits of Hellenization (Rezension),“ in: OLZ 74 (1979), 105 – 108, der trotz mancher Kritik zu einer positiven Würdigung gelangt. Es gibt auch eine deutsche Übersetzung (Hochkulturen im Hellenismus. Die Begegnung der Griechen mit Kelten, Römern, Juden und Persern, München 1979).  Vgl. Momigliano, Wisdom 6.  Momigliano, Wisdom 10. Das ‚axial age‘ meint den 1949 von Karl Jaspers eingeführten Begriff ‚Achsenzeitʻ, um die analoge Entwicklung der verschiedenen Völker in China, Indien, Iran, Palästina und Griechenland vor der hellenistischen Zeit zu beschreiben. Die Kulturen der Achsenzeit sind geprägt von der scharfen Kritik intellektueller Bewegungen an den herrschenden Verhältnissen und der Entwicklung alternativer Lebensformen, vgl. a.a.O. 8 – 10.  Dies meint die Bevölkerung in Griechenland selbst als auch die griechisch-stämmige Oberschicht in den Diadochenreichen.

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auf zweierlei Weisen ausdrückte:³¹ Zwar verfügte sie zum einen über alle Instrumente, um andere Völker kennenzulernen, jedoch gehörte die Kenntnis von Fremdsprachen, d. h. der jeweiligen Landessprachen, nicht dazu. Zum anderen hatte die hellenistische Zivilisation zwar alle Kennzeichen einer erobernden und herrschenden upper class, allein es fehlte ihr an „faith in its own wisdom“³² – und dies, obwohl die Griechen mit ihren verschiedenen Philosophen von Platon bis Aristoteles eigentlich etliche eigene überzeugende Weisheitslehren ausgebildet hatten, die stetig weiter betrieben wurden. Wegen dieses Mangels an Glauben richtete man sich jedoch an den anderen Völkern aus und suchte dort nach Weisheit, sei es in politischer Hinsicht, sei es in religiöser Hinsicht. Im Bild einer bekannten Fabel gesagt: Das Gras auf der anderen Wiese wirkt immer grüner als das auf der eigenen. Von daher erklärt sich auch der Titel von Momiglianos Buch: Nicht die eigene Weisheit, sondern alien wisdom, fremde Weisheit, wurde für die Griechen zum Versprechen für ein erfolgreiches und glückseliges Leben. Die Weisheit fremder Völker, ob nun der Ägypter, Perser oder auch Juden,³³ erschien somit sehr attraktiv,³⁴ wobei diese freilich recht oft von griechischer Seite sehr idealisiert (wenn nicht gar gänzlich imaginisiert) wurde, was eben auch an der stolzen Einsprachigkeit der Griechen und der daraus resultierenden mangelnden Einsicht in die Gedankenwelt fremder Kulturen lag.³⁵ Insofern kann die allgemeine Feststellung des Paulus: „Die Griechen suchen Weisheit“ (1Kor 1,22) um den Zusatz „… auch und gerade bei anderen Völkern“ erweitert werden.³⁶

 Vgl. hierzu Momigliano, Wisdom 149.  Momigliano, Wisdom 149.  Die Römer wurden von den Griechen zwar als ein fremdsprachiges, nicht aber als ein fremdes bzw. völlig barbarisches Volk angesehen, eine Fehleinschätzung, die letztendlich zur bleibenden Eroberung der Griechen durch die Römer führte. Momigliano, Wisdom 22– 49 verdeutlicht dies eindrücklich am Beispiel der griechischen Geschichtsschreiber Polybius und Posidonius, die den Römern als vermeintlich Gleichgesinnten große Sympathie entgegenbrachten, sie tatsächlich aber gar nicht verstanden. Sein Fazit: „If you want to understand Greece under the Romans, read Polybius and whatever you may believe to be Posidonius; if you want to understand Rome ruling Greece, read Plautus, Cato – and Mommsen.“ (a.a.O. 49)  Die Attraktion der barbarischen Weisheit reicht vom 2. vorchristlichen bis zum 3. christlichen Jahrhundert, vgl. Hengel, Judentum 385 f.  Vgl. A. Momigliano, „The Fault of the Greeks,“ in: Daed. 104 (1975), 9 – 19 (15 – 17); Hengel, Judentum 464– 564 zur Interpretatio Graeca des Judentums in hellenistischer Zeit.  Paulus weiß allerdings mit den Griechen natürlich auch die Römer und andere nichtjüdische Völker in seinem Missionsgebiet inkludiert. „Ἕλληνης [bei Paulus] sind der durch Sprache, Abstammung und Kultur von den Juden unterschiedene Teil der Menschheit“, vgl. H. Windisch, „Ἕλλην κτλ.,“ in:ThWNT 2 (1935), 501– 514 (Zitat: 510 – im Original gesperrt), wobei das Kriterium Sprache m. E. zwar wichtig bleibt, aber gerade in der Diaspora stark abgemildert wird.

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So fremd die Weisheit der anderen Völker auch sein mochte, so wurde sie doch gerade von griechischer Seite als Philosophie angesehen und, in dieser Weise etikettiert, durchaus vereinnahmt. Selbst eine ‚barbarischeʻ Philosophie³⁷ ist letzten Endes Philosophie und kann als solche verstanden werden. Durch dieses Verständnis ist dann selbst eine Religion wie das Judentum von Griechen (und später Römern) zunächst als Philosophie angesehen und gedeutet worden.³⁸ Auf ihrer Suche nach Weisheit kamen auch die Juden (bzw. die Judäer: Ἰουδαῖοι)³⁹ ins Blickfeld der Griechen.⁴⁰ Somit verwundert es nicht, wenn um 300 v.Chr. der Aristoteles-Schüler Theophrast von den Juden als Philosophen, also Weisheitsliebhabern, spricht, die sich durch Fasten, ständiges Beten, Astrologie und die Ablehnung von Menschenopfern auszeichnen.⁴¹ Tatsächlich soll Aristoteles in Kleinasien – nach dem Bericht des Klearchus,⁴² eines weiteren Stagiri-

 Vgl. A. Dihle, „Die griechische Philosophie zur Zeit ihrer Rezeption durch Juden und Christen,“ in: R. Hirsch-Luipold,/ H. Görgemanns / M. v. Albrecht (Hg.), Religiöse Philosophie und philosophische Religion der frühen Kaiserzeit. Literaturgeschichtliche Perspektiven (Ratio Religionis Studien 1), Tübingen 2009, 3 – 19 (3 – 7). Auch Momigliano bescheinigt der griechischen Suche nach barbarischen Philosophen und Sehern eine „long tradition“ (Wisdom 70). Im Laufe der Jahrhunderte bis in die Spätantike hinein wurden dann sogar griechische Geistesgrößen wie Platon und Pythagoras als Schüler von fremdländischen Lehrmeistern (wie etwa Ägyptern, Indern und Magern) geschildert, vgl. G. R. Boys-Stones, Post-Hellenistic Philosophy. A Study of its Development from the Stoics to Origen, Oxford 2001, 116 – 118.  Die Deutung einer Spielart der jüdischen Religion als Philosophie, nämlich des Christentums, geschieht dann von römischer Seite in der Kaiserzeit, vgl. Dihle, Philosophie 18 f; M. v. Albrecht, Philosophie und Religion in der lateinischen Literatur der Kaiserzeit, in: Hirsch-Luipold/Görgemanns/Albrecht, Religiöse Philosophie, 23 – 45 (23 – 25).  Es ist fraglich, ob die ‚Judenʻ in der vorchristlichen Antike als Religionsgemeinschaft oder nicht vielmehr als Volksgemeinschaft (Ethnos) des Landstrichs Judäa (gleichwohl mit eigenen Sitten und religiösen Überzeugungen) angesehen wurden. Daran hängt auch die Übersetzung von Ἰουδαῖοι mit ‚Judenʻ oder mit ‚Judäerʻ. ‚Judenʻ hat für heutige Ohren einen durchweg religiösen Klang. Wohl erst durch das Leben in der Diaspora, also in der Entwurzelung von ihrem ursprünglichen Heimatland, wurde aus der lokal bestimmten Volksgruppe der Ἰουδαῖοι/ Judäer die Religionsgemeinschaft der Ἰουδαῖοι/Juden. Bereits Kreißig, „Wisdom“ 106 f moniert Momiglianos Anachronismus, im griechisch-hellenistischen Zeitalter bereits von ‚Judenʻ zu sprechen. Für die römische Zeit erscheint mir dies allerdings angebracht. Dennoch setzt sich die Übersetzungsproblematik von ‚Judenʻ bzw. ‚Judäernʻ selbst noch in den in dieser Hinsicht späten und zudem religiös motivierten Schriften des Neuen Testaments fort, vgl. etwa Joh 7,1 (klarer Gegensatz von Galiläa und Judäa in 7,1a.b; was meint dann aber Ἰουδαῖοι in 7,1c und von daher im Rest des Evangeliums?).  Vgl. Hengel, Judentum 464– 473.  Vgl. Momigliano, Wisdom 85; Hengel, Judentum 466 f. Das Theophrast-Zitat ist erhalten bei Porphyrius, De abstin 2,26.  Wiedergegeben bei Ios.c.Ap. 1,176 – 182. Hengel, Judentum 111.467– 469 bezweifelt die Historizität dieses Berichts, obgleich er es für möglich hält, dass Klearchus selbst diesem jüdischen

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tenschülers – selbst einmal einen weitgereisten und gebildeten Juden getroffen haben, den er einen Griechen nicht nur der Sprache nach, sondern auch der Seele nach nannte (Ἑλληνικὸς ἦν οὐ τῇ διαλέκτῳ μόνον ἀλλὰ καὶ τῇ ψυχῇ). Die Juden verstand Aristoteles (bzw. dessen Berichterstatter Klearchus) als Nachfahren (ἀπόγονοι) der indischen Philosophen, die er als eine eigene Standesgruppe innerhalb der Syrer ansah. Die indischen Philosophen wiederum sollen sich von den persischen magi ableiten.⁴³ Es gab also in hellenistischer Zeit von griechischer Seite aus ein Verständnis der Juden als Weise, die sich als Teil des neu zu entdeckenden Orients gut in den bislang bekannten Völkerstammbaum einpassen ließen. Die Juden als Weise galten als ein weiterer Beleg für den Idealtypus des barbarischen Philosophen.⁴⁴ Da der Klearchus-Bericht bei Flavius Josephus wiedergegeben wird, ist es sehr wahrscheinlich, dass auch in römischer Zeit diese Vorstellung von den Juden noch bestand, gleichwohl sie auch bekämpft wurde.⁴⁵ Doch auch die Juden selbst wandten sich der fremden Weisheit zu. Dass die Weisheit fremder Völker schon vor dem Hellenismus für sie faszinierend war, zeigt die literarische Abhängigkeit des Abschnitts Prov 22,17– 24,22 von der ägyptischen Lehre des Amenemope (12. Jahrhundert v.Chr.), der wohl aus der mittleren Königszeit (ca. 8. Jahrhundert) stammt.⁴⁶ Die biblische Weisheit zeigt hieran entsprechend ihrer Verwurzelung in der ‚Weisheit im Pluralʻ (s.o.) eine gewisse Internationalität⁴⁷. Doch sogar aus hellenistischer Zeit, als die nächste Entwicklungsstufe der Weisheit als ‚Weisheit im Singularʻ eigentlich nur im eigenen kulturellen bzw. religiösen Bereich einen Erkenntnisgewinn propagierte bzw. propagieren konnte, finden sich Belege, die von der Faszination – und womöglich auch Idealisierung – auf jüdischer Seite in Bezug auf fremde Weisheit künden. Dies zeigt sich an dem moabitischen Hiob-Freund Elifas (Hi 2,11) und

Wundertäter begegnet ist. Klearchus selbst ist bei seinen Reisen wohl bis ins heutige Afghanistan gelangt, wie eine dort gefundene Inschrift wahrscheinlich macht, die eine Abschrift von Weisheitssprüchen aus Delphi darstellt, vgl. Momigliano, Wisdom 86.  Momigliano, Wisdom 85.  Vgl. H. Windisch, „βάρβαρος,“ in: ThWNT 1 (1933), 544– 551 (546 f). Die Überlegenheit der barbarischen Philosophen an Wissen und Einsicht gegenüber den griechischen ist fester literarischer Topos im Hellenismus, vgl. Hengel, Judentum 468 f.  Letztlich befindet sich das Zitat ja in einer apologetischen Schrift (Contra Apionem).  Vgl. Kaiser, Grundriß 3 66 f. Der legendäre Besuch der Königin von Saba bei König Salomo (1Kg 10,1– 13) ist ein tendenziöser Bericht über die Attraktivität und Überlegenheit der jüdischen Weisheit bereits in vorhellenistischer Zeit. Diese Linie wird vom sog. Aristeas-Brief und dessen Schilderung des königlichen Gastmahls mit jüdischen Übersetzern noch weiter ausgezogen.  Vgl. B. Lang, „Klugheit als Ethos und Weisheit als Beruf: Zur Lebenslehre im Alten Testament,“ in: Assmann, Weisheit, 177– 192 (179).

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seinen weisheitlichen Redebeiträgen im Hiob-Buch (4.–2. Jahrhundert)⁴⁸ ebenso wie an den weisen Sprüchen der Ismaeliten Agur und Lemuel (Prov 30 f)⁴⁹. Ebenso sind Qohelet⁵⁰ und die apokryphen Ben-Sira⁵¹ und Sapientia Salomonis⁵² von griechisch-hellenistischem Gedankengut wenn nicht durchdrungen (SapSal), so doch wenigstens berührt (Qoh), und sei es in einer Abwehrbewegung (Sir)⁵³. Die Neigung zu fremder Weisheit ist im frühen Judentum allerdings nicht allein literarisch, sondern besonders ereignisgeschichtlich wirksam geworden, nämlich als Auslöser für die Makkabäer-Revolte (166 – 164 v.Chr.). Gerade der Versuch einer pro-hellenistischen Minderheit, den Tempel in Jerusalem und dessen Kult in griechischer Weise umzugestalten und das eigene jüdische Bekenntnis im weiteren paganen Umfeld nach Ansicht der Mehrheit gleichsam einzuebnen,⁵⁴ führte in seinem Scheitern dazu, dass sich die jüdische Religion noch viel mehr als zuvor als Fremdkörper innerhalb der hellenistischen Kultur darstellte – ein Fremdkörper, der auf Außenstehende sowohl abstoßend wie auch faszinierend wirken konnte. Die Abstoßung manifestiert sich im antiken Antisemitismus,⁵⁵ die Faszination in der nicht geringen Zahl von Gottesfürchtigen und Proselyten.⁵⁶ Eine Besonderheit der jüdischen Weisheit ist, dass sie auf viele verschiedene Traditionskreise ihres reichen religiösen Umfelds zurückgreifen kann, die sich in der Thora, den Geschichtsbüchern sowie den prophetischen Schriften manifes-

 Vgl. Kaiser, Grundriß 3 73 f.  Kaiser, Grundriß 3 68 wagt keine Datierung, zieht aber wegen der Aramaismen in Prov 31 eine Spätdatierung in Betracht. Die Rückführung der Sprüche auf ausländische Weise vollzieht die LXX im Übrigen nicht nach.  Vgl. Hengel, Judentum 210 – 240. Kaiser, Grundriß 3 88 (skeptisch gegenüber Hengel).  Vgl. Hengel, Judentum 241– 275.  Vgl. Kaiser, Grundriß 3 114– 118, der eine Abfassung in der frühen Augustus-Zeit befürwortet (116). Ebenso spricht sich R. J. Clifford, The Wisdom Literature (Interpreting Biblical Texts), Nashville 1998, 136 – 138 indirekt für eine Abfassung im ersten vorchristlichen Jahrhundert aus.  Ben-Sira stellt ja ausdrücklich die Überlegenheit der israelitische Weisheit heraus (Geschichtsüberblick: Sir 42,15 – 50,24), sieht Israel im Gegenüber zu allen anderen Völkern (Sir 17,17; 23,12; 24,8 – 11; 36,1– 22; 50,25 f), übernimmt seinerseits aber hellenistisch-philosophische Vorstellungen in seinem Denken.  Vgl. Hengel, Judentum 486 – 554. Die Makkabäer als Gewinner des Konflikts schrieben anschließend – im Wortsinn – Geschichte und diffamierten die ihnen unterlegenen Gegner entsprechend.  Vgl. Hengel, Judentum 559; C. Colpe, „Antisemitismus,“ in: KP 1 (1964), 400 – 402.  Vgl. H. Hegermann, „Das hellenistische Judentum,“ in: J. Leipoldt/ W. Grundmann (Hg.), Umwelt des Urchristentums I. Darstellung des neutestamentlichen Zeitalters, Berlin 81990, 292– 345 (307– 314), wobei es wegen des niederschwelligeren praktisch-religiösen Anspruchs (keine Beschneidungsforderung!) sicherlich mehr Gottesfürchtige als Proselyten gab.

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tieren, und diese ihrerseits wiederum literarisch beeinflusst.⁵⁷ Cornelis Bennema gebraucht für diese Vorstellung der jüdischen Weisheit das Bild eines geflochtenen Seils oder Taus, insofern das Alte Testament und die außerkanonischen Schriften neben diesem „present the one wisdom tradition as a single rope made up of various intertwined, distinct threads of wisdom strands“⁵⁸. Diese weisheitlichen Stränge sind im einzelnen a) ein thorazentrierter⁵⁹, b) ein geistzentrierter⁶⁰, c) ein apokalyptischer⁶¹ und d) ein qumranischer Traditionsstrang⁶² und lassen sich auf frühere Ausformungen biblischer Weisheit zurückführen. Als Beispielschriften für die einzelnen Stränge aus der hellenistischen Zeit nennt Bennema a) Sir, Bar, das rabbinische Schrifttum, 4Makk und Josephus, b) SapSal, Philo und JosAs, c) Dan, 1Hen, 4Esr, 2Bar,TestXII sowie d) das qumranische Schrifttum. Dadurch ergeben sich auch innerhalb der jüdischen Weisheit verschiedene Ausprägungen der Gestalt des Weisen, wobei sie alle (dem Glauben Israels entsprechend) von einer göttlichen Beeinflussung des jeweiligen weisen Menschen ausgehen. Der Weise erscheint entlang der eben genannten Stränge als a) Schriftgelehrter („scribe“), b) Weisheitslehrer („sage“), c) Seher („seer“) bzw. d) Sektierer („sectarian“). Man mag an diesem Modell einen gewissen Systemzwang kritisieren, der sich in der alliterativen Bezeichnung der verschiedenen Weisengestalten manifestiert. Auch die Gleichgewichtigkeit eines eigenen qumranischen Stranges, der zudem die Züge aller drei anderen Stränge in sich vereinigt, mag fragwürdig erscheinen. Jedoch halte ich es insgesamt für eine richtige und wichtige Erkenntnis, dass die frühjüdische Weisheit keine homogene Größe darstellt, sondern verschiedene Einflüsse, die sie in den jeweiligen Strängen aufnimmt, aufweist⁶³ und entsprechend unterschiedlich verstanden werden kann. Gleichzeitig können sich in der Ver-

 Zum Folgenden vgl. C. Bennema, „The Strands of Wisdom Tradition in Intertestamental Judaism: Origins, Developments and Characteristics,“ in: TynB 51 (2001), 61– 83.  Bennema, „Strands“ 81 (im Original kursiv).  Bennema, „Strands“ 68: „The Torah is the locus or embodiment of Wisdom, i. e. Wisdom indwells the Torah. Because Wisdom is found in the Torah, the acquisition of W/wisdom is necessarily linked with the study of the Torah […].“  Bennema, „Strands“ 72: „The Spirit indwells Wisdom […] and consequently functions as the disclosing power of Wisdom and her teaching.“  Zum Konnex von Weisheit und Apokalyptik vgl. Hengel, Judentum 375 f, wobei die genaue Art der Verbindung umstritten ist, vgl. H. v. Lips, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament (WMANT 64), Neukirchen–Vluyn 1990, 78 – 81.  Daneben stellt Bennema, „Strands“ 81 Anm. 75.83 noch einen messianischen Traditionsstrang, der allerdings für die Betrachtung der weisheitlichen Entwicklung nicht ins Gewicht fällt.  Vgl. insgesamt Lips, Traditionen 29 – 190, der allerdings davor warnt (186 f), jeden Gebrauch des Begriffs ‚Weisheitʻ als Indiz auf die tatsächliche Übernahme weisheitlicher Traditionen zu verstehen.

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flechtung der verschiedenen Weisheitsstränge ‚neue Zöpfeʻ ergeben, wie dies m. E. die Schriften von Qumran zeigen. Weisheit im Judentum erweist sich damit als ein höchst dynamisches Geschehen. Wenngleich sich in der jüdischen Weisheit somit verschiedene Stränge erkennen lassen, bleiben der Bezug zur Schrift und damit auch das Verständnis der Gestalt des Weisen als eines Menschen, der in der Schrift bewandert ist, stets erhalten. Selbst in dem Strang, der am weitesten von einer Schriftkenntnis entfernt ist und am meisten Berührungspunkte mit dem westlichen Weisenverständnis aufweist, nämlich dem geistzentrierten Strang, ist der Bezug zur Schrift nicht wegzudenken. Dies liegt letzten Endes daran, dass in der Schrift der Gott Israels bezeugt wird, auf den sich der jüdische Weise gleich welchen Stranges stets beruft. Sie bezeugt einen persönlich gedachten und geglaubten Gott, der die Geschicke der Welt und der Menschen darin leitet. Damit ist das Problemfeld des freien menschlichen Willens berührt. Die Möglichkeit, weise zu werden, beruht für den Weisen westlicher Prägung, in dessen Leben Wort und Tat zur Harmonie gelangen, letztlich auf einer Entscheidung bzw. der Durchsetzung seines freien Willens. Dieser freie Wille ist für den jüdischen Weisen derart nicht denkbar, verdankt er doch seine Existenz mit all ihren Akzidentien – und dazu zählt insbesondere seine Weisheit – der Gnade Gottes. Somit bleibt der jüdische Weise an die Schrift und die darin enthaltenen Lehren und Geschichte Israels mit seinem Gott gebunden.

1.3 Die Kaiserzeit und die Weisen Die Römer waren nicht nur die Eroberer, sondern wurden auch zu den Erben der hellenistischen Welt.⁶⁴ Bei ihrer Überwältigung der anderen Völker profitierten sie im Gegensatz zu den Griechen vor ihnen von der eigenen Zweisprachigkeit und nutzten die griechischen Völkerkundler sozusagen als Dolmetscher. Durch deren Wissbegier gelangten die Römer zu einem Verständnis der zu erobernden Völker, nutzten dies für ihre eigenen Interessen, schufen selbst aber eine eigene kulturelle

 Ich schließe mich dem Urteil von Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch 160 an, dass es für den historischen Kontext des frühen Christentums unwesentlich ist, welches Enddatum man für das hellenistische Zeitalter annimmt, „denn es ist kaum zu bestreiten, daß man den östlichen Mittelmeerraum in neutestamentlicher Zeit zum Bereich der hellenistischen Kultur rechnen muß“. Und dies gilt ebenso für den Westen. Oder um die Worte von F. C. Grant („Hellenismus,“ in: RGG3 III (1959), 209 – 212) zu gebrauchen: „In Wirklichkeit ging der H[ellenismus] nie zu Ende“ (209). Hengel, Judentum 4 setzt den Epochenendpunkt für Syrien und Palästina mit Trajan (98 – 117) an.

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Identität.⁶⁵ Dennoch blieb auch in römisch-hellenistischer Zeit das bei den Griechen aufgekommene Interesse nach alien wisdom, nach fremder Weisheit bestehen.⁶⁶ Dies belegen zum einen der Erfolg der orientalischen Kulte und vor allem der Mysterienreligionen, die ja in geheimes Wissen einführen wollten, im gesamten römischen Reich.⁶⁷ Zum anderen steht als Zeugin dafür die Popularphilosohie, in der der ethisch-moralische Anspruch von Kynismus und Stoa ineinanderfloss und durch Wanderphilosophen gleichsam internationalisiert wurde.⁶⁸ Tatsächlich lässt sich Epiktet⁶⁹, Weisheitslehrer und später Zeitgenosse des Paulus, als ein gutes Beispiel für die popularphilosophische Übernahme und Weitergabe von alien wisdom heranziehen: Aus der kleinasiatischen Region Phrygien stammend kam er als Sklave nach Rom. Dort hörte er den römischen Stoiker Musonius Rufus und sah dessen Lehren als größtes Geschenk noch vor der eigenen Freilassung an. Später lehrte Epiktet selber in Vorträgen, zunächst in Rom, dann im epirischen Nikopolis. An Epiktet sehen wir also, wie ein Phryger von einem Römer in Weisheit unterrichtet wird – noch dazu in stoischer, also originär griechischer Weisheit! – und wie dieser Phryger dann selbst zu einem bekannten Weisheitslehrer wird, aber nicht etwa in seiner alten Heimat, sondern im Ausland, zunächst in Italien, dann in Mazedonien.⁷⁰ Die Faszination für fremde Weise bestand also auch in römischer Zeit weiter. Bei alledem blieb, wie üblich im Hellenismus, die griechische Sprache das verbindende Element. Inwieweit das Judentum generell eher als orientalischer Kult oder als Philosophie angesehen wurde, ist fraglich. Letztlich hängt das vom Betrachter ab. Ein Spezifikum des Judentums in dieser Hinsicht ist, dass in ihm religiöse und eth-

 Momigliano, Wisdom 149: „The Greeks explored the world of the Celts, the Jews, the Persians and of the Romans themselves. The Romans conquered Celts, Jews and the Greeks themselves.“  Selbst Tacitus, der durch sein Werk römische Werte wieder aufleben lassen wollte, zeigt sich in der Germania wie auch im Agricola zutiefst von den Barbaren im Norden fasziniert und bewundernd.  Vgl. J. E. Stambaugh/ D. L. Balch, Das soziale Umfeld des Neuen Testaments (GNT 9),Göttingen 1992, 128 – 133. G. Haufe, „Die Mysterien,“ in: Leipoldt/Grundmann, Umwelt I, 101– 126. Aufschlussreich ist auch etwa Plutarchs religionswissenschaftliche Schrift De Iside et Osiride (mor. 351D–384C).  Vgl. E. Lohse, Umwelt des Neuen Testaments (GNT 1), Göttingen 102000, 182 f. Vor allem griechische Philosophen wirkten in Rom, vgl. L. Friedländer/ G. Wissowa, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von August bis zum Ausgang der Antonine 3, Leipzig 91920, 268 f.  Vgl. H. Dörrie, „Epiktetos,“ in: KP 2 (1967), 313 – 314.  Zum Phänomen der ausländischen Philosophen in der hohen Kaiserzeit vgl. J. Hahn, Der Philosoph und die Gesellschaft. Selbstverständnis, öffentliches Auftreten und populäre Erwartungen in der hohen Kaiserzeit, Stuttgart 1989, 148 – 155. 165 – 171. Daneben gab es aber auch ihrem Heimatort verbundene Philosophen wie z. B. Plutarch, vgl. ebd. 156 – 164. Letztendlich hat Sokrates Athen ja auch nie verlassen.

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nische Aspekte miteinander verschmelzen.⁷¹ Die griechischsprachige jüdische Seite (Josephus, Philo) betont zumindest stark den philosophischen Charakter seiner Religion (s.u.).⁷² Gleich, wie man hier entscheidet, ist in der Diaspora das fremde (andersgläubige bzw. ausländische) Element des Judentums deutlich erhalten, was durchaus Anziehungskraft entwickeln konnte. Gepaart mit dem Zug, die jüdischen Überzeugungen als Weisheitslehre feilzubieten, kann sich das Judentum in der Kaiserzeit ohne weiteres als alien wisdom präsentieren. Seine Vertreter erscheinen dann als Weise im Schnittfeld von Religion und Philosophie. Eben die Existenz dieses Schnittfelds weist auf eine Veränderung in der Kaiserzeit gegenüber der Weisheit und dem Weisen hin, die bereits in vorrömischer Zeit angelegt war. Gerade im Hellenismus als der Begegnung der Griechen mit anderen Völkern und deren gegenseitiger Beeinflussung kommt es wenn nicht zu einer Verschmelzung der Vorstellungen über den Weisen, so doch zu einer äußerst starken Angleichung. Diesen Vorgang kann man – nach einem Vorschlag von Reinhard Feldmeier, der die Linie eines Aufsatzes von Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier auszieht und weiterführt – vonseiten der Religion als ‚Sapientisierung des Heiligen⁷³ʻ bezeichnen, vonseiten der Philosophie als ‚Sakralisierung des Weisenʻ.⁷⁴ Wirkfelder dieser neuen Entwicklung sind die griechisch-römische Philosophie und die jüdische sowie (als eine Erscheinung dieser) die frühchristliche Religion. In dieser Denkbewegung kann das ethisch-philoso-

 Hengel, Judentum 560 bescheinigt dem Judentum im Rahmen anderer Religionen eine „wohl einmalige Verbindung zwischen Nation und Religion“ [im Original teilweise kursiviert].  Selbst Strabo erkennt in Mose einen stoischen Philosophen, vgl. Friedländer/Wissowa, Darstellungen 214.  Das ‚Heiligeʻ ist ein religionswissenschaftlicher nicht unumstrittener Begriff, vgl. Maier, „Religionsgeschichte“ 582 f. Ich verstehe ihn gerade im Bereich der jüdisch-christlichen Religion, deren Heiligkeitsbegriff eng mit Reinheitsvorstellungen zusammenhängt (‫)קרש‬, nicht als Gegensatz zum Profanen, sondern als Gegenbegriff zum Unreinen und Widergöttlichen, vgl. Joest, Dogmatik I 159 f. Heilig zu sein bedeutet also, mit dem Wesen Gottes übereinzustimmen.  Vgl. R. Feldmeier, „‚Göttliche Philosophie‘: Die Interaktion von Weisheit und Religion in der späteren Antike,“ in: Hirsch-Luipold/Görgemanns/Albrecht, Religiöse Philosophie, 99 – 116 (103). H. Cancik/ H. Cancik-Lindemaier, „Senecas Konstruktion des Sapiens. Zur Sakralisierung der Rolle des Weisen im 1. Jh. n.Chr.,“ in: Assmann, A. (Hg.), Weisheit (Archäologie der literarischen Kommunikation 3), München 1991, 205 – 222 hatten lediglich von der Sakralisierung der Rolle des Weisen gesprochen (205: Titel). Sie gehen davon aus, dass ein Weiser von seiner Umwelt ausgehend von bestimmten Bereichen in entsprechenden Rollen begriffen wird (218 – 220). Dazu zählen Lehrer (Bildung, Erziehung, Wissenschaft), Seelenarzt (Medizin, Seelsorge), königlicher oder göttlicher Beamter (Verwaltung), Zeuge (Recht) und Priester/Mystagoge (Religion). Unter der ‚Sakralisierung der Rolle des Weisenʻ verstehen sie nun, dass im 1. christlichen Jahrhundert die für den Weisen bestimmenden Rollenelemente weniger aus dem Bereich Bildung/Wissenschaft als aus den Bereichen Verwaltung, Recht und Religion herangezogen werden.

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phische Vorbild Sokrates (s.u.) dann als heilige Gestalt angesehen werden, da er, wie es besonders vom Mittleren Platonismus vertreten wurde, „mittels seines Daimonion in direkter Verbindung mit dem Göttlichen steht und als solcher zu den Menschen gesandt ist“⁷⁵. Die heilige Figur Mose⁷⁶ hingegen erscheint als Philosoph, was ja zunächst gerade in der interpretatio graeca der jüdischen Religion als Philosophie begründet liegt (s.o.), dann aber umso intensiver von jüdischer Seite selbst betrieben wird.⁷⁷ Dies liegt auch daran, weil inzwischen innerhalb der frühjüdischen Auslegungstradition die göttliche Weisheit mit der philosophischen Weisheit der hellenistischen Welt gleichgesetzt wird.⁷⁸ Wie also Offenbarungsreligion und zeitlose Philosophie zusammengedacht werden, rücken auch die Vorstellungen vom göttlichen Weisen und vom weltlich-ethischen Weisen zusammen. Die Sphären von Religion und Philosophie durchdringen somit einander. Es ist gerade diese reziproke Entwicklung im religiös-philosophischen weisheitlichen Denken, innerhalb derer Paulus in Korinth gesehen werden muss. Die Angleichung der Weisen-Vorstellungen im Hellenismus ist natürlich nicht vollkommen. Unterschiede gibt es nach wie vor. Dies gilt sowohl für die verschiedenen Sichtweisen auf den Weisen innerhalb des Griechentums wie die innerhalb ‚desʻ Judentums: Platoniker sind eben keine Stoiker, wie denn auch Qohelet eine andere Weisheitslehre bringt als Ben-Sira oder das Danielbuch. Diesen Unterschieden wird im nächsten Abschnitt nachgegangen. Bei allen Verschiedenheiten bleibt aber das Phänomen bestehen, dass der Weise in der Antike kulturübergreifend als eine Idealfigur erscheint, der es für ein vollkommenes Leben nachzueifern gilt. Ob diese Idealfigur auch tatsächlich real ist bzw. überhaupt realisiert werden kann, wird ebenfalls im folgenden Abschnitt an gegebener Stelle erörtert.

 Feldmeier, „Philosophie“ 100. Aus den ersten beiden christlichen Jahrhunderten sind noch vier Schriften über das Daimonion des Sokrates erhalten.  Neben Mose erfährt vor allem Salomo einen Karriereschub, insofern er „zum Inbegriff des religiösen Dichters und Denkers“ (Feldmeier, „Philosophie“ 112) avanciert, wie an dem breiten pseudepigraphen salomonischen Schrifttum deutlich sichtbar wird.  Vgl. Feldmeier, „Philosophie“ 105.  Vgl. Feldmeier, „Philosophie“ 104.

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2 Die Gestalt des Weisen in der Philosophie der Kaiserzeit 2.1 Zu den Quellen im paganen Bereich Um Phänomene zu erkennen, sind beschreibende Quellen sehr hilfreich, da in ihnen – trotz der Tendenz, die jeder Quelle zueigen ist – zumindest der Versuch unternommen wird, möglichst neutral zu berichten. Dieser Bericht kann dann durch andere, offen tendenziöse Quellen (also auch Ego-Dokumente) gestützt, gegebenenfalls auch korrigiert werden. Es geht bei diesem Schritt also nicht darum, aus einem Dokument herauszufiltern, wie jemand sich selbst dargestellt hat, sondern wie andere jemanden wahrnehmen, um ein bestimmtes Phänomen zu beschreiben. Auf das Phänomen des kaiserzeitlichen Weisen angewendet bedeutet dies, eine Quelle heranzuziehen, die in beschreibender Weise auf dieses Phänomen zu sprechen kommt: Wie werden Weise dargestellt, was sind ihre Merkmale, wodurch heben sie sich von ihrer Umwelt ab?⁷⁹ Für diesen Zweck habe ich die Philosophiegeschichte des Diogenes Laertios⁸⁰ als Hauptquelle für die allgemeine Sicht auf die griechischen Weisheitslehrer und ihre Lehren gewählt.⁸¹ Sie ist in einem gewissen zeitlichen Abstand zu den vorgestellten Persönlichkeiten und Meinungen verfasst, sehr wahrscheinlich im 3. Jh.⁸² Diogenes’ Werk ist „ein Querschnitt durch die Überlieferungsmasse seiner Zeit“⁸³. Dem eigenen Anspruch nach will es ein vollständiges Bild über die Geschichte der Philosophie abliefern, die einzig und allein eine griechische Errungenschaft sei. „What Diogenes tries to present is a world of philosophy which is exclusively Greek, pre-Roman and pre-Christian.“⁸⁴ Diese pro-hellenische Ten-

 Erst auf dieser Grundlage lässt sich dann überprüfen, wie Paulus gegenüber den Korinthern auftritt und sich selbst im Weisheitdiskurs mit ihnen darstellt und verortet.  Vgl. H. Dörrie, „Diogenes 11,“ in: KP 2 (1967), 45 – 46.  Ich komme damit der Forderung nach, die G. B. Kerferd, The Sage in Hellenistic Philosophical Literature (388 B.C.E.–199 C.E.), in: Gammie/Perdue, Sage, 319 – 328 bezüglich der Erforschung der Gestalt des Weisen aufstellt: „[T]he concept of the wise man must be interpreted from Plato and Aristotle onward in terms of the various systems of philosophy within which the concept is positioned“ (320). Cancik/Cancik-Lindemaier, „Konstruktion“ 206 nennen für den stoischen Bereich Diogenes’ Werk „[d]ie einzige zusammenfassende, historische und systematische Darstellung der stoischen Philosophie, die uns direkt und vollständig aus der Antike überkommen ist“. Auch auf die anderen philosophischen Schulen trifft dieses Urteil zu.  Vgl. A. Momigliano, „Ancient Biography and the Study of Religion in the Roman Empire,“ in: ders., On Pagans, Jews, and Christians, Middletown 1989, 169 f.  Dörrie, „Diogenes“ 46.  Momigliano, „Biography“ 172. Diog.Laert. 1,4: ἀφ’ Ἑλλήνων ἦρξε φιλοσοφία, ἧς καὶ αὐτὸ τὸ ὄνομα τὴν βάρβαρον ἀπέστραπται προσηγορίαν („Von den Griechen her fing die Philosophie an,

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denz schließt zwar die römische Kaiserzeit (und damit auch Paulus’ Wirkungszeitraum) für die Behandlung des Stoffes eigentlich nahezu aus; die Abfassungszeit des diogenesischen Werkes zeigt jedoch, dass sich (griechisch-hellenistische) philosophische Traditionen bis in die hohe Kaiserzeit erhalten haben. Die Aussparung der frühen und späteren Kaiserzeit bei Diogenes ist also kein Argument gegen die Nutzung seines Buches, um populäre Vorstellungen von der Gestalt des Weisen im Hellenismus zu ermitteln.⁸⁵ Diogenes’ Werk ist zugleich ein Zeugnis für die ‚Weisheit im Singularʻ, die sich tatsächlich in vielfältigen (und durchaus einander widersprechenden) Beschreibungen über ‚denʻ Weisen äußert. Neben Diogenes’ Geschichtswerk als beschreibender Hauptquelle werden aber auch andere Texte eingesehen, wie etwa Xenophons Memoiren, Dions Reden oder die ethischen Briefe des Seneca.

2.2 Die Gestalt des Weisen in der Philosophie der Kaiserzeit Philosophie ist bereits ihrem Namen nach die Liebe für bzw. vielmehr das Streben nach Weisheit.⁸⁶ So wie die ersten Philosophen nach den Ursachen und Anfängen

deren Name selbst auch die barbarische Benennung [= Rückführung auf einen barbarischen Ursprung] verabscheut.“).  Natürlich schreibt Diogenes Laertios für seine eigene Zeitgenossen und vor dem geistesgeschichtlichen Hintergrund seiner Gegenwart. Insofern könnte man einwenden, dass sein Werk nicht speziell auf das Phänomen des Weisen im 1. christlichen Jahrhundert ausgerichtet ist. Allerdings lässt sich dieser Einwand dadurch entkräften, dass zum einen der Anspruch des Werkes in einer historischen Darstellung besteht, also tatsächlich die Vergangenheit (und damit auch unser zu untersuchender Zeitraum) im Blickfeld liegt. Zum anderen kann bei Diogenes keine Tendenz zu einer Verfälschung der Quellen beobachtet werden. Vielmehr stellt er möglichst glaubwürdig und neutral zusammen, was bis zu seiner Zeit über die verschiedenen philosophischen Lehren (und Lehrer) bekannt war, und dies schließt das Wissen über die unterschiedlichen Auffassungen des Weisen mit ein. „Diogenes Laertius is not holding up one philosopher or one school as a model; what he is doing is producing a gallery of memorable philosophers. His vision of Greek philosophers is a symposium of various sages, each with his brand of wit and wisdom.“ (Momigliano, „Biography“ 172 f)  Vgl. zur Etymologie O. Michel, „φιλοσοφία,“ in: ThWNT 9 (1973), 169 – 185 (170). Der Begriff φιλόσοφος taucht erstmals bei dem Vorsokratiker Heraklit auf (fr. 35) und wird als notwendige Ausformung des ἵστωρ, also des Wissenden bzw.Wissenschaftlers, verwendet. Für Platon war nur die Gottheit weise, der Mensch damit aber allein auf das Streben nach Weisheit beschränkt, was zu einer lebenslangen Wahrheitssuche und einem entsprechenden Lebensstil führt, vgl. Dihle, „Philosophie“ 14. Seneca definiert den Unterschied zwischen Weisheit und Philosophie so (Epist 89,4): sapientia perfectum bonum est mentis humanae. philosophia sapientiae amor est et adfectatio. haec eo tendit, quo illa pervenit. („Weisheit ist ein [bzw. das] vollkommenes Gut des

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Kapitel 3: Das Bild des Weisen in der Antike – Erscheinungsformen und Entwicklung

des Kosmos suchten, war ihr Streben doch auch stets auf die eigene Existenz und damit auf ihr eigenes Handeln bezogen. Das Streben nach Weisheit, danach, wie die Welt funktioniert, hatte immer auch ethische Konsequenzen, denn die Weisheit selbst beeinflusst die Lebensführung. So nimmt es auch nicht wunder, wenn Diogenes Laertios sozusagen aus der Vogelperspektive im Vorwort zu seiner Philosophiegeschichte als einen der drei Teile der Philosophie die Ethik nennt (Diog.Laert. 1,18).⁸⁷ Ethik befasst sich mit der Frage: „Wie sollen wir leben?“⁸⁸ Diese Frage wurde gerade im Hellenismus virulent, als das alte politische wie gleichermaßen soziale, kulturelle und religiöse Gefüge der griechischen Staatenwelt auseinanderbrach und sich neu formierte.⁸⁹ Das massive Aufeinandertreffen der verschiedenen Völker führte zu einer Verunsicherung über die eigenen Vorstellungen und Werte. Auf griechischer Seite⁹⁰ geschah diese Verunsicherung durch die Entmachtung der verschiedenen Kleinstaaten zugunsten des alexandrinischen Großreichs bzw. der Reiche seiner Diadochen. Die Polis, also der selbstverwaltete Stadtstaat, war nicht länger die einzig bestimmende Größe des menschlichen Zusammenlebens; die ganze bekannte Welt rückte ins Blickfeld des Einzelnen. So erhielt der Kosmopolitismus verstärkt Einzug in das Denken. Das Individuum musste sich in dieser weit gewordenen Welt neu einrichten. Umso drängender wurde also die Frage nach der rechten Lebensweise des Einzelnen. Gerade aber die Bezogenheit des antiken Individuums auf andere, die in der agrarischen Kultur wurzelt, blieb bestehen.⁹¹ Daher „fährt allem inneren und äußeren Verfall zum Trotz das Leben in der Stadtgemeinde fort [,] dem ethisch-politischen Denken die Ziele zu setzen,

menschlichen Geistes. Philosophie ist die Liebe und das Streben zur Weisheit. Diese wendet sich dorthin, wo jene [bereits] angekommen ist.“)  Die anderen Teile sind ihm zufolge die Physik und die Dialektik/Logik.  Nach H. v. Oyen, „Ethik,“ in: RGG3 2 (1958), 708 – 715 ist Ethik die „Lehre vom verantwortlichen Handeln innerhalb des mitmenschlichen Seins“ (708). Allerdings gibt Stanley Hauerwas für die aktuelle Ethik zu bedenken, ob nicht „die Frage, wer wir sein wollen, der notwendige Hintergrund für die Frage, was wir tun sollen“, sein sollte (S. Hauerwas, Selig sind die Friedfertigen, Ein Entwurf christlicher Ethik (Evangelium und Ethik 4), Neukirchen-Vluyn 1995, 66; Kursivierung im Original). Dieser für die heutige Zeit bedenkenswerte Aspekt scheint mir dennoch ein Charakteristikum der Neuzeit mit ihrem Hang zu Individualismus und Selbstverwirklichung und somit für die vorliegende Arbeit irrelevant zu sein; für die antike Gesellschaft, die sich am Kollektiv und dessen Interessen orientierte, vgl. Malina/Neyrey, Portraits 225 – 231, ist die Fragestellung Hauerwas’ anachronistisch.  Vgl. zum Folgenden aus der älteren Literatur etwa Wendland, Kultur 36 – 41.45 – 50; P. Krüger, Hellenismus und Judentum im neutestamentlichen Zeitalter, Leipzig 1908, 8 – 16.  Der Hellenismus erstreckte sich als allgemeines zivilisatorisches Phänomen nicht allein auf die westliche Welt des Mittelmeers. Okzident und Orient beeinflussten sich in reziproker Weise.  Vgl. Malina/Neyrey, Portraits 154– 157.

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die nun freilich auch Ziele zweiter Ordnung werden“⁹². Wenn im Folgenden also von ‚Individualismusʻ gesprochen wird, darf dieser nicht mit dem neuzeitlichen Konzept einer totalen Überordnung des Individuums über die Gemeinschaft gleichgesetzt werden. Allerdings stellen die Ideen von Individualismus und Kosmopolitismus kein alleiniges Werk des Hellenismus dar, sondern beide sind Ausprägungen bereits vorhandener geistiger Strömungen im griechischen Denken.⁹³ Tatsächlich sind mit Platons Darstellung der sokratischen Lehren und seiner Staatslehre die Grundlagen für individualistisches Denken gelegt; anstelle des Staates, der nicht für Gerechtigkeit sorgt, tritt das Individuum, das in sich selbst nach eigenem Denken die Gerechtigkeit anstrebt und sich in einer philosophisch-schulischen Gemeinschaft organisiert. „Platons auf dem Boden sokratischer Ethik und Dialektik erwachsene Kritik des historischen Staates bezeichnet den eigentlichen Wendepunkt in der griechischen Kultur“⁹⁴. Die Ausdifferenzierung in verschiedene philosophische Schulen lässt doch nicht deren gemeinsames Ziel vergessen, nämlich die Glückseligkeit, die εὐδαιμονία, welche nicht länger allein über die Betätigung in der und v. a. für die PolisGemeinschaft erreicht werden kann. Vielmehr kann nur das Individuum über die Beschäftigung mit sich selbst im Rahmen einer philosophischen Erziehung zur εὐδαιμονία gelangen. Daher bieten die verschiedenen philosophischen Schulen ihren Schülern (bzw. Jüngern) bereits vor der eigentlichen Zeit des Hellenismus entsprechende Modelle an, die in ihren jeweiligen Idealbildern des Weisen dargestellt sind.⁹⁵ Die Idealfigur des Weisen ist „das Bild der freien auf sich selbst gestellten, die breite Masse überragenden Persönlichkeit“⁹⁶. Ihm nachzueifern ermöglicht, sich als Individuum in der unsicheren Welt einen festen Stand zu verschaffen. Zur Illustration der Vorstellungen vom Weisen wurde auf Vorbilder aus dem Mythos (Herakles, Odysseus) oder der Geschichte (Sokrates, Antisthenes, Diogenes) bzw. die eigene Gegenwart (Epikur) zurückgegriffen.⁹⁷ Sokrates kam dabei eine besondere Rolle zu, stellt doch sein Auftreten einen Wendepunkt in der Philosophiegeschichte dar, insofern sein Leben wie sein Sterben Epoche gemacht

 E. Schwartz, Charakterköpfe aus der antiken Literatur. Zweite Reihe, Leipzig 1910, 39.  Vgl. zum Folgenden P. Corssen, „Über Begriff und Wesen den Hellenismus,“ in: ZNW 9 (1908), 81– 95 (85 f).  Corssen, „Hellenismus“ 86.  Vgl. Corssen, „Hellenismus“ 87.  Wendland, Kultur 48; er benennt als sich ausbildende Instanzen des hellenistischen Weisenideals die stoische, epikureische und skeptische Ethik.  Vgl. Wendland, Kultur 49.

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haben und das bislang stärkste Nachwirken zeitigten.⁹⁸ Tatsächlich lässt sich sagen, dass die Idee des Weisen nicht erst im Hellenismus entsprungen ist, sondern „erwachsen aus dem […] Samen der sokratischen Lehre“⁹⁹. Bereits zu Lebzeiten hatte das Orakel von Delphi Sokrates als den weisesten aller Menschen proklamiert und deklariert.¹⁰⁰ Durch seinen Schüler Platon wurde Sokrates in dessen Dialogen auch für die Nachwelt hoch berühmt, wenngleich die in ihnen geäußerten philosophischen Ansichten nur zu einem geringen Teil Sokrates’ eigene sind. Mehr noch als sein Denken hinterließ aber sein Handeln einen tiefen Eindruck, der über seine Zeitgenossen hinaus bei den nachfolgenden Generationen bestehen blieb. Unabhängig von ihrer denkerischen Ausrichtung beanspruchten viele philosophische Schulen bis hinauf in die Kaiserzeit Sokrates als ihr ethisches Vorbild.¹⁰¹ „Socrates’ concentration upon ethics with his repudiation of the inquiry into nature […] is the most fundamental characteristic of Socrates in the doxographical tradition.“¹⁰² Und dies liegt wohl daran, dass „Xenophon, Memorabilia 1.1.11– 16, rather than Plato’s Apology or Phaedo, was the text that made this mark of Socrates so prominent.“¹⁰³ Gerade deshalb soll hier ein genauerer Blick auf Sokrates erfolgen – und eben nicht anhand der von der eigenen Lehre überlagerten Darstellung Platons, sondern anhand der Darstellung Xenophons.¹⁰⁴  Vgl. Kerferd, „Sage“ 319.  Corssen, „Hellenismus“ 87. Corssen sieht diesen Samen als „am reichsten in Plato aufgegangenen“ (ebd.) – eine Meinung, die meines Erachtens das Zeugnis Xenophons und dessen Wirkung zu schnell übergeht. Corssen fragt aber weiter zu Recht (85), ob nicht der Tod des Sokrates einen größeren Einfluss auf das griechische Denken in hellenistischer Zeit gehabt hat als generell die Begegnung mit dem Orient im Zuge der Eroberungen Alexanders.  Plat.apol. 21a: μηδένα σοφώτερον εἶναι („dass keiner weiser sei“). Dies wird später bei Diog.Laert. 2,37 weiter verklärt: ᾿Aνδρῶν ἁπάντων Σωκράτης σοφώτατος („Von allen Männern [ist] Sokrates der weiseste“).  Vgl. K. Döring, Exemplum Socratis. Studien zur Sokratesnachwirkung in der kynisch–stoischen Popularphilosophie der frühen Kaiserzeit und im frühen Christentum (Hermes.E 42), Wiesbaden 1979, 3 – 12. Nur die Epikureer verweigerten sich diesem Trend. Selbst der frühe Peripatos sah Sokrates als wahrhaften Philosophen; erst den späteren Peripatetikern wurde Sokrates gleichgültig. So kann der Stoiker Epiktet nach einem Lob auf Sokrates’ Verständigkeit zu seinem willigen Schüler sagen (Ench. 51): „Auch wenn Du aber noch nicht (ein) Sokrates bist, bist Du es schuldig, wie einer zu leben, der (ein) Sokrates sein will [bzw.: zu leben als einer, der wie Sokrates sein will]“ (σὺ δὲ εἰ καὶ μήπω εἷ Σωκράτες, ὡς Σωκράτες γε εἷναι βουλόμενος ὀφείλεις βιοῦν).  A. A. Long, „Socrates in Hellenistic Philosophy,“ in: CQ 38 (1988), 150 – 171 (Zitat: 151).  Ebd.  Auch die xenophonische Sokrates-Darstellung ist eingefärbt und verklärt; dadurch aber, dass sie auf ein philosophisches System verzichtet und einen Schwerpunkt auf die lebensweltliche Schilderung Sokrates’ legt, fügt sie sich meinen Überlegungen zum Weisen im lebensweltlichen Kontext am besten ein.

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2.2.1 Der Weise Sokrates in der Darstellung des Xenophon Im Jahre 399 v.Chr. wurde Sokrates in Athen der Prozess gemacht. Der Athener Xenophon schrieb seine Erinnerungen an Sokrates als eine nachträgliche Verteidigungsschrift über seinen Lehrer und Mentor. Xenophon will mit seiner Schilderung des umstrittenen Sokrates denselben von den Vorwürfen der Asebie durch Ablehnung der staatlichen und Einführung neuer Götter und Jugendverführung (mem. 1,1,1) reinwaschen. Sokrates war aufgrund dieser Anklagepunkte der Prozess gemacht worden, der mit dem Todesurteil für ihn endete. Gleich in den ersten beiden Kapiteln der Memorabilien gibt Xenophon daher eine Widerlegung der Anklagepunkte:¹⁰⁵ Darin stellt er seinen Lehrer als frommen Verehrer der athenischen Religion dar wie auch als einen, der zum Streben nach Tugend (ἀρετή) anreizte. Der Rest des vierbändigen Werkes ist in vielen Episoden die Beschreibung des Sokrates als einer herausragenden Persönlichkeit, der statt einer Strafe vielmehr hohes Ansehen gebühre. Sokrates sei weder ein Scharlatan gewesen, noch habe er die öffentliche Ordnung untergraben. Darüber hinaus erscheint Sokrates als ein Lehrer, der zu Lebzeiten in Worten und Taten völlig übereinstimmte (4,4,10), wobei Sokrates die Bezeichnung ‚Lehrerʻ selbst wohl ablehnte (1,2,3)¹⁰⁶ und auch seine Schüler durchweg als ‚Gefährtenʻ (συνόντες) bezeichnet werden. Das Verhältnis zwischen Sokrates und seinen Gefährten bestimmt sich allerdings so, dass Sokrates als Vorbild erscheint, das von ihnen nachgeahmt wird (1,2,3; 4,2,40). Einen besonderen Stellenwert nimmt nach Xenophon auch die Selbstbeherrschung (ἐγκράτεια) des Sokrates ein. Bereits in 1,2,1 bezeichnet Xenophon seinen Mentor als den von allen Menschen ‚selbstbeherrschtestenʻ¹⁰⁷ (πάντων ἀνθρώπων ἐγκρατέστατος). Auf diese Tugend weist er dann in 1,5 wie in 2,1 und 4,5 besonders und ausführlich hin. Demnach propagierte Sokrates die Selbstbeherrschung nicht bloß als erstrebenswerte Tugend (1,5,1.4), sondern er selbst zeigte sich ebenfalls selbstbeherrscht gegenüber dem Bedürfnis nach Essen und Trinken, Wollust und Schlaf, wie auch gegenüber Hitze, Kälte und Mühsal (2,1,1). Daran zeigt sich in Xenophons Werk einmal mehr die Übereinstimmung in Wort und Tat seitens des Sokrates.

 Xen.mem 1,1 befasst sich mit dem Asebie-Vorwurf, 1,2 mit dem Vorwurf der Jugendverführung.  Dies weist auch der Sokrates in Platons Apologie (33 A) von sich.  Im Deutschen wie im Griechischen klingt diese Aussage schief, da Selbstbeherrschung ja nur alternativlos möglich ist: Entweder man ist selbstbeherrscht oder ist es eben nicht. Eine Übersetzung als Elativ (‚sehr selbstbeherschtʻ) scheidet allerdings aus, weil diese die Relation zu ‚allen (!) Menschenʻ unterschlüge.

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Sokrates erweist nach Xenophon aber auch insofern seine Aufrichtigkeit, dass er trotz seines Ansehens als Lehrer kein Geld von seinen Schülern entgegennimmt (1,6,3.11). Damit grenzt sich Sokrates von den Weisheitslehrern seiner Zeit, den Sophisten, ab. Vielmehr bestehe sein Gewinn (κέρδος) darin, gemeinsam mit den Freunden alte Schriften zu durchforschen und durch das Auffinden von etwas Gutem einander nützlich zu werden (1,6,14). Zum Abschluss seines Werkes (4,8,11) fasst Xenophon die Eigenschaften des Sokrates zusammen und bestimmt sie als fromm (εὐσεβής), gerecht (δίκαιος), selbstbeherrscht (ἐγκρατής), verständig (φρόνιμος) und geeignet (ἵκανος) zu bestimmten Dingen. Mit der Frömmigkeit begegnet Xenophon dem Asebie-Vorwurf, mit dem Gerecht-Sein dem Vorwurf der Jugendverführung als auch überhaupt jeder Anklage.¹⁰⁸ Die Selbstbeherrschung ist in der Schrift breit ausgeführt (s.o.). Die Verständigkeit zielt auf das rechte und eigenständige Abwägen des Sokrates bei Entscheidungsprozessen in Hinsicht auf bessere und schlechtere Dinge. Dabei zeigte sich Sokrates selbständig im Hinblick auf die Erkenntnis dieser Dinge (αὐτάρκης εἶναι πρὸς τὴν τούτων γνῶσιν). Die Eignung schließlich bezieht sich darauf, selber logisch sprechen und die so beschaffenen Dinge bestimmen zu können (λόγῳ εἰπεῖν τε καὶ διορίσασθαι τὰ τοιαῦτα),¹⁰⁹ wie darauf, andere prüfen, ihrer Fehler überführen und zur Tugend und Vortrefflichkeit hinführen zu können (ἄλλους δοκιμάσαι τε καὶ ἁμαρτάνοντας ἐλέγξαι καὶ προτρέψασθαι ἐπ’ ἀρετὴν καὶ καλοκἀγαθίαν). Dieser Eigenschaftskanon bildet also das Resümee Xenophons über Sokrates, und so fällt er das Urteil, Sokrates sei wohl der beste und glücklichste Mann (ἄριστός τε ἀνὴρ καὶ εὐδαιμονέστατος) gewesen. Interessanterweise taucht an dieser Stelle das Wort σοφός nicht auf. Dies ist allerdings auch nicht nötig, da Xenophon in Wiedergabe der sokratischen Lehre in 3,9,5 die Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) wie überhaupt jede Tugend mit der Weisheit (σοφία) gleichsetzt. Jede Tugend entspringt damit gleichsam der Weisheit. Tatsächlich (3,9,4) könne nur der als weise gelten, der das Vortreffliche (καλά τε κἀγαθὰ) erkenne und danach handle wie auch das Schlechte kenne und sich davor in Acht nehme; wer trotz der rechten Erkenntnis nicht gut handle, könne ebenso wenig als weise gelten wie die Unbeherrschten (ἀκρατεῖς). In dem Abschnitt 3,9,4– 7 werden namentlich die Eigenschaften ἐγκρατής und δίκαιος mit

 Die Schrift beginnt ja mit dem Vorwurf, Sokrates handele ungerecht (ἀδικεῖ), indem er fremde Götter verehre und die Jugend verführe (1,1,1), und sei daher zu verurteilen.  Eine andere mögliche Übersetzung der Stelle besteht darin, τὰ τοιαῦτα auf die zuvor im Hinblick auf den Entscheidungsprozess genannten besseren und schlechteren Dinge zu beziehen: „[Sokrates war dazu] geeignet, die so beschaffenen Dinge sowohl mit Worten auszudrücken als auch zu definieren“.

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σοφός parallel gesetzt,¹¹⁰ so dass rückblickend vom Resümee in 4,8,11 der Eindruck nicht verwischt werden kann, dass Sokrates uneingeschränkt als weise gelten kann. Dies gilt umso mehr, insofern ja Sokrates als geeignet geschildert wird, zu Tugend und Vortrefflichkeit zu führen. Wenn aber Tugend gleichsam Weisheit ist und das Vortreffliche nur vom Weisen erkannt werden kann, folgt daraus zwingend, dass auch Sokrates als weise zu gelten hat.¹¹¹ Gerade in der frühen Kaiserzeit erfuhr das Interesse an Sokrates als ethischmoralischem Vorbild in der Popularphilosophie eine neue Blüte.¹¹² Klaus Döring sieht dafür mehrere Gründe als entscheidend an:¹¹³ Zunächst besaß die bei Sokrates zu findende Übereinstimmung von Wort und Tat, was sich in der Lebensund vor allem Sterbensweise des Atheners bemerkbar machte und umso mehr das Proprium des westlichen Weisen ausmacht,¹¹⁴ auch nach über 500 Jahren noch große Überzeugungskraft. Dies galt besonders in einer Zeit, die sich überhaupt auf die Vergangenheit zurückbesann,¹¹⁵ in der aber gleichermaßen in der philosophisch gebildeten Oberschicht ein Vorbild zur Orientierung gesucht wurde, gerade wenn es zu Konflikten mit der Obrigkeit kam.¹¹⁶ Doch neben diesen Oberschichtsproblematiken war Sokrates auch allgemein, aber speziell bei Stoikern und Kynikern, als Vorbild für einen einfachen Lebensstil, Anspruchs- und Bedürfnislosigkeit anerkannt. Darüber hinaus diente er vielen als Projektionsfläche für individuelle Vorstellungen von dem, was ein Vorbild bieten sollte. Wie bereits oben bemerkt, geriet die Gestalt des Sokrates in den hellenistischen Prozess der Sakralisierung des Weisen. Er ist dabei nur ein besonders prominentes Beispiel. Die ihm von Xenophon zugeschriebenen Eigenschaften und Tugenden – allen voran die ἐγκράτεια¹¹⁷ – stellen einen Grundstock dessen, aber gleichermaßen auch eine Grundanfrage daran dar, was in der weiteren Geschichte zum Repertoire eines Weisen gehören sollte.

 Ebenso wird σώφρων parallel zu σοφός aufgeführt; im Resümee 4,8,11 spielt Besonnenheit aber keine Rolle.  Zudem wird φρόνιμος oft als Wechselbegriff von σοφός gebraucht (s. 2.2.2).  Vgl. etwa die Hochachtung Sokrates’ bei Epikt.ench. 5.32.33.46 und bes. 51: „Wenngleich Du aber noch kein Sokrates bist, solltest Du leben wie einer, der Sokrates sein will.“  Vgl. Döring, Exemplum 12– 17.  S.o. 1.3. Döring, Exemplum 16 Anm. 52 liefert dazu einen Sokrates zugeschriebenen, bei Stobaios (Ecl 2,15,37 W) zitierten Ausspruch: „Gefragt, wessen Wort besonders stark ist, sagte Sokrates: ‚dessen Handeln dem Wort zugleich folgtʻ.“ (Σωκράτης, ἐρωτηθεὶς τίνων μάλιστα ὁ λόγος ἰσχύει, ὧν ἡ πρᾶξις εἶπε συνακολουθεῖ τῷ λόγῳ).  Ein Beispiel dafür ist die Zweite Sophistik.  Gerade jemand wie der Stoiker Seneca, der unter verschiedenen Kaisern zum Tode verurteilt wurde, wird sich in solchen Situationen am Vorbild des Sokrates aufgerichtet haben.  Vgl. Long, „Socrates“ 154.

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2.2.2 Der Weise nach den philosophischen Hauptrichtungen im Hellenismus Diogenes Laertios erwähnt im Vorwort zu seinem Werk, dass die Philosophie seiner Zeit früher einfach ‚Weisheitʻ genannt wurde (θᾶττον δὲ ἐκαλεῖτο σοφία), und beschreibt den früher getroffenen Unterschied zwischen Philosophen und Weisen folgendermaßen (1,12): Der Weise sei jemand, der die Weisheit für sein Fach erkläre (ταύτην [= σοφίαν] ἐπαγγελλόμενος¹¹⁸) und gemäß der Vortrefflichkeit der Seele ein Mensch größter Sorgfalt (ἀπεκριβωμένος) sei. Der Philosoph hingegen sei (bloß) jemand, der Weisheit lieb habe (ἀσπαζόμενος). Aus der weiteren Darstellung der Philosophengeschichte wird aber klar, dass dieser Unterschied für Diogenes nicht länger gilt. Vielmehr kann auch der Philosoph als weise gelten, sofern er sich mit der Weisheit befasst und sie gleichsam lebt. Die hier von ihm gegebene Definition des Weisen passt zur oben gegebenen allgemeinen Definition des Weisen, insoweit Lehre und Lebensführung übereinstimmen. So wie also ‚Philosophʻ und ‚Weiserʻ als Wechselbegriffe verwendet werden können, gibt es im griechischen Weisheitsdiskurs noch weitere Bezeichnungen für σοφός:¹¹⁹ ἀγαθός („gut“), ἀστεῖος („fein“, wortwörtlich: „städtisch“), γνωστικός¹²⁰ („erkenntnisreich“), ἐνάρετος („tugendsam“), ἐπιστήμων („verstehend“), νοῦν ἔχων („Verstand habend“), πεπαιδευμένος („gebildet“), σπουδαῖος („eifrig“), φρόνιμος¹²¹ („verständig“). All diese Adjektive und Partizipien werden mitunter substantiviert verwendet, um einen weisen Menschen zu bezeichnen. Eine ähnliche Vielfalt von Umschreibungen gilt auch für den Gegenpart des Weisen, den schlechten Menschen, der allgemein unter dem Begriff φαῦλος läuft. Er wird, wenn er nicht schlicht als μὴ σοφός („nicht weise“) bezeichnet wird, auch mitunter wie folgt tituliert: ἀπαίδευτος („ungebildet“), ἄφρων („unverständig“),

 Vgl. zu dieser Übersetzung Bauer, Wörterbuch s.v.  Vgl. zum Folgenden die Lemmata in SVF 4. Jene Sammlung steht zwar nur für den stoischen Sprachgebrauch, sie ist aber repräsentativ für den allgemeinen Sprachgebrauch, wie ein Blick in die Texte anderer philosophischer Richtungen zeigt. Vgl. zudem K. Janáček, Indice delle Vite Dei Filosofi di Diogene Laerzio (Studi 73), Florenz 1992 für den Gebrauch jener Lemmata bei Diogenes Laertios.  Die Belege in SVF für γνωστικός stammen allerdings v. a. von Clemens Alexandrinus, so dass mit Sicherheit von einem synonymen Gebrauch erst in nachpaulinischer Zeit gesprochen werden kann.  Der Terminus φρόνιμος wird von Aristoteles in Unterscheidung zu σοφός gebraucht, um denjenigen zu bezeichnen, der weise handelt, vgl. Kerferd, „Sage“ 323 f. Dass Epikur diesen Terminus übernahm, um damit seinen Abstand und seine Verschiedenheit zu den anderen philosophischen Konzepten vom Weisen auszudrücken (so Kerferd ebd.), mag stimmen. Kerferd suggeriert jedoch, dass Epikur dieses Wort bevorzugt gebraucht, was ich den Texten nicht zu entnehmen vermag.

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κακός („schlecht“). Neben den adjektivischen Bezeichnungen kann der NichtWeise auch durch die Zuschreibung von ἀγνωσία/ἄγνοια („Unwissenheit“) als solcher identifiziert werden. Eine Besonderheit bzw. das Merkmal des Weisenbildes okzidentaler Prägung ist es, dass die Bezeichnung ‚der Weiseʻ eine Fremdbezeichnung darstellt. Anders gesagt: Kein Weiser würde je von sich selbst behaupten, weise zu sein. Dies illustriert sehr schön die Anekdote über die Ehrung des Weisesten:¹²² Ein Dreifuß, der nach einem delphischen Orakelspruch dem Weisesten überreicht werden sollte, wurde von vielen Männern, die als weise angesehen wurde, jeweils an einen anderen reihum weitergereicht, bis schließlich der erste in diesem Kreislauf, als die Auszeichnung wieder bei ihm angelangt war, den Preis dem Gott Apoll weihte. Weisheit als eine besondere Lebensweise ist demnach zwar von außen wahrnehmbar, was der Grund dafür ist, dass die als Weise beurteilten Männer jeweils den Dreifuß überreicht bekamen. Es würde aber Vermessenheit und damit Unweisheit bedeuten, wenn man die menschliche Weisheit als höchste Instanz setzte und sich selbst als weise bezeichnete. Letztendlich steht allein Gott als Quelle der Weisheit diese Auszeichnung zu. Dieselbe Einstellung erscheint bei Platon, der den Orakelspruch über Sokrates, dass dieser der weiseste aller Menschen sei, so deutet: „Dieser ist von euch, ihr Menschen, der weiseste, der wie Sokrates erkannt hat, dass er in Wahrheit nichtswürdig in Bezug auf die Weisheit ist.“ (Plat. apol. 23B: οὗτος ὑμῶν, ὦ ἄνθρωποι, σοφώτατός ἐστιν, ὅστις ὥσπερ Σωκράτες ἔγνωκεν ὅτι οὐδενὸς ἄξιός ἐστι τῇ ἀληθείᾳ πρὸς σοφίαν.) Weisheit ist also als eine Fremdbezeichnung eine Auszeichnung. Wer hingegen von sich selbst behauptet, weise zu sein, erweist sich als tatsächlich unweise. Aus dem Disput über das Verständnis von Weisheit als einem Lehr- und Lerngegenstand entspringt innerhalb der philosopischen Diskussion seit Sokrates und Platon der Streit mit den Sophisten.¹²³ Die Kaiserzeit kannte viele verschiedene philosophische Schulen.¹²⁴ Sie zeichneten sich dadurch aus, dass ihre jeweiligen Mitglieder sich auf einen Gründer zurückführten und diesem loyal verbunden waren, auch wenn dessen Nachlass durchaus frei interpretiert werden konnte. Somit waren für die Akademie Platon, für die Stoa Zenon und für den Garten Epikur maßgeblich. ‚Schuleʻ meint dabei den Zusammenschluss gleichgesinnter Philosophen. In ihrer Identität als

 Vgl. Diog.Laert. 1,27– 32. Diogenes berichtet die Anekdote in mehreren Varianten, die aber alle denselben Kern haben. Oft wird der Kreis der den Dreifuß weiterreichenden weisen Männer auf die Sieben Weisen bezogen.  Vgl. U. Wilckens, „σοφία κτλ.,“ in: ThWNT 7 (1964), 465 – 475.497– 529 (470).  Vgl. zum Folgenden A. A. Long/ D. N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, Stuttgart/ Weimar 2000, 1– 6.

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Gruppe wurden die Schulen als αἱρέσεις, also als ‚Neigungsgruppenʻ¹²⁵, wahrgenommen und benannt. Als bedeutendste Schulen in griechisch-hellenistischer Zeit gelten die genannten drei wie auch die skeptische Pyrrhonische Schule.¹²⁶ Die Skeptiker haben aufgrund ihrer alles in Frage stellenden Geisteshaltung keine selbständige Lehre vom Weisen hervorgebracht, weshalb sie im Folgenden nicht weiter beachtet werden. Tatsächlich hat Pyrrho ein Buch Gegen die Weisheit (κατὰ σοφίας) verfasst (Diog.Laert. 9,106). Allerdings ist selbst im skeptischen Denken Platz für die Idee der Gestalt des Weisen, insofern diese in einem Menschen verwirklicht ist, der sich ganz dem skeptischen Ideal folgend durch praktische Vernunft und die Zurückhaltung beim Urteilen auszeichnet.¹²⁷ In römisch-hellenistischer Zeit kam es zudem zu einer Aristoteles-Renaissance, so dass ich im Folgenden auch die Lehren des Peripatos über den Weisen kurz behandele. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Ansätze und Sichtweisen kam es zu differierenden Vorstellungen des Weisen. Und auch wenn von vielen Schulen die Seltenheit des Weisen propagiert wurde, zeugen doch sowohl die Vorstellung von ihm als auch die Tatsache, dass sich jede Schule eigene Gedanken über ihn machte, davon, dass das Ideal theoretisch als realisierbar gedacht wurde.¹²⁸  Den Begriff ‚Sekteʻ für αἱρέσεις (so auch bei Long/Sedley, Philosophen 6) halte ich für irreführend, da er religionswissenschaftlich belastet ist. Ihrem Selbst- wie auch dem Außenverständnis nach ist eine Sekte die Abspaltung von einer orthodoxen Großgruppe; dies ist aber für die hellenistischen Philosophenschulen nicht gegeben, da es keine irgendwie geartete philosophische orthodoxe Großschule gegeben hat. Der von mir gewählte Begriff ‚Neigungsgruppeʻ hat den Vorteil, dass in ihm das Moment des Wählens und Vorziehens (αἱρέω) aufgenommen wird. Die Definition, die Diogenes Laertios für αἱρέσεις bietet (1,20), dass diese nämlich keine festen Lehrsätze haben, sondern vielmehr einem Wort gemäß der Wahrnehmung folgen oder zu folgen scheinen (αἵρεσιν μὲν γὰρ λέγομεν τὴν λόγῳ τινὶ κατὰ τὸ φαινόμενον ἀκολουθοῦσαν ἢ δοκοῦσαν ἀκολουθεῖν), erklärt aber die Herkunft des Begriffs ‚Sekteʻ: Er ist wohl über die Latinisierung von ἀκολουθεῖν ins Deutsche geraten (Sekte > sequi = ἀκολουθεῖν).  Es ist fraglich, ob die Kyniker eine eigene Schule bildeten. Diog.Laert. 6,103 bejaht dies und versteht den Kynismus als eigene Philosophie, obgleich die Kyniker sich ausschließlich mit Ethik befassen und nicht auch mit Logik und Naturkunde. Von daher stellt er dann auch eine eigene kynische Lehre über den Weisen zusammen (6,105): Er sei liebenswert (ἀξιέραστος), fehlerlos (ἀναμάρτητος), dem Mitweisen ein Freund (φίλος) und überlasse nichts dem Zufall. Bei aller Eigenständigkeit des Kynismus sieht Diogenes auch eine enge Verbindung dieser Philosophie zur Stoa (6,104). Im Folgenden werde ich ab und an auch auf kynische Ansichten eingehen.  Vgl. Kerferd, „Sage“ 324 f.  Neben den Vorstellungen der vier beherrschenden Schulen über den Weisen gibt es noch weitere Meinungen ‚kleinererʻ Philosophen, wie etwa die des Hedonisten Aristipp und seines Schülers Theodoros (Diog.Laert. 2,91.98 f), die des Anthisthenes, des Vorläufers der Kyniker und Stoiker (Diog.Laert. 6,11 f), die des Stoikers Ariston, dass der Weise wie ein guter Schauspieler sei (7,160) oder sogar die des Diogenes, dass die Weisen wie auch alle anderen Menschen Kuchen

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Die folgenden Beschreibungen nehmen Diogenes Laertios Beschreibungen als Hauptquelle. Wie oben bemerkt, ist dieses Vorgehen vorteilhaft, da in Diogenes’ Werk die Beschreibung des Weisen ein fester Topos bei der Darlegung der einzelnen Philosophen ist.¹²⁹ Dies ist insofern bedeutend, als dass es bei den einzelnen Philosophen meines Wissens keine Einzelschrift ‚Über den Weisenʻ gibt, sondern dieser Komplex stets in anderen Zusammenhängen behandelt wird.¹³⁰ Diogenes Laertios bietet also exklusiv eine derartige Beschreibung, was doch sicherlich der Notwendigkeit seiner Zeit geschuldet ist, die vielen verschiedenen anzutreffenden Weisen nach ihren Lehrmeinungen und Anschauungen zu differenzieren. Es geht im Folgenden nicht um eine detaillierte Darstellung der einzelnen philosophischen Systeme. Vielmehr steht die Beschreibung des Phänomens des Weisen durch Diogenes im Vordergrund. Seine Schilderung wird gegebenenfalls ergänzt durch Aussagen von Vertretern der jeweiligen Schule.¹³¹ Die Darstellung erfolgt in einer grob biographischen Aufteilung nach a) Voraussetzungen, b) Ehe und gesellschaftlichem Leben und – wenn möglich – c) Leiden und Sterben und schließt mit einer knappen Gesamtwürdigung. Das Paragraphenzeichen § vor einer Zahl zum Ende eines Abschnitts weist auf den entsprechenden Abschnitt im jeweiligen Buch bei Diogenes Laertios hin.

essen (6,56). Desgleichen wurden auch Philosophen, die keiner der bekannten Schulrichtung angehörten, als Weise angesehen, so z. B. Heraklit (Diog.Laert. 9,13 f). Nicht zu vergessen sind natürlich die Sieben Weisen, wobei schon in der Antike Uneinigkeit sowohl über ihre Anzahl bzw. die dazugehörigen Personen bestand wie auch über die Art ihrer Weisheit (vgl. Diog.Laert. 1,13.40 – 42). Ich beschränke mich im Folgenden auf die Ansichten der Gründungshäupter der jeweiligen Schulen.  Vgl. Cancik/Cancik-Lindemaier, „Konstruktion“ 208. Cancik und Cancik-Lindemaier halten den Weisen übrigens ursprünglich für einen „Zentraltopos der Polemik“ (ebd.) der alten Stoa, der sich erst in der späteren Zeit zu einem personalisierten Ideal wandelt.  Auch Philos Buch De Abrahamo bietet laut Titel keine Anschauung über den Weisen allgemein, sondern eben nur das Leben eines Weisen (ΒΙΟΣ ΣΟΦΟΥ), nämlich Abrahams. In ähnlicher Weise behandelt die Schrift des Kleanthes Περὶ τοῦ τὸν σοφὸν σοφιστεύειν (Diog.Laert. 7,175) eben die Sophisterei des Weisen, aber nicht den Weisen als solchen (ebenso Chrysipps Buch über Erweise, dass der Weise nicht vermutet: Diog.Laert. 7,201). Allein Demokrits Schrift über die Disposition (διάθεσις) des Weisen (Diog.Laert. 9,46) scheint in diese Richtung zu weisen. Der Plural im Titel von Hermipps Werk ‚Über die Weisenʻ (Diog.Laert. 1,42) deutet wahrscheinlich eine historische Abhandlung über geschichtlich existierende Weise an.  Diese Fundstellen verdanken sich zumeist der Sammlung von Long/Sedley.

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2.2.2.1 Der Weise nach Platon Der Sokratesschüler Platon erhält (ebenso wie Epikur) zur Beschreibung seiner Lehren von Diogenes ein ganzes Buch zugewiesen.¹³² In 3,78, im letzten Drittel des Buches, wird recht unvermittelt die platonische Sicht auf den Weisen beschrieben. Ausgangspunkt ist die Lehre von Gut und Böse (περὶ δὲ ἀγαθῶν ἢ κακῶν), also die Ethik. a) Voraussetzungen: Zur Glückseligkeit (εὐδαιμονία) des Weisen sei die Tugend allein ausreichend (§ 78); die Tugend zerfalle dabei in Verständigkeit (φρόνησις), Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), Tapferkeit (ἀνδρεία) und Besonnenheit (σωφροσύνη) (§ 91). Da das Lebensziel (τέλος) des Weisen aber die Verähnlichung (ἐξομοίωσις) mit Gott sei, bedürfe er zu diesem Zweck noch weiterer, innerer wie äußerer Hilfsmittel (ὀργάνα): zum einen Stärke (ἰσχύς), Gesundheit (ὑγιεία), gute Sinne (εὐαισθησία) und dergleichen, zum anderen Reichtum (πλοῦτος), edle Abstammung (εὐγενεία) und Ruhm (δόξα).¹³³ Doch auch ohne diese äußeren Hilfsmittel könne der Weise Glückseligkeit erlangen (§ 78).¹³⁴ b) Ehe und gesellschaftliches Leben: Heiraten (γαμήσειν) sei dem Weisen ohne weiteres möglich (§ 78). Der Weise werde sich politisch beteiligen (πολιτεύσεσθαι), sich an die Gesetze halten und sich sogar selber an der Gesetzgebung seiner Heimat beteiligen, falls das Volk nicht zu verdorben sei (§ 78). Würdigung: In dieser Schilderung begegnet ein sehr weltliches Bild des Weisen. Zwar kann die Tugend allein dem Weisen zur Glückseligkeit verhelfen. Es sind aber gerade erst körperliche wie auch gesellschaftlich relevante Komponenten, die zur Voraussetzung für das Ziel der Gott-Verähnlichung werden. Da nimmt es nicht weiter wunder, dass der Weise auch über die Ehe und die Politik der Welt stark verbunden bleibt. In der skeptischen Phase der Akademie, die ungefähr zeitgleich zum Hellenismus liegt,¹³⁵ wurde das Bild des Weisen in stoischer Manier dahingehend modifiziert, dass dieser Meinungen und Vorstellungen widerstehen könne, was ihn vom normalen Menschen unterscheidet. Anders als es die Stoiker aber lehren, kann der akademisch-skeptische Weise, ohne seine Zustimmung zu etwas geben zu müssen, rein vernunftgemäß handeln und glücklich leben.¹³⁶ Dies ist in der Tat eine spitzfindige Debatte, die aber zeigt, wie sehr das Bild des Weisen auch in Einzelzügen und Unscheinbarkeiten im Hellenismus umstritten war.

 Dies mag damit zusammenhängen, dass Diogenes sein Werk einer begeisterten Platonikerin gewidmet hat, an die er sich zweimal direkt wendet (3,47; 10,29).  Eine ähnliche Liste findet sich in § 99 als Zusammenfassung der Faktoren der Glückseligkeit.  So deute ich den sonst widersprüchlichen Nachsatz „κἀν ταῦτα μὴ παρῇ“.  Vgl. Long/Sedley, Philosophen 612.  Vgl. den ciceronischen Diskurs und die Erklärungen dazu bei Long/Sedley, Philosophen 541– 546.

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2.2.2.2 Der Weise nach Aristoteles Obgleich die Philosophie des Aristoteles bis zum Ende der römischen Republik nur eine bescheidene Rolle spielte,¹³⁷ ist ein Blick auf dessen Ideal des Weisen lohnend, zeigt sich doch darin, dass der Weise als Gestalt auch in Lehren vorkommt, die als eher randständig eingestuft wurden. Die Aristoteles-Renaissance¹³⁸ in der Kaiserzeit macht es aber nötig, hier auch das aristotelische Weisenbild zu behandeln. Die Beschreibung des aristotelischen Weisen findet sich bei Diogenes Laertios in 5,30 – 31. Nach einer Auflistung des reichen aristotelischen Oeuvres kommt Diogenes auf die ethischen Ansichten des Stagiriten zu sprechen und leitet damit zu dessen Ansichten über den Weisen über. a) Voraussetzungen: Das Ziel (τέλος) der Ethik sei der Gebrauch der Tugend in einem vollkommenen Leben (χρῆσις ἀρετῆς ἐν βίῳ τελείῳ) (§ 30). Die Tugend könne erworben werden durch die allgemeinen Lehrgegenstände (ἐγκύκλια μαθήματα) wie auch durch eine betrachtende (θεωρητικόν) Lebensweise. Die Einzeltugenden (Gerechtigkeit, Verständigkeit etc.) seien unabhängig voneinander, so dass auch ein verständiger und gerechter Mensch unbeherrscht, also unbesonnen sein könne (§ 31). Da die Tugend alleine nicht zur Glückseligkeit (εὐδαιμονία) ausreiche, brauche der Weise zusätzlich noch körperliche und äußerliche Güter. Erst in der Kombination des seelischen Gutes der Tugend und der körperlichen und äußeren Güter könne der Weise dem Unglücklichsein (κακοδαιμονία) entgehen und die Glückseligkeit erlangen. Zu den körperlichen Gütern gehörten namentlich Gesundheit (ὑγιεία), Kraft (ἰσχύς) und Schönheit (κάλλος), zu den äußeren Gütern Reichtum (πλούτος), edle Geburt (εὐγενεία) und Ruhm (δόξα). Die äußeren und körperlichen Güter verhinderten aber das Unglücklichsein nicht, wenn der seelische Anteil von Schlechtigkeit (κακία) bestimmt sei (§30). b) Ehe und gesellschaftliches Leben: Der Weise sei maßvoll leidenschaftlich (μετριοπαθής), aber nicht leidenschaftslos (ἀπαθής).¹³⁹ Deshalb könne er sich auch auf Freundschaften einlassen. Unter Freundschaft (φιλία) ließen sich drei

 Vgl. Long/Sedley, Philosophen 2.  Diese hängt wohl mit der Erneuerung des Peripatos durch Andronikos von Rhodos zusammen, der mit seiner Aristotelesausgabe den Stagiriten der Welt in einem viel größeren Maße als zuvor wieder bekannt machte, vgl. H. Dörrie, „Andronikos,“ in: KP 1 (1964), 349.  Dies hängt laut Diogenes wohl damit zusammen, dass Aristoteles die Tugenden (wie auch die Laster) unabhängig voneinander sieht. Da die Tugenden sich nicht gegenseitig folgten, sei es tatsächlich möglich, dass jemand, der vernünftig und gleichermaßen gerecht sei, zügellos und unbeherrscht ist (§ 31). Natürlich gelte das in diesem Maße nicht für den Weisen, aber er zeige sich von den Leidenschaften eben nicht unberührt.

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Arten erkennen: eine, die auf Verwandtschaft, eine zweite, die auf Anziehung, und eine dritte, die auf Gastfreundschaft beruht. Die Anziehung (ἔρως) könne dabei aber nicht nur dem Zusammensein (συνουσία) mit einer anderen Person gelten, sondern auch der Philosophie selbst. Da der Weise durchaus zu Leidenschaften fähig sei, könne er sich auch verlieben und heiraten (γαμήσειν), ebenso wie er sich politisch betätigen (πολιτεύσεσθαι) und – wohl als Berater oder Erzieher – mit dem König zusammenleben könne (§ 31).¹⁴⁰ Würdigung: Mehr noch als der platonische Weise ist der aristotelische Weise von weltlichen Gütern abhängig; ohne körperliche und äußere Güter kann es keinen Weisen geben. Die Einbindung in die Welt wird auch durch die dosierte Bejahung der Leidenschaft deutlich. Erst das durch Leidenschaft hervorgerufene Interesse an der Welt ermöglicht das Sich-Einbringen in die Gesellschaft.

2.2.2.3 Der Weise nach der Stoa Nachdem Diogenes in seinem siebten Buch Zenon, den Gründer der stoischen Bewegung, behandelt hat, wendet er sich ab 7,38 den grundsätzlichen Lehren der Stoiker (περὶ πάντων τῶν στοικῶν δογμάτων … ἐπὶ κεφαλαίων) zu. Diese werden, wie es dem philosophischen Gesamtkonzept Diogenes’ entspricht (1,18), in Logik (bzw. Dialektik), Ethik und Physik unterteilt, so dass innerhalb der Behandlung des Ethischen (§§ 84– 131) die stoischen Lehren über den Weisen besprochen werden (§§ 117– 131).¹⁴¹ Allein von der herausragenden Länge unterscheidet sich diese Besprechung von denen der anderen philosophischen Gruppen. Dennoch finden sich auch hier die wesentlichen Punkte wieder, die für Diogenes’ Schema vom Weisen charakteristisch sind. Interessant ist zudem, dass viele Punkte über den Weisen im Plural gehalten sind, die von Diogenes wiedergegebene Ansicht also durchaus von einer Mehrzahl von stoischen Weisen ausgeht.¹⁴²

 Dieser Satz ist im Original paarweise anders strukturiert: sich verlieben und politisch betätigen, heiraten und mit dem König zusammenleben. Die einander parallel gestellten Glieder gehören aber thematisch zusammen.  Vgl. Cancik/Cancik-Lindemaier, Konstruktion 206 – 213; die innere Gliederung der diogenesischen Schilderung besteht in 1) persönliche Eigenschaften, 2) soziale Beziehungen (+ Einschub über die Tugend §§ 125 – 129), 3) umstrittene Grundsätze (a.a.O. 210). Neben Diogenes Laertios ist für den stoischen Weisen SVF unbedingt zu beachten (s. bes. Lemma σοφός im Index Vol. 4, 128 – 133). Zum stoischen Weisen vgl. K. Deissner, Das Idealbild des stoischen Weisen (Greifswalder Universitätsreden 24) Greifswald 1930; W. Ganss, Das Bild des Weisen bei Seneca. Inaugural– Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität – Freiburg – Schweiz, Schaan 1952; Wilckens, Weisheit 257– 264.  Zugleich wechselt mitunter auch die Terminologie zwischen σοφός und σπουδαίος, vgl. Cancik/Cancik-Lindemaier, „Konstruktion“ 207 Anm. 13.

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a) Voraussetzungen: Das Ziel (τέλος) der stoischen Ethik besteht nach Zenon darin, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben (τὸ ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν), was gleichbedeutend damit sei, gemäß der Tugend zu leben (κατ’ ἀρετὴν ζῆν), da die Natur zur Tugend führe (§ 87). Der rechte Verstand (ὁ ὀρθὸς λόγος) durchdringe alles und sei mit Zeus, also dem einen Gott, und dem allgemeinen Gesetz (ὁ νόμος ὁ κοινός) identisch, das ein Leben in Übereinstimmung mit der eigenen als auch der allgemeinen Natur ermöglicht. Die Tugend des glückseligen Menschen (εὐδαίμων) sei Handeln in der Harmonie des eigenen innewohnenden göttlichen Wesens (δαίμων) zum übergeordneten allgemeinen göttlichen Willen (§ 88). Die Tugend als solche lässt sich dabei als vollkommen verstehen, da die Einzeltugenden sogar einander bedingten: Wer eine Tugend habe, sei ebenfalls im Besitz der anderen Tugenden (§ 125).¹⁴³ Zu den Gütern zählen die Stoiker die Tugenden. Dinge wie Leben (ζωή), Gesundheit (ὑγίεια), Lust (ἡδονή), Schönheit (κάλλος), Kraft (ἰσχύς), Reichtum (πλοῦτος), Ruhm (εὐδοξία), edle Geburt (εὐγένεια) und derlei Dinge (wie auch deren Gegenteil) seien aber weder gut noch schlecht, folglich auch weder nützlich noch schädlich. Vielmehr seien diese Dinge gleichgültig (ἀδιάφορα), dem Aussehen nach vorgezogen (κατ’ εἶδος προηγμένα) (§ 102). Insofern die indifferenten oder gleichgültigen Dinge einen Wert hätten, da sie zum naturgemäßen Leben beitrügen, seien sie aber anderen Dingen vorzuziehen (§ 106).¹⁴⁴ Den stoischen Weisen stellt Diogenes (aufgrund seiner Quellen) in besonderer Weise dar, insofern er dessen Eigenschaften einem Antitypos gegenüberstellt und somit differenziert. Dem Weisen steht programmatisch der Tor gegenüber.¹⁴⁵ Dies wird sprachlich an den mit einem Alpha privativum gebildeten Verben deutlich. So sei der stoische Weise leidenschaftslos (ἀπαθής) und unaufgeblasen (ἄτυφος), aber nicht wie der schlechte Mensch (φαῦλος), der in seiner Härte ebenfalls leidenschaftslos bzw. in seiner Planlosigkeit ebenfalls nicht aufgeblasen sei (§ 117). Ebenso sei er unverfälscht (ἀκίβδηλους) und ungekünstelt (ἄπλαστος) und daher nicht auf eine möglichst positive Selbstdarstellung bedacht (§ 118).

 Die Kardinaltugenden Verständigkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit gelten den Tugenden Hochgesinntheit (μεγαλοψυχία), Selbstbeherrschung (ἐγκράτεια), Beharrlichkeit (καρτερία), Scharfsinn (ἀγχίνοια), Wohlberatensein (εὐβουλία) als übergeordnet (§ 92 f).  Vgl. SVF 3,127– 139 über Diogenes hinaus.  Vgl. Stob. 2,7,11 g (= SVF 1,216). Allerdings wird in der späteren Stoa der Gedanke einer Abstufung zwischen Weise-Sein und Töricht-Sein eingeführt, so dass es Menschen gibt, die Fortschritte in Sachen Weisheit machen (προκοπτεῖς), einen Gedanken, den gerade Seneca stark machte.

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Wegen der stoischen Auffassung, dass der Weise Gott gewissermaßen in sich selbst trage, sei auch der Weise selbst göttlich. Neben der damit selbstverständlichen Teilnahme am Opferdienst verfüge der Weise zudem überhaupt über das Verständnis von kultischen und religiösen Dingen. Verfehlungen (ἁμαρτήματα)¹⁴⁶ gegenüber den Göttern weiche er aus. Von daher sei er nicht bloß fromm (θεοσεβής), rein (ἁγνός), gerecht (δίκαιος) und heilig (ὅσιος), sondern könne darüber hinaus allein als Priester gelten (§ 119). Der Weise werde beten und von den Göttern das Gute erbitten (§ 124). b) Ehe und gesellschaftliches Leben: Der stoische Weise könne durchaus heiraten (γαμήσειν) und Kinder zeugen (§ 121).¹⁴⁷ Tatsächlich könne jeder beliebige Weise mit jeder beliebigen Frau eines Weisen verkehren, da ihnen alle Frauen gleichermaßen gehörten.¹⁴⁸ Letztendlich sei durch diese Einstellung der Grund für alle Eifersucht beseitigt (§ 131). Da aber die erotische Liebe ein Ausdruck der Freundschaft (φιλία) sei, könne der Weise – bei aller ihm zustehenden Vollmacht über die Frauen – sich des Objektes seiner Begierde enthalten. Auch die Liebe zu jungen Männern aufgrund des schönen Äußeren sei ihm gestattet (§ 130).¹⁴⁹ Überhaupt sei der Weise von Natur aus ein geselliger (κοινωνικός) und handelnder (πρακτικός) Mensch, der die Einsamkeit als Lebensort meide (§ 123).¹⁵⁰ Die Freundschaft als eine Gemeinschaft der Dinge, die zum Leben gehören, und in der man mit den Freunden wie mit sich selbst umgeht, sei nur unter den Tüchtigen (d. h. den Weisen) möglich, da sie einander glichen. Dies sei ein Markenzeichen der Weisen gegenüber den schlechten Menschen (§ 124). Da wiederum nur die Tugendhaften untereinander wahre Mitbürger, Freunde, Angehörige und Freie seien, stehen sich leibliche Eltern und Kinder feindlich einander gegenüber, sofern sie nicht weise sind (§ 33). Da der Weise es ablehne, etwas gegen die Pflicht (καθῆκον) zu tun, könne er auch als untätig (ἀπράγμων) im Sinne der Nichteinmischung bezeichnet werden (§ 118). Innerhalb des Gemeinwesens¹⁵¹ könne sich der Weise aber durchaus be-

 Es besteht innerhalb der Stoa Uneinigkeit darüber, ob die Verfehlungen alle gleich schwer wiegen (§ 120 f).  Vgl. Sen.epist. 9,17; Cic.fin. 3,68 (= SVF 3,616); des weiteren SVF 3,727.729 f.  Dieser Gedanke taucht allerdings bereits bei Platon auf,vgl. H. C. Baldry, „Zeno’s Ideal State,“ in: JHellStudies 79 (1959), 3 – 15 (9).  Seneca selbst ist indifferent gegenüber der Frage, ob der Weise sich verlieben werde; für den zur Weisheit Fortschreitenden hält er das Verliebt-Sein aber für eine unnütze Ablenkung (epist. 116,5). Vgl. generell SVF 3,650 – 653.717.719 – 722.  Nach Seneca ist der Weise aber selbst getrennt von seinen Freunden in völliger Einsamkeit glücklich und zufrieden, wenn er sich in sich selbst zurückzieht (epist. 9,15 f).  Die beste Staatsverfassung sei dabei eine gemischte aus Demokratie, Königtum und Aristokratie (§ 131).

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tätigen (πολιτεύσεσθαι), falls kein Hinderungsgrund besteht.¹⁵² Motivation hierfür sei das Zurückhalten der Schlechtigkeit und das Anspornen (παρορμήσειν) zur Tugend (§ 121). Als Weg zur Tugend werde der kynische Lebensstil (κυνιεῖν) – also ein asketisches Leben – vom Weisen übernommen (§ 121).¹⁵³ Überhaupt sei nur der Weise frei (ἐλεύθερος), da Freiheit die Vollmacht zum eigenständigen Handeln (ἐξουσία αὐτοπραγίας) sei. (§ 121) Von jener Sklaverei (δουλεία) sei der Weise ausgenommen, die entweder im Entzug des eigenständigen Handelns (στέρησις αὐτοπραγιάς), in der Unterordnung (ὑποτάξις) oder in der Kombination von Besitz und Unterordnung bestehe. Doch auch die Despotie als Gegensatz zur Unterordnung sei schlecht (φαύλη) und von daher keine Option für den Weisen (§ 121 f). Dennoch dürfe sich der Weise nicht bloß als frei, sondern durchaus als König verstehen, dessen Königtum nicht rechenschaftspflichtig (ἀνυπεύθυνος) sei und allein unter seinesgleichen¹⁵⁴ bestehen bleibe. Dies liege an seiner Kenntnis von Gut und Böse, die dem schlechten Menschen abgehe. Allein der Weise sei zu den Ämtern im Staat (ἀρχικός), sowie zu denen des Richters (δικαστικός) und des Redners (ῥητορικός) geeignet. In dieser Tätigkeit erweise sich der Weise als unfehlbar (ἀναμαρτήτος) und überhaupt als jemand, der keinen Fehler zulässt (τῷ ἀπεριπτώτος ἁμαρτήματι) (§ 122).¹⁵⁵ Mitleid (ἔλεος), Nachsicht (συγγνώμη) und Milde (ἐπιείκεια) dürfe man vom Weisen (als Richter) nicht erwarten, da diese eine seelische Nichtigkeit seien. Der Weise sei überhaupt aber unschädlich (ἀβλαβής), da er weder sich noch anderen schade (§ 123). Da das Gesetz¹⁵⁶ dem Weisen vollkommene Vollmacht (παντελῆ ἐξουσία) gegeben hat, gehöre ihm auch alles (πάντα εἶναι) (§ 125). Da er in rechter Weise diskutieren (διαλέγεσθαι), argumentieren (διαλογίζεσθαι) und antworten (ἀποκρίνασθαι) können müsse, erscheine der Weise als scharfsinnig (ὀξύς), geistesgegenwärtig (ἀγχίνοος) und argumentationsstark (δεινὸς ἐν λόγοις) (§ 48). Im Hinblick auf die Logik sei allein der Weise zum Disputieren geeignet (διαλεκτικός) (§ 83). c) Leiden und Sterben: Betrübt zu sein (λυπηθήσεσθαι) sei dem Weisen nicht möglich, da der Kummer (λύπη) eine unvernünftige (ἄλογον) Einschränkung der Seele sei (§ 118). Im Interesse des Vaterlandes wie aber auch von Freunden oder bei

 Vgl. Cic.fin. 3,68 (= SVF 3,616).  Im Interesse der körperlichen Ausdauer werde der Weise zudem sportliche Übung (ἄσκησις) auf sich nehmen. (§ 123).  Der ganze Passus ist im Plural formuliert, geht also von einer Gemeinschaft der Weisen aus.  Vgl. Cic.fin. 3,17 (§ 59) (= SVF 3,498: „[sc. sapiens] nunquam fallitur in iudicando“ / „Der Weise wird niemals fehlgehen beim Urteilen.“).  Das Gesetz (wie auch das Recht und der rechte Verstand) ist nach stoischer Ansicht naturgegeben und nicht durch Menschen gesetzt (§ 128).

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zu schwerer körperlicher Krankheit sei es jedoch durchaus vernunftgemäß (εὔλογως), selber sein Leben zu beenden (§ 130).¹⁵⁷ Dies mag zum einen damit zusammenhängen, dass der Weise nach der stoischen Auffassung sich zwar durchaus in Acht nehme (εὐλαβηθήσεσθαι), sich aber niemals fürchte (φοβηθήσεσθαι οὐδαμῶς) (§ 116), also auch nicht vor dem Sterben. Zum anderen mag die fehlende Angst vor dem Tod auch an der Vorstellung Chrysipps liegen, dass nur die Seelen der Weisen bis zum Weltbrand (ἐκπύρωσις) fortleben werden (§ 157).¹⁵⁸ Würdigung: Der stoische Weise erweist sich als unabhängig von der Welt, gerade weil er in Übereinstimmung mit der alles durchdringenden göttlichen Vernunft und damit naturgemäß lebt. Anders als beim platonischen und auch aristotelischen Weisen gibt es hier keine Abhängigkeit oder ein Angewiesensein auf äußere Güter. Diese innere Unabhängigkeit oder Freiheit spiegelt sich auch wider im Umgang mit anderen (nicht-weisen) Menschen. Das stoische Weisenbild setzt demgegenüber allerdings eine Gemeinschaft von Weisen voraus, da der Weise als ein Gemeinschaftswesen gezeichnet wird, der die wahre Freundschaft aber nur unter Gleichgesinnten finden kann. Durch die ihm eignende Freiheit erscheint der Weise in gewisser Weise losgelöst von der Welt, die als gottdurchwaltete durchaus positiv verstanden und gesehen wird. Diese Freiheit lässt ihn auch eine distanzierte Haltung zur Gesellschaft und den Mitmenschen einnehmen, insbesondere da diese nicht den Status eines Weisen erreicht haben oder überhaupt anstreben. Hier besteht ein scharfer Gegensatz zwischen der Gemeinschaft der Weisen und den Toren. Diogenes teilt in seiner Darstellung nicht mit, dass die Weisen innerhalb der Menschheit eine Minderheit bilden,¹⁵⁹ was aber daran liegen mag, dass diese Einschätzung wohl als Allgemeinwissen zählen darf. Tatsächlich gab es bei den Kritikern der Stoa auch Zweifel, ob die Existenz des Weisen überhaupt möglich sei.¹⁶⁰ Der Peripatetiker Alexander von Aphrodisias (ca. 200 n.Chr.) warf den Stoikern sogar vor, ihr Weiser sei so selten wie der fabelhafte äthiopische Phö-

 Vgl. Cic.fin. 3,18 (§ 60 f), bei Long/Sedley, Philosophen 507 f (66G); generell SVF 3,757– 768.  Vor Chrysipp hatte Kleanthes diese Überzeugung auf alle Seelen bezogen. Obwohl nach stoischer Vorstellung die Seelen den Weltbrand nicht überstehen werden, sind sie doch Teil der unvergänglichen Weltseele (§ 156), was die Hoffnung auf Unvergänglichkeit und eine gewisse Unsterblichkeit bestärken mag.  Vgl. als epikureischer Vorwurf Cic.nat. 1,9 (§23), bei Long/Sedley, Philosophen 70 f (13G): Wegen einiger weniger Weiser („propter paucos“) können die Götter die Welt nicht geschaffen haben.  Vgl. S.Emp., Adversus Mathematicos 9,133 – 135, bei Long/Sedley, Philosophen 386 f (54D); weitere Stellen bei Ganss, Bild 94.

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nix.¹⁶¹ Diese Kritik wird noch heute, etwa von Hans-Josef Klauck,¹⁶² vorgetragen. Dem begegnete die Stoa mit ihrer Grundüberzeugung, dass Tugend lehrbar ist, dass also aus schlechten Menschen gute werden können¹⁶³ und somit die Existenz des Weisen durchaus realisierbar ist.¹⁶⁴ So war für Seneca der unbeugsame Senator aus der Spätzeit der Republik M. Porcius Cato Uticensis¹⁶⁵ die real existierende Verkörperung des stoischen Weisen,¹⁶⁶ wobei er aber auch Sokrates und C. Laelius¹⁶⁷ zu nachahmenswerten Vorbildern in Sachen Weisheit erhebt.¹⁶⁸ Die Debatte, ob es überhaupt Weise gebe, ist dabei schon vor den Stoikern geführt worden. Unter den Vorsokratikern haben sich, Diogenes Laertios 9,20 zufolge, Empedokles und Xenophanes darüber gestritten. Empedokles behauptete, der Weise sei ‚unauffindbarʻ bzw. ‚ungefundenʻ (ἀνεύρετος). Xenophanes hielt dagegen, dass nur ein Weiser einen (anderen) Weisen erkennen könne – und zieh damit gleichzeitig Empedokles des Nicht-Weise-Seins.¹⁶⁹

 Vgl. Alex.Aphr., De fato 28 (= SVF 3,658, bei Long/Sedley, Philosophen 455 (61N)); so bereits Sen.epist. 42,1: „tamquam phoenix semel anno quingentesimo nascitur“ („gleich wie der Phönix wird er [= der Weise] einmal alle 500 Jahre geboren“).  Vgl. H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums II. Herrscher- und Kaiserkult, Philosophie, Gnosis (KStTh 9,2), Stuttgart/Berlin/Köln 1996, 106.  Vgl. Cic.nat. 2,14 (§§ 37– 39), bei Long/Sedley, Philosophen 388 f (54H); Diog. Laert. 7,91. Diese Überzeugung hat ihrerseits wiederum den Spott der Andersdenkenden hervorgerufen, vgl. etwa Plut.mor. 1058A–C (Compendium libri cui argumentum fuit Stoicos absurdiora poetis dicere).  Vgl. etwa die en passant geäußerte Bemerkung bei Seneca (epist. 11,1), dass ein ihm bekannter und sympathischer Weisheitsaspirant den Charakterzug des Errötens auch dann nicht ablegen werde, wenn er ein Weiser geworden ist („sapientem quoque“).  Vgl. H. G. Gundel, „Cato 10,“ in: KP 1 (1964), 1088 – 1089.  Vgl. z. B. Sen.epist. 24; Ganss, Bild 97 f.116 – 122.  Vgl. H. G. Gundel, „Laelius 2,“ in: KP 3 (1969), 445 – 446; Cicero schätzte ebenfalls Laelius als sapiens ein.  Vgl. Ganss, Bild 121 f mit Stellenangaben. Für Cancik/Cancik-Lindemaier, Konstruktion 213 sind die boni viri nur Weise zweiter Klasse. Sie müssen jedoch zugeben: „Zwischen einem fortgeschrittenen vir bonus, dem Exempel für eine bestimmte Tugend und dem perfekten Weisen ist wohl schon in der antiken Stoa nicht genau unterschieden worden.“ (ebd.) Sie sehen übrigens den Unterschied zwischen vollkommenem Weisen und dem Heiligen darin, dass die historische Realität des letzteren durch Wunder und Kulte gesichert ist.  Selbst wenn diese Begebenheit nicht historisch (und d. h. auch: vor Sokrates sowie vor die Stoa zu datieren) sein sollte, spiegelt sie wenigstens einen Teil der Diskussion über die Gestalt des Weisen zur Zeit des Diogenes Laertios wider.

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2.2.2.4 Der Weise nach Epikur Das gesamte 10. Buch widmet Diogenes Laertios der Schilderung des Epikur und seiner Lehre.¹⁷⁰ Dazu zitiert er aus vielen Originalquellen. Vor der Wiedergabe eines Briefs an Menoikeus, in dem es v. a. um ethische Lehren geht, fasst Diogenes die Lehraussagen von Epikur und seinen Schülern über den Weisen (ἅ τε αὐτῷ δοκεῖ περὶ τοῦ σοφοῦ καὶ τοῖς ἀπ’ αὐτοῦ) zusammen (10,117– 121). Im Folgenden gebe ich diese Aussagen wie bereits bei den vorangehenden Darstellungen in einer grob biographisch geordneten Weise wieder und füge gegebenenfalls noch weitere, Epikur selbst zugeschriebene Aussagen ein.¹⁷¹ a) Voraussetzungen: Das τέλος der epikureischen Lehre besteht in der Lust (ἡδονή), was gleichbedeutend ist mit der Abwesenheit von Schmerz im Körper und von Unruhe in der Seele (§ 131: τὸ μήτε ἀλγεῖν κατὰ σῶμα μήτε ταράττεσθαι κατὰ ψυχήν). Dass man ein Weiser werde, hänge von der körperlichen Verfassung wie auch von der Nationalität ab (§ 117). Nur Griechen vermögen Epikur zufolge zu philosophieren (226 Us. = Clem.Al., Stromata 1,15). Wer aber einmal weise geworden sei, könne nicht mehr unweise werden – nicht einmal freiwillig. Auch die weiterhin bestehenden Leidenschaften (πάθη) seien seiner Weisheit nicht hinderlich (§ 117). Allein von einem Weisen sei der Weise zu begreifen (225 Us. = Aët. 4,9,19), woraus folgt, dass der Kreis der Weisen exklusiv ist. Einen graduellen Unterschied zwischen den Weisen betreffs ihrer Weisheit gebe es dabei nicht (§ 121).¹⁷² Der Weise verfügt nach Epikur über Vernunft (λογισμός), mittels derer er sich über Böswilligkeiten von anderen hinwegsetzen kann (§ 117). Tatsächlich kann der Weise durch die Vernunft die größten und wichtigsten Dinge während einer ganzen Lebenszeit organisieren (§ 144/RS XVI)¹⁷³.Von den Einzeltugenden sei die Verständigkeit (φρόνησις) die wichtigste, da aus ihr alle anderen Tugenden

 Vgl. zu Epikur G. Hansen, Philosophie, in: Leipoldt/Grundmann, Umwelt I, 346 – 370 (351– 353); H. Dörrie, „Epikuros,“ in: KP 2 (1967), 314– 318. Auch die Darstellung Epikurs bei Schwartz, Charakterköpfe 27– 48 ist trotz ihres Alters noch immer zu empfehlen.  Vgl. zu den Aussagen über den epikureischen Weisen auch die Zusammenstellung bei H. Usener, Epicurea, Leipzig 1887 (bes. 330 – 341). Verweise auf Usener finden im Folgenden mit ‚Nummer + Us.ʻ statt.  Ich folge damit der Lesart Apelts οὐκ εἶναι statt Useners οὐ κινεῖσθαι.  Die nachfolgende Nr. 17 (§ 144) der Ratae Sententiae (abgekürzt RS = κύριαι δόξαι) benennt als Handlungsträger den Gerechten (ὁ δίκαιος). Das legt nahe, dass zumindest im Epikureismus die Gleichung Weiser = Gerechter bestand, die auch für die Weisheitsliteratur des Judentums angenommen werden kann, vgl. Philo, Abr 27; Lips, Traditionen 122. Dem Gerechten in RS XVII wird übrigens der Ungerechte (ἄδικος) gegenübergestellt, eine Antithetisierung, die auch die Bibel kennt, vgl. etwa Prov 12,17; Mt 5,45; Apg 24,15.

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erwüchsen.¹⁷⁴ Insgesamt seien alle Tugenden miteinander wie auch mit dem lustvollen Leben verwachsen und von ihm nicht zu trennen (§ 132). Die einmal erreichte Glückseligkeit werde der Weise aber auch durch Folterqualen, die ihn durchaus zum Klagen bringen, nicht verlieren (§ 118). b) Ehe und gesellschaftliches Leben: Dass ein Weiser sich verlieben könnte, wird von den Epikureern als unmöglich angesehen (§ 118). Daher werde er auch weder heiraten (γαμήσειν) noch Kinder zeugen. Dennoch seien dem Weisen Ehe und Fortpflanzung unter besonderen Umständen (κατὰ περίστασιν) erlaubt (§ 119). Doch selbst dann sei der Weise beschämt (bzw. scheu: διατραπήσεσθαί τινας).¹⁷⁵ Weder die Betätigung im politischen Leben (πολιτεύσεσθαι) noch das Aufschwingen zum Tyrannen gehörten zu den Aufgaben des Weisen. Doch auch die Ablehnung der Gesellschaft, wie sie von den Kynikern propagiert wird (κυνιεῖν) und im Betteln deutlich wurde, ist Epikur zufolge kein Kennzeichen des Weisen (§ 119). Vielmehr werde er beizeiten einem Herrscher dienen (§ 121) Er werde durchaus gerichtlich prozessieren (δικάσεσθαι), Bücher hinterlassen, aber keine Prunkrede halten (§ 120) und überhaupt die Redekunst in keiner schönen Weise betreiben.¹⁷⁶ Für einen Gewinn werde der Weise aber nicht unrecht handeln (ἀδικεῖν: 582 Us.). Vielmehr lehre die Klugheit als höchstes Gut, um Lust zu erlangen, dass man nicht lustvoll leben kann, ohne klug (φρόνιμως), gut (κάλως) und gerecht (δίκαιως) zu leben (§ 132). Seine Hausdiener werde er nicht züchtigen, sondern Mitleid zeigen (ἐλεήσειν) und Nachsicht (συγγνώμη) mit den Tüchtigen¹⁷⁷ haben (§ 118). Geschäfte zu betreiben sei ihm nach Maßgabe der Weisheit nur in Notfällen gestattet. Der Weise werde eine Schule stiften (σχολὴν κατασκευάσειν), aber nicht um einen großen Haufen anzulocken, wie er gleichermaßen in der Öffentlichkeit Vorträge halten wird, obgleich nicht freiwillig.¹⁷⁸ Dabei werde er

 SV 23 könnte man so lesen, dass jede Freundschaft aus sich heraus eine Tugend (ἀρετή) sei (so Long/Sedley, Philosophen 147). Dagegen liest Krautz nach der neuesten kritischen Ausgabe von Arrighetti αἱρετή (also: „Jede Freundschaft ist um ihrer selbst zu wählen“), vgl. Epikur, Briefe. Sprüche. Werkfragmente. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hg.v. H.-W. Krautz (Reclams UniversalBibliothek 9984), Stuttgart 1997, 85.  Dies liege am Unnutzen des Geschlechtsverkehrs. Der eheliche Beischlaf geschehe (wohl deshalb) ganz vorschriftsmäßig und gesetzeskonform (§ 118), wobei diese Stelle aber etwas dunkel bleibt.  Die drei zusammenhängenden Punkte aus § 120 spiegeln offenbar die drei aristotelischen rhetorischen genera wieder, wenn man das Hinterlassen von Büchern als (posthume?) Beratung versteht, auch wenn das Ideal einer schönen Rhetorik verworfen wird.  Es ist nicht deutlich, ob mit den σπουδαίοι hier die Mit-Weisen oder die tüchtigen unter den Hausdienern gemeint sind.  Begründungen für dieses Verhalten werden nicht expliziert, aber man darf wohl durch die genannten Einschränkungen davon ausgehen, dass der Weise zum einen als nicht ruhmsüchtig

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Bestimmungen treffen und nicht der Skepsis anheim fallen (§ 121). Die Verehrung des Weisen sei für den Verehrer ein großes Gut (SV 32). c) Leiden und Sterben: Das Betrübt-Sein (λυπηθήσεσθαι) gehöre zum Leben des Weisen (§ 119).¹⁷⁹ Aufgrund seiner Selbstgenügsamkeit (αὐταρκεία) werde er in Notlagen vielmehr anbieten als annehmen (SV 44). Tatsächlich lache der Weise, wenn er erkrankt ist, oft über die Krankheit des Körpers (600 Us. = Plut.mor. 1088B). Aber im Falle des Erblindens werde der Weise seinem Leben ein Ende setzen (§ 119), ebenso wie er gegebenenfalls im Interesse eines Freundes den Tod auf sich nehme (§ 121), denn der Besitz von Freundschaft sei das Größte, was die Weisheit an Glückseligkeit im Leben bereithält (RS XXVII).¹⁸⁰ Die Aussage, dass der Weise für ein Begräbnis keine Sorge trage (§ 118), lässt sich durchaus auf seine eigene Bestattung beziehen. Würdigung: Das Weisenbild der Epikureer unterscheidet sich von denen der anderen philosophischen Gruppen, ja es erscheint in Teilen geradezu als Gegenentwurf zu den stoischen Vorstellungen, so das Zeigen von Mitleid, die Verneinung von Leidenschaftslosigkeit, politischen Engagements oder des kynischen Lebensstils.¹⁸¹ Auch die Bejahung von Lust als höchstem Ziel, das uneingeschränkte Akzeptieren von Leid und die rigorose Ablehnung der Ehe erscheinen fast als Provokation der Stoa. Allein in Statusfragen, also der Unverlierbarkeit von Weisheit und der Gleichheit mit anderen Weisen, stimmt Epikurs Lehre mit der stoischen überein. In der Abhängigkeit von Körper und Ethnos erscheint der Weise stark der gegebenen Welt verhaftet.

2.2.3 Zusammenfassung Der Weise erscheint in allen dargestellten philosophischen Gruppen als Ideal. Die Voraussetzungen, um ein Weiser zu werden bzw. zu sein, variieren stark, ebenso wie sich auch die Lebensstile der jeweiligen ‚Weisentypenʻ in Bezug auf das Leben in der menschlichen Gemeinschaft wie auch auf das eigene Leben (und Sterben) erheblich voneinander unterscheiden. Der Begriff der Tugend wie auch die Wergeschildert wird, zum anderen als jemand, auf dem ein Zwang zur Verkündigung liegt. Beide Züge begegnen uns bei Paulus in 1Kor 9,16 f wieder.  Vgl. dazu auch Plut.mor. 1101A–B und die Kritik Plutarchs an der epikureischen Emotionalität.  Die zusammenhängenden Sprüche Sententiae Vaticanae 56 – 57 (abgekürzt SV, entspricht Ἐπίκουρου προσφώνησις), die eine Verbindung zwischen den Folterqualen und der Freundschaft des Weisen herstellen, sind leider verderbt. Verderbt ist ebenfalls der Satzbeginn von Diog.Laert. 10,126, wo eine Aussage zum Weisen über die Sicht auf das Leben und den Tod vermutet (und von Usener emendiert) wird.  Vgl. Long/Sedley, Philosophen 161 f.

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tung der Einzeltugenden ist dabei äußerst variabel. Bemerkenswert erscheinen mir dabei vier Punkte: a) dass es den Weisen überhaupt in allen philosophischen Richtungen gibt; kein Skeptizismus kann also die Vorstellung von einem Weisen verhindern; b) dass Weisheit als realisierbar angesehen wird; der Weise ist also keine reine Phantasiegestalt; c) dass Weisheit als unverlierbar erscheint; es gilt das Motto: ‚einmal ein Weiser, immer ein Weiserʻ; d) dass Weise Gemeinschaftswesen sind; sie suchen und finden ihresgleichen und leben miteinander in einer Gemeinschaft.

2.3 Die Gestalt des Weisen im hellenistischen Judentum Was die jüdische Sicht auf den Weisen anbelangt, gestaltet sich für das 1. christliche Jahrhundert die Suche nach einer ‚neutralenʻ beschreibenden Quelle schwieriger als bei der paganen Sicht:¹⁸² Es gibt kein literarisches Werk, das mit einer gewissen Systematik das Phänomen des Weisen in den verschiedenen Ausprägungen innerhalb der jüdischen Religion der Kaiserzeit schildert.¹⁸³ Zwar kommt Flavius Josephus des Öfteren – und ganz analog zur damals üblichen Schilderung der verschiedenen griechischen Philosophenschulen¹⁸⁴ – auf die unterschiedlichen Schulrichtungen (αἵρεσεις) innerhalb des Judentums des 1. Jahrhunderts zu sprechen, also Essener, Pharisäer, Saddzuäer und Zeloten (Bell. 2,8,14; Ant. 13,5,9; 18,1,1– 6), und zeigt damit die Vielgestaltigkeit der jüdischen Religion. Jedoch spart er dabei den Aspekt der Weisheit und des Weisen komplett aus. Nur sehr verstreut finden sich in Josephus’ Oeuvre Hinweise auf seine Sicht zur Weisheit, die dann aber ohne nähere Erklärung steht.¹⁸⁵ Gleichwohl

 Dabei stellt eine mögliche Tendenz von jüdischen Schriftstellern, die den Glauben ihrer Volksgemeinschaft als vorbildlich präsentieren, kein Problem dar. Auch Diogenes Laertios präsentiert als Grieche die griechischen Philosophen in positiver und werbender Weise.  Zwar könnte man allerdings mit H. A. Fischel, „The Transformation of Wisdom in the World of Midrash,“ in: Wilken, Aspects, 67– 101 den Mischnatraktat Pirqe Aboth als ‚Diogenes Laertius des Judentumsʻ (75) bezeichnen. Das Problem im Hinblick auf meine Arbeit ist jedoch (neben der überaus schwierigen Datierungsfrage der einzelnen Aussagen in der Mischna und gerade dieses Traktats), dass sich darin kaum lebenspraktische Beschreibungen des Weisen finden, die zu einer Phänomenologie taugten.  Vgl. Mason, Josephus 208.  So werden etwa – neben den biblischen Kronzeugen für Weisheit, Salomo (Ant 8) und Daniel (10) – auch den Israeliten (5,174), Serubbabel (11,35.57 f.64), Mordechai (11,268) oder den LXX-

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gelangt er an einer Stelle seines Gesamtwerks zu einer Definition des Weisen, die als exemplarisch für die innerjüdische Sicht auf den Weisen gelten kann (s. 2.3.2). Josephus kommt damit dem Entwurf des Diogenes Laertios im Hinblick auf eine einigermaßen neutrale Darstellung noch am nächsten, wobei er jedoch dabei zugleich eine eigene Agenda verfolgt. Die beiden weiteren möglichen Quellen zur Beschreibung des Phänomens des Weisen auf jüdischer Seite, die Paulus zeitlich nahe kommen, nämlich Philo und die verschiedenen Weisheitsbücher der griechischen¹⁸⁶ Bibel selbst (samt außerkanonischen Schriften), scheiden hingegen als neutral beschreibende Zeugen aus; sie sind ganz parteiisch und wollen dies auch selbstverständlich sein. Zudem propagieren die biblischen Weisheitsbücher, wenn sie nicht allein schon ihres Alters wegen aus der Betrachtung herausfallen müssen,¹⁸⁷ kein einheitliches Bild der Weisheit geschweige denn des Weisen.¹⁸⁸ Obwohl Philo keine Neutralität beanspruchen kann und keine vergleichende Darstellung über die Weisen in den zeitgenössischen jüdischen Religionsschulen bietet, finden sich dennoch wichtige Beschreibungen über das Leben in Weisheit in dem Buchfragment Quod omnis probus liber sit. Diese Schrift ist für die vorliegende Untersuchung umso bedeutender, als Philo darin dem Phänomen des Weisen in aller Welt – und das heißt auch über alle religiösen und philosophischen Grenzen hinweg – nachspürt.¹⁸⁹ Anders als Diogenes Laertios beschränkt

Übersetzern (12,115) Weisheit bescheinigt. Was diese aber genau sei, erklärt Josephus nicht. Zu seiner einzigen Definition von Weisen s.u.  Es versteht sich von selbst, die griechische Version der Schrift als Quelle heranzuziehen, da Paulus’ Bibel die Septuaginta (mit abweichenden Textrezensionen) ist, vgl. Frey, „Judentum“ 16; Wilk, Bedeutung 17– 42 (für Jes).  Einzig SapSal als für die Gestalt des Weisen relevante Schrift ist wohl während der Kaiserzeit entstanden; auch der Aristeasbrief ist wahrscheinlich vorkaiserzeitlich. 4Makk ist zwar wohl ebenfalls im 1. christlichen Jahrhundert entstanden, konzentriert sich aber monothematisch auf die Frage nach der Beherrschung der Leidenschaften (1,1), was dann in den redundanten und plastischen Darstellungen der Folter von standhaften Gläubigen seinen Ausdruck findet. Weitere Erkenntnisse über den Weisen als die Aussage: „Allein der Weise und Mutige nämlich ist Herr der Leidenschaften.“ (7,23: μόνος γὰρ ὁ σοφὸς καὶ ἀνδρεῖός ἐστιν τῶν παθῶν κύριος.) finden sich nicht. Ps.-Phokylides bringt zwar viel weisheitliche Belehrung, aber kein Porträt des Weisen.  Hier reicht das Spektrum der Weisheit vom ganz automatisch gedachten Tun-Ergehen-Zusammenhang in Prov hin zum Skeptizismus bei Qoh. Die jeweilige Weltsicht hat natürlich auch Auswirkungen auf ein mögliches Bild der Gestalt des Weisen.  Ansonsten sind Angaben und Anspielungen über den Weisen über Philos Gesamtwerk verteilt. In De Vita Moysis etwa wird Mose als Weiser par excellence beschrieben (1,4), und zwar ganz im Sinne des hellenistischen Weisenverständnisses. In ihm seien Bios und Logos harmonisch aufeinander abgestimmt, so dass sich in ihm die Lehren der Philosophie (1,29: τὰ φιλοσοφίας δόγματα) verwirklichen. Sein einziges Ziel besteht, wie es der Stoa entspricht, im rechten Ver-

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sich Philo also nicht auf bloß einen Kulturkreis, sondern ebnet gleichsam die kulturellen Unterschiede der Weisen ein. Zwar verleugnet Philo dabei nicht den qualitativen Vorsprung der jüdischen Religion und bleibt daher parteiisch, dennoch erscheint die Gestalt des Weisen insgesamt als ein Moment, das alle Kulturkreise, die ursprünglich voneinander getrennt, durch den Hellenismus aber zusammengeschlossen sind, miteinander verbindet. Neben Philo fällt auch Sapientia Salomonis ungefähr in die Zeit des Paulus und ist für die Phänomenologie des Weisen heranzuziehen. Hierin findet sich zwar keine weltanschaulich neutrale Beschreibung des Weisen, aber sehr wohl das (fiktive) autobiographische Zeugnis Salomos über das Erlangen der göttlichen Weisheit. Da SapSal pseudonym verfasst ist, kommt der fiktiven Autobiographizität des Werks gleichermaßen eine beschreibende Funktion des Weisen zu. Wenngleich es also für die Zeit der Paulus im jüdischen Bereich keine einigermaßen wertneutral beschreibenden Quellen über die Gestalt des Weisen gibt, trägt doch eine Betrachtung der genannten Schriften dazu bei, die Vielfalt an Vorstellungen über den Weisen wahrzunehmen. Besonders durch ihre Nähe zu pagan-philosophischen Ansichten beim gleichzeitigen Festhalten an jüdisch-religiösen Überzeugungen lässt sich eine Analogie zum 1Kor ausmachen.

2.3.1 Der Weise nach Ben-Sira In Sir 38,24– 39,11 bietet Ben-Sira einen Blick auf den Weisen.¹⁹⁰ Ben-Sira vermeidet den Begriff des Weisen. Vielmehr umschreibt er diese Gestalt und definiert sie als jemanden, der sich selbst weise macht (38,24.25: σοφισθήσεται). Ben-Sira grenzt so jemanden von den verschiedenen Handwerkern ab, seien sie nun Bauern, Zimmerer, Baumeister (ἀρχιτέκτοι), Siegelstecher oder Maler, Schmiede oder Töpfer (v.25b–30). Als Städtebauer seien diese zwar wichtig (v.32), hätten jedoch nicht die Zeit, um (v.33) als Berater im Volksrat (βουλὴ λαοῦ) oder in der Versammlung (ἐκκλησία), als Richter (δικαστής) oder als Lehrer (v. 34: ἐκφαίνειν παιδείαν) tätig zu sein. Dies ist allein dem Weisheitslernenden vorbehalten. Dessen Lerngegenstand besteht dabei im Gesetz und den Propheten (39,1: ἐν νόμῳ

ständnis der Natur (1,48). In der Schrift De Abrahamo (Obertitel: ΒΙΟΣ ΣΟΦΟΥ ΤΟΥ ΚΑΤΑ ΔΙΔΑΣΚΑΛΙΑΝ ΤΕΛΕΙΩΘΕΝΤΟΣ Η ΝΟΜΩΝ ΑΓΡΑΦΩΝ ΤΟ ΠΡΟΤΟΝ – „[Das] Leben eines Weisen, [nämlich] des lehrgemäß vollendeten, oder das erste Buch über die ungeschriebenen Gesetze“) deutet Philo die Erzählungen in Gen 12 ff über das Leben des exemplarischen Weisen Abraham in allegorischer Weise. Insofern hat dieses Werk eher esoterischen Charakter. Die übergreifende Gesamtdarstellung von Quod omnis probus liber sit erscheint mir daher für die vorliegende Untersuchung geeigneter.  Vgl. dazu Hengel, Judentum 242– 249; Lang, Klugheit 185 – 189.

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ὑψίστου … καὶ ἐν προφητείαις) sowie Erzählungen berühmter Männer und der Spruchweisheit (v.2 f: ἐν στροφαῖς παραβολῶν).¹⁹¹ Außerdem zeichnet sich der Weisheitslernende durch weltoffene Reisetätigkeit und das Wirken an Fürstenhöfen aus (v.4). Bei alledem spielt auch der Dienst an Gott eine wichtige Rolle, von dem schließlich die Weisheit stammt, die der Weisheitslernende in Welt hinausträgt (v.5 – 8). Die Folge seines Wirkens besteht in großer Anerkennung bei seinen Zeitgenossen sowie bei den nachfolgenden Generationen (v.9 – 11). Ben-Siras Lehre vom Weisen (auch wenn dieser Begriff nicht fällt) ist ganz in der östlichen Prägung verwurzelt, insofern die Weisheit völlig auf die Schrift bezogen ist.Weisheit wird zwar nicht als reine Muße begriffen, sondern stellt auch Arbeit dar. Gleichwohl wird der Unterschied zwischen körperlich und geistig Arbeitenden sehr deutlich betont, wenngleich beide für das Gemeinwohl und für das Gemeinwesen arbeiten.

2.3.2 Der Weise nach Flavius Josephus Nur an einer Stelle in seinem Gesamtwerk stellt Flavius Josephus dar, wie das zeitgenössische Judentum Weise definierte. Zum Schluss der Altertümer (20,262 ff) kommt er auf seine vorzüglichen griechischen Sprachkenntnisse zu sprechen, wobei er einräumen muss, dass er Griechisch besser schreibe, als er es als NichtMuttersprachler sprechen könne (263). Diese Einschränkung relativiert er aber umgehend, da er auf einen weiteren Unterschied der Juden im Gegensatz zu anderen Völkern aufmerksam macht: Bei den Juden sei nicht derjenige angesehen, der viele Sprachen fließend sprechen könne – zumal dies unterschiedslos für Freie wie Sklaven gelte. Vielmehr werde Weisheit nur denjenigen bescheinigt, die über ein sicheres Verständnis der Gesetzesgebote verfügten sowie den Sinn der Heiligen Bücher erklären könnten (264).¹⁹² Diese Erklärung von Weisheit entspricht ganz dem orientalisch-biblischen Verständnis, das den Weisen als Schriftgelehrten ansieht (s.o.). Josephus bleibt damit also tatsächlich auf der Linie der Schrift.  Ben-Sira setzt damit den Dreiklang der Schrift voraus, die aus Weisung (Thora), Propheten (Nebiim) und weiteren Büchern (Ketubim) zusammengesetzt ist.  „Denn von uns werden nicht jene anerkannt, die die Sprache vieler Völker auswendig gelernt haben, weil diese Beschäftigung, die nicht nur jedem beliebigen Freien, sondern auch den Willigen der Sklaven möglich ist, für Allgemeingut gehalten wird. Nur denen aber bezeugen sie Weisheit, die die Gesetzesgebote ganz genau verstehen und fähig sind, den Sinn der heiligen Schriften zu erklären.“ (Παρ’ ἡμῖν γὰρ οὐκ ἐκείνους ἀποδέχονται τοὺς πολλῶν ἐθνῶν διάλεκτον ἐκμαθόντας διὰ τὸ κοινὸν εἶναι νομίζειν τὸ ἐπιτήδευμα τοῦτο μόνον οὐχ ἐλευθέροις τοῖς τυχοῦσιν ἀλλὰ καὶ τῶν οἰκετῶν τοῖς θέλουσι. Μόνοις δὲ σοφίαν μαρτυροῦσιν τοῖς τὰ νόμιμα σαφῶς ἐπισταμένοις καὶ τὴν τῶν ἱερῶν γραμμάτων δύναμιν ἑρμηνεῦσαι δυναμένοις.) δύναμις bedeutet hier ‚Sinnʻ bzw. ‚Bedeutungʻ, vgl. Bauer, Wörterbuch s.v.

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Mit dieser apologetischen Erklärung ist aber nicht nur die sprachpraktische Beschränkung des Josephus für unerheblich erklärt worden. Darüber hinaus macht sich Josephus indirekt, aber – gerade in der reflektierenden Schlusspassage seines langen und ausführlichen Geschichtswerks – doch sehr beabsichtigt selbst zu einem Weisen jüdischer Prägung: Mit den Altertümern hat er gezeigt, dass er die Heilige Schrift mit ihren Geboten selber genau kennt und sie erklären kann. Gerade dies sind aber die Kennzeichen eines Weisen, wie ihn Josephus mit einem Großteil der biblischen Tradition bekennt. Dass er selbst darüber hinaus etwas Besonderes darstellt, macht Josephus durch den Nachsatz klar (265): Zwar würden viele die Mühen dieser Übung auf sich nehmen, aber wohl nur zwei oder drei würden dies, nämlich die Erklärung der heiligen Schriften, richtig machen und daher zum selbstgesteckten Ziel gelangen.¹⁹³ Josephus ist demnach also einer der wenigen, denen Weisheit attestiert werden kann. Damit stellt er sich aber, den Grundlinien seines Werks folgend, wonach viele herausragende Persönlichkeiten der jüdischen Geschichte weise waren, mit eben diesen allen in eine Gemeinschaft.¹⁹⁴ Der Leser soll Josephus selbst also als einen der in jüngster Zeit wirkenden Weisen des jüdischen Volkes ansehen. Implizit wird dabei von Josephus der Unterschied von pagan-hellenistischer und biblisch-orientalischer Weisheit herausgestellt.

2.3.3 Der Weise nach Philo Alexandrinus Abgesehen von der besonderen Selbstdarstellung des Josephus, die die orientalische Definition des Weisen zu eigenen Zwecken verwendet, hat es bei jüdischen Autoren noch andere Sichtweisen auf den Weisen gegeben. Einige Jahrzehnte vor Josephus erhebt der alexandrinische Gelehrte Philo¹⁹⁵ in seinem breiten Werk ebenfalls den Weisen zum Thema. Ebenso wie Josephus betreibt Philo vor einem

 „Deshalb, obwohl viele sich um dieser Lebensweise abmühen, machen es nur zwei oder drei recht und erlangen stracks den Ertrag der Mühen.“ (διὰ τοῦτο πολλῶν πονησάντων περὶ τὴν ἄσκησιν ταύτην μόλις δύο τινὲς ἢ τρεῖς κατὼρθωσαν καὶ τῶν πόνων τὴν ἐπικαρπίαν εὐθὺς ἔλαβον.)  Allerdings nennt Josephus in seiner Vita trotz seiner sehr von den eigenen intellektuellen Fähigkeiten überzeugten Selbstdarstellung (s.v.a 8 f.11) nicht die Weisheit als eine seiner Qualitäten. Dies muss er aber auch nicht, da es in der Rückschau auf sein Leben nicht um Schriftkenntnis und -auslegung geht, anhand derer sich die göttliche Weisheit in einem Menschen manifestiert. Stattdessen schildert er sich selbst anhand des damaligen römisch aristokratischen Tugendkatalogs; vgl. Mason, Josephus 130 – 137 zu dieser Deutung der Vita.  Vgl. Hegermann, Judentum 326 – 342; M. Mach, „Philo von Alexandrien,“ in: TRE 26 (1996), 523 – 531. Zu Philos Verbindung zur biblischen Weisheitsliteratur vgl. Laporte, Laporte, J., „Philo in the Tradition of Biblical Wisdom Literature,“ in: Wilken (Hg.), Aspects 103 – 141.

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überwiegend heidnischen Publikum Werbung für das Judentum und versucht, es mithilfe hellenistisch-philosophischer Vorstellungen in die pagane Gedankenwelt hineinzuvermitteln.¹⁹⁶ Dabei ist es nicht verwunderlich, dass Philo ganz auf die Linie des hellenistischen Weisenverständnisses eingeschwenkt ist. Weisheit und Schriftgelehrtheit erscheinen bei ihm entkoppelt. Dies wird zum einen daran deutlich, dass Philo Gestalten aus der israelitischen Frühgeschichte wie Abraham oder Jakob als Weise bezeichnet, die beide ja noch gar keine heilige Schrift zum Verstehen und Auslegen vorliegen hatten. Zum anderen liegt dies auch an der (vom stoischen Logos, der allem innewohnt, beeinflussten) Überzeugung Philos, dass es Weise in aller Welt bei allen Völkern gibt, bei denen ebenfalls keine Kenntnis der heiligen Schriften Israels vorausgesetzt werden kann. Da die Schrift περὶ τοῦ πάντα σπουδαῖον ἐλεύθερον εἶναι (‚Darüber dass ein jeder Tüchtige frei sei’/Quod omnis probus liber sit) sich in – wortwörtlich – globaler Weise mit dem Phänomen des Weisen befasst, erscheint es angemessen, sie in gleichermaßen umfassender Weise zu betrachten und sukzessive durchzugehen. Die Abhandlung befasst sich mit dem bekannten stoischen ‚Paradoxʻ¹⁹⁷ von der Freiheit des Weisen,¹⁹⁸ ohne freilich auf dessen Ursprung zu verweisen. Sie ist einem gewissen Theodotos gewidmet und offenbar der zweite Teil einer längeren Abhandlung, deren erster Teil sich mit der These befasste, dass jeder schlechte Mensch ein Sklave sei (περὶ τοῦ δοῦλον εἶναι πάντα φαῦλον), der aber leider verloren gegangen ist. Ziel der Schrift sei es zu zeigen, dass jeder feine d. h. kultivierte Mensch (ἀστεῖος)¹⁹⁹ frei sei (§ 1).

 In der hier untersuchten Schrift Quod omnis probus liber sit wird die Vermittlung des Judentums mithilfe philosophischer Vorstellungen u. a. anhand der etlichen Hinweise und Zitate aus paganen Schriftstellern deutlich, deren Aussagen gleichwohl noch von Mose überboten werden. Philo erweist sich bei der Einbindung philosophischen Gedankenguts als Eklektizist, der sich beim Mittelplatonimus, der mittleren Stoa, beim Neupythagoräismus sowie sogar bei Aristoteles bedient, vgl. Mach, „Philo“ 525 f. Zu platonischen Gedanken bei Philo vgl. etwa Th. H. Billings, The Platonism of Philo Judaeus, Chicago 1919. Auch das Weisenbild Philos beschränkt sich nicht allein auf die Stoa, sondern hat auch Anleihen bei Platon, vgl. etwa De Vit.Moy 2,7 mit Plat.Prot. 329E zum Allbesitz der Tugenden.  Diese bekannten stoischen Aussagen werden als ‚Paradoxaʻ bezeichnet, nicht weil sie in sich widersprüchlich wären (so das heutige Verständnis des Wortes), sondern weil sie gegen die damaligen allgemeinen Wertvorstellungen und Meinungen (παρὰ δόξας) angehen.  Vgl. Cic.parad. 5: ὅτι μόνος ὁ σοφὸς ἐλεύθερος καὶ πᾶς ἄφρων δοῦλος („Nur der Weise ist frei, und jeder ohne Verstand ist ein Sklave“); ebenso Diog.Laert. 7,121.  Wie oben beschrieben verwendet bereits die Stoa neben σοφός ohne Unterschied auch σπουδαῖος oder andere Bezeichnungen für den Weisen. Ebenso benutzt Philo in dieser Schrift mehrere Termini, die aber doch alle auf den Weisen abzielen, vgl. etwa § 28 f oder 41.

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Die Schrift gliedert sich demnach in mehrere Beweisgänge für diese These.²⁰⁰ Nach Prolegomena über die Zielgruppe der Weisheitslehren (§§ 2– 15), definitorischen Überlegungen (§§ 16 – 19) und Kundgabe der grundlegenden Überzeugung, dass nur der wirklich frei sei, der allein Gott zum Führer hat (§ 20), folgen im ersten Hauptteil §§ 21– 61 theoretische Beweise.²⁰¹ Im ersten theoretischen Beweisgang (§§ 21– 40) wird an der Verwandtschaft von Freiheit und eigenständigem Handeln (αὐτοπραγία) deutlich gemacht, wie sich ein Weiser gegenüber äußeren Einflüssen auf Leib und Seele verhält: Er überwindet sie, weil er grundsätzlich furchtlos ist (§§ 22– 25) und wie ein erfolgreicher Ringkämpfer Standhaftigkeit (ὑπομονή) beweist (§§ 26 – 31). Es schließen sich kürzer gefasste Beweise für die Freiheit des Weisen an, die allesamt die ihm zustehende Macht gemeinsam haben (§§ 41– 47):²⁰² So wird die Macht (κῦρος) des Weisen über sich selbst benannt, die im ‚Beladenseinʻ²⁰³ mit Vortrefflichkeit (καλοκαγαθία) begründet ist und ihm überhaupt erst Glückseligkeit (εὐδαιμονία) verschafft (§ 41). Weiterhin sei der Weise ein Freund der Götter (φίλος τῶν θεῶν) bzw. Gottes und dadurch allgebietend (πάναρχος) und König der Könige, ja sogar (unter Verweis auf Ex 7,1) unter den Menschen selbst ein Gott (§§ 42– 44). Sodann sei der Weise keiner Macht unterworfen, da er in Übereinstimmung mit dem Naturgesetz des rechten Verstandes (ὁ ὀρθὸς λόγος) lebe (§§ 45 – 47). Tatsächlich sei das gleiche Recht zur öffentlichen Rede (ἰσηγορία) als Merkmal des Freien auch dem Weisen zueigen, da er der Dinge kundig sei, die zum Leben gehören (ἔμπειρος τῶν βιωτικῶν) (§§ 48 – 57). Dieser theoretische Beweisreigen wird abgeschlossen durch den Beweis, dass der Weise aufgrund seines verständigen (φρονίμως) Handelns über die Vollmacht  Ich gliedere hier nach eigenem Ermessen. L. Cohn, „Kritische Bemerkungen zu Philo,“ in: Hermes 51 (1916), 161– 188 (162) möchte mit Massebieau den Text in Einleitung (§§ 1– 15), erster theoretischer Hauptteil (§§ 16 – 61), zweiter beispielhafter Hauptteil (§§ 62– 157) und Schluss (§§ 158 – 160) auffächern.  ‚Theoretischʻ meint hier die rein gedankliche Anschauung, ohne konkrete Beispiele aus der Lebenswirklichkeit für das Phänomen selbst zu nennen. Philo stellt hier durchaus Vergleiche zum Weisen an (z. B. das Verhalten von Sklaven oder von Ringern), präsentiert aber für diesen ersten Beweisgang nicht einen aus Geschichte oder Gegenwart bekannten exemplarischen Weisen. Dass Philo den Weisen in der Lebenswirklichkeit fest verankert sieht, macht er mit dem zweiten Hauptteil seiner Schrift deutlich, in dem er konkrete Beispiele vorträgt.  Der Abschnitt §§ 32– 40 zum Thema, dass Dienstleistungen kein Beweis für Sklaverei sind, fällt an dieser Stelle aus dem Rahmen. Cohn, „Bemerkungen“ 162 f hält diesen Ort aber für ursprünglich, wohingegen Massebieau sich dafür aussprach, §§ 32– 40 zwischen §§ 146 und 147 zu versetzen. Vielmehr ist nach Cohn der seinerseits den Zusammenhang störende § 147 nach § 40 umzustellen.  Das Wortpaar ἕρμα καὶ πλήρωμα deutet auf ein Bild aus der Nautik hin: „Schiffsballast und Ladung (oder Mannschaft)“.

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verfüge, alles zu tun und zu leben, wie er will (ἐξουσία πάντα δρᾶν καὶ ζῆν ὡς βούλεται), und alles freiwillig (ἑκών) und nicht wie ein Sklave unfreiwillig (ἄκων) tue (§§ 58 – 61). Aufgrund all dessen sei der Weise als frei anzusehen. Man kann in diesem ersten Abschnitt durchaus viele Urteile über den Weisen wieder finden, wie sie bereits die Stoa getroffen hatte. Zunächst ist ja die Aussage, nur der Weise sei frei, eines der bekannten stoischen Paradoxa. Die Betonung des eigenständigen Handelns ist ein fester stoischer Topos,²⁰⁴ ebenso wie die Vorstellung des allen durchdringenden rechten Verstandes,²⁰⁵ dem sich der Weise einordnet, sowie das Königtum des Weisen.²⁰⁶ Auch die Vorstellung der Freundschaft mit den Göttern taucht in der Stoa auf,²⁰⁷ wenngleich sie eine allgemein hellenische ist.²⁰⁸ Im zweiten Hauptteil folgt die Nennung von Beispielen für Weise aus Geschichte und Gegenwart, um die Beweisführung nicht nur im Theoretischen zu belassen (§§ 62– 130). Philo zufolge ist der Weise durchaus auch in der gegenwärtigen Zeit eine real existierende Größe (§ 62), wenngleich er sich rar mache, da er zum einen generell eine seltene Erscheinung sei, zum anderen aber ebenso die gewöhnliche Gesellschaft wegen ihrer Verderbtheit meide (§ 63). Tatsächlich sei die Weisheit in Form der Kardinaltugenden in jedem Menschen angelegt, so dass jede Gesellschaft Weise hervorzubringen vermöge und hervorbringe, obschon in kleiner Zahl (§§ 64 – 72). Als Länder, die in seiner Zeit exemplarisch Weise aufzeigen, zählt Philo nun auf: Griechenland mit unbekannten, da totgeschwiegenen Weisen, die aber den sieben Weisen der Vergangenheit in nichts nachstünden (§ 73), Persien und Indien mit den vielköpfigen Gruppen (bzw. ‚menschenreichen Haufenʻ: πολυανθτρωπότατα στίφη) der Magier bzw. der Gymnosophisten (§ 74) und schließlich das palästinische Syrien. Hier lebe die vorbildliche Gemeinschaft der weisen Essäer bzw. – wie sie durch Josephus’ Schreibweise bekannter sind²⁰⁹ – der Essener (§§ 75 – 91).²¹⁰

 Vgl. Diog.Laert. 7,121; Plut.mor. 1043A (= SVF 3,703); Orig.comm. in Johannem 2,10 (= SVF 3,544).  Vgl. Diog.Laert. 7,88.128; Cic.leg. 1 12,33 (= SVF 3,317); Sen.epist. 76, 9 (= SVF 3,200 a); Stob. 2,93,14 (= SVF 3,500); Stob. 2,66,14 (= SVF 3,660).  Vgl. Diog.Laert. 7,122.  Vgl. Diog.Laert. 7,125.  Vgl. Xen.mem. 2,1,33 (Freundschaft mit den Göttern durch die Entscheidung für die Tugend); Diog.Laert. 6,37.72.  Vgl. E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C.–A.D. 135). A New English Version hg. v. Geza Vermes und Fergus Millar, Volume II, Edinburg 1979, 559.

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Mehr als 4.000 Essener gebe es in Palästina (§ 75), wo sie Dörfer bewohnten und so den Versuchungen der Städte aus dem Wege gingen (§ 76). Sie zeichneten sich aus durch bewusste Besitzlosigkeit und den Verzicht auf Sklaven, der auf einem Gleichheitsideal beruhe (§§ 77– 79). Von den drei Teilbereichen der Philosophie Logik, Physik und Ethik befassten sie sich fast ausschließlich mit dem dritten, da er anders als die ersten beiden zum Erwerb der Tugend führe. Grundlage der Ethik seien die väterlichen Gesetze (οἱ πάτριοι νόμοι), in denen sie täglich, dann aber auch im sabbatlichen Gottesdienst durch allegorische Schriftauslegung unterrichtet würden (§§ 80 – 82). Lehrinhalt der ethischen Unterweisung seien Frömmigkeit (εὐσέβεια), Heiligkeit (ὁσιότης), Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), Hauswirtschaft (οἰκονομία), Bürgerkunde (πολιτεία), Kenntnis von guten, schlechten und adiaphoren Dingen, Wählen des Nützlichen und Meiden des Unnützen. Für all dies verwendeten die Essener dreifache Richtschnüre und Regeln (ὅροι καὶ κανόνες τριττοῖ): die gottliebende, die tugendliebende und die menschenliebende (§ 83). Für jeden dieser Regelbereiche zählt Philo nun verschiedene Verhaltensweisen bzw. Tugenden auf, die – wie bei der stoischen Tugendlehre (s.o.) – zu einem Großteil durch mit Alpha privativum gebildete Wortformen dargestellt werden und somit ein direktes Gegenüber in den ihnen entsprechenden Lastern haben: für die Gottesliebe Reinheit (ἁγνεία), Eidesablehnung (ἀνώμοτον), Lügenlosigkeit (ἀψευδές) und ein positives Gottesbild; für die Tugendliebe Nicht-Habsucht (ἀφιλοχρήματον), Nicht-Ruhmsucht (ἀφιλόδοξον), Nicht-Vergnügungssucht (ἀφιλήδονον), Selbstbeherrschung (ἐγκρατές), Standhaftigkeit (καρτερικός), Genügsamkeit (ὀλιγοδεία), Einfachheit (ἀφέλεια), Gutmütigkeit (εὐκολία), Nicht-Aufgeblasenheit (ἄτυφον), Gesetzestreue (νόμιμον), Aufrecht-Sein (εὐσταθές); für die Menschenliebe Wohlwollen (εὔνοια), Gleichberechtigung (ἰσότης), Gemeinschaft (κοινωνία) (§ 84). Aussagen über den gemeinsamen materiellen und finanziellen Besitz der Essener (§ 85 f), deren Kranken- und Altenfürsorge (§ 87) und deren Standhaftigkeit und moralische Überlegenheit während der häufigen Kriege in Palästina, die sie als frei und unversklavt erscheinen lassen (§§ 88 – 91), schließen das Porträt  Für meine Arbeit ist es weder von Belang, welche Quellen Philo hier eventuell verarbeitet, noch, ob seine Angaben nach modernen Maßstäben historisch korrekt sind. Vielmehr ist von Bedeutung, dass Philo eine Weisengemeinschaft porträtiert, die seiner Ansicht nach tatsächlich existiert. Zur Quellendiskussion vgl. R. Bergmeier, Zum historischen Wert der Essenerberichte von Philo und Josephus, in: J. Frey/ H. Stegemann (Hg.), Qumran kontrovers. Beiträge zu den Textfunden vom Toten Meer (Einblicke 6), Paderborn 2003, 11– 22, der im Hintergrund eine hellenistisch-jüdische Essäer-Quelle vermutet, die auch Josephus (zusätzlich zu einer Essener-Quelle) verwendet (19 f); dagegen Frey, Zur historischen Auswertung der antiken Essenerberichte. Ein Beitrag zum Gespräch mit Roland Bergmeier, in: ders./Stegemann, Qumran kontrovers, 41– 43, der der Annahme einer beiden Autoren gemeinsamen Essäer-Quelle kritisch gegenübersteht.

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über diese Gemeinschaft von Weisen ab. Die Besonderheit der Essener gegenüber den griechischen Weisen liege darin, dass der Schwerpunkt ihrer Existenz auf dem Handeln liege und weniger bzw. gar nicht auf der ‚Pingeligkeit der schönen griechischen Worteʻ (περιεργία Ἑλληνικῶν ὀνομάτων). Insofern kann Philo sie ohne weiteres als ἀθληταὶ ἀρετῆς („Meister der Tugend“)²¹¹ bezeichnen (§ 88). Das Bild des essenischen Weisen zeigt den Grundton aller Vorstellungen des Weisen, nämlich der Übereinstimmung von Wort und Tat. Die Taten leiten sich dabei ab von den ‚väterlichen Gesetzenʻ (§ 80), was für Philo ja nichts anderes sein kann (auch wenn er es nicht explizit sagt) als die Thora²¹². Gottes Wort und die Tat des Menschen vereinen sich also in diesem Porträt des essenischen Weisen. Darüber hinaus haben wir hier ein vermittelndes Bild über die Weisen als einer real existierenden Gemeinschaft. Die Werte, die Philo für die Essener als vorbildlich aufzählt, stellen universale Werte im Hellenismus dar. Nach der Beschreibung der Essener kommt Philo zum Beispiel des indischen Gymnosophisten Kalanos, eines Zeitgenossen Alexanders des Großen (§§ 92– 97). Dieser (wie ebenso andere indische Weise) habe sich dem königlichen Befehl Alexanders, ihn nach Griechenland zu begleiten, verweigert und dadurch seine Freiheit erwiesen. Interessant ist hier auch die Wiedergabe eines (sicherlich fiktiven) Briefs des Kalanos an Alexander, in dem er auf den Unterschied der indischen Weisen zu den griechischen Philosophen, die nur Festreden hielten, hinweist. Hingegen würden bei den indischen Weisen Taten auf Worte folgen und Worte auf Taten (λόγοις ἔργα παρ’ ἡμῖν ἀκόλουθα καὶ ἔργοις λόγοι, § 96). Gerade durch diese Eigenschaft wollte der Makedone Alexander Griechenland zeigen, dass es auch bei den Barbaren Weisheit gibt, die gleichsam Abbild und Nachahmung eines urtypischen Bildes (καθάπερ άπ΄ ἀρχετύπου γραφῆς ἀπεικόνισμα καὶ μίμημα ) sei (§ 94). Diese Polemik definiert noch einmal deutlich, was ein Weiser eigentlich ist: jemand, dessen Worte und Taten übereinstimmen. Diese Aussage deckt sich ganz mit dem hellenistischen Weisenverständnis.Verdeckt trifft die Kritik Kalanos’ auch die griechische Philosophie zu Philos Zeiten, insofern hier ein Nicht-Grieche, als welcher ja auch jeder Jude wie Philo selbst zählt, sich über seine griechischen Berufsgenossen erhebt. Daneben ist aber vor allem die Faszination der alien wisdom (s.o.) zu beachten, der sich auch Philo als überzeugter Anhänger der

 ἀθλητής in Verbindung mit einem Genitiv bezeichnet nicht den (Wett‐)Kämpfer, sondern bereits den Meister in einer Disziplin, vgl. W. Gemoll/ K. Vretska, Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch, München 91991 s.v.  Unter Thora verstehe ich die sog. fünf Bücher Mose als Sammlung gesetzlicher Bestimmungen. Die Dreiteilung der Schriften Alten Testaments nach Gesetz, Propheten und den ‚anderen väterlichen Büchernʻ nimmt bereits Ben-Sira im Prolog (v.1.3) zu seinem Werk vor.

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jüdischen Weisheit nicht entziehen kann und will, so dass er zum Beweis für seine These auf ein konkretes Beispiel aus dem fernen und fremden Indien zurückgreift. Dies liegt im Kern daran, dass Weisheit als ein universales, gleichermaßen aber unikes Phänomen begriffen wird, als ‚Weisheit im Singularʻ. Doch auch in Griechenland selbst finde sich Weisheit im Sinne der geistigseelischen Freiheit: so in den Dichtungen der Poeten, wie Philo am Beispiel Euripides’ deutlich macht (§§ 98 – 104); dann bei so imposanten Gestalten wie Anaxarchos und Zenon von Elea, die sich von Folter ganz unbeeindruckt zeigten (§§ 105 – 109); weiter in den Geschichten über Wettkämpfer, furchtlose Knaben, Mütter und Völker (§§ 110 – 120); ebenso beim Kyniker Diogenes (§§ 121– 124), der bezüglich seiner Redefreiheit Nachahmer im Alexandriner Chaireas (§§ 125 – 126) und im Athener Theodoros (§§ 127– 130) fand. All diese Beispiele sind allerdings welche aus der Geschichte und insofern dem Beispiel der Essener, was die aktuelle Nachprüfbarkeit angeht, unterlegen. Auch die Verweise auf die Tierwelt (§§ 131– 136) und das Verhalten der einzelnen Völker und Staaten, stets die Freiheit anzustreben (§§ 137– 143), sind trotz der Möglichkeit, an ihnen jederzeit direkt etwas ablesen zu können, doch zu allgemein gehalten, um mit der konkreten Beschreibung der Essener mithalten zu können. Zum Schluss fasert Philos Abhandlung etwas aus. Nach Verhaltensvorschlägen für bedrängte Weise (§§ 144– 146) folgen der Vergleich zwischen dem Freiheitsgefühl von Sklaven an Asylorten und dem von Weisen, die in der Tugend ihre Zuflucht finden, und einige Digressionen (§§ 148 – 157).²¹³ Daran schließt sich der Appell an, Menschen nicht nach ihrem äußeren Status als Sklaven oder Freie anzusehen, sondern nach der Natur ihrer Seele. Erst wenn in der Seele die vier Kardinaltugenden die Oberhand über die Affekte gewonnen haben, sei man frei, d. h. im Sinne des Traktats weise (§§ 158 – 159). Philo endet mit dem Rat, noch unbeeinflussten Seelen, analog zur Kindesernährung statt Milch zunächst zarte Nahrung, also statt Philosophie zunächst allgemeinen Unterricht angedeihen zu lassen, mit dem Ziel ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur zu führen (§ 160). Diese Devise führt Philo interessanterweise explizit gerade nicht auf Zenon, den Begründer der Stoa, zurück, sondern auf einen göttlichen (pythischen) Orakelspruch. Er grenzt sich damit also (wie die Essener, vgl. § 80) von der menschlichen Urheberschaft weisheitlicher und d. h. göttlicher Einsichten ab. Der Weise nach Philo ist also nicht bloß eine realisierbare, sondern eine bereits realisierte Erscheinung. Der Weise wird dabei als jemand verstanden, der sich in Gruppen zusammenschließt. Er erscheint sowohl innerhalb als auch außerhalb Israels, wobei zumindest in Quod omnis probus liber sit suggeriert wird,

 § 147 stellt hier einen Fremdkörper dar, der aber an §§ 32– 40 angeschlossen werden kann.

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dass die paganen und die jüdischen weisheitlichen Anschauungen gleichen Ranges sind. Aus anderen philonischen Schriften kann man allerdings die Tendenz ersehen, dass die Juden den Heiden in Sachen Weisheit überlegen sind.²¹⁴

2.3.4 Der Weise nach der Sapientia Salomonis Über die Frage, wann SapSal entstanden ist, besteht in der Forschung Uneinigkeit. Während die ältere Forschung sie zwischen 150 und 50 v.Chr. ansetzte,²¹⁵ geht die Tendenz in der jüngeren Forschung zu einer Datierung zwischen 30 v.Chr. und 41 n.Chr.²¹⁶ Ist Letzteres zutreffend, hätten wir mit SapSal eine weitere kaiserzeitliche Beschreibung des Weisen von jüdischer Seite aus. Dann ließe sich für die Zeit, in der Paulus wirkte, aus SapSal also ein weiteres Bild des Weisen, diesmal des exemplarischen Weisen Salomo, gewinnen. Ob Paulus diesen Text gekannt hat, ist freilich umstritten,²¹⁷ für die vorliegende Arbeit aber auch unerheblich. Es geht ja nicht darum, Abhängigkeiten von Vorstellungen aufzudecken, sondern Analogien²¹⁸.

 Vgl. E. Birnbaum, „Portrayals of the Wise and Virtuous in Alexandrian Jewish Works: Jews’ Perceptions of Themselves and Others,“ in: Ancient Alexandria between Egypt and Greece (Columbia Studies in the Classical Tradition 26), Leiden/Boston 2004, 125 – 160 (147– 157). Philos Bewunderung für nicht-jüdische Weise ist Birnbaum zufolge auf solche außerhalb Alexandriens beschränkt. Für Heimatstadt und -land nennt er weder in Vergangenheit noch Gegenwart Vertreter für die Gestalt des Weisen, was sicherlich auf die gespannte Situation zwischen Juden und Heiden in Alexandria zurückzuführen ist, in der selbst ein auf Ausgleich bedachter Mensch wie Philo an Grenzen stößt.  Vgl. J. Fichtner, „Die Stellung der Sapientia Salomonis in der Literatur- und Geistesgeschichte ihrer Zeit,“ in: ZNW 36 (1937), 113 – 132 (122– 124).  Vgl. M. Kolarcik, „The Sage behind the Wisdom of Solomon,“ in: Perdue, L. (Hg.), Scribes, Sages, and Seers. The Sage in the Eastern Mediterranean World (FRLANT 219), Göttingen 2008, 245 – 257 (245). Kolarcik selbst sieht im Autor von SapSal einen „close associate of Philo“ (a.a.O. 257). Kaiser, Grundriß 3 116 nimmt (Eduard Zeller folgend) eine Datierung innerhalb der Regentschaft Augustus’ an.  Vgl. ausführlich und mit positivem Ergebnis E. Grafe, „Das Verhältnis der paulinischen Schriften zur Sapientia Salomonis,“ in: Theologische Abhandlungen (FS C. v. Weizsäcker), Freiburg 1892, 253 – 286; E. Norden, Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede, Leipzig/Berlin 1913, 128 – 131. R. J. Morales, „The Spirit, the Righteous Sufferer, and the Mysteries of God. Echoes of Wisdom in 1 Corinthians?,“ in: BZ 54 (2010), 54– 72 hält es speziell im Falle von 1Kor 1– 2 für wahrscheinlich, dass Paulus SapSal gekannt hat und in ihr Argumentationshilfen für seine Auseinandersetzung mit den Korinthern gefunden hat; 2,6 – 16 muss demnach ironisch zu verstehen sein (72).  Vgl. dazu etwa J. M. G. Barclay, „Unnerving Grace: Approaching Romans 9 – 11 from The Wisdom of Solomon,“ in: Wilk, F./ Wagner, J. R. (Hg.), Between Gospel and Election. Eplorations in the Interpretation of Romans 9 – 11 (WUNT 257), Tübingen 2010, 91– 109, der Röm (v. a. c.9 – 11) von

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Aufgrund ihres geistig hohen Niveaus, was Kenntnis der Bibel (bzw. der LXX) und philosophische Bildung anbelangt, sowie der wiederkehrenden Polemik gegen Ägypten wird der Entstehungsort von SapSal in Alexandria vermutet.²¹⁹ Sie wäre dann ein Zeugnis für eine Art des Umgangs der gelehrten Judenschaft gegenüber Bedrängnis und Anfeindung,²²⁰ ein Zeugnis nämlich der Ermutigung für die Bedrängten und der Warnung an die Bedränger, dass Gott für Gerechtigkeit sorgen wird.²²¹ SapSal vereint in sich hellenistisch-jüdische wie stoische und mittelplatonische Züge,²²² ein einheitliches philosophisches System lässt sich freilich daraus nicht erschließen.²²³ Unter der Maske des nach biblischer Tradition für weise gehaltenen Königs Salomo (1Kön 3)²²⁴ verfasst der Autor von SapSal einen Fürstenspiegel, in dem die Herrscher der Welt zum Annehmen und Bewahren der Weisheit aufgerufen werden (SapSal 1,1; 6,1.9.21).²²⁵ Gerade Salomo als weise Idealfigur der Vergangenheit erscheint nahezu als Pendant auf jüdischer Seite zu

SapSal her liest und bei vielen Gemeinsamkeiten (Gottes Volk im Kontext der Völker; Schriftbezüge; Diskussionen über Gottes Macht, Gerechtigkeit und Gnade) doch einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden feststellt: Für SapSal stimmen Güte und Gnade Gottes mit der Weltordnung (Kosmos) überein, für Paulus hingegen stehe Gottes Gnade in Christus jenseits der weltlichen Ordnung (92). Barclay stellt den Gedanken in den Raum, dass Paulus möglicherweise SapSal gekannt hat und bewusst gegen sie anschreibt – Röm 1– 2 als Gegenfolie zu SapSal 13 – 15, Röm 9 – 11 zu SapSal 10 – 12.  Vgl. Fichtner, „Stellung“ 122; Kaiser, Grundriß 3 114; Birnbaum, „Portrayals“ 139.  Vgl. A. Segré, „Antisemitism in Hellenistic Alexandria,“ in: Jewish Social Studies 8 (1946), 127– 136 zur allgemeinen Situation; M. Pucci Ben Zeev, „New Perspectives on the Jewish-Greek Hostilities in Alexandria during the Reign of Emperor Caligula,“ in: JSJ 21 (1990), 227– 235 zur sozialen Diversifizierung der alexandrinischen Judenschaft. Clifford, Literature 135 erwähnt zwar en passant den „long-standing antagonism between the ‚Greekʻ citizen-body and the local Jewish community“, unterschlägt aber die gewalttätige Seite dieses Konflikts ziemlich.Von daher kann er SapSal auch bloß für eine Werbeschrift im Interesse des überlieferten biblischen Glaubens halten, der im Wettbewerb mit hellenistischen Religionen und Philosophien steht (142).  Vgl. Birnbaum, „Portrayals“ 146 f.  Vgl. Kaiser, Grundriß 3 106. Dies gilt sicherlich für die Kosmologie von SapSal, schlägt sich aber auch in der Ethik nieder.  Vgl. Fichtner, „Stellung“ 129 f.  Das vielfältige pseudepigraphe biblische Salomo-Schriftgut – Ps 72 & 127 (LXX 71 & 126), Prov, Qoh, Cant, SapSal, PsSal – verdeutlicht, wie sehr dieser König für die Weisheitsvorstellungen der Späteren in Anspruch genommen wurde, aber auch, um wie viel diese Vorstellungen voneinander abweichen.  Aufgrund seiner zeitlichen und sprachlichen Nähe zur griechischen Rhetorik wird SapSal als Loblied auf die Weisheit in das aristotelische genus des Epideiktischen eingeordnet, vgl. Clifford, Literature 142; Kolarcik, „Sage“ 247, genauer in die hellenistische Unterkategorie des Protreptikos oder Werbeschrift, vgl. Kaiser, Grundriß 3 108.

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Sokrates, insofern sich in ihm die Weisheit in vollkommener und unübertrefflicher Weise zeigte. Im Gegensatz zur paganen Weisheit stammt die Weisheit Salomos natürlich direkt vom Gott Israels. Der Weise als Lebensideal, das von den Gläubigen angestrebt werden kann und soll, ist identisch mit dem ‚Gerechtenʻ, der in SapSal, aber auch sonst in der Psalmen- und Weisheitsliteratur auftaucht und vielfältig beschrieben und angepriesen wird.²²⁶ Trotz der Verankerung innerhalb der jüdischen Gedankenwelt richtet sich SapSal vermittels der in ihr vertretenen universalen philosophischen Werte und Tugenden auch an gleichgesinnte pagane Zuhörer.²²⁷ SapSal wird üblicherweise in 3 Hauptteile untergliedert.²²⁸ Ich folge hier dem Vorschlag Otto Kaisers:²²⁹ 1,1– 6,21 Ermahnung zu einem Leben in Gerechtigkeit und Weisheit angesichts des Geschicks von Gerechten und Gottlosen; 6,22– 11,4 Empfehlung der Weisheit; 11,5 – 19,22 Sieben Vergleiche von Gottes Strafhandeln an Israels Feinden und Rettungshandeln an Israel. Für meine Arbeit ist besonders der zweite Hauptteil von Interesse, nicht allein deswegen, weil hier der Weise beschrieben wird, sondern auch, da in ihm Pseudo-Salomo in autobiographischer Weise auf sich selbst zu sprechen kommt, mithin die ‚Selbstʻ-Beschreibung eines jüdischen Weisen in hellenistischem Gepräge vorliegt.²³⁰ Nachdem im ersten Hauptteil die Könige angesprochen wurden, Weisheit zu suchen und in ihr Regierungshandeln zu integrieren, wird der Fokus nun auf Salomo als den exemplarischen weisen König gelegt. Der zweite Hauptteil lässt sich mit Richard J. Clifford in die drei Teile 6,22– 8,21 (Salomos Weg zur Weisheit),

 Am deutlichsten wird die Gleichsetzung von Gerechtem und Weisem in SapSal 4,16 f. Fichtner, „Stellung“ 118: „Die Gleichung δίκαιος = σοφός, ἄσεβης (ἄδικος) = ἄφρων (ἀσύνετος) ist jedem, der die Chokmaliteratur kennt, geläufig“. Dass ‚der Gerechteʻ auch im paganen Raum ein Wechselbegriff zum Weisen ist, wurde bereits bei Epikur (s.o.) sichtbar. In SapSal tritt die Bezeichnung σοφός (3mal) deutlich gegenüber δίκαιος (27mal) zurück, was daran liegen mag, dass nicht der Weise als Person, sondern vielmehr der Bezug des Gerechten zur Weisheit betont werden soll, vgl. Lips, Traditionen 128.  Vgl. Kolarcik, „Sage“ 248. Kolarcik sieht die Bedeutung der SapSal in ihrem Beitrag zum Gerechtigkeitsdiskurs innerhalb der gespannten Situation zwischen Juden und Heiden im Alexandria zur Kaiserzeit.  Vgl. Collins, „Weisheit“ 505 mit verschiedenen Vorschlägen zur Abgrenzung der einzelnen Teile.  Vgl. Kaiser, Grundriß 3 107 f. Clifford, Literature 139 f setzt den Beginn des dritten Hauptteils bei 11,1.  D.Winston, „The Sage as Mystic in the Wisdom of Solomon,“ in: Gammie/Perdue (Hg.), Sage, 383 – 397 hat einen Aufsatz zur Darstellung des Weisen in SapSal als die eines Mystikers vorgelegt. Seine im Titel angegebene These („The Sage as Mystic in the Wisdom of Solomon“) wird im Text aber lediglich angedeutet und bleibt merkwürdig unbestimmt, was wohl daran liegt, dass Winston keine Definition von Mystik bzw. Mystikern liefert.

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9,1– 19 (Gebet Salomos) und 10,1– 11,4 (Beispiele für die Rettungsmacht der Weisheit) untergliedern,von denen der erste konzentrisch aufgebaut ist²³¹ und hier besonders von Bedeutung ist: 6,22– 25 Einleitung zu c.7– 10²³² 7,1– 6 A: Salomos Herkunft 7,7– 12 B: Gebetsbericht 7,13 – 21 C: Erkenntnisverleihung 7,22– 8,1 D: Weisheitslob 8,2– 9 C’: Beschluss zur Heirat der Weisheit 8,10 – 16 B’: Gedanken des jungen Salomo 8,17– 21 A’: Bitte des jungen Salomo um Weisheit

Da uns weniger die Aussagen über das Wesen der Weisheit als vielmehr Aussagen über den Weisen interessieren, liegt es nahe, besonders den autobiographischen Passagen (A–C: 7,1– 21; C’–A’: 8,2– 21) in SapSal Aufmerksamkeit zu schenken. Das Bild, das wir hier gewinnen, zeigt den Weisen ausgehend vom fiktiven setting der Schrift in einer herrschaftlichen Perspektive. Die Beschäftigung mit Weisheit entspringt allerdings nicht aus Muße, sondern aus der Notwendigkeit des im Sinne Gottes guten Herrschens und Regierens (6,9 – 11). Dies macht auch die Einleitung (6,22– 25) zum Mittelteil der SapSal deutlich: Der verständige König ist die ‚Wohlgegründetheitʻ seines Volkes, also gleichsam dessen Fundament wie dessen Gerüst (v.24b: βασιλεὺς φρόνιμος εὐστάθεια δήμου). Der Vordersatz v.24a erwähnt den Gedanken der Fülle von Weisen (πλῆθος σοφῶν), die das Heil der Welt seien. Die Vorstellung von der Fülle der Weisen, also die Idee einer konkret vorhandenen Vielzahl weiser Menschen, teilt SapSal mit den bislang besprochenen Texten. Im weiteren Verlauf erscheint diese Fülle der Weisen zunächst sukzessiv in den einzelnen hervorragenden Figuren der Geschichte Israels: Adam, Kain (als Weisheitsapostat), Noah, Abraham, Lot, Jakob, Josef, Mose (10,1– 11,4). Als Volk des Gottes Israels wird schließlich Israel selbst wenn nicht als Volk der Weisen

 Vgl. Clifford, Literature 139 f. Etliche Teile zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen am Ende ein Wort des Beginns erneut aufgegriffen wird: 7,1.6: ἴσος; 7,13.21: ἀποκρύπτειν/κρυπτά; 8,17.21: καρδία. Über Clifford hinausgehend sind auch 7,7.12 (σοφία) und 8,10.16 (ἔχειν) zu berücksichtigen. Kaiser, Grundriß 3 109 f unterteilt gröber in, 6,22– 25 (A: Absichtserklärung, das Wesen der Weisheit zu erläutern), 7,1– 21 (B: autobiographischer Bericht von Verleihung und Empfang der Weisheit), 7,22– 8,1 (C: Lob der Weisheit), 8,2– 21 (B’: autobiographischer Bericht von der Suche nach Weisheit), 9,1– 19 (A’: Gebet um Verleihung der Weisheit), und sieht nur in c.10 einen eigenen Teil. Bei beiden Modellen steht aber 7,22– 8,1 klar im Zentrum. Clifford und Kaiser zählen die Verse anders und benennen daher eine Teilung zwischen 7,22a und 7,22b, was der Unterteilung nach Rahlfs zwischen 7,21 und 7,22 entspricht. Ich folge der Verszählung nach Rahlfs.  Vgl. Clifford, Literature 147 f.

