Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln: Poetik und autobiographisches Schreiben im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert [Reprint 2017 ed.] 9783110940077, 9783484630062

Ein Gang durch die Kompendien der Poetik und Ästhetik erinnert zunächst an die Debatte um Lehr- und Lernbarkeit des poet

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Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln: Poetik und autobiographisches Schreiben im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert [Reprint 2017 ed.]
 9783110940077, 9783484630062

Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
I. Kontexte
II. Ortswechsel der Dichtkunst - Definitionen, Klassifikationen, Prinzipien
III. Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln in den Lehr- und Handbüchern der Poetik und Ästhetik
IV. Beobachtungen des autobiographischen Schreibens
V. Autobiographik und Roman als Vermittler poetischer Ausbildung und dichterischen Handelns
VI. Willkommen und Abschied: Kontinuitäten autobiographischer Kommentierung und Dichterbildung
ΥΠ. Quellen- und Literaturverzeichnis
Personenregister

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COMMUNICATl( ) Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck

Kerstin Stüssel

Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln Poetik und autobiographisches Schreiben im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993

Meinem Vater und dem Andenken meiner Mutter.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Stüssel, Kerstin: Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln : Poetik und autobiographisches Schreiben im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert / Kerstin Stüssel. - Tübingen : Niemeyer, 1993 (Communicatio ; Bd. 6) NE: GT ISBN 3-484-65005-X

I S S N 0941-1704

© Max Niemeyer Verlag G m b H & C o . K G , Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: ScreenArt G m b H & C o . K G , Wannweil Druck und Einband: Weihert-Druck, Darmstadt

Inhalt

Vorbemerkung

X

I.

Kontexte

1

A. Das Sprichwort Poeta nascitur non fit und die poetische Didaktik

1

B. Die Rolle des Dichters in der Literaturwissenschaft

5

C. Ungelehrte Leser, Mode, Schriftlichkeit: Bedingungen für den Wandel in dichterischer Selbstdarstellung und -behauptung

9

II.

Ortswechsel der Dichtkunst - Definitionen, Klassifikationen, Prinzipien

30

A. Die Forschung zu Poetik und Ästhetik des 18. Jahrhunderts

30

B. Poetik als Rhetorik

33

C. Poetik als Ästhetik

37

1) Zeichentheorie

40

2) Natumachahmung

42

3) Schöne Künste, schöne Wissenschaften und die Dichtkunst .

44

4) Die Poesie und die nicht-trivialen Wissenschaften

47

D. Poesie als autonome Kunst

50

VI

Inhalt

III. Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln in den Lehrund Handbüchern der Poetik und Ästhetik

53

A. Die Funktion der Differenz Kunst-Natur

53

B. Kompendien und Kompilationen 1) Der Ausschluß der Kompendien aus dem Objektbereich der Literaturwissenschaft

55 55

2) Kriterien des Ausschlusses und ihre Voraussetzungen 3) Die Kompendien der Poetik und Ästhetik zwischen Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Philosophie und Rhetorik C. Poetische Regeln

57 ...

62 73

1) Die Mehrdeutigkeit des Regelbegriffs

73

2) Poetische Regeln als Handlungsformulare

75

3) Poetische Regeln, Homogenisierung des Publikums und Automatismen der Wirkung

81

4) Gelehrte Regeln, die Regel der Fiktion und die Vervielfältigung dichterischer Intentionen

88

5) Regeln und sinnliche Erkenntnis

93

6) Der Funktionswandel der poetischen Regeln und das Verschwinden der Dichter

96

D. Der Wandel des poetischen Traditionsbezugs von gelehrter Kontinuität zu genialer Diskontinuität

102

1) Gelehrte imitatio und Agonalität

103

2) Die Rolle der poetischen Hilfsmittel und Übungen

105

3) Der Funktionswandel des poetischen Exempels

109

4) Kunst als Natumachahmung

111

5) Autoschediasmata, poetische Anfange und die Auflösung der gelehrten Kontinuität

112

Inhalt

VE

E. Die Funktion der Genieemphase

115

1) Genialität zwischen Totaldifferenz und Selbstreferentialität

115

2) Die traditionelle Rolle des Geniebegriffs für die Beschreibung der Ausbildung und des Handelns von Dichtern . . . .