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gedacht, so doch als eines, das stets von Gottes Weisheit begleitet wurde und dadurch Heil erfuhr. Hier verschmelzen die Vorstellungen der Weisheit Gottes als kosmologischer Wirkmacht und als individuell wirkender ethisch-moralischer Größe. Die Intention von SapSal ist es, den vergangenen bewährten Heilsglauben in die Gegenwart ihrer gläubigen Leser zu übertragen. Dies wird auch deutlich an der gewählten Autorenfigur des Salomo, dem sich die Leser anschließen und folgen sollen und dies durchaus können. Im ersten autobiographischen Abschnitt 7,1– 21 beschreibt sich Pseudo-Salomo zunächst (A) als einen Menschen wie jeder andere auch: auf die Welt gekommen ohne Unterschied zu anderen und sterblich wie sie (v.1– 6). Durch diese Verortung des berühmten Salomo unter die Allgemeinheit der Menschen propagiert SapSal nicht bloß eine Chancengleichheit für alle Könige (v.5) als fiktive Adressaten, zur Weisheit zu gelangen, sondern für jeden Menschen, gleich welchen Standes. Implizit sind also alle Leser der SapSal befähigt, wie Salomo weise zu werden. Pseudo-Salomo kommt dann in v.7– 12 (B) auf sein Erlangen der Weisheit (nach 1Kön 3) zu sprechen. Durch das Gebet wurde ihm durch Gott Verständigkeit gegeben, was gleichbedeutend mit dem Geist der Weisheit ist.²³³ Die Weisheit wiederum führt zu einem relativierenden Urteil über äußere Attribute wie Reichtum (πλοῦτος), Gesundheit (ὑγίεια) und Schönheit (εὐμορφία) (SapSal 7,8 – 10), da die Weisheit ihrerseits ‚alle Güterʻ (τὰ ἀγαθὰ πάντα) und Reichtum mit sich bringt,²³⁴ deren Schöpferin sie tatsächlich ist (v.11 f). Die in v.1– 6 eröffnete allgemeine Chancengleichheit zur Weisheit wird durch die Relativierung von äußeren Gütern als mögliche Voraussetzung des Weisen also gewahrt. Pseudo-Salomo lässt hier noch offen, ob dieser zweite, von der Weisheit verursachte Reichtum materieller Natur ist. Im folgenden Abschnitt 7,13 – 21 (C) wird aber klar, dass die Weisheit selbst als unerschöpflicher Schatz gilt, den die Menschen als Freundschaft mit Gott erlangen, da die Gaben, die aus der Erziehung durch Weisheit herrühren, die Menschen dafür empfehlen (v.14). Freundschaft mit Gott – in v.14b am Ende und daher betont – ist demnach also Wesen und Ziel aller weisheitlichen Bestrebungen, ein Gedanke, der dann im Weisheitslob 7,22– 8,1 eine zentrale Rolle spielt (v.27 f). Die stete Bezogenheit auf Gott in dieser Sicht auf die Weisheit ergibt sich insofern notwendig, da Gott der Wegführer der Weisheit und Weisen ist (v.15) und in seiner Hand alle Verständigkeit liegt (v.16). Inhaltlich wird die göttliche Weisheit näher

 SapSal 7,7 ist als synthetischer parallelismus membrorum formuliert.  Dies führt in die Nähe der stoischen Ethik (s.o.); vgl. etwa das nach Cic.parad. sechste stoische Paradoxon: „Nur der Weise ist reich“ (ὅτι μόνος ὁ σοφὸς πλούσιος).

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bestimmt durch die Kenntnis des Weltgefüges (v.17), von Kalender und Astronomie (v.18 f), Zoologie (v.20a), Psychologie (v.20b)²³⁵ und Botanik (v.20c). Der Weise stellt sich somit in dieser ersten autobiographischen Passage als Universalgelehrter in Bezug auf die Welt dar. Das folgende Lob der Weisheit (7,22– 8,1) präsentiert sie in kosmologischer Perspektive als Schöpfungskraft (7,22.25). Als solche ordnet und durchwaltet sie das Universum. Sie ist daneben aber auch eine Geistkraft, die – wohl aufgrund ihrer Menschenliebe (v.23) – in den verschiedenen Generationen Menschen zu Gottesfreunden und Propheten macht (v.27). Der Verfasser von SapSal denkt sich also göttliche Berufung als Eingehen von Weisheit in einen Menschen.²³⁶ Der zweite autobiographische Abschnitt (8,2– 21) stellt in chiastischer Weise ein Pendant zum ersten (7,1– 21) dar. Während es dort vor allem um Voraussetzungen und Auswirkungen des Weisheitsempfangs ging, steht hier nun die Liebe Salomos zur Weisheit im Vordergrund, die in der Vorstellung einer Ehe mit der Weisheit gipfelt (8,2.9.16.18). Die chiastische Zuordnung von 7,1– 21 und 8,2– 21 lässt sich auch für die einzelnen Abschnitte übernehmen, wobei hierin neue Gedanken und Akzente erscheinen. Wie bereits in 7,13 – 21 (C) geht es in 8,2– 9 (C’) um die Weisheit als wahren Reichtum (v.5). Ebenso werden hier die Lehrinhalte der Weisheit, welche gleichzeitig auch deren Arbeitserzeugnisse (πόνοι) sind, verhandelt. Allerdings werden nun die Tugenden betont, die nach dem allgemein bekannten griechischen Kanon in Besonnenheit (σωφροσύνη), Verständigkeit (φρόνησις), Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) und Tapferkeit (ἀνδρεία) aufgegliedert werden (v.7). Weiterhin werden Geschichtswissen und Prognostik wie auch die Redekunst (στροφὰς λόγων) benannt (v.8). Der Weise ist also nicht allein in intellektueller Hinsicht gelehrt, sondern auch im Hinblick auf den Charakter und weiß dies alles zudem noch zu artikulieren. War in B (7,7– 12) die durch das Gebet gewonnene Einsicht des Salomo das Thema, formuliert der Unterteil B’ (8,10 – 16) die Gedanken des jungen Salomo über seine Zukunft mit der Weisheit, wie aus v.17 rückblickend deutlich wird. Wie der gesamte Text beziehen sich diese autobiographischen Gedanken in der Fiktion auf Salomos Leben als das eines erfolgreichen Königs; auf der Rezipientenebene funktionieren sie aber als Erfolgsversprechen zum einen für angehende Könige und Herrscher, zum anderen für jeden gewöhnlichen Menschen, wie nach ‚eigenemʻ Zeugnis doch auch Salomo einer war (7,1– 4). Der Weise erscheint daher als jemand, der durch sein öffentliches Auftreten zu Ruhm und Ehre gelangt (8,10:

 Wenn die ‚Gewalt der Geisterʻ (πνεύματων βία) hier übernatürlich verstanden ist, könnte man zu den Fachgebieten des Weisen noch Parapsychologie hinzuzählen.  Vgl. Clifford, Literature 149.

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δόξα καὶ τιμή).²³⁷ Wenn man die Hinweise auf die Gruppen, bei denen der Weise zu Ansehen gelangt, als soziale Örtlichkeiten auffasst, ergeben sich verschiedene öffentliche Felder, auf denen der Weise aktiv wird: vor der Menschenmenge (v.10: ἐν ὄχλοις; v.15: ἐν πλήθει), im Ältestenrat (v.10: παρὰ πρεσβυτέροις), vor Gericht (v.11: ἐν κρίσει), am Hof (v.11: ἐν ὄψει δυναστῶν), im Krieg (v.15: ἐν πολέμῳ). Der Weise ist damit ein ausgesprochener homo politicus, insofern er aktiv am Gemeinwesen teilnimmt. Der abschließende Teil A’ (8,17– 21) betont im Gegensatz zu A (7,1– 6), worin die Gleichheit aller Menschen behauptet wurde, die Vorzüglichkeit Salomos gegenüber anderen. So sei er wohlgestaltet (εὐφυής) gewesen und mit einer guten bzw. trefflichen Seele (ψυχὴ ἀγαθή) ausgestattet (8,19). Hier schimmert wohl die griechische Vorstellung vom Ideal äußerer und innerer Vortrefflichkeit (καλοκἀγαθία) durch. Pseudo-Salomo vollführt dabei allerdings – vor dem Hintergrund der ganz hellenistischen Vorstellung einer vom Leib unabhängigen Seele – eine Wendung ins Sittlich-Moralische (v.20): Der Körper, in den Salomo als Seele hineinging, war unbefleckt (ἀμίαντος), was an der Güte seiner Seele lag. Das Partizip ὤν in v.20 ist kausal zu verstehen: „Oder vielmehr weil ich gut war, kam ich in einen unbefleckten Körper“.²³⁸ Das Unbeflecktsein ist in SapSal sexuell zu verstehen und wird als hohes Gut verstanden (3,13; 4,2). Um die Reinheit des Körpers zu bewahren, bedarf es der Tugend der Selbstbeherrschung, die einzig von Gott kommt. So heißt es in 8,21: „Nicht anders werde ich selbstbeherrscht sein, außer Gott gibt es – und dies gehörte aber der Verständigkeit, [nämlich] zu wissen, wessen die Gnade(ngabe) war“ (οὐκ ἄλλως ἔσομαι ἐγκρατής, ἐάν μὴ ὁ θεὸς δῷ – καὶ τοῦτο δ’ ἦν φρονήσεως τὸ εἰδέναι τίνος ἡ χάρις).²³⁹ Diese Erkenntnis leitet über zum Bericht Pseudo-Salomos über sein Gebet um Weisheit (9,1– 18).

 Da es hier um das Ansehen im Volk bzw. bei den Älteren geht, verstehe ich δόξα in seiner profanen Bedeutung als ‚Ruhmʻ (nicht als ‚Herrlichkeitʻ).  Vgl. Luther-Übersetzung z.St. In gewisser Weise wird hier also ein Tun-Ergehen-Zusammenhang zwischen körperlicher Schönheit und seelischer Güte (8,19 f) deklariert.  Der Einwand von Zeller, Brief 240 Anm. 45, man habe zu ἐγκρατής ein σοφίας zu ergänzen, erklärt zwar die abweichende Übersetzung der Vulgata, die continens im Sinne von ‚habhaftʻ setzt, und ihr folgend der Einheitsübersetzung wie auch Luther (nicht nachzuvollziehen dabei LXX.Deutsch, die ganz ähnlich wie Luther übersetzt); diese Ergänzung vorzunehmen, verbietet sich aber schon allein wegen des direkt vorangehenden v.19 f, der die moralisch-körperliche (v.20: σῶμα ἀμίαντον, „ein unbefleckter Körper“), und das heißt doch sexuelle Dimension in den ‚autobiographischenʻ Bericht Pseudo-Salomos einspielt.Von daher passt es sehr gut, dass in v.21 vom Erlangen der Selbstbeherrschung als Garantin für die Beibehaltung der sexuellen Unbeflecktheit die Rede ist. Höchstens ließe sich in Analogie zu 9,4 bei δῷ in 8,21 ein σοφίαν ergänzend denken. Dann wäre die Weisheit die Gabe Gottes an Pseudo-Salomo, sorgte allerdings gleichermaßen für

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Auch wenn in diesem Teil A’ der Unterschied zwischen dem körperlich, da seelisch begabten Salomo und gewöhnlichen Menschen betont wird, leistet dies nicht der Vorstellung Abbruch, dass auch normale Menschen zur Weisheit gelangen können. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt ja gerade auf der sexuellen Unbeflecktheit als moralischer Qualität, die durch die Selbstbeherrschung bewahrt werden kann. Als von Gott gewährte Gabe ist die Selbstbeherrschung eng verbunden mit der von Gott stammenden Weisheit (9,4.6). Der Weise nach den Vorstellungen der SapSal ist demnach ein sexuell selbstbeherrschter Mensch, der aufgrund seiner seelischen Qualitäten die körperlichen Bedürfnisse zu überwinden vermag, wobei dies allein von Gott her und nicht aus dem Weisen selbst stammt. Die gesonderte Erwähnung der Tugend der Selbstbeherrschung (ἐγκράτεια) ist nicht unbedeutend, erscheint sie doch mitunter in der griechischen Philosophie als Begründung aller Tugend überhaupt.²⁴⁰ Gerade die Erwähnung zum Ende des gesamten ‚autobiographischenʻ Teils (ohne das gesonderte Weisheitsgebet c.9) abseits der bereits genannten vier Kardinaltugenden unterstreicht ihre Bedeutung. Zusammenfassend lässt sich das Weisenbild der SapSal phänotypisch sehr dicht an pagan-hellenistischen Vorbildern verorten. Das Set seiner Eigenschaften besteht neben akademischer Gelehrtheit in den vier Kardinaltugenden wie auch der Selbstbeherrschung. Er erscheint eingebunden in die Gesellschaft. Von Schriftgelehrtheit als Kriterium der Weisheit ist im Übrigen in SapSal ganz auf pagan-hellenistischer Linie keine Rede, auch wenn sie implizit bei den vielen anonymen Anspielungen auf die Glaubenshelden der Vorzeit (c.10) und die Exodus-Erzählung (c.11; 16 – 19) gefordert ist. Bei aller Nähe zu paganen Weisheitsvorstellungen wird aber die Weisheit selbst stets fest beim Gott Israel verortet.²⁴¹ Die ausschließliche Bindung an ihn und sein Gesetz hebt die Juden vom Rest der Völkerwelt ab und macht sie weiser und tugendhafter als diese.²⁴² Insofern kommen Weise außerhalb Israels schlechterdings nicht vor. Alien Wisdom ist damit für SapSal weder attraktiv noch überhaupt denkbar. Die Weisen werden in Vergangenheit und Gegenwart allein von Israel gestellt.

die erstrebte Selbstbeherrschung. Aber auch das nimmt nichts weg vom sexuell-moralischen Akzent in 8,19 – 21a.  Vgl. W. Grundmann, „ἐγκράτεια κτλ.,“ in: ThWNT 2 (1935), 338 – 340: Xen.mem 1,5,4.  Dies führte in der Auslegungsgeschichte dazu, dass die Weisheit manchem Leser sogar als seine Hypostase erschien, so etwa Origenes, De principiis 1,2,1f.  Vgl. Birnbaum, „Portrayals“ 160. Birnbaum sieht hierin das verbindende Element zu Philo und dem Aristeas-Brief.

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2.3.5 Zusammenfassung zum jüdischen Weisenbild Die hier vorgestellten Schriften stimmen darin überein, dass sie (wie die griechisch-paganen Vorstellungen) von der Realisierbarkeit der Gestalt des Weisen ausgehen. Während bei Ben-Sira und Josephus dafür nur einige wenige (beide selbst wohl darin eingeschlossen) infrage kommen, ist dieser Kreis bei SapSal erweitert: Pseudo-Salomo verlagert zwar durch die Fiktion seiner Schrift die Gestalt des Weisen Salomo in die Vergangenheit und in die gesellschaftliche Sphäre der Herrschenden; da Salomo aber erklärtermaßen ein Mensch wie jeder andere ist, wird mit diesem ‚Eingeständnisʻ auch die Weisheit selbst gleichsam geerdet und für jeden Menschen (nicht bloß Herrscher oder Beispielsweise aus Israels Vergangenheit) für erreichbar erklärt. Bei Philo schließlich stellt Weisheit ein Gruppenphänomen dar, wie er an der Essener-Gemeinschaft verdeutlicht. Lediglich SapSal kennt die Vorstellung, dass Weisheit zurückgewiesen werden bzw. in einem Akt der Apostasie wieder verloren gehen kann, wie das Beispiel Kains erhellt. Die beiden anderen Schriften scheinen von der Beständigkeit des Weisen in seiner Weisheit auszugehen. Die Definition von Weisheit schwankt bei den vorgestellten Autoren allerdings erheblich. Ben-Sira vermeidet zwar den Terminus σοφός; deutlich ist aber, dass nur ein intimer Kenner der Schrift und damit (nahezu zwangsläufig) tiefer Verehrer Gottes als weise gelten kann. Ebenso ist für Josephus klar, dass nur ein kompetenter Ausleger der Schrift (wie er selbst einer ist) den Status eines Weisen für sich beanspruchen darf. Philo und SapSal hingegen berufen sich für ihre Botschaft zwar auch auf die Schrift, explizieren aber nicht die Gleichung, dass Weisheit der genauen Schriftkenntnis entspricht. Während Ben-Sira und Josephus nach Bennema zum thorazentrierten Weisheitsstrang zählen, können sowohl Philo als auch SapSal zum geistzentrierten Traditionsstrang der Weisheit gerechnet werden (s.o. Kap. 3, 1.2), d. h. Weisheit wird in enger Verbindung mit dem göttlichen Geist gesehen und durch ihn erst verliehen. Hingegen rückt die Thora gleichsam in die zweite Reihe, sei es dadurch, dass ihre Lehrsätze lediglich als Hinweise (oder Anspruchsmarken: tokens) auf die zugrunde liegende göttliche Weisheit verstanden werden (SapSal), sei es dadurch, dass erst der Geist der Weisheit mittels allegorischer Lektüre ihren wahren Sinn erst aufdecken kann (Philo).²⁴³ Gleichwohl sind beide auf die Thora als die grundlegende identitätsstiftende religiöse Urkunde angewiesen und lassen nicht von ihr ab.²⁴⁴ Insofern können sie sehr wohl für sich das Merkmal des Weisen nach  Vgl. Bennema, „Strands“ 71– 73.  Vgl. die Hinweise auf Mose als Gesetzgeber und die väterlichen Schriften bei Philo prob. 29.43.68 f.80 – 82 oder etwa die ‚Ahnenreiheʻ der Weisen in SapSal 10 und die geschichtlichen Rückblicke in c.11– 19.

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Josephus – genaue Kenntnis der Schriften – beanspruchen, ohne dass es ihr einziges Hauptmerkmal als Weise ist. Philo lehnt sich bei seinem Weisen-Verständnis sehr stark an die allgemein hellenistische Vorstellung an, dass in einem Weisen Wort und Tat vollends harmonieren. Für Philo und SapSal ist Weisheit aber eng mit dem Gott Israels verbunden, wenngleich Philo auch unter den Völkern Weisheit zu entdecken vermag. Aus der engen Beziehung zum Gott Israels erwächst hierbei durchaus die Möglichkeit, sich selbst offen als weise zu bezeichnen. Allerdings nutzt niemand der drei vorgestellten Autoren diese Möglichkeit. Selbst der fiktive Salomo spricht stets in einer solchen Weise von Gottes Weisheit, dass sie (bzw. Gott als deren Geber) als der aktive Teil in der Beziehung, die der Mensch und die Weisheit miteinander haben, erscheint. Dies wird auch deutlich aus Pseudo-Salomos bevorzugten Begriff ‚der Gerechteʻ zur Beschreibung des Weisen, der die menschliche Wesensart in eine Beziehung zu Gott als dem Setzer der Gerechtigkeit stellt. Insgesamt ergibt sich ein buntes und uneinheitliches Bild über die Vorstellungen des Weisen bei jüdischen Autoren zur Zeit des Paulus. Dadurch wird aber deutlich, dass Paulus nicht auf bestimmte Vorbilder bzw. Vorstellungen im Hinblick auf die Gestalt des Weisen im zeitgenössischen ‚Judentumʻ Rücksicht nehmen musste noch überhaupt konnte. So wie die Korinther (verstärkt durch Apollos) offensichtlich ihre eigenen Vorstellungen von der Figur des Weisen entwickelt hatten, konnte Paulus in Antwort auf die Konflikte in der Gemeinde ein eigenes Weisen-Konzept erdenken bzw. auf die konkrete Situation anwenden, das gleichwohl nicht völlig unabhängig vom oben dargestellten Kontext ist.

2.4 Der Weise in der außerpaulinischen Christusbewegung (Q) Auch die Christusbewegung vor und neben Paulus hatte einen Bezug zur Weisheit und damit auch zur Gestalt des Weisen. Daher soll hier ein kurzer Überblick über diese Gestalt in der nicht-paulinischen Christusbewegung erfolgen. Da es dabei nicht um die Jesusbewegung, sondern um die Christusbewegung geht, also um die Bewegung der Christusgläubigen nach dem Osterereignis, klammere ich eine Diskussion über Jesus selbst aus.²⁴⁵ Aus den Evangelien als den literarischen

 Zu Jesus als Weisem bzw. zu seinem Bezug zu weisheitlichen Traditionen vgl. M. Ebner, „‚Weisheitslehrer‘ – eine Kategorie für Jesus? Eine Spurensuche bei Jesus Sirach,“ in: J. Beutler (Hg.), Der neue Mensch in Christus. Hellenistische Anthropologie und Ethik im Neues Testament, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 2001, 99 – 119; Witherington, Jesus; Lips, Traditionen 197– 257; B. B. Scott, Jesus as Sage: An Innovative Voice in Common Wisdom, in: Gammie/Perdue, Sage, 399 – 415.

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Zeugnissen der Christusbewegung lassen sich durch Quellenkritik theologische Gedanken und Aussagen über den Weisen gewinnen, die in Paulus’ Wirkzeit fallen, aber nicht direkt mit ihm in Beziehung stehen. Insgesamt gibt es nur drei Vorkommnisse des Wortes σοφός in den Evangelien: Mt 11,25; 23,34; Lk 10,21.²⁴⁶ Mt 11,25 und Lk 10,21 stellen dabei eine Parallelüberlieferung dar, die sich der Logienquelle Q zuweisen lässt (= Q 10,21). Ebenso findet Mt 23,34 in Lk 11,49 eine Parallele, was auf eine Herkunft aus Q schließen lässt (= Q 11,49). Bei Lukas steht an dieser Stelle ‚Propheten und Apostelʻ (προφήτας καὶ ἀποστόλους) anstatt wie bei Matthäus ‚Propheten und Weise und Schriftgelehrteʻ (προφήτας καὶ σοφοὺς καὶ γραμματεῖς), was wohl eine Ersetzung darstellt, die auf die lukanische Tendenz zurückzuführen ist, den Aposteln in der Heilsgeschichte einen besonderen Rang einzuräumen.²⁴⁷ Gleichermaßen stellt wohl die Erwähnung der Schriftgelehrten bei Matthäus einen Zusatz dar, der sich aus dem Kontext (Rede gegen Schriftgelehrte und Pharisäer) ergibt.²⁴⁸ Ursprünglich wird in Q 11,49 also ‚Propheten und Weiseʻ (προφήτας καὶ σοφούς) gestanden haben. Das Wort σοφός gehört somit zum Vokabular der Logienquelle und findet erst von dort her Eingang in Mt und Lk.²⁴⁹

 Weitere aus der philosophischen Sprache übernommene Synonyme zu σοφός fehlen. Neben φρόνιμος, das aber durchweg profan verwendet wird (Mt 7,24; 10,16; 24,45 [par. Lk 12,42]; 25,2.4.8.9; Lk 16,8), taucht lediglich νουνεχῶς in Mk 12,34 auf, wird dort aber im Hinblick auf weisheitliche Motivik unverdächtig gebraucht. Die zahlreichen Belege für δίκαιος in den Evangelien bespreche ich nicht, da das Wort bei Paulus in 1Kor keine Rolle spielt. Gleichwohl ist es v. a. in Röm und Gal allein schon wegen des Zitats aus Hab 2,4 und der darauf basierenden Rechtfertigungslehre wichtig. Möglicherweise vermeidet Paulus in 1Kor bewusst eine Anspielung auf die Gestalt des Gerechten, weil sie zu leicht mit derjenigen des Weisen in Verbindung gebracht werden kann und somit seine Argumentation unterlaufen würde. Die Denkfigur wäre: „Wer glaubt, ist gerechtfertigt, also ein Gerechter, also ein Weiser.“ Gerade solch eine plumpe Argumentation will Paulus in Korinth gar nicht erst aufkommen lassen und bringt stattdessen seine theologia crucis vor.  Vgl. J. Roloff, Die Apostelgeschichte (NTD 5), Göttingen/Zürich 2(18)1988, 34– 36 zum Apostelbild bei Lukas.  Vgl. P. Hoffmann/ Ch. Heil (Hg.), Die Spruchquelle Q. Studienausgabe Griechisch und Deutsch, Darmstadt 2002, 130.  Im Folgenden werde ich nicht auf die Schichtenproblematik innerhalb von Q und deren Entstehung eingehen. So ist etwa für J. M. Robinson, „Jesus as Sophos and Sophia: Wisdom Tradition and the Gospels,“ in:Wilken, Aspects 1– 16 klar, dass Jesus in einer frühen Schicht als ein Weiser erscheint, wobei er in der heilsgeschichtlichen Darstellung die Rolle eines primus inter pares unter den verfolgten und leidenden Verkündern einnimmt: Darin stellt Jesus als letzter und wichtigster Verkünder der göttlichen Weisheit sozusagen den Kulminationspunkt aller anderen verfolgten Weisen dar (Q 11,49 – 51), wohingegen er in der letzten Schicht von Q mit Prädikaten der Weisheit belegt wird und somit als diese selbst erscheint (Q 10,22). Die Erforschung von Q ist gegenwärtig allerdings stark im Fluss, vgl. Schnelle, Einleitung 236 – 238.

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Bei alledem findet sich die personifizierte Weisheit (Q 11,49) als Ursprung und Mutter der Weisen, die als deren Kinder bezeichnet werden (Q 7,35: τέκνα) und in Johannes dem Täufer und Jesus zwei herausragende Repräsentanten haben (Q 7,33 f). Jesus selbst erscheint noch darüber hinaus als bedeutender als Salomo (Q 11,31), der gemeinhin als der Weise schlechthin gilt (s.o. 2.3.3).

2.4.1 Q 10,21 – 22 Die Verse Q 10,21– 22 sind ein Dankgebet.²⁵⁰ Hierin geht es um den Lobpreis Gottes durch Jesus dafür, dass er vor Weisen und Verständigen (ἀπὸ σοφῶν καὶ συνετῶν) ‚diese Dingeʻ (ταῦτα/αὐτά) verborgen gehalten hat, um sie den Unmündigen (νηπίοις) zu enthüllen (v.21). Was mit ‚diesen Dingenʻ gemeint ist, erschließt sich aus dem Zusammenhang nicht. Möglicherweise zielt es auf den folgenden v.22 und die Erkenntnis, dass Jesus und Gott eine Einheit bilden.Wahrscheinlicher ist, dass es sich auf Vorheriges zurückbezieht, was in direkter Nachbarschaft der Rekonstruktion von Q zufolge der Spruch 10,16 ist.²⁵¹ Darin geht es um das Aufnehmen der Jünger, was gleichbedeutend mit dem Aufnehmen Jesu und damit dessen himmlischen Vaters sei. Dies passt auch sehr gut zu dem Gedanken der Einheit zwischen Gott Vater und Sohn in Q 10,22. In v.21b wird eine Diastase zwischen Weisen und Verständigen auf der einen Seite und Unmündigen auf der anderen Seite aufgebaut. Dass Weise und Verständige als Analoga erscheinen, ist biblischer Sprachgebrauch.²⁵² Dass Unmündige das Gegenüber zu ihnen bilden, ist hingegen biblisch nicht belegt.²⁵³ Es ist jedoch an der Kritik in 1Kor 3,1 abzulesen, wo Paulus den Korinthern vorwirft, noch wie Unmündige, d. h. Kleinkinder und nicht wie wahrhaft Weise zu leben.

 Vgl. Berger, Formen 302.  W. Grundmann, Das Evangelium nach Lukas (ThHK 3), Berlin 51969, 315 erkennt einen Bezug auf Lk (Q) 10,13 – 15. P. S. Minear, Two Secrets, Two Disclosures, in: Horizons in Biblical Theology 29 (2007), 75 – 85 geht noch weiter und sieht den Rückbezug auf alle zuvor geschilderten Wundertaten (77 f), wobei er allerdings von Mt ausgeht und von dieser literarischen Ebene her (nicht von Q her) urteilt.  Vgl. Dtn 1,13.15; 1Sa 16,18; Qoh 9,11; Jes 3,3; 19,11; 29,14; Jer 4,22; Hos 14,10. In Hi 34,34 stehen beide im Gegensatz zueinander. Jes 29,14 wird von Paulus in 1Kor 1,19 zitiert. Vgl. zudem 1QH 1,35 und syrBar 46,5 (nach Grundmann, Lukas 215).  Höchstens ließe sich Prov 23,13 – 15 so lesen, indem dort ein (angehender?) Weiser (v.15) dazu angehalten wird, einen νήπιος mit der Rute zu züchtigen (v.13). νήπιος meint dort allerdings ‚Kindʻ. Grundmann, Lukas 216 erkennt in den Unmündigen die Armen, die sonst im Evangelium adressiert sind. Aber auch dann ist die Gegenüberstellung zu den Weisen und Verständigen ungewöhnlich.

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Über die Art der Weisheit wird hier in Q 10,21– 22 nichts weiter bekannt; es handelt sich wohl aber um ein besonderes Einsichtsvermögen bezüglich der Welt. Hermann von Lips vermutet sowohl Schrift- und Gesetzesgelehrte als auch apokalyptische Seher hinter der Chiffre ‚Weiseʻ.²⁵⁴ Dies entspricht entweder dem thorazentrieren weisheitlichen Traditionsstrang nach Bennema oder dem apokalyptischen Strang (s.o.).Wo gewöhnlich Weise und Verständige Gottes Wirken in der Welt zu erkennen vermögen, hat es Gott ihnen nun verborgen und Unmündigen offenbart. Dieser Gedanke findet sich ganz ähnlich bei Paulus in 1Kor 1,21; 2,6 – 12 wieder.²⁵⁵ Der Zusammenhang dort (Geheimnis: 2,7) deutet auf den apokalyptischen weisheitlichen Traditionsstrang hin, was wohl ebenfalls auf Q 10,21– 22 zutrifft. Beachtenswert ist, dass sich zusammen mit dem Zitat aus Jes 29,14, das Weise und Verständige in einem Zug nennt und in 1Kor 1,19 direkt wiedergegeben wird, in Q 10,21 insgesamt drei Berührungspunkte mit der paulinischen Argumentation in 1Kor 1– 2 finden. Dies mag auf eine Verwandtschaft, wenn nicht sogar einen gleichen Ursprung beider Gedankenmuster hindeuten.²⁵⁶

2.4.2 Q 11,49 – 51 Dieses Wort steht sowohl bei Lukas als auch bei Matthäus im Zusammenhang einer Jesus-Rede gegen die Pharisäer und Gesetzeslehrer bzw. Schriftgelehrten, die selber nicht gemäß dem, was sie eigentlich lehren, handeln (Mt 23,3; Lk 11,46). Dies entspricht der Vorgabe durch Q. Bei Lukas erscheint dieses Wort als in der Vergangenheit getroffene Aussage (εἶπεν/„sie sprach“) der personifiziert gedachten göttlichen Weisheit und somit als bereits teilweise erfüllte, teilweise noch ausstehende Prophezeiung. Die Weisheit als Redesubjekt stellt gegenüber der ‚Aufweichungʻ bei Mt (Jesus als Subjekt) den ursprünglichen Wortlaut dar.²⁵⁷ Die

 Vgl. Lips, Traditionen 271.  Lips, Traditionen 270 vermutet daher die apokalyptische Fassung des weisheitlichen Motivs der verborgenen Weisheit als gedanklichen Hintergrund für Q 10,21 f.  Norden, Theos 277– 308 kommt nach einer intensiven Betrachtung von Mt 11,25 – 30 und religionsgeschichtlich analogen Texten zu dem Ergebnis (307 f): „Dem Verfasser der Quelle Q war […] ein mystisch-theosophischer Traktat bekannt, der schon eine lange Vergangenheit gehabt hatte und der jedenfalls in orientalischen Sprachen (auch schon in griechischer, was aber nebensächlich ist) literarisch fixiert war. Eine nicht geringe Anzahl von Religionsgenossenschaften hatte ihn sich zu eigen gemacht; nicht bloß durch die Literatur, sondern auch durch mündliche Propaganda wurde er verbreitet, wobei die Grundform den jeweiligen Sonderinteressen angepaßt wurde“. Paulus schöpft in 1Kor 1– 2 wohl ebenfalls aus diesen allgemein bekannten Traditionen.  Vgl. Lips, Traditionen 273.

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Aussage geht dahin, dass Propheten und Weise entsandt werden, die verfolgt oder getötet werden, wobei namentlich Abel und Zacharias²⁵⁸ genannt werden (Q 11,51). Die durch die Anfangs- und Endpunkte Abel bzw. Zacharias bestimmte Reihe mag einen Hinweis darauf geben, wie die Weisen in Q verstanden wurden. Zur Einordnung verwende ich erneut das Schema Bennemas, das von den drei weisheitlichen Traditionssträngen ausgeht, die entweder thorazentriert, geistzentriert oder apokalyptisch beeinflusst sind. Da Abel (mangels Schrift) gar keine genaue Schriftkenntnis haben konnte,²⁵⁹ muss in jedem Fall für ihn ein anderer als der thorazentrierte Weisheitsbegriff gelten. Dies gilt dann aber auch für den apokalyptischen Weisheitsbegriff, da Abel nirgends als relevante Gestalt der Endzeit (etwa als Seher) in der entsprechenden Literatur erscheint. Somit bleibt nach dem Modell Bennemas nur der geistzentrierte Weisheitsbegriff übrig. In diesem Traditionsstrang wird der Weise als inspirierter Weisheitslehrer verstanden. Die Weisheitslehre Abels besteht demnach in seiner Gottestreue, die ihm letztlich die Ermordung durch den eigenen Bruder einbringt.²⁶⁰ Wenn wir dies für Zacharias übernehmen (gleich, wer damit historisch gemeint ist)²⁶¹, dann wird auch hier am Leiden des unschuldigen Gottesmannes der geistzentrierte weisheitliche Traditionsstrang deutlich: Von Gott mit Weisheit begabt leiden die Weisen unter der unweisen Welt. Gerade im Kontext, dass die Gelehrten Israels nicht tun, was sie für alle propagieren (Q 11,46), bekommt der Begriff ‚weiseʻ in Q 11,49 eine Färbung, die dem westlich geprägten Verständnis bezüglich des Weisen, wonach nur ein Weiser entsprechend seiner Worte handelt, entspricht. Explizit gesagt wird dies jedoch nicht, und Q 11,49 wird in seinen jeweiligen Kontexten bei Lk und Mt entsprechend umgearbeitet, damit dieser mögliche Eindruck verwischt wird, entweder durch Ersetzung (Lk) oder durch Zusatz (Mt). So setzt Lukas Apostel an die Stelle der Weisen. Bei Matthäus werden die Weisen durch den Zusatz ‚Schriftgelehrteʻ in den geläufigen jüdischen Verständnisrahmen eingeordnet, so dass sie in einer Linie mit den Schriftgelehrten gesehen werden, d. h. als besonders schriftkundige Menschen. Für Q jedenfalls scheint die Schriftgelehrsamkeit kein Kriterium für Weisheit zu sein.

 Zur Identität dieses Zacharias und damit zum Umfang der Reihe der ermordeten Gottesboten vgl. E. Klostermann, Das Matthäusevangelium (HNT 4), Tübingen 41971, 189 f. Am ehesten kommen der Prophet Sacharja (Sach 1,1) sowie der Priestersohn gleichen Namens (2Chr 24,20 – 22, allerdings anders in LXX) infrage.  Matthäus weicht dem dadurch aus, dass er Abel als Gerechten bezeichnet.  Vgl. Hebr 11,4.  Sowohl der Prophet Zacharias als auch der Priestersohn Secharja/Azarias sind vom göttlichen Geist berührt, vgl. Sach 1,6 (7,12) bzw. 2Chr 24,20.

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Damit ist insgesamt für Q eher eine Nähe zum apokalyptischen sowie zum geistzentrierten weisheitlichen Traditionsstrang zu erkennen. Inwieweit Q Einfluss auf Paulus gehabt hat, steht auf einem anderen Blatt. Es ist aber nicht zu vernachlässigen, dass es neben (und vor) dem Apostel einen Teil in der Christusbewegung gab, der in weisheitlicher Perspektive sowohl in der Nähe zu den apokalyptischen und geistzentrierten Traditionssträngen innerhalb des Judentums steht als auch sich offen für das westliche Verständnis der Gestalt des Weisen zeigt.

2.5 Äußerlichkeiten des Weisen Zur Phänomenologie gehört nicht allein die Betrachtung und Behandlung von Vorstellungen. In diesem Abschnitt will ich noch kurz auf die äußere Erscheinung der Weisen in der Kaiserzeit eingehen. Auch wenn die Paulusbriefe keine Beschreibung des Äußeren des Apostels enthalten, ist wenigstens ein indirekter Hinweis in ihnen gegeben (1Kor 11,3 – 16). Die Antike ist eine Zeit, in der das Äußere eines Menschen für seine Wahrnehmung und damit sein Ansehen in der Gesamtgesellschaft bestimmend ist. Neben der Hautfarbe und anderen physiognomischen Merkmalen,²⁶² die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe wahrscheinlich machten, waren es vor allem die Kleidung und die Haartracht, die als Erkennungszeichen wirkten. Die Haarfrisur und Kleidung deuteten in typischer Weise darauf hin, zu welchem Volk jemand gehörte,²⁶³ so etwa bei den Griechen der Chiton als Gewand für beide Geschlechter, bei den Römern die Tunica.²⁶⁴ Obgleich die Realien, die erhalten sind, als Kunstwerke stark stilisiert sind, wird die Stilisierung in der Kunst doch sicherlich einen Anhalt in der Wirklichkeit haben. Die äußere Art der Selbstdar-

 Vgl. Melina/Neyrey, Portraits 108 – 127. Das Altertum hat mit der Physiognomie eine eigene Wissenschaft gebildet, derzufolge man am Äußeren einer Person ablesen kann, wie ihr Charakter konstituiert ist. Den Schlüssel zu dieser Erkenntnis bildet die Einordnung des untersuchten Individuums in die Kategorien Geschlecht (gender), Geographie bzw. Ethnos, Vergleich mit bestimmten Tieren, anatomische Besonderheiten.  Bereits im Alten Orient und Ägypten werden Völker durch physiognomische Merkmale, Haartracht und Kleidung in typisierter Weise dargestellt, vgl. etwa H. Gressmann, Altorientalische Bilder zum Alten Testament, Berlin/Leipzig 21927, 1– 8 (zu Abb. 1– 25). Dies gilt auch für die Juden noch in der Zeit nach der zweiten Tempelzerstörung, wie es etwa deutlich im Midrasch zum Hohenlied 1,15 gesagt wird: die Israeliten seien gekennzeichnet durch Haarschnitt, Beschneidung und Schaufäden.  Vgl. W. H. G. Gross, „Tracht,“ in: KP 5 (1975), 905 – 906.

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stellung bedeutet also durchaus etwas Identitätsstiftendes, zumal das antike Individuum stark auf seine Herkunftsgruppe bezogen war. Die Weisen der Kaiserzeit fallen in dieser Hinsicht aus dem Rahmen, und sie tun dies in bewusster Weise. Die antike Literatur kennt und verbreitet das Klischee des Philosophen, den man bereits an seinem Äußeren erkennt.²⁶⁵ Dies besteht zumeist in Bart²⁶⁶ und einfacher, wenn nicht gar schäbiger Kleidung. Gerade der Bart des Philosophen ist auffällig in einer Zeit, in der die Männer in der Regel Bartlosigkeit²⁶⁷ bevorzugen. Wahrscheinlich wird er in bewusster Anlehnung an die griechischen Philosophen des 4. Jahrhunderts getragen, wie die Porträtbüsten von Männern wie Sokrates oder Platon vermuten lassen. Der Bart ist Markenzeichen des Philosophen, weshalb sich Epiktet zu dem Ausspruch hinreißen lassen kann, dass er lieber den Kopf als den Bart verlieren möchte.²⁶⁸ Doch nicht allein der Bart, auch die Haarfrisur gibt Anlass zum Anstoß, insofern sich der Weise mitunter durch langes Haar auszeichnet. Die Frage, woran man einen Philosophen erkennt, beantwortet Epiktet nach allgemeiner Anschauung mit: ‚an Mantel und Mähneʻ.²⁶⁹ Die langen Haare waren Markenzeichen über die Grenzen der philosophischen Gruppen hinaus – langes Haar (κόμη) teilten die Pythagoreer mit den Kynikern, wobei letztere im Gegensatz zu ersteren von Pflege allerdings wenig hielten.²⁷⁰ Hingegen trug der Stoiker kurzes Haar, doch fehlte auch bei ihm der Philosophenbart nicht.²⁷¹ Die Bevorzugung des kurzen Haares teilen die Stoiker übrigens mit den Anschauungen des jüdischen Gnomikers Ps.-Phokylides. Er rät eindringlich davon ab, dass Jungen und Männer langes Haar (κόμη) tragen (210 – 212). Da das Lehrgedicht, in dem dieser Rat enthalten ist, eine verkappte, an Heiden gerichtete Werbeschrift für die jüdische Lehre ist, lässt sich davon ausgehen, dass eine Kurzhaarfrisur den allgemeinen Vorstellungen der peer group des Ps.-Phokylides (in Alexandria?) entsprach. Johannes Hahn hat aufgezeigt, dass die äußere Erscheinung des Weisen bereits ein Statement für sich darstellt, noch bevor er selbst ein Wort der Lehre über  Vgl. etwa die Schilderung des Kynikers Menedemos bei Diog.Laert. 6,102.  Vgl. S. Fornaro, „Wahre und falsche Philosophen in Dions Werk und Zeit,“ in: H.-G. Nesselrath (Hg.), Dion von Prusa. Der Philosoph und sein Bild (SAPERE 13), Tübingen 2009, 163 – 182 (169 – 171).  Dies gilt für Griechen wie für Römer,vgl.W. H. Gross, „Bart,“ in: KP 1 (1964), 827– 828. Erst mit Hadrian wird der Bart wieder Mode.  Vgl. Hahn, Philosoph 36: Epikt.Diss. 1,2,28 f. Überhaupt gilt Epiktet der Bart als wichtiges Unterscheidungsmerkmal der Natur zwischen Mann und Frau (3,1).  Vgl. Epikt.Diss. 4,8,5: τρίβωνα γὰρ ἔχει καὶ κόμην.  Vgl. Friedländer/Wissowa, Darstellungen 265; Hahn, Philosoph 37.  Vgl. Friedländer/Wissowa, Darstellungen 262 f; Hahn, Philosoph 38.

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die Lippen bringt.²⁷² Im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit, in der die Philosophie vor allem die Ethik (gegenüber Logik und Physik) betont,²⁷³ wird der Weise als Vertreter und Lehrer der Lebenskunst konzipiert. Durch sein äußerliches Anderssein „machte der Weise die grundsätzliche Verschiedenheit seiner Gesamtpersönlichkeit, seiner Daseinsauffassung und seines Tätigseins bekannt und stellte sie augenfällig zur Schau“²⁷⁴. Seine Lebensweise (βίος) wird an seinem Äußeren als Freiheit und Ungebundenheit deutlich und stellt sich als ein gewisses Heraustreten aus der Gesellschaft dar, insofern er ja gegen Konventionen verstößt. Dieses Heraustreten ist aber vor allem ein kritisches Gegenübertreten, aus dem letztendlich als Abwehrreaktion auch der Spott über Philosophen resultiert.²⁷⁵ Die deutliche, äußerliche Kennzeichnung eines Weisen hat bei aller Kritik vor allem eine Leuchtturmfunktion: Der Weise macht sich innerhalb der im Dunkel der Unkenntnis herumirrenden Gesellschaft kenntlich und erhellt so den Menschen den Weg zu einem gelingenden Leben. Seine äußerlich wahrnehmbare Lebensweise (die nicht auf sein äußeres Erscheinungsbild reduziert werden darf) bleibt das Ideal, dem nachzueifern er aufruft.²⁷⁶

2.6 Fazit In diesem Kapitel habe ich dargestellt, wie sehr die geistige Welt der Antike von der Gestalt des Weisen durchzogen war, sowohl was den West- als auch den Ostteil des Mittelmeerraumes betrifft. Der Weise ist eine feste Größe im Denken des antiken Menschen an allen Orten, wobei es über die Zeit durchaus Wandlungen im Verständnis der Weisheit gibt. Bezeichnend für den Westen ist – ausgehend von Sokrates – die Sicht auf den Weisen als jemand, der Leben und Lehre in sich selbst in Einklang bringt, ohne dabei jedoch öffentlich von sich selbst zu behaupten, weise zu sein. Hinsichtlich einer rhetorischen persona im Sinne Wares und Linkugels²⁷⁷ sind diese Eigenschaften als wesentliche particulars des Weisen zu bezeichnen. Im Falle Sokrates’ sind dies – auf Grundlage von Xen.mem. 4,8,11 – seine Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung,Verständigkeit sowie seine

 Vgl. Hahn, Philosoph 40 – 45 zum Folgenden.  Vgl. Friedländer/Wissowa, Darstellungen 276.  Hahn, Philosoph 40.  Vgl. dazu auch Dion Chrys. 72,9 – 11. Die Gegenreaktion besteht etwa aufseiten der Kyniker in der Versicherung, dass der Mantel nicht den Kyniker macht, sondern umgekehrt (Krates, ep. 19).  Auf die Spitze getrieben liegt darin ein durchaus ernstzunehmendes gesellschaftsrevolutionäres Potential.  S.o. Kapitel 1, 1.8.

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Fähigkeit, logische Unterscheidungen zu treffen und andere Menschen ihrer Fehler zu überführen und zur Tugendhaftigkeit zu bringen. Diese sokratischen particulars zeitigten einen großen Einfluss auf die nachfolgenden Philosophen. Es entwickeln sich jedoch in den verschiedenen philosophischen Richtungen im Einzelnen durchaus unterschiedliche Ansätze und Ausformungen, was die konkrete Gestaltung eines weisen Lebensstils betrifft. Hier lassen sich dann ‚schulspezifischeʻ particulars feststellen, wie z. B. das epikureische verborgene Leben. Bei aller Verschiedenheit besteht die Überzeugung, dass der Status eines Weisen nicht bloß ein Ideal ist, sondern tatsächlich realisiert werden kann. Im Osten herrscht hingegen das Verständnis vor, dass ein Weiser schriftgelehrt bzw. gesetzeskundig ist. Drei Momente sind dabei für die Kaiserzeit, in der Paulus wirkt, wichtig: Zum einen gerät die Gestalt des Weisen zunehmend in die Sphäre des Heiligen, wohingegen das Heilige in die Sphäre der Weisheit übergeht. Religion und (philosophische) Ethik gehen daher ineinander über. Zum anderen gewinnt die fremde, östliche Weisheit für den Westen zunehmend an Attraktivität, wobei das westliche Verständnis, dass ein Weiser sich durch die Übereinstimmung von Lehre und Leben auszeichnet, gleich bleibt. Zum dritten wandelt sich das Weisheitsverständnis im Judentum dahingehend, dass neben dem schriftgelehrten Weisheitsstrang nun auch eine apokalyptische sowie eine geistzentrierte Richtung möglich sind. Und auch die Christusbewegung vor und neben Paulus kann sich daran orientieren (Q). Für Paulus bedeuten all diese Entwicklungen, dass er in seiner Mission Kleinasiens und Europas für seine Saat des Evangeliums gleichsam einen sehr aufnahmebereiten Acker betritt. Als Vertreter einer östlichen Religion ist seine Anziehungskraft auf ‚Griechen, die nach Weisheit suchenʻ nicht zu unterschätzen. Die gleichzeitige Sapientisierung des Heiligen und Sakralisierung der Weisheit lässt das Judentum bei Heiden als Philosophie erscheinen. Der Christusglaube erscheint dabei bloß als Variante des moralisch hoch angesehenen Judentums. Zudem erweitert vor allem die geistzentrierte Richtung im jüdisch-weisheitlichen Denken die Zugangswege zum Gottesvolk: Wo der Geist (und nicht der Buchstabensinn) zur bestimmenden Instanz im Glaubensleben wird, können auch Barrieren (zwischen den Völkern und dem Gottesvolk, aber auch zwischen den Völkern und dem Gott Israels) fallen, die zuvor durch Schrift und Tradition unüberwindlich erschienen. Die Gemeinde in Korinth scheint dahingehend tatsächlich ein bereitwilliges Ackerfeld Gottes (1Kor 3,9) gewesen zu sein.

Kapitel 4: Die Gemeinde in Korinth und das Phänomen der Weisheit In diesem Kapitel möchte ich zeigen, wie sich das Phänomen des Strebens nach Weisheit besonders in der Gemeinde in Korinth manifestieren konnte. Dazu erfolgt ein Blick auf die Geschichte der Stadt und ihren Charakter im 1. Jahrhundert sowie dann auf die Gemeinde selbst.

1 Die Stadt Zu der Zeit, als Paulus in Korinth wirkte, war die Stadt noch keine hundert Jahre alt, war sie doch – nach der Zerstörung des klassischen, griechischen Korinth 146 v.Chr. durch ein römisches Heer – erst 44 v.Chr. von Julius Caesar als Colonia Laus Iulia Corinthus ¹ neu gegründet und mit Freigelassenen und Veteranen besiedelt worden.² Außer dass die Römer im Zentrum auf den Fundamenten der griechischen Gebäude aufbauten, erinnerte äußerlich sonst nichts mehr an die alte Stadt: „Corinth was laid out and built as a new Roman city.“³ Gleichwohl beruht die Vorstellung einer völligen Zerstörung des alten Korinth wohl auf römischer Propaganda, so dass trotz der Neubesiedlung mit einer nicht unbedeutenden Kontinuität bei der griechischen Stadtbevölkerung zu rechnen ist.⁴

 In der Literatur findet sich neben der Bezeichnung Colonia Laus Julia Corinthus auch Colonia Laus Julia Corinthiensis, vgl. etwa E. Meyer, „Korinthos,“ in: KP 3 (1969), 302; E. Fascher, Der erste Brief des Paulus an die Korinther. Erster Teil: Einführung und Auslegung der Kapitel 1 – 7 (THK 7/1), Berlin 41988, 38 vs. Conzelmann, Brief 28; H.-J. Klauck, 1. Korintherbrief. 2. Korintherbrief, Leipzig 1990, 7; Chr. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (THK 7), Berlin 22000, 1.  Vgl.Y. Lafond/ E.Wirbelauer, „Korinthos,“ in: DNP 6 (1999), 745 – 751 (747). Nach Th. Mommsen, Römische Geschichte III, Berlin 81889, 558 bildet innerhalb der römischen Geschichte die Gründung Korinths (und Karthagos) „die Begründung des neuen alle Landschaften am Mittelmeer zu nationaler und politischer Gleichheit, zu wahrhaft staatlicher Einigung heranbildenden großen Gemeinwesens“. Er bezeichnet sie daher auch als den „Schlußstein der republikanischen Epoche“ (Geschichte VIII, 237).  B. W. Winter, After Paul Left Corinth. The Influence of Secular Ethics and Social Change, Grand Rapids/ Cambridge 2001, 10. Winter bietet einen Stadtplan des römischen Korinth, der die völlig neue, rechtwinklige Straßenführung entgegen der Ausrichtung der alten Agora deutlich vor Augen führt (a.a.O. xvii).  Vgl. W. Elliger, „Korinth,“ in: RAC 21 (2006), 579 – 605 (585). Wenngleich Cic.Tusc. 3,53 von den zerstörten Stadtmauern Korinths berichtet, wird ebenfalls von der verbliebenen und über die Trümmer bereits abgestumpften Bevölkerung erzählt.Vgl. zudem J. A. Fitzmeyer, First Corinthians. DOI 10.1515/9783110498769-006

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Seine günstige Lage mitten auf der Landenge (dem Isthmus) zwischen dem Ionischen Meer bzw. dem korinthischen Meerbusen im Westen und dem Ägäischen Meer im Osten ließen Korinth sowohl zu einer wichtigen Durchgangsstation auf dem Landweg zwischen der peleponnesischen Halbinsel und dem griechischen Festland als auch zu einem doppelten Anlaufpunkt auf dem Seeweg werden.⁵ Dadurch stieg die Stadt während des Prinzipats rasch wieder zu einem bedeutenden Handelszentrum mit den zwei Häfen Lechaion und Kenchreai auf. Tatsächlich überflügelte Korinth noch Athen an Größe und wurde zur größten Stadt Griechenlands.⁶ Der Zustrom weiterer Zuwanderer in dieses wichtige Handelszentrum lässt sich anhand literarischer wie archäologischer Belege über orientalische Kulte belegen.⁷ Zudem war die Stadt seit 27 v.Chr. Sitz des Statthalters der Provinz Achaia.⁸ Ihre Bedeutung und Größe machte Korinth zu einem natürlichen Anlaufpunkt von Paulus’ Missionstätigkeit. Doch nicht bloß für Paulus als Völkerapostel war Korinth so attraktiv, dass er für längere Zeit blieb. Bereits Diogenes von Sinope, der bekannte Kyniker,⁹ hatte sich einst Korinth wegen dessen zentraler Verkehrslage als neue Heimat ausgesucht. Wie Dion Chrystomos (or. 8,4– 5) berichtet, habe Diogenes dies getan, weil „es nötig sei, dass der vernünftige Mann (τὸν φρόνιμον ἄνδρα, also der Weise) – gerade so wie der gute Arzt, der gerufen wird, dorthin zu gehen, wo die meisten krank sind – besonders dort wohnen soll, wo die meisten Unvernünftigen (ἄφρονες) sind, um sie zu widerlegen und ihren Unverstand zu bestrafen.“¹⁰ Diese Motivation mag während der Römerzeit gleichermaßen andere bedeutende Männer in die Stadt geführt haben: die Rhetoren Dion Chrysostomos, Favorinus

A New Translation with Introduction and Commentary (Anchor Yale Bible), New Haven/ London 2008, 24 f.  Zur Geographie vgl. Plinius, nat. 4, 9 – 11.  Vgl. Mommsen, Geschichte VIII 238 f. Für die klassische Zeit ist Korinth auf ca. 100.000 Einwohner und damit zur zweitgrößten Stadt Griechenlands nach Athen geschätzt worden, vgl. Meyer, „Korinthos“ 303. Das Stadtgebiet jedenfalls war zweieinhalbmal größer als das Athens, vgl. J. E. Stambaugh/ D. L. Balch, Das soziale Umfeld des Neuen Testaments (GNT 9),Göttingen 1992, 153.  So erzählt Apuleius in seinen Metamorphosen (11,8 ff) über die Feier eines Isis-Festes im direkt benachbarten Kenchreai. Belegt ist eine jüdische Präsenz in Korinth (abgesehen von Apg 18) durch Philo legat. 281 und durch eine Synagogeninschrift samt weiterer baulich jüdischer Fragmente wohl aus dem 5. Jahrhundert, vgl. Zeller, Brief 34 Anm. 33.  Vgl. Zeller, Brief 31.  Vgl. Diog.Laert. 6,20 – 81 zu Diogenes.  Nach Diog.Laert. 6,74 f ist Diogenes aufgrund einer Entführung durch Piraten nach Korinth als Sklave verkauft worden und weigerte sich später, von seinen Schülern freigekauft zu werden. Jedenfalls blieb er in Korinth bis zum Tod. Geschichten über Diogenes in Korinth wurden in der Folgezeit tradiert, wovon Dion Chrysostomos einige zu erzählen weiß (or. 9; 10).

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und Aelius Aristides sowie den Neupythagoreer Apollonios von Tyana (Philostr.vit.ap. 7,10) und den Mediziner Galen.¹¹ Nicht nur vom Stadtbild her, auch innerlich war Korinth im ersten christlichen Jahrhundert römisch geprägt und zeitigte eine entsprechende Mentalität. Zwar übernahm die neue römische Bürgerschaft die ununterbrochene Tradition der im alten Korinth wurzelnden zweijährlichen isthmischen Spiele, jedoch geschah das Binden der berühmten und beliebten Spiele an die neue Kolonie vermutlich mit der Intention, eine pro-römische Stimmung in der achaischen Bevölkerung zu erzeugen.¹² Korinth war offiziell durchweg römisch, wie die vorherrschenden lateinischen Inschriften als auch die Münzfunde belegen.¹³ Erst gegen Ende des ersten Jahrhunderts wurde (infolge einer hellenischen Renaissance auch auf römischer Seite) das griechische Erbe Korinths stark gemacht.¹⁴ Auch wenn ab der Mitte des ersten Jahrhunderts dieser Trend seinen Anfang nahm,¹⁵ gab zu Paulus’ Zeiten die römische Kultur die ‚Leitkulturʻ für die Bevölkerung Korinths vor, und dies gilt wohl auch für die christusgläubige Gemeinde vor Ort.

2 Die Gemeinde Die Gemeinde der Christusgläubigen¹⁶ in Korinth war durch Paulus gegründet worden (1Kor 3,5 f; 4,15). Nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte verbrachte Paulus hier achtzehn Monate (Apg 18,11). Falls die Episoden der Apg stimmen,

 Vgl. Elliger, „Korinth“ 586.  Vgl. Winter, Paul 10.  Vgl. Winter, Paul 11– 15 und Stambaugh/Balch, Umfeld 153. Inoffiziell hielt sich dennoch das Griechische als Umgangs- und Handelssprache, worauf Schriftzeugnisse (auf Töpferwaren; fehlerhafte lateinische Inschriften) hindeuten, vgl. C. W. Concannon, „When you were Gentiles“. Specters of Ethnicity in Roman Corinth an Paul’s Corinthian Correspondence, New Haven/ London 2014, 64 f.  Vgl. Winter, Paul 15 – 22. Aus diesem klassizistischen Denken heraus ist das Enkomion des Aelius Aristides anlässlich der Isthmischen Spiele von 156 zu verstehen, in welchem er das neue Korinth in eine direkte Linie mit dem klassischen stellt, vgl. a.a.O. 17.  Vgl. Zeller, Brief 31.  Mit ‚Christusgläubigeʻ bezeichne ich die Menschen, die an Jesus von Nazareth als den von Gott aus dem Tod erweckten Heiland glauben. Zur Zeit des Paulus gab es noch kein Christentum; vielmehr war der Christusglaube eine innerjüdische Angelegenheit und stellte das Angebot an Heiden dar, in das Gottesvolk Israel aufgenommen zu werden. Daher schließt der Terminus ‚Christusgläubigeʻ Heiden und Juden gleichermaßen zusammen, ohne bereits eine Größe ‚Christentumʻ vorauszusetzen und ohne die Herkunft der Gläubigen in falscher Weise zu überbetonen: Die Termini Heidenchristen bzw. Judenchristen sind verfehlt; stattdessen sollte man von ehemals heidnischen Christusgläubigen bzw. von judaisierenden Christusgläubigen sprechen.

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konnte Paulus nach ersten Turbulenzen in der jüdischen Bevölkerung nicht mehr in der Synagoge öffentlich auftreten. Stattdessen war er gezwungen, im Hause des Gottesfürchtigen Titius Justus seine Verkündigung zu vorzunehmen (v.7). Die Unterweisung von Zuhörern in einem Privathaus entspricht dabei der Unterrichtsform von philosophischen Lehrern.¹⁷ Die Größe der Gemeinde schätzt Hans-Josef Klauck auf nicht „sehr viel mehr als ca. 200 Mitglieder“¹⁸. Paulus nimmt an, dass alle Gemeindeglieder zum Herrenmahl an einem Ort zusammenkommen können (1Kor 11,20; 14,23). Insofern kann die Gemeinde das Fassungsvermögen eines großen römischen Hauses nicht überschritten haben. Dieter Zeller geht daher von maximal etwa 100 Gläubigen aus.¹⁹ Aus der Korinther-Korrespondenz wie auch aus der Liste der Grüßenden, die am Ende des wahrscheinlich in Korinth verfassten²⁰ Römerbriefs (16,21– 23) steht, lassen sich Rückschlüsse auf die Zusammensetzung der Gemeinde ziehen. So belegen die Namen der Gemeindeglieder eine Mischung aus griechisch- und römisch-stämmigen Menschen:²¹ Crispus, Gaius, (1Kor 1,14), Fortunatus, Achaicus²² (1Kor 16,17), Lucius (Röm 16,21), Tertius (Röm 16,22) und Quartus (Röm 16,23) sind lateinische Namen; Sosthenes (1Kor 1,1), Chloe (1Kor 1,11), Stephanas (1Kor 1,16; 16,17), Phoebe (Röm 16,1), Iason, Sosipater (Röm 16,22) und Erastos²³ (Röm 16,23) stammen aus dem Griechischen bzw. sind orientalischer Herkunft. Die soziale Zusammensetzung bzw. die Schichtung der Gemeinde ist besonders in der Forschung seit den 1970er Jahren untersucht worden. Auf Grundlage der Aussage des Apostels in 1Kor 1,26, dass es in der Gemeinde „nicht viele Weise dem Fleische nach, nicht viele Mächtige, nicht viele Wohlgeborene“ gebe, ist v. a.

 Vgl. S. K. Stowers, „Social Status, Public Speaking and Private Teaching: The Circumstances of Paul’s Preaching Activity,“ in: NT 26 (1984), 59 – 82 (64– 73).  Klauck, Korintherbrief 10.  Vgl. Zeller, Brief 35.  Vgl. Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch 286. Zu Beginn der Grußliste in Röm 16 empfiehlt Paulus den Römern die Gemeindedienerin Phoebe aus Kenchreai, der einen Hafenstadt Korinths (v.1). Dies wird als Indiz dafür genommen, den gesamten Brief als in Korinth (bzw. in der direkten Nachbarschaft) verfasst anzusehen.  Vgl. Zeller, Brief 37– 39, der alle in 1Kor namentlich Genannten als mögliche Kandidaten für die Weisen, Mächtigen und Wohlgeborenen (1,26) sieht; ausführlich W. A. Meeks, The First Urban Christians. The Social World of the Apostle Paul, New Haven/ London 1983, 55 – 63.  Achaicus könnte auch aus dem Griechischen stammen, vgl. Zeller, Brief 37.  Der οἰκονόμος τῆς πόλεως Erastus mag identisch sein mit dem Ädilen gleichen Namens, der inschriftlich für Korinth belegt ist, vgl. Stambaugh/Balch, Umfeld 155 und ausführlich G. Theißen, „Soziale Schichtung in der korinthischen Gemeinde. Ein Beitrag zur Soziologie des hellenistischen Urchristentums,“ in: ZNW 65 (1974), 232– 272 (237– 246).

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von Gerd Theißen stark gemacht worden, in Korinth eine sozial differenzierte Gemeinde anzunehmen: Die namentlich bekannten Christusgläubigen gehörten hauptsächlich zu den Begüterten, die namentlich unbekannten zu den Ärmeren und Sklaven.²⁴ Höchstwahrscheinlich ist die korinthische Gemeinde ihrer sozialen Herkunft nach heterogen gewesen. Diese Erkenntnis sollte jedoch nicht dahingehend interpretiert werden, dass das innergemeindliche Gepräge in einem ausschließlichen Gegensatz von Reich und Arm bestand.Vielmehr ist gerade vor dem archäologischen Befund Korinths (sowie des vergleichbaren Pompejis) von der Existenz einer breiten Mittelschicht in der Stadt auszugehen, was sich sicherlich auch in der Zusammensetzung der christusgläubigen Gemeinde niedergeschlagen hat.²⁵ Was die religiöse Herkunft der korinthischen Christgläubigen betrifft, ist ebenfalls mit einer vermischten Herkunft zu rechnen. Paulus spricht in 1Kor 12,2 die Korinther als ehemalige Heiden an, die Idole verehrten. Auch aus der Problematik des Verzehrs von Opferfleisch für pagane Gottheiten (c.8 – 10) kann man den Schluss ziehen, hier v. a. ein Problem von ehemaligen Heiden angesprochen zu sehen. Gleichermaßen machen die Ausführungen über die Wüstenwanderung (1Kor 10,1– 10) und über die Decke auf Moses Gesicht (2Kor 3,7– 16) wie überhaupt die vielen Anspielungen und Zitate aus der Schrift in der gesamten Korrespondenz deutlich,²⁶ dass Paulus eine gewisse Kenntnis der biblischen Traditionen und jüdischen Lebensweise bei seinen Adressaten voraussetzen konnte.²⁷ Ebenso stellt dann auch die Kennzeichnung der aus Ägypten ausziehenden Israeliten als „unsere Väter“ (1Kor 10,1) die christusgläubigen Korinther in die Geschichte des

 Vgl. Theißen, Schichtung 233 – 235 und 256 f. G. Heinrici, „Die Christengemeinde Korinths und die religiösen Genossenschaften der Griechen,“ in: ZWTh 19 (1876), 465 – 526 (504) weist im Hinblick auf die in Röm 16 und 1Kor und 2Kor genannten Namen (geographisch: Achaicus und Persis; Ausdruck einer Tätigkeit oder Eigenschaft: Stephanas, Phlegos, Philologos, Tryphania und Tryphosa) auf deren Herkunft aus dem Sklaven- bzw. Freigelassenenmilieu hin.  Vgl. D. Jongkind, „Corinth in the First Century AD: The Search for Another Class,“ in: TynB 52 (2001), 139 – 148. Zudem gibt Concannon, Gentiles 56 – 63 zu bedenken, dass sich ein Großteil der korinthischen Elite nicht aus etablierten römischen Familien oder reichen und kultivierten Griechen zusammensetzte, sondern vorrangig aus Freigelassenen, Händlern und Klienten bestand. Man muss sich demnach auch die korinthische Gemeinde als eine sozial einander näher stehende und nicht völlig auseinanderfallende Gemeinschaft vorstellen.  Zu denken ist auch an die Erwähnung der jüdischen Feste des Passa und der ungesäuerten Brote (1Kor 5,7 f) und Pfingsten (16,8), die reinen Heiden nichts gesagt hätten.  Es ist unwahrscheinlich, dass Paulus völlig über die Köpfe seiner Adressaten hinwegreden wollte. Überhaupt ist davon auszugehen, dass schon zuvor eine Sympathie der korinthischen Christusgläubigen für den jüdischen Glauben vorhanden war. Zu einer gründlichen Analyse der ‚midraschartigenʻ Stücke in den Korintherbriefen vgl. M. Cover, Lifting the Veil. 2 Corinthians 3:7 – 18 in Light of Jewish Homiletic and Commentary Traditions (BZNW 210), Berlin 2015, 63 – 93.

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Gottesvolkes hinein.²⁸ Über einen (von Geburt an) jüdischen Teil der Gemeinde ist damit noch nichts gesagt – dazu müsste man das Zeugnis der Apostelgeschichte heranziehen –²⁹, jedoch ist es auch ohne dies nicht unwahrscheinlich, dass christusgläubige Juden zur Gemeinde gehörten:³⁰ Zum einen wird in 1Kor 1,12; 3,22 auf Kephas hingewiesen und dieser als bekannt vorausgesetzt, der laut Gal 2,7 f aber allein für die Mission der Juden zuständig war; zum anderen bezeichnet Paulus in Röm 16,21 Lucius, Iason und Sosipater als seine Verwandten (οἱ συγγενεῖς μου).³¹ Tatsächlich stellt sich also die korinthische Gemeinde durch ihren Glauben an Jesus Christus zwar als Einheit dar; durch die disparate Herkunft ihrer Glieder in ethnischer, religiöser und sozialer Hinsicht ergibt sich aber ein gewisses Konfliktpotential. 1Kor ist ein Zeugnis dafür, wie Paulus dieses Konfliktpotential und daraus resultierende innergemeindliche Konflikte wahrgenommen hat und zu entschärfen versuchte. Ist es trotz der Annahme einer in sich inhomogenen und auch streitbaren Gruppe angebracht, gerade im 1Kor von ‚denʻ Korinthern als einer einheitlichen Adressatengruppe zu sprechen? Deutlich ist die einheitliche und zusammenfassende Anrede ἀδελφοί in beiden Briefen.³² Zudem adressiert Paulus beide Korintherbriefe an „die Gemeinde Gottes in Korinth“ (1Kor 1,2; 2Kor 1,1) als eine einheitliche Adressatin. Er macht aber im ersten Brief auch deutlich, dass er diese Gemeinde in sich im Streit liegen sieht (1Kor 1,11). Michael Bünker hat in diesem Zusammenhang auf die Unterscheidung von explizitem und impliziten Leser hingewiesen:³³ Als expliziter Leser sei die Ge-

 Zugegebenermaßen bezieht Paulus in 1Kor 10,1 die Korinther nicht explizit in die 1.P.Pl. ein. Somit könnte er hier durchaus nur seine (jüdischen) Mitarbeiter und sich selbst meinen. Jedoch sind die Korinther spätestens ab 10,8 mitgemeint, so dass es nahe liegt, sie nicht nur in v.6, sondern bereits in v.1 in die 1.P.Pl. einzubeziehen.  Hier fallen dann sofort die namentlichen Übereinstimmungen bei Crispus und Sosthenes (Apg 18,8.17) auf, die auf einen gewissen Anteil christusgläubiger Juden an der Gemeinde hinweisen.  Vgl. G. Sellin, „Hauptprobleme des Ersten Korintherbriefes,“ in: ANRW II/25.4 (1987), 2940 – 3044 (2996).  Das setzt natürlich voraus, dass dieses Trio auch in Korinth ansässig war und nicht aus vielleicht gebürtigen Stadtrömern auf der Durchreise bestand, die Paulus nur deswegen erwähnt, weil sie der Gemeinde in Rom bekannt waren.  1Kor 1,10.11.26; 2,1; 3,1; 4,6; 7,24.29; 10,1; 11,33; 12,1; 14,6.20.26.39; 15,1.31.50.58; 16,15; 2Kor 1,8; 8,1; 13,11. Die fehlende Häufigkeit dieser Anrede in 2Kor ist wohl bereits Indiz für das schwierige Verhältnis zwischen Paulus und der Gemeinde.  Vgl. M. Bünker, Briefformular und rhetorische Disposition im 1. Korintherbrief (GTA 28), Göttingen 1984, 17. Bünker versucht diese im Anschluss an Theißen erhobene These durch eine rhetorische Analyse einzelner als Reden verstandener Briefteile zu untermauern. Diesen Bew-

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meinde als ganze angeschrieben, als impliziter Leser aber „gerade die Protagonisten der Parteiungen, die zudem […] zu den sozial relativ Hochgestellten innerhalb der Gemeinde zählen“³⁴. Nur sie könnten aufgrund der eigenen Bildung letzten Endes die an der antiken Rhetorik geschulten Ausführungen des Apostels würdigen und gedanklich nachvollziehen: Ihnen passe Paulus sich in Ausdrucksund Redeweise an.³⁵ Die Unterscheidung nach implizitem und explizitem Leser ist zwar in sich richtig, aber die Deutung Bünkers geht m. E. fehl. Auch die sozial Niedriggestellen in der Gemeinde können im 1Kor durchaus als implizite Leser verstanden werden, indem Paulus als Vorbild auf seine eigene Schwachheit abhebt und so die Schwachen der Gemeinde bestärkt, in ihrem Status auszuharren. Zudem müssten gerade die sozial Niedriggestellten von den rhetorischen Künsten des Apostels beeindruckt sein, vermögen sie doch (mangels eigener Bildung) deren Funktion nicht zu durchschauen. Das Problem bei der Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Leser innerhalb der Paulus-Briefe ist, dass bei einer so dünnen Faktenlage der oder die Unterscheidende an die Stelle des Apostels rückt und besser als dieser zu wissen meint, wer denn nun ‚eigentlichʻ angesprochen sei.³⁶ Gerade durch die häufige und vereinheitlichende Geschwister-Anrede der Korinther bindet Paulus die Gemeinde zusammen und betont ihre Einheit. Offenbar erscheint ihm dies wegen der Kunde über Streit in der Gemeinde notwendig. Implizit angesprochen sind also alle Streithähne in der Gemeinde. Diese aber gleichzusetzen mit den wenigen Weisen, Mächtigen und Wohlgeborenen (1,26) ist keine Zwangsläufigkeit. Vielmehr durchzieht der Streit wie auch die Gruppenbildung nach namhaften Vorbildern alle Schichten der Gemeinde. Mit den Streitereien unter den Korinthern ist bereits ein Anlass für das Verfassen des 1Kor genannt.

3 Weisheit in der Gemeinde Bereits in der Einleitung hatte ich darauf hingewiesen, dass ich die von Paulus benannte Weisheit nicht allein rhetorisch, sondern vor allem philosophisch ver-

eisgang halte ich für nicht schlüssig, da wir es bei der paulinischen Korrespondenz ja mit Briefen und nicht mit Reden zu tun haben (s.o. Kapitel 1, 1.6).  Ebd.  Vgl. Bünker, Briefformular 74.  Einen anregenden Ansatz verfolgt Concannon, Gentiles, der in Bezug auf die korinthische Gemeinde durchgehend von „some Corinthians“ spricht, um die Unterschiedlichkeit der Individuen innerhalb der Gemeinde zu verdeutlichen und zu unterstreichen.

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stehe. Es geht weniger um Form als vielmehr um Inhalt. Insofern besteht das Problem der Korinther nach Paulus’ Ansicht hauptsächlich darin, dass sie den Begriff der Weisheit inhaltlich falsch füllen. Es geht Paulus daher in seinem Schreiben darum, aufzuzeigen, dass Weisheit und die rechte Erkenntnis nicht in der Ermächtigung und den Freiheiten des Einzelnen (womöglich sogar auf Kosten der Gemeinschaft) bestehen, sondern vielmehr in einem geschwisterlichen Verhalten, das sich durch eine respektvolle und sich selbst zurücknehmende Haltung äußert. Offenbar gab es in der Gemeinde das Bestreben, als weise zu gelten. 1Kor 3,18 sowie 4,10 sind dahingehend deutlich. Doch überhaupt spielt Paulus im gesamten Brief auf die (angestrebte) Weisheit der Korinther sowie auf ihre noch vorhandene Torheit und Unwissenheit an, etwa in 6,5; 8,1 f.4; 10,1.15; 12,1; 14,38; 15,34.36. Hier ergibt sich dann auch eine Diskrepanz: Nach Ansicht des Apostels haben die Korinther die für sich reklamierte Weisheit nämlich noch gar nicht erreicht, prahlen aber bereits über ihren angeblichen Besitz und zeigen falschen Stolz.³⁷ Woher kam diese Faszination der Gemeinde in Bezug auf Weisheit? Paulus selbst schreibt in 1Kor 1,22, dass die Griechen (= die Völker) Weisheit suchen. Dies wird gerade auf die Gemeinde in Korinth zugetroffen haben, die sich wohl zu ihrem Großteil aus Griechen und Römern speiste. In diesem Zusammenhang wird aber oft zudem auf eine besondere Gestalt in Korinth aufmerksam gemacht, die die Korinther in Richtung Weisheit anstachelte: Apollos. Der wird von Paulus explizit als Idol eines Teils der Gemeinde benannt (1,12); zudem befassen sich c.1– 4 insgesamt mit dem rechten Verhalten der Gemeinde gegenüber ihren Missionaren. Schließlich berichtet Paulus in 16,12 von seinem gescheiterten Versuch, Apollos wieder nach Korinth zu komplimentieren. Nach dem Zeugnis von Apg 18,24– 19,1 war Apollos als gebürtiger Alexandriner von Ephesus nach Korinth gereist. Er wird dabei als ein „beredter Mann“

 In der deutschsprachigen Exegese wird der Wortstamm καυχ- zumeist mit dem Wortfeld „Ruhm/rühmen“ im Sinne der Selbst-Überhöhung wiedergegeben. Ich vermeide dieses Wortfeld aus mehreren Gründen. Zunächst ist dieses Wort, besonders das Verb (nach eigenen Beobachtungen) im umgangssprachlichen Schwinden begriffen; das mag bedauerlich sein, enthebt die Theologie aber nicht davon, sprachlich an die Gegenwart anschlussfähig zu bleiben.Weiterhin ist eine Wiedergabe durch „Selbstruhm/sich selbst rühmen“ sprachlich umständlich und unelegant. Drittens lässt es sich nicht mit einer einigermaßen einheitlichen Wiedergabe des Griechischen in Einklang bringen lässt, da „Ruhm“ (im Sinne von „der gute Ruf“) gewöhnlich eine Übersetzung von δόξα darstellt. Schließlich gibt es mit „Stolz/stolz sein“ einen guten Ersatz. Der Stamm καυχschillert selbst im Griechischen in seiner Bedeutung, vgl. F. Wilk, „Ruhm coram Deo bei Paulus?,“ in: ZNW 101 (2010), 55 – 77 (56 f). Gerade „Stolz/stolz sein“ stellt hier durch sein ebenfalls schillerndes Spektrum eine gute Übersetzung bereit, insofern Stolz sowohl positiv gewertet werden kann als auch durchaus falsch sein und in Prahlerei umschlagen kann.

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(ἀνὴρ λόγιος) beschrieben, der „mächtig in den Schriften“ (δυνατὸς ὢν ἐν ταῖς γραφαῖς) sei sowie „genau“ (ἀκριβῶς) über Jesus lehre und „Redefreiheit gebrauche“ (παρρησιάζεσθαι).³⁸ Diese Beschreibung steht nicht in Widerspruch zu den Notizen über Apollos in 1Kor; sie lässt sich sogar durchaus in Einklang mit ihnen bringen.³⁹ Paulus schildert Apollos generell als jemanden, der nicht in einem Gegensatz zum Apostel steht: 1Kor 3,6 macht deutlich, dass beide Missionare in Bezug auf die Korinther gewissermaßen an einem Strang ziehen. Allerdings sind nach Ansicht des Paulus die Korinther in ihrer überhöhten Verehrung der Missionare fehlgeleitet. Paulus gibt zwar keine Hinweise auf Apollos’ Methode; man kann aber in der Betonung auf seine eigene Methode einen Reflex auf Apollos’ Tätigkeit in Korinth bzw. in der Darstellung einiger Sachverhalte eine Korrektur der korinthischen Ansichten über den Alexandriner erkennen, die sich in der von Apg verwendeten Tradition niedergeschlagen haben. So beschreibt Paulus etwa seinen ersten Zugang zur Gemeinde als οὐ καθ’ ὑπεροχὴν λόγου (2,1: „nicht im Übermaß der Rede“) bzw. als οὐκ ἐν πειθοῖς σοφίας λόγοις (2,4: „nicht mit überzeugenden Worten der Weisheit“) und stellt diesen seine eigene Methode gegenüber (2,2– 4). Eine derartige sowohl negative wie positive Selbstbeschreibung ist ebenfalls im Sprachgebrauch der kynischen Popularphilosophen zu finden. Sie rührte dort wohl von einem interphilosophischen Wettbewerb her, in dem es darum ging, sich von anderen Mitbewerbern abzuheben.⁴⁰ Obwohl Paulus sein Verhältnis zu Apollos als ein brüderliches beschreibt (16,12), stehen beide als Weisheitslehrer in den Augen der Korinther in einem Wettbewerb zueinander. Paulus’ Selbstbeschreibung lässt sich demnach recht gut aus dem popularphilosophischen Sprachgebrauch erklären: Er kennzeichnet seine eigene Methode in Abgrenzung

 Zudem wird aber seine gewisse Beschränktheit im Hinblick auf die reine Lehre dargestellt, so dass er noch Nachhilfe durch Priskilla und Aquila erhält.  Es ist nach wie vor unsicher, ob ‚Lukasʻ Kenntnis über die bzw. einige Briefe des Apostels besaß, vgl. Jervell, Apostelgeschichte 81. Unabhängig davon ergänzt der Bericht des ‚Lukasʻ jedenfalls die Briefe des Apostels um weitere, in ihnen nicht enthaltene Informationen – für Korinth sind dies der Bericht über die Begegnung mit Aquila und Prisk(ill)a (Apg 18,2 zu 1Kor 16,19), Paulus’ Beruf (Apg 18,3 zu 1Kor 9), seine Erstpredigt (Apg 18,5 f.11 zu 1Kor (1,18 ff)2,1– 5), die Bekanntschaft der Korinther mit Timotheus (Apg 18,5 zu 1Kor 4,17; 16,10 f), Crispus’ Status (Apg 18,8 zu 1Kor 1,14), die Sosthenes-Episode (Apg 18,12– 17 zu 1Kor 1,1) und Apollos’ Aufenthalt in Korinth (Apg 18,24– 19,1 zu 1Kor 1,12; 3,4– 4,13; 16,12).  Vgl. A. J. Malherbe, „‚Gentle as a Nurse‘. The Cynic Background to I Thess ii,“ in: NT 12 (1970), 203 – 217 (214– 217). Dieses Sich-Abheben geschieht oft mittels οὔκ-ἀλλά („nicht-sondern“)-Satzkonstruktionen.

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zum – vermeintlichen – Mitbewerber Apollos. Der Alexandriner kann demzufolge auch nach Paulus’ Mitteilungen als ein überzeugender Redner gelten.⁴¹ Aus der Notiz über die Beredsamkeit des Apollos und seine Herkunft aus Alexandrien schließt Richard A. Horsley, dass hier der Ursprung für die korinthische Weisheitsliebe liegt:⁴² Alexandrien gilt generell (wegen Philo und SapSal) als Hochburg für die jüdisch-hellenistische Weisheitsspekulation; die Beredsamkeit deute zudem auf ein rhetorisches Element in der Weisheitslehre hin. In Auseinandersetzung mit der Conzelmannschen These über Paulus’ Weisheitsschule (s.o. Einleitung) zieht Horsley das Fazit: „If anyone had cultivated a wisdom-school, in Corinth at least, it was not Paul but Apollos.“⁴³ Doch bereits Johannes Munck hatte auf die „methodische Unsicherheit dieser Schlussfolgerung“ hingewiesen: „Man kann sehr wohl aus Alexandria stammen und Jude sein, ohne von der allegorischen Schriftauslegung und der hellenistisch-jüdischen Philosophie, die in dieser Stadt blühten, beeinflusst zu sein.“⁴⁴ Auf dieser Linie scheint Dieter Zeller zu liegen, wenn er sich auf die explizite Schilderung von Apollos’ Beredsamkeit in Apg und der impliziten Kritik an Rhetorik in 1Kor stützt, und somit zwar den Alexandriner als Quell der Streitereien in Korinth ausmacht, aber sonst keinen speziell hellenistisch-jüdischen Hintergrund, sondern allgemein griechi-

 Darüber hinaus – wenn man in δυνατός (Apg 18,24) ein korinthisches Schlagwort erkennen möchte – betont Paulus in 1Kor oft die Macht bzw. Mächtigkeit (δύναμις), jedoch nicht eines Menschen, sondern Gottes bzw. Christi (1,18.24; 2,4.5; 3,19.20), welche sich als wirksam erweist. Selbst die besonderen Fähigkeiten (δυνάμεις, wortwörtlich ‚Mächtigkeitenʻ) einiger Christusgläubiger (12,10.28.29) leiten sich letzten Endes von Gott ab. Somit würde Paulus also die ‚Schriftmächtigkeitʻ des Apollos zwar durchaus anerkennen, aber auch relativieren. Dabei steht Paulus’ eigene hohe Schriftkenntnis im Vergleich zu der des Apollos außer Frage (implizit: 2,16; 5,13; 14,25; 15,25.27; explizit: 1,19; 2,9; 3,19.20; 6,16; 9,9.10; 10,7; 14,21; 15,3.45.54 f). Dass sich schließlich nicht nur Apollos (Apg 18,25), sondern auch Paulus mit der Lehre Jesu ebenfalls genau auskennt, zeigt er in 1Kor 7,10 f.; 11,23 – 26. Unabhängig davon wird die Beschreibung Apollos’ als „brennend im Geist“ (ζέων τῷ πνεύματι: Apg 18,25; ebenfalls Röm 12,11) historisch höchstwahrscheinlich in einer Verbindung zur Thematik von 1Kor 12– 14 stehen, vgl. G. Lüdemann, Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelgeschichte. Ein Kommentar, Göttingen 1987, 216.  Vgl. R. A. Horsley, „Wisdom“ 231; ders., „‘How Can Some of You Say That There Is No Resurrection of the Dead?’ Spiritual Elitism in Corinth,“ in: NT 20 (1978), 203 – 231 (207.229); G. Sellin, Der Streit um die Auferstehung der Toten. Eine religionsgeschichtliche und exegetische Untersuchung von 1 Korinther 15 (FRLANT 138), Göttingen 1986, 206 – 209.290 – 294; G. E. Sterling, „‚Wisdom among the Perfect:‘ Creation Traditions in Alexandrian Judaism and Corinthian Christianity,“ in: NT 37 (1995), 355 – 384 (383).  Horsley, Wisdom 232.  J. Munck, Paulus und die Heilsgeschichte (AJut.T 6), Kopenhagen 1954, 136.

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Kapitel 4: Die Gemeinde in Korinth und das Phänomen der Weisheit

sche Vorstellungen über Weisheit annimmt: Apollos hätte einen Teil der Gemeinde schlichtweg rhetorisch beeindruckt und damit Paulus in den Schatten gestellt.⁴⁵ Die Notizen aus Apg heranzuziehen, ist und bleibt für die Interpretation der Paulinen methodisch wenn nicht ein Wagnis, so doch wenigstens problematisch, denn die Tendenz des Verfassers muss stets beachtet werden.⁴⁶ Dabei wird aber auch deutlich: Wenn die Erinnerungen aus Apg 18 historisch Akkurates berichten, kann gerade Paulus’ eigenes Auftreten in einem Privathaus (v.7!) zu dem Eindruck beigetragen haben, hier spreche ein gewöhnlicher hellenistischer Moralphilosoph⁴⁷ – wenngleich einer, der ein Jude ist, noch dazu aus dem Osten des Reiches mit Bezügen nach Jerusalem (Apg 18,22⁴⁸; 1Kor 16,3), und somit womöglich alien wisdom im Angebot hat. Ein wesentlicher Ursprung der Weisheitsliebe innerhalb der korinthischen Gemeinde wäre dann umso weniger bei Apollos zu vermuten als vielmehr bei Paulus selbst, wenngleich der Alexandriner die Korinther noch weiter in diese Richtung gelenkt hat.

4 Zusammenfassung Die korinthische Gemeinde ist in einer Stadt angesiedelt, die durch ihre verkehrstechnisch günstige Lage und schiere Größe als attraktiver Anlaufpunkt verschiedener geistiger Strömungen gelten kann. Zudem verfügt Korinth über seine Geschichte eine Affinität zum herausragenden kynischen Weisen Diogenes von Sinope. Die römische Prägung der Stadt im ersten Jahrhundert nimmt davon nichts weg. So wie die Stadt Korinth einen melting pot darstellt, gilt dies auch für die christusgläubige Gemeinde selbst. Die Gemeinde besteht aus Juden und ehemaligen Heiden, Menschen verschiedener Herkunft und unterschiedlichen sozialen Schichten. In dieser Zusammensetzung liegt einiges Konfliktpotential.

 Vgl. Zeller, Brief 96 – 103.  In diesem Fall: ‚Lukasʻ schildert Paulus in Apg 17 als großartigen Redner in Athen, der sich mit den dortigen Philosophen Diskussionen liefert. Warum tut ‚Lukasʻ das? Will er Paulus auf Augenhöhe mit den Athenern darstellen? Will er auf die Korinth-Episode in Apg 18 (und worauf darin) vorbereiten? Falls er die Briefe kennt – will er den Eindruck eines unrhetorischen Paulus (1Kor 1,17; 2,1– 5) verwischen?  Stowers, „Social Status“ 73: „The earliest Christian teachers […] usually followed the pattern of the Greek philosophical or rhetorical teacher.“  Absolutes ἀναβαίνειν wird auch in Lk 2,42; 18,40; Apg 3,1 als Ausdruck für eine Reise nach Jerusalem verwendet.

4 Zusammenfassung

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Die Korinther betrachteten vermutlich ihre Missionare als Weisheitslehrer griechischer Prägung.⁴⁹ Ganz gleich, ob Paulus selbst dafür den Anlass gegeben hatte oder dies erst durch Apollos geschah, bekannten sich die Korinther jeweils zu ihren Verkündigern als wie zu Weisheitslehrern, verglichen diese miteinander und kamen darüber in Streit untereinander.⁵⁰ Dies ist die Voraussetzung, der sich Paulus gegenübersieht, als er sowohl einen Fragebrief der Gemeinde erhält als auch von den Leuten der Chloe mündliche Nachrichten aus Korinth bekommt und daraufhin den Brief verfasst, den wir als 1Kor kennen.

 Vgl. Munck, Paulus 145 – 154.  Vgl. Horsley, „Wisdom“ 237.

Kapitel 5: Grundlegendes zum 1Kor 1 Situation und Anlass des 1Kor Nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte (18,11.18) hat Paulus mindestens 1 ½ Jahre lang in Korinth gewirkt und gelehrt.¹ Ganz gleich,wie hoch man den Wert der Apg als historisch zuverlässiger Quelle veranschlagt,² wird doch aus der bloßen Existenz der beiden erhaltenen Kor-Briefe wie auch aus deren Inhalt deutlich, dass der Apostel und die Gemeinde einen intensiven brieflichen Austausch unterhielten (1Kor 7,1; 2Kor 2,3 – 9; 7,8 – 12; 10,10), der bereits vor der Niederschrift von 1Kor bestand (1Kor 5,9). Die intensive briefliche wie mündliche Kommunikation lässt dann auch auf eine tatsächliche intensive Verbundenheit in realiter schließen, als Paulus in Korinth wirkte. Nach der Abreise des Paulus hielt wenigstens ein anderer Missionar Einzug in die korinthische Gemeinde,³ die sich nach Ansicht des Apostels unter jenem

 Nach dem Zeugnis von Apg 18 war die Gründungszeit der Gemeinde recht turbulent, insofern Paulus nach dem Misserfolg einer vollständigen Mission in der Synagoge ins direkt angrenzende Haus des Gottesfürchtigen Titius Justus gewechselt ist. Fortan feierten Alt- wie Neugläubige zwar Tür an Tür, aber nicht Seit’ an Seit’; dass es hier zu Enttäuschungen und sogar Verletzungen im zwischenmenschlichen Bereich gekommen ist, erscheint höchstwahrscheinlich. Die verbitterte Äußerung des (lukanischen) Paulus, fortan nur noch den Heiden zu predigen (18,6b), ist dabei lokal begrenzt zu verstehen, vgl. Jervell, Apostelgeschichte 459 f. Zu dieser Deutung passt denn auch, dass das missionarische Programm Paulus’ nach seiner ersten Zeit in Korinth weiterhin darin besteht, mitunter den Juden wie ein Jude zu sein (1Kor 9,20).  In den letzten Jahren gewinnt (bei aller Tendenziösität der Apg) die Ansicht der historischen Zuverlässigkeit immer mehr Zuspruch in der kritischen Forschung. Besonders deutlich wird dies z. B. an dem markanten Wechsel der Apg-Kommentatoren in der KEK-Reihe, nämlich von E. Haenchen zu J. Jervell. Auch wenn ich selber den historischen Quellenwert hoch veranschlage, soll dies für diese Arbeit keine Rolle spielen. Hierin geht es ja um die Selbstdarstellung des Paulus, die zunächst für sich erarbeitet wird. Wie sie sich zu den historisch zuverlässigen Bemerkungen der Apg, dann aber auch zur lukanischen Darstellung des Paulus verhält, steht auf einem ganz anderen Blatt.  Namentlich Apollos (1,12; 3,4– 6.22; 4,6; 16,12) aus Alexandria (Act 18,24) und möglicherweise auch Petrus selbst (Kephas: 1Kor 1,12; 3,22). C. K. Barrett, Der 1. Brief an die Korinther. Ein Kommentar, Darmstadt 1985, 62 f hält es für wahrscheinlich, dass Petrus den Korinthern persönlich bekannt gewesen sei, da Paulus eine Gruppe innerhalb der Gemeinde namentlich mit Petrus identifiziert und er auch an anderen Stellen explizit auf Petrus rekurriert (9,5; 15,5). M. Konradt, „Die korinthische Weisheit und das Wort vom Kreuz. Erwägungen zur korinthischen Problemkonstellation und paulinischen Intention in 1Kor 1– 4,“ in: ZNW 94 (2003), 181– 214 (184 Anm. 14) bezweifelt dies, weil in 1Kor 3,4– 9; 4,6 nur Apollos und Paulus als Beispiele erscheinen, Petrus somit nicht persönlich in Korinth gewesen ist. Als Angehörige der Kephas-Gruppe hält er lediglich DOI 10.1515/9783110498769-007

1 Situation und Anlass des 1Kor

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neuen, fremden Einfluss wohl immer mehr von ihrem ursprünglichen Gründer löste und emanzipierte.⁴ Gleichzeitig stellte sich auch in Teilen der Gemeinde ein Lebenswandel ein, der sich womöglich dem Lebensstil in der römisch geprägten Stadt Korinth anzupassen suchte⁵, der aber jedenfalls von Paulus als Fehlentwicklung interpretiert und abqualifiziert wird. Trotz dieser Absetzbewegung hielt die Gemeinde als solche weiterhin Kontakt zu Paulus und stellte ihm in einem (nicht erhaltenen) Brief (7,1) Fragen zur Lebensführung.⁶ Paulus reagiert mit dem 1Kor, der Antwort auf diese ethischen Fragen gibt, sie aber sogleich einbettet in die Fundamente des paulinischen Evangeliums. Zugleich nimmt er auch Stellung zu Ansichten, die in der Gemeinde geäußert wurden (15,12). Weiterhin gibt Paulus kritische Bemerkungen zur aktuellen Situation der

nach Korinth Zugezogene oder indirekt mit Petrus bekannte Christusgläubige für möglich, so bereits Bachmann, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (KNT 7), Leipzig 21910, 68.  Eindrücklich betont Paulus gegen Ende des ersten thematischen Blocks, der sich mit dem Zwist in der Gemeinde und ihrem Verhältnis zu allen Missionaren befasst, seine exklusive Rolle als Vater der Gemeinde (1Kor 4,14– 21). Insofern halte ich es für gerechtfertigt, in diesem Zusammenhang von Emanzipation (im ursprünglichen Sinn als Herausgehen aus der väterlichen Gewalt) zu sprechen. Schüssler-Fiorenza, Situation 396 f erkennt in 1Kor einen (deliberativen) Brief, in dem Paulus nicht seine Autorität als Apostel allgemein verteidigt, sondern in dem er als Gründer der Gemeinde seine Autorität über diese wiederherstellen möchte. Die Korinther hätten nämlich Fragebriefe auch an andere Missionare gerichtet (a.a.O. 398). Lediglich Paulus habe in den ethischen und theologischen Diskussionen der Korinther Spaltungen gesehen (1Kor 1,12: λέγω δὲ τοῦτο), die in Wirklichkeit gar nicht so dramatisch gewesen seien, wie er und viele Exegeten in seinem Anschluss gemeint haben.  Vgl. Winter, Paul 27. Was den von Paulus abgelehnten Lebenswandel betrifft, so sah die ältere Forschung bis in die 1970er Jahre hinein dessen Ursprung im Gnostizismus (z. B. W. Schmithals). Diese Sicht wurde abgelöst von der These, der pneumatische Enthusiasmus der Korinther wurzele in einer ‚over-realized eschatologyʻ (Thiselton). Dies wurde dann weiter modifiziert und hierbei Apollos als alexandrinischer Weisheitslehrer für die Entwicklung in der Gemeinde verantwortlich gemacht, vgl. Sellin, „Hauptprobleme“ 3021 f. Die Untersuchung, welches Bild Paulus von sich selbst im 1Kor zeichnet, mag Aufschluss darüber bringen, auf welche Problemstellung in der Gemeinde er eingeht.  Diese Fragen waren möglicherweise bedingt durch die nach Korinth gereisten fremden Missionare. Diese unterrichteten die Korinther vom Aposteldekret (Apg 15,20), was Paulus in seinen Gemeinden nie für nötig befunden hatte (vgl. Gal 2,6), vgl. E. Meyer, Ursprung und Anfänge des Christentums 3. Die Apostelgeschichte und die Anfänge des Christentums, Stuttgart/ Berlin 1923, 189 – 195. Paulus hatte seine Gemeinden darüber nicht unterrichtet, weil die durch seine Glaubenslogik implizierten Verhaltensweisen auf das gleiche Ergebnis hinausliefen. Der Argumentationsgang 1Kor 8 – 10 beweist das ja eindrücklich: Auf den Genuss von Idolenfleisch kann man verzichten aufgrund einer Anordnung, die auf einem kultischen Reinheitsdenken basiert (wie die Leute um Jakobus argumentiert haben), oder wegen der durch den Geist Gottes bewirkten und durch den Christus Jesus selbst motivierten Rücksichtnahme auf die schwachen Geschwister im Glauben (wie Paulus argumentiert).

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Kapitel 5: Grundlegendes zum 1Kor

Gemeinde ab, über die er von anderer Stelle erfahren hat.⁷ Ihm liegt von vorneherein daran, eine mögliche Spaltung der Gemeinde aufgrund der unterschiedlichen ethischen, aber auch theologischen Ansichten zu verhindern (1,10), wobei er die Korinther durchgehend aufeinander verweist (vgl. hierzu besonders das Bild der in einem Körper verbundenen Glieder in 12,12– 27) und aneinander, dann aber auch in ihrer Gesamtheit an sich selbst bindet. Dass die Gemeinde nun unter dem Einfluss anderer Missionare (wie Apollos oder auch Petrus) steht, ist Paulus sichtlich ein Ärgernis.⁸ Daher betont er durchgehend seinen Status als geistiger „Vater“ der Korinther, dem im Hinblick auf die Gemeinde gegenüber den anderen Missionaren als bloßen ‚Knabenführernʻ (παιδαγωγοί)⁹ das Vorrecht zukomme, die Gemeinde zurechtzuweisen (1Kor 4,14 f). In diesem Zusammenhang schreibt er: „Werdet meine Nachahmer“ (4,16) – eine Aussage, die Paulus offenkundig so wichtig erscheint, dass er sie in 11,1  Zum einen sind dies die Leute der Chloe (1,11), zum anderen Stephanas, Fortunatus und Achaicus (16,17); letztere sind dann womöglich erst zum Schluss des Briefverfassens eingetroffen, vgl. Conzelmann, Brief 369, die Chloe-Leute, deren Grüße fehlen, hingegen waren da bereits wieder abgereist,vgl.Theißen, „Schichtung“ 255.Wahrscheinlich handelt es sich bei den Leuten der Chloe um deren Haushaltsangehörige, also entweder Sklaven oder Abhängige, vgl. Theißen, a.a.O. 255 f. Schüssler-Fiorenza, „Situation“ 394 f argumentiert, dass ὑπὸ τῶν Χλόης keine ‚Sklavenʻ der Chloe sondern deren ‚Anhängerʻ („followers“) meint, sie also die offiziellen Berichterstatter bzw. Briefüberbringer aus Korinth sind.  J. F. M. Smit, „‚What is Apollos? What is Paul?‘. In Search for the Coherence of First Corinthians 1:10 – 4:21,“ in: NT 44 (2002), 231– 251 (243 f) fragt sich, ob nicht das erste Schriftzitat in 1Kor 1,19 aus Jes 29,14 eine versteckte Kritik an dem Alexandriner bietet, da es direkt mit ἀπολῶ beginnt, das im Schriftbild aber auch dem Klang des Namens Apollos (zuletzt davor in 1,12 in der Form ᾿Aπολλῶ) sehr nahe kommt, aber wenig Schmeichelhaftes bringt. Die These könnte man noch dahingehend ausbauen, dass Paulus genauso gut ein anderes Zitat über Gottes Zunichtemachen menschlicher Weisheit hätte nehmen können, z. B. Jes 19,12 oder Hi 5,13. Gerade dieses Hiob-Zitat bringt er dann ja in 3,19. Dass Paulus im weiteren Verlauf die Kritik an Apollos zurückfährt, könnte dann mit seiner Gesamtargumentation zu tun haben, derzufolge die Korinther unmündige Kinder sind.Von daher muss Paulus gar nicht mehr gegen andere Apostel schießen, wenn er die Korinther selbst wegen ihrer (nicht vorhandenen) Urteilsfähigkeit angehen kann. – So interessant dieser Gedanke ist, scheitert er doch wohl daran, dass mit ἀπολλυμένοις in 1,18 und der einleitenden Zitationsformel γέγραπται γάρ in 1,19 zwei Lese- und Verstehenshilfen gegeben sind, das ἀπολῶ nicht mit dem Alexandriner in Verbindung zu bringen.  N. H.Young, „The Figure of the Paidagōgos in Art and Literature,“ in: BA 53 (1990), 80 – 86: „The pedagogue was a slave guardian appointed by a father to supervise his son’s activities and behavior from the time the child woke up in the morning until he went to bed at night“ (80). Bei aller Autorität, die auch einem Paidagogos bei der Wahrung seiner Aufgabe gegenüber seinem Schutzbefohlenen zukommt, bleibt doch die Autorität des Vaters als Auftraggeber des Knabenführers unbestritten. Vgl. zudem Young, „Paidagogos: The Social Setting of a Pauline Metaphor,“ in: NT 29 (1987), 150 – 176 (170) zum Motiv der Betonung des Vaters gegenüber dem Paidagogos in der paganen Literatur.

2 Das Genre des 1Kor

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wiederholt. Als seine Kinder sollen die Korinther weiterhin auf seinen Wegen (4,17!) gehen. Ausgehend von der These, dass die Gemeinde in Korinth ihre Missionare als Weisheitslehrer griechischer Prägung ansah und, diese zu Vorbildern nehmend, über das rechte Verhalten als Weise stritt, besteht Paulus’ Anliegen darin, zum einen den Korinthern die rechte Sicht auf die göttliche Weisheit als Quelle weisen Verhaltens und Handelns nahezubringen, zum anderen aber seine Weisheitslehre überhaupt als einzig verbindliche darzustellen. Indem sich Weisheit lebensweltlich und konkret stets nur in der Gestalt des Weisen manifestiert, macht Paulus an sich selber deutlich, wie sich ein Leben in Weisheit – und das heißt speziell: in staurologisch-christusförmiger Weisheit – gestaltet, und argumentiert entsprechend gegenüber den Korinthern gegen deren eigene angeblich weise Überlegenheit und daraus resultierende Arroganz und für die Einheit und Einigkeit der Gemeinde.

2 Das Genre des 1Kor In Kapitel 1 hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass die Einordnung von Briefen nach nur einem rhetorischen genus im Sinne einer Rede abzulehnen ist. Gleichwohl lassen sich aber durchaus Aussagen über den Charakter des 1Kor sowohl in epistolarer als auch in rhetorischer Hinsicht treffen. Was die Klassifizierung nach den Brieftypen des Ps.-Libanius betrifft, so sind nach Hans-Josef Klauck für 1Kor „insgesamt der paränetisch-mahnende, daneben auch mit Abstrichen der Freundschaftsbrief in Anschlag zu bringen, was nicht ausschließt, daß einzelne Passagen Merkmale weiterer Brieftypen aufweisen.“¹⁰ Der Freundschaftsbrief kann zwar durchaus von einem Vorgesetzten an seine Untergebenen gerichtet sein¹¹ – das Autoritätsgefälle zwischen Paulus als (Gründer‐)Apostel und der korinthischen (Gründungs‐)Gemeinde findet in jenem

 Klauck, Briefliteratur 232. Auch W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 1.Kor 1,1 – 6,11 (EKK 7/1), Zürich/ Braunschweig/ Benziger/ Neukirchen-Vluyn 1991, 86 f spricht sich dafür auf, 1Kor als briefliche „Mischform“ anzusehen; er nennt dazu nach Ps-Demetrius die Kategorien des Zurechtweisungs-, Kritik-, Tadel-, Beratungs-, Antwort- und apologetischen Briefes.  Ps.-Demetrios zum Freundschaftsbrief (= Brieftyp Nr. 1): πολλάκις γὰρ ἐν ὑπάρχοις κείμενοι πρὸς ὑποδεεστέρους ὑπὸ τινων άξιοῦνται φιλικὰ γράψαι („Denn oft werden die zu Unterbefehlshabern Bestimmten von einigen gebeten [oder: gefordert = es wird von ihnen erwartet], den Untergebenen freundschaftlich zu schreiben“). Ps.-Demetrios spricht bezüglich dieses Brieftyps davon, dass er nur scheinbar von einem Freund geschrieben wird (ὁ δοκῶν ὑπὸ φίλου γράφεσθαι).

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Kapitel 5: Grundlegendes zum 1Kor

Verhältnis eine Analogie¹² –, zeichnet sich aber vor allem durch einen simplen freundschaftlichen Ton aus.¹³ Somit muss Klauck bei seiner Klassifizierung unter die ‚Abstricheʻ offensichtlich die handfeste Drohung 4,21 oder die ausdrücklichen Tadel 11,17.22 subsumieren.¹⁴ Vielmehr steht das Zu- und Abraten im Vordergrund von 1Kor, verbunden mit einem mahnenden Gestus. Wolfgang Schrage kommt daher zu dem Ergebnis: „[D]er 1. Korintherbrief ist paränetisch und symbuleutisch zugleich.“¹⁵ Damit stellt der 1Kor eine Mischform dar.¹⁶ Auch wenn sich weithin Passagen finden, die primär dem rhetorischen genus deliberativum zuordnen sind,¹⁷ lassen sich doch in dem Brief auch epideiktische (meist tadelnde) Züge finden, wenn Paulus das Verhalten der Korinther beurteilt (5,3; 11,17) oder sich selbst lobend hervorhebt (15,10). Außerdem gibt es in 1Kor auch die dikanische Sprechweise, wenn er sich gegenüber Vorwürfen verteidigt (9,3 – 6). Somit sind alle drei rhetorischen genera in 1Kor vertreten.

3 Die Gliederung des Briefes 1Kor betrachte ich als literarische Einheit.¹⁸ Der Brief ist im Ganzen blockweise thematisch untergliedert,¹⁹ was möglicherweise durch die Vorlage des korinthi-

 Vgl. Zeller, Brief 49. Gleichwohl ist dies nicht die einzige Dimension des Verhältnisses von Paulus zu den Korinthern, wie die Geschwister-Anrede offenbart, vgl. Zeller ebd. P. Arzt-Grabner/ R. E. Kritzer/ A. Papathomas/ F. Winter, 1. Korinther (PKNT 2), Göttingen 2006, 31 f warnt davor, Herrschaftsbriefe (unter Vernachlässigung der Privatbriefe) als einziges Vergleichsmaterial zu den Apostelbriefen heranzuziehen.  Ps.-Libanios zum freundschaftlichen Stil (= Brieftyp Nr. 11): φιλικὴ δι’ ἧς φιλίαν ψιλὴν ἐμφαίνομεν μόνον („[Der] freundschaftliche [Briefstil ist der], durch welchen wir lediglich schlichte Freundschaft zeigen“).  Vgl auch die Kritik gegen eine Zuordnung von 1Kor zum Freundschaftsbrief bei Schrage, Brief I 89 f.  Schrage, Brief I 87 f unter Verwendung der Kategorien des Ps.-Libanius.  Vgl. Zeller, Brief 50.  Vgl. Schüssler-Fiorenza, „Situation“. Ebenso urteilt Mitchell, Paul 1, die die „epideictic elements“ in 1,18 – 4,21 als nicht ungewöhnliches Phänomen in deliberativer Rhetorik versteht, vgl. a.a.O. 213 – 225.  Zeller, Brief 58 sieht hingegen 1Kor 11,2– 34; 15 als Relikte des Vorbriefes (‚0Kor‘) an, konzediert aber, dass das nicht zwingend ist. Für J.Weiß, Der erste Korintherbrief. Völlig neu bearbeitet (KEK 5), Göttingen 91910, 321 war c.13 ein Fremdkörper. Auch dies erscheint nicht zwingend. Die literarkritischen Operationen bei W. Schmithals, Die Korintherbriefe als Briefsammlung, in: ZNW 64 (1973), 263 – 288 sind zwar interessant zu lesen, können aber letztlich nicht überzeugen. Ein wenig erinnern sie einen an Verschwörungstheorien, bei denen letztlich nur derjenige, der sie vorbringt,

3 Die Gliederung des Briefes

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schen Fragenkatalogs bedingt ist:²⁰ Nach dem Präskript 1,1– 3 und einem als Danksagung formuliertem Proömium (1,4– 9)²¹, geht Paulus in 1,10 – 4,21 auf das erste Thema ein und nimmt Stellung zu einer befürchteten Gemeindespaltung. 1Kor 5 – 6 hat den Umgang mit Gemeindegliedern, die gegen sexuelle oder soziale Normen verstoßen, zum Thema, c.7 die Frage nach Selbstbeherrschung und Wohlverhalten im Geschlechtsleben, 8,1– 11,1 die Frage nach dem Essen von Opferfleisch. 1Kor 11,2– 34 beschäftigt sich mit der Gottesdienstpraxis, c.12– 14 mit den göttlichen Gnadengaben, insbesondere der Zungenrede, c.15 mit dem rechten Glauben der Auferstehung, 16,1– 11 schließlich mit der Geldsammlung für Jerusalem samt einer Besuchsankündigung des Apostels (v.5 – 11) und 16,12 kurz mit Apollos. 16,13 – 24 bilden den Briefschluss. Zu jedem Thema nimmt Paulus Stellung, und zu jedem Thema bringt er sich auch mit seiner eigenen Person ein, oft auch als ein Beispiel.

den Stein der Weisen vermeintlich entdeckt hat. Sie klären aber zumeist nicht die Frage: Warum sollte sich jemand bei dieser Verschwörung so viel Mühe machen, um Hinweise auf sie zu verwischen, und warum kann man ihr dennoch auf die Spur kommen? Eine umfassende Argumentation pro literarischer Einheit von 1Kor liefert M. R. Malcolm, Paul and the Rhetoric of Reversal in I Corinthians. The Impact of Paul’s Gospel on His Macro-Rhetoric (SNTSt.MS 155), Cambridge 2013, 58 – 112; dabei macht er deutlich, dass sich die scheinbaren literarischen Unstimmigkeiten des Briefes tatsächlich durch literarische Kohärenz (weg‐)erklären lassen, die zumeist auf einem mikrorhetorischen ABA’-Aufbauschema der einzelnen Abschnitte in 1Kor 5 – 14 beruht.  Vgl. H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 1 – 4 (ÖTK 7/1), Gütersloh/ Würzburg 1992, 48 – 51; Schrage, Brief I 90; Zeller, Brief 48.  Indiz dafür ist die Formel περὶ δέ, die ein neues Thema einleitet und in 7,1;8,1;12,1;16,1.12 derart gebraucht wird. M. M. Mitchell, „Concerning ΠΕΡΙ ΔΕ in 1Corinthians,“ in: NT 31 (1989), 229 – 256 (233 f) weist darauf hin, dass die Formel nicht notwendigerweise auf ein (durch einen Brief) vorgegebenes Thema verweisen muss, sondern generell ein neues Thema einleiten kann. Durch die Einleitung in 7,1 wird aber deutlich, dass die Korinther sich schriftlich an Paulus gewendet haben und ihm dadurch schon Themen vorgegeben waren. Wie weit Paulus sich aber an die Vorlage gehalten hat, muss offen bleiben. Im ersten Briefteil beantwortet er zwar ihm mündliche zugetragene Nachrichten (1,11; 5,1) und geht in 7,1 auf den Brief der Korinther ein, allerdings greift er in 11,18 erneut ein mündlich vorgetragenes Problem auf, so dass man kein Makro-Antwortschema ‚erst Mündliches (c.1– 6), dann Schriftliches (c.7– 16)ʻ im 1Kor nachweisen kann. Zudem werden auch Stephanas und seine Leute (16,17) möglicherweise Paulus ebenfalls weitere Dinge mitgeteilt haben, auf die er sich im 1Kor bezieht. In jedem Fall sind die von Paulus mit περὶ δέ angesprochenen Themen sowohl ihm als auch den Korinthern „from some element of their shared experience“ (Mitchell, Paul 256; kursiviert im Original) bekannt.  Die Auflistung der Hauptworte in 1,5 – 9 (λόγος, γνῶσις, μαρτύριον, χάρισμα, ἀποκάλυψις/ ἡμέρα Ἰ.οῦ Χ.οῦ, κοινωνία) entpuppt sich als Aufzählung der im folgenden behandelten Briefthemen. Dies ist ein wichtiges Indiz für literarische Einheit des 1Kor. Fascher, Brief 85 nennt zu Recht das Proömium „eine Art Ouvertüre […], in der die folgenden Themata schon anklingen.“

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Kapitel 5: Grundlegendes zum 1Kor

4 Die durchgehenden Selbstverweise des Paulus im 1Kor mittels κἀγώ Auffällig ist die gehäufte Verwendung der Krasis κἀγώ über den gesamten Brief hinweg.²². Κἀγώ und seine Derivate tauchen im 1Kor 10mal auf (2,1.3; 3,1; 7,8.40; 10,33; 11,1; 15,8; 16,4.10). Paulus weist damit im Hinblick auf die Korinther massiv auf sich selbst. Die Krasis κἀγώ (neben dem einfachen ἐγώ) kann je für sich einen eindeutigen Hinweis auf eine Selbstdarstellung in autobiographischer Absicht bieten. Daher soll hier nun eine eingehende Betrachtung des Wortes erfolgen. Tatsächlich muss der Gebrauch von κἀγώ auffallen, da im Griechischen die Verwendung eines Personalpronomens innerhalb eines Verbalsatzes grammatikalisch nicht erforderlich ist. Wenn Paulus also auf sich selbst mit κἀγώ oder einem ἐγώ verweist, stellt dies eine besondere Betonung dar: Seine Leserinnen und Leser sollen mit diesem Textsignal wissen, dass Paulus sich selbst speziell hervorhebt, was auch immer dann der Zweck dieser Hervorhebung sein mag. Weiterhin ist an der Verwendung von κἀγώ in 2,1.3; 3,1 auffällig, dass hier das Wort direkt am Satzanfang steht. Die Wortstellung im Griechischen trägt zur Betonung und damit zum Verständnis eines Satzes wesentlich bei. Wenn nun an den drei Stellen κἀγώ je zu Beginn des Satzes steht, ist dies ein weiterer Hinweis auf die Hervorgehobenheit des Paulus an diesen Stellen. Aufgrund der Verwendung überhaupt wie auch des Satzbaus ist deutlich, dass κἀγώ eine besondere Bedeutung im Rahmen der Redeweise Paulus’ haben muss. Doch wie diese Bedeutung zu erfassen ist, hängt zu einem großen Teil von der Übersetzung ab. Die Kommentare wie auch die Bibelübersetzungen sind sehr uneinheitlich, was die Übersetzung von κἀγώ anbelangt: Mal wird die Krasis mit „und ich“, dann wiederum (mitunter im selben Kommentar) mit „auch ich“ übersetzt.²³ Nun be-

 Der etwa gleich lange Röm bietet nur vier Fundstellen: 3,7; 11,1 (gesperrt).3, von denen aber 11,3 als Schriftzitat ausscheidet. Zudem kann 3,7 als ein typisches Ich innerhalb einer ‚Diatribeʻ aufgefasst werden. Natürlich ist Röm als Darstellung der paulinischen Heilsbotschaft gegenüber einer ihm fremden Gemeinde abstrakter gehalten, dennoch hätte Paulus durchaus noch mehr auf sich selbst als den Repräsentanten dieser Heilsbotschaft mit Beispielen verweisen können.  Für die Übersetzung von κἀγώ in 1Kor 2,1.3; 3,1 mit „und ich“ vgl. C. F. G. Heinrici, Kritisch exegetisches Handbuch über den ersten Brief an die Korinther (KEK 5), 71888, 57. 59. 84; Weiß, Korintherbrief 44. 47; Bachmann, Brief 108. 113. 141; Barrett, Brief 83. 101; Fascher, Brief 113. 130; Conzelmann, Brief 74. 95; Lang, Briefe 35. 48; Arzt-Grabner, Korinther 56; Zeller, Brief 122 f. 150. Ebenso übersetzt die Revidierte Elberfelder Bibel (41992), wohingegen die Lutherbibel (1984 sowie 2017) 2,1 mit „auch ich“ wiedergibt, 2,3; 3,1 allerdings mit „und ich“, ebenso A. Lindemann, Der erste Korintherbrief (HNT 9,1),Tübingen 2000, 53. Merklein, Brief I 204. 245 übersetzt 2,1.3 mit „auch ich“, 3,1 hingegen mit „und ich“, ebenso Wolff, Brief 47. 62. Schrage, Brief I 222. 278 bietet (wie H.

4 Die durchgehenden Selbstverweise des Paulus im 1Kor mittels κἀγώ

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steht allerdings kein unerheblicher Bedeutungsunterschied zwischen den beiden Varianten „und ich“ und „auch ich“: Die erste Variante würde einen einfachen Anschluss an das zuvor Geschriebene bedeuten,²⁴ die zweite eine Selbstexplikation des Paulus. Im Folgenden soll daher überlegt werden, wie diese Krasis zu übersetzen ist. Daniel Hoopert verifiziert in einer kurzen Studie die These, dass „the conjunction καί ‚and‘ plus a personal pronoun is sometimes used in the Greek New Testament to introduce a paragraph or section that is an exemplification or application of a doctrine or matter which has just been discussed.“²⁵ Die Passagen, die Hoopert bespricht sind 1Kor 2,1– 5; 3,1– 3; Eph 2,1– 7; Hebr 12,1– 13,17. Bei den beiden nicht-protopaulinischen Stellen (Eph 2,1; Hebr 12,1) ist Hooperts Vorschlag auch unmittelbar einleuchtend.²⁶ Der Kontext, in dem die καί-PersonalpronomenVerbindungen jeweils stehen, legt dies einfach nahe. Und auch der Kontext in 1Kor 1– 4 suggeriert, hier nicht parataktisch zu übersetzen, sondern als hervorgehobenen Selbsthinweis, denn 1,18 – 31 bzw. 2,6 – 16 stellen in der Tat Lehraussagen dar,²⁷ die durch das Beispiel des Paulus in 2,1– 5 bzw. 3,1– 3 eindrücklich verdeutlicht werden. Der Bestandteil καί in der Krasis dient hier mehr der Verstärkung und Explikation des Folgenden als der bloßen Anknüpfung an das Vorherige. Die Übersetzung von κἀγώ mit „auch ich“ in 1Kor 2,1.3; 3,1 erscheint gerade wegen der hervorgehobenen Wortstellung des κἀγώ am Satzbeginn²⁸ und überhaupt wegen

Lietzmann, An die Korinther I/II (HNT 9), Tübingen 51969, 10. 14) für 2,1 „und auch ich“, für 2,3; 3,1 dann nur noch „und ich“. H.-C. Kammler, Kreuz und Weisheit. Eine exegetische Untersuchung zu 1Kor 1,10 – 3,4 (WUNT 159), Tübingen 2003, 161, Anm. 79 behauptet, die Übersetzung „auch ich“ sei (generell?) „unsachgemäß“, kann als einziges Argument aber nur anführen, dass in 3,1 nur mit „und ich“ übersetzt werden könne, was dann ebenfalls für die Parallelstelle 2,1(3) gelten müsse. Ähnlich thetisch und unbegründet spricht sich Zeller, Brief 123 Anm. 226 für 2,3; 3,1 aus.  Das erinnert an den häufigen Gebrauch des waw copulativum in der Hebräischen Bibel, vgl. dazu z. B. E. Jenni, Lehrbuch der hebräischen Sprache des Alten Testaments. Neubearbeitung der „Hebräischen Schulbuchs“ von Hollenberg-Budde, Basel/ Frankfurt a. M. 21981, 53 f.  D. A. Hoopert, „The Greek Conjunction καί Used with a Personal Pronoun,“ in: OPTAT 3 (1989), 83 – 89 (83). Hoopert übersetzt allerdings καί weiterhin mit „and“ bzw. mit einem präzisierenden „as for“, wobei es doch im Englischen auch die einfache und bessere Möglichkeit gibt, wie LiddellScott sie mit „I also“ – auf Deutsch: „auch ich“ – bietet, vgl. H. G. Liddell/ R. Scott/ H. S. Jones/ R. McKenzie, A Greek-English Lexicon, Oxford 1996, 857 s.v. (unter B.2).  An beiden Stellen übersetzt z. B. die Elberfelder Bibel das καί mit „auch“.  1,18 – 25 und 2,6 – 16 sind (trotz des Wir in v.18.23) abstrakte Lehrsätze,wohingegen 1,26 – 31 auf die Korinther bezogen (v.26.30) ist.  Vgl. G. Steyer, Satzlehre des neutestamentlichen Griechisch (Handbuch für das Studium des neutestamentlichen Griechisch II), Berlin 1968, 124. Zeller, Brief 277 Anm. 281 möchte gerade κἀγώ am Satzanfang mit einem beiordnenden „und ich“ übersetzen, was durch die hervorgehobene Wortstellung aber nahezu ausgeschlossen ist. Zeller sieht tatsächlich richtig, dass eine Überset-

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Kapitel 5: Grundlegendes zum 1Kor

der Verwendung des im Griechischen grammatikalisch nicht erforderlichen Personalpronomens als sprachlich zwingend.²⁹ Man kann die Übersetzung von κἀγώ am Satzbeginn jedoch noch präzisieren und hierfür im Deutschen ein „(dem)entsprechend ich“ einsetzen. An sich wird im Griechischen durch ein καί am Satzbeginn das Vorangehende im Sinne eines „und so“ erläutert.³⁰ Nun finden sich für κἀγώ am Satzbeginn in der Literatur zahlreiche Belege,³¹ wo auf einen im Kontext kurz zuvor genannten Sachverhalt als ‚Anlassgeberʻ nun zumeist mit einem stammgleichen Verb in der 1.P.Sg. eingegangen wird. Hier seien etwa genannt: Aristoph.Lys. 515 (σιγεῖν/ „schweigen“, mit Begründung in 516); Lukian.symp. 4 (θρύψεσθαι/„sich zieren“), 42 ([ἀν‐] αἵρεσθαι/ „(auf‐)nehmen“); Plat.symp. 1 [172 A-173 A] (περιμένειν/„warten“; λέγειν/„sagen“ [bis]); Jak 2,18 (ἔχειν/„haben“; δεικνύναι/„zeigen“). Der ‚Anlassgeberʻ muss dabei aber nicht als Verb wiederaufgenommen, sondern kann auch adjektivisch wiedergegeben werden, so etwa im Brief Frontos an die Kaisermutter (Epist. Graeca 1): Fronto bittet in diesem Schreiben um Entschuldigung für sein langes Schweigen und führt zur Erklärung an, dass er an einer Rede über den Kaiser gearbeitet habe (1,1). Er erklärt dies mit dem Bild der Hyäne, die ihren Hals nur nach vorne strecken, aber nicht zur Seite hin beugen könne (κάμπτεσθαι […] μὴ δύνασθαι), und fährt mit einem neuen Satz fort: κἀγὼ […] ἀκαμπτής τίς εἰμι – „Dementsprechend bin ich unbeweglich.“ Darüber hinaus ist bei der Verwendung von κἀγώ am Satzbeginn die Wiederaufnahme eines ‚Anlassgebersʻ nicht zwingend notwendig, vgl. etwa Plat.symp. 2 [174B], wo Apollodoros berichtet, dass er, lediglich aufgefordert durch eine Frage des Sokrates, ihm entsprechend geantwortet habe. Bei alledem gibt es einen klaren Unterschied zu nicht-krasiertem καὶ ἐγώ am Satzanfang, das schlicht „und ich“ bedeutet, also parataktisch gebraucht wird, vgl. etwa Plat.symp. 24 [204C–D] (bis), 26 [207C].³² Für eine Übersetzung, die den

zung mit „auch ich“ angemessen ist, „wo Paulus ausdrücklich auf andere Personen Bezug nimmt“ (ebd.). Gerade dies tut der Apostel aber in 1Kor 2,1.3; 3,1, indem er sich selbst auf den der weltlichen Weisheit entgegenstehenden und ‚schwachenʻ Jesus Christus und die schwachen Korinther (Anspielung in 2,1.3 auf 1,19 f.25 bzw. 1,26 f) bzw. auf die Gruppe der rechten Weisheitslehrer (Aufnahme in 3,1 von 2,6.13: λαλῆσαι) bezieht.  Tatsächlich verfährt so als einziger der eingesehenen Kommentare durchgehend H. A. W. Meyer, Kritisch exegetisches Handbuch über den ersten Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 1839, 34. 36. 50. Der älteste Kommentar muss bei weitem nicht der ‚überholtesteʻ sein.  Vgl. H. Menge/ A. Thierfelder/ J. Wiesner, Repetitorium der griechischen Syntax, Darmstadt 10 1999, 253.  Dem Aufsatz Hooperts mangelt es leider an der Erwähnung von Analogien aus der griechischen Literatur.  Gerade an diesem Beispiel wird der Unterschied zwischen κἀγώ und καὶ ἐγώ am Satzbeginn besonders schön deutlich, da Sokrates in seiner Erzählung fortfährt, indem er berichtet, auf die

5 Zusammenfassung

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Gedanken einer Aufnahme des Vorhergehenden spiegelt, sollte man daher κἀγώ am Satzanfang nicht bloß mit „auch ich“, sondern mit „(dem)entsprechend ich“ wiedergeben. Doch κἀγώ muss bei Paulus nicht in betonter Anfangsposition stehen, sondern kann auch mitten im Satz von einem reinen Selbsthinweis zu einem weiterführenden Selbstbeispiel werden. Dazu muss es mit einem Verb im Tempus der Gegenwart oder Vergangenheit verbunden sein.³³ Das heißt, es wird ein Sachverhalt genannt, an den sich zur Erläuterung ein durch κἀγώ eingeleitetes Selbstbeispiel anschließt. Von den genannten Stellen im 1Kor scheidet als Einleitung für ein Beispiel allein 16,4 aus; hier geht es um die in die Zukunft gerichtete Frage (und damit irreale Möglichkeit), ob „auch ich (Paulus)“ mit anderen Gefährten nach Jerusalem reisen solle. Alle anderen Stellen sind entweder auf die Vergangenheit oder die Gegenwart gerichtet und weisen damit auf eine Ausrichtung des Textes, in welchem der Autor explizit über sich selbst berichtet, d. h., sie sind als autobiographisch zu verstehen. An allen Stellen im 1Kor ist also eine Wiedergabe von κἀγώ mit „auch ich“ unumgänglich.³⁴ Es finden sich somit allein mittels der Verwendung von κἀγώ Selbstverweise auf Paulus in fünf der insgesamt acht (neun mit 16,12) Themenblöcke des 1Kor. Diese werden noch durch etliche andere Selbsthinweise ergänzt, wie z. B. die Erinnerung an seine Tauftätigkeit in Korinth (1,14– 17), den Peristasenkatalog in 4,9 – 13 oder die Notiz über das vergleichsweise größte Vermögen im Zungenreden (14,19).

5 Zusammenfassung 1Kor ist insgesamt als Einheit zu betrachten. Diese Einheit lässt sich nach verschiedenen Themen relativ klar gliedern. In jedem Themenblock bringt Paulus sich in irgendeiner Weise selbst ins Spiel; sehr oft geschieht dies durch die Krasis κἀγώ, die am Satzanfang mit „entsprechend ich“, ansonsten mit „auch ich“ zu Frage der Diotima eben nicht die entsprechende Antwort gewusst zu haben (καὶ ἐγὼ αὖ ἔλεγον ὅτι οὐκ εἰδείην/„und ich sagte wieder, dass ich es nicht wüsste“). Dieser Unterschied besteht jedoch nicht (mehr) in dem semitisch geprägten Griechisch des Johannesevangeliums, das κἀγώ im Sinne von καὶ ἐγώ verwendet, vgl. Joh 1,30 f.32– 34. Allerdings ist hier die Beobachtung zur Sprache des Joh bei Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch 372 („Sehr oft begegnet parataktisches καί, wo eigentlich eine adversative Konjunktion wie δέ oder ἀλλά erwartet würde […].“) wohl auch auf dessen Gebrauch der Krasis κἀγώ in Anschlag zu bringen.  Dies gilt auch für die allein stehenden (und damit automatisch an den Satzbeginn gerückten) κἀγώ in 2Kor 11,22, insofern man dort aus dem Kontext jeweils ein εἰμι ergänzen muss.  Das setzt sich dann in 2Kor fort. Dort begegnet κἀγώ am Satzbeginn in 6,17 und 11,22.

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Kapitel 5: Grundlegendes zum 1Kor

übersetzen ist und damit in Verbindung mit einem Sprechen in der Vergangenheit oder in der Gegenwart auf ein Selbstbeispiel hinweist. Paulus’ Herausforderung im 1Kor besteht darin, angesichts der Streitereien und ethischen Fragen als allgemeine Autorität die Korinther zur Einheit der Gemeinde zu ermahnen, ohne sich selbst in diesem Geschehen dabei im Sinne seiner speziellen Anhängergruppe zu erhöhen und somit die anderen Gruppen vor den Kopf zu stoßen. Gleichzeitig muss Paulus das korinthische Verständnis von Weisheit inhaltlich im Sinne seiner vom Kreuz geprägten Christusbotschaft korrigieren, ohne die Gemeindeglieder auf diesem Wege zu verlieren. Im Durchgang durch den Brief versuche ich zu zeigen, dass Paulus aufgrund dieser Problemlage es nahezu durchweg unternimmt, bei den Vorstellungen der Korinther über Weisheit und die Gestalt des Weisen gleichsam anzudocken, um diese sogleich anhand seines eigenen Beispiels zu korrigieren.

Teil B Die Selbstdarstellung des Paulus im Ersten Korintherbrief

Kapitel 6: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 1 – 4 Der Durchgang durch den 1Kor wird bestimmt von den Leitfragen: „Welches Bild zeichnet Paulus von sich und seiner Lebensweise, seinem Bios?“ und „Was will er mit dieser Selbstdarstellung erreichen?“ Seine Selbstzeichnung geschieht natürlich im Hinblick auf die Korinther als Adressaten seines Briefes. Sie will er von seiner Sache, der Heilsbotschaft in Jesus Christus, überzeugen – und gleichermaßen von sich selbst als dem, der diese Botschaft an Leib und Leben repräsentiert. Sie sollen einen bestimmten Eindruck von ihm gewinnen.¹ Die Untersuchung wird dazu zum einen Aussagen von Paulus heranziehen, die auf seine Vergangenheit verweisen, denn diese Zeitebene behandelt sein gelebtes Leben; Aussagen über sich selbst in der Vergangenheit geschehen stets im Modus der Reflexion, sind also schon immer irgendwie gedeutet.² Gleichermaßen sind aber auch Selbstaussagen zu bedenken, die sich auf die Gegenwart beziehen, da dies die Zeitebene ist, in der und für die autobiographische Aussagen verwendet und gedeutet werden.

1 1Kor 1,1 – 3: Das Präskript Paulus schreibt 1Kor gemeinsam mit Sosthenes (1,1).³ Paulus nennt in sämtlichen seiner Briefe (außer Röm) einen oder mehrere Mitabsender. Vermutlich geschieht dies in Anlehnung bzw. Aufnahme der Tradition frühjüdischer gemeindeleitender

 In einem späteren Arbeitsgang ließe sich dann dieses korinthisch-paulinische Selbstbild mit den Selbstbildern aus anderen Briefen vergleichen. Über diesen Vergleich ließen sich (möglicherweise) Grundzüge der paulinischen Selbstdarstellung erkennen. Das kann in dieser Arbeit aber nicht erfolgen.  Allein die Auswahl des Berichteten stellt einen Akt der Reflexion dar.  Inwiefern bzw. ob überhaupt der Mitabsender Sosthenes auch Mitverfasser des Briefes ist, ist fraglich. Lietzmann, Korinther 4 und Conzelmann, Brief 37 Anm. 12 etwa sehen Paulus als alleinigen Briefautor an. Gewiss macht Paulus durch die häufige Redeweise in der 1.P.Sg. im weiteren Briefverlauf deutlich, dass er wenigstens an diesen Stellen als Einzelsprecher erkannt werden möchte. Gleichwohl müssen die Passagen in der 1.P.Pl. in 1Kor je darauf untersucht werden, ob Paulus dort einen die Korinther integrierenden Plural verwendet oder sich selbst mit einem oder mehreren anderen in einer Gruppe zusammengefasst sieht oder nicht doch auf ein Absenderkollektiv anspielt (s.o. Kapitel 2.5). DOI 10.1515/9783110498769-009

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Kapitel 6: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 1 – 4

Briefe.⁴ Auch in ihr erscheinen bei Gemeindeschreiben mehrere Absender, insofern diese „die jüdische Gemeinde repräsentieren bzw. als deren Leitung fungieren.“⁵ Inwieweit dies bei Sosthenes⁶ mit der Fall ist, kann aufgrund der schmalen Quellenlage nicht abschließend beantwortet werden.⁷ Es ist aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Sosthenes für die Korinther eine gewisse Bedeutung gehabt hat. Neben dem Nennen eines weiteren Absenders steht Paulus auch insofern in der frühjüdischen Brieftradition, als dass er wie die Verfasser der prophetischen Briefe seine Autorität von der Beauftragung durch Gott herleitet.⁸ Während Sosthenes als „der Bruder“ bezeichnet wird,⁹ gibt Paulus sich die längere Be-

 Zum Bestehen dieser Tradition vgl. I. Taatz, Frühjüdische Briefe. Die paulinischen Briefe im Rahmen der offiziellen religiösen Briefe des Frühjudentums (NTOA 16), Freiburg/Göttingen 1991, 107– 110.  Taatz, Briefe 113.  Dass dieser Sosthenes identisch mit dem gleichnamigen korinthischen Synagogenvorsteher (18,17) ist, der der Nachfolger des vom Christusglauben überzeugten Crispus (18,8) wurde, kann nicht nachgewiesen werden. Zwar hätte Lukas – da er, wie Apg 18 belegt, über genaue Namen und Nachrichten aus der ‚Gründerzeitʻ in Korinth verfügt – sich sicherlich nicht den Bericht über gleich zwei neu überzeugte Synagogenvorsteher nehmen lassen. Jedoch ist der Name Sosthenes literarisch wie inschriftlich relativ selten belegt, vgl. Chr. Karakolis, „‚Alle schlugen Sosthenes, Gallio aber kümmerte sich nicht darum‘ (Apg 18,17). Zur Bedeutung eines narrativen Details,“ in: ZNW 99 (2008), 233 – 246 (242 f), wie auch Lukas die Randfiguren in der Apg nur im Rahmen ihrer Begegnung kurz und spotlichtartig hervortreten lässt, um sich darauf sofort wieder den Hauptfiguren zu widmen, so dass man nicht per se eine Bekehrungsgeschichte des Sosthenes erwarten kann, vgl. Karakolis, a.a.O. 244. Weiterhin erwähnenswert in dieser Frage ist die These bei R. G. Fellows, „Renaming in Paul’s Churches. The Case of Crispus–Sosthenes Revisited,“ in:TynB 56 (2005), 111– 130: Er geht davon aus, dass Crispus und Sosthenes ein und dieselbe Person sind, trägt allerdings die Beweislast, warum sowohl Paulus als auch Lukas jeweils in kurzem Abstand beide Namen für denselben Menschen gebrauchen. Das ist wenigstens für Paulus ungewöhnlich – den Kephas nennt er nirgends Simon. Eine Lösung in der Frage der Identifizierung von Sosthenes wird in jede Richtung wohl im Reich der Spekulation bleiben (müssen).  Zeller, Brief 71 tritt für die Identität beider Sosthenes ein und vermutet dessen Flucht nach Ephesus, nachdem er den Christusglauben angenommen hatte. Dann hätte Sosthenes über die christusgläubigen Korinther aber nur mehr eine Autorität aus dem Exil heraus, was mir nicht sehr wahrscheinlich scheint, gerade wenn Paulus betont, welch große Rolle gerade körperliches Leiden innerhalb der christgläubigen Existenz einnimmt; das Exil als Peristase nennt Paulus hingegen nicht.  Vgl. Taatz, Briefe 113 f.  ᾿Aδελφός mag wohl eine paulinische (und überhaupt frühchristliche) Bezeichnung für Kollegen bzw. Mitarbeiter in der Mission gewesen sein, vgl. E. E. Ellis, „Paul and his Co-Workers“ in: NTS 17 (1970/1971), 437– 452 (448 – 451). Durch die Nennung des ‚Brudersʻ Sosthenes erfährt 1Kor eine (auch für die Korinther) wohl nicht unbedeutende Aufwertung, zumal die Gesamtheit der ko-

1 1Kor 1,1 – 3: Das Präskript

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zeichnung „berufener Abgesandter des Gesalbten¹⁰ Jesus durch den Willen Gottes“ (κλητὸς ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ διὰ θελήματος θεοῦ). Paulus verweist damit in dreierlei Weise auf seine göttliche Beauftragung: Zum ersten gilt das für die Berufung: κλητός ist als passivum divinum zu verstehen¹¹ und deutet die Berufung zum Abgesandten als von Gott verursachten Akt. Der Begriff der Berufung wird dabei in analoger Weise für die Heiligen in Korinth (1,2) verwendet: Auch sie sind von Gott berufen in ihrem Dienst für ihn (s.u.). Berufung ist insofern kein exklusiver Vorgang, der nur für besondere Christusgläubige zutrifft, sondern meint alle, die Christus nachfolgen. Freilich unterscheidet sich die Aufgabenbestimmung aufgrund der Berufung bei jedem und jeder einzelnen Gläubigen. Zum zweiten führt ἀπόστολος einen Terminus ein, der in der frühchristlichen Zeit die Missionare bezeichnete.¹² Als Abgesandte haben sie die Aufgabe, den Christusglauben in die Welt hinauszutragen und über dessen Verkündigung neue Gläubige zu gewinnen – in dieser Weise erklärt Paulus den Arbeitsauftrag im weiteren Briefverlauf (1,17; 4,9; 9,2). Wie andere Missionare des Frühchristentums,¹³ so nimmt auch Paulus für sich die Funktionsbezeichnung ἀπόστολος in

rinthischen Gemeinde gleichfalls mit ἀδελφοί angesprochen wird (1,10 u. ö.). Absender und Adressaten werden also bereits über die Bruder-Bezeichnung miteinander eng verbunden.  Ich verstehe Χριστός als Titelnamen, der von den damaligen Hörern seiner Bedeutung nach durchaus noch verstanden wurde, der allerdings ebenso bereits als Teil des Eigennamens seines Trägers aufgefasst wurde. Ähnlich ist es heutzutage ja bei politischen Würdenträgern, deren Amtstitel (wie ein Beiname gebraucht) zur Identifikation des Trägers ausreicht, z. B. aktuell ‚die Kanzlerinʻ für Angela Merkel; vgl. auch F. Hahn, „Χριστός,“ in: EWNT 3 (1983), 1147– 1165 (1148 f). Mit der gelegentlichen Übersetzung der Χριστός-Bezeichnung versuche ich das Verständnis der ursprünglichen Adressaten wiederzuspiegeln. Bei einer Gemeinde wie der korinthischen, die offenbar mit den jüdischen Traditionen wohl vertraut war (1Kor 10,1– 10; 2Kor 3,7– 18), erscheint dies angemessen.  Bachmann, Brief 34 versteht das κλητός als gemeinsam mit ἀπόστολος syntaktisch und logisch abhängig von Χριστοῦ Ἰησοῦ: „Dieser Genitiv ist aber kein bloßer Genitiv der Zugehörigkeit, sondern benennt Jesum Christum zugleich als den Urheber jenes durch Berufung zustandegekommenen Apostolats, also auch als den Ursächer [sic] der Berufung, die es hervorrief.“ Diese Auffassung vertritt auch Conzelmann, Brief 37, der dazu Gal 1– 5.11– 16 anführt. Gerade dagegen spricht aber Paulus’ eigener Bericht Gal 1,15 f, wo Gott als καλέσας erscheint.  Vgl. J.-A. Bühner, „ἀπόστολος,“ in: EWNT 1 (1980), 342– 351 (349 f). Das Wort ἀπόστολος bezeichnet in neutestamentlicher Zeit im allgemeinen Sprachgebrauch „one sent to act authoritatively in the name of another“ (F. Agnew, „On the Origin of the Term Apostolos,“ in: CBQ 38 (1976), 49 – 53 [53]).  Vgl. 1Th 2,7; 1Kor 9,5; 15,7; 2Kor 11,13; Gal 1,17.19; Röm 16,7. Nach Lukas werden zunächst nur die ursprünglich um Jesus im Zwölferkreis gruppierten Jünger Apostel genannt (Lk 6,13), mit besonderer Macht ausgestattet und entsendet zum Verkündigen und Heilen (9,1 f). Doch auch Paulus kann mit diesem Titel bezeichnet werden (Apg 14,4.14), insofern er (nach Lukas’ Auffassung) in seinem Verhalten alle Voraussetzungen für einen Apostel erfüllt,vgl. Jervell, Apostelgeschichte 82 f.

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Kapitel 6: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 1 – 4

Anspruch, definiert sie hier im Briefeingang aber genauer. Er lässt sie näher bestimmt sein durch den nachfolgenden Genitiv Χριστοῦ Ἰησοῦ. Dies macht deutlich, dass er kein Abgesandter einer Gemeinde ist.¹⁴ Gleichzeitig ist diese Formulierung aber auch (in bewusster Weise?) unscharf formuliert, denn dieser Genitiv kann sowohl als genetivus subiectivus („vom Gesalbten Jesus“)¹⁵ wie auch als genetivus obiectivus („im Interesse des Gesalbten Jesus“) verstanden werden. Deutlich wird die überaus enge Beziehung von Abgesandtem und Gesalbtem.¹⁶ Drittens verweist der letzte Teil der Selbstbezeichnung, διὰ θελήματος θεοῦ, erneut auf den Urheber der Berufung. Kein anderer als Gott selbst hat angeordnet, dass Paulus als Abgesandter des Gesalbten Jesus fungiert. Mit diesem Nachschub wird eindeutig ausgeschlossen, unter dem Ausdruck κλητός etwas anderes als eine göttliche Berufung zu verstehen. Paulus zeichnet sich somit gleich im Präskript als göttlich autorisierten Abgesandten des mit den Korinthern gemeinsamen Herrn. Für die folgende briefliche Kommunikation stellt dies klar: Hier spricht nicht der Privatmann Paulus, sondern der von Gott berufene, beauftragte und beamtete Apostel.¹⁷ Alles, was Paulus im Anschluss an das Präskript schreiben wird, ist durch sein Amt legitimiert und steht – dem eigenen Verständnis nach – im Einklang mit seiner Beauftragung wie auch dem Auftraggeber selbst. Dass Paulus sogleich im Präskript auf sein Abgesandt-Sein zu sprechen kommt – und das in einer recht breiten Weise –, macht deutlich, dass er in dieser speziellen Kommunikationssituation einen besonderen Wert darauf gelegt hat. Es kann bedeuten, dass er sich damit von anderen, bloß menschlich berufenen Abgesandten absetzen wollte.¹⁸ Somit betont er durch die Apostelbezeichnung insgesamt seine Existenz als ein Abgesandten-Dasein, das in enger Beziehung zum Gesalbten Jesus steht. Aus der Hervorhebung dieser Bezeichnung lässt sich jedoch nicht ableiten, dass ihm generell in der korinthischen Gemeinde seine Würde als

 So die Abgesandten der makedonischen Gemeinden (2Kor 8,23) und möglicherweise auch Epaphroditus aus der Gemeinde in Philippi (Phil 2,25).  Diese Vorstellung findet sich z. B. in Röm 1,5, wo Paulus schreibt, er (mit den Römern? – 1.P.Pl., s.o. Kap. 2) habe die Apostelschaft durch „Jesus Christus unseren Herrn“ empfangen. Gal 1,1 kennt das Abgesandtsein durch zwei Auftraggeber: Jesus Christus und Gott den Vater.  Im weiteren Verlauf des 1Kor verknüpft Paulus die Bezeichnung ἀπόστολος mit dem Sehen des auferweckten Jesus (9,1; 15,8). Somit bestimmt sich ἀπόστολος für Paulus aus dem Gesehen-Haben des Auferstandenen und der (dadurch implizierten Beauftragung zur) Verkündigung unter den Nicht-Christus-Gläubigen.  Vgl. Fascher, Brief 71.  So etwas sind die ‚gewöhnlichenʻ Abgesandten der Gemeinden.

1 1Kor 1,1 – 3: Das Präskript

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Apostel streitig gemacht wurde.¹⁹ Das wäre ein allzu simples mirror reading. Natürlich betont der lange Titel seine Autorität; diese kann er dann im Verlaufe des Briefes in die Waagschale werfen. Dies aber geschieht – wie zu zeigen sein wird – nicht zu seiner eigenen Verteidigung, sondern zur Gewichtung dessen, was er zu sagen hat. Auch die Adresse (1,2) innerhalb des Präskripts gibt Aufschlüsse über die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor. Er schreibt „der Gemeinde Gottes in Korinth, den Geheiligten im Gesalbten Jesus, den berufenen Heiligen, mit allen, die den Namen unseres Herrn Jesus des Gesalbten anrufen an jedem Ort, ihrem und unserem“. Im Gegenüber zur Selbstvorstellung des Paulus ergibt sich für v.1– 2c eine chiastische Struktur, in der sich das Berufensein (κλητός ἀπόστολος / κλητοῖς ἁγίοις), der Bezug auf den Gesalbten Jesus (Χριστοῦ Ἰησοῦ / ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ) und der Bezug auf Gott (διὰ θελήματος θεοῦ / τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ θεοῦ) entsprechen.²⁰ Mittels dieser Entsprechungen kann Paulus die Zusammengehörigkeit von Apostel und Gemeinde sprachlich eindrücklich betonen. Der Bezug der Korinther auf Gott wird in ihrer Verfasstheit als seine Gemeinde (ἐκκλησία) deutlich gemacht. Mit der Bezeichnung ‚Gemeinde Gottesʻ bezeichneten sich die Christusgläubigen des ersten Jahrhunderts selbst als das eschatologische Gottesvolk.²¹ Den Korinthern wird zudem zugesagt, geheiligt worden (ἡγιασμένοις)²² als auch nach wie vor heilig bzw. Heilige (ἁγίοις) zu sein. ‚Heiligʻ meint hierbei einen Ehrentitel, der die besondere Verbundenheit mit Gott ausdrückt,²³ im zweiten Glied des Chiasmus (ἡγιασμένοις ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ/„den Geheiligten im Gesalbten Jesus“) zum einen aber auf ein vergangenes, nun nachwirkendes Geschehen verweist (Perfekt) und zum anderen eng in Verbindung mit Jesus Christus gebracht wird, was auf etwas Besonderes hindeutet: Bezogen auf den bzw. bestimmt vom²⁴

 So Conzelmann, Brief 37, Anm. 8 mit Verweis auf 1Kor 9; 15,1 ff; ebenso Wolff, Brief 15. Es mag zwar zum Zeitpunkt der Niederschrift von 1Kor vereinzelt Kritik an Paulus gegeben haben (4,18), aber erst im 2Kor ist die Entwicklung so weit gediehen, dass Paulus seinen Apostolat verteidigen muss (2Kor 12,11 f).  Mündlicher Hinweis Wilk.  Vgl. Zeller, Brief 72.Wahrscheinlich verwendeten sie unter Einfluss der Jerusalemer Hellenisten den Begriff έκκλησία in Abgrenzung zu den altgläubigen Juden und deren Bezeichnung als συναγωγή, vgl. ebd.  Wie κλητός ein passivum divinum, vgl. 1,30; 6,11.  Vgl. Zeller, Brief 73 f. Zeller nennt den Titel eine „Insiderbezeichnung“ (a.a.O. 73).  Vgl. zur Formel ἐν Χριστῷ F. Neugebauer, In Christus. ἐν Χριστῷ. Eine Untersuchung zum Paulinischen Glaubensverständnis, Berlin 1961. Die Formel „in Christus (Jesus)“ zielt weniger auf eine lokale als vielmehr auf eine Umstandsbestimmung und kann adjektivisch mit „christusmäßig“ wiedergegeben werden, vgl. ebd. 34– 44.100 – 103.

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Kapitel 6: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 1 – 4

Gesalbten Jesus ist die Heiligung der Korinther geschehen.²⁵ So wie Paulus seinen Apostolat exklusiv auf den Gesalbten Jesus bezogen weiß, sind die Korinther allein ‚in ihmʻ (also in Bezug auf ihn) geheiligt worden. Die Zusage an die Korinther, heilig zu sein, bedeutet gleichermaßen aber auch einen Anspruch, denn die christliche Heiligung bzw. Heiligkeit äußert sich im ethisch-moralischen Verhalten, insofern die Gläubigen den Heiligen Geist in sich aufgenommen haben und ihn in ihren Körpern stets beherbergen (3,16 f; 6,19). Die Heiligkeit bedeutet damit ein Differenzmerkmal der christusgläubigen Gemeinschaft gegenüber der paganen Umwelt. Natürlich wirkt diese ehrenvolle Bezeichnung primär als eine captatio benevolentiae bei den Adressaten. Paulus gibt damit jedoch ebenso bereits im Präskript ein Maß vor, anhand dessen er später die Korinther beurteilen und anleiten wird. Schließlich werden die Korinther auch mit der Anrede als ebenfalls Berufene mit dem Apostel parallel gesetzt. Was beide verbindet, ist der Berufene, also Gott; was beide jedoch unterscheidet, ist ihre jeweilige Berufung: zum einen das spezielle Abgesandtsein des Paulus (d. h. sein Apostolat), zum anderen die generelle Heiligkeit der Korinther als (getaufte) Christusgläubige. Konkret wirksam ist die Berufung der Korinther dabei natürlich durch Paulus selbst als ihren Gemeindegründer geschehen.²⁶ Insofern geschehen die Zusage sowie der Anspruch, ein heiliges Leben zu führen, auch unter der impliziten Rückführung auf den Apostel als Gründer dieser Gemeinschaft. Abschließend folgt in 1,2d–e über die Nennung der weltweiten Christusgläubigen²⁷ die Einbindung der Korinther in eben diese weltweite Segens- und Bekenntnisgemeinschaft.²⁸ Auch hier macht sich der Anspruch an die Gemeinde

 Die Reihung von Reinwaschung, objektiver Heiligung und Gerechtsprechung in 1,30; 6,11 deutet auf die Taufe als Vorstellungshintergrund hin. Dies ist möglicherweise auch hier in 1,2b unter Einbeziehung des Wirkungsbereiches „in Christus Jesus“ der Fall.  Paulus war ja Erst-Missionar, der nicht in ‚fremden Gewässernʻ fischte (2Kor 10,13 f; Röm 15,20 f). Die Korinther waren also in der Tat seine eigenen Missions-‚Erzeugnisseʻ, wie er im weiteren Briefverlauf betont (1Kor 3,6.10; 4,15).  Zeller, Brief 75 f schlägt in Anlehnung an Lietzmann, Korinther 5 vor, die letzten Versteile 1,2d–e „mit allen Heiligen etc.“ gleichsam im Vorgriff auf den Segenswunsch an die Korinther in 1,3 zu beziehen. Damit fiele auch die Konjektur, die die Versteile als sekundären Zusatz tilgen will, vgl. Weiß, Korintherbrief 4; Fascher, Brief 81. Ebenfalls wären dann Erklärungsmodelle überflüssig, die die Anrede in der 3.P.Pl. αὐτῶν aus der Form des Präskripts herleiten wollen, das ja erst mit der salutatio (1,3) zu einer direkten Anrede übergehe, vgl. etwa Bachmann, Brief 39.  Dass die Korinther sich in eine weltweite Gemeinschaft der Christus-Gläubigen eingebunden sahen, beweist sowohl der rege apostolische Durchgangsverkehr vor Ort (Apollos aus Alexandria, Kephas aus Jerusalem, Paulus aus Antiochia) wie auch die Bereitschaft zur Kollekte (1Kor 16,1– 4; 2Kor 8 f; Röm 15,26). ‚Weltweitʻ bedeutet in diesem Zusammenhang selbstverständlich ‚reichsweitʻ.

1 1Kor 1,1 – 3: Das Präskript

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bemerkbar, die durch den einen Herrn gewirkte Heiligkeit (1,30) im Leben tatsächlich auch umzusetzen. Mehr noch aber bereitet Paulus hier die Einreihung der Korinther in die allgemeine Gemeinschaft der Gemeinden vor, die sich durch die gleichen Glaubensinhalte und -überzeugungen auszeichnet (4,17; 7,17; 11,16; [14,33 f]²⁹; 16,1.19 f). Nicht unbedeutend im Zusammenhang der Rollenzuschreibung innerhalb des Präskriptes ist auch der geläufige christologische Hoheitstitel κύριος. Obwohl unscheinbar, bestimmt doch dessen Verwendung im Zusammenhang mit dem Personalpronomen ἡμῶν die Anerkennung, dass Paulus und die Korinther ihr Leben unter der Herrschaft ihres gemeinsamen Herrn führen.³⁰ Κύριος gibt eine Hierarchie vor, in die sich alle Christusgläubigen einfinden. Dennis L. Stamps erkennt hier in 1Kor 1,1– 3 bereits, auf Paulus bezogen, eine „rhetoric of power“³¹, die sich dann auch im weiteren Verlauf des Briefes zeigen werde.³² Indem Paulus die allgemeine Berufung der Korinther mit seiner speziellen Berufung in ein ungleichwertiges Verhältnis setze, baue er sich selbst als unverzichtbares Zwischenstück in diese Hierarchie ein: „Jesus Christ is Lord of the Church, Paul is an apostle of Jesus Christ to the Church, and the Corinthians are a part of the Church.“³³ Stamps sieht richtig, dass der 1Kor insgesamt ein Gefälle zwischen dem Apostel und seiner Gemeinde statuiert (Paulus als Vater / Sämann / Baumeister der korinthischen Gemeinde), ebenso dass ein Unterschied in der jeweiligen Berufung besteht. Als ein fundamentales Differenzkriterium, das eine Hierarchie markiert, wird dieser Unterschied jedoch in 1,1– 3 noch nicht postuliert. Vielmehr unterstreicht Paulus durch den chiastischen Aufbau die Einheit von der Gemeinde und ihm selbst, die gerade durch die lapidare Nennung des Mitabsenders ‚Bruder Sosthenesʻ, die in diesem Zusammenhang beinahe störend wirkt, umso deutlicher betont wird.

 Da 1Kor 14,33b–36 vielen Exegeten Probleme bereitete, wurden die Verse (auch wegen der textkritisch unsicheren v.34 f) von ihnen als sekundär eingestuft, vgl. den Exkurs bei Wolff, Brief 341– 345. Tatsächlich gibt es aber auch gute Gründe, den Passus Paulus zuzuschreiben, vgl. Wolff ebd.; Zeller, Brief 443 – 447.  Das Personalpronomen schließt sowohl Paulus und Sosthenes als auch die Korinther und alle Christusgläubigen zusammen.  Vgl. Stamps, „Criticism“ 157– 165 (Zitat: 162). „Rhetoric of Power“ lautet auch der Titel des Aufsatzes von C. A.Wanamaker, „A Rhetoric of Power: Ideology and 1 Corinthians 1– 4,“ in: Burke, T.J. / Elliott, J.K. (Hg.), Paul and the Corinthians. Studies on a Community in Conflict (Sup. NovT 109. FS M. Thrall), Leiden/ Boston 2003, 115 – 137, den er im Fließtext aber nicht aufnimmt.  Auch wenn Paulus über die Korinther Macht (zurück‐)gewinnen will, ändert dies nichts an seiner Grundüberzeugung, dass Demut der wahre Lebensstil eines Christusgläubigen sein sollte. Gerade das ist ja Paulus’ Dilemma gegenüber den Korinthern und wird besonders virulent im 2Kor: dass er zum einen Gehorsam und ein Nachahmen seiner Lebenseinstellung, die in Demut besteht, fordert, dass er aber zum anderen eben selbst in seiner Verkündigung diese Demut lebt und vorleben will, ja muss (1Kor 9,15 f) – auch und gerade gegenüber den Korinthern. Erst das Reden in der Paradoxie (z. B. 2Kor 11,16 – 12,13) eröffnet ihm einen gangbaren Ausweg.  Stamps, „Criticism“ 162.

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Zusammenfassend lässt sich sagen: Paulus definiert bereits im Präskript von 1Kor seine Rolle in enger Verbindung zu den Korinthern, was sich in ihrer beider Berufung und der Bezogenheit auf Gott und Jesus Christus äußert. Dies gibt die Hauptlinie vor, auf der das Schreiben an die Korinther verstanden werden soll. Als Abgesandter des Christus Jesus steht Paulus jedoch in einem speziellen Berufungsverhältnis, das ihn (im Unterschied zu den Korinthern) zu einem Amtsträger werden lässt, der mit der Autorität des ihn Entsendenden auftreten darf. Trotz oder gerade wegen der Betonung der Zusammengehörigkeit von Apostel und Gemeinde wird mit der Herausstellung des besonderen Amtes bereits der Boden für die nachfolgenden Erörterungen gelegt, wenn es Paulus darauf ankommt, den Willen des Herrn autoritativ durchsetzen, der ja mit seinem eigenen identisch ist (vgl. 1Kor 14,37). Alle weiteren Rollen oder personae, die er in 1Kor einnehmen und aus denen heraus er sprechen wird, leiten sich von dieser ersten Rolle eines von Gott beauftragten Apostels ab.³⁴

2 Zur Selbstdarstellung in Kor 1,10 – 4,21 2.1 Einordnung und Gliederung Der erste thematische Block 1,10 – 4,21 befasst sich mit den Paulus berichteten Streitigkeiten (1,11: ἔριδες) innerhalb der Gemeinde. Allein hier finden sich drei Stellen, in denen der Apostel mit κἀγώ in autobiographischer Hinsicht auf sich selbst verweist (2,1.3; 3,1), wobei vor allem die beiden κἀγώ in 2,1 und 3,1 bereits durch ihre Stellung hervorstechen. 1,10 – 4,21 bildet eine in sich abgeschlossene Sinneinheit,³⁵ deren Beginn durch das einsetzende παρακαλῶ definiert ist: Im Folgenden will Paulus (in mahnender Weise) zu einer, seiner Meinung nach, rechten Verhaltensweise ‚ermuntern‘³⁶, die darin besteht, dass die Gemeinde

 Um noch einmal den musikalischen Vergleich zu gebrauchen: Wenn das Proömium die Ouvertüre darstellt, in der die im Folgenden zu behandelnden Themen bereits anklingen, dann kann man im Präskript die Festlegung der Tonart und Spielweise sehen, in der das folgende Stück gehalten ist – in diesem Fall harmonisch, aber bestimmt.  Vgl. Merklein, Brief I 113, der über die drei Methoden der syntaktischen, thematischen und rhetorischen Analyse zu diesem Ergebnis gelangt. Weiterhin markiert 5,1 (nach der abschließenden warnenden Frage 4,21) den Beginn eines neuen Abschnitts, der πορνεία anhand eines konkreten Falls in der Gemeinde thematisiert.  Ich wähle „ermuntern“ als eine möglichst neutrale Übersetzung für das schillernde Verb παρακαλεῖν, dessen Wortbedeutung Aufrufen, Zurufen, Bitten, Ermahnen und Trösten umfasst, vgl. O. Schmitz, „παρακαλέω κτλ. A. & B.,“ in: ThWNT 5 (1954), 771– 777. Faszinierenderweise gelangt C. J. Bjerkelund, Parakalô. Form, Funktion und Sinn der parakalô-Sätze in den paulinischen

2 Zur Selbstdarstellung in Kor 1,10 – 4,21

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einheitlich spricht, denkt und beurteilt. Παρακαλῶ erscheint in 4,16 als Schlussermunterung, dort mit dem Zielpunkt, dass die Korinther Nachahmer des Paulus werden. Dieser zweite, inhaltlich scheinbar anders gelagerte Aufruf ergibt sich aus der fortgeschrittenen Argumentation. Beiden Ermunterungen ist aber gemeinsam, dass sie erst in der Orientierung an Paulus ihr Ziel erreichen: Erst im Nachahmen ihres Apostels werden die Korinther auch zur inneren Einheit der Gemeinde finden. Inhaltlich sowie eben auch formal bilden beide Ermunterungen eine literarische Klammer um die Einheit 1Kor 1,10 – 4,21³⁷ und bestimmen ihn (nach der Sprechakttheorie) als „performativen […] Text“³⁸. Das Hauptanliegen dieses Briefabschnittes ist „parakletisch-didaktisch“³⁹. Ermunterungen wollen jemanden zu einer bestimmten Verhaltensweise aufrufen bzw. ihn darin bestärken. Sie fallen daher unter das Genus der Beratung.⁴⁰ Wie auch die anderen Teile des Briefes ist 1Kor 1,10 – 4,21 der Beratung verpflichtet:⁴¹ Die Korinther sollen nach dem Willen des Paulus eine bestimmte Verhaltensweise an den Tag legen, die sie wieder zur Einmütigkeit in der Ge-

Briefen (Bibliotheca Theologica Norvergica 1), Oslo 1967 nicht zu dieser Übersetzung, sondern bleibt bei „auffordern“ stehen, obwohl er zu dem Ergebnis gelangt (a.a.O. 188): „παρακαλῶ hat in den [παρακαλῶ]-Sätzen weder befehlenden (wie ἐπιτάσσω) noch flehenden Charakter (wie δέομαι). παρακαλῶ kommt dann bei Paulus zur Anwendung, wenn die Frage der Autorität kein Problem darstellen darf, und der Apostel sich an die Glieder der Gemeinde wie an seine Brüder wenden kann, in dem Bewusstsein, dass sie ihn als Apostel anerkennen wollen. Diese Aufforderung drückt also eine gewisse Zuversicht des Paulus gegenüber der betreffenden Gemeinde aus“.  Smit, „Apollos“ 235 erkennt in dem εὐαγγελίζεσθαι (1,17) und dem διὰ τοῦ εὐαγγελίου (4,15) eine zweite literarische Klammer um den Abschnitt; beide Wörter erscheinen im 1Kor sonst nur noch in 9,12– 23 und 15,1 f.  Merklein, Brief I 108, der aufgrund seiner begrifflich engen Auffassung von παρακαλέω den Abschnitt als „mahnenden Text“ konkretisiert [Zitat im Original kursiviert].  J. S. Vos, Die Kunst der Argumentation bei Paulus. Studien zur antiken Rhetorik (WUNT 149), Tübingen 2002, 63. Nebenanliegen (wie z. B. den Tadel des vorschnellen Richtens der Korinther in 4,2– 5) hat der Abschnitt aber auch. Vos sieht 1,10 – 3,4 gleichermaßen als deliberativ und apologetisch an, vgl. Vos, a.a.O. 64.  Berger, Formen 222 f ordnet das paulinische παρακαλῶ der Ermahnung und damit der Symbuleutik zu. In 1Kor 1,10; 4,16 f liegen demnach jeweils begründete Mahnreden vor, die ihre Begründung durch den Verweis auf höhere Autoritäten, d. h. den Sprecher selbst oder Gott, erhalten (1,10: „durch den Namen unseres Herrn Jesus Christus“; 4,16 f: Paulus selbst [v.16] sowie Jesus Christus [v.17]). Berger, a.a.O. 271 nennt zudem 4,16 f als Beispiel für die persönliche Mahnrede, in der das Vorbild des Apostels ein Beispiel für ein gewünschtes Verhalten außerhalb der allgemeinen Normen abliefern soll.  Gegen Pearson, „Wisdom“ 45, der 1,10 – 4,21 als „apologia“ bezeichnet, in der Paulus seine apostolische Autorität gegen seine Gegner verteidigt. Formal und stilistisch gibt es dafür keine Hinweise.

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Kapitel 6: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 1 – 4

meinde führt. Diese Verhaltensweise besteht darin, sich nicht über ein anderes Gemeindeglied zu erheben (4,6), was seinen Ausdruck ja in der Gruppenbildung unter Bezugnahme auf Oberhäupter gefunden hatte (1,12). Positiv gewendet besteht diese Verhaltensweise in der Rücksichtnahme und im liebevollen Annehmen des anderen (vgl. c.13). Dass Paulus den Korinthern dann dieses Verhalten allerdings nicht nur vorschlägt und anrät, sondern unter Drohungen nahezu vorschreibt (4,21), ist das Besondere an 1Kor. Im Folgenden soll die Selbstdarstellung des Paulus in 1,10 – 4,21 untersucht werden. Dies geschieht anhand der internen Gliederung, die Joop F. M. Smit aufgrund textsyntaktischer Überlegungen überzeugend dargelegt hat:⁴² 1,10 – 17; 1,18 – 2,5; 2,6 – 3,4; 3,5 – 4,5; 4,6 – 21. Hierin fallen besonders die Stücke 2,1– 5; 3,1– 4; 4,1– 5; 4,14– 21 auf, in denen Paulus von sich in der ersten Person spricht, gleichzeitig aber auch die Korinther direkt anspricht.⁴³ Smit ordnet diese Stücke den jeweils vorausgehenden Argumentationsgängen (1,18 – 31; 2,6 – 16; 3,5 – 23; 4,6 – 13) zu, da sie stichwortartige bzw. thematische Rückbezüge dazu aufweisen.⁴⁴ Es ergeben sich also nach dem einleitenden Teil 1,10 – 17⁴⁵ vier Argumentationsgänge, „in which a general discussion results in a particular conclusion concerning his [= Paulus’] relationship with the Corinthians“⁴⁶. Dabei stehen sich die ersten und die letzten beiden Textblöcke besonders nahe, da in den beiden ersten eine Auseinandersetzung das Thema Weisheit behandelt wird,⁴⁷ in den beiden letzten aber das Thema Spaltungen. Im Schema sieht dies folgendermaßen aus:

 Vgl. Smit, „Apollos“ 235 – 240.  So auch Smit, „Apollos“ 232, dem auffällt (233), dass dies bei den Kommentatoren keine weitere Beachtung findet. Auch 1,10 – 17 gehört dazu.  Vgl. Smit, „Apollos“ 236 – 239. Mit Smit und über ihn hinausgehend sind 1,18 – 31; 2,1– 5 verbunden durch die Worte λόγος (1,18; 2,2.4), Χριστὸς ἐσταυρωμένος (1,23; 2,2), δύναμις θεοῦ (1,24; 2,5), τὰ ἀσθενῆ/ἐν άσθενείᾳ (1,25.27; 2,3), κηρύσσειν/κήρυγμα (1,23; 2,4). Die Teile 2,6 – 16 und 3,1– 4 finden ihren Zusammenhalt durch λαλεῖν (2,6.7.13; 3,1), πνευματικός (2,13bis.15; 3,1) und den Gegensatz von τέλειοι und νήπιοι (2,6 vs. 3,1), die Teile 3,5 – 23 und 4,1– 5 durch die Synonyme διάκονοι und ὑπερέται (3,5 und 4,1), durch φανερός/φανεροῦν (3,13; 4,5) und die Vorstellung vom Aufdecken verborgener Dinge (ἀποκαλύπτειν in 3,13 vs. τὰ κρυπτά in 4,5), die Teile 4,6 – 13 und 4,14– 21 durch φυσιοῦσθαι (4,6.18.19) und βασιλεύειν/βασιλεία (4,8bis [+ συμβασιλεύειν].20). Möglicherweise deutet die Verwendung von in οἰκονόμοι 4,1.2 gegenüber οἰκοδομή in 3,9 (+10.12.14 [ἐποικοδομεῖν]) ein Wortspiel an, insofern Paulus und Apollos nach der Errichtung der Gemeinde als eines Hauses für Gott (zudem 3,16) nun Hausverwaltern gleichkommen.  Zeller, Brief 86 bezeichnet 1,10 – 17 als „Exposition“.  Smit, „Apollos“ 239 f.  Das Thema Weisheit klingt im Textblock 3,5 – 4,5 lediglich nach (3,18 – 20).

2 Zur Selbstdarstellung in Kor 1,10 – 4,21

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Tabelle 2: Gliederung von 1Kor 1,10 – 4,21 , –  Einleitung

befürchtete Spaltungen in Bezug auf Paulus, Apollos, Kephas

, –  Die Verkündigung des Paulus Gottes Normen gegen die Weltweisheit – Christus und anderer gekreuzigt, das Schwache erwählt , – 

Paulus selbst (κἀγώ) früher in Verkündigung gegen die Weisheit, „in Schwäche“ Korinth

, – 

Paulus und andere

, – 

Paulus selbst (κἀγώ) früher in Lehre für die Korinther nicht möglich, da unwissend/ Korinth kindisch

, – (,)⁴⁸

Paulus und Apollos

jeweils im Hinblick auf die Gemeinde und im Gericht

,()–

Paulus selbst (έμοί) jetzt

Beurteilung allein durch den Herrn

, – 

Paulus und Apollos

die Apostel als Schauspiel für alle Welt (vs. die Korinther als verblendete Herrscher)

, –  Paulus selbst (ἐγώ) früher und jetzt

Lehrer der Weisheit Gottes für Vollkommene

Vater der Korinther und ihr Vorbild

Mit dem Fortschreiten der Argumentation werden auch die Rolle(n) bzw. persona(e) des Apostels deutlicher und die von ihm entworfene Selbstdarstellung klarer hervortreten. Insofern ist es sinnvoll und notwendig, nicht allein die in der 1.P.Sg. gehaltenen Passagen auf die Selbstdarstellung des Paulus hin zu untersuchen,

 Als Alternative zur üblichen Trennung zwischen 3,23 und 4,1 lässt sich der Neueinsatz im dritten Argumentationsgang 3,5 – 4,5 in 4,3 festmachen. Dies hängt durchaus auch mit der Deutung des οὕτως in 4,1 zusammen: Ist es rückbezüglich zu verstehen (vgl. etwa Conzelmann, Brief 108 Anm. 1) oder weist es voraus auf ὡς (vgl. etwa Wolff, Brief 79)? Ist die erste Deutung richtig, lässt sich der Zusammenhang zum Vorherigen durch folgende Beobachtungen verstärken. Die Doppelung Christus / Gott („Diener Christi“, „Geheimnisse Gottes“) in 4,1 greift in dieser Reihenfolge zurück auf 3,23 („ihr aber [seid] Christi, Christus aber Gottes“). 4,1– 2 beantworten noch einmal die zu Beginn des Teils gestellten Fragen: „Was also ist Apollos? Was aber ist Paulus?“ (3,5a–b) und wirken somit wie eine inclusio mit 3,5c–d. Beide Verse 3,5 und 4,1 verwenden etymologisch verwandte Worte, nämlich dass nach 3,5c die Korinther durch die Diener ‚Vertrauenʻ bzw. ‚Glaubenʻ gefasst haben (πιστεύειν), in 4,2 unter den Dienern als Verwaltern der Geheimnisse Gottes jemand ‚vertrauenswürdigesʻ oder ‚glaubwürdigesʻ (πιστός) gefunden werden soll. Der Neueinsatz in 4,3 wird dann durch das am Satzbeginn betonte ἐμοὶ δέ markiert, das in Analogie zu den beiden anfangsbetonten κἀγώ in 2,1(3) und 3,1 erscheint und nach unpersönlich gehaltener Redeweise eine Ich-Rede des Paulus an die Korinther einleitet.

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Kapitel 6: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 1 – 4

sondern vielmehr auch die jeweils vorangehenden, abstrakt gehaltenen Teile, auf die sich jene Passagen beziehen.

2.2 1Kor 1,10 – 17: Einleitung So wie es die Leute der Chloe Paulus berichtet hatten (1,11), war es zu Streitereien innerhalb der korinthischen Gemeinde gekommen, und wie er es verstanden hatte (1,12: λέγω δὲ τοῦτο),⁴⁹ war die Bildung von Gruppen⁵⁰ der Anlass dazu. Diese Gruppen richteten sich demnach an in Korinth bekannten, apostolischen Lehrautoritäten aus: Paulus, Apollos, Kephas.⁵¹ Der Riss bzw. die Risse durch die Gemeinde waren wohl innerhalb der höheren und gebildeteren Schichten durch das Bestreben entstanden, sich über den anderen zu erheben oder – wie es Paulus umschreibt – sich über den anderen hinaus ‚aufzublähenʻ (4,6: φυσιοῦσθε).⁵² Paulus selbst wendet sich gegen diese Streitereien, befürchtet er doch, dass sich daraus eine ernsthafte Spaltung (1,10: σχίσματα) der Gemeinde ergeben könnte. Zudem bedeuten sie für ihn auch, dass sich die Gemeinde in Teilen – namentlich

 Die Unterscheidung zwischen dem Hören der Nachrichten und der eigenen Interpretation sollte nicht aus dem Blick geraten! In der korinthischen Gemengelage kennen wir nur die subjektive Sicht des Paulus.  In der Forschung wird nach wie vor gerne von ‚Parteienʻ gesprochen, um die korinthischen Gruppen zu kennzeichnen, z. B. Merklein, Brief I 115 – 118, der das Wort anfangs noch in Anführungszeichen setzt, dann aber ohne Begründung als normale Bezeichnung verwendet. Man mag mit W. G. Kümmel (in: Lietzmann, Korinther 167) diese Bezeichnung als ‚unzweckmäßigʻ verwerfen. Zumindest ist sie nicht ganz glücklich gewählt, da sich mit ihr (wohl nicht ungewollt?) Assoziationen von politischen Parteien mit einem festen Programm und womöglich herausstehenden Personen verbinden, vgl. Wolff, Brief 25 Anm. 6. Beides ist für Korinth so nicht nachzuweisen. Munck, Paulus 128 – 131 wendet sich ganz und gar gegen die Vorstellung, in Korinth habe es Parteien gegeben; vielmehr betont er, dass es sich um „Entzweiungen“ und „Zankreden“ aus nicht-dogmatischen Gründen gehandelt hat.  Die Christus-Gruppe, die Paulus benennt, hat (wenn sie denn nicht überhaupt eine nomenklaturische Erfindung des Paulus für die Gruppe der ‚Neutralenʻ in Korinth ist) sich wohl gegenüber den menschlichen Autoritäten in scheinbarer Neutralität und Überparteilichkeit abgrenzen wollen. Dass sie mit ihrer Parole aber nicht zur Auflösung des Konfliktes, sondern zu seiner Verhärtung beigetragen hat, liegt eben daran, dass „das Bekenntnis zur Parole wird“ (Conzelmann, Brief 53). Kammler, Kreuz 15 f hält die Christus-Parole für eine Antithese des Paulus, die für die Korinther eindeutig zu verstehen war, da es eben keine Christus-Gruppe in Korinth und diese Parole somit auch nicht gegeben hat. Nach dem Zweierschema in 3,4 (Paulus vs. Apollos) bzw. dem erweiterten Dreierschema 3,22 f (Paulus vs. Apollos vs. Kephas; über ihnen allen Christus) erscheint dies plausibel.  Vgl. G. Theißen, „Legitimation und Lebensunterhalt: Ein Beitrag zur Soziologie urchristlicher Missionare,“ in: NTS 21 (1975), 192– 221 (220).