117

3) Genialität versus Didaktik - Die Abwendung der akademischen Institutionen von den Dichtergenies

121

IV. Beobachtungen des autobiographischen Schreibens

129

A. Selbsterkenntnis, Selbstbehauptung und Gesellschaftsstruktur im 18. Jahrhundert

130

Β. Spuren oder Monument - Autobiographik zwischen Sprechen und Schreiben

135

C. Funktionen der Autobiographie für Dichter, Schriftsteller und Leser des 18. Jahrhunderts

151

V.

1) Die Lebensbeschreibungen der Gelehrten

151

2) Zwischen pragmatischer Geschichtsschreibung und Anthropologie - Lebensbeschreibungen von Schriftstellern und Genies

154

3) Wieland, Rousseau, Goethe: Autobiographien zwischen Textverantwortung, Schriftemphase und Dichterbildung . . .

166

4) Die Verfugung von Dichterautobiographie und Roman . . . .

173

Autobiographik und Roman als Vermittler poetisch«- Ausbildung und dichterischen Handelns

179

A. Autobiographik zwischen Gelehrsamkeit und Genialität

179

1) Klassische autobiographische Rubriken

184

2) Gelehrte Autobiographik

190

3) Autobiographik >nach< Rousseau

201

ΥΠ!

Inhalt 4) > Verpöntes< Versemachen und die Abkehr von der Gelehrsamkeit

206

5) >Verpöntes< Versemachen und die Konfession

207

6) Zwischen Gelehrtem und Genie Christian Felix Weiße

211

7) Die >Naturdichter< und ihr Gegenstück, der >elende Scribent
Neben< Goethe - Wordsworth's »The Prelude«

289

D. >Nach< Goethe

295

E. Romane und Dichterbildung

302

1) >Elende Scribenten< und Scharlatane

302

2) Die Autorsucht der Jünglinge und die Lösung der Autobiographik

308

Inhalt

IX

VI. Willkommen und Abschied: Kontinuitäten autobiographischer Kommentierung und Dichterbildung

330

VII. Quellen-und Literaturverzeichnis

333

A. Quellen

333

B. Forschungsliteratur

343

Personenregister

356

Vorbemerkung

Grundlage für die vorliegende Arbeit ist meine Dissertation, die der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln im Wintersemester 1991/92 vorgelegen hat. Sie wurde für die Veröffentlichung leicht überarbeitet. (Das Rigorosum fand am 8. Februar 1992 statt.) Mein Dank gilt Professor Wilhelm Voßkamp für die großzügige, fordernde und fördernde Betreuung der Arbeit und Professor Peter J. Brenner für die interessierte Übernahme des Korreferats. Ich danke weiterhin: für wichtige Anregungen und hilfreiche Kritik Jürgen Fohrmann, Ursula Geitner, Georg Stanitzek, Holger Dainat und Christiane Westphal; für eine ausführliche Diskussion meiner Thesen im Sommersemester 1990 den Kölner Kommilitoninnen und Kommilitonen; für die freundlich gewährte Einsicht in wichtige begriffsgeschichtliche Materialien Professor Kurt Wölfel; für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Communicatio deren Herausgebern und für vielfache Ermutigung und Unterstützung den Freundinnen und Freunden sowie meiner Familie. Schließlich gebührt ein besonderer Dank dem Evangelischen Studienwerk Villigst, das meine Studien und diese Arbeit durch Stipendien ermöglichte. Köln, im April 1993

Kerstin Stüssel

I. Kontexte

Α. Das Sprichwort Poeta nascitur non fit und die poetische Didaktik Daß Dichter nicht gemacht, sondern geboren werden, ist in der Form des Sprichworts poeta nascitur non fit ein Gemeinplatz der europäischen Poetik, die es dennoch unternimmt, die Dichter mit Hilfe von Regeln und Mustern zu unterrichten und zur Perfektion zu führen. Zum Fundus der abendländischen Vorstellungen über den Dichter und seine Ausbildung gehört die Vorstellung, daß das Dichten eigentlich nicht lehrbar ist. In ihr verbindet sich die Behauptung angeborener, exklusiver Genialität mit der Auffassung, die dichterische Tätigkeit sei von göttlichem Einfluß geprägt und jeder Kunstlehre unzugänglich. Daß dieses Sprichwort bis weit in das 18. Jahrhundert hinein seine Gültigkeit behauptet und zugleich als selbstverständlicher Topos in fast jeder entfalteten poetischen Kunstlehre auftaucht, die es sich im Gegensatz zur These des Sprichwortes zur Aufgabe macht, die Schüler zu Dichtern zu bilden, ist ein erklärungsbedürftiges Phänomen; zumal nach dem Erfolg der Genieästhetik scheinen Lehrbarkeit der Poesie und angeborene dichterische Begabung einen unversöhnlichen Widerspruch zu bilden. Ein Blick auf Institutionalisierung und Praxis des poetischen Unterrichts im Schulwesen des Barock zeigt jedoch, wie das non fit in einer entfalteten poetischen Didaktik funktioniert: Die Ausbildung zum Dichter ist in der abendländischen Tradition mindestens bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts in die propädeutische gelehrte Bildung eingebettet, zu der vor allem die Fächer des Triviums dienten. Von jedem, der ein akademisches Studium absolviert hat, kann man nicht nur eine rhetorische Grundausbildung erwarten, sondern auch die Fertigkeit, lateinische, später auch deutsche Verse zu machen. Die ausgebildeten Poeten sind als Gelehrte Mitglieder der nobilitas Iliteraria und damit in die ständische Hierarchie eingebunden, und zu ihrer Selbstdarstellung bedienen sie sich rhetorischer Mittel, die ihre Stellung als Gelehrte zwischen Adel und Bürgern legitimieren.1 Bis in das >Jahrhundert der

1

Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970. S. 411 ff. - Vgl. dazu auch Rolf Baur: Didaktik der Barockpoetik.

2

Kontexte

Aufklärung< hinein ist die Dichtkunst also fast ausschließlich eine Tätigkeit der gelehrten Oberschicht, durch die sich diese von den Unterschichten unterscheidet. Den Zugang zum Gelehrtenstand regelt zwar kein Geburtsprivileg, doch konstituiert sich die Gelehrsamkeit als Kommunikationsgemeinschaft mit gleichermaßen strengen Zugangsbeschränkungen. Trotz vertikaler Mobilität, die den Aufstieg einiger weniger in den Gelehrtenstand zuläßt, beruft man sich auf Schranken, die den Stand nach unten abschließen. Insbesondere der Hinweis auf das nascitur gehört zur Definition und somit zur Abgrenzung der gelehrten Poeten von allen poetischen Anmaßungen des sogenannten >Pöbelspöbelhaften< Poeten zählen alle, die glauben, die Techniken der Poesie nur lernen zu brauchen, um sich Dichter nennen zu können. Das Sprichwort ist in der hierarchisch gegliederten Ständegesellschaft heimisch, weil es zu verhindern hilft, daß alle den Anspruch erheben, Dichter zu sein. Sobald indes die allgemeine Lehrbarkeit poetischer Regeln und Muster gegen die natürliche Begabung ins Feld geführt wird, ist die Sprengung des geschlossenen Zirkels gelehrter Poeten zu gewärtigen: Die Behauptung, alle, auch die, »denen die Natur [...] etwas versaget«, könnten durch »gute Anweisung und Selbst-Übung« zum Dichten befähigt werden,4 führt durch die Inklusion aller Schichten zur Revision des exklusiven Naturbegriffs, der dem nascitur des Sprichwortes zugrundeliegt. Die Konsequenz der im 18. Jahrhundert einsetzenden, mit vielen Wi-