2 Zur Selbstdarstellung in Kor 1,10 – 4,21

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die Apollos- und die Kephas-Gruppe – von ihm als ihrem Gründer und als bestimmender Autorität abgewendet hat. Stattdessen propagiert er die Einheit der Gemeinde im Glauben an Christus, der mit seiner Kreuzigung den Gläubigen Heil gebracht hat (1,13.17). Aufgrund des Vorwurfs der Streitereien und des inneren Risses durch die Gemeinde beginnt Paulus den ersten Themenblock mit einem Tadel der Korinther: Die spöttische rhetorische Frage in 1,13 und das anschließende ebenso spöttisch zu verstehende Gott-sei-Dank in 1,14– 16 weisen darauf hin, den Abschnitt 1,13 – 17 im epideiktischen Modus zu verorten. Paulus erinnert innerhalb dieser einleitenden Passage an seine Anfangszeit in Korinth und die Taufen, die er dort vorgenommen hatte. Dabei betont er, wie gering doch die Zahl seiner Taufen gewesen sei. Mit einer οὐ-ἀλλά-Kontrastierung verdeutlicht Paulus, dass bloßes Taufen nicht seinem Arbeitsauftrag entspricht.⁵³ Vielmehr definiert er seine besondere Rolle gegenüber den Korinthern als von Christus zur Verkündigung Beauftragter (1,17: ἀπέστειλέν με […] εὐαγγελίζεσθαι). Die Verwendung von ἀπέστειλεν weist zurück auf das Präskript, wo sich Paulus als ἀπόστολος vorgestellt hatte (1,1). Die Bezeichnung der Korinther als ἀδελφοί (1,10 f) rückt sie und Paulus in einen familiären Zusammenhang (wie dann auch in 1,26; 2,1; 3,1; 4,6). Durch Spott und Tadel wird hier aber noch schneller als an den anderen Stellen deutlich, dass damit keine gleichrangige Beziehung ausgesagt wird. Paulus und die Korinther sind zwar Geschwister, da sie sich auf denselben göttlichen Vater zurückführen (1,3), aber Paulus ist ihnen gegenüber in einer überlegenen Position. Er ist so etwas wie der ‚große Bruderʻ, der darauf zu achten und es durchzusetzen hat, dass die jüngeren Geschwister sich familienkonform verhalten. Bereits die ersten Sätze verbunden mit der autobiographischen Erinnerung generieren ein Gefälle zwischen dem Apostel und der Gemeinde. Zwar sind beide verbunden durch den gemeinsamen Herrn und in ihrer beider Berufung durch Gott (1,1 f) und stehen in einem geschwisterlichen Verhältnis zueinander (1,10). Und

 Die Nicht-Sondern-Struktur gehört wesentlich zu epideiktischen Argumentationen,vgl. Berger, Formen 161. Insofern ist es von Berger nicht kohärent, wenn er 1Kor 1,14– 17 als Apologie über Paulus’ Tätigkeit in Korinth bezeichnet und entsprechend in die Dikanik einordnet (vgl. a.a.O. 426). Es ist überhaupt nicht deutlich, wogegen sich Paulus hier verteidigen sollte: Die mögliche Behauptung, Paulus habe alle Korinther getauft (v.15), ist ja rein fiktiv und soll auf die Absurdität des Gemeindezwistes aufmerksam machen. Insofern ist es sinnvoller, mit Berger selber 1,14– 17 als Rechenschaftsbericht über die Tauftätigkeit des Apostels in Korinth aufzufassen (vgl. a.a.O. 328), der jedoch nicht apologetisch motiviert ist. Es geht hier um die argumentative Darstellung, „inwiefern etwas gegenüber einer anderen Größe höheren Rechtes und größeren Wertes sei“ (ebd. 161), was das grundlegende Kriterium für die epideiktische Argumentation ist – in diesem Fall also der höhere Stellenwert der Verkündigung gegenüber der Tauftätigkeit als apostolische Aufgaben (1Kor 1,17).

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gleichermaßen erfolgt die Ermunterung, die Paulus ihnen zuspricht, „durch den Namen unseres Herrn“ (1,10), also wieder unter Berufung auf den höchsten gemeinsamen Nenner.⁵⁴ Dennoch ist Paulus der aktive Part in der gemeinsamen Beziehung. Er ist es, der die Korinther zur Einmütigkeit zu ermuntern sucht; die Korinther scheinen durch ihren Streit dazu nicht (mehr) in der Lage zu sein. Und er ist auch der Part, der um eine gottgefällige Lebensweise weiß und in Anrufung des gemeinsamen Herrn als der höchsten Instanz aller Gläubigen darauf hinweisen kann. Tatsächlich macht Paulus mit seinem Spott auch deutlich, dass er über den Streitigkeiten der Korinther steht.⁵⁵ Auch die ausdrückliche Unsicherheit bezüglich seiner Erinnerung (1,16) ist ein Indiz für die Indifferenz bzw. Unwichtigkeit, die er dem Getauftsein durch einen bestimmten Menschen zuweist.⁵⁶ Wichtig demnach für Paulus bzw. seiner Meinung nach wichtig für Christus ist im Gemeindeaufbau nicht der Täufer, sehr wohl aber der Verkündiger (1,17). Als Abgesandter, als Apostel handelt Paulus mit der Autorität und im Namen desjenigen, der ihn entsandt hat.⁵⁷ In der Verkündigung offenbart sich also die Einheit von Verkündiger und Entsender: Der Apostel erscheint somit durch den Gesalbten autorisiert, ist sein direktes Sprachrohr und ermöglicht erst, dass im Anschluss an die Verkündigung überhaupt getauft werden kann. Auch hier tut sich also über die spezielle Beauftragung des Apostels ein Gefälle zur Gemeinde auf. Dass Apostel und Gemeinde aber nicht auseinanderfallen, liegt an der gemeinsamen Bindung an den Herrn, dann aber auch an der Besonderheit des Christusglaubens, die sich im Kreuz Jesu Christi manifestiert.

 Der Name des Herrn „meint die wirkkräftige Präsenz des Erhöhten in der Kommunikation mit der Gemeinde“ (Zeller, Brief 90).  Selbst die Christus-Gruppe – so es sie überhaupt tatsächlich gegeben hat –, die wohl Neutralität bzw. Überparteilichkeit für sich in Anspruch nahm, führt er mit seinen spöttisch tadelnden rhetorischen Fragen 1,13 ad absurdum. Die kämpferische Redeweise gegen eine falsch verstandene Christusfrömmigkeit lässt Paulus jedoch nur in diesem Zusammenhang gelten. In 3,21– 23 macht er deutlich, dass Christus in der Tat der Herr der Gemeinde sein soll, unter dessen Herrschaft ein Streit um die Zugehörigkeit zu besonderen Missionaren seine Berechtigung verlieren muss.  M. Pascuzzi, „Baptism-based Allegiance and the Divisions in Corinth: A Reexamination of 1 Corinthians 1:13 – 17,“ in: CBQ 71 (2009), 813 – 829 (824) vermutet, dass Paulus durch das vorgetäuschte Vergessen, seine Rolle als hauptsächlicher Täufer der Gemeinde herunterspielen möchte. Dies rühre von dem konkreten Vorwurf der Apollos-Anhänger, Paulus sei bloß Täufer, aber kein Evangelist (wie der wortgewaltige Apollos), dem Paulus in 1,13 – 17 begegnet und dann nicht wieder aufnimmt (a.a.O. 822 f).  Vgl. Agnew, „Origin“ 53 zur Definition eines Apostels im allgemeinen Sprachgebrauch. Den Namen des Herrn führt Paulus gegenüber den Korinthern ja selber an (1,10).

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Paulus betont das Kreuz Christi gegenüber einer Verkündigung, die „in der Weisheit des Wortes“ wurzelt (1,17b). Mit ἐν σοφίᾳ λόγου ist wohl rhetorische Kunstfertigkeit gemeint.⁵⁸ Paulus richtet sich damit gegen eine Verkündigungsweise, die mehr auf Effekte zielt und dadurch zu überzeugen sucht. Sie ist eine Redeweise, die ganz der Logik der Welt verhaftet ist, in der nur menschliche Überzeugungen maßgeblich sind. Als weltliche Redeweise repräsentiert sie die weltliche Weisheit, der Paulus im folgenden Abschnitt die göttliche Weisheit entgegenstellt.

2.3 1Kor 1,18 – 2,5 2.3.1 1Kor 1,18 – 31: Gottes Normen gegen die Weisheit der Welt In dem direkt anschließenden Passus 1,18 – 31 wird nun das „Wort vom Kreuz“ (ὁ λόγος ὁ τοῦ σταυροῦ), das Paulus als Apostel verkündet, der weltlichen Weisheit (σοφία) gegenübergestellt, die darin nur eine Torheit sehen kann. Hingegen versteht Paulus mit allen Gläubigen (ἡμῖν) das Wort vom Kreuz als die „Macht Gottes“ (δύναμις θεοῦ, 1,18), die sich aber nur in der von der Welt als schwächlich angesehenen Verkündigung offenbare (1,21). Der gekreuzigte Jesus erscheine somit der weltlichen Weisheit als töricht und schwach, sei als Gottes Messias aber tatsächlich weiser und stärker als alles in der Welt (1,25).⁵⁹ Diese Verkündigung geschieht durch eine Gruppe (v.23: ἡμεῖς δὲ κηρύσσομεν).⁶⁰ Gerade der nachfolgende Passus 2,1– 5, der mit einem präzisierenden κἀγώ einsetzt, macht ja deutlich, dass dort ein Wechsel in der Sprecherrolle erfolgt, in 1,23 und 1,30 also kein schriftstellerischer Plural vorliegt.⁶¹ Damit verbleiben die Möglichkeiten eines die Korinther (und alle Gläubigen) inkludie-

 Vgl. Zeller, Brief 96.Vorsichtiger urteilt Wolff, Brief 33 und übersetzt das Syntagma schlicht mit „Redeweisheit“.  Paulus reagiert mit seiner Darstellung der göttlichen Weisheit wohl nicht auf eine ausformulierte korinthische Weisheitslehre nach alexandrinischer Prägung.Vielmehr ist die Suche nach Weisheit und die damit verbundene gesellschaftliche hohe Anerkennung von Weisheitslehrern ein hellenistisches, also zunächst paganes Phänomen (1,22), das den gemeindeinternen Diskurs in Korinth bestimmte, vgl. Konradt, „Weisheit“ 194. Paulus entwertet in seiner Argumentation den Status von Weisheitslehrern, indem er den Gekreuzigten, der ja den Kern des Christus-Glaubens darstellt, als Personifikation der Weisheit (1,30) propagiert. Damit versucht Paulus dem Konkurrenzkampf und ‚Prestigegerangelʻ in Korinth, die sich durch das Angeben und Prahlen (1,31; 3,21) auszeichnen, zu unterbinden, vgl. a.a.O. 213 f.  Diese Gruppe ist nicht identisch mit der des ἡμῖν in 1,18, wo in bekennender Weise sich der Apostel mit den Korinthern im Gegenüber zu den Nicht-Christusgläubigen zusammenschließt.  Vgl. Dick, Plural 139. Wohl von einem schriftstellerischen Plural geht Zeller, Brief 111 aus.

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renden Bekenntnisses,⁶² eines Paulus und seine Mitarbeiter umfassenden Plurals,⁶³ einer Einbeziehung aller Verkündiger⁶⁴ oder schließlich einer Gegenpositionierung gegen Juden und Griechen (v.22)⁶⁵. Gewichtige Gründe sprechen dafür, in dem Wir in 1,23 alle Verkündiger mitgemeint zu sehen. Tatsächlich fällt die Betonung durch das ἡμεῖς gerade im Zusammenhang mit den zuvor genannten ethnischen Gruppen der Juden und Heiden auf.⁶⁶ Jedoch muss auch die Textstruktur beachtet werden: v.22– 23 entsprechen ihrem Aufbau nach v.21, insofern auf einen durch ἐπειδή eingeleiteten Bedingungssatz ein Hauptsatz folgt, der die Verkündigung (v.21: διὰ τῆς μωρίας τοῦ κηρύγματος; v.23: κηρύσσομεν) thematisiert. Die Nennung von Juden und Griechen in v.22 stellt bloß eine Konkretisierung des κόσμος in v.21a dar, wie gleichermaßen die Verkündigung durch v.23 dem Inhalt nach (Χριστὸν ἐσταυρωμένον) präzisiert wird. Das Verkündigen an sich – als ein zur Rettung der Gläubigen (v.21b) notwendig gehörendes Geschehen – erscheint dabei als ein von Gott angeordneter Akt (v.21: εὐδόκησεν).⁶⁷ Anordnungen verlangen aber einen sie ausführenden Empfänger. Insofern liegt es nahe, unter den ἡμεῖς beamtete Empfänger, also Apostel und Missionare zu verstehen und nicht allgemein die Christusgläubigen.⁶⁸ Dies wird dadurch noch plausibler, dass in v.21b die zu rettenden Gläubigen im Gegenüber zur Verkündigung (also implizit zu den Verkündigern) erscheinen. Es besteht also  Vgl. Conzelmann, Brief 67; Merklein, Brief I 188.  Schrage, Brief I 148 gibt an, dies wäre die Mehrheitsmeinung, führt dafür aber keinen Beleg an. Dabei gibt es sie im paganen Bereich. So spricht z. B. Epikur in seinen Briefen in der ersten Person Plural, wo es entweder um Lehrinhalte geht („wir lehren“) oder wo es um allgemein menschliche Beispiele geht („wir erfahren dies und das“). Dabei erscheint Epikur selbst als alleiniger Absender im Briefkopf und schreibt von sich nur in der ersten Person Singular, wenn er sich direkt an seinen Adressaten wendet, vgl. Brief an Herodot 35.83.  Vgl. Dick, Plural 140.  Vgl. Wolff, Brief 40.  Hieraus bereits die Lehre eines religiösen tertium genus zu postulieren, vgl. etwa Kammler, Kreuz 117 f oder auch Wolff, Brief 40, der von einer „neue[n] Gruppe in der Menschheit“ spricht, erscheint gerade angesichts des paulinischen Ringens um die Anerkennung des Christusglaubens in seiner Volksgruppe als etwas dem jüdischen Glauben Inhärentes (Röm 9 – 11) unangemessen und verfehlt. Der Christusglaube in seiner paulinischen Ausformung will ja gerade die ethnischen als religiöse Grenzen überschreiten und aufheben (Gal 3,28). Insofern muss das αὐτοῖς δὲ τοῖς κλητοῖς in 1Kor 1,24 mit „ihnen aber als Berufenen“ übersetzt werden, vgl. F. Voss, Das Wort vom Kreuz und die menschliche Vernunft. Eine Untersuchung zur Soteriologie des 1. Korintherbriefes (FRLANT 199), Göttingen 2002, 93.  Das εὐδόκησεν meint nicht nur ein ‚Für-Gut-Befindenʻ, sondern hat in Bezug auf Gott als Herrn der Welt anordnenden Charakter.  Auch der paulinische Sprachgebrauch von κηρύσσειν scheint dahin zu weisen, es als eine originär apostolisch-missionarische Aufgabe zu verstehen (Röm 10,15; 1Kor 9,27; 15,11; Gal 2,2; 5,11; 1Th 2,9)

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nicht eine Gegenüberstellung von ἡμεῖς zu Juden und Griechen (v.22), sondern zu den Berufenen aus Juden und Griechen (v.24). Es liegt somit eine Gegenüberstellung innerhalb der christusgläubigen Gemeinschaft vor. Eine weitere Eingrenzung lässt sich vornehmen durch die Nennung von Apollos und Kephas in 1,12. Nach dem Zeugnis von Gal 2,7 f haben sich Kephas und Paulus auf eine Teilung der missionarischen Zielgruppe verständigt: Petrus zu den Beschnittenen, Paulus zu den Völkern. Beide Gruppen sind in 1Kor 1,23 erwähnt.⁶⁹ Die Juden entsprechen dabei nicht der eigentlichen Zielgruppe der paulinischen Verkündigung. Daher legt es sich nahe, dass Kephas dann hier mitgemeint und in das Wir in κηρύσσομεν einzuschließen ist. Dann aber wird auch Apollos als dritter, ausdrücklich benannter Verkündiger in das ἡμεῖς einzufassen sein,⁷⁰ wie schließlich überhaupt alle mit der Verkündigung Beauftragten. Das schließt auch die Mitarbeiter des Paulus bzw. seine Schüler⁷¹ ein.⁷² Nachdem Paulus also die allgemeine und von allen Verkündigern vertretene und propagierte Heilsbotschaft der weltlichen Weisheit gegenübergestellt hat, bezieht er in 1,26 – 31 diese Sicht des Kreuzes auf die korinthische Gemeinde. Er verweist die Korinther darauf, dass sie sich mehrheitlich nicht aus Weisen, Mächtigen und Wohlgeborenen rekrutieren (v.26).Vielmehr habe Gott das Törichte (τὰ μωρά), Schwache (τὰ ἀσθενῆ) und Geringgeschätzte bzw. Nicht-Seiende erwählt, um die Weisen und Starken zu beschämen und das Seiende zu vernichten (v.27 f). Gott stellt in seinem Handeln also die gültige Weltordnung zugunsten der

 In 1Kor 1,22 werden die Heiden wohl in kultureller Hinsicht wegen ihrem allgemein bekannten Streben nach Weisheit als Griechen benannt. Dieser Gedanke wird in 1,24 gegenüber der Vorstellung von Christus als Gottes Weisheit wieder aufgegriffen.  Apg 18,24 berichtet, dass Apollos alexandrinischer Jude gewesen ist. Da Paulus sich in 1Kor nicht gegen seine Lehre richtet, sondern vielmehr seine Einheit mit ihm bekräftigt (4,8), ist anzunehmen, dass Apollos sich entweder an das paulinische Evangelium (vermittelt durch die Paulus-Freunde Priska und Aquila Apg 18,26) gehalten hat, oder dass er sich mit seiner Predigt an die Juden in Korinth als seine Volksgenossen hielt und so Paulus nicht in die Quere kam (dann aber mit einem liberalen Thora-Verständnis, das den Umgang mit Heiden erlaubte und überhaupt den Zusammenschluss aller Christusgläubigen unterstützte).Wie auch immer es gewesen sein mag, in 1Kor bemüht sich Paulus, Apollos und sich selbst auf derselben Seite stehend darzustellen.  Zur These, dass Paulus Oberhaupt einer Schule war, vgl. Conzelmann, „Paulus“ 233 f. Diese These könnte auch erklären, warum es in Korinth zu den verschiedenen Gruppenbildungen kam: Die korinthischen Gläubigen scharten sich um ihre verschiedenen Schuloberhäupter und erhoben sie gleichsam zu Idolen.  Das ἡμῖν in 1,30 kann zweierlei gedeutet werden: entweder als ein in Analogie zu 1,18 die Korinther einschließendes ‚unsʻ (vgl. Zeller, Brief 120; Wolff, Brief 45) oder als eine Fortführung des Verkündiger-‚Wirʻ in 1,23. Bei der zweiten Annahme erscheinen Paulus und seine Mitverkünder als Lehrer, denen im Gegensatz zu den Korinthern Jesus Christus bereits die vollkommene Weisheit geworden ist (dann auch 2,6; 3,1 f).

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Marginalisierten auf den Kopf. Er tut dies, „damit kein Lebewesen im Angesicht Gottes Stolz zeige“ (v.29).⁷³ Stolzsein oder Prahlen auf Kosten anderer entspricht nicht dem göttlichen Wesen, kann also auch nicht für die Korinther gelten, da sie mit ihrer Eingliederung in den Gesalbten Jesus (ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ) ihre Herkunft aus Gott selbst zeigten (v.30a). Stolz zu sein sei nur angebracht, wenn dies auf den Herrn und dessen Handeln bezogen bleibt, worauf Paulus mit einem Zitat aus Jer 9,22 fLXX hinweist. Der Passus über das Wort vom Kreuz (v.18 – 31) ist nicht bloß deshalb so ausführlich gehalten, weil Paulus damit durch seine (Theo‐)Logik die Begründung für Streitereien unter den Korinthern aushebeln möchte. Allein diesem Gedankengang zufolge bleibt für weltliche Logik und ihre natürlichen Streitereien um den höchsten Rang in einer Gemeinde, die sich auf den gekreuzigten Messias beruft, kein Platz mehr. Mehr noch ist dieser Passus so eindringlich, weil er ja die dem Apostel anvertraute Heilsbotschaft selbst in sich trägt: dass der Gesalbte Gottes am Kreuz gestorben ist, weil Gott durch die Verkündigung dieser offensichtlichen Torheit die Gläubigen retten wollte. Gerade diese Botschaft war es ja, die die Korinther überhaupt zum Christusglauben geführt hat und nach wie vor als Einheit zusammenhält.⁷⁴ Somit versucht Paulus die Bildung von Gruppen auszuhebeln, indem er zwar von sich und den anderen Gruppenidolen weg und hin auf das Wort vom Kreuz verweist. Im weiteren Verlauf des Abschnitts 1,18 – 2,5 macht er aber auch klar: Das Wort vom Kreuz und damit die Basis des Christusglaubens kann in Korinth nicht vom Verkündiger dieses Wortes getrennt werden. Beide sind für diese Gemeinschaft identitätsstiftend. Dies verdeutlicht der abschließende Passus 2,1– 5, der die „narrative of origin“⁷⁵ der korinthischen Glaubensgemeinschaft bringt.

2.3.2 1Kor 2,1 – 5: Paulus selbst in Korinth (Rückblick I) 2,1 beginnt mit einem κἀγώ in Anfangsstellung. Paulus berichtet über seinen ersten Aufenthalt in Korinth, als er die ersten Menschen dort von seinem Glauben überzeugte. Grammatikalisch nimmt er mit dem anfangsbetonten κἀγώ einen Rückbezug auf 1,17. Dort hatte er davon gesprochen, von Christus abgesandt worden zu sein, um die Frohbotschaft zu verkünden – jedoch mit der Ein-

 Es geht in 1Kor 1,29 nicht um ein Selbst-Rühmen und Angeben vor Gott, sondern das Prahlen bezieht sich auf einen zwischenmenschlichen Wettstreit, vgl. Wilk, „Ruhm“ 60 f.  Ähnlich Wanamaker, „Rhetoric“ 125 f. Wanamaker sieht einen Schwerpunkt in der paulinischen Heilsbotschaft darin, dass sie in ihrer Umsetzung für die Korinther gegenüber der Umwelt als ‚identity markerʻ funktioniert.  Wanamaker, „Rhetoric“ 126.

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schränkung, dies nicht in der Weisheit des Wortes zu tun (ἀπέστειλεν με Χριστὸς … εὐαγγελίζεσθαι οὐκ ἐν σοφίᾳ λόγου). Nun berichtet er über sein Kommen nach Korinth (2,1: ἐλθών/ἦλθον). ‚Anlassgeberʻ⁷⁶ für das κἀγώ ἐλθών/ἦλθον in 2,1 (sowie für das synonyme κἀγὼ ἐγενόμην in 2,3) ist demnach das ἀπέστειλεν in 1,17. Entsprechend dieser von Christus erteilten Entsendung (deren Charakter in 1,18 – 31 entfaltet wurde) kam Paulus nach Korinth, um nicht im Übermaß des Wortes oder der Weisheit zu verkündigen (οὐ καθ’ ὑπεροχὴν λόγου ἢ σοφίας καταγγέλλων). Das ‚Ichʻ in 2,1 ist auch deswegen betont, da zuvor Paulus aus der Gruppe aller Verkündiger heraus in der ersten Person Plural gesprochen hatte (1,23).⁷⁷ Nun spricht Paulus also nach 1,10 – 17 erneut von sich im Singular und erinnert die Korinther zunächst daran, dass ‚auch erʻ nicht „im Übermaß des Wortes oder der Weisheit“ das Zeugnis⁷⁸ Gottes verbreitet habe (v.1).⁷⁹ Dies sei im Einklang mit seinem Entschluss, in Korinth nur den Gesalbten Jesus und zwar als Gekreuzigten zu kennen (v.2), geschehen.

Exkurs1: μυστήριον oder μαρτύριον in 2,1? Ob in 2,1 μυστήριον oder μαρτύριον zu lesen ist, kann auf der Basis der Textzeugengüte allein nicht entschieden werden.⁸⁰ Wenn also die Entscheidung über die ursprüngliche Lesart nicht in einem Mysterium enden soll, muss hier nun ein Martyrium auf der Suche nach den besten Argumenten erfolgen. Das gesuchte Wort steht im Zusammenhang mit dem Verkündigen (καταγγέλλειν) durch den Apostel und ist präzisiert durch den Genitiv τοῦ θεοῦ. Beide Angaben helfen für das rechte Verständnis allerdings zunächst nicht weiter, da καταγγέλλειν zu beiden textlichen Möglichkeiten passt⁸¹ und das Genitivattribut in vielerlei Weise verständlich ist. Alle Übersetzungsvarianten ergeben Sinn: Falls

 S.o. Kapitel 5, 4.  Das ‚Unsʻ in 1,30 ist hingegen mehrdeutig (s.o.).  Vgl. dazu den folgenden Exkurs.  Meyer, Handbuch 34 bezieht 2,1 direkt auf das Verbot zu Prahlen 1,31. Das erscheint etwas zu kurz gesprungen, bezieht Paulus sich doch mit ‚Rede oder Weisheitʻ auf das Thema von 1,17, das dann in v.18 – 31 entfaltet wird – und damit auch, aber nicht nur auf die Mahnung 1,31.  μυστήριον bieten u. a. P46 (aber unsicher), ‫*א‬, A, C, hingegen μαρτύριον ‫א‬2, B, D, F, G, M; zur vollständigen Auflistung der Zeugen vgl. Zeller, Brief 122 Anm. 233. Resigniert zeigt sich Conzelmann, Brief 74 Anm. 5: „Eine Entscheidung ist nicht möglich.“, plädiert dann aber doch für ‚Zeugnisʻ (ebd.).  καταγγέλλειν kann bei Paulus viele Inhalte haben: Glaube (Röm 1,8), das Evangelium (1Kor 9,14), den Tod des Herrn (1Kor 11,26), Christus (Phil 1,17.18). Zeugnis und Geheimnis unterscheiden sich davon nicht wesentlich.

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Paulus ein Geheimnis verkündigt,⁸² könnte es ein bislang unbekanntes Geheimnis über Gott sein (genetivus obiectivus), wie es z. B. in 1,21 offenbart ist, oder aber ein Geheimnis, das Gott selbst hat (genetivus subiectivus bzw. auctoris),⁸³ wie etwa, dass sein Gesalbter der Gekreuzigte ist. Falls Paulus hingegen ein Zeugnis verkündigt,⁸⁴ könnte dies ebenso objektiv bestimmt sein,⁸⁵ wie wenn darin Gott als Schöpfer der Welt oder der Vater Jesu Christi bezeugt wird, wie subjektiv, wie wenn Gott selbst ein Zeugnis etwa über seinen Gesalbten oder seinen Apostel⁸⁶ ablegt, oder sogar auktorial,⁸⁷ wie wenn Gott Urheber des Zeugnisses ist. Für sich genommen ist jede Lesart verständlich. Nach der textkritischen Regel „lectio difficilor – lectio probabilior“ muss daher nun nach der für Paulus schwierigeren Lesart gesucht werden. Für sie ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, im Laufe des Überlieferungsprozesses an sein Denken angepasst worden zu sein. Christian Wolff bemerkt, dass μαρτύριον wegen seiner im Vergleich zu μυστήριον selteneren Verwendung bei Paulus (sechsmal) und der sonst fehlenden Verbindung mit θεοῦ in 1Kor 2,1 die lectio difficilior sei.⁸⁸ Doch ist fraglich, ob diese Behauptung so stimmt und die Rechnung wirklich aufgeht, wenn man nicht bloß Vokabeln zählt, sondern Wortfelder und die dahinter stehenden gedanklichen Vorstellungen untersucht. Dazu gehören dann stammverwandte Worte wie μάρτυς, μαρτυρία und μαρτυρεῖν und die Komposita συμμαρτυρεῖν, διαμαρτυρεῖσθαι und ψευδομάρτυς, die allesamt im corpus Paulinum vorkommen und die Funktion des Bezeugens in irgendeiner Weise benennen. Daraus ergibt sich – ohne Einrechnung von 1Kor 2,1 – ein Verhältnis von 34 Belegen (20 davon protopaulinisch⁸⁹) für das Wortfeld *μαρτυρ gegenüber 21 Belegen (7 davon protopaulinisch⁹⁰) für das Wortfeld *μυει. Dieser Befund spricht gegen die pauschale Behauptung der selteneren Verwendung.

 Vgl. Lietzmann, Korinther 10 f; Schrage, Brief I 226; Lindemann, Korintherbrief 54; Arzt-Grabner et al., Korinther 112 f (ohne Begründung); Fitzmeyer, Corinthians, 171 (ohne Begründung).  Vgl. Kammler, Kreuz 149 – 151.  Vgl. Voss, Wort 125, der zwar der objektiven Lesart des Genitivs den Vorzug gibt, die anderen aber an sich nicht ausschließt (ebd. Anm. 315).  Vgl. Bachmann, Brief 109; Klauck, Korintherbrief 29 f; Wolff, Brief 48.  Derart ist wohl Fascher, Brief 114 zu verstehen.  Vgl. Zeller, Brief 124.  Vgl. Wolff, Brief 48, dem sich Voss, Wort 125 anschließt.  Röm 1,9; 2Kor 1,23; 13,1; Phil 1,8; 1Th 2,5.10 (μάρτυς) +1Kor 1,6; 2Kor 1,12 (μαρτύριον) + Röm 3,21; 10,2; 1Kor 15,15; 2Kor 8,3; Gal 4,15; 5,3; 1Th 2,12 (μαρτυρεῖν) + Röm 2,15; 8,16; 9,1 (συμμαρτυρεῖν) + 1Kor 15,15 (ψευδομάρτυς) + 1Th 4,6 (διαμαρτυρεῖσθαι).  Phil 4,12 (μυεῖσθαι) + Röm 11,25; 1Kor 2,7; 4,1; 13,2; 14,2 ;15,51 (μυστήριον).

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Ebenfalls ist die Leugnung einer Verbindung mit θεοῦ (oder besser: θεός) für die *μαρτυρ-Belege nicht aufrechtzuerhalten. Tatsächlich gibt es etliche Berührungspunkte der beiden Wortgruppen. All diese Stellen anzuführen ist methodisch statthaft, da ja in 1Kor 2,1 die Art des Genitivs unklar ist, mithin also Gott dort ebenfalls als Zeuge oder Bezeugter gemeint sein kann. Aus der Sichtung ergibt sich eine Verbindung an insgesamt 7 Stellen – allesamt protopaulinisch –⁹¹, an denen in der Mehrheit (5 Stellen) Gott als Zeuge erscheint, was einer subjektiven Lesart des Genitivs in 2,1 entspricht. Daneben gibt es Orte (2 Stellen), an denen über Gott – gleichwohl etwas Falsches – bezeugt wird, was sich mit einem objektiven Verständnis des Genitivs in 2,1 deckt. Für Paulus ist also in diesem Wortfeld die Vorstellung eines Bezeugens Gottes relativ am seltensten. Von der exakten Wortwahl her ist μαρτύριον θεοῦ in 1Kor 2,1 sicherlich die lectio difficilior, jedoch nicht von der Wortfeldbeziehung. Dies zeigt bei Paulus die regelmäßige und häufige Verbindung von Zeugnis und Gott. Im Gegenteil: Nach den obigen Überlegungen müsste μυστήριον als selteneres Wort und Wortfeld sowohl in den Deuteropaulinen als auch bei Paulus – und hier noch viel seltener –⁹² der Vorzug zu geben sein. Jedoch ist gerade das innerbriefliche Verhältnis beider Wortfelder zu beachten. Und dort steht ‚Geheimnisʻ im Vergleich zu ‚Zeugnisʻ zahlenmäßig im Verhältnis 5:3 bzw., was die Reinform des Substantivs im Singular angeht, im Verhältnis 2:1.⁹³ Anders gesagt: Ein Brief, in dem häufig und an vielen verschiedenen Stellen und dann auch noch in direkter Nähe (2,7) innerhalb eines Gedankenkomplexes (1,10 – 4,21) das Wort μυστήριον erscheint, kann beim Leser – bzw. in diesem Fall noch viel wichtiger: beim Kopisten – eine gewisse Erwartungshaltung hervorrufen. Diese wird noch verstärkt durch das Vorkommen des christologisch gefüllten Syntagmas μυστήριον τοῦ θεοῦ in Kol 2,2 bzw. im Plural in 1Kor 4,1.⁹⁴ Von daher liegt es nahe, μαρτύριον als ursprüngliche Lesart anzunehmen, gerade weil es der Kopist nicht erwartete und daher für verfälscht hielt. Im Ergebnis entspricht

 Röm 1,9; 2Kor, 1,23; Phil 1,8; 1Th 2,5.10 (Gott als Zeuge) + 1Kor 15,15 (bezeugen wider Gott) + 1Kor 15,15 (Falschzeugen über Gott) [+ 1Kor 1,6 (Zeugnis Christi, aber Textvarianten: Gottes)].  Das Verhältnis innerhalb des Corpus Paulinum ist etwa 1:1,6, bei Paulus selbst etwa 1:2,9.  μυστήριον in 2,7; 4,1 (Pl.); 13,2 (Pl.); 14,2 (Pl.); 15,51; μαρτύριον in 1,6 und die stammverwandten Formen ψευδομάρτυρες und ἐμαρτυρήσαμεν in 15,15.  Kammler, Kreuz 149 – 151 folgt eben dieser christologischen Erwartungshaltung und plädiert für μυστήριον in 2,1, weil dies „aufs beste in den Kontext und den theologischen Argumentationszusammenhang“ (a.a.O. 149) passe: Jesus Christus als Zentrum des paulinischen Evangeliums kann nur als Geheimnis Gottes verkündet werden, da sich das Kreuzesgeschehen eben den Verstehenskategorien der Welt entziehe und nur durch das Geisteswirken auflösen lasse. Gerade solch einer einebnenden Logik will die Regel der ‚lectio difficiliorʻ entgegenstehen.

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dies Christian Wolffs Lösung; die Begründung ist jedoch anders gelagert.⁹⁵ [Ende des Exkurses] Paulus spricht in 1Kor 2,1 von der Verkündigung des Zeugnisses Gottes. Das Genitivattribut kann objektiv⁹⁶ oder auktorial verstanden werden. Es empfiehlt sich ein auktoriales Verständnis:⁹⁷ Gott ist der Urheber des verkündeten Zeugnisses. Damit macht Paulus die göttliche Herkunft seiner Botschaft stark, die sich nicht – auch nicht in ihrer Präsentationsform – der Welt einpassen lässt. Die Erinnerung an die Ursprünge der Gemeinde erfolgt in Übereinstimmung mit der in 1,18 – 25 ausgeführten Lehre vom Kreuz. Das erläuternde ἐσταυρωμένον in 2,2 bezieht sich direkt zurück auf 1,23, wo ja der gekreuzigte Gesalbte zum Inhalt der Heilsbotschaft aller Verkündiger erklärt worden war. Paulus stellt sich in 2,2 also in Kontinuität zur allgemeinen Verkündigung. Der Inhalt dieser Verkündigung liefert die Begründung (γάρ) für die Form des Handelns und Verhaltens in Korinth. Paulus stellt sich also auch in die Konformität der Verkündigung.⁹⁸ Deshalb setzt er mit dem betonten κἀγώ in 2,1 und 2,3 ein, das durchaus mit „entsprechend

 Auch die textkritisch unzweifelhafte Erwähnung von μαρτύριον im Proömium (1,6), in dem ja die zu behandelnden Themen bereits stichwortartig genannt werden, macht es mir wahrscheinlicher, dass μαρτύριον in 2,1 den ursprünglichen Text wiedergibt, die andere Lesart μυστήριον aber aus 2,7; 4,1 hier eingewandert ist. J. K. Elliott, „The Divine Names in the Corinthian Letters,“ in: Burke, T.J. / Elliott, J.K. (Hg.), Paul and the Corinthians. Studies on a Community in Conflict (Sup. NovT 109. FS M. Thrall), Leiden/ Boston 2003, 3 – 15 (11) spricht sich dafür aus, μαρτύριον τοῦ θεοῦ sowohl in 1,6 wie in 2,1 als die wahrscheinlich ursprüngliche Lesart anzunehmen. Dazu weist er nach, wie sorglos viele Abschreiber der paulinischen Briefe bei der Wiedergabe der nomina sacra gewesen sind, da sie schlichtweg als austauschbar angesehen wurden, vgl. a.a.O. 15.  Die weiteren *μαρτυρ -Stellen in 1Kor weisen ein objektives Verständnis ihrer Genitivattribute auf. In 1,6 gilt Christus die Bezeugung, die bei den Korinthern befestigt bzw. bekräftigt worden ist, vgl. Zeller, Brief 81. In 15,15 wird Gott (τοῦ θεοῦ) von den Falschzeugen eben nicht bezeugt. Zeller, a.a.O. 478 Anm. 135 hält die Möglichkeit offen, ob es hier neben dem objektiven auch ein auktoriales Verständnis gibt. Der durchweg negative Gebrauch von *ψευδ-Komposita bei Paulus scheint mir die zweite Möglichkeit deutlich auszuschließen.  Bachmann, Brief 109: „Wird nämlich durch [den Ausdruck μαρτύριον] der persönliche Anteil des Übermittlers hervorgehoben […], so zugleich der autoritative und unabänderliche Inhalt, der nicht zu ersinnen und nicht auszuschmücken oder zu begründen, sondern einfach zu verkündigen ist“. Zeller, Brief 124 votiert ebenfalls für ein auktoriales Verständnis.  Dies ist nicht zu verwechseln mit einer Konformität der Verkündiger. Apollos war wahrscheinlich viel eloquenter als Paulus. Doch dagegen wendet er sich konkret gar nicht: Vielmehr gibt das Evangelium durch seinen Inhalt die Widerständigkeit gegenüber philosophischer Weisheit und rhetorischer Kunstfertigkeit vor, die selbst ein großer Redner nie wird überwinden können.

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ich“ übersetzt werden sollte:⁹⁹ Er ist lebendiges Beispiel für die apostolische Verkündigungsweise. Dem entspricht die Aussage in 2,1, er habe die Botschaft nicht „im Übermaß des Wortes oder der Weisheit“ ausgegeben. Zum einen greift er damit auf 1,17 zurück, wo er für seine individuelle Verkündigung eine rhetorische Kunstfertigkeit ausschloss.¹⁰⁰ Zum anderen verdeutlicht er, dass er bei der ersten Verkündigung in Korinth mit der weltlichen Weisheit (1,20 f.22) nichts zu schaffen hatte.¹⁰¹ Paulus fährt in 2,3 mit der Ursprungslegende fort, dass er ‚entsprechendʻ seiner Entsendung durch den gekreuzigten Christus (κἀγώ)¹⁰² in Schwäche zu ihnen kam, und erweitert seine Selbstdarstellung noch durch den Ausdruck ‚Furcht und Zitternʻ. Die Erwähnung der eigenen Schwäche (2,3: ἐν ἀσθενείᾳ) rekurriert natürlich auf das Schwache (τὰ ἀσθενῆ) der Welt, das von Gott erwählt ist (1,27). Paulus solidarisiert sich dadurch mit der Mehrheit der korinthischen Gemeinde, die nicht aus „vielen Mächtigen“, also Schwachen, bestehe (1,26).¹⁰³ Dabei bleibt offen, ob er sich unter Berufung auf die eigene Schwäche auch zum Kreis der sozial Marginalisierten zählt oder ob er damit auf eine andere Schwäche, z. B. eine Krankheit, anspielt. Indem Paulus zuvor aber das Schwache bei Gott mit dem Törichten bei Gott gleichgesetzt hat (1,25), das Törichte bzw. die Torheit aber der Heilsbotschaft des gekreuzigten Gesalbten entspricht, verweist Paulus mit der Erwähnung der eigenen Schwäche auf eine Konformität seines Lebens mit der ihm anvertrauten Botschaft. In Paulus entsprechen sich sozusagen Form und Inhalt des Evangeliums. Dies wird auch deutlich durch die zum „in Schwäche“ parallel gesetzte Formulierung „in viel Furcht und Zittern“ (2,3: ἐν φόβῳ καὶ ἐν τρόμῳ πολλῷ).¹⁰⁴

 S.o. Kapitel 5,4.  Das oὐ καθ’ ὑπεροχὴν λόγου […] καταγγέλλων in 2,1 entspricht dem εὐαγγελίζεσθαι οὐκ ἐν σοφίᾳ λόγου in 1,17.  Das oὐ καθ’ ὑπεροχὴν […] σοφίας in 2,1 entspricht der Ablehnung der weltlichen Weisheit in 1,20 f.  Meyer, Handbuch 36 sieht das κἀγώ im Zusammenhang mit 2,4 und übersetzt: „Sowohl (καί) ich (meine Person) war in Schwachheit u. s. w. bei euch, als auch meine Rede und meine Verkündigung u. s. w.“ [Kursivierung im Zitat] Allerdings weist doch der parallele Aufbau von 2,1 zu 2,3 dahin, das zweite κἀγώ analog zum ersten zu verstehen. Die Übersetzung ‚bei euch seinʻ muss nach Arzt-Grabner et al., Korinther 117 f aufgrund des papyrologischen Befundes korrigiert werden in ‚zu euch gelangenʻ.  Die Trias in 1,26 Weise – Mächtige – Wohlgeborene entspricht der Trias in den Folgesätzen 1,27 f Weise – Starkes – Geringgeschätztes/Nicht-Seiendes. δυνατός und ἰσχυρός sind also Wechselbegriffe gegenüber ἀσθενής.  Das nachfolgende πολλῷ bezieht sich auf die gesamte Wendung, vgl. Kammler, Kreuz 161, und verstärkt sie insgesamt noch.

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Exkurs 2: Zur Bedeutung der Wortverbindung φόβος καὶ τρόμος Die Wortverbindung φόβος καὶ τρόμος ist im Sprachgebrauch der LXX vorgebildet und findet sich dort an den Stellen Gen 9,2; Ex 15,16; Dtn 2,25; 11,25; Jdt 2,28; 15,2; 4Mcc 4,10; Ps 54,6; Jes 19,16, zudem in gesperrter Form in Ps 2,11.¹⁰⁵ Es bezieht sich meist auf den seelischen Zustand angesichts einer konkreten und unausweichlichen Bedrohung, mitunter durch JHWH selbst, und soll laut Günther Wanke am besten mit ‚Entsetzen‘ wiederzugeben sein.¹⁰⁶ Diese Übersetzung ist jedoch nicht zu generalisieren. Die Phrase stellt sprachgeschichtlich ursprünglich ja kein festes Hendiadyoin dar, wie ein Blick in die vielfältigen hebräischen Varianten offenbart.¹⁰⁷ Das Sprachmoment beider Bestandteile des Doppelausdrucks bleibt auch in der griechischen Übertragung konkret bestehen: zum einen das Moment der Furcht und des Ehr-Fürchtens, zum anderen das des Erbebens oder Erschauerns. Daher muss der Kontext, in dem die Phrase steht, stets beachtet werden. Tatsächlich bezieht sich das Wortpaar in der LXX nie auf das Verhältnis von Gläubigen zu Gott.¹⁰⁸ Stattdessen beschreibt das Wortpaar zumeist das Verhältnis

 Die Stelle Ps 2,11 fehlt sowohl bei G. Wanke, „φοβέω κτλ. B.,“ in: ThWNT 9 (1973), 194– 201 (195), als auch in der Liste bei S. Pedersen, „‚Mit Furcht und Zittern‘ (Phil 2,12– 13),“ in: StTh 32 (1978), 1– 31 (11– 13). Sie wird in den eingesehenen Kommentaren nur von Meyer, Handbuch 36 (und damit auch dessen Nachfolger und Bearbeiter Heinrici, Brief 60) benannt. Sie ist insofern nicht unwichtig, da in Ps 2,11 ähnlich wie in 1Kor 2,3 die Phrase im Dativ mit Präposition ἐν erscheint, allerdings durch einen synonymen parallelismus membrorum gesperrt: ἐν φόβῳ […] ἐν τρόμῳ. Außerdem gibt es noch Bibelstellen, die auf das Wortpaar wahrscheinlich anspielen: Hi 4,13 f; Dan 4,37aLXX; 5,19Θ.  Vgl. Wanke, „φοβέω“ 195.  Vgl. Wanke, „φοβέω“ 195.  Vgl. O. Glombitza, „Mit Furcht und Zittern. Zum Verständnis von Philip. II 12,“ in: NT 3 (1959), 100 – 106 (102). Die o.g. nachfolgende Differenzierung speist sich aus der Erkenntnis Glombitzas ebd: „[A]us allen diesen Stellen geht hervor, dass es sich um das Verhalten vor Menschen als Leistung für sie oder von Menschen, die Israels Feinde sind, als Wirkung Gottes handelt“. Glombitza führt dazu die Stellen an, die Lohmeyer in seinem Phil-Kommentar auflistet: Ex 15,16; Dtn 2,25; 11,25; Jud 2,28; 15,2; Ps 54,6LXX; Jes 19,16; 4Mkk 4,10, vgl. E. Lohmeyer, Die Briefe an die Philipper, an die Kolosser und an Philemon (KEK 9), Göttingen 111956, 102. Die Hauptthese seines Aufsatzes, dass in 2,12 das μή zu κατεργάξεσθε gezogen werden muss,vgl. Glombitza a.a.O. 103, die Philipper also nicht mit Furcht und Zittern ihre Seligkeit bewirken sollen, ist inhaltlich wie grammatikalisch hingegen problematisch. – Pedersen, „Furcht“ 13 f sieht in der Formel stets einen kriegerischen Hintergrund gewahrt und unterteilt die Stellen unter Heranziehung des hebräischen Textes in vier Kategorien: a) Verhältnis Mensch-Tier (Gen 9,2), b) Tradition des Heiligen Krieges (Ex 15,16; Dtn 2,25; 11,25; Jes 19,16 + Jos 2,9), c) direkte Kriegsschilderung (Jdt 2,28; 15,2; 4Mcc 4,10 + 1QpHab 3,4 f; 4,7 f), d) individueller Gebrauch (Ps 55,6 + 1QS 1,16 f; 10,15 f). Es ist zwar lehrreich, dass Pedersen bis auf die hebräische Grundlage zurückgeht, er gelangt damit aber in die Aporie, dass es dort allerorten um Krieg geht (die qumranischen Belege stammen sprachlich wohl allesamt von Ex 15,16 ab). Das aber passt nicht zum Befund bei Paulus (auch wenn Pedersen a.a.O. 14 f

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von Nicht-Israeliten zu Israel oder seinem Gott; dies gilt für Ex 15,16; Dtn 2,25; Jdt15,2; 4Mcc 4,10; Ps 2,11; Jes 19,16.¹⁰⁹ In diesem Fall bezieht sich die Phrase auf die Wirkung, die der Gott Israels auf die Ungläubigen hat. Diese Wirkung changiert zwischen Erschauern und Ehrfurcht, wobei der Aspekt des Erschauerns im Sinne eines Entsetzens überwiegt. Nur in Ps 2,11 liegt der Schwerpunkt auf einer durch Reflexion gewonnenen Ehrfurcht gegenüber Gott.¹¹⁰ Des Weiteren kann in der LXX die Wortverbindung für das Verhältnis zwischen zwei Parteien gebraucht werden, in der die eine der anderen unterlegen ist – unabhängig vom Glauben bzw. Unglauben der einen Partei. In diesem Fall stehen die Aspekte der Unterordnung sowie des anerkennenden Respekts und der Ehrfurcht im Vordergrund; das Entsetzen tritt in den Hintergrund. In diese Kategorie fallen von den genannten Stellen Gen 9,2 (Tierwelt gegenüber Mensch); Ps 54,6 (Beter gegenüber Gottlosen); Jdt 2,28 (Einwohner gegenüber Holofernes).¹¹¹ Das Wortpaar stellt bei Paulus bzw. seiner Schule selbst eine feste Redewendung dar (2Kor 7,15; Phil 2,12; Eph 6,5).¹¹² Ausgehend vom LXX-Befund ist es wichtig zu betonen, dass an keiner (deutero‐)paulinischen Belegstelle die Wendung irgendwelche Ungläubigen prädiziert; stets wird „Furcht und Zittern“ von

für Phil das Gegenteil behauptet). Für unseren Zusammenhang muss untersucht werden, was ein womöglich aus dem paganen Bereich stammender Leser der LXX wie auch der Paulusbriefe unter der Formel verstanden haben wird. Insofern ist die Differenzierung auf der Grundlage Glombitzas weiterführender.  In dieselbe Kategorie fällt auch Dan 4,37aLXX.  Hier sollen nämlich die vom Beter angesprochenen Fremdherrscher im Zusammenhang mit ihrer erzieherischen Unterweisung (v.12: παιδεία) ihre Ehrfurcht gegenüber Gott zeigen. Ps 2 wurde bereits früh von den Christusgläubigen rezipiert und als Weissagung auf Jesus Christus gedeutet (vgl. Apg 2,45 f; 13,33; Hebr 1,5; 5,5).Vielleicht liegt mit Ps 2 ein literarisches Zwischenstück vor, das den gegenüber der LXX veränderten, paulinischen Gebrauch des Wortpaars φόβος καὶ τρόμος erklärt.  Hierunter wären auch Hi 4,13 f (Eliphas wahrscheinlich gegenüber dem Satan) und Dan 5,19Θ (alle Völker gegenüber Nebukadnezar) einzuordnen.  Dort allerdings stets in der Form μετὰ φόβου καὶ τρόμου. Nach der LXX ist die jeweilige Präposition aber irrelevant, wie an Jes 19,16 und Ps 2,11 im Vergleich zu den anderen Stellen ersichtlich ist; wichtig ist allein das Wortpaar. Dies gilt auch für 1Kor 2,3 im Vergleich zu den anderen Belegstellen im NT. Im NT taucht die Wendung in Mk 5,33 als Verbalform φοβηθεῖσα καὶ τρέμουσα auf: Die blutflüssige Frau fürchtet sich und zittert, nachdem sie aufgrund ihres Übergriffs auf Jesus geheilt worden ist. Über ihre Religion und damit ihr Verhältnis zum Gott Israel und dessen Messias Jesus wird der Leser im Unklaren gelassen: Zwar hat sie ein unbestimmtes Vertrauen in Jesus (v.28), jedoch wohl nicht mehr als in die vielen Ärzte vor ihm (v.26). Sie kann somit als Nicht-Gläubige gegenüber dem Gott Israels gelten. Erst nach der Heilung attestiert Jesus ihr, Glauben (gehabt) zu haben (v.34). Das Fürchten und Zittern der Frau liegt also ganz auf der in der LXX vorgezeichneten Linie, wenn Nicht-Israeliten die wunderbare Kraft Gottes erfahren.

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Gläubigen, nämlich den Adressaten des jeweiligen Briefes, ausgesagt. Dies gibt Grund zu der Annahme, dass das Wortpaar φόβος καὶ τρόμος bei Paulus gegenüber dem vorherrschenden Sinn ‚Entsetzen von Nicht-Israelitenʻ eine andere, aber bereits in der LXX, ja im Wortpaar selber angelegte Nuancierung erfahren hat.¹¹³ Es bezieht sich nunmehr primär auf ein zwischenmenschliches Geschehen von Gläubigen und ist zusammenfassend wohl als ‚ehrfürchtiger Respektʻ wiederzugeben.¹¹⁴ Darüber hinaus ist es auffällig, dass die drei Belegstellen 2Kor 7,15; Phil 2,12; Eph 6,5 einen Zusammenhang mit dem Gehorsam bzw. dem ‚auf jemanden oder etwas Hörenʻ¹¹⁵ (ὑπακοή/ ὑπακούειν) herstellen. Hierbei ist freilich nicht deutlich, wem gegenüber dieser Gehorsam gilt – einem Menschen oder Gott. 2Kor 7,15 kann als Dank für den Gehorsam gegenüber Titus bzw. Paulus,¹¹⁶ jedoch auch gegenüber Gott verstanden werden. Gerade der einzig andere Beleg für den Gehorsam in 2Kor 2,9 scheint ja eben nicht den Apostel zum Objekt zu haben, sondern vielmehr Gott, wie die Nennung des Satans als seines Gegenparts in 2,11 zeigt: Der Satan kann niemanden übervorteilen, der vergibt. Das Vergeben gilt aber für Paulus und die Korinther gleichermaßen (2,10). Insofern liegt hier kein Verhältnis der Unterordnung zwischen Gemeinde und Apostel vor, sondern zwischen Gott/Christus (2,10) und Gemeinde samt Apostel. Auch in Phil 2,12 besteht eine Unklarheit über das Objekt des philippischen Gehorsams, da es nicht benannt ist: Gilt er Paulus¹¹⁷ oder – in der Nachahmung des Handelns Jesu (2,8) – Gott¹¹⁸? Für das erste spricht die Betonung der An- und Abwesenheit des Apostels in Verbindung mit dem Gehorsam, für das zweite der sprachliche Rekurs auf das Gehorchen, durch welches sich Jesus in besonderer

 Vgl. Pedersen, „Furcht“ 20, der herausarbeitet, dass „die Formel „mit Furcht und Zittern“ in Wirklichkeit nur ein anderer Ausdruck für „gehorsam sein“ bzw. „sich in Schwachheit verhalten“ gegenüber dem Willen Gottes ist, so wie dieser „Gehorsam“ und diese „Schwachheit“ durch Leben und Tod Christi demonstriert worden sind.“  Es ist bemerkenswert, dass Arzt-Grabner et al., Korinther 116 f vom papyrologischen Befund her ebenfalls auf die Bedeutung ‚Ehrfurcht/Respektʻ (allerdings nur für φόβος) schließen. Ihre abschließende kontextuelle Deutung auf die ‚Angstʻ des Paulus leiten sie dann aber von der Erwähnung der ἀσθένεια her (117).  Vgl. P. Ewald, Die Briefe des Paulus an die Epheser, Kolosser und Philemon, 283.  Vgl. Wolff, Brief II 161.  Vgl. Ewald, Brief 119: Der Gehorsam gebühre Paulus, insofern er als Apostel Mittler der göttlichen Gebote ist. In Phil 2,8 gehe es um „ein Gehorsamsein gegenüber göttlicher Führung“, in 2,12 um „das Gehorchen gegenüber göttlichen Geboten, die in Form apostolischer Mahnungen an die Leser gekommen waren“.  Obgleich der Gehorsam Jesu wohl auf Gott zielt, fällt doch die Objektlosigkeit des Gehorsams in 2,8 auf.

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Weise auszeichnete und das ihm die Erhöhung durch Gott einbrachte (2,9); dem entspräche das Heil, das die Philipper für sich selbst erwerben bzw. bewirken sollen. Allein Eph 6,5 scheint klar zu sein, da der Gehorsam der Sklaven gegenüber ihren Herren deutlich benannt ist. Jedoch wird mit dem nachfolgenden ὡς τῷ Χριστῷ eine zweite Gehorsamsebene postuliert, die über die erste Ebene hinausweist und ihr vorgeordnet ist: Es besteht bereits ein Gehorsam gegenüber Christus, dem der Gehorsam gegenüber den Herren nachgebildet wird. Damit ist die Priorität des Gehorsams klar: erst Christus, dann Menschen. Jedoch ist Eph aller Wahrscheinlichkeit nachpaulinisch. Es kann also mit dieser Gehorsamsvorstellung eine Idee vorliegen, die für Paulus selbst nicht gilt.¹¹⁹ Aus den behandelten Stellen allein kann also nicht erschlossen werden, wem gegenüber die ὑπακοή gilt. Daher müssen zur Beantwortung dieser Frage andere Stellen aus den Protopaulinen herangezogen werden. Außer den bereits behandelten Stellen tauchen Gehorsam und Gehorchen bei Paulus nur in 2Kor 10,5.6, Phlm 21 und Röm 1,5; 5,19; 6,12.16(tres).17; 10,16; 15,18; 16,19.26 auf. In 2Kor 10,5 bezieht sich der Gehorsam eindeutig auf Christus (genetivus obiectivus), was dann auch für v.6 gelten wird.¹²⁰ Phlm 21 erwähnt den Gehorsam Philemons, auf den Paulus vertraut. Dass es hier jedoch um einen Gehorsam gegenüber dem Apostel geht,¹²¹ erscheint angesichts v.8 – 10 unwahrscheinlich: Paulus befiehlt dem Philemon ja gerade nicht, sondern ermuntert ihn vielmehr (v.9: μᾶλλον παρακαλῶ) betreffs Onesimus. Ebenfalls heißt es in v.21, dass Paulus weiß, dass Philemon über die Bitte des Paulus hinaus (ὑπὲρ ἃ λέγω) handeln wird. Mit Gehorsam im Sinne, dass jemand einen Befehl genau befolgt, hat diese Überfüllung aber nichts mehr zu tun. Damit ist ein Gehorchen Philemons gegenüber Paulus – der sich zudem nicht als autoritärer Apostel darstellt, sondern als alter, gefangener Mann – dem Duktus und der Logik des Briefes folgend ausgeschlossen. Es geht hier stattdessen um den Gehorsam gegenüber Gott.

 Hier ist mit einer nachpaulinischen Entwicklung zu rechnen, in der die Sklaverei (wie etwa auch das Patriarchat) als gesellschaftliche Erscheinung nicht länger wie bei Paulus als gegeben hingenommen, sondern vielmehr noch gleichsam zementiert wurde. Das Perfide an der Gehorsamsforderung in Eph 6,5 ist, dass die Herren mit Christus gleichgestellt werden, ein Auflehnen gegen sie also einem Auflehnen gegen Christus gleichkäme.  Vgl. Bachmann, Brief II 341– 343. Wolff, Brief II 198 f versteht den Gehorsam sowohl auf Christus wie den Apostel bezogen. Von den Auswirkungen her gesehen ist das nicht falsch, da Paulus in 2Kor 10 – 13 die Gemeinde weg von den Überaposteln und hin zu sich und damit unter seine Weisungen führen will. Der Text selbst gibt diesen doppelten Gehorsam aber nicht her.  Vgl. Lohse, Briefe 286.

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Auch die Stellen im Röm weisen darauf hin, dass sich der Gehorsam auf übermenschliche Größen bezieht, nicht aber auf Menschen.¹²² Von daher lässt sich sagen, dass im absoluten Gebrauch des Wortes ὑπακοή bei Paulus stets die Bindung an Gott gemeint ist.¹²³ Absolut gebraucht bedeutet ὑπακοή/ ὑπακούειν Glaube.¹²⁴ Damit werden auch die Stellen 2Kor 7,15; Phil 2,12; Eph 6,5 den Gehorsam gegenüber Gott, aber nicht den Gehorsam gegenüber Paulus als Apostel aussagen. Der Vers Phil 2,12 aus dem Christus-Hymnus macht dabei deutlich, dass Jesus Christus selbst – gerade in seinem Leiden – das Vorbild dieses Gehorsams ist.¹²⁵ Die Verknüpfung von Gehorsam gegenüber Gott (ὑπακοή) und der Phrase μετὰ φόβου καὶ τρόμου in 2Kor 7,15; Phil 2,12; Eph 6,5 einerseits und die Verknüpfung von christologisch bestimmter Schwäche und der Wendung ἐν φόβῳ καὶ ἐν τρόμῳ in 1Kor 2,3 andererseits führt Sigfred Pedersen zu der Annahme, dass Gehorsam, Schwäche und die Wortkombination „Furcht und Zittern“ drei Redeweisen sind, die bei Paulus synonym gebraucht werden können und die „grundlegende christologisch bestimmte christliche Haltung“¹²⁶ beschreiben. Über Pedersen hinausgehend und etwas plakativ kann man also sagen, dass bei Paulus ὑπακοή die Beziehung zwischen Mensch und Gott beschreibt, das Wortpaar φόβος καὶ τρόμος die Beziehung zwischen Mensch und Mensch darstellt, und schließlich die Schwäche das Wesen der Christusgläubigen, darin aber auch die Nachbildung der Schwäche Christi am Kreuz ausmalt. Obgleich ἐν ἀσθενείᾳ und ἐν φόβῳ καὶ ἐν τρόμῳ in 1Kor 2,3 parallel zueinander gesetzt erscheinen, beschreiben beide Ausdrücke also jeweils etwas anderes und stellen kein ‚Hendiatreoinʻ dar.

 Im Röm erscheint ὑπακοή/ ὑπακούειν bezogen auf Gott (5,19), den Glauben (1,5; 16,26) bzw. dessen Lehrform (6,17), Begierden (6,12), die Sünde (6,16), das Evangelium(10,16). Die ὑπακοή in 15,18 (mit dem genetivus subiectivus ἐθνῶν) meint wie 16,19 den Glauben an Gott selbst.  Vgl. B. Schwank, „‚Gehorsam‘ im Neuen Testament,“ in: EuA 42 (1966), 469 – 476: „Das Wort ‚Gehorsamʻ deutet die Beziehung des Menschen zu Gott“ (470). [kursiv im Original] Schwanks weitere Gedanken, dass bei Paulus der Gehorsam als Haltung Gott mittelbar, anderen Christusgläubigen aber unmittelbar entgegengebracht werde (471), ist insofern zwangsläufig, da sich die Beziehung zu Gott ja in der Beziehung zu anderen Menschen äußert. Die gehorsame Haltung anderen Christgläubigen gegenüber darf aber nicht mit einem Gehorsam ihnen gegenüber verwechselt werden.  Vgl. Schwank, „Gehorsam“ 476: Gehorsam als Grundhaltung kann „weithin mit Glaube und Christsein gleichgesetzt werden.“ Umgekehrt gilt es natürlich auch: „Der Glaube ist Gehorsam […].Gehorsam ist nichts anderes als Gott glauben.“ (H. Conzelmann, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments. Bearbeitet von Andreas Lindemann (UTB 1446), Tübingen 61997, 190 – kursiv im Original).  Vgl. Schwank, „Gehorsam“ 476.  Pedersen, „Furcht“ 17. ‚Christlichʻ meint zu Paulus’ Zeiten christusgläubig.

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Auf wen bezogen gelten φόβος καὶ τρόμος des Paulus in 1Kor 2,3: auf Gott/ Christus oder auf die korinthische Gemeinde? Die Sichtung der LXX-Belege als auch der Belegstellen aus den anderen Briefen weist darauf hin, dass bei Paulus φόβος καὶ τρόμος auf andere Menschen bezogen ist. Somit bezieht sich Paulus mit ἐν φόβῳ καὶ ἐν τρόμῳ auf seine Haltung gegenüber den Korinthern.¹²⁷ Ihnen gegenüber legte er ein ehrfürchtiges Verhalten an den Tag. Anders als in den anderen Stellen in den Paulinen fehlt in 1Kor 2,1– 5 allerdings ein Verweis auf Glaubensgehorsam (ὑπακοή). Zum einen ist aber ein expliziter Hinweis darauf nicht notwendig. Zum anderen wird aus der Selbstbeschreibung und der Darstellung seiner Tätigkeit in Korinth (2,2.4) deutlich, dass Paulus in völliger Ausrichtung auf Gott und seinen Gesalbten wirkte.¹²⁸ [Ende des Exkurses] Die Haltung, die Paulus den Korinthern gegenüber während der Erstverkündigung einnahm, ist nach den Ergebnissen des obigen Exkurses von einem ehrfürchtigen Respekt ihnen gegenüber bestimmt. Diese ehrfurchtsvolle Haltung entspricht dem, was Paulus in Phil als ταπεινοφροσύνη (2,3) bzw. ταπείνωσις (3,21) bezeichnet. Es geht um ein demütiges Verhalten gegenüber den Geschwistern in Christus, das sich aus dem gehorsamen Verhalten Jesu gegenüber Gott (Phil 2,8!) speist bzw. diesem entspricht.¹²⁹ Gerade die Betonung des Kreuzes in 1Kor 1,18 – 31 spiegelt diesen Gedanken aus dem Hymnus Phil 2,5 – 11 wieder und verweist auf Jesus, den gekreuzigten Gesalbten, dessen demütiges Verhalten bis zum Äußersten den Gläubigen zum Vorbild gegeben ist. Auch aus dem weiteren Verlauf des 1Kor wird deutlich, dass Paulus an sich selbst ein Beispiel für die Korinther vorgibt, das im Dienen für den Bruder und die Schwester in Christus besteht (z. B. 3,22; 8,13) und damit dem Gesalbten selbst entspricht (11,1). Paulus hatte in den Anfängen der korinthischen Mission also weder Angst oder Unsicherheit,¹³⁰ noch war er durch eine Krankheit schwächlich und deshalb

 Vgl. Zeller, Brief 126 Anm. 241. Zeller münzt die Formel jedoch auf eine fehlende Selbstsicherheit des Paulus gegenüber den Korinthern.  Überhaupt ist der Glaube des Apostels die Voraussetzung für sein Wirken. Es wäre daher nachgerade absurd, müsste Paulus vor der Gemeinde betonen, dass er auf Gott hört. Für ihn ist das eine Selbstverständlichkeit.  Vgl. Pedersen, „Furcht“ 23 f.  So z. B. Fascher, Brief 115 f, Schrage, Brief I 231 oder auch Kammler, Kreuz 162 f (Paulus hatte „Furcht vor den Korinthern“; kursiviert im Original). Meyer deutet den Doppelausdruck φόβος καὶ τρόμος als „die lebhafte Besorgnis, dem betreffenden Verhältnisse [sc. von eigener Schwäche und der missionarischen Aufgabe] nicht gehörig Genüge leisten zu können“ (Handbuch 36). Lindemann, Korintherbrief 55 deutet auf die Angst vor Gott.

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zitternd,¹³¹ noch macht er hier den rhetorischen Kniff der Selbstverkleinerung.¹³² Die Erwähnung der eigenen Schwäche mag freilich und wird auch eine historische Reminiszenz darstellen, jedoch ist sie nur den Erstlesern verständlich gewesen, nämlich ob Paulus damit auf eine körperliche Beeinträchtigung oder seine soziale Stellung (vgl. 1,26 f, s.o.) anspielte. In jedem Fall erreicht Paulus damit eine Solidarisierung mit den Korinthern, die er mehrheitlich als ebenfalls „nicht mächtig“ (1,26), sondern vielmehr als schwach (1,27) charakterisiert. Das Schwach-Sein bildet den Anknüpfungspunkt an die Heilsbotschaft der Christusgläubigen, dass Gottes Gesalbter in der offenkundigen Schwäche am Kreuz sich offenbart hat (1,23). Darüber hinaus schildert Paulus in 1Kor 2,3 sein Verhalten als eines, das ganz konform geht mit der Einstellung, wie sie Christusgläubige untereinander und zueinander haben sollten. Diese Einstellung rührt vom Vorbild des gekreuzigten Christus her. Es geht um Gehorsam gegenüber Gott und Demut und Ehrfurcht vor den Menschen, genauer vor den Glaubensgeschwistern. Damit stellt Paulus sich – gerade angesichts der zerstrittenen Lage der Gemeinde – als Vorbild für die Korinther dar. Dies unterstreicht der Apostel dann am Ende der korinthischen Gründungserzählung in 1Kor 2,4 f. In 1Kor 2,4 wiederholt Paulus, dass seine Rede und Verkündigung nicht mit „überredenden Worten der Weisheit“¹³³ geschehen sei. Stattdessen sei sie mit dem Nachweis des Geistes und der Macht Gottes erfolgt (v.4), um den Glauben der Korinther nicht in der weltlichen Weisheit, sondern in der Macht Gottes zu verwurzeln (v.5). Mit λόγος und κήρυγμα in 2,4 verweist Paulus zurück auf das Wort vom Kreuz (1,18) und die allgemeine Verkündigung des gekreuzigten Christus (1,23) aus dem vorangehenden Passus 1,18 – 25. Da sowohl das Kreuzeswort als auch die Christusverkündigung inhaltlich dasselbe besagen, dass nämlich der gekreuzigte Jesus der Gesalbte Gottes ist, liegt mit dem Doppelausdruck in 2,4 ein Hendiadyoin

 So ist wohl Conzelmann, Brief 76 zu verstehen. Sowohl für eine Krankheit als auch eine ängstliche Grundhaltung bei Paulus spricht sich Merklein, Brief I 210 aus. So bereits Bachmann, Brief 114.  So Vos, Kunst 48, der überhaupt an die Paulus-Exegese mit der Voreinstellung herangeht, dass Paulus (selbst ein begnadeter Rhetoriker) sich in 1Kor 1– 4 gegen die zeitgenössische Rhetorik wende. Daher sieht er (a.a.O. 47) in φόβος καὶ τρόμος das Gegenteil von παρρησία und θάρσος, Eigenschaften des idealen Rhetors und Weisen.  An sich trägt es wenig aus, ob man in 2,4 ἐν πειθοῖ σοφίας (z. B. Kammler, Kreuz 163 f) oder ἐν πειθοῖς σοφίας λόγοις (z. B. Wolff, Brief 49) liest, da in jedem Fall die menschliche – wie einige Textzeugen zur Eindeutigkeit ergänzen – Weisheit von Paulus abgelehnt wird.

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vor.¹³⁴ Im Gegenüber zu dieser allgemeinen, von allen christusgläubigen Verkündigern verbreiteten Heilsbotschaft präzisiert Paulus nun sein individuelles Verkündigen, was dessen Form betrifft; inhaltlich bestehen ja keinerlei Differenzen zu den anderen Verkündigern. Mit einem οὐκ-ἀλλά-Kontrast verdeutlicht er, dass seine Predigt nicht aus Überredungskunst¹³⁵ (ἐν πειθοῖ[ς] σοφίας [λόγοις]), sondern aus wirklichem Überzeugen durch eine doppelte Beweisführung¹³⁶ bestand: zum einen durch den Nachweis des göttlichen Geistes, zum anderen durch den Nachweis der Macht Gottes (ἐν ἀποδείξει πνεύματος καὶ δυνάμεως).¹³⁷ In 2,4 wird zum ersten Mal in 1Kor das göttliche πνεύμα erwähnt. Dessen Wirken in Korinth wird von Paulus besonders in 1Kor 12– 14 bedacht. Unter dem Nachweis des Geistes könnte man vor diesem Hintergrund sowohl beim Apostel als auch bei der Gemeinde pneumatische Aktivität annehmen,¹³⁸ die sich in diversen Wundertaten wie auch der Zungenrede äußerte und nach wie vor äußert (12,8 – 11; 14,18). Jedoch würde Paulus mit dem Verweis auf ein offensichtlich übernatürliches Geschehen seine bisherige Argumentation, dass der Christusglaube gerade nicht auf eine Zeichenforderung eingeht (1,22 f), ad absurdum führen.¹³⁹ Daher ist stattdessen bei der ἀπόδειξις πνεύματος an das Erken-

 Ohne den Fachterminus zu bringen, vgl. Conzelmann, Brief 76 und Kammler, Kreuz 164. Eine Differenzierung nach Form und Inhalt anzunehmen, so etwa Fascher, Brief 116 oder Voss, Wort 131, ist unnötig.  Kammler, Kreuz 165 – 170 versucht nachzuweisen, dass πειθώ mitnichten negativ konnotiert ist und daher mit „Überzeugungskraft“ wiederzugeben ist. Er begründet dies mit der inhaltlichen (statt einer formalen) Abgrenzung des Paulus gegen eine Weisheitspredigt. Für unsere Betrachtung ist das letztlich irrelevant, da Paulus so oder so gegen eine weisheitliche Predigt ist, sei sie nun nach weltlichen Maßstäben tatsächlich überzeugend oder bloß überredend.  ἀπόδειξις meint den „zwingenden Schluß aus gegebenen Voraussetzungen“ (Fascher, Brief 116). Nach papyrologischem Befund muss man es als „Nachweis“ verstehen, vgl. Bachmann, Brief 116 Anm. 1 und Arzt-Grabner et al., Korinther 119, die auf den juristischen Charakter des Wortes hinweisen. Kammler, Kreuz 170 f übersetzt ἀπόδειξις mit „Beweisführung“ im Gegenüber zu πειθώ als „Überzeugungskraft“. Damit wären πειθώ und ἀπόδειξις gleichrangige Redeweisen, deren Unterschied in ihrer inhaltlichen Bestimmung liegt (s.o.).  Die Genitive sind als genetiva obiectiva zu verstehen, vgl. Bachmann, Brief 116; ebenso Zeller, Brief 127, der jedoch ἀπόδειξις dann nicht mehr als logisch-rhetorischen Terminus verstanden wissen will, sondern schlicht als „Erweis“. Kammler, Kreuz 170 f plädiert für genetiva subiectiva und hält zudem ‚Geist und Machtʻ für ein Hendiadyoin. Diese Überlegung scheitert aber an der Subjektivierung der Macht, vgl. Zeller, Brief 127 Anm. 249, der Kammler mit der Übersetzung „der machtvoll wirkende Geist“ zu entgehen versucht. Gerade das ist aber kein Hendiadyoin mehr.  Vgl. Lietzmann, Korinther 11.  Vgl. Voss, Wort 133; Kammler, Kreuz 173. Zeller, Brief 128 Anm. 256 hält die Erwähnung der zeichenfordernden Juden in 1,22 nur für ein Zwischenspiel gegenüber dem eigentlichen Thema in 2,1– 5: der Auseinandersetzung mit der rhetorischen Weisheit der Griechen.Von daher könnten in 2,4 f durchaus Wunder mitgemeint sein.

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nungsmerkmal des Geistbesitzes zu denken, wie Paulus es in 12,3 formuliert:¹⁴⁰ Nur wer Jesus¹⁴¹ als Herrn bekennt – und das schließt seinen Kreuzestod unbedingt mit ein –, verfügt auch über den göttlichen Geist, und umgekehrt. Der Nachweis des Geistes geschieht also in der Formulierung und Propagierung des eigenen Christusglaubens; Wundertaten durch den Geist sind demgegenüber sekundär. Der Nachweis der Macht Gottes¹⁴² wird auf das Wort vom Kreuz wie auch den Gesalbten selbst anspielen, die jeweils von Paulus bereits mit Gottes Macht gleichgesetzt worden sind (1,18.24).¹⁴³ Dann ist für die ἀπόδειξις δυνάμεως also eine Art argumentativer Schriftbeweis anzunehmen, aus dem hervorgeht, dass der Gekreuzigte der Messias ist und die Macht Gottes repräsentiert.¹⁴⁴ Gleichzeitig

 In 1Kor 12,3 führt Paulus den Gedanken freilich mit einer Disclosure-Formel ein. Dass er hier den Korinthern mit der Verbindung von Kyrios-Bekenntnis und Geistbesitz etwas bislang Unbekanntes offenbart, erscheint aber unwahrscheinlich. Da die Verfluchung Christi (oder in Christi Namen, vgl. Winter, Paul 164– 183) wohl eine Kontrastbildung zum Kyrios-Bekenntnis durch Paulus ist, vgl. Klauck, Korintherbrief 88, wird sich die Disclosure-Formel auf diesen neuen, unerhörten Gedanken beziehen.  Die Betonung des Jesus-Namens ohne den Christus-Titel an dieser Stelle weist darauf hin, dass Paulus hier Jesus als geschichtliche Persönlichkeit in ihrem irdischen Wirken meint. Schlussund gleichzeitiger Höhepunkt des irdischen Wirkens Jesu ist für Paulus dessen Tod am Kreuz (vgl. Phil 2,8).  Trotz des Fehlens eines präzisierenden Genitivs wird hier aufgrund des Kontextes auf Gottes Macht zu deuten sein, vgl. Zeller, Brief 128; Voss, Wort 131.  Wundertaten wie in 1Kor 12,10.28 f; 2Kor 12,12; Gal 3,5 erscheinen ausgeschlossen, da δύναμις hier im Singular steht, vgl. Zeller, Brief 128, der sich gleich darauf aber widerspricht, indem er Wunder (genauer: Heilungen, vgl. a.a.O. 129) in 2,4 doch mitgemeint sein lässt. Das hängt mit seinem Verständnis von ἀπόδειξις als ‚displayʻ oder wie ἔνδειξις als ‚Erweisʻ zusammen, vgl. a.a.O. 127. Jedoch verwendet Paulus hier eben nicht ἔνδειξις, so wie ‚displayʻ auch nicht allein einen ‚Erweisʻ meint, sondern vielmehr eine ‚Darstellungʻ.  Widerspricht Paulus selber dieser Deutung nicht in 1Kor 1,20b, wo er die Schriftgelehrten als ebenso von Gott verblendet bezeichnet wie die Weisen? Diese Kritik verfängt deshalb nicht, da Paulus (samt allen Christusgläubigen) ja über den göttlichen Geist verfügt (vgl. 2,4.12), was ihn – im Gegensatz zu den nicht geistlich begabten Schriftkundigen – befähigt, die Wahrheit über Gottes Macht, die sich im gekreuzigten Christus zeitigt, aus der Schrift zu entnehmen und darzulegen. Wenn dem nicht so wäre, könnte Paulus sich in seinen Briefen die vielen Bezüge auf die Schrift ersparen und rein enthusiastisch (im Wortsinn) verkündigen. Dieser Zirkelschluss ist bereits in der paulinischen Glaubensüberzeugung angelegt. Religionsphänomenologisch jedoch lassen sich Paulus und seine Mit-Christusgläubigen ebenfalls den Schriftgelehrten zuordnen. Für Paulus ist das Evangelium selbst, d. h. die Heilsbotschaft, die Macht Gottes (Röm 1,16); diese Botschaft muss aber aus der Schrift als Quelle aller Gotteserkenntnis erhoben werden. Insofern spricht für die These, dass die ἀπόδειξις δυνάμεως eine Art Schriftbeweis ist, auch der Umstand, dass „Kraft Gottes“ dann im rabbinischen Judentum mit der Tora nahezu gleichgesetzt wird, vgl. W. Grund-

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schwingt im Wort δύναμις noch die Vorstellung der überweltlichen und vom menschlichen Verstand nicht fassbaren Macht Gottes mit, die gleichwohl von Menschen erfahren werden kann.¹⁴⁵ Diese Macht Gottes benennt Paulus in 2,5 dann auch als den Grund, in (ἐν) welchem die πίστις der Gemeinde verankert sein soll. Insgesamt lässt sich 2,4 folgendermaßen paraphrasieren: „Meine Rede und meine Verkündigung geschahen nicht in der Form einer weltlich-weisheitlichen Überredungskunst, sondern im Nachweis des heiligen Geistes, nämlich im Bekenntnis, dass Jesus der Herr ist, und im Nachweis der Macht Gottes, nämlich in der Auslegung der Schrift, dass dieser Jesus als Gekreuzigter der Gesalbte Gottes ist.“¹⁴⁶

2.3.3 Die Selbstdarstellung des Paulus in 2,1 – 5 – Deutung Die Erzählung 1Kor 2,1– 5 ist zwar die Ursprungsgeschichte der korinthischen Gemeinde; als solche ist sie aber stark durch die paulinische Autobiographie (im Sinne einer Selbstdarstellung) geprägt, da Paulus den Fokus auf sich selbst richtet. Der Rekurs auf die gemeinsam erlebte Vergangenheit ermöglicht es den Korinthern, die Selbstaussagen ihres Gründerapostels zu überprüfen, und soll somit die Glaubwürdigkeit des Paulus – gerade in der indirekten Auseinandersetzung mit den anderen Missionaren in Korinth – stützen bzw. noch erhöhen. Dabei gilt: Der Apostel damals ist derselbe heute.Was er über sich in der Vergangenheit berichtet, besitzt Kontinuität in die Gegenwart hinein. Die Erzählung stellt Paulus dabei als einen Verkündiger dar, der ganz im Einklang mit seiner Verkündigung gelebt und gewirkt hat. Inhaltlich stimmte seine Verkündigung genau mit dem Christus-Geschehen und der allgemeinen Verkündigung durch die anderen Missionare überein, die die Kreuzigung des Messias betont (1,23; 2,2). Äußerlich erwies seine Haltung, namentlich seine Schwachheit

mann, „δύναμαι κτλ.,“ in: ThWNT 2 (1935), 286 – 318 (298 f), Paulus’ Gedanke also womöglich in derselben Tradition wurzelt.  Fascher, Brief 116 f geht in diese Richtung, insofern er δύναμις als Wunderkraft versteht, argumentiert dann aber doch sehr neuzeitlich-rationalistisch, insofern er die Hauptfunktion der göttlichen Dynamis darin sieht, „das menschliche Denken ‚um[zu]funktionierenʻ“ und als Beispiel aus der Gegenwart die wundersame und geheimnisvolle Wirkung einer ganz kunstlosen Predigt auf deren Hörer nennt. Die Erfahrbarkeit Gottes geschieht aber noch auf vielen anderen Kanälen als nur dem Denken, vgl. Johnson, „Writings“ 98 – 101.  Kammler, Kreuz 172 f führt 1Th 1,5 zur Erläuterung von 1Kor 2,4 an. 1Th 1,4– 10 bietet eine Parallele zu 1Kor 2,1– 5, insofern Paulus dort gleichfalls die Gründungsgeschichte der Gemeinde erzählt. Auch dort geht es nicht um Wundertaten als vielmehr um die Macht Gottes, die Menschen zum Christusglauben führt.

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und die respektvolle Haltung gegenüber den Korinthern (2,3), dass Paulus sowohl mit den Korinthern als auch mit Christus, die allesamt von der Welt zu den Schwachen gezählt werden, eng verbunden war und ist. Mit dem Bekenntnis zu Christus konnte Paulus damals wie auch jetzt nachweisen, dass er tatsächlich von Gott her mit dem göttlichen Geist ausgestattet ist (2,4). Die Form seiner Verkündigung richtete sich ganz nach der göttlichen Vorgabe einer der Welt entgegengesetzten Logik und damit auch einer ebensolchen Redeweise: Nicht überzeugendes Reden und Überreden nach menschlichem Maßstab (2,1.4), sondern das Bekenntnis zu Jesus dem Gesalbten als der rettenden Macht Gottes war (und ist) entscheidend für den aus der Verkündigung resultierenden Glauben (2,5). Insofern rückt Paulus mit sich selbst auch Christus in den Vordergrund.¹⁴⁷ Die explizite Nicht-Sondern-Struktur von 2,4 (οὐκ-ἀλλά) sowie die gleiche, jedoch implizite Struktur der anderen Verse (οὐ allein in v.1, οὐ – εἰ μή in v.2, μή – ἀλλά in v.5) erweist den gesamten Passus als epideiktische Argumentation, welche an sich um den Ausschluss einer Größe zugunsten einer anderen bemüht ist.¹⁴⁸ Es geht hier nicht darum, dass Paulus in apologetischer Weise Rechenschaft über sein bisheriges Handeln abgibt.¹⁴⁹ Vielmehr zeigt er an sich selbst auf, dass die nach menschlichem Ermessen skandalöse und törichte Verkündigung des gekreuzigten Messias Jesus sich eine entsprechende Form sucht, die sich im Verkündiger der Christusbotschaft manifestiert (manifestieren muss?). Die Sprechweise nach Gegensätzen (‚ich bin/tue bzw. war/tat nicht x, sondern y‘) ist dabei eine selbstdarstellerische Redeweise, die sich häufig auch bei Popularphilosophen findet. Mit ihr verteidigen sie sich nicht, sondern grenzen sich von konkurrierenden Rednern ab.¹⁵⁰ Gary S. Selby nimmt die Aussage, Paulus habe „das Geheimnis [μυστήριον] Gottes verkündet“ (2,1) wie auch die Wendung ἐν ἀσθενεία καὶ ἐν φόβω καὶ ἐν τρόμω (2,3) als Hinweise darauf, dass der Apostel hier die rhetorische persona eines apokalyptischen Sehers einnehme: Ein solcher Seher zeige sich traditionell gegenüber göttlichen Offenbarungen ängstlich, schwach und zitternd.¹⁵¹ Durch  Ähnlich Dodd, ‚I‘ 53: „Paul’s self-portrayal, while correcting false-notions of wisdom or the value of speaking ability, functions to bring the message about Christ to the centre“ (Kursivierung im Original).  Vgl. Berger, Formen 161.  So Berger, Formen 328.426.  Vgl. Lyons, Autobiography 79 – 121; Malherbe, Nurse zu entsprechenden Stellen in 1Th und kynischen Parallelen zu dieser (epideiktischen) Redeweise.  Vgl. Selby, „Paul“ 368 f.Wörtliche Parallelen bzw. phänomenologische Analogien in Ez 3,14 f; Dan 10,7– 9.15 – 17 und 1Hen 14,14 sollen diese These untermauern. Gladd, Mysterion 121– 126 übernimmt Selbys These für seine Argumentation, dass Paulus ein Seher nach dem Vorbild und Muster Davids sei.

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die Rolle des Sehers könnte Paulus zum einen auf die eigene Winzigkeit in Gottes kosmischem Plan hinweisen und so den korinthischen Wettstreit um die missionarischen Führungsfiguren aushebeln. Zum anderen aber könnte er gerade dadurch die eigene Autorität gegenüber den widerstrebenden Korinthern in einzigartiger Weise erhöhen, würde doch allein er Zugriff auf die Geheimnisse Gottes bieten.¹⁵² Die These Selbys ist jedoch aus mehreren Gründen abzulehnen. Was die Beschreibung ἐν ἀσθενεία καὶ ἐν φόβῳ καὶ ἐν τρόμῳ betrifft, so ist, wie sich aus dem Vorherigen (2.3.2.) ergeben hat, zu betonen, dass die Reihung der drei Begriffe sich nicht aus Motivvorgaben aus der Apokalyptik speist. Vielmehr bezieht sich ἐν ἀσθενείᾳ eindeutig zurück auf 1,(25.)27: So wie Gott das der Welt Schwache wie auch Törichte erwählt habe, um seine Herrschaft aufzurichten, und die Korinther selbst Teil dieser Berufung seien (1,26), so sei Paulus als Erstverkündiger in Korinth ebenso Teil der göttlichen Berufung und damit notwendigerweise schwach (gewesen). Es geht also nicht wie bei Visionsberichten um eine affektbezogene bzw. momentane Schwäche. Demgegenüber ist ἐν φόβῳ καὶ ἐν τρόμῳ eine formelhafte Phrase, die eben nicht im Munde von Gläubigen (wie etwa apokalyptischen Sehern) gegenüber Gott geführt wird.¹⁵³ Was schließlich das ‚Geheimnis‘ (μυστήριον) in 2,1 betrifft, so kann nicht ausgeschlossen, ja vielmehr dafür argumentiert werden, dass hier μαρτύριον (‚Zeugnis‘) die ursprüngliche Lesart darstellt (s.o. Exkurs 1). Mit der Entscheidung, ob μυστήριον oder μαρτύριον zu lesen sei, steht oder fällt natürlich auch die Bestimmung der persona des Paulus als eines apokalyptischen Sehers.¹⁵⁴ Und auch wenn μυστήριον ursprünglich sein sollte, sind die anderen Gründe doch gewichtig genug gegenüber der Annahme, Paulus trete hier als apokalyptischer Seher auf. „In other words, if μαρτύριον is the correct reading, Paul appears here in 2:1 going about his apostolic duty – preaching the gospel.“¹⁵⁵

 Vgl. Selby, „Paul“ 370. Zudem ließe sich am Gebrauch dieser persona ablesen, dass Paulus kein eigenes Ethos vorweisen müsse, um zu überzeugen, sondern vielmehr das vorgegebene Ethos der aufgezogenen persona nutze, vgl. a.a.O. 372.  Gerade das zeigt ja der Gebrauch der Wendung in Dan 4,37aLXX; 5,19Θ selbst. Dem ist unbenommen, dass Daniel im Verlauf von Dan 10 Angst hat (v.7) und zittert (v.11) und sich zudem schwach fühlt (v.16 f). Bei Paulus ist aber der Gebrauch des Wortpaares als feststehender Wendung (!) ἐν φόβῳ καὶ ἐν τρόμῳ (bzw. μετὰ φόβου καὶ τρόμου) und das, was sie aussagt, entscheidend.  Das macht auch Gladd, Mysterion 126 deutlich, entscheidet sich dann aber für μυστήριον eben aufgrund von Selbys These und dem leichten Übergewicht an Textzeugen für diese Variante. Interessanterweise hatte Gladd a.a.O. 124 noch das Übergewicht an Textzeugen bei der Lesart μαρτύριον festgestellt.  Gladd, Mysterion 126.

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Selby sieht richtig, dass es Paulus mit dieser autobiographischen Passage darauf ankommt, Autorität über die Korinther (wieder‐)zu gewinnen. Hingegen muss Paulus dafür nicht erst die persona eines apokalyptischen Sehers einnehmen, zumal dieses Amt in der korinthischen Gemeinde nicht per se als autoritativ vorausgesetzt werden kann. Vielmehr stellt die Funktion als Apostel und Gemeindegründer genügend Autorität für Paulus bereit – zumindest propagiert er dies hier und im weiteren Briefverlauf. Die persona, die Paulus einnimmt, speist sich aus seinem göttlichen Auftrag, seiner ἀποστολή, zu verkündigen.Wie bereits in 1,17 angeklungen, ist es Paulus im Zusammenhang der Gemeindegründung wichtig, dass nicht der Taufakt im Vordergrund steht (der ja eigentlich erst eine Gemeinde konstituiert), sondern das Verkündigen. Es ist bezeichnend, dass Paulus in 2,1– 5 die Taufe gar nicht mehr erwähnt oder überhaupt auf sie anspielt. Gerade sein Selbstverständnis als Verkünder des Evangeliums ist demnach sehr ernst zu nehmen. Nicht nur, dass der Inhalt der Heilsbotschaft eminent wichtig ist, auch der Überbringer der Botschaft selbst ist wichtig, steht er doch mit seinem Leben als Zeuge dafür ein. Das ist letztendlich der Grund für das zweimalige betonte „auch ich“ (bzw. „[dem‐] entsprechend ich“) in 2,1– 5. Paulus deutet sein gelebtes Leben als absolut konform mit der ihm anvertrauten und von ihm verkündeten Botschaft. Er stellt sich selbst mit seinem (bisherigen) Leben als Beispiel für seine Botschaft hin – nach außen hin schwach, tatsächlich aber mächtig bzw. ermächtigt durch den Glauben an Gottes gekreuzigten Messias –, und wird damit zum lebenden Beweis für die von ihm vertretene Heilsbotschaft. Die Erinnerung an sein vergangenes Auftreten bei den Korinthern soll die aktuell nach wie vor bestehende Gültigkeit seiner Botschaft bezeugen. Ebenso soll von den Korinthern das Wort vom Kreuz als in Paulus selbst mächtig wirksam erkannt werden. Gerade angesichts der Streitereien in der Gemeinde und der ihm von einigen Korinthern zugewiesenen Rolle macht Paulus hier (nach 1,13 – 17) einen weiteren Schritt, um seine Rolle gegenüber der ganzen Gemeinde neu zu definieren: Er war und ist nicht nur Verkündiger des gekreuzigten Gesalbten.Vielmehr spiegelt sich in Paulus’ Verhalten etwas vom Wesen des Messias wider. Statt dass die Korinther einen falschen, da auf sich selbst bezogenen Stolz, durch den man sich über andere zu erheben will (1,29), anstreben, erinnert Paulus an ihr wie auch an sein eigenes Schwachsein (1,26; 2,3) und darüber hinaus an sein eigenes, anderen bzw. ihnen selbst gegenüber respektvolles Verhalten (2,3). Verkündigung und Verkündiger bilden demnach eine Einheit, die anzuerkennen den Korinthern erst ermöglichen soll (und nach Paulus’ Überzeugung: allein auch nur kann), ihre Streitereien zu überwinden und aufzugeben.

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2.4 1Kor 2,6 – 3,4 Das dritte καγώ in diesem Abschnitt folgt in 3,1, wieder in betonter Anfangsposition, und leitet den Abschnitt 3,1– 4 ein. Die Formulierung κἀγώ οὐκ ἠδυνήθην λαλῆσαι bezieht sich eindeutig zurück auf 2,6.¹⁵⁶ Dort hatte Paulus erneut im Plural aus der Perspektive der Verkündiger gesprochen:¹⁵⁷ „Wir lehren (λαλοῦμεν)¹⁵⁸ aber Weisheit unter den Vollendeten“ (2,6).Von daher legt es sich nahe, kurz 2,6 – 16 zu behandeln, bevor wir uns 3,1– 4 zuwenden.

2.4.1 1Kor 2,6 – 16: Lehrer der Weisheit Gottes für Vollkommene In 2,6 – 16¹⁵⁹ verfällt Paulus wieder ins pluralische Sprechen, ohne dass er dabei die Korinther in direkter Weise anredet. Der Sprechmoduswechsel lässt offen, ob Paulus die Korinther in die Wir-Gruppe einschließt. Zuvor in 2,1– 5 gab es eine klare Scheidung zwischen dem paulinischen Ich (2,1.2.3.4) und dem korinthischen Ihr (2,1.2.3.5). Die in 2,6 – 16 gebrauchten Verben und die dahinter stehenden Vorstellungen können allesamt auf die Miteinbeziehung der Korinther verstanden werden.¹⁶⁰ Einzig das Verb λαλεῖν in transitiver Verbindung mit einem Akkusativobjekt ist schwierig auf die Korinther bezogen zu denken. Auch wenn eine direkte Austauschbarkeit mit κηρύσσειν nicht gegeben ist¹⁶¹ und das λαλεῖν auch

 Lindemann, Korintherbrief 76 f sieht ebenfalls diesen Rückbezug von 3,1 auf 2,6.13, deutet 3,1– 4 aber nicht auf Paulus’ Gründungsbesuch in Korinth, sondern „generell auf seine Beziehung zu den Adressaten“ (77). Vermutlich denkt Lindemann hierbei an die vorangegangene briefliche Kommunikation (vgl. 5,9). Dort wird allerdings γράφειν + Infinitiv gebraucht, um auf die ja gerade schriftlich ergangenen Anweisungen aufmerksam zu machen (ebenso 5,11). Selbst Lindemann konzediert (ebd.), dass λαλεῖν dann ein weiteres Bedeutungsspektrum umfassen müsste.  Vgl. Fascher, Brief 118.  Für den neutestamentlichen Sprachgebrauch gibt Gemoll, Handwörterbuch s.v. vor: „lehren, anweisen“, eine Entscheidung, die sich aus dem Folgenden als nicht unpassend erschließt.  Ich halte 1Kor 2,6 – 16 für originär paulinisch und nicht für eine Interpolation, vgl. J. MurphyO’Connor, „Interpolations in 1 Corinthians,“ in: CBQ 48 (1986), 81– 94 (81– 84); G. D. Fee, The First Epistle to the Corinthians. Revised Edition (NIC.NT), Grand Rapids/ Cambridge 2014, 105 – 107.  V.10: Offenbarung Gottes durch den Geist (passiv); v.12: Entgegennahme des Geistes, Erkennen der Gaben Gottes, Beschenktwerden durch Gott; v.16: den Sinn Christi haben.  So Conzelmann, Brief 83 Anm. 31; dagegen auf papyrologischem Befund Arzt-Grabner et al., Korinther 121. Mit λαλεῖν ist aber in jedem Fall auf ein mündliches Geschehen angespielt, vgl. Theißen, Aspekte 343 f. Die Ausnahme Röm 7,1 (λαλῶ), die Theißen benennt, erscheint mir keine zu sein: Röm ist bekanntlich ein Diktat (16,22), so dass Paulus aus dem Redefluss heraus sich hier direkt an die Römer wendet. Ebenso wird es sich mit 1Kor 9,8; 15,34 verhalten. Insofern ist es auch nicht verkehrt,wenn ich in dieser Arbeit (mit vielen anderen Exegeten) von Paulus aussage, dass er

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von den Korinthern ausgesagt ist,¹⁶² scheint es doch gerade in Verbindung mit einem Akkusativobjekt aus dem Bereich der Mission ein Spezialverb für die Tätigkeit der Verkündiger zu sein (vgl. Phil 1,14; 1Th 1,8; 2,2): „λαλεῖν deutet darauf hin, daß die Botschaft der freien Disposition des Verkünders entzogen und verpflichtend vorgeformt ist“¹⁶³. Wenn das zutrifft, spricht Paulus in 1Kor 2,6 – 16 für die Korinther klar erkennbar und erneut (wie bereits in 1,23) im Plural der Verkünder. Doch selbst wenn dies für die Adressaten zunächst nicht deutlich sein sollte, wird spätestens mit dem κἀγώ und der direkten Anrede in 3,1 für sie klar, dass Paulus sie mit dem Wir in 2,6 – 16 nicht gemeint haben kann.¹⁶⁴ Im gleichen Zuge formuliert 3,1– 4 dann nach einer allgemeinen Aussage über die Wir-Gruppe in 2,6 – 16 den Spezialfall des nun aus dieser Gruppe herausgenommenen Paulus im Gegenüber zu den Korinthern. Es liegen hiermit in 2,6 – 16 also wirkliche Plurale (obgleich zunächst möglicherweise verdeckt) vor, die wie zuvor in 1,18 – 25 (31) Paulus und die anderen Verkündiger meinen.¹⁶⁵ Das durch die hervorgehobene Wortstellung betonte σοφίαν in 2,6 gibt den Gegenstand des Abschnitts vor. Allerdings geht es hier nicht um Weisheitsverkündigung in ihrem Vollzug, sondern um die Reflexion darüber.¹⁶⁶ Paulus konstatiert, dass er mit den anderen Verkündigern Weisheit bei den τέλειοι lehre.

die Korinther ‚ansprichtʻ oder zu ihnen ‚redetʻ etc., obwohl uns ausschließlich schriftliche Kommunikate überliefert sind.  Von allen: 14,2.3.4.5.9.13.23.27.28.29.39; von den Frauen: 14,34 f. Tatsächlich steht λαλεῖν in 14,2.3 mit Akkusativobjekten, wobei es sich als Akkusativergänzung in v.3 auch um eine adverbiale Bestimmung handeln kann. In 14,3 geht es deutlich um das geistgewirkte Sprechen von göttlichen Geheimnissen, so dass den Korinthern wie den Verkündern die Botschaft ‚verpflichtend vorgeformtʻ ist (s. die folgende Anmerkung) und sie mit ihrem Geistesreden punktuell und sporadisch in den Bereich der Verkünder vorstoßen. Gleichwohl sind sie „unter Ausschaltung des νοῦς“ (Wolff, Brief 329, mit Verweis auf v.14– 16) für die Umstehenden nicht zu verstehen.  H. Jaschke, „λαλεῖν bei Lukas,“ in: BZ NF 15 (1971), 109 – 114 (112). Jaschke bezieht sich damit zunächst auf die lukanische Formulierung λόγον λαλεῖν, weitet dies Verständnis im Weiteren aber auf die (dt.)paulinischen Briefe aus, so dass λαλεῖν insgesamt den „Charakter der verpflichtenden Lehre“ bekommt (114). Das ‚Lallenʻ wie ein unreifes Kind, das Paulus über sich in 13,11 aussagt, steht intransitiv.  Damit ist den Korinthern mitnichten generell der Geistbesitz abgesprochen, der die Verkündiger laut 2,6 – 16 auszeichnet, aber doch wohl allen Christgläubigen eignet (s.u. zu 3,1 f). Vielmehr werden gegenüber den Korinthern die Gaben Gottes am Beispiel der Verkündiger zu pädagogischen Zwecken betont.  Vgl. Bachmann, Brief 118; Lietzmann, Brief 11; Fascher, Brief 118; Wilk, Bedeutung 288 f (vorsichtiger: „ggf. auf seine Mitarbeiter […] zu beziehen“).  Vgl. Kammler, Kreuz 191 f gegen z. B. Theißen, Aspekte 343 f, der 2,6 – 16 für die „Verschriftlichung einer mündlichen Kommunikationsform“ (344) hält.

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Dieser Begriff bezeichnet im profanen Gebrauch reife und mündige Menschen (im Gegensatz zu unmündigen Kindern).¹⁶⁷ Es ist fraglich, ob Paulus der Begriff τέλειος – wie auch das Gegensatzpaar πνευματικός / ψυχικός in v.14 – durch die Korinther vorgegeben war.¹⁶⁸ Damit verbunden (und ebenso fraglich) ist die These, dass die Korinther (bzw. einige von ihnen) mit der Selbstbezeichnung τέλειοι behaupteten, dass es einen graduellen Unterschied zwischen den Christgläubigen im Hinblick auf ihren Status im Glauben und vor Gott und somit in der Gemeinde gibt:¹⁶⁹ Einige Gemeindeglieder seien bereits vollkommen, andere hingegen nicht.¹⁷⁰ Insgesamt sei die Bezeichnung τέλειοι von ihnen wohl im religiös-philosophischen¹⁷¹ Sinne einer Vollkommenheit verwendet worden.¹⁷² Durch die Aufnahme der korinthischen Begrifflichkeiten in diesem Abschnitt würde Paulus mit den korinthischen Überzeugungen scheinbar übereinstimmen – ein Eindruck, der sich für die Korinther erst ab 3,1 als falsch erweisen wird.

Unbenommen der eigentlichen Aussage und Zielrichtung von 2,6 – 3,4 lässt sich zunächst festhalten: „Paulus präsentiert sich […] als einer, der das Charisma des λόγος σοφίας (12,8) hat.“¹⁷³  Vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 122. Conzelmann, Brief 83 f: „In der philosophischen Tradition ist der τέλειος der vollkommene Weise“ mit Verweis auf Philo agr. 165, wo der Weise (σπουδαίος) in fortschreitenden Stufen erscheint: Anfänger, Fortschreitender, Vollendeter.  So Kammler, Kreuz 201; ebenso Pearson, „Wisdom“ 52– 56; dagegen Zeller, Brief 150. Tatsächlich verwendet Paulus in Phil 3,15 den Begriff τέλειος ohne die gegensätzliche Vorstellung des Unmündig-Seins wie in 1Kor 2,6 (zu 3,1) und 14,20, was dafür spricht, dass ihm der absolute Gebrauch des Wortes als ‚vollkommenʻ in wenigstens einer anderen Gemeinde durchaus geläufig war. In Phil 3,12 schreibt er jedoch explizit, dass er selbst noch nicht vollendet sei. Dies kann als Hinweis dafür gelten, dass auch sonst in seiner Verkündigung die Vorstellung von Vollkommenheit nicht von Paulus ausgegangen ist.  Vgl. Kammler, Kreuz 203; Voss, Wort 152.  Dieses Streitphänomen mache sich an der Gruppenbildung fest (1,12). Paulus gebe es dann in 4,6 als ‚Sich-Aufblasenʻ des einen über den anderen wieder. Vos, Kunst 61 verdeutlicht, dass die Unterscheidung von τέλειοι und νήπιοι (bzw. von ψυχικοί und σαρκικοί) nicht auf zwei verschiedene Gruppen innerhalb der Gemeinde hinweise, sondern vielmehr den Vorwurf gegenüber den zerstrittenen Korinthern impliziere, sich gerade nicht so zu verhalten, wie es angesichts der paulinischen (und überhaupt apostolischen) Verkündigung entspreche, sondern eben wie νήπιοι bzw. σαρκικοί.  S. dazu G. Delling, „τέλος κτλ.,“ in: ThWNT 8 (1969), 50 – 88 (70 – 72).  Voss, Wort 152 sieht darin den „Einfluss hellenistisch-jüdischer Weisheitstheologie“. Jedoch verschwimmt gerade im Bereich der Weisheit in der Antike die Grenze zwischen Theologie und Philosophie, so dass ich hier den allgemeinen Begriff ‚religiös-philosophischʻ vorziehe. Munck, Paulus 146 spricht inbezug auf das Denken in der korinthischen Gemeinde von einer populär geprägten „Mischung aus Philosophie, Religion und Rhetorik“.  Wolff, Brief 52. In diesem Zusammenhang sind die Fragen von W. Baird, „Among the Mature. The Idea of Wisdom in I Corinthians 2:6,“ in: Int 16 (1959), 425 – 432 bedenkenswert, der auf den Zusammenhang des Gabenkatalogs 1Kor 12,8 – 10 und des Ämterkatalogs 12,28 aufmerksam

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Die von Paulus und den anderen Missionaren verbreitete Weisheit bestimmt er als ‚Gottes-Weisheitʻ¹⁷⁴, die Geheimnischarakter habe (2,7: ἐν μυστηρίῳ/„im Geheimnis“), wodurch sie den gottfeindlichen Herrschern der Welt verborgen (geblieben) sei (v.8).¹⁷⁵ Ohnehin gelte für Gottes-Weisheit, dass sie sich nur Menschen erschließt, die Gott lieben (v.9).¹⁷⁶ In v.10 konstatiert Paulus, dass ihm wie auch den anderen – ob nun Verkündigern oder Korinthern – im Gegensatz (stellungsbetontes ἡμῖν) zu den Herrschern die Weisheit Gottes durch dessen Geist offenbart (ἀπεκάλυψεν) worden ist.¹⁷⁷ Paulus teilt die Menschheit mit dieser und der folgenden Aussage (v.11 f) in zwei Teile: diejenigen mit dem Geist Gottes und diejenigen mit dem Geist des Menschen bzw. der Welt. Und nur mit Gottes Geist seien die göttlichen Gaben, also sein Heilswerk am Kreuz wie auch die Erkenntnis dessen, überhaupt zu wissen (v.12b). Mit zwei stellungsbetonten Personalpronomen in v.12 (ἡμεῖς ganz zu Beginn, ἡμῖν ganz am Ende) markiert Paulus deutlich den exklusiven Kreis der Rezipienten des göttlichen Geistes und der göttlichen Gaben. Paulus stellt sich (und die anderen Verkündiger) damit als Empfänger von Gottes Geist dar. Er ist – um ein Wort des folgenden v.13 aufzugreifen – πνευματικός, ein geistlicher Mensch. 2,13 greift mit λαλοῦμεν auf den Beginn der Ausführungen in 2,6 zurück. Vom Aufbau her erweisen sich 2,7– 12 und 2,13 – 16 als parallel strukturiert:¹⁷⁸ 2,6 f und macht: „Is it not significant that the first item in the earlier list is the λόγος σοφίας (vs. 8), while the corresponding item in the second list is ἀποστόλους (v. 28)? Does this mean that the appointment to apostleship involves essentially the gift of the word of wisdom?“ (430).  Vgl. Bachmann, Brief 122.  Es geht in 1Kor 2,6 – 16 nicht um gegenüber 1,18 – 31 (der ‚Anfangspredigtʻ) neue Inhalte, sondern um die vertiefte Rezeption der Kreuzesbotschaft. Theißen, Aspekte 349: „Die höhere Weisheit des Paulus besteht nicht in neuen Inhalten, sondern in einer höheren Bewußtseinsstufe, mit der dieselben Inhalte reflektiert werden. […] Der Unmündige wie der Vollkommene werden von derselben Offenbarung getroffen, aber nur der Vollkommene durchschaut, was sich an ihm und in ihm vollzieht“.  Paulus stellt dies mit einem Zitat aus Jes 64,4LXX dar,vgl. dazu insgesamt F.Wilk, „Jesajanische Prophetie im Spiegel exegetischer Tradition. Zu Hintergrund und Sinngehalt des Schriftzitats in 1Kor 2,9,“ in: S. Kreuzer/ M. Meiser/ M. Sigismund (Hg.), Die Septuaginta – Entstehung, Sprache, Geschichte. 3. Internationale Fachtagung veranstaltet von Septuaginta Deutsch (LXX.D), Wuppertal 22.–25. Juli 2010 (WUNT 286), Tübingen 2012, 480 – 504.  Paulus übernimmt hier das Revelationsschema, demzufolge ein von Gott in Ewigkeit beschlossenes Geheimnis nach einer Zeit der Verborgenheit nun (d. h. in Zeiten des Autors und seiner Zeitgenossen) offenbart wurde. Conzelmann, Brief 80 f hält es für sehr gut möglich, dass Paulus selbst dieses Schema „im internen Schulbetrieb entwickelt“ (a.a.O. 81) hat und nun an die Korinther weitergibt.  Vgl.Wilk, Prophetie 482 f: auf die These 2,6 folgen die beiden erläuternden Abschnitte v.7– 12 und v.13 – 16; ähnlich Kammler, Kreuz 196 f (Schema), der allerdings den ersten Teil mit v.6 beginnen lässt.

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2,13 behandeln dabei jeweils die Verkündigung, 2,8 – 12 und 2,14– 16 jeweils die Erkenntnis des gekreuzigten Messias als Gottes Weisheit. 2,13 benennt über eine οὐ-ἀλλα-Kontrastierung das Wesen der Lehrrede: Sie besteht nicht in durch menschliche Weisheit (ἀνθρωπίνη σοφία) gelehrten Worten, sondern in welchen, die durch den göttlichen Geist gelehrt (ἐν διδακτοῖς πνεύματος) wurden/werden. Ein prädikatives Partizip beschreibt die Lehrmethodik. Diese Lehrmethodik ist aber „[e]twas kryptisch formuliert“¹⁷⁹. Die Worte πνευματικοῖς πνευματικὰ συγκρίνοντες lassen sich unterschiedlich verstehen: a) als Verbinden geistlicher Dinge mit geistlichen Dingen; b) als Vergleichen geistlicher Dinge mit geistlichen Dingen; c) als Deuten geistlicher Dinge gegenüber geistlichen Menschen.¹⁸⁰ Da man a) nur über eine Paraphrase inhaltlich füllen kann,¹⁸¹ erscheint diese Möglichkeit unwahrscheinlich. Möglichkeit b) hat sowohl die Syntax gegen sich¹⁸² als auch das theologische Problem, dass in geistlichen Angelegenheiten ein Vergleichen letztlich in der Willkür endet, wenn allein der Geist Subjekt, Objekt und Kriterium des Vergleiches ist.¹⁸³ Somit bleibt Möglichkeit c) als plausibelste Deutung übrig.

Alle Verkündiger – samt Paulus – lehren mit vom Geist gelehrten Worten, indem sie vom Geist berührten Menschen gegenüber geistliche Dinge deuten und erklären. Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass geistige Menschen noch nicht per se ‚vollkommenʻ sind, sondern auch nach ihrer Durchdringung mit dem Geist der Lehre der Apostel und Missionare bedürfen. Weil der Geist nicht jedem Menschen gegeben sei, gebe es einen fundamentalen Unterschied zwischen den geistlichen Menschen und den ‚psychischenʻ (v.14: ψυχικός) i.S.v. weltlichen¹⁸⁴ Menschen. Der weltliche Mensch habe keine Erkenntnis über die geistlichen Dinge und damit über Gott selbst (als deren Stifter) und halte deshalb all das für Torheit, weil geistliche Dinge eben nur geistlich beurteilt werden können (2,14).¹⁸⁵ Der geistliche Mensch sei aber deshalb der Beurteilung durch weltliche Menschen enthoben; vielmehr könne er selbst alle

 Voss, Wort 180.  Vgl. Kammler, Kreuz 225 mit Zusammenstellung der verschiedenen Vertreter der 3 Positionen.  Vgl. Kammler, Kreuz 225: ‚indem wir geistliche Inhalte mit geistlichen Formen verbindenʻ. Aber wo spricht Paulus hier von einer notwendigen Korrespondenz von Form und Inhalt für Geistliches?  Vgl. Fascher, Brief 118.  Ähnlich Kammler, Kreuz 227.  Vgl. Conzelmann, Brief 93 f.  Paulus setzt hier das bereits ab 2,11 eingeführte und der gesamten antiken Philosophie bekannte Prinzip ‚Gleiches durch Gleichesʻ, vgl. Conzelmann, Brief 91, fort.

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Kapitel 6: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 1 – 4

Dinge beurteilen (v.15: ἀνακρίνειν).¹⁸⁶ Für ihn gelte dieselbe Behandlung, die auch Gott zuteil werden muss, wie Paulus mit einem Zitat aus Jes 40,13 („Wer hat den Sinn des Herrn erkannt, der ihn belehren könnte?“) in 1Kor 2,16a–b erläutert:¹⁸⁷ Niemand kann Gott belehren, selbst wenn man dessen νοῦς („Sinn“) hat. Somit entfällt selbst die mögliche Beurteilung eines pneumatischen Menschen durch andere Pneumatiker. Dass die Verkündiger sowie Paulus den νοῦς Christi¹⁸⁸ haben, bekräftigt der Apostel plakativ im abschließenden v.16c. „Νοῦς Χριστοῦ meint […] das – durch den Geist erschlossene – ‚Verständnis für Christusʻ als die konkrete Gestalt [des] Heilshandelns [Gottes].“¹⁸⁹ Im Ganzen wird in 2,6 – 16 eine starke Einheitsfront der Missionare aufgebaut: Sie allesamt lehren (v.6.7.13) und sind Empfänger der Offenbarung (v.10), des Geistes (v.12a), göttlicher Gaben (v.12b) und des Sinnes Christi (v.16). Paulus stellt sich als ein Teil von ihr dar. Durch betont gesetzte Personalpronomen der 1.P.Pl. (v.10.12.16c) wird die Gemeinschaft der Missionare miteinander noch unterstrichen. Diese Front besteht zu bzw. gegen zwei Seiten: zum einen gegen weltliche Menschen, zum anderen gegen christusgläubige Nicht-Vollkommene. Als solche konkret spricht Paulus die Korinther in 3,1 an.

2.4.2 1Kor 3,1 – 4: Paulus selbst in Korinth (Rückblick II) Als ein Teil der Front aller Christusverkünder tritt Paulus in 3,1 den durch ὑμίν direkt angesprochenen Korinthern mit einem am Satzbeginn betonten κἀγώ entgegen. Spätestens nun ist deutlich, dass die Korinther in die 1.P.Pl. in 2,6 – 16 in jedem Fall nicht miteinbezogen sind. Durch das sowohl in 2,6.7.13 als auch in 3,1 gebrauchte Verb λαλεῖν ergibt sich für diesen Vers ein analoges Verständnis.¹⁹⁰ Insofern lassen sich die Passage 2,6 – 16 und der Vers 3,1 zusammenfassen und

 Dies entspricht dem Wirken des alles erforschenden göttlichen Geistes (v.10) und führt es weiter.  Vgl. Wilk, Bedeutung 290 f.  Die varia lectio κυρίου in 2,16c (etwa bei B, D*, F, G, 81, it) verdankt sich wohl einer späteren Angleichung an v.16a. Gerade vor dem Hintergrund, dass Paulus und alle Missionare Christus als den Gekreuzigten verkündigen (1,22; 2,2) erscheint Χριστοῦ als Wiederaufnahme und Betonung des Gedankens der Torheit in Bezug auf Gottes Sinnen.  Wilk, Bedeutung 290. Dodd, ‚I‘ 54 f erkennt hier hingegen einen subjektiven Genitiv, so dass Christus als Quelle von Wissen und Weisheit der Sprechergruppe erscheint.Von 2,1– 5 her legt sich diese Deutung durchaus nahe, übersieht aber den direkten Kontext von 2,6 – 16.  Den engen Zusammenhang und direkten Bezug von 3,1– 4 auf 2,6 – 16 sieht auch Merklein, Brief I 247, ohne allerdings die Analogie von 3,1 zu 2,6 zu erkennen. Mit Konradt,Weisheit 205 lässt sich sagen: „Paulus bereitet mit 2,6 – 16 den polemischen Stoß vor, den er in 3,1– 4 gegen die ‚Weisenʻ in Korinth ausführt.“

2 Zur Selbstdarstellung in Kor 1,10 – 4,21

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paraphrasieren: ‚Wir Missionare – allesamt Empfänger von Gottes Geist und Offenbarung – lehren Weisheit unter den Vollendeten und zwar, indem wir geistlichen Menschen geistliche Dinge deuten, aber ihr zeigtet euch damals, als ich bei euch war, uneinsichtig (so wie auch heute noch, da ihr miteinander im Streit liegt) und so konnte ich in entsprechender Weise euch die tiefe Gottes-Weisheit als etwas Geistliches nicht lehren.ʻ¹⁹¹ Die Weisheit Gottes haben die Korinther damals nicht begriffen und begreifen sie noch nicht. Gerade dafür brauchen sie Lehrer. Bereits in der Passage 2,6 – 16 hatte sich Paulus als einen geistlichen Menschen (πνευματικός) dargestellt, der als ein solcher üblicherweise Weisheit unter seinesgleichen lehrt und deutet (v.6.13). Unter diesem Anspruch gerät Paulus nun in einen gewissen Gegensatz zu den Korinthern: Zu Beginn seiner Mission konnte er sie nicht wie (ὡς)¹⁹² geistliche Menschen unterweisen. Vielmehr waren sie wie fleischerne Menschen (3,1),¹⁹³ die erst noch den Geist Gottes annehmen mussten. Dementsprechend waren sie christusmäßig (ἐν Χριστῷ) wie Unmündige, d. h. Kleinkinder (νήπιοι). Durch Aufnahme des Wortes νήπιοι wird nun allerdings der Gegensatz zu den in Bezug auf die Christusbotschaft Vollendeten (τέλειοι: 2,6) offensichtlich und in aller Schärfe gezeichnet: Die Korinther standen damals in Bezug auf Christus ganz am Anfang.¹⁹⁴ Das Bild der Korinther als Kleinkinder malt Paulus in 3,2a noch weiter aus, indem er auf das Motiv der Speisung durch eine Amme oder Mutter zurückgreift, demzufolge er der Gemeinde lediglich (geistige) Milch geben konnte, aber keine (feste) Speise. Dieses Bildmotiv ist aus der zeitgenössischen Moralpredigt allgemein bekannt.¹⁹⁵ Inhaltlich lässt sich hier die Milch mit dem Kreuzeswort (1,18 – 31) gleichsetzen, die feste Speise mit der vertieften Auseinandersetzung damit.¹⁹⁶  Vgl. sinngemäß Meyer, Handbuch 50.  Es liegt am dreimaligen, auf einen Vergleich hindeutenden ὡς in 3,1, dass der Gegensatz abgeschwächt wird. Ebenso lässt die Geschwisteranrede den Gegensatz nicht als absolut gelten.  ‚Fleischernʻ (σάρκινος) meint „eine des göttlichen Lebens bare Naturart“ (Bachmann, Brief 142) und bezeichnet in Gegenüberstellung zum Begriff des Geistlichen einen physiologischen Terminus (vgl. ebd. 144). Lietzmann, Korinther 15; Conzelmann, Brief 97; Wolff, Brief 64 Anm. 228; Zeller, Brief 151 sehen zwischen σάρκινος und σαρκικός keinen wesentlichen Bedeutungsunterschied.  In 14,20 gebraucht Paulus die gleiche Gegenüberstellung (durch das Nomen παιδίον und das Verb νηπιάζειν leicht variiert), diesmal jedoch auf den Verstand (φρήν) bezogen: Im Hinblick auf den Verstand sollen die Korinther Vollendete werden, im Hinblick auf das Schlechte aber Kleinkinder.  Vgl. Philo agr.19; congr.19; migr. 24; sobr. 8; somn. II 10; Epict. 2,16; 3,24 (nach Lietzmann, Korinther 15; Conzelmann, Brief 97; Zeller, Brief 152 Anm. 385). Das Bildmotiv findet sich ebenso in Hebr 5,12– 14. Das Bild der Amme (τροφός) – allerdings ohne das Motiv von Milch und fester Speise – gebraucht Paulus auf sich und seine Mitarbeiter bezogen in 1Th 2,7.  Vgl. Zeller, Brief 152.

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Kapitel 6: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 1 – 4

Durch dieses Bild deflektiert Paulus gleichsam sein Unvermögen (3,1: οὐκ ἠδυνήθην/„ich konnte [es] nicht“), die Korinther zu unterweisen: Vielmehr haben sie sich als unvermögend erwiesen (v.2b: οὔπω ἐδύνασθε/„ihr konntet [es] noch nicht“), die Speise des Apostels aufzunehmen. Den Status als Kleinkinder in Bezug auf Christus unterstellt Paulus den Korinthern nach wie vor (v.2c: οὐδὲ ἔτι νῦν δύνασθε/„ihr könnt [es] jetzt auch noch nicht“). Dies liege an ihren Streitereien (ἔρις, vgl. 1,11) um die Anhängerschaft bezüglich eines bestimmten Apostels (3,3 f). Dadurch erwiesen sich die Korinther nicht als geistlich, sondern als weiterhin fleischlich¹⁹⁷ (σαρκικός) und menschlich (κατὰ ἄνθρωπον). Der relative Gegensatz zwischen ihnen und den vollendeten geistlichen Menschen – einschließlich Paulus – besteht demnach weiterhin. Insgesamt erweist sich 1Kor 3,1– 4 als Schelte an den Korinthern.¹⁹⁸ Bei der Schelte geht es nicht um ein Verklagen oder Verurteilen – sie gehört somit nicht zum Bereich der Dikanik. Vielmehr ist Schelte als „Kritik an vorausliegenden Handlungen“¹⁹⁹ der Angesprochenen ein Teil der ‚Diatribeʻ.²⁰⁰ Schelte oder Tadel ist an sich der Epideiktik zuzuweisen, was in v.1 an der gattungstypischen NichtSondern-Struktur evident wird: Mit dem Tadel der Korinther (fleischern, unmündig, fleischlich, unvermögend, menschlich) ist das implizite Lob der Lebensweise der Weisheitslehrer und (mit ihnen) des Paulus verbunden (geistlich, vollendet). Als Bestandteil der ‚Diatribeʻ erfährt die epideiktische Schelte jedoch eine Einbindung in die Symbuleutik.

2.4.3 Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 2,6 – 3,4 – Deutung Paulus nimmt in diesem Abschnitt zwei Rollen oder personae auf: die des Lehrers sowie die der Amme oder Mutter. Die Rolle des Lehrers von Gottes-Weisheit beansprucht trotz ihres Offenbarungscharakters eine gewisse Intellektualität für sich, da der göttliche Geist als wesentliches Merkmal des geistlichen Menschen als ein alles – auch die Tiefe Gottes – erforschender geschildert wird (2,10). Ebenso weisen die Vorstellungen des Verstehens und Erkennens (v.8.11.14.16), des Deutens (v.13) und Beurteilens (v.14.15) auf intellektuelle Vorgänge hin. Diese beziehen sich auf Lehrer wie Schüler gleichermaßen. Demgegenüber ist die Rolle der (Nähr‐)

 ‚Fleischlichʻ meint als Ausdruck einer Beschaffenheit, die bedingt ist durch ein auf die σάρξ bezogenes Verhalten, einen ethisch orientierten Begriff, vgl. Bachmann, Brief 144: „σαρκικός [heißt der Mensch], sofern er anders sein sollte und doch Fleisch ist“. Zeller, Brief 151: „Als Gegensatz zu πνευματικός löst dieses Attribut ψυχικός ab“.  Vgl. Berger, Formen 255.  Berger, Formen 252.  Vgl. Bultmann, Stil 51 f; Berger, Formen 170 f.

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Mutter²⁰¹ ganz durch elementares, möglicherweise auch emotionales Handeln am anvertrauten Kind bestimmt: Sie muss lediglich das Kind ernähren, damit es leben kann. Zwar ist für sie diesbezüglich Umsicht geboten, der reine Akt des Ernährens stellt aber keine intellektuelle oder didaktische Herausforderung dar. Mit beiden personae stellt Paulus sich über die Korinther – als Weisheitslehrer pneumatischintellektuell, als (Nähr‐)Mutter existentiell. Beide Rollen konstituieren ein Abhängigkeitsverhältnis der Gemeinde zum Apostel: Ihm als Lehrer sind die Korinther als Schüler zugeordnet, die seiner Lehre bedürfen; ihm als (Nähr‐)Mutter sind sie als Kinder zugeordnet, die auf lebenserhaltende, aber säuglingsgerechte (geistige) Nahrung angewiesen sind. Beides, Lehre wie Nahrung, können die Korinther sich nicht selbst verschaffen. Gerade unter der zweiten persona rückt dieses Abhängigkeitsverhältnis in die Nähe der Exklusivität, wenngleich Paulus hier noch nicht (wie dann in 4,14 f) gegenüber den Korinthern auf sein Alleinstellungsmerkmal als Erzeuger der Gemeinde pocht. Insgesamt erreicht Paulus mit seiner Reflexion über die Weisheitslehre sowie dem Verweis auf seine erste Anwesenheit bei den Korinthern mehrerlei in Bezug auf seine eigene Selbstdarstellung und davon ausgehend auf sein Verhältnis zu den Korinthern und den anderen Verkündern: Zum einen propagiert und untermauert er im Gegenüber zur Gemeinde seinen Status als vollkommen vom Geist Gottes berührter Mensch, als ein πνευματικός. Zum zweiten stellt sich Paulus in eine Reihe mit den anderen geistlichen Lehrern der Gemeinde (namentlich Apollos: 3,4) und wertet sich so im Ansehen der Korinther und auf ihre Kosten auf: „Auch ich – wie eure anderen Lehrer – konnte euch nicht recht geistlich lehren.“ Im gleichen Zug wertet er aber die anderen Lehrer in ihrer pädagogischen Kompetenz und Wirksamkeit ab: Wie er hätten auch sie mit ihrer Tätigkeit keinen Erfolg bei den Korinthern erzielen können – die Streitbarkeit der Korinther erweist dies. Zum dritten kann Paulus mit der Propagierung einer einheitlichen ‚Lehrerfrontʻ auch den korinthischen Streit um Gruppenzugehörigkeit aushebeln. Alle Lehrer, und mit ihnen Paulus, stehen als geistliche Menschen miteinander auf derselben Seite sowie untereinander auf derselben Stufe. Zum vierten kann Paulus mittels der personae Weisheitslehrer und (Nähr‐) Mutter den Korinthern die Rolle von unwissenden Kindern zuweisen, die sie einst hatten und der sie noch immer nicht entwachsen sind.²⁰² Damit untermauert

 Vgl. G. A. Yee, „‚Take This Child and Suckle It for Me‘: Wet Nurses and Resistance in Ancient Israel,“ in: BTB 39 (2009), 180 – 189 (182– 184) zum antiken Ammenwesen.  Kammler, Kreuz 240 f spricht sich vehement dagegen aus, dass es im paulinischen Denken eine Zweiteilung der christusgläubigen Gemeinde (in Vollkommene und Unvollkommene) gebe. Vielmehr bedeute die Wendung νήπιοι ἐν Χριστῷ, weil es ja keine unmündigen Christusgläubigen

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Kapitel 6: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 1 – 4

Paulus im Duktus des gesamten Briefes erstmalig seinen Anspruch, dass er noch immer zur Lehre bei den Korinthern bevollmächtigt und damit ihnen gegenüber auch weisungsbefugt sei, weil sie (als bloße ‚Milchempfängerʻ) bei ihm noch nicht ausgelernt hätten.

2.4.4 Zum Verhältnis der Selbstdarstellungen von 1,18 – 2 – 5 und 2,6 – 3,4 Besteht eine Diskrepanz zwischen den Selbstdarstellungen 2,1– 5 und 3,1– 4? Diese Frage stellt sich, da in der Forschung oft auf den Unterschied zwischen dem Kreuzeswort 1,18 – 31 und der Weisheitslehre 2,6 – 16 hingewiesen wird:²⁰³ Das erste stellt die Einstiegspredigt dar, die zweite ist entweder etwas ganz Neues oder ist als Vertiefung des Kreuzeswortes nur für Eingeweihte bestimmt. Sollte die Weisheitslehre etwas völlig anderes bringen als das Kreuzeswort würde dies auch Auswirkungen auf die Selbstschilderungen des Paulus haben, beziehen sich doch die in der 1.P.Sg. gehaltenen Teile 2,1– 5 und 3,1– 4 jeweils auf die direkt vorangehenden Passagen. Bei einem funktionalen oder auch inhaltlichen Unterschied der Lehren würde 2,1– 5 Paulus als Erstmissionar beschreiben, während 3,1– 4 (bzw. die Selbstdarstellung innerhalb von 2,6 – 16) ihn als ‚Sekundarstufenlehrerʻ zeichnete. Da 3,1– 4 auf 2,6 – 16 Bezug nimmt, ist es angebracht, die dort vorgetragene allgemeine Schilderung der Weisheitslehrer mit der individuellen des Paulus in 2,1– 5 zu vergleichen. Deutlich ist in beiden Abschnitten, was die Verkündigung betrifft, die Abgrenzung von der menschlichen Weisheit (2,4: σοφία ἀνθρώπων; 2,13a: ἀνθρωπίνη σοφία). Im Gegenzug findet eine Hinwendung zum Geist statt, die das Leben des Verkündigers bestimmt und auszeichnet (2,4: ἀποδείξις πνεύματος; 2,13: λαλοῦμεν ἐν διδακτοῖς λόγοις πνεῦματος). Den Nachweis des Geistes hatte ich oben (2.3.2) 12,3 zufolge als das Bekenntnis zu Jesus Christus bestimmt.

geben könne, den scharfen Vorwurf, die Korinther seien aufgrund ihres Verhaltens überhaupt keine Christen. Die ἐν Χριστῷ-Formel in 3,1 könne daher hier auch nur als Umschreibung für „Christen“ verstanden werden und sei nicht theologisch gefüllt. Mit diesen Aussagen wolle Paulus die Korinther beschämen; in Wahrheit könne er jedoch nicht geglaubt haben, dass sie nicht zu Christus gehört hätten (vgl. a.a.O. 242 f). – Hier offenbart sich die Schwäche von Kammlers Untersuchung, da er sich nur mit 1Kor 1,10 – 3,4 befasst, aber 3,5 – 4,21 dezidiert nicht behandelt. Dort spricht Paulus explizit als Vater die Korinther als seine Kinder (τέκνα) an, die er ἐν Χριστῷ gezeugt habe. (4,14 f). Damit können die Korinther gegenüber dem Apostel aber ohne weiteres νήπιοι (gewesen) sein. Zudem macht Paulus in 1,18 – 2,9 deutlich, dass Christus in der Hauptsache als gekreuzigt zu gelten hat. Die Formel ἐν Χριστῷ hatte ich bereits mit Neugebauer (s.o.) als ‚von Christus bestimmtʻ bzw. als ‚christusmäßigʻ erfasst. Insofern sind νήπιοι ἐν Χριστῷ Gläubige, die die theologia crucis bzw. eine daran orientierte ethica crucis noch nicht realisiert haben.  Vgl. die Darstellung bei Kammler, Kreuz 176 – 185.

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Gleichermaßen ist der νοῦς Χριστοῦ (2,16) als das ‚Verständnis für Christusʻ nur durch den Geistempfang ermöglicht (2,12: ἐλάβομεν τὸ πνεῦμα τὸ ἐκ τοῦ θεοῦ).²⁰⁴ Gleichermaßen gibt es auch Übereinstimmungen im Bereich der Erkenntnis: Wollte Paulus zu Beginn in Korinth nur Jesus Christus als Gekreuzigten kennen (2,2: εἰδέναι), zeichnen sich die Weisheitslehrer durch das Annehmen des göttlichen Geistes aus (2,12a), der allein es ihnen ermöglicht die von Gott gewährten Dinge zu (er)kennen (2,12b: εἰδῶμεν). In 1,30 hatte Paulus geschrieben, dass von Gott her Jesus Christus den Gläubigen Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung geworden sei. Das (Er‐)Kennen dieser Dinge ist also gleichbedeutend mit dem (Er‐)Kennen Jesu Christi. Beides aber ermöglicht erst der Geist. Insofern zeichnet sich Paulus bereits in 2,2 als ein vom Geist Berührter. Die oben gegebene Bestimmung des Nachweises der Macht Gottes (2,4: ἀποδείξις δυνάμεως) als argumentativen Schriftbeweis kommt in die Nähe der forschenden Weise des Geistes (2,10: πνεῦμα πάντα ἐραυνᾷ). Hier liegt möglicherweise eine Verbindung zur Vorstellung der Korinther als Kleinkinder vor: Es könnte sein, dass es gerade der Nachweis der Macht Gottes aus der Schrift war, der die Korinther wie Kinder faszinierte und von der Macht und Richtigkeit des paulinischen Evangeliums überzeugte. Gleichwohl hätten sie dann aber noch nicht die Tiefe des Kreuzesgeschehens erfasst bzw. erfassen können. Andererseits könnte ein Pendant zum kindlich-kindischen Status der Korinther auch darin bestehen, dass sich die demütige und respektvolle Haltung des Paulus (2,3: ἐν φόβῳ καὶ ἐν τρόμῳ πολλῷ) darin widerspiegelte, dass er die Korinther eben nicht wie Erwachsene überforderte, sondern ganz nach ihren eigenen Bedürfnissen an den Glauben heranführte. Was die Vorstellung von einer Schwäche des Verkündigers angeht (vgl. 2,3), ergibt sich in Bezug auf 2,6 – 3,4 ein abweichender Befund: Schwäche wird hier nicht explizit gemacht.²⁰⁵ Lediglich die Nennung der ‚Herrscher dieses Äonsʻ und ihre Tat des Kreuzigens (2,6 – 8) mag einen Hinweis auf ein Machtgefälle darstellen und damit eine (vermeintliche) Schwäche, nämlich die des Herrn, anzeigen. Ansonsten erscheinen die Weisheitslehrer in 2,6 – 16 durchweg als stark, da sie als geistliche Menschen von niemandem beurteilt werden können (2,15). Möglicherweise liegt das Ausblenden des Schwäche-Motivs aber auch an der Verschiebung des Fokus auf die Korinther in 3,1 f und dem damit verbundenen Bildwechsel: Als Kleinkinder wären naturgemäß sie schwach und damit positiv gezeichnet – da

 Vgl. Wilk, Bedeutung 290.  Zwar sagt Paulus von sich, dass er die Korinther nicht unterweisen konnte (3,1); ein Zusammenhang mit 2,3 lässt sich daraus aber nicht erweisen. Anders als das negativ beurteilte Unvermögen in 3,1 ist die Schwäche von 2,3 ja etwas durchaus Positives im Hinblick auf das Wort vom Kreuz. Zudem leitet Paulus in 3,2c sein Unvermögen gleichsam auf die Korinther ab.

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Kapitel 6: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 1 – 4

Schwachheit ja von Gott erwählt ist (1,27) –, Paulus als Nährmutter erschiene im Vergleich aber mächtiger und stärker als die Korinther und damit negativ gezeichnet.Wegen dieser Logik verzichtet Paulus wohl auf eine neuerliche Nennung seiner Schwäche. Es zeigt sich alles in allem die Selbstdarstellung des Paulus in den beiden Passagen 1,18 – 2,5 und 2,6 – 3,4 wesentlich als übereinstimmend und konsistent.²⁰⁶ Gleichwohl unterscheiden sich die Funktionen der Selbstdarstellungen. In 2,1– 5 stellt sich Paulus hauptsächlich so dar, dass eine Übereinstimmung seiner Lehre mit seiner Lebensweise deutlich wird: Botschaft und Bios sind bei ihm eines. In 2,6 – 16 und 3,1– 2c steht die Übereinstimmung der geistlichen Lebensweise des Paulus mit der der anderen Weisheitslehrer im Vordergrund. Aus dieser Übereinstimmung leitet Paulus dann die gegenteilige Daseinsweise der Korinther ab und kann von da aus den Vorwurf an die Gemeinde betreffs ihrer Streitigkeiten stark machen.

2.5 1Kor 3,5 – 4,5 2.5.1 1Kor 3,5 – 23: Paulus und Apollos im Hinblick auf Gemeinde und Gericht Die Doppelfrage nach der Bedeutung²⁰⁷ von Apollos und Paulus in 3,5 a–b setzt das Thema für den neuen Abschnitt.²⁰⁸ Die explizite Beantwortung erfolgt sogleich in 3,5c sowie erneut in 4,1. Die Antwort zieht aber weitere Überlegungen, Begründungen sowie Bilder nach sich, so dass die Selbstdarstellung des Apostels weitere Facetten gewinnt. Zunächst erinnert Paulus wieder an seine Anfangszeit in Korinth und stellt die (von ihm nicht miterlebte) Wirkungszeit des Apollos daneben. Er bezeichnet sich gemeinsam mit Apollos als Diener (διάκονοι), durch welche die Korinther in der Vergangenheit dauerhaft Glauben gefasst hätten (ingressiver Aorist: ἐπιστεύσατε)²⁰⁹. In der Bezeichnung διάκονοι schwingt (im Vergleich zu anderen griechischen Titulierungen für Bedienstete) das Moment eines für den Bedienten hilfreichen und gewinnbringenden Dienstes mit.²¹⁰ Paulus lässt hier allerdings

 Die Einheitlichkeit in der Selbstdarstellung liegt letztendlich an der Einheitlichkeit der Botschaft: 2,6 – 16 bringt nichts anderes als 1,18 – 31, vgl. Kammler, Kreuz 186 – 191. Lediglich der Vertiefungsgrad ist ein höherer.  Dies ergibt sich aus dem als lectio difficilior zu geltenden Fragepronomen τί anstelle eines möglichen τίς, welches nach dem Wesen fragen würde.  Der Neueinsatz ist auch erkennbar an dem einleitenden οὖν („also“) in 3,5.  Vgl. Bachmann, Brief 154; Wolff, Brief 66.  Vgl. K. H. Rengstorf, „ὑπηρέτης κτλ.,“ in: ThWNT 8 (1969), 530 – 544 (533).

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offen, ob er Apollos und sich selbst als Diener Gottes oder als Diener der Gemeinde (oder der Menschen allgemein) bezeichnet.²¹¹ In jedem Fall sind sie Diener, die nach Maßgabe Gottes unterschiedliche Aufgaben zugeteilt bekommen hätten.²¹² Den Unterschied zwischen beiden erklärt Paulus in zwei Bildern. Das eine entstammt der Landwirtschaft (3,6 – 9b), das andere dem Bauwesen (9c–11[15]). Beide Bilder sind durch den Parallelismus v.9 auf der Bedeutungsebene miteinander verbunden. Mit dem ersten Bild (3,6 – 9b) stellt sich Paulus als derjenige dar, der die korinthische Gemeinde wie ein Gewächs gepflanzt hat (φυτεύων), gegenüber Apollos, der sie begossen hat (ποτίζων). Ihnen beiden gegenüber stehe aber (ἀλλά) Gott, der für das Wachsen sorgt (v.7), was ja kein Mensch bewirken kann. Vor diesem theologischen Hintergrund verlieren beide Missionare in ihrem jeweiligen Wirken an Bedeutung – womit Paulus den korinthischen Gemeindestreitigkeiten den Boden entzieht. Auch wenn beide Missionare verschiedene Aufgabenfelder besetzen, seien sie dennoch beide in ihrer Arbeit an der Gemeinde vereint und eins (v.8: ἕν), was wiederum ein Argument – diesmal ein ekklesiologisches – gegen die Gruppenkonkurrenz in Korinth liefert. Apollos und Paulus rücken gleichsam in der vertikalen (Gott – Mensch) sowie der horizontalen (Mensch – Mensch) Ebene aneinander und verschmelzen zu einer Einheit. Paulus denkt in diesem Bild ganz von der Gemeinde als Gesamtheit her; das einzelne Gemeindeglied interessiert darin nicht. Gleichermaßen beschwört er mit diesem Bild der Einheit der Apostel ihre zwar verschieden geartete, aber doch gemeinsame, herausgehobene Position gegenüber der Gemeinde. Dies wird auch deutlich durch v.9, in welchem als Begründung des vorangegangenen²¹³ wie auch des nachfolgenden Bildes durch die betonte Voranstellung des subjektiven Genitivattributs θεοῦ das Wirken der Apostel wie auch die Existenz der Gemeinde allein auf Gott zurückgeführt wird. Die Apostel seien demnach Gottes-Mitarbeiter (θεοῦ συνεργοί) im Gegensatz zur Gemeinde als Gottes-Wirkstätte (Landfeld bzw. Bauwerk).²¹⁴ Die Wendung θεοῦ συνεργοί ²¹⁵verweist zum

 3,22 lässt die Apostel ja durchaus als Diener der Gemeinde erscheinen, 4,1 hingegen explizit als Diener Christi, wobei hier allerdings die Bedeutung des Genitivs durchaus auch objektiv sein kann (s.u. z.St.).  V. 5d ist auf die Apostel zu beziehen, nicht auf die Korinther, vgl. Barrett, Brief 107. Die unterschiedliche Gabenzuteilung wird sogleich durch v.6 und die verschiedenen Aufgaben der Missionare deutlich.  Vgl. Merklein, Brief I 262, der v.9 nicht bloß als Begründung für v.8a oder v.8b ansieht. – Durch die Einführung des zweiten Bildes vom Bau in v.9c erweist sich dieser Vers auch als Begründung für das nachfolgende Bild.  Vgl. Bachmann, Brief 157 f.

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einen klar auf die Abhängigkeit der Missionare von Gott und auf ihre untergeordnete Rolle ihm gegenüber, da ein συνεργός tatsächlich demjenigen gegenüber verpflichtet ist, als dessen Mitarbeiter er gilt.²¹⁶ Sie verdeutlicht aber auch gerade in der Gegenüberstellung den qualitativen Unterschied zwischen Missionaren und Gemeinde, der keine Entscheidungsgewalt über sich selbst zugestanden wird. Sie ist lediglich passives Wirkfeld Gottes, auf welchem die Apostel ihrer von Gott bestimmten Arbeit nachgehen dürfen. Dass allerdings die Arbeit der Apostel verschieden beurteilt werden kann (und von Gott auch werden wird), macht der Nachsatz v.8b deutlich: „Jeder aber [von uns Aposteln Apollos und Paulus] wird den eigenen Lohn erhalten gemäß der eigenen Mühe.“ Auch wenn Apollos und Paulus gleich seien, hebt sich Paulus durch diese Bemerkung doch von dem anderen Missionar ab: κόπος bezeichnet bei Paulus die „Arbeit für Christus als ermüdende, schwere Mühe“²¹⁷. Auch wenn es letztendlich nur der Lohngeber (also Gott) sein wird, der die individuelle Mühe entsprechend bewertet, und nicht die Nutznießer der Mühe (also die Korinther),²¹⁸ macht allein die Erwähnung dieser Mühsal und des dafür zu erwartenden Lohns deutlich, dass Paulus – bei aller Propagierung der Einheit – auch die Betonung des Unterschiedes zu Apollos (und das in dieser Welt!) hier wichtig ist.²¹⁹ Zwar stellen  Für Bauer, Wörterbuch s.v. liegt die Bedeutung der Mit-Arbeit in 1Kor 3,9 nicht in einem Verhältnis zu Gott, sondern in der Beziehung der Arbeiter Paulus und Apollos als Arbeitsgenossen (im Dienst Gottes). Dies würde sich gut an den Gedanken der Einheit (v.8a) anschließen. Allerdings ist in v.7 deutlich gesagt, dass neben den Missionaren vor allem Gott am Werk ist, was das Gemeindewachstum anbelangt. Somit ist die Gemeinde im Kern ein Werk Gottes; den Missionaren kommt in diesem Werk die Funktion von Mitarbeitern bzw. Gehilfen zu. Der paulinische Sprachgebrauch in Bezug auf συνεργός deutet in die gleiche Richtung, vgl. 1Th 3,2, wo Timotheus explizit als „Mitarbeiter Gottes“ bezeichnet und ein analoges Wirken angezeigt wird.  Vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 144.  F. Hauck, „κόπος κτλ.,“ in: ThWNT 3 (1938), 827– 829 (828 f). Conzelmann, Brief 100 Anm. 51 und Fascher, Brief 133 möchten κόπος gemäß v.13 mit ἔργον gleichsetzen, verkennen aber, dass ἔργον nach v.14 eindeutig die geleistete Arbeit als nachprüfbares Werk(stück) meint (vgl. 5,2; 9,1). Κόπος setzt aber doch den Akzent auf den von Mühsal bestimmten (Arbeits‐)Vorgang (vgl. 15,58).  Vgl. dazu Bachmann, Brief 157.  Die Unterschiede zur Arbeitsmühe im Vergleich zu den anderen Missionaren macht Paulus dann auch in 15,10 deutlich, s.u. Merklein, Brief I 262 bemerkt: „Die ‚Müheʻ darf nicht auf die subjektive Anstrengung reduziert werden. Als für den Lohn relevanter Maßstab hat sie ihre objektiven Koordinaten. Dies ist einerseits der vom Herrn zugemessenen konkrete Dienst als die Vorgabe (5cβ), der die ‚Müheʻ zu entsprechen hat, und andererseits das objektive ‚Werkʻ, das durch die ‚Müheʻ zustande kommt (VV. 12– 15).“ Diese objektiven Koordinaten lassen sich ganz im Sinne des Paulus bereits jetzt (wie dann auch im göttlichen Gericht) ablesen: Die Gemeinden, die er gegründet hat, sind ja existent, wie er dann ebenfalls auf seine Beschwernisse als Apostel hinweist. Dass sich Paulus gleichwohl zuweilen über den tatsächlichen Erfolg seiner Mühen sorgt (1Th 3,5; Gal 4,11; Phil 2,16), zeigt wiederum, wie fragil sein Werk sein kann.

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die Missionare eine Einheit gegenüber der Gemeinde dar und sind somit als gleichwertig anzuerkennen. Innerhalb dieser Einheit sollen aber ihre jeweiligen Konturen nicht verwischt werden. Gleichermaßen wird aus dem Vergleich zwischen dem Pflanzenden und dem Begießenden deutlich, dass dem Pflanzenden, also Paulus, Priorität zukommt:²²⁰ Ohne ihn hätte Apollos gar nicht wirksam werden können. Dies wird auch durch das folgende Bild klar. Das zweite von Paulus verwendete Bild (9c–11[15]) stammt aus dem Bauwesen. Paulus stellt sich als²²¹ weisen Baumeister (σοφὸς ἀρχιτέκτων) von Gottes Gnaden (v.10) dar. Als solcher habe er ein für allemal Jesus Christus als das Fundament (θεμέλιον) gelegt, auf das ein anderer²²² nun erst bauen, aber eben auch nur darauf aufbauen (ἐπ-οικοδομεῖν) könne. In der exegetischen Literatur wird zu diesem Syntagma regelmäßig auf Jes 3,3 LXX hingewiesen.²²³ Der ‚weise Baumeisterʻ tritt dort als ursprünglich positiv konnotierte Gestalt auf (anstelle des ‚weisen Magiersʻ im Hebräischen), die als Teil der gesellschaftlichen Stützen neben z. B. Helden, Richtern, Propheten und Ältesten erscheint. Da diese Stützen allerdings versagen, wird in dem Gerichtswort Jes 3 angedroht, gerade sie Juda und Jerusalem wegzunehmen, was zur Übernahme der Macht durch junge Männer führt und schließlich in Unruhen endet. Die meisten Exegeten halten jedoch eine Anspielung auf Jes 3,3 für unwahrscheinlich.²²⁴ Tatsächlich bleibt bei Annehmen einer Anspielung fraglich,was Paulus mit ihr bezwecken wollte.²²⁵ Viel näher liegt hier eine analoge Redeweise, wie sie Philo somn. 2,8 vorträgt: „Jene Dinge nunmehr sollen sich als Fundamente zuvor gegründet haben, die anderen hingegen werden wir, die wir den Weisungen des weisen Baumeisters, [nämlich] der Allegorie, folgen, [darauf] aufbauen“ (ταῦτα μὲν δὴ θεμελίων

 Vgl. Wanamaker, „Rhetoric“ 131.  Man kann durch das ὡς die Selbstdarstellung des Paulus hier in bildlicher („als“) oder vergleichender („wie“) Weise verstehen, was aber keine wirkliche Alternative ist,vgl. Conzelmann, Brief 101.  Durch das ἄλλος kann Paulus generalisieren und sämtliche Missionare nach seiner eigenen Anfangstätigkeit meinen, namentlich also Apollos oder Kephas. Im Hintergrund wird aber noch immer die Gegenüberstellung und der Vergleich mit Apollos stehen, vgl. Merklein, Brief I 264.  Vgl. Lietzmann, Korinther 16; Conzelmann, Brief 101 Anm. 64; Wolff, Brief 71.  Vgl. Lindemann, Korintherbrief 83. Wilk, Bedeutung 267 bespricht die Stelle als lediglich kongruenten Ausdruck dezidiert nicht, obgleich er zu bedenken gibt, dass Paulus „wohl auch Worte wie 33 oder 135 vertraut waren“ (a.a.O. 344).  Der Vorschlag von H.-J. Inkelaar, Conflict on Wisdom. The Role of Scripture in 1 Corinthians 1 – 4, Ridderkerk 2010, 245 – 248, dass 1Kor 3,9 – 15 dezidiert vor dem Hintergrund von Jes 3 verfasst ist und damit eine Warnung an schlechte Anführer ausgesprochen wird, überzeugt nicht.

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τρόπον προκαταβεβλήσθω, τὰ δὲ ἄλλα τοῖς σοφῆς ἀρχιτέκτονος, ἀλληγορίας, ἑπόμενοι παραγγέλμασιν ἐποικοδομῶμεν).²²⁶ Die große Übereinstimmung der Worte und der speziellen Vorstellung bei Paulus und Philo lassen darauf schließen, dass Paulus in 1Kor 3,10 auf ein wenigstens im zeitgenössischen hellenistischen Judentum bekanntes Bildmotiv zurückgreift und die Phrase σοφὸς ἀρχιτέκτων vorgeprägt ist.²²⁷ So wenig wie bei Paulus lässt sich bei Philo ein Zusammenhang mit dem weisen Baumeister aus Jes 3,3 erweisen. Die Nähe zu Vorstellungen aus der ‚Diatribeʻ in Bezug auf das Fundamentlegen und dem darauf Aufbauen ist hingegen gegeben.²²⁸ Das Bild des weisen Baumeisters liefert (mehr noch als das vorherige) den engen Rahmen, in dem allein alle Missionare nach Paulus nur wirken können. Ein ἀρχιτέκτων war in der Antike ja derjenige, der bei einem Bauvorhaben für den Entwurf und die Vorplanung zuständig war.²²⁹ Wurde mit dem Bau anhand des vorgegebenen Grundrisses begonnen, konnte es zwar vielleicht noch zu Korrekturen kommen, „eine grundsätzliche Planung des Grundrisses erfolgte dabei jedoch nicht mehr“²³⁰. Der ἀρχιτέκτων war zudem auch für die Durchführung eines Bauprojekts zuständig, so dass man ihn nach heutigen Kategorien auch als Bauleiter bezeichnen kann.²³¹ Mit der eigenen Rollenzuweisung als Baumeister der Gemeinde hebt sich Paulus innerhalb der Menge der Apostel und Missionare selbst ab bzw. hebt sich selbst hervor: Durch sein Anfangswirken in Korinth allein ist die Richtung bereits bestimmt, in die sich die Gemeinde entwickeln kann und soll. Diese Richtung gilt nach wie vor. Und darüber hinaus gibt Paulus die Selbstzuweisung der Rolle eines ἀρχιτέκτων die Berechtigung, auch jetzt noch in die Angelegenheiten der Gemeinde hineinzusprechen und über sie mitzubestimmen, wenn sie sich eben nicht an den ursprünglichen (Bau‐)Plan hält.

 Angeführt bei Weiß, Korintherbrief 79 Anm. 1; Conzelmann, Brief 100 Anm. 58.  Ob dies möglicherweise mit Ex 31,3 f;35,31 f (Bezalel erhält den Geist göttlicher Weisheit, um als Baumeister tätig zu werden) zusammenhängt, bedürfte einer näheren Untersuchung, die hier nicht erfolgen kann.  Vgl.Weiß, Korintherbrief 79; Conzelmann, Brief 100; Fee, Epistle 147 f. Alle verweisen noch auf Epikt.Diss. 2,15,8 f; Philo gig. 30; mut. 211; Plut.mor. 320B.  Vgl. J. P. Heisel, Antike Bauzeichnungen, Darmstadt 1993, 157. Barrett, Brief 109 weist (nach Plat.polit. 260 A) noch darauf hin: Der Baumeister „trägt Wissen, nicht Arbeit bei, und teilt den einzelnen Arbeitern ihre Aufgaben zu“.Vgl. dazu auch Plut.mor. 807C. Der Baumeister nach Platon ist dabei ein Vertreter der intellektuellen (γνωστικός) Künste.  Heisel, Bauzeichnungen 165.  Plat.polit. 259E: ἀρχιτέκτων γε πᾶς οὐκ αὐτὸς ἐργατικὸς ἀλλ’ ἐργατῶν ἄρχων („Jeder Baumeister freilich ist nicht selbst arbeitend, sondern ein Vorgesetzter der Arbeiter.“).Vgl. den Exkurs zum Aufgabenbereich eines Architekten bei Arzt-Grabner et al., Korinther 146 – 148.

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Obgleich das Attribut σοφός in Verbindung mit der Berufsbezeichnung ἀρχιτέκτων auf die Fachkundigkeit des Baumeisters hindeutet,²³² lässt der Gebrauch dieser Vokabel gerade im Zusammenhang der in 1,17– 3,4 vorangegangenen Auseinandersetzung mit der Weisheit (σοφία) aufhorchen. Paulus’ Betonung der eigenen Weisheit in Verbindung mit der Nennung Jesu Christi als Fundament der Gemeinde weist sowohl zurück auf das Wort vom Kreuz (1,18 – 31) als auch auf die Weisheitslehre (2,6 – 16) und verknüpft beide miteinander.²³³ In 3,12– 15 wird das Bild der Gemeinde als Bau weiter mittels dem von den ‚anderenʻ Bauleuten (τις: v.12.14.15.17) verwendeten Baumaterial und dessen unterschiedlicher Qualität, welche Auswirkung auf die Belohnung im Endgericht haben wird, ausgemalt.²³⁴ Es ist nicht ganz deutlich, ob sich Paulus in diesem Zusammenhang von den Bauleuten ausnimmt, wirkt er selbst ja (über seine Brieftätigkeit und die Besuche) weiterhin in der Gemeinde und ist nicht mehr lediglich der Planer und Fundamentleger. In jedem Fall beinhaltet dieser Abschnitt eine indirekte Mahnung an die anderen Bauleute, nur im Sinne des in v.11 mit Jesus Christus identifizierten personifizierten Fundamentes (und damit natürlich auch des ursprünglichen Bauplaners und Fundamentlegers in Korinth, nämlich Paulus!) zu bauen. Dabei geht es nicht um einen profanen Bau, sondern um den Bau eines bzw. des Tempels. Von den genannten Baumaterialien weisen die ersten drei, wenn nicht gar vier (Gold, Silber, Edelsteine, Holz) auf den Tempel als Vorstellungshintergrund hin (vgl. 1Chr 29,2),²³⁵ wie es dann ja in 3,16 f explizit gesagt wird. Paulus erscheint somit als ἀρχιτέκτων für den Tempel Gottes, die anderen Bauleute als Handwerker am Tempelbau. Dies stellt einen erheblichen Anspruch für alle am Bau Beteiligten dar. Der Tempel als Vorstellungshintergrund in 3,12 f erklärt den Gedanken, der 1Kor 3,16 f zugrunde liegt. Die Mahnung dieser Verse ist auf die Korinther direkt gemünzt, indem das Bauwerk ‚Gemeindeʻ nun als der Tempel Gottes geschildert wird, in welchem dessen Geist wohne. Paulus stellt die Gemeinde als tatsächliche Wohnstatt des Geistes dar. Dies ist eine Auszeichnung, die er bislang noch nicht

 Vgl. Conzelmann, Brief 101 Anm. 64; Wolff, Brief 71 (mit Verweis auf 1Chr 22,15).  Dies ist also ein weiteres Indiz dafür, dass Kreuzeswort und Weisheitslehre nicht getrennt voneinander gedacht und behandelt werden sollten.  Merklein, Brief I 268 f betont, dass es hier nur um Einbuße des eschatologischen Lohns, nicht aber um heillose Bestrafung gehen kann.  Fascher, Brief 135; Wolff, Brief 72 stellen zwei Dreiergruppen nach Materialwert einander gegenüber: Gold, Silber, Edelsteine vs. Holz, Gras, Rohr. Allerdings betont Fascher nach Mk 13,1– 2, dass auch die edlen Materialien vor der Zerstörung durch Feuer nicht gefeit sind. Heu und Rohr haben zwar eine mindere Wertigkeit, finden aber durchaus im antiken Bauwesen Verwendung.

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offen ausgesprochen hatte. Mit ihren Streitigkeiten hatten sich die Korinther seiner Ansicht nach ja gerade ‚nicht wie geistliche Menschenʻ (3,1) offenbart. Ihr ethisches Versagen kann aber nicht die Wirksamkeit des Geistes negieren. Der Abschnitt 3,18 – 23 bringt ein erstes Fazit des bisher Geschriebenen, insofern die Motive der Weisheit (im Gegensatz zur Torheit) und des Stolzseins aus der zurückliegenden Argumentation (1,18 – 31; 2,6 – 16) erneut aufgegriffen werden und in einer doppelten Mahnung (v.18.21a mit jeweiliger Begründung in v.19 f.21b– 23) auf das anstehende Verhalten der Korinther angewendet werden.²³⁶ Die erste, mit Schriftzitaten begründete Mahnung rekapituliert Paulus’ Gedanken zum Verhältnis von weltlicher und göttlicher Weisheit (1,18 – 25; 2,6 – 16): Die weltliche Weisheit gilt in göttlicher Perspektive als Torheit.Wahre Weisheit erlangt man nur, indem man die Wertvorstellungen der weltlichen Weisheit ablegt, was (1,21– 25 zufolge) in der Annahme der nach ihrem Maßstab törichten Überzeugungen des Christusglaubens besteht. Indem Paulus solches konstatiert, bezeichnet er sich, der diesen Mechanismus erkannt hat, indirekt als einen Weisen in göttlicher Perspektive. Die zweite Mahnung folgt aus der ersten (3,21a: ὥστε/„so dass“) und führt zurück auf das Thema der gemeindlichen Streitereien (1,10 f), indem Paulus das in 1,29.31 gefallene Stichwort des Prahlens oder Stolzseins (καυχάσθαι) sowie die Namen der Missionare, zu denen sich die Korinther je halten (1,12), erneut aufnimmt. Die Mahnung besteht darin, seinen Stolz nicht auf Menschen zu gründen.²³⁷ Die Geisteshaltung des (falschen) Stolzes aufgrund einer besonderen Nähe zu einzelnen Missionaren ist als Grund für die innergemeindlichen Gruppenbildungen in Korinth und den daraus resultierenden Streitereien anzunehmen. Die für die Korinther besondere, ihnen übergeordnete Rolle dieser Missionare (auch des Paulus selbst) wird noch einmal deutlich, da sie in 3,22 in einer Reihe mit abstrakten mächtigen Größen genannt werden: Welt, Leben, Tod, Gegenwärtiges, Zukünftiges.²³⁸ Nun aber werden diese übergeordneten Instanzen den Korinthern

 Wanamaker, Rhetoric 133 f; Merklein, Brief I 279 f unterteilen in v.18 – 21a und v.21b–23, was aber (abgesehen von der Missachtung des oben dargestellten parallelen Aufbaus) die Begründung v.21b–23 ungerechtfertigterweise auf eine Stufe mit dem mahnenden Vorderteil stellt.  Die Konstruktion καυχάσθαι ἐν erscheint bereits in dem Jer-Zitat in 1Kor 1,31 und bezeichnet das Stolzsein in Bezug auf eine bestimmte Größe.  Aus der paarweisen Zuordnung von Leben und Tod bzw. Gegenwärtigem und Zukünftigem kann geschlossen werden, dass die Welt als Gegenpart zu den drei Aposteln erscheint. Die Welt repräsentiert die von der Gemeinde erfahrene nicht-christusgläubige Außenwelt, die Apostel stellen das christusgläubige Gegenüber zur Gemeinde dar, also einen (übergeordneten bzw. wenigstens gesonderten) Teil der Innenwelt der Gemeinde(n) Gottes.

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zugeordnet sowie untergeordnet. Die doppelt genannte Parole πάντα ὑμῶν (ἐστιν) („alles [ist] euer“) drückt diesen Gedanken aus, denn der Besitz eines Dinges impliziert die Verfügungsgewalt darüber. Die korinthische Verfügungsgewalt über die vier bzw. fünf letztgenannten Größen leitet sich aus der Herrschaft Gottes bzw. der Auferweckung Christi als Sieg über den Tod ab. Die Verfügungsgewalt besteht aber nicht einer tatsächlichen Macht über diese Größen, sondern in einer Art von Nicht-Betroffensein: Die Größen und Mächte dieser Welt erscheinen einem Christusgläubigen angesichts (der Macht) Gottes im Kern als indifferent.²³⁹ Insofern die Apostel in eine Reihe mit diesen Größen gestellt sind und somit auch als indifferent erscheinen, besteht für die Korinther kein Grund mehr, einen Missionar gleichsam auf den Schild zu heben und sich ihm unterzuordnen. Die Ermächtigung der Korinther wird dadurch sogleich eingeschränkt und findet ihren eigentlichen Bezugsrahmen, indem sie in eine Hierarchie eingereiht werden (v.23), so dass sich folgende Stufung ergibt: Gott – Christus – Korinther – Paulus/ Apostel/ mächtige Größen. Erneut (nach 3,5 – 9) stellt sich Paulus explizit mit den anderen Missionaren eng zusammen und betont in der Gegenüberstellung zu Gott ihre aller Bedeutungslosigkeit. Die Unterordnung der Apostel unter die Korinther lässt sich ganz im Sinne der zuvor getroffenen Selbstbezeichnung ‚Dienerʻ (διάκονοι: 3,5) deuten. Allerdings bleibt (wie schon in 3,5) offen, ob der Dienerstatus direkt auf die Korinther bezogen gilt oder ob die dienende Haltung allein gegenüber Gott gilt; sie würde dann erst sekundär in ein Dienstverhältnis gegenüber der Gemeinde münden. Das von Paulus verwendete hierarchische Bild ist im Sinne einer Bewahrung seiner Lehrautorität gefährlich. Ihm kann und darf es ja nicht auf eine völlig indifferente Haltung der Korinther gegenüber den Missionaren ankommen, so dass sie auf ein Einwirken der Apostel in Gemeindeangelegenheiten verzichten und womöglich Irrlehren entwickeln könnten. Die Bindung an die Missionare erhält Paulus durch die Bindung der Gemeinde an Christus (3,23): Insofern nur die Missionare Christus in der einzig rechten Weise verkünden, nämlich als gekreuzigt (1,23), verfügen sie über das allein heilsbringende Deutungsmonopol. Charles A. Wanamaker sieht hier durch Paulus eine ‚rhetoric of powerʻ wirken. Diese besondere Rhetorik – und mit ihr die Ausübung von Macht gegenüber der Gemeinde – besteht nun darin, dass es ja Paulus’ Überzeugungen sind, die die Korinther zur Einsicht in seinem Sinne, d. h. zur Überwindung der Streitigkeiten und zur erneuerten Einheit der Gemeinde, veranlassen sollen. „[B]y accepting this

 Gleichwohl wird in einer eschatologischen Perspektive aus der Indifferenz für die Gläubigen tatsächliche Vollmacht über die Größen und Mächte der Welt, wie aus Röm 8,38 f (Futur!) deutlich wird.

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unity, the community effectively subscribes to Paul’s authoritative position as the architect of the community’s unity, and therefore, the re-unification of the community re-inscribes Paul’s own position of dominance within it.“²⁴⁰ Es ist eine gewisse subversive Weise der Überzeugung, die Paulus hier bei den Korinthern anwendet: Indem er sich selbst als Diener der Korinther darstellt,versucht er doch, Macht über sie (zurück) zu gewinnen.²⁴¹

2.5.2 1Kor 4,1 – 5: Paulus selbst – Beurteilung allein durch den Herrn Den Dienerstatus reklamiert Paulus für sich selbst sowie die anderen Apostel (ἡμᾶς!)²⁴² gegenüber aller Welt²⁴³ mit deutlichen Worten in 4,1 und leitet so über zum Abschluss des Argumentationsteils 3,5 – 4,5²⁴⁴. Allerdings modifiziert Paulus hier die Begrifflichkeiten: Statt διάκονοι (3,5) gebraucht er ὑπηρέται, was aber wohl nur einen synonymen Begriff darstellt.²⁴⁵ Durch das Genitivattribut Χριστοῦ bindet Paulus den Dienst der Apostel deutlich an Christus zurück; wie schon beim erweiterten Aposteltitel (1,1) ist sowohl eine subjektive als auch eine objektive Deutung des Genitivs möglich. Die anschließende parallele Charakterisierung „Verwalter der Geheimnisse Gottes“ macht es aber wahrscheinlich, dass bereits in der ersten Hälfte ebenfalls ein objektiver Genitiv zu lesen ist: Diener in Bezug auf Christus.²⁴⁶ Christus bildet dann den Inhalt von Paulus’ Dienst. Diese Deutung passt auch gut zur Kritik des Apostels in 4,3, dass er sich nicht beurteilen lassen will. Christus stellt dann den einzigen Beurteilungsmaßstab für Leben und Lehre des Apostels dar. Neben der Dienerbezeichnung führt Paulus zur apostolischen Aufgabenbeschreibung den Begriff des (Haus‐)Verwalters (οἰκονόμος) ein, welcher mit den Geheimnissen Gottes (μυστηρίων θεοῦ) betraut ist. Der Plural μυστηρίων bezieht

 Wanamaker, „Rhetoric“ 134.  Gleichwohl bezweckt dieser Machtgewinn nicht das Niederherrschen der Gemeinde, sondern vielmehr ihre Befreiung und Erlösung – ganz im Sinne des Jesus-Logions Mk 10,42– 45, das den Menschensohn als Diener und (Er‐)Löser beschreibt.  Wie schon in 3,5 sind mit den Dienern Paulus und Apollos gemeint, wobei hier nun noch Kephas (3,22) hinzutritt.  Hier steht ἄνθρωπος für unpersönliches ‚manʻ, vgl. Lietzmann, Korinther 18; Conzelmann, Brief 109. In Verbindung mit dem Imperativ λογιζέσθω wird dies zu einer allgemeinen Forderung. Diese Forderung drückt gleichermaßen den Anspruch des Apostels aus.  Zur möglichen Teilung zwischen 4,2 und 4,3 und dem Zuweisen von 4,1 f zu 3,5 – 23 s. o. Abschnitt 2.1.  Vgl. Barrett, Brief 123. Arzt-Grabner et al., Korinther 161: „ὑπηρέται sind subalterne Funktionäre, denen die Ausführung von aufgetragenen Geschäften und deren Überwachung obliegt“.  Vgl. Merklein, Brief I 291.

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sich sicherlich auf die ‚Gottes-Weisheit im Geheimnisʻ in 2,7 (und damit auf das Paradoxe des Kreuzes) zurück, meint darüber hinaus aber wohl noch weitere, eschatologische Geheimnisse.²⁴⁷ Für das Wortfeld μυει- ist im corpus Paulinum die Verbindung mit θεός geläufig. Direkt ist das hier in 1Kor 4,1 und dann in Kol 2,2 der Fall, wo das Genitivattribut θεοῦ auf das Substantiv μυστήρια bzw. μυστήριον folgt. In Kol 2,2 beschreibt die Wendung das göttliche Geheimnis mit Gott als Auktor bzw. Subjekt,²⁴⁸ ebenso in 1Kor 4,1, wo es um Gottes verborgene Heilsgedanken geht.²⁴⁹ Eine indirekte Verbindung zwischen Geheimnis und Gott besteht insofern stets, da der Begriff μυστήριον wohl seit seiner Bildung eng mit dem Bereich der Religion verknüpft ist und diese Bindung nie ganz aufgelöst hat.²⁵⁰ Im hellenistisch-jüdischen Sprachgebrauch herrscht seit der LXX-Fassung des Dan der Sinn von μυστήριον als „einer verhüllten Ankündigung der von Gott bestimmten, zukünftigen Geschehnisse, deren Enthüllung und Deutung allein Gott […] und den von seinem Geist Inspirierten vorbehalten ist“²⁵¹, vor. Für die Christusgläubigen sind die von Gott bestimmten Geschehnisse freilich bereits in Jesus Geschichte geworden.

Apollos, Kephas und Paulus sind demnach Träger der göttlichen Geheimnisse im Auftrag Christi. Unter diesen Geheimnisträgern nun suchen die Korinther,²⁵² auf dass jemand Vertrauenswürdiges (πιστός) gefunden werde bzw. als treu befunden

 Vgl. Gladd, Mysterion 169. Dass es noch weitere Geheimnisse neben dem eigentlichen Christus-Mysterium gibt, zeigen 13,2 und 14,2, wo die Geheimniskunde eng mit der Prophetie verbunden erscheint (13,2a bzw. 14,1.3).  Vgl. P. Pokorný, Der Brief des Paulus an die Kolosser (THK 10/1), Berlin 1987, 89 f.  Vgl. Zeller, Brief 174 f.  Vgl. G. Bornkamm, „μυστήριον κτλ.,“ in: ThWNT 4 (1942), 809 – 834 (810.817).  Bornkamm, „μυστήριον“ 821.  Es gibt zwei Text- und drei Verstehensvarianten der Verbform in 1Kor 4,2a: Die Mehrheit der Kommentare (z. B. Bachmann, Brief 179 f; Lietzmann, Korinther 18; Wolff, Brief 78 f) liest hier den Indikativ ζητεῖται („es wird gesucht“).Viele und wichtige Textzeugen (u. a. p46) haben stattdessen die Verbform ζητεῖτε.Weiß, Korintherbrief 94 f nimmt von daher den Imperativ ζητεῖτε („suchet!“) statt der Indikativform ζητεῖται an. Schließlich lässt sich die Verbform ζητεῖτε aber auch indikativisch („ihr sucht“) verstehen, was sich von Epikt.Diss. 2,12,24 her nahe legt, wo ein (Nominal‐) Satz mit einem ὧδε λοιπόν eingeleitet wird, aber in der Literatur nicht weiter beachtet wird (möglicherweise wegen des Imperativs ζητεῖτε + ἵνα in 1Kor 14,12). Die Übersetzung von ζητεῖν in 1Kor 4,2a mit ‚suchenʻ (statt ‚verlangenʻ) ergibt sich m. E. sprachlogisch aus der Gegenüberstellung zum ‚Findenʻ in v.2b und hat eine ausgiebige biblische Sprachtradition (vgl. etwa Dtn 4,29; 1Chr 28,9; 2Chr 15,2; Ps 37,36 [= 36,36LXX]; Prov 1,28; 8,17; Qoh 8,17;12,10; Jes 41,12; 55,6; 65,1 [= Röm 10,20]; Jer 5,1; Mt 7,7 f par.), findet sich aber der Natur der Sache nach ebenso im außerbiblischen Sprachgebrauch (vgl. etwa Aristoph.Eccl. 334). (Ein Wortspiel vor diesem sprachlichen Hintergrund scheint mir auch in Gal 2,17 vorzuliegen.)

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wird (4,2).²⁵³ Die Vertrauenswürdigkeit bzw. Treue ist eine Eigenschaft, die generell von jedem Verwalter verlangt wird (vgl. Lk 12,42). Den Kreis der Suchenden (die durch den Akt des Findens zu Beurteilenden werden) beschränkt Paulus zunächst auf die Korinther, öffnet ihn aber in den folgenden Versen auf die Welt und zum Herrn hin. Allein dieser wird aber als für Paulus legitime Instanz der Beurteilung gewertet. 1Kor 4,3 f fokussiert auf Paulus selbst im Gegenüber zu den Korinthern und überhaupt der Menschheit. Das hervorgehobene ἐμοὶ δέ stellt dabei eine Analogie zu den pointierten κἀγώ in 2,1(3); 3,1 dar. Die hervorstechende Stellung des Personalpronomens betont, für wie unbedeutend es ihm ist, von welchen Menschen er beurteilt werde – einschließlich seiner selbst (4,3b). Sie impliziert gleichzeitig, wie wichtig es offenbar für die Korinther war, ihn zu beurteilen, aber auch wie wichtig es für die anderen Missionare war, beurteilt zu werden. Indem Paulus auf die Unwichtigkeit des eigenen Beurteilt-Werdens verweist, stellt er sich als von sämtlichen menschlichen Beurteilungsinstanzen unabhängig sowie als uneitel dar. Die Aussage in 4,4a, dass sich Paulus nichts (im Sinne von ‚keines Fehlersʻ) bewusst sei, stellt das eigene Von-Sich-Überzeugtsein hinsichtlich seiner Amtsführung heraus.²⁵⁴ Im Hinblick darauf kann er sich selbst nichts vorwerfen, was er in v.4b–c dahingehend relativiert, dass ihm dies nicht zur Rechtfertigung gereicht, sondern allein der Herr ihn beurteilt. Übertragen auf Paulus’ Zeit in Korinth, aber auch sein anhaltendes Verhältnis zur Gemeinde bedeutet dies, dass sein Auftreten gegenüber den Korinthern nicht anders als wie geschehen erfolgen konnte und kann. Entscheidend bleibt die Treue gegenüber dem anvertrauten Amt. Der Gedanke der Beurteilung durch den Herrn eröffnet erneut die Perspektive auf das Endgericht, wie sie bereits in 3,8.13 – 15 eröffnet wurde. Paulus unterstellt sein Leben also ganz dem endzeitlichen Urteil Gottes. Damit unterstreicht er, völlig von den Korinthern unabhängig zu sein. Diese Behauptung der Indifferenz gegenüber dem Urteil der Korinther versetzt Paulus im Verhältnis zu ihnen in eine Position der Stärke. Auch wenn Paulus in 4,3 f in der 1.P.Sg. und in v.5b passivischunpersönlich spricht, bleiben doch die anderen Apostel im Blick. In v.5c sind sie in dem Gedanken, dass einem jeden (ἑκάστῳ, vgl. 3,8.13) Lob von Gott geschehen

 Die passivische Form von εὑρίσκειν erscheint selten, aber beständig als Terminus in amtlichen Feststellungen im Sinne von ‚befindenʻ, vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 163 f. In 1Makk 2,52; Sir 44,20 wird über Abraham ausgesagt, dass er in seinen Prüfungen für ‚treu befundenʻ (εὑρέθη πιστός) wurde, vgl. Zeller, Brief 175 Anm. 507.  Zeller, Brief 176 ist zuzustimmen, dass es hier nicht um eine ihm selbst verborgene mögliche Schuld im psychologischen Sinne geht.Vielmehr beschreibt Paulus hier eine mögliche Verletzung seines Verwalter- bzw. Dieneramtes.