2

3

4

Die deutschsprachigen Poetiken von Opitz bis Gottsched als Lehrbücher der Poetik. Heidelberg 1982. S. 70 ff. Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983. S. 196-202. »Poete«. In: Johannes Theodor Jablonski: Allgemeines Lexicon der Künste und Wissenschaften. Leipzig 1721. S. 559. - Vgl. dazu auch Barthold Feind: Deutsche Gedichte [...] Sammt einer Vonede Von dem Temperament und Gemüths=Beschaffenheit eines Poeten. Stade 1708. S. 5: »Nicht die Kunst/ (sonst könnte jedweder endlich durch grosse Mühe ein Poet werden)/ sondern die Natur macht Poete.« - So auch noch J. H. J. Heusinger: Handbuch der Aesthetik oder Grundsätze zur Bearbeitung und Beuitheilung der Werke einer jeden schönen Kunst. Th.1.2. Gotha 1797. S. 72: »Gut versificiren kann ein jeder lernen. Aber geistvoll dichten, das bleibt ein Eigenthum der gebohrnen Poeten, das lemt und lehrt man nicht.« Andreas Köhler: Deutliche und gründliche Einleitung zu der reinen deutschen Poesie. [...] Halle 1734. Vorrede, unpag.

Das Sprichwort Poeta nascitur non fit

3

derständen verbundenen Öffnung der Poesie für alle Stände und Schichten ist jedoch nicht allein, daß ungelehrten Personen die Fähigkeit zugestanden wird, die gelehrten Standards zu erfüllen, so daß diese daraus den Anspruch ableiten können, Dichter zu sein, sondern auch, daß bei Zunahme eines ungelehrten Publikums die Erfüllung der >formularischen< Regeln und die Nachahmung der poetischen Muster, die bis dahin die Anerkennung als Dichter gewährleisten, ihre Geltung und Funktion verlieren. Gegen die Kunst auf Natur zu setzen, ist, wenn alle die Kunst erlernen, eine Möglichkeit, die traditionelle, auf die Exklusivität des Gelehrtenstandes bezogene Seltenheit der Dichterschaft zu reklamieren und sich als Genie hervorzuheben. Die Rarität der Poesie und der Poeten, bis zur Auflösung der gelehrten exklusiven Ordnung selbstverständliche Prämisse jedes Versuchs, als Dichter zu agieren, kann nach der Sprengung der hierarchischen Gesellschaftsdifferenzierung nur noch funktional begründet werden: Weil die Dichtkunst eine vortreffliche, »aber nicht in so reichem Maaße nöthige Gabe« sei, werde die Begabung zur Dichtkunst nur selten von der Vorsehung verliehen, so daß die Dichter »nascuntur, non fiunt«.5 Der kommunikative Konflikt zwischen erlernbarer Kunstlehre und angeborener Begabung verschärft sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, weil die Favorisierung von Originalität, eigentümlichem Selbstausdruck und Natürlichkeit die bisherigen Möglichkeiten, dichterisches Handeln zu beobachten und daraus für die Zukunft zu lernen, zerstört: Die >formularischen< Regeln der Poetik und der Rekurs auf das Reservoir gelehrter rhetorischer und poetischer Muster erlaubten es, in den Texten das intentionale Handeln von Personen zu beobachten, die aus mehreren poetischen Möglichkeiten eine aufgreifen und so in mehr oder weniger perfekter Weise den Anspruch erheben, zum Dichterstand zu gehören. Ihre Texte lernend zu imitieren, heißt, den eigenen Anspruch auf Zulassung zum geschlossenen Kreis der Dichter zu erheben. Die Behauptung dagegen, in den Texten zeige sich die unverwechselbare, auf eine privilegierte Beziehung zum eigenen Text Anspruch erhebende Eigentümlichkeit6 des Genies, läßt die Beobachter zunächst ratlos zurück: Keine eingespielte Art und Weise des Umgangs mit poetischen Texten sorgt dafür, daß die postulierte Präsenz des Autors tatsächlich zu beobachten ist; gerade weil das Genie als >Schöpfer< seines Textes erscheint, sich als ganze, einmalige Person zeigen will und jeden Vergleich mit Mustern und Vorbildern rigoros ablehnt, verschwindet es hinter einem undurchsichtigen Text, denn dessen spezifische Relation zu sei5

6

Anon.: Ueber das Sprichwort: Poeme nascuntur non fiunt. In: Neues hamburgisches Magazin, 14. Bd., 18. Stück, 1774, S. 184-186. Vgl. dazu Gerhard Plumpe: Eigentum - Eigentümlichkeit. Über den Zusammenhang ästhetischer und juristischer Begriffe im 18. Jahrhundert. In: Archiv für Begriffsgeschichte 23, 1979, S. 175-196.

Kontexte

4

nem Autor bleibt solange rätselhaft, wie Zuordnungsregeln fehlen, die fixieren, wie sich Texte und Zeichen auf ihren Urheber beziehen. Eine Antwort auf die Aporie radikaler poetischer Originalität ist die neue Funktion, die den Gattungen der Personenbeschreibung, insbesondere der Autobiographie und dem Roman zugewiesen wird: Wo die Handbücher und Kompendien der Poetik und Ästhetik und die daran gekoppelte gelehrte Ausbildung zum Dichter in Gymnasien und Universitäten ihre Funktion verlieren, übernehmen andere Bücher deren Aufgabe, um sie in paradoxer Weise fortzuführen. Obwohl Genies nicht wissen, was sie tun, und obwohl man darüber schweigen soll, worüber man nichts sagen kann, schreiben sie auf, wie sie schreiben und wie sie das Schreiben lernten; sie schreiben eine Geschichte ihrer poetischen Bildung auf, weil und obwohl unverwechselbare Individualität die einzige noch übrigbleibende poetische Regel ist: Daß Schreiben heißt, sich von allen anderen zu unterscheiden, und daß Schreiben lernen gleichbedeutend damit ist, von anderen zu lernen, wie man sich mit seinen Texten dadurch von allen anderen unterscheidet, daß man allein sich selbst folgt, ist die Rechtfertigung für eine neue Art poetischer Unterweisung, die selbstreferentiell funktioniert. Die Autobiographie und - in etwas weniger auffälliger Weise - der Roman reklamieren bis heute für sich die Rolle, angehende Autoren zu unterrichten und den desorientierten Lesern über das Verhältnis zwischen Texten und Verfassern Aufschluß zu geben, indem sie das Leben eines Autors und die Anfange seiner Autorschaft erzählen. Die Autobiographie fungiert jedoch nicht allein als Fokus dichterischer Anfänge und Fortschritte, sondern spielt auch eine Rolle für die Kontrolle poetischer Wirkung. Daß die Ausübung der Dichtkunst und die Beständigkeit des dichterischen Textes den Dichtern Unsterblichkeit verleihe, ist, ebenso wie das nascitur, ein klassischer Topos, der seit Horaz' »Exegi monumentum« 7 das dichterische Selbstverständnis wesentlich mitbestimmt. Er gerät im Zuge der Auflösung des gelehrten Kommunikationszusammenhanges durch den modernen Buchmarkt und die Inklusion eines allgemeinen Publikums sowie einer allgemeinen Dichterschaft in den Strudel radikaler Verzeitlichung und Diskontinuität: Daß die Namen der Autoren bereits zu Lebzeiten in Vergessenheit versinken, wird zu einer bedrohlichen Wahrscheinlichkeit, wenn kurzfristige Moden die literarische Kommunikation zu bestimmen scheinen. Die neugewonnene Freiheit, ohne Rücksicht auf die gelehrten Regeln und Muster zu schreiben, wird durch den Verlust an Kontrolle über die eigenen Texte relativiert: Das inhomogene, ungelehrte Publikum reagiert unberechenbar auf die Texte von Verfassern, denen

1

Horaz: Oden ΙΠ, 30.