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werde, aufgenommen. Gerade nach den vorherigen Gerichtsaussagen, die den Paulus nachfolgenden Missionaren gegolten hatten und eher neutral (3,8) bis bedrohlich (3,12– 15) gehalten waren, macht nun der Apostel die Vorstellung stark, dass ihnen allen Lob zuteil werden wird. Die Vergabe von Lob setzt die zufrieden stellende Erfüllung einer aufgetragenen Aufgabe voraus – in diesem Fall die ordentliche Verwaltung der Geheimnisse Gottes sowie das Dienen hinsichtlich Christus. Insofern Paulus einem jeden Apostel den Empfang dieses Lobes zusagt, konstruiert er erneut eine Einheit der Verkündiger. Vor diesem Vorstellungshintergrund sollen die Korinther, da das Endgericht und damit das endgültige Urteil durch den Herrn noch ausstehen, nicht ‚vor der Zeitʻ ein Urteil über ihre Apostel fällen (4,5a): Sie allesamt haben Lob verdient und werden es auch (von Gott her) erhalten.

2.5.3 Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 3,5 – 4,5 – Deutung Vier Rollen nimmt Paulus in diesem Abschnitt für sich in Anspruch: Diener, Pflanzender, Baumeister, Verwalter. Allen diesen Rollen ist gemeinsam, dass sie ihren Bezugspunkt bei Gott bzw. Christus haben. Als Diener ist Paulus Diener in Bezug auf Christus (4,1) bzw. verschafft den Korinthern den rechten Glauben (3,5). Als Pflanzender (der Gemeinde) ist Paulus auf das Wachsen durch Gott angewiesen (3,7). Baumeister kann er nur aufgrund der göttlichen Gnade sein (3,10). Verwalter schließlich ist er hinsichtlich der Geheimnisse Gottes (4,1). Die Rolle als Diener sowie als Geheimnisverwalter teilt er mit den anderen Missionaren Apollos und Kephas. Hingegen stellen die Charakterisierungen als Pflanzender wie auch als Baumeister exklusive Rollen dar, die Paulus eine Priorität hinsichtlich des missionarischen Wirkens in Korinth zuweisen. So sehr Paulus auch die Einheit der Apostel gegenüber den Korinthern betont, bleibt doch gleichzeitig der Unterschied und damit auch eine unterschiedliche Gewichtung der Apostel gewahrt. Dies dient weniger der Schwächung des Ansehens der anderen Missionare als vielmehr der Stärkung der Autorität des Paulus im Hinblick auf die Korinther. Dies wird auch deutlich durch den letzten Abschnitt 4,1(3)–5. Anders als die vorangehenden Teilschlussabschnitte 2,1– 5 und 3,1– 4, in denen Paulus nach einem allgemein gehaltenen Teil auf sich selbst zu sprechen kommt und die eine epideiktische Argumentation aufwiesen, kann man 4,1(3)–5 der Dikanik zuordnen.²⁵⁵ Dies wird deutlich durch die imaginierte Situation, dass Paulus von verschiedenen Instanzen (unter anderem einem menschlichen Gerichtstag: v.3) beurteilt wird. Er befindet sich also in einer Verteidigungshaltung –

 Vgl. Berger, Formen 426.

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auch wenn er die Anklage zunächst scheinbar an sich abgleiten lässt und für unbedeutend deklariert. Gleichwohl appelliert Paulus an eine höhere Instanz, nämlich das Endgericht Gottes. Bereits in 3,12– 15 hatte er diese Instanz ins Spiel gebracht. War er dort darauf aus, mittels der ihm zukommenden Priorität gegenüber den anderen Missionaren (bzw. nur Apollos) selbst und allein in eine vorteilige Position zu kommen, bindet er in 4,5 die anderen Missionare ein und erkennt ihnen sowie sich selbst das Lob Gottes für ihre geleistete Arbeit zu. Im Endeffekt kommt es ihm aber auf eine Stärkung der eigenen Position gegenüber den Korinthern an. Dies ist umso wichtiger, da er auf der anderen Seite im Interesse einer Überwindung der gemeindlichen Gruppenstreitigkeiten argumentativ eine völlige Abwertung der Missionare vornimmt (3,22). In dieser Spannung zwischen Selbstabwertung und Selbstaufwertung gegenüber Gemeinde und Missionaren findet Paulus’ Selbstdarstellung nur in ihrem Bezug auf Gott und dessen ausstehendes (positives) Urteil über den Apostel einen festen Halt.

2.6 1Kor 4,6 – 21 2.6.1 1Kor 4,6 – 13 – Korinther und Apostel Mit 4,6 beginnt der letzte Argumentationsteil der ersten vier Kapitel. Die korrekte Lesart und damit Deutung des Verses hat der Forschung bis heute viel Kopfzerbrechen bereitet.²⁵⁶ Klar ist, dass Paulus bestimmte Dinge (ταῦτα) auf sich selbst und Apollos hin ‚um-gestaltetʻ (μετα-σχηματίζειν) hat. Diese Umgestaltung entspricht Johan Vos zufolge einer Anwendung des Allgemeinen auf das Besondere, also einer Exemplifikation: An Paulus und Apollos soll etwas verdeutlicht werden.²⁵⁷ Als Paarung tauchten Paulus und Apollos in 3,5 – 4,5 (ab 3,22 erweitert um Kephas) auf; von daher wird sich ταῦτα auf die vorangehende Passage mitsamt den bildlichen Vergleichen beziehen.²⁵⁸ Jedoch fußen diese Bilder wiederum auf der Heilsbotschaft des Paulus (3,11), genauer auf dem Kreuzeswort (1,23 f.30), sowie der Beschreibung seiner Mission unter den Korinthern (2,1– 5; 3,1 f), womit

 Vgl. zur Diskussion etwa Merklein, Brief I 301 f.  Vgl. J. S. Vos, „Der ΜΕΤΑΣΧΗΜΑΤΙΣΜΟΣ in 1Kor 4,6,“ in: ZNW 86 (1995), 154– 172 (163 – 171). Wie Vos wendet sich auch Anderson, Theory 248 f gegen ein Verständnis von μετεσχημάτισα als eines antik-rhetorischen Fachausdrucks und schließt aus außerbiblischen Textvergleichen, dass die Formel μετασχηματίζειν ταῦτα εἰς Παῦλον wohl zu übersetzen sei mit „to change the form of these things to a Pauline form“ bzw. „apply these things to Paul“.  Vgl. Merklein, Brief I 306; Wolff, Brief 84.

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auch der Passus 1,10 – 3,4 in das ταῦτα einfließen wird und es sich damit also insgesamt auf 1,10 – 3,23 bezieht.²⁵⁹ All diese Dinge hat Paulus nun umgeformt und gemünzt auf die beiden Apostel. Paulus verdeutlicht den Korinthern, dass der zuvor geschehene Vergleich von Apollos und ihm selbst (mit den Gemeinsamkeiten aber auch den getroffenen Unterschieden) ihnen als Lehrbeispiel dienen sollte (ἵνα ἐν ἡμῖν μάθητε) – wofür ist freilich umstritten. Die Bedeutung der Formel τὸ μὴ ὑπὲρ ἃ γέγραπται ist nicht eindeutig.²⁶⁰ Der Gebrauch von γέγραπται an anderen Stellen bei Paulus²⁶¹ lässt allerdings darauf schließen, dass er auch hier auf die Schrift anspielt.²⁶² Damit ergibt sich eine Deutung dahingehend, dass die Korinther an Apollos und Paulus, den Dienern in Bezug auf Christus (3,5; 4,1) und göttlichen Geheimnisverwaltern²⁶³ (4,1), die in ihrem Wirken letztendlich eine Einheit bilden (3,8), deren Treue zur Schrift ablesen sollen:²⁶⁴ Beide verhalten sich so und lehren entsprechend, wie es die Schrift vorgibt. Inhaltlich meint das die Absage an das eigene Stolzsein und Prahlen, wie es durch das Jer-Zitat in 1,31 ausgesagt und noch einmal in 3,21 aufgenommen wurde.²⁶⁵ Der Konsekutivsatz 4,6c verdeutlicht dann, dass letztlich das apostolische Lehrbeispiel den Korinthern dazu dienen soll, den Wettstreit (also das angeberische ‚Aufblasenʻ) aufgrund der Zugehörigkeit zu einem der

 Vgl. Gladd, Mysterion 186.  Conzelmann, Brief 112 nennt den Passus schlicht „unverständlich“. Vgl. die Diskussion bei Fascher, Brief 146 f; Fitzmeyer, Corinthians 215 f. L. L. Welborn, „A Conciliatory Principle in 1 Cor. 4:6,“ in: NT 29 (1987), 320 – 346 hält 4,6b für die Wiedergabe einer allgemein bekannten, kulturübergreifenden Maxime, die zur Versöhnung aufruft; er kann allerdings keine wirkliche literarische Parallele dafür anführen. Fitzgerald, Cracks 124– 127 erkennt hier (nach Sen.ep. 94,48 – 51) die Schreibausbildung als Hintergrund: Die Korinther als Schreibschüler sollen ihre Lehrer imitieren und nicht über die vorgegebenen Hilfslinien hinaus schreiben.  Die Stellen in 1Kor sind 1,19.31; 2,9; 3,19; 9,9; 10,7; 14,21; 15,45; ansonsten Röm 1,17; 2,24; 3,4.10; 4,17; 8,36; 9,13.33; 10,15; 11,8.26; 12,19; 14,11; 15,3.9.21 2Kor 8,15; 9,9; Gal 3,10.13; 4,22.27.  Vgl. J. R.Wagner, „‚Not Beyond the Things Which Are Written‘: A Call to Boast Only in the Lord (1 Cor 4.6),“ in: NTS 44 (1998), 279 – 287 (279 Anm. 4); Wolff, Brief 85.  Gerade auf diese Verbindung von 4,6 zu 4,1 macht Gladd, Mysterion 186 (natürlich ganz im Sinne seiner Ausgangshypothese, dass Paulus eine danielische Figur sei) aufmerksam.  Gladd, Mysterion 189: „Paul, acting as a steward of mysteries, connects the mystery of the cross with six OT quotations. He is an example (μετεσχημάτισα) of one who does not exceed what is written (τὸ μὴ ὑπὲρ ἃ γέγραπται).“ Gladd übergeht bei dieser Deutung allerdings, dass das Gleiche auch für Apollos gilt.  Vgl. Wagner, „Things“ 281– 283. Wagner hält es darüber hinaus durchaus für möglich, dass neben Jer 9,22 auch 1Reg 2,10 als Schrifthintergrund für die Diskussion in 1Kor 1– 4 in Frage kommen (a.a.O. 283 – 285).

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beiden Apostel aufzugeben.²⁶⁶ Denn das Ziel aller Beteiligten – Gemeinde sowie Apostel – bestehe schließlich darin, dass alle dereinst gemeinsam herrschen werden (v.8: συμβασιλεύσωμεν). Mit dieser (eschatologischen) Zielangabe einher geht die vorherige Kritik des korinthischen Prahlens (v.7), die bereits in 3,21, aber auch in 1,26 – 31 anklang und die Paulus nun zur Charakterisierung der Geisteshaltung in der Gemeinde heranzieht (4,8). An dieser Stelle erhebt sich die Frage, ob die Korinther in den Kategorien einer (über‐)realisierten Eschatologie dachten²⁶⁷ oder nicht. 1Kor 4,8 ist dahingehend ein Schlüsseltext. Richard B. Hays weist darauf hin, dass das zweifache ἤδη („schon“) nicht aus der Perspektive der Korinther, sondern vielmehr aus der Perspektive des Paulus zu lesen ist.²⁶⁸ Dann geht es hier aber nicht darum, dass die Korinther von sich selbst behaupteten, bereits satt, reich und Könige geworden zu sein; vielmehr erscheint dies als ironischer Vorwurf des Apostels, dass sie, die eben völlig jenseits von eschatologischen Kategorien denken, dadurch notwendig eschatologische Existenzmerkmale vorwegnehmen – was aber nicht möglich sei, weshalb hier ein ironischer, also das Gegenteil meinender Vorwurf vorliegt. (In diesem uneschatologischen Sinne ist dann auch 15,12 zu deuten.) Die Ironie des Paulus bezieht sich damit also auf den zeitlichen Aspekt seiner Aussage. Er verwirft und kritisiert die Arroganz der Korinther, die sich im Gegeneinander-Aufblähen zeigt.²⁶⁹ Von der Deutung, dass Paulus in die Diskussion die eschatologische Kategorie einführt, ist die Tatsache unbeschadet, dass die Korinther (Paulus zufolge) von sich behauptet haben, satt, reich und Könige zu sein. Mit dem im NT seltenen Wort κορέννυσθαι („gesättigt sein/ genug haben“), das sonst nur noch in Act 27,38 vorkommt, kann Paulus sowohl an das Bild von ihm selbst als (Nähr‐)Mutter und den Korinthern als Säuglingen (1Kor 3,1 f) anknüpfen als auch in Verbindung mit den in 4,8b–c folgenden πλουτεῖν („reich werden“) und βασιλεύειν („als König herrschen“) ein neues Bild heraufbeschwören, nämlich das von den Korinthern als in Reichtum schwelgenden Herrschern.²⁷⁰  Die Übersetzung von v.6c lautet dann: „damit ihr euch ja nicht jeder für sich aufblase im Interesse des einen [Apostels und damit] gegen den anderen [von uns beiden Aposteln].“ Falls sich Paulus mit dieser Forderung primär an die Apollos-Leute gerichtet hat, stärkt er damit natürlich seine eigene Position unter dem Anschein, diese eigentlich abzuschwächen.  Vgl. etwa A. C. Thiselton, „Realized Eschatology at Corinth,“ in: NTS 24 (1978), 510 – 526. Zu Ursprung und Rezeption dieser Idee vgl. R. B. Hays, „The Conversion of the Imagination: Scripture and Eschatology in 1 Corinthians,“ in: NTS 45 (1999), 391– 412 (407 f Anm. 41).  Vgl. Hays, „Conversion“ 408 f.  Vgl. Tomlin, „Christians“ 57.  So wird etwa bereits bei Xen.mem. 3,11,13 der Zusammenhang von Sättigung (κορέννυσθαι) und Speisen (βρῶμα, vgl. 1Kor 3,2) hergestellt, dieser aber in Xen.mem. 3,11,14 als Bild in einen

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Dieser Geisteshaltung der Korinther stellt Paulus in 4,9 – 13 die Darstellung des apostolischen Dienstes gegenüber.²⁷¹ In diesem Abschnitt spricht er in einem durch Personalpronomina betonten Plural, der seine Hervorhebung noch zusätzlich durch den Gebrauch der 1.P.Sg. in v.9 erhält (δοκῶ/„ich meine“). Da er in v.6 die 1.P.Pl. mit sich selbst und Apollos identifiziert, liegt es nahe, auch in v.8 diese beiden als gemeint zu verstehen. Ab v.9 setzt er die ‚Wirʻ-Gruppe mit den Aposteln gleich. Da Textsignale fehlen, die in eine andere Richtung weisen, wird auch hier Apollos mitgemeint sein.²⁷² Dies trägt zur weiteren Gleichgewichtung der beiden Missionare bei.²⁷³ Indem Paulus Apollos in die Reihe der Apostel einordnet, unterstellt er ihn den besonderen, für sie geltenden Maßstäben: Ein Abgesandter des Herrn zu sein bedeutet sowohl eine Würde, aber doch auch und vor allem eine Bürde. Paulus stellt den Dienst der Apostel und damit sein eigenes Wirken als nach weltlichen Maßstäben äußerst beschwerlich dar: Die Apostel seien von Gott gleichsam als zum Tode Verurteilte wie im römischen Theater der Welt vorgestellt.²⁷⁴ Damit seien sie die ‚Unterstenʻ (ἔσχατοι) der Menschen. In 4,10 stellt Paulus in kurzen Nominalsätzen sich und die Apostel antithetisch den Korinthern gegenüber und greift dabei bereits angeklungene Stichworte zur Selbstbeschreibung auf: μωρός (1,18), ἀσθενής (1,25; 2,3), ἄτιμος (1,28).²⁷⁵ Damit beansprucht Paulus einmal mehr für sich mitsamt den anderen Aposteln, in Übereinstimmung mit seiner Botschaft zu leben. Gleichermaßen bekräftigt er, dass die Korinther nicht nach seiner und überhaupt der apostolischen Lehre leben, so sie sich für

anderen Kontext (die Sexualität) übertragen. Fitzgerald, Cracks 133 macht auf das Gegenüber von (leiblichem) Hungern und Dürsten der Apostel in 1Kor 4,11 und dem (geistigen) Satt-Sein der Korinther in v.8 aufmerksam und stellt aufgrund zahlreicher literarischer Parallelen die Nähe des Satt-Seins zur Hybris bzw. zur Aufgeblasenheit heraus.  Vgl. zu Aufbau und Struktur von 1Kor 4,7– 13 Fitzgerald, Cracks 129 – 132.  Vgl. Bachmann, Brief 192. Paulus bezeichnet Apollos sonst zwar nirgends als Apostel. Zuvor hat er ihn allerdings bereits mit Petrus auf eine Stufe gestellt (3,22), und gleichen Ranges mit Paulus und Petrus wurde Apollos ja auch von den Korinthern gesehen (1,12).  Wolff, Brief 87 sieht hingegen – 1Kor 9,1; 15,7 zufolge – den Aposteltitel nur auf Paulus bezogen; ebenso Merklein, Brief I 312. Merklein fragt sich aber, ob nicht auch Paulus’ Mitarbeiter in das ‚wirʻ miteinbezogen sind. Derart entscheidet Fascher, Brief 149, auch wenn Paulus sie sonst nie als Apostel bezeichnet, vgl. Conzelmann, Brief 115 Anm. 34.  Vgl. Conzelmann, Brief 115 f. Barrett, Brief 135 macht anhand von Seneca, De Prov. 2,9 auf die Analogie von apostolischer und stoisch-philosophischer Lebensweise aufmerksam, wobei bei Seneca das Schauspiel des aufrecht Leidenden vor einem Gott (Jupiter) stattfindet, wohingegen es bei Paulus „der Welt und Engeln und Menschen“ (1Kor 4,9) dargeboten wird.  Vgl. Merklein, Brief I 112 f.

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verständig bzw. weise²⁷⁶ (φρόνιμος), stark (ἰσχυρός) und ruhmvoll (ἔνδοξος) halten.²⁷⁷ 4,11– 13 bringt einen Peristasenkatalog²⁷⁸, der (gegenüber dem Aorist v.9) im Präsens den gegenwärtigen und andauernden (ἄχρι τῆς ἄρτι ὥρας / ἕως ἄρτι) Zustand der Apostel beschreibt: Sie seien mittel- wie heimatlos, litten unter Gewalt und mühten sich durch eigener Hände Arbeit²⁷⁹ (v.11– 12a). Diese dramatische Schilderung wird ausgeschmückt durch eine antithetische Reihe (v.12b–13a), in der die Reaktion der Apostel auf ihre Widerfahrnisse als widernatürlich, oder besser: widerweltlich, beschrieben wird: Trotz schlimmer Erfahrungen blieben sie standhaft und würden sogar den Gegnern durch Segen und Ermunterungen Gutes erweisen.²⁸⁰ Der Passus kulminiert in der Aussage, Paulus und die Apostel seien Auswurf der Welt und Abschaum des Alls (v.13b).²⁸¹ In drastischer Weise „drückt Paulus damit seine Niedrigkeit aus und schafft so einen verletzenden Kontrast zur ‚Herrschaft der Korinther‘“²⁸², der umso verletzender wirkt, als dass durch den Plural sich Paulus ganz klar in die Front der gesamten Apostelschaft eingereiht hat, die in krasser Weise den Korinthern gegenübersteht. Was die Einordnung in ein rhetorisches Genus angeht, so lässt sich 1Kor 4,6 – 13 insgesamt dem epideiktischen Genus zuweisen. Zwar stellen v.7 f eine Schelte dar, die eigentlich der Symbuleutik zuzuordnen ist.²⁸³ Da aber die Argumentationsmittel von Epideiktik und Symbuleutik identisch sind,²⁸⁴ und es in epideiktischen Argumentationen um den Ausschluss einer Größe zugunsten einer anderen geht,²⁸⁵ lassen sich v.7 f als eine eben solche erfassen. Der folgende Peristasenkatalog v.9 – 13 als eine Art Tugendkatalog ist ohnehin der Epideiktik

 Φρόνιμος ist durchaus üblicher Wechselbegriff zu σοφός, vgl. Conzelmann, Brief 116. Allerdings schwingt bei Paulus sonst in diesem Wort auch ‚überhebliche Klugheitʻ mit, vgl. Wolff, Brief 88. Insofern geht es mit Fascher, Brief 150 um eine Ironisierung der korinthischen Einbildung.  Der Zusatz „in Christus“, d. h. ‚christusmäßigʻ, nennt den Bezugspunkt von Verständigkeit, Stärke und Ruhm der Korinther, vgl. Wolff, Brief 88.  Vgl. zur Gattung des Peristasenkatalogs Berger, Formen 284– 287.  Es ist beachtenswert, dass Paulus die eigene Arbeit hier als etwas Negatives und v. a. als unausweichliche Peristase schildert. In c.9 stellt er die eigene Arbeit als freiwilligen Privilegienverzicht dar.  Dies erinnert stark an die Ethik der Bergpredigt, vgl. Barrett, Brief 137, Merklein, Brief I 316.  Die Frage, ob hinter den Begriffen περικάθαρμα und περίψημα alte Sündenbock- bzw. Sühnopfervorstellungen tatsächlich noch verstanden werden (so Barrett, Barrett 138), verneint Merklein, Brief I 316 f; ebenso Fitzmeyer, Corinthians 220.  Fascher, Brief 152.  Vgl. Berger, Formen 252– 257.  Vgl. Berger, Formen 162.  Vgl. Berger, Formen 161.

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zuzuweisen.²⁸⁶ Deutlich ist jedenfalls die Ablehnung, die Paulus gerade im Vergleich mit der apostolischen Lebensweise gegenüber dem Verhalten der Korinther zum Ausdruck bringt. In ihrer eingehenden Untersuchung des 1Kor als eines durchgängig symbuleutischen Schreibens kommt Margaret M. Mitchell²⁸⁷ zu dem Befund, dass es in 1,18 – 4,21 und dort v. a. in c.3 – 4 auch epideiktische Elemente gebe:²⁸⁸ Die Korinther würden von Paulus nach dem Muster des Enkomions – mit dessen Bestandteilen γένος (Herkunft), ἀνατροφή (Erziehung), πράξεις (Taten), σύγκρισις (Vergleich) –getadelt. Und in der Tat: Die ersten beiden Bestandteile (Herkunft und Erziehung) kann man recht gut an den korinthischen Gründungslegenden 2,1– 5 und 3,1– 4 ablesen.²⁸⁹ Die Taten (πράξεις) der Korinther findet Mitchell in verschiedenen Vorwürfen über c.1– 4 verteilt beschrieben:²⁹⁰ Prahlen (1,29 – 31; 3,21; 4,7), gegeneinander Aufblasen (4,6.8), Gruppenbildung (1,12; 3,4), überhebliches Richten (4,1– 5). Der abschließende Vergleich (σύγκρισις) ist dann in 4,1– 13 zu suchen und interessiert uns hier besonders, vergleicht Paulus die Korinther doch mit sich selbst und den anderen Missionaren. Der Vergleich kommt eben dadurch zustande, dass Paulus sich selbst und Apollos zu Beispielen erhebt (4,6), die den Korinthern eine nachzuahmende Lebensweise vorgeben. War durch die vorhergehenden Bilder die generelle Einigkeit von Paulus und Apollos behauptet worden (mit einem qualitativen Unterschied zugunsten des Paulus), kann nun der Vergleich mit den Korinthern geschehen (4,10 – 13). Mitchell erkennt wegen der Beschreibung des apostolischen, weltlicher Logik widersprechenden Verhaltens hier ein „paradoxical encomium“²⁹¹. Ein paradoxes Enkomion meint das Loblied auf eine Sache oder Person, die an sich gut und lobenswert ist, dem Anschein nach allerdings schlecht.²⁹² Die Kategorie des para-

 Vgl. Berger, Formen 287.  Sie hält 1Kor für ein Schreiben, das als ein Ganzes wie eine deliberative Rede vom Thema der Eintracht bestimmt sei. Mit Anderson, Theory 254– 265 kann man diesen Ansatz aber als vergeblich betrachten.  Vgl. Mitchell, Paul 213 – 225.  Vgl. Mitchell, Paul 216 – 218. 1Kor 3,2 stellt wortwörtlich die Babynahrung der Korinther vor.  Vgl. Mitchell, Paul 219.  Mitchell, Paul 221. Gerade das apostolische Verhalten sollte aber nicht Grund für diese Definition sein – schließlich gilt das Enkomion doch den Korinthern.  Vgl. J. F. M. Smit, „Epideictic Rhetoric in Paul’s First Letter to the Corinthians 1– 4,“ in: Bib. 84 (2003), 184– 201 (188 f). Er bezieht sich v. a. auf Th. Ch. Burgess, Epideictic Literature. A Dissertation (Studies in Classical Philology 3, pp. 89 – 263), Chicago 1902, 157– 166. Der Rhetor Menander (2,1,8 f nach der Ausgabe Bursians [= 346 ed. Spengel]) nennt als Beispiele für paradoxe Enkomien das Loblied des Alkidamas auf den Tod bzw. das des Hundes (= Kynikers) Proteus auf die Armut. Burgess, a.a.O. 157 zufolge hat Menander das Enkomion nach vier Kategorien unterteilt: das endoxe über gute Dinge wie etwa Götter, das adoxe über schlechte Dinge wie etwa Dämonen, das amphidoxe über sowohl gute als auch schlechte Dinge, das paradoxe über angeblich schlechte, aber an sich gute Dinge. Allerdings ist mit C. Bursian, „Der Rhetor Menandros und seine Schriften,“ in: ABAW.PP 16/3 (1882), 1– 152 das adoxe Enkomion wohl als Erfindung eines christlichen Interpolators zu verstehen (45),worauf der Hinweis auf die Dämonen im Gegenüber zu

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doxen Enkomions ist zwar erst durch den Rhetor Menander (3. Jh. n.Chr.) in den theoretischen Diskurs eingeführt worden;²⁹³ das Phänomen selbst taucht aber bereits im 5. Jh. v. Chr auf.²⁹⁴ Damit ist es zwar durchaus nicht unwahrscheinlich, dass Paulus in c.1– 4 gegenüber den Korinthern Elemente des paradoxen Enkomions aufgreifen konnte und wollte. Es ist aber deshalb nicht überzeugend von Mitchell, bezogen auf c.1– 4 insgesamt von einem ‚paradoxen Enkomionʻ zu sprechen, da sie die Bezüge vertauscht: Die enkomiastischen Elemente in c.1– 4 sollen ihr zufolge den Korinthern gelten, allerdings müsste Paulus mit seinem anscheinend schlechten, tatsächlich aber lobenswerten Verhalten der Bezugspunkt eines paradoxen Enkomions sein. Mitchells These ist daher abzulehnen.

2.6.2 1Kor 4,14 – 21: Paulus selbst – Vater der Korinther und ihr Vorbild Hatte Paulus in 4,10 – 13 sowohl eine gemeinsame apostolische Front gegen die Korinther aufgestellt als auch sie aus dieser Front heraus dahingehend scharf angeklagt, dass sie sich in ihrem Christusglauben als unzulänglich erwiesen haben und noch erweisen, schränkt er beides nun im mahnenden²⁹⁵ Schlussabschnitt 4,14– 21 gleich wieder ein. Die Passage ist bestimmt durch eine neue Rollenzuweisung: Die Korinther seien die Kinder (v.14), Paulus der Vater (v.15).²⁹⁶ Als ihr Vater liebe Paulus die Korinther und wolle sie daher mit seiner harschen Kritik nicht beschämen, sondern zurechtweisen (v.14).²⁹⁷ Damit schränkt Paulus

Gott (und nicht etwa allgemein ‚Götterʻ, wie Burgess die Stelle verfälschend wiedergibt) hindeutet – eine an sich ungriechische Gegenüberstellung; zudem ist es schwierig, sich ein Loblied auf etwas Schlechtes vorzustellen, ohne dass es in die Kategorie des Paradoxen fällt, da das Loben etwas ausschließlich Positives ist. Mit dieser textkritischen Entscheidung steht oder fällt aber Smits These, der (a.a.O. 200) in 1Kor 1– 4 alle vier Kategorien des Enkomions (paradox: 1,18 – 31; endox: 2,6 – 16; amphidox: 3,5 – 23; adox: 4,6 – 13) gefunden haben will, was nicht nur in 4,6 – 13 so nicht überzeugt. Smit sieht das adoxe Enkomion gegeben für 4,6 – 13, nennt aber die Apostel als Bezugsgrößen, vgl. a.a.O. 198, und verfehlt damit sowohl die Intention sowohl der (angeblichen) Kategorie als auch des Textes. Es werden doch hier die Taten der Korinther genannt (4,6 – 8), die anschließend mit den Aposteln verglichen werden.  Vgl. Smit, „Rhetoric“ 189  Vgl. Burgess, Literature 158.  Als ‚epistolare Mahnredeʻ weist Berger, Formen 224 diesen Abschnitt berechtigterweise der Symbuleutik zu.  Daher fehlt in diesem Abschnitt logischerweise auch die geschwisterliche Anrede ἀδελφοί, vgl. T. J. Burke, „Paul’s Role as ‚Father‘ to his Corinthian ‚Children‘ in Socio-Historical Context (1 Corinthians 4:14– 21),“ in: ders. / J. K. Elliott (Hg.), Paul and the Corinthians. Studies on a Community in Conflict (Sup. NovT 109. FS M. Thrall), Leiden/ Boston 2003, 93 – 113 (108).  Dass sich die Korinther dennoch massiv ‚beschämtʻ fühlten, ist aber aufgrund der massiven Kritik an ihnen in c.1– 4 getrost anzunehmen und dürfte auch Paulus klar gewesen sein. Mit seinem Hinweis will er sie rein rhetorisch auf das Vater-Kinder-Verhältnis hinlenken,vgl. Merklein, Brief I 323 f.

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die verletzende Kritik an der Unzulänglichkeit ihres Glaubens (bzw. ihrer Glaubenspraxis) ein bzw. leitet – um im Bild der Verletzung zu bleiben – den Prozess der Heilung ein. Die zweite Einschränkung bezieht sich auf die gemeinsame apostolische Front und besteht in der Aussage, als Kinder hätten die Korinther viele παιδαγωγοί („Knabenführer“ bzw. „Kinderbeaufsichtiger“), aber nur Paulus zum Vater (v.15). Dies weicht zwar nicht diese Front auf, aber erneut hebt Paulus seine besondere Rolle unter allen Missionaren hervor,²⁹⁸ die er beim Ursprung der Gemeinde gespielt hat. Gerade sie erlaubt es ihm, noch immer in ihre Geschicke einzugreifen und sie mitzubestimmen. Das Ziel des gesamten ersten thematischen Blocks bleibt es, die korinthische Gemeinde über ihre von Paulus befürchtete Spaltung wieder zu einen. „To achieve this goal, Paul assumes a role similar of a paterfamilias [sic] in the ancient world who was responsible for exercising authority as well as maintaining order, peace and concord within his own family.“²⁹⁹ Paulus’ Vaterrolle wird mitbestimmt durch die gesellschaftlichen Erwartungen an das antike Vaterbild. Diese waren im jüdischen oder paganen Raum mehr oder minder identisch. Sie waren bestimmt durch die Einhaltung der familiären Hierarchie, die Anerkennung der elterlichen Autorität, den Hang zur Nachahmung des väterlichen Vorbilds,³⁰⁰ die gegenseitige Zuneigung von Eltern und Kindern und die Verantwortung der Eltern für die Erziehung der Kinder.³⁰¹ Die anderen Missionare und Apostel, einschließlich Apollos, da sie eben nicht Gemeindegründer sind, fungieren demnach lediglich als Hüter und Erzieher³⁰² von Paulus’ Kindern, und das implizit auch nur nach seiner Maßgabe und Erlaubnis, wie es der allgemeinen antiken Vorstellung vom παιδαγωγός entspricht: „The pedagogue was a slave guardian appointed by a father to supervise his son’s activities and behavior“³⁰³. Aus der Selbstdarstellung als Vater folgt der Aufruf zur Nachahmung (4,16). Die Nachahmung ist seit jeher ein pädagogisches Prinzip.³⁰⁴ Paulus kommt damit

 Dies geschieht auch durch das ausdrückliche ἐγώ in v.15.  Burke, „Role“ 107.  Die Vorbildfunktion der (Vor‐)Väter hebt Paulus selbst ja in 10,6 explizit hervor, wenngleich als Mahnung, es ihnen in ihrem Abfall von Gott nicht gleich zu tun.  Vgl. Burke, „Role“ 100 – 105.  Vgl. zum Aufgabenbereich des παιδαγωγός A. Oepke, Der Brief des Paulus an die Galater (THK 9), Berlin 31964, 86 f; W. H. Groß, „Paidagogos,“ in: KP 4 (1972), 408; Young, „Paidagogos“; ders., „Figure“.  Young, „Figure“ 80. Manchmal konnten ‚Pädagogenʻ auch Freigelassene sein, die gegen Bezahlung ihren Dienst leisteten, vgl. ders., „Paidagogos“ 158. Deutlich ist aber die Hierarchie zwischen beauftragendem Vater und beauftragtem Paidagogos.  Vgl. etwa Aristot.poet. 4.

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seiner väterlichen Verantwortung für die Korinther nach, indem er sich selbst ihnen als Vorbild präsentiert. Den Aufruf zur Nachahmung wiederholt Paulus später in 11,1, dort unter Verweis auf die Nachahmung des Apostels von Christus. Insofern kommt dem Aufruf zur Nachahmung schon hier in 4,16 eine hohe Bedeutung zu.³⁰⁵ Aus dem Kontext ergibt sich, dass die geforderte Nachahmung in der Nachahmung der in 4,6 – 13 geschilderten Lebensweise besteht. Hierin liegt insofern eine gewisse Spannung, weil Paulus dort in der 1.P.Pl. sich und die Apostel (4,9!) als Vertreter dieser Lebensweise geschildert hatte. Nun in 4,16 spricht er lediglich von sich selbst als nachzuahmendem Beispiel. Durch die 1.P.Sg. in 4,16 betont Paulus die Bindung der Gemeinde an ihn als deren Gründungsvater. Sein Verhalten und das der anderen Apostel mögen zwar einander entsprechen; die Gemeinde soll sich aber aufgrund ihrer mit Paulus gemeinsamen Geschichte speziell ihn zu ihrem Vorbild nehmen.³⁰⁶ Damit die Nachahmung auch in Korinth gelingt, wird Timotheus, ein weiteres Kind des Paulus, entsendet, um die Korinther an dessen ‚Wege in Christus Jesusʻ zu erinnern. Damit können sowohl die individuelle Lebensgeschichte wie auch der Lebenswandel des Paulus gemeint sein.³⁰⁷ Entscheidend ist, dass Paulus diesen Wegen entsprechend (καθώς) an allen Orten (πανταχοῦ) und zu jeder Zeit (διδάσκω als Präsensform) lehrt (4,17). Paulus behauptet damit für sich eine schon immer (d. h. seit seiner Berufung) vorhandene Kontinuität von Leben und Lehre. Beides, Leben und Lehre, Tat und Wort, betont Paulus dann auch in der abschließenden Ankündigung seines Besuchs (4,19 f). Er reagiert damit zunächst auf ‚aufgeblaseneʻ Vorwürfe aus der Gemeinde, er werde nicht erneut nach Korinth reisen (v.18). Paulus verknüpft dann aber – wie bereits in dem Bericht über seinen ersten Besuch in der Gemeinde (2,1– 5) – den Lehraspekt (hier: γνώσομαι) mit der

 Dabei stellt der Gedanke, dass die Gemeinden ihre(n) Apostel nachahmen, einen Topos bei Paulus dar, vgl. 1Th 1,6; Gal 4,12; Phil 3,17; 4,9. Das Besondere an 1Kor ist die Kombination mit der Vaterrolle sowie der Weisen-persona.  Hier wird einmal mehr die schwierige argumentative Situation des Paulus deutlich: Zum einen soll die Gemeinde an ihm und Apollos lernen, dass sich nicht der eine über den anderen erhebe (3,5 – 8; 4,6), zum anderen aber muss er eine gewisse Hierarchisierung innerhalb der Apostelschaft zu seinen Gunsten anstreben, um weiterhin Autorität über die Korinther zu wahren.  Die Wege des Paulus als seine ‚Lehre(n)ʻ zu verstehen, so etwa Lietzmann, Korinther 22; Conzelmann, Brief 119, greift zu kurz. In dem Bild des Weges bzw. der Wege ist doch schon immer der Vorgang des Beschreitens der Wege, also der praktischen Umsetzung der eigenen Überzeugungen, mitgedacht; vgl. zur Wegsymbolik im griechischen Denken B. Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen 61986, 219 – 230. Wolff, Brief 95 bezeichnet daher die ‚Wegeʻ richtig und bildgetreu als „Lebenswandel“, vgl. dazu etwa Prov 3,6; 10,9.17 LXX.

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göttlich-geistlichen Macht (δύναμις), die sich in seiner neuerlichen Ankunft offenbare: nicht die Aufgeblasenen sollen mit ihren Worten Recht behalten, sondern der Herr, wenn er als Machterweis seinen Apostel wieder bei den Korinthern sein lassen wird. Als Begründung führt Paulus dazu an, dass die Herrschaft Gottes (βασιλεία τοῦ θεοῦ) sich in der Macht(‐darstellung) und nicht im Wort erweist.³⁰⁸ Dies kann man als Rückverweis auf den Vorwurf des gegenwärtig realisiert gedachten Königseins der Korinther (4,8) verstehen.³⁰⁹ Im Gegensatz zu dieser fehlgeleiteten Lebensweise, die sich aus dem Prahlen und Aufblasen ergebe (3,21; 4,6.19), also in Großmäuligkeit im Sinne eines inhaltsleeren Geredes besteht, werde die von Paulus zukünftig vorgestellte Gottesherrschaft (6,9) schon in der Gegenwart an göttlichen Machterweisen erkennbar. In der Schlussmahnung (4,21) betont Paulus noch einmal seine Rolle als Vater, indem er auf sein ihm zustehendes Recht zur Züchtigung verweist. Paulus bewegt sich mit dieser Vorstellung ganz im Rahmen seiner Zeit.³¹⁰ Er überlässt es dabei zwar den Korinthern, ob sie die Züchtigung provozieren oder sich ihm ohne Züchtigung fügen, indem sie ein anderes Verhalten untereinander an den Tag legen. Dies ändert aber nichts an der Verfügungsgewalt, die Paulus über die Entscheidungen und Lebensweise seiner Gemeinde als deren Vater eignet und welche er für sich ohne weiteres beanspruchen kann.³¹¹ Paulus’ Frage erinnert dabei an den Spruch Prov 10,13, der in LXX lautet: „Welcher aus den Lippen Weisheit hervorbringt, schlägt mit einem Stock den herzlosen Mann“ (ὃς ἐκ χειλέων προφέρει σοφίαν, ῥάβδῳ τύπτει ἄνδρα ἀκάρδιον). Indem Paulus den Korinthern die Wahl über seine Ausstattung beim anstehenden Besuch lässt (Stock oder Liebe), lässt er ihnen gleichzeitig die Wahl, ob sie aufgrund ihres Verhaltens weiterhin als herzlose³¹² Menschen gelten wollen, da ja seine eigene Weisheitslehre 1Kor 2,6 f zufolge außer Frage steht.

2.6.3 Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 4,6 – 21 – Deutung Paulus präsentiert sich in dem letzten Abschnitt des ersten thematischen Blocks des Briefes wieder in einer zwiespältigen Weise: Zum einen erscheint er gegenüber

 Wanamaker, „Rhetoric“ 136 sieht in der Nennung der βασιλεία τοῦ θεοῦ einen Hinweis auf die exklusive Grundlage der göttlichen Macht, die sich in Paulus zeige.  Vgl. Bachmann, Brief 202 f.  Das Verprügeln von Kindern mit dem Stock (ῥάβδος) als Bestrafung bzw. ‚Züchtigungʻ wird z. B. in Prov 23,13 f ohne weiteres vorausgesetzt.  Vgl. Burke, „Role“ 112 f.  Laut Prov 17,16 LXX kann ein herzloser Mensch Weisheit nicht erwerben bzw. besitzen (κτήσασθαι).

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den Korinthern in engem Verbund mit Apollos und allen Aposteln, zum anderen stellt Paulus sich und die Korinther in das exklusive Verhältnis eines Vaters zu seinen Kindern. Beide Darstellungen setzen jeweils besondere Akzente. Als Teil der ‚apostolischen Frontʻ erscheint Paulus als überaus leidgeprüft, aber auch leidensfähig (4,11– 13). Wenn er sich (mit den anderen Aposteln) als töricht, schwach und unrühmlich (4,10) bezeichnet, so gilt dies nach den weltlichen Maßstäben, die die Korinther seiner Meinung nach schon längst hinter sich gelassen haben sollten. In der Darstellung der Korinther als satt, reich und königlich (4,8) erscheint eine implizite Gegenfigur zu seiner eigenen Darstellung, die in v.11– 13 breit ausgeführt ist.³¹³ Paulus stellt hier also ein eigenes Modell der rechten Lebensweise vor, das die Korinther wiederum explizit an seinem eigenen (und nicht der anderen Apostel) Beispiel nachahmen sollen (4,16b). Insofern erfährt die ‚apostolische Frontʻ eine Aufweichung hin zu einer Fokussierung auf Paulus allein, wie aus der Einführung des Vater-Bildes ab 4,14 deutlich wird. Eine elterliche Rolle des Paulus gegenüber den Korinthern war bereits in 1Kor 3,1 f angeklungen, wobei der Hauptaspekt dieser Rolle in der Abhängigkeit der Gemeinde von ihrem Ernährer Paulus bestand. Mit der expliziten Selbstdarstellung als Vater der Gemeinde findet jedoch noch mehr als in jenem Bild eine Verschiebung hin zu einem Autoritätsgefälle statt. Insofern bildet sie einen Höhepunkt der Rollenwahl in 1Kor 1– 4, beschreibt sie doch ein existentielles und basales soziales Gefüge, in welchem (bei aller väterlichen Liebe: 4,14!) auch ein Machtanspruch zum Ausdruck kommt. Dieser Machtanspruch wird weiterhin darin deutlich, dass der Abschnitt 4,14– 21 der Symbuleutik zuzuordnen ist, wobei hier weniger das Gewicht auf der Beratung liegt, als vielmehr auf der ermunternden (4,16: παρακαλῶ) Mahnung.³¹⁴ Das Recht zu mahnen speist sich aus dem propagierten Rollenverhältnis des Apostels zur Gemeinde. Als Mahnung bündelt dieser Abschnitt gleichsam die vorangegangene Argumentation und schließt sie ab. Gleichzeitig begründet er das Verhältnis von Apostel und Gemeinde und damit auch seiner Autorität in neuer Weise und dient damit als Brücke vor allem zu dem folgenden thematischen Block c.5 – 6, aber auch zu den folgenden Abschnitten, wie auch aus der Aufnahme des Aufrufs zur Nachahmung von 4,16 in 11,1 deutlich wird, die wie eine literarische Klammer wirkt. Davon unbenommen ist die im Folgenden geläufige Anrede der Korinther als Geschwister: Die grundlegende (bzw. nun deutlich zu Grunde gelegte) Autorität des Paulus wird dadurch nicht beschnitten oder eingeschränkt.  Die den Korinthern von Paulus nachgesagten Eigenschaften sind im Übrigen Merkmale, die sich mit der stoischen Vorstellung vom Weisen decken (s.u.).  Der mahnende Charakter wird letztendlich deutlich aus dem Gebrauch des Imperativs in 4,16.

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2.7 Zusammenfassung 1Kor 1,10 – 4,21 Das hierarchische, durch das Apostelamt des Paulus begründete Gefälle zwischen ihm und der korinthischen Gemeinde, das im Präskript eingeführt wurde, wird auch im ersten thematischen Block (wie überhaupt im gesamten 1Kor) vorausgesetzt und weiter vertieft. Dies erreicht Paulus durch die autobiographischen Berichte in 2,1– 5 und 3,1– 4, in denen er sich als Lehrer und (Nähr‐)Mutter der Korinther präsentiert. Diese Berichte stellen mit ihrem Fokus auf die Anfänge der Gemeinde gleichzeitig so etwas wie die korinthische Gründungslegende dar und zementieren damit gleichsam das hierarchische Gefälle von Apostel und Gemeinde.³¹⁵ Beide Berichte sind darüber hinaus an Paulus selbst vorgeführte exemplarische Explikationen seiner Lehre (1,18 – 1,31 und 2,6 – 16). Paulus kann damit die Konformität von eigenem Lebensstil und der Lehre behaupten, die es ihm als Apostel von Christus her zu verkünden gilt (1,17). Beide sind kongruent und nicht voneinander zu lösen. Neben dem hierarchischen Verhältnis von Gemeinde und Gründungsapostel muss Paulus gegenüber den Korinthern auch das Verhältnis zu Apollos (und anderen Missionaren) klären. Dies vollzieht er mittels dreier Bilder: a) des Bildes von Pflanzendem und Bewässerndem, b) des Bildes vom weisen Baumeister und den ihm nachfolgenden und in gewisser Weise untergeordneten Arbeitern, c) des Bildes vom Vater und den Kinderhütern. Über sie kann Paulus zum einen die generelle Übereinstimmung in der Lehre, aber auch in ihrer gemeinsamen Überordnung im Verhältnis zu den Korinthern behaupten. Zum anderen kann Paulus sich durch diese Bilder in ein primäres Verhältnis zu den Korinthern setzen, das ihn gegenüber allen anderen Missionaren auszeichnet und von ihnen unterscheidet. Besonders über die letzten beiden Bilder kann Paulus eine anhaltende Weisungsbefugnis über seine Gemeinde beanspruchen. Tatsächlich vollzieht sich in den drei Bildern insgesamt eine sukzessive Steigerung des Gefälles zwischen Paulus und Apollos (sowie den anderen Aposteln) bezüglich ihrer Beziehung zur korinthischen Gemeinde. Bemerkenswert an der Bestimmung des Verhältnisses von Paulus zu Apollos ist, dass Paulus keine in allen Teilen gleichwertige Einheit von Apollos, den Korinthern und sich selbst denken kann. Entweder betont er die Einheit von sich und Apollos. Dann geschieht dies aber auf Kosten der von Paulus als uneinsichtig und

 Fascher, Brief 114 meint: „Der Apostel hat die Neigung[,] in einer bestimmten Gemeinde auf die Anfänge seiner Arbeit zurückzublicken.“ Als Belege führt er dazu noch 1Th 1,5; 2,5 ff; Phil 1,5; Gal 4,13 an. Doch ist das bloße Neigung, oder kann man hier nicht vielmehr ein rhetorisches Programm oder Muster erkennen?

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unmündig titulierten Korinther. Oder er stellt die besondere Beziehung der Korinther und seiner selbst heraus. Dann bleibt jedoch Apollos als Nachzügler in Sachen Mission außen vor.³¹⁶ In beiden Fällen steht Paulus in seiner Beziehung zu den Korinthern als Ideal wie dann auch als Autorität hierarchisch über ihnen. Der zum Schluss des Abschnitts, in 4,10 (mit v.11– 13) stehende Vergleich mit den Korinthern verdeutlicht einmal mehr den Graben, der zwischen der von den Aposteln gelebten Lehre und der korinthischen Lebens- und Glaubenspraxis, letztlich zwischen dem Evangelium und dem Heil der Gemeinde, besteht. Ihn zu überwinden bzw. zu überbrücken kann nach Paulus’ Ansicht nur gelingen, indem die Korinther ihren Gründerapostel als Autorität anerkennen, ihn nachahmen (4,16) und seine Wege (4,17, im Sinne einer Lebensweise) übernehmen – wohlgemerkt seine und nicht die (eigentlich gleichförmigen Wege) der anderen Apostel und Missionare. Bei alledem ist auffällig, dass Paulus nur innerhalb von Sprachbildern (3,5 – 15; 4,14 f) seine Überlegenheit und Autorität betont. Außerhalb davon verweist er stets auf seine Niedrigkeit, Schwäche und unterlegene Position. In dieser Hinsicht verfährt er bereits in 1,18 – 4,21 strategisch genauso doppelgleisig, wie Paulus es für seinen anstehenden Besuch in Korinth ankündigt (4,21): Entweder werde er völlig autoritär („mit dem Stock“) oder ganz gelassen („mit Liebe und dem Geist der Freundlichkeit“) auftreten. Insofern bekommt der symbuleutische Charakter der ersten vier Kapitel eine deutlich epideiktische Färbung, als dass die Beratung unter dem Diktum des Tadels steht. Paulus’ autobiographische Äußerungen dienen zwar zuvörderst der Illustration eines Lebens nach dem Evangelium des Gekreuzigten und damit dem Aufruf, solch einen Lebensstil anzustreben; indirekt werden sie aber zum Tadel der gegenwärtigen korinthischen Lebensweise.

3 Spuren des Weisen in 1Kor 1 – 4 In seiner Untersuchung zu 1Kor 1– 4 kommt Birger A. Pearson zu dem Ergebnis, dass Paulus’ Rolle bzw. Selbstverständnis³¹⁷ nicht hauptsächlich als die eines

 Dodd, ‚I‘ 55 f ignoriert diesen speziellen Zug in Paulus’ Argumentation und postuliert stattdessen ein betont harmonisches Verhältnis zwischen Paulus und Apollos, das aber tatsächlich nicht so eindeutig ist.  Die ältere Literatur geht oft von einem bestimmten Selbstverständnis des Apostels aus, demgegenüber ich den Begriff und das Konzept der Selbstdarstellung bevorzuge.

3 Spuren des Weisen in 1Kor 1 – 4

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Weisen gelten kann.³¹⁸ Diesem Ergebnis schließt sich Ben Witherington in seiner Darstellung der Weisheitsthematik des 1Kor an,³¹⁹ gleichwohl er anerkennt, dass Paulus verschiedene Modelle und Techniken des biblischen spät-weisheitlichen Diskurses übernimmt.³²⁰ Dagegen hat Theis in seiner Untersuchung zu 1Kor 1– 4 herausgearbeitet, dass Paulus sich in diesen Kapiteln und auch darüber hinaus als ein Weisheitslehrer bzw. als ein Weiser christlicher Provenienz darstellt.³²¹ Inwieweit Theis’ These, dass Paulus auch in anderen Briefen als ein Weiser erscheint, zuzustimmen ist, kann hier nicht beantwortet werden;³²² deutlich ist in jedem Fall, dass der 1Kor im Vergleich zu den anderen Proto-Paulinen eine erhebliche Schwerpunktsetzung auf die Weisheitsthematik enthält. Kein anderer Paulusbrief enthält eine so große Häufung von Wörtern der Wurzel σοφ-.³²³ Es liegt daher nahe, davon auszugehen, dass diese Thematik Paulus von der korinthischen Gemeinde vorgegeben wurde und er also darauf in seinem Brief reagiert. Offensichtlich zeigten sich die Korinther sehr interessiert an der Weisheit, wobei dies wohl Weisheit von einer Art meint, die Paulus als bloß menschliche Weisheit (2,5.13) abqualifiziert. Demgegenüber stellt er die göttliche Weisheit bzw. die Weisheit Gottes, deren Sinn und Gehalt sich allerdings erst im Kreuzesgeschehen um den Christus Jesus offenbart (1,23 f.30; 2,7). Der Aufruf zur Nachahmung des Apostels in 4,16 stellt eine Art Höhepunkt der vorangegangenen Argumentation dar. Das immer wieder pointierte Verweisen auf seinen Lebensstil, seinen Bios, in Vergangenheit und Gegenwart bereitet den Aufruf zur Nachahmung vor. An seinem Bios können und sollen die Korinther ablesen, was ein evangeliumsgemäßes Leben ausmacht. Da aber das Evangelium an der Weisheit Gottes als Maßstab ausgerichtet ist, führt Paulus ein Leben nach dieser Weisheit. Sein Bios ist durch die göttliche Weisheit, die der Welt als Torheit erscheint, gekennzeichnet. Paulus kann demnach als ein Weiser nach Gottes Sinn gelten. Weisheit ist das, was die Korinther anstreben. Und Paulus bietet ihnen Weisheit als Lebensstil, nur eben nicht die Weisheit, von der die Korinther aus Pearson, „Wisdom“ 59: „Paulus does not regard himself as a ‚sage‘ or a ‚teacher‘, but especially as an apostle“ [teil-kursiviert im Original].  Vgl. Witherington, Jesus 296.  Vgl. Witherington, Jesus 330.  Vgl. Theis, Paulus 504– 507. Auch Theis begreift die von ihm herausgearbeitete Selbstdarstellung des Paulus als Selbstverständnis.  Zudem kann an Theis’ These auch die Identifikation der gegnerischen (d. h. ‚apollinischenʻ) Position mit alexandrinisch-jüdischen Vorstellungen kritisiert werden.  Vgl. Theis, Paulus 283 f. σοφία: 1Kor 1,17.19.20.21 (bis).22.24.30; 2,1.4.5.6.7.13; 3,19; 12,8; σοφός: 1Kor 1,19.20.25.26.27; 3,10.18 (bis).19.20; 6,5. Diese 28 Belege stehen jeweils einem in Röm 11,33 und 2Kor 1,12 gegenüber.

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Kapitel 6: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 1 – 4

gegangen sind. Im Folgenden möchte ich den Spuren nachgehen, die auf diese Selbstdarstellung des Paulus hinweisen. Es sind vielfältige Spuren, manche deutlicher als andere, aber insgesamt ergibt sich, wenn man ihnen folgt, ein gangbarer Pfad mit einem klaren Zielpunkt, der die These erhärten wird, dass sich Paulus insgesamt im 1Kor (im Sinne Wares und Linkugels) in der rhetorischen persona eines Weisen präsentiert – freilich eines Weisen, der im Vergleich zu den anderen Weisen-Gestalten mitunter ganz eigene, eben christusgemäße Akzente setzt.

3.1 Spuren des Weisen in 1Kor 1,18 – 2,5 In diesem ersten Abschnitt fällt besonders in 1Kor 2,1– 5 die Selbstzeichnung des Paulus als jemand auf, dessen Verhalten ganz seiner Verkündigung (1,18 – 31) entspricht. Das hervorgehobene κἀγώ zu Beginn von 2,1.3 belegt dies: Wie es seiner göttlichen Entsendung entspricht und es die Botschaft des gekreuzigten Christus verlangt, verkündigte sie auch Paulus nicht mit einem Übermaß weltlicher Weisheit, sondern schwach und gegenüber den Korinthern in einer demütigen, dienenden Haltung. Die Übereinstimmung von Verhalten und Verkündigung stellt dabei das entscheidende Kennzeichen des Weisen westlicher Prägung dar.³²⁴ Indem Paulus also auf die Kongruenz seines Lebensstils und seiner Verkündigung hinweist und die Korinther indirekt zu Zeugen für diese Aussage beruft (gerade sie erinnern sich ja an Paulus’ erstes Auftreten in Korinth!), beschreibt er ein wichtiges, wenn nicht das grundlegende Merkmal des Weisen und bezieht es direkt auf sich. Allerdings nimmt Paulus eine Umwertung der philosophischen Weisheitsbzw.Weisenideale vor. Sowohl Schwäche als auch Demut gegenüber anderen sind in den verschiedenen philosophischen Gruppen keine dem Weisen angemessenen Erscheinungsformen.³²⁵ Bei Platon und Aristoteles gehörten Stärke (ἰσχύς), Reichtum (πλούτος), eine gute Abstammung (εὐγενεία) und dergleichen wenn nicht zu den Voraussetzungen so doch zu entscheidenden Hilfsmitteln für den Weisen. Während sie in der Stoa zwar zu den Adiaphora zählten, aufgrund ihrer positiven Auswirkungen für ein naturgemäßes Leben als solche anderen Dingen vorzuziehen waren, galten für Epikur eine gute körperliche Verfassung und ohnehin erst eine griechische Abstammung als Voraussetzung des Philosophierens und damit des Weise-Werdens. All diese Kennzeichen finden sich nicht in Paulus’

 S.o. Kapitel 3, 1.  S.o. Kapitel 3, 2.2.2.

3 Spuren des Weisen in 1Kor 1 – 4

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Selbstbeschreibung. Zwar beruft er sich auch darauf, den Korinthern Macht (δύναμις) aufgewiesen zu haben (2,4), aber eben die Macht der Schrift als Gottes Wort bzw. als die Macht Gottes selbst. Von einer Macht des Apostels ist hier keine Rede.Vielmehr setzt Paulus in 1Kor 1,18 – 2,5 Stärke gegen Schwäche, Macht gegen Demut, Weisheit gegen Torheit und gibt dem, was allgemein nicht als gut anerkannt wird, den Vorzug, gerade weil sich diese Dinge durch ihren Bezug auf Gott als qualitativ überlegen erweisen (vgl. 1,25). Bei alledem vermeidet es Paulus in 2,1– 5 aber noch, sich selbst direkt in Verbindung mit der Weisheit zu setzen bzw. sich selbst als weise zu bezeichnen. Dies mag seinen Hintergrund – neben der Paradoxie, dass gerade ein Weiser sich niemals als weise bezeichnen würde,wie sie z. B. deutlich in der paganen Sage von den sieben Weisen deutlich wird³²⁶ – auch in der aus der Schrift gewonnenen Überzeugung haben, dass Weisheit keinen Anlass zur Prahlerei geben sollte. In 1,31 zitiert Paulus in verkürzter Weise aus Jer 9,22 f mit den Worten: „Der Stolze sei stolz auf den Herrn.“ In der ‚Langfassungʻ Jer 9,22 fLXX heißt es: „22 So spricht der Herr: Es soll der Weise nicht auf seine Weisheit stolz sein, noch der Starke auf seine Stärke stolz sein, noch der Reiche auf seinen Reichtum stolz sein, 23 sondern darauf sei der Stolze stolz: zu verstehen und zu wissen, dass ich der Herr bin, der Erbarmen und Recht [/Gericht] und Gerechtigkeit übt auf der Erde, dass [/denn] in diesen [Dingen liegt] mein Wille, spricht der Herr.“³²⁷ Der Bezug von 1Kor 1,26 – 30, wo die drei Gruppen der Weisen (σοφοί), Mächtigen (δυνατοί/τὰ ἰσχυρά) und Wohlgeborenen (εὐγενεῖς) in Verbindung mit der Mahnung, dass kein Fleisch stolz sein solle, genannt werden, auf die Stelle bei Jeremia ist evident. In der Anerkennung, dass der gekreuzigte Christus eigentlich und tatsächlich Gottes Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung ist (1,30), wird jeder menschliche Stolz auf den eigenen Status gleichsam ausgehebelt. Indem Paulus also seine eigene Weisheit (und das bedeutet hier: wahre Gotteserkenntnis) nicht in selbstvergrößernder Weise zur Sprache bringt, kommt er der jeremianischen Forderung nach, dass der Weise keinen Stolz über seine eigene Weisheit zeigen bzw. überhaupt nur haben soll – ein Charakterzug, den die Korinther gerade nicht zur Schau stellen. Paulus stellt ihnen damit an sich selbst einen wichtigen Aspekt einer christusgemäßen Lebensweise vor Augen, der sie indirekt zur Nachahmung auffordert.

 S.o. Kapitel 3, 2.2.  22 Τάδε λέγει κύριος Μὴ καυχάσθω ὁ σοφὸς ἐν τῇ σοφίᾳ αὐτοῦ, καὶ μὴ καυχάσθω ὁ ἰσχυρὸς ἐν τῇ ἰσχύι αὐτοῦ, καὶ μὴ καυχάσθω ὁ πλούσιος ἐν τῷ πλούτῳ αὐτοῦ, 23 ἀλλ᾽ ἢ ἐν τούτῳ καυχάσθω ὁ καυχώμενος, συνίειν καὶ γινώσκειν ὅτι ἐγώ εἰμι κύριος ποιῶν ἔλεος καὶ κρίμα καὶ δικαιοσύνην ἐπὶ τῆς γῆς, ὅτι ἐν τούτοις τὸ θέλημά μου, λέγει κύριος.

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3.2 Spuren des Weisen in 1Kor 2,6 – 3,4 Auch im zweiten Abschnitt der c.1– 4 lassen sich Spuren von Aussagen erkennen, die Paulus in der Gestalt eines Weisen zeichnen. Zunächst ist die Aussage „Wir aber lehren Weisheit etc.“ in 2,6 f, die auf Paulus und die anderen Apostel zu beziehen ist,³²⁸ ein deutlicher Hinweis darauf. Paulus spricht auch in diesem Zusammenhang nicht davon, dass er selbst weise ist. Zudem wird die gelehrte Weisheit sogleich als Gottes Weisheit klassifiziert (v.7a) bzw. in deutlichen Gegensatz zur (bloß) „menschlichen Weisheit“ gestellt (v.13a: ἀνθρωπίνη σοφία) – letzteres wohlgemerkt ein Terminus, der sich bereits bei Platon und Xenophon in der Diskussion um die rechte Weisheit und im Zusammenhang mit Sokrates findet³²⁹ sowie auch bei Philo erscheint³³⁰. In einer gewissen Analogie zur Argumentation bei Platon (apol.23 A–B) stellt auch Paulus die menschliche Weisheit als der göttlichen unterlegen und nichtswürdig dar. Insofern könnte Paulus durchaus gemeinsam mit dem platonischen Sokrates von sich behaupten, nach menschlichen Maßstäben nicht weise zu sein. Anders aber als bei Platon besteht die wahre Weisheit nicht (allein) in der Erkenntnis, dass es mit der eigenen, menschlichen Weisheit nichts ist.³³¹ Vielmehr besteht die wahre Weisheit für Paulus in der Erkenntnis Gottes (1,21) bzw. in seiner Herrlichkeit (2,7 f), welcher allerdings nur anhand seines gekreuzigten Gesalbten Jesus zu erkennen und zu bekennen ist. Insofern kann dieser als Gottes Weisheit selbst (1,30) bezeichnet werden. Die Instanz, die das Erkennen erst ermöglicht, ist der göttliche Geist (2,10).³³² Anders als der platonische Sokrates aber erforscht der Christusgläubige nicht die Menschen auf ihre Weisheit hin (Plat.apol. 23B.41B: ἐρευνᾶν), sondern mittels des Geistes Gott selbst (1Kor 2,11).

 S.o. 2.4.1.  Vgl. Plat.apol. 20D; 23 A sowie Xen.mem. 4,7,10 (zudem Xen.Kyr. 1,6,46). Der Ausdruck bezeichnet wie in 1Kor 2,13 die Begrenztheit menschlicher Weisheit im Gegensatz zur Weisheit Gottes (Plato) bzw. der Götter (Xenophon).Vgl. zum Verhältnis von menschlichem und göttlichem Wissen bei den Griechen Snell, Entdeckung 127– 138.  Vgl. her.126.183 f. Auch Philo definiert dieses Syntagma im Unterschied zur göttlichen Weisheit. Es liegt nahe, dass Philo das Syntagma aus dem Griechentum zugewandert ist.  Vgl. Plat.apol. 23B: σοφώτατος ἐστιν ὄστις ὤσπερ Σωκράτης ἔγνωκεν ὄτι οὐδενὸς ἄξιος ἐστι τῇ ἀληθείᾳ πρὸς σοφίαν („Der Weiseste ist derjenige, der wie Sokrates erkannt hat, dass er in Wahrheit nichtswürdig ist im Hinblick auf die Weisheit.“)  Es sei zugegeben, dass Sokrates mit seinem Daimonion ebenfalls eine übermenschliche Instanz jenseits der menschlichen Weisheit zur Verfügung stand (Plat.ap. 31C–D; 41D).Was dieses Daimonion aber genau war und wie es wirkte, blieb weithin unklar und hat so unterhaltsame Schriften zu diesem Thema wie die des Plutarch (mor. 575B–598F) hervorgebracht.

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Paulus macht in v.11 deutlich, dass die göttlichen Dinge – und das schließt Gottes Weisheit ein – nur von Menschen mit dem Geist Gottes erfasst werden können, über den Paulus erklärtermaßen (v.12) verfügt. Die Überzeugung, dass Gleiches nur durch Gleiches erkannt werden kann, ist in der griechischen Philosophie geläufig.³³³ Dies schließt auch das Erkannt-Werden eines Weisen durch einen anderen ein, wie es der Vorsokratiker Xenophanes von Kolophon lehrt („Es ist erforderlich, dass derjenige, der den Weisen erkennt, [selber] weise ist.“³³⁴) und es sich später etwa auch in Epikurs Ansichten wieder findet.³³⁵ Insofern ist die doppelte Behauptung des Paulus, sowohl Gottes Weisheit zu lehren als auch Gottes Geist zu haben, eine indirekte Bezeugung für den eigenen Status als ein Weiser. Da die Aussagen in der 1.P.Pl. gehalten sind, ist davon auszugehen, dass Paulus desweiteren nicht bloß eine Einzelfigur des Weisen vorschwebt, sondern er vielmehr eine Gruppe von Weisen annimmt – sowohl von Weisheitslehrern als auch von Weisheitsempfängern. Ein weiteres Indiz, dass Paulus in 2,6 – 16 im Kontext paganer Weisheits- und Weisenvorstellungen argumentiert, ergibt sich aus 2,14. In 1,23 hatte der Apostel festgestellt, dass die Verkündigung des gekreuzigten Christus für Juden ein Ärgernis darstellt, für Nicht-Juden (‚Heidenʻ) allerdings eine Torheit (μωρία). Gerade die wortgleiche Aussage in 2,14, dass dem psychischen Menschen die göttlichen Dinge eine Torheit (μωρία) sind, weist demnach darauf hin, dass Paulus sich auch in der Passage 2,6 – 16 weiterhin gegen ein paganes Weisheitsdenken richtet. Damit sind aber auch die selbstdarstellenden Aussagen im Lichte dieser Auseinandersetzung zu lesen. Zudem sei auch die Fähigkeit des Beurteilens und die Unmöglichkeit des Selbst-Beurteiltwerdens angesprochen, die Paulus in 2,15 über den geistigen Menschen konstatiert. Paulus verwendet dafür das Verb ἀνακρίνειν, das üblicherweise auf einen intellektuellen Vorgang hinweist. In 14,24 gebraucht er es in einer parallelen Satzkonstruktion zusammen mit ἐλέγχειν, was bei Paulus ein hapax legomenon ist, in der philosophischen Sprache aber ein ganz verbreitetes Wort für die kritische Prüfung und durchaus tadelnde Widerlegung von Behauptungen ist.³³⁶ Gerade dies wird von Xenophon als eine der Fähigkeiten, aber auch Hauptaufgaben des Sokrates geschildert (mem. 4,4,9; 4,8,11).³³⁷ Interessan-

 Vgl. Conzelmann, Brief 91.  Diog.Laert. 9,20: σοφὸν γὰρ εἶναι δεῖ τὸν ἐπιγνωσόμενον τὸν σοφόν.  Vgl. 225 Us.: σοφῷ μόνῳ τὸν σοφὸν καταληπτὸν εἶναι („Allein einem Weisen ist der Weise begreiflich“).  Vgl. F. Büchsel, „ἐλέγχω κτλ.,“ in: ThWNT 2 (1935), 470 – 474 (472 f).  Vgl. auch Plat.apol. 17B; 39C–D. Gerade an der zweiten Stelle weist der platonische Sokrates darauf hin, dass das Todesurteil gegen ihn nicht verhindern wird, dass nach ihm viele andere

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terweise trifft Sokrates diese kritische Widerlegung nicht, auch wenn er sich durchaus darauf einlässt, sei es durch Freunde (mem. 3,8,1), sei es vor Gericht (Xen.apol. 24). Da 1Kor 14,24 als Textbasis sehr schmal ist, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, ob Paulus ἀνακρίνειν und ἐλέγχειν grundsätzlich in einem Zusammenhang sieht. Auffällig ist jedenfalls, dass Paulus das philosophisch gebräuchliche ἐλέγχειν sonst nicht verwendet, das allgemeinere ἀνακρίνειν hier aber in einer ähnlichen Weise wie über Sokrates gebraucht. Robin Scroggs hat auf den jüdisch-weisheitlichen Hintergrund von 1Kor 2,6 – 16 hingewiesen und dazu vor allem SapSal als Referenzmaterial herangezogen. Scroggs hält es für wahrscheinlich, dass Paulus’ Denken über Gottes Weisheit direkt durch SapSal 9,9 – 18 beeinflusst wurde. Zumindest aber entstammen beide Textpassagen aus demselben weisheitstheologischen Kontext.³³⁸ Längst ist erkannt, dass SapSal Konzepte der hellenistischen Philosophie produktiv aufnimmt.³³⁹ Sollte Paulus unter direktem Einfluss von SapSal stehen, würde er in 1Kor 2,6 – 16 wenigstens mittelbar in den Dunstkreis hellenistischer Philosophie eintreten, wenn er sich nicht ohnehin schon direkt mit diesen Anschauungen bei den Korinthern auseinandersetzt. Die Schlussaussage 2,16c „Wir haben den Sinn Christi“ meint zwar das Verständnis für Christus.³⁴⁰ Die Formel νοῦν ἔχειν ist aber (wenigstens in der Stoa) ein Synonym für das Weise-Sein.³⁴¹ Indem Paulus hier den Genitiv Χριστοῦ einfügt, tauft er gleichsam dieses Synonym und stellt sich demnach als ein christusgemäßer Weiser dar. Dabei vermeidet er allerdings durch die Redeweise im Kollektiv der 1.P.Pl., dass er sich in ganz direkter Weise als weise bezeichnet, was ja sozusagen sophistisch wäre.³⁴² Vielmehr bereitet Paulus mit dieser Aussage, in die sich die Korinther durchaus noch eingeschlossen verstehen können, ja den harschen Umschwung in 3,1 vor, der die Gemeinde aus der Gemeinschaft der vollkommenen Christus-Weisen gleichsam herauskatapultiert. Schließlich zieht Paulus den Vergleich seiner selbst und der Korinther als (Nähr‐) Mutter und Kleinkindern. Wie oben vermerkt, ist dies ein aus der philo-

kommen werden, die die Athener (bzw. die Richter) weiterhin mit tadelnden Widerlegungen stören und quälen werden. Für Platon wird also der Staffelstab des sokratischen Elenchus an dessen Schüler und Freunde weitergereicht.  Vgl. R. Scroggs, „Paul: ΣΟΦΟΣ and ΠΝΕΥΜΑΤΙΚΟΣ,“ in: NTS 14 (1967), 33 – 55 (49).  Vgl. Vgl. Kaiser, Grundriß 3 106; Scroggs, „Paul“ 48 zu stoischen Einflüssen.  S.o. 2.4.1.  Vgl. Arnim SVF 4 s.v., Die Formel steht in der Regel für einen verständigen Menschen (z. B. Xen.mem. 3,12,7; Plat.apol. 27E; resp. 331B; 358D). Vielleicht fand sie über Stellen wie Plat.symp. 222 A dann einen Bezug zu Sokrates und damit zur Gestalt des Weisen an sich.  S.o. Kapitel 3, 2.2.2.

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sophischen Unterweisung gebräuchliches Motiv.³⁴³ Paulus greift also eine bekannte Sprachform auf, um den Korinthern deutlich zu machen, dass sie eben noch nicht einen vollkommenen Weisen-Status erlangt haben. Er selbst rückt damit allerdings sehr wohl in die Rolle eines Weisen.Wie zuvor schon vermeidet in seiner Selbstdarstellung aber auch hier weiterhin das plakative Wort σοφός, das für die korinthische Seite der Argumentation offenbar wichtig ist.

3.3 Spuren des Weisen in 1Kor 3,5 – 4,5 Paulus bezeichnet Apollos und sich selbst in 1Kor 3,5 als διάκονοι, durch welche die Korinther Glauben gefasst hätten. In der griechischen Bibel (bei Est) steht das Wort διάκονος zumeist ohne Bezug zu einem weisheitlichen Kontext in der profanen Bedeutung ‚Höflingʻ.³⁴⁴ Es gibt jedoch auch einen Beleg aus den weisheitlichen Büchern: Prov 10,4a. Dort heißt es im Rahmen von Erziehungsratschlägen: „Ein [wohl‐] erzogener Sohn wird [/soll] weise sein; mit dem Unverständigen aber wird [/soll] er als mit einem Diener umgehen.“³⁴⁵ Demzufolge ist der Unverständige, also der Nicht-Weise, dem Weisen untergeordnet. Insofern würde diese Selbstbezeichnung in die Argumentationslinie passen, dass die Korinther, die sich für weise halten, im Gegensatz zu den im Urteil der Welt unverständigen Aposteln stehen und diese als Diener behandeln. Die Dienerbezeichnung hätte dann einen durchaus ironischen Beigeschmack. Allerdings ist fraglich, ob bereits in 1Kor 3,5 Ironie anklingt. Außerdem kann nicht vorausgesetzt werden, dass in 3,5 dieser Solitär hinsichtlich der Verwendung von διάκονος in LXX den literarischen Hintergrund bildet.

So man in 1Kor 3,5 einen Bezug des Dienens auf Gott erkennen will,³⁴⁶ trifft Paulus für Apollos und sich eine Selbstbeschreibung, die er mit seinem ungefähren Zeitgenossen Epiktet teilt. Dieser bezeichnet den Kyniker allgemein als auch Diogenes im Speziellen als Diener Gottes bzw. des Zeus, wobei er dafür sowohl das Wort διάκονος als auch das Wort ὑπερέτης (vgl. 1Kor 4,1) verwendet.³⁴⁷ Dabei

 Dabei gibt es allerdings unterschiedliche Auffassungen über die rechte Ernährungsmethodik gegenüber Kleinkindern (νήπιοι):Während Paulus für Milch statt fester Nahrung eintritt, hält Philo leicht verdauliche Nahrung eher angebracht als Milch, die er mit Philosophie identifiziert (prob. 160).  Vgl. H. W. Beyer, „διακονέω κτλ.,“ in: ThWNT 2 (1935), 81– 93 (91).  υἱὸς πεπαιδευμένος σοφὸς ἔσται, τῷ δὲ ἄφρονι διακόνῳ χρήσεται.  Dafür könnte die Selbstbezeichnung ‚Diener Christiʻ in 1Kor 4,1 in als Parallelausdruck zum absolut gebrauchten διάκονοι in 3,5 sprechen.  Epikt.Diss. 3,22,63 (διάκονος absolut); 3,22,82 (ὑπερέτης τοῦ Διός); 3,24,65 (τοῦ Διὸς διάκονον); 3,26,28 (Gott und seine διάκονοι); 4,7,20 (διάκονος Gottes).

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beziehen sich Epiktets Ausführungen über den Kyniker (Diss. 3,22) als auf jemanden, der als der ideale Weise vorgestellt wird. Daraus ergibt sich in diesem Zusammenhang die Gleichung, dass der Weise ein Diener Gottes ist. Es wäre also im zeitlichen Kontext des Paulus – allerdings in der nicht-jüdischen Umwelt – nicht ungewöhnlich, dass jemand, der sich als einen Diener Gottes beschreibt, gleichzeitig als ein Weiser angesehen wird. Die Selbstdarstellung des Paulus als eines weisen Baumeisters (σοφὸς ἀρχιτέκτων) scheint zunächst ein deutlicher Hinweis auf die Weisheit des Apostels und seinen Status als ein Weiser zu sein. Gleichwohl ist dieser Hinweis dadurch gebrochen, dass das Attribut ‚weiseʻ im Zusammenhang mit dem Bildwort ‚Baumeisterʻ verwendet wird. Zusätzlich bildet die Wortverbindung ‚weiser Baumeisterʻ wenigstens im hellenistisch-jüdischen Bereich eine feststehende und bekannte Wendung.³⁴⁸ Insofern scheint Paulus an dieser Stelle mit den Erwartungen und Vorstellungen der Korinther zu spielen. Er begeht mithin nicht den (sophistischen) faux pas, sich selbst als weise zu bezeichnen. Gerade auf diesen Bruch der Etikette (vgl. etwa Prov 26,12, aber auch die Sage der Sieben Weisen) weist er ja in 1Kor 3,18 – wohl im Hinblick auf einige der Korinther – hin. Mit der Feststellung „Alles ist euer!“ (3,21c.22d) schließt sich Paulus an ähnlich formulierte kynische sowie stoische Aussagen an, denen zufolge den Weisen alles gehöre.³⁴⁹ Bei dem Kyniker Diogenes wird dies begründet durch einen Kettenschluss: Alles gehört den Göttern; die Weisen sind Freunde der Götter; Freunden ist alles gemeinsam; also gehört alles den Weisen.³⁵⁰ Anstelle eines freundschaftlichen Verhältnisses zu den Göttern bzw. zum einen Gott setzt Paulus aber ein Abhängigkeitsverhältnis zu Christus und über diesen zu Gott. Die Begründung für den All-Besitz speist sich also nicht aus einer menschlichen Aktivität (Freundschaft mit den Göttern als aktive Einsicht in ihr Wesen und Zugehen auf sie), sondern aus einem göttlichen Gnadenverhältnis.³⁵¹ Mit seiner Zeichnung der Korinther als All-Besitzende trifft Paulus eine Charakterisierung, die nach dem stoischen und kynischen Verständnis insbesondere für Weise gilt.

 S.o. 2.5.1.  Vgl. Diog.Laert. 6,37 (πάντ’ ἄρα ἐστὶ τῶν σοφῶν).72 (πάντα τῶν σοφῶν εἶναι); 7,125 (τῶν σοφῶν δὲ πάντα εἶναι); weitere Stellen bei Weiß, Korintherbrief 89 f; Fitzmeyer, Corinthians 208; zudem Zeller, Brief 172. Gerade die Erwähnung der Weisen in 1Kor 3,19.20 in Verbindung mit einer durch πάντα in Anfangstellung betonten Aussage macht es wahrscheinlich, in 3,21c.22d eine (populär‐)philosophische Aussage über die Weisen im Hintergrund zu vermuten, auf die Paulus Bezug nimmt.  Vgl. Diog.Laert. 6,37.72.  Vgl. Weiß, Korintherbrief 90.

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Im Hinblick auf sich selbst trifft Paulus allerdings keine Aussage über einen All-Besitz. Diesen gesteht er an dieser Stelle allein den Korinthern zu. Vielmehr kennzeichnet er sich selbst wie auch Apollos und Kephas als Besitztümer der Korinther. Damit ist noch nicht ausgesagt, dass ihm als einem Weisen nicht doch (wie den Korinthern auch) alles zusteht.³⁵² Vielmehr ist dieser Aspekt seines Bios (noch) nicht in den Blick genommen. Hier liegt das Augenmerk auf den Korinthern: Sie sollen lernen, dass sich die Apostel allesamt den Korinthern unterordnen, und aus diesem apostolischen Verhalten ein Vorbild für ihr eigenes Leben gewinnen. Es erscheint also im Hinblick auf die kynische und stoische Aussage des AllBesitzes möglich, dass Paulus in 3,21– 23 auf gängige Vorstellungen anspielt und dabei gleichzeitig diese umdeutet und ‚christianisiertʻ. Dieter Zeller ist skeptisch gegenüber der Ansicht, dass der Apostel hier Vorstellungen der Korinther aufgreift und mit (populär‐)philosophischen Aussagen kontert; gleichwohl hält er es für möglich, dass Paulus mit derartigen Formulierungen apokalyptische Erwartungen in die Gegenwart überträgt.³⁵³ Dass ein wesentlicher Vorstellungshintergrund aber in philosophischen Aussagen über den Weisen besteht, ist auch mit dieser Annahme Zellers nicht bestritten. Der Hintergrund von 1Kor 4,3 – 5 bildet die Vorstellung einer gerichtlichen Situation.³⁵⁴ Während Paulus es als ihm gleichgültig bezeichnet, von den Korinthern oder einem menschlichen Gerichtstag befragt oder beurteilt zu werden, gesteht er dies nicht einmal sich selbst zu (v.3), sondern allein Gott (v.4c). Paulus begründet diese Gleichgültigkeit mit seinem reinen Gewissen (v.4a). Die Formulierung, mit der Paulus seine Gewissenssicherheit beteuert, ist zu sehr sprachliches Allgemeingut,³⁵⁵ um weitergehende Rückschlüsse zu ziehen.³⁵⁶ Gleichwohl lädt die Vorstellung, dass sich Paulus vor einem menschlichen, aber an sich

 Tatsächlich scheinen die Aussagen in 1Kor 6,12; 10,23, wenn man sie nicht als korinthische Parolen versteht, in diese Richtung zu gehen.  Vgl. Zeller, Brief 172 f.  Dabei spielt es keine Rolle, dass das Wort ἀνακρίνειν doch kein forensischer Terminus ist, wie es etwa noch Weiß, Korintherbrief 67 behauptet; vgl. dazu Arzt-Grabner et al., Korinther 135 Anm. 361. Entscheidend ist das Stichwort ἡμέρα („Gerichtstag“), vgl. dazu Arzt-Grabner at al., a.a.O. 52; Fitzmeyer, Corinthians 213.  Vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 165 f.  So taucht der Ausdruck ἐμαυτῷ σύνειδεναι sowohl etwa bei Plat.apol.21B; rep. 331 A als auch bei Hi 27,6 LXX auf. Es ist daher an dieser Stelle nicht notwendig, in die philosophische Gewissensdiskussion einzutauchen; vgl. dazu etwa M. Pohlenz, „Paulus und die Stoa,“ in: ZNW 42 (1949), 69 – 104 (77– 79).

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unzulässigen Gericht verteidigt, im Zusammenhang mit der Diskussion um Weisheit dazu ein, an den Prozess des Sokrates zu denken: ein unschuldiger Weiser, der sich vor einer Instanz verteidigen muss, die gar nicht zu einem gerechten Urteil befähigt ist.³⁵⁷ Dass sich der Weise vor Gericht begibt, ist sicherlich ungewöhnlich. Bei Sokrates, dem allgemein anerkannten Weisen, war es ja erst sein Prozess bzw. dessen Ausgang, der Sokrates’ Weise-Sein offenbarte. Im Zuge der nachfolgenden philosophischen Richtungen erschien die Möglichkeit eines ähnlichen Prozesses allerdings offensichtlich unmöglich bzw. wurde sie zumindest nicht artikuliert. In der Stoa etwa erscheint der Weise innerhalb der natürlichen (und damit göttlichen) Ordnung als Teil des Gemeinwesens, womit ein Konflikt mit dem Rechtswesen ausgeschlossen erscheint. Gleichwohl kennt etwa Epiktet durchaus die Möglichkeit, dass man (als Weisheitsaspirant) einmal vor Gericht gelangen könnte und gibt entsprechende Verhaltenshinweise.³⁵⁸ Selbst wenn es aber wie bei Sokrates zu einem Gerichtsstreit mit tödlichem Ausgang käme, gehört der Tod nach stoischer Auffassung doch zu den Adiaphora, die letztendlich keine Bedeutung haben.³⁵⁹ Überhaupt sind alle Gerichtsstrafen wie Gefängnis,Verbannung und Gift zu den Adiaphora zu zählen.³⁶⁰ Bei den Platonikern und Aristotelikern liegt der Fall ähnlich. Der Weise nach Epikur kann zwar durchaus vor Gericht ziehen,³⁶¹ ein grundsätzlicher Konflikt mit dem Gesetz an sich scheint aber auch hier nicht angedacht zu sein. Insofern liegt die Zurückweisung einer menschlichen Gerichtsinstanz durch Paulus im Rahmen des philosophischen Weisheitsdiskurses durchaus auf einer Wellenlänge mit dem Sokrates-Prozess, wie ihn Plato schildert. Auch dort ist es letztendlich allein Gott, der den (unschuldig) Angeklagten in rechter Weise beurteilen und dadurch rechtfertigen kann, denn außer den menschlichen, bloß auf Erden sogenannten Richtern gibt es nach platonischer Vorstellung in der Nachwelt tatsächliche, von Zeus eingesetzte (halb‐)göttliche Richter (Plat.apol. 40E–41D; rep. 614B–E; Gorg. 523 A–524 A: δικασταί), die das einzig angemessene Urteil über ein menschliches Leben fällen können.

 Eine ähnliche Vorstellung liegt auch 1Kor 2,7– 9 zugrunde, mit dem Unterschied, dass nicht ein bloßer Mensch, sondern Gottes Sohn selbst („der Herr des Ruhmesglanzes“) vor einem unzulässigen, da erkenntnisunfähigen menschlichen Gericht steht und verurteilt wird.  Vgl. Epikt.Diss. 2,2; 3,9.  Vgl. Diog.Laert. 7,102.  Vgl. K. Döring, „Sokrates bei Epiktet,“ in: ders. (Hg.), Studia Platonica: Festschrift für Hermann Gundert zu seinem 65. Geburtstag am 30. 4. 1974, Bamberg 1974, 195 – 226 (203).  Vgl. Diog.Laert. 10,119.

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3.4 Spuren des Weisen in 1Kor 4,6 – 21 An vier Stellen in 1Kor 4,6 – 21 zeigen sich Spuren des Weisen: in 4,8 im Bild des Herrschens, in 4,9 – 13 in der Darstellung der Apostel gegenüber der Welt, in 4,14– 21 in der Vaterrolle des Paulus sowie ebendort im Aufruf zur Nachahmung. Diese vier Stellen sollen nun dahingehend besprochen werden. a) In der Stoa und im Kynismus wird der Weise als König vorgestellt.³⁶² Dies hängt damit zusammen, dass ein König über das Gute sowie das Schlechte Bescheid wissen muss (was ein Nicht-Weiser nicht kann, sonst wäre er ja weise), so dass dieser Herrschaftsform nach stoischer Logik letztendlich nur in den Händen von Weisen Erfolg beschieden ist. Die stoische Vorstellung hat ihren Vorläufer bei Platon; in seinem Entwurf des idealen Staates formuliert er den Herrschaftsanspruch der Philosophen (Plat.resp 473C–D).³⁶³ Dass sich 1Kor 4,8 auch im Rahmen eines apokalyptischen Denkens dahingehend lesen lässt, dass die Korinther nicht als Weise einen Herrschaftsanspruch formulieren, sondern als von Gott Erwählte, ist wenig plausibel, da Paulus hier dann doch mit mehr als lediglich en passant formulierten, knappen beißend-ironischen Bemerkung darauf reagieren würde.³⁶⁴ Dies ist zudem auch unnötig, wenn man das „schon“ in 4,8 als ironischen Vorwurf des Apostels an die Korinther und nicht als eigene Ansicht der Gemeinde interpretiert.³⁶⁵ Gerade im Hinblick auf den Selbstanspruch der Korinther, weise sein zu wollen (vgl. 3,18), kann die ironische Vorhaltung, sie seien bereits Könige, vor einem philosophischen Hintergrund damit gut zusammengehen. Weder das eine noch das andere kann nach Paulus’ Ansicht auf die Korinther zutreffen. Dann ist aber auch die (pluralische) Selbstaussage, dass die Apostel zusammen mit den Korinthern herrschen – verpackt in der Formulierung eines unerfüllbaren Wunsches (ὄφελον) – als beißende Ironie zu verstehen. Gerade das Gegenteil von Herrschen bestimmt ja die apostolische Lebensweise, wie es Paulus bereits zuvor in 3,5; 4,1 explizierte und nun im Folgenden deutlich herausstellt. b) John T. Fitzgerald trifft in seiner Untersuchung zu den Peristasenkatalogen in den Korintherbriefen die Feststellung, dass die Figur des Weisen in der griechisch-römischen Philosophie besonders vermittels dieser Kataloge dargestellt wird.³⁶⁶ Die Leiden des Weisen seien ein fester Bestandteil in der Schilderung und

 Vgl. Diog.Laert. 7,122. Aristoteles kannte lediglich ein Leben des Weisen beim König, vgl. Diog.Laert. 5,31. Weitere Quellenangaben bei Zeller, Brief 183 Anm. 564.  Für Platon steht ja der Philosoph als Weisheitssucher für die Gestalt des Weisen.  Vgl. Zeller, Brief 183.  S.o. 2.6.1.  Vgl. Fitzgerald, Cracks 203.

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Beschreibung dieser Gestalt, da durch die Leiden sein tugendhafter Charakter verdeutlicht werden kann.³⁶⁷ Fitzgerald kommt zu dem Ergebnis: „Paul in 1 and 2 Corinthians frequently depicts himself in terms typically used to describe the ideal philosopher, and his use of peristasis catalogues is an integral part of this Selbstdarstellung“³⁶⁸. Mit dieser Deutung liegt Fitzgerald ganz auf der Linie Rudolf Bultmanns, der bereits 1910 in seiner Dissertation Paulus in die Nähe zur stoisch-kynischen ‚Diatribeʻ stellte und dazu in der stoischen Literatur Peristasenkataloge überhaupt erst identifizierte³⁶⁹ und sie dann in ein Verhältnis zu Paulus setzte. Hierbei stellt auch Bultmann eine Verbindung von Paulus zur Gestalt des hellenistischen Weisen her: „Wie der griechische Weise, so zählt auch Paulus die Fügungen des Schicksals oder der Mächte, denen der Mensch unterworfen ist, auf und verkündet begeistert seine Überlegenheit über Freuden und Leiden, über Ängste und Schrecken“³⁷⁰. In der Zwischenzeit ist durchaus Kritik an der einseitigen Herleitung der Peristasenkataloge aus der stoisch-kynischen Popularphilosophie laut geworden. In dieser Hinsicht macht Robert Hodgson auf den breiten literarischen Horizont des 1. christlichen Jahrhunderts aufmerksam, der an verschiedenen Stellen Peristasenkataloge aufweist und sich dabei über Griechentum und Judentum hin erstreckt.³⁷¹ So finden sich durchaus auch bei Josephus und Philo Peristasenkataloge, die in deren Schriften vorkommenden Akteuren in den Mund gelegt werden.³⁷² Auch die Apokalyptik bietet entsprechende Reihungen.³⁷³ Obschon die Peristasenkataloge berechtigterweise vor einem breiteren Horizont gesehen werden müssen, bleibt doch die Frage nach ihrer Funktion im jeweiligen Kontext

 Der Gerechte (d. h. der Weise) bei Plat.rep. 361E etwa wird geschlagen, gefoltert, eingekerkert, geblendet und schließlich ans Kreuz geschlagen.  Fitzgerald, Cracks 204, Kursivierung übernommen.  Vgl. Bultmann, Stil 19, der vor allem auf Epiktet und Seneca verweist. Fitzgerald, Cracks 11 Anm. 29 sichtet Bultmanns Belegstellen kritisch, bleibt nach einigen Korrekturen aber beim gleichen Ergebnis.  Bultmann, Stil 71.  Vgl. R. Hodgson, „Paul the Apostle and First Century Tribulation Lists,“ in: ZNW 74 (1983), 59 – 80 (62.67– 80).  Vgl. dazu auch R. Schmitt, „Ist Philo,Vita Moysis (Mos) II 251 ein Peristasenkatalog?,“ in: NT 29 (1987), 177– 182.  Vgl. W. Schrage, „Leid, Kreuz und Eschaton. Die Peristasenkataloge als Merkmale paulinischer theologia crucis und Eschatologie,“ in: ders., Kreutestheologie und Ethik im Neuen Testament. Gesammelte Studien (FRLANT 205), Göttingen 2004, 23 – 57 (24– 27). Er betont zu Recht, dass „ein erheblicher Einfluß der Apokalyptik auf Form, Sache und Funktion der Peristasenkataloge in Anschlag zu bringen ist“ (a.a.O. 29 Anm. 16).

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bestehen. Hierin liegt die eigentliche Nähe von Paulus zur hellenistischen Philosophie. Das Erleiden und Durchstehen von Peristasen lassen sich als lobenswerte Taten (πράξεις) verstehen, anhand derer sich der Charakter eines Menschen ablesen lässt.³⁷⁴ Über diese Verbindung zum Enkomion ergibt sich die Zuordnung der Peristasenkataloge in das epideiktische Genus. In 1Kor 4,11– 13 besteht näherhin eine Verquickung der Peristasen mit einem tugendhaften Verhalten: Trotz aller widrigen Umstände zeigen sich die Apostel und mit ihnen Paulus als ausdauernd (v.12c) und sozial ausgerichtet (v.12b.13a) und erscheinen dadurch als besonders lobenswerte Individuen. Die Antithetik, oft ausgedrückt in einer Nicht-SondernStruktur, ist charakteristisch für das epideiktische Genus. Gleichwohl haben die Peristasenkataloge das Ziel, „den betroffenen Menschen nicht als Opfer, sondern als Überwinder der Mühen und Nöte vor Augen zu stellen und ihn so zum Paradigma für die Bewältigung von Leiden zu machen“³⁷⁵.Von daher fügt sich auch der Katalog in 4,11– 13 trotz seiner Zuordnung zur Epideiktik organisch in den symbuleutischen Grundton von c.1– 4 ein. Durch die Selbstdarstellung als ein Leidender, der die Qualen erfolgreich bewältigt, kann sich Paulus sowohl in einem vorteilhaften Licht präsentieren als auch auf sich als ein Vorbild hinweisen. Darüber hinaus aber rückt Paulus sich dadurch einmal mehr in die Nähe eines Weisen. Gerade die Antithetik innerhalb der paulinischen Peristasenkataloge lässt auf eine Beeinflussung durch den kynisch-stoischen Diatribenstil schließen.³⁷⁶ Im Hinblick auf eine Selbstdarstellung, die sich an den Adressaten orientiert und deren Gedanken und Vorstellungen aufgreift, um sie zu überzeugen, legt sich von daher für 1Kor eher ein philosophischer als ein apokalyptischer Hintergrund nahe. Die popularphilosophisch geprägte Sprache evoziert ein Bild des Paulus (und der anderen Apostel), mit dem die Korinther in diesem Zusammenhang auch etwas anfangen können – das Bild des leidenden Weisen.³⁷⁷ Dabei ist jedoch das Aushalten und Überwinden von

 Vgl. Berger, Formen 285.  Berger, Formen 286 f, Kursivierung im Original.  Vgl. Schrage, „Leid“ 28 f.  Zum Leid des Weisen kommt in 1Kor 4,9 – 13 gerade im Kontrast der Apostel zu den Korinthern implizit noch der Zug der ‚Nichtigkeitʻ zum Tragen. ‚Nichtigkeitʻ ist ein Topos der Philosophenverspottung, demzufolge der Weise in der öffentlichen Meinung als nichts gilt, vgl. Betz, Apostel 123 – 130. Vorbereitet findet sich dieses Motiv bereits in 1Kor 1,27 f, insofern dort Gott als derjenige geschildert wird, der im Zuge der Verkehrung der weltlichen Weisheitsmaßstäbe das Nichtige im Kontrast zu den Wohlgeborenen erwählt hat, vgl. Theißen, Schichtung 233 – 235.

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Leiden keineswegs ein Merkmal allein des stoischen Weisen, sondern findet sich in den Schilderungen des Weisen aller philosophischen Hauptrichtungen.³⁷⁸ Gerade im Epikureismus finden sich in Bezug auf den Weisen etliche Gedanken zum Thema Leiden. Eben weil Leiden zu den Grundkonstanten menschlichen Lebens gehört, musste sich auch die Philosophie in ihren verschiedenen Ausrichtungen damit beschäftigen. Der Umgang mit dem Leid wird jedoch verschieden beantwortet: Für die Stoa besteht die Antwort auf das Leiden in seiner völligen Negierung durch den Weisen;³⁷⁹ bei Epikur hingegen werden das Leiden und die daraus resultierende Betrübnis akzeptiert.³⁸⁰ Wiewohl das Leiden durchaus einen Platz im Leben des epikureischen Weisen hat, lässt er sich davon jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Von einer Außenperspektive betrachtet unterscheiden sich der stoische und der epikureische Weise im Leiden letztendlich nicht voneinander. Und für den platonischen Weisen gilt diese Wahrnehmung ebenso, kann doch selbst der Mangel an äußerlichen Vorzügen wie Reichtum oder Ruhm seiner Glückseligkeit keinen Abbruch tun.³⁸¹ Insgesamt gesehen erscheint der hellenistische Weise als dem Leiden gegenüber siegreich. In diese allgemeine Auffassung vom Weisen kann Paulus sich selbst als einen Christus-Weisen eintragen. Auch er ist als ein Weiser dem Leiden unterworfen. Anders aber als der Stoiker besteht Paulus in den Peristasen nicht durch Negierung des Leidens; er weicht ihm auch nicht wie der Epikureer (durch Lustgewinn und Leidensverminderung etwa mittels schöner Erinnerungen) aus. Vielmehr nimmt er es als solches an, ist es doch als Leiden der Apostel eben durch ihren Eifer für Christus bedingt: Weil sie über ihren Herrn nicht schweigen können und die Botschaft in die Welt hinaustragen, werden sie verlästert, geschmäht und verfolgt. Dies markiert dann auch einen bedeutsamen Unterschied zum hellenistischen Weisen: Die Leiden sind nicht kontingente Peristasen, sondern vielmehr Auswirkung und Ausdruck der Widerständigkeit des Evangeliums gegenüber der Welt. Ein Bios im Gefolge des Christus Jesus kann nicht anders aussehen, als dass damit auch das Risiko der Eigengefährdung einhergeht. Den Verstehenshorizont der Peristasen eines Christusgläubigen bildet dabei die Christologie.³⁸² Das Leiden gehört also unablöslich zur Existenz des Christus-Weisen und bestimmt diese maßgeblich.³⁸³

 Vgl. Fitzgerald, Cracks 60 – 62. Einzig Aristoteles schert in seinen Ansichten aus diesem Konsens aus, vgl. Diog.Laert. 5,30.  Vgl. Diog.Laert. 7,118.  Vgl. Diog.Laert. 10,118.  Vgl. Diog.Laert. 3,78.  Vgl. Schrage, „Leid“ 49 f.

3 Spuren des Weisen in 1Kor 1 – 4

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c) Der hellenistische Weise, gleich welcher philosophischen Ausrichtung, wird in der Regel nicht als eine Vaterfigur seiner Anhänger beschrieben.³⁸⁴ Dies mag damit zusammenhängen, dass es in der antiken westlichen Gesellschaft einen großen Respekt vor den biologischen Vätern gab. Die Abkehr der Söhne (als Angehörige des damals zum Handeln befähigten Geschlechts) von den Vätern gilt als Ausdruck von Anarchie.³⁸⁵ Insofern sich der Weise an der Weltordnung ausrichtet, wird er keine Unruhe zwischen Vätern und Söhnen stiften, indem er sich selbst als Vater seiner Schüler bezeichnet. Gleichwohl ist es aber gerade dies einer der Anklagepunkte, denen sich Sokrates ausgesetzt sah: dass er die Söhne ihren Vätern abspenstig, ja mehr noch widerspenstig machte.³⁸⁶ Auch wenn Sokrates sich letztendlich dem Gericht und damit dem Gesetz beugte, zeigt sich aber auch, dass Sokrates als Prototyp des Weisen, an dem sich in der Folgezeit so viele andere ausrichteten, in seiner Infragestellung der natürlichen Ordnung und der menschlichen Konventionen ein gewisses anarchisches Potential trägt.

Indem sich Paulus als Vater der Korinther präsentiert, stellt er sich außerhalb der Vorstellungen über den griechisch-römischen Weisen. Gleichwohl lässt sich mit

 Dabei gilt für das Leiden eines Christusgläubigen, was Schrage, „Leid“ 34 treffend feststellt: „Leiden bewirkt nicht Selbstbeweis, Selbstdarstellung und Selbstverherrlichung des Christen, sondern Mehrung der Gnade, Danksagung und Verherrlichung Gottes“. Mit ‚Selbstdarstellungʻ meint Schrage hier Selbstüberhöhung.  A. J. Malherbe,“ Exhortation in First Thessalonians,“ in: NT 25 (1983), 238 – 256 behauptet zwar das Gegenteil (244); die Stellen, die er zum Beweis anführt (Epikt.Diss. 3,22,82; Iamb.vit.Pyth. 198; Quint.inst. 2,2,5), sprechen aber nur in allgemeiner Weise über das Verhalten des bzw. der Weisen. Es geht dabei nicht – wie bei Paulus – um den tatsächlichen Anspruch der Vaterschaft gegenüber der Gemeinde. Die Ausnahme der Regel, sich nicht als Vater der Anhänger zu präsentieren, scheint Epikur darzustellen. Malherbe zitiert dafür aber lediglich N.W. De Witt, Epicurus and His Philosophy, Minnesota 1954, 99.323, ohne dessen Belege selbst anzuführen. Die dort angegebenen Belege sind aber durchaus anzuzweifeln:Wenn Lukrez von Epikur als ‚Vaterʻ spricht, sagt das noch nichts über Epikur als tatsächliche Vatergestalt aus, ebenso wenig der Hinweis von Philodemus auf den möglichen Vatermord an Epikur und dessen Nachfolgern (de rhet. 1,1 col.VII = 49 Us.); beide lebten ja Jahrhunderte nach Epikur. Plut.mor. 1117D–E wiederum möchte De Witt im Sinne seiner These, dass Epikur hier von sich als Vater spricht, anders übersetzen – auch das erscheint doch zumindest sehr fragwürdig.  Vgl. S. Luria, „Väter und Söhne in den neuen literarischen Papyri,“ in: Aegyptus 7 (1926), 243 – 268. Hieran wird das philosophische Problem des Nomos (i.S.v. Konvention) im Verhältnis zur Physis deutlich; vgl. dazu auch R. Bultmann, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, München 21992, 149 f.  Vgl. Xen.mem. 1,2,49. Dieser Anklagepunkt wird durch Xenophon selbst bestätigt, vgl. Xen.mem. 1,2,53.

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der Vaterfigur eine Brücke zur (hellenistisch‐)jüdischen Weisheit schlagen.³⁸⁷ Deutlich lassen sich in 1Kor 4,14– 21 ähnliche Vorstellungen erkennen, wie sie etwa in SapSal 11,10 (väterliche Zurechtweisung,vgl. 1Kor 4,14), Prov 10,1 (Weisheit der Kinder als Freude des Vaters), Prov 10,9.17 (verkehrte und rechte Wege,vgl. 1Kor 4,17) und Prov 3,12; 10,13; 22,15; Sir 30,1 (väterliche Zuchtrute, vgl. 1Kor 4,21) erscheinen. Die Weitergabe von Weisheit wird gerade in den genannten Schriften als Geschehen gedacht, das analog zu einem Vater-Sohn-Verhältnis ist.³⁸⁸ Dabei bildet die väterliche Liebe die Grundlage und stellt die Berechtigung dar für das möglicherweise strafende Handeln an den Kindern (Prov 3,12; Sir 30,1 vgl. 1Kor 4,14). Auch wenn die Vaterrolle in 1Kor 4,14– 21 im brieflichen Kontext unter Rückbezug auf allgemeine antike Vorstellungen des Vaters als Familienvorstand zur Autoritätssteigerung des Apostels fungiert, sollte daneben nicht ihr weisheitlicher Hintergrund übersehen werden. Paulus trägt hier eine distinkt jüdische Note ein.³⁸⁹ Vor dem Hintergrund der Weisheitsweitergabe als eines innerfamiliären Geschehens kommt ihm gleichermaßen die entscheidende Autorität (und nicht den unzähligen Knabenführern) gegenüber den Korinthern zu. d) Der Aufruf zur Nachahmung in 4,16 ruft die Wirkung des Sokrates bei seinen Schülern wach. Dabei ist der Begriff ‚Schülerʻ im Sinne eines herkömmlichen Schüler-Lehrer-Verhältnisses bei Sokrates eigentlich nicht korrekt. So schreibt Xenophon über Sokrates (mem. 1,2,3): „Und doch versprach er niemals, ein Lehrer dessen [d. h. der Tugend und des Schönen und Guten] zu sein, sondern dadurch, dass er deutlich war, derart [= tugendhaft] zu sein, machte er die mit ihm Zeit verbrachten hoffen, als solche, die jenen [sc. Sokrates] nachahmen, derartige [= Tugendhafte] zu werden.“³⁹⁰ Hierin wird das Besondere an Sokrates deutlich, dass er selbst eben nicht eigentliche Lehren von sich gab, sondern sein Handeln diesen entsprach. Obgleich Sokrates auf das Aufstellen einer expliziten Lehre verzichtet, gibt es sehr wohl eine implizite Lehre in seinen Äußerungen und Aussprüchen. Gerade das, die Konformität von Leben und Lehre nämlich, zeichnet ihn als einen

 Vgl. zum Folgenden A. A. Myrick, „‚Father‘ Imagery in 2 Corinthians 1– 9 and Jewish Paternal Tradition,“ in: TynB 47 (1996), 163 – 171.  Ursprünglich war die Weitergabe von Weisheit wohl in der Familie angesiedelt, vgl. K. Tesch, Weisheitsunterricht bei Ben Sira. Lehrkonzepte im Sirachbuch und ihre Relevanz für heutiges Lernen im Religionsunterricht (BBB 169), Göttingen 2013, 24. Nachdem dies in einen außerfamiliären Lehrbetrieb ausgegliedert wurde, blieb die Sohn-Anrede durch den Lehrmeister und damit ein Quasi-Vater-Sohn-Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler erhalten, vgl. Kaiser, Grundriß 3 55 f.  Diese Note wiederum entstammt altorientalischen Vorstellungen, vgl. Assmann, „Weisheit“ 35 f.  καίτοι γε οὐδεπώποτε ὑπέσχετο διδάσκαλος εἶναι τούτου, ἀλλὰ τῷ φανερὸς εἶναι τοιοῦτος ὢν ἐλπίζειν ἐποίει τοὺς συνδιατρίβοντας ἑαυτῷ μιμουμένους ἐκεῖνον τοιούτους γενήσεσθαι.

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Weisen aus.³⁹¹ Das Annehmen der Lehre eines Weisen kann aber nur über die Imitation (und schließlich die Übernahme) seiner konkreten Lebensweise geschehen.³⁹² In Korinth stellt sich dies nicht anders dar. Die Korinther können noch so sehr über die Lehren und die Lebensweise des Paulus hören – wenn sie diese aber nicht konkret umsetzen, bleibt ihnen die Weisheit Gottes verschlossen. Der Aufruf zur Imitation geschieht aus diesem Grund: Leben und Lehre sind bei Paulus wie bei einem hellenistischen Weisen ineinander verschlungen und unauflöslich verbunden. Wer somit Paulus’ Lehre folgen will (die ihm zufolge die einzige richtige Lehre ist), muss dessen Lebensweise übernehmen.³⁹³

3.5 Fazit zu den Spuren des Weisen in 1Kor 1 – 4 Aus den ersten vier Kapitel des 1Kor ließen sich mehrere Spuren ermitteln, die auf eine Selbstdarstellung des Paulus in der persona eines hellenistischen Weisen deuten. Grundlegend ist dabei die Übereinstimmung von Lehre und Leben (1Kor 2,1– 5). Sie stellt die wesentliche particular eines hellenistischen Weisen dar. Darauf aufbauend präsentiert sich Paulus überhaupt als ein Weisheitslehrer (3,1) in einem Kollektiv von Weisheitslehrern (2,6 – 16), das sich – wie bereits Sokrates – gegen menschliche Weisheit ausspricht und dabei auf den Geist Gottes als Offenbarungsinstanz der göttlichen Weisheit zurückgreifen kann. Mit einigen Vorstellungen über die Weisen seiner Zeit teilt Paulus im Folgenden die Merkmale einer Nährmutter (3,2), der Dienerschaft gegenüber einer Gottheit (4,1), einer unverschuldeten Anklage und dem Bestehen vor einer übermenschlichen Gerichtsinstanz (4,3 – 5) und das Leiden (4,9 – 13). Den Korinthern konzediert er – gleichsam mit einer kynisch-stoischen Parole über die Weisen –, dass ihnen alles gehört (3,21 f). Es ergeben sich aber auch wesentliche Differenzen zur geläufigen Vorstellung über den Weisen. So zeichnet sich die göttliche Weisheit gerade durch eine Verkehrung der allgemein anerkannten Werte Weisheit, Stärke und Adel aus und

 Gleichwohl erschien Sokrates zu Lebzeiten wegen der Nachahmung durch seine Freunde als ein philosophischer Lehrer, insofern die Lehrer gemeinhin ihre Schüler als Nachahmer (μιμηταί) ihrer selbst darstellten, vgl. Xen.mem. 1,6,3. Der Unterschied zwischen den gewöhnlichen Lehrern und Sokrates liegt eben auf der Ebene des Handelns, vgl. 4,4,10 f.  Von eben dieser Nachahmung der eigenen, weisen Lebensart durch andere berichten in den Kynikerbriefen Krates (ep. 20) sowie Diogenes (ep.14).  Aus diesem Grund wird dann auch Timotheus entsandt: Er soll die Gemeinde an die Wege, d. h. den konkreten Lebenswandel des Apostels erinnern.

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wirkt somit – gerade den Griechen – als Torheit (1,18 – 31);³⁹⁴ im Sinne dieser göttlichen Weisheit, die am gekreuzigten Christus offenbar wurde, ist Paulus (innerhalb des Kollektivs der Weisheitslehrer) ein Christus-Weiser (2,2 f.16). Darüber hinaus wehrt Paulus ein Verständnis ab, dass der Weisenstatus wie in der Stoa etwas mit königsgleicher Herrschaft zu tun hat (4,8). Vielmehr stellt er sich selbst nicht bloß als Diener Christi (4,1), sondern als Diener und Besitztum der Korinther dar (3,5.22). Jedoch auch die Allgewalt über die Dinge, die er den Korinthern, kynisch-stoischen Weisen gleich, zugestanden hatte, erfährt in diesem Zusammenhang eine Korrektur: Sie verdankt sich der Gnade Gottes durch Christus als Mittler (3,23). Eine weitere bedeutsame Differenz zum Verständnis des pagan-hellenistischen Weisen ergibt sich aus der Selbstzeichnung des Paulus als eines Vaters der Korinther (4,14 f). Hier schöpft Paulus aus jüdischen Vorstellungen. Dies gilt vermutlich ebenso für seine (jüdisch-hellenistisch geprägte) Selbstbezeichnung als ‚weiser Baumeisterʻ (3,10). Insgesamt ergibt sich somit eine Selbstdarstellung des Paulus, die zwei Dinge verdeutlicht: zum einen ein ‚Entgegenkommenʻ des Apostels in Richtung der korinthischen Erwartungen, über Weisheit und das Sein eines Weisen belehrt zu werden, indem Paulus sich sozusagen den Philosophenmantel überwirft;³⁹⁵ zum anderen Klarstellungen bezüglich der Rolle eines Christus-Weisen. Paulus zeichnet sich selbst nach den Konturen eines Weisen und eröffnet so der Gemeinde eine Verstehensmöglichkeit, die sich an ihren Erwartungen orientiert. Damit ist der Anfang gemacht, dass Paulus die rhetorische persona eines Weisen annimmt. Im selben Zug malt Paulus diese allgemein bekannten Konturen aber in den kräftigsten Christus-Farben aus und erstellt so auf Basis der theologia crucis ein völlig neues Bild der Gestalt des Weisen. Die inhaltlich anders gelagerte Füllung der herkömmlichen Weisen-Schablone entspricht dabei ganz und gar seiner Christus-Botschaft und seiner Lebensweise. Dies unterstreicht einmal mehr (in der indirekten Auseinandersetzung mit den anderen Aposteln) seine Autorität über, aber auch seinen Anspruch an die Gemeinde. Indem die Selbstschilderung

 Die Abqualifizierung von allgemein anerkannten Werten findet sich auch bei den Kynikern. Dort leitet sie sich jedoch nicht aus einem göttlichen Offenbarungsgeschehen ab, sondern aus der menschlichen Erkenntnis, dass der Weise an sich selbst genug hat und somit keiner Güter bedarf (vgl. Diog.Laert. 6,11). Insofern kommt es im Kynismus nur zu einer Missachtung der Werte, aber nicht zu einer tatsächlichen Verkehrung der Werte.  Bultmann, Stil 108 verwendete seinerzeit das Bild von Paulus im Rednermantel allerdings ohne „Sinn für kunstgerechten Faltenwurf, und die Linien der fremden Gestalt schauen überall durch“. Ganz so fremdartig und auffällig, wie Bultmann Paulus als Redner sah, verstehe ich den Apostel als Weisen/Philosophen jedoch nicht.

3 Spuren des Weisen in 1Kor 1 – 4

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in dem Aufruf zur Imitation des Paulus kulminiert, erhebt sich der Apostel zum verbindlichen Lebensbeispiel für die Gemeinde. In Verbindung mit der Schilderung als eines Weisen wird Paulus selbst für seine korinthische Gemeinde beispiels-weise. Die ermittelten Spuren weisen den Weg hin zu einer Fährte, die sich im gesamten 1Kor finden lässt. Wie sich Paulus’ Selbstdarstellung als eines Weisen im weiteren Briefverlauf durchzieht und tatsächlich zur rhetorischen persona auswächst, soll in den folgenden Kapiteln betrachtet werden.

Kapitel 7: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 5 – 6 1 Einleitung Einer der wichtigsten paulinischen ethischen Grundsätze ist der, dass die πορνεία (‚Hurereiʻ¹) sündhaft ist und ein Mensch, der an Christus glaubt, sie meiden soll (1Th 4,3; Gal 5,19).² πορνεία ist ein Begriff, der in der Literatur des Frühen Judentums sehr breit verwendet wurde und nicht bloß den Umgang mit Prostituierten als eigentliche ‚Hurereiʻ, sondern auch Ehebruch, Homosexualität und Inzest umfasst und überhaupt für all das, was nach damaligen moralischen Vorstellungen als sexuelle Unmoral gehalten wurde, eingesetzt wird.³ Mit all diesen Erscheinungen hat sich auch Paulus in seinen Briefen befasst (Hurerei:1Kor 6,15 f; Ehebruch: 1Kor 6,9; Röm 2,22; 7,3; 13,9; Homosexualität: 1Kor 6,9; Röm 1,26 f; sexuelle Unmoral allgemein: 1Th 4,3; 1Kor 10,8; 2Kor 12,21; Gal 5,19; Röm 13,13).Von

 Der Ausdruck ‚Hurereiʻ klingt für deutsche Ohren ziemlich hart. Jedoch halte ich ihn für angebracht, da Paulus dieses Phänomen eindeutig negativ kennzeichnet. Der Ausdruck ‚Unzuchtʻ, der in der Gegenwart an Bedeutung und Aussagestärke verloren hat, ist hingegen ein Euphemismus, insofern er voraussetzt, was als ‚Zuchtʻ gesellschaftlich anerkannt ist, die Unzucht selbst aber aus Gründen der Scham nicht klar benennt. Zudem hat der Ausdruck ‚Hurereiʻ den sprachlichen Vorteil, dass wie im Griechischen alle Ableitungen (Hure, Hurer, huren) denselben Wortstamm erkennen lassen. Der Wortstamm ‚hur-ʻ ruft (auch wenn etymologisch nur scheinbar eine Verwandtschaft zum Stamm ‚heuer-ʻ besteht) darüber hinaus den pekuniären Aspekt des Griechischen in Erinnerung: ‚hurenʻ als ‚mieten/heuernʻ; πέρνημι = verkaufen, vgl. F. Hauck/ S. Schulz, „πόρνη κτλ.,“ in:ThWNT 6 (1959), 579 – 595 (580). M. D. Goulder, „Libertines? (1 Cor. 5 – 6),“ in: NT 41 (1999), 334– 348 (339 f) entscheidet sich ebenfalls für eine Wiedergabe des Wortstammes mit ‚whoreʻ/‚whoredomʻ, allerdings dezidiert nicht wegen eines pekuniären Hintergrundes, sondern wegen einer bei der Übersetzung gleichen Stammwurzel und wegen der im Englischen „aggresive attitude to sexual deviance“ (340) dieser Wortgruppe.  Tatsächlich ist die Verwerfung der Hurerei Paulus so wichtig, dass er sie im Lasterkatalog Gal 5,19 – 21 an erste Stelle setzt, was auch von den deuteropaulinischen Katalogen Kol 3,5(+ v.8 f) und Eph 5,3 f übernommen wird. Daneben lässt Paulus die Aufzählungen 1Kor 5,10/11; 6,9 f; Röm 1,24– 32 ebenfalls mit sexuellen Übertretungen beginnen.  Vgl. Hauck/Schulz, „πόρνη“ 587 mit Belegen aus dem Frühen Judentum; H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 5,1 – 11,1 (ÖTK 7/2), Gütersloh/ Würzburg 2000 [= Brief II], 75. Paulus selbst scheint jedoch die Unterschiede genau zu kennen und differenziert, wenn er in 1Kor 6,9 f neben den πόρνοι (Hurer, also heterosexuelle Freier) noch μοιχοί (heterosexuelle Ehebrecher), μαλακοί (‚Weichlingeʻ, also homosexuell passive Männer) und ἀρσενοκοῖται (‚Männerbeischläferʻ, also homosexuell aktive Männer) nennt; zu dieser Unterscheidung und Bewertung vgl. Conzelmann, Brief 135 f; Sanders, Paulus 147; Witherington, Conflict 166. In 1Kor 7 meint Paulus mit πορνεία jedenfalls den sexuellen Verkehr mit Prostituierten (s.u.). DOI 10.1515/9783110498769-010

1 Einleitung

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Paulus wird πορνεία entsprechend allgemein für alle Formen sexueller Vergehen verwendet.⁴ Inzest war offensichtlich ein Problem in Korinth, da ein Gemeindeglied ein sexuelles Verhältnis mit der Frau des eigenen Vaters hatte (1Kor 5,1),⁵ so dass Paulus sich hier zum Gegensteuern veranlasst sah. Die Grundüberzeugung des Paulus ist, dass zwei Menschen, die im Geschlechtsverkehr vereint sind, nach biblischem Zeugnis tatsächlich „ein Fleisch“ sind (1Kor 6,16 nach Gen 2,24). Dadurch unterscheide sich die πορνεία aber grundlegend von allem anderen sündhaften Verhalten, insofern sie nun über die Grenze des eigenen Körpers hinweg wirke, ja vielmehr in den Körper selbst hineinwirke (1Kor 6,18), der ja einen

 Vgl. Sanders, Paulus 139; Witherington, Conflict 156. Die These Malinas, „porneia means unlawful sexual conduct, or unlawful conduct in general. What makes a particular line of conduct unlawful is that it is prohibited by the Torah, written and/or oral.“ (B. Malina, „Does porneia Mean Fornication?,“ in: NT 14 (1972), 10 – 17 [17]), ist dahingehend zu modifizieren, dass die Torah als gesetzgebende Instanz nur inhaltlich, aber nicht formal als Gesetz gegenüber den paulinischen christgläubig-paganen Gemeinden zum Zuge kommt, vgl. J. Jensen, „Does porneia Mean Fornication? A Critique of Bruce Malina,“ in: NT 20 (1978), 161– 184 (162– 164). Überhaupt steht die LXX für einen sehr weitgehenden Gebrauch von πορνεία im Bereich des Sexuellen (und Sexuell-Moralischen), vgl. Jensen, a.a.O. 172 f. Neben seiner ursprünglichen Bedeutung kann gerade in der jüdischen Tradition πορνεία im übertragenen Sinne für das Abfallen von Jhwh durch den Dienst an Fremdgöttern oder Fremdvölkern gebraucht werden (z. B. Num 14,33; 4Reg 9,22; Jer 3,2.9; Ez 16), vgl. Hauck/Schulz, „πόρνη“ 586 f.  Die Formulierung τὴν γυναῖκα ἔχειν meint in den Papyri eine eheliche Beziehung, mithin in 1Kor also eine sexuelle Beziehung, vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 196 f. Da Paulus keine Regelungen bezüglich des Vaters noch dessen Frau trifft (5,12 f), war wohl nur der Sohn Teil der Gemeinde; möglicherweise war der Vater auch bereits verstorben (Fitzmeyer, Corinthians 234 wähnt den Vater noch am Leben). Wir wissen nichts über die Motivation des Paares: Es kann durchaus nur um soziale Absicherung gegangen sein, und das nicht so sehr der Frau als vielmehr des Mannes, da sie samt ihrer Mitgift (im Falle des Todes ihres ersten Mannes) zurück an ihre Herkunftsfamilie gegangen wäre,vgl. D. McNamara, „Shame the Incestuous Man: 1 Corinthians 5,“ in: Neotest. 44 (2010), 307– 326 (307 f – im Anschluss an A. Clarke). Bei aller Unsicherheit mangels Daten erscheint es mir dennoch wahrscheinlicher, dass hier tatsächlich Liebe im Spiel war. Gerade da die Frau in der von Paulus erwähnten Beziehung vormals wohl erstverheiratet gewesen ist, können sie und der Sohn ihres Mannes ohne weiteres etwa gleichen Alters gewesen sein; ein Grund mehr, der vor dem Hintergrund einer im griechisch-römischen sowie im jüdischen Bereich (Lev 18,8; 20,11; Dtn 23,1; 27,20) als illegal eingestuften ehelichen Verbindung, vgl. Conzelmann, Brief 123; Wolff, Brief 100 f (betont Paulus’ Thorabezug in dieser Sache), für eine Partnerschaft aus leidenschaftlicher Liebe sprechen könnte – und damit einer Liebe, die für alle Widerstände um sie herum blind ist. Gleichwohl warnt K. Thraede, „Schwierigkeiten mit 1Kor 5,1– 13,“ in: ZNW 103 (2012), 177– 181 mit Recht davor, moderne Ehe-Kategorien (z. B. ‚wilde Eheʻ oder Schwiegermutter, wie es etwa Fitzmeyer, a.a.O. 234 tut) bei der Exegese des Textes zu übernehmen.

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Tempel für den heiligen Geist darstellt (v.19).⁶ Dort werde dann die geistliche Gemeinschaft mit Christus (v.17), die der Gläubige – wohl durch die Taufe –⁷ erworben hat (v.11), und das heißt mit Gott selbst (v.20), zerrüttet. Insofern stellt die menschliche Sexualität eine Größe dar, die auch und gerade bezüglich des Ethos der christusgläubigen Versammlungen bedacht sein wollte, eben weil nach Ansicht des Paulus eine bestimmte sexuelle Verhaltensweise zu Heil oder Verdammnis führen konnte (1Kor 6,9 f).

2 Abgrenzung, Gliederung und genus-Merkmale von 1Kor 5 – 6 1Kor 5,1– 6,20 beurteile ich als textliche Einheit. Nach hinten ist die Abgrenzung sehr deutlich: Mit 7,1 setzt ein neues Thema an, indem Paulus auf das ihm vorliegende Schreiben der Korinther an ihn hinweist.⁸ Die Abgrenzung nach vorne ist in jüngerer Zeit nicht unumstritten: Mal wird 4,14⁹ als Beginn gesetzt, mal 4,17¹⁰, dann wieder 4,18¹¹. All diese neueren Ansätze betonen mit Recht, dass 4,14– 21 bereits auf einige Punkte aus den nachfolgenden Kapiteln anspielt. Die rückblickende Perspektive in 4,14 (ὑμᾶς γράφω ταῦτα: „ich schreibe euch diese Dinge“)¹² macht aber klar, dass die folgenden Verse zum Vorhergehenden zu ziehen sind. Auch das οὖν in 4,16 zeigt als konsekutiv koordinierende Konjunktion¹³ eine Fortführung des Gedankengangs an und markiert nicht etwa einen selbständigen

 Die Einwohnung des Geistes im Menschen wie auch das Einziehen der πορνεία in ihn hinein sind eine ganz räumliche Vorstellung.  Vgl. Wolff, Brief 129 unter Verweis auf Röm 6,3 ff; 8,9 – 11.  Auch wenn sich eine thematische Schnittmenge zwischen c.5 – 6 und c.7 durch die Behandlung sexualmoralischer Fragen ergibt, wiegt doch die Einführungsformel περὶ δέ in 7,1, die sich ebenfalls in 8,1; 12,1; 16,1.12 findet, als Einleitung zu etwas Neuem zu schwer, um eine Texteinheit 1Kor 5 – 7 anzunehmen; gegen Wolff, Brief 133 Anm. 219; Ciampa/Rosner, „Structure“ 210 – 213. 1Kor 5 – 6 behandeln insgesamt das Fehlverhalten der Gemeinde, die Paulus’ Meinung nach als eine Gemeinschaft aus Brüdern (6,6) bzw. aus Gliedern des Christus (6,15) leben sollte, was bestimmte Verhaltensweisen (5,1 f.9 – 11; 6,9 f) schlicht ausschließt.  Vgl. B. J. Dodd, „Paul’s Paradigmatic ‚I‘ and 1 Corinthians 6.12,“ in: JSNT 59 (1995), 39 – 58 (49 – 53).  Vgl. K. E. Bailey, „The Structure of I Corinthians and Paul’s Theological Method with Special Reference to 4:17,“ in: NovT 25 (1983), 152– 181 (153 – 163).  Vgl. Ciampa/Rosner, „Structure“ 210 f Anm. 24.  Demonstrativpronomen, gerade im Plural, verweisen selten voraus, und wenn, dann zur Vorbereitung auf einen Nebensatz oder Infinitiv oder Substantiv,vgl. BDR § 290; zudem s.u. zu 1Kor 7 (τοῦτο vorausweisend, ταῦτα zurückblickend).  Vgl. BDR §451.

2 Abgrenzung, Gliederung und genus-Merkmale von 1Kor 5 – 6

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Beginn. Schließlich sind die deutlichen sprachlichen Vorverweise in 4,18 ff gleichermaßen Rückverweise,¹⁴ so dass man insgesamt mit dem alten Vorschlag Philipp Bachmanns 4,14– 21 als „Übergang“¹⁵ bezeichnen kann. In 5,1 wird dann mit der Nachricht von einem Mann, der ein sexuelles Verhältnis mit der Frau seines Vaters hat, ganz klar etwas Neues benannt, so dass hier ein deutlicher Schnitt angesetzt werden kann.¹⁶ Die beiden Kapitel 5 – 6 gliedern sich inhaltlich wie folgt:¹⁷ 5,1– 5 Problem des ‚hurerischenʻ Übeltäters und Urteil des Paulus über ihn; 5,6 – 8 Beispiel vom Sauerteig; 5,9 – 13 Verweis auf den paulinischen Vorbrief (‚0Korʻ) über Hurer und andere Unrechttäter und Richtigstellung; 6,1– 6 Problem von Rechtshändeln in der Gemeinde mit Außenwirkung; 6,7– 11 Unrechtleiden als Charakteristikum der Christusgläubigen vs. Unrechttun als Charakteristikum der Nicht-Christusgläubigen; 6,12 – 20 Mahnung zur Reinhaltung des Körpers von Hurerei. Der Zusammenhang der beiden Kapitel ergibt sich zum einen äußerlich durch die Abgrenzung zu den umliegenden Kapiteln: So ist c.1– 4 thematisch völlig anders gelagert. Es besteht zwar eine thematische Nähe von c.5 – 6 zu c.7; in 7,1 beruft sich Paulus allerdings auf ein Schreiben der Korinther, während er in 5,1 von Hörensagen ausgeht. Auf der anderen Seite besteht aber auch ein innerer Zusammenhang der c.5 – 6, der sich mit dem Schlagwort πορνεία (‚Hurereiʻ) kenn-

 Paulus’ Anwesenheit bei den Korinthern (4,19): 2,1– 5; 3,1 f + 5,3; φυσιοῦσθαι (4,18 f, „sich aufblasen“): 4,6 + 5,2; δύναμις (4,19 f, „Macht“): 2,4 f + 5,4; ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ (4,20, „Herrschaft Gottes“): 4,8 + 6,9.  Bachmann, Brief 198. Auch Dodd, ‚I‘ 63 spricht bei 4,14– 21 von einer „transition“ zwischen 1,1– 4,13 und dem Rest des Briefes, bestimmt für diese allerdings eine einleitende Funktion, wie er im Folgenden breit ausführt. Warum er gleichwohl bei dieser Kennzeichnung bleibt, ist unklar.  Das ungewöhnlich am Satzbeginn stehende ὅλως, das sonst eine zusammenfassende Steigerung anzeigt, veranlasst Thraede, Schwierigkeiten 185 – 189 dazu, vor 1Kor 5,1 einen Textverlust anzunehmen. Ein klimaktischer Zusammenhang lässt sich aber durchaus durch die Vorstellung des Aufgeblasen-Seins der Korinther (4,6.18.19; 5,2) erweisen. Thraede ist zwar skeptisch gegenüber der „Doppelung von φυσιοῦσθαι in 4,6 und 5,5 [sic!] als Kontinuität stiftende Brücke“ (a.a.O. 189), übergeht (oder übersieht?) dabei aber 4,18.19 schlichtweg. Insgesamt ergibt sich also eine Steigerung, die im Aufgeblasen-Sein der Korinther untereinander (4,6) ihren Anfang hat und im Aufgeblasen-Sein über das angebliche Wegbleiben des Apostels (4,18.19) weiter fortschreitet. Ihren Höhepunkt erreicht die Aufgeblasenheit im Dulden oder sogar Bestärken des inzestuös lebenden Gemeindeglieds (5,2), zumal nun explizit alle Korinther angesprochen sind (ὑμεῖς), nicht bloß einige wenige wie in 4,18. Das καὶ ὑμεῖς zu Beginn von 5,2 ist dabei wie ein anfangsbetontes κἀγώ (vgl. 2,1.3; 3,1) zu verstehen (‚[dem‐] entsprechend ihrʻ) und bezieht sich auf die Unerhörtheit des Vorfalls, wodurch die Klimax des Aufgeblasen-Seins und damit der Vorwurf gegenüber den Korinthern noch verstärkt wird.  Formal wird diese Gliederung deutlich an den Perspektivverschiebungen zu Beginn der Abschnitte, die oft durch einen Personwechsel bestimmt sind: 5,9 (1.P.Sg.); 6,1 (3.P.Sg.); 6,12 (1.P.Sg.).

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zeichnen lässt, das eine literarische Klammer um beide Kapitel bildet (5,1; 6,18).¹⁸ Allerdings erscheint dabei die Behandlung der innergemeindlichen Rechtsstreitigkeiten (6,1– 8[11]) wie ein Exkurs, der durch die Thematik des Richtens (vgl. 5,3.12.13; 6,1.2.3.6: κρίνειν) veranlasst ist.¹⁹ Möglicherweise will Paulus auch nur durch ein anderes Beispiel für gemeindliches Fehlverhalten die Korinther darauf hinweisen, dass sie bei anderen und im Gegensatz dazu viel belangloseren innergemeindlichen Konflikten durchaus längst vor Gericht, obgleich ein nicht christusgläubiges, gezogen wären.²⁰ Mithin liegt hier ein weiterer Fall des bei Paulus üblichen Kompositionsschemas ABA’ vor.²¹ Die gesamte Einheit atmet den Geist des Tadels²². Dies beginnt bereits in 5,2 mit dem Vorwurf an die Korinther, dass sie aufgeblasen sind, und setzt sich in v.6a mit dem Urteil fort, das Stolzsein im Sinne eines Prahlens der Korinther sei nicht gut (ού καλὸν τὸ καύχημα ὑμῶν).²³ Paulus differenziert hier nicht nach Gruppen innerhalb der Gemeinde, wie er es noch in 4,18 getan hatte („einige haben sich aufgeblasen“). Insofern können sich alle Korinther angesprochen fühlen, betrifft doch der Vorfall die gesamte Gemeinde, wie aus dem Bild über den Sauerteig in 5,6b deutlich wird. Gerade die Einkleidung von v.6b in eine rhetorische Frage²⁴

 Paulus kommt es in dieser Argumentation zupass, dass die stammverwandten Wörter πορνεία (5,1; 6,18), πόρνος (5,9 – 11) und πόρνη (6,16) einen Zusammenhang suggerieren, der in dem konkreten Fall gar nicht besteht – die Frau des Vaters des Übeltäters war ja (vermutlich) keine gewerbsmäßige Prostituierte. Paulus verwendet das Wort(‐feld) in einem sehr breiten Bedeutungsrahmen, der sexuelles Fehlverhalten und im jüdischen Kontext auch Abfall von Gott (vgl. etwa Hos 1,2) suggeriert.  P. Richardson, „Judgment in Sexual Matters in 1 Corinthians 6:1– 11,“ in: NT 25 (1983), 37– 58 (53– 58) und W. Deming, „The Unity of 1 Corinthians 5 – 6,“ in: JBL 115 (1996), 289 – 312 (294– 299) halten es für wahrscheinlich, dass 1Kor 6,1– 11 ein integraler Bestandteil der Diskussion um sexuelles Fehlverhalten in der Gemeinde ist, wobei Deming deutlich eine Verbindung zum Übeltäter aus 5,1 sieht, wohingegen Richardson vorsichtiger urteilt und verschiedene andere Erklärungsmöglichkeiten anbietet.  Vgl. Wolff, Brief 112.  Vgl. Richardson, „Judgment“ 42 f; Goulder, „Libertines“ 344 mit Beispielen (etwa 1Kor 9 im Verhältnis zu c.8 und c.10); Malcolm, Paul 96 – 98, der als verbindendes Element der drei Teile die Zurückweisung des korinthischen (falschen) Stolzes ansieht.  Vgl. zu dieser Sprechweise D. Neufeld, „Acts of Admonition and Rebuke: A Speech Act Approach to 1 Corinthians 6:1– 11,“ in: Bibl. Interpr. 8 (2000), 375 – 399 (378 – 381). Auch der tadelnde Tonfall hebt 1Kor 5 – 6 von c.7 ab.  Dies ist zu verstehen als „ein übersteigertes oder falsch ausgerichtetes Selbst- oder auch ein unangebrachtes Überlegenheitsbewusstsein“ (Wilk, Ruhm 58) gegenüber anderen Menschen. Die anderen Menschen können in diesem Fall entweder andere Gläubige in der Gemeinde sein, so dass Paulus hier doch nicht die Gesamtheit der Korinther anspricht. Oder es handelt sich bei den anderen Menschen um Nicht-Christusgläubige.  Das οὐκ verweist darauf, dass die Antwort ‚Jaʻ bzw. ‚Ja dochʻ lauten muss.

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durch das nur scheinbar belehrende οὐκ οἴδατε („wisst ihr nicht?“) belegt tatsächlich die Verfehlung der Korinther, der Ethik des Christusglaubens nicht nachgekommen zu sein. Innerhalb der c.5 – 6 stellt Paulus insgesamt siebenmal solch eine, die Korinther beschämende Frage (5,6; 6,2.3.9.15.16.19; ferner in 1Kor 3,16; 9,13.24).²⁵ Doch der Tadel macht sich noch an weiteren Stellen bemerkbar: Die Wortwahl bei der Frage in 6,1, nämlich von τολμᾶν im Sinne des ‚Sich-Erdreistensʻ,²⁶ zeigt schon Paulus’ ablehnende Haltung gegenüber dem Verhalten einiger Korinther an. Ganz deutlich wird er in 6,5: „Zur Beschämung sage ich’s euch.“ Auch die doppelte Warum-Frage (διὰ τί) in 6,7 wirkt anklagend und rügend, ebenso der Ausruf „Irrt euch nicht!“ (v.9). Überhaupt beinhaltet auch das Herunterspielen der korinthischen Rechtsstreitigkeiten zu Bagatellen (6,2: κριτηρία ἐλάχιστα; 6.3.4: βιωτικά) einigen Tadel. All dies erscheint wie eine Fortführung der Drohung in 4,21, dass Paulus gegebenenfalls mit der Rute zur Züchtigung kommen werde. Der Apostel nimmt in c.5 – 6 also eine der Gemeinde klar übergeordnete Rolle ein. Sie entspricht seiner Rolle als Vater (4,14– 17), als welcher ihm eine ganz den Vaterrollen in der Antike entsprechende Autorität zukommt. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass der Apostel in c.5 – 6 die Korinther nicht als Geschwister anspricht. Lediglich sie selbst erscheinen untereinander als Geschwister (5,11; 6,5.8), freilich als zerstrittene (6,1.6). Der Apostel hingegen hebt sich in seiner Rolle als Vater davon ab. Die antike Gesellschaft wird beherrscht von einem Denken, das sich an den Kategorien ‚Ehreʻ und ‚Schandeʻ orientiert.²⁷ Dass die Korinther an Erhalt und Ausbau ihrer eigenen Ehre interessiert sind, zeigt sich an Paulus’ häufigen Verweisen auf ihren Stolz bzw. ihr Rühmen im gesamten Brief (indirekt: 1,29.31; 3,21; direkt: 4,7; 5,6). Und auch Paulus selbst ist an seiner Ehre gelegen, wie es die Hinweise auf sein Stolz-Sein kundtun (vgl. 9,15.16; [13,3] 15,31). Dass Paulus aufgrund seiner Theologie des Kreuzes die Kriterien für Ehre und Schande durchaus

 Die Frage „Weißt du nicht?“ ist nach Bultmann, Stil 13.65 sicherlich eine „stehende Wendung“ der Diatribe zur Kontaktherstellung mit dem Publikum, die auch bei Paulus in der pluralischen Form „Wisst ihr nicht?“ zur Anwendung kommt. Allerdings trägt die schiere Massivität nach Anzahl und Inhalt der Fragen in 1Kor 5 – 6 dazu bei, dass die Korinther entweder als unwissend und dumm handelnd oder als tatsächlich wissend und dennoch dumm handelnd hingestellt werden. Beides ist gewiss kein Kompliment für sie, sondern vielmehr beschämend. Bei Paulus leitet die Frage nach dem Wissen der Adressaten stets eine gewisse Kritik an ihnen ein, vgl. Röm 6,16; 11,2. Schon bei Plato (rep. 347B; 382A) und auch Xenophon (mem. 3,13,5) drückt sich in der Frage Überlegenheit und damit ein leiser Tadel am Befragten aus.  Vgl. Wolff, Brief 114; Fascher, Brief 169.  Vgl. Malina, Welt 40 – 64.

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neu definiert (vgl. 1,26 ff), ist dabei nicht groß von Belang, denn letztendlich bleibt er dem kategorialen Denken von Ehre und Schande durchaus verbunden. Ehre wie Schande sind dabei dynamische Größen, die einander bedingen, aber auch einander beeinflussen: Wächst die Ehre, schrumpft die Schande. An dieser Stelle greifen Lob und Tadel. So wird die Ehre durch den Tadel beschnitten und damit die Schande vergrößert. Tadel bewirkt beim Getadelten im Kontext der antiken Gesellschaft aber nicht allein einen persönlichen Gesichtsverlust, sondern einen noch viel gravierenderen gesellschaftlichen Ehrverlust. Um bezüglich seiner durch den Tadel angegriffenen Ehre den status quo ante wiederherzustellen, muss der Getadelte die Dinge gerade rücken und womöglich sein Verhalten ändern. Indem Paulus also die korinthische Gemeinde tadelt, stellt er sie in gewisser Weise bloß. Sie wird gedemütigt – und wenn sie dies auch nur vor sich selbst ist – und so zum Umsteuern in ihrem Verhalten animiert. Dabei ist der Tadel der Korinther veranlasst durch die Ehrabschneidung, die Paulus selber durch ihr Verhalten erfährt:²⁸ Seine eigene Ehre ist durch das Tun der Gemeinde gefährdet, wenn nicht bereits angegriffen. Als Vater der Gemeinde (4,14 f) haftet er für seine Kinder und ihr schändliches Verhalten. Der Tadel soll also ein Umdenken bewirken, das wiederum über die entsprechende Tat zur Wiederherstellung der Ehre der Gemeinde und damit auch ihres Gründers führt. Nach den rhetorischen genera findet der Ehr-/Schande-Diskurs innerhalb der Epideiktik statt. Lob und Tadel²⁹ dienen dabei als Hinweise auf Ehre und Schande der Adressaten. Lob wird in entsprechenden Reden, den Enkomien, ausgedrückt;

 Vgl. Neufeld, „Acts“ 381. Das in 1Kor 6,1– 8 geschilderte Verhalten unterwandert den Geist der Gemeinschaft und stellt darüber hinaus Paulus’ Autorität infrage, vgl. a.a.O. 392 f. McNamara, „Shame“ 311– 324 arbeitet für 1Kor 5 sehr gut die beschämende Argumentation des Apostels heraus. Inwieweit er allerdings mit seiner Vermutung richtig liegt, dass die in 1,4– 9 gegebene Schilderung Jesu Christi als Über-Patron dafür die Vorlage bzw. den Hintergrund liefert (a.a.O. 309 – 311), mag offen bleiben.  Berger, Formen 252– 257 hält den Tadel als ‚Schelteʻ für eine symbuleutische Redeweise. Dies ist nicht ganz unproblematisch, definiert doch Berger selber Schelte als „Kritik an vorausliegenden Handlungen“ (a.a.O. 252, kursiv im Original),wobei er aber dezidiert einen Bezug zur Dikanik („der forensische Bereich“, ebd.) ausschließt, aber auch keinen Bezug der Schelte zur Zukunft erkennen lässt. Nach Aristoteles, rhet. 1,3,4 (1358B) befasst sich aber die Epideiktik hauptsächlich mit gegenwärtig Vorliegendem (τὰ ὑπάρχοντα), wohingegen die Dikanik das Vergangene und die Symbuleutik das Zukünftige behandeln. Lob und Tadel (so sie nicht nachtragend sind) beschreiben immer etwas gegenwärtig noch Vorhandenes, wie es ja auch in der vorherrschenden Tempuswahl des Präsens in 1Kor 5 – 6 deutlich wird. (Allerdings sagte Aristoteles auch, dass Symbuleutik und Epideiktik sehr dicht beieinander liegen (rhet. 1,9,35 f [1367B–1368A]).) Ich sehe demgemäß in 1Kor 5 – 6 den Schwerpunkt von Argumentation und Tonfall nicht auf dem liegen, was die Korinther in Zukunft anders machen sollen (symbuleutisch), sondern was sie derzeit falsch machen (epideiktisch).

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ihr Gegenpart, die Tadelreden (τὰ ὀνείδη), sind nach Aristoteles schlicht die Negation der Enkomien (rhet. 1,9,41 [1368A]). Das Enkomium als höchste Ausdrucksform der epideiktischen Gattung stellt in seinen Teilen ‚Herkunftʻ, ‚Ausbildungʻ, ‚Tatenʻ und ‚Vergleichʻ Aufbauelemente für ein genus-gemäßes Reden bereit. Die Aussagen über die Korinther in c.5 – 6 können ohne weiteres auf diese Teile bezogen werden. Die Herkunft der Korinther wird in 6,11 angesprochen: Einst seien sie welche (τινες) von moralisch verkommenen Leuten (v.9 f) gewesen, nun aber seien sie ganz im Gegensatz dazu (dreifaches ἀλλά)³⁰ in der Taufe³¹ gleichsam von der verkommenen Lebensweise abgewaschen worden, geheiligt und gerecht gesprochen. Gegenüber dem Imperfekt in v.11a setzt Paulus in v.11b–d Verben im Aorist, um diesen Wechsel auch zeitlich deutlich zu machen. Die Herkunft der Korinther kennzeichnet Paulus also als eine zweifache: zunächst die als unmoralische Menschen, dann die als Erlöste. Mit der Herkunftsnennung wird gleichzeitig ein Vergleich (Synkrisis)³² gezogen, bei dem die nicht-christusgläubigen Übeltäter die andere Hälfte des Vergleichs bilden.³³ Kurz zuvor (5,9 – 13) hatte Paulus schon einmal in einem weiteren, kürzeren³⁴ Lasterkatalog³⁵ diese Übeltäter benannt und sie unterteilt in ‚die draußenʻ und ‚die drinnenʻ, die aber gleichermaßen gerichtet werden – ‚die draußenʻ durch Gott (5,13), ‚die drinnenʻ durch die Gemeinde (5,12). Die Gemeinde wiederum bezeichnet er – wie bereits in der Adresse 1,2 – als ‚die Heiligenʻ, nun im

 Berger, Formen 161: „[I]n fast allen epideiktischen Argumentationen geht es um den Ausschluß einer Größe im Rahmen einer Nicht-sondern-Struktur.“ (Kursivierung im Original)  Der Zusammenhang mit der Taufe ergibt sich nahezu zwingend aus der Erwähnung des Abwaschens (ἀπελούσασθε, vgl. Apg 22,16) wie auch in diesem Zusammenhang aus der Anführung des Namens des Herrn Jesus Christus und des Geistes Gottes, vgl. Wolff, Brief 121 f.  Berger, Formen 282: „Synkrisis ist […] eine Weise der Beschreibung […] in der Gestalt des Vergleichens zwischen zwei Größen.“ (Kursivierung im Original)  Bereits in 5,1 werden die nicht-christusgläubigen Völker insgesamt als ein Wertmaßstab genannt: Nicht einmal bei ihnen sei ein derartiger verkommener Fall wie nun in der korinthischen Gemeinde üblich.  Der Katalog in 6,9 f enthält gegenüber dem in 5,11 noch Ehebrecher,Weichlinge (= homosexuell passiv verkehrende Männer), Männerbeischläfer (= homosexuell aktiv verkehrende Männer) und Diebe. P. S. Zaas, „Catalogues and Context: 1 Corinthians 5 and 6,“ in: NTS 34 (1988), 622– 629 (628 f) hält es für wahrscheinlich, dass Paulus den Katalog aus 5,11 zitiert und entsprechend erweitert, um sowohl eine Verbindung zwischen sexuellen Lastern und Idolenverehrung herzustellen als auch auf die Wichtigkeit des Dekalogs hinzuweisen.  Den Lasterkatalogen geht es um eine Auflistung von Taten oder Tätertypen als Negativfolie zur Abgrenzung und Identitätsstiftung einer Gruppe, vgl. Berger, Formen 208 – 214.

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Gegenüber zu ‚den Ungerechtenʻ (6,1), d. h. den Nicht-Christusgläubigen³⁶. ‚Heiligʻ sind die Korinther nur deshalb zu nennen, da sie im Namen des Herrn ‚geheiligtʻ bzw. ‚heilig gemachtʻ (6,11: ἡγιάσθητε) worden sind. Sie sind damit gerade nicht mehr als Übeltäter anzusehen, sondern stehen ganz im Macht- und Herrschaftsbereich Gottes. Jedoch entsprechen die Korinther in ihren Taten nicht der Rettungstat Gottes. Vielmehr ist ihr konkretes Verhalten grundfalsch: Sie sind aufgeblasen (5,2) und stolz (5,6)³⁷ und gehen nicht gegen den Übeltäter in den eigenen Reihen vor (5,2), sondern haben stattdessen Gemeinschaft mit ihm (5,11); sie haben Rechtshändel untereinander und bringen diese sogar vor ein nicht-christusgläubiges Gericht (6,1.6 f); möglicherweise³⁸ pflegen sie neben dem Umgang mit Hurern auch welchen mit Huren (6,13 – 20). Auf die (mangelnde) Ausbildung der Korinther wird mit dem ständigen, rhetorisch fragenden „Wisst ihr nicht?“ angespielt. Doch auch der Vorwurf, dass unter ihnen kein zum Urteilen fähiger σοφός sei (6,5), zielt auf die fehlende Bildung der Gemeindeglieder. Damit greift Paulus durchaus zurück auf die Auseinandersetzung im vorangegangenen Themenblock c.1– 4 über das falsche Weisheitsverständnis der Korinther. Streit untereinander – ob nun an Personen orientiert oder nicht – ohne Aussicht auf eine Schlichtung kennzeichnet demnach ein Leben, das nicht dem Geist entspricht (3,3 f) und damit nicht der göttlichen Weisheit (3,18 – 21). Insgesamt ergibt sich der Eindruck einer negativ enkomiastischen Redeweise des Apostels gegenüber der Gemeinde. Als Vater der Gemeinde (4,14– 21) kann und muss Paulus die Verfehlungen seiner Kinder offen an- und aussprechen und Bestrafung einfordern. Nicht nur ihre, sondern seine eigene Ehre (und damit durchaus auch die des Herrn Jesus Christus, als dessen Nachahmer Paulus sich

 Dies wird aus 6,9 deutlich, worin den Ungerechten das Erbe der Gottesherrschaft abgesprochen wird.  Schon in 1,26 – 31 hatte Paulus (mit einem abschließenden verkürzten Zitat aus Jer 9,23) deutlich gemacht, dass Stolz für Christusgläubige nur inbezug auf den Herrn und dessen Wirken unter der Perspektive des Kreuzes infrage kommt, nicht aber inbezug auf menschliche Qualitäten, seien es nun die eigenen oder die anderer, vgl.Wilk, Ruhm 59 – 62. In dem in 1Kor 5 beschriebenen Verhalten der Korinther zeigt sich erneut ihre Neigung, anderen, von ihnen als bedeutend eingestuften Menschen (in c.1– 4: herausragenden Missionaren) anzuhängen, in diesem Fall dem inzestuös lebenden Gemeindeglied.  Es findet sich hier kein direkter Vorwurf, sondern eher eine Warnung (6,18). Allerdings ist die Sprache nicht wesentlich anders als zuvor gewählt: Es finden sich drei tadelnde rhetorische Fragen (v.15.16.19). Die breite Ausführung zum Thema Sexualität (auch im folgenden c.7) legt nahe, dass Paulus hier eine nicht geringe mögliche Gefahr in der korinthischen Gemeinde sah (7,2.5), wenn schon keinen konkreten Anlass.

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später im Brief bezeichnet [11,1]) hängen davon ab. Gerade Scham und Ehre stellen im jüdisch-hellenistischen Lehrbetrieb wesentliche Motivatoren zum angemessenen Verhalten und zum Erlernen der Weisheit dar. Ben-Sira liefert dazu etliche Beispiele.³⁹ Indem Paulus die Korinther vermittels einer epideiktischen Argumentation gleichsam bei ihrer Ehre packt, fügt er sich in diese weisheitliche Didaktik ein.⁴⁰ Dabei ist Xenophon zufolge (mem. 3,9,4) Weisheit ohnehin als das Kennen und Pflegen der ehrenhaften Taten (τῷ τὰ μὲν καλά τε κἀγαθά γιγνώσκοντα χρῆσθαι αὐτοῖς) und als Erkennen und Meiden von schändlichen Dingen (τῷ τὰ αἰσχρὰ εἰδότα εὐλαβεῖσθαι) zu verstehen und kennzeichnet den Weisen. Neben der Rolle oder persona als Vater erscheinen allerdings noch weitere Rollen, die Paulus inbezug auf die Korinther einnimmt: zum einen die des Richters, zum anderen die eines verzichtenden Bevollmächtigten. Da die Vaterrolle bereits in der Behandlung von 1Kor 1– 4 besprochen wurde, sollen im Folgenden nur die Rollen als Richter (5,1– 6,11) und als Bevollmächtigter (6,12– 20) gesondert betrachtet werden.

3 Paulus’ Rollen in 1Kor 5 – 6 3.1 1Kor 5,1 – 6,11 3.1.1 1Kor 5,3 – 5.9 – 12: Paulus, der Richter Paulus präsentiert sich in c.5 in besonderer Weise als ein Richter. Nach der Bestandsaufnahme über den Fall des inzestuös lebenden Gemeindeglieds und die mangelhafte Reaktion der Gemeinde darauf (5,1 f) kommt Paulus auf seine Position in dieser Sache zu sprechen. Mit einem deutlichen ἐγὼ μέν (‚ich für meinen Teilʻ),⁴¹ das zudem noch durch die Anfangsstellung betont ist, stellt Paulus sich selbst klar heraus (5,3). Mit dem folgenden ‚abwesend dem Körper nach, aber anwesend dem Geist nachʻ greift Paulus einen geläufigen Brieftopos auf,⁴² den er  Vgl. Sir 4,20 – 6,4; 41,16 – 42,8. Beachte in diesem Zusammenhang vor allem 41,17 („Schämt euch gegenüber Vater und Mutter bezüglich der Hurerei (περὶ πορνείας)“) und 41,18 f („[Schämt euch] gegenüber einem Richter (ἀπὸ κριτοῦ) und Rat bezüglich der Gesetzlosigkeit […], gegenüber Freund und Gefährten bezüglich des Unrechts (ἀδικία)“).  Vgl. zum Zusammenhang von Ehre und Schande/Scham und der weisheitlichen Didaktik BenSiras Tesch, Weisheitsunterricht 76 – 79.93 – 96.  Das ἐγὼ μέν ist (trotz nachfolgendem δέ in v.3b, gegen Bachmann, Brief 208) anakoluthisch und damit insgesamt besonders betont zu verstehen, vgl. Zeller, Brief 201.  Der Topos ‚leiblich entfernt – trotzdem zugegenʻ erscheint Thraede, Grundzüge 27 zufolge in der Überlieferung zuerst bei (Ps.‐)Demetrios in dessen Beispielgabe eines Freundschaftsbriefes (wiedergegeben bei Klauck, Briefliteratur 160; Malherbe, Theorists 32 f). Dieser Anwesenheitstopos

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selbst öfters verwendet (1Th 2,17; 2Kor 10,1 f.11; 13,2.10; Phil 1,27; zudem Kol 2,5); hier allerdings lädt er ihn durch die Verknüpfung mit dem Herrn und der Gemeinde in 1Kor 5,4 theologisch auf.⁴³ Er setzt damit seine Präsenz in der Gemeinde trotz körperlicher Abwesenheit voraus und schreibt weiter, dass er wie in Anwesenheit bereits einen Entschluss bzw. ein Urteil (s. sogleich) bezüglich des Übeltäters gefasst habe (κέκρικα: Perfekt), das jetzt bei Verlesung des Briefes zur Wirkung kommen soll,⁴⁴ nämlich diesen dem Satan zu übergeben (5,5).⁴⁵ Die Bedeutung und damit die Übersetzung des κέκρικα ist zunächst nicht eindeutig. Wie in 2,2 (dort: ἔκρινα) könnte es schlicht ‚ich habe beschlossen/ entschiedenʻ heißen.⁴⁶ Der Infinitiv παραδοῦναι (5,5) wäre dann als finale Erweiterung zu verstehen. Dann würde sich Paulus hier als entschlossener Entscheider präsentieren, der den Korinthern seine feste Meinung vorträgt. Gleichwohl kann κέκρικα auch mit ‚ich habe geurteiltʻ im Sinne eines gerichtlichen Beschlusses verstanden werden. Der Infinitiv könnte dabei durchaus mit imperativischer Bedeutung gefasst werden:⁴⁷ ‚Übergebt diesen dem Satan!ʻ In diesem Fall träte Paulus als Richter vor bzw. über die Gemeinde, um sein Urteil zu verkünden und dessen Umsetzung von ihr einzufordern. Sicherlich ist die erste Variante grammatikalisch einfacher, allerdings ist eine Entscheidung rein aus grammatikalischen Gründen unmöglich.⁴⁸ Dies gilt umso

begegnet dann in vorchristlicher Zeit auch in der römischen Komödie sowie in Ciceros Briefen, vgl. Klauck, a.a.O. 155 f.  Vgl. Thraede, „Schwierigkeiten“ 205 f.  Es handelt sich hier um ein epistolares Perfekt, vgl. Zeller, Brief 201; Thraede, Grundzüge 99, das wie der briefliche Aorist präsentisch zu verstehen ist. Mayser, Grammatik 183: „Das Perfektum im Briefstil steht […] präsentisch, d. h. von gegenwärtigen Handlungen, die der Briefsehreiber erst vom Standpunkt des Adressaten als vollendet darstellt. Dies gilt nur von Verbalbegriffen, die mit dem Inhalt und Zweck des Briefes in engem Zusammenhang stehen, wie schicken, auftragen, schreiben, unterzeichnen u. a.“. Im Falle des 1Kor setzt der Apostel die Gemeinde durch das epistolare Perfekt unter Druck, seine getroffene Entscheidung unverzüglich umzusetzen.  Darüber, wie der Satz 1Kor 5,4 zu gliedern ist und welche möglichen Bezüge sich zu den umliegenden Versen ergeben, gibt es verschiedene Auffassungen, vgl. Conzelmann, Brief 124. Grundsätzlich bleibt es dabei: „Paulus beschließt einen sakral-pneumatischen Rechtsakt gegen den Täter“ (ebd.).  Vgl. Conzelmann, Brief 121 mit Anm. 9.  Vgl. BDR § 389. Eine Übersetzung mit ‚ich habe geurteilt: … ihn zu übergebenʻ ist allerdings ebenfalls möglich, vgl. Wolff, Brief 98; Fascher, Brief 155; Bachmann, Brief 208 – 210, auch wenn dann das Objekt des Urteils in v.4 bereits vorgezogen erscheint, was mit Zeller, Brief 201 Anm. 32 „ungeschickt“ zu nennen und von daher abzulehnen ist. Bereits in 1Kor 4,5 steht ja κρίνειν mit τι, wahrscheinlich in dem Sinne von ‚etwas urteilenʻ.  Vgl. A. Papathomas, Juristische Begriffe im ersten Korintherbrief des Paulus. Eine semantischlexikalische Untersuchung auf der Basis der zeitgenössischen griechischen Papyri (Tyche. Supple-

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mehr, als für Paulus ein imperativischer Infinitiv nicht ungewöhnlich ist (vgl. Röm 12,15; Phil 3,16). Daher kann nur der Kontext Aufschluss geben. In dem sich im Folgenden erschließenden Thema über Rechtsstreitigkeiten in der Gemeinde (1Kor 6,1– 8) tritt der forensische Sinn von κρίνειν zutage.⁴⁹ Doch bereits in 5,12a ist deutlich, dass κρίνειν hier ‚urteilenʻ bzw. ‚richtenʻ im Sinne eines Gerichtsbeschlusses bedeuten muss. Dort trifft der Apostel zunächst eine Selbstaussage⁵⁰ in Form einer rhetorischen Frage: „Was nämlich habe ich damit zu schaffen, die draußen zu richten?“ Der Akkusativ τοὺς ἔξω weist klar auf einen transitiven Sinn des κρίνειν hier hin. Entsprechendes gilt für die folgenden Aussagen in 5,12b–13 über das Richten durch die Gemeindeglieder bzw. durch Gott. Die Gemeindeglieder sind zum Richten der Ihren aufgerufen, während Gott es ist, der die Ungläubigen richten werde. Gerade die in rhetorische Fragen eingekleideten Aussagen – zum einen, dass Paulus (persönlich, aber auch stellvertretend für alle Christusgläubigen)⁵¹ nichts mit dem Richten Ungläubiger zu schaffen hat, zum anderen, dass die Gemeinde über ihre Glieder urteilt – belegen die Vorstellung, die Paulus von der Ekklesia hat: Die Gemeinde hat die zu ihr gehörigen Übeltäter zu richten. Eben dieser Vorstellung sind die Korinther aber nicht nachgekommen, indem sie den inzestuösen Täter vor einem innergemeindlichen Verfahren verschont haben und noch verschonen. Insofern muss sich Paulus selbst (motiviert durch seine Rolle als Vater der Gemeinde) um diese Angele-

mentband 7), Wien 2009, 64 mit dem Hinweis, dass auch auf papyrologischer Basis sich keine Entscheidung treffen lässt. Arzt-Grabner et al., Korinther 204 behandelt das Verb z.St. nicht; lediglich in der Übersetzung der Passage kommt er zur Bedeutung ‚richtenʻ (a.a.O. 194).  Schon in 1Kor 4,5 hatte Paulus über das Urteilen und Beurteilen durch die Gemeinde gehandelt. Ein forensischer Sinn des κρίνειν ist dort nicht offensichtlich (gegen Arzt-Grabner et al., Korinther 166), mag aber in ironischer Weise intendiert sein, gerade weil die Parusie erwähnt wird, in der der Herr ja als einziger Richter vorgestellt wird. In 4,5 geht es nicht darum, dass ‚gewöhnlichen Gläubigenʻ das Richten überhaupt verwehrt wird (so Zeller, Brief 201), sondern dass diese vorzeitig (πρὸ καιροῦ) zu einem Urteil über den Apostel gelangen wollen. In 10,15 werden die Korinther (‚wie Verständigeʻ: v.15a!) zum Urteil über die Worte des Apostels aufgerufen.  Dass Paulus hier eine Selbstaussage trifft, legt sich von 5,9 – 11 her nahe, wo Paulus ebenfalls die 1.P.Sg. deutlich auf sich selbst bezogen hat (ἔγραψα). Der nahtlose Anschluss zwischen beiden Versen spricht für ein ‚Herüberziehenʻ des paulinischen Ich von v.11 nach v.12. Im Ganzen von 5,12 f ergibt sich dann die Trias Paulus – Korinther – Gott, wenn es um das Richten geht. Dodd, ‚I‘ 77; ders., „Corinthians“ 47 f hält hingegen das Ich in 5,12 vor allem für beispielhaft, so dass es eigentlich für ein ‚Ihrʻ steht. Dodd nennt dieses Ich ‚hortativeʻ bzw. ‚hortatoryʻ, also mahnend. Da er die Ich-Aussagen in den v.9 – 11 nicht zur Kenntnis nimmt, kommt er umso leichter zu seinem Ergebnis. Dodd liegt zwar nicht verkehrt damit, dass Paulus hier mahnt und sein Verhalten als vorbildlich herausstellt, aber es ist eben tatsächlich zunächst sein eigenes Verhalten; der Zusammenhang mit 5,3 darf nicht übersehen werden.  Vgl. Zeller, Brief 208.

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genheit kümmern. Stellvertretend für die Korinther trifft er nicht bloß eine Entscheidung, sondern fällt ein Urteil über den Übeltäter.⁵² Das κρίνειν in v.3 muss daher forensisch gedeutet werden. Die Übersetzung lautet daher: „Ich für meinen Teil verurteile nämlich hiermit – abwesend dem Körper nach, aber anwesend dem Geist nach – wie ein Anwesender den, der etwas derartiges tut: […] Übergebt diesen dem Satan.“ Damit stellt sich Paulus in 1Kor 5 den Korinthern in der persona eines Richters dar – eine Rolle, die eigentlich den Korinthern selber zustünde. Die Korinther füllen die gebotene innergemeindliche Richterrolle jedoch gar nicht aus, ja nehmen sie nicht einmal wahr. Bei alledem vermeidet es Paulus aber, sich als Richter über die Korinther aufzuschwingen.Vielmehr bildet er mit ihnen, d. h. mit der zum Richten berufenen Gemeinde ein Kolleg, das gemeinsam im Namen des Herrn Jesus (vgl. 5,4!) über die eigenen Missetäter ein Urteil fällen kann und muss. Indem Paulus in die Richterrolle schlüpft und dadurch die Korinther (durchaus mit erheblichem Tadel) an ihre Aufgabe erinnert, gibt der Apostel der Gemeinde(‐versammlung) ein beispielhaftes, nachahmenswertes Verhalten vor. Die Weisheit stellt dabei einen erheblichen Faktor dar, der zum Richten befähigt, wie dann aus 6,5 erhellt. Das dort gebrauchte Wort σοφός lässt gerade angesichts der virulenten Weisheitsthematik (oder vielmehr -problematik) in Korinth, die in 1Kor 1– 4 von Paulus behandelt worden, besonders aufhorchen. Gerade in der Verbindung von 6,1– 8 und c.5 ergibt sich ein neuer Blick auf die von Paulus eingenommene Richterrolle.

3.1.2 1Kor 6,5: Der Weise als Richter bei Paulus In 1Kor 6,1– 8 verurteilt der Apostel nicht allein, dass die Korinther ihre juristischen Händel vor nicht-christusgläubige Richter bringen (v.1– 6), sondern dass sie überhaupt Rechtsstreit miteinander haben (v.7 f).⁵³ Was das erste Problem für das

 Hier schließt sich der Bogen der in 5,3 und 5,12 erscheinenden 1.P.Sg.: Indem Paulus den Übeltäter richtet, richtet er eigens ‚einen drinnenʻ.  Der zweite der beiden Kritikpunkte macht den ersten scheinbar obsolet, vgl. E. Dinkler, „Zum Problem der Ethik bei Paulus. Rechtsnahme und Rechtsverzicht (1. Kor. 6,1– 11),“ in: ZThK 49 (1952), 167– 200 (172 f). Die Lösung dieses Problems liegt zum einen in der Einrichtung einer innergemeindlichen Gerichtsbarkeit, zum anderen darin, dass Paulus die Korinther vor die freie Wahl zwischen Rechtsnahme und Rechtsverzicht im Hinblick auf den Nächsten stellt, vgl. Dinkler, a.a.O. 174– 186. Dinkler weist darauf hin, dass Rechtsverzicht an sich kein positiver Wert ist, sondern es immer auf den konkreten Einzelfall ankommt, und erinnert anhand von Gal 2,11– 14 daran, dass in Bekenntnisfragen sich Rechtsverzicht durchaus als sinn- und segenlos herausstellen kann, die Rechtsnahme hingegen als notwendig. Eine entsprechende Strategie sehe ich bereits in 1Kor 5 vorliegen, insofern Paulus den inzestuös lebenden Mann eben nicht freispricht, sondern in einem bekenntnisartigen (v.4!) Akt verurteilt.

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gemeindliche Leben und den sich darauf beziehenden ersten Kritikpunkt angeht, bietet Paulus einen Lösungsvorschlag, der in einer rhetorischen Frage⁵⁴ verpackt ist: „Ist also nicht unter euch ein Weiser, der zwischen [einem Bruder und]⁵⁵ seinem Bruder urteilen könnte?“ Mit diesem Satz ist also ausgesagt, dass ein Weiser, der zur Gemeinde gehört, nach Paulus’ Ansicht durchaus zur Entscheidung in Rechtssachen, die zwei miteinander streitende Gemeindeglieder haben, befugt ist. Zu klären ist im Folgenden allerdings: 1) Was bedeutet hier ‚Weiserʻ? 2) Was bedeutet ‚urteilenʻ? Ad 1): Dass Paulus hier einen σοφός als Streitschlichter benennt, kann auf zweierlei Weise verstanden werden.⁵⁶ Entweder ist dies im Rahmen des Briefes eine Anspielung auf die in c.1– 4 verhandelte Frage nach der wahren Weisheit. Die Korinther beanspruchten offenbar für sich, göttliche Weisheit zu besitzen, was Paulus ihnen allerdings frühzeitig im Brief unter Verweis auf die paradoxe Kreuzeslogik abspricht (2,6 – 3,4.18). Wenn er nun das zerstrittene Verhalten der Korinther erneut als Verfehlung des Evangeliums brandmarkt, ist klar, dass sich unter ihnen auch kein wahrer Weiser finden kann. Die Frage des Apostels wäre somit ironisch bzw. sarkastisch gemeint.⁵⁷ Dies würde sich gut in den negativ epideiktischen Ton der ganzen Passage einfügen. Die andere Verstehensmöglichkeit liegt darin, in dem von Paulus angeführten σοφός die Übernahme eines Terminus aus der jüdischen Rechtspraxis zu sehen,

 Dass hier eine zu verneinende rhetorische Frage vorliegt, ergibt sich aus dem in 6,6 zu Beginn stehenden ἀλλά, vgl. Fascher, Brief 171.  In der schriftlichen Tradierung von 6,5 ist es offenbar zu einem frühen Übertragungsfehler gekommen, so dass durch Homoioteleuton der in der Streitsache involvierte zweite Bruder aus der Überlieferung fiel, vgl. J. Kloha, „1 Corinthians 6:5: A Proposal,“ in: NT 46 (2004), 132– 142 (141 f); ebenso Fascher, Brief 171. G. Zuntz, „The Critic Correcting the Author,“ in: Ph. 99 (1954), 295 – 303 (300 f) hält es für wahrscheinlich, dass Paulus selbst bzw. seinem Sekretär an dieser Stelle ein Schreibfehler unterlaufen ist. Erst in einzelnen späteren Handschriften wird eine korrigierende Ergänzung vorgenommen (nach dem Apparat von Nestle-Aland27 sind das die altlateinischen Zeugen f und g, einige Vulgata-Handschriften, die syrische Peschitta sowie eine bohairische Handschrift; im Apparat von Nestle-Aland28 fehlt ein Hinweis auf diese Konjektur). Der vergleichenden sprachlichen Studie Klohas („Corinthians“ 133 – 141) zufolge verbietet es sich, eine verkürzende Redeweise des Apostels anzunehmen,wie es etwa Zeller, Brief 214;Wolff, Brief 112.116; Conzelmann, Brief 132 Anm. 6 tun.  Vgl. Dinkler, „Problem“ 171 f.  Dies gilt ebenso, wenn Paulus hier nicht auf göttliche Weise, sondern auf die wenigen fleischesgemäßen Weisen (1,26: οὐ πολλοὶ σοφοὶ κατὰ σάρκα) in der Gemeinde anspielen sollte, vgl. Winter, Paul 68. Auch diese zeigten sich ja nicht in der Lage, unter den Geschwistern zu richten. Die Frage in 6,5 bliebe somit tadelnd ironisch.

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der zufolge die jüdischen Richter den Ehrentitel ‫‚( חכם‬Weiserʻ) trugen.⁵⁸ Gerade in der korinthischen Gemeinde, bei der Paulus einige Kenntnis von Schrift und Tradition voraussetzt (z. B. 5,7; 10,1– 10), mag dies als Anspielung verstanden worden sein.⁵⁹ Wie immer man hier entscheidet,⁶⁰ bedeutsam ist, dass dem Weisen durch Paulus die Fähigkeit zugesprochen wird, urteilen bzw. richten zu können. Der Apostel verwendet dafür das Verb διακρίνειν. Von daher ist es nötig, dieses Wort genauer in Blick zu nehmen. Ad 2): Das Verb διακρίνειν ist ein Terminus aus der Gerichtssprache und bedeutet in diesem Zusammenhang ‚Recht sprechen zwischen zweienʻ (intransitiv) bzw. ‚beurteilenʻ (transitiv).⁶¹ Sprachgeschichtlich ist es dem Ursprung nach ein verstärktes κρίνειν, also ein intensiviertes ‚trennenʻ/‚sondernʻ.⁶² Noch in späterer Zeit ist sowohl im Sprachgebrauch der LXX⁶³ als auch in den Papyri⁶⁴ ein Un-

 Vgl. Dinkler, „Problem“ 171 f unter Verweis auf H. L. Strack/ P. Billerbeck (Hg.), Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch 3, München 1926, 365; ebenso Zeller, Brief 214; Schrage, Brief I 413. Allerdings ist das Beispiel aus tNed 5,5, das bei Bill. III 365 aufgeführt wird, nur schwerlich auf 1Kor 6 anzuwenden, da es dort um den Antragsbescheid durch einen Weisen (‫)חכם‬ zur Auflösung eines Gelübdes geht, nicht um die Schlichtung oder Urteilsfindung in einem Streitfall. Weiterführender wäre hier Sir 38,33, wo (implizit) der schriftgelehrte Weise auf dem Richterstuhl sitzend dargestellt wird. Allerdings vermeidet Ben-Sira den Begriff σοφός, sondern umschreibt ihn lediglich.  B. S. Rosner, „Moses Appointing Judges. An Antecedent for 1Cor 6:1– 6?,“ in: ZNW 82 (1991), 275 – 278 sieht hierbei die Einsetzung von Weisen zu Richtern durch Mose als biblisch-traditionsgeschichtlichen Hintergrund.  Zeller, Brief 214 hält die Entscheidung offen; Dinkler, „Problem“ 171 favorisiert die zweite Möglichkeit, da sie ohne Ironie auskommt; aber ist das angesichts des durchgehend tadelnden Tonfalls der c.5 – 6 wahrscheinlich? Schrage, Brief I 413 sieht eine dritte Möglichkeit: die „Parallelisierung mit 3,10: Friedensstiftung ist Ausweis wahrer Weisheit.“ Das Problem an Schrages Vorschlag ist allerdings, dass Paulus in 3,10 nicht über Friedensstiftung schreibt, sondern über die Gründung der Gemeinde. Dennoch liegt Schrage m. E. richtig, wenn er die Weisheit des Apostels auch in 6,5 am Werke sieht. Der Zusammenhang ist bloß ein anderer (s.u.).  Vgl. F. Büchsel, „διακρίνω,“ in: ThWNT 3 (1938), 948 – 951 (948).  Vgl. ebd.  So setzt die LXX für ‫‚( שפט‬richtenʻ) in Ex 18,13.22.26 κρίνειν und zugleich in 18,16 διακρίνειν, ebenso in 1Kön/3Reg 3,9, in Ps 81LXX,1 gegenüber v.2.3.8 und in Ez 20,35 f; 34,20.22. Gleichermaßen wird auch ‫‚( דין‬Recht schaffenʻ/‚Gericht haltenʻ) in Prov 31,8.9 durch beide griechischen Verben wiedergegeben. Bei all diesen Stellen werden die Verben κρίνειν und διακρίνειν synonym verwendet. Es ist somit wahrscheinlich dem Stilempfunden geschuldet, dass die die Übersetzer beide Verben gebrauchen. Dies scheint übrigens auch in der griechischen Dichtung der Fall zu sein, wenn etwa Aristophanes, Equites 1207– 1213 (vielleicht aus metrischen Gründen) beide Verben synonym gebraucht.