Die Rolle des Dichters in der

Literaturwissenschaft

5

weiterhin die moralische Verantwortung für ihre Produkte zugeschrieben wird. Autobiographische Kommentare stehen in dieser Konstellation über ihre didaktische Funktion hinaus sowohl für die Sicherung der Kontrolle über die eigenen Texte als auch für den Versuch, die eigene Unsterblichkeit gegen alle Wahrscheinlichkeit anzustreben: Sie legen eine Spur, die vom poetischen Text auf seinen Verfasser verweist, vervielfältigen diese, um sie schließlich verwischen zu können und so das Spiel der unendlichen Autorsuche zu provozieren. 8 Diese Funktionen der Gattungen Autobiographie und Roman im Zusammenhang mit den Aporien aufzuweisen, in die sich die traditionellen, in den Kompendien der Poetik und Ästhetik repräsentierten Institutionen der Dichterausbildung verstricken, ist die Aufgabe der folgenden Arbeit. Die Untersuchung der Autobiographik versteht sich zudem als ein Beitrag zur Logik der »Paratexte«, die in der abendländischen Kultur als Begleiter der Bücher auftreten. 9

B. Die Rolle des Dichters in der Literaturwissenschaft Michel Foucault hat die Frage nach dem Autor mit einer Insistenz gestellt, die allen Versuchen, die Macht des Autors nur zu leugnen oder nur zu retten, skeptisch begegnet. Die klassifikatorische Einheit des Autors zu bezweifeln, heißt nämlich nicht, auf diese Kategorie verzichten zu können. Der Blick auf das intrikate Verhältnis zwischen Schreiben, Unsterblichkeit und Absenz läßt die geläufige Rede vom Tod des Autors naiv erscheinen: Der schriftliche poetische Text verbürgt doch traditionell seit der Horazischen Identifizierung mit einem »monumentum aere perennius« die Unsterblichkeit seines Verfassers in absentia und entläßt den Autor so als eine Instanz, die zwischen An- und A b w e s e n h e i t oszilliert. 1 0 Den Bemerkungen Foucaults und seiner Aufforderung, die Funktion der Kategorie >Autor< in ihrem historischen Wandel zu untersuchen, ist die vorliegende Untersuchung ebenso verpflichtet wie evolutionstheoretischen Beschreibungen des Autors im entstehenden Literatursystem, die der Annahme immanent geistesgeschichtlicher Kontinuität 8

9 10

Vgl. Lars Gustafsson: Der Literaturwissenschaftler aus der Sicht des Schriftstellers. In: Ders.: Die Bilder an der Mauer der Sonnenstadt. Essays über Gut und Böse. München 1987. S. 165-173. Vgl. Gerard Genette: Seuils. Paris (Seuil) 1987. Michel Foucault: Qu'est ce qu'un auteur? In: Bulletin de la Société française de Philosophie 63, No. 3, Séance du 22 Février 1969, S. 73-95. - Vgl. dazu knapp und ohne die historischen Implikationen auszuführen Uwe Japp: Der Ort des Autors in der Ordnung des Diskurses. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hg. von J. Fohrmann und H. Müller. Frankfurt a. M. 1988. S. 223-234.