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terschied zwischen κρίνειν und διακρίνειν nicht (immer) festzumachen.Von daher ist es nicht möglich, Paulus zu unterstellen, er wolle in 1Kor 6,5 mit dem Gebrauch von διακρίνειν auf ein „wesentlich verschiedenes Verfahren“ gegenüber dem κρίνειν im Sinne des Gegensatzes von Schiedsgericht und Gerichtsprozess hinweisen.⁶⁵ Formal geht es zwar um eine andere Prozessordnung, insofern sich zwei Parteien im Streit gegenüberstehen. Inhaltlich bleibt es aber wie in einem Strafprozess bei der richterlichen Funktion, ein Urteil zu fällen.Von daher ist διακρίνειν in 1Kor 6,5 wohl synonym bzw. als Variation des sonst gebrauchten κρίνειν zu verstehen.⁶⁶ Wenn Paulus also einen innergemeindlichen Richter als Weisen bezeichnen kann, er sich selbst aber kurz zuvor als Richter präsentiert hat, ist dies ein ernstzunehmender, wenn auch impliziter Hinweis darauf, dass Paulus sich selbst gegenüber den Korinthern als einen Weisen darstellt. Paulus füllt dann fortlaufend Positionen aus, die in der korinthischen Gemeinde verwaist sind.

3.1.3 Spuren des Weisen in 1Kor 5,1 – 6,11 3.1.3.1 „Die draußen“ Eine kleine, aber beachtenswerte Spur von Paulus zum Weisen-Diskurs findet sich in der Bezeichnung der Nicht-Christusgläubigen als „die draußen“ (5,12.13: τοὺς ἔξω).⁶⁷ In Epikt.Ench. 33,6; 47; 48,1 erscheint ebenfalls diese Bezeichnung, diesmal

 Papathomas, Begriffe 94 f: „In der Menge der Belege [sc. aus den zeitgenössischen griechischen Papyri] ist […] kein klarer semantischer Unterschied zwischen κρίνω und διακρίνω festzustellen.“  So aber Bachmann, Brief 233. Er sieht das ansetzende ἀλλά in 1Kor 6,6 als Ausdruck dieser Entgegensetzung. Es zeigt jedoch den Kontrast zum Vordersatz ‚Ist also nicht ein Weiser unter euch…ʻ an. Gerade das ἀλλά gibt ja v.5 als rhetorischer Frage erst einen Sinn (s.o.).  Dies ist durchaus auch für 1Kor 4,7 und 11,29.31 denkbar. Gerade die Erklärung eines Wechsels aus stilistischen Gründen ist bereits für den Gebrauch in der LXX plausibel (s. Anm. o.).  Paulus gebraucht diese Bezeichnung ebenfalls in 1Th 4,12, die dann auch in Kol 4,5 sowie Mk 4,11 erscheint. Oft wird dafür ein jüdischer Ursprung angenommen, der auf einer Scheidung zwischen dem Volk Israel und den anderen Völkern beruht, und (neben rabbinischen Belegen, deren Verwendung aus sprachlichen sowie Datierungsgründen nicht unproblematisch ist) als griechische Belege Sir prol. 5 (τοῖς ἐκτός) sowie Jos.Ant 15,314.316 herangezogen, vgl. etwa Weiß, Korintherbrief 144, Anm. 2; Lietzmann, Korinther 25. Tatsächlich werden zwar „die draußen“ (τοὺς ἐκτός) in Plat.leg. 629D mit Andersstämmigen (ἀλλοφύλους), also Ausländern gleichgesetzt. Allerdings bedeutet οἳ ἐκτός nicht dasselbe wie οἳ ἔξω: Diese Bezeichnung ist nämlich rein geographisch bzw. lokal zu verstehen, vgl. etwa Thuk. 2,5,4.5; 2,76,2; 5,14,3; Xen.hell. 2,4,1; 5,3,16; 7,2,9; Xen.Kyr. 3,3,46; 2Makk 1,16, also gleichsam „Leute außerhalb eines bestimmten Bereichs“, was auch für die Belege aus Josephus gilt.Wenn Paulus dann in 1Kor 5,12b den Blick der Gemeinde nur auf „die drinnen“ gelten lässt, spricht er damit bildlich ebenso nur einen bestimmten Bereich an (also die Ekklesia, nicht aber einen definierten Volkskörper), wie dies etwa auch in

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in Bezug auf (und in 33,6 synonym für) die Ungebildeten (ἰδιωτικαί), also die nicht Weisheit Anstrebenden.⁶⁸ Epiktet hält gar nichts davon, sich an solche Menschen zu halten geschweige denn das eigene Verhalten ihrem Urteil auszusetzen.⁶⁹ Tatsächlich führe der Umgang mit einem ‚schmutzigen Menschenʻ (μεμολυσμένος) unweigerlich dazu, selbst unrein zu werden.⁷⁰ Nichts anderes hatte Paulus den Korinthern wohl im Vorbrief geschrieben und wiederholt dies nun mit dem Bild des Sauerteigs – konkret bezogen aber auf das unrecht handelnde Gemeindeglied.

3.1.3.2 Der Weise als Richter in hellenistischer Philosophie und Judentum In der Auseinandersetzung um innergemeindliche Rechtsstreitigkeiten zeichnet Paulus eine Spur, die auf seine rhetorische persona als Weiser hindeutet. Dies hängt wesentlich mit seiner expliziten Selbstdarstellung als Richter in c.5 zusammen, die dann in 1Kor 6,1– 8 implizit weitergeführt wird.Von daher soll hier ein kurzer Blick auf die zeitgenössischen Vorstellungen vom Weisen als einem Richter geworfen werden. In den Vorstellungen der hellenistischen Welt ist es durchaus üblich, den guten und gerechten Richtern Weisheit zuzusprechen. Die Komödie als Zeugnis der Ansichten im einfachen Volk gibt darüber vielfach Aufschluss.⁷¹ Aber auch die

Soph.El. 1103 f der Fall ist: τοῖς ἔσω bedeutet hier „die im Haus“. Zeller, Brief 208 Anm. 76 führt dazu noch die Bezeichnung οἱ ἔξωθεν unter dem Beispiel Epikurs an (nach Philodemos, PHerc 1232, Frgm. 8,1). Abgesehen davon, dass jene Stelle aufgrund ihrer Fragmentiertheit fast unverständlich ist, meint dieser Ausdruck aber wortwörtlich „die von draußen“ (nach innen vorstoßen), vgl. etwa Plat.rep. 500B. In Korinth drang aber niemand von außen in die Gemeinde ein. (Epikur spricht übrigens in R.S. 39 ebenfalls von den [Dingen?] ἔξωθεν – hier deutlich von außen kommend.) Weiter führt hingegen Zellers Angabe von Porph.vita Pyth. 57, wo „die draußen“ (οἳ ἔξω) die Überreste der pythagoreischen Lehre tradieren. Auch hier bezeichnet οἳ ἔξω eine Gruppe von Außenstehenden im Gegenüber zu einer religiös-philosophischen ‚Ingroupʻ.  Auch Ench. 48,1 (wie ebenfalls Diss. 4,12,15) ist m. E. derart zu verstehen – nicht etwa neutrisch als „äußere Dinge“. „Äußere Dinge“ heißen bei Epiktet gewöhnlich τὰ ἐκτός, vgl. Diss. 2,2,10.12.15; 2,5,24; 2,16,11; 2,22,20; 3,3,8; 3,7,2; 3,10,16; 3,15,13; 3,20,1.17; 3,22,16; 3,24,56; 4,3,1; 4,4,1.4.7; 4,7,10.41; 4,8,4.10.32; 4,10,1.25; 4,12,9; 4,13,13; Ench. 13;16; 29; 33,13. Dies entspricht dem allgemein stoischen Sprachgebrauch, vgl. SVF 4 s.v. Nur äußerst selten steht bei Epiktet τὰ ἔξω (Diss. 2,2,25; 3,10,16), wobei es fraglich bleibt, ob es an diesen Stellen tatsächlich völlig synonym zu τὰ ἐκτός verstanden werden muss.  Epikt.Diss. 3,2,13 etwa wendet sich gegen Leute, die ihren Blick nach außen (ἔξω) richten, um von dort Bestätigung für sich selbst zu erhalten (s.a. Ench. 23).  So auch Epikt.Diss. 3,16,3 mit dem Bild des Rußes.  Vgl. Aristophanes, Equites 1207– 1213 (κρινεῖν σοφῶς/‚weise richtenʻ analog zu κρινεῖν καλῶς/ ‚gut richtenʻ); ders., Ranae 805 f (auf die Frage, wer richten soll, wird der Mangel an weisen Männern beklagt); ebd. 1518 f; ders., Ecclesizusae 1154– 1160; zudem Euripides, Suppl. 1053.

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Philosophie kennt den Topos des weisen Richters. So stellt etwa Plato in seiner Staatslehre die These auf, dass ein Richter (δικαστής) nur dann wirklich weise ist (und nicht bloß sich selbst für weise hält: σοφὸς οἰόμενος εἶναι), wenn er aufgrund seines behüteten Aufwachsens Schlechtigkeiten nicht aus eigener Erfahrung kennt, sondern erst im Alter damit konfrontiert wird.⁷² Diodor von Sizilien bietet darüber hinaus einen weiteren Beleg für das Verlangen der Griechen nach ‚alien wisdom‘, wenn er in seiner Geschichtsbibliothek (1,94) den ägyptischen Herrscher Bokchoris als einen Weisen und an Gewitztheit Ausgezeichneten (σοφόν τινα καὶ πανουργίᾳ διαφέροντα) darstellt, so dass dessen verständige Urteile aufgrund ihrer Vorzüglichkeit noch immer bei den Ägyptern in aller Munde sind.⁷³ Ebenso wird der römische Kaiser Augustus bei Phaedrus 3,9(10) als ein weiser Richter geschildert. Die Vorstellung, dass ein Richter für sein Tun Weisheit benötigt, ist auch dem Judentum nicht fremd. Nach der in der Schrift vorgestellten Chronologie, die sich mit der Perspektive eines typischen antiken (und damit vorkritischen) Lesers auf die Geschichte Israels deckt, setzte zunächst Mose während des Exodus von ihm im Gesetz unterwiesene Männer zum Richten ein (Ex 16,13 – 27; Num 11,11– 17; Dtn 1,9 – 18). In der Erzählfassung nach Dtn 1 werden diese Männer als weise, verständig und einsichtsvoll (σοφοὺς καὶ ἐπιστήμονας καὶ συνετοὺς) beschrieben. Ihre Berufsbezeichnung ist nach Dtn 1,15; 16,18 sowohl ‚Richterʻ (κριταί) als auch ‚Schriftführerʻ (γραμματοεισαγωγεῖς)⁷⁴. Das Richten in Israel wird dann auch als eine königliche Aufgabe wahrgenommen.⁷⁵ So wird es verständlich, dass Salomo in seinem Gebet vor der Salbung bzw. Krönung ein hörendes Herz erbittet, um Gottes Volk mit Gerechtigkeit zu richten (1Kön/3Reg 3,9). Auf diese Bitte hin erhält  Vgl. Plat.rep. 3,16 f (409 A–E).  Vgl. K. Brodersen, „Salomon in Alexandria? Der weise Richter in 1 Könige 3, antiker Bildtradition und P. Oxy. 2944,“ in: Bartelmus, R. / Krüger, Th. / Utzschneider, H. (Hgg.), Konsequente Traditionsgeschichte. Festschrift für Klaus Baltzer zum 65. Geburtstag (OBO 126), Freiburg / Göttingen 1993, 21– 30 zum Topos des weisen Königs und zur vermutlich höheren Bedeutung des Bokchoris gegenüber Salomo in der Antike. Bokchoris soll Diodor (1,79) zufolge sogar ein Vorbild für Solons Handelsgesetzgebung in Athen gewesen sein.  Die LXX gibt damit das Wort ‫ שטרים‬wieder. εἰσαγωγεύς bedeutet ‚Vorsitzender des Gerichtsʻ, vgl. Gemoll, Schul- und Handwörterbuch s.v. Die ‫‚( שטרים‬Schreiberʻ oder ‚Listenführerʻ) erscheinen in M noch einmal in Dtn 20,1– 9, wo ihnen die Verantwortung für die Musterung der Wehrfähigen zugewiesen wird. Irgendeinen Zusammenhang mit Weisheit gibt es dort nicht. Tatsächlich werden die ‫ שטרים‬in c.20 von LXX als γραμματεῖς bezeichnet. Insofern nimmt die LXX in Dtn 1 und 16 eine ‚Entmilitarisierungʻ bei gleichzeitiger ‚Judikaisierungʻ der ‫ שטרים‬vor: Wahrscheinlich lässt der Zusammenhang mit der Weisheit (1,15;16,19) die LXX sie zu Richtern machen.  Richten ist eigentlich die ursprüngliche Aufgabe des Königs, vgl. G. Chr. Macholz, „Zur Geschichte der Justizorganisation in Juda,“ in: ZAW 84 (1972), 314– 340 zur historischen Entwicklung der judäischen Justizorganisation von der Königszeit bis in die nachexilische Zeit.

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Salomo dann von Gott ein verständiges und weises Herz (1Kön/3Reg 3,12: καρδίαν φρονίμην καὶ σοφήν),⁷⁶ und das Volk erkennt, dass die Verständigkeit Gottes (φρόνησις θεοῦ) auf ihm liegt, um Rechtssprüche zu vorzutragen (3,28). Die Aufgabe des Richtens wurde in nachexilischer Zeit (in Ermangelung eines Königs) ‚wieder‘ demokratisiert, wie aus Esr 7,25 hervorgeht, wo die Einsetzung von Schreibern und Richtern durch Esra mithilfe der ihm von Gott zur Verfügung gestellten Weisheit geschildert wird, damit sie über das Volk richten. Dadurch (aber auch durch die im Pentateuch fiktional auf Mose selbst zurückgehenden Traditionsbildung der richterlichen Einsetzung) wurde das Amt der Richter in Israel auf Dauer gestärkt. So kann in Anerkennung ihrer Leistung Ben-Sira (10,1) lobend sagen: „Ein weiser Richter wird sein Volk erziehen, und die Führung eines Einsichtsvollen wird wohlgeordnet sein.“⁷⁷ Dass andersherum der Weise als ein Richter auftritt, ist allerdings keine allzu geläufige Vorstellung im Hellenismus.⁷⁸ Obwohl Platon die Weisen (bzw. die Philosophen) als die Herrschenden in seinem Idealstaat zu Richtern machte (rep. 433E),⁷⁹ ist in den meisten philosophischen Schulen der späteren Zeit der Gedanke nicht ausgeprägt. Möglicherweise lässt sich das politisch-bürgerliche Handeln (πολιτεύεσθαι) des Weisen, das von Akademie und Peripatos vertreten wird,⁸⁰ in diese Richtung deuten: Insofern der Weise sich bürgerschaftlich engagiert, wird darin mitunter auch die Funktion oder gar das Amt eines Richters berührt sein, bezog doch die Gerichtsbarkeit sowohl in der griechischen Polis⁸¹ als dann auch im imperialen Rom⁸² Geschworene in die Urteilsfindung ein bzw. erhob sie überhaupt Bürger zu Richtern. Dass der Weise (auch) ein Richter ist, ergibt sich jedoch allenfalls implizit. Dabei wird in der allgemeinen Auffassung der Weise überhaupt als gerecht angesehen.⁸³ Dies mag einmal mehr auf die Darstellung des Weisen par excellence, nämlich Sokrates in der Schilderung durch Xenophon, zurückgehen. Eine der

 In der Parallelüberlieferung 2Chr 1,7– 13 erbittet und erhält Salomo Weisheit und Einsicht (σοφίαν καὶ σύνεσιν).  Κριτὴς σοφὸς παιδεύσει τὸν λαὸν αὐτοῦ, καὶ ἡγεμονία συνετοῦ τεταγμένη ἔσται.  Dies mag damit zusammenhängen, dass der Weise westlicher Prägung mitunter als soziologisch nicht angepasst erscheint und somit an den überkommenen Formen von gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen – und das sind durchaus gelegentlich Gerichtsprozesse – nicht teilnimmt.  S.a. Plat.nom. 766D–768E über Richteramt und Gerichtswesen.  S.o. Kapitel 3, 2.2.2.  Man denke hier nur an die ἄνδρες ᾿Aθηναῖοι („athenische Männer“) im Prozess um Sokrates.  Vgl. I. König, Der römische Staat II. Die Kaiserzeit (Reclams Universal-Bibliothek 9615), Stuttgart 1997, 409 f.  So lautet die allgemeine Einschätzung bei Clem.Strom. 1,26 (168,4) [= SVF 3,332].

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entscheidenden Eigenschaften des Sokrates sei ja seine Gerechtigkeit gewesen, die darin bestand, dass er niemanden auch nur im Geringsten schädigte, sondern vielmehr den mit ihm verkehrenden Menschen in außerordentlicher Weise nutzte (mem. 4,8,11).⁸⁴ Dies hängt damit zusammen, dass dem xenophonischen Sokrates zufolge die Gerechtigkeit wie überhaupt jede Tugend tatsächlich Weisheit ist (mem. 3,9,5).⁸⁵ Gerechtigkeit, gerade als eine der vier griechischen Kardinaltugenden, wird somit zu einem festen Bestandteil in der Wahrnehmung des Weisen. In Hinsicht auf das ethos eines sich selbst darstellenden Menschen kann man sie als eine particular der rhetorischen persona des Weisen verstehen. Dies wird in der Folgezeit deutlich an den verschiedenen philosophischen Weisenbildern. Für Plato ist der Weise gesetzestreu, was sich aus der Gerechtigkeit als göttliches Gebot ableitet.⁸⁶ Für die Stoa ist der Weise automatisch gerecht, insofern er tugendhaft ist, da die Tugenden einander bedingen: Wer eine Tugend besitzt, besitzt alle Tugenden.⁸⁷ Besonders erwähnt wird bei Diogenes Laertius noch, dass der stoische Weise auch gerecht ist gegenüber den Göttern (7,119) – Gerechtigkeit beinhaltet demnach ‚Götter- und Nächstenliebeʻ gleichermaßen. Bei Epikur wird dann die Bezeichnung als ein Gerechter austauschbar mit der als eines Weisen;⁸⁸ in jedem Fall ist der Weise auch immer gerecht.⁸⁹ Weise zu sein und gerecht zu sein ist insgesamt in der nachsokratischen Philosophie also als eine Einheit gedacht. Expliziert ist die Vorstellung des Weisen als eines Richters nur in der Stoa.⁹⁰ Hier geht die Vorstellung sogar so weit, dass – im Gegensatz zu den Schlechten – allein der Weise zu den Staatsämtern, also zu dem des Richters (δικαστικός) oder Redners, befähigt sei (Diog.Laert. 7,122), ohne dass man dabei Milde von ihm erwarten könne (Diog.Laert. 7,123). Seneca (ira 1,16,7) gesteht dem Weisen sogar zu, dass er, wenn er als Richter ein Urteil fällt, zornig erregt ist. Dass der Weise in der

 Dabei stellt Xenophon Sokrates dahingehend als durchaus umstritten dar: Antiphon hält den Sokrates zwar für gerecht, nicht aber für weise (Xen.mem. 1,6,11 f).  Ähnlich Sokrates in Plat.rep. 350C–D: Der Gerechte ist (wie) der Weise und Gute, Gerechtigkeit ist Weisheit und Tugend.  Vgl. Diog.Laert. 3,78 f.  Vgl. Diog.Laert. 7,125.  Vgl. Diog.Laert. 10,144.  Vgl. Diog.Laert. 10,132.  Allerdings gilt dies nicht für die frühe Stoa. So forderte Zenon, der Gründer der Stoa, in seiner (verlorengegangenen) Beschreibung des idealen Staates der Weisen (nach Diog.Laert. 7,33) den Verzicht auf den Bau von Gerichten (δικαστήρια). Dies erklärt sich aus der mangelnden Notwendigkeit einer solchen Institution in einem Staat, der komplett aus Weisen besteht, vgl. Baldry, „State“ 10 f. (Einen ähnlichen Gedanken mag auch Paulus in 1Kor 6,7 für die christusgläubige Gemeinde als Gemeinschaft der Weisen vertreten.)

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Stoa als ein Richter erscheint, hängt womöglich mit der Sakralisierung der Rolle des Weisen zusammen, insofern ihm seit dem Prinzipat auch Kompetenzen aus dem Bereich Recht, Verwaltung und Religion zugesprochen wurden.⁹¹ Anders sieht es im Judentum aus. Dort kann der Weise, da er ohnehin als ein Experte in der Tora (griechisch: νόμος, also Gesetz) und den Traditionen vorgestellt ist, durchaus die Züge eines Richters annehmen. Gerade der Bericht über die Einsetzung von weisen Männern zu Richtern durch Mose verweist ja darauf, dass die Übernahme des Richteramtes als möglicher Karriereschritt eines Weisen allgemein vorgesehen war. Neben der Aufgabe als Ratsherr und als Lehrer schreibt Ben-Sira dem Weisen die Aufgabe als Richter zu (Sir 38,33 f). In der Entwicklung des frühen Judentums verquicken sich Richter und Weise weiter: Der Titel ‚Weiser‘ (‫ )חכם‬bezeichnet in der talmudischen Tradition dann den dritten Rang der jüdischen Gelehrten nach dem Vorsitzenden (‫ נשיא‬/ nasi) und dem ‚Gerichtsvater‘ (‫אב‬ ‫ בית־דין‬/ av bet din) des Sanhedrin.⁹² Als ein solcher kommt ihm in Gesetzesfragen Autorität zu. Ursprünglich standen die Weisen allerdings im Ansehen unter den Rabbis, da diese Glieder einer ununterbrochenen Lehrerkette waren; erst später fand der Titel auf alle Gelehrten Anwendung.⁹³

3.1.3.3 Paulus als Richter und Weiser Seine rhetorische persona als Weiser bestimmt Paulus gegenüber den Vorstellungen in der Geistesgeschichte seiner Zeit in eigener Weise. In 1Kor 6,1– 6 geht es nicht darum, dass Paulus eine bestimmte innergemeindliche Prozessordnung in Form eines Schiedsgerichtsverfahrens durchsetzen möchte. Vielmehr bleibt sein Hauptanliegen hier die Kritik an Gerichtsverfahren generell und speziell an solchen, die von Leuten außerhalb der Gemeinde geleitet werden. Dass einige Gemeindeglieder in (seiner Ansicht nach) Bagatellen vor außergemeindliche Gerichte ziehen, ist für Paulus das Problem. Dies hängt für ihn an der mangelhaften Bereitschaft der Korinther, gegenüber dem Streitgegner Rechtsverzicht zu üben. Diesen Rechtsverzicht verknüpft der Apostel aber ausdrücklich mit dem Erleiden von Unrecht und Ausbeutung (6,7). Unrecht standhaft zu ertragen ist allerdings eine Fähigkeit, die Paulus zuvor den Aposteln zugesprochen hat (4,9 – 13).⁹⁴ Die

 S. oben Kapitel 3, 1.3.  Vgl. N.N., „Hakham,“ in: EJ2 8 (2007), 245.  Vgl. ebd. Die fortlaufende rabbinische Sukzession durch Unterweisung und Handauflegung wird semikhah genannt, vgl. H. H. Cohn/ I. Levitats, „Bet Din and Judges,“ in: EJ2 3 (2007), 512– 524 (514).  In 4,9 – 13 fällt zwar nicht das Wort ‚Unrechtʻ, das Phänomen ist aber umschrieben durch Verleumdung, Verfolgung und üble Nachrede (v.12 f).

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Korinther beweisen mit ihrem Verhalten also einmal mehr, wie weit sie vom Vorbild des Apostels bzw. der Apostel entfernt sind. Somit verschärft sich auch die Ironie der Frage in 6,5: Ein Weiser als innergemeindlicher Richter wäre gar nicht mehr nötig, würden die Korinther sich nur apostelgemäß (und das heißt immer christusgemäß: 11,1!) verhalten. Für die paulinische Vorstellung des Weisen in 1Kor 6 bedeutet dies alles nun, dass der Weise a) in der Gemeinde richten kann und soll, aber b) als Richter nur ein Notbehelf sein kann, bis die Einstellung der Korinther soweit gediehen ist, dass sie miteinander keine Rechtsstreitigkeiten mehr führen und somit ein Grund zum Richten und Urteilen obsolet wird. Die Notwendigkeit zum innergemeindlichen Richten besteht allerdings weiterhin in Fällen, in denen es um das Bekenntnis zu Christus geht, wie dies in 1Kor 5 der Fall ist. Das Christusbekenntnis ist letztendlich der Grund, warum der inzestuös lebende Mann gebannt wird – nicht primär, weil er gegen ethische Normen verstoßen hat, sondern weil er mit seiner ‚Hurerei‘ die ihm zukommende Christusgemeinschaft unwiderruflich zerrüttet (6,16). Hier darf kein Rechtsverzicht geübt werden, weil es um den Kern der Christusbeziehung geht. Paulus gibt mit seinem dezidierten Richten in einem Bekenntnisfall (5,3) ein Beispiel für die Korinther ab, das vorbildhaft für sie sein soll. Prinzipiell sind alle Christusgläubigen zum Richten berufen und befugt, doch im Fall der Korinther versagen diese sich selbst ihre Berufung. Eben deshalb urteilt und richtet (κρίνειν) Paulus an ihrer Stelle und zu ihrem Nachahmen in einem Bekenntnisfall, wobei er die Möglichkeit eines gemeinsamen, kollegialen Richtens offen hält (5,4). Einem Urteilen und Richten (synonym: διακρίνειν) allerdings sowohl über innergemeindlichen Zwist als auch über Bagatellen (6,5) verweigert er sich, sind dies doch Konfliktfälle, die mit der Änderung der inneren Einstellung der Gemeindeglieder hin zu einem Rechtsverzicht zu entschärfen sind (6,7). Insofern Paulus sich als Richter innerhalb der Gemeinde präsentiert, erweist er sich gleichermaßen als ein Weiser. Es mag offen bleiben, ob Paulus dabei auf jüdische oder hellenistische (genauer: stoische) Vorstellungen anspielt, auch wenn letzteres im Tonfall der Gesamtpassage plausibler wirkt. Deutlich ist jedenfalls, dass er sich nach beiden Kontexten durch die von ihm wahrgenommene Funktion eines innergemeindlichen Richters, die seine eigene Gerechtigkeit voraussetzt, als ein Weiser präsentiert und Nachahmung verlangt.

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3.2 1Kor 6,12 – 20 3.2.1 1Kor 6,12.15: Paulus als Bevollmächtigter In 1Kor 6,12 wechselt Paulus nach 6,5 erstmals wieder in die 1.P.Sg.⁹⁵ Zwischen 6,1 und 6,12 liegt eine Ansprache an die Korinther über ihr Vorgehen bei Rechtshändeln untereinander (6,1– 8), die in einem Katalog von Übeltätern (6,9 f) und einer Synkrisis der Korinther mit diesen (6,11) ausläuft. Im folgenden Vers nun folgt ein Satz, dessen erste Hälfte (πάντα μοι ἔξεστιν: „alles ist mir gestattet“)⁹⁶ oftmals in der Forschung als Schlagwort bzw. Parole der Korinther aufgefasst wird, welche sich Paulus zu Eigen mache.⁹⁷ In den darauf folgenden, mit ἀλλά („aber“) eingeleiteten adversativen Nebensätzen wolle er diese Parole als absurd herausstellen bzw. durch die Erläuterungen richtigstellen. Demnach spreche hier Paulus mit korinthischen Worten, die er durch seine Ergänzungen wiederum gegen die Einstellung der Gemeinde wendet. Brian J. Dodd führt allerdings bedenkenswerte Gründe an, dass Paulus in 6,12 nicht notwendigerweise ein korinthisches Zitat in den Mund nimmt.⁹⁸ Diese Gründe sind folgende: 1) Die ähnliche Wiederholung der Phrase in 10,23 ist nicht notwendig ein Argument für einen feststehenden Slogan,⁹⁹ sondern könnte auch eine literarische Klammer (inclusio) bilden. 2) Paulus kennzeichnet meistens seine Zitate nach ihrer Herkunft. In 1Kor stehen bloß drei ungekennzeichnete Zitate aus der LXX 32 gekennzeichneten aus der LXX und anderen Quellen gegenüber;¹⁰⁰ entgegen anderen Stellen wie z. B. 1Kor 1,12; [7,1] 15,12, die die Meinung der Korinther zum Ausdruck bringen, ist in 6,12 ein direktes oder indirektes Zitat aus dem Mund der Korinther nicht erkennbar. 3) Die inhaltliche Übereinstimmung von

 Insofern mutet es merkwürdig an, wenn Zeller, Brief 221 von einem „unpersönlichen Stil“ (Hervorhebung von mir) spricht.  Dieselben Worte erscheinen erneut und wieder in doppelter Weise in 1Kor 10,23, allerdings (in den älteren Handschriften) ohne personalisierendes μοί. Zudem folgen wieder zwei adversative Nebensätze darauf, wobei der erste identisch mit 6,12aβ ist, der zweite allerdings das Thema der Erbauung (in Rekurs auf 8,1) aufnimmt.  Vgl. Wolff, Brief 125; Klauck, Korintherbrief 48 f; W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 1.Kor 6,12 – 11,16 (EKK 7/2), Zürich/ Braunschweig/ Benziger/ Neukirchen-Vluyn 1995, 17 f; Conzelmann, Brief 138 f; J. Murphy-O’Connor, „Corinthian Slogans in 1 Cor 6:12– 20,“ in: CBQ 40 (1978), 391– 396; Fascher, Brief 174 f; Bachmann, Brief 240 f; zusammenstellend Dodd, „Corinthians“ 40 – 42.  Vgl. Dodd, „Corinthians“ 42– 46.  Nach dieser Logik müssten dann auch 1Kor 4,16b und 11,1a als Zitate eines paulinischen Slogans angesehen werden.  Die ungekennzeichneten Stellen sind:1Kor 2,16; 5,13;15,32. Möglicherweise sind auch 6,13; 8,8 ungekennzeichnete Zitate.

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6,12aα.bα mit der von Paulus den Korinthern bescheinigten vorherrschenden moralischen Einstellung¹⁰¹ besteht zwar; ebenso gut kann aber die Aussage von Paulus selber formuliert sein. 4) 1Kor 6,12 als korinthische Aussage zu verstehen, ergibt sich aus dem Lesen des Briefs als eines Spiegels (‚mirror reading‘), indem man also methodisch zu den in einer historischen Quelle enthaltenen Aussagen eine genau entsprechende Gegenposition konstruiert; dies ist hier unnötig, wenn Paulus als Sprecher dieser Worte plausibel gemacht werden kann.¹⁰² Mit Dodds Überlegungen und Anfragen ist zumindest der Grund dafür gelegt, 6,12 unter dem Aspekt zu lesen, dass der Apostel hier seine eigene Meinung darlegt und nicht einen korinthischen Slogan wiedergibt.¹⁰³ Selbst Dieter Zeller, der in 6,12 (sowie 8,1a.4; 10,23) korinthische Thesen erkennt, räumt ein, dass diese ihren Ursprung in der paulinischen Anfangspredigt hatten,¹⁰⁴ nun allerdings „pauschal vergröbert und auf fremde Kontexte angewandt“¹⁰⁵. Demnach gibt es also keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Meinung der Korinther und der des Paulus.¹⁰⁶ Zudem hat der Apostel bereits zuvor (etwa in 4,6 – 16) auf sich selbst als vorbildliches und nachahmenswertes Beispiel abgehoben. Von daher kann er auch nun in 6,12 sehr gut sich selbst als Beispiel für die Korinther hervorheben.¹⁰⁷

 Und auch nur einiger, nämlich der ‚Starkenʻ, vgl. 1Kor 8 – 10, oder des inzestuösen Gemeindemitglieds in c.5. Dass die τινες aus 15,12, also die Auferstehungsleugner in der Gemeinde, ebenso dazuzuzählen sind, ist möglich, wenn man das ihnen in 15,32 untergeschobene Zitat aus JesLXX 22,13 nicht bloß im Sinne eines ausgelassenen Feierns, sondern als Ausdruck einer völlig zügellosen Lebensweise deutet, vgl. Wilk, Bedeutung 318 – 320.  Überhaupt sollte man ‚mirror readingʻ mit Umsicht betreiben, um nicht vorschnell die Tendenz der Quelle zu vernachlässigen.  Inzwischen hat D. Burk, „Discerning Corinthian Slogans through Paul’s Use of the Diatribe in 1 Corinthians 6:12– 20,“ in: Bulletin for Biblical Research 18 (2008), 99 – 121 Protest gegen Dodds Vorschlag eingelegt (s.a. Brookins, Wisdom 81– 103; Fitzmeyer, Corinthians 263). Vielmehr hält er 1Kor 6,12– 20 für ein diatribenhaftes Stück, in welchem sich Paulus mit korinthischen Slogans in v.12.13 und 18 auseinandersetzt. Gerade das μὴ γένοιτο in v.15 sieht er als „the watchword of the diatribal mode in Paul’s writings“ (a.a.O. 104) und entspinnt von da aus seine These, dass Paulus insgesamt in 1Kor 6,12– 20 mit den Korinthern selbst in einen diatribenartigen Dialog eintritt. Es ist sehr verdienstvoll, nach einer Begründung für die Annahme von Slogans bei Paulus zu suchen. Das Problem an diesem Ansatz sehe ich jedoch darin, dass erst ab v.15 der angeblich diatribenhafte Charakter der Passage deutlich wird und man sozusagen erst in der Relektüre Paulus’ Anliegen versteht. Zugegebenermaßen mag das eine Möglichkeit sein; für die damaligen Briefhörer (!) wird das allerdings eine erhebliche Verständnishürde bedeutet haben. Oder verstellte der Vorleser des Briefes jeweils seine Stimme?  Vgl. Zeller, Brief 222.  Ebd.  Wahrscheinlich geht die These, dass alles erlaubt sei, auf die Speisendiskussion zurück, wie der Kontext von 1Kor 10,23 nahe legt, vgl. ebd.  Vgl. Dodd, ‚I‘ 85 f.

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Unter dem Strich kann somit gesagt werden, dass Paulus in 6,12 seine eigene Meinung vorträgt – obgleich in differenzierter Weise. Das ‚Ich‘ in v.12 ist zuallererst das des Apostels, wobei er damit Aussagen vorträgt, die sich die Korinther bereits angeeignet, aber auch gegen seine Intention verzerrt haben. Indem Paulus diese Aussagen erneut aufgreift und auf sich anwendet, möchte er die Korinther dazu bewegen, sich ihm wieder darin anzuschließen und in seine Worte einzustimmen, diesmal jedoch erweitert um entscheidende Modifikationen jener Aussagen.¹⁰⁸ Insofern steht 6,12 ganz unter dem Aufruf in 4,16, die Korinther mögen zu Nachahmern des Paulus werden. Indem die Korinther sich allerdings an die paulinische Ich-Aussage anschließen, erhält das ‚Ich‘ in 6,12 neben seiner paradigmatischen, auf Paulus als Beispiel hinweisenden Funktion auch eine hortative, die Korinther mahnende Funktion. Dodd zufolge bezieht sich 6,12 auf den voranstehenden v.11.¹⁰⁹ Hierin wird die gegenwärtige Seinsweise der Korinther geschildert: In der Taufe haben sie Reinigung, Heiligung und Rechtfertigung durch Gott erfahren. Paulus nun zeige in v.12 mit einem für die Korinther bestimmten paradigmatischen Ich auf sich selbst als einen Getauften, der die gleiche Erfahrung wie die geläuterten Korinther gemacht hat. Gerade der forensische Terminus ἐδικαιώθητε (‚ihr seid gerecht gesprochen worden‘) in Gegenüberstellung zum vorherigen Leben als Ungerechte (v.9: ἄδικοι) weise auf die neuen Lebensmöglichkeiten hin, die sich den Korinthern und mit ihnen jedem Getauften, also auch Paulus, offenbaren. Als befreiten Menschen sei ihnen nun alles gestattet. Es ist durchaus richtig gesehen, dass Paulus in 6,12 sich selbst exemplifiziert.¹¹⁰ Ausgehend von der Annahme, dass Paulus in 6,12 erst einmal über sich selbst spricht, beansprucht er ein Anrecht auf bzw. die Vollmacht über alle Dinge (πάντα μοι ἔξεστιν). Auch wenn das Verb ἔξεστιν an sich auf einen möglichen Ursprung des paulinischen Gedankens in Thora-Diskussionen verweist (vgl. etwa Mk 2,24; 6,18), steht es geläufig in philosophischen Texten neben dem Substantiv

 Dagegen ist Winter, Paul 86 – 109 strikt dagegen, in 6,12;10,23; 15,29 – 34 Parolen zu erkennen, die doch irgendwie auf Paulus zurückgehen. Vielmehr sieht er darin das Lebensgefühl der städtischen Elite ausgedrückt, die einen Teil der korinthischen Gemeinde stellten. Auf ausgelassenen Banketten hätten sie (weiterhin) mit Prostituierten verkehrt und gleichermaßen dort Idolenopferfleisch verzehrt. Bei dieser Konstruktion muss sich Winter aber fragen lassen, wie diese moralisch verwahrloste städtische Elite zur christusgläubigen Gemeinde gefunden hat. Die Gemeinde leitete sich ja (evident an den vielen Schriftzitaten in 1 und 2Kor) aus dem Judentum her, das allgemein als ethisch bzw. moral-philosophisch anspruchsvoll anerkannt war, vgl. dazu Lohse, Umwelt 86 – 92.  Vgl. Dodd, ‚I‘ 87 f.  So bereits Bachmann, Brief 242.

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ἐξουσία („(An‐)Recht/Erlaubnis/Vollmacht“) und wird synonym verwendet.¹¹¹ ἐξουσία wiederum ist ein Terminus, der später im Briefverlauf in c.8 – 10 eine wichtige Rolle in der Argumentation spielen wird. Auch dort beansprucht Paulus Vollmacht für sich (9,4– 6.12.18), aber ebenso für alle Christusgläubigen (8,9; 9,12). In c.9 erklärt er an seinem Beispiel, dass ein Anspruchsverzicht im Sinne des Gemeindezusammenhalts vorzuziehen ist. Die bis auf einen Selbstbezug und ein anderes Ende mit 6,12 wortgleiche Parole in 10,23 steht am Anfang des Schlusses 10,23 – 11,1 und bündelt zusammen mit diesen Versen sozusagen die Argumentation über das Idolenopferfleisch.¹¹² Auch wenn in 6,12 Worte auftauchen, die zuvor noch nicht gefallen sind, wirkt der Passus 6,12– 20 doch wie 10,23 – 11,1 wie eine Bündelung des Vorangehenden. Das übergreifende Thema ist die von Paulus verurteilte πορνεία, wie es besonders aus dem Aufruf v.18 deutlich wird: φεύγετε τὴν πορνείαν („Flieht die Hurerei“). Allerdings macht Paulus in 6,12 anders als 10,23 das Vollmächtigsein zu seiner eigenen Sache, indem er ein μοι („mir“) einfügt. Demzufolge ist speziell Paulus alles erlaubt.¹¹³ Zugleich gibt Paulus kund, dass alles zu tun nicht automatisch auch Nutzen bringt (οὐ πάντα συμφέρει). Für wen genau der Nutzen besteht, bleibt offen. In 10,23 geht es innerhalb der Diskussion über das Essen von Idolenopferfleisch (bzw. den Verzicht darauf) um das Zusammenleben von Starken und Schwachen in einer Gemeinde; zuträglich bzw. nützlich ist demnach ein Verhalten, das der Schonung der Schwachen und damit auch dem Zusammenhalt der Gemeinde dient. Es geht dort vorrangig um den Nutzen für den Nächsten (vgl. 10,33). Doch auch in 10,23 lässt sich der Nutzen durchaus im Sinne eines individuellen Vorteils deuten, insofern durch den Verzicht auf Idolenopferfleisch ein Einlassen mit den Daimonia (vgl. 10,20 f) und damit eine Schwächung oder gar ein Zerstören der eigenen Bindung an Christus verhindert wird. In 6,12 besteht ein Nutzen für das Individuum, insofern die Verbindung mit einer Hure zugunsten der Christusbindung und damit des eschatologischen Heils (6,13b–14) vermieden wird. Insofern individuelles Fehlver-

 Vgl. etwa Xen.mem. 2,6,35; Plat.Gorg. 461D–E, Plat.leg.936A. Ähnlich ist dies bei παρουσία und παρεῖναι, vgl. etwa Plat.Gorg. 498D–E.  Wörtliche und thematische Rückbezüge sind in 10,23 (erbauen: 8,10); 10,24 (Rücksicht auf den anderen: 8,13); 10,25 – 29 (das Gewissen des anderen: 8,10); 10,29 (Freiheit: 9,1.19); 10,32 (unanstößig sein: 9,9; Juden, Griechen, Christusgläubige: 9,20 f); 10,33 (allen alles zur Rettung sein: 9,22).  Woher diese Erlaubnis bzw. Vollmacht kommt, wird nicht explizit gesagt. Da es in beiden Kapiteln 5 – 6 aber um die rechte Lebensweise als Christusgläubige geht, können wir hier letztendlich ein passivum divinum annehmen, so dass Gott als Geber der Vollmacht erscheint.

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halten aber auch in die Gemeinde hineinwirkt (vgl. 5,6 – 8), besteht in der individuellen Meidung der πορνεία wiederum ein Nutzen für die Gemeinde. Nach einer Wiederholung der persönlich gefärbten Vollmachtsaussage weist Paulus in v.12bβ mit einem Wortspiel über den Wortstamm έξεῖναι auf seine eigene Unabhängigkeit von Dingen oder Menschen¹¹⁴ hin; das Futur verstehe ich als Hinweis auf die Beständigkeit dieser Unabhängigkeit. Die Bedeutung von ἐξουσιάζειν im Passiv bedarf einer Klärung, da es vor Paulus keine Zeugnisse mit dieser Form gibt.¹¹⁵ Die aktivische Grundbedeutung ist ‚beherrschen‘, die passivische ‚beherrscht werden‘.¹¹⁶ Paulus gebraucht dieses Wort sonst aktivisch und lediglich in 1Kor 7,4 (zweimal), wo er die sexuelle Selbstbestimmung von Mann und Frau dahingehend umdeutet, dass nicht man selbst, sondern nur der Ehepartner ein Recht auf den Körper des anderen habe (ἐξουσιάζει). Aufgrund der mageren Textbasis schlägt dieser Befund aber nicht notwendig in die Richtung aus, dass Paulus in 6,12aβ mit ὑπό τινος die Verfügungsgewalt durch einen anderen Menschen meint.¹¹⁷ Vielmehr dürfte das im Vordersatz als Objekt erscheinende dingliche πάντα ein Hinweis darauf sein, dass ὑπό τινος ebenfalls eine Sache meint.¹¹⁸ Möglicherweise stehen hier auch die anderen, mitunter widergöttlichen Mächte (vgl. 1Kor 15,24; Eph 1,21; 3,10; 6,12) im Hintergrund. Vermittelnd lässt sich übersetzen: „Ich werde von nichts und niemandem beherrscht“. Während in 10,23 beide Vershälften synonym zueinander stehen (συμφέρειν/ „zuträglich sein“ = οἰκοδομεῖν/ „erbaulich sein“), ergibt sich durch den letzten Viertelvers in 6,12 ein anderes Bild. Durch diese Schlussworte kommen beide Vershälften in einem synthetischen bzw. klimaktischen Verhältnis zu stehen. Allein die Länge des Teilverses verschafft ihm ein Achtergewicht und damit eine besondere Betonung. Die Unabhängigkeit des Paulus wird, gerade vor dem Hintergrund, dass ihm alle Wirkmöglichkeiten offen stehen, besonders betont. Gerade als ein unabhängiger Mensch avanciert Paulus zu einem nachahmenswerten

 ὑπό τινος ist (bewusst?) doppeldeutig.  Die LXX kennt lediglich einen medialen Gebrauch (Esd 15,5 (= Neh 5,15); Eccl 8,9). In den Papyri erscheint es erst ab dem 6. christlichen Jahrhundert im Sinne eines Verfügungsrechtes über eine Person, vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 232; es wird zudem in den dort angegebenen Papyri nur aktivisch verwendet.  Vgl. Liddel-Scott-Jones, Lexicon s.v. („exercise authority“ bzw. „to be held under authority“).  Dagegen hält B. Byrne, „Sinning against One’s Own Body: Paul’s Understanding of the Sexual Relationship in 1 Corinthians 6:18,“ in: CBQ 42 (1983), 608 – 616 (614 f) dies durchaus für möglich und versteht 6,12– 20 insgesamt als Auftakt zu c.7. Dann ist die Aussage, dass Paulus von niemandem ‚beherrschtʻ wird, als ein vorausgreifender Hinweis auf seine sexuelle Selbstbeherrschung zu verstehen.  Vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 232.

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Vorbild für die Korinther, die in der Gefahr stehen, sich der πορνεία bzw. einer πόρνη, aber auch überhaupt ihren Gelüsten unterzuordnen und damit (wie das inzestuös lebende Gemeindeglied) ihre Christusverbundenheit zu lösen. Implizit klingt in 6,12bβ bereits das Motiv der Selbstbeherrschung des Paulus an, das dann in c.7 auf den Bereich des Geschlechtslebens Anwendung findet.¹¹⁹ Noch eine weitere Stelle in diesem Passus, in der ein ‚Ichʻ aufscheint, bedarf einer näheren Betrachtung, da auch hier auf eine Selbstaussage geschlossen werden kann, nämlich 1Kor 6,15. In 6,13 – 17 erfolgt eine Überlegung, in der es zu einer rivalisierenden Gegenüberstellung von Hurerei und dem Herrn sowie Hure und Christus kommt. In der Mitte dieser Gegenüberstellung steht als umkämpftes Drittes der Leib (σῶμα) der einzelnen Gläubigen. Dabei macht Paulus mit v.13 f deutlich, dass Essensfragen und Fragen des Geschlechtslebens nicht den gleichen Gesetzmäßigkeiten folgen. Während die ‚bäuchlicheʻ Existenzweise in eschatologischer Perspektive belanglos ist, spielt die leibliche (im Sinne einer sexuellen) Existenz sehr wohl eine Rolle in der Christusbeziehung. Der Leib soll ganz für den Herrn da sein wie andersherum der Herr für den Leib. Mit einer mahnenden rhetorischen Frage an die Korinther setzt Paulus in v.15a ihre Leiber (τὰ σώματα ὑμῶν) mit den Gliedern Christi (τὰ μέλη τοῦ Χριστοῦ) gleich. Daran schließt sich in v.15b die von Paulus sogleich verneinte Frage an: „Soll¹²⁰ ich, die Glieder Christi nehmend (ἄρας), sie zu Gliedern einer Hure machen (ποιήσω)?“ Wessen Ich spricht hier? Gerade weil Paulus in v.15a die Korinther in seine Überlegung vermittels der 2.P.Pl. und des Possessivpronomens einbindet, wird es schwer vorstellbar, dass das Ich in v.15b beispielhaft für einen Korinther stehen kann. Die Diskrepanz zwischen dem Singular des handelnden Subjekts (ἄρας ποιήσω) und dem Plural des Objekts (τὰ μέλη = τὰ σώματα ὑμῶν) macht dies schlechterdings unmöglich. Wenn ein Korinther hier als handelndes Subjekt erscheinen sollte, müsste ihm sprachlogischerweise nur ein ‚Glied Christiʻ korrespondieren.¹²¹ Damit scheidet aber die Möglichkeit aus, hier ein hortatives Ich im Sinne Dodds anzunehmen, demzufolge ‚ichʻ für ‚duʻ bzw. ‚ihrʻ stehen kann.  Vgl. E. Spieß, Logos spermaticós. Parallelstellen zum Neuen Testament aus den Schriften der alten Griechen, Leipzig 1871, 260 f, der 1Kor 6,12 f u. a. Xen.mem. 1,2,1; 1,6,10 zur Seite stellt.  In Fragen kann das Futur als Ausdruck des Sollens stehen, vgl. BDR § 366.  Die Gleichstellung in 6,19 – ‚euer Körper‘ (Sg.) = ‚ein Tempel des Heiligen Geistes‘ (Sg.) – lässt erkennen, dass Paulus nicht unbedingt einen Numerus-Wechsel des Substantivs vornehmen muss, wenn es das pluralische Personalpronomen eigentlich verlangen würde. Diese Möglichkeit hätte Paulus also auch in 6,15a bereitgestanden, zumal er in v.13 bereits vom Körper singularisch gesprochen hatte. Dass er sie nicht genutzt hat, sondern vielmehr bewusst die Substantive ‚Körper‘ und ‚Glieder‘ im Plural gesetzt hat, spricht für die Annahme, dass er in 6,15b zwischen handelndem Subjekt und behandelten Objekten differenzieren möchte und das handelnde Subjekt eben nicht ein beispielhafter Korinther, sondern Paulus selbst ist.

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Vielmehr ist es plausibel, dass Paulus mit dem Ich in 6,15 tatsächlich sich selbst meint.¹²² Dies bedeutet, dass Paulus hier in absurder Weise sich selbst als jemanden zeichnet, der der Gemeinde die Vereinigung mit einer Hure erlauben könnte. Das schroff zurückweisende μὴ γένοιτο („Bloß nicht!“) in v.15c, das bei ihm auch sonst bewusst absurde Gedanken gleich wieder negiert (vgl. Röm 3,3 f.5 f; 6,1 f; 7,7.13; 9,14),¹²³ weist darauf hin, dass die Idee nicht ernst gemeint sein kann.¹²⁴ Gleichwohl zeigt er sich als jemand, der durchaus das Potential zum Eingreifen hätte. Wenn Paulus aber hier selbst spricht, so wie er in den vorangehenden Stellen 5,9 – 12; 6,5 deutlich der Sprecher gewesen ist, untermauert dies die Annahme, dass er auch in 6,12 zunächst sich selbst meint. Dies schließt wie gesagt nicht die Möglichkeit aus, dass das Ich in 6,12 als Beispiel für die Korinther herangezogen werden und dessen Charakterisierung auf sie als Christusgläubige Anwendung finden kann. Insgesamt präsentiert der Passus 6,12– 20 Paulus zunächst als jemanden, der sich durch Vollmacht auszeichnet, die er jedoch nicht gebraucht. Paulus erscheint somit als Bevollmächtigter, der seine Vollmacht nicht ausnutzt. Diese Argumentationsfigur, die gleichzeitig als eine persona funktioniert, wird in den Auseinandersetzungen um das Idolenopferfleisch (c.8 – 10) erneut auftauchen,¹²⁵ dort allerdings mit der klaren Zielsetzung, ein nachahmenswertes Beispiel für den Umgang der Gemeindeglieder miteinander darzustellen. Weiterhin erscheint Paulus als jemand, der von nichts oder niemandem jemals beherrscht werde. Dies mag ein allgemeiner Vorgriff sein auf seine Darstellung in c.7 als jemand, der in sexueller Hinsicht vollkommen selbstbeherrscht ist.¹²⁶ Schließlich stellt er sich in absurder Weise als jemand dar, der den Korinthern den Umgang mit einer Hure gestatten könnte. Dass Paulus diese Erlaubnis nicht gewährt, liegt an den Gegebenheiten der Schöpfung: Da Mann und Frau nach dem Zeugnis der Schrift gemäß der Schöpfungsordnung ein Fleisch bilden (5,16: Gen  Diese Möglichkeit wird, soweit ich sehe, in den Kommentaren überhaupt nicht in Betracht gezogen. Lediglich Johannes Chrysostomos (hom. 18) scheint den Apostel dahingehend verstanden zu haben. Auch in Dodds Arbeit über das paradigmatische Ich findet sich zum Ich in 1Kor 6,15 kein Wort.  Gerade in Röm 6,1 f wird das μὴ γένοιτο auf Paulus selbst (innerhalb einer Sprechergruppe: 1.P.Pl.) bezogen.  Auch Burk, „Slogans“ 116 f geht davon aus, dass Paulus hier in absurder Weise von sich selbst spricht.  Ebenso fordert Paulus von den Korinthern bereits in 5,7 ein entsprechendes Verhalten, nämlich in Form eines Rechtsverzichts, ein.  S.u. Kapitel 8.

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2,24), verstößt der Akt der Hurerei gegen diese gottgegebene Ordnung.¹²⁷ Gleichwohl blitzt in der absurden Frage ein gewisser Autoritätsanspruch des Paulus als maßgeblicher Lehrer der Gemeinde hervor, so dass auch dieser dritte Aspekt seiner Selbstdarstellung in 6,12– 20 dazu beiträgt, dass Paulus als das Leitbild der Gemeinde erscheint bzw. erscheinen möchte.

3.2.2 Spuren des Weisen in 1Kor 6,12 – 20 3.2.2.1 Die ἐξουσία des Weisen Hans Conzelmann schreibt in seinem Kommentar zu 1Kor 6,12: „Die Sprache weist auf eine stoische Vorgeschichte. Es gibt nur stoisches und kynisches Vergleichsmaterial.“¹²⁸ Er steht damit in einer langen exegetischen Tradition.¹²⁹ Dieses Urteil ist jedoch zu engführend. Vielmehr berührt Paulus mit seiner Aussage: „Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles ist zuträglich“ und deren Wortwahl überhaupt den Bereich philosophischer Diskussion. So schreibt Aristoteles in seiner Lehre über Politik (1318B): „Von anderen nämlich abhängig zu sein, und nicht alles zu tun, was einem wohl erlaubt zu sein scheint, ist zuträglich. Denn die Erlaubnis [das Recht] zu tun, was immer einer wohl tun will, kann nicht das Schlechte in einem jeden der Menschen im Zaum halten.“¹³⁰ Aristoteles zieht damit ein Fazit zu seiner Betrachtung über die rechte Ausformung der Demokratie, demzufolge die Abhängigkeit der demokratisch legitimierten Behörden und Beamten vom Willen der Wähler nützlich sei. Der Stagirite beruft sich damit offenbar auf einen allgemein bekannten Grundsatz (wenn er ihn hier nicht gar als erster formuliert), dass die Möglichkeit, alles zu tun, letztendlich den Charakter eines Menschen verdirbt.¹³¹  Vgl. dazu Byrne, „Sinning“ 610 – 614.  Conzelmann, Brief 138.  Vgl. etwa Weiß, Korintherbrief 157– 159 mit zahlreichen Zitaten und Verweisen. Ein wesentliches Manko der Herleitung aus der Stoa sehe ich darin, dass dabei stets auf den Begriff der Freiheit (ἐλευθερία) abgehoben wird; so verfährt auch der Neue Wettstein z.St. Dieser Begriff kommt an dieser Stelle im 1Kor jedoch nicht vor. Sicherlich beschreibt Freiheit ein ähnliches Phänomen, und auch Aristoteles hat ihn für seine Überlegungen als Ausgangspunkt (vgl. pol. 1317B). Wenn es aber wörtliche Parallelen im griechischen Schrifttum gibt, sollte man m. E. diese direkt heranziehen.  τὸ γὰρ ἐπανακρέμασθαι, καὶ μὴ πᾶν ἐξεῖναι ποιεῖν ὅ τι ἂν δόξῃ, συμφέρον ἐστίν.·ἡ γὰρ ἐξουσία τοῦ πράττειν ὅ τι ἂν ἐθέλῃ τις οὐ δύναται φυλάττειν τὸ ἐν ἑκάστῳ τῶν ἀνθρώπων φαῦλον.  Aristoteles reagiert mit seiner Politeia auf den Staatsentwurf Platons. Bereits dieser behandelt in seiner Schrift das Problem der Vollmacht, mit der man alles tun könne, was man wolle, vgl. rep. 557B, und führt dazu das Beispiel eines Gerechten an, der, durch einen Zauberring selber unsichtbar und somit mit Vollmacht (ἐξουσία) ausgestattet, dennoch nichts Verbotenes tut (359C– 360D). Schon der Vorsokratiker Demokrit beschäftigte sich mit der Frage der Vollmacht und kam zu dem Schluss (DK 55.B 245): „Die Gesetze würden wohl niemanden hindern, gemäß der eigenen

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Bereits Plato hatte die rhetorische Frage gestellt, was dabei herauskommt, wenn einer die Vollmacht hat, zu tun, was er will, aber nicht weise ist.¹³² Paulus schließt sich hier also an eine wenigstens in der griechischen Philosophie bekannten und beheimateten Maxime an. Gleichwohl erinnert natürlich die Wortwahl seiner Aussage an stoische Aussagen über den Weisen, wie sie z. B. Diogenes Laertius (7,121) wiedergibt: „Allein [der Weise] sei frei […], denn Freiheit sei die Vollmacht zum eigenständigen Handeln“, bzw. (7,125): „Den Weisen gehöre alles, denn das Gesetz habe ihnen eine vollkommene Vollmacht gegeben“.¹³³ Das Gesetz meint hierbei eine naturgegebene und nicht menschengemachte Größe. Auch bei Philo findet sich diese wohl aus Anleihen beim Stoizismus gewonnene Einschätzung über den Weisen, wenn er in prob. 59 schreibt, dass der Weise aufgrund seines verständigen (φρονίμως) Handelns über die Vollmacht verfüge, alles zu tun und zu leben, wie er will (ἐξουσία πάντα δρᾶν καὶ ζῆν ὡς βούλεται). Indem Paulus auf sich und seine Vollmacht in beispielhafter Weise zeigt, greift er sowohl bekannte Vorstellungen über den (stoischen) Weisen wie auch über die verderbliche Seite von Macht auf. Dadurch, dass Paulus angibt, auf die Vollmächtigkeit im Interesse des Zuträglichen zu verzichten, drängt er etwaige Allmachtsphantasien zurück. Das Zuträgliche ist zwar an dieser Stelle nicht näher definiert (ob für sich selbst oder für andere – s.o.), es bildet nichtsdestotrotz den Maßstab, an dem sich das Handeln und die Verhaltensweise des Paulus (wie auch – in dessen Nachahmung – der Korinther) ausrichtet.

3.2.2.2 Das Zuträgliche Das Zuträgliche (τὸ συμφέρον) selbst ist ebenfalls ein in der Philosophie geläufig verwendeter Terminus, der sein Synonym im Wort τὸ λυσιτελοῦν, dann aber auch in den Wörtern ὠφέλεια und τὸ ὄφελος hat.¹³⁴ Dort bezeichnet es, ausgehend von Plato, zumeist das für alle Nützliche. Eigentlich besteht keine direkte Verbindung Erlaubnis zu leben, wenn niemand den anderen schimpflich behandelte. Denn Neid bildet den Anfang der Zwietracht.“ (οὐκ ἂν ἐκώλουν οἱ νόμοι ζῆν ἕκαστον κατ’ ἰδίην ἐξουσίην, εἰ μὴ ἕτερος ἕτερον ἐλυμαίνετο. Φθόνος γὰρ στάσιος ἀρχὴν ἀπεργάζεται.) Vgl. auch Isokr. XII,131.  Plat.Alk.1 134E: ἐξουσίαν μὲν ᾖ ποιεῖν ὃ βούλεται, νοῦν δὲ μὴ ἔχῃ.  S.a. Epikt.Diss. 2,1,23 (Freiheit als Vollmacht zu leben, wie man will); 2,16,37 (Vollmacht, sich über gesellschaftliche Regeln hinwegzusetzen); 3,24,16 (Herakles: Vollmacht, glücklich zu leben, durch Anerkenntnis Gottes als Vater). 70 (Freiheit als Befreitheit von anderer Menschen Vollmacht); 4,1 (Traktat über die Freiheit); 4,7,16 f (Freiheit durch Gott); 4,12,8 (Vollmacht über sich selbst zum Guten wie zum Bösen).  Vgl. K. Weiß, Artikel συμφέρω κτλ., in: ThWNT 9 (1973), 71– 80 (71– 75). S. etwa Epikt.Ench. 48,1.

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vom Zuträglichen zu Vorstellungen vom Weisen. Indirekt gilt dies allerdings schon, denn das Zuträgliche bzw. Nützliche als soziologische Größe tangiert an sich immer Fragen der Gerechtigkeit innerhalb einer Gemeinschaft.¹³⁵ Wie oben dargestellt wird Gerechtigkeit als ein Aspekt der Weisheit und der Weise immer auch als gerecht verstanden. So ist das Urteil des Xenophon über Sokrates (mem. 4,8,11), dass dieser gerecht gewesen ist, begründet in dessen Verhalten, niemanden zu schädigen, sondern vielmehr seine Gesprächspartner größtmöglich zu fördern (ὠφελεῖν). Gerechtigkeit bedeutet demnach also, fördernd oder förderlich zu handeln. Tatsächlich bezeichnet Xenophon Sokrates indirekt als jemanden, der die Mitbürger die zuträglichen Dinge lehren wollte.¹³⁶ Es verdient Beachtung, dass Paulus allein in der Korinther-Korrespondenz die Begrifflichkeit des Zuträglichen (συμφερ‐) verwendet.¹³⁷ Offensichtlich spielte dieses philosophisch durchaus aufgeladene Wortfeld keine Bedeutung in den anderen Gemeinden. Wenn Paulus nun in 1Kor 6,12aβ das Zuträgliche als Orientierungsmaßstab aufstellt, qualifiziert er sich in diesem Sinne als ein Gerechter und damit als ein Weiser. Dies erscheint gerade unter dem Aspekt bedeutsam, dass es in 1Kor 5 – 6 um Fragen der Gerechtigkeit innerhalb der Gemeinde und damit um das der Gemeinde Förderliche und Nützliche geht. Indem Paulus auf die Vorstellung vom förderlichen Handeln und damit auf die Gerechtigkeit hinweist, die ja als particular des Weisen bestimmt wurde, zieht er sich die rhetorische persona des Weisen über. Dass Paulus in 1Kor 6,12 als ein Gerechter und damit als ein Weiser erscheint, gilt freilich unter der Maßgabe, dass Paulus hier das dem Mitmenschen gegenüber Förderliche meint. Doch es lässt sich auch seine Selbstdarstellung als Weiser an dieser Stelle erweisen, sollte das Zuträgliche sich auf die Sorge um das persönliche Gottesverhältnis bzw. das eschatologische Heil beziehen. Xenophon schreibt über Sokrates (mem. 4,8,11), dass dieser gottesfürchtig war, so dass er nichts ohne die Meinung der Götter tat. Der Charakterzug zur Gottesfurcht findet sich auch in den anderen Weisendarstellungen. Für Plato ist das höchste Ziel ja die Angleichung an Gott (Diog.Laert. 3,78). Der Weise nach Meinung der Stoiker handelt stets ‚gerecht gegenüber den Götternʻ (vgl. Diog.Laert. 7,119). Die Ehrfurcht vor den Göttern ist auch

 Vgl. die Schlussfolgerung Sokrates’ bei Plat.Alk1 116D: τὰ δίκαια […] συμφέροντά ἐστιν („Die gerechten Dinge sind zuträglich“). Und auch Epikur stellt das Zuträgliche in einen engen Zusammenhang mit der Gerechtigkeit bzw. mit dem Gerechten/Recht (τὸ δίκαιον, vgl. Epik.R.S. 31– 38, bes. 36.37: das Recht ist etwas Zuträgliches in der menschlichen Gemeinschaft, wie umgekehrt das Zuträgliche in der wechselseitigen Gemeinschaft als Recht gilt). Da bei Epikur die Gestalt des Weisen auch immer unter dem Namen ‚der Gerechteʻ firmiert (vgl. etwa Epik.R.S. 16.17), hat der Weise als Gerechter ebenfalls und nahezu zwangsläufig mit dem Zuträglichen zu schaffen.  Xen.mem. 1,2,10: τὰ συμφέροντα διδάσκειν τοὺς πολίτας; mem. 4,1,5 lese ich als eine Art Redeeinleitung in die sokratische Lehre vom Nützlichen und Schädlichen.  Vgl. 1Kor 6,12; 7,35; 10,23.33; 12,7; 2Kor 8,10; 12,1.

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Kapitel 7: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 5 – 6

für Epikur eine Grundbedingung für den Weisen (vgl. Diog.Laert. 10,133). Unter dem Strich ist der Hinweis von Paulus auf das Zuträgliche als Maßstab für das eigene Verhalten als weiteres Indiz für seine Selbstdarstellung als ein Weiser zu werten.

3.2.2.3 Die Freiheit durch Selbstbeherrschung Schließlich kommt Paulus in 1Kor 6,12fin. darauf zu sprechen, dass er von nichts und niemandem zu beherrschen ist. Hier kommt wiederum ein Zug zum Tragen, der sich durchaus mit allgemeinen Vorstellungen über den Weisen deckt: die Freiheit. Freiheit wird von Sokrates nach der Darstellung Xenophons sehr geschätzt.¹³⁸ Nach der Darstellung Xenophons ist Freiheit allerdings nicht mit Zügellosigkeit gleichzusetzen. Vielmehr sei wahre Freiheit nur mit Selbstbeherrschung, d. h. mit der Beherrschung der eigenen Begierden, zu erreichen. Es ist also eine qualifizierte Freiheit, die Xenophons Sokrates vertritt. Ebenso wird in der Stoa die Freiheit des Weisen in Verbindung mit Selbstbeherrschung besonders stark gemacht.¹³⁹ Auch die Kyniker im Gefolge von Diogenes bzw. dessen Vorbild Herakles halten Freiheit für ein sehr hohes Gut.¹⁴⁰ Für Plato wiederum ist die Besonnenheit als Teil der vollkommenen Tugend, die der Weise anstrebt, für die Beherrschung der Begierden zuständig, damit man von keiner Lust versklavt werde.¹⁴¹ Selbstbeherrschung muss aber auch der Epikureer aufbringen, wenn es um das Herauszögern des Genusses im Interesse des höchsten Lustempfindens geht.¹⁴² Freiheit und Selbstbeherrschung gehen also im Lebensstil des hellenistischen Weisen durchaus Hand in Hand.

 Vgl. Xen.mem. 4,5,1 ff.  Vgl. Diog.Laert. 7,33; 121 f. Überhaupt wurde die Freiheit ja zum beherrschenden Thema in der Stoa (mündlicher Hinweis R. Feldmeier). In Epikt.Ench. 14 wird der stoische Konnex von Macht und Freiheit deutlich gemacht: Herr über einen ist derjenige, der Macht (ἐξουσία) hat,Wünsche zu erfüllen oder zu verweigern; Freiheit besteht dann aber nicht darin, selber solche Macht zu erringen, sondern sich vielmehr gar nicht auf die Machthaber einzulassen, um nicht abhängig von ihnen zu werden. Oder wie es in Epikt.Diss. 4,1,175 heißt: Freiheit erlangt man nicht durch Befriedigung der eigenen Begierden, sondern durch deren Aufhebung. Überhaupt bietet Epikt.Diss. 4,1 eine intensive Behandlung des Freiheitsthemas,vgl. dazu insgesamt Epiktet, Was ist wahre Freiheit? Diatribe VI 1. Eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von Samuel Vollenweider, Manuel Baumbach, Eva Ebel, Maximilian Forschner und Thomas Schmeller (SAPERE 22), Tübingen 2013.  Vgl. Diog.Laert. 6,71. Allerdings bedeutete Freiheit für Diogenes selbst tatsächlich die Freiheit, alles zu tun, was man will, und so lebte er in einer äußerst nonkonformistischen Weise (6,69).  Vgl. Diog.Laert. 3,91.  Vgl. Diog.Laert. 10,131 f und Epikur, SV 77: „Der Selbstgenügsamkeit größte Frucht [ist] Freiheit“ (τῆς αὐταρκείας καρπὸς μέγιστος ἐλευθερία).

4 Fazit

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Ein ähnlicher Gedanke scheint bei Paulus angelegt zu sein. Wenn man die Aussage in 1Kor 6,12fin. sowohl im Zusammenhang mit dem Peristasenkatalog 4,11– 13 und der Selbstdarstellung in c.7 liest, wird deutlich, dass Paulus wie der xenophonische Sokrates, aber überhaupt wie der hellenistische Weise, äußerst selbstbeherrscht ist. Diese Selbstbeherrschung bewirkt gleichermaßen Freiheit – in Paulus’ Fall Freiheit für den Nächsten sowie Freiheit für Gott.

4 Fazit In 1Kor 5 – 6 schildert Paulus sich selbst als einen Richter bezüglich eines gemeindeinternen Vorfalls. Der gesamte Passus ist dabei in einem tadelnden Tonfall gehalten, so dass Paulus gegenüber den Korinthern in einer autoritativen Position erscheint. Dies ist eine Wirkung der von ihm in c.1– 4 eingenommenen Rolle als Vater der Gemeinde. Die (Selbst‐)Beauftragung zum Richten erfolgt aus dem Anspruch der Notwendigkeit, da die Korinther Paulus zufolge nicht in der Lage sind, selbst zu richten. Dies liege an ihrer mangelnden Weisheit. Indem Paulus sich zum Not-Richter erhebt, bescheinigt er sich selbst indirekt Weisheit. Die Vorstellung von der Weisheit eines Richters ist dabei im gesamten Hellenismus sowie im Judentum verbreitet. Neben der Rolle als weiser Richter weist Paulus auf sein Recht hin, alles zu tun. Obschon das Wort in 6,12 zu einer Parole der Korinther geworden sein mag, hat es doch seinen Ursprung beim Apostel selbst, so dass hier (wie dann auch in 6,15) das paulinische Ich als Sprecher angenommen werden kann. Das Recht zu haben, alles zu tun, ist ein allgemein-philosophischer Topos, der besonders in der Stoa in Bezug auf die Gestalt des Weisen erscheint. Als Maßstab für das rechte Verhalten angesichts des eigenen Privilegs nennt Paulus mit dem Zuträglichen wiederum einen allgemein-philosophischen Topos. Zudem steht die Vorstellung eines Rechts auf alles in enger Verbindung zu den Gedanken der Freiheit und der Selbstbeherrschung, die sich in der gesamten hellenistischen Philosophie wiederfinden. In 1Kor 7 wird dieser letzte Punkt von Paulus im Hinblick auf sich selbst noch weiter entfaltet. Gleichwohl erfahren diese philosophischen Ansichten ihre Einschränkung angesichts der tiefen körperlich-geistigen Verbundenheit der Christusgläubigen mit ihrem Herrn. Insgesamt gesehen stellt sich Paulus in 1Kor 5 – 6 wie bereits in den ersten vier Kapiteln des Briefes als ein Weiser dar, ohne selbst den Titel Weiser für sich zu beanspruchen, ganz wie es dem griechischen Anstandsempfinden entspricht. Durch seine Ich-Botschaften gestaltet er sich als Vorbild und ruft – gleichsam durch seine rhetorische persona hindurch – die Gemeinde beständig zur Nach-

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Kapitel 7: Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 5 – 6

ahmung seiner selbst auf. Erneut erscheint Paulus in 1Kor somit als beispielsweise.

Kapitel 8 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 7 1 Einleitung Dass das Thema der Sexualität nicht allein beim Fall des inzestuös lebenden Gemeindeglieds zum Tragen kam, sondern auch sonst die Korinther sehr beschäftigte, zeigen die vielen verschiedenen Aspekte und Lebensformen des menschlichen Geschlechtslebens, die Paulus in 1Kor 7 behandelt.¹ Der Antrieb zur Beschäftigung mit diesen Fragen beruht allerdings wohl nicht auf einem asketischen Streben der Korinther. Vielmehr wird die Frage nach dem Zusammenhang von dem allgemein zwischenmenschlichen Verhalten der Korinther und ihrem neuen Christusglauben von selbst aufgekommen sein.² Nicht zu vergessen ist Paulus selbst, der, als er bei Gründung der Gemeinde in Korinth persönlich anwesend war, ein bestimmtes Verhalten vorgelebt haben wird, wie er es auch in seinem ersten Brief an die Gemeinde (‚0Korʻ, vgl. 1Kor 5,9) angezeigt hatte.

2 Aufbau und genus-Merkmale von 1Kor 7 1Kor 7 ist der erste Abschnitt, in dem Paulus Fragen der Korinther beantwortet (7,1: περὶ δὲ ὧν ἐγράψατε/„worüber ihr aber geschrieben habt“). Die Textabgrenzung für c.7 ist deutlich durch die ähnlichen Einleitungen in 7,1 und 8,1, die jeweils neue Themen markieren, wie ebenfalls durch die jeweils einheitliche Thematik der c.7 bzw. c.8 – 10. Dass c.7 nicht bloß eine thematische Fortführung von 6,12– 20 ist, wo es ebenfalls um Fragen der Sexualität geht, macht eben der Neueinsatz 7,1 klar, der auf die andere Ausgangslage der schriftlichen Anfrage aus Korinth verweist: Musste Paulus in c.5 und 6 den Korinthern aufgrund von Hörensagen (5,1:  Dass das Thema für die Korinther virulent war, zeigt sich daran, dass es wohl sie selbst gewesen sind, die in ihrem Fragebrief sämtliche von Paulus behandelten Personengruppen aufgelistet hatten.  Vgl. Schüssler-Fiorenza, „Situation“ 397 f, die allerdings den Anlass zu all diesen Fragen allein in der (als vorpaulinisch verstandenen) Formel Gal 3,28 sieht, gegen deren revolutionäres Potential Paulus im 1Kor vorgehe. Das erscheint mir zu eng. Zudem: Von dieser Aussage als Formel wissen wir nur, weil Paulus selbst sie in Gal (und verkürzt ohne Hinweis auf die Geschlechter in 1Kor 12,13) verwendet; sie geht nicht notwendigerweise auf eine vorpaulinische Tradition zurück, sondern stammt wohl von ihm selbst, vgl. Wolff, Brief 299. Damit zeigt sich Paulus aber selbst als jemand, der den Samen zu einer sozialen Revolution (im Kleinen) nicht bloß in der korinthischen, sondern in allen seinen Gemeinden gelegt hat. DOI 10.1515/9783110498769-011

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Kapitel 8 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 7

ἀκούεται/„man hört“) noch Vorhaltungen machen, geht er nun auf ein Schreiben der Gemeinde ein.³ Man kann das Kapitel nach den jeweils behandelten Persongruppen thematisch unterteilen in v.1– 7 Enthaltsamkeit generell; 8 – 9 Unverheiratete; 10 – 11 Verheiratete; 12– 16 Christgläubige mit andersgläubigen Partnern; 17– 24 Juden und Heiden, Sklaven und Freie (Status); 25 – 38 Jungfrauen⁴; 39 – 40 Witwen.⁵ In rhetorischer Hinsicht ist der symbuleutische Charakter des gesamten Kapitels unverkennbar: Paulus berät die Korinther in Fragen des geschlechtlichen Lebens.⁶ Der beratende Tonfall, der äußerst versöhnlich und beinahe partnerschaftlich wirkt, wird auch deutlich an den Worten, die der Apostel für seine Ausführungen wählt: neutrales λέγω („ich sage“, 7,6.8.12); konzedierendes κατὰ συγγνώμην οὐ κατ’ ἐπιταγήν („aus Nachsicht, nicht als Anordnung“, v.6) und λέγω ἐγὼ οὐχ ὁ κύριος („ich sage, nicht der Herr“, v.12); bescheidenes γνώμην δίδομι („ich gebe [meine] Meinung“, v.25), νομίζω („ich denke“, v.26), κατὰ τὴν ἐμὴν γνώμην („meiner eigenen Meinung nach“, v.40) und δοκῶ („ich meine“, v.40); freundschaftliches ὑμῶν φείδομαι („ich schone euch“, v.28) und θέλω ὑμᾶς ἀμερίμνους εἶναι („ich will, dass ihr unbekümmert seid“, v.32). Lediglich das heroldartige παραγγέλλω, οὐκ ἐγὼ ἀλλὰ ὁ κύριος („ich weise an, nicht ich, son Mitchell, Paul 228 – 237 sieht 1Kor 7 als abschließenden Teil der Diskussion über πορνεία und Gruppensolidarität, die mit c.5 begann. Sicherlich stehen sich c.5 f und c.7 auf den ersten Blick thematisch nahe, insofern es um Sexualität im weitesten Sinne geht; inhaltlich rücken sie dann aber doch weit auseinander, zumal 6,1– 11 mit Gerichtsverhandlungen ein ganz anderes Thema behandelt.  Möglich ist auch die Deutung von παρθένοι auf „verlobte Mädchen“, vgl. J. K. Elliott, „Paul’s Teaching on Marriage in I Corinthians: Some Problems Considered,“ in: NTS 19 (1973), 219 – 225 (220 f); dagegen D. Zeller, Der Vorrang der Ehelosigkeit in 1 Kor 7, in: ZNW 96 (2005), 61– 77 (66 – 68). Dass es m. E. keine asketischen Bestrebungen in Korinth gegeben hat und dennoch die Frage nach dem Umgang mit Jungfrauen (1Kor 7,25) bestand, ist kein Widerspruch in sich. Weibliche Jungfräulichkeit stellte ein hohes Gut in einer Gesellschaft dar, die sowohl patriarchalisch bestimmt als auch von einem festen Kodex über Ehre und Schande/Scham durchdrungen war; vgl. dazu Malina, Welt 40 – 64, bes. 60 – 63. Der Clou in Paulus’ Argumentation besteht darin, dass er auch den Frauen eine selbstbestimmte Sexualität zugesteht (7,3 f) und gleichermaßen das Ideal der Jungfräulichkeit auf die Männer ausdehnt (7,26 f).  Wohl wegen der Einleitungsformel περὶ δέ in v.1 und v.25 nimmt Zeller, Brief 234 f eine Zweiteilung des Kapitels an; ebenso Schrage, Brief II 50 f.  Quintilian nennt die Frage, ob ein Mann sich eine Ehefrau nehmen solle („ducendane uxor“), als geläufiges Thema für die Beratungsrede (inst. 2,4,25). In inst. 3,5,8 benennt er die gleiche Frage („an uxor ducenda“) als Beispiel für eine ‚unbegrenzte Frageʻ, also eine generelle Erwägung. Bezogen auf eine bestimmte Situation aber würde sie ‚begrenztʻ und damit geeignet für eine Übung der Beratungsrede. Gerade das geschieht ja in 1Kor 7: Indem Paulus in Bezug auf sein eigenes Lebensbeispiel sich mit dem Thema, ob ein Mann mit einer Frau sexuell verkehren soll, auseinandersetzt, wird es zum Ausgangspunkt einer konkreten Beratung der Korinther.

3 Einzelzüge von 1Kor 7

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dern der Herr“, v.10) wie auch das befehlende διατάσσομαι („ich ordne an“, v.17) fallen dahingehend aus dem Rahmen. Jedoch nimmt sich Paulus beim ersten selbst zurück, indem er sogleich auf den Herrn verweist. Beim zweiten liegt der Fall ähnlich, insofern bereits im Vordersatz v.17a der Herr und Gott als eigentlich anordnende Instanzen benannt sind; Paulus ist damit in seinem Anordnen lediglich Sprachrohr und Ausführungsorgan einer höheren Instanz. Insgesamt also stehen die Beratung und damit das symbuleutische rhetorische genus im Vordergrund dieses Abschnitts.⁷

3 Einzelzüge von 1Kor 7 3.1 1Kor 7,1 – 7 Im ersten Abschnitt 7,1– 7 geht es um die grundlegende Frage nach sexueller Enthaltsamkeit.⁸ Paulus bezieht sich dabei auf einen Brief, den die Korinther ihm zugesandt hatten (7,1a). Nun besteht in der Forschung die Debatte, ob der Fragebrief, auf den der 1Kor eingeht, selbst die Ansicht der Korinther enthielt, dass männliche heterosexuelle Enthaltsamkeit ‚etwas Gutesʻ (καλόν)⁹ sei (7,1b),¹⁰ oder

 Schrage, Brief II 52 warnt allerdings zurecht davor, die Ratschläge des Apostels als letztlich verhandelbar anzusehen, bloß weil in c.7 das symbuleutische Genus vorherrscht.  Der Terminus ἅπτεσθαι γυναικός ist ein (aus männlicher Perspektive formulierter) geläufiger Euphemismus für Geschlechtsverkehr, vgl. dazu Fee, Corinthians 204– 206 mit paganen und jüdischen Belegen. Da in 7,1 (anders als in 7,2– 4) Artikel vor den Nomina fehlen, geht es um eine generelle Aussage über die männliche Sexualität. Auch das unreflektiert gebrauchte ἄνθρωπος als ‚Mannʻ (statt wörtlich ‚Menschʻ) deutet auf eine unkonkrete Verwendungsweise wie im deutschen ‚manʻ und damit auf eine generelle Aussage hin.  Die Stellung von καλόν am (Halb‐)Satzbeginn (wie v.8b) weist daraufhin, dass auf ihm die inhaltliche Betonung liegt, vgl. Bachmann, Brief 257. Bachmann geht allerdings noch davon aus, dass es in 1Kor 7,1– 7 um die Frage der Ehelosigkeit geht. Seine Folgerung über die Gewichtung von Gegensätzen erscheint aber richtig. Insofern gilt sie unter neuer inhaltlicher Anpassung: ‚Nicht, dass sexuelle Enthaltsamkeit etwas Gutes, sexuelle Nicht-Enthaltsamkeit dagegen etwas Schlimmes sei, sondern dass sexuelle Enthaltsamkeit etwas Gutes und nicht etwas Schlimmes sei, dieses Urteil stellt Paulus an die Spitze.ʻ – Die Kritik an Bachmann bei Conzelmann, Brief 147 Anm. 14 („Damit ist Paulus auf die Linie des mild kulturfreudigen Luthertums gebracht.“) sticht nicht, da Conzelmann seinerseits von einem komparativischen Sinn des καλόν ausgeht (ebd. Anm. 13), der sich nicht erheben lässt. Paulus weiß, was ein Komparativ ist (7,9.38.40), und in 7,1 gebraucht er ihn nicht.  Vgl.W. Schrage, „Zur Frontstellung der paulinischen Ehebewertung in 1 Kor 7 1– 7,“ in: ZNW 67 (1976), 214– 234 (214– 216); Wolff, Brief 134.

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Kapitel 8 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 7

lediglich die Frage, ob sie etwas Gutes sei,¹¹ oder ob Paulus hier seine eigene, abwertende Meinung gegenüber dem sexuellen Umgang mit Frauen zugute gibt.¹² Da Paulus in v.2– 4 abweichend zu v.1 nicht von ἀνθρώπος (‚Menschʻ i. S. v. ‚Mannʻ), sondern von ἀνήρ (‚Mannʻ i. S.v. ‚Ehemannʻ) spricht, über die bestimmten Artikel und Possessivpronomen die Frage auf die Ehe zuspitzt und zudem die weibliche Perspektive mit ins Spiel bringt, ist es wahrscheinlich, dass v.1b auf eine korinthische Formulierung zurückgeht und zunächst nicht die Meinung des Apostels per se darstellt.¹³ Weiterhin erscheint die Annahme schwierig, dass in Korinth die Ansicht ‚Enthaltsamkeit ist etwas Gutesʻ selbst formuliert worden ist. Gerade angesichts des vorhergehenden besprochenen Falls von Inzest, der ja von der Gemeinde geduldet wurde, und der weiteren Erörterungen zu Fragen der Sexualität in c.5 und 6, u. a. der Verkehr mit Prostituierten, kann das als ausgeschlossen gelten.¹⁴ Vielmehr wird 7,1b tatsächlich als Frage an den Apostel ergangen sein – auch vor dem Hintergrund, dass Paulus in seinem Vorbrief (‚0Korʻ) warnend geschrieben hatte, nicht mit Hurern zu verkehren (1Kor 5,9), was den Korinthern offenbar noch zu unklar formuliert gewesen war (5,10 f) und weitere Fragen provozierte. Paulus zeichnet die sexuelle Enthaltsamkeit an sich positiv, schränkt aber ein, dass es wegen der Hurerei die Einrichtung der monogamen Ehe gibt (7,2). Dass πορνεία hier faktisch ‚Hurereiʻ und nicht allgemein sexuelle Unmoral meint, geht

 Vgl. Conzelmann, Brief 146.  Vgl. Bachmann, Brief 256; Fascher, Brief 180; Dodd, ‚I‘ 90 – 94; Zeller, Brief 237.  Zeller, Brief 237 sieht in 1Kor 7,1 eine Überschneidung der Meinung des Paulus und der (aus männlicher Perspektive formulierten) Frage aus Korinth vorliegen. Dies erscheint mir auch gut möglich zu sein, obwohl ich Zeller bei seiner Bewertung, dass v.1 kein Zitat aus dem Brief der Korinther sei, nicht folge.  Die Überlegung, dass es in der korinthischen Gemeinde sowohl Libertinisten als auch Asketen nebeneinander gegeben hat, deren Überzeugungen sich aus einem übersteigerten Spiritualismus als derselben Wurzel speisten, vgl. etwa Schrage, Brief II 54– 56 (im Gefolge von W. Lütgert, Freiheitspredigt und Schwarmgeister in Korinth. Ein Beitrag zur Charakteristik der Christuspartei (BFChTh 12/3), Gütersloh 1908, 126 – 128), erscheint doch als Schreibtischkonstrukt. Lebenspraktisch ist dies kaum. Eine derart konstruierte Gemeinde wäre in ihrer Einheit nicht bloß gefährdet, sondern aufgrund einer mangelnden Basis an ethischen Grundüberzeugungen schon längst völlig zerrissen. Klauck, Korintherbrief 52, der ebenfalls für die Lütgert’sche These eintritt, gibt gleichwohl zu: „Man kann fragen, wieso die gleichen Korinther, die für die sittlichen Skandale in Kap. 5 – 6 verantwortlich zeichnen, auf einmal diese streng asketische Ausrichtung an den Tag legen“. Diese Frage bleibt berechtigt, und es erscheint wenig realistisch anzunehmen, krasse Libertinisten und radikale Asketen hätten in einer Gemeinde von maximal 200 Mitgliedern (vgl. Klauck, a.a.O. 10) zusammengelebt, ohne sich zu trennen. Paulus selbst liefert das beste Argument gegen die Annahme von Asketen in der Gemeinde, insofern er den Korinthern insgesamt und undifferenziert sexuelle Unbeherrschtheit unterstellt (1Kor 7,5).

3 Einzelzüge von 1Kor 7

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aus dem Plural hervor, der im Koine-Griechisch bei Abstrakta konkrete Erscheinungsformen bezeichnet.¹⁵ In der Ehe soll es gemäß Paulus zu einer geregelten sexuellen Triebbefriedigung kommen. Ehemänner wie Ehefrauen seien dabei untereinander gleichberechtigt (7,3 f). Nur für miteinander abgesprochene Zeitabschnitte (ἐκ συμφώνου πρὸς καιρόν) solle es in der Ehe geschlechtliche Enthaltsamkeit geben, die die Eheleute für das Gebet nutzen mögen. Danach sei es aber für die Korinther wegen der Versuchungen des Satans nötig, wieder zusammenzukommen (v.5). Als Begründung dafür gibt Paulus an, die Korinther seien eben in sexueller Hinsicht unbeherrscht (v.5b: διὰ τὴν ἀκρασίαν ὑμῶν).¹⁶ Die Ehe ist Paulus zufolge damit der einzige Raum, in dem die sexuelle Unbeherrschtheit gestattet ist. Der folgende v.6 zeigt den Apostel sehr konzessiv: „aus Nachsicht“ (κατὰ συγγνώμην) und nicht „als Anordnung“ (κατὰ ἐπιταγήν) sage er dies (τοῦτο). Oft wird in der Exegese das ‚diesʻ auf den vorangehenden Passus bezogen¹⁷ und dann noch weiter differenziert, auf welche Teile darin genau.¹⁸ Paulus verwendet τοῦτο allerdings oft auch als Ankündigung auf das nachfolgende (z. B. 1Kor 7,26.29.35¹⁹.37; 15,50; 2Kor 2,1; 10,11; 13,9; Gal 3,2.17; 1Thess 4,3).²⁰ Grammatikalisch bezieht sich τοῦτο in Verbindung mit einem Verb des Sagens auf den beigeord-

 Vgl. BDR § 142. Wolff, Brief 134 f spricht merkwürdigerweise zugleich von „den vielfältigen Formen der Unzucht“ und „des von der Tora verbotenen außerehelichen Geschlechtsverkehrs“.  Wolff, Brief 137: „ ἀκρασία bezeichnet als Gegenbegriff zu ἐγκράτεια […] das Verlangen nach Befriedigung des sexuellen Triebes“ unter Verweis auf Grundmann, „ἐγκράτεια“ 338.  Im Gegensatz zu ὅδε, das auf Folgende hinweist, bezieht sich οὗτος im klassischen Griechisch gemeinhin auf schon Erwähntes, vgl. Menge/Thierfelder/Wiesner, Repetitorium 162. Allerdings ist der Sprachgebrauch in der Koine und somit der des NT und bei Paulus ein anderer (s. sogleich); ὅδε findet sich im NT selten, bei Paulus gar nicht.  Vgl. Bachmann, Brief 262 (Bezug auf v.2); Wolff, Brief 137 (Bezug auf v.5b); Zeller, „Vorrang“ 64 (Bezug auf v.2– 5), ebenso Conzelmann, Brief 149, Fascher, Brief 182; Schrage, „Frontstellung“ 232 f (Bezug auf die „zeitweilige Enthaltung vom ehelichen Geschlechtsverkehr“, 233), ebenso Fitzmeyer, Corinthians 281.  Sogar 1Kor 7,35 ist, obwohl selbst Winter, Paul 235 f diesen Fall ausschließt, auf die nachfolgende Bestimmung zu beziehen und nicht auf v.32– 34 (gegen Bachmann, Brief 290 f; Fascher, Brief 198; Wolff, Brief 160).Was wird denn in v.32– 34 gesagt, das den Korinthern ‚zuträglichʻ wäre? Zuträglich ist doch vielmehr der Rat in v.36 f. Verdeutlicht nicht darüber hinaus und neben dem vorausweisenden τοῦτο die Angabe πρὸς τὸ εὔσχημον (v.35) den Bezug auf das nachfolgende ἀσχημονεῖν (v.36), wie ebenso εὐπάρεδρον (v.35) auf ἑδραῖος (v.37)? Gleichwohl gehören v.32– 34 mit zur Argumentation und zur Schlussfolgerung v.38.  Vgl. BDR § 290; Mayser, Grammatik II/1 75; Winter, Paul 233 – 240 (Exkurs zu 1Kor 7,6). Winter macht deutlich, dass ein Rückbezug von v.6 auf v.2– 5 insgesamt auch deswegen grammatikalisch unwahrscheinlich ist, da Paulus hier (anders als in 4,14; 9,8.15) nicht den Plural ταῦτα, sondern eben den Singular verwendet, um auf nur einen Sachverhalt zu verweisen (a.a.O. 238).

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Kapitel 8 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 7

neten Nebensatz, der den Inhalt der indirekten Rede wiedergibt.²¹ Die Stellung von τοῦτο zum Satzbeginn deutet nicht die Nähe zum zuvor Gesagten an, sondern dient, wie im Griechischen üblich, der allgemeinen Hervorhebung und Betonung.²² Von daher ist v.6 wohl auf v.7 zu beziehen und deutet darauf hin, was der Apostel nicht als Anordnung, sondern aus Nachsicht verstanden wissen will: „Ich will aber, dass alle Menschen (so) sind wie auch ich selbst“ (v.7a: θέλω δὲ πάντας ἀνθρώπους εἶναι ὡς καὶ ἐμαυτόν).²³ Formal handelt es sich bei 7,7a um einen (erfüllbaren) Wunschsatz,²⁴ der im Kontext zu einem allgemeinen Aufruf an die Menschen²⁵ in Korinth wird: ‚Werdet so, wie ich selbst es auch bin.ʻ Was meint nun aber das ‚wie ich selbst es auch binʻ? Eine oberflächliche Exegese, die zudem vorschnell Anspielungen aus anderen Briefen oder Teilen des 1Kor heranzieht, kann so leicht zu dem Schluss kommen,

 Winter, Paul 234: „[T]he neuter demonstrative pronoun ‚this‘, when used with the verbs of saying […] refers to the subordinate clause introduced by ‚that‘ (ὅτι) or an implied ‚that‘ […].“ Ein die indirekte Rede einleitendes ὅτι kann bei Paulus auch wegfallen (1Kor 7,29; Gal 3,17). – Was Winter in seinen Überlegungen nicht weiter beachtet, ist, dass das Vorausweisen von τοῦτο durch ein beigefügtes δέ verstärkt, wenn nicht gar überhaupt erst ermöglicht wird. Hier macht sich der Ersatz von klassischem ὅδε bzw. ὁ δὲ durch οὗτος δὲ in der Koine bemerkbar, vgl. Mayser, Grammatik II/1 58.75. Allerdings gibt es das vorausverweisende τοῦτο δὲ bei Verben des Sagens durchaus bereits in klassischen Texten, z. B. Hom.Od. 7,243; 15,402; Hom.Il. 3,177.  Vgl. Steyer, Satzlehre 124.Winter, Paul 243: τοῦτο’s „place in the sentence gives a clue as to the importance of the forward referent.“  Auch Johannes Chrysostomos, hom in 1Cor 19,3 versteht beide Verse aufeinander bezogen. Die Partikel δέ ist dabei nicht adversativ zu nehmen, sondern weiterführend bzw. kopulativ, vgl. Menge/Thierfelder/Wiesner, Repetitorium 276 f. Diesen Sinn stellt dann die alternative (sekundäre) Lesart von u. a. ‫א‬2, B, D1, K, L und des Mehrheitstextes mit γάρ (‚nämlich‘) als Ersatz für δέ sicher. Es handelt sich dabei nicht um eine „verfehlte Exegese“, wie Schrage, Brief II 72 Anm. 116 meint, sondern schlicht um griechisches Sprachgefühl. Ähnlich liegt der Fall in Röm 16,19; 1Kor 7,32; 14,5, wo Paulus mit θέλω δὲ (und folgendem AcI) sicherlich keinen Gegensatz zum Vorangehenden herstellen will. Winter, Paul 237 schlägt eine Übersetzung des δέ in 1Kor 7,7 mit ‚ratherʻ (= ‚vielmehrʻ) vor; Zeller, Brief 236 bietet ‚freilichʻ. Überhaupt sei daran erinnert, dass δέ oft nicht zu übersetzen ist.  Vgl. Barrett, Brief 188 f: Für einen unerfüllbaren Wunsch verwendet Paulus das Imperfekt. Eine Parallele dazu bietet 7,32a. Dodd, ‚I‘ 94 schränkt die Stärke dieser Aufforderung ein, da θέλω Paulus’ „least forceful exhortation“ sei. Gerade der Verzicht auf apostolische Autorität passt m. E. doch sehr gut zum ausgleichenden Charakter der Gesamtargumentation in c.7.  Man könnte auch fragen, ob Paulus hier nicht bloß die Männer im Blick hat; schließlich gebraucht bzw. zitiert er in 7,1.26 f ebenfalls ἄνθρωπος im Gegensatz zur Frau. Allerdings ist v.1b wohl ein Zitat der Korinther (s.o.), demgegenüber Paulus in v.2– 4 sich ja schon differenzierter ausdrückte. Ebenso kann er in v.26 auf das Schreiben der Korinther und ihre Redeweise eingehen (v.25: neues Thema; v.26b wie v.1b gestaltet, wohl ebenso ein Zitat im Hintergrund).

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Paulus meine hier seine eigene Ehelosigkeit.²⁶ Sicherlich ist im Gesamtduktus von c.7 die Ehelosigkeit die präferierte Lebensweise nach Meinung des Apostels (7,32– 34.38.40a). In 7,5 – 7 geht es aber nicht darum. Inhaltlich wird zunächst in dem indirekten Aufruf v.7 die Selbstbeherrschung des Paulus konstatiert.²⁷ Dies resultiert zum einen aus der Gegenüberstellung des Apostels zu den sexuell unbeherrschten Korinthern: Den in v.5 angesprochenen Korinthern und ihrer Unbeherrschtheit stellt Paulus nun in v.6 f sich selbst gegenüber. Anders als sie wisse Paulus sich zu beherrschen. Dies sagt er zwar nicht explizit; das Gegenteil von Unbeherrschtheit (ἀκρασία) ist aber eindeutig die Selbstbeherrschung (ἐγκράτεια), wie dann im weiteren Verlauf aus v.9 deutlich wird, wo vom ἐγκρατεύεσθαι („sich beherrschen“) die Rede ist. Dass Paulus in v.7 auf die eigene Selbstbeherrschung anspielt, wird deutlich aus v.7b, worin er auf die jeweilige Gabe Gottes bei jedem einzelnen Menschen zu sprechen kommt (χάρισμα ἐκ θεοῦ). Die Vorstellung der Selbstbeherrschung (ἐγκράτεια) als einer von Gott geschenkten Gabe begegnet (vor Paulus oder sogar etwa zeitgleich) im jüdischen Bereich u. a. in SapSal 8,21, wo es im Rahmen einer fiktiven autobiographischen Erzählung des weisen Königs Salomo heißt: „Nicht anders werde ich selbstbeherrscht sein, außer Gott gibt es – und dies gehörte aber der Verständigkeit, [nämlich] zu wissen, wessen die Gnade(ngabe) war“ (οὐκ ἄλλως ἔσομαι ἐγκρατής, ἐάν μὴ ὁ θεὸς δῷ – καὶ τοῦτο δ’ ἦν φρονήσεως τὸ εἰδέναι τίνος ἡ χάρις).²⁸ Die Vorstellung einer göttlichen Begabung mit Selbstbeherrschung ist in der näheren religionsgeschichtlichen Umgebung also durchaus geläufig.²⁹

 Vgl. Fascher, Brief 181 f; Klauck, Korintherbrief 53. Beide sprechen irrigerweise vom „Charisma der Ehelosigkeit“, ebenso Schrage, Frontstellung 233 f, als ob der unverheiratete Familienstand selbst ein Charisma sein könnte. Zeller, „Vorrang“ 65 macht auf die Aporien aufmerksam, die sich nach v.7b durch eine Gleichgewichtung von Ehe und Ehelosigkeit als Charismen ergeben, zieht allerdings nicht den notwendigen Schluss, dass Paulus hier weder Ehe noch Ehelosigkeit, sondern vielmehr der Selbstbeherrschung den Rang eines göttlichen Charisma zuspricht (s. sogleich).  Vgl. D. Trobisch, War Paulus verheiratet? Und andere offene Fragen der Paulusexegese, Gütersloh 2011, 96 f. Ebenso versteht bereits Johannes Chrysostomos, hom. in 1Cor. 19,3 hier die Selbstbeherrschung des Paulus als Thema, nicht dessen Ehelosigkeit.  S.o. Kapitel 3, 2.3.3. Dort überlegte ich, ob man nicht vielleicht auch in Analogie zu SapSal 9,4 bei δῷ in 8,21 ein σοφίαν ergänzend denken könnte. Dann wäre die Weisheit die Gabe Gottes an Pseudo-Salomo, sorgte allerdings gleichermaßen für die erstrebte Selbstbeherrschung. Aber auch das nimmt nichts weg vom sexuell-moralischen Akzent in 8,19 – 21a. Tatsächlich würde dies die These meiner Arbeit, dass Paulus sich als ein Weiser darstellt, noch untermauern, insofern dann erst die Weisheit Selbstbeherrschung ermöglicht und Paulus im Rahmen dieser Vorstellung als selbstbeherrschter Mensch auf seinen Weisheitsempfang und damit auf seinen Stand als ein Weiser hinweist. – SapSal 8,21 ist übrigens ein weiteres Beispiel für ein vorausweisendes τοῦτο δὲ.  Neben SapSal kennt auch der Aristeasbrief den Gedanken, dass Gott Tugenden verleiht und deren Einsatz lenkt (z. B. ep.Ar. 237 f.278). Dass in 1Kor 7,7 im Gegensatz zu SapSal 8,21 von χάρισμα

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Seine eigene Besonderheit relativiert Paulus sogleich wieder, indem er einem jeden (Christusgläubigen) ein Charisma Gottes zuspricht (v.7b), ohne allerdings zu qualifizieren, worin die Gottesgaben des anderen bestünden:³⁰ Dem einen sei halt die eine Gabe gegeben, dem anderen eine andere. Für die Selbstdarstellung des Apostels wichtig bleibt hier zu notieren: Paulus verfügt über (sexuelle) Selbstbeherrschung, und diese ist eine Gnadengabe Gottes, von der er wünscht, dass sie ausstrahlt zur Nachahmung für andere, obschon er darum weiß, dass nicht allen diese besondere Gnade gegeben ist. Die folgenden Ausführungen des Apostels sind eben von dieser Doppelstruktur bestimmt, die zum einen in der besonderen Begabung des Apostels und zum anderen in seinem Wissen um die Nicht-Begabung der Gemeindeglieder (oder wenigstens einiger von ihnen) besteht. Hier von vornherein von ‚Stärkeʻ des Apostels und ‚Schwächeʻ der Gemeinde zu sprechen, erscheint mir zu wertend. Paulus vermeidet ja gerade solch eine wertende Sprache. Ihm geht es nicht darum, die sexuell aktiven Korinther abzuwerten, gleichwohl er dem Unverheiratetsein den Vorzug gibt (v.38.40), sondern ihrer Sexualität im Rahmen der gesellschaftlichen Gegebenheiten einen Ort zuzuweisen. Daher schreibt er ja auch derart konzedierend und nachsichtig an die Korinther. So neutral und verständnisvoll, wie die Einleitung von v.6 („ich sage“) als Anrede an alle Korinther gestaltet ist, gibt sich ebenso die Ansprache an die einzelnen Gruppen der Gemeinde (v.8.10.12).³¹ Als Ort, ja als Schutzraum für die sexuelle Unbeherrschtheit sieht

statt von χάρις die Rede ist, untergräbt das Argument für denselben religionsgeschichtlichen Hintergrund nicht. Beide Begriffe erscheinen bei Paulus auch sonst aufs Engste miteinander verbunden, vgl. H. Conzelmann, „χάρισμα,“ in: ThWNT 9 (1973), 393 – 397 (394– 396). Bultmann, Theologie 326 spricht mit Recht davon, dass sich die göttliche χάρις in einzelnen konkreten χαρίσματα individualisiert. Zudem können beide Begriffe im Koine-Gebrauch sprachlich nicht immer scharf voneinander unterschieden werden, vgl. Conzelmann, a.a.O. 393.  Diese Diskussion nimmt Paulus erst ab 12,4 auf, bestimmt die Charismen dort aber als Gaben, die zum Nutzen anderer da sind (12,7: πρὸς τὸ συμφέρον), und zählt nur solche auf, die einen Ort in der Gemeinschaft der Gemeinde haben, weshalb dann die Selbstbeherrschung wohl nicht weiter auftaucht. Dennoch kann auch die Selbstbeherrschung als eine Gottesgabe gelten, die anderen Gemeindegliedern mittelbar zugute kommt, insofern durch sie ja die Notwendigkeit einer Eheschließung und damit die zeitraubende Verpflichtung gegenüber einem Ehepartner (7,32– 34) wegfällt. Von der Konzentration auf den Herrn muss letzten Endes auch die Gemeinde des Herrn profitieren, da sich in ihr der Dienst am Herrn verwirklicht.  Winter, Paul 239 vermutet, dass Paulus allein in 7,1– 5 eine Frage der Korinther verhandelt, während er in v.8 f.10 f.12– 16 [bei Winter allerdings fehlerhafte Versangaben] Themen in Eigeninitiative aufbringt, was sich eben an den Einleitungsformulierungen in der 1.P.Sg. festmachen lässt. V.6 f nimmt dann eine überleitende Funktion an, insofern das Thema wie v.1– 5 die sexuelle Enthaltsamkeit ist, formal aber schon die Ansprache an die einzelnen Gruppen der Gemeinde vorbereitet wird.

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Paulus allein die Ehe an. Sie versteht er ganz nach dem Vorbild Jesu als einen generell unauflöslichen und einmaligen Bund zwischen Mann und Frau auf Lebenszeit; nur durch den Tod eines Ehepartners besteht die Möglichkeit, in eine neue Ehe einzutreten.³² Diese nicht geringe Achtung der Ehe kommt auch in seinen folgenden Ausführungen zu Unverheirateten, Witwen und Mischehen zum Ausdruck.

3.2 1Kor 7,8 – 38 In 7,8 – 9 wendet sich Paulus an die Unverheirateten³³ und die Witwen in der Gemeinde.³⁴ Im Hinblick auf sie trifft er zwei Aussagen: a) Es sei etwas Gutes, wenn sie blieben ὡς κἀγώ³⁵ („wie auch ich“, v.8a). Meint dies im Duktus des Vorangehenden, sexuell selbstbeherrscht zu bleiben?³⁶ Dagegen spricht aber Folgendes: Das Wort ‚bleibenʻ (μένειν) beschreibt das Ausharren in einem an sich veränderlichen Zustand oder Status.³⁷ Paulus hat zuvor aber deutlich gemacht, dass die Selbstbeherrschung eine Gnadengabe Gottes ist. Zwar wird nirgends im Neuen Testament von der Unverlierbarkeit der Charismata gesprochen; allerdings erscheint es schwierig, sie – gerade aufgrund ihrer engen Verbindung zur Geistesverleihung (12,4– 11) – als verlierbar zu denken.³⁸ Insofern wäre es unlogisch, eine Rückgabemöglichkeit der Gläubigen bezüglich der Gabe der Selbstbeherrschung anzunehmen. Innerhalb der Ansprache an die Unverheirateten und Witwen muss also das ‚bleiben wie ichʻ dahingehend zu verstehen

 Vgl. F. Wilk, „Ein für alle Mal!? Zur Verbindlichkeit der Ehe im Neuen Testament,“ in: LVK– Forum 2/2007, 34– 44 (39 – 40).  Auch die Geschiedenen (Frauen) werden bei Paulus ἄγαμος genannt (7,11[34?]); seine Ablehnung der Wiederverheiratung Geschiedener (ebd.) spricht aber dagegen, dass diese in 7,8 mitgemeint sind. Ob vom grammatikalischen Geschlecht her hier nur auf unverheiratete Männer geschlossen werden kann, ist zunächst fraglich, da Paulus oft das Maskulinum für beide Geschlechter inkludierend gebraucht. In der Gegenüberstellung zu den Witwen erscheint dies aber als wahrscheinlich, vgl. Fascher, Brief 183; Wolff, Brief 139.  Falls man in 7,7 einen Aufruf nur an die Männer sehen möchte, kämen hier dann mit den unverheirateten Frauen und den Witwen zwei weibliche Personengruppen in den Blick.  Dies ist das vierte κἀγώ innerhalb von 1Kor.  So Trobisch, Paulus 96 f.  Zeller, Vorrang 66 spricht vom „in V. 8 angeschlagenen Leitmotiv des μένειν“, das bereits dort wie in v.11 in Verbindung zum Status des Unverheiratetseins stehe.  Selbst der aus der korinthischen Gemeinde auszustoßende Übeltäter scheint den einmal verliehenen Geist unverlierbar zu behalten (5,5), vgl. Conzelmann, Brief 125 (selbst unentschieden); Fascher, Brief 159 – 161; Klauck, Korintherbrief 44 („das göttliche Pneuma […] erweist sich als unzerstörbar“); Wolff, Brief 103 – 105.

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sein, dass Paulus damit auf seinen unverheirateten Familienstand anspielt.³⁹ Allerdings ist die Voraussetzung für das Unverheiratetsein die Selbstbeherrschung, wie dann ja in v.9a deutlich gesagt wird (εἰ δὲ οὐκ ἐγκρατεύονται: „wenn sie sich aber nicht selbst beherrschen (können)“). b) Die zweite Aussage (v.9) lautet, im Falle der sexuellen Begierde sei es besser, zu heiraten (um dann in der Ehe den Trieb zu befriedigen), als vor lauter Verlangen sprichwörtlich ‚zu brennenʻ bzw. ‚verbrannt zu werdenʻ (πυροῦσθαι)⁴⁰. Die Denkfigur hier ist dieselbe wie in v.6 – 7: Paulus stellt sich hier erneut als Vorbild dar. Die sexuelle Selbstbeherrschung, wie er sie vorgibt, ist an sich erstrebenswert; da aber nicht alle Menschen (und die Korinther allzumal: ἀκρασία ὑμῶν, „eure Unbeherrschtheit“, v.5) über diese spezielle Gabe verfügten, gebe es für diese Unbegabten durch das Institut der Ehe einen (vor dem Bösen und den Prüfungen des Satans) gesicherten Raum zur sexuellen Aktivität. Paulus will nicht, dass

 Eine analoge Wortwahl dazu bietet Diog.Laert. 1,26: Thales von Milet, einer der Sieben Weisen, blieb unverheiratet (ἄγαμον μεῖναι). Dass Paulus unverheiratet gewesen ist, ist im Frühen Christentum wie in der Alten Kirche nicht unumstritten gewesen. Paulus als unverheirateter Mann wäre sowohl im jüdischen wie auch paganen Kulturkreis ein ziemlicher Exot gewesen, da die Ehe in beiden der Normalfall ist, vgl. Conzelmann, Brief 146; Merklein, Brief II 105 f, was an sich noch kein Argument für eine Ehe des Paulus ist, aber doch vor der Annahme einer Sonderstellung des Apostels in der damaligen Gesellschaft warnt. Gerade die alexandrinische Tradition – so Clemens von Alexandria (Euseb, h.e. III 30) und dessen Schüler Origenes (Commentaria ad Romanos PG 14, 839) auf Basis einer bestimmten Überlieferung der paulinischen Texte (Phil 4,3) – weist auf eine bestehende Ehe des Paulus hin. Diese Texttradition findet sich auch in der gotischen Bibelübersetzung des Wulfila und gibt möglicherweise die vor einer kirchlichen Rezension getroffene Aussage wieder, vgl. A. Piras, „γνήσιε σύζυγε in Phil 4,3 und seine gotische Übersetzung. Ein Beitrag zur Text- und Interpretationsgeschichte,“ in: ZNW 101 (2010), 78 – 92 88 f.92. Auf dieser Argumentationslinie mag man also durchaus von einer bestehenden Ehe des Paulus zur Abfassungszeit des Phil ausgehen. Für den 1Kor kann dies nicht gelten. Letztendlich wissen wir nichts über den Ehestand des Apostels; jedoch haben alle Möglichkeiten, dass Paulus verheiratet (Trobisch, Paulus 93 – 98), geschieden bzw. getrennt lebend (G. Bouwman, Paulus und die anderen. Porträt eines Apostels, Düsseldorf 1980, 49 – 54), verwitwet (J. Jeremias, „War Paulus Witwer?,“ in: ZNW 25 (1926), 310 – 312 und ders., „Nochmals: War Paulus Witwer?,“ in: ZNW 28 (1929), 321– 323) oder ledig (E. Fascher, „Zur Witwerschaft des Paulus und der Auslegung von I Cor 7,“ in: ZNW 28 (1929), 62– 69) war, gute und gewichtige Argumente für sich. Die oben gegebene Auslegung mag als Hinweis darauf verstanden sein, bestimmte Grundannahmen über Paulus sorgsam neu zu bedenken.  Das ‚Brennenʻ ist wohl psychologisch (als seelischer Zustand des Leidens wegen der bleibenden Enthaltsamkeit) zu deuten,vgl. Merklein, Brief II 114,Wolff, Brief 139, Zeller, Brief 242 f. Eine Anspielung auf das eschatologische Gerichtsfeuer (1Kor 3,13 – 15) erscheint unwahrscheinlich, da jenes Feuer der Läuterung dient, hier dann allerdings die Vorstellung der Strafe vorherrschte, was sich nicht ohne weiteres vereinbaren lässt.

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jemand leiden muss bzw. durch Hurerei und ihre geistlichen Konsequenzen (6,16 – 18) zu Fall kommt, nur weil er oder sie dem Vorbild des Apostels nicht nachkommen kann. In der folgenden Adresse an die miteinander verheirateten Christgläubigen (7,10f) wie auch an die Christgläubigen in einer Mischehe (7,12– 16) betont Paulus, dass die Gemeinschaft der Ehe nicht zu verachten und daher eine Scheidung zu vermeiden ist. Er begründet dies für die Ehe zwischen Christusgläubigen in 7,10f ausdrücklich mit einem Wort Jesu, der nach dem Zeugnis der Synoptiker (Mk 10,11f par.) die Scheidung untersagt. Der Geltungsbereich des Herrenwortes ist also ganz auf der Linie von 1Kor 5,12 f auf die Gemeindeglieder beschränkt. In 1Kor 7,12– 16 kann daher (wohl auch aufgrund der besonderen, zu Jesu Zeiten nicht bestehenden Problematik der Mischehe) ein Apostelwort genügen. Doch selbst bei einem ungläubigen Ehepartner lässt Paulus eine Scheidung nur als letzte Konsequenz zu (v.15). Bei allen diesen Regelungen ist es die Position des Vorbildes in sexuellen bzw. asexuellen Dingen aus Gottes Gnade, aus welcher heraus Paulus auch vor allen anderen korinthischen Personengruppen seine Ansichten ausbreiten kann. Selbstbeherrschung impliziert ja, dass man nicht leidenschaftslos ist, sondern eben vielmehr seine Leidenschaften unter Kontrolle hat.⁴¹ Von daher weiß Paulus sehr genau, dass und wie sich Leidenschaften bemerkbar machen können; er hat sie und damit sich selbst allerdings im Griff. Er kann deshalb als ein Mensch mit Leidenschaften, die ihn aber nicht überwinden, Ratschläge zu diesem Problemfeld aus einer enthobenen Position bieten. Weil er seine Selbstbeherrschung aber als göttliche Gnade auffasst, deutet er seine enthobene Position zwar durchaus als überlegen, aber nicht als arrogant. Vielmehr erteilt er seine Ratschläge, ohne die Unbegnadeten als per se schlecht anzusehen. Tatsächlich achtet er das Institut der Ehe als deren Schutzraum, gleichwohl natürlich auch als einzigen Raum für sexuelle Aktivität. Bei aller Freundlichkeit und Konzilianz gegenüber den Korinthern schimmert aber doch auch immer die Autorität des Apostels durch seine Argumentation hindurch. Dies ist in 7,10 aus dem παραγγέλλω („ich weise an“) vor dem Einsatz des Herrenwortes ersichtlich,⁴² aber überhaupt aus dem Umstand, dass Paulus Regelungen für die korinthische Gemeinde aufstellt. Und es ist ja nicht die ko-

 Vgl. Suid. s.v.: ἐγκρατὴς λέγεται οὐ κατὰ ἀπάθειαν, ἀλλὰ διὰ τὸ πάσχειν μέν, μὴ ἄγεσθαι δὲ ὑπὸ τῶν παθῶν („Selbstbeherrscht wird man genannt nicht gemäß der Leidenschaftslosigkeit, sondern weil man zwar leidet/leidenschaftlich ist, nicht aber von den Leidenschaften geführt wird.“).  παραγγέλλω wird in der zeitgenössischen Umwelt des Paulus „von hohen staatlichen Amtsträgern mit Rechtssetzungskompetenz zur Einführung ihrer Anordnungen verwendet“ (Papathomas, Begriffe 118).

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rinthische Gemeinde allein, sondern es sind alle Gemeinden, denen er Anordnungen⁴³ gibt (v.17: ἐν ταῖς ἐκκλησίαις πάσαις διατάσσομαι). Das ist kein geringer Anspruch, zumal diese Aussage in v.17 in einem engen Zusammenhang mit der Berufung eines jeden Christusgläubigen durch den Herrn bzw. Gott selbst steht: Der von Gott berufene Abgesandte ist in allen Gemeinden zum Anordnen berechtigt. Deutlich wird aber auch, dass die Berufung durch den Herrn Paulus erst vertrauenswürdig (πιστός) gemacht hat (7,25).Vielleicht darf man πιστός hier auch als Titel oder Amtsbezeichnung i. S.v. ‚Getreuerʻ oder auch ‚Vertrauensmannʻ⁴⁴ (sc. Gottes) auffassen. Dann erscheint Paulus einmal mehr ausdrücklich gegenüber den Korinthern in einer hervorgehobenen Position, zugleich aber als Mittler zwischen den Gläubigen und dem Herrn. In jedem Fall ist es wieder die besondere Gnade Gottes, die es ihm erlaubt, in Fällen, wo ihm kein Herrenwort zur Verfügung steht, allein seine eigene Meinung (v.25: γνώμην δίδωμι; v.26: νομίζω) vorzubringen, um der Gemeinde den rechten Weg zu weisen. Bei alledem beteuert er als Ratgeber hinsichtlich der korinthischen Fragen seine Rücksicht und Anteilnahme (7,28.32.35): Er wolle sie schonen, wolle, dass sie sorglos sind, wolle ihnen Zuträgliches sagen und keine Schlinge um den Hals legen. Zudem stellt er sich – nach 4,6 erstmals wieder – durch die Anrede ἀδελφοί (v.24.29) auf die geschwisterliche Ebene und damit (anders als 4,14 f: Paulus als Vater) in ein enges familiäres Verhältnis zur Gemeinde, in dem beide gleichsam ‚auf Augenhöhe‘ miteinander sind.

3.3 1Kor 7,39 – 40 Zum Schluss des Abschnittes über das geschlechtliche Leben kommt Paulus noch einmal auf sich selbst zu sprechen (v.40). Zuvor hatte er Witwen eine Wiederverheiratung allein mit Christusgläubigen eingeräumt (v.39), jedoch auch betont, dass er sie im Witwenstatus für ‚glückseligerʻ halte (v.40a). Diese Aussage wird von

 Mit dem Gebrauch von διατάσσομαι folgt Paulus der Sprache kaiserlicher Erlasse und Verfügungen hoher Beamter, vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 273; Papathomas, Begriffe 127 f.  Vgl. Lietzmann, Korinther 33 nach syrischen Inschriften. Mögliche philosophische Belege finden sich bei Epiktet: Diss. 2,8,23,wo Gott dem als vertrauenswürdig angesehenen Menschen das eigene unverdorbene Selbst unter der Maßgabe übergibt, es nicht zu verändern; 2,14,13, wo der nach Weisheit Strebende hinsichtlich seiner Vertrauenswürdigkeit lediglich der (vertrauenswürdigen) Gottheit nacheifert. Der in der Weisheit Fortgeschrittene wird ebenfalls u. a. als πιστός bezeichnet (1,4,18 – 21).

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Paulus aber explizit als eigene Meinung (bzw. eigener Wunsch)⁴⁵ gekennzeichnet (κατὰ τὴν ἐμὴν γνώμην). Das Possessivpronomen ἐμήν (im Gegensatz zum possessiven Genitiv μου) weist darauf hin, dass Paulus diese Meinung als seine eigene betonen will. Dies geschieht wohl analog zu v.25 im Gegenüber zu einer nicht vorhandenen entsprechenden Anweisung des Herrn: Da Paulus über eine solche nicht verfügt, kann er nur auf seine eigene Meinung zurückgreifen. Diese Meinung ist aber, wie in v.25 erläutert, die eines πιστός von Gottes Gnaden. Mit dieser Meinung liegt er erneut ganz auf der Linie von 7,1– 11, insofern Selbstbeherrschung (als Voraussetzung für ein Leben in Ehelosigkeit) ein göttliches und damit unverfügbares Geschenk darstellt, die Ehe aber für – nach Paulus’ Ansicht – sexuell unbeherrschte Menschen auch etwas Gutes bzw. das einzige Gut bedeutet. Paulus als zur Selbstbeherrschung Begnadeter kann daher die Ehelosigkeit einer Witwe für etwas Höheres ansehen als deren Wiederverheiratung. Im Wissen um die Unverfügbarkeit der Selbstbeherrschung macht er daraus aber keine Vorschrift, sondern gibt seine Ansichten deutlich als eigene (obgleich göttlich legitimierte) Meinung zu erkennen. Dazu passt auch die Selbstaussage in 7,40b sowohl als Bemerkung zu diesem speziellen Fall sowie als Schlusssatz des gesamten Abschnitts: δοκῶ δὲ κἀγὼ πνεῦμα θεοῦ ἔχειν („Es meine aber auch ich, den Geist Gottes zu haben.“). An 7,40b ist allerdings nicht ganz klar⁴⁶, wie es angesichts von κἀγώ um die inneren Bezüge des Satzes bestellt ist. Diese Möglichkeiten werden hier nun diskutiert. a) Viele Exegeten beziehen κἀγώ auf den erweiterten Infinitiv πνεῦμα θεοῦ ἔχειν und übersetzen entsprechend: ‚dass auch ich Gottes Geist habeʻ.⁴⁷ Diese Konstruktion würde aber als accusativus cum infinitivo (wie in 16,4) ein κἀμέ erfordern, erscheint also bestenfalls als

 κατὰ γνώμην bedeutet eigentlich „nach Wunsch“ in 2Makk 9,20 und Papyrusbriefen, vgl. R. Bultmann, „γινώσκω κτλ.,“ in: ThWNT 1 (1933), 688 – 719 (717); s.a. Eurip.Andr. 737; Hec. 867. Der Unterschied zwischen ‚meiner Meinung nachʻ und ‚meinem Wunsch nachʻ ist allerdings nach griechischem Denken und Sprachgefühl nicht so groß, insofern ja in beiden Formulierungen die eigene Weltsicht (γινώσκειν bezeichnet das ‚Einsehenʻ, vgl. Bultmann, „γινώσκω“ 690), nicht aber deren tatsächliche Umsetzung zum Ausdruck gebracht wird. Durch den Gebrauch von κατὰ τὴν ἐμὴν γνώμην verweist Paulus nicht bloß zurück auf 1Kor 7,25, sondern rückt durch die Verbindung mit der Bevorzugung von Ehelosigkeit gedanklich dicht an v.7 und schlägt so einen Bogen zurück zum Kapiteleingang.  Mitchell, Paul 56 Anm. 162 bezeichnet v.40 – neben v.25 – als „enigmatic“,versteht letztendlich beide Verse aber als „part of the self-exemplification which Paul employs in this deliberative argument“.  So Barrett, Brief 220; Fitzmeyer, Corinthians 328; Wolff, Brief 163; Zeller, Brief 275. Bereits die Vulgata übersetzte: puto autem quod et ego spiritum dei habeo. Lietzmann, Korinther 36 übersetzt ambivalent (ganz bewusst?) ohne Komma: „ich glaube doch aber auch den Geist Gottes zu haben“; ebenso ambivalent Bachmann, Brief 294: „ich denke aber auch meinerseits den Geist Gottes zu haben“.

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schwierig, wenn nicht gar als unmöglich.⁴⁸ Bei dieser grammatikalisch schwierigen Lösung ist dann eine andere Gruppe von Menschen, die auf dem Geistesbesitz beharren, der Vergleichspunkt zum κἀγώ. Sie könnte man wegen ihres propagierten Geistesbesitzes als Pneumatiker bezeichnen. Gegenüber diesen Pneumatikern macht Paulus dann wohl in einer Art Rechtfertigung oder sogar Angriff ⁴⁹ mit seiner Aussage deutlich, dass nicht nur sie, sondern auch er über den göttlichen Geist verfügt, weshalb seine Meinung(en) zu respektieren sei(en). Neben der grammatikalischen Schwierigkeit ergeben sich zwei weitere Probleme bei dieser Auslegung: Zum einen würde Paulus, indem er ebenfalls auf seinem Geistesbesitz besteht, sich mit diesen Pneumatikern auf eine Stufe stellen – eine Stufe deshalb, weil es ja auch nur einen Geist gibt (12,4– 11). Aber würde sich bei dieser Deutung Paulus, indem er auch den anderen den göttlichen Geist zuspricht, nicht in eine Lage begeben, in der (geistlich verbürgtes) Wort gegen (geistlich verbürgtes) Wort stünde? Das könnte kaum mit seiner Überzeugung der Einheit und Einmütigkeit der Gemeinde, die er doch in 1Kor 1– 4 so stark macht, übereinstimmen. Christus ist ja gerade nicht zerteilt (1,13)!⁵⁰ Vielmehr ist bei Paulus Solidarisierung statt Konfrontation als Hauptmotiv anzunehmen. Zum anderen bekäme der zuvor ganz sachliche und konziliante Tonfall einen aggressiven Unterton. Dass es im Interesse des Apostels, die bereits spannungsgeladene Gemeinde durch Konfrontation wie auch Verschärfung des Tones weiter zu belasten, ist sehr unwahrscheinlich. b) Es bleibt nur die Möglichkeit, κἀγώ auf δοκῶ zu beziehen.⁵¹ Aber auch hierbei gibt es verschiedene Verständnisweisen, die im Folgenden erörtert werden. b1) Es ließe sich der Vers so lesen, dass sich Paulus in eine Reihe mit anderen, unbenannten Instanzen stellt, die ihm den Geist Gottes zusprechen. So verstanden würde dieser Satz die bloßen Meinungen des Paulus in Bezug auf die Sexualethik unter die Autorität eben dieser unbenannten Instanzen stellen: ‚Wie diese Leute meine auch ich aber, den Geist Gottes zu haben.ʻ Unter ihnen könnte man sich andere Apostel oder Missionare (4,15), Paulusschüler, seine Gemeinden oder auch die Korinther selbst (bzw. einen Teil von ihnen) vorstellen. Die Schwierigkeit dieser Deutung besteht darin, dass in c.7 außer den verschiedenen Personengruppen in Korinth (Verheiratete,Verlobte,Witwen) niemand sonst benannt ist und diese Gruppen nicht als an der Diskussion aktive miteinbezogene Größen erscheinen.⁵² b2) Eine weitere Möglichkeit ist es, den in κἀγώ implizit gegebenen Vergleichspunkt auf δοκῶ zu legen. Dann vergliche Paulus sich mit anderen Menschen, die von sich selbst ebenfalls meinen (δοκεῖν), den Geist Gottes zu besitzen: ‚Wie diese Leute meinen, den Geist Gottes zu haben, meine auch ich aber, den Geist Gottes zu habenʻ. Da Paulus im 1Kor des

 Ein nominativus cum infinitivo erfordert ein regierendes Verb im Passiv, vgl. Lahmer, γραμματεῖον 65. δοκῶ in 1Kor 7,40 ist aber eindeutig aktivisch.  Zeller, Brief 277 etwa vermutet eine „Spitze“ gegen korinthische Pneumatiker, wobei er zugleich vor einer Identifizierung von Pneumatikern und Asketen warnt.  Diese Denkfigur wird auch im Evangelium Mk 3,23 f par. ausgeschlossen.  Entsprechend übersetzen Fascher, Brief 195, Conzelmann, Brief 164, Merklein, Brief II 156, Schrage, Brief II 196, meinen jeweils im Kommentarteil dann aber doch, pneumatische oder sonstige Gegner im Hintergrund zu wittern, gegen die sich Paulus wehrt.  Dass als Instanz neben Paulus hier ‚der Herrʻ oder Gott gemeint sein könnte, ist auszuschließen.

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Öfteren von Leuten spricht, die etwas von sich meinen (3,18; 8,2; 10,12; 11,16; 14,37), und damit wohl Glieder der Gemeinde vor Augen hat, ist es wahrscheinlich, dass er dann auch in 7,40 an diese Menschen denkt. Bei einem solchen Verständnis von v.40 tritt Paulus in ein Konkurrenzverhältnis zu ihnen und gibt dem zuvor recht versöhnlich gehaltenen Tonfall eine aggressiv-drohende Wendung. Denn der Hinweis auf den eigenen Geistbesitz und damit der Bezug zu Gott als letzter Instanz ergibt ja nur einen Sinn,wenn Paulus damit etwas autoritativ abstützen möchte, und dies kann im Zusammenhang von v.40 nur seine zuvor gegebene γνώμη („Meinung“) sein. Bereits in v.25 hatte er seine Meinung in der Verbindung zu seiner Berufung als göttlich legitimiert herausgestellt, was in v.40 nun unter Bezug auf den Geist analog läuft. Dann bestünde aber erneut das Dilemma der mit Recht abgelehnten Lösung a), dass zwei gleichrangige Ansprüche auf den Geist gegeneinander laufen.⁵³ Störend bleibt also bei dieser Deutung eben die durch das κἀγώ mitgedachte Konkurrenz mit anderen geistbegabten Meinungsmachern. b3) Es bleibt damit nur die Lösung, dass Paulus in 7,40b uneigentlich, also ironisch redet.

In ironischer Weise stellt sich Paulus in 7,40b in eine Reihe mit den Korinthern, die für sich selbst ebenfalls den Besitz des göttlichen Geistes und der Weisheit reklamierten und daraus Ansprüche für ihre Lebensführung ableiteten (3,18; 8,2; 10,12; 14,37). Das Schlüsselwort für diese Ironie ist eben δοκῶ („ich meine“). Paulus hat ja bereits im Präskript des Briefes, unter dessen Vorzeichen der gesamte 1Kor steht, herausgestellt, dass er der berufene Abgesandte des Gesalbten Jesus sei (1,1). In der ersten Passage über die Gründung der Gemeinde (2,1– 5), dann aber besonders im Abschnitt über die Lehre der Weisheit (2,6 – 16) und deren Anwendung in Korinth (3,1– 4) hat Paulus deutlich gemacht, dass er über den Geist in vollem Umfang verfügt – anders als die Korinther, die sich noch fleischlich und wie unmündige Kinder zeigen (3,1– 3), gleichwohl sie für sich beanspruchen,völlig im göttlichen Geist zu leben. Sein πνεῦμα kann sogar in körperlicher Abwesenheit des Apostels mit den Korinthern zusammenkommen, um über einen Übeltäter Gericht zu halten (5,3 – 5).⁵⁴ Wenn Paulus nun in 7,40b also schreibt, er meine auch, Gottes Geist zu haben, so ist dies angesichts des Vorangegangenen in der Tat ein „ironisches understatement“⁵⁵. In diesem Kontext versteht es sich von selbst, dass  So etwa Fascher, Brief 199: „Auch [Paulus] verfügt über die Unterstützung durch den Geist Gottes, nicht nur etwa ungenannte Gegner“, was eine Kritik am Apostel und dessen Geistbesitz impliziert; vorsichtiger Conzelmann, Brief 169.  Wolff, Brief 102 fasst πνεῦμα in 5,3 als anthropologische Größe, als „das ‚briefliche Ichʻ des Paulus“ (ebd. Anm. 25: zitiert M. Bünker) auf. Aber πνεῦμα ist hier doch sicherlich – selbst in der brieflich-formelhaften Wendung 5,3, vgl. ebd., (ähnlich wie die paulinischen Abwandlungen χάρις statt χαίρειν in der salutatio, vgl. etwa Fascher, Brief 82) – durch die Vorstellungen des Christusglaubens bedeutungsschwer aufgeladen.  Zeller, Brief 277 [Kursive übernommen], der darin allerdings nur ein mögliches Textverständnis von vielen für 7,40b sieht.

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Paulus über den Geist verfügt, dennoch gibt er sich vordergründig ganz bescheiden. Angesichts des übrigen freundschaftlichen Tons zeigt sich hier einmal mehr ein Entgegenkommen des Apostels gegenüber seiner Gemeinde, das sich sogar in einer humorvollen, augenzwinkernden Wendung ausdrücken kann.⁵⁶

4 Spuren des Weisen in 1Kor 7 4.1 Die Ehe und der Weise Als ein Weiser muss man sich offensichtlich irgendwie zur Ehe verhalten – wenigstens, wenn es nach Diogenes Laertius geht. In allen seinen Darstellungen der Gestalt des Weisen in ihren verschiedenen Ausführungen je nach philosophischer Ausrichtung wird die Frage nach dem Verhältnis zur Ehe erklärt:⁵⁷ Während Plato, Aristoteles und die Stoa die Ehe befürworteten, wurde sie von Epikur abgelehnt und nur in Ausnahmefällen gestattet. Epiktet hielt sie für den angehenden Kyniker ebenso wenig für geeignet, da sie vom kynischen Lebensstil ablenke.⁵⁸ Gleichwohl waren auch einige Kyniker verheiratet, wie das Beispiel des Krates und seiner ebenfalls kynisch lebenden Frau Hipparchia belegt.⁵⁹ Auch konnte Xanthippe, die Witwe des Weisen par excellence, Sokrates, trotz ihrer Trauer als vorbildliche Mutter gelobt werden⁶⁰ und in den Sokratikerkreisen empfohlen werden.⁶¹

 Gleichwohl ist dabei auch ein sarkastischer Unterton zu vernehmen, insofern in dieser Aussage die Korinther an ihren eigenen Geistbesitz (6,11.19) und das daraus zu resultierende Verhalten erinnert werden. Aber dieser Unterton ist wie das Donnergrollen (4,21!) eines bereits abgezogenen, reinigenden Gewitters (c.5 – 6), in dessen Anschluss ein belebender Regen (c.7) kam, nicht mehr wirklich furchteinflößend.  Vgl. Diog.Laert. 3,78 (Plato); 5,31 (Aristoteles); 7,121 (Stoa); 10,119 (Epikur); außerdem 2,128 (Menedemos); 6,11 (Antisthenes). Zu Epikur vgl. auch Epikt.Diss. 3,7,19.  Vgl. Epikt.Diss. 3,22,67– 76. Epiktet bezieht sich dabei auf die Realitäten dieser Welt; in einer Polis der Weisen, wo Ehefrau und Schwiegervater ebenfalls Weise wären, könne man bedenkenlos heiraten. In seinem Brief an Zenon schreibt Diogenes (ep. 47), dass Unverheiratetsein und Kinderlosigkeit Zeichen und Voraussetzung für ein Leben in Weisheit seien.  Unter den Kynikerbriefen gibt es in der Sammlung des Krates auch sechs Briefe an Hipparchia (ep. 28 – 33), die mitunter für zuviel liebevolles Verhalten ihrem Mann gegenüber getadelt (ep. 30.32), dann aber auch für das Verschweigen ihrer Schwangerschaft und der Geburt des gemeinsamen Kinder gelobt wird (ep. 33).  Vgl. den Trostbrief des Sokratikers Aischines an Xanthippe (ep.21).  Vgl. das Schreiben des Sokratikers Aristippos an seine Tochter Arete (ep. 27,3).

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Offensichtlich ist also die Ehefrage eine basale Frage im Hinblick auf die Gestalt des Weisen.⁶² Gerade an der Ehe als einer öffentlichen Darstellung der Lebensführung ließ sich einiges über die Lehre ablesen und konnten einige deutliche Abgrenzungen gegenüber anderen Weisen-Konzeptionen markiert werden. Insofern stellt sich Paulus in 1Kor 7 einer grundlegenden Frage bezüglich der Lebensführung eines Weisen. Die Antwort, die Paulus gibt, ist dahingehend diplomatisch, dass er zwar selbst Ehelosigkeit für sich beansprucht, diese den Korinthern aber nicht auferlegt. Dies hängt eng damit zusammen, dass die Selbstbeherrschung als spezielle Gottesgabe aufgefasst wird, die nicht jedem Menschen eignet. Gleichwohl führt die Erwähnung der Selbstbeherrschung erneut in die Topik der Gestalt des Weisen.⁶³

4.2 Die Selbstbeherrschung des Weisen Selbstbeherrschung ist ein wichtiger Zug des Weisen hellenistischer Prägung.⁶⁴ Er begegnet uns in der Schilderung des Sokrates durch Xenophon in betonter Weise und hat von dort aus seine besondere Bedeutung in der philosophischen Ethik gewonnen,⁶⁵ insofern Sokrates als „am meisten selbstbeherrschter von allen  Diese Frage war ja überhaupt in der Rhetorik ganz geläufig, vgl. Quint.inst. 2,4,25 – um wie viel mehr dann bei der Gestalt des Weisen, die ja durch ihr Lebensbeispiel überzeugte?  Auch die Bemerkung, dass eine Witwe, die sich nicht wieder verheiratet, ‚glückseligerʻ ist, lässt sich in eine philosophische Richtung deuten. Für Epikur stellt die Glückseligkeit (μακαριότης) ein wichtiges Lebenskonzept dar, das sich durch die Vermeidung von Sorge und Schmerz in der körperlichen Gesundheit und der seelischen Unerschütterlichkeit erst verwirklichen lässt (vgl. Epik.ep. 3,128; SV/RS 1). Gerade die Greise, die wie aus einem sicheren Hafen in der Erinnerung auf ihr Leben zurückblicken (wobei damit nicht gesagt ist, dass jede Witwe eine alte Frau sein muss), können als glückselig gelten, vgl. SV 17. Wenn Paulus in 1Kor 7 nun Wege aufzeigt, wie man angesichts der ‚brennendenʻ Lust dennoch ein glückseliges Leben führen kann, reiht er sich damit unter die Moralphilosophen ein (mündlicher Hinweis R. Feldmeier). Auch für die Stoa ist Glückseligkeit nicht unwichtig; sie kann aber nur der Weise erlangen (vgl. Stob.ecl. 2,7,11 [= SVF 1,216]; Alex.Aphr. De anima libri 168,1 [= SVF 3,764]). Lukian von Samosata berichtet in Nigrinos 1– 5 von seiner eigenen Glückseligkeit, die von der Begegnung mit einem platonischen Philosophen herrührt, vgl. H. Dörries/ M. Baltes (Hg.), Der Platonismus in der Antike. Grundlagen – System – Entwicklung (4 Bände), Stuttgart-Bad Cannstatt 1987– 1996, 370. Nicht zufällig schildert Xenophon Sokrates, der sich in der Gemeinschaft seiner Freunde an den Schriften der ‚alten Weisenʻ erfreute, aus eigener Beobachtung als ‚glückseligʻ (Xen.mem. 1,6,14).  Bereits Bias, einem der Sieben Weisen, wird der Rat zugeschrieben, gegenüber Strapazen Selbstbeherrschung zu zeigen, vgl. FVS 523.17 (ἔξεις … πόνωι ἐγκράτειαν). Der Sophist Iamblichus Anonymus (ca. 400 v.Chr.) fordert, dass jedermann selbstbeherrscht sein soll, um zu Ruhm zu gelangen (4,1 = FVS 631).  Vgl. H. Chadwick, „Enkrateia,“ in: RAC 5 (1962), 343 – 365 (343).

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Menschen“ (πάντων ἀνθρώπων ἐγκρατέστατος, mem. 1,2,1; ähnlich 4,5,1) beschrieben wird und damit zum Vorbild avancierte. Bei Xenophon ist Selbstbeherrschung nicht allein auf das Geschlechtsleben, sondern generell auf die Kontrolle des Körpers und dessen Bedürfnisse bezogen.⁶⁶ Tatsächlich verhindere die Unbeherrschtheit (als das Gegenteil der Selbstbeherrschung) das Erlangen von Weisheit, dem ‚größten Gutʻ (τὸ μέγιστον ἀγαθόν, 4,5,6). Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass nur Selbstbeherrschung zur Weisheit führt. Insofern kann Xenophon in einem Atemzug Weise und Selbstbeherrschte nennen, wie dann auch Unweise und Unbeherrschte (3,9,4). Gerade in der Zusammenfassung über Sokrates’ Charakter zum Schluss seines Werkes (4,8,11) kann man die Selbstbeherrschung als ein particular des Sokrates, damit aber auch des hellenistischen Weisen an sich benennen. In der Stoa wird die Selbstbeherrschung definiert als „unüberwindliches Ordnen der Dinge des rechten Verstandes oder eine allen Lüsten gegenüber unbesiegbare Haltung“⁶⁷ und als ‚Untertugendʻ zur Kardinaltugend der Besonnenheit (σοφρωσύνη) gezählt.⁶⁸ Sie gehört damit zum Tugendbestand des stoischen Weisen, wohingegen der Tor nicht über sie verfügt.⁶⁹ Schon bei Plato besteht ein enger Zusammenhang von σοφρωσύνη und ἐγκράτεια, insofern die Besonnenheit als Beherrschung gewisser Lüste und Begierden beschrieben wird.⁷⁰ Ebenso war für Aristoteles klar, dass Selbstbeherrschung immer nur auf Besonnenheit bezogen gilt.⁷¹ Für Philo ist die Selbstbeherrschung gleichsam das Fundament der Tugend⁷² und findet auch in seiner Schilderung der Essener als einer Gemeinschaft von tatsächlich existierenden Weisen Erwähnung als eine ihrer Eigenschaften.⁷³ Ebenso gibt es – wie oben vermerkt – in SapSal 8,21 die Vorstellung, dass Selbstbeherrschung als Gottesgabe zum festen skill set des weisen Königs Salomo

 Xen.mem. 1,2,1; 2,1,1– 7; 4,5,9: Essen, Trinken, Schlafen, Liebesangelegenheiten, Entspannung, Kleidung bzw. angenehmes Klima.  Vgl. Diog.Laert. 7,93: τὴν δὲ ἐγκράτειαν διάθεσιν ἀνυπέρβατον τῶν κατ’ ὀρθὸν λόγον ἢ ἕξιν ἀήττητον ἡδονῶν; ἀνυπέρβατον kann auch ‚unübertrefflichʻ bedeuten. Vgl. zudem SVF 3, 272.274.275.  Vgl. Stob. ecl. 2,60, 9 W (= SVF 3,264).  Vgl. Stob. ecl. 2,102, 20 W (= SVF 3,563).  Vgl. Plat.rep. 430E: ἡ σωφροσύνη ἐστὶν καὶ ἡδονῶν τινων καὶ ἐπιθυμιῶν ἐγκράτεια; Diog.Laert. 3,91.  Vgl. Arist.eth.Nic. 1149 A.  Vgl. Philo cont. 34.  Vgl. Philo prob. 84; dort als ein Hinweis auf Tugendliebe der Essener mit τὸ ἐγκρατές („das Selbstbeherrschte“) bezeichnet.

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gehört.⁷⁴ Dass Gott als Geber von Tugenden – und gerade der Selbstbeherrschung und Besonnenheit – erscheint, ist eine hellenistisch-jüdische Vorstellung und erscheint etwa geläufig in dem als ‚Aristeas-Briefʻ bekannten Herrscherspiegel.⁷⁵ Bei alledem ist es interessant zu sehen, dass die Selbstbeherrschung nicht notwendigerweise auch Ehelosigkeit bedeutet. Sokrates ist Xenophon zufolge nicht nur verheiratet gewesen,⁷⁶ sondern war auch dem eigenen Geschlecht nicht abgeneigt, obgleich äußerst maßvoll.⁷⁷ Der Stoiker kann durchaus ebenfalls heiraten.⁷⁸ Salomo war nach biblischem Zeugnis mehrmals verheiratet;⁷⁹ die Tradition schreibt ihm als Verfasser sogar die erotische Dichtung des Hohelieds zu. Für Paulus scheint dagegen die Gabe der Selbstbeherrschung – wie wohl auch für die Essener nach Philos Zeugnis⁸⁰ – Ehelosigkeit zu implizieren.⁸¹ Zumindest liegt für ihn der Vorteil der Ehelosigkeit darin begründet, dass so dem Herrn die ungeteilte Aufmerksamkeit geleistet werden kann (1Kor 7,32.34).⁸² Allerdings macht er den Korinthern auch keinen Vorwurf bezüglich ihrer ehelichen Beziehungen. Deutlich ist, dass er die allgemein anerkannte Tugend der (sexuellen) Selbstbeherrschung an sich selbst herausstellt und als vorbildhaft darstellt.⁸³ Damit hebt er sich von den Korinthern ab und kommt trotz aller Konzilianz in c.7 dadurch doch in gewisser Weise über ihnen zu stehen.

 Hier wird nach einer Übersetzungsvariante (s.o.) die Weisheit sogar zur Vorbedingung der Selbstbeherrschung.  Vgl.Weiß, Korintherbrief 176 mit Hinweis auf ep.Ar. 237.248; dort wird jeweils die Besonnenheit (σωφροσύνη) als Gottesgabe benannt.  Vgl. Xen.mem. 2,2,1.  Vgl. Xen.mem. 1,3,14 f.  Vgl. Diog.Laert. 7,121. Das Heiraten ist in allen philosophischen Richtungen (Akademie, Peripatos, Stoa und unter gewissen Bedingungen Kepos) gestattet, aber allein die Stoa legt ja Wert auf Selbstbeherrschung.  Vgl. 1Kön 3,1; 11,1– 3.  In prob. gibt Philo dazu keine Auskunft, allerdings wird in dem bei Euseb (praep. 14) überlieferten Bericht die Ehelosigkeit bei gleichzeitiger Selbstbeherrschung der Essener gerühmt. Die Ehelosigkeit erscheint als fester Zug der Essener in den Berichten des Plinius (nat. 5,73) wie des Josephus (Bell. 120),wobei dieser auch verheiratete Essener als ‚Unterklasseʻ kennt (Bell. 121.160 f).  Ob freilich der Apostel zu allen Zeiten ehelos gewesen ist oder aber zu einem anderen, früheren Zeitpunkt als der Abfassung von 1Kor (z. B.während der Abfassung des Phil – vorausgesetzt Phil ist früher als 1Kor entstanden) nur nicht das apostolische Privileg in Anspruch genommen hat, die eigene Frau auf seinen Reisen mit sich zu führen (1Kor 9,5), dies aber aufgrund seiner Selbstbeherrschung auch nicht brauchte, muss offen bleiben.  Darin ähnelt Paulus’ Ansicht der kynischen Auffassung, vgl. Epikt.Diss. 3,22,67– 82.  In 1Kor 9,24– 27 kommt Paulus in einem agonistischen Bild erneut auf seine Selbstbeherrschung zu sprechen.

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4.3 Die Meinung des Weisen Paulus gibt sowohl in 7,25 wie auch 7,40 seine Meinung (γνώμη) zum Besten. Xenophon (mem. 4,2,9) zufolge bereichern die Meinungen (auch i.S.v. Lehren) der weisen Männer diejenigen, die sie erworben haben, an Tugend. So pflegte Sokrates, den durch Unwissenheit (ἄγνοια) in Not geratenen Freunden seine Meinung als guten Rat zu geben (mem. 2,7,1) und hielt auch sonst seine Meinung nicht zurück (mem. 4,4,1; 4,7,1). Dabei tat er in seiner Frömmigkeit jedoch nichts, ohne die Meinung der Götter zu achten (mem. 4,8,11).⁸⁴ Neben diesen Bezügen zur Gestalt des hellenistischen Weisen findet sich eine interessante sprachliche Parallele zu dem Ausdruck κατὰ τὴν ἐμὴν γνώμην (1Kor 7,40) in SapSal 7,15.⁸⁵ Dort bittet Pseudo-Salomo in seinem ‚autobiographischenʻ Bericht: „Mir aber gebe Gott, zu reden nach Wunsch (εἰπεῖν κατὰ γνώμην) und in Bezug auf die Gaben würdig zu überlegen, dass [oder: weil] er (= Gott) sowohl der Wegweiser/Lehrer der Weisheit ist als auch der Verbesserer der Weisen.“ Das Reden κατὰ γνώμην ist also demnach eine Gabe Gottes, die dem jüdischen Weisen par excellence, Salomo, in seiner hellenistischen Färbung verliehen ist. Es geht hier nicht darum, dass Pseudo-Salomo nach dem Sinn Gottes spricht;⁸⁶ κατὰ γνώμην, das ja sowohl ‚nach Meinungʻ wie auch ‚nach Wunschʻ bedeuten kann (s.o.), bezieht sich auf Pseudo-Salomo als Subjekt des Sprechens. Er darf aus Gottes Gnade sprechen, was, wann und wie er will. Der Nachsatz v.15aβ zum würdigen Umgang mit den Gaben macht aber klar, dass Pseudo-Salomo das Gesagte inhaltlich immer wieder rückbindet an Gott, der sowohl der Geber des freien Redens der eigenen Meinung ist, als auch den Weisen und der Weisheit selbst vorsteht. Völlige Willkür in Bezug auf das Geäußerte oder gar widergöttliche Aussagen erscheinen damit ausgeschlossen. Der Weise nach SapSal verfügt also

 Dabei kann die Meinung eines hellenistischen Weisen durchaus schlecht bei seinen Zuhörern ankommen. Bei Eur.El. 295 f heißt es in einem Sinnspruch, es sei durchaus nicht schadlos, dass in den Weisen eine allzu weise Meinung ist (καὶ γὰρ οὐδ’ ἀζήμιον γνώμην ἐνεῖναι τοῖς σοφοῖς λίαν σοφήν). Auf der anderen Seite berichtet etwa Dio Chrysostomos (or. 49,4) wie wichtig dem König Agamemnon etwa die Meinung (γνώμη) seines (als Beispiel für einen Philosophen angeführten) Beraters Nestor war und es stets bedauerte, wenn er einmal nicht auf ihn hörte, und etliche Könige fremder Völker (wie Perser, Inder und Kelten) machte die Abhängigkeit von ihren weisen Beratern (Magier, Brahmanen und Druiden) zu Dienern eben dieser Meinung (49,8: τοὺς δὲ βασιλέας αὐτῶν ὑπερέτας καὶ διακόνους γίγνεσθαι τῆς γνώμης).  Vgl. C. F. G. Heinrici, Das erste Sendschreiben des Apostel Paulus an die Korinthier, Berlin 1880, 215, der daraus aber nichts weiter macht.  So die Luther-Übersetzung: „Gott aber gebe mir, nach seinem Sinn zu reden“.

5 Fazit

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über Redefreiheit und Meinungsrecht, die sich Gott verdanken und immer wieder auf Gott bezogen erscheinen.⁸⁷ Paulus Meinungsäußerung erscheint in einem ähnlichen Licht. Auch er beansprucht für sich, die eigene Meinung als Rat an die Korinther auszusprechen. Ähnlich wie bei Pseudo-Salomo ist diese Meinung aber nicht bloß eine rein menschliche, sondern erscheint als die eines Menschen, dem von Gott her Erbarmung widerfahren ist (1Kor 7,25). Die Rede- und Meinungsfreiheit des Paulus leitet sich wie beim Weisen Salomo direkt von Gott ab.

5 Fazit Im Gegenüber zu den Korinthern und von ihnen unterschieden präsentiert sich Paulus in 1Kor 7 als sexuell selbstbeherrscht und maßgebend in seinen Meinungen. Diese Züge teilt er mit jüdisch-hellenistischen, dann aber auch philosophischen Vorstellungen vom Weisen; besonders der erste Zug gehört als particular zur rhetorischen persona des Weisen. Anders als der pagane Weise führt Paulus aber seine Meinungsautorität wie seinen auffällig anderen Lebensstil, nämlich seine Ehelosigkeit, explizit allein auf die Begabung durch Gott zurück. Darüber hinaus behauptet Paulus in c.7 innerhalb von 1Kor einmal mehr (unabhängig vom ironischen Unterton in jenem Zusammenhang), Gottes Geist zu besitzen. Anders als zuvor (c.2!) aber richtet er sich in seiner Beratung damit nicht gegen die Korinther, sondern solidarisiert sich mit ihnen. Dies wird deutlich durch die neutrale bis herzliche Sprache des gesamten Passus, aber auch durch die Anrede der Korinther als Geschwister (7,24.29). Paulus kommt dadurch sozusagen auf derselben Stufe wie die Korinther zu stehen. Gleichwohl bleibt er durch seine besondere Begabung ihnen gegenüber abgehoben. Der Zug zur Solidarisierung hängt wohl damit zusammen, dass Paulus sich von der Gemeinde als Autorität anerkannt sieht, da sich die korinthischen Christgläubigen an ihn als ihren Gründungsapostel um Rat bezüglich ihrer Fragen gewendet haben (7,1). Insofern die Korinther seine Autorität anerkennen – was zuvor in c.1– 6 nicht durchgehend vorausgesetzt werden konnte –, kann er sich ihnen gegenüber ohne weiteres als Vorbild präsentieren, als welches er sich zwar Nachahmung wünscht (7,7.8), dann aber auch Milde walten lässt (7,28.35). Die Vater-Kinder-Metaphorik von 1Kor 4,14– 21 ist nun zwar ausgetauscht gegen die Geschwister-Metaphorik, die Vorstellung der Nachahmung und damit ein impli-

 Dies erscheint dann auch in SapSal 7,16 als Begründung des Vorherigen: alle Worte der Menschen liegen letztendlich in Gottes Hand.

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ziter Vater-Anspruch des Paulus über die Korinther bleibt aber bestehen. Auch wenn die Korinther in diesem speziellen Falle nicht sein Vorbild nachahmen, weil sie es nicht können und daher auch nicht müssen, bleibt Paulus als übergemeindliche legislative⁸⁸ Instanz (7,17) unangefochten, verkündigt er doch die Weisungen des Herrn sowohl nach dessen Wortlaut (7,10) als auch nach dessen Geist (7,40). Insgesamt steht Paulus als ein lebendiges Beispiel für die besondere Begabung der Gläubigen mit göttlichen Gnadengaben da. Insofern an seinem Leben – in Analogie zur Vorstellung vom Weisen hellenistischer Prägung – die Identität von Wort und Tat – und das bedeutet bei Paulus: von Verkündigung und Leben, von Gottes Weisheit in signo crucis und menschlicher Existenz coram Deo – exemplarisch sichtbar werden, ist Paulus für die Korinther beispiels-weise. Auch sie können und sollen ihre jeweiligen Gnadengaben erkennen, annehmen und in ihrem Leben verwirklichen.

 Daran hatte er bereits in 5,9 – 13 erinnert. Tatsächlich behauptet Paulus in 1Kor 5,3(12 f) daneben aber auch, judikative Instanz innerhalb der Gemeinde zu sein.

Kapitel 9 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 8,1 – 11,1 1 Abgrenzung der Texteinheit und Gliederung Ein Neuansatz nach 7,40 ist deutlich durch die Themennennung περὶ δὲ τῶν εἰδωλοθύτων („aber über die Bilderopfer“) zu Beginn von 8,1 markiert. Das Thema sticht in c.10 wieder hervor, nachdem mit c.9 ein eigener Teil über Freiheit und Vollmacht des Apostels vorangegangen war. Mit 10,31 beginnt ein Fazit (οὖν: „also“), das bis 11,1 reicht. Dass 11,1 noch zu diesem Fazit gehört, wird zum einen durch das nach 10,33 erneut gebrauchte καθὼς κἀγώ („wie ich auch“) deutlich, zum anderen durch die Parallele 4,16, wo ebenfalls in einem Schlussteil der Aufruf des Apostels zur Nachahmung seiner geschieht. Gleichermaßen markiert 11,2 einen Neubeginn, der durch ein adversatives δέ („aber“) und die im Nachfolgenden geschehende Aufnahme der in v.2 benannten Motive von Lob (v.17) und Überlieferung (v.23) gekennzeichnet ist. Das Ende der Einheit findet sich also in 11,1. Die Einheit lässt sich inhaltlich grob in vier Teile gliedern: a) 8,1– 13 Liebe, Kenntnis und Gewissen: Rücksicht auf den schwachen Bruder; b) 9,1– 27 Freiheit und Berechtigung: Paulus als Beispiel; c) 10,1– 22 Daimonia-Dienst vs. Herrenmahl: Israel als mahnendes Beispiel; d) 10,23 – 11,1 Das Gewissen des anderen: Selbstverzicht trotz Berechtigung. Der Abschnitt c.9 erweckt dabei den Eindruck einer digressio, da das eigentliche Thema des Opferfleischverzehrs keine Erwähnung findet. In sich ist der Gesamttext aber kohärent.¹ 1Kor 8,1– 11,1 behandeln vorrangig die Frage, ob es einem Christusgläubigen erlaubt sei, Fleisch zu essen, das von der Opferung für pagane Götter übrig geblieben ist. Die Frage des Verzehrens von Idolenopferfleisch² war in Korinth aufgrund des diesbezüglich toleranten Verhaltens einiger Gemeindeglieder virulent geworden. Ihre Toleranz beruhte wohl auf der Überzeugung, genau zu wissen

 Vgl. Merklein, Brief II 164– 168.  Ich vermeide bewusst den Begriff „Götze“ (= „kleiner Gott“), der erst seit Luther in der deutschen Sprache Fuß gefasst hat. F. Büchsel, „εἴδωλον κτλ.,“ in: ThWNT 2 (1935), 373 – 377 (374) verweist in diesem Zusammenhang auf die jüdisch-polemische Vorstellung, dass das heidnische Götterbild an sich wirklichkeitslos (und eben nicht lediglich wirkungsärmer im Vergleich zum Gott Israels) ist. Über die Sichtweise der Griechen (und Römer) auf ihre Götterbilder informiert – noch immer sehr lesenswert – K. Schefold, Griechische Kunst als religiöses Phänomen (rowohlts deutsche enzyklopädie 98), München 1959. DOI 10.1515/9783110498769-012

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(εἰδέναι/γνῶναι/γνῶσις: 8,1.2.4.7.10.11),³ dass die von den Idolen repräsentierten Götter tatsächlich nicht existierten (8,4). Andere Gemeindeglieder fühlten sich durch diese freigeistige Haltung verunsichert, sahen sie doch in den paganen Göttern weiterhin mächtige, dem Gott Israels aber auch feindliche Wesen (vgl. 10,20).Von dem ihnen geweihten Fleisch zu essen, musste für diese kritischen Gemeindeglieder daher heißen: Abfallen von Gott. Als Kontrahenten in der Idolenopferfleischfrage standen sich demnach konservativ gläubige Menschen und libertinistisch⁴ gesinnte Leute gegenüber.⁵ Aus der Argumentation des Paulus kann man Rückschlüsse auf die Denkweise der Libertinisten ziehen: Sie werden sich gesagt haben, dass sie beim Verzehr des Idolenopferfleisches der jeweiligen Gottheit keine Anerkennung zollen, da sie ja nur den einen Herrn Jesus Christus anerkennen, seine Macht erfahren haben und somit in vollem Bewusstsein bzw. in voller Erkenntnis (8,7: γνῶσις!) außerhalb der Machtsphäre der paganen Gottheiten stehen, ja diesen überhaupt keine Existenz und damit auch keine Macht zugestehen (vgl. 8,4– 6). Sie verstehen sich somit als ‚Starkeʻ, da sie sich zum einen durch ihren Herrn stärker als das Idol erweisen, zum

 Auch der etymologisch verwandte Begriff des Gewissens (συνείδησις: 8,7.10.12; wortwörtlich ‚Mitwissenʻ) gehört in diesen Zusammenhang. Im Gegensatz zur übrigen ‚gnostischenʻ (i.S.v. wissensbezogenen) Terminologie, die sonst nur in c.8 vorkommt – mit der Ausnahme von ‚unwissend seinʻ (ἀγνοεῖν) innerhalb der Disclosure-Formel 10,1 –, erscheint dieser Begriff erneut in c.10 (v.25.27– 29). Gleichwohl benutzt Paulus in 10,15 mit φρόνιμος (‚verständigʻ) einen dem Wissensbereich verwandten Terminus (s.u. z.St.).  Libertinismus lässt sich mit Sellin, Hauptprobleme 3017 als „eine Haltung, für die das körperliche Tun als heilsirrelevant gilt“ definieren. Zu essen ist nicht nebensächlich, sondern bewusstes körperliches Handeln.  Der Konflikt entbrannte wohl letztlich an der Unsicherheit der gottesfürchtigen Heiden, die zwischen ihrem Glauben an den einen wahren Gott (8,6) und der offensichtlichen Anerkennung der paganen Götter durch andere (auch heidnische) Gemeindeglieder verunsichert wurden (8,7.10). Die Ursache des Konflikts besteht demnach nicht im Gegensatz Jude vs. Heide, sondern in der unterschiedlichen Stärke der Erfahrung der Macht Christi in dieser Welt. Die beiden entgegenstehenden Gruppen werden ihre Anhänger v. a. aus den Heiden der Gemeinde rekrutiert haben, da Juden paganes Opferfleisch durch die Thora von jeher verboten war,vgl. Bill. III 54 f.377 f. Durch die neu eingeführte libertinistische Grundhaltung werden aber auch einige Juden zum Fleischverzehr der ‚Starkenʻ übergewechselt sein, vgl. G. Theißen, „Die Starken und Schwachen in Korinth. Soziologische Analyse eines theologischen Streites,“ in: EvTh 35 (1975), 155 – 172 (162). J. Wehnert, Die Reinheit des „christlichen Gottesvolkes“ aus Juden und Heiden. Studien zum historischen und theologischen Hintergrund des sogenannten Aposteldekrets (FRLANT 173), Göttingen 1997, 131– 136 erkennt in den Schwachen petrinisch-geprägte Christusgläubige; 1Kor richte sich dabei an die Starken der Gemeinde.

1 Abgrenzung der Texteinheit und Gliederung

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anderen aber auch stärker im Glauben als die schwachen (ἀσθενής/ἀσθενῶν: 8,9 – 11) Geschwister.⁶ Bei den Konservativen werden diese Argumente nicht verfangen haben. Sie räumen dem Götterbildnis und dem ihm geweihten Fleisch noch immer große Macht ein, zumindest größere, als ihnen selbst derzeit zur Verfügung steht.⁷ Auch wenn sich Christus letztlich als stärker erweisen wird, so ist dies noch keine vollendete Realität geworden. Sie sind somit ‚Schwacheʻ im Vergleich mit ihren starken Glaubensgeschwistern (8,7– 9), welche die ihnen zugesagte Freiheit und Vollmacht ohne Rücksicht auf die ‚Schwachenʻ ausleben.⁸ Der Fortgang der Argumentation lässt sich im Groben folgendermaßen schildern: Ausgehend vom Gewissensproblem⁹ des schwachen Bruders ange-

 Es gilt zu beachten, dass die Bezeichnung ‚die Starkenʻ ein Hilfskonstrukt der Kritik darstellt, um die verschiedenen Gruppen in diesem Konflikt zu kennzeichnen. Die Bezeichnung selbst fällt nirgendwo im Text; vielmehr wird von den ‚Wissendenʻ (vgl. 8,10: ὁ ἔχων γνῶσιν) gesprochen. Höchstens im Komparativ in 10,22 scheint sie kurz auf. Von dieser Stelle ausgehend wäre zu überlegen, ob nicht für 1Kor die Bezeichnung ‚die Stärkerenʻ passender wäre, zumal durch die Relation der Stärkeren auf die Schwachen der Zusammenhalt der Gemeinde insgesamt betont würde. Röm 14,1– 15,6 weist einen späteren, wohl angesichts einer in vielen Gemeinden bestehenden Problematik schon verfestigten und absoluten Sprachgebrauch auf (δύνατος vs. ἀδύνατος/ἀσθενῶν).  Dass es gleichwohl auch Gründe aus der Thora gegeben hat, die den Verzehr von Idolenopferfleisch verboten (Lev 17,12– 16), sei unbenommen; sie werden aber nur Nebengründe der konservativen Fraktion gewesen sein. Denn jeder konservativ argumentierende Mensch tut dies doch aus einer besorgten, paulinisch gesprochen „schwachen“ Grundhaltung heraus (er will ja keine Veränderungen, sondern etwas Bestimmtes ‚bewahrenʻ!) und beruft sich schließlich auf die Traditionen zur Bekräftigung seiner Position. Paulus respektiert diese Sorge der Schwachen, vielleicht weil er selbst einmal so sehr konservativ gewesen ist, dass seine Sorge um die Einhaltung des Gesetzes in Gewalt gegen die christusgläubigen Starken umschlug (Gal 1,13 f; Phil 3,6).  Theißen, „Starken“ 158 erkennt in den Bezeichnungen ‚Starkeʻ und ‚Schwacheʻ auch Anzeichen für die soziale Stellung dieser Gruppen: Die (sozial) Schwachen – sowohl jüdischer als auch paganer Herkunft – leiden bei ungewohntem, aber nun verführerischem bzw. bei gewohntem, aber nun tabuisiertem Fleischgenuss an ihrem schlechten Gewissen; die (sozial) Starken können damit viel ungezwungener umgehen (162). Tatsächlich spielt bei alledem sicherlich auch der soziale Hintergrund der gottesfürchtigen Heiden eine nicht unwichtige Rolle: Sie waren ja eben keine Juden aus Sicht ihrer heidnischen Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunde und Verwandten und mussten sich also irgendwie mit ihrer Umwelt arrangieren. Dazu konnte auch gehören, gelegentlich Fleisch zu essen, das beim Opfer an pagane Götter abfiel. Paulus fordert hier also von seinen heidnischen Geschwistern ein Verhalten, welches im Gegensatz zu ihrer üblichen Lebenspraxis (8,7: συνήθεια/„Gewohnheit“) steht.  H.-J. Eckstein, Der Begriff Syneidesis bei Paulus. Eine neutestamentlich–exegetische Untersuchung zum ‚Gewissensbegriffʻ (WUNT II/10), Tübingen 1983, 314: „Die Syneidesis ist für Paulus eine neutrale, anthropologische Instanz im Menschen, die das Verhalten nach vorgegeben Normen objektiv beurteilt und entsprechend kritisch oder bestätigend bewußtmacht und zu der der

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sichts des Verzehrs von Idolenopferfleisch (8,1– 12) stellt Paulus seinen eigenen, schonenden Umgang mit einem solchen Bruder dar (8,13) und verteidigt im folgenden c.9 diesen verzichtenden Umgang, indem er seine Freiheit anhand seines Daseins als Apostel erläutert.¹⁰ In 10,1– 22 bringt er grundlegende Kritik an der Idolenverehrung zum Ausdruck. In den Schlussversen 10,23 – 11,1 gibt Paulus dann konkrete Anweisungen in Bezug auf Fleischerwerb und -verzehr und verschränkt dabei die Frage des Umgangs mit Vollmacht im Sinne einer verzichtenden Freiheit mit seinem eigenen Lebensbeispiel.

2 1Kor 8,1 – 11: Die Problemlage – Durchgang und Einordnung 8,1.4 nennen das Thema, das im Folgenden behandelt wird. 8,1– 3 stellen dabei so etwas wie einen Vorspruch zum Folgenden dar, insofern das Thema in v.1 im Gegensatz zu v.4 nur allgemein benannt wird (περὶ δὲ τῶν εἰδωλοθύτων/„über das Idolenopferfleisch“ vs. περὶ τῆς βρώσεως τῶν εἰδωλοθύτων/„über das Essen von Idolenopferfleisch“). Des Weiteren erfolgt in diesen Versen eine Mahnung in Bezug auf das rechte Verhältnis von Erkennen bzw. Wissen (γνῶναι) und Lieben (ἀγαπᾶν): Die Liebe zu Gott (und in ihrem Gefolge wohl auch die Liebe zum Nächsten), nicht die – zudem bloß vermeintliche (v.2: δοκεῖ)! – Erkenntnis bestimmter metaphysischer Sachverhalte soll die Grundlage des Verhaltens sein. Die Liebe zu Gott führt letztendlich dazu, von ihm erkannt, d. h. anerkannt zu werden.¹¹ Mit dem die Korinther inkludierenden οἴδαμεν („wir wissen“) macht Paulus gleich zu Beginn seiner Ausführungen deutlich,¹² dass die Adressaten wie auch er

Mensch selbst im Verhältnis der Verantwortlichkeit steht.“ Das oben angesprochene Gewissensproblem besteht also nicht in einem inneren, seelischen Konflikt des Schwachen angesichts der Tat des ‚starkenʻ Bruders, sondern vielmehr in dem aufbrechenden gemeindlichen Konflikt angesichts divergierender Normenauffassungen. Es geht also nicht um Gewissensbisse, sondern – um im Bild zu bleiben – darum, dass der ‚Starkeʻ seinen schwachen Bruder beißt, oder, wie es Paulus in 1Kor 9,12 schreibt, sich gegen ihn verfehlt und dessen Gewissen schlägt.  1Kor 9,1 gibt das Thema vor: Freiheit. Es geht nicht um die Verteidigung seines Apostolats (so etwa Lietzmann, Korinther 39; Wolff, Brief 186 f). Vielmehr liefert der Apostolat des Paulus das beste Beispiel für die Darstellung einer verzichtenden Freiheit; so auch Zeller, Brief 300. Wahrscheinlich liegt der Argumentation folgende Logik zugrunde: Wenn schon die (‚starkenʻ) Korinther als Wissende frei sind und Vollmacht haben, um wie viel mehr dann Paulus als ein direkter Abgesandter des Herrn?  Wolff, Brief 170: „liebend erwählt, angenommen“ (mit biblischen Parallelen).  Auch bei einer Aufspaltung des Wortes in οἶδα μέν bliebe die inkludierende Wirkung eben durch den anschließenden Nebensatz bestehen. Die Aufspaltung legt sich aber nicht nahe, da ein nachfolgendes δέ fehlt, vgl. Wolff, Brief 169 Anm. 22.

2 1Kor 8,1 – 11: Die Problemlage – Durchgang und Einordnung

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selbst bei dieser Frage den gleichen Wissens- bzw. Erkenntnisstand haben (v.1). Im gleichen Zug erklärt er aber auch, dass Erkenntnis (γνῶσις) wegen ihres Potentials zur Zerrüttung der Gemeinschaft (φυσιοῦν/„aufblähen“ vs. οἰκοδομεῖν/„erbauen“) nicht weiterführe, sondern allein die Liebe. Die Zurückweisung von vermeintlich Wissenden (v.2) macht klar, dass Paulus hier auf der Basis von Bekanntem den Korinthern noch etwas Neues unterbreiten möchte. Dieses Unterbreiten ist dem genus deliberativum zuzuordnen: Die Korinther werden hier und im Folgenden über ihre eigene Einstellung und den Umgang miteinander beraten.¹³ Mit v.4 setzt Paulus dann bei der praktischen und damit für das Gemeindeleben relevanten Seite des Themas ein, dem tatsächlichen Verzehr von Idolenopferfleisch. Nun ist nicht mehr die abstrakt-theoretische Ansicht über Idolenopferfleisch, die letztlich auf Erkenntnis beruht, wichtig, sondern das Thema wird anschaulich in Beziehung zu den Wirkungen auf die Gemeindeglieder bedacht. Erneut gebraucht Paulus ein inkludierendes οἴδαμεν, das in gleicher Weise wie in v.1 den gemeinsamen Erkenntnisstand von Apostel und Gemeinde bezeichnet. In einer ersten Antwort hält Paulus gegenüber den ‚Starkenʻ zwar fest, dass es nur einen Gott gebe und damit die sogenannten Götter bloße Idole (εἴδωλα), also Bilder, seien (v.4 f). Aber in Rücksicht auf die sog. ‚schwachen Geschwisterʻ in der Gemeinde rät Paulus den freigeistigen und damit starken Gläubigen, von ihrer Vollmacht bzw. ihrer Berechtigung (v.9: ἐξουσία) keinen Gebrauch zu machen und auf das Essen von Opferfleisch zu verzichten.¹⁴ Andernfalls könnten die Schwa-

 Berger, Formen 269 weist 1Kor 8,1– 6 dem Normendiskurs zu, einer Gattung „zwischen symbuleutischen und epideiktischen Gattungen“ (ebd.), da sowohl Normen beschrieben und gewürdigt werden (epideiktisch) als auch empfohlen oder abgelehnt werden (symbuleutisch). Durch den Empfehlungscharakter des Normendiskurses ist die Gattung aber näher an der Symbuleutik zu verorten. Genauer bestimmt Berger 8,1– 6 als Belehrung über Erkenntnis und Liebe und ihr Verhältnis zueinander. 8,7– 13 rechnet Berger, a.a.O. 153 f der symbuleutischen Argumentation zu und darin der Textgruppe, die sich mit gemeindeinternen Problemen (hier: Ärgernis gegenüber dem Bruder) befasst.  E. C. Still, „Paul’s Aims Regarding ΕΙΔΩΛΟΘΥΤΑ: A New Proposal for Interpreting 1 Corinthians 8:1– 11:1,“ in: NT 44 (2002), 333 – 343: „Paul’s aims are to persuade the Corinthian knowers [= die ,Stärkerenʻ] to adopt complete non-use of their authentic right to consume food offered to idols and to prohibit participation in idolatrous temple meals“ (334). Die Erwähnung des den Korinthern eignenden Rechts (ἐξουσία) bezieht sich wohl auf dieselbe Lehre, die auch die Formulierung in 6,12 (πάντα μοι ἔξεστιν/„alles ist mir gestattet“) zum Anlass hat. Oben (Kap. 7, 3.2) hatte ich (mit Dodd und Zeller) dafür plädiert, diese Vorstellung als originär paulinisch zu verstehen und ihren Ursprung in der Anfangspredigt des Apostels in Korinth zu suchen: ‚Wer zur Versammlung Gottes gehört, dem ist alles gestattet.ʻ

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chen doch einmal der Versuchung erliegen, Idolenfleisch zu essen,¹⁵ aber durch ihre latenten polytheistischen Vorstellungen hinterher in schwere Gewissensnöte geraten (v.10 – 12). Denn in den Augen der Schwachen könnte es so erscheinen, dass mit dem Verzehr von Opferfleisch (und damit einer augenscheinlichen Rückkehr zu den alten Mächten) die Liebe (v.3) sowie das Bekenntnis (v.4– 6) zu Gott verleugnet würde, also insgesamt die Beziehung zu Gott negiert würde.¹⁶ In 8,13 wechselt Paulus in die 1.P.Sg.: Er würde auf den Verzehr von Fleisch generell verzichten, nur um ‚meinen Bruderʻ nicht zu verärgern. Man kann in dieser direkten Rede eine Reminiszenz an die Anrede in der 2. Person Singular in v.10 f sehen und hier ein typisches oder rhetorisch-fiktives Ich sprechen hören.¹⁷ Jedoch stört und unterbricht dabei die pluralische Ansprache in v.12 den Zusammenhang. Daher liegt es nahe anzunehmen, dass Paulus hier tatsächlich von sich selbst spricht: Er verweist auf sich und seine Zurückhaltung und stellt sie damit in diesem Zusammenhang als vorbildliche Haltung dar.¹⁸ Die Verbindung von 8,13 zu v.1– 12 ist auf der semantischen Ebene durch die Wiederaufnahme der Worte ‚Speiseʻ (βρῶμα: v.8 [zudem v.4: βρώσις]), ‚Bruderʻ (ἀδελφός: v.11.12) und ‚essenʻ (φαγεῖν: v.8) gewährleistet. Der sachliche Zusammenhang besteht darin, dass Paulus hier an sich selbst eine Verhaltensweise bzw. vielmehr eine Verhaltensänderung beschreibt, die geschehen soll, sobald er des brüderlichen Ärgernisses gewahr wird. In v.8 hatte Paulus geschrieben, dass Speise die Gläubigen nicht Gott nahe bringt,¹⁹ da es im Fall des Verzichts keinen

 Fleisch war keine Alltagsspeise, zumal nicht in ärmeren sozialen Schichten, vgl. Theißen, „Starken“ 161. Schätzungsweise lag der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch im antiken Griechenland, ohne Opferfleisch hinzuzuzählen, bei etwa 1 kg und selbst mit Opferfleisch bei nur etwa 2 kg, vgl. J. Rüpke, Die Religion der Römer. Eine Einführung, München 2001, 153. Insofern konnte Fleisch als seltenes und damit möglicherweise begehrenswertes Genussmittel gelten. Auf der anderen Seite berichtet Tacitus (ann. 14,24), dass eine römische Legion einmal in der Einöde gezwungen gewesen sei, Fleisch statt Getreide zu essen (vgl. zudem Caes.Gall. 7,17). Insofern muss man wiederum auch nicht davon ausgehen, dass Fleisch automatisch einem jeden Menschen schmecken muss – dem antiken Menschen, der an Getreide gewöhnt war, schon gar nicht. Eine Verführung, einmal etwas Neues und Ungewohntes zu kosten, wird es dennoch dargestellt haben.  Der Konnex von der Liebe zu Gott und dem Bekenntnis zu dem einen Gott, das Paulus in 8,4– 6 vorbringt, findet sich in Dtn 6,4 f wieder. Aus diesem Basistext werden wahrscheinlich Paulus’ Gedanken hier gespeist, vgl. Wolff, Brief 171.  Dodd, ‚I‘ 99 erkennt hier (wie bereits in 5,12 und 6,12) ein hortatives bzw. paradigmatisches Ich, das wie ein Du gemeint ist und damit eine bestimmte geforderte Verhaltensweise anzeigt.  Auch Berger, Formen 159 sieht hier das epistolare Ich als ein Beispiel eingesetzt.  Die Bedeutung von παριστάναι wird entweder in der Forensik gesucht (als ‚dem Richter vorführenʻ, so etwa Weiß, Korintherbrief 229; Conzelmann, Brief 183 Anm. 21; Klauck, Korintherbrief 64 f) oder im Gedanken der Gemeinschaft mit Gott, vgl. Bachmann, Brief 306; Lietzmann, Korinther 38 f; Wolff, Brief 179.

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Nachteil bedeutet, wie gleichermaßen im Fall des Verzehrs keinen Vorteil. Speise habe damit an sich gegenüber Gott einen adiaphoren Charakter.²⁰ Diese Eigenschaft der Speise werde aber durch das schwache Gewissen eines Bruders gleichsam unkenntlich gemacht. Vielmehr führe die Versuchung, es dem wissenden Bruder gleichzutun und vom Opferfleisch zu essen, zu seinem Verderben (v.11). Somit stellt zwar nicht das Essen von Idolenopferfleisch ein Fehlverhalten der wissenden Brüder dar, sehr wohl aber dass sie es geschehen lassen, dass die schwachen Brüder ihretwegen ins Verderben laufen. Das Fehlverhalten (v.12: ἁμαρτάνειν) gegenüber den schwachen Brüdern erweise sich im Endeffekt als Fehlverhalten gegenüber Christus. In v.13 nun stellt sich Paulus, der sich zuvor als ein ebenfalls Wissender präsentiert hatte (v.4– 6), als Vorbild für die anderen Wissenden dar: Obwohl er um die Nicht-Existenz der sogenannten Götter weiß und nur den einen Gott und den einen Herrn kennt und bekennt und von daher jede (Opfer‐)Speise essen könnte, würde er darauf verzichten,²¹ um dem schwachen Bruder kein Ärgernis zu bereiten. Die Vollmacht, die er den wissenden Korinthern zugesprochen hat (v.9), teilt er mit ihnen, beansprucht sie aber nicht für sich. Das Thema der bewusst nicht genutzten Vollmacht ist bestimmend für das folgende Kapitel. Somit erweist sich der folgende autobiographische Abschnitt c.9 weniger als Exkurs²² denn vielmehr als eine Explikation dieser verzichtenden und rücksichtsvollen Haltung.²³

3 1Kor 9,1 – 27: Autobiographische Explikation Offensichtlich erwartet Paulus eine negative Antwort auf die von ihm in 8,13 propagierte und für sich selbst beanspruchte Verhaltensweise. Dies wird deutlich durch die vier rhetorischen Fragen, die sich in 9,1 direkt anschließen und seine Autorität untermauern sollen. Sie bilden den Auftakt für eine längere Einlassung, die Paulus selbst als Apologie (9,3: ἀπολογία) gegen Menschen, die ihn beurteilen bzw. verhören (ἀνακρίνειν), bezeichnet. Dabei wird allerdings nicht deutlich wird,  Eine ähnliche Denkfigur bezüglich der Speise(n) äußerte Paulus bereits in 6,13.  Dass Paulus hier allgemein von ‚Fleischʻ (κρέα) spricht und nicht bloß von Opferfleisch, weist in die Richtung, dass er im Interesse des Bruders sogar eine völlige Ernährungsänderung vornehmen würde.  So etwa Lindemann, Korintherbrief 8; Lietzmann, Korinther 43 nur zu v.1– 18. Auch Merklein, Brief II 210 f nennt c.9 einen Exkurs, erkennt aber gleichwohl dessen Wert als Argument innerhalb der Erörterung um das Idolenfleisch an.  Mitchell, Paul 249 f nennt c.9 ein „exemplary argument“ innerhalb von 8,1– 11,1. Johnson, Writings 281– 283 versteht 9,1– 10,13 als die beiden mittleren Stufen in Paulus’ Argumentation 8,1– 11,1, dass Starke sich um der Schwachen willen selbst Grenzen setzen müssen.

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gegen wen eigentlich seine ‚Widerredeʻ gerichtet ist: gegen Teile der Gemeinde²⁴ oder Leute von außen²⁵ oder überhaupt niemanden²⁶. Der vorherige Gebrauch von ἀνακρίνειν in Bezug auf Paulus in 4,3 f nannte als Beurteilungsinstanzen die Gemeinde, ein menschliches Gericht und den Herrn, so dass von daher wohl die Gemeinde bzw. Teile von ihr als Adressaten der Apologie in c.9 gemeint sind.²⁷ In jedem Fall wird der zuvor symbuleutische Ton nun dikanisch, was an der Verwendung etlicher Formmerkmale der Apologie deutlich wird:²⁸ hauptsächlich Reden in der 1.P.Sg., autobiographische²⁹ Abschnitte (v.1.4– 6.11a.12b.15 – 18.19 – 23.26 f), rhetorische Fragen (v.1.4.5.6.7.8.10.11.12a.13.24), Gebrauch des Wortes ἀπολογία (v.3), Abgrenzung (v.2.5.12.15), retrospektive Behandlung des Ich/IhrVerhältnisses (v.11 f), Selbstbericht über Verkündigungstätigkeit (16 – 23.27), Argumentation mit dem Gesetz (v.9 f). In c.9 verteidigt der Apostel seine Freiheit (v.1: ἐλεύθερος). Diese erweist sich als Ungebundenheit gegenüber allen menschlichen Konventionen und Ansprüchen, auch innerhalb der christgläubigen Gemeinschaft.³⁰ Paulus’ Freiheit sei

 Vgl. G. Dautzenberg, „Der Verzicht auf das apostolische Unterhaltsrecht. Eine exegetische Untersuchung zu 1 Kor 9,“ in: Biblica 50 (1969), 212– 232 (213 f); Wolff, Brief 187 (die Wohlhabenden).  Vgl. Lietzmann, Korinther 39 („Kephasleute“); Conzelmann, Brief 188; Merklein, Brief II 215. Barrett, Brief 236 ist unentschieden.  Vgl. Bachmann, Brief 333 – 313: Paulus bezieht nicht gegenüber tatsächlichen, sondern lediglich möglichen Vorwürfen Stellung. Das ἄλλοις in 9,2 muss tatsächlich auch gar nicht auf ‚Gegnerʻ hinweisen, sondern kann dahingehend verstanden werden, dass ein Apostel immer nur Apostel seiner von ihm gegründeten Gemeinde sein kann – paraphrasiert: ‚Wenngleich ich anderen kein Abgesandter des Herrn bin – denn sie und ich haben nicht eine Beziehung von Gemeinde und Gründer zueinander –, so bin ich es aber euch freilich, denn ihr im Herrn seid ja mein Beweissiegel des Abgesandt-Seins.ʻ  Nicht unerwähnt soll die Möglichkeit sein, dass auch der Herr selbst als Adressat der Apologie gemeint sein könnte. Dies würde sich sowohl aus 4,4 ergeben als auch daraus, dass Paulus mit seinem Verzicht auf die apostolischen Privilegien gegen eine Anordnung des Herrn (9,14) verstößt. Allerdings richtet sich Paulus in 9,3 gegen eine Gruppe von Beurteilenden,was gegen die genannte Möglichkeit spricht. Gleichwohl können sie sich in ihrer Kritik an Paulus auf die Anordnung des Herrn berufen haben.  Zu den Merkmalen der antiken Apologie vgl. Berger, Formen 425. Was demnach in 1Kor 9 diesbezüglich fehlt ist eine captatio benevolentiae zu Anfang (so sie gegenüber den Wissenden nicht bereits in 8,1.4.7 erfolgt ist), eine Unschuldserklärung, eine Feststellung der Anklage und Widerlegung im einzelnen.  ‚Autobiographischʻ bezieht sich nach dem von mir festgestellten Verständnis allgemein auf die individuelle Lebensweise, nicht bloß das in der Vergangenheit gelebte Leben.  Aus der direkten Folge von 9,1 auf 8,13 als Einwand gegen mögliche Kritik geht hervor, dass Paulus’ Freiheit in der Ungebundenheit gegenüber menschlichen Konventionen (in diesem Fall der korinthischen Wissenden) besteht. Weiterhin wird aus der Formulierung ihres Gegenteils,

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begründet in seiner göttlichen Beauftragung als Apostel, die auf seiner Vision des Auferstandenen Jesus fuße (v.1). Paulus greift hier also auf eine Begebenheit aus seiner Vergangenheit zurück, um in die Gegenwart hinein zu wirken. Weil Paulus aber nun durch die Vision des Herrn rechtmäßig Apostel sei, genieße er (analog zu den Korinthern: 8,9) gewisse Vorrechte oder Erlaubnisse: ἐξουσία (9,4.5.6.12b³¹.18). Die Erlaubnis aller Apostel bestehe darin, auf Kosten anderer zu essen, zu trinken und mit der eigenen Ehefrau zu reisen bzw. Quartier zu beziehen sowie nicht arbeiten zu müssen (9,4– 6). Paulus hat aber in 7,7 f bereits erklärt, dass seine besondere Gottesgabe in der völligen sexuellen Selbstbeherrschung (ἐγκράτεια) bestehe. Darum hat er es gar nicht nötig, eine Frau ständig bei sich zu haben.³² Außerdem hatte er zuvor in 4,12 betont, dass er unter Mühen mit den eigenen Händen für seinen Lebensunterhalt arbeite.³³ Damit sei er auf die Unterstützung der Gemeinde(n) gar nicht angewiesen. Paulus hätte zwar als Apostel die Möglichkeit gehabt, auf Kosten seiner Gemeinde(n) zu leben, habe davon aber bewusst nicht Gebrauch gemacht (9,12.15). Lieber wolle er sterben, als dies zu ändern, denn in seinem Privilegienverzicht liegt das, worauf er gegenüber anderen stolz ist (καύχημα),³⁴ begründet (9,15).³⁵ Dahingegen sei die Verkündigung des Evangeli-

nämlich der Selbstversklavung des Paulus, in v.19 die Freiheit des Apostels als Ungebundenheit gegenüber menschlichen Ansprüchen deutlich, vgl. Wolff, Brief 188.  Fraglich ist, ob in 9,12a τῆς ὑμῶν ἐξουσίας als genitivus obiectivus („Vorrecht auf euch“ i.S.v. Anrecht auf Unterhalt durch die korinthische Gemeinde) oder als genitivus subiectivus („euer Vorrecht“) zu lesen ist. Für gen.obi. votieren Bachmann, Brief 318; Lietzmann, Korinther 41 f; Conzelmann, Brief 192; Klauck, Korintherbrief 67 f; Lindemann, Korintherbrief 206; Wolff, Brief 194. Diese Lesart empfiehlt sich womöglich auch aufgrund der Mittelstellung des Personalpronomens ὑμῶν gegenüber 8,7 (ἡ ἐξουσία ὑμῶν), wo ein gen.subi. vorliegt. Hingegen Zeller, Brief 307 (mit Anm. 171) erkennt in 9,12a eine Bedeutungsverschiebung: ἐξουσία als „Vermögen“. Aber warum sollte Paulus hier mit dem Wort in (auch die Korinther) verwirrender Weise etwas anderes meinen als zuvor und direkt danach (v.12b.18), zumal er ἐξουσία sonst auch nicht in dieser Weise verwendet?  Zudem solle man aufgrund des nahe bevorstehenden Weltgerichts als Verheirateter so leben, als sei man nicht verheiratet (7,29). Im Nachhinein kann also aus diesem früheren Aufruf in c.7 auch eine leise Kritik an der – Paulus zufolge – sexuell unbeherrschten Lebensweise der anderen Apostel herausgehört werden.  Diese Behauptung umfasste auch die anderen Apostel (4,9). Dass diese sich aber dadurch ebenso einem Unterhaltsverzicht unterwerfen können wie Paulus, verfolgt er in c.9 nicht weiter. Offenbar ist solch ein Verhalten ohnehin ein Verstoß gegen eine direkte Weisung Jesu: Denn nach 9,14 hat der Herr den Verkündern des Evangeliums befohlen (διέταξεν), aus dem Evangelium zu leben. Diese Weisung deutet Paulus aber in Analogie zu Priestern im Tempel (9,13) und mit einem alttestamentlichen Schriftbeweis (9,9) in seinem Interesse zu einem Vorrecht um. Vgl. zu dieser Argumentation Theißen, „Legitimation“.  Stolz sein bzw. Rühmen ist ein „zwischenmenschliche[r] Kommunikationsakt, der seine Basis oder seinen Horizont in Gott hat“ (Wilk, „Ruhm“ 77).

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ums keine freiwillige Angelegenheit, auf die Paulus ebenfalls etwa stolz sein könnte, sondern vielmehr ein Zwang, den zu bekämpfen schlimme, nicht weiter ausgeführte Folgen für ihn haben würde (9,16).³⁶ Dazu, wie 9,17 f zu übersetzen sei, gibt es mehrere Vorschläge. Die meisten Kommentatoren gehen mit dem von Nestle-Aland vorgeschlagenen Schriftbild. Demnach gebe es einen Parallelismus in v.17, der den Lohn für freiwilliges Arbeiten der anvertrauten Verwaltung für unfreiwilliges Arbeiten gegenüberstellt. Weiterhin wird dann der ἵνα-Satz v.18 wie ein Subjektsatz epexegetisch als Antwort auf die vorangehende Frage gelesen.³⁷ Das Futur θήσω im ἵνα-Satz verliert seine finale Bedeutung und erscheint wie ein Konjunktiv im Nebensatz in Abhängigkeit vom ἵνα.³⁸ Dieser Antwort zufolge bestünde der Lohn für Paulus’ unfreiwilligen Dienst in der unentgeltlichen Evangeliumsverkündigung. Diese Lesart kann nicht überzeugen. In v.17 wird nach dieser Lesart eindeutig gesagt, dass es Lohn nur für freiwilliges Arbeiten geben kann.³⁹ Wenn das so ist, was sollte dann aber Paulus’ Frage nach seinem Lohn für unfreiwilliges Arbeiten? Dies würde sich logisch doch wohl verbieten,⁴⁰ da es für unfreiwilliges Arbeiten eben keinen Lohn gibt. Die Frage entpuppt sich also als rein rhetorische. Außerdem erscheint es auch überhaupt nicht sinnvoll, den Lohn dahingehend zu qualifizieren, dass dieser im unentgeltlichen Arbeiten des Apostels bestünde. Ist bei Paulus wirklich der Weg das Ziel, allein die unentgeltliche Verkündigung bereits die Belohnung?⁴¹ Im Gesamtzusammenhang des Briefes wäre das unlo-

 9,15 muss nicht als Anakoluth zu verstehen sein, wenn man mit Bachmann, Brief 320 f ἤ als Beteuerungspartikel ἦ liest – dagegen Schrage, Korinther II 320 Anm. 243.  S. Kreuzer, „Der Zwang des Boten – Beobachtungen zu Lk 14,23 und 1Kor 9,16,“ in: ZNW 76 (1985), 123 – 128 sieht hinter 9,16 Lk 14,23(S) stehen, wo es um einen zur Mission selbstauferlegten Zwang der Knechte geht. Die Selbstauferlegung ist eine bindende Verpflichtung eines Knechtes gegenüber seinem Herrn (126 f). Spricht darüber hinaus nicht auch gerade 9,27 (wie bereits 7,7 f – freilich als Gottesgabe) für die Selbstüberwindung und Selbst(be)zwingung des Paulus in diesem Sinne?  So etwa wie in 4,2, dort aber mit Konjunktiv im Nebensatz.  Indikativ Futur und Konjunktiv Aorist werden in der Koine in ἴνα-Sätzen nahezu austauschbar, vgl. BDR § 369. Wahrscheinlich liegt das an der ohnehin gegebenen finalen Bedeutung des Futur, die die logische Richtung in einem ἵνα-Satz (wie dann sogleich in v.19 – 22 zu sehen) ursprünglich noch verstärken sollte.  Das ist allgemeines (griechisches) Denken,vgl. etwa Thuk. 7,57,10, wo es von den Kretern heißt, sie kämpften „freiwillig gegen Lohn“ (ἑκόντας μετὰ μισθοῦ).  Entsprechend fügt daher wohl die Minuskel 1505 mit wenigen anderen Textzeugen hier ein ουκ ein.  Selbst Zeller, Brief 310 bemerkt: „[H]ier entsteht sogar ein gewisser Widerspruch zu 3,8.14, wenn man an einen Lohn von Gott her denkt“. Diesen Widerspruch kann er dann aber nur umgehen, indem er behauptet, μισθός sei mit Verweis auf Mt 5,46 f als „so etwas wie ‚Auszeichnungʻ“

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gisch. Dass Paulus nicht bloß von Arbeit als Lohn, sondern von einer Belohnung bei Gott für sein Wirken ausgeht, ist bereits in 3,8; 4,5 angeklungen.⁴² Warum sollte er jetzt darauf verzichten wollen? Wenn dies alles stimmt, dann muss der Text aber daraufhin untersucht werden, wie Paulus die Belohnung in c.9 beschreibt. Die Sätze v.17 f ergeben m. E. erst dann einen angemessenen Sinn, wenn man anders als Nestle interpunktiert. Dies wird für v.17– 18a von den Kommentaren vereinzelt auch getan:⁴³ v.17b ist dann der Vordersatz zur Frage v.18a. Damit ergibt sich eine parallele Konstruktion der beiden Sätze v.17a und v.17b–18a. Der ἵνα-Satz v.18b ist außerdem nicht epexegetisch zu lesen, sondern als Umschreibung für einen Imperativ zu verstehen.⁴⁴ Dann ergibt sich folgende Übersetzung: „Denn wenn ich dies freiwillig tue, erhalte ich Lohn. Wenn mir aber unfreiwillig eine Verwaltung anvertraut worden ist, was ist dann mein Lohn? Ich soll [oder: will] unentgeltlich verkündigend das Evangelium aufstellen, um ja nicht meine Vollmacht im Evangelium zu gebrauchen [oder: zu missbrauchen⁴⁵]!“ Paulus spricht in v.17 von einer Verwaltungstätigkeit (οἰκονομία), zu der er von Gott verpflichtet worden ist (passivum divinum). Den Begriff οἰκονομία bei Paulus

zu verstehen, weshalb man daher die Bedeutung „,Lohnʻ hier in Anführungszeichen setzen muss“[!] (ebd.). M.W. geht es auch in Mt 5,46 f um himmlischen Lohn und nicht eine Auszeichnung (so etwa auch E. Lohmeyer, Das Evangelium des Matthäus. Nachgelassene Ausarbeitungen und Entwürfe zur Übersetzung und Erklärung. Für den Druck erarbeitet und hg.v. Werner Schmauch (KEK Sonderband), Göttingen 21958, 148: der Lohn sei, „einzugehen in das Himmelreich“).  Dort ist freilich von einem zukünftigen Erhalt des Lohnes die Rede, s. aber auch Mt 5,46. Wir können und sollten in c.9 also von einer Bedeutungsverschiebung ausgehen: weg von einer materiellen Entlohnung hin zu einer immateriellen Belohnung. Dass Paulus nun eben keinen irdischen Lohn für seinen Unterhalt braucht, hat er ja bis dahin bereits hinlänglich bekannt gegeben. In weltlichen Dingen kann er sehr gut für sich selbst sorgen.  Vgl. Bachmann, Brief 322 f; Barrett, Brief 245; Schrage, Brief II 326. Merklein, Brief II 209 deutet entsprechend an.  Vgl. Bauer, Wörterbuch s.v. ἵνα III.2; BDR § 387: ἵνα + Konjunktiv als Ersatz für den Imperativ (mit einem Dank an meinen Doktorvater für diesen Hinweis). Wie oben bemerkt, werden Konjunktiv Aorist und Indikativ Futur in der Koine austauschbar, so dass 9,18 nach meiner Übersetzung ganz im damaligen Sprachgefühl liegen würde. Eine Alternative zur obigen Lesart, die ein epexegetisches Verständnis umgeht, ist ein finales Verständnis von v.18b (als ergänzende Erläuterung der Frage v.18a), vgl. Bachmann, Brief 323 f, der mit der Möglichkeit, den Satz als „finale Konjunktion“ zu nehmen, spielt. Parallelen im NT zu diesem Gebrauch von ἵνα gibt es in Lk 1,43; Joh 15,13; 3Joh 4, vgl. Steyer, Satzlehre 75. Bachmann verwirft diese Möglichkeit aber, weil a) der lange Nachsatz dann den Parallelismus v.17a zu v.17b–18a zerstören würde und b) schließlich auch kein Motiv für das unentgeltliche Verkündigen des Paulus genannt würde. Das erste Argument ist rein stilistisch und damit nicht wirklich stichhaltig, das zweite hat allerdings mit dem rechten Verständnis von γάρ v.19 zu kämpfen.  Vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 299.

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kann man in Analogie zur antiken Zwangsliturgie sehen. Dabei wurde einem durch Los-Verfahren bestimmten Menschen ein unentgeltliches Ehrenamt mit persönlicher Haftung des Beamteten übertragen.⁴⁶ Das Los-Verfahren, das bei der Zwangsliturgie zum Einsatz kommt, gilt seit alters her als göttliche Verfügung (so auch Apg 1,26), insofern ist auch die Zwangsliturgie ein göttlicher Auftrag. Die göttliche Beauftragung bei Paulus ist unbestritten. Zudem hatte er bereits in 4,1 f von sich wie auch Apollos und Petrus als οἰκονόμοι („Verwalter“) der Geheimnisse Gottes gesprochen. Paulus greift hier also ein in der Antike allgemein bekanntes Bild zur Selbstbeschreibung auf. Die Frage v.18a kann nur als rhetorisch verstanden werden mit der eindeutigen Antwort: Es gibt keinen Lohn für eine unfreiwillige οἰκονομία. Gerade vor dem Hintergrund der Zwangsliturgie verstärkt der ἵνα-Satz unter einem imperativischen bzw. kohortativen Verständnis noch diese Aporie: Nicht nur, dass Paulus unfreiwillig dieses Amt auf sich nehmen musste und sowieso keinen Lohn erwarten kann, er verzichtet ja selbst noch auf eine Unterstützung durch die Gemeinde(n). Durch das Verständnis von v.18b als Imperativ klärt sich auch das von vielen Exegeten als Problematik angesehene Vorhandensein von γάρ in v.19.⁴⁷ Die v.19 – 23 liefern die autobiographische Begründung für Paulus’ Vorrechtsverzicht: Wie er jetzt und in Zukunft handeln soll, hat er in entsprechender Weise durch seine Selbstversklavung bereits früher gehandelt. Der ganze Passus 9,19 – 23 ist sehr kunstvoll aufgebaut. Er besteht aus sieben Sätzen, die jeweils mit einem finalen ἵνα-Satz enden (v.19.20a–b.20c–e.21.22a– b.22c–d.23). 9,19 stellt mit ἐλεύθερος den Zusammenhang zu 9,1 her und fungiert als Einleitung für die folgenden Sätze. Es ist verführerisch, eine chiastische Struktur der sieben Sätze anzunehmen, die sich in irgendeiner Weise um v.21 gruppieren. Tatsächlich aber leitet v.23 mittels δέ einen neuen Gedanken ein und passt sich bloß der Form nach den vorhergehenden Sätzen an.Von daher ist dann v.22c–d als ein Fazit des Vorhergehenden zu nehmen, da es mit πᾶσιν v.19 wiederaufnimmt (und mit πάντα in gewisser Weise zu v.23 überleitet), aber in seinem

 Vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 353 – 357. Dort wird auch von Menschen berichtet, die sich ihrem Amt und der damit verbundenen großen finanziellen Eigenverantwortung nur durch Flucht zu entziehen verstanden.  So Weiß, Korintherbrief 242 Anm. 2: „Im überlieferten Text läßt es sich kaum rechtfertigen“; Conzelmann, Brief 196 kann damit auch nicht viel anfangen. Lietzmann, Korinther 43 versteht γάρ hier als „nicht begründend, sondern nur weiterführend“. Merklein, Brief II 228 sieht darin eine Schlussfolgerung.

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ἴνα-Satz statt κερδαίνειν das stark eschatologisch klingende σώζειν verwendet.⁴⁸ V.19 und v.22c–d bilden also eine Klammer. Deutlich stehen sich zudem die in den beiden Teile v.20 und v.21 genannten Gruppen gegenüber: Juden⁴⁹ und (synonym) die unter dem Gesetz vs. die Gesetzlosen.⁵⁰ Das ἐγενόμην zu Beginn von v.22a deutet auf einen Neuansatz hin. Gerade die Nennung der Schwachen und eben nicht ‚der Griechenʻ im allgemeinen als (chiastischer) Gegenpart zu ‚den Judenʻ in v.20 (wie noch in 1,22– 24) lässt aufhorchen. Paulus kommt damit zurück auf die Ausgangsproblematik des Umgangs mit den Schwachen in der korinthischen Gemeinde. Die Schwachen bilden für Paulus eine besondere (Unter‐)Gruppe im Hinblick auf Juden und Heiden. Hierbei muss es sich um konservative christusgläubige Heiden handeln, die Gesetzesgrundlagen für ihr alltägliches Leben brauchen (s.o. 2.4.1), aber eben nicht die Torah als ganze haben – dann wären sie ja Juden. Paulus stellt sich also als jemand dar, der sich bereits in der Vergangenheit an all diese Gruppen angepasst habe, wobei die Nennung der Schwachen in v.22a die Klimax der Gruppennennung bildet.⁵¹

 Dadurch wird die letztendliche Perspektive des Gewinnens verdeutlicht: Ziel allen Verkündigens ist die Rettung der Angesprochenen im Endgericht. Doch ist die Rettung erst der zweite Schritt nach dem Gewinnen.  Mit ‚die Judenʻ meint Paulus wohl tatsächlich generell alle Juden, die sich durch ihre Abstammung der Thora verpflichtet sehen. Dass er ihnen ‚wie ein Judeʻ wird, bedeutet dann nicht, dass er etwa vorher kein Jude gewesen wäre, sondern vielmehr dass er ihnen wie ein ‚normalerʻ Jude erscheint, der offenkundig das Gesetz befolgt. Dem Gesetz des Mose braucht Paulus sich aber nicht mehr unterworfen zu sehen, denn dessen Fluch ist ja durch Christi Kreuzestod und seine Auferweckung überwunden (Gal 3,13).Tatsächlich greift hier wohl das Gesetz Christi (1Kor 9,21; Gal 6,2, s.u.), das durch das Abnehmen und Wegtragen von Lasten erfüllt wird – so etwa auch im Umgang mit altgläubigen Juden durch das Befolgen der Reinheitsgebote. Allein der Glaube an Christus aber bringt das Heil, und daraus resultiert dann ein neues Verhalten mit neuen Normen.  Ich verstehe somit – gegen Lindemann, Korintherbrief 212 – v.20a–b.c–e doch als parallel. „,[J]udaisierendeʻ Christen“ (ebd.), also Proselyten, sind, so sie wahrhaft judaisieren (vgl. Gal 5,3), empirisch Juden; insofern scheidet die Möglichkeit aus, unter ‚denen unter dem Gesetzʻ Heiden zu verstehen. Allenfalls bliebe die Möglichkeit, in v.20b besonders thoratreue Juden zu erkennen; diese sind aber ebenfalls empirisch ‚dieʻ Juden (v.20a). Es bleibt also beim Parallelismus in v.20a– b.c–e. So schließt auch Merklein, Brief II 230, der in denen ‚unter dem Gesetzʻ „die Juden in ihrer – von Christus absehenden – Selbstsicht und Selbstdefinition“ erkennt. Lietzmann, Korinther 43 macht zudem darauf aufmerksam, dass Paulus durch die Einführung der Kategorie ‚Gesetzʻ einen deutlichen Unterschied zwischen den ‚normalenʻ Ἰουδαίοι einerseits und sich selbst (als Ἰουδαῖος) andererseits aufzeigen und betonen kann.  Mit den Schwachen in 9,22 sind zwar Menschen andernorts und auch andernzeits gemeint, aber die Schwachen in Korinth sind natürlich voll im Blick.

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1Kor 9,19 – 23 ist ein Rückblick auf seine bisherigen Verkündigungspraxis:⁵² Paulus, obwohl er frei von allen Menschen sei, habe sich selbst doch ihnen allen „zum Sklaven gemacht“ (9,19: ἐδούλωσα) und sich an sie angepasst. Ziel dieser Anpassung sei, die jeweiligen Menschen zu gewinnen. So habe sich Paulus an die Juden und Heiden jeweils individuell angepasst und sei wie (ὡς: v.20[bis].21) einer von ihnen geworden. Für die Gruppe der ‚Schwachenʻ sei Paulus sogar selber ein Schwacher geworden (v.22: kein ὡς!); dies ist ein Rückgriff auf 1Kor 8,7– 13,wo es ja um das Verhalten der ‚Stärkerenʻ gegenüber den gewissensschwachen Mitgläubigen beim Essen von Idolenopferfleisch ging. Paulus versucht damit also zu zeigen, dass er in seiner Verkündigungspraxis immer zielgruppenorientiert verfahren ist und dabei sogar seine eigenen religiösen Überzeugungen (inklusive jedes Vorrecht/ἐξουσία) dem Ziel unterworfen hat, immer neue Gläubige zu gewinnen (9,19: κερδήσω). Trotz seiner Freiheit – das Wort ἐλεύθερος nimmt er nach v.1 nun erst in v.19 wieder auf – hat er sich selbst zum Sklaven aller gemacht, um dieses Ziel zu erreichen. Das hier und im Folgenden fünfmal gebrauchte Verb κερδαίνειν als Terminus der ‚Missionsspracheʻ zu bezeichnen,⁵³ ist verfehlt.⁵⁴ Wenn man sich den sonstigen Gebrauch der Wortgruppe bei Paulus (Phil 1,21; 3,7.8), dann aber auch im übrigen NT (Mk 8,36 par.; Mt 18,15⁵⁵; 25,16 f.20.22; Apg 27,21⁵⁶; Tit 1,11; Jak 4,13) ansieht, so ist es primär Ausdruck für ein persönliches Gewinn-Denken. Erst recht spät und minoritär tritt im NT eine explizit missionarische Vorstellung hinzu (1Petr 3,1). Κέρδος kommt zwar in LXX nicht vor, bei Symmachus kann es aber für ‫שכר‬ stehen (Eccl 4,9), was die LXX wiederum mit μισθός wiedergibt.⁵⁷ Das Wort kann

 Dass es hier um Verkündigung geht, stellen die Rahmenverse 9,18.23 sicher, wo dreimal εὐαγγέλιον und einmal εὐαγγελίζειν verwendet wird.  Vgl. H. Schlier, „κέρδος κτλ.,“ in: ThWNT 3 (1938), 671– 672 (672, nach Weiß); ebenso Barrett, Brief 246; Zeller, Brief 317.  Ebenso W. Reinbold, Propaganda und Mission im ältesten Christentum. Eine Untersuchung zu den Modalitäten der Ausbreitung der frühen Kirche (FRLANT 188), Göttingen 2000, 178, der allerdings allein von der Textlogik von 1Kor 9,19 ff ausgeht und keine Wortfeldanalyse vornimmt.  Hier geht es um das Gewinnen des sündigen Bruders, also ums Gemeindeleben, nicht um Mission. D. Daube, „κερδαίνω as a Missionary Term,“ in: HThR 40 (1947), 109 – 120, der den Nachweis einer Herkunft des Wortes aus der jüdischen Missionssprache zu führen sucht, tritt für eine doppelte Übersetzung ein: „‚to win over an unbeliever to one’s faith‘ (I Cor. 9.19 – 22, I Pet. 3.1) or ‚to win back a sinner to the way of life required by his and your faith‘ (Matt. 18.15)“ (109), je nachdem, ob es um äußere oder innere Mission (118!) gehe. Dabei muss aber auch er zugeben, dass „this application of κερδαίνω is quite un-Greek“ (109).  Dort im Sinne von „sich persönlich etwas [nämlich Leid] ersparen“.  Vgl. Schlier, „κέρδος“ 672. Wo κέρδος in den griechischen Bibelübersetzung von Aquila, Symmachus und Theodotion vorkommt, setzt LXX stets andere Worte ein, die aber allesamt vom

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also durchaus als Austauschbegriff für μισθός stehen und bezeichnet generell die (gerechtfertigte wie ungerechtfertigte) Entlohnung für eine Leistung.⁵⁸ Eine ähnliche, aber doch anders gelagerte Vorstellung vom Gewinn als Lohn findet sich hier in 1Kor 9.⁵⁹ Mit der rhetorischen Frage v.18a hatte Paulus bereits klargestellt, dass er für seine Verkündigungstätigkeit keinen Lohn zu erwarten hat. Die folgenden v.19 – 22 begründen dies in retrospektiver Weise: Paulus hat sich allen zum Sklaven gemacht, der ohnehin keinen Lohn erwarten darf. Die Wortwahl geht aber in eine andere Richtung: In den beigeordneten ἵνα-Sätzen ist stets von einem Gewinn des Paulus die Rede. Stellt dieser Gewinn der verschiedenen Menschen also doch Paulus’ Lohn dar? Aufgrund der vorherigen Feststellung, dass er sich selbst versklavt hat, ist dies zu verneinen. Gleichwohl steht am Ende von Paulus’ Überlegungen eine persönliche Lohnerwartung. Das Fazit in v.22c–d weist eine parallele Struktur zu den vorhergehenden Sätzen auf. Der abschließende ἵνα-Satz (v.22d) jedoch beinhaltet die Vorstellung, dass Paulus einige derjenigen, denen er ‚alles gewordenʻ ist, retten werde (σώσω/ „ich werde retten“). Die Vorstellung, dass ein Mensch andere (zum Heil) rettet, ist bei Paulus sehr selten (Röm 11,14; 1Kor 7,16). Sonst herrschen stets – oft vermittelt durch den Gebrauch des passivum divinum – die Vorstellung und die Sprache vor, dass die Menschen von Gott bzw. Christus gerettet werden (z. B. Röm 5,9; 1Kor 1,21). Vor diesem Hintergrund erscheint die menschliche Tat des Rettens, von der Paulus in 9,22 spricht, im Kern als eine Tat Gottes. Die Parallelität des Textaufbaus kann dann aber im Sinne einer Parallelität der Ausdrucksweise dahingehend verstanden werden, dass (wie das Retten) auch das Gewinnen, das Paulus hier für sich beansprucht, nicht sein, sondern im Kern Gottes Gewinn ist. Als Sklave steht Paulus ohnehin kein Gewinn zu. Jedoch führt v.23 einen neuen Gedanken ein: Paulus versklavt sich allen Menschen um des Evangeliums willen, um dessen Teilhaber zu werden. Waren in den vorhergehenden Nebensätzen die anderen stets im Blick, rückt in v.23b nun Paulus in den Fokus. Hier wird die Motivation des Apostels für sein Handeln erGedanken eines Lohnes oder persönlichen Nutzens ausgehen: Gen 37,26 χρήσιμον; Ps 29,10 & Hi 22,3 ὠφέλεια; Ez 27,24 & Mi 4,13 πλῆθος.  Das entspricht griechischem Sprachgefühl. In Thuk. 7,57,10 heißt es von einigen der Akarnaniern, dass sie wie die freiwillig gegen Lohn kämpfenden Kreter zugleich für Gewinn (ἅμα μὲν κέρδει) kämpften. Siehe auch Xen.mem. 1,2,6 f (mehr dazu unten); Demosth.or. 5,21; Aristot.eth.Nic. 1164A; Aristot.pol. 1287A. Eng aneinander, obschon nicht ganz deckungsgleich liegen die Worte bzw. deren Derivate etwa bei Eur.Rhes. 161– 165; Soph.Ant. 221 f (Todesstrafe als Lohn bei Hoffnung auf anderen Gewinn).293 – 312; Aristoph.Eccl. 206 f; Xen.Ag. 4,4 f; Plat.leg 921C.  Mitchell, Paul 248 scheint μισθός und κέρδος gleichzusetzen, ohne allerdings eine Exegese dieser Perikope vorzunehmen.

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sichtlich. Die Selbstversklavung gegenüber den verschiedenen Gruppen mit dem (erhofften) Ergebnis des Gewinnens und Rettens geschieht aus dem Bedürfnis, Teilhabe am Evangelium zu bekommen, d. h. das „Teilhaben an den Gütern, die vom Evangelium verheißen sind“⁶⁰. Dabei präsentiert sich Paulus sogar hierin als selbstlos, da er sich in seiner Heilshoffnung ausdrücklich unter die Mitgläubigen einreiht: συγ-κοινωνός („Mit-Teilhaber“). Insgesamt lässt sich also sagen, dass der Lohn für den Apostel nicht im Gewinnen selbst besteht; sein erhoffter Lohn ergibt sich aber aus dem Gewinnen der anderen.⁶¹ Merkantiles, nicht missionarisches Denken steht in 1Kor 9,17– 23 im Vordergrund: Paulus gewinnt die verschiedenen Menschen zunächst für sich, nimmt sie für sich ein, wobei er sie dann gerade dadurch eigentlich erst für Gott gewinnt. Zwar ist die Mission (bzw. das Überzeugen anderer)⁶² eine unbedingte Voraussetzung für das Heil des Paulus.⁶³ Der Gedanke an eine tatsächliche Missionierung der von Paulus Angesprochenen ist aber logisch sekundär gegenüber dem Gedanken der Entlohnung des Apostels: Die Motivation des Apostels, durch den Gewinn anderer am Evangelium Teilhabe zu erlangen, steht am Beginn dieses Prozesses. Erst darauf folgt die Selbstversklavung, die in der Anpassung an andere zum Zweck der Überzeugung besteht. Paulus charakterisiert sich selbst in dem Abschnitt v.19 – 23 noch in besonderer Weise durch die Zusätze „selber nicht unter dem Gesetz“ (v.20d: μὴ ὢν αὐτὸς ὑπὸ νόμον – gegenüber ‚denen unter dem Gesetzʻ) und „nicht gesetzlos in Bezug⁶⁴ auf Gott, sondern gesetzestreu in Bezug auf Christus“ (v.21b: μὴ ὢν ἄνομος θεοῦ ἀλλ’ ἔννομος Χριστοῦ – gegenüber den ‚Gesetzlosenʻ).⁶⁵ Damit macht Paulus deutlich, dass er nicht (mehr) unter dem Einfluss des mosaischen Gesetzes ist

 A. Satake, „Apostolat und Gnade bei Paulus,“ in: NTS 15 (1968), 96 – 107 (105).  Implizit weist diese Vorstellung auf den Gedanken der Gnade Gottes hin: Paulus, der als Zwangverpflichteter Gottes und Sklave aller Menschengruppen keinen Lohn zu erwarten hat, erhofft dennoch (in einem Gnadenakt Gottes) durch seinen Sklavendienst Lohn zu erhalten, der ihm gar nicht zusteht.  Die Möglichkeit besteht, dass 1Kor 9 auf ein Verständnis von κερδαίνειν wie in Mt 18,15 abzielt.  Vgl. Satake, „Apostolat“ 105.  Mit Zeller, Brief 318 (und BDR § 182) verstehe ich die Genitive als Genitive der Beziehung (genitivus respectus).  Die Gegenüberstellung von ἄνομος und ἔννομος ist im Griechischen unüblich. Der natürliche Gegensatz zu ἔννομος (= κατὰ νόμους/„gesetzestreu“) ist παράνομος, vgl. Plat.polit. 302E; rep. 424E oder Demosthenes, De Halonesso 24 f. Gleichwohl ist auch die Möglichkeit der Gesetzlosigkeit im Gegenüber zur Gesetzlichkeit denkbar, vgl. Plat.Polit. 302E. Plato (rep. 424E) gebraucht darüber hinaus die Paarung ἔννομος τε καὶ σπουδαίος; letzteres wird im Hellenismus oftmals als ein Synonym für den Weisen verwendet (etwa bei Philo).

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(v.20d),⁶⁶ sehr wohl aber zu Gott, der dieses Gesetz ja gegeben hat, weiterhin in einem gesetzlichen Verhältnis steht (v.21bα). Dieses legalistische Verhältnis wird nun aber durch Christus vermittelt; ihm gegenüber ist Paulus ‚gesetzestreuʻ⁶⁷ (v.21bβ). Bei aller Anerkennung und Befolgung der mosaischen Tora in der Begegnung mit anderen jüdischen Menschen – letztendlich ist für Paulus nur das Gesetz des Christus verbindlich. Es besteht Uneinigkeit darüber, was dieses Gesetz des Christus ist. Nach Gal 6,2 wird das Gesetz des Christus (ὁ νόμος τοῦ Χριστοῦ) durch das gegenseitige Abnehmen und Tragen der Lasten ‚ausgefülltʻ. Fraglich ist hierbei, ob man das Gesetz des Christus als (von Gott gegebenes) Gesetz für den Christus oder als (den Gläubigen) von Christus gegebenes Gesetz verstehen soll. Darüber hinaus ist fraglich, ob bzw. in welcher Weise man das in Gal 6,2 erwähnte Gesetz des Christus auf 1Kor 9,21 beziehen darf.⁶⁸ Christoph Burchard kommt zu dem Ergebnis, dass das Christusgesetz in Gal 6,2 die Weisung Gottes an seinen Messias ist, die dieser in seinem Kreuzestod erfüllt hat.⁶⁹ Im Anschluss daran seien auch die Christusgläubigen durch die Kreuzesnachfolge zur Nachvollziehung dieser Weisung aufgerufen (Burchard deutet so das ἀνα-πληροῦν). Daher sollten sie sich in der gegenseitigen Übernahme von Lasten behilflich sein, welche sich aus der noch unvollkommenen Erfüllung der Christusweisung und der Belastung durch die nichtgläubige Umwelt ergeben. Im Hinblick auf 1Kor 9,21 erkennt Burchard keinen Bezug zum Christusgesetz von Gal 6,2. Vielmehr versteht er in der Bindung an das bzw. ein(!) Gesetz Christi in 1Kor 9,21 einen Hinweis auf den auf Paulus liegenden Zwang zur Evangeliumsverkündigung, genauer: zur Heidenmission.⁷⁰ Da dieses spezielle Gesetz die sonstigen Gebote der Thora gleichsam aushebelt, könne, dürfe und müsse der Jude Paulus sich auch als Nicht-Jude verhalten. Die These Burchards bezüglich 1Kor 9 basiert zum einen darauf, dass es in v.19 – 23 um einen Rückblick auf die missionarische Praxis des Paulus geht, zum anderen darauf, dass die Heidenmission der Inhalt des speziellen Christusgesetzes sei. Dass es hier aber allein um Mission geht, ist nicht offenkundig (s.o.). Zudem kommt die Verbindung von Heidenmission und speziellem Christusgesetz durch den linguistischen ‚Trickʻ zustande, zwar ein (währendes) Gesetz Gottes zu behaupten, im Falle des (bei ἔννομος 1Kor 9,21 mitgedachten) νόμος des Christus jedoch lediglich von einem (punktuellen) Befehl bzw. einer Ausführungsbestimmung zu sprechen. Burchard selbst macht auf die Verbindung von Gal 6,2 zu Röm 15,1 aufmerksam. Röm 15,1 spricht die Verpflichtung der Starken bzw. Mächtigen (οἱ δυνατοί) gegenüber den Machtlosen (οἱ ἀδύνατοι) an, die darin besteht, deren Schwächen zu ertragen bzw. wegzutragen

 Vgl. Plat.rep. 574E, wo über einen tyrannischen Sohn spekuliert wird, der sich anders verhielt, als er noch unter dem Einfluss der Gesetze sowie des Vaters stand: ὅτε ἦν αὐτὸς ἔτι ὑπὸ νόμοις τε καὶ πατρί.  Zu dieser Übersetzung vgl. Zeller, Brief 315.  Diesen Bezug stellen etwa Klauck, Korintherbrief 70; Wolff, Brief 203 f; Zeller, Brief 318 her.  Vgl. Chr. Burchard, „Die Summe der Gebote (Röm 13,7– 10), das ganze Gesetz (Gal 5,13 – 15) und das Christusgesetz (Gal 6,2; Röm 15,1– 6; 1Kor 9,21),“ in: Sänger, D. (Hg.), Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments (WUNT 107), Tübingen 1998, 151– 183 (171– 183).  Vgl. Burchard, „Summe“ 181.

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(βαστάζειν)⁷¹ und nicht (allein) an sich selbst Gefallen zu finden. Röm 15,1– 6 mutet wie eine Zusammenfassung wesentlicher Themen des 1Kor an.⁷² Gerade in dem Gedanken, den Nächsten nicht aus dem Blick zu verlieren, sondern sich um ihn zu kümmern, ergibt sich eine gemeinsame Schnittmenge von Gal 6,2, 1Kor 8 – 10 und Röm 15, die sich darüber hinaus auch über einzelne gleiche Worte und Vorstellungen manifestiert: das Thema der Starken und Schwachen (Röm 15,1; 1Kor 8 – 10); βαστάζειν (Gal 6,2; Röm 15,1); das Christusgesetz (Gal 6,2; 1Kor 9,20).Vor diesem Hintergrund erscheint es unnötig, für 1Kor 9,20 eine spezielle, von Gal 6,2 abweichende Christusweisung zu behaupten.

1Kor 9,19 – 23 ist somit zwar indirekt auch eine missionarische Technik des Apostels,vor allem aber doch ein pastorales Konzept.⁷³ Der Schlüssel dazu ist eben seine Gesetzestreue in Bezug auf Christus. Nach Gal 6,2 wird das Christusgesetz im gegenseitigen Abnehmen und Wegtragen der Lasten ‚aufgefülltʻ, d. h. auf die spezielle Situation in Korinth übertragen: das Essen von Idolenopferfleisch als Belastung (des Gewissens) der Schwachen gleichsam wegzutragen, also zu unterlassen. Damit ist nicht impliziert, dass die Zielgruppen in 1Kor 9,21 (Gesetzlose) und 9,22 (Schwache) identisch sind. Vielmehr ist der paulinische Umgang mit ihnen identisch: Als Gesetzloser, aber Christus gegenüber gesetzestreuer Gläubiger kann Paulus den anderen Gesetzlosen vorleben, wie man sich um den anderen kümmert; als Schwacher kann Paulus den anderen Schwachen zeigen, dass sie – basierend auf dem Christusgesetz – tatsächlich ein Recht auf Schonung haben. Paulus begegnet also der Gesetzlosigkeit in Korinth, die zu Problemen unter den gottesfürchtigen Heiden dort führte, indem er sich selbst als Beispiel einbringt: Er sei schon früher (und das soll hier wohl heißen: seit seiner Berufung) dem Christusgesetz gegenüber treu geworden und geblieben.⁷⁴ Mit dieser Ein-

 Das Verb βαστάζειν gibt beide Bedeutungsmöglichkeiten her, vgl. Gemoll, Schul- und Handwörterbuch s.v.  Stichworte hierzu sind die Problematik des Umgangs von Starken mit Schwachen (1Kor 8 – 10; Röm 15,1), das Gefallenfinden beim Nächsten (1Kor 10,33; Röm 15,2), die Erbauung (1Kor 8,1; 10,23; 14,5.26; Röm 15,2), die Übereinstimmung im Denken (1Kor 1,10; Röm 15,5).  Vgl. J. D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Edinburgh 1998, 576. Ähnlich verstehe ich auch Lindemann, Korintherbrief 210 z. St.: „Im folgenden geht es um die konkrete Praxis des paulinischen Apostolats, die darauf zielt, durch zweckentsprechendes Handeln in der kirchlichen Arbeit möglichst erfolgreich zu sein.“ ‚Pastoralʻ ist eigentlich das falsche Wort, besser wäre ‚ministeriellʻ im Wortsinn, da es ums Dienen und nicht ums Hüten geht. Völlig gegen einen missionarischen Hintergrund: Reinbold, Propaganda 177 f.  Paulus musste letztlich seine Briefe verfassen, um neue Normen für die heidnischen Gemeindeglieder aufzustellen, die dann allerdings vielfach den jüdischen entsprachen, bloß mit der neuen Begründung in Christus, vgl. S. Meißner, Die Heimholung des Ketzers. Studien zur jüdischen Auseinandersetzung mit Paulus (WUNT II/87),Tübingen 1996, 268 – 280. Paulus war dabei nicht der

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stellung kann Paulus auf alle Menschen frei zugehen und gemeinschaftlich mit ihnen verkehren. Darüber hinaus werden die Schwachen durch diese Einstellung (der Stärkeren) in ihrer Lebensweise geschont. V.22 liefert mit dem Fehlen des unscheinbaren ‚wieʻ/ὥς einen weiteren Hinweis darauf, dass hier ein pastorales Konzept im Hintergrund steht: Im Gegensatz zu den anderen Gruppen (Juden, Gesetzesbefolger, Gesetzlose), denen er sich in ihrem Verhalten (ὥς!) angepasst habe, konnte Paulus sich der Schwachen annehmen, indem er ihren Standpunkt und damit auch ihren Standort⁷⁵ vollends einnahm und selbst schwach wurde. Mit der Erwähnung des eigenen SchwachSeins greift Paulus auf den ersten Briefteil zurück, wo er sich selbst als schwach darstellte (2,3; 4,10), die Gemeinde dabei aber vor Überheblichkeit und Arroganz bezüglich ihrer eigenen vermeintlichen Stärke warnte (4,10). Tatsächlich hatte Paulus in 2,3, als er auf seine Anfangszeit in Korinth zurückblickte, die Aussage über die eigene Schwachheit mit der über die eigene Furcht und das eigene Zittern als Ausdruck für den respektvollen Umgang mit anderen Menschen kombiniert (s.o. Kap. 6, 2.3). So wird auch hier deutlich: Schwäche ist nichts Negatives; sie ist vielmehr Grundvoraussetzung für einen gemeinschaftlichen, respektvollen Umgang miteinander. Gleichwohl ist Paulus’ Schwäche anders geartet als die der korinthischen Schwachen. Deren Schwäche ist ja lediglich eine Gewissensschwäche (8,7.12). Seine eigene Schwäche stellt Paulus vor dem allgemeinen Hintergrund von 1,26 f als grundlegender und umfassender dar, wenngleich er nicht präzisiert, worin sie eigentlich besteht.⁷⁶ In diesem umfassenden, grundlegenden Sinne ist Schwäche auch in 9,22 zu verstehen.

einzige christusgläubige Missionar, der so verfuhr: Das Aposteldekret der Jerusalemer Gemeinde (Apg 15,20.29) sollte (historisch freilich erst nach dem sog. Apostelkonzil Gal 2 und unabhängig von ihm) das Zusammenleben zwischen christgläubigen Juden und Heiden ohne Preisgabe des mosaischen Gesetzes regeln. Ob eine wohl derartiges propagierende Petrus-Partei tatsächlich zu den verschiedenen Gruppen in Korinth (1,12; 3,22) gehörte, vgl. Wehnert, Reinheit 132– 136, sei dahingestellt. Damit ließe sich zumindest der Katalog, den Paulus im 1Kor abarbeitet, mit eben den Fragen über das Idolenfleisch, dann aber auch mit einer korrigierten Antwort hinsichtlich der πορνεία erklären; so bereits C. K. Barrett, „Things Sacrificed to Idols,“ in: NTS 11 (1962), 138 – 153 (150 f).  Das bedeutet nicht, dass er den Standpunkt der Schwachen akzeptieren würde; er erkennt ihn aber als ihren Standort an, zu dem hin er das Evangelium ausrichtet, vgl. zur Terminologie G. Bornkamm, „The Missionary Stance of Paul in 1 Corinthians 9 and in Acts,“ in: Studies in Luke-Acts. Essays Presented in Honor of Paul Schubert (hg.v. Leander E. Keck/ J. Louis Martyn), Nashville 1966, 167– 189 (169).  Im Hinblick auf die Antithetik von 1,26 – 28 kann man die Schwachheit als soziale Machtlosigkeit verstehen. Jedoch spielt Paulus auch mit den Begrifflichkeiten, wie der (ironische) Gegensatz in 4,10 aufzeigt, der ja die Korinther nicht als tatsächlich (sozial) mächtig gelten lässt. Schwäche kann bei ihm vieles bedeuten.

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Dabei gibt Paulus zu, dass er über die Erkenntnis, dass die Idole ‚Nichtseʻ sind (8,4), verfügt und damit eigentlich als ein ‚Starkerʻ anzusehen ist; aber in seinem Umgang mit den Schwachen missbraucht er dieses Wissen, das ihm Vollmacht und Freiheit verleiht, nicht, um die Schwachen nicht in Verwirrung zu stürzen, sondern eben für sich (und damit für Gott) zu gewinnen. Es entsteht hier also ein konsistentes Selbstbild des Apostels als eines aus Rücksichtnahme schwachen Menschen.⁷⁷ Sein letztendliches Ziel dieser Mimikry und auch der tatsächlichen SchwachWerdung bleibt die Teilhabe am Evangelium.⁷⁸ Für dieses Ziel nehme Paulus viele Mühen auf sich, wie er anschließend mit verschiedenen Bildern aus dem Sport ausmalt (9,24– 27):⁷⁹ Wettlauf, Selbstbeherrschung während des Trainings, Boxen. Wie bereits in 7,8 f (für den sexuellen Bereich) betont er auch hier die Selbstbeherrschung (9,25: ἐγκρατεύειν⁸⁰).Während er die Korinther aufruft, wie Wettläufer ebenfalls den unvergänglichen Siegeskranz (ἄφθαρτος στέφανος) anzustreben,⁸¹ sagt Paulus zudem über sich aus, dass er sich selbst fortwährend in körperlicher Weise malträtiere⁸², um in seiner Verkündigung gegenüber anderen⁸³ nicht un-

 In Analogie dazu, dass der Apostel auf sein finanzielles Schonen der Korinther stolz ist (9,14– 16), ließe sich sagen, dass Paulus’ Stolz generell darin begründet liegt, auf schwache Menschen Rücksicht zu nehmen.  Conzelmann, Brief 199: „v.23 klingt utilitaristisch: Mit diesem Verhalten besorgt sich Paulus sein persönliches Heil“, wobei er erläutert: unter der Voraussetzung einer Erwählung sola gratia und der Rechenschaft vor dem Endgericht. Gleichwohl darf dabei nicht übersehen werden, dass Paulus unter Zwang handelt. Somit zwingt Gott seinem Apostel gleichsam den Eigennutz auf.  Ob diese Bilder wirklich geglückt sind, ist eine andere Frage, vgl. Conzelmann, Brief 200 f. U. Poplutz, Athlet des Evangeliums. Eine motivgeschichtliche Studie zur Wettkampfmetaphorik bei Paulus (HBS 43), Freiburg/ Basel/ Wien/ Barcelona/ Rom/ New York 2004, 269 f sieht allerdings in der semantischen Irritation von v.24 f (alle laufen, aber nur einer gewinnt – ihr alle sollt der eine Sieger sein!) die Absicht des Apostels. H. Funke, „Antisthenes bei Paulus,“ in: Hermes 98 (1970), 459 – 471 (462– 468) versucht zu zeigen, dass Paulus in 1Kor 9,24– 27 von Antisthenes, dem Gründer des Kynismus (bei Dion Chrys. 8) abhängig ist, weshalb seine Bilder gerade in Übertragung auf die korinthische Problematik eben nicht ‚ins Ziel laufenʻ.  Viele Kommentatoren übersetzen ἐγκράτεια/ἐγκρατεύειν mit „Enthaltsamkeit“/„enthaltsam sein“, z. B. Lietzmann, Korinther 44, Merklein, Brief II 234. Von seiner Ursprungsbedeutung her ergibt sich aber, dass Enthaltsamkeit immer nur die Folge von Selbstbeherrschung sein kann, nicht aber diese selbst. Auch Grundmann, ἐγκράτεια 339 versteht Enthaltsamkeit als Äußerung der Selbstbeherrschung; warum er dann aber beide miteinander gleichsetzt (340), erschließt sich mir nicht. Dies wird doch auch deutlich in der (bei Grundmann zitierten) Charakterisierung der Essener bei Josephus, Bell 2,120, wo ἐγκράτεια – parallel gesetzt zu τὸ μὴ τοῖς πάθεσιν ὑποπίπτειν – als Tugend (ἀρητή) aufgefasst wird.  In diesem Siegpreis erkennt Mitchell, Paul 248 „the final μισθός“ für Paulus.  ὑπωπιάζειν meint ursprünglich das Schlagen ins Gesicht direkt unter dem Auge (ὤψ), vgl. Gemoll, Schul- und Handwörterbuch s.v.

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glaubwürdig (ἀδόκιμος) zu werden. Unter dem steten Einschlagen auf den Körper wird die Überwindung der allgemein menschlichen körperlichen Bedürfnisse, also Nahrung, Geschlechtsverkehr und Müßiggang bzw. Fremdversorgung, zu verstehen sein.⁸⁴ Auf diese hatte er bereits in 9,4– 6 verwiesen und erklärt, (im Gegensatz zu den anderen Aposteln) sein Recht auf sie nicht einzufordern. Gerade weil die genannten Dinge menschlichen Grundbedürfnissen entsprechen bzw. nahe kommen, ist der Verzicht auf sie für das Individuum nur unter Mühen und Anstrengungen gegen sich selbst durchzusetzen – selbst dann oder gerade erst recht, wenn ein Zwang auf einem liegt. Zumindest, was den Verzicht auf (bestimmtes) Essen anbelangt, ruft er die Korinther dazu auf, ihn dahingehend nachzuahmen. Der gesamte Teil 9,1– 27 dient zwei Zielen. Zum einen erklärt Paulus seine Lebens- und damit seine Verkündigungspraxis im Modus der Verteidigung gegenüber Angriffen von außen. Die apologetische Redeweise mag dabei durchaus einen rhetorischen Kniff darstellen, mittels dessen Paulus es vermeidet, in unangemessener Weise über sich selbst in positiver Weise zu sprechen.⁸⁵ Gleichwohl kann Paulus sich durch den Verteidigungsmodus gerade im Vergleich mit den anderen Aposteln⁸⁶ als ein besserer Diener des Herrn präsentieren, der für seinen göttlichen Auftrag nicht bloß auf Privilegien verzichte, sondern auch eine eigene fest geformte Lebensweise ausschlage, wenn es nur dem Gewinnen von Menschen dient. Zum anderen verdeutlicht Paulus an sich selbst, dass er den Schwachen längst ein Schwacher geworden sei; dass die Korinther auf der Suche nach einem passenden role model für ein angemessenes ethisches Verhalten nur auf ihn zu

 Man kann in diesen ‚anderenʻ diejenigen erkennen, gegen die sich diese Apologie richtet (9,2). Mit den ‚anderenʻ können aber ebenso gut eben alle anderen Menschen sein, denen Paulus begegnet und die er für sich und Gott gewinnen will.  Zeller, Brief 323: „Der Leib, der sich mit seinen Begierden zu verselbständigen droht, muss unterworfen werden.“ Dagegen sieht V. C. Pfitzner, Paul and the Agon Motif. Traditional Athletic Imagery in the Pauline Literature (NT.S 16), Leiden 1967, 92 f in 9,27 („ich führe meinen Körper in die Sklaverei“) eine Parallele zu v.19 („ich habe mich selbst versklavt“); allerdings fehlt dann in v.27 der Bezug auf alle anderen Menschen, denen Paulus als Sklave dient (vgl. Zeller, Brief 323 Anm. 286).  So Dodd, ‚I‘ 102– 105.  Es ergibt sich dabei als argumentativer Nebeneffekt, dass die korinthische Überbetonung des Apollos hier en passant gleichsam weggewischt wird. Da Paulus sich mit der Synkrisis v. a. gegen Kephas und die Herrenbrüder (9,5), also die Granden der frühen Kirche, wendet, erweist er damit indirekt, wie unbedeutend dann auch und gerade Apollos für die Korinther eigentlich sein muss. Von diesem Missionar ist hier gar keine Rede mehr.

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sehen brauchen.⁸⁷ Apologetisches und paradigmatisches Reden gehen hier in dieser autobiographischen Reflexion also ineinander über. Und nicht nur das. Letztendlich wird das dikanische Sprechen ins symbuleutische, die Apologie in das Paradigma überführt und umgemünzt, nämlich in den beiden κἀγώ-Stellen in 10,33 und 11,1.

4 1Kor 10,23 – 11,1: Das Fazit Während Paulus in 1Kor 10,1– 22 als einer symbuleutischen Argumentation⁸⁸ am Beispiel des biblischen Israel davor warnt, den Begierden zu verfallen und etwa, allem Schlechten voran, Idole zu verehren (v.6 f), und den Verzehr von Daimonen geopferten Speisen und Getränken als Ausschlusskriterium in Bezug auf die Teilnahme am Herrenmahl charakterisiert (v. 20 f), stellt der Apostel im abschließenden Abschnitt (10,23 – 11,1) des gesamten Themenblockes die von ihm befürwortete Verhaltensweise des Rechtsverzichts im Hinblick auf die Kategorie des Gewissens (noch einmal nach 8,7– 12) dar. Im Abschnitt 10,1– 22 bezeichnet Paulus die Korinther wieder als seine Brüder (v.1), ja mehr noch als seine Lieben (v.14). Gleichwohl ergibt sich hier wieder ein Gefälle zwischen Apostel und Gemeinde, das hinsichtlich des Wissens besteht, worauf allein formal die DisclosureFormel in v.1 hinweist, inhaltlich dann die detailreiche Ausführung des ExodusGeschehens. Zudem bedeutet der einleitende Satz ὡς φρονίμοις λέγω („wie mit Verständigen rede ich“) (v.15a), dass den Korinthern nicht notwendigerweise Einsicht oder Weisheit zugesprochen werden kann, dem Apostel im Umkehrschluss allerdings sehr wohl. Schließlich zeigt sich auch ein Gefälle in autoritativer Hinsicht, was nämlich in v.20c durch Paulus’ Wunsch (der einem Verbot gleichkommt) aufscheint: „Ich will aber nicht, dass ihr Gefährten⁸⁹ der Daimonia wer-

 Dass Paulus nun selber ein Schwacher geworden ist, verdeutlicht er mit den folgenden Aussagen in 10,19 f. Hier geht es wieder um das Essen von Idolenfleisch, und Paulus rät dringend davon ab, da seiner Ansicht nach nun das Opfer vor einem Götterbild tatsächlich an δαιμόνια gehe. Diese entsprechen wohl den zu Beginn des Themenblocks von Paulus erwähnten „sogenannten“ Göttern, von denen es viele gebe (8,5), vgl. Wolff, Brief 233; dagegen Merklein, Brief II 266. Gleichwohl hatte er dort den Wissenden bzw. ‚Starkenʻ konzediert, dass ein Idol in der Welt nichts sei (8,4), also keine Wirksamkeit habe. Diese Erkenntnis bekräftigt er zwar in 10,19, schwenkt dann aber doch ganz auf die Linie der Schwachen ein, indem er die Wirksamkeit von göttlichen (bzw. eher: widergöttlichen) Wesen ins Spiel bringt.  Vgl. Berger, Formen 153 f.  Wolff, Brief 225.233 übersetzt (sehr modern und gleichberechtigt klingend) mit „Partner“. Dagegen wird der Gedanke der Teilhabe hier (auf Grundlage des speziellen Verständnisses von κοινωνία in v.16 als „Teilhabe“, nicht als „Gemeinschaft“) etwa von Conzelmann, Brief 213;

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det“ (οὐ τέλω δὲ ὑμᾶς κοινωνοὺς τῶν δαιμονίων γίνεσθαι). Auch dieser gemeindeordnende Aufruf ist der Symbuleutik zuzurechnen.⁹⁰ Insgesamt erscheint Paulus hier als Berater der Gemeinde mit einem Vorsprung sowohl an Wissen als auch an Autorität. Dieses (Selbst‐)Bild erscheint auch im Schlussabschnitt 10,23 – 11,1. Wie zuvor ist auch dieser Abschnitt der Symbuleutik zuzuordnen.⁹¹ Eine spezielle Anrede der Korinther fehlt zwar. Da das Thema aber nun seine abschließende Behandlung erfährt, ist davon auszugehen, dass das zuvor beschriebene Verhältnis zwischen Apostel und Gemeinde (und damit auch die Selbstschilderung des Apostels) bestehen bleibt. Im Gegensatz zu 10,1– 22 gebraucht Paulus hier öfters die durch Personalpronomina betonte 1.P.Sg.⁹² Nach konkreten Fallbehandlungen bezüglich des Idolenopferfleisches, in die er die Kategorie des Gewissens einbezieht, erklärt der Apostel in 10,29 mit einem Selbstbezug, was er damit genau meine (λέγω): nicht das eigene Gewissen, sondern das des Mitmenschen. Er fährt fort mit zwei Fragen (v.29b.30), in welchen die 1.P.Sg. im Vordergrund steht. Wie ist dieses Ich zu deuten? Ist das Ich in Wahrheit das eines Hyperpauliners, der hier interpoliert hat?⁹³ Stellen diese Fragen den „Ausruf eines ‚Starkenʻ […] nach Art des Diatribenstils“⁹⁴ dar? Äußert sich hier ein idealer Christ und steht somit hier ein typisches Ich?⁹⁵ Oder stellt die 1.P.Sg. in 10,29b.30 ein Beispiel für ein paradigmatisches Ich dar?⁹⁶

Merklein, Brief II 266 f stark gemacht. Zeller, Brief 338 f vermittelt und übersetzt (wiederum recht altertümlich, aber auch politisch belastet) mit „Genossen“.  Vgl. Berger, Formen 272.  So erkennt Berger, Formen 160 in 1Kor 10,23 ein geläufiges Schlagwort, das auf die Emotionalität der Hörer abzielt und als ein solches Element ein Kennzeichen symbuleutischer Argumentation ist. Zudem weist er (a.a.O. 272) diverse Sätze in 10,23 – 11,16 der Gattung der Gemeindeordnung zu, in der oft ein konkreter Casus behandelt wird (hier die Fälle des auf dem Markt angebotenen Fleisches und des dezidierten Opferfleisches). Schließlich ordnet Berger, Formen 223.271 auch den Aufruf zur Nachahmung 11,1 als Bestandteil der (begründeten) persönlichen Mahnrede unter die Symbuleutik.  Interessanterweise gebraucht er sie nicht bei dem aus 6,12 bekannten (und leicht abgewandelten) Sätzen in 10,23. Ich deute diese Sätze nicht als Schlagwort der Korinther, sondern durchaus als Aussage des Paulus. Da Paulus hier keine Personalpronomina verwendet, scheint er an dieser Stelle sich selbst nicht in den Vordergrund rücken zu wollen, sondern eine allgemeine Aussage (eben für alle Korinther und besonders die ‚Starkenʻ unter ihnen) zu treffen. Dies wird durch die allgemeine Formulierung in 10,24 untermauert.  Vgl. Weiß, Korintherbrief 265 f.  Lietzmann, Brief 52.  So Wolff, Brief 239 f; Merklein, Brief II 279 f, allerdings mit Kritik an Wolff.  Vgl. Dodd, ‚I‘ 110 – 114.

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Gerade da in dem λέγω in 29a das apostolische Ich spricht, erscheint ein sogleich wechselndes Sprecherverständnis der 1.P.Sg. allerdings unplausibel.⁹⁷ Hingegen gibt es viele Wortbezüge, die es wahrscheinlich machen, dass auch in v.29b.30 das apostolische Ich, also Paulus selbst, spricht. So lässt zunächst die Verbindung von Freiheit und 1.P.Sg. in diesem Zusammenhang aufhorchen, begann doch mit der Frage „Bin ich nicht frei?“ in 9,1 die Apologie des Apostels. Gleichermaßen unterstrich Paulus in 9,19 sein eigenes Freisein. Zudem ist in 10,29b davon die Rede, dass die Freiheit des Ichs „beurteilt“ (κρίνεται) wird, ein forensischer Terminus, der einen Rückbezug auf die Apologie in c.9 darstellen kann.⁹⁸ Die Nennung des Gewissens weist zurück auf das in 8,7– 13 angesprochene Ausgangsproblem, nämlich das schwache Gewissen einiger Gemeindeglieder, wo Paulus zum Schluss bereits in die 1.P.Sg. übergegangen war.⁹⁹ Die Möglichkeit, dass in 10,29b.30 der Apostel selbst spricht, wird ebenfalls von John C. Hurd (bislang gleichsam ein Solitär in dieser Frage) vertreten.¹⁰⁰ Hurd geht dabei davon aus, dass Paulus sich in 1Kor 8 – 10 gegen den berechtigten Vorwurf verteidigt, er selbst habe seinerzeit in Korinth Idolenopferfleisch gegessen. Dadurch ließe sich in der Tat sehr einfach erklären, wie die ‚Starkenʻ in Korinth zu ihrem Verhalten gekommen sind. Dass dieser Vorwurf einen historischen Anhalt hat und somit berechtigt ist, liegt jedoch nicht auf der Hand. Gewiss hätte Paulus der ‚wissendenʻ Logik zufolge Idolenopferfleisch essen können. Jedoch macht er ja gerade in 1Kor 8 – 10 deutlich, dass die Daimonia, auch wenn sie keine Götter sind, sehr wohl übermenschliche und gefährliche Mächte darstellen. Zudem betont Paulus, bereits in der Vergangenheit (als ein Schwacher) die Schwachen geschont zu haben, so dass auch unter diesem Aspekt ausgeschlossen ist, dass Paulus jemals Idolenopferfleisch gegessen hat – von seinen eigenen jüdischen Gepflogenheiten ganz abgesehen. Allerdings erscheint es möglich, dass der Vorwurf gegen Paulus auf dessen Genuss von macellum-Fleisch beruht. Bei diesem Fleisch war die Herkunft ungeklärt, konnte aber möglicherweise doch auf paganen Kult zurückgeführt werden.¹⁰¹ Im Rahmen seiner propagierten üblichen ‚Herangehensweiseʻ an

 Fragen im Diatribenstil können hier ausgeschlossen werden, da 1Kor 10,29b.30 weder in der 2.P.Sg. formuliert noch als Anklage gemeint sind,vgl. D. F.Watson, „1 Corinthians 10:23 – 11:1 in the Light of Greco-Roman Rhetoric: The Role of Rhetorical Questions,“ in: JBL 108 (1989), 301– 318 (310).  Zudem hatte Paulus in 10,15 die Korinther wie Richter zum Beurteilen dessen aufgerufen, was er sagt.  Überhaupt gibt es viele gemeinsame Züge der Passage 10,23 – 11,1 gegenüber c.8 – 9, vgl. die Tabelle bei J. C. Hurd, The Origin of 1 Corinthians, London 1965, 129 f.  Vgl. Hurd, Origins 130 f.  D.-A. Koch, „‚Alles, was ἐν μακέλλῳ verkauft wird, eßt…‘. Die macella von Pompeji, Gerasa und Korinth und ihre Bedeutung für die Auslegung von 1Kor 10,25,“ in: ZNW 90 (1999), 194– 219, verdeutlicht anschaulich, dass ein kultischer Schlachtbetrieb im korinthischen macellum selbst (im Gegensatz zu Pompeji) nicht nachzuweisen ist. Vielmehr stellt das pompejianische macellum auch im Vergleich mit anderen archäologisch erforschten antiken Markthallen einen Sonderfall dar. Gleichwohl kann aber auch im korinthischen macellum Opferfleisch verkauft worden sein.

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alle Menschengruppen (vgl. 1Kor 9,20 f) ergibt es durchaus Sinn, dass Paulus sich nicht durch den gemeinsamen Genuss von nicht-offensichtlich trennenden Speisen vom Umgang mit jenen Gruppen hat abhalten lassen. Es ist diese Freiheit von Konventionen, die Paulus damals in Korinth in Anspruch genommen hatte und nun in c.9 verteidigen und (unter dem Vorzeichen des Verzichtens) erläutern muss.

Die Fragen in v.29b.30 bleiben scheinbar unbeantwortet, da sich keine direkte Antwort anschließt. Paulus fragt sowohl nach dem Zweck der Beurteilung (ἱνατί/ „weshalb“) seiner Freiheit durch eines Anderen Gewissen als auch nach dem Grund, warum (τί) er für sein Danken geschmäht wird, wenn er mit Dank Anteil hat.¹⁰² Duane F. Watson hat dargelegt, dass diese Fragen im Rahmen antiker Rhetorik verstanden werden müssen. Sie stehen somit als vorausweisende Zusammenfassung in Verbindung zu 10,31– 11,1 und finden darin ihre indirekte Beantwortung.¹⁰³ 1Kor 10,31– 11,1 bilden dabei das Fazit des gesamten Abschnitts 8,1– 11,1. Hier appelliert Paulus abschließend: „Ob ihr nun esst oder trinkt oder was immer ihr tut, tut alles zur Ehre Gottes.Werdet unanstößig sowohl Juden als auch Griechen als auch der Gemeinde Gottes, wie auch ich allen in allem gefalle, indem ich nicht das mir selbst, sondern das den vielen Zuträgliche suche, damit sie gerettet werden“ (10,31– 33). Somit geht es Paulus darum, bei einer Beurteilung seiner eigenen Freiheit durch das Gewissen eines anderen – und das heißt ja durch eine neutrale innermenschliche Normenkontrollinstanz –¹⁰⁴ zu zeigen, dass sie diesem unanstößig (ἀπρόσκοπος: 10,32) ist, eben weil sie verzichtende Freiheit ist. ‚Unanstößigʻ zu werden (10,32) ist natürlich ein Rückgriff auf die Mahnung in 8,9, die eigene Vollmacht nicht zum Anstoß (πρόσκομμα) für die Schwachen werden zu lassen. Jetzt sind es aber nicht mehr nur die konkreten Schwachen in Korinth, denen man keinen Anstoß bieten soll, sondern universal alle Menschen gleich welcher Herkunft und religiösen Zugehörigkeit. Der Zielpunkt dieser Einstellung ist aber nicht, dass man dadurch selber möglichst stromlinienförmig und ohne anzuecken durchs Leben gehe, sondern die anderen

 Die Bezüge in v.29 bα sind nicht deutlich. Es zum einen nicht klar, ob χάριτι hier „aus Gnade“ (vgl. 15,10) oder „mit Dank“ meint. Zum anderen ist undeutlich, ob Paulus mit dem Anteil-Haben (μετέχειν) einen indirekten Bezug zu 10,17.21 herstellt (Anteil haben an möglichem DaimoniaFleisch?!?) oder gar zu 9,10.12 (als Apostel Anteil haben an der Vollmacht/Freiheit von Glaubensgeschwistern – Freiheit ist ja wieder das Thema in 10,23 – 11,1). Viele Kommentare gehen schlicht vom Anteil-Haben am gemeinsamen Fleischmahl aus; aber kann das bei diesem für Paulus seltenen Wort einfach so vorausgesetzt werden?  Vgl.Watson, „Corinthians“ 310 – 318. Diese Erkenntnis gilt, auch wenn Watson in den Fragen nicht das apostolische Ich als Sprecher erkennt.  Die Wendung διὰ τὴν συνείδησιν kann nach Eckstein, Begriff 314 auch die Bedeutung „aus Verantwortung, um der Verantwortlichkeit willen“ annehmen.

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von Christus zu überzeugen (auch wenn dies hier nicht explizit mehr gesagt wird) und so zu retten (σώζειν, vgl. 9,22). Kronzeuge für diese Haltung ist dabei Paulus selbst: „wie auch ich (καθὼς κἀγώ) allen in allem gefalle“. Die Erwähnung seiner zuvor erwähnten Verkündigungspraxis, überhaupt seiner Lebensweise, sich an alle Menschen anzupassen, dient nicht länger der (vorgeblichen) Verteidigung, sondern stellt nun ein Vorbild, ein Lebensmuster, ein Paradigma dar. Dies verdeutlicht schließlich der letzte Aufruf (11,1): „Werdet meine Nachahmer, wie auch ich (καθὼς κἀγώ) [ein Nachahmer] Christi [bin].“¹⁰⁵ In diesem Schlusssatz stecken vier wichtige Punkte: Erstens sollen die Korinther Nachahmer des Paulus werden. Gerade in der besonderen Beziehung, in der der Gründerapostel und seine Gemeinde stehen, wird deutlich: Die Korinther sollen nicht irgendwen, ja womöglich noch einen anderen Apostel nachahmen, sondern Paulus allein. Auch wenn die Vater-Kinder-Metaphorik hier nicht explizit benannt wird, der familiale Hintergrund des Nachahmungsmotivs ergibt sich gerade vor dieser Vorstellung. Dies zeigt sich daran, dass der Aufruf 11,1 direkt den Aufruf 4,16 wiedergibt. In diesem ersten thematischen Komplex c.1– 4 rief Paulus anfangs zur Einigkeit der Gemeinde auf (1,10), die schließlich (inclusio 1,10 und 4,16: παρακαλῶ) über die Orientierung an ihm als Vater-Figur vonstatten gehen sollte. Wie Paulus selbst ihnen sein Leben in Schwäche und Rücksichtnahme (2,1– 5; 4,9 – 13) als gottgefällig vor Augen stellte (1,18 – 31), so sollten die Korinther anhand seines Vorbildes ihre Streitigkeiten aufgeben. Nun ruft der Apostel die Gemeinde dazu auf, es ihm in seinem speziellen Umgang mit allen Menschen gleichzutun.¹⁰⁶ Zweitens ist Paulus’ Lebensweise, sein spezieller Bios, nachahmenswert. Er macht es den Korinthern vor, ein Leben voller Rücksichtnahme auf die Schwachen

 Dodd, ‚I‘ 28 f zieht für 11,1b die Übersetzung „just as I also [belong to] Christ“, also „wie auch ich Christi [bin]“ vor. Er nennt dafür den technischen Gebrauch des Genitivs Χριστοῡ in 1Kor 1,1.12; 3,23; 4,1; 7,22; 15,23; 2Kor 10,7; Gal 3,29; 5,24 als eines ‚identifierʻ bzw. als Teil des paulinischen Idiolekts für Christusgläubige. Tatsächlich scheiden von den genannten Stellen 1,1; 4,1; 7,22 als Belegstellen aus, da dort der Genitiv andere Nomina (Abgesandter, Diener, Sklaven) qualifiziert, aber keine Sammelbezeichnung anzeigt. Von den anderen Stellen scheinen allein 1,12; 3,23 eine Analogie zu 11,1 herzugeben. Tatsächlich stünden damit alle drei Stellen an jeweils recht herausragender Position. Jedoch weist der direkt vorhergehende Vers (10,33) mit seinem καθὼς κἀγώ (sonst nicht bei Paulus) wie auch der nachfolgende Vers mit einfachem καθώς (11,2) auf ein einigermaßen synonymes Verständnis beider Satzhälften auch in 11,1. Das Satzschema ist dann „wie ich – so ihr“, also: „Werdet unanstößig …, wie auch ich allen gefalle. – Werdet meine Nachahmer, wie auch ich einer bin. – Wie ich euch überliefert habe, habt ihr die Überlieferung angenommen.“  Auch die zuletzt getroffene Anrede der Korinther in 10,14 als „meine Lieben/Geliebten“ vermeidet ja die Geschwisterbezeichnung und erinnert an die väterliche Redeweise „meine geliebten Kinder“ in 4,14(.17).

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zu führen, auch wenn ihm selbst viele Privilegien und Vorrechte zustünden.¹⁰⁷ Damit weist er auch auf sein spezifisch paulinisches Proprium im Vergleich mit den anderen Missionaren und Aposteln hin. Paulus bleibt also nicht im Modus der Verteidigung stecken, sondern gießt mit der Formulierung eines anderen, spezifisch paulinischen Lebensmodells die Apologie von c.9 in einen symbuleutischen Appell um. Drittens ist Paulus selbst in seiner Lebensführung ‚auch nurʻ ein Nachahmer und zwar des Christus. Letztendlich liegt hier die Begründung für all sein Tun. Mit seinem Leben begeht Paulus eine imitatio Christi. Er ahmt Christus nach, und d. h. für Paulus immer, Christus als den Gekreuzigten (1,23). Dies ist das Nachahmen einer paradoxen Existenz, denn Christus ist in den Augen der Welt zwar der schwache Heiland. In ihm aber liegen Gottes Macht und Weisheit (1,24), was sich jedoch erst im Glauben offenbart. Die Rücksichtnahme auf die Schwachen trotz der eigenen Stärke speist sich aus eben dieser Vorstellung, wie auch aus der Lebensweise, die Jesus Christus selbst an sich aufzeigte, im Sterben (Phil 2,8) wie im Leben¹⁰⁸. Den Korinthern bietet sich mit dem besonderen paulinischen Lebensführungsmodell in dieser Hinsicht ein Modell, das selbst eigentlich überhaupt erst christusgemäß ist. Viertens beansprucht Paulus eine Mittlerstellung zwischen dem Christus und der Gemeinde. Die Korinther sollen Paulus nachahmen, nicht Christus direkt. Paulus betont damit wieder die Hierarchie und seine besondere Stellung in ihr,¹⁰⁹ die sein Verhältnis zu den Korinthern bestimmt, eben weil er mit seinem Leben die christliche Paradoxie von gleichzeitiger Schwäche und Stärke nachahmt und verkörpert. Damit bietet sich Paulus mit seinem Leben insgesamt den Gläubigen als Paradigma an.

 Die ausdrückliche Anordnung Jesu zur Versorgung der Missionare (9,14) deutet Paulus ja als Privileg um, damit er nach dem Geist seiner Botschaft leben kann.  Vgl. D. J. Rudolph, A Jew to the Jews. Jewish Contours of Pauline Flexibility in 1 Corinthians 9:19 – 23 (WUNT II/304), Tübingen 2011, 180 – 208, der Paulus’ Verhalten von der auf alle Menschen zugehenden Lebensweise des historischen Jesus ableitet.  Vgl. D. M. Stanley, „‚Become Imitators of Me‘: The Pauline Conception of Apostolic Tradition,“ in: Bib. 40 (1959), 859 – 877 (874). Merklein, Brief II 283 befürchtet: „Die Reihung Gemeinde – Apostel – Christus könnte arrogant wirken.“ Er bezieht das wohl auf moderne Lesende; für die antike Gemeinde wird das kein Problem gewesen sein.

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Kapitel 9 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 8,1 – 11,1

5 Paulus’ Selbstdarstellung in 1Kor 8,1 – 11,1 Das Hauptthema der Selbstdarstellung in c.8 – 10 ist die Freiheit (ἐλευθερία), die sich im Vorrecht oder Privileg (ἐξουσία) äußert. Bereits in 6,12 hatte Paulus über sich selbst ausgesagt, dass ihm alles erlaubt sei (πάντα μοι ἔξεστιν), und bereits dort hatte er diese Erlaubnis im Sinne der Zuträglichkeit für alle (οὐ πάντα συμφέρει) eingeschränkt.¹¹⁰ In c.9 führt er dies nun weiter aus und erläutert es am Beispiel seines Verhaltens als Apostel (v.1– 15). Die Selbstdarstellung als freier Mensch stößt allerdings im Zwang, der auf Paulus liegt (v.16), an ihre Grenze. Paulus zeichnet sich nicht als freiwilligen Lohnempfänger, sondern als unfreiwilligen Verwalter (v.17 f). Damit stellt sich seine Selbstdarstellung als ein Paradox dar: Obwohl Paulus frei ist, ist er allen Menschen(‐gruppen) ein Sklave (v.19).¹¹¹ Schließlich schildert Paulus sich selbst als ein Athlet (v.24– 27). Als ein solcher verweist er auf seine Selbstbeherrschung und Selbstzucht, die verhindern, dass er als Verkündiger unwürdig wird. Daneben weist er explizit auf sein geschwisterliches Verhältnis zu den Korinthern und überhaupt allen Gläubigen hin (8,13: „mein Bruder“; 10,14: „meine Lieben“), das in gewisser Weise eine Verpflichtung ihnen gegenüber darstellt; auch ihnen wird er wie ein Sklave gedient haben (vgl. 9,19 – 23). Dabei betont Paulus, dass er als Apostel die Korinther nie ausgenutzt hat (9,12.15). So wie hier ein Gefälle zwischen Apostel und Gemeinde besteht, erhält die geschwisterliche Ebene allerdings durch den Wissensvorsprung des Paulus (10,1.15a) wiederum auch ein Gefälle in die andere Richtung. Dies wird noch verstärkt durch den Aufruf zur Nachahmung in 11,1, der ja an 4,16 und an das dortige Verhältnis des Apostels als Vater der Gemeinde erinnert.

 S.o. Kapitel 7, 3.2.  Dabei wird es zudem schwierig, hier noch von der Darstellung eines festen Selbst zu sprechen, insofern Paulus sich ja – im Sinne seiner Beauftragung – an die verschiedenen Menschen (‐gruppen) chamäleongleich anpasst und dadurch sein Selbst unkenntlich zu werden droht.Wenn Paulus hier noch ein festes Selbst erkennen lässt, dann das eines Sklaven – diesmal allerdings nicht allein in Bezug auf Gott (3,5; 4,1), sondern auch auf Menschen. Mit dieser Selbstdarstellung strebt Paulus gleichsam seine Vervollkommnung der Christusförmigkeit an, da Jesus Christus ja selbst wie ein Sklave völlig gehorsam gewesen ist (Phil 2,8). In Gal 2,20 treibt Paulus dies dann explizit auf die Spitze: „Ich aber lebe nicht länger, es lebt aber in mir Christus.“

6 Spuren des Weisen in 1Kor 8,1 – 11,1

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6 Spuren des Weisen in 1Kor 8,1 – 11,1 6.1 Die Kenntnis des Weisen über die Götter Paulus verwendet in 1Kor 8,1.7.10.11 den Terminus γνῶσις. Aufgrund der Themenangabe in 8,1 („über die Idolenopfergaben“) bezieht sich der Terminus klar auf die Kenntnis, die alle Christusgläubigen über das Wesen der Idole, dann aber auch über den einen, wahren Gott haben. Paulus stellt sich dabei selbst als jemanden dar, der Kenntnis sowohl über Gott und dessen Einzig(artig)keit als auch über die Nicht-Existenz von Göttern hat (8,4– 6). Naturgemäß steht der Apostel mit seiner monotheistischen Überzeugung im Gegensatz zur griechischen Philosophie, die von einer Vielzahl der Götter ausgeht.¹¹² Mit dem Wort γνῶσις beschreibt aber auch das Griechentum das (Er‐) Kennen der Götter.¹¹³ So schreibt Epikur in seinem Brief an Menoikeus: Das Erkennen (γνῶσις) der Götter sei offenkundig (Diog.Laert. 10,123). Gerade mit dieser Aussage über die Kenntnis der Götter setzt Epikur die argumentative Grundlage für die folgende Lehre über den Weisen (125 – 132) und lässt beide dann am Briefschluss (133 – 135) ineinander aufgehen.¹¹⁴ Für den xenophonischen Sokrates wird im Dienst an den Göttern das Erkennen des Göttlichen (γινώσκειν τὸ θεῖον: Xen.mem. 1,4,18) deutlich, dass in der Allgegenwärtigkeit, Allwissenheit und

 Auch wenn die griechische Philosophie schließlich zum Monotheismus führt, wird doch das Göttliche allgemein in vielerlei Formen erkannt und angebetet. Der griechische Götterglaube denkt bzw. empfindet das Göttliche aufgrund seiner tiefen Ehrfurcht vor der Schöpfung als immanent, nicht als transzendent (wie Judentum und Christentum) und kommt von daher zur polytheistischen Verehrungsweise, vgl. Schefold, Kunst 26. Dieser Zug ist so stark, dass sogar die platonische immaterielle Ideenlehre im späteren Platonismus aufgegeben wurde, vgl. M. Pohlenz, Der hellenische Mensch, Göttingen 1947, 241.  Vgl. Diog.Laert. 9,24: Melissos behauptet, man könne nichts über die Götter annehmen, denn es gebe keine Erkenntnis über sie (μὴ γὰρ εἶναι γνῶσιν αὐτῶν). Protagoras (Diog.Laert. 9,51) wiederum stellte fest, weder über die Existenz noch die Nicht-Existenz etwas zu wissen (εἰδέναι).  Vgl. J. Mansfeld, „Aspects of Epicurean Theology“, in: Mn. 46 (1993), 172– 210 zu Epikurs Theologie aber auch zu den Ansichten von Plato und Aristoteles über die Götter. Freilich sind die Götter Epikurs dem Weltgeschehen enthoben, wie es aus Philodemos Schriften deutlich wird. Gleichwohl werden die (anthropomorphen) Götter von Epikur als Vorbilder für die Weisen betrachtet, deren Seinsweise er zu erreichen sucht. Insofern sind die Weisen ebenfalls ‚Freunde der Götterʻ (vgl. 386 Us.), ein Ehrentitel, der auch in anderen philosophischen Richtungen genutzt wurde (Kyniker: Diog.Laert. 6,37.72).

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Kapitel 9 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 8,1 – 11,1

Allfürsorge besteht – eine Erkenntnis, die er allen seinen Freunden weitergeben möchte (1,4,19).¹¹⁵ Das Erkennen und Anerkennen der Götter ist gerade durch den SokratesProzess zu einem Bestandteil der hellenistischen Weisen-Existenz geworden, bestand doch der erste Punkt der Anklage im Vorwurf des Atheismus bzw. der Asebie.¹¹⁶ Dagegen wehren sich die apologetischen Schriften über den SokratesProzess und stellen den athenischen Unruhestifter als grundsätzlich göttergläubig und fromm dar:¹¹⁷ Für Xenophon ist die Frömmigkeit eine der herausragenden Eigenschaften des Sokrates (mem. 4,8,11: εὐσεβής), die in den Begrifflichkeiten der These von der rhetorischen persona zur particular des Weisen wird.Wie sie für die Sokratiker eine wichtige Eigenschaft ist, gilt dies ebenso für den epikureischen¹¹⁸ wie für den stoischen¹¹⁹ Weisen. Zur Beschreibung der Gotteserkenntnis gibt es durchaus auch noch das Wort ἐπιστήμη, das im Gegensatz zu γνῶσις kein mehr oder weniger automatisches Erkennen, sondern ein intellektuelles Wissen oder Verständnis beschreibt.¹²⁰ „Da man wissen muß, wie der Dienst der Götter recht getan wird, kommt [mit der Schwerpunktsetzung auf die kultische Verehrung] ein Moment des Wissens in die Frömmigkeit hinein […].“¹²¹ In Bezug auf den hellenistischen Weisen und sein Verhältnis zu den Göttern spielt dieses Verständnis durchaus eine Rolle, so beim stoischen Weisen, der nach eigener Auffassung die Götter als einziger angemessen verehrt:¹²² Frömmigkeit wird dabei als Verständnis¹²³ des rechten Götterdienstes, also auch des Opferkultes aufgefasst.¹²⁴

 Für die Stoa steht die Existenz Gottes außer Frage, die durch den rechten Gebrauch der Vernunft bewiesen werden kann, vgl. M. Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 31964, 94 f.  Der zweite Anklagepunkt war Verführung der Jugend.  Vgl. Xen.mem. 1,1,1; apol. 10 und die Widerlegung mem. 1,1,2– 20; apol. 11– 13; Plat.apol. 26B– 28 A.  Vgl. Diog.Laert. 10,123 implizit: Epikur warnt davor, durch die Übernahme der Meinungen der Vielen über die Götter ‚unfrommʻ (ἀσεβής) zu werden.  Vgl. Stob.Ecl. 2,7 (= SVF 3,567); Epikt.Ench. 31.  Bei Paulus spielt ἐπιστήμη keine Rolle (Phil 4,8 bleibt textkritisch unsicher), was daran liegen mag, dass er den Christusglauben eben nicht als Geschehen des Intellekts auffasst.  W. Foerster, „εὐσεβής κτλ.,“ in: ThWNT 7 (1964), 175 – 184 (176).  Vgl. Diog.Laert. 7,119.  ‚Verständnisʻ ist nach stoischer Auffassung die Grundlage gewisser Eigenschaften oder Tugenden (Diog.Laert. 7,92 f).  Zur stoischen Auffassung über die Gotteserkenntnis im 1. Jahrhundert. vgl. W. Schmid, „Die Rede des Apostels Paulus vor den Philosophen und Areopagiten in Athen,“ in: Ph. 95 (1943), 79 – 120 (86 – 93).

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Überhaupt ist das Erkennen Gottes bzw. der Götter nicht allein ein Kernthema jeder Philosophie,¹²⁵ sondern auch der Religion(en).¹²⁶ Daher begegnet das Syntagma γνῶσις θεοῦ auch im Judentum.¹²⁷ Gerade angesichts der Auseinandersetzung des jüdischen Monotheismus mit falschen Göttern und Idolen spielt es eine Rolle. So wird in SapSal 14,13 – 21 eine Idolen-Ätiologie geboten. Direkt im Anschluss (v.22) werden die Folgen des verkehrten Gottesdienstes geschildert, so dass noch Ärgeres geschieht als bloß das Gefallen der nicht-jüdischen Menschen am Irrtum über das Erkennen Gottes (πλανᾶσθαι περὶ τὴν τοῦ θεοῦ γνῶσιν). Bei Philo steht das Syntagma in enger Verbindung zur Weisheit, wo es heißt (Deus 143): „Wisse die Weisheit als diese: Durch diese nämlich gelangt der Verstand, geführt eines geraden und gangbaren [„volkführenden“] Weges, bis an die Enden. Das Ende aber ist Erkennen von und Wissen über Gott.“¹²⁸ Weisheit dient demnach als Wegbereiterin für das Erkennen Gottes. Diese Vorstellung findet sich wieder in SapSal 2,13, wo über den Gerechten (was ja bloß ein anderer Name für den Weisen ist) gesagt wird, dass er von sich erklärt, über das Erkennen Gottes zu verfügen (ἐπαγγέλλεται γνῶσιν ἔχειν θεοῦ). Es ist anzunehmen, dass Paulus in 1Kor 8 gerade aufgrund der Auseinandersetzung mit Idolenopferfleisch den Terminus γνῶσις aus der jüdischen Diskussion übernommen und entsprechend seinem Umfeld dort auf das Erkennen von Gott bezogen hat. Gleichwohl steht dieses Erkennen in einem gewissen Zusammenhang mit Vorstellungen über die Gestalt des Weisen – sowohl im hellenistisch-jüdischen Denken als auch im philosophischen. Es ist selbstverständlich, dass dies für beide Bereiche gilt: Wer Gott und sein Wesen als höchstes Prinzip erkennt, verfügt über eine gleichermaßen tiefe Weltsicht, die sich auf das eigene Leben auswirkt und somit jemanden als Weisen kenntlich macht.¹²⁹ Gerade

 Pythagoras zufolge (durch Nikomachos von Gerasa) sei Philosophie „die Erkenntnis der seienden Dinge […] und sowohl der göttlichen als auch menschlichen Angelegenheiten“ (γνῶσις τῶν ὄντων … θείων τε καὶ ἀνθρωπίνων πραγμάτων).  Vgl. Norden, Theos 285 – 305 zu (ἐπι‐)γνῶσις θεοῦ in Mt 11,25 – 30, anderen christlichen Schriften, Judentum und mystisch-theosophischer Literatur.  Ich beschränke mich in dieser kurzen Betrachtung auf das Syntagma. Das Phänomen der Gotteserkenntnis manifestiert sich literarisch selbstverständlich auch in anderen Begrifflichkeiten.  ταύτην ἴσθι σοφίαν· διὰ γὰρ ταύτης ὁ νοῦς ποδηγετούμενος εὐθείας καὶ λεωφόρου ὑπαρχούσης ἄχρι τῶν τερμάτων ἀφικνεῖται· τὸ δὲ τέρμα τῆς ὁδοῦ γνῶσις ἐστι καὶ ἐπιστήμη θεοῦ. Vgl. zudem ebr. 19.45.  Vgl. auch das Platonreferat bei Hippolytos, Refut. 1,19,1– 4, bes.: „(Der) Gott, sagt er [= Platon], sei sowohl unkörperlich als auch ungestaltlich und allein weisen Männern begreiflich“ (τὸν μὲν θεόν φησιν ἀσώματόν τε καὶ ἀνείδεον καὶ μόνοις σοφοῖς ἀνδράσι καταληπτὸν εἶναι). Diese ungewöhnliche Aussage passt dennoch gut in den Mittelplatonismus, insofern Weise ja als

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deshalb ist Paulus darum bemüht, die an sich rechte Gotteserkenntnis der Korinther durch die theologia crucis zu korrigieren, die zum Verzicht auf eigene Privilegien aufruft.¹³⁰ Erst in ihrem Nachvollzug (11,1) wird man zu einem wahren (und d. h. christusförmigen) Weisen.¹³¹

6.2 Die Freiheit des Weisen Bereits zu 6,12 hatte ich auf die enge Verbindung von Freiheit und dem Weisen hingewiesen. Nun lassen sich auch in c.9 beachtliche Parallelen bei zu Paulus zum popularphilosophischen Weisenbild finden, genauer zu Sokrates’ Verständnis von Freiheit als finanzieller Unabhängigkeit.¹³² So wird Sokrates bei Xenophon (mem. 1,2,5 – 7) als jemand geschildert, der für die Weitergabe seiner Lehren auf Lohn (μισθός) verzichtete. Indem er eine Bezahlung ablehnte, glaubte er für seine Freiheit zu sorgen (ἐλευθερίας ἐπιμελεῖσθαι). Stattdessen hielt Sokrates es für den größten Gewinn (τὸ μέγιστον κέρδος), dass ein Lehrer durch seine Tätigkeit einen guten Freund erwerbe. Die Parallelen zu Paulus sind evident. Sowohl Paulus als auch Sokrates lehnen eine Bezahlung für ihre Verkündigungs- bzw. Lehrtätigkeit ab. Dadurch erst wird es ihnen ermöglicht, unabhängig und nach eigenem Wunsch mit jedem Menschen umzugehen. Ebenfalls geht es beiden nicht um einen materiellen, sondern um einen sozialen Gewinn, d. h. um den Gewinn von Men-

‚verstandesbesitzendʻ (νοῦν ἔχων) gelten, was eine Grundvoraussetzung der Gotteserkenntnis (Cic.De nat.deor. 1,49), jedoch nicht allen Menschen gegeben ist (Plat.rep. 441 A), vgl. Dörrie/ Baltes, Platonismus 4, 398.  Vgl. Norden, Theos 306, der hier m. E. über das Ziel hinausschießt: „Das also ist der christliche Einschlag in das alte Gewebe, das ein Beispiel für das μεταχαράττειν τὸ νόμισμα [„Umwetzen des Brauches“], wie es vom Christentum so oft vollzogen worden ist. Die γνῶσις jener anderen [sc. Religionen und Philosophien] war nicht bloß Einigung mit Gott, sondern auch Weltanschauung, ein Wissen von Gott und Welt und Menschenbestimmung; den christlichen γνωστικοί der ältesten Gemeinden war dagegen Gottesgemeinschaft das einzige Ziel, zu dem sie der Lehrer führte“. Paulus geht es ja durchaus auch um die Vermittlung von ‚Wissen von Gott und Welt und Menschenbestimmungʻ; anders könnten die Korinther ja gar nicht in einer Gemeinschaft zusammenleben, wenn es nur um Gottesgemeinschaft ginge.  In 1Kor 11,1b mag sich folglich eine weitere Spur des hellenistschen Weisen finden: die Nachahmung des Göttlichen. Der Gedanke einer Nachahmung von Göttern findet sich etwa bei Plat.leg 806B (Frauen als Imitatorinnen der kriegerischen Athene) oder Plat.Tim 47C (Imitation des Wesens des Schöpfergottes). Auf den Weisen zugespitzt findet er sich dann etwa bei den Kynikern (Heraklit, ep. 5,1; 6,4), wie er ebenfalls in der Stoa bekannt ist (Epikt.Diss. 2,14,12 f); vgl. insgesamt dazu W. Michaelis, „μιμέομαι κτλ.,“ in: ThWNT 4 (1942), 661– 678 (663 f).  Vgl. F. S. Jones, „Freiheit“ in den Briefen des Paulus. Eine historische, exegetische und religionsgeschichtliche Studie (GTA 34), Göttingen 1987, 46 f.

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schen. Paulus scheint in 1Kor 9,15 – 23 also auf sokratische Traditionen zurückzugreifen bzw. sich an diese anzuschließen. Ein wesentlicher Unterschied zur sokratischen Auffassung besteht jedoch in Paulus’ Behauptung, sich allen Menschen selbst zu versklaven. Gerade ein Sklavenstatus wird von Sokrates für sich als jemand, der Bezahlung ablehnt, bestritten; vielmehr würde sich jeder Mensch, der Lohn empfängt, schändlicherweise in Sklaverei begeben (Xen.mem.1,5,6: δουλεύειν δουλείαν οὐδεμιᾶς ἧττον αἰσχράν). Aus dieser Überzeugung heraus entwickelt sich später die stoische Lehre, dass nur der Weise frei ist, jeder Tor aber ein Sklave.¹³³ Freiheit wird damit zur „innerliche[n] Freiheit von menschlichen Urteilen“¹³⁴. Allerdings ist diese Überzeugung kein stoischer Alleinbesitz. Auch Philo hat diesem Thema eine Schrift gewidmet: Quod omnis probus liber sit. ¹³⁵ Darin findet sich auch eine klare Unterscheidung zwischen den freien Weisen und den unfreien Toren, die Philo in einer logischen Argumentation darstellt (prob. 60 – 61): „Gewiss, wenn jemand gezwungen wird (ἀναγκάζεται), ist offensichtlich, dass er etwas unfreiwillig (ἄκων) macht. […] Die Dinge also, die von der Tugend herrühren, tut er [= der Weise] nicht erzwungenermaßen, sondern freiwillig (ἑκών). […] Nichts macht er unfreiwillig (ἄκων) und wird auch nicht gezwungen (ἀναγκάζεται).Wenn er aber wirklich ein Sklave (δοῦλος) wäre, würde er gezwungen. So dass wohl der Gebildete (ἀστεῖος) [= der Weise] frei (ἐλεύθερος) ist.“ Gerade die Verbindung von Freiwilligkeit und Freiheit wird auch vom Tragödiendichter Euripides hergestellt,¹³⁶ der in derselben Schrift von Philo zitiert wird (prob. 116 = Eur.Hec. 548 – 551), ist also Allgemeingut.¹³⁷ Zwar betont Paulus explizit, frei zu sein (9,1a.19; 10,29b) und entspricht somit dem hellenistischen Weisenideal. Er wendet sich aber mit den Aussagen, dass ein Zwang (ἀνάγκη) auf ihm liegt (1Kor 9,16), ihm unfreiwillig (ἄκων) ein Dienst anvertraut ist (v.17) und er sich zum Sklaven gemacht hat (v.19: ἐδούλωσα), dezidiert

 Vgl. Cic.paradoxa 5: ὅτι μόνος ὁ σοφὸς ἐλεύθερος καὶ πᾶς ἄφρων δοῦλος.  Jones, Freiheit 67 f.  S.o. Kapitel 3, 2.3.2.  Jones, Freiheit 48 – 53 vermutet neben der sokratischen Tradition auch den Einfluss von Euripides auf das paulinische Freiheitsverständnis in 1Kor 9, insofern Freiheit bei Euripides in enger Verbindung zur Opferbereitschaft und dem freiwilligen Verzicht auf eigene Rechte steht.  Vgl. auch Xen.Kyroped. 8,1,4. Das Gegensatzpaar ἑκών-ἄκων kann dabei auch in Aporien führen, wenn es nach platonisch-sokratischer Manier mit dem Unrecht-Tun kombiniert wird, vgl. Plat.Hipp.min. 373C–376C. Sokrates kann an dieser Stelle einleitend durchaus ironisch zu Hippias sagen (373B): „Nicht freiwillig mache ich diese Dinge, denn dann wäre ich weise und gewaltig gemäß deiner Rede, sondern unfreiwillig, so dass du mit mir Verständnis haben musst.“ Daran lässt sich wiederum ablesen, dass es durchaus die (ursprünglich sophistische) Ansicht geben konnte, freiwillig zu handeln und weise zu sein gehörten zusammen.

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gegen allgemeine (griechisch-römische wie hellenistisch-jüdische) Vorstellungen vom Weisen.¹³⁸ Zudem ist auch sein Lohnverzicht nicht freiwillig (wie bei Sokrates¹³⁹), sondern speist sich aus der Tatsache, dass Paulus zu seinem Dienst – durch Gott und Christus – zwangsverpflichtet worden ist. Auch wenn sich die von ihm propagierte Freiheit als innere Freiheit von menschlichen Urteilen verstehen lässt und somit popularphilosophisch konsensfähig ist – indem Paulus darauf beharrt, gezwungenermaßen auch innerlich ein Sklave (geworden) zu sein, setzt er sich von diesem Konsens ab und stellt sich selbst in paradoxer Weise dar: innerlich frei und unfrei zugleich. In dieser Paradoxie spiegelt sich die Paradoxie des Christusglaubens wieder, wie Paulus ihn in 1,18 – 31 dargestellt hat.

6.3 Der Weise als Athlet Den Weisen als einen erfolgreichen Athleten zu schildern, ist in der Popularphilosophie ein geläufiges Bild. Gerade in einer vom Sport bzw. Wettkampf durchdrungenen Kultur wie der griechischen¹⁴⁰ ist es nahezu zwangsläufig, dass dieses alltägliche Element auch im philosophischen Denken und Sprechen Einzug gehalten hat.¹⁴¹ So legt etwa Plato (Gorg. 526D) seinem Sokrates das Wort ἀγών in den Mund, um auf die Notwendigkeit hinzuweisen, im Leben die Wahrheit zu prüfen¹⁴² und dadurch als Bester zu leben. Im Munde von Xenophons Sokrates findet sich zwar durchaus Wettkampfmetaphorik, allerdings nicht in Bezug auf sich selbst als weiser Mensch. Jedoch erscheint Sokrates hier als der „selbstbeherrschteste“ (ἐγκρατέστατος) aller Menschen und somit unberührt davon, was körperliche Bedürfnisse angeht (mem. 1,2,1– 5). Als sich in der Folgezeit Vorstellungen über die Gestalt des Weisen herausbildeten – auch unter Einfluss des sokratischen Beispiels –, verglichen zuerst die Kyniker, dann die Stoiker den Weisen mit einem Wettkämpfer, der im Leben gegen seine Begierden und Leidenschaften zu bestehen hat.¹⁴³ Im Hellenismus blieb dies ein fester Topos. So findet sich etwa bei Dio Chrysostomos ein ausführlicher Vergleich zwischen  Vgl. etwa Epikur, S.V. 9: „(Ein) Übel [ist] (der) Zwang, aber [es besteht] kein Zwang, mit [bzw. unter] Zwang zu leben“ (κακὸν ἀνάγκη, ἀλλ’ οὐδεμία ἀνάγκη ζῆν μετὰ ἀνάγκης); oder für die Stoa Stob.Ecl. 2,7,11 (= SVF 1,216; 3,567): Weder wird der Weise von jemandem gezwungen, noch zwingt er jemanden.  Plut.mor. 581C: Sokrates blieb freiwillig (ἑκουσίως) sein ganzes Leben lang arm.  Vgl. dazu allgemein Pfitzner, Paul 16 – 22; spezifischer Poplutz, Athlet 36 – 69 (zum AgonMotiv in der Sprache).71– 99 (zu agonalen Realien).  Vgl. Pfitzner, Paul 23 – 27; Poplutz, Athlet 101– 173.  Oder: zu üben (andere Lesart).  Vgl. Pfitzner, Paul 28 – 35.

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Philosoph und Wettkämpfer.¹⁴⁴ Ebenso kann Plutarch ein tugendhaftes Leben mit einem Wettkampf vergleichen und dabei erklären, dass die Selbstbeherrschung (ἐγκρατεία) Ziel und Erweis des Tugendtrainings darstellt und damit dem Siegerkranz (στεφανός) im Sportbereich entspricht.¹⁴⁵ Und selbst im hellenistischen Judentum fasste die Wettkampfmotivik allgemein, aber auch in der Beschreibung des Weisen Fuß.¹⁴⁶ So beschreibt etwa Philo in seiner Weisen-Schrift, wie er einst Zeuge eines Boxkampfes in der Arena war, und vergleicht seine Beobachtung eines standhaften Pankratiasten mit der unerschütterlichen und beharrlichen Haltung eines Weisen.¹⁴⁷ Später kommt Philo in der gleichen Schrift zu der Erkenntnis, dass es für die Weisen viel ehrenvoller ist, für die Freiheit zu sterben, als im Vergleich für die Athleten, einen realen Siegeskranz.¹⁴⁸ Dass Paulus – der Pharisäer (Phil 3,5) – selbst einmal als Zuschauer, geschweige denn als Teilnehmer, das Stadion betreten hat, ist äußerst unwahrscheinlich.¹⁴⁹ Von daher legt es sich nahe, dass Paulus die von ihm gebrauchte Wettkampfmetaphorik aus der Popularphilosophie übernommen hat – entweder unmittelbar¹⁵⁰ oder vermittelt durch die hellenistisch-jüdische Märtyrerliteratur¹⁵¹. Victor C. Pfitzner sieht den Schwerpunkt von 1Kor 9,24– 27 in der Vorstellung liegen, dass jeder Wettkämpfer in allen Dingen selbstbeherrscht ist (v.25a: πᾶς δὲ ὁ ἀγωνιζόμενος πάντα ἐγκρατεύεται); das zentrale Thema sei also die Selbstbeherrschung (ἐγκράτεια).¹⁵² Hingegen erkennt Uta Poplutz in 9,25bc die thematische Mitte, wo es um den unvergänglichen Siegeskranz geht.¹⁵³ Dies erscheint deshalb plausibler, da Paulus in v.27b erneut die eschatologische Perspektive aufnimmt und ja schon zuvor die Korinther in dieser Perspektive gesehen wurden (v.24c). Gleichwohl greift Paulus mit der Selbstbeherrschung einen gewichtigen

 Vgl. Dion Chrys. or.8.  Vgl. Plut.mor. 584B–585D.  Vgl. Pfitzner, Paul 38 – 72; Poplutz, Athlet 174– 215 mit Verweis auf Philo, SapSal, 4Makk und Flavius Josephus.  Vgl. Phil.prob. 26 – 28.  Vgl. Phil.prob. 113.  Vgl. A. Koch, „Paulus und die Wettkampfmetaphorik,“ in: TThZ 117 (2008), 39 – 55 (42 f), der für Paulus’ Pharisäertum allerdings nur auf Act 22,3; 26,5 hinweist. Zur nicht-wörtlichen Deutung von 1Kor 15,32 s. Kapitel 12, 6.2. Paulus ist eben nicht Philo, der seine sprachlichen Wettkampfmotive aus eigener Anschauung gewonnen hat.  Schriftlich (so etwa Funke, „Antisthenes“) oder mündlich.  Koch, Paulus 54 spricht von der „spätjüdischen Märtyrerliteratur“. ‚Spätjüdischʻ sollte sich als gebräuchlicher Forschungsterminus eigentlich längst überlebt haben.  Vgl. Pfitzner, Paul 85.  Vgl. Poplutz, Athlet 262.

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Weisentopos auf, unter den er zunächst alle Christusgläubigen (ἡμεῖς) im Gegenüber zu den anderen Menschen (v.25bc), dann aber sich selbst (v.26 – 27) subsummiert. Anders als bei Plutarch¹⁵⁴ ist die Selbstbeherrschung aber nicht mit dem Ziel bzw. Sieg gleichzusetzen, sondern bildet die Voraussetzung zum Erfolg. Diese Sicht auf die Selbstbeherrschung ähnelt der des xenophonischen Sokrates, der sie als Grundlage der Tugend ansieht.¹⁵⁵ In 1Kor 7,1– 9 hatte Paulus sich bereits als mit dem Gnadengeschenk der Selbstbeherrschung ausgestattet dargestellt.¹⁵⁶ Dort war die Selbstbeherrschung eng auf den sexuellen Bereich bezogen und stand den Korinthern nach Paulus’ Ansicht in diesem speziellen Feld nicht zur Verfügung. Indem Paulus in 9,25c die Korinther in den eschatologischen Wettlauf einschließt, gesteht er ihnen zu und fordert sogar von ihnen, wie ein Wettkämpfer selbstbeherrscht zu sein. Paulus stellt sich zu diesem Zweck in v.26 – 27 als Beispiel oder Vorbild hin. Als Teil der gesamten Apologie in c.9 erscheint darüber hinaus die Selbstbeherrschung als notwendige Voraussetzung der verzichtenden Freiheit.¹⁵⁷ Paulus zeigt einmal mehr, dass er dank der Selbstbeherrschung seine Leidenschaften kontrollieren kann. Anders als in c.7 weist er auch den Korinthern diese für den liebevollen geschwisterlichen Umgang unverzichtbare Eigenschaft zu. Poplutz macht darauf aufmerksam, dass Paulus in 1Kor 9 „durchgängig Probleme verhandelt, die in der hellenistischen Popularphilosophie im Zusammenhang mit der Freiheit diskutiert werden“¹⁵⁸. Sie führt dazu etliche Parallelen dazu aus Epiktets Kynikerdiatribe an:¹⁵⁹ Dort erscheint der Weise als von Gott berufen, Bote, Kundschafter und Herold und kämpfe einen olympischen Kampf, wobei er auf Ehe, Besitz und Einkommen verzichtet. Aber bereits bei Xenophon (mem. 4,5) wird etwa die Selbstbeherrschung als Voraussetzung für (innerliche) Freiheit verstanden, wohingegen Unbeherrschtheit in die Sklaverei führe und die Menschen von der Weisheit, „dem größten Gut“ (4,5,6), fernhalte. Auch Senecas 80. Brief stellt einen Zusammenhang von Wettkampf und Freiheit her. Insgesamt ergibt sich der Eindruck, dass sich Paulus in 1Kor 9 ganz in die Tradition des hellenistischen Weisen stellt. Gerade vor dem Hintergrund seiner Umgangsweise mit anderen Menschen (1Kor 9,23) ist Paulus den (Möchtegern‐)Weisen in Korinth

 Vgl. Plut.mor. 584F–585A.  Vgl. Xen.mem. 1,5,4: τὴν ἐγκράτειαν ἀρετῆς εἶναι κρηπῖδα.  S.o. Kapitel 8, 3.1.  Wie schon zu 1Kor 7 bemerkt, geht es bei der ἐγκράτεια nicht um Leidenschaftslosigkeit, sondern darum, seine Leidenschaften unter Kontrolle zu haben.  Poplutz, Athlet 286.  Vgl. Epikt.diss. 3,22.

7 Fazit

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ein Weiser geworden – gleichwohl ein wahrer Weiser, dessen Weisheit eine ganz eigene und für die Korinther teilweise neue Qualität hat.

6.4 Das Zuträgliche Wie schon in 6,12 kommt Paulus in 10,23.33 auf das Zuträgliche zu sprechen. Ich hatte bereits oben bemerkt, dass die Begrifflichkeiten des Zuträglichen ein allgemein-philosophischer Topos ist.¹⁶⁰ Deutlicher als in 6,12 bezieht Paulus das Zuträgliche auf die anderen: Nicht man selbst, sondern die anderen sollen ekklesiologischer Zielpunkt des eigenen Handelns sein (10,23 f): „συμφέρον ist, was Gemeinde baut“¹⁶¹. Indem Paulus eine enge Verbindung vom Zuträglichen zum Gemeindeaufbau herstellt, profiliert er es anders als die Philosophie, die das allen Menschen Zuträgliche im Blick hat.¹⁶² Gerade in diesem Punkt zeigt Paulus auf sich selbst (10,33). Für den Apostel spielen dabei aber nicht alle Menschen, sondern nur die Vielen (Noch-nichtChristusgläubige) eine Rolle, die er erreichen kann. Diesem speziellen Kreis sucht er das Zuträgliche zu bieten, damit sie Rettung erfahren werden, nicht der Allgemeinheit, und er sucht es unter Absehung des eigenen Nutzens zu bieten. Auch diese Positionierung hebt Paulus von der Philosophie ab, stellt ihn aber gleichzeitig in Kontinuität zum gekreuzigten Christus (1,23; 2,2), der seinen Gläubigen Weisheit bedeutet (1,30). Mittels seiner dienenden Haltung, die Paulus gegenüber den Korinthern einnimmt (3,5; 4,1; 9,19), bestimmt er den Begriff des Zuträglichen im Sinne eines Verzichtens auf Eigennutz neu. Eben dadurch zeigt Paulus aber seine christusförmige Weisheit und sich selbst als christusförmigen Weisen.

7 Fazit Auch in 1Kor 8,1– 11,1 wird Paulus’ Rolle als Weiser evident. Ohne sich selbst als weise zu bezeichnen, erfüllt er doch wesentliche Kriterien eines hellenistischen Weisen. So ist er nicht bloß als Gottesverehrer fromm, was ein particular der rhetorischen persona des Weisen ist. Vielmehr betet Paulus mit dem Gott Israels den einzig wahren Gott an, wobei ihm als einem Christusgläubigen überhaupt das

 S.o. Kapitel 7, 3.2.2.2.  Weiß, „συμφέρω“ 79.  Hier lässt sich durchaus ein Bogen zu 1Kor 3,10 zurückschlagen, wo Paulus sich selbst als einen ‚weisen Baumeisterʻ von Gottes Gnaden bezeichnet. Die Aufgabe eines Baumeisters ist das Häuserbauen (οἰκοδομική, vgl. Plat.rep. 438CD).

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Kapitel 9 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 8,1 – 11,1

Wesen Gottes bekannt ist. Die Darstellung seiner innerlichen und materiellen Freiheit rückt ihn erneut in die Nähe von Sokrates. Die Wettkampfmetaphorik, die seine Selbstbeherrschung und damit seine Freiheit unterstreicht, sowie der Hinweis auf das Zuträgliche gesellt ihn zur Rhetorik der Popularphilosophen. Als Verkünder des Christusglaubens gibt Paulus der allgemein bekannten rhetorischen persona neue Akzente, indem er die für sich beanspruchte Freiheit sogleich im Interesse der Glaubensgeschwister einschränkt. Zudem beschreibt er die Freiheit in paradoxer Weise als Sklaventum. Diese paradoxe Argumentation verdankt sich der Paradoxie der theologia crucis. Der Bezug zum gekreuzigten Christus als Lebensmuster wird deutlich im Schlussaufruf zur Nachahmung des Apostels als eines Nachahmers Christi (11,1). Paulus stellt sich selbst als Beispiel für einen christusgemäßen Bios vor. In Kombination mit seiner Darstellung in der rhetorischen persona als Weiser wird er einmal mehr für die Korinther beispielsweise.

Kapitel 10 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 11,2 – 34 In 1Kor 11,2– 34 bringt Paulus zwei Probleme in der korinthischen Gemeinde zur Sprache: die rechte Kopftracht der Männer und Frauen beim Gottesdienst (v.2– 16) und das rechte Verhalten der gesamten Gemeinde beim Herrenmahl (v.17– 34). Inhaltlich gibt es in der Exegese zu beiden Feldern erhebliche Forschungskontroversen.¹ Für diese Arbeit interessiert jedoch die Selbstdarstellung des Apostels. Nur insoweit meine Untersuchung in Berührung mit diesen Kontroversen kommt, werde ich Position dazu beziehen.²

 Zu verschiedenen kultur- und religionsgeschichtlichen Interpretationen von 11,2– 16 vgl. ausführlich H. Merklein/ M. Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2 – 16,24 (ÖTK 7/3), Gütersloh 2005, 33 – 41, zur Diskussion des Hintergrundes von 11,17– 34 vgl. a.a.O. 79 – 82. Die Meinungen darüber, was das Thema in 11,2– 16 sei, reichen von der Behandlung der Frage der rechten Kopfbedeckung bei Mann und/oder Frau (Schleier oder nicht), vgl. etwa P. T. Massey, „The Meaning of κατακαλύπτω and κατὰ κεφαλῆς ἔχων in 1 Corinthians 11.2– 16,“ in: NTS 53 (2007), 502– 523, bis hin zur Verhandlung über die angemessene Frisur (kurzes oder langes Haar bei Männern wie bei Frauen),vgl. etwa M. Gielen, „Beten und Prophezeien mit unverhülltem Kopf? Die Kontoverse zwischen Paulus und die korinthische Gemeinde um die Wahrung der Geschlechtsrollensymbolik in 1Kor 11,2– 16,“ in: ZNW 90 (1999), 220 – 249, und beziehen sich darüber hinaus auf die verschiedenen Gebräuche in der zeitgenössischen griechisch-römischen Kultur, vgl. D.W. J. Gill, „The Importance of Roman Portraiture for Head–Coverings in 1 Corinthians 11:2– 16,“ in:TynB 41 (1990), 245 – 260; T.W. Martin, „Paul’s Argument from Nature for the Veil in 1 Corinthians 11:13 – 15: A Testicle instead of a Head Covering,“ in: JBL 123 (2004), 75 – 84 (lesenswert allein wegen der steilen These: περιβόλαιον als ‚Hodeʻ); R. Oster, „When Men Wore Veils to Worship: The Historical Context of 1 Corinthians 11.4,“ in: NTS 34 (1988), 481– 505, bzw. der jüdischen Subkultur, vgl. M. Böhm, „1Kor 11,2– 16, Beobachtungen zur paulinischen Schriftrezeption und Schriftargumentation im 1. Korintherbrief“, in: ZNW 97 (2006), 207– 234. Ebenso kontrovers wird 1Kor 11,17– 34 diskutiert, vgl. etwa E. Reinmuth, „Brot-Brechen und Körper-Gemeinschaft. Herrenmahl und Gemeinde im ersten Korintherbrief,“ in: ZNT 27 (2011), 46 – 50 vs. M. Klinghardt,“ Gemeindeleib und Mahlritual. Sōma in den paulinischen Mahltexten,“ in: ZNT 27 (2011), 51– 56.  Um es vorwegzunehmen: Ich halte die Bestimmung, dass es in 1Kor 11,3 – 15 um weibliche Haarmode geht, für falsch. Vielmehr sehe ich die Kopfbedeckung von Frauen und (!) Männern während des Gottesdienstes als Thema. V.16 verstehe ich als Nachtrag des Apostels zu einem Gerücht über seine Haare, das wegen des ‚Naturbeweisesʻ in v.14 f anzusprechen er sich gezwungen sieht. DOI 10.1515/9783110498769-013

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Kapitel 10 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 11,2 – 34

1 Abgrenzung, Aufbau und genus-Merkmale von 1Kor 11,2 – 34 Nach hinten ist das Ende der Texteinheit klar durch das Fazit in 1Kor 11,33 f (ὥστε/ „so dass“) und ein neues Thema in 12,1 (περὶ δέ/ „aber über“) bestimmt.³ Vorne beginnt Paulus spätestens mit der Disclosure-Formel in 11,3 etwas Neues. 11,2 bildet jedoch nicht mit 11,1 zusammen eine Einheit, die den Abschluss des vorangehenden Abschnitts c.8 – 10 bzw. den Übergang zum Folgenden darstellt.⁴ Vielmehr markiert das durch Anfangsstellung hervorgehobene ἐπαινῶ δὲ ὑμᾶς („ich lobe euch aber“) den Neueinsatz. Die Wiederholung des Verbs in 11,17.22(bis) macht deutlich, dass mit 11,2– 34 eine textliche und thematische Einheit vorliegt. Dies wird in 11,2 zudem dadurch verstärkend vorbereitet, dass der Apostel die Überlieferungen (παραδόσεις) im Zuge der Übermittlung des Christusbekenntnisses an die Korinther in Erinnerung ruft, was in 11,23 wiederaufgenommen wird.⁵ Damit ist die Texteinheit klar abgegrenzt. Mit den Überlieferungen hat Paulus in 11,2 allerdings noch nicht das Thema der Einheit präzise benannt: Es geht im Folgenden nicht um die Überlieferungen als solche, sondern um das liturgische Leben der Gemeinde. Die vom Apostel ausgegangenen Überlieferungen stellen den Grund dar, auf welchem der gemeindliche Gottesdienst aufbaut. Sie liefern die Begründung für das rechte gottesdienstliche Verhalten der Gemeindeglieder.⁶ Innerlich ist die Einheit in zwei Teile gegliedert, die sich inhaltlich bestimmen: v.3 – 16 behandeln das Verhalten der Geschlechter im Gottesdienst, v.17– 34 das soziale Verhalten der Gemeindeglieder beim Herrenmahl. Der erste Teil zeichnet sich dabei durch singuläre Vorstellungen und Begrifflichkeiten (κεφαλή/ „Kopf“; είκών/ „(Ab‐)Bild“; δόξα θεοῦ/ „Herrlichkeit Gottes“) aus, die in ihrer Zusammenstellung auf den Ursprung in einer weisheitlichen Schuldiskussion hellenistisch-jüdischer Prägung verweisen.⁷

 1Kor 12– 14 behandeln mit dem Phänomen der Geistesgaben einen Themenkomplex, der wie die Frage nach der rechten Kopfbedeckung bzw. Herrenmahlspraxis ebenfalls einen Bezug zum Gottesdienst aufweist. Das Verhältnis von c.11 zu c.12– 14 ist ähnlich wie das von c.5 – 6 zu c.7. Beide Kapitelgruppen weisen eine inhaltliche Nähe auf (c.5 – 7: Geschlechtsleben; c.11– 14: Gottesdienst), sind jedoch in sich durch περὶ δέ (7,1; 12,1) geteilt, wobei der erste Teil wohl auf Hörensagen beruht (5,1; 11,18), der zweite auf ein Schreiben der Korinther zurückgeht (7,1 – und 12,1, wenn man περὶ δέ als Rekurs auf dieses Schreiben versteht).  So Dodd, ‚I‘ 113 f.  Vgl. Klauck, Korintherbrief 79 f.  Dass es um Gottesdienst geht, folgt aus 1Kor 11,4.5.13 (Beten, Prophezeien) und v.18.20 f.33 (Versammeln).  Vgl. Conzelmann, „Paulus“ 240 f; ders., Brief 222.228 f. Conzelmann bezeichnet diese Vorstellungen als „Manifestationsbegriffe“.

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Paulus beginnt den Gesamtabschnitt mit dem ausdrücklichen Loben der Korinther, da sie sich seiner in allen (!) Dingen (πάντα) erinnerten und die Überlieferungen von ihm in der Weise übernommen hätten, wie Paulus sie ihnen überbracht habe (v.2). Durch den Wortmarker ἐπαινῶ verortet Paulus das nun Folgende im Sprachmodus des Epideiktischen, in dem es ja um Lob und Tadel geht. Nun könnte man nach modernem Denken meinen, ein Lob, das ausdrücklich mit einem ‚ich lobe dich/euchʻ ansetzt, sei kein echtes Lob, da es dies eben nötig hat, auf die eigene Funktion hinzuweisen, und nicht aus sich selbst heraus spricht. Dies wird in der Exegese zuweilen dahingehend gedeutet, dass Paulus in 1Kor 11,2 die Korinther nicht lobt, sondern vielmehr versucht, ihnen mit einer recht durchsichtigen captatio benevolentiae zu schmeicheln.⁸ Allerdings gibt es in der griechisch-römischen Herrscherkorrespondenz mit Städten die Sitte, das entgegenkommende Verhalten der Behörden und Einwohner zu loben, was vonseiten des Kaisers mit einem ἐπαινῶ ausgedrückt wird.⁹ Nun ist auch der 1Kor ein offizielles Schreiben an die ‚Versammlung Gottes in Korinthʻ (1,1 f), was nahe legt, dass Paulus als ‚durch Gottes Willen berufener Abgesandter des Gesalbten Jesusʻ in Teilen Elemente der weltlichen Amtssprache übernommen hat. Selbstredend kann 11,2 dabei ernsthaft zur Einverständnisherstellung dienen. Dass Paulus das Lob zwar formelhaft ausdrückt, aber zunächst aufrichtig meint, sollte jedoch nicht in Zweifel gezogen werden. Gerade dadurch, dass das Lob in 11,2 ernst gemeint ist, erhält der Tadel bzw. das ausdrückliche Nicht-Loben in 11,17.22 seine Stärke. Gleichwohl ist der Apostel offensichtlich nicht zufrieden mit der gottesdienstlichen Praxis der korinthischen Gemeinde, da er es für angebracht hält, ihnen in v.3 – 12 etwas offenbar Neues, bisher Unbekanntes mitzuteilen.¹⁰ Das Lob besteht ja nur darin, dass sich die Korinther ‚in allen Dingenʻ des Apostels erinnern und seine Überlieferungen bewahren. Damit ist noch nichts über das eigentliche Verhalten der Korinther als ‚Umsetzen dieser Überlieferungserinnerungʻ im praktischen Leben ausgesagt, bei dem es nach Ansicht des Paulus Defizite gibt bzw. geben könnte.¹¹ Dies wird durch die abschließenden Verse des ersten Teils

 Vgl. Conzelmann, Brief 222; Merklein/Gielen, Brief III 47; Wolff, Brief 248; Zeller, Brief 352 („taktische Funktion“). J. Murphy-O’Connor, „Sex and Logic in 1 Corinthians 11:2– 16,“ in: CBQ 42 (1980), 482– 500 (491) hält das Lob sogar für rein ironisch.  Vgl. A. Strobel, „Zum Verständnis von Rm 13,“ in: ZNW 47 (1956), 67– 93 (81– 83) mit zahlreichen Beispielen.  1Kor 11,3 bietet eine Disclosure-Formel; vgl. dazu T. Y. Mullins, „Disclosure. A Literary Form in the New Testament,“ in: NT 7 (1964/65), 44– 50.  An keiner Stelle in 1Kor 11,3 – 16 gibt Paulus zu erkennen, dass die Korinther tatsächlich in einer von Paulus’ Ansichten abweichenden Weise handeln (v.16 fasse ich als Hinweis auf falsch

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deutlich, wo Paulus auf eine seiner Ansicht nach geschlechtsspezifisch widernatürliche Haartracht hinweist (v.14 f) und einigen in der Gemeinde Streitsucht bzw. Rechthaberei unterstellt (v.16). Somit erinnern sich die Korinther zwar lobenswerterweise ‚in allen Dingenʻ des Paulus, schließen sich aber mit ihrem Verhalten nicht durchgehend an ihn an.¹² Dies ist noch nicht tadelnswert, da die Korinther ja keine Ahnung von den theologischen Implikationen ihres Verhaltens haben. Diese erläutert ihnen der Apostel daher ausführlich. Dass zudem den Korinthern ein eigenständiges Urteilsvermögen zugesprochen wird (v.13a) – gerade zu einer offen formulierten Frage, die auf ein μή als Deutepartikel verzichtet –¹³, verstärkt den Eindruck, dass es Paulus hier um einen Lernprozess seitens der Korinther, nicht aber um das autoritäre Durchsetzen seiner eigenen Ansichten geht.¹⁴ 1Kor 11,3 – 16 ist damit als symbuleutisch zu bestimmen, insofern Paulus die Gemeinde über ein angemessenes, künftig zu praktizierendes Verhalten berät. Ebenso macht die Sprache aber auch deutlich, dass ein Nicht-Einhalten der paulinischen Überlegungen tadelnswerte Folgen hätte. Der Tadel ist ersichtlich aus der Einführung der Kategorie ‚Schamʻ/‚Schandeʻ (v.4.5: καταισχύνει; v.6: αἰσχρόν; v.14: ἀτιμία) – der die erstrebenswerte Ehre (v.15: δόξα)¹⁵ gegenüber steht – in die Argumentation.¹⁶ Durch das Einsetzen der abgestuften, kettenartigen Verbindung Gott-Christus-Mann-Frau¹⁷ in die Kategorie ‚Schamʻ/‚Schandeʻ rückt verstandene Nachrichten über Paulus auf, nicht aber als Hinweis auf einen Brauch in Korinth, s.u.). Weder lässt er den Anlass oder die Quelle zu diesen Überlegungen erkennen, noch klagt er die Korinther direkt eines Fehlverhaltens an – ganz anders in 1,12; 3,4; 5,1 f; 6,1– 8; 8,7; 11,18.20 f; 14,23; 15,12. Insofern scheint Paulus hier auf ein Gerücht über das Einreißen einer neuen Sitte zu reagieren, die aber noch nicht vollständig in der Gemeinde Fuß gefasst hat. Die Korinther können ja noch immer über die Durchsetzung der neuen Sitte frei entscheiden (11,13a). Worin genau die Unsitte nach Paulus’ Ansicht bestand, ist nicht zu klären. Die gegenwärtige exegetische Kontroverse scheint mir gerade darin ihren Ursprung zu haben, dass Paulus selbst nicht genau weiß, was in Korinth im Gottesdienst passiert, und es deshalb auch nicht klar benennt bzw. benennen kann.  Nichts anderes hatte er bereits in 11,1 gesagt: Die Korinther sind eben noch nicht seine Nachahmer.  Vgl. BDR §§ 427.440. Paulus kann mit μή durchaus rhetorisch fragen, z. B. 1Kor 1,13; 9,8; 10,22.  Vgl. T. Engberg-Pedersen, „1 Corinthians 11:16 and the Character of Pauline Exhortation,“ in: JBL 110 (1991), 679 – 689 (681– 684).  Die in 11,7 erwähnte δόξα bezieht sich explizit auf Gott und meint seine Herrlichkeit.  M. Finney, „Head-coverings, and Headship: 1 Corinthians 11.2– 16 in its Social Context,“ in: JSNT 33 (2010), 31– 58 (31– 53) unternimmt eine Exegese von 1Kor 11,2– 16 auf dem Hintergrund dieser Kategorien.  Vgl. Böhm, „Beobachtungen“ 214– 221. Dagegen erkennt J. Murphy-O’Connor, „Sex“ 491– 495 (sowie ders., „1 Corinthians 11:2– 16 Once Again,“ in: CBQ 50 (1988), 265 – 274 [270]) in 1Kor 11,3 keine Reihung, sondern vielmehr eine Analogie, derzufolge der Mann (= Adam) den Ursprung der Frau (= Eva) bildet wie Christus den Ursprung eines jeden Gläubigen. Schwachpunkte dieser

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der Apostel ein von seinen Vorstellungen abweichendes Verhalten in die Nähe des Bekenntnisabfalls oder sogar der offenen Bekenntnisverweigerung. Vollends deutlich wird der Tadel durch die sarkastische Bemerkung gegenüber unverhüllten Frauen, sich gleich kahl scheren zu lassen (v.6a).¹⁸ Schließlich ist auch die konditionale Unterstellung der Streitsucht bzw. Rechthaberei (v.16) Anzeichen einer tadelnden Sprache.¹⁹ Insofern sich die Korinther nicht an die Vorgaben des Apostels halten, zeigen sie seiner Ansicht nach ein schändliches und somit tadelnswertes Verhalten. Damit kommt der Abschnitt v.3 – 16 einem indirekten Tadel an der von Paulus vermuteten bzw. befürchteten gottesdienstlichen Praxis der Gemeinde nahe. Dieser Tadel wird allerdings vom Apostel – anders als das Lob in v.2 – (noch) nicht realisiert, eben weil ihm kein ausreichender Beweis dafür vorlag. Die Realisierung eines anderen Tadels geschieht jedoch mit Aufnahme des zweiten gottesdienstlichen Themas in 11,17.²⁰ Paulus lobt, in Aufnahme des Verbs

Auffassung sind das Verständnis von κεφαλή als ‚Ursprungʻ sowie von πάς ἀνήρ als ‚jeder Christusgläubigerʻ.  Böhm, „Beobachtungen“ 207– 234 vermutet Gen 1– 2 als Hintergrund für die Argumentation in 1Kor 11,2– 16. Indem die korinthischen Frauen nach ihrer Gewohnheit mit offenen Haaren beteten, stellten sie sich gegen die von Paulus nach Gen 1 f postulierte Schöpfungsordnung, derzufolge die Frau als Abbild des als generell kurzhaarig vorgestellten Mannes gilt, und entehrten durch ihre von ihm abweichende Erscheinung den Mann als ihr Oberhaupt.  Der Begriff φιλόνεικος in 1Kor 11,16 mag dabei in gewisser Weise bereits auf den folgenden Abschnitt v.17– 34 vorausweisen, insofern nach Diog. Laert. 7,113 φιλονικία als Begierde definiert wird, die sich auf die Entscheidung für etwas, d. h. auf die Parteinahme bezieht (ἐπιθυμία τις περὶ αἱρέσεως). Gerade die Spaltungen und Parteiungen sind es, die der korinthischen Gemeinde bzw. Paulus zu schaffen machen (11,18 f). Wo in der Herrenmahlsfrage das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, möchte Paulus dies in der Frage nach der rechten Kopfbedeckung bzw. Frisur verhindern. Gleichwohl deute ich das φιλόνεικος in 1Kor 11,16 noch anders (s.u.).  Quelle dieser Information ist Hörensagen (11,18), über dessen Wahrheitsgehalt in der Forschung aber Uneinigkeit besteht.Winter, Paul 159 – 163 schlägt vor, μέρος τι nicht als adverbiellen Akkusativ (‚teilweiseʻ/‚zum Teilʻ) zu übersetzen, sondern (wie in Lk 11,36 und Apg 5,2) als Objekt zu verstehen und auf πιστεύω zu beziehen. Μέρος sei dann nicht mit ‚Teilʻ, sondern mit ‚Sacheʻ/ ,Angelegenheitʻ zu übersetzen (vgl. 2Kor 3,10; 9,3). Dann wäre Paulus eben nicht unsicher in Bezug auf den mündlichen Bericht – eine Deutung, die z. B. Wolff, Brief 259 denn auch aufgrund der Übersetzung ‚zum Teilʻ angesichts der Ausführungen in c.1– 4 „[b]efremdlich“ findet. Vielmehr glaubt Paulus, Winter zufolge, eine ‚gewisse (τι!) Sacheʻ, was den mündlichen Bericht meint, den er von den Leuten der Chloe (1Kor 1,10 – 12) erhalten hat. Diese Deutung Winters scheitert allerdings an den von ihm selbst beigebrachten biblischen Vergleichsstellen. Abseits der Deutung Winters könnte Paulus die Nachrichten über die Entzweiungen in der Gemeinde nur deshalb ‚zum Teilʻ glauben, weil er die Einheit der Gemeinde zwar gefährdet, aber noch nicht vollends zerstört sieht (mündlicher Hinweis F. Wilk). Dies macht zudem auch Teilungshypothesen des Briefes obsolet, wie sie etwa von Zeller, Brief 56 – 58 vorgeschlagen werden, der c.11,2– 34 und 15 dem Vorbrief zum 1Kor zuweist.

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ἐπαινῶ zu Beginn des Gesamtabschnitts (v.2), hier ausdrücklich nicht und wiederholt seinen Tadel in v.22 mit einer rhetorischen Frage (‚Soll ich euch loben?ʻ) und einer entsprechenden negativen Antwort (‚Darin lobe ich euch nicht.ʻ). Seine ablehnende Haltung gegenüber dem Verhalten²¹ (einiger in) der Gemeinde wird auch deutlich durch seine überzeichnende Wortwahl (v.18: Spaltungen; v.19: Parteiungen; v. 21: hungern vs. betrunken sein), radikale Kritik (v.20: ‚dies ist kein Herrenmahl mehrʻ), Stil (v.22: vier bzw. fünf rhetorische Fragen). Es ist insofern überhaupt nicht verwunderlich, dass Paulus innerhalb von 11,2 – 22 an keiner Stelle die Vertrautheit ausdrückende Geschwisteranrede gebraucht.²² Auffällig ist, dass ab 11,23 der Tonfall des Apostels sehr viel sachlicher als zuvor ist. Die Polemik ist dem heiligen Ernst gewichen, wenn die Vorstellung vom göttlichen Gericht beschworen wird. Dennoch gibt es auch hier Tadel, wenn Paulus einen Tun-Ergehen-Zusammenhang zwischen den vielen Kranken und Verstorbenen der Gemeinde und ihrer Mahlpraxis konstruiert (v.30). Der Abschnitt schließt mit einer direkten Anweisung an die Gemeinde bezüglich ihrer Mahlpraxis (v.33 – 34a). In dieser Anweisung spricht der Apostel die Gemeinde als ‚meine Geschwisterʻ an.²³ Somit scheint nach dem heftigen Tadel zuvor nun ein Ausgleich erreicht. Insgesamt gesehen ist also 1Kor 11,2– 34, bei allem Lob zu Beginn und aller Beratung²⁴, von der Vorstellung des Tadels – ob nun realisiert oder nicht – beherrscht.

 Der Vorwurf, den Paulus den Korinthern macht, ist der, dass die Gemeindeglieder,wenn sie am Feierort zusammenkommen, kein Herrenmahl feiern (v.20), da sie bei diesem Gemeinschaftsmahl einander übervorteilen. Es ist nicht ganz klar, wie das προλαμβάνειν (v.21) des eigenen Essens zu übersetzen ist: ‚vorwegnehmenʻ (vor dem gemeinsamen Mahl) oder schlicht ‚einnehmenʻ (beim gemeinsamen Mahl), vgl. Merklein/Gielen, Brief III 79 – 83. In jedem Fall sieht Paulus dadurch die Einheit der Gemeinde konterkariert.  Erst spätere Handschriften fügen mit dem westlichen Text und dem Mehrheitstext diese Anrede in 11,2 ein; in den wichtigen frühen Textzeugen wie p46, ‫א‬, A, B, C fehlt sie.  Die Anrede ist vorbereitet durch die 1.P.Pl. in 11,31 f, die Paulus und die Gemeinde als gemeinsam im göttlichen Gericht stehend zusammenschließt.  Berger, Formen 153 f rechnet 1Kor 11,2– 16 insgesamt der symbuleutischen Argumentation zu; ebenso weist er viele Elemente in v.17– 34 der Symbuleutik zu (vgl. a.a.O. 186.224.229.238.256).

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2 Einzelzüge der Selbstdarstellung in 1Kor 11,2 – 34 2.1 1Kor 11,16: Paulus, die Streitsucht, die Gewohnheit und langes Haar Besondere Beachtung verdient 1Kor 11,16: „Wenn jemand aber meint, streitsüchtig zu sein (sein zu müssen) – wir haben eine derartige Gewohnheit nicht, auch nicht die Gemeinden Gottes.“ Diese Aussage ist deshalb wichtig, weil Paulus in ihr – auch – eine Selbstaussage trifft. Deshalb soll 11,16 hier nun näher beleuchtet werden. Paulus trifft seine Aussage in 1Kor 11,16 in der 1.P.Pl.Von großer Wichtigkeit ist die Frage, wer mit dem ‚wirʻ eigentlich gemeint ist.²⁵ Nach meiner Untersuchung des Pluralgebrauchs bei Paulus und der vorgeschlagenen Subtraktionsmethode (s.o. Kap. 3, 5) kann diese Aussage nur auf Paulus und seine Mitarbeiter bezogen sein.²⁶ Dies ergibt sich zunächst aus der Abgrenzung gegenüber den Korinthern durch die Anrede in der 2.P.Pl. direkt zuvor in 11,14 f. Zudem stellt Paulus ja einen Antagonismus heraus zwischen potentiell Streitsüchtigen, die nur aus den Reihen der Korinther stammen können, und der Wir-Gruppe, der Paulus angehört, heraus. Insofern können die Korinther in dem ‚Wirʻ nicht mitgemeint sein.²⁷ Weiterhin werden die Gemeinden Gottes und die Wir-Gruppe unterschieden (v.16b). Die Gemeinden (und zwar alle!) tauchten als Größe im Plural bislang nur in 7,17 auf und kennzeichneten den Jurisdiktionsbereich des Apostels.²⁸ Dort hebt sich Paulus von ihnen als ein Weisungsgeber ab, womit der klare Unterschied zwischen den Gemeinden und dem Apostel auch in 11,16 seine Bestätigung findet.²⁹ Allerdings geht es hier nicht wie in 7,17 um eine Weisung, sondern um eine Beratung. Ein affektischer Plural, der im Sinne eines pluralis adrogantiae zur Selbstvergrößerung des Paulus beitragen soll und allein den Apostel

 Vgl. Engberg-Pedersen, „Character“ 684.  Engberg-Pedersen, „Character“ 684 f kommt zu demselben Ergebnis. L. Schottroff, Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth (ThKNT 7), Stuttgart 2013, 211 erkennt hier (wie auch in 2,5) ein „‚Wir der Gemeindeʻ, das Paulus einschließt“ – eine Annahme, die sie unter Verweis auf 11,2 und die dort genannte angebliche Praxis aller messianischen Gemeinden begründet. Allerdings geht es in 11,2 nicht um die Praxis aller Gemeinden. Vielmehr steht in 11,2 ganz allein Paulus im Fokus. Möglicherweise liest Schottroff 11,2 von 11,23 sowie 15,3: Empfang und Weitergabe von Traditionen in einer allgemein verbindlichen Überlieferungskette; davon ist in 11,2 aber nicht die Rede.  Gegen Merklein/Gielen, Brief III 67.  Im weiteren Briefverlauf finden sie sich noch im möglicherweise interpolierten Abschnitt 14,33b–36 (vgl. dazu Wolff, Brief 341– 345; Merklein/Gielen, Brief III 213 – 218) und, regional bestimmt, in 16,1 (Galatia) und 16,19 (Asia); vgl. zudem 4,17 (‚jede Gemeindeʻ).  Gegen Zeller, Brief 362, der das ‚wirʻ auf die von Paulus gegründeten Gemeinden bezieht und unter ‚den Gemeindenʻ die übrige Christenheit (v. a. im Osten des Reichs) versteht.

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meint,³⁰ kann an dieser Stelle ausgeschlossen werden, da dazu kein Anlass besteht: Der Sprechmodus bleibt dem Beraten verhaftet; der Tadel ist bloß angedeutet, aber nicht vollzogen. Somit verbleiben als Möglichkeiten nur, dass Paulus mit dem ‚wirʻ in 11,16 entweder seinen Mitabsender Sosthenes und sich selbst oder seine Mitarbeiter und sich selbst meint. Vor dem Hintergrund aber, dass Sosthenes möglicherweise selbst aus Korinth stammte (vgl. Apg 18,17) und somit nicht klar von der Gemeinde und deren ‚Gewohnheitʻ abzugrenzen ist, liegt es näher, in dem ‚wirʻ Paulus und seine Mitarbeiter zu erkennen.

Oftmals wird die ‚derartige Gewohnheitʻ (τοιαύτην συνήθειαν) auf die zuvor geschilderte Verhaltensweise des unverhüllten Betens einer Frau (v.13b) bezogen.³¹ Allerdings wäre so eine Aussage schwer verständlich, da auf Paulus und seine Mitarbeiter als Männer naturgegebenermaßen nur die Hälfte dieser Verhaltensweisen zuträfe.³² Somit verbleiben nur die Verstehensmöglichkeiten, dass Paulus die ‚Gewohnheitʻ entweder auf die Langhaarfrisur von Männern (v.14) oder aber auf die Streitsucht der Korinther (v.16a)³³ bezieht. Sprachlich erscheint zunächst beides möglich. Eine Klärung dieser Frage ist über eine Untersuchung des im Neuen Testament seltenen Wortes συνήθεια nicht zu erlangen. Es kommt sonst nur noch in 1Kor 8,7 und Joh 18,39 vor und bezeichnet entweder die subjektive Gewohnheit – also eine Angewohnheit – oder die objektive Gewohnheit – also einen Brauch.³⁴ In 1Kor  Wolff, Brief 256 sieht in dem ‚wirʻ offensichtlich Paulus allein, ohne allerdings den Plural zu erklären.  Vgl. Conzelmann, Brief 233 f; Klauck, Korintherbrief 82; Merklein/Gielen, Brief III 67 („[D]ie ‚Gewohnheitʻ […] bezieht sich […] auf die Kopfbedeckung“ sic!); Wolff, Brief 255 f; Zeller, Brief 362.  Vgl. Engberg-Pedersen, „Character“ 685. Es gehörten zwar auch Frauen zu Paulus Mitarbeitern (Phöbe: Röm 16,1; Priska: Röm 16,3; 1Kor 16,19; Maria: Röm 16,6; Junia: Röm 16,7). Dass diese jedoch in dem ‚wirʻ in 1Kor 11,16 mitgemeint sind, ist unwahrscheinlich: Wenn Paulus in 1Kor sonst von nicht aus Korinth stammenden Mitarbeitern bzw. Lehrern spricht, sind diese Männer (Timotheus, Kephas, Apollos); lediglich in den Schlussgrüßen taucht Priska auf, und welchen Status Chloe (1,11) hatte, bleibt ungeklärt. Falls Paulus hier inkludierend spräche, müsste die von ihm benannte Gewohnheit eigentlich als Doppel-Gewohnheit zu verstehen sein: teils für Männer, teils für Frauen. Vom sonstigen Gebrauch des Wortes im Griechischen, das durchaus den Plural ‚Gewohnheitenʻ kennt (etwa Isokrates, Ad. Demonicum 1; Plat.leg. 656D; Aristot.hist.an. 575B), ergibt sich dies jedoch nicht notwendig. In 1Kor 11,16 scheint es um bloß eine Gewohnheit zu gehen.  Vgl. Bachmann, Brief 362; Engberg-Pedersen, „Character“ 685; Ioh.Chrys., hom. ad Cor. 1 26,5.  Vgl. Bauer, Wörterbuch s.v. Das objektive Verständnis liegt in Joh 18,39 vor, wo συνήθεια die Gewohnheit der Judäer im Sinne eines Brauchs bezeichnet, nämlich am Passah einen Gefangenen zu begnadigen. In 1Kor 8,7 bezieht das Wort sich wohl auf die subjektive Gewohnheit der ‚Schwachenʻ im Sinne einer Gewöhnung an das Idol als Bild einer tatsächlich existierenden göttlichen Wesenheit, vgl. Bachmann, Brief 305, der damit ausschließt, dass das Wort συνήθεια nach seiner anderen Bedeutung wie in 4Mcc zur Bezeichnung eines freundschaftlichen Umgangs gebraucht wird. In Athanasius,Vita Antonii 4 gibt es die Kombination von συνήθεια mit ἔχειν. Dort allerdings hat συνήθεια die andere Bedeutung ‚freundschaftlicher Umgangʻ: Es werden die

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11,16 lässt sich zunächst nicht feststellen, ob das Wort im objektiven oder subjektiven Sinne zu verstehen ist.Weder die Kombination mit ἔχειν noch der absolute Gebrauch von συνήθεια erlauben Rückschlüsse. Von daher kann nur sprach- bzw. ideengeschichtlich gefragt werden: Kann es in der griechischen Vorstellungswelt die Angewohnheit oder die Gepflogenheit geben, streitsüchtig zu sein? Oder weiter gefasst: Gibt es im griechischen Denken die Vorstellung, dass die Gepflogenheit einer bestimmten zwischenmenschlichen Umgangsweise bzw. einer bestimmten individuellen Lebensweise besteht? Hierzu ist mir kein entsprechendes Beispiel bekannt geworden.³⁵ Tatsächlich wäre dies wohl für das griechische Denken ungewöhnlich, was stellvertretend an der stoischen Denkweise gezeigt sein soll. Ihr zufolge (Diog.Laert. 7,113) wird die Streitsucht bzw. die Rechthaberei (φιλονικία) unter die Begierde (ἐπιθυμία) als unlogisches Verlangen (ἄλογος ὄρεξις)³⁶ gezählt.³⁷ Die Begierde zählt wie Schmerz, Furcht und Lust zu den Leidenschaften (7,110). Leidenschaften kann man aber nicht pflegen (wollen). Vielmehr ist man ihnen unterworfen. Leidenschaftslos sind nur der Weise sowie der völlig verrohte schlechte Mensch (7,117). Somit scheidet die Möglichkeit aus, die von Paulus in 1Kor 11,16 benannte ‚Gewohnheitʻ auf die Streitsucht zu beziehen. Es verbleibt die Möglichkeit, dass Paulus, der in 11,16 (gemeinsam mit seinen Mitarbeitern) als Mann spricht, die ‚Gewohnheitʻ auf das Langwachsenlassen der Haare von Männern (κομᾶν: v.14) bezieht und er damit einen ‚Brauchʻ meint. Dies entspricht durchaus griechischem Sprachgefühl, wofür Plutarch in mor. 267B ein Beispiel liefert, wo es über die Griechen heißt: „Wenn nämlich bei den Griechen jemand ein Unglück erleidet, scheren sich die Frauen, während die Männer das Haar lang wachsen lassen, denn diesen ist das Scheren gewohnt, jenen aber das Langwachsenlassen“.³⁸ Plutarch behandelt in mor. 267A–C übrigens die Frage, warum bei den Römern die Söhne die verstorbenen Eltern mit bedecktem Haupt betrauern, die Töchter aber mit bloßem Kopf und gelöster Haarmähne. Hierin erkenne ich (ohne einen engen Bezug zu Gen 1– 2 zu verneinen)

Liebhaber des Schönen erwähnt, ‚zu/mit denen er [= Antonius] den freundschaftlichen Umgang hatteʻ (οἱ φιλόκαλοι πρὸς οὗς εἶχε τὴν συνήθειαν).  Dies beruht auf einer TLG-Recherche.  Schon für Demokrit ist jede Rechthaberei unvernünftig (ἀνόητος), vgl. fr. 237.  Andere Begierden nach stoischer Überzeugung sind Diog.Laert. 7,113 zufolge die Bedürftigkeit (sstillung) (σπάνις), Hass (μῖσος), Zorn (ὀργή), Liebesverlangen (ἔρως), Groll (μῆνις) und Heftigkeit (θυμός). In Phil 1,23 kann Paulus zwar durchaus davon sprechen, dass er eine Begierde hat (ἐπιθυμίαν ἔχων) – nämlich zu vergehen; es geht dabei aber um etwas punktuelles, nicht um die Gewohnheit der Begierde, ob als Brauch oder als Angewohnheit.  Καὶ γὰρ παρ’ Ἕλλησιν ὅταν δυστυχία τις γένηται, κείρονται μὲν αἱ γυναῖκες κομῶσι δ’ οἱ ἄνδρες, ὅτι τοῖς μὲν τὸ κείρεσθαι ταῖς δὲ τὸ κομᾶν σύνηθές ἐστιν.

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einen entscheidenden Hinweis auf den Hintergrund im römisch geprägten Korinth: Paulus kämpft dafür, dass christusgläubige Gottesdienste nicht Trauer ausdrücken sollen. Er möchte dabei verhindern, den Christus, der ja – wie der pater familias in einer römischen Familie – das Oberhaupt eines jeden (christusgläubigen) Mannes ist (1Kor 11,3a), zu beschämen (vgl. v.4). Paulus macht in 2,2 deutlich, dass er bei seinem ersten Aufenthalt in Korinth Jesus Christus als den Gekreuzigten verkündigte. Kann es sein, dass Paulus’ Botschaft entsprechend verkürzt in (Teilen) der Gemeinde Fuß fassen konnte? Bei einigen Mitgliedern der korinthischen Gemeinde gab es offensichtlich ohnehin Schwierigkeiten, mit der Auferstehungsbotschaft etwas anzufangen (vgl. 15,12).³⁹ Zudem sagt Paulus selbst, dass die Korinther mit der Feier des Herrenmahls den Tod des Herrn verkündigen (11,26). Insofern konnten sie sehr wohl in ihrer Andachtshaltung die Trauer über den Tod des Christus am Kreuz ausdrücken, ihn dabei aber eben nicht als den vom Tod Auferstandenen würdigen.⁴⁰ Dagegen wendet sich Paulus und dreht vielmehr die römische Gebetshaltung, die zur falschen Interpretation des Christusglaubens einlädt, um (Männer unbedeckt, Frauen bedeckt) und begründet dies dann schöpfungstheologisch.⁴¹ Auf die Auferstehungsproblematik kommt er schließlich ausführlich in c.15 zu sprechen.

Paulus endet mit einer präventiven Invektive gegen Rechthaber bzw. Streitsucher,⁴² die sich offenbar gegen Gerüchte wendet, er und seine Mitarbeiter würden

 Dass die Auferstehungsbotschaft eine nur untergeordnete Rolle im paulinischen Predigtrepertoire spielte, wird deutlich aus der offensichtlichen Unwissenheit der thessalonischen Gemeinde darüber, vgl. 1Th 4,13 – 18.  1Kor 4,8 hatte ich ja mit Hays, „Conversion“ als ironisches Statement gelesen: Die (bzw. einige) Korinther waren eben nicht eschatologisch ‚eingestelltʻ, sondern lebten ganz im Hier und Jetzt. Auch das ist ein Grund, warum Paulus sie etwa in 6,2.9 an die zukünftige Perspektive des Christusglaubens erinnern muss.  Conzelmann, Brief 255 Anm. 40. 233 Anm. 97; Gill, „Importance“ 256; Oster, „Men“ 486 Anm. 1.6; Witherington, Conflict 234 f; Zeller, Brief 355 führen die Plutarch-Stelle zwar an, gehen aber auf die Ausgangsfrage Plutarchs nicht ein, sondern verlieren sich in Detailfragen (allein Zeller ebd. Anm. 30 deutet die Möglichkeit an, schließt sie aber sogleich ohne jedwede Diskussion aus – warum?). C. L. Thompson, „Hairstyles, Head-coverings, and St. Paul. Portraits from Roman Corinth,“ in: BA 51 (1988), 99 – 115 (104 – allerdings ohne genaue Stellenangabe) benennt zwar die Ausgangsfrage Plutarchs, ohne allerdings Schlüsse auf die Situation in Korinth zu ziehen.  Schottroff, Brief 211 vermutet hinter den Streitsuchenden „Leute außerhalb der Gemeinde, die diese Praxis [d. h. das Kopfbedecken von Frauen beim Beten und Prophezeien: 196] anfechten und eine andere Sitte fordern“. Es sei zugestanden, dass Paulus sich (trotz 5,12) darüber Gedanken macht, was Außenstehende von einem christusgläubigen Gottesdienst denken könnten (14,23 f). M. E. liegt es aber näher, dass Paulus der Gemeinde einen für römisch geprägte Menschen verständlichen Gottesdienst nahe legt – eben mit der notwendigen Auslegung einer ansonsten als Raserei zu verstehenden Glossolalie (14,26) sowie mit geschlechterspezifischen Kopfbedeckungen, die den Verdacht einer Trauerfeier ausräumen (s.o.). Die Streitsucher sind demnach vielmehr in der Gemeinde selbst zu suchen (und zu finden): Ihr Verhältnis zu Paulus und seinen Lehren steht im Mittelpunkt.

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dem Brauch folgen, langes Haar zu tragen.⁴³ Der Vordersatz 11,16a ist insofern eine Invektive, als dass gerade Rechthaberei bzw. Streitsucht allgemein in der Antike als zutiefst gemeinschaftsschädigend angesehen wurde.⁴⁴ Präventiv ist diese wiederum insofern, als dass ja lediglich eine fiktive Bedingung unbestimmter Natur genannt wird: „wenn irgendwer meint…“ Der scharfe Tadel, der in dem Vorwurf der Rechthaberei steckt, wird eben nur als Option genannt.Wer allerdings tatsächlich Paulus und seinen Mitarbeitern einen derartigen Brauch unterstellen würde, triebe einen Keil zwischen den Apostel und die Gemeinde. Doch woher stammen solche Gerüchte? Historisch lassen sie sich durch die Lektüre von Apg 18 zurückverfolgen. In Apg 18,18 wird geschildert, dass Paulus sich aufgrund eines Gelübdes (εὐχή) den Kopf rasierte.⁴⁵ Dies geschah nach dem Zeugnis der Apg direkt im Anschluss an seinen ersten, eineinhalbjährigen Aufenthalt in Korinth im direkt benachbarten Kenchreä. Es wird zu Recht allgemein angenommen, dass dies ein Nasiräatsgelübde nach Num 6 meint,⁴⁶ demzufolge ein Mensch für den Zeitraum des Gelübdes sein Kopfhaar nicht mehr schneiden bzw. rasieren (ξυρᾶσθαι), sondern es als Mähne wachsen lassen soll (v.5: τρέφων κόμην τρίχα κεφαλῆς). Gerade angesichts der Tatsache, dass Paulus sich im 1Kor

 Ich verstehe φιλόνεικος als streitlustig im Sinne von rechthaberisch bzw. besserwisserisch, nicht im Sinne einer Aktivität. Es geht nicht darum, dass der fiktive Jemand den von Paulus zurückgewiesenen Brauch selber vollzieht, sondern vielmehr dass er das von Paulus Gesagte (im Rückgriff und in Bezug auf Paulus’ – angebliche – Lebenspraxis) bestreitet. Unterstützung erhält dieses Verständnis durch eine 1Kor 11,16a sehr ähnliche Formulierung, die die allgemeine Bestreitung einer Aussage angeht, bei Plat.Phil. 50B: „Unmöglich (ist es), jenem nicht zuzustimmen, o Sokrates, auch wenn irgendwer sich gänzlich für das Gegenteil ereiferte.“ (᾿Aδύνατον μὴ ὁμολογεῖν ταῦτα, ὦ Σώκρατες, εἰ καί τις φιλονικοῖ πάνυ πρὸς τἀναντία.)  Nach Platons Ansicht (nom. 938B–C) etwa ist Streitsucht ein äußerst gemeinschaftsschädigendes Verhalten: Strebt jemand zum zweiten Mal allein aus Streitsucht einen Gerichtsprozess an, soll er nach Platons Willen die Todesstrafe auf sich ziehen. Zwar wird der Begriff φιλον(ε)ικία durchaus auch positiv verwendet, dann aber für das Streben oder die Antriebskraft eines einzelnen Menschen; Wetteifer ist eben keine gemeinschaftsförderliche Eigenschaft. Auch für Lukas stellt φιλονεικία (im Sinne des Wettstreits) innerhalb der Jüngerschaft Jesu etwas Negatives dar, vgl. Lk 22,24.  Dass Aquila sich den Kopf schor, ist grammatikalisch möglich, ist in der Sache aber unwahrscheinlich, weil Paulus ja sonst als Hauptperson erscheint, vgl. Lüdemann, Christentum 212 f. Selbst wenn sich das Scheren des Kopfes auf Aquila beziehen sollte, besteht eine Verbindung zu 1Kor 11,16, insofern Paulus dort ja in der 1.P.Pl. spricht und also seine männlichen Mitarbeiter und eben auch Aquila einbezieht.  Vgl. Jervell, Apostelgeschichte 465 f; E. Haenchen, Die Apostelgeschichte (KEK 3), Göttingen 16(7) 1977, 523. Dabei ist zu betonen, dass Apg 18,18 den Beginn des Gelübdes markiert, 18,22 dessen Ende. Dort ist mit dem absolut gebrauchten ἀναβάς (‚hinaufgehendʻ) eine Reise nach Jerusalem gemeint (vgl. Lk 2,42; dazu Lk 18,10.31; 19,4; Apg 3,1; 11,2; 15,2; 21,12.15; 24,11; 25,1.9), wo nach Num 6,13 – 21 allein im Tempel das Gelübde zum Abschluss gebracht werden kann (vgl. Apg 21,23 – 26).

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mit der Frage nach dem Wachsen einer Haarmähne (κομᾶν) bei Mann und Frau auseinandersetzt, ist es in höchstem Grade auffällig, dass eine korinthische Lokaltradition existiert, die Paulus’ eigene Haartracht zum Thema hat.⁴⁷ Ich halte es für wahrscheinlich, dass die bei Lukas wiedergegebene Tradition einen historischen und auch lokalen Anhalt hat. Demnach hat Paulus tatsächlich (aus uns unbekannten Gründen) ein Nasiräatsgelübde auf sich genommen, bevor er die Gegend um Korinth verließ. Allerdings hat er sich vorher kurzgeschoren,⁴⁸ wahrscheinlich um das Haar im Einklang mit den eigenen modischen Vorstellungen für die Dauer des Gelübdes nicht übermäßig lang werden zu lassen.⁴⁹ Die Nachricht vom Gelübde bzw. von dessen Folgen (unkontrolliertes Haarwachstum durch das Verbot des Schneidens fortan) machte anschließend in der Gemeinde die Runde und konnte auch in der missverstandenen Form, dass Paulus sein Haar nun wild wachsen ließ, zu ihm gelangen. Der Apostel wehrt sich gegen solche (bewusst?) falsch verstandenen, ihn schmähenden Gerüchte, indem er nicht bloß für sich, seine männlichen Mitarbeiter und die Gemeinden Gottes diese Mode in Abrede stellt, sondern indem er diejenigen, die solche Dinge über ihn verbreiten, als streitsüchtig und somit moralisch verwerflich (aber auch als unweise im Sinne der stoischen Vorstellungen von den Leidenschaften) brandmarkt. Paulus’ Abwehr in 1Kor 11,16 richtet sich dabei nicht gegen die Gelübdepraxis als solche – die durchaus im Einklang mit 1Kor 9,20 steht –, sondern allein gegen den ungewöhnlichen Vorgang, als Mann (ob als Mode, ob als Brauch) das Haar in einer

 Dass diese Tradition mit der letzten Jerusalemreise des Apostels und den Nasiräern in Apg 21 zusammenhängt und von Lukas versehentlich (?) einer anderen Jerusalemreise zugeschlagen wurde, halte ich für unwahrscheinlich: Lukas hätte es sich sicherlich nicht nehmen lassen, eine Übereinstimmung des Nasiräergelübdes der vier Jerusalemer Brüder (Apg 21,23 f) und seines Protagonisten Paulus zu berichten, so es sie gegeben hätte. So wie der Bericht des Lukas die Paulusbriefe um in ihnen nicht enthaltene Informationen ergänzt (s.o. Kapitel 4, 3), liegt die Erwähnung einer besonderen Frisur des Apostels (oder des Aquila, s.o.) in Apg 18,18 im Gegenüber zu 1Kor 11,14– 16 ganz auf dieser Linie.  Apg 18,18 verwendet κείρασθαι (kurz scheren). Paulus unterscheidet in 1Kor 11,6 zwischen κείρασθαι und ξυρᾶσθαι (rasieren), ähnlich Ez 44,20 (dort ξυρᾶσθαι vs. ψιλοῦν = ‚entblößen / kahl machenʻ).  Das ist tatsächlich nicht gegeben, bedenkt man, dass eine Reise von Kenchreä über Ephesus (nur kurzer Aufenthalt: Apg 18,20 f) und Cäsarea nach Jerusalem vielleicht zwei, maximal drei Monate dauert. Nach den Reisegeschwindigkeitsangaben von Apg 10,1– 33 dauert ein Fußweg von Joppe nach Caesarea etwa 1– 2 Tage, von Caesarea nach Jerusalem also etwa doppelt so lang.Was die Schifffahrtszeiten angeht, spielt natürlich der Wind eine Rolle. Die Strecke von Philippi nach Troas wird mit 5 Reisetagen bemessen (20,6). Übertragen auf die Strecke Kenchreae-EphesusCaesarea sind das rein von der Entfernung etwa 45 – 50 Reisetage. Bei einem durchschnittlichen Haarwachstum von etwa 1 cm pro Monat und einem Kurzhaarschnitt in Kenchreae hätte Paulus in Jerusalem eine Haarlänge von 3 – 4 cm gehabt – wahrlich keine Langhaarfrisur!

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Mähne zu tragen. Insofern schließt sich der Bogen von 11,16 zu 11,2, da sich die Korinther an ihren Apostel in allen Dingen erinnern (sollen), also auch bezüglich seiner kurzen Haarlänge. Es bleibt die Frage, warum Paulus gegen langes Haar bei Männern war. Eine Möglichkeit besteht darin, dass er es als offenes Zeichen von Homosexualität ansah,⁵⁰ die er grundlegend ablehnte (Röm 1,26 f; 1Kor 6,9).⁵¹ Ein dahin weisender, unmittelbarer Zusammenhang ist in 1Kor 11 jedoch nicht zu erkennen.⁵² Ebenso mag sich Paulus gegen andere, speziell griechische Weisheitslehrer abgrenzen, die ebenfalls mitunter langes Haar als Zeichen der gesellschaftlichen Abgrenzung trugen, ohne notwendigerweise als homosexuell zu gelten (s.u.).⁵³ Über diese beiden Gruppen hinaus gab es auch sonst Männer, die sich der Pflege ihres langen Haares besonders widmeten, da volles Haar als Zeichen der Männlichkeit bei Frauen Anklang fand.⁵⁴ Vielleicht hielt Paulus auch von dieser eitlen Einstellung rein gar nichts.⁵⁵ Alles in allem – und unabhängig von der oben dargestellten (zugegebenermaßen in Teilen spekulativen) historischen Konstruktion unter Heranziehung von Apg 18,18 – 22 – stellt sich Paulus in 1Kor 11,3 – 16, insofern er über das Verhalten von Männern schreibt, als ein Mann dar, der beim Beten und Prophezeien weder eine Kopfbedeckung trägt noch generell langes Haar hat und damit sowohl den kultischen Gebräuchen und religiösen Überzeugungen der Christusgläubigen als auch der damals weithin anerkannten⁵⁶ Mode entspricht.

2.2 1Kor 11,17 – 34: Paulus, der Mittelsmann der Überlieferungen Zwar wurde oben festgestellt, dass in 1Kor 11,2– 34 neben der Beratung eine Sprache des Tadels (schlummernd sowie bereits ausgesprochen) vorherrscht. Doch Paulus tadelt oder berät nicht nur. In 11,17 bezeichnet er sich mittels des Partizips παραγγέλλων als einen, der anordnet. Hierbei ist aber zu prüfen, worin genau die Anordnung besteht.  Vgl. Murphy-O’Connor, „Sex“ 485 – 487.  Vgl. Sanders, Paulus 144– 148.  Eine Verbindung von der Unehre (ἀτιμία) in Röm 1,26 zu der in 1Kor 11,14 zu ziehen bzw. beide miteinander gleichzusetzen, ist alles andere als zwingend.  Vgl. Winter, Paul 133.  Vgl. Dion Chrystomos’ Enkomion auf die Haarmähne und als (nicht minder ironische) Replik das Enkomion Synesius’ auf die Kahlköpfigkeit.  Wenn die Eitelkeit ihm als unmännlich galt, ist dies unter dem Strich zugegebenermaßen ebenfalls ein latentes homophobes Motiv, allerdings völlig unreflektiert.  Vgl. Zeller, Brief 362.

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Der Vordersatz v.17a lautet im Ganzen: τοῦτο δὲ παραγγέλλων οὐκ ἐπαινῶ (ὅτι κτλ).⁵⁷ Hierbei stellt sich die Frage, worauf das τοῦτο δὲ zu beziehen ist: auf παραγγέλλων unter Rückverweis auf v.16,⁵⁸ auf οὐκ ἐπαινῶ (das ὅτι wäre dann mit ‚weilʻ zu übersetzen) oder auf den ὅτι-Satz v.17b⁵⁹ als Inhalt des Lobes? Nach der gleichen Konstruktion in v.2 (ἐπαινῶ … ὅτι) ist aber deutlich, dass der ὅτι-Satz v.17b den Inhalt des (Nicht‐)Lobes wiedergibt, womit bereits die zweite Möglichkeit (ὅτι als ‚weilʻ) ausscheidet. Die erste Übersetzungsvariante würde bedeuten, dass Paulus die in v.3 – 16 vorgetragenen Überlegungen als Anordnungen verstanden wissen will. Unklar bleibt dabei allerdings der Sinn des Rückbezugs, wo doch mit v.17 ein neues Thema beginnt. Zudem ist ein syntaktischer wie auch semantischer Bezug zum Vorangehenden nicht erkennbar: Was ordnet Paulus genau an bzw. worin genau bestünde das τοῦτο? Bezieht es sich auf die Handlungsanweisungen in v.6, v.7 oder v.13 oder auf alle zusammen? Müsste dann aber nicht der Plural ταῦτα stehen? Dieter Zeller schließt die dritte Bezugsmöglichkeit aus, weil dann παραγγέλλων „in der Luft“⁶⁰ hinge. Das stimmt allerdings nur dann, wenn man παραγγέλλων transitiv versteht, was man nicht zwingend muss. In Kapitel 8 bin ich dem überzeugenden Vorschlag von Bruce Winter gefolgt, dass τοῦτο δέ in Verbindung mit einem Verb des Sagens eine vorausweisende Funktion hat. Für 1Kor 11,17 bedeutet dies, dass τοῦτο δέ sich auf den ὅτι-Satz v.17b bezieht.⁶¹ Das παραγγέλλων hingegen verstehe ich als intransitiv, d. h. es hat keinen Bezugspunkt im Satzgefüge, sondern beschreibt einfach Paulus’ Funktion gegenüber der Gemeinde: Er stellt sich als jemand dar, der Anweisungen gibt. Die

 Die von ‫א‬, D2, F, G, K, L, P, Ψ, 630, 1241, 1505, 1881 und dem Mehrheitstext abweichenden Textvarianten mit alternierendem παραγγέλλω bzw. ἐπαινῶν sind mit Zeller, Brief 364 Anm. 97 in der Tat als „sinnlos“ zu beurteilen.  Vgl. Bachmann, Brief 363: „Indem ich dies aber anordne, kann ich nicht loben, daß eure Zusammenkünfte nicht zur Förderung […], sonder zur Schädigung […] führen […].“ Ähnlich Zeller, Brief 366: „Bei diesen Anordnungen aber kann ich nicht loben, dass ihr nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren zusammenkommt.“  Vgl. Wolff, Brief 256: „Dieses aber (kann) ich bei meinen Anordnungen nicht loben, daß ihr euch nicht zum Nutzen, sondern zum Schaden versammelt.“; ähnlich Conzelmann, Brief 234. Eine interessante Variante bieten Merklein/Gielen, Brief III 72 („Dies aber, indem ich es befehle, lobe ich nicht, (nämlich,) dass ihr nicht zu eurem Nutzen […], sondern zu eurem Schaden […] zusammenkommt.“), die sie aber in den Erklärungen (76.83 f) nicht weiterverfolgen. Unschön und auch unlogisch an dieser Übersetzung ist das transitive Verständnis des Befehlens. Befiehlt Paulus etwa, dass die Korinther zu ihrem Nutzen zusammenkommen sollen? Tatsächlich könnte man den Satz dann auch so verstehen, dass der Befehl im schädlichen Zusammenkommen besteht, was sicherlich nicht intendiert ist.  Zeller, Brief 366.  Vgl. dazu 11,22fin, wo Paulus sich mit ähnlicher Wortwahl gleichsam mit einer literarischen Klammer auf das Vorhergehende zurückbezieht.

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Übersetzung lautet demnach: „Dieses aber lobe ich als jemand, der Anweisungen gibt, nicht, dass…“ Nun ist παραγγέλλειν („anweisen“) bei Paulus ein recht seltenes Wort. Es begegnet neben 1Kor 7,10 sonst nur noch in 1Th 4,11, dazu noch παραγγελία in 1Th 4,2.⁶² Bei den Synoptikern wird παραγγέλειν nur in Bezug auf Jesus gebraucht, der damit vollmächtig gebietet.⁶³ Das Wortfeld hat eine enge Verbindung zur juristischen Sprache,⁶⁴ erscheint im Neuen Testament aber vor allem im wortwörtlich hierarchischen Sinne: Eine religiöse Autorität erteilt eine Anweisung.⁶⁵ In eben dieser Weise hatte Paulus bereits in 1Kor 7,10 gesprochen und παραγγέλλειν dort als Funktionswort verwendet, dass tatsächlich auch dem Herrn Jesus Christus zusteht.⁶⁶ Indem Paulus dieses Wort gebraucht, schreibt er durchaus autoritativ und beruft sich implizit auf seine Stellung als Apostel des Herrn, dessen Sprachrohr und Agent auf Erden er ist.⁶⁷ Mittels παραγγέλλειν bringt er de facto Aussagen des Herrn zum Ausdruck.⁶⁸ Mit 11,23 präsentiert sich Paulus (nach v.2 erneut) als Übermittler der gemeindlichen Traditionen, indem er die Korinther an die Worte des Einsetzungsberichts erinnert, die er ihnen bei der Gemeindegründung beigebracht hatte (παρέδωκα). Paulus behauptet nicht, dass er sie vom Herrn persönlich (ὑπό bzw. παρά) empfangen habe, sondern schreibt, dass er sie vom Herrn her (ἀπό) erhalten habe (v.23).⁶⁹ Dies verweist wohl auf die generelle Herkunft der Mahlworte, nämlich auf Jesus selbst, nicht aber auf eine Spezialoffenbarung.⁷⁰ Eben das ausführliche Zitat der Herrentradition in v.23 – 25(26) dient ihm in der Argumentation als theologisches Fundament der These, dass in Korinth gerade kein Her-

 In den Deuteropaulinen 2Th und 1Tim erscheint es jedoch gehäuft: 2Th 3,4.6.10.12; 1Tim 1,3; 4,11; 5,7; 6,13.17, zudem παραγγελία in 1Tim 1,5.18.  Vgl. O. Schmitz, „παραγγέλω κτλ.,“ in: ThWNT 5 (1954), 759 – 762 (760 f).  Vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 269. Der Verbindung zum Juristischen entspricht der Wortgebrauch Act 16,23.24; 23,22.30. In Privatbriefen ist das Wort wegen dieser Verbindung kaum zu finden, vgl. Chr. M. Kreinecker, 2. Thessaloniker (PKNT 3), Göttingen 2010, 92– 95.  Jesus: Mk 6,8 par.; 8,6; Lk 5,14; 8,29.56; 9,21; Act 1,4. Gott: 10,42; 17,30. Hoher Rat und Hohepriester: Act 4,18; 5,28.40. Kirchenleitung: Act 15,5. Paulus (als Exorzist): Act 16,18.  S.o. Kapitel 8, 3.2 zu παραγγέλω in 1Kor 7,10.  Ein ἀπόστολος ist im allgemeinen griechischen Sprachgebrauch jemand, der abgesandt ist, um im Namen eines anderen autoritativ zu handeln, vgl. Agnew, „Origin“ 53.  Dies entspricht der Grundbedeutung des Wortes ‚eine Meldung weitergebenʻ, vgl. Schmitz, „παραγγέλω“ 759. Schmitz, a.a.O. 762 bezieht freilich 1Kor 11,17 fälschlicherweise zurück auf 11,16.  Vgl. Menge/Thierfelder/Wiesner, Repetitorium 154 zum verschiedenen Gebrauch der Präpositionen.  Vgl. Merklein/Gielen, Brief III 91; anders Lietzmann, Korinther 57. D, die altlateinische Überlieferung wie auch Ambrosiaster ‚verbessernʻ den Text in Richtung persönliche Offenbarung durch παρά bzw. a statt ἀπό.

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renmahl stattfindet (v.20), und soll somit der korinthischen Mahlpraxis wehren (v.27– 34). Das παραγγέλλων in 11,17 kann dabei bereits als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass Paulus im Folgenden gemeindliches Traditionsgut überliefern wird, das letztendlich seinen Ursprung bei Jesus selbst hat. Als Pendant zu παραγγέλλειν taucht in 11,34 zum Abschluss des gesamten Passus ein anderes autoritatives Wort auf, mit welchem der Apostel ankündigt, bei seinem noch ausstehenden erneuten Besuch in Korinth alles weitere anzuordnen: διατάξομαι („ich werde anordnen“). Wie bereits in 7,17, wo Paulus διατάσσεσθαι gebrauchte, spricht Paulus damit aus seiner eigenen Autorität als Apostel heraus. Der Autoritätsanspruch von διατάσσεσθαι stammt aus dem umgangssprachlichen bzw. öffentlich-rechtlichen Wortgebrauch: In kaiserlichen Konstitutionen oder herrschaftlichen Edikten ist es ganz üblich.⁷¹ Gleichwohl findet sich in 1Kor auch dieses Wort in Verbindung mit Jesus Christus (vgl. 9,14: „so hat der Herr denen angeordnet, die das Evangelium verkündigen“).⁷² Paulus erhebt also, was das Anordnen angeht, den gleichen Anspruch über die korinthische Gemeinde wie Jesus Christus über die Evangeliumsverkündiger. In den Schlussversen 11,33 f, die mit dem Hinweis auf das gegenseitige Annehmen eine Weisung über die rechte Mahlpraxis beinhalten, tituliert Paulus die Korinther nach 10,1 erstmals wieder als seine Geschwister (v.33: ἀδελφοί μου).⁷³ Dies mag implizit eine Folgerung aus dem Vorigen sein; Paulus geht es ja darum, dass die Gemeinde ihre Spaltungen (11,17.18) beim Mahl hin zu einer geschwisterlichen Gemeinschaft überwindet – und deshalb drückt er die Zuversicht aus, dass diese Gemeinschaft realisiert werden wird, indem er sich durch die besondere Anrede mit den Korinthern zu solcher Gemeinschaft verbindet. Aus alledem ergibt sich eine Mischrolle für Paulus: Er erscheint in diesem Themenblock 11,2– 34 trotz (oder gerade wegen) seiner eigentlich gleichrangigen geistig-familiären Bindung (v.33) zu den Korinthern als Führungsfigur, die der Gemeinde gegenüber weisungsbefugt ist (v.17.34). Eine seiner Aufgaben besteht darin, die Überlieferungen des Herrn an die von Paulus gegründeten Gemeinden weiterzugeben (v.2.17.23). Gleichermaßen darf und muss er die Gemeinde loben und tadeln (v.2.17.22). Loben und Tadeln können daher aus der gehobenen Position desjenigen geschehen, der um den Inhalt der göttlichen Heilsbotschaft weiß und aufgrund dessen sich ein Urteil über das Verhalten anderer erlauben kann. Die autobiographische Notiz, dass Paulus den Korinthern schon zuvor – und das bedeutet: während der Gründung der Gemeinde – etwas über den neuen  Vgl. Papathomas, Begriffe 126 – 128.  Daneben kennt Paulus mittels des Wortstammes διαταγ- noch die Anordnung durch Gott (Röm 13,2) sowie durch Engel (Gal 3,19), was im 1Kor aber keine Rolle spielt.  Dazwischen sprach Paulus sie noch in 1Kor 10,14 mit ‚meine Geliebtenʻ an.

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Glauben beigebracht hat (11,2.23: παρέδωκα), fungiert zunächst als Erinnerung für die Korinther; diese sind ja als damalige Adressaten der Überlieferung benannt wie auch als gegenwärtige Adressaten des Briefes direkt angesprochen (ὑμῖν). Darüber hinaus stellt diese Erinnerung aber auch eine Mahnung zu einem veränderten Leben dar, insofern die Korinther sich zum einen über die bereits gegebenen Überlieferungen hinaus in bestimmter Weise verhalten sollen (v.3 – 16), zum anderen nicht an diese Überlieferung bzw. deren Geist gehalten haben (v.17– 34). Beratung,Weisung und Loben bzw. Tadeln gehen hier somit Hand in Hand; sie liegen vereint in der Hand des Apostels, der sie aus der vom Herrn verliehenen Autorität nach eigenem Ermessen austeilen kann bzw. sogar muss.

3 Spuren des Weisen in 1Kor 11,2 – 34 Grundsätzlich gilt zwischen Gemeinde und Apostel ein Schüler-Lehrer-Verhältnis. Dies wird hier aus dem Einleitungssatz 11,2 deutlich und in v.23 wieder aufgegriffen: Paulus überliefert (παραδίδοναι/ παράδοσις) Lehrinhalte, wohingegen die Korinther sie an- und aufnehmen (11,2: κατέχειν, dann auch 15,2). Gleichwohl kennzeichnet sich Paulus dabei als jemand, der selbst einst ein Lernender bzw. Empfangender gewesen ist (11,23: παραλαμβάνειν, sowie 15,3). Paulus spricht damit durchaus die Sprache der Philosophen,⁷⁴ wie das Empfangen und Weitergeben von Lehrstücken ja überhaupt zum Schulbetrieb gehört.⁷⁵ Dabei ist das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrer gerade in der Antike als vorrangig mündliches Geschehen ein Verhältnis größten Vertrauens. Gleichermaßen wird auch eine starke Anpassung der Schüler an den Lehrer verlangt. Der Lehrer nimmt dabei automatisch eine Führungsposition ein.⁷⁶

 Zu κατέχειν vgl. etwa Diog.Laert. 6,31 (Diogenes, der Knaben unterrichtet, die den Lernstoff aufnehmen); 7,19 (die guten Lehren von Antisthenes bewusst nicht aufnehmen, parallel zu μιμνῄσκεσθαι wie 1Kor 11,2): κατέχειν geht hier in die Bedeutung ‚Auswendiglernenʻ über. Zu παράδοσις vgl. etwa Diog.Laert. 7,40 (einige Stoiker geben die Überlieferung in sich gemischt weiter), wobei Lehre und Überlieferung zusammengehören, vgl. etwa Plat.leg. 803A. Zu παραλαμβάνειν vgl. Diog.Laert. 7,42 (einen Teil der Überlieferung übernehmen).  Vgl. G. Delling, „παραλαμβάνω,“ in: ThWNT 4 (1942), 11– 15 (11– 13 mit etlichen Beispielen aus Platon und Aristoteles zu Überlieferung und Aufnahme von Lehrinhalten).  Und umgekehrt war auch jede Führergestalt ihren Anhängern ein Lehrer, vgl. F.V. Filson, „The Christian Teacher in the First Century,“ in: JBL 60 (1941), 317– 328, bes. im Hinblick auf Paulus und seine Lehrtätigkeit in 1Kor: „Every leader was a teacher, because teaching was indespensable“ (322).

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Wie oben⁷⁷ bereits vermerkt, hob sich die Gestalt des hellenistischen Weisen allein schon phänotypisch mitunter scharf von seiner Umwelt ab. Langes Haar war neben dem Bart und einem einfachen Mantel dabei eines der Hauptmerkmale, mit denen sich die Weisen von den Menschen ihrer Umgebung unterschieden. Das lange Haar wurde zu einem statement, gar zu einem Bekenntnis⁷⁸ über die eigene (kritische) Verortung in der Gesellschaft. Die äußere Form solcher Weisen ist selbst eine Funktion.⁷⁹ Paulus hingegen lehnt Langhaarigkeit bei Männern ab. Woher auch immer diese Animosität herrührt (s.o.), sie weist doch generell auf die Sicht des Apostels auf die Welt, aber auch auf seine Stellung in ihr hin. Anders als die langhaarigen Weisen (oder überhaupt Männer, die sich mit ihrem langen Haar als Schönheitsmerkmal brüsten) geht es Paulus nicht ums bloße Auffallen an sich oder um ein statement, das auf ein sichtbares Gegenüber zur Welt setzt.⁸⁰ Das klare Gegenüber zu dieser Welt besteht seiner Meinung nach für einen Christusgläubigen zwar, es besteht aber vor allem innerlich. Die Opposition zur Welt äußert sich demnach nicht in einer radikal anderen Form bzw. Gestalt des Christusgläubigen, also auch nicht in einer auffälligen Haarlänge eines Mannes (1Kor 11,14) oder einer Frau (11,6.15) – und dies gilt gerade in einer Gemeinde von Menschen, die für sich beanspruchen, weise zu sein (3,18). Für Christusgläubige ist eine Abweichung von gesellschaftlich anerkannten äußer(lich)en Normen nicht vorgesehen. Vielmehr soll Paulus zufolge Anpassung an die Normen der Welt das Aussehen und öffentliche Auftreten der Christusgläubigen bestimmen. Diese Einstellung vertritt der Apostel explizit auch in 1Kor 10,32; 14,23 sowie 1Th 4,12. Damit steht Paulus in der Nähe zu zwei anderen hellenistischen Strömungen, zum einen dem Garten Epikurs, der das Prinzip ‚Lebe im Verborgenenʻ (λάθε βιώσας) propagierte,⁸¹ zum anderen der Stoa, die in wesentlichen Teilen für die theatralische Zurschaustellung einer philosophischen Lebensweise, einschließlich einer von

 Kapitel 3, 2.5.  Vgl. Hahn, Philosoph 44.  Allerdings gilt dies nur in einem städtischen Kontext. Wie Dio Chrysostomos, or. 35 mitteilt, tragen einige Priester, Bauern und Barbaren durchaus lange Haare, ohne jemals etwas von Philosophie gehört zu haben, vgl. Thompson, „Hairstyles“ 104. Auch Seneca, ep. 124,22 weiß von langhaarigen Barbaren zu berichten, ebenso Plinius, hist. nat. 9,130.  Dies gilt zumal, da solch spektakuläre Äußerlichkeiten oft nicht mit einem inneren Wandel einhergingen, wovon Epiktet öfters berichtet, vgl. etwa Ench. 22.  Ursprünglich bedeutet dies, sich nicht in gesellschaftliche Prozesse hineinzubegeben. Insofern liegt es dem Epikureer fern, öffentlich ein statement oder Bekenntnis abzulegen, und sei es vermittels der Länge seines Haares.

3 Spuren des Weisen in 1Kor 11,2 – 34

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der gesellschaftlichen Norm abweichenden Haartracht, nichts übrig hatte.⁸² Mit diesen beiden befindet sich Paulus also in guter Gesellschaft, wenn er – aus welchen Gründen auch immer – für die Beibehaltung überkommener Modeerscheinungen eintritt. Die weitere persona-Facette als jemand, der Anordnungen gibt (παραγγέλλειν/ διατάσσεσθαι), hat mit der persona des Weisen nur indirekt zu tun: In der Stoa ist es zwar durchaus üblich, dass der Weise Dinge anordnet, sei es einem Diener oder den Schlechten (οἱ φαύλοι) gegenüber.⁸³ Und auch bei den Pythagoreern⁸⁴ sowie bei Epikur⁸⁵ ist das Anweisen nicht unbekannt. Paulus’ ureigene Aufgabe als Apostel besteht jedoch ohnehin im Verordnen gewisser Dinge. Allerdings kritisiert Paulus die Korinther implizit an zwei Stellen bezüglich ihrer eigenen Anmaßung, weise zu sein. Zum einen lehrt etwa Philo, dass es unmöglich sei, einem Weisen (im Gegensatz zu einem Unweisen) Anordnungen,Verbote oder Mahnungen zu erteilen.⁸⁶ Zum anderen stellt die φιλονεικία ein Verhalten dar, das sich nach verbreiteter Auffassung nur schwerlich mit dem eines Weisen in Verbindung bringen lässt (s.o.).⁸⁷ Gerade darin, dass Paulus aber die Korinther weiterhin ob ihres unweisen Verhaltens tadeln und ihnen Anweisungen geben

 Seneca, ep. 82,15; 92,34; 95,24; 119,14; 124,22 hält Frisuren an sich für irrelevant. Dennoch rät er in ep. 5,3 dazu, sich als Philosoph bzw. angehender Weiser an die vorherrschende gesellschaftliche Mode (und dies schließt die Haartracht ausdrücklich ein) anzupassen, um niemanden von vorneherein von sich selbst abzuschrecken, sondern vielmehr durch die Anpassung an die Gesellschaft ein Einfallstor für die philosophische Mission zu haben.  Vgl. Plut.mor. 1037E-F (= SVF 3,520.521). Plutarch (bzw. Chrysipp?) gebraucht dafür das stammverwandte Verb προστάττειν.  Vgl. Diog.Laert. 8,34.90 (παραγγέλλειν).  Vgl. Diog.Laert. 10,16. Epikur kann zudem Überlieferung und Anweisungen (in Bezug auf die Redekunst) parallel setzen, vgl. Philodemos, de rhet. 1,78,2 (= 50 Us.).  Vgl. Philo, Leg.Alleg. 1,93 (= SVF 3,519). Auch Dio Chrysostomos (or. 49,3 f) berichtet von der Zurückhaltung von Königen, die das Anordnen gewohnt sind, gegenüber ihren als Beratern angestellten Philosophen Anordnungen zu erteilen; vielmehr nehmen sie selbst philosophischen Anordnungen entgegen. Allerdings gilt die philosophische Weisungsungebundenheit nur für menschliche Autoritäten: Dio Chyrsostomos zufolge (or. 33,9) hielt sich Sokrates bei seinem öffentlichen Wirken an die Anordnung Gottes (τὸ τοῦ θεοῦ πρόσταγμα). Für den xenophonischen Sokrates ergibt sich allerdings ein differenziertes Bild (Xen.mem. 4,4,1– 3): Zwar befolgte Sokrates in der Öffentlichkeit (wie er sich auch im Privaten gerecht verhielt) alle gesetzlichen Anordnungen über die Maßen, den ungesetzlichen Anordnungen der tyrannenhaften Dreißig aber weigerte er sich nachzukommen.  So erzählt Diog.Laert. 7,182, dass der Stoiker Chrysipp einen zunächst ruhigen Gesprächspartner tadelte und der Unvernunft zieh, als dieser, durch eine herannahende Menge wohl angestachelt, rechthaberisch wurde. Gleichermaßen als streitsüchtig wird Chrysipp dann aber von epikureischer Seite aus kritisiert, weil er mit den vielen Schriften Epikurs mithalten wollte und dann angeblich doch nur Zitate aneinanderreihte (vgl. Diog.Laert. 10,26 f).

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Kapitel 10 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 11,2 – 34

kann, stellt er sich über sie und weist mit der Kritik, dass sie nicht weise sind, darauf hin, dass er selbst es sehr wohl ist – freilich ohne sich selbst derart zu bezeichnen.

4 Fazit Der Hinweis auf die rhetorische persona des Paulus als eines Weisen wird zunächst durch den Verweis auf seine Lehr- und Unterweisungstätigkeit in Korinth deutlich, die er nun erneut aufgreift. Auch an der Motivik in v.2– 16, die einen hellenistischjüdischen weisheitlichen Hintergrund impliziert, wird Paulus’ Lehrbefähigung erkennbar. In diesem Zusammenhang macht sich Paulus auch phänotypisch, nämlich in Bezug auf die Länge seines Haars, als ein Weiser kenntlich. Er vertritt dabei für den Mann eindeutig eine Kurzhaarmode. Was er durch einen Natur- bzw. Schöpfungsbeweis⁸⁸ für alle Männer gelten lässt, findet damit auch insbesondere auf alle Christusgläubigen Anwendung. Paulus verweigert sich damit der Möglichkeit, über die Haarlänge ein öffentliches statement zum gesellschaftlichen Status als ein Weiser abzugeben. Dass er damit nicht durch das phänotypische Raster des hellenistischen Weisen fällt, sondern weiterhin diese rhetorische persona für sich beanspruchen kann, zeigen die Beispiele des stoischen sowie des epikureischen Weisen.⁸⁹ Beide tragen ebenfalls unscheinbar kurzes Haar, was jedoch nichts von ihrem Status als Weise wegnimmt. Die Einheit von Reden und Handeln ist vielmehr die bestimmende Größe (particular) für einen Weisen hellenistischer Prägung, weshalb die Haarlänge oder andere Äußerlichkeiten dessen Status nicht bestimmen.Wort und Tat bilden aber für den Apostel auch in 1Kor 11 dahingehend eine Einheit, dass er sich ganz an den eigenen Schöpfungserweis hält: ‚Männer sollen nun einmal natürlicherweise kurzes Haar haben, ich also auch.ʻ Darüber hinaus wird die Einheit von Reden und Handeln auch in der Überlieferung der Herrentraditionen deutlich. Das Feiern des Herrenmahls beinhaltet an sich die Verkündigung des Todes Jesu (11,26). Dieser Tod geschah bzw. geschieht nicht beziehungslos, sondern hat durch die Erwählung des Schwachen und Verachteten in der Sicht des Glaubens ein völlig verändertes Weltverständnis

 Vgl. Böhm, „Beobachtungen“ 223 – 225, die die biblische Schöpfungsgeschichte als Hintergrund auch für 1Kor 11,13 – 15 plausibel macht. Vgl. zudem Epikt.Ench. 26: Der Wille der Natur ist aus dem Mangel an Meinungsverschiedenheit zu erkennen.  Zudem zeichnen sich die Aristoteliker dadurch aus, dass sie äußerlich nicht besonders auffallen, was daran liegt, dass sie sich nicht mit vorgelebter Ethik, sondern mit Naturwissenschaft befassten, vgl. Hahn, Philosoph 38 – 40.

4 Fazit

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zur Folge, das sich in einer Gemeinschaft von Berufenen realisiert (1,18 – 31). In dieser Gemeinschaft herrscht demnach zum einen ein Verhalten, das die Schwachen und Verachteten annimmt, zum anderen überhaupt ein gemeindliches Verhalten, in dem das gegenseitige Annehmen deutlich wird (11,33). Im Lichte dieser Erkenntnis kann ein Herrenmahl nur dann stattfinden, wenn es keine Spaltungen gibt (11,18) bzw. wenn es nicht auf Kosten anderer geschieht (11,21). Gerade durch das der Christus-Botschaft entsprechende Verhalten erfüllt sich die Einheit der Gemeinde in der Mahlgemeinschaft, für die Paulus hier argumentiert. Paulus stellt eine Analogie zwischen den Korinthern und sich selbst her, indem er darauf hinweist, dass er die Überlieferungen ‚vom Herrn herʻ empfangen hat, und die Korinther daran erinnert, dass sie ihrerseits von ihm diese Überlieferungen erhalten haben (11,23). Die Analogie zerbricht aber daran, dass die Korinther sich in ihrem Verhalten nicht an den Inhalt dieser Überlieferungen gehalten haben. Bei ihnen ist die Einheit von Wort und Tat, von Reden (bzw. Verkündigen: v.26!) und Handeln durchbrochen. Damit widersprechen sie den allgemeinen Vorstellungen vom Weisen. Implizit kann Paulus aber diesen Anspruch für sich aufrechterhalten, indem er den Korinthern ihr Fehlverhalten vorhält und sich in Opposition dazu stellt. Für ihn gilt diese Diskrepanz von Wort und Tat damit nicht. Somit kann er zum einen weiterhin als weise gelten, durch die Analogie stellt er sich aber darüber hinaus als ein Beispiel dar: Wie er die Überlieferungen erhalten und ihrem Sinn nach eingehalten und verkündigt hat, können und sollen die Korinther entsprechend handeln. Wieder erscheint Paulus den Korinthern gegenüber mit seinem Verhalten als beispielsweise.

Kapitel 11 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 12,1 – 14,40 1 Abgrenzung der Texteinheit und Gliederung Mit 12,1 beginnt das neue Thema der ‚geistlichen Dingeʻ (πνευματικά)¹, das – angereichert um ein ‚Lehrgedichtʻ bzw. eine Wertepriamel² über die Liebe in c. 13 (teilweise in Ich-Perspektive) – bis 14,40 reicht. Die Abgrenzung nach hinten ist durch den Neueinsatz in 15,1 gegeben, der durch Disclosure-Formel, Geschwisteranrede und inhaltliche Neuausrichtung deutlich markiert ist. Das Thema der ‚geistlichen Dingeʻ in c.12– 14 ist bezogen auf den Gottesdienst (14,16.23 – 31)³, so dass diese drei Kapitel in engem Zusammenhang zu 11,2– 34 stehen, wo es um das rechte Verhalten in der gottesdienstlichen Versammlung geht.⁴ Die Einleitung mit περὶ δέ in 12,1 macht aber deutlich, dass nun etwas Neues folgt. Damit ähneln c.11– 14 in der Struktur den c.5 – 7, insofern Paulus zunächst auf mündlich überbrachte Nachrichten (5,1; 11,18) reagiert, um dann mit der Formel περὶ δὲ zu einem neuen, aber inhaltlich sehr verwandten Thema überzuleiten (7,1; 12,1). Da Paulus in 7,1 explizit auf ein Schreiben aus Korinth verweist, ist es wahrscheinlich, dass der

 Der Genitiv πνευματικῶν ließe auch auf ‚geistliche Menschenʻ schließen, vgl. Wolff, Brief 281 f, der darin eine Selbstbezeichnung der Korinther vermutet. T. Holtz, „Das Kennzeichen des Geistes (1 Kor. XII. 1– 3),“ in: NTS 18 (1972), 365 – 376 (368 – 370) sieht darin den eigentlichen Ausgangspunkt der Anfrage aus Korinth, die Paulus wiederum absichtlich missversteht und neutrisch verstanden an die Gemeinde zurückgibt. Zeller, Brief 385 hält dagegen, dass es hier aufgrund des Kontextes vordergründig um das Sachproblem der Geistesgaben gehe, nicht so sehr um Menschen als Träger dieser Gaben. Dass Paulus sich gegenüber den Korinthern absichtlich dumm stellt, halte ich für eine zu komplizierte Hypothese, die bereits ein bestimmtes Bild über die Korinther voraussetzt. Tatsächlich ist es schwierig anzunehmen, dass Paulus eine gemeindeinterne Anfrage aus Korinth zu den ‚Geistesmenschenʻ beantwortete, was für mich nach einer Differenzierung zwischen Geistes- und Fleischesmenschen klingt, die aber in c.12– 14 überhaupt keine Rolle spielt. Diese Unterteilung trifft Paulus zwar in 3,1 auch in Bezug auf die Korinther, sie geschieht dort aber in mahnender Hinsicht, ist also eigentlich keine Realität für ihn (ὡς!).Vielmehr wird es sich in 12,1 also um eine Anfrage zu den Geistesdingen handeln, mit denen die Korinther in ganz unterschiedlicher Weise begabt sind und nun umzugehen lernen wollen.  Vgl. Merklein/Gielen, Brief III 151; antike Parallelen bei Conzelmann, Brief 267– 269.  Der artikellose Ausdruck ἔν ἐκκλησίᾳ (1Kor 11,18; 14,19.28.35) verweist auf die konkrete Versammlung, d. h. die Zusammenkunft der Gemeinde. Hingegen wird beim Gebrauch von ἔν + Dativ die Gemeinde als Körperschaft durch einen hinzugefügten Artikel oder Adjektiv beschrieben, vgl. 4,17; 6,4; 7,17 (Plural); 12,28.  Vgl. Wolff, Brief 243. Zeller, Brief 381 hingegen betont die Eigenständigkeit von c.12– 14. DOI 10.1515/9783110498769-014

1 Abgrenzung der Texteinheit und Gliederung

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Apostel in 12,1 – eingeleitet durch die Formel περὶ δέ – erneut eine (womöglich schriftliche) Anfrage aus der Gemeinde beantwortet. Die c.12– 14 lassen sich grob nach ihrer althergebrachten Kapiteleinteilung gliedern.⁵ Dabei ist allerdings zu beachten, dass 12,31b als Einleitung schon zum sog. Hohelied der Liebe gehört.⁶ Die Struktur weist dabei einige Ähnlichkeit zu der von c.8 – 10 auf,⁷ insofern dort wie hier der Mittelabschnitt (c.9; 13) in der 1.P.Sg. gehalten ist und wie eine digressio wirkt.⁸ Der Anlass zur Behandlung dieses Themas ist nicht leicht zu bestimmen:⁹ Zuvor im Brief hatte Paulus schon deutlich gesagt, dass er bei seinem Gründungsbesuch die geistlichen Dinge gesät hatte (9,11), also „alles, was durch den heiligen Geist gewirkt wird“¹⁰. Offenbar war ihm die Kultivierung eines Lebens im Geist und in dessen Wirken in seinen Gemeinden wichtig (1Th 5,19).Wie genau sich nun dieses Leben im Geist bestimmt – gerade im Hinblick auf eine in sich zerstrittene Gemeinde oder wenigstens auf (bezüglich geistlicher Dinge) stark konkurrierende Gemeindeglieder –, scheint der Ausgangspunkt der Anfrage gewesen zu sein. Auch hier, in der Behandlung der Geistesdinge, vermittelt Paulus durch autobiographische Notizen ein bestimmtes Selbstbild, um dadurch zur Lösung des Problems beizutragen.

 Vgl. Witherington, Conflict 253.  Vgl. Lietzmann, Korinther 64 f; Wolff, Brief 309 – 313. Die an Cicero angelehnte rhetorische Gliederung in fünf Redeteile bei J. Patrick, „Insights from Cicero on Paul’s Reasoning in 1 Corinthians 12– 14. Love Sandwich or Five Course Meal?,“ in: TynB 55 (2004), 43 – 64 (Überblick 63 f) scheitert m. E. bereits daran, dass er ganz unnatürlich zwischen 12,7 und 12,8 trennt: 12,1– 3 exordium; 12,4– 7 narratio; 12,8– 14,12 confirmatio; 14,13 – 33 refutatio; 14,34 f ‚parenthetic instructionʻ 14,36 – 40 peroratio. Zu weiteren rhetorischen Gliederungsversuchen vgl.Witherington, Conflict 253 Anm. 2. Kritisch gegenüber rhetorischen Versuchen Zeller, Brief 383.  Vgl. dazu ausführlich C. R. Holladay, „1 Corinthians 13. Paul as Apostolic Paradigm,“ in: D. L. Balch/ E. Ferguson/ W. A. Meeks (Hg.), Greeks, Romans, and Christians. Essays in Honor of Abraham J. Malherbe, Minneapolis 1990, 80 – 98 (83 f).  Vgl. Weiss, Korintherbrief 311; Witherington, Conflict 264; Zeller, Brief 383.  Zeller, Brief 382 hält neben den Geistesgaben auch die in 12,3a geschilderte Situation des Aussprechens der Worte „᾿Aνάθεμα Ἰησοῦς „ für den möglichen Ausgangspunkt einer schriftlichen Anfrage.  Wolff, Brief 194. In 1Kor 9,11 beschreibt Paulus durch den Gegensatz ‚Geistiges säenʻ vs. ‚Fleischliches erntenʻ den überaus großen Unterschied zwischen seiner Leistung für die Korinther und dem daran gemessenen unerheblichen Anspruch auf materielle Unterstützung.

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Kapitel 11 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 12,1 – 14,40

2 1Kor 12 – Durchgang und Einordnung Paulus beginnt nach der Einführung des neuen Themas durch eine DisclosureFormel (1Kor 12,1) seine Ausführungen mit einer Erinnerung der Korinther an ihre Zeit als Heiden (v.2),¹¹ d. h. bevor sie über ihren Christusglauben Teil des Gottesvolkes Israel wurden. Es folgt eine Wissensenthüllung über das Wirken des Geistes (v.3): Der Geist Gottes verhindert den Ausspruch „᾿Aνάθεμα Ἰησοῦς“¹² aufseiten der Gläubigen, ermöglicht aber erst ihr Bekenntnis „Der Herr ist Jesus“ (Κύριος Ἰησοῦς). Somit stellt Paulus bereits zu Beginn des Abschnittes heraus, dass die Existenz eines jeden Christusgläubigen grundlegend vom heiligen Geist her bestimmt ist,¹³ und impliziert damit, dass die Gemeinde durch diesen Geist eine Einheit bildet, indem sie untereinander dasselbe bekennt. Gleichermaßen verweist Paulus mit der zweimaligen Nennung des Jesus-Namens auf die konkret irdische Gestalt des Herrn,¹⁴ dessen Lehre vom Geist der selbstlosen Liebe (ἀγάπη) geprägt war (Mk 12,28 – 34 par.¹⁵; Mt 5,43 – 48; 7,12 par.). Damit ist der Grund für die weitere Argumentation gelegt und bereits hier c.13 vorbereitet.

 T. Paige, „1 Corinthians 12.2: A Pagan Pompe?,“ in : JSNT 44 (1991), 57– 65 (59 – 64) erkennt in 12,2 eine Anspielung auf die πομπή, den paganen kultischen Festzug.  Winters, Paul 164– 183 deutet diesen Spruch entgegen der landläufigen Kommentar-Meinung nicht (antithetisch zu Κύριος Ἰησοῦς, vgl. etwa Wolff, Brief 286) als Verfluchung Jesu. Vielmehr versteht er den Ausspruch als Anrufung Jesu zum Verfluchen anderer Menschen nach dem Vorbild antiker, auch in Korinth gefundener Fluchtäfelchen. Dann würde sich Paulus hier gegen eine noch an heidnischen Ritualen orientierte Praxis innerhalb der Gemeinde richten. Dieser bedenkenswerte Vorschlag geht auch gut mit den Jesus-Logien Mt 5,44; Lk 6,28 und der entsprechenden Meinung des Paulus 1Th 5,15; Röm 12,17 konform. Gerade Paulus’ Äußerungen zeigen, dass ein Leben im Geist durch die Nächstenliebe bestimmt ist (Gal 5,22 f), gleichwohl er die Verfluchung anderer Menschen kennt und anwendet, wenn er sein Evangelium bedroht sieht (1Kor 16,22; Gal 1,8.9).  Vgl. Merklein/Gielen, Brief III 119 f; Wolff, Brief 284. Ich hatte oben (Kapitel 6, 2.3.2) die These aufgestellt, dass Paulus in 1Kor 2,4 den ‚Nachweis des Geistesʻ im Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn vollzogen sieht. Tatsächlich kann man (so W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 1.Kor 11,17 – 14,40 (EKK 7/3), Zürich/ Braunschweig/ Benziger/ Neukirchen-Vluyn 1999, 124 f) Paulus unter dieser Annahme als „naiv“ bezeichnen, da er weder ein falsches Bekenntnis noch die verweigerte Anerkennung durch Gott à la Mt 7,21– 23 konzedieren kann.  Vgl. Schrage, Brief III 124. Der Jesus-Name ohne den Christus-Titel deutet bei Paulus oft auf eine Betonung der menschlichen Identität des Herrn oder auf einen Bezug zu dessen irdischer Existenz, vgl. Röm 3,26; 8,11; 1Kor 11,23; 2Kor 4,10 – 14; 1Th 1,10; dazu L. T. Johnson, Rom 3:21– 26 and the Faith of Jesus, in: CBQ 44 (1982), 77– 90 (80.87– 90).  Auch Paulus betont die Liebe zum Nächsten (Röm 13,9 f; Gal 5,13 f; 1Th 3,12) und zu Gott (1Kor 8,3).

2 1Kor 12 – Durchgang und Einordnung

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Paulus bestätigt den Korinthern zwar, dass die einzelnen Christusgläubigen je für sich verschiedene Gnadengaben (χαρίσματα)¹⁶ von Gott haben. Er betont aber, dass die Gläubigen miteinander eine Einheit bilden, da sie eben durch den einen Geist Gottes begabt seien (12,4– 7), wenngleich die von ihm aufgezählten Gaben sehr verschieden sind (v.8 – 11). Paulus unterstreicht diesen Gedanken der Einheit durch das breit ausgeführte Bild vom Körper und seinen Gliedern, die zwar verschiedene Funktionen besäßen, aber aufeinander angewiesen seien (v.12– 26),¹⁷ und deutet die Gemeinde als den Körper Christi (v.27). Trotz der generellen Einheit der Gemeinde gebe es aber dennoch eine Ordnung der einzelnen Funktionsträger, die von Gott selbst in einer bestimmten Folge aufgestellt worden sei (v.28a): An erster Stelle stünden die Apostel, gefolgt von den Propheten und den Lehrern.¹⁸ An diese personell besetzten Ämter¹⁹ schließt Paulus eine Reihe verschiedener Gaben (v.28b) an, die mit den ‚Arten der Zungenʻ (γένη γλωσσῶν), also der Zungenrede, endet. Die γένη γλωσσῶν waren bereits in v.10 benannt, werden dann aber in c.14 das zentrale Thema sein. Der Bruch in der Aufzählungsweise in 12,28 (πρῶτον, δεύτερον, τρίτον vs. ἔπειτα bzw. die reine Auflistung), darin aber auch die Unterscheidung von Ämtern und Gnadengaben, hebt die Bedeutung der drei erstgenannten Ämter hervor.²⁰ Ohne sich selbst explizit zu nennen, weist Paulus, der ja Apostel ist (1,1; 9,1), auf

 Gegenüber der Bezeichnung πνευματικά, die wohl der in Korinth mit Vorliebe gebrauchte Begriff ist, betont Paulus mit dem Wort χαρίσματα die Herkunft der Gaben als unverdientes Geschenk des gnädigen Gottes und warnt damit zugleich vor Überheblichkeit aufseiten der Gemeinde, vgl. Witherington, Conflict 255. Beides meint aber dasselbe Phänomen, wie aus 12,31 im Verbund mit 14,1 evident wird.  R. K. Sprague, „Parmenides, Plato, and 1 Corinthians 12,“ in: JBL 86 (1967), 211– 213 erkennt hier eine zu Platon analoge Denkfigur gegenüber dem philosophischen Problem des Einzelnen und der Vielfalt. Gleichwohl findet sich das metaphorisch gebrauchte Bild des Körpers und seiner Glieder öfters in der Antike, vgl. Schrage, Brief III 219 f; Wolff, Brief 303 f.  Vgl. insgesamt H. Greeven, „Propheten, Lehrer,Vorsteher bei Paulus. Zur Frage der ‚Ämterʻ im Urchristentum,“ in: ZNW 44 (1953), 1– 43: „Das Verhältnis der unter ‚erstensʻ bis ‚drittensʻ von Paulus I Cor 12 28 aufgezählten ‚Ämterʻ kann geradezu so umschrieben werden, daß das nächstfolgende immer nur einen Ausschnitt aus dem vorhergehenden umfasse“ (29).  Es ist berechtigt, nicht bloß von Charismen (vgl. Wolff, Brief 306), sondern von Ämtern zu sprechen, da „hier bestimmte Funktionen einer bestimmten Gruppe von Personen zugeteilt sind“ (Zeller, Brief 402). Im übrigen braucht jede Gruppe, die für sich und für längere Zeit bestehen will, eine innere Ordnung. Somit ist die frühe Herausbildung von Ämtern bereits zu (und vor!) Paulus’ Wirkungszeit nicht verwerflich oder in einer Linie mit der protestantischen Kritik am sog. ‚Frühkatholizismusʻ negativ zu werten.  Vgl. Barrett, Brief 338. Daraus zu schließen, Paulus greife mit der Dreiergruppe auf eine Tradition zurück, vgl. Wolff, Brief 306, erscheint aber übertrieben. Gerade der Vergleich mit Röm 12,6 – 8 legt nahe, hier eine freie Reihung (freilich im Interesse des Apostels) anzunehmen.

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Kapitel 11 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 12,1 – 14,40

sich selbst²¹ und hebt sich damit von den Korinthern ab. Dies wird verstärkt durch die rhetorischen Fragen, die er mit 12,29 f anschließt und die allesamt verneint werden müssen. Sie unterstreichen noch einmal die unterschiedlichen Funktionen innerhalb der Gemeinde Gottes, an deren Spitze sich Paulus (mit den anderen Aposteln) stehen sieht.²² Für die Korinther hingegen ist ein Verhältnis auf Augenhöhe mit ihrem Apostel Paulus durch Gott selbst, der alles so und nicht anders geordnet hat (v.28a), verbaut. Auch wenn man in der von Paulus formulierten Funktionsaufzählung keine Rangordnung erkennen möchte,²³ bleibt doch der Eindruck bestehen, dass mit dieser bestimmten Aufzählung wenigstens eine implizite Hierarchie der Ekklesia aufgebaut ist. Paulus schließt seine ersten Betrachtungen zu den geistlichen Dingen in der Gemeinde mit einem Aufruf ²⁴ an die Korinther, die größeren Gnadengaben anzustreben (v.31a: τὰ χαρίσματα τὰ μείζονα).²⁵ Aus dem Schluss des folgenden Kapitels (13,13b) wird deutlich, dass aber mehr noch als die größeren Gnadengaben die Liebe angestrebt werden sollte, die sogar größer als Glaube und Hoffnung sei (μείζων δὲ τούτων ἡ ἀγάπη). Wie diese zählt auch die Liebe nicht zu den

 So auch Zeller, Brief 401 f, der den Plural ἀποστόλους analog zu 4,9 als „Plural der Bescheidenheit“ (402) für Paulus gelten lässt. In 4,9 ist es aber durchaus möglich, dass Paulus (wie auch hier) einen echten Plural verwendet, der sich auf Kephas und ihn selbst und womöglich auch Apollos bezieht. Die beiden werden hier wohl nicht konkret mitgemeint sein, jedoch aber in der Großgruppe der Apostel eingeschlossen sein.  Sicherlich könnte man die Aussagen über Apostel, Propheten, Lehrer etc. auch zeitlich deuten, insofern die Apostel die ersten waren, denen sich der Auferstandene offenbarte und die daraufhin überhaupt erst verkündigen und andere missionieren konnten. Jedoch zeigt der Vergleich mit der Ämterreihe Röm 12,6 – 8, dass hier in 1Kor die Apostel gesondert genannt werden, also bewusst in der Spitzenposition stehen, ohne dass damit ein rein chronologischer Vorsprung intendiert ist. Es geht hier also um eine interne ekklesiologische Rangordnung.  So Merklein/Gielen, Brief III 142 f.  12,31a könnte auch als Frage verstanden werden, der parallel aufgebaute Satz 14,1b weist aber in die Richtung eines Aufrufs, vgl. Lietzmann, Korinther 64; Merklein/Gielen, Brief III 144; Zeller, Brief 404. Wolff, Brief 308 sieht in v.31a einen Aussagesatz.  J. F. M. Smit, „Two Puzzles: 1 Corinthians 12.31 and 13.3. A Rhetorical Solution,“ in: NTS 39 (1993), 246 – 264 (250 – 253) versteht 12,31 als ironisch gemeint, da das Streben (zumal nach den ‚größeren Charismenʻ) dem nachfolgend geschilderten Wesen der Liebe (13,4) zuwider laufe. Das Problem bei diesem Textverständnis sehe ich in der Wiederaufnahme der Formulierung von 12,31 in 14,1, die doch nicht ironisch gemeint sein kann. Ironie in 12,31 würde doch die Ernsthaftigkeit in 14,1 erheblich schwächen und untergraben. Die Lösung besteht darin, dass das ζηλοῦν in 12,31 nicht dieselbe negative Bedeutung wie in 13,4 (ebenso ζῆλος in 3,3) hat,vgl. Conzelmann, Brief 274. Zudem soll ja die eifrige Beschäftigung mit den höheren Charismen (also Zungenrede und Prophetie) unter der Voraussetzung geschehen, dass Liebe dabei ‚im Spielʻ ist (14,1) und somit alles zur Erbauung der Gemeinde beiträgt.

2 1Kor 12 – Durchgang und Einordnung

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Charismen,²⁶ sondern ist ihnen übergeordnet. Als übergreifendes Konzept soll sie das Leben aller Gläubigen (unabhängig von deren jeweiligen Begabungen) bestimmen. Ebenso wie das erneut aufgegriffene ζηλοῦτε in 14,1 (vgl. 12,31) formt diese mit μείζων/μείζονα gebildete Explikation eine literarische Klammer um c.13. Mit dem Hinweis, dass er den Korinthern nun noch einen weiteren, ‚übermäßigenʻ²⁷ Weg zeigen wolle (v.31b), leitet Paulus zu einem Lehrgedicht über, dem sog. Hohen Lied der Liebe.²⁸ Darin kommt mehrfach ein Ich zur Sprache. Wie die Wendung καθ’ ὑπερβολὴν ὁδὸν ὑμῖν δείκνυμι recht zu interpretieren ist, wird sich erst nach Analyse von c.13 erweisen, wenn auch die Rolle des dort sprechenden Ichs geklärt ist. Klaus Berger rechnet 1Kor 12 in weiten Teilen und insgesamt zur Epideiktik.²⁹ Epideiktische Argumentationen zeichnen sich Berger zufolge durch den Ausschluss einer Größe im Rahmen einer Nicht-sondern-Struktur aus.³⁰ Diese Argumentationsform lässt sich in c.12 durchaus finden – ganz deutlich in v.14.21 f.24 f mit den Partikeln οὐ(κ) – ἀλλά. In diesen Versen geht es um die Vielfältigkeit der Körperglieder, die Wertschätzung der gering geachteten Glieder und die gegenseitige Fürsorge der Glieder in dem einen Körper. Jenseits der Bildebene meint dies die Vielfältigkeit innerhalb der Gemeinde und die gegenseitige Wertschätzung der Gemeindeglieder. Im Kern geht es also um die Einheit der Gemeinde. Nun besteht laut Berger ein wesentlicher Bereich der symbuleutischen Argumentation in der Beschäftigung mit gemeindeinternen Problemen, bzw. genauer mit der Bewahrung der Einheit einer Gemeinde und dem gemeindeinternen Frieden.³¹ Darüber hinaus konzediert Berger selbst, dass die epideiktische Argumentation dieselben Mittel wie die symbuleutische verwendet,³² beide also rein von den gemeinsam genutzten Argumentationsmitteln nicht zu unterscheiden sind. Schließlich tritt er für die Möglichkeit ein, dass ein Text mehreren Gattungen zugeordnet werden kann.³³

 Dies ergibt sich aus 14,1 wo Liebe und Geistesgaben in einem synthetischen Parallelismus einander gegenübergestellt sind.  Zur Problematik der Übersetzung von v.31b vgl. Merklein/Gielen, Brief III 145.  12,31b gehört als Einleitung zu c.13, vgl. Zeller, Brief 405.  So zählt Berger, Formen 385 f 1Kor 12,18 – 28 als Bericht über Gottes Handeln zur Epideiktik, ebenso wie die Charismenkataloge v.8 – 10.29 – 30 (a.a.O. 283) und insgesamt 12,1– 31 als „Ekphrasis der von Gott gelegten Ordnung der Gemeinde“ (a.a.O. 281; teilweise kursiviert). Den Fluch in 12,3 zählt er jedoch im Rahmen der Mahnungen (a.a.O. 240) zur Symbuleutik.  Vgl. Berger, Formen 161.  Vgl. Berger, Formen 154.  Vgl. Berger, Formen 162.  Vgl. Berger, Formen 12. Berger, Einführung 44 f zieht für die doppelte Zuordnung Mk 12,1– 11 als ein Beispiel heran, das sowohl dikanisch (‚nach innenʻ, gegenüber christlichen Lehrern) als auch

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Kapitel 11 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 12,1 – 14,40

Aus alledem erscheint es mir gegeben, dass 1Kor 12 hinsichtlich der Gattung doppeldeutig ist. Formale Elemente sprechen eher für eine Zuordnung zur Epideiktik, dem Inhalt nach tendiert c.12 zur Symbuleutik.³⁴ Tatsächlich bietet c.12 ja nicht allein eine auf die Gegenwart bezogene Würdigung der Geistesgaben, sondern stellt eine auf das zukünftige Handeln der Korinther bezogene (mahnende) Beratung der Gemeinde dar, wie letztlich aus dem Aufruf v.31a deutlich wird. Paulus berät die Korinther über die Geistesgaben, um der Gemeinde zur inneren Einheit und zur gemeinsamen Erbauung zu verhelfen; der ihnen verliehene „ein und derselbe Geist“ (v.11: τὸ ἓν καὶ τὸ αὐτὸ πνεῦμα) stellt dabei das einigende Band dar.

3 1Kor 13 – Gliederung, Durchgang und Einordnung Der Text 1Kor 13,1– 13 gliedert sich aufgrund der inneren Struktur³⁵ in vier Teile:³⁶ v.1– 3.4– 7.8 – 12.13. Der erste Teil (v.1– 3) lässt sich der Form nach als Priamel³⁷ über die Frage „Was nützt dem Menschen wirklich?“ klassifizieren.³⁸ Im zweiten Teil (v.4– 7) findet sich die eigentliche Beschreibung der Liebe, wo in thetischen Sätzen – positiv (v.4a.6b.7) wie negativ (v.4b–6a) – Aussagen über sie getroffen

symbuleutisch (‚nach außenʻ, gegenüber jüdischen Lehrern) verstanden werden kann und schließt: „Was daher zunächst als Verlegenheit des Formgeschichtlers erscheint (nämlich die Unfähigkeit zu einer eindeutigen funktionalen Zuordnung), offenbart sich gerade bei klar gehandhabten Methoden als eine historisch äußerst wichtige ‚Janusköpfigkeitʻ der historischen Situation dieser Gemeinden [sic!; Berger kann hier nur die markinische Gemeinde im Singular meinen] selbst.“  Für 1Kor 14 kommt Berger, Formen 157– 160.272 f dann auch zu diesem Urteil.  Die ersten drei Verse bilden als parallel gestaltete Konditionalsätze eine Einheit.V.4– 7 bringen eine Darstellung der Liebe als Subjekt. V.8 bildet (trotz gleichem Subjekt wie v.4– 7) durch die erneute Nennung der Liebe zu Beginn einen Neueinsatz und starkem inneren Zusammenhang (Unvergänglichkeit der Liebe vs. Vergänglichkeit der Gaben) mit anschließender Begründung in v.9 – 12 (γάρ), weshalb diese Verse nicht auseinander gerissen werden sollten. Die „gänzlich neue Syntax“ (Merklein/Gielen, Brief III 149) von v.13 mit Nominalreihe und abschließendem Prädikationssatz hebt diesen Vers vom vorherigen Teil ab.  Vgl. Conzelmann, Brief 266.279; O. Wischmeyer, Der höchste Weg. Das 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes (StNT 13), Gütersloh 1981.  „Wertepriameln sind vergleichende Gegenüberstellungen von Werten bzw. heben einen überragenden Wert gegenüber anderen Werten hervor.“, Merklein/Gielen, Brief III 151. Eine Priamel ist dabei „nach dem Schema von Folie und Pointe aufgebaut […] (z. B. nicht …, nicht …, nicht …, sondern …)“, Berger, Formen 270.  Vgl. Wischmeyer, Weg 208 f.

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werden.³⁹ Es folgt im dritten Teil (v.8 – 12) erneut eine Priamel, diesmal über die Frage „Welche Größe nützt nicht nur jetzt wirklich dem Menschen, sondern hält bis ins Eschaton stand?“⁴⁰. Aufgebaut ist dieser Teil in Lehrsatz (v.8) und spekulativ-theologische Endzeitbelehrung (v.9 – 12).⁴¹ Der abschließende, bilanzierende⁴² v.13 repräsentiert den vierten Teil des ‚Hohen Liedes der Liebeʻ⁴³ mit einem Tugendkatalog⁴⁴, der eine weitere Wertepriamel, diesmal jedoch positiv reihend, bringt.⁴⁵ Somit lässt sich 1Kor 13 im Ganzen als Wertepriamel auf die Liebe verstehen.⁴⁶ Sowohl im ersten (v.1– 3) wie auch im dritten Teil (v.8 – 12) des ‚Hohen Liedes der Liebeʻ spricht ein Ich. Über das Ich in c.13 wird von den meisten Kommentatoren gesagt, dass es sich um ein „typisches“⁴⁷, paradigmatisches⁴⁸, „überindividuelles“⁴⁹ oder rhetorisches⁵⁰ Ich handele oder es „generisch gemeint“⁵¹ sei; insofern spreche Paulus hier nicht in autobiographischer Weise über sich selbst. Jedoch gilt es, hier zunächst zu differenzieren, da in c.13 mehrere Sprecher zu Wort kommen: ein Ich in v.1– 3, eine Wir-Gruppe in v.9.12a, ein Ich in v.11.12b. Das erste Ich steht dabei durch die Reihe v.4– 7⁵² getrennt von den beiden letzten Sprechergruppen und wird zunächst von mir behandelt.

 Wischmeyer, Weg 210 – 213 windet sich um eine klare Definition und bezeichnet v.4– 7 höchstens als „Reihe“ (212). Berger, Formen 270 nennt v.4– 8a eine „Ekphrasis der Liebe“, verwendet den Begriff aber nicht für eine feststehende Form, sondern als Fremdwort für ‚Beschreibungʻ (so a.a.O. z. B. 142; 200; 381).  Wischmeyer, Weg 214.  Vgl. Wischmeyer, Weg 215.  Vgl. Zeller, Brief 418.  J. T. Sanders, „First Corinthians 13. Its Interpretation Since the First World War,“ in: Interp. 20 (1966), 159 – 187 macht deutlich, dass 1Kor 13 keinen Hymnus, sondern vielmehr Rhetorik darstellt, da liturgische Elemente (wie parallelismus membrorum, Partizipien oder Lobpreis) gänzlich fehlen (vgl. a.a.O. 159 f).  Vgl. Berger, Formen 208.  Vgl. Wischmeyer, Weg 217.  Vgl. Merklein/Gielen, Brief III 151.  Wolff, Brief 313 mit Verweis auf BDR § 281; ebenso Lang, Korinther 182 („typisierende Bedeutung“). Zeller, Brief 405 meint dasselbe, formuliert aber vorsichtiger: „Stilistisch behält Paulus [in c.13] die 1. Sg. von 12,31b bei, weitet sie aber V. 1– 3.11.12cd ins Typische aus.“ Ähnlich Schrage, Brief III 283: „exemplifizierende bzw. typische Bedeutung“.  Vgl. Dodd, ‚I‘ 115.  Lindemann, Korintherbrief 282.  Vgl. J. F. M. Smit, „The Genre of 1 Corinthians 13 in the Light of Classical Rhetoric,“ in: NT 33 (1991), 193 – 216 (197); Berger, Formen 333 („in nur erörterten hypothetischen Fällen“, ebd.).  Merklein/Gielen, Brief III 152.  Vgl. Wischmeyer, Weg 210 – 213.

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Kapitel 11 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 12,1 – 14,40

3.1 1Kor 13,1 – 3 Den Vertretern der These, in c.13 spreche ein typisches Ich, lässt sich zunächst konzedieren: Das Ich in v.1– 3 ist (wie in vielen alttestamentlichen Psalmen) identitätsoffen. Die Hörenden der ersten Verse können je individuell sich in das Geschehen einfinden, da es gerade die Konditionalsätze⁵³ 13,1– 3 möglich machen, sich als Außenstehender in dieses Bedingungsgefüge hineinzuversetzen.Von ihrer Struktur her weisen sie auf ein mögliches Geschehen hin, vom Inhalt her aber auf ein fast unmögliches. Die hier benannten Bedingungen scheinen für einen normalen Menschen bzw. für einen durchschnittlichen Christusgläubigen, zumal in Korinth, zwar unerreichbar⁵⁴: a) Glossolalie⁵⁵ (v.1); b) Prophetie, c) absolute Geheimniskunde, d) völlige Erkenntnis, e) bergeversetzender Glaube (v.2); f) totale Freigiebigkeit, g) höchste Opferbereitschaft⁵⁶ (v.3). Zugegebenermaßen gab es dort das Phänomen

 Die Konditionalsätze 13,1– 3 sollten ganz klassisch als Eventualis übersetzt werden: „Wenn ich keine Liebe habe, bin ich nichts (o. ä.)“, vgl. Lietzmann, Korinther 64; Conzelmann, Brief 264 f; Lindemann, Korintherbrief 279 f; Schrage, Brief III 275; Wolff, Brief 309; anders Zeller, Brief 407 Anm. 168, der hier einen Irrealis vermutet. Gerade die altertümliche, gekünstelte Sprache von c.13 scheint mir dahin zu weisen, auch die Grammatik klassisch zu verstehen und in diesen hypothetischen Sätzen einen eventuellen Fall zu sehen, vgl. dazu Menge/ Thierfelder/ Wiesner, Repetitorium 200.  Es ließe sich an dieser Stelle der Einwand erheben, dass die Unerreichbarkeit der Bedingungen in 13,1– 3 nicht so sehr ins Gewicht falle, da ja diese Bedingungen ohne das Hinzutreten der Liebe sowieso als wertlos dargestellt werden. Dadurch rücke die Liebe in den Fokus und werde zur Ausgangsbasis für jedwedes Handeln. Somit sei das Streben nach ihr für jeden Menschen möglich und angezeigt (14,1). Allerdings ergibt sich diese ‚demokratischeʻ Deutung erst aus einer relecture der Passage.Wer die Worte des Paulus in 13,1– 3 (wie seinerzeit die Korinther) zum ersten Mal liest oder hört, muss davon ausgehen, dass hier der Apostel über sich selbst spricht und die Bedingungen, die er nennt, tatsächlich nur durch ihn erfüllbar sind.  Reden mit ‚Menschenzungenʻ meint wohl „Pseudosprachen“, mit ‚Engelszungenʻ hingegen die unterschiedlichen Sprachen der verschiedenen Engelsklassen, vgl. Wischmeyer, Weg 40.  Dass es hier um eine Art von Selbstopfer geht, wird aus dem Verb παραδῶ deutlich, dessen juristische Konnotation ‚übergebenʻ i.S.v. ‚ausliefernʻ noch leise mitschwingt, vgl. Papathomas, Begriffe 64– 68. Die Formulierung παραδοῦναι τὸ σῶμα erscheint ebenfalls bei Maximus Tryphus 1,9, vgl. Conzelmann, Brief 272 Anm. 43, wobei es dort allerdings um den hypothetischen Fall geht, dass jemand einen feuerfesten Körper besitzt, der den Flammen des Ätna übergeben wird und selbst diese nicht fürchten muss. Eine Opfervorstellung ist damit also nicht notwendigerweise verbunden. Die Fundstelle Poimandres 22, vgl.Weiß, Korintherbrief 315 Anm. 1, die explizit von der Übergabe des Leibes an den eigenen Tod spricht, ist insofern nicht ausschlaggebend, da die Schrift wohl frühestens aus dem 2. Jahrhundert n.Chr. stammt, vgl. H. G. Gundel, „Poimandres,“ in: KP 4 (1975), 966 – 967, und somit 1Kor 13 in eigener Interpretation voraussetzen mag.Wortverbindungen aus dem 1. christlichen Jahrhundert, die scheinbar παραδῶ τὸ σῶμα μου ähneln, begegnen in den

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der Zungenrede, aber nicht alle verfügten über diese Gabe oder verstanden sie (12,30). Das gleiche gilt für die Prophetie (12,29) und die anderen Charismen. Und auch das freiwillige Leben in Armut wie die Bereitschaft, Leib und Leben hinzugeben, kann nicht für den Durchschnittsgläubigen, der ja im sozialen Gefüge seines Wohnortes leben will und muss,⁵⁷ vorausgesetzt werden. Gelten diese Einschränkungen aber auch für Paulus? Allerorten in 1Kor bezeugt er, dass er über die genannten Gaben verfüge und in all diesen ‚Disziplinenʻ zur Meisterschaft gelangt sei: a) In 14,18 stellt er sich als (im Vergleich zu den Korinthern) größten Zungenredner dar. b) Obwohl Paulus nirgends den Titel Prophet für sich beansprucht, steht sein Wirken doch im Nahbereich der Prophetie;⁵⁸ als wichtige Aufgaben der Prophetie nennt Paulus in 14,3 mit dem Ermuntern (παράκλησις) und dem Zusprechen (παραμυθία) zwei Dinge, mit denen er sich bereits in 1Th 2,12 charakterisiert hatte.⁵⁹ c) In 1Kor 4,1 (9,17) verweist er auf seine Funktion als Verwalter der Geheimnisse Gottes, deren Vertrautheit er in 2,7

Papyri in P.Mich. V 244 sowie C.Pap.Gr. I 14, vgl. Papathomas, a.a.O. 67. Im ersten Fall geht es aber um die Auslieferung von Leibeigenen (παραδιδόνε … σώματα αὐτῶν), im zweiten im Rahmen eines Ammenvertrags um die Übergabe eines Kleinkindes (παραδότωι … τὸ σωμάτιον). Paulus meint in 1Kor 13,3 – getreu seinem üblichen Sprachgebrauch bezüglich σῶμα – die Hingabe des eigenen Leibes, wobei aber offen bleibt, ob damit der Tod im Sinne des Martyriums, so Lietzmann, Korinther 65, gemeint ist. Es kann auch der Sklavendienst gemeint sein. Erst die Lesart des textkritisch unsicheren Verbs im ἵνα-Satz als καυθήσομαι hat die Vorstellung vieler Exegeten dahingehend inspiriert, hier vom Feuertod des Apostels – womöglich in Analogie zu indischen Gymnosophisten (Kalanos: Philo prob. 96) – auszugehen, vgl. Bachmann, Brief 392– 394; Weiß, Korintherbrief 315; Klauck, Korintherbrief 97; Lindemann, Korintherbrief 285 f; Wolff, Brief 316 f.  Wie sehr die Korinther dem normalen Lauf ihrer Stadt verhaftet blieben, zeigt ja die unterschiedliche Kritik des Paulus an ihrem Verhalten: Sie verklagen einander vor Gericht (c.5), einige konsumieren Idolenopferfleisch (c.8 – 10), einige profanisieren das Herrenmahl (c.11).  So kann Apg 13,1 Paulus vor seinem Wirken als Apostel zu den Propheten und Lehrern zählen. Gladd, Mysterion 197– 202 weist anhand von Röm 11,25 f; 16,25 f sowie Dan 9 und der pescherHermeneutik in Qumran darauf hin, dass Prophetie als inspirierte Auslegung der Schrift und die lehrende Weitergabe von göttlichen Geheimnissen eng miteinander verbunden sind. Somit kann Paulus als Verwalter der Geheimnisse Gottes und als Lehrer der Gemeinden auch die Prophetie für sich beanspruchen. Dies wird auch in der Zurückweisung des Vorwurfs in 1Kor 14,37 impliziert,vgl. Holladay, „Corinthians“ 89. Seit Holtz’ Aufsatz von 1966 erscheint es überdies als plausibel, dass Paulus ein Selbstverständnis propagierte, das sich aus dem Verständnis der literarischen Gestalt des ‚Völkerprophetenʻ im Jesaja-Buch speiste. Er zog aber den Aposteltitel dem Prophetentitel vor, was am Sprachgebrauch der ersten christgläubigen Gemeinden gelegen haben mag (vgl. etwa die alte Tradition 1Kor 15,3 – 7; dazu J. A. Kirk, „Apostleship Since Rengstorf: Towards a Synthesis,“ in: NTS 21 (1975), 249 – 264).  In 1Th 2,11 f tritt noch das Bezeugen hinzu; zudem spricht Paulus dort in der 1.P.Pl., was aber kein Argument dagegen ist, dass dies Teil seiner Selbstdarstellung sowohl in Korinth als auch Thessaloniki ist.

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Kapitel 11 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 12,1 – 14,40

proklamiert, ebenso wie er in 15,51 f ein Geheimnis verkünden kann.⁶⁰ d) Sein Gebrauch von Disclosure-Formeln (z. B. 4,19; 10,1; 12,1) zeigt implizit auf die eigene große Erkenntnis hin, die er durchaus explizieren kann (8,1).⁶¹ e) Auch wenn der bergeversetzende Glaube in 13,2 ein Bild ist (vgl. Mt 17,20; 21,21), deutet er doch auf göttliche Wunder hin, die Paulus durchaus mit seinem eigenen Wirken in Verbindung bringen kann (Röm 15,18 f; 2Kor 12,12).⁶² f) Auf seinen Willen zum Verzicht auf gemeindliche Unterstützung, der sich durch die Arbeit mit den eigenen Händen ausdrückt, weist der Apostel in 1Th 2,9; 1Kor 4,11 f; 9,4 f.12; 2Kor 11,7– 11 hin.⁶³ Dabei vermute ich in dem ‚Verfütternʻ des gesamten Besitzes allerdings ein bestimmtes Motiv (s.u.). g) Seine Selbstaussagen in 1Kor 7,7– 9; 9,26 f; 15,10.30 – 32; 2Kor 4,7– 15 (1.P.Pl.) zeigen Paulus’ Selbsthingabe und die Bezwingung des eigenen Leibes zum Ruhme⁶⁴ Gottes.⁶⁵ Insgesamt gesehen ergibt sich kein Widerspruch zwischen dem in 1Kor 13,1– 3 geschilderten Ich und dem Bios des Apostels. Somit halte ich die These, dass das Ich in 1Kor 13,1– 3 das paulinische Ich ist und der Apostel hier in autobiographischer Weise schreibt, für wahrscheinlich.⁶⁶ Dass Paulus in 13,2 angibt, alle Geheimnisse und die ganze Erkenntnis zu wissen bzw. zu kennen (εἰδῶ τὰ μυστήρια πάντα καὶ πᾶσαν τὴν γνῶσιν), kann man als Übertreibung bewerten.⁶⁷ Man kann es aber auch als ernstgemeinte Aussage  In 1Kor 2,1 lese ich allerdings nicht μυστήριον, sondern μαρτύριον (s.o. Kapitel 6, Exkurs 1).  Holladay, „Corinthians“ 90 sieht einen Bezug der Erkenntnis des Apostels zu 2,6 – 16.  Dies wird dann in der Apg noch ins Mirakulöse gesteigert (etwa 19,11 f).  So deuten es Holladay, „Corinthians“ 90; Witherington, Conflict 268.  Könnte die Textvariante καυθήσομαι/-σωμαι in 13,3 durch die Verbrennungen der Christusgläubigen unter Nero (Tacitus, Annalen 15,44) zustande gekommen sein? Hier gehe ich mit dem Haupttext bei Nestle-Aland und lese καυχήσωμαι, vgl. Smit, Puzzles 255 – 263. Inhaltlich bleibt es beim in 1,31 zitierten Schriftwort Jer 9,23: Stolz sein kann und darf man nur in Bezug auf den Herrn und dessen Handeln, nicht aber auf das eigene Tun oder das eigene Wesen. Zu Argumenten pro und contra καυχήσωμαι vgl. J. K. Elliott, „In Favour of καυθήσομαι at I Corinthians 13 3,“ in: ZNW 62 (1971), 297– 298; J. H. Petzer, „Contextual Evidence in Favour of ΚΑΥΧΗΣΩΜΑΙ in 1 Corinthians 13.3,“ in: NTS 35 (1989), 229 – 253.  Dabei weckt in 1Kor 13,3 die Verbindung von παραδῶ mit τὸ σῶμα μου allerdings unwillkürlich Assoziationen zu den Einsetzungsworten nach Lk 22,19, vgl. Petzer, „Evidence“ 242.246, wenngleich dort ὑπὲρ ὑμῶν διδόμενον steht, bzw. nach 1Kor 11,23 (παρεδίδετο). Paulus scheint es durchaus bewusst in Kauf zu nehmen, diese Assoziationen zu wecken, bedenkt man, dass er sich als Nachahmer Christi beschreibt (11,1).  Ebenso urteilt Holladay, „Corinthians“ 88 f.  Vgl. Gladd, Mysterion 197 f: „Though Paul may not know ‚all,‘ he still knows some mysteries“ (Kursivierung im Text). Dass es sich hier um Übertreibung handele, meinte bereits Origenes mit derselben Begründung, vgl. J. G. Sigountos, „The Genre of 1 Corinthians 13,“ in: NTS 40 (1994), 246– 260 (252). Dodd, ‚I‘ 120 spricht sich ebenso für eine Übertreibung seitens Paulus aus; er bezeichnet die Darstellung des Paulus gar als „caricature“. Dass dem nicht so ist, siehe im Folgenden.

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verstehen. Paulus hatte bereits im Proömium den Korinthern das Reichgewordensein in jeder Erkenntnis zugesprochen (1,5: ἐπλουτίσθητε … ἐν … πάσῃ γνώσει).⁶⁸ Es besteht dabei ein Unterschied zwischen dem Reichwerden in jeder Erkenntnis und dem Besitz der ganzen Erkenntnis, insofern das erste einen noch nicht abgeschlossenen und zudem (durch das Postulat verschiedener Erkenntnisse) fragmentierten Prozess beschreibt, das zweite hingegen ein Resultat⁶⁹ bezüglich einer nun allumfassenden Größe ‚Erkenntnisʻ. Wenn aber die Korinther allein durch die Gnade Gottes im Christus Jesus (1,4) bereits in jeder Erkenntnis reich geworden sind, um wie viel mehr kann dies dann für deren Apostel gelten, insofern er die ganze Erkenntnis besitzt! Letztlich stellt Paulus eben dies durch die eventualen (und nicht irrealen!) Konditionalsätze 13,1– 3 klar. In diesem Zusammenhang vermag 1Kor 13,3a ein besonderes Licht auf das Verhältnis des Paulus zu seinen Gemeinden und damit auch auf seine Selbstdarstellung zu werfen. In 1Kor 13,3a trifft Paulus die Aussage: „Und wenn ich mein ganzes Vermögen verfüttere…“ Der Terminus τὰ ὑπάρχοντα (‚Vermögenʻ bzw. ‚Habeʻ) ist bei Paulus ein hapax legomenon. Das Verb ψωμίζειν (‚fütternʻ/‚verfütternʻ) erscheint im NT allein bei Paulus und bei ihm neben 1Kor 13,3 sonst nur noch in Röm 12,20, wobei dieser Vers ein abgewandeltes Zitat aus Prov 25,21 f darstellt.⁷⁰ Seit jeher wird bei dieser Wortkombination an die Armenfürsorge gedacht.⁷¹ Allerdings fehlen literarische Parallelen zu dieser Annahme.⁷²

 Handelt es sich dort allerdings um eine captatio benevolentiae? Fascher, Brief 84 sieht lediglich „die Danksagungen in Profanbriefen als Ausdruck einer captatio benevolentiae“; Paulus hingegen spreche nicht als Erzieher, sondern als göttlich berufener Prophet vor dem Angesicht Gottes zu seiner Gemeinde und meine darum seine Worte, wie er sie schreibt. Und auch wenn Conzelmann, Brief 45 konzediert, dass man ἐν παντί in 1,4 „nicht pressen“ dürfe, meint er gleichwohl mit Recht zu λόγος und γνῶσις in 1,5: „Von Ironie ist nichts da […]: Kritisiert werden nicht die Gaben, sondern deren Bewirtschaftung durch die Korinther“ (ebd. Anm. 26).  Das Verb οἶδα ist ja an sich ein Perfekt. ‚Wissenʻ ist im Griechischen ein Gesehen-Haben bzw. ein Kennengelernt-Haben, vgl. Lahmer, γραμματεῖον 39.  In LXX steht statt ψώμιζε das allgemeinere τρέφε. Nur Handschrift B enthält ψώμιζε, wobei hier allerdings eine nachträgliche ‚Verbesserungʻ aufgrund von Röm 12,20 möglich ist. Falls es doch ursprünglich in Paulus’ Vorlage gewesen sein sollte, erklärt es sich vielleicht aus der Vorstellung, dass die zu fütternden Feinde mit dem Wort ψωμίζειν, das ja ein Abhängigkeitsverhältnis suggeriert (s.u.), noch weiter beschämt werden, als es mit dem einfachen τρέφειν auszudrücken möglich gewesen wäre.  Vgl. Heinrici, Sendschreiben 417 f (aber unsicher); Weiß, Korintherbrief 314 („heroische Aufopferungen des ganzen Vermögens“); Bachmann, Brief 392 f; Lietzmann, Korinther 64 f; Schrage, Brief III 290 („Diese Adressierung (‚den Armenʻ) versteht sich auch ohne ausdrückliche Nennung von selbst.“); Wolff, Brief 316; Merklein/Gielen, Brief III 154; Fitzmeyer, Corinthians 494.  Da ein Beleg von ψωμίζειν in den Papyri fehlt, gibt es somit auch keinen Beleg für die Annahme einer ‚Armenspendeʻ, vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 435.

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Kapitel 11 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 12,1 – 14,40

Das Verb ψωμίζειν ist in der LXX reichlich belegt.⁷³ Dort beschreibt es das Versorgen von Unmündigen mit Nahrung – sei es die Versorgung des Volkes Israel durch Gott oder die Fütterung des scheinbar kranken Amnon durch seine Halbschwester Tamar. Derjenige, der füttert, ist gegenüber dem anderen in einer stärkeren Position. Insofern geht es bei dem Wort nicht einfach um das Speisen anderer Menschen (wie etwa bei einem Gastmahl), sondern tatsächlich um das Füttern von denjenigen, die nicht selbst für sich sorgen können. In dem Wort bildet sich ein Abhängigkeitsverhältnis ab, das durch den Vorgang des Fütterns noch verfestigt wird. So wird bei Aristophanes (Equ. 715 – 718) derjenige, der füttert, mit einer Amme (τίτθη) verglichen. Überhaupt zählt für ihn nach Lys. 18 f das Füttern eindeutig zum weiblichen Aufgabenkreis. Dass Paulus sich zuweilen mit einer Amme⁷⁴ vergleicht, ist aus 1Th 2,7⁷⁵ bekannt. Dort gebraucht Paulus gegenüber der Gemeinde ein eindeutiges Bild, auch wenn er auf Plastizität verzichtet und schlicht sein Verhalten mit dem Wort τροφός („Ernährerin“ = Amme) benennt. Abraham J. Malherbe hat auf die deutliche Verwandtschaft der Selbstdarstellung des Paulus in 1Th 2,1– 12 und kynischer Philosophen hingewiesen.⁷⁶ Ihm zufolge ist das Bild der Amme in kynischen Vorträgen sehr geläufig. So wie eine Amme die oft bitteren, aber gesunden Speisen oder Arzneien für die ihr anvertrauten Kinder versüße, könne der Philosoph zu

 Vgl. etwa Num 11,4.18; Dtn 8,3.16; 32,13; 2Reg 13,5; Ps 80 (= 79M),6; 81 (= 80M),17; Jes 58,14; Jer 9,15; 23,15; Lam 3,16; Ez 2,10; 16,19; Dan 4,22.29; 5,21.  Vgl. Yee, „Child“ 182– 185; Gerber, Paulus 282– 284 zum Ammenwesen in der Antike.  Allerdings steht die genaue Aussage von 1Th 2,7 unter einem textkritischen Vorbehalt: Zwar findet tatsächlich der Vergleich mit einer Amme statt, jedoch ist das tertium comparationis aufgrund der verschiedenen Textzeugen undeutlich. Vor dem Vergleich schreibt Paulus, dass er und seine Mitarbeiter beim ersten Besuch in Thessaloniki entweder ‚freundlichʻ (ἤπιοι) oder ‚unmündigʻ (νήπιοι) gewesen sind. Bei der ersten Lesart, die vom Mehrheitstext bevorzugt wird, erscheinen Paulus und seine Mitarbeiter gegenüber den Thessalonichern als freundliche Amme. Bei der zweiten stellen sie sich entweder als Amme, die sich in kindlicher Weise zu ihren anvertrauten Kindern verhält, dar, vgl. Wohlenberg, Thessalonicherbrief 51– 53, der aus der Amme allerdings eine Mutter machen will; oder die Bezeichnungen ‚unmündigʻ und ‚Ammeʻ werden als unausgeglichene Bildworte angenommen, vgl. U. Schmidt, „1 Thess 2.7b, c: ‚Kleinkinder, die wie eine Amme Kinder versorgenʻ,“ in: NTS 55 (2009), 116 – 120, der hier eine ‚mixed metaphorʻ erkennt und somit beide Rollen (Kleinkind und Amme) bewusst irritierend einander gegenübergestellt sieht. Eine dritte mögliche Lesart – dass nämlich Paulus und seine Mitarbeiter selbst unmündig gewesen sind und daher von den Thessalonichern wie von einer Amme versorgt wurden – scheitert an dem dann entstehenden Bruch der grammatikalischen Bezüge im Kontext. Gerber, Paulus 290 f hält an der Lesart νήπιοι in 2,7b fest, sieht darin aber einen Vokativ. Dies erscheint mir angesichts einer kompositorischen Gegenüberstellung der Versteile 7b und 8c (‚wir sind bei euch freundlich gewesenʻ – ‚ihr seid für uns geliebt gewesenʻ) nicht plausibel.  Vgl. Malherbe, „Nurse“ 203 – 217.

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demselben Mittel für seine Lektionen greifen – auch wenn dies nicht von allen Popularphilosophen geteilt werden, sondern insgesamt ambivalent gesehen werde.⁷⁷ Die These Malherbes hat inzwischen einige Kritik erfahren,⁷⁸ was aber nichts daran ändert, dass Paulus das Bildmotiv der Amme und überhaupt weibliche Motivik zur Selbstdarstellung in seinen Briefen nutzen kann. Dies hatte er in 1Kor bereits in 3,2 getan. In 1Kor 3,2 hatte Paulus den Korinthern in einem Bild über ihren Stand als geistliche Menschen geschrieben, dass er sie bei seinem ersten Besuch nicht mit fester Speise, sondern lediglich mit Milch nähren konnte, da sie zu unreif waren und es nach wie vor sind. Dieses Bild ist eindeutig der Kinderaufzucht entlehnt. Paulus erscheint darin in der (in jener Zeit ausschließlich) weiblichen Rolle der Kinderernährerin. Dabei ist zunächst offen gelassen, ob er sich als Mutter oder bloß als Amme präsentiert. Erst in 4,14 f wird deutlich, dass Paulus die Korinther als seine Kinder ansieht, wobei er dort eindeutig Vater-Metaphorik verwendet. Die Korinther (und überhaupt alle Mitglieder in den von ihm gegründeten Gemeinden) in der Rolle als Kinder sehe ich auch als Motivhintergrund für 1Kor 13,3a. Es geht dort nicht allgemein um die Speisung von nicht näher bezeichneten Armen durch Paulus, sondern speziell um das Füttern seiner geistigen Kinder. Für sie gibt er gleichsam noch ‚sein letztes Hemdʻ her, was sich sowohl durch den Verzicht auf Privilegien als auch durch den Anspruch auf Broterwerb durch eigenes Arbeiten (1Kor 4,11 f; 9,4 f.12) gekennzeichnet ist. Oda Wischmeyer macht auf die „genaue Parallele“⁷⁹ beim Gebrauch der 1. Person Singular in 8,13 aufmerksam: „Paulus formuliert eine allgemeine Maxime in einem nicht persönlichen Ich-Stil, die aber durchaus durch die eigenen Lebensführung des Apostels bestätigt wird, wie die Fortsetzung mit dem autobiographischen ‚Ichʻ in 9,1 ff. zeigt, so daß die Maxime auf die apostolische Lebensführung hin transparent wird.“⁸⁰ Daran ist zweifelsohne richtig, dass Paulus dort eine allgemeine Maxime ausgegeben hat; dass diese aber unpersönlich i.S.v. nicht autobiographisch sein soll,⁸¹ wurde bereits oben verneint. Vielmehr verhält es sich gerade umgekehrt: Paulus erhebt sein eigenes Beispiel zu einer allge-

 Vgl. Malherbe, „Nurse“ 211– 214.  Vgl Gerber, Paulus 292 f.  Wischmeyer, Weg 91.  Ebd.  Dieses Urteil mag an der Grundüberzeugung Wischmeyers (zumindest in dieser frühen Arbeit) liegen, dass Paulus „nur wenig Interesse an ‚privaterʻ Genauigkeit, überhaupt an Autobiographischem“ (Weg 20) habe.

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Kapitel 11 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 12,1 – 14,40

meinen Maxime.⁸² Tatsächlich fällt doch stark auf, dass Paulus sowohl in 8,13 wie auch in 12,31b in der 1.P.Sg. spricht, um dann im direkten Anschluss jeweils in der 1.P.Sg. fortzufahren (9,1 f.;13,1 f.). Es gibt keine textlichen Signale, die auf einen Sprecherwechsel bzw. auf einen Wechsel vom brieflichen zu einem rhetorischen Ich hindeuten. Insofern kann man ohne weiteres davon ausgehen, dass Paulus das Ich in 13,1 ff weiterhin auf sich bezogen verstanden wissen will. Wenn Paulus nun also in 13,1– 3 darauf hinweist, dass all die genannten Gaben – und damit also eigentlich seine göttliche Beauftragung, sein Wirken unter den Korinthern und eben auch sein ganzes Leben – ohne die Liebe nichts sind, kann dies nur zu einer Verstärkung seines Arguments beitragen, dass eben die Liebe als die einzig wahre Einstellung innerhalb der Gemeinde Gottes unter allen Umständen von den Korinthern anzustreben ist (14,1).⁸³ Gleichermaßen wird dadurch implizit auch gesagt, dass Paulus längst die Liebe zueigen ist. Das Leben des Apostels, auch in einer irrealen, lieblosen Variante, verdeutlicht seiner Gemeinde die rechte Lebensweise.⁸⁴

3.2 1Kor 13,4 – 7 Carl Holladay weist zurecht darauf hin, dass die Aussagen über die Liebe in 13,4– 7 implizit einiges über den Apostel mitteilen.⁸⁵ Dies wird deutlich aus den Bezügen, die v.4– 7 zu anderen Selbstdarstellungen des Paulus haben. Dabei gibt es eine Übereinstimmung der positiven Eigenschaften der Liebe mit denen des Apostels,

 Vgl. Sanders, Paulus 132: „Paulus’ Theologie ist über weite Strecken autobiographisch […]“. Sanders bezieht das im weiteren Verlauf besonders darauf, wie Paulus Fragen nach dem rechten Verhalten beantwortet und immer wieder auf sein eigenes Leben als Modell für moralisch korrektes Verhalten hinweist.  Ganz ähnlich hatte Paulus bereits in 1Kor 8,1– 3 in Bezug auf das Idolenopferfleisch argumentiert, indem er die Liebe als Maxime des eigenen Handelns der Erkenntnis vorgeordnet hatte.  Auch Bachmann, Brief 389 spricht sich dafür aus, dass das Ich in 13,1– 3 direkt auf Paulus zu beziehen sei; ebenso Gladd, Mysterion 192: „Paul uses himself as a hypothetical example to show that even his gifts would be worthless without love“ (Kursivierung im Text). Allerdings geht er wie Holladay, „Corinthians“ 93 f davon aus, dass Paulus mit seiner Selbstdarstellung übertreibt. Die oben benannten vielen Anhaltspunkte und Übereinstimmungen seiner Aussagen lassen mich davon überzeugt sein, dass Paulus hier nicht uneigentlich spricht. Was wäre dies auch für ein Selbstbewusstsein und was würde es für seine Glaubwürdigkeit bedeuten, wenn der Apostel des Herrn allerorten in seinen Briefen starke und von sich selbst überzeugte Auftritte zeigt, an einer Stelle wie 1Kor 13,1– 3 aber zugeben müsste, bloß bildlich zu sprechen oder zu übertreiben? Gerade die Annahme der Übertreibung schwächt Holladays Argument, wie Dodd, ‚I‘ 119 f zeigt, wobei Dodd ansonsten nicht zu folgen ist.  Vgl. zum Folgenden Holladay, „Corinthians“ 94– 97.

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wohingegen die negativen Eigenschaften zum großen Teil mit dem Verhalten der Korinther übereinstimmen.⁸⁶ So wird die Liebe als langmütig und gütig (v.4: μακροθυμεῖ, χρηστεύεται) gekennzeichnet. Dieselbe Vorstellung taucht in dieser Paarung und Reihenfolge im Peristasenkatalog 2Kor 6,4– 10 (v.6: ἐν μακροθυμίᾳ, ἐν χρηστότητι) wieder auf, in dem Paulus seine Empfehlung als Diener Gottes vorbringt,⁸⁷ und bezieht sich auf ihn selbst. Ebenfalls werden in jenem Katalog die nicht geschauspielerte Liebe (v.6: ἐν ἀγάπῃ ἀνυποκρίτῳ) sowie das Wort der Wahrheit (v.7: ἐν λόγῳ ἀληθείας) als Umstände benannt. Eben diese Liebe ist das Hauptthema in 13,4– 7, wohingegen die Wahrheit dem Apostel zufolge ein hohes Gut für ihn darstellt (1Kor 5,8; 2Kor 7,14; 11,10; 12,6; 13,8). Darüber hinaus wird in v.6 über die Wahrheit gesagt, dass sich die Liebe über sie bzw. mit ihr freut (συγχαίρει)⁸⁸. Das Mitfreuen nimmt bei Paulus – neben der Aussage in 12,26, dass sich alle Körperglieder über die Verherrlichung eines anderen Gliedes mitfreuen – im Brief an die Philipper eine prominente Rolle ein (Phil 2,17 f) und beschreibt dort das reziproke Verhältnis von Apostel und Gemeinde. Die Aussagen in 1Kor 13,7, dass die Liebe alles erträgt (στέγει), glaubt (πιστεύει), hofft (ἐλπίζει) und erduldet (ὑπομένει), lassen sich auch, auf den Apostel übertragen, in der gesamten Korintherkorrespondenz finden. So sagt Paulus über sich (in der 1.P.Pl.) in 9,12, dass

 Die negativen Verhaltensweisen, deren Pendants im Brief nachstehend in Klammern angeführt werden, sind: Eifersucht (1,11; 3,3), Prahlerei (3,21; 4,7), Aufblähen (4,6.18; 5,2), Unanständigkeit (7,36), Selbstsucht (als Aufruf dagegen in 10,24), Reizen (6,1?), Schlechtes denken (5,8; 10,6; 14,20), Freude über Ungerechtigkeit (6,7 f).  Dort geschieht dies allerdings in der 1.P.Pl., worin ich einen echten Plural sehe. Dodd, ‚I‘ 121 bemängelt gegenüber Holladay, dass zur Klärung von 1Kor 13 nicht Beispiele aus 2Kor herangezogen werden sollten, da sie erst im Nachgang zu 1Kor und dann in einer gänzlich anderen Situation zu verstehen sind und somit nicht als etwas die Diskussion in 1Kor Vorausnehmendes gewertet werden dürfen. Er hat sicherlich damit Recht, dass 2Kor nach 1Kor und in einer anderen Situation verfasst wurde. Dennoch scheint mir, gerade weil die Paarung ‚Langmut und Güteʻ von 1Kor 13,4 ebenso und in dieser Reihenfolge nicht nur in 2Kor 6,6, sondern auch in Gal 5,22 (umgekehrt, um ἀνοχή erweitert und auf Gott bezogen in Röm 2,4) vorkommt, dass Paulus hier auf gedankliche Formulierungen zurückgreift und er somit seine Selbstdarstellung ebenfalls in Teilen parat hatte. Der Tugendkatalog Gal 5,22 f bietet wie die beiden Beispiele aus den Kor-Briefen eine indirekte Selbstdarstellung des Apostels (5,24 f). Soll heißen: Die Begriffspaarung in 2Kor 6,6 (sowie in Gal 5,22) ist nicht von der in 1Kor 13,4 abhängig, sondern beide haben in den gedanklichen Formulierungen des Apostels dieselbe Vorlage und umschreiben einen Wesensaspekt des christusgläubigen Lebens, der vermutlich als im Wesen Gottes gründend (Röm 2,4) gedacht wird.  Conzelmann, Brief 265 ist mit der Vielzahl der Kommentare dafür, hier für συγχαίρει die Bedeutung des Simplex anzunehmen, vgl. ebd. Anm. 5. Da das Verb sonst im NT nur im Sinne von ‚mitfreuenʻ gebraucht wird, halte ich diese Stelle – gerade in der Nähe zu 1Kor 12,26 – wenigstens für doppeldeutig. Lindemann, Korintherbrief 288 hält ein Mitfreuen mit der Wahrheit ohne Personifizierung derselben für denkbar.

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er alles erträgt (στέγομεν). Den eigenen Glauben bezeugt er in 1Kor 13,2; 2Kor 4,13; 5,7. Die eigene Hoffnung wird benannt in 1Kor 15,19; 2Kor 1,7.10; 3,12; 10,15. Das Erdulden findet sich wieder im Peristasenkatalog 2Kor 6,4– 10 (v.4: ἐν ὑπομονῇ; zudem 1,6; 12,12). Die Darstellung der Liebe in 1Kor 13,4– 7 trägt somit durchaus zur Selbstdarstellung des Apostels bei. An seinem Verhalten können die Korinther ablesen, wie sich ein von Liebe durchdrungenes Leben in concreto ausdrückt.

3.3 1Kor 13,8 – 13 Nach diesem Abschnitt folgen zum Schluss der Wertepriamel über die Liebe erneut Ich-Aussagen. In der gleichen Weise, wie man das Ich in 13,1– 3 als autobiographisches Ich verstehen sollte, stellt sich dies allerdings für das Ich in v.11 f als schwieriger dar. In v.9 schreibt Paulus aus einer Wir-Perspektive heraus, in der Gegenwart nur über eine teilweise Erkenntnis und Prophetengabe zu verfügen, in v.12c–d wiederholt er die gleiche Aussage aus der 1.P.Sg. heraus, dann allerdings nur auf die Erkenntnis bezogen. Hier liegt ein Widerspruch zur vorherigen Aussage vor, Paulus besitze die ganze Erkenntnis (v.2).⁸⁹ Dieser Widerspruch, so man ihn nicht bestehen lassen will, lässt sich auf zwei Weisen lösen: a) die beiden Ichs in v.1– 3 und v.11 f sind nicht dieselben; oder b) die beiden Erkenntnisse in v.2 und v.9 – 12 sind nicht dieselben. Die erste Möglichkeit erscheint wenig plausibel. Sicherlich wird durch die 1.P.Pl. ab v.9 und auch durch die allgemein menschliche Erfahrung des Älterwerdens in v.11 der Kreis für die Hörenden insoweit geöffnet, dass sie sich leicht in die Rolle des Sprechers hineinversetzen können. Jedoch gibt es außer der Reihe v.4– 7(8), die den Zusammenhang einer einheitlichen Sprecherrolle unterbricht, keinen Hinweis im Text darauf, dass nun jemand neues spräche. Und auch dieser Hinweis ist nicht stark genug, um hier einen Sprecherwechsel anzunehmen. Tatsächlich gibt es ja noch einen zweiten Sprecherwechsel, nämlich mehrmals den von der 1.P.Sg. (v.1– 3.11.12b) hin zur 1P.Pl. (v.9.12a). Gerade der Wechsel in den Plural öffnet ja den Kreis für die Korinther als Gruppe, an den Erfahrungen des „Ich“ im Hohen Lied teilzuhaben: Nun ist es nicht mehr ein Einzelner, der für sich allein spricht, sondern dieser spricht jetzt in inkludierender Weise für eine Gruppe.⁹⁰ Diese Gruppe wird (wie im vorhergehenden c.12) doch die Korinther als

 Selbst wenn man von einem typischen oder generischen Ich in c.13 ausgeht, besteht hier ein Widerspruch.  Dies ist anders als in Röm 7,14a, wo der Numerus-Wechsel in der Sprecherrolle (οἴδαμεν gegenüber der 1P.Sg. sonst) tatsächlich auf eine Stilisierung und damit auf ein typisches (und nicht paulinisches) Ich hindeutet.

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Adressaten des Briefes meinen: in 12,13 waren sie bereits mitgemeint als Gruppe der Getauften, in 12,23 f als Gruppe mit allgemein menschlichen Erfahrungen. In jedem Fall waren sie von Paulus in seine Gedankenführung miteinbezogen. Es liegt nahe anzunehmen, dass dies in c.13, das ja innerhalb von 1Kor12– 14 zum gleichen Themenkomplex gehört, gleichermaßen der Fall ist. Bleibt also die zweite Möglichkeit, dass die beiden Erkenntnisse in 13,2 und 13,9 – 12 nicht identisch und voneinander zu unterscheiden sind. Dafür spricht, dass Paulus die Erkenntnis in eine gegenwärtige und eine zukünftige unterteilt (v.12: ἄρτι vs. τότε). Die gegenwärtige Erkenntnis sei nur Stückwerk (ἐκ μέρους), die zukünftige aber vollkommen.Wenn somit Paulus in v.2 die gesamte Erkenntnis für sich beansprucht, dann mag dies nach irdischen Maßstäben und für die Gegenwart so gelten; angesichts des noch ausstehenden Eschatons⁹¹ bleibt diese Erkenntnis aber doch nur unvollkommen. Tatsächlich wird die gegenwärtige und unvollkommene Erkenntnis zunichte gemacht werden (v.8.10: καταργεῖν als passivum divinum), um der neuen und vollkommenen Erkenntnis Platz zu machen. Insofern muss man den Zusatz πάσα bei der γνῶσις in 13,2 nicht als universal-totalitär verstehen, sondern sollte ihn als durch das noch ausstehende Eschaton begrenzt auffassen.⁹² Wenn nun die Frage der Erkenntnis in c.13 dahingehend entschieden wurde, dass hier von zwei verschiedenen Erkenntnissen die Rede ist, dann gibt es keinen Widerspruch innerhalb der Schilderung des Ich mehr. Das Ich in 13,8 – 12 ist demnach mit dem in 13,1– 3 identisch. Dies aber ist das briefliche Ich des Paulus. In v.11 spricht Paulus in allgemeiner Weise über sein Alter als Kind:⁹³ Wo er einst als Kind ganz wie ein solches sprach und dachte⁹⁴, hat er als Erwachsener nun dieses Verhalten abgeschafft (καταργεῖν, diesmal aktivisch).V.11 ist nicht bloß anscheinend, sondern tatsächlich autobiographisch, indem Paulus über sein vergangenes Leben schreibt und ein bestimmtes Bild von sich in der Vergan-

 Auch wenn das Ende der Äonen in 10,11 sehr nahe in den Blick gerückt ist, ist es noch nicht eingetroffen.  Nochmals: Dass Paulus in 13,2 übertreibt, halte ich für nicht gegeben.  Entgegen Merklein/Gielen, Brief III 159 vermag ich nicht zu erkennen, dass Paulus hiermit Terminologie der Korinther aufgreife (innerkorinthische Kritik an Zungenrednern als lallenden Kindern). Der bildliche Gegensatz Kind vs. Erwachsener appelliert vielmehr an die allgemein menschliche Erfahrung der Gemeindeglieder. Gerade deshalb vermuten so viele Exegeten hier ein typisches Ich, weil eben eine typisch erwachsene Erfahrung bzw. Reflexion dessen geschildert wird.  Der Unterschied zwischen φρονεῖν und λογίζειν ist im Deutschen schwer nachzuahmen. Das erste geht mehr in Richtung Verstehen, das zweite mehr in Richtung Beurteilen.

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genheit wie auch in der Gegenwart zeichnet.⁹⁵ Die Beschreibung der Kindheit dient als Kontrastfolie für die Gegenwart: War Paulus als Kind einst unverständig und unmündig, ist er nun ein Erwachsener, der in erwachsener Weise reden und die Dinge in der Welt nach seinem Erkenntnisvermögen verstehen und beurteilen kann.⁹⁶ Dieses Erkenntnisvermögen ist gleichwohl begrenzt (v.12c), weil Gott es noch nicht im Eschaton vollendet hat. Insofern gleicht Paulus selbst als Erwachsener noch einem Kind, da sein Erkennen in Bezug auf Gott – und sei es noch so umfassend (v.2!) – unter dem eschatologischen Vorbehalt steht und somit noch Stückwerk ist. Gleichermaßen kann Paulus sein Älterwerden als Bild für den Gewinn der neuen Erkenntnis im Eschaton nehmen: Wie er, um erwachsen zu werden, das kindliche Denken abtun musste (v.11: κατήργηκα), werden im Eschaton durch Gott Prophetien, Erkenntnis und alles Stückwerk abgetan (v.8.10: καταργηθήσεται).⁹⁷ Alle Gläubigen (inklusive Paulus!) sind somit gegenwärtig noch wie Kinder, die nicht alles recht einsehen und verstehen können; das Erwachsenen-Sein steht noch aus, verheißt aber bereits jetzt das vollkommene Verständnis. 13,12a hat in dem Gesamtlied die Funktion, die Korinther ‚mit ins Bootʻ zu holen, indem ihnen in der 1.P.Pl. ebenso die gegenwärtig stückweise Gotteserkenntnis (δι’ ἐσόπτρου ἐν αἰνίγματι)⁹⁸ zugesprochen wird, die auch Paulus eignet.

3.4 1Kor 13 als epideiktisch In einem Aufsatz zu 1Kor 13 hat Joop Smit die These aufgestellt und untermauert, dass der Abschnitt zum rhetorischen genus demonstrativum gehört.⁹⁹ Er macht dies zum einen am Ausschlusskriterium fest,¹⁰⁰ zum anderen an stilistischen

 Zeller eröffnet eine falsche Alternative, wenn er 13,11 als „anscheinend autobiographischen, in Wirklichkeit generischen Satz“ (Brief 415) ansieht. Wie er gleichermaßen autobiographisch ist, ist v.11 generisch, insofern ihn jeder erwachsene Leser, der ja als solcher das Kind-Sein hinter sich gebracht hat, mitsprechen kann.  Dodd, ‚I‘ 123 sieht Paulus hier auf einer Linie mit den Aussagen gegenüber den Reifen und Starken in 1,8.25.27; 2,6; 4,10; 10,11.22; 13,10, so dass er sich hier zum Modell für den geistigen Fortschritt der Korinther von der Unreife hin zur Reife macht.  Die Denkfigur hier nimmt die in c.15 vorweg, insofern es auch dort unter Bewahrung der Individualität des Subjekts um die Vernichtung des Alten geht, um Neues heraufzuführen (v.35 – 49). Das jetzige Denken und Erkennen trägt gleichsam den Kern der eschatologischen Erkenntnis in sich, muss aber abgetan (13,8.10.11) bzw. vernichtet werden, um dem Neuen Platz zu machen.  Vgl. Zeller, Brief 416 f.  Vgl. Smit, „Genre“ 205.  Die beiden anderen rhetorischen Genera passen nicht zu 1Kor 13, vgl. Smit, „Genre“ 194.

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Merkmalen, die nach Cicero für das epideiktische Genus typisch sind.¹⁰¹ James G. Sigountos hat 1Kor 13 ebenfalls in dieses Genus eingeordnet und diese Bestimmung noch weiter eingegrenzt, indem er das Stück dem antiken Enkomion zurechnet.¹⁰² Paulus hält hier also ein Lob auf die Liebe. Sigountos übernimmt die übliche Gliederung des Liedes, klassifiziert sie jedoch nach den Aufbauelementen des Enkomions und kommt daher zu einem leicht modifizierten Ergebnis: So stellen 13,1– 3 den Prolog (προοΐμιον) dar, v.4– 7 die Taten (πράξεις), v.8 – 12 den Vergleich (σύγκρισις) und 13,13 – 14,1a den Epilog (ἐπίλογος).¹⁰³ Das Enkomion, ursprünglich ein Loblied auf Menschen, später dann auch auf Städte¹⁰⁴ oder Tugenden¹⁰⁵, will das von ihm Besungene in positiver Weise herausstellen. Durch diese Erhöhung oder Überhöhung der verhandelten Sache erhält diese Vorbildcharakter für die Hörenden, sei es, dass der Charakter eines geschilderten Menschen erstrebenswert erscheint, sei es dass die beschworene Tugend selbst zum erstrebten Ideal wird. In 1Kor 13 taucht beides auf: sowohl ein Mensch – Paulus – als auch eine Tugend – die ἀγάπη. Es ist eindeutig, dass in c.13 die Liebe im Zentrum der Betrachtung steht und nicht so sehr Paulus, dennoch ist die Selbsterwähnung des Apostels nicht ohne Belang. Paulus verdeutlicht an seiner Person, dass – bei aller menschenmöglichen Begabung durch Gott – ein Leben ohne Liebe zu führen völlig ins Leere läuft (v.1– 3). Ohne explizit auf sich selbst zu verweisen, beschreibt Paulus dann ein Leben in der Liebe anhand der ihr eigenen Merkmale (v.4– 7.8). Sich an dieser Stelle in den Vordergrund zu schieben, erscheint für Paulus auch gar nicht sinnvoll, kommt es hier doch auf die Merkmale der ἀγάπη an, um die Korinther zu einer Verhaltenskorrektur zu bringen. In diesem Teil nutzt der Apostel die Merk-

 Vgl. Smit, „Genre“ 198 f. Hierunter fallen auffällige Worte, Parallelismus, Antithesen, Wiederholungen und Rhythmus, was allesamt für 1Kor 13 gegeben ist.  Vgl. Sigountos, „Genre“ 247. Berger, Formen 269 f rechnet 1Kor 13,1– 3.8 – 12.13 zum Normendiskurs, einer „Gattung zwischen symbuleutischen und epideiktischen Gattungen“ (269), da zum einen ethische Aspekte mit Vor- und Nachteilen bedacht und bewertet werden (epideiktisch), zum anderen aber eine Empfehlung darüber abgegeben wird (symbuleutisch). Die Kritik Schrages (Brief III 277 f), dass 1Kor 13 trotz einiger Übereinstimmung nicht generell der Epideiktik zuzurechnen ist, scheitert an seinem verkürzten Verständnis von Epideiktik, insofern er unterstellt, dass Paulus dadurch die Bewunderung des Publikums ernten wolle. Nicht um Bewunderung geht es bei der Epideiktik, sondern um Würdigung und Bewertung!  Vgl. Sigountos, „Genre“ 251. Die Elemente der Geburt und Erziehung, die Aphthonius von Ephesus (4./5. Jh.) zufolge (Rhetores Graeci II 42.20 – 44.19) zum Enkomion eines jeden Menschen gehören, können wegfallen, da es sich um eine Tugend handelt, vgl. Sigountos, a.a.O. 248.  Vgl. Quint.inst. 3,7,26.  Vgl. Plat.symp. 197C–E über den Eros und 1Esr 4,34– 40 über die Wahrheit; Texte bei Conzelmann, Brief 267– 269.

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male der ἀγάπη als Kontrastfolie zu konkreten Missständen in der korinthischen Gemeinde:¹⁰⁶ Das mangelnde ζηλοῦν der Liebe ist ein Reflex auf den Wetteifer und Streit in der Gemeinde (3,3); das οὐ φυσιοῦται (13,4) steht dem Aufblasen einiger (4,18.19) bzw. aller (4,6; 5,2; 8,1) Korinther entgegen; das οὐ ζητεῖ τὰ ἑαυτῆς spiegelt sich im Aufruf an die Korinther (10,24), dann aber auch in der Lebensweise des Apostels (10,33) wieder. Die Merkmale der Liebe werden somit hier zu einem indirekten Tadel der korinthischen Lebensweise,¹⁰⁷ weil sie – in v.4– 7 ganz ohne Appell – eine Beschreibung der anzustrebenden neuen Lebensweise darstellen. Um auf das Unvollkommene der gegenwärtigen Gnadengaben Gottes hinzuweisen, bringt Paulus sich selbst, den eigentlich von Gott vollkommen Begabten, erneut ins Gespräch (v.11.12b) und stellt sich den Korinthern gleich, was die menschliche Unvollkommenheit anbelangt (v.9.12a). Wie c.12 ja deutlich machte, gab es Streitigkeiten in Korinth über die Würde der verschiedenen χαρίσματα und dementsprechend die Rollen und Aufgaben der einzelnen Gemeindeglieder. Paulus macht durch das Herausstellen der Liebe im Vergleich mit den Gnadengaben klar: Sie ist das einzige, das am Ende Bestand haben wird; somit muss sie die einzige Größe sein, an der sich die Gemeinde auszurichten hat. Die Bedeutung der Charismen wird dadurch wortwörtlich relativiert, insofern sie ganz auf die Liebe bezogen werden und darin ihren Maßstab finden sollen. Gerade weil (bzw. erst dadurch, dass) Paulus sich selbst als Unvollkommenen (angesichts der Vollendung im Eschaton) darstellt, vermag er, der Gründer der Gemeinde, auch dieser denselben Status zuzuweisen. Damit ist aber auch der adiaphore Charakter der Gnadengaben unter den Gläubigen erwiesen, so sie nicht unter dem Primat der Liebe stehen.¹⁰⁸ Wie ein Leben unter der Liebe aussieht, ist an Paulus selbst aus dem 1Kor bisher zu ersehen. Dass er selbst als Vater der Gemeinde über Liebe verfügt, sagt er in 4,21, wie sich dann auch seine Liebe in der Anrede an die Kinder ausdrückt (4,14.17). Bereits zuvor im Brief hatte er die Liebe als eine auf(er)bauende Kraft gekennzeichnet (8,1: οἰκοδομεῖ). Die Auferbauung zeigt sich aber im Verhalten gegenüber dem Bruder (bzw. der Schwester) in Christus, wie Paulus anhand der Problematik des Idolenopferfleisches gezeigt hat: Es gilt, das schwache Geschwister nicht zum Frevel aufzuerbauen (8,10: οἰκοδομηθήσεται), sondern vielmehr zu schonen (8,13), bzw. überhaupt nicht in eigenem Interesse, sondern in dem des anderen zu handeln (10,23 f). Dieses Verhalten verkörpert Paulus bereits (10,33), wie er es in 9,19 – 23 speziell und in c.9 allgemein unter dem Konzept der

 Vgl. Sigountos, „Genre“ 257.  Vgl. Sigountos, „Genre“ 251.256.  Vgl. Smit, „Genre“ 211.

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verzichtenden Freiheit ausgeführt hat.¹⁰⁹ Was im Hinblick auf das Idolenopferfleisch galt (8 – 11,1), ist ebenso richtig und wichtig für den sonstigen Umgang miteinander angesichts der geistlichen Gaben (c.12– 14). Das Leben in der Liebe wird am Beispiel des Apostels deutlich. Es ist also Paulus’ Ich, das erst das Abstraktum ἀγάπη in positiver¹¹⁰ Weise konkret lebenswirklich macht und so den Korinthern einen Zugang der Liebe zu ihrer eigenen Lebenswirklichkeit öffnet. Damit klärt sich auch die Frage, wie die Wendung καθ’ ὑπερβολὴν ὁδὸν ὑμῖν δείκνυμι zu verstehen ist. Dabei ist zunächst das ‚Zeigen des Wegesʻ zu deuten, bevor das καθ’ ὐπερβολὴν eingeordnet wird. Zwar kommt ὁδός in den paulinischen Briefen noch fünf weitere Male vor, wobei allerdings alle Bedeutungen variieren. So findet es sich bezogen auf alle Menschen als Sünder im Schriftzitat in der Bedeutung ‚Lebenswegʻ (Röm 3,16.17 = Jes 59,7 f), bezogen auf Gott in der Bedeutung ‚Vorgehenʻ (Röm 11,33) und bezogen auf Paulus und seine Mitarbeiter in der Bedeutung ‚Zugangʻ (1Th 3,11). Der letzte paulinische Beleg steht in 1Kor 4,17, wo der Apostel den Besuch des Timotheus ankündigt, der die Gemeinde an die Wege des Paulus in Christus erinnern soll; damit ist der Lebenswandel des Paulus gemeint.¹¹¹ Das Wort δείκνυμι ist dagegen ein hapax legomenon bei Paulus. Zwar gibt es in der LXX öfters den Zusammenhang von ὁδός und δείκνυμι.¹¹² Da ὁδός jedoch vor 1Kor 12,31 bereits in 4,17 (im Plural) auftauchte, erscheint es mir angebracht, hier einen Zusammenhang anzunehmen. In 4,17 stellen die ὁδοί Paulus’ christusgemäße Lebensweise dar,¹¹³ an die Timotheus erinnern soll. Ein ähnliches Bild ergibt sich für c.13: Paulus zeigt an sich selbst, dass nur ein Leben in der Liebe sinnvoll und zielführend ist. Der Gebrauch von δείκνυμι weist (ähnlich wie ἀναμνῆσαι in 4,17)¹¹⁴ in den Bereich der Lehre, auf das Verhältnis von Lehrer zu Schülern.¹¹⁵ Und in diesem Verhältnis ist gerade das vorbildliche Handeln des Lehrers entscheidend, das völlig seiner mündlichen Lehre entspricht.¹¹⁶ Wenn

 S.o. Kapitel 9, 3.  In negativer Weise (als impliziter Tadel) geschieht dies ohne Verweis auf Paulus in 13,4– 7.  S.o. Kapitel 6, 2.6.2. Dagegen Wischmeyer, Weg 35: Weg = Lehre.  Vgl. Wischmeyer, Weg 35 mit Belegstellen.  Vgl. Zeller, Brief 193 Anm. 638: „Wege und Wandel“ gehören zusammen; ebenso Wolff, Brief 95.  Vgl. Plat.Phaid. 72E ganz im Sinne der Ideenlehre: „Unser Lernen ist nichts anderes als Wiedererinnerung.“  Vgl. H. Schlier, „δείκνυμι κτλ.,“ in:ThWNT 2 (1935), 26 – 33, der auf Mt 16,21 gegenüber Mk 8,31 verweist (27). Gleichsam als Mit-Schüler der Korinther kann Timotheus die Gemeinde nur an Paulus’ Lebenswandel wiedererinnern; etwas Neues zeigen kann allein der Apostel selbst.  Zum antiken Ideal des Lehrers, das doch sehr wohl Anklang in der Realität hatte, vgl. Xen.mem. 1,2,17: πάντας δὲ τούς διδάσκοντας ὁρῶ αὐτους δεικνύντας τε τοῖς μανθάνουσιν, ᾗπερ

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Paulus nun den Korinthern einen ‚Weg zeigtʻ, dann heißt dies, dass er ihnen einen (neuen) Aspekt seiner Lebensweise unterbreitet, die sich konkret an seinem eigenen Leben nachweisen und nachvollziehen lässt.¹¹⁷ Die Bedeutung und der Bezug von καθ’ ὐπερβολὴν ist dann dahingehend zu verstehen, dass es sich attributiv auf den Weg bezieht.¹¹⁸ Dieser ‚übermäßigeʻ bzw. ‚maßloseʻ Weg ist also der vortreffliche Lebenswandel in der Liebe. In dieser (neuen) Lehre verknüpft Paulus das Lob über die Liebe mit seiner Person und macht deutlich, dass ohne die ἀγάπη selbst seine eigene überragende apostolische Existenz unnütz und wertlos ist, von den Geistesgaben als solchen ganz zu schweigen. Dies hat selbstverständlich Auswirkungen auf den Umgang der Korinther mit ihren eigenen χαρίσματα. Somit wird der Zweck von 1Kor 13 im Zusammenhang von c.12– 14 deutlich: „I Cor. xiii is the fundamental basis on which Paul’s criticism and admonitions rest, when he proceeds to deal with the church’s mistakes. [I]ts main purpose is to justify what is to be said in chapter xiv.“¹¹⁹ Wie sich Paulus die Geistesgaben, genauer die Zungenrede, in ihrer praktischen Umsetzung in Korinth vorstellt, kann er aufgrund dieser Basis im folgenden c.14 verdeutlichen. Auch dort spricht er wieder über sich.

4 1Kor 14 – Durchsicht der Ich-Aussagen 4.1 Die Ich-Aussagen in 1Kor 14,1 – 19 1Kor 14 ist insgesamt zur Gattung der Symbuleutik zu rechnen, was sich an der Argumentation, die auf die Einheit der Gemeinde im Rahmen ihrer Versammlungen abzielt, ablesen lässt.¹²⁰ Ein Schlüsselwort in c.14 ist in diesem Zusam-

αὐτοὶ ποιοῦσιν ἃ διδάσκουσι, καὶ τῷ λόγῳ προσβιβάζοντας. („Ich sehe aber alle Lehrer den Schülern sich selbst zeigen, ganz wie sie selbst tun, was sie lehren, und mit dem Wort nahe bringen.“), desgleichen 1,3,1.  Holladay, „Corinthians“ 87 f betont das eher demonstrative denn pädagogische Moment von δείκνυμι, ohne das letztere abzustreiten. In jedem Fall wird Paulus konkret, indem er auf sich selbst zeigt.  Vgl. Bachmann, Brief 388; Lietzmann, Korinther 65; Conzelmann, Brief 263; Wischmeyer, Weg 34; Schrage, Brief III 281; Merklein/Gielen, Brief III 145 (aber unentschlossen, ob das ἔτι noch hinzugehört); Zeller, Brief 406.  N. Johansson, „I Cor. XIII and I Cor. XIV,“ in: NTS 10 (1964), 383 – 392 (390).  Vgl. Berger, Formen 154. Darüber hinaus benennt Berger, Formen 157– 159 kleinere symbuleutische Argumentationsformen in c.14. Auch Anklänge an hellenistische Vereinssatzungen (272 f) verorten c.14 in der Symbuleutik.

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menhang οἰκοδομή („Erbauung“: v.3.5.12.26) bzw. οἰκοδομεῖν („erbauen“: v.4 [bis].17). Nach 8,1 zeigt sich das Wesen der ἀγάπη darin, dass sie die οἰκοδομή bewirkt. Damit ist eine inhaltliche Verzahnung dieses Kapitels mit c.13 gegeben.¹²¹ Nach den Aussagen von c.14 geschieht Erbauung durch Prophetie (v.3 f). Die Erbauung, die Paulus dabei im Sinn hat, ist nicht die Selbsterbauung (v.4a), sondern vielmehr die gegenseitige Erbauung, d. h. die Erbauung der Gemeinde (v.4b). Nicht sich selbst, sondern andere in den Blick zu nehmen, entspricht dem Wesen der Liebe (13,5).¹²² Neben der Erbauung bzw. noch dazu trägt die Prophetie zur Ermunterung (παράκλησις) und zum (Gut‐)Zusprechen (παραμυθία) bei (14,3), sowie zum Lernen göttlicher Dinge (v.31). Die Prophetie gehört zu den χαρίσματα (12,10) und muss wie alle Gaben c.13 zufolge unter den Primat der Liebe gestellt sein, um dauerhaft bzw. überhaupt sinnvoll zu sein. Paulus stellt dabei das Prophezeien noch über die Zungenrede und erklärt es mit einem betonten θέλω zum erstrebenswerten Ziel der Gemeinde (v.5a). Zwar könne auch die Zungenrede zur Erbauung der Gemeindeglieder beitragen; jedoch sei sie immer auf einen Übersetzer angewiesen, um nicht bloß den Glossolalen selbst, sondern auch die anderen zu erbauen (v.5b). Dies erläutert Paulus über eine Rede in der Ich-Form (v.6 – 19). Das Ich innerhalb von 14,6 – 19 wird von einigen Exegeten als zweigeteilt verstanden. So sieht Zeller in v.6.11.14 f ein „exemplarische[s] Ich“¹²³, das in v.18 f von dem persönlichen Ich des Paulus abgelöst werde.¹²⁴ Dodd sieht dagegen den Funktionswechsel des Ichs zwischen v.6.11.14 und v.15.18 f: Zunächst fungiere das Ich als hypothetisches negatives Beispiel, dann stehe es für Paulus selbst, der ein Vorbild abliefert.¹²⁵ Für diese Arbeit interessieren die Selbstdarstellung des Apostels und deren Funktion. Insofern muss zunächst überprüft werden, ob das auftauchende Ich auf Paulus gedeutet werden kann. Das Ich präsentiert sich zunächst in drei eventualen Konditionalsätzen (v.6.11.14), unterbrochen von weiteren Ausführungen. Die Konditionalsätze beschreiben je einen speziellen Fall bezüglich des Ich und die mögliche bzw. eintreffende Folge dessen. Der Form nach gleichen sie damit den Konditionalsätzen in 13,1– 3.¹²⁶

 Vgl. Zeller, Brief 421.  Vgl. Johansson, „Cor“ 390.  Zeller, Brief 423.  Vgl. ebd.  Vgl. Dodd, ‚I‘ 124 f.  Insofern ist Zeller inkonsequent und inkonsistent, 13,1– 3 konjunktivisch zu übersetzen (Brief 407), 14,6.11.14 hingegen indikativisch (a.a.O. 422).

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Kapitel 11 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 12,1 – 14,40

Die erste Aussage (v.6) geschieht in der Form einer negativ zu beantwortenden rhetorischen Frage. Sie stellt den Fall auf, dass das Ich sich als zungenredend in der Gemeinde präsentiert. Dies habe zur Folge, dass das Ich ohne Nutzen für die Korinther ist. Ein Nutzen für die Gemeinde ergebe sich erst durch das wahlweise Sprechen des Ich in Offenbarung, Erkenntnis, Prophezeiung oder Lehre. Textstrukturell wird das Ich den Korinthern gegenüberstellt. Dadurch dass die Korinther in v.6 innerhalb der Ich-Rede direkt angeredet werden (ὑμᾶς, ὑμῖν), erscheint die Annahme, dass Paulus mit dem Ich auch wirklich sich selbst meint und kein rhetorisches Ich vorschiebt, logisch. Auf der Inhaltsebene wird eine Abwertung der Glossolalie vorgenommen: Der Gemeinde von Nutzen sei der Apostel erst, wenn er die vier genannten anderen Redeformen und eben nicht das Zungenreden verwende. Die Gaben der Erkenntnis (γνῶσις) und Prophetie (προφητεία) zu besitzen, hatte Paulus über sich bereits in 13,2 ausgesagt. Nun treten noch die Charismen der Offenbarung (ἀποκαλύψις) und Lehre (διδαχή) hinzu. Darauf, dass Paulus über Offenbarungen verfügt, weisen innerbrieflich 1Kor 2,10 und außerbrieflich 2Kor 12,7 sowie Gal 2,2 hin, und auf sein eigenes Lehren verweist er in 1Kor 4,17 sowie in 12,31. Alle angeführten Gaben sind also auch Paulus zu eigen. Zudem erfolgt mit 14,7 f wie bereits in 1Kor 13,1 ein Vergleich¹²⁷ des glossolalierenden Ich mit klingenden Musikinstrumenten, deren reine Töne aber keinen ‚Mehrwert‘ für andere Zuhörer erbringen, was c.13 und 14 an sich,¹²⁸ zudem aber die darin vorkommenden Ichs noch enger aneinander bindet.¹²⁹ Das Ich in 14,6 ist also sowohl in textstruktureller wie auch inhaltlicher Hinsicht gleichzusetzen mit dem brieflichen Ich des Paulus.¹³⁰ Inwiefern dies auch für die anderen beiden Konditionalsätze gilt, zeigt sich sogleich. Nachdem er die Feststellung, dass sinnvolles Reden nicht in (unübersetzter) Glossolalie möglich ist, auf die Korinther übertragen hat (v.9: οὕτως καὶ ὑμεῖς), vertieft Paulus mit v.10 diesen Aspekt des Zungenredens, indem er die Vielfalt der Sprachen in der Welt einbringt. So kommt er zur zweiten eventualen Ich-Aussage (v.11): „Wenn ich also nicht die Bedeutung einer Sprache kenne, werde ich dem Sprecher ein Barbar sein und der Sprecher für mich ein Barbar.“ Dies endet mit

 Genaugenommen stellt nur 14,7 einen Vergleich her (ὅμως). Die Aussage in 13,1 ist eine Metapher. Zu ὅμως in der Bedeutung ‚gleichfalls/auchʻ vgl. J. Jeremias, „ΟΜΩΣ (I Cor 14,7; Gal 3,15),“ in: ZNW 52 (1961), 127– 128; R. Keydell, „ΟΜΩΣ,“ in: ZNW 54 (1963), 145 – 146.  Vgl. Johansson, „Cor“ 390 f.  Auffällig ist in dieser Hinsicht auch die gleiche Struktur der Sätze als Konditionalsätze mit ἔαν. (13,1– 3; 14,6 – 9).  Damit ist nicht ausgeschlossen, dass Paulus hier einen hypothetischen Fall verhandelt. Aber das Hypothetische liegt nicht in der Zeichnung seiner Eigenschaften, sondern in der Zeichnung seines Verhaltens angesichts dieser Eigenschaften.

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einer erneuten Übertragung auf die Korinther (οὕτως καὶ ὑμεῖς) und dem Aufruf, zur Erbauung der Gemeinde – und d. h. im Geist der auf den Nächsten bedachten Liebe – die geistigen Gaben anzustreben (v.12, vgl. v.1). Diese Ich-Aussage beinhaltet die allgemein menschliche Erfahrung der Verständigungsschwierigkeiten bei unterschiedlichen Sprachen. Da wieder eine Gegenüberstellung des Ich zu den Korinthern erfolgt, ist hier erneut von dem persönlichen Ich des Paulus auszugehen. Darin kommt zum Ausdruck, dass der Apostel sich allen Menschen, selbst Barbaren, verständlich machen möchte.¹³¹ Es schließt sich die auffordernde Folgerung (διό) an, der Glossolale solle dafür beten, dass er seine Zungenrede auch übersetzen kann. Zur (begründenden)¹³² Ausführung folgt der dritte Konditionalsatz in Ich-Form (v.14), an den sich sogleich eine persönliche Erklärung anschließt (v.15): „Wenn ich mit Zunge[nrede] bete, betet mein Geist, mein Verstand aber ist fruchtlos. Was also heißt das? Ich werde beten mit dem Geist, ich werde aber auch beten mit dem Verstand. Ich werde lobsingen mit dem Geist, ich werde aber auch lobsingen mit dem Verstand.“ Direkt im Anschluss folgt eine Anrede in der 2.P.Sg. (v.16 f). Dies ist stilisierte Diatribensprache und als Hinweis darauf zu nehmen, dass auch die vorhergehenden Sätze stilisiert, d. h. auf ein typisches Ich zugeschnitten waren. In der Anrede wirft er dem glossolalierenden Individuum vor, durch die Konzentration nur auf sich selbst den anderen Gläubigen aus dem Blick zu verlieren. Gerade dies aber verhindere, dass er erbaut werde (v.17). Auch wenn die Aussagen über das Ich in v.14 f stilisiert sind, beruhen sie doch auf persönlichen Erfahrungen des Paulus, wie in dem Dank an Gott (v.18) deutlich wird: Paulus sei ein größerer Zungenredner als alle Korinther zusammen. In v.19 formuliert er jedoch den Vorsatz, lieber fünf Worte mit seinem Verstand zu sprechen als tausend Worte in der Zungenrede. Dies wolle er tun, um andere zu unterrichten (κατηχήσω). Hier wird erneut ein didaktischer und pädagogischer Anspruch in der Arbeit des Apostels deutlich (vgl. v.6 und 12,31).¹³³

 Dabei mag der Gebrauch des Prädikatsnomens βάρβαρος auch als Spitze gegen die Korinther verstanden werden, die sich – gerade in einer kulturell nicht unbedeutsamen Stadt wie Korinth – mit ihrer Glossolalie sicherlich nicht zu den tumben und stammelnden (denn das meint der lautmalerische Ausdruck βάρβαρος!) Völkern an der Peripherie des Reiches gezählt wissen wollen.  Das γάρ in 14,14 ist textkritisch unsicher: p46 sowie etwa B, F, G führen es nicht, wohingegen es etwa ‫א‬, A, D (ergänzt), K, L, P und der Mehrheitstext haben. Jedoch auch ohne γάρ lässt sich der Satz explizierend deuten.  Wahrscheinlich bildet bereits hier in 14,19 (sowie im Gesamtkapitel) der Kontext um das in v.21 folgende Zitat aus Jes 28,11 f (neben den Anspielungen auf Jes 45,14 und auf Dan 2,46 f und deren jeweiligen Kontext in 1Kor 14,24 f) den Vorstellungshintergrund, vgl. Wilk, Bedeutung 226 – 230.331– 333.

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Kapitel 11 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 12,1 – 14,40

Paulus stellt sich in c.14, das der Beratung verpflichtet ist, als erfahrenen Zungenredner dar. Seine große Gabe will er aber einschränken, weil er erst dadurch zur Erbauung der Gemeinde beitragen kann, dass alle Gemeindeglieder verstehen,was in der Glossolalie eigentlich gesagt wird. Die Zungenrede wird nicht abgelehnt, aber in die neuen Bahnen des Verstandes und der Übersetzung gelenkt. Paulus steht damit als überlegter Kopf da, der sich nicht vom Rausch der pneumatischen Erfahrung komplett überwältigen lässt, sondern sein Ziel nicht aus den Augen verliert: den Nächsten in der Gemeinde zu erbauen und dessen Bedürfnisse zu stillen. Damit entspricht er dem von ihm zuvor in c.13 aufgestellten Ideal der ἀγάπη.

4.2 Die Ich-Aussage in 1Kor 14,37 Zum Ende von 1Kor 14, wo auch der Themenkomplex von c.12– 14 abgeschlossen wird, spricht Paulus dann erneut in der 1.P.Sg. (v.37). Zuvor hatte er Anweisungen für die Ordnung in der Gemeindeversammlung und darin speziell das Prophezeien gegeben (v.26 – 36). Nun bekräftigt er angesichts des Anspruchs einiger Gemeindeglieder auf die Gabe der Prophetie oder andere Geistesgaben, dass seine schriftlichen Äußerungen an die Korinther ein Gebot des Herrn selbst sind. Wer dies nicht anerkenne, werde selbst nicht anerkannt.¹³⁴ Hier gibt sich Paulus einmal mehr als direkt vom Herrn beauftragter Apostel zu erkennen, dessen Wort keinen Widerspruch duldet. Diese Rückversicherung erscheint gerade angesichts der enthusiastischen Tendenzen in Korinth angebracht: Wenn etliche sich auf die Gabe der Prophetie berufen, die Paulus ja eindeutig gefördert wissen will (14,5.39), muss es über die gerade von ihm aufgestellten Regeln (14,26 – 30[34 f]) hinaus eine Instanz geben, die verhindert, dass in den Prophetien eine von Paulus völlig abweichende Meinung auftritt. Durch die Rangordnung der Ämter (12,28) ist bereits eine gewisse Hierarchie und Ordnung der Dinge vorgegeben. Dies kann aber noch nicht reichen. Daher ist die letztgültige Instanz der Herr selbst, der wiederum direkt in den Worten und Briefen (v.37: γράφω) des Paulus aufscheint. Tatsächlich ist mit der Berufung auf den Herrn und mit dem Pochen auf die apostolische Autorität das Ende des eigentlichen Überzeugungsaktes erreicht.¹³⁵ Erst derart abgesichert kann Paulus an seiner Person

 Dass hier ein passivum divinum und damit ein Fluch vorliegt, erscheint zweifelhaft, vgl. Zeller, Brief 448.  Witherington, Conflict 289: „Commanding can only be a last resort when one uses rhetoric.“

5 Zusammenfassung der Exegese

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verdeutlichen, wie ein nach dem Vorbild der ἀγάπη geordnetes Leben in der Gemeinde aussehen soll.

5 Zusammenfassung der Exegese Paulus stellt sich in 1Kor 12– 14 in außergewöhnlicher Weise dar. Das in diesen Kapiteln vorkommende Das in diesen Kapiteln vorkommende Ich erscheint jeweils als konkreter Selbsthinweis des Apostels. Damit spricht er nicht bloß an den verschiedenen Stellen in c.14 direkt von und über sich selbst im Gegenüber zu den Korinthern, sondern auch in c.13 beschreibt Paulus kein abstraktes oder gar hypothetisches Ich als vielmehr sich selbst. Die ausführliche Darstellung seines Wesens bzw. seiner Persönlichkeit im ‚Hohelied der Liebeʻ im Rahmen einer epideiktischen Ausführung hat dabei einen pädagogischen bzw. symbuleutischen Effekt: Anhand seines Charakters sollen die Korinther lernen, in rechter Weise mit ihren Charismata umzugehen. Diese ‚rechte Weiseʻ bestimmt sich aus dem Wesen der Liebe. Was aber bestimmt das Wesen der Liebe? In einer kurzen Studie vertritt Nils Johansson die These, dass für (fast) jede Erwähnung der Liebe in den paulinischen Briefen der Name Christus eingesetzt werden kann und insofern in 1Kor 13 unter der Chiffre ‚Liebeʻ Christus und sein Werk beschrieben werden.¹³⁶ Dies betrifft dann v. a. die v.4– 8a. Unter dieser Annahme bildet also Jesus Christus selbst mit seinem Wesen und Wirken den Hintergrund für das Wesen der Liebe, ohne dass sein Name in c.13 Erwähnung findet.¹³⁷ C.13 bietet damit Christologie, ohne den Christus namentlich zu benennen. Umso wichtiger erscheint in dieser Hinsicht der Hinweis auf die irdische Seinsweise Jesu, die in der Bezeichnung κύριος Ἰησοῦς (12,3) gleich zu Beginn des Abschnitts c.12– 14 betont wird und als Bekenntnis das Wirken des Geistes in einem jeden Christusgläubigen andeutet.¹³⁸ Die Charismata als Wirkungen dieses einen Geistes sind immer schon auf den Herrn Jesus bezogen und verlangen daher ein jesusgemäßes Verhalten, also ἀγάπη. Daneben ist aber  Vgl. Johansson, „Cor“ 386 f. Zudem Sanders, „Corinthians“ 187: „Paul is saying to the Corinthians that God is love – but the subject of that sentence is love.“ Gegenüber Sanders halte ich allerdings Johansson in der Übertragung der Liebesbeschreibung in 1Kor 13 auf Jesus Christus (anstatt bloß irgendwie auf Gott) für wegweisender.  Tatsächlich geht Paulus in c.12– 14 sehr sparsam mit dem Verweis auf Jesus Christus um. Erwähnt wird er lediglich in 12,3 (Jesus); 12,12.27 (Christus); 12,5; 14,21.37 (der Herr + 12,3).  Dabei ist nicht zu vergessen, dass die ‚irdische Seinsweiseʻ Jesu mit seiner Kreuzigung endet. Am Kreuz wird die Liebe zu ihrem höchsten Akt geführt. Insoweit bleibt Paulus bei seiner Überzeugung zu Beginn der korinthischen Mission, nämlich Jesus Christus nur als den Gekreuzigten zu kennen (2,2) und zu verkünden (1,23).

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Kapitel 11 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 12,1 – 14,40

auch die Vorstellung der Gemeinde als Leib Christi, dessen Glieder füreinander da sind und aufeinander bezogen sind, wichtig. Paulus schließt sich mittels seines Ich in c.13 gleichsam an die Liebe an. Wie oben gezeigt beschreiben die v.4– 7 Verhaltensweisen, die in positiver Weise auf den Apostel, in negativer Weise aber auf die Korinther zutreffen. Somit dienen diese Verse nicht allein der abstrakten Darstellung der Liebe (und auch nicht der Darstellung des Christus allein), sondern ebenso der Selbstdarstellung des Apostels. Dabei wird deutlich, dass Paulus in seinem Verhalten sich völlig an das des Christus Jesus anpasst bzw. dieses nachahmt. Paulus selbst proklamierte kurz zuvor im Brief, dass er ein Nachahmer des Christus ist (11,1). Überhaupt besteht eine besonders enge Verbindung zwischen Jesus Christus und seinem Apostel, die auch abseits ihres Verhaltens bzw. ihres Charakters deutlich wird, insofern Paulus seinen schriftlichen Anweisungen den Status eines Gebots des Herrn zuweist (14,37). Die Verbindung des Apostels zu seinem Herrn sowie seine Vorbildfunktion werden verfestigt durch die Ordnung, die Paulus in 12,28 aufstellt und derzufolge die Apostel den ersten Platz in der Kirche einnehmen. Es ergibt sich damit zwar ein autoritatives Gefälle zwischen dem Apostel und seiner Gemeinde, das aber dadurch wieder eine gewisse Einebnung erfährt, dass das Verhalten des Paulus und damit das Verhältnis zu den Korinthern und allen anderen Christusgläubigen durch ἀγάπη bestimmt ist. Da diese Liebe immer den Nächsten im Blick hat und nicht einen selbst, ergibt sich die Selbstdarstellung des Paulus als die eines liebevollen Patriarchen.¹³⁹ Die Eigenschaften, die Paulus für sich in Anspruch nimmt – Glossolalie, Prophetie, Geheimniskunde, Erkenntnis, Glaube, Opferbereitschaft – sind zwar im Gegensatz zu denen der Korinther übersteigert, ihnen im Kern aber nicht unbekannt. Paulus erscheint damit wie einer der Korinther, bloß auf einem höheren ‚Levelʻ. Damit ergeben sich viele Anknüpfungspunkte an die korinthischen Gemeindeglieder. Der quantitative Vorsprung bezüglich der Charismata berechtigt den Apostel dazu, den Korinthern Ratschläge hinsichtlich der Geistesgaben zu geben. Erst aus diesem Vorsprung heraus kann Paulus seine relativierende Argumentation über die Charismata angehen, die in der Propagierung der Liebe als höchstem Wert innerhalb der christusgläubigen Gemeinschaft gipfelt. Insgesamt bildet c.13 die argumentative Basis für die Anordnungen des Apostels bezüglich der Gemeindeversammlungen und insbesondere den Umgang

 Vgl. zum Begriff ‚Liebespatriarchalismusʻ Theißen, „Schichtung“ 269 – 272 – freilich in der Anwendung auf soziale Unterschiede, so wie er ursprünglich auch von dessen Urheber E. Troeltsch (Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Neudruck der Ausgabe Tübingen 1912 (UTB 1811 & 1812), Tübingen 1994, 67– 83, wo einfach vom ‚christlichen Patriarchalismusʻ die Rede ist) benutzt wird.

6 Fazit

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mit den Geistesgaben dabei. An seinem Beispiel, das in völliger Deckung zum Wesen des Christus steht, können die Korinther ablesen, wie ein Leben in Liebe gestaltet ist. Tatsächlich können sie daran sehen, dass die Existenz des Apostels, die durch die aus Gottes Gnade ermöglichten Eigenschaften (Glossolalie, Wundertaten, Leidensbereitschaft) erhaben ist, ins Leere liefe, wäre sein Leben nicht gänzlich durch die Liebe, und das ist Christus, bestimmt. Die Epideiktik von c.13 stellt sich damit ganz in den Dienst der Symbuleutik der umliegenden Kapitel, besonders aber von c.14.

6 Fazit Es ist lange erkannt, dass c.13 ein Stück weisheitlicher Dichtung darstellt.¹⁴⁰ Paulus steht dabei hier wie auch sonst an der Schnittstelle zwischen jüdischer und griechischer Tradition. Dies wird aus den religionsgeschichtlichen Parallelen zu 1Kor 13 ersichtlich: Die paganen Aretalogien liefern das Vorbild.¹⁴¹ Das hellenistische Judentum adaptiert in diesem Zusammenhang griechische Motive und transformiert sie stilistisch in die Tradition der jüdischen Weisheit.¹⁴² Hans Conzelmann sieht im Fehlen expliziter Christologie in 1Kor 13 einen Hinweis auf die jüdisch-hellenistische Schulbildung des Paulus: Da Christologie in Verbindung mit einer Liebesaretalogie in jenem Bildungskontext nicht vorgesehen war, verzichtet Paulus ebenso hier darauf; der briefliche Zusammenhang liefert schließlich entsprechende Hinweise.¹⁴³ Paulus steht mit 1Kor 13 also allein schon im Rahmen der Formgeschichte ganz im hellenistisch-jüdischen Weisheitsdiskurs.¹⁴⁴ Nun ist die Verknüpfung von Lehre und Leben des Paulus gerade in c.13 durch die betonte Formulierung in der 1.P.Sg. mit Händen zu greifen. Nicht allein mit der Form gibt sich Paulus als jemand zu erkennen, der mit dem weisheitlichen Diskurs vertraut ist. Auch inhaltlich lässt ihn die völlige Übereinstimmung von Lehre und Leben in dieser Selbstdarstellung als weise erscheinen; gerade diese Überein-

 Vgl. Conzelmann, „Paulus“ 241 f.  Vgl. Conzelmann, Brief 267– 269: Tyrtäus Fr. 9 (Mut als höchste Tugend); Plato Symposion 197C–D (Lob auf den Eros); Maximus von Tyrus 20,2 (Lob auf den Eros).  Vgl. Conzelmann, Brief 266. Beispiele dazu sind 3Esr 4,43 – 40 (Lob auf die Wahrheit); SapSal 7,22– 8,1 (Lob auf die Weisheit); Sir 24 (‚Hoheliedʻ der Weisheit).  Vgl. Conzelmann, Brief 269 f.  Zu seinem Umgang mit bzw. Umbau der jüdisch-hellenistischen Begrifflichkeiten Glaube, Liebe und Hoffnung vgl. O. Wischmeyer, „Traditionsgeschichtliche Untersuchung der paulinischen Aussagen über die Liebe (ἀγαπή),“ in: ZNW 74 (1983), 222– 236.

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Kapitel 11 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 12,1 – 14,40

stimmung stellt ja ein particular des westlichen Weisen-Modells dar. Die einzelnen Qualitäten schärfen dieses Profil noch, wenngleich in Richtung der Sakralisierung: Glossolalie, Prophetie, Geheimniskunde, Opferbereitschaft. Dies sind v. a. Qualitäten des Numinosen bzw. des Heiligen. Seine religiöse Befähigung verdeutlicht Paulus in c.14 mit der Betonung seiner eigenen hervorragenden Glossolalie und schließlich nicht zuletzt an seinem Gebrauch der Schrift (Schriftbelege in v.21.25).¹⁴⁵ Genaue Schriftkenntnis bildet nach dem (alt‐)orientalischen Verständnis des Weisen – und so auch nach Josephus –das entscheidende Kennzeichen des jüdischen Weisen, ist aber generell eine Bedingung des hellenistischjüdischen Weisen. Durch seine Bindung an die Schrift steht Paulus damit ebenfalls in der hellenistisch-jüdischen Weisheitstradition. Alles in allem wird auch in 1Kor 12– 14 deutlich, dass Paulus sich selbst in der rhetorischen persona des Weisen gegenüber den Korinthern präsentiert. Wenngleich er aufgrund der speziellen Gnade Gottes, die ihm widerfahren ist, nicht in allen Punkten nachgeahmt werden kann, erscheint Paulus dennoch als Vorbild und Beispiel für die Gemeinde, die in ihren Teilen je für sich ebenfalls durch Gott mit speziellen Gaben begnadet ist. In Paulus als einem Beispiels-Weisen zeigt sich konkret das liebevolle Wesen Jesu Christi, das die Grundlage des gemeindlichen Verhaltens bilden soll.

 Vgl. Wilk, Bedeutung 49 f.105 – 112.331– 333.

Kapitel 12 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 15 1 Zum Aufbau von 1Kor 15 Nachdem Paulus in den vorangegangenen Kapiteln des Briefes verschiedene Themen betreffs der rechten Lebens- und Verhaltensweise behandelt hat, kommt er in 1Kor 15 auf ‚sein Evangeliumʻ (15,1) zu sprechen. Es war in Korinth zu einer Absetzbewegung einiger Gemeindeglieder bezüglich der Auferstehungsbotschaft gekommen, worauf der Apostel nun reagiert.¹ Das gesamte Kapitel bildet dabei eine Sinneinheit.² Eine innere Unterteilung lässt sich anhand inhaltlicher wie auch formaler Kriterien vornehmen.³ Das Kapitel zerfällt demnach in vier Teile:⁴ a) v.1– 11 Paulus’ Paradosis des Auferstehungsevangeliums, b) v.12 – 34 Beweisführung zum ‚Dassʻ (v.12: ἔστιν) der Auferstehung c) v.35 – 49 Beweisführung zum ‚Wieʻ (v.35: πῶς) der Auferstehung d) v.50 – 58 Schlussteil mit eschatologischem Geheimnis (v.51 f: μυστήριον)  Vermutlich lag dies weder an einem eschatologischen Enthusiasmus, vgl. etwa Thiselton, „Eschatology“ 510 – 526; J. H. Wilson, „The Corinthians Who Say There Is No Resurrection of the Dead,“ in: ZNW 59 (1968), 90 – 107, noch an einem uneschatologischen Spiritualismus der Korinther, vgl. etwa Horsley, „Some“ 229 – 231; G. Sellin, „‚Die Auferstehung ist schon geschehen‘. Zur Spiritualisierung apokalyptischer Terminologie im Neuen Testament,“ in: NT 25 (1983), 220 – 237, sondern an ihrer paganen ‚Durchschnittsmentalitätʻ, vgl. Zeller, Brief 456 – 459; Arzt-Grabner, et al., Korinther 473 f. Zur Lektüre bezüglich dieser (römisch) paganen Mentalität empfiehlt sich Plin.nat. 7,55. Darin verurteilt Plinius sämtliche Vorstellung über ein Leben nach dem Tode als Aberglauben, ja mehr noch als Wahnsinn („dementia“). Sicherlich ist dies die Sicht eines gelehrten Aristokraten (wie ja auch die Ablehnung der Totenauferstehung auf seiten der jüdischen Religion durch den adligen Stand der Sadduzäer propagiert wurde,vgl. Mk 12,18 par.). Gleichwohl zeigt sich diese Einstellung bei Plinius eben als bei jemandem, der von sich behauptet, die Welt ihrem Wesen nach erkannt zu haben, diese Erkenntnis in seinen Büchern weitergibt lehrt und entsprechend lebt – ganz wie ein Weiser.  Vgl. Merklein/Gielen, Brief III 241: „Die Kohärenz des Textes ist unumstritten“. Nach vorne ist er abgegrenzt durch den Appell 1Kor 14,40, der den vorherigen Abschnitt c.12– 14 beschließt, nach hinten markiert 16,1 mit περὶ δέ einen deutlichen Neueinsatz.  Es gibt auch zahlreiche Versuche, 1Kor 15 als ‚Miniaturredeʻ nach rhetorischen Kategorien zu gliedern, vgl. etwa die Zusammenstellungen und eigenen Ansätze bei Merklein/Gielen, Brief III 244– 248; Witherington, Conflict 291 f.  Vgl.Wilk, Bedeutung 112 f. Zeller, Brief 455 unterteilt in drei Abschnitte: v.1– 11 (Erinnerung an die Tradition); v.12– 34 (Auseinandersetzung mit der Auferstehungsleugnung); v.35 – 58 (das ‚Wieʻ der Auferweckung). Aber gerade v.50 – 58 als eigener umschlossener Teil sind vielmehr doch als Bündelung der gesamten Argumentation von c.15 zu sehen, vgl. Wilk, a.a.O. 113 f Anm. 8. DOI 10.1515/9783110498769-015

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Kapitel 12 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 15

In 15,1– 11 ruft Paulus die vergangene Überlieferung in Erinnerung und legt damit die Basis für die Argumentation in v.12– 34 zur Wahrhaftigkeit der Auferweckung. Nach der Beweisführung zum Wesen der Auferstehung in v.35– 49 bringt er abschließend in v.50 – 58 (und damit gleichsam spiegelbildlich zu v.1– 11) mit der Geheimnisverkündung neue Informationen (wenngleich keine neue Paradosis) vor. Für meine Arbeit sind zunächst besonders die Teile a) und b) interessant, da Paulus dort an zwei Stellen von sich in der Vergangenheit spricht und den Korinthern Ausschnitte aus seiner Lebensgeschichte vorträgt. Dabei bleibt aber der Gesamtzusammenhang des Kapitels im Blick. Zunächst behandele ich 1Kor 15,1– 11.

2 1Kor 15,1 – 11: Paulus, der letzte Zeuge Paulus leitet 1Kor 15 mit einer variierten⁵ Disclosure-Formel ein, die auf sein Evangelium verweist (v.1a: γνωρίζω δὲ ὑμῖν/„ich lasse euch wissen“). Er erinnert die Korinther an ihre Bereitwilligkeit, mit der sie seine Frohbotschaft aufgenommen haben und weiterhin fest in ihr stehen (v.1b–2)⁶ – auch wenn sich im weiteren Verlauf erweist, dass dies gerade nicht der Fall ist, zumindest bei einigen (v.12.34: τινες) in der Gemeinde. Insofern kommt ἑστήκατε, das ein präsentisches Perfekt ist („ihr habt euch fest hingestellt“ = „ihr steht fest“),⁷ wahrscheinlich die Funktion einer captatio benevolentiae zu: Die Korinther sollen vor der folgenden, noch verborgenen Kritik aufnahmebereit gestimmt werden. Passend zu diesem Kompliment ist die geschwisterliche Anrede in v.1, die eine enge, familiäre Verbundenheit zwischen Apostel und Gemeinde ausdrückt.⁸ Es folgt in v.3b–7 die Wiedergabe der Auferstehungstradition.⁹ Dieser Inhalt, nämlich die reine Information über die Auferweckung und Sichtungen des

 Variiert ist diese Enthüllungsformel deshalb, da θέλω, was normalerweise dazugehört, fehlt und das noetische Verb im Infinitiv durch die finite Form γνωρίζω ersetzt ist; vgl. zur Reinform Mullins, Disclosure 50.  Zu den verschiedenen Verstehens- und Übersetzungsmöglichkeiten von v.2 vgl. Conzelmann, Brief 301 Anm. 4.  Vgl. Merklein/Gielen, Brief III 258; Wolff, Brief 354.  Überhaupt ist 1Kor 15,1– 11 vor dem Hintergrund zu lesen, dass Paulus sich über die Glaubensüberzeugungen der Korinther nicht sicher ist und deshalb auf ihnen Altbekanntes und Vertrautes zurückgreift. Der ganze Passus ist geprägt von der doppelten Perspektive Übereinstimmung vs. Ungewissheit, vgl. W. Coppins, „Doing Justice to the Two Perspectives of 1 Corinthians 15:1– 11,“ in: Neotest. 44 (2010), 282– 291.  Zur Kontroverse über den Umfang bzw. die Zusammensetzung dieser Tradition vgl. Merklein/ Gielen, Brief III 261– 266.

2 1Kor 15,1 – 11: Paulus, der letzte Zeuge

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Christus,¹⁰ wie auch formale Elemente (v.1: γνωρίζω, v.3: παραδίδωμι) lassen zunächst auf einen beratenden Charakter von c.15 schließen. Jedoch hat Paulus an die Auferstehungstradition in v.8 einen eigenen Schluss gefügt, der auf ihn selbst als Beispiel verweist (κἀμοί) und meiner Meinung nach dem Abschnitt eine besondere Prägung verschafft. 1973 stellte Peter von der Osten-Sacken die These auf, bei 1Kor 15,1– 11 handele es sich um eine Apologie des paulinischen Apostolats.¹¹ Dies machte er an dem „polemisch-apologetischen Ton der Apostolatsaussagen“ (248) und an der „scharfe[n] Bemerkung ‚ich habe mehr als sie alle gearbeitetʻ“ (249) fest.¹² Da Evangelium und Apostolat untrennbar zusammengehörten, sei es für Paulus notwendig, zuerst in v.1– 11 seine Legitimität zur Verkündigung gegenüber den korinthischen Auferstehungsleugnern zu verteidigen und zu behaupten, um dann in v.12 ff das Evangelium der Auferstehung auszubreiten. Nach den aristotelischen

 Die ‚reine Informationʻ darf aber nicht in historistischer Weise missverstanden werden. Es geht Paulus hier nicht primär um einen lückenlosen Nachweis aller Auferstehungszeugen. Vielmehr weist er bereits mit dem Hinweis auf den Tod einiger Christusvisionäre (v.6) auf den zu vernachlässigenden Umstand des Todes hin, damit aber auch auf die Evidenz und Wichtigkeit der Auferweckung Jesu. Gerade weil Christus auferweckt wurde, gehen die Entschlafenen nicht verloren (v.18), sondern können entspannt den Tod – als vorübergehenden Zustand – annehmen. Ähnlich Bartsch, „Argumentation“ 272 f, der bei den Korinthern die Vorstellung annimmt, allein der Glaube an die Erscheinungen Christi verleihe Unsterblichkeit; Conzelmann, Brief 313; vorsichtiger Merklein/Gielen, Brief III 284 f; ablehnend Wolff, Brief 371 f (wegen der Bemerkung, die meisten lebten noch).  Vgl. P. v.d. Osten-Sacken, „Die Apologie des paulinischen Apostolats in 1 Kor 15 1– 11,“ in: ZNW 64 (1973), 245 – 262. In seinem Gefolge hat Gerd Lüdemann geschlossen, dass die Kephas-Partei „der Träger des Antipaulinismus in Korinth“ gewesen sei, vgl. G. Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel. Band II: Antipaulinismus im frühen Christentum (FRLANT 130), Göttingen 1983, 123.  Auch für W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 1.Kor 15,1 – 16,24 (EKK 7/4), Zürich/ Braunschweig/ Benziger/ Neukirchen-Vluyn 2001, 66 ist „ein apologetischer Ton unüberhörbar“. Dennoch überwiegen für ihn im Gesamtkapitel symbuleutische Momente, vgl. a.a.O. 10. Wahrscheinlich lesen die Vertreter eines apologetischen Grundtons in 1Kor 15,1– 11 die feindselige Stimmung aus 2Kor 11,23 (ἐν κόποις περισσοτέρως / „[Ich bin] an Mühen reicher [als die ‚Überapostelʻ]“) hier hinein (1Kor 15,8: περισσότερον αὐτῶν πάντων ἐκοπίασα / „mehr als sie alle habe ich mich abgemüht“). Dort geht es tatsächlich um einen kämpferischen Vergleich, der die konkurrierenden ‚Überapostelʻ ausstechen soll. Die Schreibsituationen von 1Kor und 2Kor sind aber grundsätzlich verschieden.Von einem Streit um die Legitimität des paulinischen Apostolats, der in eine Art Wettbewerb mit anderen Missionaren ausartet, kann in 1Kor gar keine Rede sein. Das Gegenteil ist der Fall, wie die Argumentation des Paulus bezüglich Apollos zeigt, die einen Wettbewerb vermeiden will (1Kor 3,5.22 f).

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Kapitel 12 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 15

Kategorien wäre 1Kor 15,1– 11 mitsamt den paulinischen Selbstaussagen als Verteidigung demnach dem genus iudicale zuzuordnen.¹³ Ebenso kommt Johannes Schoon-Janßen in seinem Buch über „Umstrittene ‚Apologienʻ in den Paulus-Briefen“ (1991) zu dem Schluss, dass in 1Kor 15,1– 11 eine unumstrittene solche vorliegt, da Paulus wie in der Apologie 1Kor 9 nach dem Schema argumentiert, er habe zunächst den Herrn gesehen und danach erfolgreich in seinem Auftrag missioniert.¹⁴ Weiterhin macht Schoon-Janßen auf die Parallele von 1Kor 15,9 f zu Gal 1,13 – 16a aufmerksam.¹⁵ Letztendlich aber basiert diese dikanische Sichtweise (wie auch die Osten-Sackens) auf dem völlig subjektiven Eindruck, Paulus schreibe hier eben polemisch. Neben dem Verständnis von 1Kor 15(,1– 11) als Apologie und damit dem genus iudicale zugehörig gibt es auch die Deutung des gesamten Kapitels als deliberativ. Margaret Mitchell sieht in dem gesamten 1Kor einen symbuleutischen Brief und erklärt das gesamte Kapitel zu einem Beweisabschnitt innerhalb der von ihr ermittelten probatio 1,18 – 15,57.¹⁶ Ebenso liest Duane F. Watson (1993) 1Kor 15 als deliberativen Text, dabei jedoch als eigenständige Einheit innerhalb des Gesamtbriefes.¹⁷ Die Selbstaussagen des Paulus’ sehen beide entsprechend beratend, sei es als Beispiel und Vorbild für die rechte Lebensweise¹⁸ oder zur Stei Was bei Vertretern der Apologie-These auffällt, ist, dass nur v.1– 11 betrachtet werden, nicht aber das gesamte Kapitel. Dies tut zwar Bünker, Briefformular 59 – 72, kann aber leider nicht deutlich erklären, worin und gegen wen genau eigentlich die Verteidigung des Paulus besteht.  Vgl. J. Schoon-Janßen, Umstrittene „Apologien“ in den Paulusbriefen. Studien zur rhetorischen Situation des 1. Thessalonicherbriefes, des Galaterbriefes und des Philipperbriefes (GTA 45), Göttingen 1991, 115 f.  Vgl. Schoon-Janßen, Apologien 116, wobei Schoon-Janßen diese Parallele in eben dieser Versabgrenzung fälschlicherweise Osten-Sacken zuschreibt; dieser nennt nur Gal 1,13 f (a.a.O. 252). Tatsächlich vergleichbar sind an beiden Stellen nur die Vorstellung von der Verfolgung der Gemeinde Gottes durch Paulus (1Kor 15,9; Gal 1,13) und der Begnadigung durch Gott (1Kor 15,10; Gal 1,15); der gesamte Wandel und Fortschritt im Ἰουδαϊσμός fehlt in 1Kor 15.  Vgl. Mitchell, Paul 283 – 291. Dabei stelle 1Kor 15,58 den ἐπίλογος oder die Zusammenfassung des gesamten Briefes dar. Zur berechtigten Kritik daran vgl. Anderson, Theory 262.  Vgl. D. F. Watson, „Paul’s Rhetorical Strategy in 1 Corinthians 15,“ in: Porter, S. E. & Olbricht, Th.H. (Hg.), Rhetoric and the New Testament. Essays from the 1992 Heidelberg Conference (JSNT Sup. 90), Sheffield 1993, 231– 249 (233 f). Auch Watson sieht in v.8 – 11 eine apologetische Intention, diese sei aber sekundär gegenüber dem Hauptzweck dieses Abschnitts, „to increase the credibility of the narratio [= v.3 – 11 (236 f)] (whose content is the proclamation) by building up the ethos of the person of the messenger“ (238).  Für Mitchell, Paul 285 ist „the self-renouncing, self-effacing attitude displayed in 15:8 – 10 […] entirely consonant with Paul’s use of himself as the example of humility and conciliatory selfsacrifice throughout the letter.“ Grundsätzlich versteht Mitchell alle Selbstbeispiele in 1Kor (nicht nur aus Kap. 15) als Aufrufe an die Korinther, das Beispiel des Apostels in ihrem Verhalten nachzuahmen (a.a.O. 59 f).

2 1Kor 15,1 – 11: Paulus, der letzte Zeuge

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gerung der Glaubwürdigkeit der Auferstehungsaussagen.¹⁹ Beide Deutungen sehen m. E. Richtiges, vermögen aber nicht völlig zu überzeugen, da sie auf die Form der Selbstaussagen zu wenig Wert legen.²⁰ Zu Recht wird bei Vertretern der Apologie-These die Parallele von 1Kor 15,1– 11 zu Gal 1– 2 als einem weiteren (vermeintlich) apologetischen Text hervorgehoben;²¹ gerade die fast wörtliche Übereinstimmung von 1Kor 15,1 (γνωρίζω δὲ ὑμῖν, ἀδελφοί, τὸ εὐαγγέλιον ὃ εὐηγγελισάμην …/„ich will euch aber wissen lassen, Geschwister, die Heilsbotschaft, die ich überbrachte …“) und Gal 1,11 (γνωρίζω γάρ ὑμῖν, ἀδελφοί, τὸ εὐαγγέλιον τὸ εὐαγγελισθὲν ὑπ’ ἐμοῦ …/„ich will euch nämlich wissen lassen, Geschwister, die von mir überbrachte Heilsbotschaft …“) ist bemerkenswert.²² Nun hat aber George Lyons gezeigt, dass man Gal 1,10 – 2,21 gar nicht dikanisch sondern vielmehr als epideiktischen Text verstehen sollte,²³ also als einen Text, in welchem Paulus den Galatern sich selber lobend vorstellt. Paulus spreche dort in der Sprache des Enkomions. Das Enkomion ist die antike Lobrede, die über jemanden gehalten wird.²⁴ Im Rahmen des Gal als eines insgesamt symbuleutischen²⁵ Briefes diene die enkomiastische Redeweise dazu, die Adressaten bei der Beratung über ihre Zukunft anhand seines Vorbildes zu unterstützen.

 Vgl. Watson, „Strategy“ 238: „[N]ot ruling out an apologetic intent, the main purpose of this section is more likely to be to increase the credibility of the narratio [= v.3 – 11] (whose content is the proclamation) by building up the ethos of the person of the messenger.“ Paulus’ Selbstaussagen in 15,31 f übergeht Watson völlig.  Zeller, Brief 455 f hält eine Zuweisung von c.15 zur Symbuleutik für bedenklich, da es dort „in erster Linie um die Wahrheit, die rechte Gotterserkenntnis […], nicht um das Zuträgliche“ gehe. Was aber könnte für die Gemeinde zuträglicher sein als die rechte Gotteserkenntnis, die in diesem Leben und darüber hinaus Kraft und Hoffnung gibt, vermittels des von Paulus verkündeten Evangeliums und Geheimnisses? Gerade die Umsetzung der Auferstehungsbotschaft im eigenen Leben wehrt ja seiner Ansicht nach hedonistischen Trieben.  Vgl. Osten-Sacken, „Apologie“ und Schoon-Janssen, Apologien jeweils z.St.  Darauf weist Lüdemann, Paulus I 68 hin. Die Verse leiten jeweils einen neuen Abschnitt ein, eine Erkenntnis, die Lüdemann (auch in seinem Nachfolge-Band zu 1Kor 15) allerdings nicht weiter verfolgt. Hingegen charakterisiert er Gal 1,10 als „Insinuatio-Typ des Exordiums antiker Rhetorik“ (73), also als Einschmeichelung, worauf Gal 1,11 f als Überleitung zwischen Exordium und Narratio folge (ebd.). Für Sanders, Statements 337– 339 ist das übrigens ein Beweis für Paulus’ Flexibilität im Hinblick auf das autobiographische Schreiben in verschiedenen Situationen: Während in 1Kor 15,1– 3 Paulus’ Evangelium von Menschen tradiert ist, wird es in Gal 1,11 f direkt göttlich offenbart.  Vgl. Lyons, Autobiography 173 f.  Vgl. dazu Berger, Formen 401– 403.  Lyons stellt sich damit deutlich gegen Betz, „Composition“, der in Gal eine einzige Apologie sieht.

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Kapitel 12 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 15

Es lassen sich Paulus’ Selbstbeschreibungen auch in anderen Briefen anhand der Kategorien des antiken Enkomions nachzeichnen.²⁶ Öffentliches Eigenlob liegt dem antiken Menschen zwar nicht völlig fern, da es aber generell als unschicklich empfunden wird, findet es nur in Ausnahmefällen und begrenzt statt.²⁷ Entsprechende Eigenlobreden liegen daher nicht vor. Jedoch liefert das Enkomion als Lobrede auf eine Person oder eine Sache²⁸ die Kategorien, anhand derer ein antiker Mensch Lob erkennen und einordnen konnte. Doch mehr noch: Das Enkomion stellt die Kategorien bereit, anhand derer ein antiker Mensch die persona eines anderen Menschen erfassen konnte.²⁹ Somit lässt sich mittels der Kategorien des Enkomions auch einiges über die Selbstdarstellung eines Menschen ermitteln. Ich halte es für wahrscheinlich, dass in 1Kor 15,1– 11 ebenso ein weithin epideiktischer Text vorliegt.³⁰ Wie schon oben erklärt,³¹ verfügt ein Enkomion über vier Hauptmerkmale:³² a) die Herkunft des Gelobten (εὐγενεία), b) sein Aufwachsen und seine Erziehung (ἀναστροφή), c) seine Handlungsweisen und Taten (ἐπιτήδευματα καὶ πράξεις),³³ d) ein Vergleich mit anderen (σύγκρισις). Idealerweise findet sich natürlich diese chronologische Reihenfolge aller Bestandteile in einem Enkomion, was aber nicht so sein muss.³⁴ 1Kor 15,8 – 11 bietet viele enkomiastische Elemente.

 Dies tun Malina/Neyrey, Portraits 33 – 51, ohne allerdings 1Kor in den Blick zu nehmen.  Vgl. Plut.mor. 539Aff; Lyons, Autobiography 68 – 70. Hier liegt auch der Grund, warum Cicero eine (natürlich lobreiche) Autobiographie nie geschrieben hat, sondern sie höchstens in einen Dialog wie den Brutus verpackte, darüber hinaus aber immer einen Biographen bzw. Enkomiasten für sich suchte, vgl. Kurczyk, Cicero 60 – 72.  Das Enkomion fand Anwendung auf Götter, Menschen, Tiere und unbelebte Dinge, vgl. Quint.inst. 3,7,6.  Malina/Neyrey, Portraits 23: „[T]he encomium is a valuable and accessible ancient native model of personhood, rooted in an implicit theory of person, and composed by the ancients for the ancients and reflecting their ancient social system(s).“  Berger, Formen 326 bezeichnet 1Kor 15,1– 11 als ‚Apostolikonʻ, also als „kurze Selbstdarstellung des Briefstellers, insofern er Apostel ist“, in der diese mit „traditionellen systematischen Angaben über wichtige Inhalte der Botschaft“ verknüpft ist. Das Apostolikon ordnet Berger im Rahmen der übergreifenden Kategorie der Ich-Rede zu den epideiktischen Gattungen im NT. Überhaupt zählt Berger, a.a.O. 161 1Kor 15,11– 58 [ein Druckfehler? Meint Berger v.1– 58?] zu den Texten mit epideiktischer Argumentation.  S.o. Kapitel 6, 2.6.1.  Vgl. Malina/Neyrey, Portraits 24 und Berger, Formen 402.  „Da nun die πράξεις im E[nkomion] zwar nur Belege für die Tugenden, als solche jedoch unentbehrlich sind, zeigt die Lobrede ein durchgehendes biographisches Interesse“, Th. Payr, „Enkomion,“ in: RAC 5 (1962), 332– 343 (336).  Vgl. Quint.inst. 3,7,15; Payr, „Enkomion“ 337.

2 1Kor 15,1 – 11: Paulus, der letzte Zeuge

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Der Bericht über die Sichtung des Auferstandenen durch Paulus in v.8, der das Ende der langen Reihe von Augenzeugen (v.5 – 8) markiert,³⁵ stellt gleichzeitig den Beginn seiner individuellen Existenz als ein Christusgläubiger heraus. Dies entspricht somit formal dem Enkomionsbestandteil Herkunft. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Selbstbezeichnung³⁶ als ἔκτρωμα („Fehlgeburt“).³⁷ Eine Fehlgeburt gilt nach der biblischen Tradition als völlig verachtenswert.³⁸ Zwar gilt diese Aussage nur im bzw. als Vergleich (ὡσπερεί)³⁹ mit den anderen Augenzeugen, jedoch ist dies ein Hinweis darauf, wie Paulus seine Herkunft (εὐγενεία bzw. ‚δυσγένειαʻ/„schlechte Herkunft“) von den Korinthern verstanden wissen will: Für das Empfangen einer Vision des Christus war er, was die eigene Herkunft angeht, der unwahrscheinlichste Kandidat. Dabei ist es gerade die Christus-Vision, durch die sich Paulus innerhalb der gesamten Ekklesia besonders auszeichnet, denn hierin, im Sehen des Herrn Jesus als Auferstandenen, liegt ja der Grund, warum er sich überhaupt Apostel nennen kann (9,1).⁴⁰ Zudem kommt Paulus, der als letzter von allen die Vision empfing, eine besondere Stellung zu: Mit ihm endet ein entscheidender Abschnitt in der Heilsgeschichte.⁴¹ Paulus ist dadurch zum einen

 Paulus stellt sich als letzter aller Augenzeugen der Christus-Auferweckung dar (ἔσχατον δὲ πάντων / „zuallerletzt aber“), vgl. P. R. Jones, „1 Corinthians 15:8: Paul the Last Apostle,“ in: TynB 36 (1985), 3 – 34. Dieser Anspruch kann nicht überschätzt werden.  Dass hier eine Eigenbezeichnung vorliegt, meint auch Osten-Sacken, Apologie 253; Merklein/ Gielen, Brief III 289 f.  ἔκτρωμα meint tatsächlich die ‚unzeitgemäße Geburtʻ, vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 477. M.W. Mitchell, „Reexamining the ‚Aborted Apostle‘: An Exploration of Paul’s Self–Description in 1 Corinthians 15.8,“ in: JSNT 25 (2003), 469 – 485 (484 f) sieht den Bezugspunkt dieser Selbstbezeichnung in den anderen Aposteln, gegenüber denen Paulus damit sein Gefühl des Ausgesondertseins wie auch Abgelehntseins ausdrückt.Wolff, Brief 374 setzt die Verwendung dieses Begriffs in Beziehung zu Gal 1,15 und deutet dann: „Durch die Verfolgung der christlichen Gemeinde glich ich einer Fehlgeburt; denn ich hatte nicht das Leben, zu dem ich schon im Mutterleib ausersehen war; dieses habe ich erst jetzt!“  In LXX begegnet dieses Wort in Num 12,12; Hi 3,16; Qoh 6,3 – 5 (gleiche Vorstellungen: Ps 57,9; Hi 10,19; Qoh 4,3).  Auch in Num 12,12; Hi 3,16 wird es wie in 1Kor 15,8 in einem Vergleich (ὡσεί bzw. ὥσπερ) gebraucht: einmal von Mirjam ausgesagt, dann von Hiob.  Vgl. Kirk, „Apostleship“ 256 – 264, der plausibel macht, dass sich im Aposteltitel die direkte Beauftragung durch den Christus Jesus ausdrückt, wobei es gleich ist, ob dies nun zu dessen Zeit auf Erden oder nach seiner Auferweckung und Erhöhung geschieht.  Quint.inst. 3,7,16 betont, dass die Zuhörerschaft eines Enkomions v. a. die Besonderheit des zu Lobenden (sei es als des einzigen, des ersten oder als eines von wenigen, der etwas getan hat) gerne vernimmt.

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Kapitel 12 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 15

eingereiht in die autoritative Gruppe der Auferstehungszeugen, hebt sich zum anderen aber von späteren, nachfolgenden Missionaren deutlich ab.⁴² Die Begründung, warum Paulus sich mit der verachtenswerten Vorstellung als ‚Fehlgeburtʻ bezeichnet, folgt in 15,9 (γάρ), gekoppelt mit einer weiteren Begründung (διότι): Paulus sei der geringste der Apostel, ja überhaupt nicht geeignet⁴³ für dieses Amt⁴⁴, weil er Verfolger der Gemeinde gewesen sei. Das Verfolgen der Gemeinde gehört, obwohl es formal eine Handlung darstellt, nicht zur Enkomionskategorie der Handlungsweisen und Taten (ἐπιτήδευματα καὶ πράξεις). Vielmehr malt es die schlechte Herkunft des Apostels noch weiter aus, denn diese Tat begründet die Nicht-Eignung zum Apostolat. Es ist daher der Kategorie Herkunft zuzuschlagen.⁴⁵ In v.10 nimmt Paulus Bezug auf die Veränderung, die durch Gottes Tat, genauer durch seine Gnade (χάρις), geschehen ist. Sie erst ermögliche Paulus’ gegenwärtige Existenz (‚ich bin, was ich binʻ) und sei für seinen Missionserfolg verantwortlich. Ganz auf der Linie, dass Gott der eigentlich Lenker allen Geschehens ist, spricht Paulus hier nicht in subjektivischer Weise, sondern überlässt Gott das Feld: Seine Gnade sei nicht vergeblich gewesen. Trotz dieser deflektierenden, verschleiernden Sprache lässt sich diese Aussage der enkomiastischen Kategorie Handlungsweisen und Taten zuerkennen, denn der Erfolg der göttlichen Gnade ist ja aufs engste mit Paulus selbst verknüpft.

 Möglicherweise verbirgt sich hier eine leise Kritik an Apollos, der wahrscheinlich nicht zum Kreis der Auferstehungszeugen gehörte. Zumindest wird sein Wissen um ‚den Wegʻ von Lukas als defizitär beschrieben (Apg 18,25 f).  ἱκανός beschreibt die qualitative Eignung, so Arzt-Grabner et al., Korinther 478: „Es geht dabei darum, dass jemand ‚zur Genüge die Voraussetzungen mitbringtʻ, um etwas tun zu können.“ Vgl. auch Mt 8,8, wo der Centurio von Kapernaum Jesus den Zutritt zu seinem Haus aus Rücksicht auf die jüdischen Reinheitsgebote verweigert. Eine Übersetzung von ἱκανός mit ‚wertʻ (Lutherbibel; Einheitsübersetzung) oder ‚würdigʻ (Revidierte Elberfelder) ist völlig verfehlt.  An sich ist das καλεῖσθαι ἀπόστολος in 15,9 doppeldeutig. Zum einen kann es ‚Apostel genannt werdenʻ heißen und bezieht sich damit auf den Aposteltitel als Amtsbezeichnung; Subjekt sind dann alle Christusgläubigen, die ja in v.3 – 7.9b in Erscheinung treten. Zum anderen kann es mit ‚berufen werden zum Apostelʻ wiedergegeben werden; hier erscheint Christus als Handelnder, wie es bereits in 1,1 (‚berufener Apostelʻ) naheliegt. Allerdings wird diese zweite Deutung für 15,9 durch das präsentische εἰμί obsolet,vgl. Zeller, Brief 472 Anm. 97. Somit ist ‚Apostelʻ in 15,9 von Paulus als Ehrentitel verstanden.  Die Geburt bildet einen wichtigen chronologischen Scheidepunkt in Enkomien. Laut Quint.inst. 3,7,10 f sind in einem Enkomion erwähnenswerte Dinge, die sich auf die vorgeburtliche Zeit beziehen, das Heimatland, die Eltern und Vorfahren sowie Prophezeiungen und Orakel. Da es in 1Kor 15,8 f gleichsam um eine Neugeburt geht, kann Paulus zur Illustration auf eigene frühere Taten zurückgreifen.

2 1Kor 15,1 – 11: Paulus, der letzte Zeuge

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Paulus fährt in v.10b fort: Statt vergeblich oder erfolglos zu sein, habe Paulus sich mehr abgemüht (ἐκοπίασα) als alle anderen Apostel. Das Abmühen gehört eindeutig zu den enkomiastischen Handlungsweisen und Taten. ⁴⁶ Paulus konzediert aber sogleich, dass nicht er sondern vielmehr Gottes Gnade dies bewirkt hat. Diese Aussage erfolgt in Einklang mit dem jeremianischen Grundsatz Jer 9,22 f, den Paulus in 1Kor 1,31 verkürzt zitiert: „Wer auf etwas stolz ist, sei stolz im (Bezug auf das Wirken des) Herrn.“ Trotz der Einschränkung, dass die göttliche Gnade mit ihm (σὺν ἐμοί) am Werke war, ist diese Aussage als ein Eigenlob zu verstehen. Doch mehr noch: Durch die direkte Nebeneinanderstellung mit seinen Mitaposteln liegt zudem in v.10b ein enkomiastischer Vergleich (σύγκρισις)vor. Dies ist (gegen Osten-Sacken) keine ‚scharfe Bemerkungʻ. Es geht nicht darum, die anderen schlecht zu machen, sondern sich selbst hervorzuheben. Dass es eben um das eigene Hervorheben, aber nicht um das Schlechtmachen der anderen Augenzeugen geht, wird sogleich deutlich: In v.11 relativiert Paulus den Vergleich mit den anderen Christus-Visionären dahingehend, dass seine Verkündigung wie auch die der anderen Apostel auf der gleichen Grundlage beruhe, nämlich auf der Vision des Auferstandenen und damit auf der Wirklichkeit der Auferstehung. Die 1. Person Plural der Verbform κηρύσσομεν („wir verkünden“) bezieht sich auf Paulus und alle anderen, zuvor benannten Augenzeugen. Dass in der 1.P.Pl. die Mitarbeiter des Paulus mitgemeint sein könnten, erscheint wegen des Vordersatzes v.11a („ob nun ich oder jene“) unwahrscheinlich. Es ist ja gerade eines der Hauptanliegen Paulus’ in 1Kor 15,1– 11, dass er zusammen mit den anderen Augenzeugen wie in einer festumrissenen Gruppe wahrgenommen wird. Von daher erhält die 1.P.Pl in v.11 mit allen Auferstehungszeugen als Verkündigern ihren Bezugspunkt. Damit ist aber auch ausgeschlossen, dass mit der 1.P.Pl. in v.11 nur die Apostel gemeint sind, die in Korinth wirksam oder auch nur bekannt waren und wie Paulus selbst aufgrund ihrer Augenzeugenschaft der Auferstehung Jesu Anspruch auf den Aposteltitel erhoben, namentlich Kephas (1,12; 9,5; 15,5).⁴⁷ Das

 κοπιᾶν und κόπος als Ausdruck für mühevolles Arbeiten gebraucht Paulus geläufig zur Beschreibung seines Wirkens (1Kor 3,8; 4,12; 2Kor 6,5; 10,15; 11,23.27; Gal 4,11; 6,17; Phil 2,16; 1Th 2,9; 3,5; zudem Kol 1,29; 2Th 3,8; 1Tim 4,10), vgl. Merklein/Gielen, Brief III 291 f; Wolff, Brief 375.Was für die Papyri gilt, gilt dabei wohl auch für Paulus: „Um welche konkreten Mühen es sich handelt,wird vom Kontext bestimmt.“ (Arzt-Grabner et al., Korinther 179) Zeller, Brief 473 sieht in der Erwähnung der Mühen einen Hinweis auf das im antiken Selbstlob übliche Erwähnen der eigenen „Missgeschicke und Schwierigkeiten“.  Über Apollos (1,12) und Barnabas (9,6) ist nicht bekannt, ob sie als Augenzeugen des Auferstandenen gegolten haben bzw. diesen Anspruch erhoben. Für Barnabas erscheint dies allerdings als plausibel, insofern sich Paulus in seiner Frühzeit ihm zunächst untergeordnet hat (Vorordnung Barnabas’ vor Paulus Apg 11,30; 12,25; 13,2.7 u.ö.), was angesichts der eigenen, ihn hervortuenden Christusvision(en) durch Annahme von entsprechenden Visionen aufseiten des Barnabas eine

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Kapitel 12 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 15

Präsens von κηρύσσομεν weist auf eine allgemein gültige, universelle Aussage hin – man könnte gleichsam ergänzen: ‚zu allen Zeiten und an allen Ortenʻ –, wohingegen der Aorist von ἐπιστεύσατε („ihr habt geglaubt“) auf die spezielle Glaubensgeschichte der Korinther hinweist (‚damals in Korinthʻ).

3 1Kor 15,12 – 34: Paulus, Zeuge in Lebensgefahr Die Unterweisung der korinthischen Gemeinde in die Heilsbotschaft der Auferweckung Jesu geht nun mit dem Teil 1Kor 15,12– 34, der unter dem Thema der allgemeinen Auferstehung der Toten (v.12: ἀνάστασις νεκρῶν) steht, in eine zweite Runde. Paulus richtet sich damit gegen einige (v.12: τινες) Gemeindeglieder, die die allgemeine Auferstehung leugnen. Die zuvor zitierte und ausgeführte Auferweckungstradition liefert ihm für seine Argumentation die Basis: Der Christusglauben speist sich demnach aus der Vorstellung einer allgemeinen Auferstehung (v.13.16), wie gleichermaßen die Vorstellung der speziellen Christusauferweckung dieser ersten Vorstellung erst Hoffnung und Zuversicht verleiht (v.14.17– 20). Diese Hoffnung auf die allgemeine Auferstehung malt Paulus in einem durch eine protologischen Vergleich (v.21 f: Adam) veranlassten, eschatologischen Ausblick (v.23 – 28) aus. Daran anschließend kommt der Apostel ab v.29 auf die Situation in Korinth, aber auch seine eigene zu sprechen. In kurzen, untereinander nur lose verknüpften Sentenzen, die teilweise rhetorische Fragen sind, benennt er Verhaltensweisen, die sich allesamt auf die Hoffnung der allgemeinen Auferstehung zurückführen lassen, und liefert damit verschiedene argumenta ad hominum, die sich kontinuierlich steigern.⁴⁸ Er bedient sich dabei des Argumentationsmittels der deductio ad absurdum, also des „Nachweis[es] der Unsinnigkeit der gegnerischen Position anhand der Konsequenzen, die sich aus ihr ergeben“⁴⁹.

schlüssige Erklärung findet. Apg 11,24; 13,1 bezeichnet Barnabas wenigstens als vom heiligen Geist erfüllt bzw. als Lehrer und Propheten. Zudem wird er (gemeinsam mit Paulus) von Lukas als Apostel bezeichnet (Apg 14,4.14),was ein Hinweis auf die direkte Beauftragung durch den erhöhten Christus ist.Wenn die Geisteserfülltheit ein Indiz für Christusvisionen sein sollte, dann rückt auch Apollos in diesen Status auf, war er doch nach Apg 18,25 ‚brennend im Geistʻ.  Vgl. Klauck, Korintherbrief 117 f. Dodd, ‚I‘ 129 f erkennt es als ein Muster, dass Paulus oft zum Schluss eines Argumentationsteils auf sich selbst als Beispiel oder Vorbild zu sprechen kommt, vgl. 1Kor 4,9 – 13; 5,12; 7,25.40; 8,13; 9,23 – 27; 10,29 – 11,1.  Berger, Formen 162.

3 1Kor 15,12 – 34: Paulus, Zeuge in Lebensgefahr

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So erwähnt er zunächst ohne Wertung die Sitte der stellvertretenden Taufe im Interesse von (ὑπέρ) Verstorbenen, der sog. ‚Vikariatstaufeʻ (v.29),⁵⁰ deren Durchführung ohne Auferstehung der Toten keinen Sinn ergebe. Desgleichen verweist er auf die stündliche Lebensgefahr⁵¹, in der ‚wirʻ (ἡμεῖς) uns befinden (v.30).⁵² Mit der durch das Personalpronomen betonten 1.P.Pl. meint Paulus seine Mitarbeiter und sich selbst.⁵³ Dies ergibt sich zunächst aus dem Verb κινδυνεύειν, das oft das Ausgesetztsein einer konkreten Lebensgefahr bezeichnet.⁵⁴ Insofern ist die korinthische Gemeinde hierin nicht eingeschlossen, auch wenn sie bei der zuletzt gebrauchten 1.P.Pl. mit in die generelle Aussage von 15,19 einbezogen war. Davor – in v.14 f – hatte Paulus mit der 1.P.Pl. alle anderen Visionszeugen und sich selbst gemeint. Dafür ist das Wort κήρυγμα ein Indiz, da er das stammverwandte Verb κηρύσσομεν in v.11 auf alle Christusvisionäre bezogen hatte (s.o.). Da bei ihnen in ihrer Gesamtheit ebenso wenig von einer stündlichen Lebensgefahr wie bei den Korinthern auszugehen ist, verbleiben Paulus und seine Mitarbeiter als Größe für das ‚wirʻ in v.30. Hier einen unlogischen Plural (vor dem Hintergrund einer Selbststeigerung) anzunehmen, würde die sich steigernde Fokussierung schwächen bzw. völlig brechen, die Paulus in diesen Versen vornimmt: von den Vikariatstäuflingen (v.29) über die Paulus-Missionare (v.30) hin zu Paulus selbst im Allgemeinen (v.31) und in einem speziellen Fall (v.32). Von dieser Reihung her ist es dann ganz natürlich, dass Paulus in v.34 die Korinther erneut in der 1.P.Sg. anspricht. Die mit 15,29 begonnene Reihe von Verhaltensweisen, die sich nach dem Auferstehungsglauben ausrichten, wird in v.31 gesteigert durch die Vorstellung des

 Zu einem Überblick über verschiedene Deutungsmöglichkeiten von 15,29 vgl.Wolff, Brief 392– 397. D. Zeller, „Gibt es religionsgeschichtliche Parallelen zur Taufe für die Toten (1Kor 15,29)?,“ in: ZNW 98 (2007), 68 – 76 weist darauf hin, dass es sich bei der Stellvertretungstaufe um ein christusgläubiges Spezifikum handelt, das religionsgeschichtlich analogielos ist. Damit ist zudem noch gar nichts darüber gesagt, dass diese Sitte nur auf Korinth beschränkt gewesen ist. Die Gruppe der stellvertretenden Täuflinge ist überhaupt nicht regional oder lokal bestimmt, sondern könnte auch einen in der frühen Kirche allgemeinen und vielerorts verbreiteten Brauch zur Voraussetzung haben.  Vom allgemeinen Gebrauch her und durch das in v.31 genannte Sterben wird κινδυνεύειν bereits hier eine Lebensgefährdung bezeichnen, vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 487 f.  Die Partikel καί ist analog zu v.29 zum vorangehenden τί zu ziehen, vgl. Zeller, Brief 501 Anm. 271.  Gegen Lietzmann, Korinther 82 („ἡμεῖς = ich“); Conzelmann, Brief 318 Anm. 4; Schrage, Brief IV 240 Anm. 1165; Zeller, Brief 501 Anm. 274 (diplomatisch ausweichend: Paulus meine hier „hauptsächlich sich selbst“).  Vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 488.

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täglichen, individuellen Sterbens des Apostels.⁵⁵ Um diesen Gedanken zu beteuern, beschwört⁵⁶ er hierzu seinen Stolz (καύχησις) auf die Korinther.⁵⁷ Dies ist ein doppeltes Lob, denn zum einen lobt er damit die Korinther, die ihm Anlass geben, stolz zu sein.⁵⁸ Zum anderen lobt er damit aber auch sich selbst, denn Paulus hat schließlich die Gemeinde gegründet und damit gute, von Gott anzuerkennende⁵⁹ Arbeit geleistet. Freilich bezieht er dieses doppelte Lob – ähnlich wie bereits in 15,10 – sogleich wieder auf den „Christus Jesus, unseren Herrn“ zurück, wie es sich nach dem an Jer 9,22 f ausgerichteten Maßstab ziemt. Mit dem stündlichen Gefahrenleiden und dem täglichen Sterben sind zwei Dinge benannt, die ohne weiteres in die enkomiastische Kategorie der Handlungsweisen und Taten fallen und zur lobenden Selbstdarstellung des Apostels beitragen. Ein dritter Punkt folgt sogleich in v.32. Direkt im Anschluss berichtet Paulus nämlich von einer vergangenen Begebenheit eines ‚Tierkampfesʻ in Ephesus (v.32a: ἐθηριομάχησα/„ich kämpfte mit wilden Tieren“). Da er dies nur mit knappen Worten schildert, wird die Angelegenheit den Korinthern bekannt gewesen sein.⁶⁰ Allerdings spricht Paulus hier

 Dies ist metaphorisch gemeint und bezeichnet nicht das tägliche Absterben des Körpers,wie es bei Seneca ep. 24,20 (cotidie morimur; cotidie enim demitur aliqua pars vitae. / „Täglich sterben wir; täglich wird [uns] nämlich ein anderer Teil des Lebens weggenommen.“) erscheint, vgl. Zeller, Brief 501 Anm. 275; Schrage, Brief IV 241 Anm 1170.  Menge/Thierfelder/Wiesner, Repetitorium 246: νή „ist affirmative Schwurpartikel“, also: ‚Bei dem Stolz auf euch, den ich im Christus Jesus, unserem Herrn, habe!ʻ und muss sich nicht allein auf Götter beziehen, vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 489.  Bachmann, Brief 454: „ὑμετέραν ist […] ein Ersatz für einen Gen[itivus] obiect[ivus]“ ähnlich wie Röm 11,31; 15,4. Ihm schließen sich alle nachfolgenden Kommentare an, vgl. Lietzmann, Korinther 83; Conzelmann, Brief 318; Wolff, Brief 391; Merklein/Gielen, Brief III 335 f; Arzt-Grabner et al., Korinther 471.Überhaupt sagt ja Paulus selbst, dass es um den Stolz geht, den er hat (ἣν ἔχω). Dieser Stolz ist im Kontext von 1Kor 15,9 – 11 zu sehen und damit als auf die Gegenwart bezogen zu verstehen, was durch das Präsens in v.31 ausgedrückt ist (gegen Wilk, „Rühmen“ 59 Anm. 28).  Dazu würde es passen, wenn Paulus hier die Geschwisteranrede ἀδελφοί an die Korinther verwendete, was textkritisch aber nicht sicher ist. So fehlt die Anrede etwa in p46, D, F, G, Ψ und M.  Vgl. 1Kor 3,8.12– 15; 4,5.  Dass es sich dabei um eine reale Angelegenheit gehandelt hat, wird zuweilen angezweifelt,vgl. Conzelmann, Brief 340 f, ergibt sich aber aus der Satzstruktur: εἰ-Nebensatz mit Indikativ Aorist bei Hauptsatz im Indikativ ohne ἄν drückt einen Realis aus, vgl. Menge/Thierfelder/Wiesner, Repetitorium 201. Wie in 1Kor 15,32 liegt auch jeweils in Röm 3,7; 1Kor 4,7 eine durch εἰ-Nebensatz mit Indikativ Aorist eingeführte Frage vor, die für einen Realis steht. Will Paulus einen Irrealis ausdrücken, gebraucht er bei Indikativ Aorist im Nebensatz wie allgemein üblich ἄν im Hauptsatz,vgl. Röm 9,23 (Zitat); 1Kor 2,7; 11,31; Gal 1,10. Argumentativ würde es zudem nur wenig Sinn machen, wenn Paulus nach den realen Beispielen Vikariatstaufe, stündliche Lebensgefahr und tägliches Sterben nun einen Konflikt in Ephesus heranziehen würde, dem eben er aus dem Weg gegangen

3 1Kor 15,12 – 34: Paulus, Zeuge in Lebensgefahr

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zugleich in übertragener Weise, da ein echter Tierkampf die Umsetzung der Todesstrafe war, also auf einen tödlichen Ausgang angelegt war.⁶¹ Der figurativ zu verstehende Tierkampf ist dabei überhaupt erst durch das in betonter Vorderstellung stehende κατὰ ἄνθρωπον qualifiziert.⁶² Dieses κατὰ ἄνθρωπον bedeutet keine Einschränkung der gegebenen Darstellung, noch führt es zu einem irrealen Verständnis des Nebensatzes.⁶³ Vielmehr drückt Paulus dadurch aus, dass er diesen Kampf sogar auf die für ihn ungewöhnlichste Art, nämlich ‚auf menschliche Weiseʻ, d. h. „nach menschlicher Logik“⁶⁴ (vgl. Röm 3,5; 1Kor 3,3; 9,8; Gal 1,11; 3,15) geführt hat.⁶⁵ Damit bekommt der Satz den Sinn: ‚Wenn ich mich schon dazu herabgelassen habe, in Ephesus auf menschliche (im Gegensatz zu einer vollendet geistlichen)⁶⁶ Weise mit wilden Tieren zu kämpfen, was nutzt(e) es mir,⁶⁷ wenn ich nicht die berechtigte Hoffnung auf Auferstehung (gehabt) hätte?ʻ Gerade weil der

ist. Dies würde seine gesamte Argumentation, aber auch ihn selbst als glaubwürdigen Zeugen in Zweifel ziehen.  Vgl. Merklein/Gielen, Brief III 336 f. A. J. Malherbe, „The Beasts at Ephesus,“ in: JBL 87 (1968), 71– 80 (71 f) bringt zudem Paulus römische Staatsbürgerschaft in Anschlag, die aber nur durch Lukas belegt ist und somit aufgrund des möglichen tendenziösen Charakters der Apg umstritten bleibt,vgl. etwa W. Stegemann, „War der Apostel Paulus ein römischer Bürger?,“ in: ZNW 78 (1987), 200 – 229.  Bormann, „Fiktionalität“ 114 f legt nahe, die Aussage über einen überstandenen Tierkampf als autofiktional, d. h. als von Paulus übertrieben, zu verstehen. Er versteht (a.a.O. 119) κατὰ ἄνθρωπον in 1Kor 15,32 als ein Fiktionalitätssignal (im Gegensatz zu Faktualitätssignalen wie z. B. Orts- oder Zeitangaben), d. h. als ein Textsegment, das andeutet, „dass die Aussagen über die objektive Welt eingebunden werden in einen sinnbildenden Zusammenhang, der weniger die sozial zugängliche Objektivität im Blick hat als einen fiktionalen Geltungsanspruch“ (a.a.O. 118). Diese Deutung Bormanns übersieht allerdings, dass κατὰ ἄνθρωπον in 1Kor 3,3 durchaus sozial objektivierbar ist, insofern die Korinther ein Paulus zufolge nachweisbares Fehlverhalten an den Tag legen.  Gegen Merklein/Gielen, Brief III 337.  Michel, Brief 82 zu Röm 3,5. Winter, Paul 102 f versteht κατὰ ἄνθρωπον metaphorisch als „as one would say“ (102), übersieht dabei jedoch, dass in 1Kor 15,32 nirgends ein Terminus des Sprechens (wie in Röm 3,5; Gal 3,15) vorkommt. Zudem behauptet er, dass dies „a polite, popular way of speaking“ (ebd.) ist – populär sehr wohl, aber bei Paulus sicherlich nicht höflich. Nach den lediglich zwei Nachweisen aus Papyri bedeutet κατὰ ἄνθρωπον entweder ‚nach menschlichem Ermessenʻ oder ‚was Menschen gemäß istʻ, vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 139. Mir scheint allein die zweite Möglichkeit für Paulus gegeben zu sein.  Der stets von ihm abwertend gebrauchte Terminus κατὰ ἄνθρωπον besagt weiterhin, dass diese Art zu kämpfen Paulus aufgezwungen worden sein muss bzw. er sich nur widerwillig darauf eingelassen hat.  Vgl. 1Kor 3,3: Insofern die Korinther sich noch ‚fleischlichʻ (σαρκικός), also noch nicht vollendet geistlich verhalten, handeln und wandeln sie ‚auf menschliche Weiseʻ.  Wolff, Brief 399: „Die Wendung τί μοι τὸ ὄφελος ist geprägt.“ Sie findet sich öfters in der kynisch-stoischen ‚Diatribeʻ, vgl. Bultmann, Stil 33; Conzelmann, Brief 340.

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Zusammenhang von 1Kor 15,29 – 31 um Leben und Tod geht, ist mit einer realen bzw. einer von Paulus entsprechend dargestellten Lebensgefahr auch in v.32 zu rechnen.⁶⁸ Worin genau diese Gefahr bestand, kann nur vermutet werden.⁶⁹ Ebenso wenig wird deutlich, wie dieser ‚Tierkampfʻ für Paulus ausgegangen ist und wie er sich demnach gesehen haben möchte: als siegreich oder als schwer, nahezu tödlich verwundet, als von Berufs wegen kämpfenden Gladiator oder als zum Kämpfen gezwungenen (fälschlich?) Verurteilten. In jedem Fall bleibt das Besondere dieser Tat bestehen. Und da sie in der Vergangenheit liegt, kann man sie ohne weiteres zu den enkomiastischen πράξεις in der Lebensbeschreibung des Apostels rechnen. Und wie sonst die von ihm erwähnten Taten in c.15 trägt auch diese zur Verstärkung des Eigenlobs, damit aber zur Untermauerung seiner Argumentation über die Auferweckung der Toten bei. Es folgt in 15,32b – unter der Kondition, dass es eine Auferweckung der Toten nicht gibt – ein sarkastisch gebrauchtes Zitat aus Jes 22,13LXX,⁷⁰ das der Illustrierung eines Denkens auf Basis der Auferstehungsleugnung dient: Aus dem völligen Angewiesensein auf das Diesseits ohne Hoffnung auf eine neue Existenz nach dem irdischen Leben folgert Paulus eine hedonistische Lebensweise.⁷¹ Der konditionale Nebensatz weist auf v.29 zurück und rückt den Abschnitt somit in sich enger zusammen. Bezieht Paulus das Jes-Zitat, das bereits im Prätext in ironischer Weise Gott ungehorsamen Menschen in den Mund gelegt ist, auf die Auferstehungsleugner, so hält er der Gemeinde bzw. dem Teil, der nicht die Auferweckung ablehnt,⁷² in v.33 ein Menander-Zitat entgegen.⁷³ Damit warnt der Apostel die Ge-

 Vgl. Wolff, Brief 398.  Die Nachrichten aus der Apg geben in dieser Hinsicht nichts her; dem einzigen dort geschilderten brutalen Konflikt mit den Artemis-Anhängern (Apg 19,28 – 40) ist Paulus – gezwungenermaßen – aus dem Weg gegangen (v.30 f). Die Reflektionen des Paulus in Apg 20,18 – 35 über seinen langjährigen Aufenthalt in Ephesus sind zu allgemein gehalten, um Genaueres über die Bedrohung in der Stadt zu sagen bzw. benennen die ansässige Judenschaft als Gegner (v.19), was jedoch sehr wohl ein lukanisches Motiv sein kann (wie 17,5.13; 20,3). Auch die Notiz in 2Kor 1,8 (so sie sich überhaupt auf 1Kor 11,32 bezieht) verrät nicht mehr. 1Kor 16,9 meint für Paulus gegenwärtigen, nicht vergangenen Widerstand in Ephesus, vgl. Wolff, Brief 399. Zeller, Brief 501 f bringt neuerdings wieder ein wörtliches Verständnis des Tierkampfes ins Gespräch. So bereits C. R. Bowen, „‚I Fought With Beasts at Ephesus‘,“ in: JBL 42 (1923), 59 – 68.  Vgl. Wilk, Bedeutung 318 – 320.  Dass damit auch ein Rückbezug auf die unangemessenen Tischsitten der Korinther in 11,21 f gegeben ist (so Wilk, Bedeutung 319), erscheint mir nicht eindeutig. Die Paarung ‚Essen und Trinkenʻ ist bei Paulus durchaus ambivalent: In 10,7 ist sie (erweitert ums Spielen) eindeutig negativ, in 9,4 neutral bis positiv.  Auch in 1Kor 6,9 ist nicht die gesamte Gemeinde angesprochen: Alle, die (wie der Übeltäter in 5,1) sündhaftes Verhalten an den Tag legen, gehören nicht dazu.

3 1Kor 15,12 – 34: Paulus, Zeuge in Lebensgefahr

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meinde vor dem Umgang mit Hedonisten, die für ihn im Kern Gegner der Heilsbotschaft über die Auferweckung sind. In 15,34 mahnt Paulus die Gemeinde, in gebührender Weise (δικαίως)⁷⁴ auszunüchtern und nicht zu sündigen. Die Begründung (γάρ) für diese Ermahnung: ‚Einigeʻ (τινες) in der Gemeinde hätten Unkenntnis (ἀγνωσία) in bezug auf Gott. Mit diesen ‚Einigenʻ sind wohl erneut die Auferstehungsleugner gemeint (vgl. v.12: τινες). Mit dem Aufruf zum Nüchternwerden und Sündenvermeiden verdeutlicht Paulus seinen Vorwurf, dass ein Denken, das die Auferstehung ablehnt, in Hedonismus und damit in sündhaftes Verhalten führt. Der Grund für dieses Denken ist eben ein Mangel an Gottes(er)kenntnis, etwas, dem der Apostel mit seiner breiten Darlegung über die Auferstehung nun beikommt. Gotteskenntnis bzw. Gottesunkenntnis ist dabei nicht rein kognitiv zu verstehen, sondern beinhaltet eine bestimmte, aktive Lebensweise.⁷⁵ Der Abschnitt endet mit den Worten: „Zur Beschämung sage ich es euch.“⁷⁶ Dies ist ein deutlicher Tadel, der den epideiktischen Charakter des gesamten Abschnitts v.29 – 34 unterstreicht. Dieser Tadel bezieht sich undifferenziert auf die ganze Gemeinde, nimmt diese also insgesamt in Haftung bezüglich der abweichenden Glaubensauffassung der Auferstehungsleugner. An der herausgehobenen Schlussposition ist er aber nicht allein auf die direkt voranstehenden Imperative (v.34) bezogen, sondern auf den gesamten Abschnitt, in welchem die verschiedenen Lebensweisen, die sich aus der Auferstehungshoffnung speisen, positiv hervorgehoben werden, eine abweichende Überzeugung aber diskreditiert wird. Der durch diesen Tadel verursachte Gesichtsverlust soll die Korinther

 Dieses Zitat aus Thais war zu Paulus’ Zeiten aber womöglich bereits zu einem geflügelten Wort und seiner Herkunft nach unkenntlich geworden, vgl. Lietzmann, Korinther 83; Conzelmann, Brief 341; Merklein/Gielen, Brief III 338, was daran liegen mag, dass Menander selber für diese Worte auf eine Tragödie des Euripides zurückgreift, vgl. Zeller, Brief 503. Winter, Paul 98 – 100 hält es hingegen für möglich, dass Paulus direkt aus Menanders Werk zitiert, da der Zitatkontext über Prostituierte und wilde Gelage geht, was Winter auch bei einigen Korinthern für gegeben ansieht. Aber warum sollte Paulus ein aus einer (von einem Ungläubigen geschriebenen!) Komödie stammendes Zitat den Korinthern völlig ernstgemeint entgegenwerfen? Darüber hinaus ein direktes Zitat aus Euripides anzunehmen, verbietet sich aufgrund der Herkunft aus heidnischer Hand.  Papathomas, Begriffe 184– 187 betont hingegen den juristischen Aspekt des Adverbs stark (‚mit Rechtʻ), was an dieser Stelle aber wohl nicht weiterführend ist, auch wenn er damit generell nicht Unrecht hat.  Vgl. Conzelmann, Brief 342.  Dieser Satz ist für Paulus schon beinahe formelhaft, vgl. 1Kor 6,5. Merklein/Gielen, Brief III 341 verstehen πρὸς ἐντροπήν nicht als Adverb, sondern auf das Pronomen bezogen: ‚Euch zur Beschämung sage ich diesʻ. Doch spricht Paulus auch sonst in c.15 alle Korinther an, weshalb ich – allein schon von der Wortstellung – von einer dezidierten Betonung auf πρὸς ἐντροπήν ausgehe.

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zwingen, ihre bisherige Duldung der Auferstehungsleugner (samt der befürchteten moralischen Folgen) zu widerrufen und Paulus’ Evangelium der allgemeinen Auferstehung vollends zu übernehmen.⁷⁷ Insgesamt zeichnet Paulus im Abschnitt v.29 – 34 ein positives Selbstbild. Dabei erhält dieses Selbstbild seine eigentliche positive Qualität erst aus dem überzeugten Festhalten am Auferstehungsglauben. Insofern der Apostel diesen Glauben mit seinem Leben bekennt, stellt er sich als lobenswert dar, wohingegen abweichende Verhaltensweisen als tadelnswert erscheinen. Im dritten Argumentationsteil v.35 – 49 erscheint wenig (s.u.), das zur Selbstdarstellung des Apostels beiträgt. Gleichwohl unterstreicht die ausführliche Argumentation die große Gelehrsamkeit des Paulus, die ihn als Weisen im Rahmen der jüdischen Apokalyptik erscheinen lässt.⁷⁸ Für die explizite Selbstpräsentation wende ich mich daher dem vierten Teil v.50 – 58 zu.

4 1Kor 15,50 – 58: Paulus, Geheimnisverkünder Mit v.50 eröffnet Paulus den vierten und abschließenden Teil von 1Kor 15.⁷⁹ Wie die wortwörtliche Parallele in 7,29 stellt τοῦτο δὲ φημι den Übergang zu einem neuen Gedanken auf Basis des Vorangehenden dar.⁸⁰ Dies wird in 15,50 noch durch den

 Auch Winter, Paul 101 betont für 1Kor 15,34 den Hintergrund von Scham/Schande.  Vgl. dazu K.-G. Sandelin, Die Auseinandersetzung mit der Weisheit in 1. Korinther 15 (Meddelanden från Stiftelsens för Åbo Akademi Forskiningsinstitut 12), Åbo 1976. Garcilazo, Dissenters 160 – 177 erkennt in 1Kor 15 und so auch in diesem Argumentationsgang viele Bezüge zur Stoa, die Paulus herstellt, um den römisch-stoisch geprägten Auferstehungsgegnern argumentativ entgegenzukommen.  Dies wird deutlich durch die einen Neueinsatz markierende ἀδελφοί-Anrede, vgl. Wolff, Brief 413, die zugleich eine Klammer mit v.58 bildet,vgl.Wilk, Bedeutung 113. Chr. Burchard, „1 Korinther 15 39 – 41,“ in: ZNW 75 (1984), 233 – 258 erkennt mit Recht „v.50 nicht als Abschluß des Bisherigen […], sondern als Problemanzeige: wie kann v.49 für ‚unsʻ gelten, wenn wir dann, wenn wir die εἰκών Christi tragen sollen, die εἰκών Adams noch nicht ausgetragen haben, sondern noch leben?“ (249).  Vgl. Gladd, Mysterion 245 f; ebenso Burchard, „Korinther“ 251 f, der allerdings in v.50 – 52 einen zu v.35 – 52 gehörigen Exkurs sieht, wohingegen v.53 – 58 den Schlussteil des Gesamtkapitels bilden. Dies erscheint mir jedoch allein schon wegen des direkt begründenden γάρ in v.53 als unwahrscheinlich. Arzt-Grabner et al., Korinther 294 fassen die Phrase als ‚disclosure formulaʻ zum Erheischen von Aufmerksamkeit für das darauf Folgende auf. Merklein/Gielen, Brief III 379 machen darauf aufmerksam, dass φημί vor dem Hintergrund, dass Paulus mit v.50b eine korinthische Formulierung aufgreift, an dieser Stelle (verglichen mit dem neutralen λέγω) „geradezu die Konnotation von bejahen“ erhält.

4 1Kor 15,50 – 58: Paulus, Geheimnisverkünder

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Wechsel von der allgemeinen 1.P.Pl.⁸¹ in v.49 hin zur 1.P.Sg., die Paulus selbst im Gegenüber zu den korinthischen Geschwistern (ἀδελφοί-Anrede!) meint, unterstrichen. Nach den Ausführungen des dritten Argumentationsteils v.35 – 49 über die Gegensätzlichkeit von Vergänglichem und Unvergänglichem, Leiblichem und Geistlichem, Irdischem und Himmlischen betont Paulus mit v.50, dass ein Mensch in seiner irdisch-leiblichen Existenz weder einen Erbanteil an der Herrschaft Gottes (βασιλείαν θεοῦ κληρονομῆσαι)⁸² noch einen Anteil an der Auferweckung der Toten erhalten kann. Damit kommt der Verwandlung des irdischen Leibs eine heilsnotwendige Bedeutung zu, was Paulus in v.51 f den Korinthern in einem Geheimnis offenbart. Gleich mit dem einleitenden ἰδού („Siehe!“) v.51 lehnt sich der Apostel an prophetische bzw. apokalyptische Sprechformen an, die oft einen Orakelspruch einleiten.⁸³ Er definiert das von ihm Verkündete als ein Geheimnis (μυστήριον).⁸⁴ Bereits in 4,1 hatte sich Paulus – gemeinsam mit Apollos (3,22; 4,6), wenn nicht zudem mit Kephas (3,22) – als ‚Verwalter der Geheimnisse Gottesʻ bezeichnet. Nun offenbart der Apostel eines dieser Geheimnisse. Der Umfang dieses speziellen eschatologischen Geheimnisses beläuft sich auf v.51b–52a,⁸⁵ wohingegen v.52b eine Ausdeutung (γάρ als ‚nämlichʻ) vornimmt, die bis v.57 reicht⁸⁶ und mittels eines kombinierten und abgewandelten⁸⁷ Doppelzitats aus Jes 25,8 und Hos 13,14  Indem Paulus in 1Kor 15,39 die Menschen gleichsam als Gattungsbegriff in die Diskussion einführt und dann ab v.45 eine Differenzierung vornimmt, bezieht sich die 1.P.Pl. in v.49 auf die Gesamtheit der Christusgläubigen als Menschen, die dereinst das Bild des himmlischen Menschen (= Christus) tragen werden.  Bereits in 1Kor 6,9 f hatte Paulus mit derselben Formulierung allen in seinen Augen unmoralisch Handelnden einen Erbanteil an Gottes Herrschaft versagt.  Vgl. Gladd, Mysterion 247 f. Es geht hier also um mehr als ein bloßes Werben um Aufmerksamkeit (gegen Merklein/Gielen, Brief III 380; Zeller, Brief 520), zumal Paulus dieses Wort recht selten und dann entweder in eschatologisch-prophetischen oder existentiellen Zusammenhängen verwendet: Röm 9,33 (Zitat); 2Kor 5,17; 6,2 (bis).9; 7,11; 12,14; Gal 1,20. In den Papyri taucht es sowohl in religiösen als auch profanen Zusammenhängen auf, vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 500 f.  A. D. Nock, „Mysterion,“ in: HSCP 60 (1951), 201– 204 benennt den paulinischen, alttestamentlich geprägten Gebrauch von μυστήριον mit Recht als „truth of revelation which is now vouchsafed not as an esoteric doctrine, but as an open secret to be shouted from the housetops“ (201).  Vgl. Merklein/Gielen, Brief III 381; Wilk, Bedeutung 115 (die innere Verseinteilung differiert: was Merklein/Gielen ‚v.52aʻ nennen, ist bei Wilk aufgrund feinerer Einteilung ‚v.52a–cʻ, meint aber dasselbe). Wolff, Brief 414 sieht das Geheimnis nur im Grundbestand von v.52. Gladd, Mysterion 247.252 sucht es unter der nicht überzeugenden Annahme einer (unvollkommenen) chiastischen Struktur in v.51b–52.  Vgl. Merklein/Gielen, Brief III 383.  Der Wortlaut weicht nicht unerheblich von der LXX ab und beruht wohl auf einer die LXX korrigierenden Fassung, vgl. Merklein/Gielen, Brief III 384 f; Wolff, Brief 417.

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illustriert und begründet wird.⁸⁸ Das Geheimnis bzw. das Neue, das Paulus den Korinthern vorbringt, beläuft sich darauf, dass am jüngsten Tag eine Verwandlung aller Christusgläubigen geschehen wird.⁸⁹ Benjamin J. Gladd verweist auf den Zusammenhang bzw. vielmehr die Diastase der eschatologischen Verwandlungsvorstellung und der durch Adam weiterverliehenen, irdischen Gottebenbildlichkeit (Gen 2,7; 5,3), auf die sich Paulus in 1Kor 15,42– 49 explizit bezieht.⁹⁰ Somit ist der Gedanke, den der Apostel in v.51 f gebündelt vorträgt, deshalb als ‚Geheimnisʻ zu bezeichnen, weil sich Paulus damit von zeitgenössischen jüdischen Vorstellungen abhebt, die die Auferstehung als Rückkehr zu Adams prälapsarischen Stand, aber nicht als Verwandlung in einen erhobenen adamitischen Stand (bzw. als Neuschöpfung⁹¹) ansahen.⁹² Zum Abschluss kommt der Abschnitt, dann aber auch das gesamte Kapitel in v.58 mit dem paränetischen Aufruf an die Korinther, die er nun als „meine geliebten Geschwister“ bezeichnet.⁹³ Mit der possessiv bestimmten und emotional aufgeladenen Anrede drückt Paulus seine Hoffnung aus, dass sie am Ende seiner Ausführungen vollends und allesamt belehrt sind und somit nun insgesamt mit ihm übereinstimmen.⁹⁴ Als Geschwister bestimmt Paulus sich und die Korinther als in besonders enger Weise miteinander verbunden. Als Ende einer breiten thematischen Ausführung lässt sich v. 58 als „angehängte Mahnrede“⁹⁵ verstehen, die gleichsam die praktische Anwendung oder Umsetzung des zuvor theoretisch erörterten fordert.⁹⁶ Er ist somit dem genus der Symbuleutik zuzuordnen.⁹⁷ In der Verklammerung von v.58 mit v.50 (s.o.) bestimmt sich somit der ganze vierte Teil als symbuleutisch.

 Vgl. Wilk, Bedeutung 116 – 119.  Dies ergibt sich aus dem Vergleich mit der inhaltlich analogen und chronologisch früheren Stelle 1Th 4,13 – 18, die eine eschatologische Verwandlung der Christusgläubigen nicht benennt (weil Paulus dieses Geheimnis noch nicht kennt?), vgl.Wilk, Bedeutung 115; Zeller, Brief 520 – 522.  Vgl. Gladd, Mysterion 249 – 260.  Vgl. Wolff, Brief 406 („eschatologische Schöpfung“). Burchard, „Korinther“ 252 zieht den Begriff ‚völlige Menschwerdungʻ dem der ‚Neuschöpfungʻ vor, da dieser eigentlich allein Christus als dem zweiten Adam, nicht aber den Christusgläubigen als dessen Nachkommen zusteht.  Vgl. Gladd, Mysterion 261 f.  Diese Anrede stellt offensichtlich ein christusgläubiges Spezifikum dar,vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 504.  Vgl. Merklein/Gielen, Brief III 393.  Berger, Formen 220.  Lietzmann, Korinther 88 f spricht von der Überleitung „von der Dogmatik auf die Ethik“.  Zugleich rückt v.58 als Ende einer längeren Ausführung in die Nähe der brieflichen Schlussparänese, vgl. Berger, Formen 201– 203.

5 Zur Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 15

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Die Mahnung selbst an die Korinther besteht darin, in dem Wissen, dass ihre Mühe (κόπος) ‚im Herrnʻ nicht vergeblich (κενός) ist, allezeit standhaft zu sein⁹⁸ und sich im Werk des Herrn auszuzeichnen (περισσεύειν). Mit dem Stichwort κενός greift Paulus sowohl auf v.10 als auch auf v. 14 zurück: In der (irrealen) Argumentation v.14 bezog sich κενός auf die Verkündigung der Apostel sowie auf den Glauben der Korinther, falls es keine Auferweckung des Christus gegeben hätte. Vor allem aber die semantische Nähe von v.58 zu v.10 ist auffällig.⁹⁹ Dort hatte Paulus nicht nur die göttliche Gnade an ihm als nicht vergeblich bezeichnet. Vielmehr hatte er sich als jemand dargestellt, der sich mehr (περισσότερον) als alle anderen Christusvisionäre abgemüht (κοπιᾶν) hatte. Nach seinen Ausführungen zur Auferstehung erinnert er die Korinther mit der Schlussparänese an das Vorbild, das er selbst mit seiner apostolischen Existenz gegeben hat und weiterhin gibt: Ein Mensch, der sein Leben am Auferstehungsglauben ausrichtet, erhält bereits in diesem Leben Kraft und Stärke im Widerstreit mit der ungläubigen Welt und darf berechtigterweise auf ein neues, verwandeltes Leben bei Gott hoffen.

5 Zur Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 15 Paulus kommt jeweils am Ende der beiden ersten Abschnitte 15,1– 11 und 15,12– 34 auf sich selbst zu sprechen. Auf den beschreibenden bzw. beratenden Teil folgt also mit v.8 – 11 und v.30 – 32(34) jeweils ein Selbstbeispiel zur Illustration des zuvor Gesagten. Im vierten Abschnitt v.50 – 58 ist es dann weniger ein Selbstbeispiel als vielmehr das durch ihn selbst verkündete (v.51) Geheimnis, das den Apostel als Argumentationsanker nicht vergessen lässt.¹⁰⁰ Paulus argumentiert also mit seiner eigenen Person bzw. persona, um seine Rede überzeugender zu machen. Es fällt auf, dass Paulus in 1Kor 15,1– 11 sein vergangenes wie auch sein gegenwärtiges Leben in extremer Weise zeichnet:¹⁰¹ Nicht nur, dass er der allerletzte Augenzeuge des auferstandenen Christus gewesen sei; die Bezeichnung als Fehlgeburt (v.8) kennzeichnet sein vergangenes Leben vor der Berufung als völlig

 γίνεσθε ist hier als Ersatzform von εἰμί gebraucht, vgl. Zeller, Brief 525.  Vgl. Merklein/Gielen, Brief III 394.  Am Ende des dritten Teils (v.49) ist dieser Selbstbezug in der 1.P.Pl., die alle Gläubigen meint, aufgenommen und aufgehoben.  Dass Paulus hier keinen Bezug auf das enkomiastische Element der Erziehung nimmt, liegt an deren mangelnder Relevanz für das Thema der Totenauferweckung gegenüber den korinthischen Auferstehungsleugnern; das Gegenteil gilt für die judaisierungswilligen Galater.

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hoffnungslos. Und obwohl inzwischen Gott ihm seine Gnade erwiesen habe, reicht diese Kennzeichnung bis in die Gegenwart: Er nennt sich nach wie vor „der geringste der Apostel“ (v.9a: Präsens!).¹⁰² Das andere Extrem ist die Selbstdarstellung nach seiner Berufung: Da steht sein Leben unter dem Zeichen, der Missionar mit der mühevollsten Arbeit von allen Aposteln zu sein (v.10). Brian Dodd versteht diese Aussagen dadurch motiviert, dass Paulus den Eindruck des Prahlens vermeiden möchte, der durch die eigene Einreihung in die Kette der Auferstehungszeugen erweckt werden könnte. Ganz im Rahmen von Plutarch¹⁰³ betreibe Paulus hier eine Rhetorik der Bescheidenheit. Mit dem Hinweis auf die niedrige Herkunft werde somit (laut Plutarch) ‚die Schneide des Neides stumpf gemachtʻ.¹⁰⁴ Dodd erkennt richtig, dass Paulus in 1Kor 15,8 – 10 äußerst bescheiden auftritt, aber er verfehlt meines Erachtens den eigentlichen Punkt dieses Passus. Denn er verkennt die Betonung Paulus’, der letzte Auferstehungszeuge zu sein, und dies ist durchaus auch ein Grund für ihn als Apostel, stolz zu sein. Aber dieser Stolz geschieht nicht in Richtung auf das eigene Ego, sondern nur in Richtung auf Gott hin, ist also völlig gegründet in dem in 1,31 zitierten Jeremia-Wort. Die Extremzeichnung des eigenen Lebens ist für Paulus argumentativ notwendig, um sich von den anderen Aposteln deutlich abzusetzen. Je schwärzer er sein vergangenes Leben ausmalt, umso heller kann Gottes Gnade darüber erstrahlen, die auch nach wie vor sein Leben und seine Arbeit bestimmt. Dabei ist es gleichermaßen gar nicht so wichtig und eben doch überaus wichtig, dass es an Paulus und seinem Leben eigentlich gar nichts an einer guten Herkunft oder eigenen Taten zu loben gibt; denn schließlich ist es Gott bzw. sein Christus, auf den alles, was Paulus’ Leben betrifft, zurückgeführt wird. Das Eigenlob geschieht also ganz auf Gott bezogen. Es ist ein Lob der eigenen Schwäche, die erst durch Gott in Stärke gewandelt wird. Dieses Moment gleichzeitiger Stärke und Schwäche in Paulus ist charakteristisch für die gesamte Argumentation im 1Kor. Paulus demonstriert anhand seiner eigenen Geschichte die transformierende Kraft, die er zuvor in c.1– 2 für Gott in Jesus Christus als charakteristisch dargestellt hat und die nun in c.15 in der Auferweckung Jesu von den Toten deutlich wird. Die eine Grundlage des Christusglaubens, nämlich das Bekenntnis der Auferweckung des Herrn Jesus, in welcher Schwäche in Stärke umgewandelt wird, wird somit an seiner eigenen Biographie evident gemacht.

 Im Hintergrund mag durchaus an die lateinische Bedeutung des Namens ‚Paulusʻ gedacht sein: der Kleine.  Vgl. Plut.mor. 543F–544B.  Vgl. Dodd, ‚I‘ 128 f.

5 Zur Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 15

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Dies wird gerade durch die eigentlich mangelnden Voraussetzungen des Paulus für einen Visionsempfang wie auch durch seine pointierte Stellung als letzter Visionsempfänger betont. Innerhalb der Gemeinschaft aller Visionsempfänger ist Paulus gerade als minimus et ultimus eigentlich der primus inter pares. Somit ist der besondere Gnadenerhalt durch Gott etwas, womit die anderen Augenzeugen im Vergleich mit Paulus nicht mithalten können.¹⁰⁵ Daher kann in dieser Hinsicht weder sein Zugeständnis, dass sie wie er dieselbe Heilsbotschaft verkündigen, die anderen Augenzeugen über ihn erheben, noch können sie seine herausgehobene Position als letzter Auferweckungszeuge – gerade gegenüber der von ihm gegründeten Gemeinde in Korinth – schwächen. Dies hält Paulus nicht davon ab (vielleicht treibt es ihn sogar dazu), dass er sich selbst im weiteren Argumentationsverlauf in 15,12– 28 schützend in eine Reihe mit den anderen Visionsempfängern stellt, wenn er den fiktiven Vorwurf aus Korinth nennt, sie wie er auch seien ‚Falschzeugenʻ¹⁰⁶ Gottes, falls sie gegen Gott die Auferweckung des Christus bezeugen (v.15: Plural!).¹⁰⁷ Paulus setzt sich also diesem Vorwurf nicht allein aus, sondern hier steht die Menge der Visionszeugen (und in ihr Paulus) gegen die korinthischen Auferstehungsleugner. Damit wird aber auch die Front deutlich: Paulus richtet sich nicht per se gegen die anderen Visionsempfänger. Er braucht sie vielmehr als Kontrast-, aber nicht als Negativfolie für die Überhöhung seiner Selbstdarstellung.Von Apologetik kann in 1Kor 15,1– 11 keine Rede sein. Vielmehr geht es hier um Epideiktik, die wiederum sich in den Dienst der Symbuleutik stellt: Paulus’ Eigenlob, das als Gotteslob daherkommt, dient der Illustrierung der Auferweckungsüberlieferung. Dieses deflektierte Eigenlob des Paulus erhält noch weitere Nahrung im Abschnitt 15,12– 34, genauer in den v.29 – 34. 15,29 – 34 beinhaltet ebenso deflektiertes (Eigen‐)Lob des Paulus sowie direkten Tadel der Korinther. Insofern Paulus nach v.8 – 11 erneut auf sein Leben zurückgreift, kann man hierin die inhaltliche Fortsetzung der enkomiastischen Kategorie Taten sehen. Die in v.30 – 32 erwähnten Leiden des Apostels erweitern seine Selbstdarstellung in c.15. Aufgrund der Gegenüberstellung von tadelns J. Roloff, Einführung in das Neue Testament (Reclams Universal-Bibliothek 9413), Stuttgart 2003, 85 sieht in der Schlussstellung Paulus’ einen Hinweis auf das Selbstverständnis des Paulus: Zum einen vollende sich damit heilsgeschichtlich der Auftrag der Propheten, zum anderen stehe er als letzter Zeuge dem ersten Zeugen, Kephas, in besonderer Weise direkt gegenüber.  Das Wort ψευδομάρτυρες meint höchstwahrscheinlich Leute, die eine falsche Aussage über Gott machen, vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 480.  Paulus evoziert mit ψευδομάρτυρες bzw. ἐμαρτυρήσαμεν Vorstellungen aus dem forensischen Bereich, in denen in nahezu blasphemischer Weise die Christusvisionäre als Gegner und Verleumder Gottes erscheinen. Dies soll offenbar die Absurdität der korinthischen Position vor Augen führen.

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werten Korinthern und lobenswertem Apostel in v.29 – 34 erscheint es angemessen, auch bereits in v.1– 11 als Objekt des Tadels nicht die anderen Apostel zu sehen, obwohl sie Projektionsfläche im Rahmen der enkomiastischen σύγκρισις waren, sondern ebenfalls die Korinther. Mit ihrer Weigerung, an die Auferstehung der Toten zu glauben, die zwar nur von einigen (v.12.34: τινες) vollzogen wird, aber wie schon in anderen Fällen auf alle abfärbt (5,6), widersetzen sie sich nicht nur der Botschaft aller Apostel, sondern vor allem der des Paulus, ihres Gemeindegründers. Er ist in besonderer Weise von Gott begnadet worden (15,10), wie man an seiner ‚schlechtenʻ Herkunft (v.9: Verfolgung der Gemeinde) wie auch seinen ‚gutenʻ Taten (v.10: Mühen; v.30 f: Lebensgefahr; v.32: Tierkampf in Ephesus) ablesen kann. Er ist es ja, den die Korinther sich zum Vorbild nehmen und nachahmen sollen, wie er zuvor betont hat (4,16; 11,1). Dies wird in c.15 noch einmal mit der Schlussparänese in v. 58 deutlich gemacht, die einen semantischen Rekurs auf v.10 und damit auf das Vorbild des Apostels nimmt. Dieses Nachahmen besteht auch und gerade in der Übernahme einer Lebensweise, die ganz von der Hoffnung auf die allgemeine Auferstehung der Toten bestimmt ist. Mit seinem deflektierten Selbstloben, das ganz auf Gott hinzielt, kann Paulus an seinem eigenen Leben zeigen, dass die Auferweckungsmacht Gottes bereits in dieser Welt Wirkung zeigt, da sie aus einem Verfolger der Gottesgemeinde einen Augenzeugen und damit einen Apostel machen kann. Der Weg zu weiteren Visionen ist den Korinthern selbst zwar verbaut – Paulus ist schließlich der letzte Zeuge –, von der Macht Gottes, in diesem Leben zu wirken, nimmt dies jedoch nichts weg.

6 Zur rhetorischen persona als Weiser in 1Kor 15 In der Selbstdarstellung des Paulus sowie in seiner Darstellung der Auferstehungsleugner tauchen verschiedene Hinweise darauf auf, dass Paulus mit der korinthischen Gemeinde in einem Weisheitsdiskurs steht bzw. dass er sich selbst als einen Weisen darstellt, der den Korinthern Beispiel und Vorbild sein soll.¹⁰⁸ Diesen Hinweisen gehe ich im Folgenden nach.

 Sandelin, Auseinandersetzung 145: „Paulus beschreibt sich [in 1Kor 15] als einen Weisen. Er ist Offenbarungsempfänger, und er ist dem Tode ausgesetzt wegen seines Wirkens als Lehrer.“

6 Zur rhetorischen persona als Weiser in 1Kor 15

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6.1 Gnade und Offenbarung Paulus präsentiert sich als schwach und gering und abhängig von Gottes Gnade (v.9 f). Gerade mit diesem völligen Angewiesensein auf Gottes Gnade positioniert sich der Apostel innerhalb der religiös-philosophischen Anschauungen und damit auch der Weisengestalten seiner Zeit. Gemeinhin wurde angenommen, dass die Götter den Menschen gegenüber gnädig oder huldvoll (ἵλεως/ἵλαος) sein konnten.¹⁰⁹ Für Platon etwa war die Erschaffung der Welt ja nur der Güte (d. h. dem GutSein) Gottes und seinem Mangel an Missgunst zu verdanken.¹¹⁰ War für die Stoa die Gnade bzw. Gunst Gottes durchaus (im Gegensatz zu dessen Zorn) eine anerkennenswerte Größe,¹¹¹ hielten die Epikureer sämtliche (als Affekte verstandene) Verhaltensweisen der Götter gegenüber den Menschen für unverständlich und somit auch die göttliche Gnade.¹¹² Die Gnade bestimmt dann auch den Offenbarungsgedanken¹¹³ bei Paulus, was ihn wiederum innerhalb der jüdischen Religion abhebt: Für den jüdischen Weisen ist jene Überzeugung maßgeblich, wonach die Weisheit von den Unverständigen als Sündern schlicht nicht zu erkennen ist bzw. in diese gar nicht erst einzieht (Sir 15,1– 7; SapSal 1,3 f).¹¹⁴ Wenn der Christus Jesus aber Gottes Weisheit ist (1Kor 1,24.30), deren innerweltliche Erkenntnis den Menschen aus eigener Verstandeskraft unmöglich ist (1,21; 2,8), dann konnte es für den Gemeindeverfolger Paulus nur den Weg der gnädigen Offenbarung geben, um zur Erkenntnis und damit zum Heil zu gelangen.¹¹⁵ Durch die bestehende¹¹⁶ (Notwendigkeit der)

 Vgl. etwa Soph.El. 1376 – 1378 (Apoll); Plat.symp. 197D (Eros); Xen.mem. 1,1,9; 2,1,28.  Vgl. Plat.Tim. 29D–30 A.  Vgl. Lact.ir. 2,8; 5,1– 17. Selbst ep.Arist. 254 kann wohl im Gefolge der Stoa nicht mehr den Zorn Gottes behaupten.Vgl. zudem Epikt.Diss. 1,16,15 (wer Verstand hat [= weise ist], soll ὕμνειν τὸ θεῖον καὶ εὐφημεῖν καὶ ἐπεξέρχεσθαι τὰς χάριτας/„das Göttliche besingen und die Gnadengaben preisen und aufzählen“).  Vgl. Lact.ir. 2,7; 4,1– 15 trotz Epik.ep.frag. 106 [= 99 Us.].  Der Offenbarungsgedanke spielt (mit Ausnahme des Platonismus, vgl. Plat.apol. 23 A) in der Philosophie als aus der Weltbeobachtung hervorgehenden und weiterhin an ihr orientierten Geisteswissenschaft keine Rolle.  Vgl. hier und zum Folgenden Sandelin, Auseinandersetzung 138 – 140.  Ganz unabhängig davon, dass Paulus in 1 Kor 15 den Gnadenaspekt bei seiner Offenbarung hervorhebt, macht Philo, Abr. 80 (nach Fitzmeyer, Corinthians 549) am Beispiel Abrahams darauf aufmerksam, dass der Weise (= Abraham) nicht Gott sah, sondern vielmehr – um die Unverfügbarkeit Gottes zu unterstreichen – dass Gott vom Weisen gesehen wurde, und gebraucht dafür die gleiche sprachliche Konstruktion wie in 1Kor 15,5 – 8: ὁ θεὸς ὤφθη τῷ σοφῷ.  Paulus verweist in 15,9.10 im Zusammenhang mit der Gnade Gottes viermal mit dem präsentischen εἰμί auf sich selbst. Sie ist deutlich kein Ding der Vergangenheit, sondern für Paulus eine gegenwärtige Größe.

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Gnade Gottes ist Paulus als Weiser also von den anderen nicht-christusgläubigen Weisen deutlich unterschieden.¹¹⁷

6.2 Die Mühen und das Leiden des Weisen Paulus’ Selbstdarstellung in 1Kor 15 ist besonders durch seine Mühen (v.10) sowie durch sein Leiden (v.30 f) bestimmt. Für die Beschreibung seiner Arbeit, die gleichbedeutend mit Mühen ist, verwendet Paulus bevorzugt das Wortfeld κοπ-.¹¹⁸ Er gebraucht damit ein Wortfeld, das in der damaligen philosophischen Diskussion relativ ungewöhnlich war, jedoch biblisch sehr wohl gedeckt ist,¹¹⁹ auch wenn die LXX selbst dem synonymen Wortfeld πον- den Vorzug gibt.¹²⁰ Auch Philo kennt das Wortfeld κοπ-, benutzt es aber äußerst selten (insgesamt nur viermal). Dafür ist seine Behandlung des Wortfeldes umso interessanter, insofern er eine enge Verbindung zwischen der mühevollen Arbeit und der Tugend sieht, wie er an der Wiedergabe des Namens Leah, der zweiten Frau Jakobs, deutlich macht: Diesen übersetzt er mit κοπιῶσα.¹²¹ Die Begründung für diese Namensgebung differiert jedoch jeweils: In mig. 144 f ist die Erklärung, dass Leah als Tugend das Leben der schlechten Menschen (τὸν τών φαύλων βίον) als mühevoll ansieht und ablehnt. In mut. 254 geht es um die Ablehnung Leahs bzw. der Tugend durch jeden Toren (ἅπας ἄφρων), da sie selbst als mühevoll angesehen wird. Cher. 41 schließlich bietet die Erklärung, dass Leah als Tugend von jedem Toren (πᾶς ἄφρων) wegen der Ausdauer ihrer Lebensweise als ‚überdrüssigʻ abgelehnt wird, was κοπιῶσα auch bedeuten kann. Deutlich bei all diesen unterschiedlichen Deutungen ist aber der stete Widerstreit der Toren und schlechten Menschen – die ja im gesamten Weisheitsdiskurs das Gegenüber zum Weisen

 Überhaupt ist Gnade ein wesentliches Moment für das Verständnis des Apostels, vgl. O. Glombitza,“ Gnade – Das entscheidende Wort. Erwägungen zu 1. Kor. XV 1– 11, eine exegetische Studie,“ in: NT 2 (1958), 281– 290 (288 – 290). Interessanterweise spricht Paulus in der Korintherkorrespondenz nicht explizit vom Zorn Gottes – ein Entgegenkommen im Hinblick auf die philosophisch ausgerichtete Gemeinde?  Vgl. Hauck, „κόπος“ 828 f.  Vgl. Hauck, „κόπος“ 827 f. Nicht zu übersehen ist dabei Jes 49,4, wo der Gottesknecht schildert, dass er sich ‚vergeblich abgemühtʻ (κενῶς ἐκοπίασα) hat – also eine 1Kor 15,10 diametral gegenüberstehende Vorstellung. Dieser (von Paulus bewusst gestaltete?) Gegensatz ist zu beachten, da der (deutero‐)jesajanische Gottesknecht eine Paulus überaus wichtige biblische Identifikationsfigur geworden zu sein scheint, vgl. Wilk, Bedeutung 367– 369.406 f.  Vgl. A. v. Harnack, „κόπος (κοπιᾶν, Οἱ Κοπιῶντες) im frühchristlichen Sprachgebrauch,“ in: ZNW 27 (1928), 1– 10 (4).  Vgl. Philo, Cher. 41; mut. 254; migr. 145.

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bilden – gegen Leah als κοπιῶσα. Mit seiner Wortwahl rückt Paulus also (bewusst oder unbewusst) beachtlich nahe an den beim philosophisch beeinflussten Philo geführten weisheitlichen Diskurs und die dortige Überlegung, was einen Weisen im Gegensatz zu einem Toren ausmacht. Der zu κόπος synonyme, aber eher profane Begriff πόνος findet besonders bei den Stoikern als ‚Lieblingswortʻ Verwendung.¹²² Für die Stoiker ist klar, dass der Weise – auch wenn die mühevolle Arbeit (πόνος) wie ihr Gegensatz die Lust (ἡδονή) weder gut noch schlecht ist –¹²³ keine Angst vor der Mühsal hat.¹²⁴ Hingegen ist keiner der schlechten, törichten Menschen (τις τῶν φαύλων) jemals bereits, Mühen auf sich zu nehmen (φιλόπονος).¹²⁵ Wie bei Philo erscheint hier der Gegensatz von Mühsal und den Toren, die den Widerpart der Weisen darstellen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es durchaus keinen Widerspruch, wenn nicht vielmehr sogar eine Affinität des Weisen zur Mühsal gibt. Dies vertritt dann auch der xenophonische Sokrates, indem er erst auf ein Sprichwort verweist¹²⁶, um dann die Geschichte des weisen Prodikos über Herakles am Scheideweg zu erzählen, der, selbst ein Vorbild für die Gestalt des Weisen,¹²⁷ sich für den mühseligen Weg der Tugend entschied.¹²⁸ Selbst bei den Epikureern wird das Ertragen der Mühsal (πόνος) als besser angesehen, da dadurch die Freude an der Lust noch größer wird,¹²⁹ auch wenn ‚natürlicherweiseʻ alle Lebewesen an der Lust Wohlgefallen haben, an der Mühsal aber Anstoß nehmen.¹³⁰ Möglicherweise benutzt Paulus aufgrund der Profanität des viel gebräuchlicheren (und von den Philosophen ‚besetztenʻ) πόνος¹³¹ lieber das Wortfeld κοπ-,

 Vgl. Hauck, „κόπος“ 827 Anm. 6 mit Verweis auf Epiktet.  Vgl. Diog.Laert. 7,102.  Vgl. Epikt.Diss. 2,1,35. Epiktet (Diss. 2,1,19) bezeichnet Mühsal (wie auch den Tod) als ‚Schreckgespenstʻ (μορμολύκειον), vor dem man keine Angst zu haben braucht.  Vgl. Stob. 2,105,7 (= SVF 3,683).  Xen.mem. 2,1,20: τῶν πόνων πωλοῦσιν ἡμῖν πάντα τἀγάθ’ οἱ θεοί („Gegen Mühsal [allein] verkaufen uns alles Gute die Götter.“).  Vgl. etwa Epikt.Diss. 3,24,13 f; 26,31.  Vgl. Xen.mem. 2,1,21– 34.  Vgl. Epik.fr. 442; zudem 447 (= Plut.mor. 36B: „Die großen Mühsale ziehen ohne Umschweife aus, die langwierigen [sc. Mühsale] aber haben keine Macht.“); 600 (= Plut.mor. 1090A: Freude der Mühseligen). πόνος wird dabei oft in Verbindung mit Krankheit gestellt.  Vgl. Epik.fr. 66 (=Diog.Laert. 10,137); 448 (= Plut.mor. 1103D: Mühsal führt zum Tod). πόνος wird synonym zum Schmerz (λύπη) verstanden und ist somit nach der Doktrin des Kepos zu vermeiden, vgl. Stobaios, flor. 5,76. Das Ziel des Epikureers besteht in einem Leben der Schmerzlosigkeit (ἀπονία), worüber jemand wie Plutarch nur seinen Spott ausgießen kann, vgl. Plut.mor. 1088A–1092D.  Vgl. Harnack, „κόπος“ 4.

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was jedoch auch am speziellen biblischen Sprachgebrauch liegen mag. Der Sache nach ist jedenfalls deutlich, dass Paulus sich vor seiner apostolischen Arbeit und der damit verbundenen Mühsal nicht drückt, sondern sie über die Maßen auf sich nimmt. Damit entspricht er durchaus den Vorstellungen über den hellenistischen Weisen. Paulus’ in 1Kor 15,30 f geschilderte Leiden – die stündliche Gefährdung sowie das tägliche Sterben – spielen ebenfalls seiner Selbstdarstellung als eines Weisen in die Karten. Auch wenn es sich hierbei um keinen Peristasenkatalog ¹³² handelt, geht es nichtsdestotrotz um Peristasen, die der Apostel zu erleiden hat.¹³³ Als solche dienen sie der Darstellung seiner ethisch-moralischen Integrität im Sinne seiner Botschaft, also der Übereinstimmung seiner Lebensweise mit seinem festen Gottvertrauen, das sich aus dem Auferstehungsglauben herleitet. Der hellenistische Weise wird ebenfalls oftmals von Peristasen bedroht dargestellt bzw. stellt sich selber entsprechend dar, was zur Steigerung seiner Glaubwürdigkeit beiträgt.¹³⁴ Durch die Nennung der Peristasen in v.30 – 32 – gerade in Verbindung zur Argumentation über die Auferweckung – kann Paulus zeigen, dass in ihm Botschaft und Bios, Sprechen und Handeln und nicht zuletzt Lehre und Leiden eine Einheit bilden, was das wesentliche Merkmal (particular) des hellenistischen Weisen ist.

6.3 Der Kampf mit den Tieren In 15,32 verweist Paulus auf seinen eigenen Tierkampf in Ephesus. Zwar besitzen wir Heutigen keine weiteren Informationen über diese Begebenheit, jedoch hat Abraham Malherbe wahrscheinlich gemacht, dass Paulus – ausgehend von der formalen Übereinstimmung des Passus v.30 – 32 mit der moralphilosophischen ‚Diatribeʻ – hier nicht wörtlich, sondern bildlich spricht¹³⁵ und sich dadurch auch in die Sprachwelt der zeitgenössischen Weisen hineinstellt:¹³⁶ Das Motiv des Tierkampfes wird von Moralphilosophen entweder zur Darstellung ihrer Auseinandersetzung mit Hedonisten bzw. Menschen, die das geistige Leben verachten,

 Vgl. dazu Berger, Formen 284– 287.  Fitzgerald, Cracks 1 kommt leider nur in der Einleitung zu seiner wichtigen Arbeit auf 1Kor 15,30 – 32 zu sprechen.  Vgl. etwa Plat.rep. 361E; Epikt.Ench. 29,6 f; zu dem Komplex insgesamt Fitzgerald, Cracks 47– 116.  So schon etwa bei Aristoph.Lys. 1014: οὐδέν ἐστι θηρίον γυναικὸς ἀμαχώτερον („Keine Bestie ist im Kampf unüberwindlicher als eine Frau.“).  Vgl. hierzu und zum Folgenden Malherbe, „Beasts“ 71– 80.

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herangezogen,¹³⁷ oder es dient zur Illustrierung des Sieges über das eigene Begehren.¹³⁸ Gerade die Lokalisierung, die Paulus mit der Nennung von Ephesus vornimmt, deutet darauf hin, dass es um einen nach außen hin wahrnehmbaren ‚Tierkampfʻ gegangen sein muss, es sich demnach nicht um eine rein innerliche Auseinandersetzung des Apostels gehandelt hat, sondern andere Menschen involviert waren. Bei einem übertragenen Verständnis des Tierkampfes wäre also unter diesen Voraussetzungen ein Disput mit Hedonisten oder ‚tierischʻ (d. h. nicht geistig) lebenden Menschen anzunehmen, wie dies dann auch die zweite Vershälfte nahe legt.¹³⁹ Dann ließe sich mit Karl-Gustav Sandelin resümierend sagen: „Paulus wird ebenso wie ein Weiser von den Unverständigen angegriffen.“¹⁴⁰

6.4 Unwissenheit und Toren Die Mahnung, die Paulus in 15,34 ausspricht, beinhaltet, dass die Auferstehungsleugner Unwissenheit in Bezug auf Gott (ἀγνωσία θεοῦ) haben. Unwissenheit aufseiten der Korinther möchte der Apostel nicht sehen, wie aus den Formeln 10,1; 12,1 deutlich wird.¹⁴¹ Allerdings erhält dieses Wort im griechischen Weisheitsdiskurs eine besondere Note, insofern das Oppositum zur ἀγνωσία (bzw. zur synonymen ἄγνοια)¹⁴² sowohl bei Plato als auch in der Stoa die Verständigkeit (ἐπιστήμη) bzw. die Weisheit selbst (σοφία) ist.¹⁴³ Mitunter wird angenommen,

 Vgl. für den paganen Bereich etwa Epikt.Diss. 1,29,21, wo über einen Dieb gesagt wird, dass er durch sein Handeln tierartig (θηριώδες) geworden ist, oder 2,9,1– 6, wo unbeherrschte Menschen (im Gegensatz zu vernunftgeleiteten und damit weisen Menschen) nicht bloß Schafe und wilde Tiere genannt werden, sondern explizit (6!) mit wilden Tieren gleichgesetzt werden. Im jüdischen Bereich werden unvernünftige Menschen ebenfalls mit wilden Tieren verglichen, vgl. Philo spec.leg. 3,99; 4Makk 12,13.  Vgl. etwa Dion Chrys. orat. 5,22 f; 8,20 ff.  Offen bleiben muss, in welcher Weise Paulus in dieser Situation um sein Leben fürchtete, wie es 1Kor 15,30 f klimaktisch nahe legen. Kam es vielleicht zu gewaltsamen Handlungen gegen Paulus? Gleichwohl müssen diese Geschehnisse sich aber zum Besseren gewendet haben, wenn er in 16,8 f zwar von vielen Gegnern (ἀντικείμενοι πολλοί), aber vor allem einer großen geöffneten Tür in Ephesus schreibt, vgl. Fitzmeyer, Corinthians 582.620.  Sandelin, Auseinandersetzung 145.  Das ἀγνοεῖν in 14,38 bedeutet ‚anerkennenʻ, vgl. etwa Merklein/Gielen, Brief III 224 f.  Vgl. R. Bultmann, „ἀγνοέω κτλ.,“ in: ThWNT 1 (1933), 116 – 122 (119).  Vgl. Bultmann, „ἀγνοέω“ 118 mit Stellenangaben. Bultmann schießt sich trotz der früheren Belege der Wort-Opposition bei Plato auf die Stoa als maßgeblicher Einfluss auf den dualistischgnostischen Sprachgebrauch im Hellenismus (119) sowie auf Urchristentum und Judentum (120) ein und widerspricht damit (bewusst: 122) Norden, Theos 96, der die umgekehrte Richtung für wahrscheinlicher hält, „nämlich, daß die schwachen Spuren dieser Vorstellungsform [d. h. die

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dass Paulus mit ἀγνωσία θεοῦ ein Syntagma mit fester Deutung verwendet.¹⁴⁴ Allerdings erscheint es mir wahrscheinlicher, dass Paulus mit ἀγνωσία hier einen weisheitlichen Terminus aufgreift und ihn durch θεοῦ gleichsam tauft – Vergleichbares hatte er bereits in 1Kor 2,16 getan, wo der Terminus νοῦν ἔχειν (‚Verstand habenʻ = ‚weise seinʻ)¹⁴⁵ um den Genitiv Χριστοῦ erweitert ist. Somit geht es hier in 15,34 um einen Vorwurf vor weisheitlichem Hintergrund. Die Auferstehungsleugner werden mit Unwissenden, also Nicht-Weisen bzw. Toren (im Gegensatz zu den Weisen) gleichgesetzt.¹⁴⁶ Wenn Paulus den Auferstehungsleugnern Unwissenheit unterstellt, bedeutet dies im Gegenzug, dass er durchaus über Wissen bzw. Erkenntnis über Gott besitzt, was er ja mit seinem Auferstehungstraktat in c.15 und überhaupt dem gesamten 1Kor, aber auch sonst mit seinem Bios unter Beweis stellt. Im Gegensatz zu den unwissenden Auferstehungsleugnern stellt er sich also als wissend bzw. ‚erkennendʻ dar und stellt sich in klare Opposition zu ihnen.¹⁴⁷ Dies wird auch an der Anrede ἄφρων in v.36 deutlich. Im Weisheitsdiskurs wird dieses Wort oft als Synonym für die schlechten Menschen (φαύλοι) als Ge-

‚Erkenntnis Gottesʻ (γνῶσις θεοῦ) als Zentralbegriff der orientalischen Religionen], die die hellenistische Religionsphilosophie bei Cicero zurückgelassen hat, als eine Folgeerscheinung von deren langsamem aber stetigem Orientalisierungsprozesse aufzufassen seien“. Ganz abgesehen von der Frage, wo die Begriffe ‚Erkenntnis Gottesʻ bzw. ‚Nichtwissen um Gottʻ herstammen, muss Bultmanns Sicht dahingehend korrigiert werden, dass die griechische Philosophie an sich (und nicht allein die Stoa) Patin der oppositionellen Begrifflichkeiten ‚Erkenntnis/ Weisheit/ Verständigkeitʻ vs. ‚Nichtwissen/ Ungelehrigkeit/ Nichtbildungʻ war. Papyrologisch gibt das Wort ἀγνωσία im Übrigen nicht viel her (nur zwei Belege), vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 492, weshalb umso wahrscheinlicher wird, dass Paulus hier einen religiös-philosophischen Spezialbegriff verwendet.  Vgl. Norden, Theos 64 unter Verweis auf R. Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen nach ihren Grundgedanken und Wirkungen. Vortrag, ursprünglich gehalten in dem Wissenschaftlichen Predigerverein für Elsass-Lothringen, den 11. November 1909, Leipzig / Berlin 21920, 143 f [120 in der ersten Auflage], der anmerkte, dass ἀγνωσία θεοῦ in 1Kor 15,34 für Paulus „ein positiver Begriff ist, in dem sich mit dem Fehlen höherer Erkenntnis Weltliebe und sündige Neigung verbinden“. ‚Positivʻ meint hier ‚mit einer festen Bedeutung belegtʻ. Vgl. ebenso Conzelmann, Brief 342.  Vgl. SVF 4 s.v.  Ein Rückgriff in 1Kor 15,34 auf 8,1 („wir alle haben Erkenntnis“) bzw. auf 8,10 als Ausdruck des Selbstverständnisses einiger Korinther (dort der ‚Starkenʻ) erscheint dabei durchaus möglich, allerdings nicht so, dass damit dieselben Leute gemeint sind, vgl. Zeller, Brief 504. 15,34 als ironische Spitze gegen selbsternannte Weise in Korinth zu verstehen , vgl. Merklein/Gielen, Brief III 340 f, ist dadurch nicht ausgeschlossen.  γνωστικός wird in der nachpaulinischen Zeit zum Synonym für den Weisen, vgl. die Verweise in SVF 4 s.v.

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genstück zu den Weisen gebraucht.¹⁴⁸ Dass Paulus hier auf den weisheitlichen Diskurs rekurriert, wird dadurch wahrscheinlich, dass ἄφρων nach dem Befund der Papyri in der Alltagssprache überaus selten gebraucht wird.¹⁴⁹ Mit dem ‚jemandʻ (τις) aus v.35, der im Weiteren als Tor tituliert wird, ist kein Auferstehungsleugner gemeint.Vielmehr akzeptiert dieser τις durchaus die Auferstehung, wobei er das Konzept noch nicht ganz durchdringt.¹⁵⁰ Gerade gegenüber denjenigen in der Gemeinde, die sich für weise halten (1,26; 3,18), wird dies zu einer handfesten Beleidigung. Mit der Fremdbezeichnung ‚Torʻ hebt sich Paulus aber selber von diesen deutlich ab. Bei alledem spielt auch eine Rolle, dass ein möglicher Zusammenhang von 1Kor 15,32 – 34 zu Philo und SapSal besteht und Paulus’ Argumentation somit im ‚Horizont der alexandrinischen Weisheitstraditionʻ erscheint.¹⁵¹ Demnach steht im Hintergrund die Rede der Gottlosen in SapSal 2,1– 7, die mit 1Kor 15,32b (bzw. Jes 22,13LXX) den Gedanken des Hedonismus angesichts des unausweichlichen Todes teilt. Zudem spielt Philo in Det. 38 auf das zum geflügelten Wort gewordene Menander-Zitat aus 1Kor 15,33 an, wobei er in seiner gesamten Schrift Kain und Abel als hedonistischer Tor bzw. gott- und tugendliebender Weiser einander gegenüberstellt. Der Aufruf zur Nüchternheit (v.34) findet ein Echo bei Philo, für den Nüchternheit Gotteserkenntnis bedeutet (post. 175; Som 2,100 – 102; Ebr. 154 ff). Der Apostel stellt sich somit in 15,34– 36 sowohl in Gegensatz zu den unwissenden Auferstehungsleugnern als auch zu den unverständigen Auferweckungsgläubigen. Ihnen allen gegenüber erscheint er damit in Bezug auf die Lehre von der Auferstehung als wissend bzw. in den Begrifflichkeiten des allgemeinen Weisheitsdiskurses als weise.

6.5 Der Weise als Geheimnisträger Mit der Proklamation des Geheimnisses in 15,51 f stellt Paulus sich in die lange biblische Tradition der Propheten und Apokalyptiker als Offenbarungsempfänger und –verkünder.¹⁵² Daneben bzw. darin besteht aber auch eine generelle Ver-

 Vgl. G. Bertram, „φρήν κτλ.,“ in: ThWNT 9 (1973), 216 – 231 (217– 221); SVF 4 s.v.  Insgesamt gibt es nur zwei Belege, von denen in einem das Wort sogar nur als Spitzname erscheint, vgl. Arzt-Grabner et al., Korinther 492.  Burchard, „Korinther“ 241 vermutet, dass derjenige deshalb ganz im Stil der ‚Diatribeʻ als Tor bezeichnet wird, weil er die zweite Frage in v.35 falsch formuliert.  Vgl. zum Folgenden Sandelin, Auseinandersetzung 141– 145.  Vgl. G. Bornkamm, „μυστήριον κτλ.,“ in: ThWNT 4 (1942), 809 – 834 (820 – 823). Auch wenn sich der Begriff μυστήριον in der LXX nur in den Schriften aus hellenistischer Zeit findet und in

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Kapitel 12 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 15

bindung von Weisheit und Geheimnis, die nicht übersehen werden sollte und sich sowohl im jüdisch-orientalischen als auch im pagan-hellenistischen Bereich findet. Indem Paulus sich als Geheimnisträger präsentiert, kann er in Übereinstimmung mit seinem eigenen jüdischen Hintergrund an die paganen Vorstellungen der Korinther anknüpfen. Wieder einmal kommt es mir weniger darauf an, zu bestimmen, wie Paulus sich selbst gesehen hat, sondern herauszufiltern, wie er vermittels seiner Selbstdarstellung wahrgenommen werden konnte bzw. wollte. Es ist umstritten, ob die jüdische Apokalyptik ein Kind der Prophetie¹⁵³ oder der Weisheit¹⁵⁴ ist. Gleichwohl ergibt sich für die Apokalyptik wie für die Weisheit eine Schnittmenge, insofern beide nach Erkenntnis streben. Der Inhalt der apokalyptischen Weisheit besteht in Aussagen über die Endzeit, deren Verlauf bereits von Gott festgelegt wurde.¹⁵⁵ Diese eschatologische Weisheit innerhalb der Apokalyptik wird weitergegeben durch besondere Überbringer, sei es ein angelus interpretus oder ein geistbegabter Mensch, ist also stets offenbarte Weisheit. Die Weitergabe der Weisheit ist auf diese besonderen Überbringer angewiesen, da sie vor der Welt verborgen ist. Sie existiert nur im Geheimnis bzw. als Geheimnis.Von daher hat sie auch immer einen polemischen Charakter, der sich gegen die Unwissenden bzw. Nichteingeweihten – welche im eschatologischen Kontext zu den Verdammten werden – richtet. Letztendlich sind nur die Weisen als von Gott mit Erkenntnis beschenkte Menschen in der Lage, das eschatologische Geheimwissen zu verwalten und untereinander weiterzugeben und anhand dessen die Zeichen der (End‐)Zeit zu erkennen und zu deuten. Innerhalb dieses Deuterahmens präsentiert Paulus sich als ein Weiser, dem eschatologische Geheimnisse anvertraut sind, die er der Gemeinde Gottes als Zusammenschluss der von Gott endzeitlich Erwählten kundtut. Dies wird besonders daran deutlich, dass Paulus abschließend in 1Kor 15,54 f seine Einsicht in den Lauf der Welt mit einem biblischen Doppelzitat begründet und dadurch seine intime Kenntnis mit der Schrift – mithin das entscheidende Zeichen des orientalisch-jüdischen Weisen – aufweist.

Dan erstmals den „Sinn eines eschatologischen Geheimnisses, dh einer verhüllten Ankündigung der von Gott bestimmten, zukünftigen Geschehnisse“ (821; im Original teilweise gesperrt) hat, ist der Sache nach die eschatologische Geheimnisoffenbarung bereits in den Prophetenbüchern präsent, vgl. R. E. Brown, „The Pre-Christian Semitic Concept of ‚Mystery‘,“ in: CBQ 20 (1958), 417– 443 (423).  Vgl. dafür etwa Kaiser, Grundriß 2 175.  Vgl. G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments. Band 2. Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, München 91987, 318 f; Bennema, Strands 66. Auch traditionsgeschichtlich knüpfe die Apokalyptik an die Namen anerkannter Weisheitslehrer – wie Daniel, Esra oder Henoch – an (vgl. Rad ebd.).  Vgl. hierzu und zum Folgenden Bornkamm, „μυστήριον“ 820 – 823; Gladd, Mysterion 106 f.

7 Fazit

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Gleichermaßen kann Paulus als Geheimnisträger aber auch wie ein Weiser nach pagan-hellenistischen Vorstellungen erscheinen. Dies liegt an dem Selbstverständnis, welches die griechische Philosophie seit Platons Entlehnung von Mysterienterminologie zur Erklärung der eigenen Lehre entwickelt hatte.¹⁵⁶ Philosophie wird somit zur Mystagogie und der Philosoph dadurch selbst zu jemandem, der andere stufenweise durch die Enthüllung und Erklärung von Geheimnissen – analog zur Mysterienreligion – zur Erkenntnis führt. Hier macht sich das Phänomen der Sapientisierung des Heiligen bzw. die Sakralisierung des Weisen bemerkbar,¹⁵⁷ durch welches die ohnehin fließenden Grenzen zwischen Philosophie und Religion weiter verschwimmen. Ganz gleich, wie Paulus sich selbst verstanden hat – indem er auf seine Kenntnis von Geheimnissen zeigt, rückt er rein phänomenologisch in die Nähe aller anderen Geheimnisverwalter seiner Zeit, seien es nun Philosophen oder ‚heilige Männerʻ. Als Weise wurden sie aber allesamt angesehen. Paulus selbst erscheint somit auch in diesem Bereich als ein Weiser.

7 Fazit Die rhetorische persona als ein Weiser, die in den vorangegangenen Kapiteln vorbereitet wurde und in der Paulus seine Lehre verbreitet, lässt sich nun für 1Kor 15 genauer charakterisieren. Paulus tritt auf als einer, der an bekanntes Wissen erinnert und es weitergibt (15,1– 3) oder geheimes Wissen enthüllt (v.51). Er kann dieses Wissen vermitteln, weil er nicht nur in einer Offenbarungslinie (v.3 – 8), sondern auch in einer geschlossenen Reihe (v.11.14 f) mit den anderen Aposteln steht. Sie alle bilden aufgrund ihrer Erkenntnis gleichsam eine Gemeinschaft der Weisen. Paulus ist dabei besonders als jemand charakterisiert, dem Gottes Gnade widerfahren ist (v.9). Weiterhin nennt Paulus die Korinther Geschwister (v.1.50.58), wobei die Anrede sich wie eine Klammer um das gesamte Kapitel schließt. Er erscheint somit selbst wie ihr Bruder – freilich wie ihr großer Bruder (unter dem gemeinsamen göttlichen Vater [v.24]), da er ihnen in der Arbeit für den Herrn (v.58) um einiges

 Vgl. Bornkamm, „μυστήριον“ 814– 816, bes. 815 mit Verweis auf Plat.Tht. 156A,wo Sokrates in ironischer Weise Mysteriensprache verwendet (ἄλλοι δὲ πολὺ κομψότεροι ὧν μέλλω σοι τὰ μυστήρια λέγειν / „andere sind aber viel gewitzter, deren Geheimnisse ich dir sagen will“), um eine Lehre des Protagoras zu erläutern, wobei der Begriff ‚Geheimnisʻ verborgenes Wissen und nicht länger ‚Mysterien(‐kult)ʻ meint. Die gleiche Konstruktion ‚ein Geheimnis sagenʻ (nur im Sg.) verwendet auch Paulus in 1Kor 15,51.  S.o. Kapitel 3, 1.3.

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Kapitel 12 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 15

voraus (v.10) ist. Seine besondere Begnadung durch Gott erlaubt es ihm dann auch, seine jüngeren Geschwister im Glauben zu belehren und zu tadeln (v.34.36), wo es ihm nötig erscheint, und nötigt ihn zudem dazu, sich Gemeindegliedern mit diametral anderer Auffassung als seine Heilsbotschaft entschieden entgegenzustellen. Gerade aus der Frontstellung gegen diese Toren und Unwissenden wird sein eigener Stand als Weiser deutlich. Eben die autobiographischen Stellen verdeutlichen den gehobenen Status des Paulus gegenüber den Korinthern wie auch den anderen Aposteln. Hier wird einmal mehr Paulus’ Strategie erkennbar, sowohl seine (angebliche) Unwichtigkeit im Vergleich mit anderen Aposteln wie auch seine nach wie vor bestehende Autorität über die Gemeinde zu behaupten. Insofern Paulus Leben und Lehre miteinander in Beziehung setzt und verschränkt, definiert sich sein Status als der eines Weisen hellenistischer Prägung. Paulus erhebt sich auch in 1Kor 15 zu einem Vorbild und Beispiel für die Korinther. Dabei ist verständlicherweise die Vision des Auferstandenen als ein besonderer Gnadenakt Gottes für die Gemeindeglieder unnachahmlich und unerreichbar. Jedoch stellt sich Paulus als Beispiel für ein Leben im Auferstehungsglauben hin. Da sich das Leugnen dieses Glaubens als Nicht-Erkennen in Bezug auf Gott darstellt, ist dessen Annehmen gleichbedeutend mit Weisheit, so wie das Eintreten für diesen Glauben Vorbildcharakter erhält. Einmal mehr und abschließend wird Paulus somit für die Korinther beispiels-weise.

Kapitel 13 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 16 1 Zum Aufbau von 1Kor 16 In 1Kor 16 kommt Paulus noch auf zwei gesonderte Themen zu sprechen, die er in Analogie zu den vorangegangen Kapiteln mit περὶ δέ einleitet: die Sammlung für die Heiligen (v.1– 4) und Apollos (v.12). Das erste Thema ist noch erweitert um Reisepläne des Apostels (v.5 – 9) und die Bitte um ein gutes Aufnehmen des Timotheus (v.10 f). Es schließt sich nach dem letzten Thema eine briefliche Schlussparänese¹ in v.13 f an, die in eine Paraklese (v.15 f) mit anschließendem Bericht über die Ankunft von Stephanas, Fortunatus und Achaikus (v.17 f) übergeht. Es folgen Grüße von Gemeinden und einzelnen Gläubigen (v.19 f) sowie von Paulus selbst (v.21– 24). Einzelne Teile lassen sich der Symbuleutik zuordnen, so die Anweisungen zur Kollekte (v.1– 4)², die Paränese (v.13 f) sowie die Paraklese (v.15 f). Die anderen Teile fallen als epistolare Elemente aus dem rhetorischen Schema heraus.³

2 Durchgang Paulus ordnet gegenüber den Korinthern hinsichtlich der Kollektensammlung an, es ebenso zu handhaben wie die galatischen Gemeinden, nämlich eine individuelle wöchentliche Abgabe zu leisten (1Kor 16,1 f). Bei seiner Wiederkehr nach Korinth werde Paulus dann Abgeordnete aus der Gemeinde mit der Sammlung und Empfehlungsschreiben von ihm nach Jerusalem schicken, nötigenfalls sogar selbst mitkommen (v.3 f). Dabei bringt der Apostel aber zum Ausdruck, dass er eigentlich gerne längere Zeit in Korinth verbringen würde (v.7). Für den bereits in

 Vgl. Berger, Formen 201 f.  Berger, Formen 272 rechnet nur 1Kor 16,1– 2 als Gemeindeordnung zur Beratung, während er in v.3 – 4 bereits sog. Epistolaria, also persönliche Briefelemente erkennt; diese betreffen „alle realen Umstände, die sich aus der Tatsache des räumlichen Getrenntseins der Partner ergeben“ (a.a.O. 335; im Original kursiviert).  Es leuchtet mir nicht ein, dass Berger, Formen 335 f die Epistolaria zu den epideiktischen Gattungen rechnet. Wird in ihnen etwas aufgezeigt bzw. gewürdigt, was ja Aufgabe der Epideiktik ist? Klar ist, dass sie weder zur Symbuleutik noch zur Dikanik gehören. Deshalb müssen sie aber noch lange nicht der Epideiktik zugeschlagen werden, sondern können eben als briefliche Elemente ganz außerhalb des rhetorischen Dreier-Schemas ihren angemessenen Ort finden. DOI 10.1515/9783110498769-016

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Kapitel 13 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 16

4,17 angekündigten Timotheus (dort wie die Korinther in 4,14 als ‚geliebtes Kindʻ bezeichnet) bittet Paulus in 16,10 um eine Aufnahme, die sich für diesen Mitarbeiter als „furchtlos“ (ἀφόβως) erweisen solle. Möglicherweise ist dies ein Rückgriff auf 2,3 und damit eine Erinnerung an Paulus’ erstes Auftreten in Korinth „in Schwäche und mit viel Furcht und Zittern“. Anders aber als in 2,3, wo eine formelhafte Redewendung zur Umschreibung einer respektvollen Haltung des Apostels gegenüber der Gemeinde gebraucht wurde,⁴ geht es hier tatsächlich um einen Aufenthalt, bei dem Timotheus keine Furcht zu haben braucht. Dies macht auch in v.11 der Aufruf, ihn nicht für nichts zu achten (ἐξουθενήσῃ), deutlich. Anders als in 1,28, wo verachtet zu sein (ἐξουθενημένα und in diesem Zuge auch schwach zu sein, worauf sich Paulus in 2,3 bezieht) gerade als Zeichen von Gottes Erwählung gilt, ist dies in 16,11 etwas Schlechtes innerhalb der Gemeinde.⁵ Insofern wird auch die Furcht in v.10 als etwas Negatives gedacht und nicht in einem Zusammenhang mit 2,3 stehen.

Als Begründung für die Gastfreundschaft gegenüber Timotheus liefert Paulus, dass beide das Werk des Herrn (ἔργον κυρίου)⁶ ausüben. Dieses Syntagma begegnete bereits in 15,58 und war dort auf die Korinther als darin Wachsende bezogen. Es schließt also Paulus, Timotheus und die Gemeinde zusammen. Sie alle ziehen gleichsam am selben Strang. Als Nachricht über Apollos (16,12) kann Paulus den Korinthern nur berichten, dass er den ‚Bruderʻ ermuntert habe (παρεκάλεσα), nach Korinth zu reisen, Apollos aber selber über eine weitere Reise dorthin entscheide. „In der Absage äußert sich die Unabhängigkeit des Apollos von Paulus.“⁷ Mit dem in der Schlussparänese enthaltenen Wortpaar ἀνδρίζεσθε und κρατιοῦσθε (v.13) greift Paulus auf alttestamentliche Sprachmotivik zurück, wie sie etwa in PsLXX 30,25 erscheint.⁸ Gleichermaßen unternimmt Paulus einen Rückgriff auf seine eigenen Anweisungen, indem er noch einmal die Liebe (ἀγάπη) ins Spiel bringt, in welcher die Korinther all ihre Dinge geschehen lassen sollen (v.14) und die im Zentrum der Argumentation über die Gnadengaben in der Gemeinde stand. In der Paraklese v.15 f ruft Paulus dazu auf, sich solchen Menschen wie Stephanas und sein Haushalt unterzuordnen. Als ‚Erstling der Achaiaʻ, also als

 S.o. Kapitel 6, Exkurs 2.  Anders sieht es in 6,4 mit den „Verachteten in der Versammlung“ aus. Dies bezieht sich wohl auf Nicht-Christusgläubige, die zu Richtern über gemeindeinterne Dinge berufen werden, vgl. Conzelmann, Brief 134.  Es ist hier schwerlich zu entscheiden, ob ein objektiver („für den Herrn“) oder subjektiver („vom Herrn ausgehend“) Genitiv vorliegt.  Wolff, Brief 434 gegen etwa Kümmel bei Lietzmann, Korinther 196, der hier Gottes abschlägigen Willen erkennt; vgl. zudem Fitzmeyer, Corinthians 622 f.  Vgl. Conzelmann, Brief 368; Wolff, Brief 435.

3 Zur Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 16

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erstem christlichen Haus in jener Provinz, die sich in den Dienst an den Heiligen (16,1!) gestellt haben, gebührt ihm Respekt und Anerkennung. Zudem, führt Paulus fort, freue er sich über das Eintreffen von Stephanas und seiner beiden Gefährten bei ihm, weil sein eigener wie auch der Geist der Korinther dadurch beruhigt sei, dass die drei den Mangel der Gemeinde ausgeglichen hätten.⁹ Es geht hier wohl weniger um die Gesandten als gegenwärtigen Ersatz für die Gemeinde als vielmehr um die Wiederherstellung eines Verbundenheitsgefühls zwischen Gemeinde und Apostel nach einer Phase der Entfremdung aufseiten der Korinther, die durch die Abwesenheit des Paulus bedingt war.¹⁰ Nach den Schlussgrüßen unterschreibt Paulus noch mit eigener Hand (v.21). Als letztes Wort sendet er allen Korinthern seine Liebe (ἀγάπη) in Christus Jesus (v.24).

3 Zur Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 16 Zum Briefende hin kommt Paulus noch einmal sehr intensiv auf sich selbst zu sprechen. Dies liegt zum einen rein formal daran, dass in diesem brieflichen Schreiben eben noch Epistolaria, d. h. „persönlich-pragmatische“¹¹ Briefelemente, anzubringen sind. Gleichwohl zeichnet Paulus in diesen letzten Versen ein bestimmtes Selbstbild bzw. malt er noch einmal die Linien nach, die er zuvor bereits über sich gezogen hat. Es beginnt mit der Aufforderung, das, was er in den galatischen Gemeinden angeordnet hat, so auch in Korinth zu betreiben (16,1 f). Das Verb διατάσσειν gebrauchte Paulus von sich bereits in 7,17; 11,34. Darin kommt seine apostolische Weisungsbefugnis zum Ausdruck, die er mit dem Herrn (9,14; 14,37) teilt. Deutlich wird in 16,1 noch einmal, dass Paulus nicht bloß der Apostel der Korinther ist, sondern ein größeres Feld bearbeitet und wenigstens noch die Gemeinden in Galatien als Wirkungsstätte hat. Zudem erwähnt er gegenüber den Korinthern kein Wort der Schwierigkeiten mit jenen Gemeinden, so dass er umso mehr als unangefochtene Autorität erscheint. In die gleiche Kerbe schlägt auch die Erwähnung seiner Pläne für einen neuerlichen Aufenthalt in Korinth: Er wird derjenige sein, der den korinthischen Delegierten Briefe für die Reise nach Jerusalem ausstellen wird (v.3). Sie werden, wenn es das wert (ἄξιος) sein sollte, dass auch er (κἀμέ)¹² loszieht, mit ihm ziehen (v.4) – eine deutliche Darstellung, dass Paulus derjenige ist, der den Delegierten  Dies meint, was die Korinther Paulus gegenüber ermangeln ließen, vgl. Conzelmann, Brief 369.  Vgl. Klauck, Korintherbrief 128 f; Wolff, Brief 436.  Berger, Formen 335.  Hier ist das vorletzte κἀγώ in 1Kor zu finden, freilich im Akkusativ.

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Kapitel 13 – Die Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 16

den Weg vorschreibt. Auch angesichts der vielfältigen Anfragen und Probleme in Korinth zeigt sich Paulus äußerst bestimmt: Obwohl die Möglichkeit da wäre, bei der Gemeinde vorbeizuschauen, schlägt der Apostel dies zugunsten eines späteren, längeren Aufenthaltes aus (v.5 – 7). Ebenso erscheint die Selbstbeschreibung in v.8 f als durchaus selbstbewusst, insofern Paulus auf die großen Möglichkeiten, aber auch die zahlreichen Widerstände in Ephesus hinweist. Eine deutliche Selbstbeschreibung bietet dann auch 16,10fin. Hier steht das letzte κἀγώ im 1Kor. Paulus stellt einen Vergleich mit Timotheus her, der das Werk des Herrn ausübt. Dieser Vergleich dient der Autorisierung des Apostelmitarbeiters bei den Korinthern. Gerade die Benennung der Tätigkeit des Timotheus sowie des Paulus dient der Begründung, warum Timotheus eine angenehme Aufnahme in Korinth zuteil werden soll. Zwar schließt die Erwähnung des Syntagmas ἔργον κυρίου Timotheus, Paulus und die Korinther zusammen (s.o.). Gleichzeitig schwingt aber auch ein gewisser hierarchischer Unterton mit, besonders wenn Paulus die Gemeinde davor warnt, Timotheus für nichts zu achten (v.11a). Dies bleibt aber nur ein Unterton, der nicht in den Vordergrund tritt, wie bei den Nachrichten über Apollos deutlich wird (16,12). Hier erscheinen Paulus und Apollos als Brüder, und als ein solcher ermunterte der Apostel in massiver Weise (πολλά) seinen Missionskollegen, erneut nach Korinth zu reisen. Paulus stellt damit klar, dass er kein Problem darin sieht bzw. keine Angst um seine Gemeinde hat, wenn Apollos neuerlich in der Hauptstadt der Achaia wäre. Obwohl Apollos vermutlich der Auslöser für die Gruppenbildung in der Gemeinde war, kann Paulus selbstbewusst einer Reise des anderen Missionars nach Korinth zustimmen, ja sie sogar anregen. Zudem macht Paulus durch die Verwendung von παρακαλεῖν dieselbe Ebene deutlich, auf der er und Apollos stehen. Es ist kein Anordnen oder Befehlen, sondern ein geschwisterliches Ermuntern. Auf die gleiche Ebene stellt Paulus im Folgenden formal auch die Korinther, wenn er sie in v.15a als Geschwister ermuntert. Mit παρακαλῶ hatte Paulus sie bereits an den wichtigen Stellen 1,10 und 4,16 angesprochen.Während sie in 1,10 ebenfalls als Geschwister tituliert wurden, wurden die Korinther in 4,16 als Paulus’ geliebte Kinder vorgestellt. Beide Male herrschte ein Tonfall der Liebe vor.¹³ Dies ist auch hier der Fall, wie gerade der Aufruf zum liebevollen Umgang miteinander in 16,14 zeigt. Von daher ist die Ermunterung zur Unterordnung unter Stephanas und seinesgleichen (v.16) als liebevoller Rat, nicht als Befehl formuliert.

 Gleichwohl gab es in 1Kor 4,21 die Rückversicherung auf autoritäres Gebaren seitens des Apostels.

3 Zur Selbstdarstellung des Paulus in 1Kor 16

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Mit 16,17 drückt Paulus seine Freude über die Ankunft von Stephanas und seinen Gefährten aus. In v.18 kommt er erneut auf seinen Geist (πνεῦμα) zu sprechen, den er zuvor schon in 2,12; 5,3 f; 7,40; 14,14 erwähnt hatte. Gerade die Verbindung von Paulus’ Geist und dem Geist der Korinther ist als Motiv aus 5,3 f bereits bekannt. Diesmal geht es nicht um eine gerichtliche Zusammenkunft, sondern um ein versöhnendes Zusammenkommen. Der Geist des Apostels sowie der Gemeinde sind durch die Vermittlung bzw. Übermittlung von Stephanas und seinen Gefährten zur Ruhe gekommen. Die enge geistige Gemeinschaft von Apostel und Gemeinde gilt also in Leid (c.5) wie ebenso in Freude (c.16). Die Gemeinschaft des Apostels mit seiner Gemeinde betont Paulus schließlich mit dem letzten Satz des Briefes (16,24), in welchem er seine Liebe (ἡ ἀγάπη μου) allen Korinthern sendet. Dieses zentrale Motiv des Briefes (2,9; 4,14; 8,1; c.13; 14,1; 16,14) setzt also auch den letzten Ton und lässt Paulus selbst in liebevollem Licht (er)scheinen. Die Weisheit bzw. die Gestalt des Weisen spielt in diesem letzten Kapitel des 1Kor explizit keine Rolle mehr. Angesichts des brieflich-formalen Charakters ergibt sich dazu auch keine Notwendigkeit mehr. Implizit ist sie aber eben in der liebevollen Haltung des Apostels inbegriffen.

Zusammenfassung, Ausblick und Fazit 1 Zusammenfassung Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Frage, ob die Wahrnehmung des Apostels Paulus als eines Weisen, die sich in den Deuteropaulinen und der frühchristlichen Literatur manifestiert, einen Anhalt in der Selbstdarstellung des Apostels hat. Da der 1Kor in seinen ersten vier Kapiteln (im Gegensatz zu allen anderen erhaltenen Paulusbriefen) eine explizite Weisheitsthematik bietet, lag es nahe, diesen Brief zum Untersuchungsobjekt meiner Fragestellung zu machen. Bevor die grundlegende Frage beantwortet werden konnte, mussten zunächst die beiden Hauptkomponenten der Ursprungsfrage geklärt werden: das Selbst und die Darstellungen desselben (Kapitel 1). Bei der Untersuchung der ersten Komponente – des Selbst – ergab sich, dass eine Betrachtung des Selbst eines antiken Autoren an der Darstellung desselben zum Stehen kommt und nicht tiefer vordringen kann. Dies hängt durchaus auch mit dem Person-Verständnis des Altertums zusammen, das bedingt sowohl durch die persona-Konzeption als auch durch eine von Ehre und Schande bestimmte Kultur sehr auf die Außendarstellung innerhalb einer kollektivistischen Gesellschaft bedacht war. Gleichwohl lassen sich dadurch die Züge der Selbstdarstellung eines antiken Autors im literarischen Kontext leichter einordnen. Innerhalb einer Schrift kann das dargestellte Selbst zum verbindenden Element der einzelnen Textteile werden. In Anlehnung an die These von Ware und Linkugel bezeichne ich dieses übergreifende dargestellte Selbst als ‚rhetorische personaʻ. Diese bezieht sich auf in der Kultur allgemein bekannte archetypische Vorstellungen, die sich in besonderen, als ‚particularsʻ bezeichneten Eigenschaften niederschlagen, und gewinnt durch das stete Verweisen auf diese Eigenschaften ihre rhetorische Überzeugungskraft (ethos). Damit wird die Suche nach einer Erklärung für die Selbstdarstellung des Paulus zu einer Suche nach seiner rhetorischen persona. Für die zweite Komponente – die Darstellungsformen des Selbst – wurde der literarische Kontext des Apostels genauer untersucht. Eine Textgattung ‚Autobiographieʻ im modernen Sinne kann für die Antike nicht festgestellt werden. Hingegen gibt es durchaus zahlreiche Möglichkeiten, das eigene literarische Selbst zum Sprechen zu bringen, die Paulus sowohl aus dem jüdischen als auch aus dem paganen Bereich bekannt gewesen sein mögen. Zwei Erkenntnisse sind hierbei von besonderer Bedeutung: a) Autobiographisches Schreiben bedeutet nicht die Darstellung des eigenen Lebens als zeitlich gelebter Geschichte, sondern vielmehr die Darstellung der eigenen Lebensweise, des Bios; b) autobiographisches Schreiben geschieht zu Paulus’ Zeiten nicht allein aus dem Anlass der SelbstDOI 10.1515/9783110498769-017

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verteidigung, sondern auch aus dem Bedürfnis heraus, anderen als nachahmenswertes Vorbild zu erscheinen. Von daher kann das Von-sich-selbst-Sprechen in sämtlichen drei rhetorischen Sprechweisen bzw. genera nach Aristoteles geschehen, also gerichtlich, beratend und würdigend. Anknüpfend an die Frage nach der Darstellungsform des Selbst befasste ich mich dann mit dem Phänomen des gelegentlichen Schreibens in der 1.P.Pl. beim Apostel (Kapitel 2). Die These eines sog. ‚schriftstellerischenʻ Plurals habe ich dabei widerlegt: Wenn Paulus in der 1.P.Pl. schreibt, dann steht im Hintergrund in der Regel ein Kollektiv. Nur in äußerst seltenen Ausnahmefällen (gleichsam im Affekt) kann der Apostel einen unlogischen Plural verwenden, um sich selbst größer erscheinen zu lassen. Umgekehrt meint der Apostel in der Regel allein sich selbst, wenn er in der 1.P.Sg. schreibt. Auch hier gibt es Ausnahmen, bei denen Paulus mit der 1.P.Sg. nicht sein eigentliches Selbst meint, sondern es paradigmatisch oder im Stil der ‚Diatribeʻ als anderes Ich zu verstehen meint. Dies gilt es jeweils im Einzelfall zu klären. Um die Ausgangsfrage zu überprüfen, folgte zwingend ein eingehendes Kapitel über die Gestalt des Weisen in der Antike (Kapitel 3). Dieses phänomenologische Kapitel arbeitete zwei Gestalten des Weisen heraus: Während der Weise im Alten Orient und daran anknüpfend im Judentum als Schriftgelehrter erscheint, zeichnet sich der hellenische und später dann hellenistische Weise dadurch aus, dass in ihm Leben und Lehre in Einklang stehen und dass er selbst sich nie als weise bezeichnen würde. Der unschuldig zum Tode verurteilte und standhaft bleibende Sokrates wird in dieser Hinsicht zu einem Archetypen des hellenistischen Weisen. Grundlegend für Sokrates’ Charakterisierung sind nach der einflussreichen Schilderung Xenophons außerdem seine Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung, Verständigkeit sowie die Fähigkeit, andere von ihren Irrtümern hin zu einem tugendhaften Leben zu leiten. All diese Eigenschaften werden charakteristisch für die Gestalt des hellenistischen Weisen und können im Rahmen des Konzepts der rhetorischen persona als deren particulars verstanden werden. In Sokrates’ Gefolge entwickeln alle anderen philosophischen Ausrichtungen eigene Vorstellungen vom Weisen, die sich in der Römerzeit durch das Doppelphänomen der Sapientisierung des Heiligen und der Sakralisierung des Weisen zudem in religiöser Weise noch weiter aufladen. Das hellenistische Judentum macht diese Entwicklung teilweise mit, wie aus SapSal und den Schriften Philos deutlich wird; hingegen bleiben Ben-Sira und Josephus bei der althergebrachten orientalisch-jüdischen Vorstellung eines Weisen als Schriftgelehrten stehen. Als Träger von alien wisdom genießen viele nicht-griechische Weise im Hellenismus eine hohe Attraktivität beim griechisch-römischen Publikum. Betrachtungen zur Gestalt des Weisen im nicht-paulinischen frühen Christentum (Q) und zur äußeren Erscheinung des Weisen schlossen das Kapitel ab.

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Zusammenfassung, Ausblick und Fazit

Die Stadt Korinth und ihre christusgläubige Gemeinde rückten als Nächstes in den Focus (Kapitel 4). Korinth zeichnete sich durch seine Neugründung als römische Stadt aus, die gleichwohl ein griechisch geprägtes historisches Profil, u. a. als Wohnsitz des Kynikers Diogenes, besaß. Als Handelsmetropole war sie ein Anlaufpunkt auch vieler Philosophen und Weisheitslehrer, die mit ihrem Angebot an (mitunter als alien wisdom wahrgenommener) Weisheitslehre die Nachfrage unter den Bewohnern stillten. Die anhand der überlieferten Namen mutmaßliche Zusammensetzung der ‚Gemeinde Gottesʻ in Korinth aus vor allem römisch- und griechischstämmigen Mitgliedern mit nur wenigen jüdischen Gliedern scheint die Annahme eines gleich starken ‚Weisheitshungersʻ in der christusgläubigen Gemeinschaft zu stützen. Im Anschluss widmete ich mich dem Anlass für den 1Kor und einer Gesamtschau des Briefes (Kapitel 5). Dabei wurde deutlich, dass Paulus zum einen zwar auf eine aktuelle, von ihm als krisenhaft eingestufte Situation reagiert, zum anderen aber offenbar auch als Kompetenz bezüglich einiger brieflicher Anfragen aus Korinth angesehen wurde. Thema für Thema handelt der Apostel im 1Kor ab, wobei der (im Vergleich zu anderen Briefen) häufige Gebrauch von κἀγώ und damit ein allein sprachlich evidenter häufiger Selbsthinweis auffällt. Dabei kam ich zu dem Ergebnis, dass κἀγώ am Satzanfang sich auf einen vorher beschriebenen Sachverhalt zurückbezieht und mit „entsprechend ich“ zu übersetzen ist. Es folgte im zweiten Hauptteil ein exegetischer Durchgang durch den gesamten Brief, der sich an der von Paulus vorgegebenen formalen sowie thematischen Gliederung orientierte. Bei der Untersuchung der einzelnen Texte wurde auch immer eine Analyse der rhetorischen Sprechweise unternommen, um zu zeigen, dass Paulus’ Selbstdarstellung in allen drei klassischen rhetorischen genera erfolgen kann und nicht auf die Apologie allein beschränkt ist. Beim Durchgang durch den 1Kor ließen sich viele Spuren finden, die in ihrer Gesamtheit eine besondere Fährte ergeben. Gleichsam rückwärts in diesen Spuren gehend wurde so die Grundannahme plausibler gemacht, dass sich die paulinisch-korinthische Korrespondenz am besten vor dem popularphilosophischen Hintergrund des Hellenismus verstehen lässt. Vor diesem Hintergrund ist Paulus als eine der seinerzeit idealisierten Gestalten des Weisen zu verstehen und erscheint als Repräsentant einer soteriologisch-christusförmigen Weisheit. In dieser Funktion übt er eine beispielhafte Wirkung auf die Gemeinde aus. Dies ist in der Abfassungssituation auch geboten, gibt es doch Streitigkeiten innerhalb der Gemeinde. Um hierin befriedend zu wirken, verweist Paulus auf das spezielle Wesen seiner Christus-Weisheit, die in dem Vertrauen auf Gottes Gnade, in der Liebe (d. h. gegenseitiger Achtung und Rücksichtnahme) und in der Hoffnung auf Gottes Macht und Herrschaft ihren Ausdruck findet.

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Den Anfang beim exegetischen Durchgang machten das Präskript, in welchem sich Paulus deutlich als Apostel zu erkennen gibt, sowie die ersten vier Kapitel über die befürchtete Spaltung innerhalb der Gemeinde (Kapitel 6). Hier begegneten die ersten drei κἀγώ am Satzanfang (1Kor 2,1.3; 3,1), die Paulus’ Lebensweise in Konformität mit seiner Predigt vom gekreuzigten Christus stellen (2,1.3) sowie ihn als Weisheitslehrer kennzeichnen (3,1). Das erste ist ein impliziter, das zweite ein expliziter Hinweis auf Paulus’ angenommene rhetorische persona eines Weisen hellenistischer Prägung. Weitere Hinweise auf diese rhetorische persona (und damit auch auf den philosophisch gefärbten Hintergrund der korinthischen Situation) haben sich dann im übrigen Text der ersten vier Kapitel finden lassen, sei es in seiner Dienerrolle, sei in der Schilderung seiner Peristasen. In diesem Zusammenhang ist der Aufruf zur Nachahmung seiner selbst wichtig, den Paulus in 4,16 vorbringt und dann in 11,1 wiederholt. Er selbst soll also beispielhaft für die Korinther und ihr Verhalten sein. In Verbindung mit der von ihm gelebten und gelehrten Weisheit kann man Paulus daher als für die Korinther beispiels-weise bezeichnen. Der Appell zur Nachahmung resultiert durchaus auch aus der Charakterisierung seiner selbst als (Nähr‐)Mutter sowie v. a. als Vater der Gemeinde. Beide Motive tauchen im weiteren Briefverlauf wieder auf. Eine rhetorische persona ist nicht bloß auf ein Teilstück einer Schrift oder Rede beschränkt, sondern bildet als unterstützende Darstellung des Ethos des redenden oder schreibenden Ichs sozusagen den basso continuo. Daher müssten zur Untermauerung der These, dass sich Paulus in 1Kor als ein hellenistischer Weiser darstellt, auch in 1Kor 5 – 16 Spuren des Weisen auszumachen sein – zumal hier nicht mehr explizit die Weisheitsthematik der c.1– 4 auftaucht. In 1Kor 5 – 6 wurde dies an den beiden Rollen deutlich, die Paulus dort einnimmt: die eines Richters sowie die eines verzichtenden Bevollmächtigten (Kapitel 7). Mit der ersten Rolle hebt Paulus (aufgrund allgemeiner Ansichten über einen Richter als weise) noch einmal die ihm eigene Weisheit, dann aber auch seine Gerechtigkeit hervor. Gerechtigkeit war aber auch ein Markenzeichen des Weisen Sokrates sowie in dessen Gefolge aller hellenistischen Weisen und gilt somit als particular dieser rhetorischen persona. Die zweite Rolle als Bevollmächtigter macht Anleihen bei stoischen Vorstellungen, die ihre Wurzel aber überhaupt in der philosophischen Diskussion über Vollmacht (ἐξουσία) und Freiheit (ἐλευθερία) haben. Wie schon die erste Rolle erfährt auch die zweite durch die Einführung des verzichtenden Moments eine qualitative Neuausrichtung durch das Bekenntnis zu Christus. Diese Rolle wird Paulus dann in 1Kor 8 – 10 weiter entfalten. Ausgehend von einem Fragebrief der Gemeinde und anknüpfend an die vorangegangene virulente Sexualproblematik befasst sich Paulus in 1Kor 7 mit weiteren Fragen zum Geschlechtsleben (Kapitel 8). Die Ehefrage stellt dabei als grundsätzliche Anfrage an den Bios ein zentrales Motiv bei der Beschreibung der

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Zusammenfassung, Ausblick und Fazit

Gestalt des Weisen dar und wird in den verschiedenen philosophischen Richtungen unterschiedlich beantwortet. Deutlich wurde, dass Paulus hier zwar seine Ehelosigkeit als Ideal einbringt, als deren Grundlage aber die ihm eigene Selbstbeherrschung (ἐγκράτεια) anführt. Selbstbeherrschung erscheint als weitere particular der rhetorischen persona des hellenistischen Weisen. Es fiel besonders auf, dass Paulus die eigene Selbstbeherrschung als Gottesgabe auffasst (und somit für die Gemeinde keine Pflicht zur Enthaltsamkeit propagiert). Dies entspricht der Auffassung, wie sie auch in der hellenistisch-jüdischen SapSal über den Weisen Salomo erscheint. Diese Analogie deutet wenigstens an dieser Stelle auf Paulus’ Berührungspunkte mit der jüdisch-hellenistischen Weisheit hin. Auch bei der Behandlung der Problematik über den Umgang mit Idolenopferfleisch lässt Paulus vertraute Motive bezüglich der Gestalt des hellenistischen Weisen anklingen (Kapitel 9). Zunächst gilt dies für die Gotteserkenntnis, die einen Hinweis auf die Frömmigkeit als particular des hellenistischen Weisen darstellt. Zudem wurde erneut das Thema der Freiheit wichtig – diesmal speziell in materieller Hinsicht, was als ein wichtiger Punkt in der Darstellung Sokrates’ gilt: Materieller Lohnverzicht und das Gewinnen von Menschen gehen bei der (Unterrichts‐)Tätigkeit des Weisen Hand in Hand. Der paulinische Freiheitsbegriff unterscheidet sich dabei zunächst nicht vom philosophischen. Er erfährt erst durch das Moment des Verzichtens eine eigene, christusgläubige Note. Dies wird noch unterstrichen durch das paradoxe Motiv der Freiheit in Sklaverei, das ein Echo der theologia crucis darstellt. Die agonalen Sprachbilder sowie der Hinweis auf das Zuträgliche rundeten die paulinische (Selbst‐)Darstellung als ein hellenistischer Weiser ab. In diesem Zusammenhang ist dann wieder der Aufruf an die Gemeinde zur Nachahmung des Apostels wichtig. Es folgte dann die Selbstpräsentation in 1Kor 11,2– 34 (Kapitel 10). Hier ließ sich über Paulus die Aussage festhalten, dass er wie auch sonst die Weisen und Weisheitslehrer in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis zu der Gemeinde steht, wobei er sich als Überlieferer von christusgläubigen Lerngegenständen präsentiert. Zudem betrachtete ich die Ablehnung des Apostels von langem Haar bei Männern genauer. Auch wenn in diesem thematischen Briefabschnitt vieles im Dunklen liegt, entwickelte ich die These, dass Paulus sich hier gegen Vorwürfe bzw. Gerüchte innerhalb der Gemeinde wehrt, die Anhalt an einem Nasiräer-Gelübde haben, das der Apostel (Act 18,18 zufolge) auf sich genommen hat. Deutlich ist jedenfalls, dass Paulus mit seiner Haltung, die sich an die mehrheitlichen modischen Gegebenheiten seiner Umwelt anpasst, durchaus innerhalb der Vorstellungen über den hellenistischen Weisen rangiert. Wichtig bleibt die Übereinstimmung von Lehre und Leben. Im längeren Themenblock über das geistliche Leben in 1Kor 12– 14 tauchten erneut Hinweise auf die rhetorische persona des hellenistischen Weisen auf, die

1 Zusammenfassung

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Paulus im Gesamtbrief gleichsam aufgezogen hat (Kapitel 11). Hier war es vor allem c.13, das intensiver betrachtet wurde. Die darin sprechende 1.P.Sg. deutete ich auf das Ich des Apostels: Paulus stellt sich hier als vollkommenen Gläubigen dar, der allerdings (hypothetisch) ohne die Liebe (ἀγάπη) nichts ist. An seinem eigenen Beispiel macht Paulus deutlich: Die Liebe soll und muss zur Grundlage für das gesamte christusgläubige Leben werden, gerade in einer kompetitiven Gemeinde wie der korinthischen. Abgesehen von der formalen Nähe der Liebesaretalogie in c.13 zu philosophischen und hellenistisch-jüdischen weisheitlichen Dichtungen, wird hier erneut Paulus’ Übereinstimmung von Bios und vorgetragener Lehre deutlich, die ihn als Weisen hellenistischer Prägung kennzeichnen. Die in c.13 genannten Eigenschaften tragen allerdings eine eigene, stark religiöse Färbung, die auf die im Hellenismus zunehmende Sakralisierung der Gestalt des Weisen hinweist. Die Selbstdarstellung innerhalb des Themas über die Auferstehung der Toten wurde als enkomiastisch und damit der Epideiktik zugehörig gedeutet (Kapitel 12). Dabei wurde herausgestellt, dass Paulus hier sein einstiges Leben als Verfolger der Gemeinde und nun als schwerstarbeitender Missionar deshalb in Extremen zeichnet, um auf die übergroße Gnade Gottes hinzuweisen, die den Grund der Auferstehungshoffnung bildet. Im Zuge der Argumentation präsentiert sich Paulus im Gegenüber zu den korinthischen Auferstehungsleugnern implizit als weise und erkennend. Die schweren Mühen des Apostels lassen als Peristasen die Motivik über den leidenden Weisen anklingen. Zudem ergibt sich durch die von Paulus vorgestellten eschatologischen Vorgänge und die propagierte apokalyptische Geheimniskunde eine Verschiebung von einer rein philosophischen Weisen-Vorstellung hinein in den religiösen Bereich, also wiederum eine Sakralisierung des Weisen. Im letzten exegetischen Kapitel über 1Kor 16 ließen sich keine expliziten Spuren des Weisen mehr finden (Kapitel 13). Dies war auch nicht zu erwarten, da hier vor allem das briefliche Formular im Vordergrund steht. Allerdings wurde deutlich, dass Paulus seinen Brief trotz eines autoritären Gefälles zwischen ihm als Apostel und der Gemeinde in einem liebevollen Tonfall ausklingen lässt und seiner Selbstzeichnung treu bleibt. Die aufgenommene Fährte hat uns gleichsam zum Selbstporträt des Paulus geführt. Insgesamt ergibt sich ein farben- und sehr detailreiches Bild, das Paulus im 1Kor von sich malt. In Umrissen wird durchaus die Gestalt des hellenistischen Weisen sichtbar; ausgemalt ist das Bild jedoch in den Farben des Kreuzes, der aufopferungsvollen und selbstvergessenen Liebe und der Auferstehung. Mitunter lassen diese Farben auch die Umrisse verschwimmen, so dass sich ein ungewohnter Anblick auf diese spezielle Gestalt des Weisen ergibt. Gleichwohl bleibt die Urform doch erkennbar. Zumindest war das wohl die Hoffnung, die Paulus mit

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seiner Malerei verband. Denn die Korinther offenbaren ein hohes Bedürfnis nach Weisheit und überhöhen in diesem Zusammenhang ihre Missionare, was die Einheit der Gemeinde gefährdet. Insofern gilt es für Paulus, die Gläubigen in Korinth von der Christusbotschaft neu zu überzeugen, ihre vom paulinischen Evangelium abweichenden Ansichten zu korrigieren und in diesem Zug die Einheit der Gemeinde zu erhalten. Tatsächlich mag man hierbei die genuin paulinischapostolische Herangehensweise an die Menschen wieder erkennen, wie er sie in 1Kor 9,19 – 23 formuliert. Soll heißen: Paulus wird den ‚Weisenʻ ein Weiser! Vielleicht ist der Wunsch des Paulus,von den Korinthern als Weiser erkannt zu werden, auch der Grund, warum der Apostel manchmal haarscharf daran vorbeischrammt, sich in seiner Selbstdarstellung selbst als weise zu bezeichnen – so in 2,16 (mit der ‚christianisierten‘ Formel νοῦν ἔχειν in der 1. P. Pl.) wie auch in 3,10 (mit dem hellenistisch-jüdisch geprägten Syntagma σοφὸς ἀρχιτέκτων). Dass es ihm dennoch gelingt, weist einmal mehr auf seine überragende Fähigkeit hin, sich an seine jeweiligen Adressaten anzupassen, ohne ihnen dabei freilich nach dem Munde zu reden, noch selber als Abgesandter des gekreuzigten Christus unkenntlich zu werden. Erst so wird er ganz im Interesse seines Herrn für die Korinther, die selbst nach Weisheit streben, beispiels-weise. Das Werk Diogenes Laertios’ über Leben und Lehre der Philosophen endet mit dem zehnten Buch über Epikur. Da ein Schlusswort fehlt, erscheint es möglich, dass das Gesamtwerk ursprünglich noch weiterging. Diesen Abbruch möchte ich zum Anlass nehmen, um meine Betrachtungen über den 1Kor mit einem von mir erdachten Auszug aus dem fiktiven elften Buch des Diogenes Laertios zu beschließen. Es hätte sich mit der Lehre der Christianer, die ebenfalls Lehren über den Weisen haben, befasst. (Auf eine Wiedergabe der diogenesischen Epigramme über Jesus und Paulus verzichte ich dabei.) „Der Weise ist den Christianern zufolge mit dem Geist Gottes ausgestattet. Deshalb hat er ein besonderes Verständnis der Welt, vor allem aber Gotteserkenntnis, die anderen, die jenen Geist nicht haben, verwehrt ist. Voraussetzungen zum Geistempfang gibt es keine; vielmehr ergibt er sich rein aus der göttlichen Gnade. Weder besondere Güter wie Gesundheit, Reichtum, Macht noch eine hohe Geburt seien erforderlich für den Empfang des Geistes. Vielmehr lehren sie, dass Gott das Verachtete, Nichtige und Schwache besonders erwählt habe. Dies führen sie darauf zurück, dass ja auch Jesus, den sie als Gottessohn verehren, am Kreuz verachtet, nichtig und schwach war. Jesus sei ihnen die Weisheit Gottes, alles andere erscheine ihnen als Torheit. In der Nachahmung Jesu oder wiederum seiner Nachahmer sehen sie ihr Heil liegen. Der Weise könne durchaus heiraten, ja müsse es sogar tun, wenn er nicht mit dem göttlichen Geschenk der Selbstbeherrschung ausgestattet ist. Selbstbeherrschung wird aber nicht als notwendige Eigenschaft des Weisen angesehen. Überhaupt hätten die Christianer jeweils viele

2 Ausblick

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spezielle und voneinander verschiedene Gaben. Dabei gebe es zwei verschiedene Klassen von Geistbesitzern, nämlich die Vollendeten und die Unmündigen. Vollendet sei man erst, wenn man die geschwisterliche Liebe untereinander zum Maßstab allen Handelns werden lasse und das Zuträgliche für den anderen das Handeln bestimme. Auch wenn man sonst in allen Teilen des Lebens vollkommen sei, sei dies alles ohne die geschwisterliche Liebe nichts. Der Weise führt also ein Leben ganz gezeichnet von der geschwisterlichen Liebe. Dies ist besonders wichtig, da ja die Christianer in Gemeinschaften zusammenleben und kein Eremitentum pflegen. Der Weise sei zudem in der Lage, gerecht zu richten, was aber unnötig wird, sobald eine Gemeinschaft unter sich in Liebe miteinander lebt. Sie lehren auch, dass dem Weisen alles gehöre und alles erlaubt sei. Dieses Vorrecht sowie seine Freiheit missbrauche er aber nicht, sondern stelle sich selbst allen Menschen wie ein Sklave zur Verfügung. Überhaupt solle der Weise angesichts seiner Geistbegabung nicht prahlen, sondern bescheiden bleiben und sich auch nicht selbst als weise bezeichnen, sondern dies alles auf Gott zurückführen. Äußerlich werde sich der Weise an die Welt anpassen und sich nicht durch besondere Frisuren oder Kopfschmuck abheben. Der Weise erachte selbst die Todesgefahr als nichtig, da er mit der Gewissheit lebe, dass Gott einmal alle seine Gläubigen wie Jesus auferstehen lasse. Diese Vorstellung sei ihnen ein unvergänglicher Siegeskranz.“

2 Ausblick Gibt es einen Anhalt dafür, dass Paulus in den späteren Generationen des frühen Christentums als ein Weiser angesehen wurde? Dies war die Ausgangsfrage meiner Arbeit. Sie konnte ich am Beispiel des 1Kor und der darin vorgenommenen Selbstdarstellung des Apostels positiv beantworten. Um diese These weiter zu erhärten, wäre es angebracht, noch weitere Briefe unter dieser Fragestellung zu beleuchten. Dies kann hier nicht erfolgen. Gleichwohl lässt sich ein fragender Ausblick wagen, denn aus der brieflichen Korrespondenz des Apostels mit der Gemeinde in Korinth ist ja noch ein zweiter Brief erhalten: 2Kor. In diesem zweiten¹ Brief nach Korinth spielt das erste große Thema des 1Kor – die Weisheit – keine Rolle mehr. Lediglich in 2Kor 1,12 wird die Weisheit benannt.² Hier erscheint sie als „fleischliche Weisheit“ im Kontrast zu Gottes Aufrichtigkeit,  Ich gehe davon aus, dass der Brief eine literarische Einheit bildet und keine Kompilation mehrerer Briefe darstellt, vgl. dazu etwa Wolff, Brief II 190 – 194.  Mit der Ausnahme von Röm hat das Thema der Weisheit wie überhaupt der Wortstamm σοφ– in den anderen Proto-Paulinen keine Bedeutung mehr.

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Sonnenklarheit und Gnade, in bzw. mit welchen eigentlich sich Paulus und Timotheus³ in der Welt, noch mehr aber bei den Korinthern aufgehalten (bzw. verhalten: ἀναστρέφεσθαι) haben, worauf die beiden stolz seien. Diese Aussage erscheint wie ein Rekurs auf die Weisheitsdiskussion des ersten (erhaltenen) Briefes, wobei die Wortkombination aus ‚fleischlichʻ und ‚Weisheitʻ dort nicht vorkam. Allenfalls lässt sich ein Anklang in der Passage 1Kor 2,6 – 3,4 insgesamt finden; Dort wurde die negative, weltliche Weisheit als ‚menschlichʻ abqualifiziert wurde (2,13), die Korinther, insofern sie sich ganz menschlich verhalten, aber als fleischlich (3,3). Ist mit dieser einzelnen Reminiszenz das gesamte Thema Weisheit in Bezug auf Korinth für Paulus damit erledigt? Ist damit auch seine Selbstdarstellung als ein Weiser für 2Kor obsolet? Auffällig ist für 2Kor der häufige Gebrauch der 1.P.Pl., der durchaus Anlass zu Briefteilungshypothesen gegeben hat.⁴ Von daher ist die Darstellung des Selbst hier schwieriger zu ermitteln. Kann dieses ‚Untertauchen in der Menge‛ auch Taktik des Paulus sein, in einer verfahrenen Lage zwischen Apostel und Gemeinde sich selbst nicht zu sehr in den Vordergrund zu rücken? Lassen sich dennoch Aussagen autobiographischen Charakters im Sinne einer Darstellung der Lebensweise herausfiltern? Wie lässt sich dabei die Einordnung einzelner Briefteile nach den rhetorischen genera fruchtbar machen? Und überhaupt: Lassen sich Aussagen über weisheitliches Leben finden und auf Paulus übertragen? Es gibt im 2Kor auch sonst nur wenige Worte, die auf einen weisheitlichen Hintergrund schließen lassen. Gleichwohl häufen sich in 2Kor die Peristasenkataloge, die für Vorstellung vom leidenden Weisen charakteristisch waren (4,7– 10; 6,4– 10; 11,23 – 27; 12,10). Zudem findet sich ab c.11 die sogenannte Narrenrede des Paulus, in der Apostel unvernünftig (ἄφρων/ἀφρωσύνη: 11,1.16.17.19.21; 12,6.11) spricht, eben nicht wie ein Weiser. Kann dies als Gegenfolie zu seiner Selbstdarstellung im 1Kor verstanden werden? Deutlich ist in 2Kor 11,30; 12,5 – 10 der Hinweis auf die eigene Schwäche wie bereits in 1Kor 2,3; 4,10. Ergibt sich hier ein Anknüpfungspunkt von einem Brief an den nächsten, der gleichwohl seinen Ursprung in der Lehre von der Weisheit Gottes hat (1Kor 1,18 – 31)? Lässt sich darüber hinaus eine Stützung der These von Hans-Dieter Betz finden, dass Paulus in 2Kor 10 – 13 sich im Sinne der sokratischen Tradition verteidigt?⁵ Ich belasse es bei diesen Fragen. Deutlich ist aber, dass der 2Kor die Möglichkeit bietet, eine mögliche Veränderung in der Selbstdarstellung des Briefstellers gegenüber derselben Gemeinde zu untersuchen. Gleichwohl kommen  Ich deute die 1.P.Pl. hier im Sinne der beiden in 2Kor 1,1 genannten Absender.  In 2Kor 2,14– 7,2 schreibt Paulus fast nur in der 1.P.Pl. (Ausnahme: 6,13), ab 10,1 fast nur in der 1.P.Sg. Zur Literarkritik vgl. Wolff, Brief II 1– 3.  Vgl. Betz, Apostel.

3 Fazit

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natürlich auch die anderen Paulus-Briefe für einen Vergleich infrage, um die verschiedenen Selbstbilder zu erfassen und insgesamt die Selbstdarstellung des Apostels zu ermitteln.⁶

3 Fazit Meine Untersuchung zur Selbstdarstellung des Apostels Paulus im Ersten Korintherbrief ist an ihr Ende gekommen. Es ist darin deutlich geworden, wie sehr Paulus in seiner Zeit und seiner Umwelt verankert war. Paulus wie auch seine Gemeinde sind Kinder des Hellenismus. In diesem Sinne ist es ganz natürlich, aber auch charakteristisch, dass Paulus in der Selbstdarstellung eines Weisen seinen Bios mit seiner Botschaft verknüpft. Dies ist auch für die heutige kirchliche Praxis nicht zu unterschätzen. Seit einiger Zeit werden immer öfter kritische Anfragen zur Lebensführung von Menschen, die im Dienst der Kirche arbeiten, gestellt. Von der Kirchengesetzgebung her ist es vorgesehen, dass ein kirchlicher Mitarbeiter „in seinem dienstlichen Handeln und in seiner Lebensführung dem Auftrag des Herrn verpflichtet, das Evangelium in Wort und Tat zu bezeugen“⁷. Evangelische Pastorinnen und Pastoren werden mit ihrer Ordination darauf verpflichtet, „sich in ihrer Amts- und Lebensführung so zu verhalten, dass die glaubwürdige Ausübung des Amtes nicht beeinträchtigt wird“⁸. Paulus macht deutlich, dass Leben und Lehre, Bios und Botschaft einander bedingen, damit beide glaubwürdig sind und bleiben. Er gibt damit heute wie damals einen Weg vor, an dem man sich als kirchlich Beschäftigter durchaus orientieren kann und sollte. Weiterhin ist Paulus in der Rolle eines Lehrers der Weisheit für die Religionspädagogik nicht unbedeutend (hier eher im kirchlichen als im schulischen

 Interessant wäre es dabei, herauszuarbeiten, was Paulus (wie in 1Kor 9,19 – 23 ausgesagt) den anderen Gemeinden wird – denn Paulus ruft auch die anderen Gemeinden in den entsprechenden Briefen zur Nachahmung seiner selbst auf, vgl. Phil 3,17; Gal 4,12.Wie gestaltet sich die paulinische Selbstdarstellung in jenen Briefen? Dabei ist dann auch 1Th nicht zu übersehen, wo die Nachahmung der Gemeinden bereits als vergangenes Geschehen geschildert wird (1,6; 2,13).  Kirchengesetz der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen über die Rechtsstellung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vom 11. März 2000, §1, Abs. 1. In anderen Landeskirchen und Konfessionen gelten ähnliche Bestimmungen.  Kirchengesetz zur Regelung der Dienstverhältnisse der Pfarrerinnen und Pfarrer in der Evangelischen Kirche in Deutschland (Pfarrdienstgesetz der EKD – PfDG.EKD) vom 10. November 2010, § 3, Abs. 2.

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Bereich), insofern kirchliche Lehrer als glaubwürdige Zeugen ihres Fachs auftreten sollen. Darüber hinaus stellt Paulus sich selbst wenn nicht ins Zentrum seiner theologischen Argumentation, so doch unverzichtbar hinein. Dies ist für homiletische Konzeptionen nicht zu unterschätzen. Hieß es in der deutschen Theologie nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege und vor dem Hintergrund der WortGottes-Theologie gleichsam „Das Ich gehört nicht auf die Kanzel“⁹, so versuchen neuere Entwürfe die Person und Persönlichkeit des Predigers wieder mehr zu würdigen und in den Akt des Predigens einzubinden.¹⁰ Paulus kann als Kronzeuge für eine derartige Homiletik herhalten. Schließlich kann Paulus als Weiser auch für die Kybernetik und Poimenik fruchtbar gemacht werden. So schreibt etwa Ed P. Sanders hinsichtlich wie Paulus Fragen nach dem rechten Verhalten beantwortet: „Paulus’ Theologie ist über weite Strecken autobiographisch“¹¹, indem er nämlich sein eigenes Leben nach Erfahrungen und Entscheidungen befragt, die für seine Gemeinden ethisch relevant werden können. Insofern hat das eigene Leben im Sinne von Lebenserfahrung Einfluss auf die Lehre. Insgesamt bleibt Paulus ein bestimmender Faktor für die kirchliche Praxis wie überhaupt für ein Leben im Glauben an Jesus Christus. Seine Selbstdarstellung gibt ein Beispiel für Christinnen und Christen vor, sich in ihrem Leben deutlich und bestimmt zu zeigen. Oder wie es ein Epigone von Paulus formulierte (Eph 5,15): Βλέπετε οὖν ἀκριβῶς πῶς περιπατεῖτε μὴ ὡς ἄσοφοι ἀλλ’ ὡς σοφοί – Achtet also genau darauf, dass ihr ja nicht wie Unweise wandelt, sondern wie Weise.

 Mit diesem Satz erklärte mir ein pensionierter Pastor die Einstellung seiner früheren homiletischen Lehrer. Vgl. dazu Engemann, „Einführung“ 181– 184.  Vgl. Engemann, „Einführung“ 184– 237.  Sanders, „Paulus“ 132.

Literaturverzeichnis Die Literatur wird mit Verfassername und Kurztitel zitiert; der Kurztitel ist in der Regel das erste Hauptwort im Titel. Hier im Verzeichnis ist bei gleichem Verfassernamen und Titel in eckigen Klammern ein Alternativkurztitel angegeben. Die Abkürzungen richten sich nach dem Verzeichnis von S. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin/ New York 21992 sowie Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaft nach RGG4 (hg.v. der Redaktion der RGG4) (UTB 2868), Tübingen 2007. Abkürzungen antiker Autoren und Werke im Text der Arbeit richten sich vornehmlich nach den Vorschlägen im KP. „EBR“ steht für Encyclopedia of the Bible and Its Reception, „EJ2“ für die zweite Auflage der Encyclopedia Judaica. Nicht durchgehend als Buchausgaben aufgenommen sind die griechischen Quellentexte; sie sind gleichwohl allesamt im TLG enthalten.

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Stellenindex Dieser Stellenindex erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Stellen, die lediglich in den Anmerkungen diskutiert werden, sind etwa nicht aufgenommen. Für den 1Kor sind zudem genaue Stellenangaben ausgespart, die bei der allgemeinen Behandlung eines Textabschnitts ohnehin vorkommen. D. h. wer im Buch etwa das Kapitel über 1Kor 5 – 6 liest, wird in diesem Index vor allem auf die Stellen aus 1Kor 5 – 6 verwiesen, die nicht in jenem Kapitel, sondern vielmehr in anderen Kapiteln auftauchen.

A. Bibel A.1 Altes Testament Genesis 1 – 2 401.405 1,26 92 2,7 466 2,24 303.330 f 3,22 92 5,3 466 9,2 234.235 37,26 373 Exodus 7,1 163 15,16 234.235 16,13 – 27 319 18,13.22.26 316 31,3 f 262 35,31 f 262

1,13 179 1,15 179.319 2,25 234.235 4,29 267 6,4 f 364 8,3.16 430 11,25 234 16,18 319 20,1 – 9 319 23,1 303 23,7 f 80 27,20 303 32,13 430 Josua 2,9 234 1. Samuel (1 Regnorum) 2,10 271

Leviticus 17,12 – 16 361 18,8 303 20,11 303

2. Samuel (2 Regnorum) 13,5 430 14,2 120 20,16.22 120

Numeri 6,13 – 21 407 11,4 430 11,11 – 17 319 11,18 430 12,12 455 14,33 303

1. Könige (3 Regnorum) 3 169.172 3,1 355 3,9 316.319 3,12 320 11,1 – 3 355

Deuteronomium 1,9 – 18 319

2. Könige (4 Regnorum) 3,2 f 73 9,22 303

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Stellenindex

12,1 – 4 73 13,1 f 73

57(56),9 455 69(68),10 76 69(68),23 f 76 72(71) 169 79(80) 430 80(81) 430 82(81) 316 110 (109),1 76 116,10 76 127(126) 169 140(139),4 76

1. Chronik 22,15 263 28,9 267 29,2 263 2. Chronik 1,7 – 13 320 15,2 267 24,20 181 Esra 7,25 320 7,27 – 9.15 74 Nehemia 1 – 3;7;12 – 13 5,15 328

75

Hiob 2,11 127 3,16 455 4,7 123 4,13 f 234.235 5,13 200 10,19 455 22,3 373 27,6 292 34,34 179 40,3 – 5 77 42,1 – 6 77 Psalmen (ggf. Psalmi LXX) 2,11 234.235 3,1 76 5,10 76 7,1 76 7,11 123 14,1 – 3 76 16 (15),8 – 11 76 29,10 373 32(31),1 f 76 36(35),2 76 37(36),36 267 55(54),6 234.235

Proverbia 1,7 123 1,28 267 1,20 – 23 120 3,6 278 3,12 298 7,4 120 8 – 9 120 8,4 – 36 77 8,17 267 9,9 123 10 – 15 123 10,1 298 10,4 289 10,9 278.298 10,13 279.298 10,17 278.298 11,30 123 12,17 154 17,16 279 22,15 298 22,17 – 24,22 127 23,13 – 15 179.279 23,24 123 25,21 f 429 26,12 290 30 – 31 128 31,8 f 316 Qohelet 1,12 77 4,3 455 6,3 – 5 455 8,17 267

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9,11 179 12,10 267 Jesaja 3,3 179.261.262 5,9 ff 78 6 78 19,11 179 19,12 200 19,16 234.235 22,13 462.477 25,8 465 28,11 f 443 29,14 179.180.200 40,13 252 41,12 267 42,6 79 45,14 443 49,1(‐6) 79 49,4 472 49,7 f 79 52,7 – 12 79 55,6 267 58,14 430 59,7 f 439 61,1 – 3 79 64,4 250 65,1 267 Jeremia 1 78 1,5 79 3,2.9 303 4,22 179 5,1 267 9,15 430 9,22 f 228.271.285.310.428.457.460 11,18 – 12,16 78 23,15 430 Ezechiel 1 – 3 78 2,10 430 3,14 f 244 16 303 16,19 430 20,35 f 316

27,24 373 34,20.22 316 44,20 408 Daniel 2,46 f 443 4,22.29 430 4,37 234.235.245 5,19 234.235.245 5,21 430 9 122.427 10,7 – 9.15 – 17 244.245 Hosea 1,2 306 13,14 465 14,10 179 Amos 7 – 9 78 Habakuk 2,4 178 Sacharja 1,1 181 1,6 181 7,12 181

A.2 Apokryphen Judith 2,28 234.235 15,2 234 Sapientia Salomonis 1,1 169 1,3 f 471 2,1 – 7 477 2,13 389 4,16 f 170 6,1 169 6,9 169 6,21 169 6,22 – 25 171 6,24 171

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7,1 – 21 171 – 172 7,15 356 7,16 357 7,22 – 8,1 171.173.447 8,2 – 21 171.173 – 174 8,21 174.343.354 9,4 175.343 9,6 175 9,9 – 18 288 10 – 12 169.175.176 11,10 298 13 – 15 169 14,13 – 21 389 16 – 19 175.176 Sirach Prol. 1.3 73.166 Prol. 5 317 4,20 – 6,4 311 10,1 320 15,1 – 7 471 17,17 128 19,20 123 21,11 123 23,12 128 24 123.447 24,8 – 11 128 30,1 298 36,1 – 22 128 38,24 – 39,11 159 f 38,33 f 316.322 41,16 – 42,8 311 41,17 311 41,18 f 311 42,15 – 50,24 128 44 – 49 73 44,20 268 50,25 f 128 1. Makkabäer 2,52 268 10,18 – 20 107 10,25 – 46 107 11,30 f 107 11,32 – 37 107 12,6 – 18 107 12,20 – 23 107

13,36 – 40 107 14,20 – 23 107 15,2 – 9 107 15,16 – 21 107 2. Makkabäer 1,1 – 9 107 1,10 – 2,18 107 1,16 317 9,20 349 11,22 – 26 107 11,27 – 33 107 11,34 – 38 107 3. Makkabäer 3,12 – 30 107 7,1 – 9 107 4. Makkabäer 1,1 158 7,23 158 12,13 475

A.3 Neues Testament Matthäus 5,17 73 5,17 – 20 123 5,43 – 48 420 5,45 154 5,46 f 368.369 7,7 f 267 7,12 420 7,21 – 23 420 7,24 178 8,8 456 10,16 178 11,25(‐30) 178.180.389 17,20 428 18,15 372 21,21 428 23,3 180 23,34 123.178 25,2.4.8.9 178 25,16 f.20.22 372

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24,45 28,4 f

178 101

Markus 2,24 326 3,23 f 350 4,11 317 5,33 235 6,8 411 6,18 326 8,6 411 8,31 439 8,36 372 10,11 f 347 10,42 – 45 266 12,1 – 11 423 12,18 449 12,28 – 34 420 12,34 178 12,36 76 16,5 f 101 Lukas 1,43 369 2,42 196.407 5,14 411 6,13 213 6,28 420 8,29.56 411 9,21 411 10,13 – 15 179 10,21 178 11,36 401 11,46 180 11,49(‐51) 178 12,42 178.268 14,23 368 16,8 178 18,10.31 407 18,40 196 19,4 407 22,19 428 22,24 407 24,5 101 24,44 73

Johannes 1,30 – 34 207 7,1 126 15,13 369 18,39 103.404 20,2 101 Apostelgeschichte 1,4 411 1,26 370 2,34 f 76 2,25(‐28) 76 2,45 f 235 3,1 196.407 4,18 411 5,2 401 5,28 411 5,40 411 10,1 – 33 407 10,42 411 11,2 407 11,24 458 11,30 457 12,25 457 13,1 427.458 13,2 457 13,7 457 13,14 60 13,33 235 14,4 213.458 14,14 213.458 14,19 – 21 60 15,2 407 15,5 411 15,20 199.377 15,29 377 16,18 411 16,23 f 411 17 196 17,30 411 18,2 194 18,3 194 18,5 194 18,8 191.194.212 18,11 188.194.198 18,12 – 17 194 18,17 191.212.404

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530

Stellenindex

18,18 198.407.408.409.490 18,20 f 408 18,22 196.407 18,24 195.198.227 18,24 – 19,1 193.194 18,25 195.456.458 18,26 227 19,11 f 5.428 19,28 – 40 462 19,32.39 f 72 20,7 – 12 5 20,18 – 35 462 21,12 407 21,15 407 21,23 – 26 407.408 22,3 393 22,16 309 23,22 411 23,30 411 24,11 407 24,15 154 25,1 407 25,9 407 26,5 393 27,21 372 27,38 272 28,1 – 6 5 Römerbrief 1,1 6.21.22.25.89.266 1,4 89 1,5 70.89.94.112.114.115.214.237.238 1,7 71 1,8 229 1,9 230.231 1,16 242 1,17 271 1,18 ff 9 1,24 – 32 302 1,26 f 302.409 2,2 95 2,4 433 2,11 34 2,15 230 2,22 302 2,24 271 2,28 f 23

3,3 330 3,4 271 3,5 330.461 3,7 94.95.114.204.460 3,9 95 3,10 – 18 76 3,10 78.271 3,12 230 3,16 f 439 3,26 420 3,28 95 4,1 95 4,6 76 4,17 271 5,1 95 5,8 95 5,9 373 5,19 237.238 6,1 95.330 6,3 – 9 95.304 6,12 237.238 6,16 237.238.307 6,17 237.238 7,3 302 7,4 – 6 95 7,7 330 7,7 – 25 70 7,9 116 7,13 330 7,14 95.434 8,4 95 8,9 – 11 304 8,11 420 8,16 230 8,20 78 8,22 f 95 8,36 271 8,38 f 265 9 – 11 169 f.226 9,1 230 9,3 f 24 9,13 271 9,14 330 9,23 460 9,33 271.465 10,2 230 10,15 226.271

Stellenindex

10,16 237.238 11,1 24.51.70.204 11,2 307 11,3 204 11,8 271 11,9 76 11,13 50.53 11,14 373 11,25 230.427 11,26 271 11,31 439 11,33 283.439 12,6 – 8 421.422 12,11 195 12,15 313 12,17 420 12,19 271 12,20 429 13,2 412 13,7 – 10 375 13,9 302.420 13,13 302 14,1 – 15,6 361 14,10 115 14,11 271 15,1 95.376 15,1 – 6 375.376 15,2 376 15,3 76.271 15,4 460 15,5 376 15,9 77.271 15,15 110 15,18 237.238.428 15,19 – 22 70 15,20 216 15,21 271 15,26 216 16,1 61.189.404 16,3 404 16,6 404 16,7 213.404 16,19 237.238.342 16,21 189.191 16,22 70.189.247 16,23 189

16,25 16,26

427 237.238

1. Korintherbrief 1–4 8 1,1 – 3 211 – 218 1,1 6.70.189.194.399.421 1,2 61.71.191 1,4 93.429 1,5 – 9 203 1,6 230 1,10 – 17 222 – 225 1,10 – 12 401 1,11 189.191 1,12 191.193.198.199.457 1,13 400 1,14 189.194 1,16 189 1,17 41.196.213.246 1,18 – 31 225 – 228 1,18 195 1,19 179.180.200 1,20 123.242 1,21 180.373.471 1,22 125.193 1,23 118.385.445 1,24 195.385.471 1,26 189.192.377.477 1,27 f 296.482 1,30 115.118.215.471 1,31 264.285.457 2,1 – 5 228 – 246 2,1 – 16 46 2,1 46.204.428.489 2,2 312.406.445 2,3 46.204.377.482.489 2,4 195.420 2,5 195 2,6 – 16 247 – 252 2,7 180.230.427.460 2,8 471 2,9 485 2,10 286 f.442 2,11 287 2,12 34.485 2,13 286.494 2,16 476.492

531

532

Stellenindex

3,1 – 4 252 – 254 3,1 34.179.204.280.489 3,2 272.431 3,3 422.438.461.494 3,5 – 23 258 – 266 3,5 34.117.188.289.294.451 3,6 194.216 3,8 457.460 3,9 185 3,10 216.395.492 3,12(13)-15 346.460 3,16 307 3,18 193.290.414.477 3,19 195 3,20 195 3,21 290 3,22 191.198.239.451.465 4,1 – 5 266 – 269 4,1 34.117.230.231.290.294.427.465 4,5 312.460 4,6 – 13 270 – 276 4,6 115.118.348.438.465 4,7 317.460 4,8 293.406 4,9 115.213 4,10 193.377 4,11 – 13 295.335.428.431.458 4,12 457 4,14 – 21 276 – 280 4,14 34.110.111.200.298.341. 347.384.431.481 f.485 4,15 188.216 4,16 200.324.384.489 4,17 34.194.201.217.298.418.439.442.481 f 4,18 438 4,19 34.428.438 4,21 34.202.298.307.484 5 311 – 324 5,1 418 5,2 438 5,3 34.38.109.202.358.485 5,7 190 5,8 433 5,9 110.198.337.340.358 5,10 340 5,11 110 5,12 72.347.358.458

6 324 – 334 6,2 406 6,3 101.117 6,4 418 6,5 111.193.463 6,9 406.409.462.465 6,11 215 6,12 291.381 7,1 – 7 339 – 345.394 7,1 198.199.418 7,4 328 7,7 109.428 7,8 – 38 345 – 348 7,8 204.378 7,10 110.195.411 7,12 34 7,16 373 7,17 109.217.412.418.483 7,19 23 7,25 34.109.458 7,29 464 7,35 333 7,39 – 40 348 – 352 7,40 34.204.458.485 8,1 – 11 362 – 365 8,1 193.376.428.432.438.441.477.485 8,3 420 8,4 193 8,7 103.377.404 8,10 477 8,12 377 8,13 34.239.431.458 9,1 – 27 365 – 380 9,1 20.89.273.421.431 f 9,2 213 9,3(‐6) 202 9,4 f 428.431.462 9,5 213.355.457 9,8 247.341.400.461 9,11 419 9,12 428.431 9,13 307 9,14 229.412.483 9,15 110.217.341 9,16 156 9,17 427 9,19 32.34

Stellenindex

9,19 – 22(23) 49.51.492.495 9,20 198.382 f.408 9,22 383 f 9,24(‐27) 307.355.392 – 395.428.458 9,27 226 10,1 – 22 380 10,1 190.191.193.412.428 10,8 302 10,14 412 10,15 193 10,17 115 10,22 400 10,23 – 11,1 380 – 385 10,23 291.324.333.376 10,24 438 10,32 414 10,33 204.333.376.438 11,1 200.204 f.239.324.489 11,2 – 16 397.399 – 401.403 – 409 11,2 111.359 11,14 18 11,16 103.217 11,17 – 34 397.401 f.409 – 413 11,17 110.111.202 11,18 418 11,20 189 11,22 111.202 11,23 420.428 11,26 229.406 11,29 317 11,31 317.460 11,32 462 11,34 109.483 12 420 – 424 12,1 193.398.428 12,2 119.190 12,3 242 12,7 333 12,8(‐10) 249 12,10 195.242.441 12,13 337.435 12,23 f 435 12,26 433 12,28 195.242.249 12,29 89.195.426 12,30 425 f 12,31 439.442

13 424 – 440 13,1 442 13,2 230 13,4 422 13,5 441 13,12 29 13,13 422 14 440 – 445 14,1 422.423.485 14,2 230 14,3 427 14,5 342.376 14,14 485 14,18 427 14,20 249 14,23 189.414 14,24 288 14,26 376 14,33 f 217 14,37 105.110.111.218.427.483 14,38 193 14,40 449 15 449 – 467 15,1 418 15,2 413 15,3 413 15,7 213.273 15,8 24.25.204 15,9 24.89 15,10 202.428 15,11 226 15,12 199.406 15,15 34.230 15,19 434 15,24 328 15,25 76 15,30 114.428 15,32 393.428 15,34 111.193.247 15,36 193 15,50 341 15,51 230.428 15,58 34 16 481 – 483 16,1 109.217.449 16,3 196 16,4 204

533

534

Stellenindex

16,8 190 16,9 462 16,10 194.204 16,12 193.194 16,17 189 16,19 194.217.404 16,21 110 16,22 420 2. Korintherbrief 1,1 6.61.70.71.111.191.494 1,6 434 1,7 434 1,8 – 12 70.191 1,8 462 1,10 434 1,12 230.283.493 1,13 f 105.110.111 1,19 70 1,23 230.231 2,1 341 2,3 110.198 2,4 110 2,5 70 2,9 110.236 2,12 f 70 3,4 – 6 70 3,7 – 16 9.190.213 3,10 401 3,12 434 4,1 70 4,6 70 4,7 – 10(15) 428.494 4,10 – 14 420 4,13 76.434 5,7 434 5,10 78 5,17 465 6,2 465 6,4 – 10 433.434.494 6,5 457 6,6 433 6,9 465 6,17 207 7,2 70 7,11 465 7,12 110.198

7,14 433 7,15 235.236.238 8 – 9 37.216 8,1 191 8,3 230 8,8 109 8,10 333 8,15 271 8,23 89.214 9,1 110 9,3 401 9,9 271 10 – 13 11.86.237.494 10,1 312 10,5 237 10,6 237 10,7 384 10,10 29.198 10,11 312.341 10,13 f 216 10,15 434.457 11 f 36.494 11,2 70 11,7 – 9 70.428 11,10 433 11,13 213 11,16 – 12,13 217 11,22 24.51.70.102.207 11,23 – 27(28) 70.494 11,23 451.457 11,24 24 11,27 457 11,30 494 11,32 f 70 12,1 – 10 70 12,1 333 12,2 – 4 70 12,5 – 10 494 12,6 433 12,7 – 9 70.442 12,10 494 12,11 f 215 12,12 70.242.428.434 12,14 465 12,16 – 18 70 12,19 12 12,21 302

Stellenindex

13,1 13,2 13,8 13,9 13,10 13,11

230 38.312 433 341 38.110.312 191

Galaterbrief Gal 1 – 2 20.86.453 1,1 6.214 1,1 – 5 213 1,2 61.70.71 1,3 f 25 1,8 420 1,9 70.420 1,10 453.460 1,11 453.461 1,11 – 16 213 1,12 – 2,14(21) 70 1,13 f 24.50.51.102.361.452 1,14 72.74 1,15 21.22.24.25.79.213.452.455 1,16 25 1,17 90.213 1,19 90.213 1,20 110.465 1,23 24 2,2 226.442 2,6 34.199 2,7 f 191.227 2,11 – 14 314 2,14 – 16 25 2,15 24 2,17 267 2,20 32.386 3,2 341 3,5 242 3,10 271 3,13 271.371 3,15 461 3,17 341.342 3,19 412 3,25 23 3,28 226.337 3,29 384 4,3 f 70 4,11 260.457

4,12 278.495 4,13 281 4,14 f 70 4,15 230 4,22 271 4,27 271 5,3 230.371 5,11 226 5,12 25 5,13 – 15 375.420 5,19(‐21) 302 5,21 70 5,22 f 420.433 5,24 384 6,2 371.375.376.377 6,11 110 6,15 23 Epheserbrief 1,6.12.14 111 1,21 328 2,1 – 7 205 2,1 205 3,10 328 5,3 f 302 5,15 496 6,5 235.236.237.238 6,12 328 Philipperbrief 1,1 70.71 1,5 281 1,8 230.231 1,12 70 1,14 248 1,17.18 229 1,20 70 1,21 372 1,23 405 1,27 38.61.312 2,3 239 2,5 – 11 239 2,7 66 2,8 236.239.242.385.386 2,12 f 234.235.236.238 2,16 70.260.457 2,17 433

535

536

Stellenindex

2,25 – 30 44 2,25 89.90.214 3,1 110 3,2 25.119 3,3 24 3,5 f 24.51.70.74.102.361.393 3,7 f 24.25.70.372 3,12 249 3,15 249 3,16 313 3,17 278.495 3,20 12.61 3,21 239 4,3 346 4,8 388 4,9 278 4,12 230 4,15 61.70 4,18 44

2,13 495 2,17 312 2,18 70.110 3,2 260 3,5 110.260.457 3,11 439 3,12 420 4,2 70.411 4,3 302 4,11 70.411 4,12 317.414 4,13 – 18 406.466 4,6 230 4,9 111 4,12 72 5,1 111 5,15 420 5,19 419 5,27 41.110

Kolosserbrief 1,1 7 1,28 5 1,29 457 2,2 231.267 2,5 38.312 3,5.8 f 302 3,16 5 4,5 317 4,16 41 4,18 110

2. Thessalonicherbrief 1,1 93.111 2,2 111 2,5 111 3,4.6.10.12 111.411 3,8 457 3,17 110.111

1. Thessalonicherbrief 1,1 61.70.71.93.110 1,4 – 10 243 1,5 70.243.281 1,6 278.495 1,9 f 72 1,10 420 2,1 – 10(12) 70.430 2,2 248 2,5 230.231.281 2,7 6.213.253.430 2,9 226.428.457 2,10 230.231 2,11 f 427 2,12 230.427

Philemonbrief 1 70.108 7 70 8 109 10 70 17 108 19 110 21 237 1. Timotheusbrief 1,1 7 1,3 411 1,5 411 1,18 111.411 3,14 111 4,10 457 4,11 411 5,7 411

Stellenindex

6,13 6,17

111.411 411

2. Timotheusbrief 1,1 7 3,11 60 Titusbrief 1,1 7 1,11 372 Hebräerbrief 1,5 235 5,5 235 5,11 91 5,12 – 14 253 6,1.3.9.11 91

11,4 181 12,1(‐13,17) 205 13,8 54 13,18 f.22 f 91 Jakobusbrief 2,18 206 4,13 372 1. Petrusbrief 3,1 372 2. Petrusbrief 3,14 – 16 3.4 3. Johannesbrief 4 369

B. Nichtbiblische Autoren (in Auswahl) B.1 Aristophanes Ecclesiazusae 206 f 373 334 267 Equites 715 – 718 430 1207 – 1213 316.318 Lysistrata 18 f 430 515 f 206 1014 474

historia animalium 575B 404 poetica 4 278 politica 1287 A 373 1317B 331 1318B 331

Ranae 805 f 318

rhetorica 1356 A 43 1358B 36.308 1367B-1368 A 308 1368 A 56.309 1414 A 38

B.2 Aristoteles

B.3 Cicero

ethica Nicomachea 1149 A 354 1164 A 373

de oratore 2,182 64

537

538

Stellenindex

epistulae ad familiares 2,4,1 66 4,13 66 5,12 30 6,10,4 66 15,19,1 66 de finibus 3,17 151 3,18 152 3,68 150.151 pro L. Valerio Flacco 37 66 de legibus 1,12,33 164 de natura deorum 1,9 152 2,14 153 paradoxa 5 162.391 6 172 Tusculanae disputationes 3,53 186

B.4 Diogenes Laertius 1,4 134 1,12 142 1,13 145 1,18 136 1,26 346 1,27 – 32 143 1,40 – 42 145 2,37 138 2,91 144 2,98 f 144 2,128 352 3,78 146.296.321.333.352 3,91 334.354 5,30 147.296 5,31 147 f.293.352

6,11 f 144.300.352 6,20 – 81 187 6,31 413 6,37 164.290.387 6,56 145 6,71 334 6,72 164.290.387 6,74 187 6,102 183 6,103 144 7,19 413 7,33 150.321.334 7,40 413 7,42 413 7,48 151 7,83 151 7,87 149 7,88 149.164 7,91 153 7,92 388 7,93 354 7,102 149.292.473 7,106 149 7,113 401.405 7,116 152 7,117 149 7,118 149.150.151.296 7,119 150.333.388 7,121 150.151.162.164.334.352.355 7,122 151.164.293.321 7,123 150.151.321 7,124 150 7,125 149.164.321 7,128 164 7,130 150.152 7,131 150 7,157 152 7,160 144 7,175 145 7,182 415 7,201 145 8,34 415 8,90 415 9,13 f 145 9,20 153.287 9,24 387 9,46 145

Stellenindex

9,51 387 9,106 144 10,16 415 10,26 415 10,117 154 10,118 155.156.296 10,119 155.156.292.352 10,120 155 10,121 154.155.156 10,123 387.388 10,125 – 132 387 10,126 156 10,131 154.334 10,132 155.321 10,133 334.387 10,137 473 10,144 154.321

B.5 Epiktet Dissertationes 1,2,28 f 183 1,4,18 – 21 348 1,12 116 1,16,15 471 1,29,21 475 2,1,19 473 2,1,23 332 2,1,35 473 2,2 292.318 2,2,25 318 2,5,24 318 2,8,23 348 2,9,1 – 6 475 2,12,24 267 2,14,12 f 348.390 2,15,8 f 262 2,16,11 318 2,16,37 332 2,22,20 318 3,1 183 3,2,13 318 3,3,8 318 3,7,2 318 3,7,19 352 3,9 292

3,10,16 318 3,15,13 318 3,16,3 318 3,20,1.17 318 3,22 290 3,22,16 318 3,22,63 290 3,22,67 – 82 352.355 3,22,82 290.297 3,24,13 f 473 3,24,16.70 332 3,24,56 318 3,24,65 290 3,26,28 290 3,26,31 473 4,1 332.334 4,3,1, 318 4,4,1.4.7 318 4,7,16 f 332 4,7,10.41 318 4,7,20 290 4,8,4.10.32 318 4,8,5 183 4,10,1 – 25 318 4,12,8 332 4,12,9.15 318 4,13,13 318 Enchiridion 13 318 14 334 16 318 22 414 23 318 26 416 29 318 29,6 f 474 31 388 33,6 317 33,13 318 47 317 48,1 317.318.332 51 138

B.6 Flavius Josephus

539

540

Stellenindex

Antiquitates Iudaicae 5,174 157 8 157 11,35 157 11,57 f 157 11,64 157 11,183 75 11,268 157 12,115 157 f 13,171 – 173 10.157 15,174 80 15,314 317 15,316 317 18,1 – 6 157 20,262 – 265 160 f 20,266 82 Bellum Iudaicum 2,120 f 355 2,160 f 355 2,162 – 166 10.157 Vita 7 – 12 54 8 f 161 10 – 12 10.103 11 161 27 103 83 103 122 103 216 103

B.7 Philo de Abrahamo 27 154 70 72 80 471 de agricultura 165 249 19 253 de vita contemplativa 34 354

quod Deus sit immutabilis 143 389 quis rerum divinarum heres sit 126 286 183 f 286 legatio ad Gaium 281 187 de migratione Abrahami 24 253 34 f 81 145 472 quod omnis probus liber sit 1 – 160 162 – 168 26 – 28 393 29 176 43 176 59 332 60 f 391 68 f 176 80 – 82 176 84 354 96 427 113 393 116 391 160 289 de somniis 2,8 261 2,10 253 2,100 – 102

477

de specialibus legibus 3,1 – 6 81 3,99 475

B.8 Platon Alkibiades 1 116D 333 134E 332

Stellenindex

apologia 17B 288 20D 286 21 A 138 21B 292 23 A 286.471 23B 143.286.287 26B-28 A 388 27E 288 31C-D 287 39C-D 288 40E-41D 293 41B 287 41D 287 epistulae 7 68 Gorgias 461D-E 327 498D-E 327 523 A-524 A 293 Hipparchos minor 373B 391 373C-376C 391 leges 629D 317 656D 404 766D-768E 320 803 A 413 806B 390 921C 373 936 A 327 Phaidon 72E 439 Philebos 50B 407 politikos 259E 262 260 A 262 302E 374

Protagoras 329E 162 de re publica 331 A 292 331B 288 350C-D 321 358D 288 361E 294.474 409 A-E 319 424E 374 430E 354 438C-D 395 441 A 390 473C-D 293 500B 318 574E 375 614B-E 293 symposion 172 A-173 A 206 174B 206 197C-E 437.471 204C-D 206 207C 206 Theaitetos 156 A 479 Timaios 29D-30 A 471 47C 390

B.9 Plutarch moralia 36B 473 267 A-C 405 267B 405 320B 262 351D-384C 131 539 A-547F 30.58.454 543F-544B 468 575B-598F 287 581C 392 584B-585D 393

541

542

Stellenindex

584F-585 A 394 807C 262 816D-E 97 1037E-F 415 1043 A 164 1058 A-C 153 1088 A-1092D 473 1088B 156 1090 A 473 1101 A-B 156 1103D 473 1117D-E 297 vita Alexandri 1 57

B.10 Seneca, Epistulae morales 5,3 415 9,15 f 150 9,17 150 11,1 153 24 153 24,20 460 42,1 153 76,9 164 82,15 415 92,34 415 94,48 – 51 271 95,24 415 116,5 150 119,14 415 124,22 414.415

B.11 Sophokles Antigone 221 f 373 Elektra 1103 f 318 1376 – 1378 471

B.12 Xenophon

Agesilaos 4,4 f 373 apologia 10 388 11 – 13 388 24 288 hellenika 2,4,1 317 5,3,16 317 Kyrupaideia 1,6,46 286 3,3,46 317 8,1,4 391 memorabilia 1,1 139.388 1,1,9 471 1,2 139 1,2,1 139.329.354 1,2,3 139.298 1,2,6 f 373 1,2,10 333 1,2,17 439 1,2,49 297 1,2,53 297 1,3,14 f 355 1,4,18 387 1,5 139 1,5,4 139.175.394 1,5,6 391 1,6,3 140.299 1,6,10 329 1,6,11 140.321 1,6,14 140.353 2,1 139 2,1,1 – 7 139.354 2,1,20 473 2,1,21 – 34 64.473 2,1,28 471 2,1,33 164 2,2,1 355 2,6,35 327 3,8,1 288 3,9,4 140.311

Stellenindex

3,9,5 140.321 3,11,13 272 3,11,14 272 3,12,7 288 3,13,5 307 4,1,5 333 4,2,40 139

4,4,1 – 3 415 4,4,9 288 4,4,10 f 139.299 4,5 139.334 4,5,9 354 4,7,10 286 4,8,11 140.141.184.288.321

543

Sachwortverzeichnis „alien wisdom“ 124 – 128, 131 f., 166, 175, 196, 319, 487 f. Aristoteles/aristotelisch (Peripatos) 36, 39 f., 43 f., 46, 48, 54, 56 f., 60, 89, 125 – 127, 138, 142, 144, 147 f., 152, 155, 162, 169, 284, 293, 296, 308 f., 320, 331, 352, 354 f., 387, 413, 451, 487 Cicero 30, 40, 62, 64 – 68, 90 f., 97, 99, 101, 104 f., 146, 153, 312, 419, 437, 454, 476 Diogenes Laertios 134 f., 136, 142, 144 f., 146 – 149, 153 f., 157 f., 321, 332, 352, 492 Diogenes von Sinope 137, 144, 167, 187, 196, 289 f., 299, 334, 352, 413, 488 Epiktet 131, 138, 183, 289 f., 292, 294, 318, 334, 348, 352, 394, 414, 473 Epikur/epikureisch (Kepos) 8, 12 f., 92, 95, 103, 123, 137, 142 f., 146, 152, 154 – 156, 170, 185, 226, 284, 287, 292, 296 f., 318, 321, 333 f., 352 f., 355, 387 f., 392, 414 f., 473, 492 Freiheit/frei (ἐλευθερíα/ἐλεύθερος) 20, 130, 150 – 152, 160, 162 – 167, 184, 193, 327, 331 f., 334 f., 356, 359, 361 f., 366 f., 372, 377 f., 382 f., 386, 390 – 392, 393 f., 396, 439, 489 f., 493 Kyniker/Kynismus/kynisch 8, 10, 12, 131, 138, 141, 144, 151, 155 f., 167, 183 f., 187, 194, 196, 244, 275, 289 – 291, 293, 294 f., 299 f., 331, 334, 352, 355, 387, 390, 392, 430, 461, 488 Person/persona 1, 17 – 27, 27 f., 31 – 34, 35, 41, 45 – 50, 71, 84 – 86, 88, 94 f., 101 f., 113 f., 170, 182, 184, 203, 218, 221, 244 – 246, 254 f., 278, 284, 299 – 301, 311, 314, 318, 321 f., 330, 333, 335, 357,

388, 395 f., 415 f., 437, 440, 444 f., 448, 454, 467, 470, 479, 486 f., 489 f., 496 Platon/Platonismus/platonisch (Akademie) 11, 13, 29, 45, 54, 56 f., 65, 67 – 69, 122, 125 f., 133, 135, 137 – 139, 143, 146, 148, 150, 152, 162, 169, 183, 262, 284, 286 – 288, 292, 293, 296, 307, 319 – 321, 331 f., 334, 352 – 355, 374, 387, 389, 391, 392, 407, 413, 421, 471, 475, 479 Plutarch 57 f., 83, 91, 97 f., 100, 103 f., 131, 156, 286, 393 f., 405 f., 415, 468, 473 Sakralisierung 132, 141, 185, 322, 448, 479, 487, 491 Sapientisierung 132, 185, 479, 487 Selbstbeherrschung/selbstbeherrscht (ἐγκράτεια) 139 f., 149, 165, 174 f., 184, 203, 328 – 330, 334 f., 343 – 347, 349, 353 – 357, 367, 378, 386, 392 – 396, 487, 490, 492 Sokrates 11 f., 56, 131, 133, 137 – 141, 143, 153, 170, 183 f., 206, 286 – 288, 292, 297 – 299, 320 f., 333 – 335, 352 – 356, 387 f., 390 – 392, 394, 396, 407, 415, 473, 479, 487, 489 f. Stoa/Stoiker/stoisch 8, 10, 12 f., 123, 131 – 134, 137 f., 141 – 146, 148 – 153, 156, 158, 162, 164 f., 167, 169, 172, 183, 273, 280, 284, 288, 290 – 296, 299 f., 318, 321 – 323, 331 – 335, 352 – 355, 388, 390 – 392, 405, 408, 413 – 416, 461, 464, 471, 473, 475 f., 489 Stolz/stolz (καύχημα/καύχησις) 24, 193, 228, 246, 264, 271, 285, 306 f., 310, 367 f., 378, 428, 457, 460, 468, 494 Vollmacht (ἐξουσíα) 151, 163 f., 265, 326 – 332, 359, 361 – 363, 365, 369, 378, 383, 489 Weise (Gestalt des Weisen) 4 – 6, 11, 13 f., 48, 118 – 185, 187, 189, 192 f., 196, 201, 208, 227, 233, 240, 242, 249, 261 – 264, 273 f., 278, 280 f., 282 – 301, 311, 314 –

Sachwortverzeichnis

323, 331 – 336, 343, 346, 352 – 358, 374, 387 – 396, 405, 413 – 417, 447 f., 449, 464, 470 – 480, 485, 486 – 496 Weisheit (σοφíα) 3 – 9, 12 – 14, 77, 118 – 123, 125 – 133, 135 f., 140 – 145, 148 – 150, 153 – 162, 164, 166 – 181, 184 f., 192 – 196, 200 f., 205 f., 208, 220 f., 225, 227,

545

229, 232 f., 240 f., 247 – 254, 256 f., 262 – 264, 267, 279, 283 – 288, 290, 292, 298 – 300, 310 f., 314 – 316, 318 – 321, 333, 335, 343, 348, 351 f., 354 – 356, 358, 380, 385, 389, 394 f., 447, 471, 475 f., 478, 480, 485, 488 – 490, 492 – 495