6

Kontexte

und Notwendigkeit dadurch zu entgehen suchen, daß sie die Funktion und die Kontingenz der modernen Beschreibungen der Dichterausbildung und des dichterischen Agierens auf dem Hintergrund der gelehrt-rhetorischen Dichterkonzeption beobachten; diese Arbeit unternimmt es, durch die Beobachtung einer Vielzahl von literaturdidaktischen Quellentexten zu beschreiben, wie unter den spezifischen kommunikativen Bedingungen des 18. Jahrhunderts die Suche nach dem Dichter einsetzt, der hinter seinen Texten und Büchern vermutet wird 11 und der sich mit und in einem weiteren Buch, dem Text seiner Autobiographie, als Urheber und erster Kommentator einer Gruppe von Texten zu erkennen gibt, 12 um sich zugleich hinter diesem Buch zu verbergen. Die Suche des Lesers und das Versteckspiel des Autors vollziehen sich außerdem in Romanen, die durch die Integration autobiographischer Schreibweisen als Lebenszeugnisse ihrer Verfasser erscheinen. Sie empfehlen sich so ebenfalls als Instrumente der Dichterbildung und der Leserorientierung und sollen deshalb exemplarisch vorgestellt werden. Ist man einmal darauf aufmerksam geworden, daß es sich nicht von selbst versteht, die Person des Dichters als literarische Grundeinheit anzusehen, scheint es im Gegenzug naheliegend, die Kategorie des Werkes in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen. Daß Literaturwissenschaftler sich damit nicht nur dann Schwierigkeiten einhandeln, wenn sie eine Gruppe von Texten als Gesamtwerk eines Autors der Verfasserkategorie subsumieren, sondern auch dann, wenn sie das einzelne literarische Werk zum literarischen Grundelement erklären, zeigen etwa Niklas Luhmanns programmatische Bemühungen, das Kunst- und Literatursystem im Einklang mit seiner allgemeinen Systemtheorie zu beschreiben. 13 Sobald das einzelne, isolierte Kunstwerk als kommunikatives Grundelement des Kunstsystems identifiziert wird, ist es nämlich nur unter Rückgriff auf eine zweite Kategorie möglich zu beschreiben, wie sich die Autopoiesis und die Einheit des Kunstsystems kommunikativ vollzieht: Für Luh-

11

12

13

Daß diese Suche erst mit dem Buchdruck und dem expandierenden Buchmarkt einsetzt, skizziert Jan-Dirk Müller: Der Körper des Buchs. Zum Medienwechsel zwischen Handschrift und Druck. In: Materialitäten der Kommunikation. Hg. von H. U. Gumbrecht und K. L. Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1987. S. 203-217. Vgl. dazu vor allem Heinrich Bosse: Autorisieren. Ein Essay über Entwicklungen heute und seit dem 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 11, 1981, S. 120-134. Besonders: S. 121. - Vgl. auch Ders.: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderbom/München/Wien/Zürich 1981. S. 17 ff. Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. In: Delfin 3, 1984, S. 51-69. - Neuer und ausführlicher: Ders.: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hg. von H. U. Gumbrecht und K. L. Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1986. S. 620-672.

Die Rolle des Dichters in der Literaturwissenschaft

7

mann ermöglicht die Kategorie des Stils, sich innerhalb des Kunstsystems auf mehrere Einzelwerke zu beziehen. Daß seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert vor allem Person und Leben eines Verfassers von mehreren Texten die postulierte Isolation der einzelnen Werke aufbrechen und so den autopoietischen Prozeß des Literatursystems gewährleisten, ist bislang nur wenig beachtet worden, während etwa die Herausbildung des von ständischen Regularien >freienfür sich selbstsinnvolle< Interpretation der Quellentexte erlaubt. Eine Reduktion der in den Quellen zu beobachtenden Kommunikationen auf Handlungen, wie es in jüngsten systemtheoretisch ori-

14

Anzeichen des Übergangs vom ständisch gebundenen Poeten zum freien Schriftsteller bereits im 17. Jahrhundert beschreibt Klaus Garber: Der Autor im 17. Jahrhundert. In: LiLi 11, 1981, H. 42, S. 29-45. - Zur Problematik des freien Schriftstellers: Hans Jürgen Haferkom: Der freie Schriftsteller. Eine literatur-soziologische Studie über seine Entstehung und Lagê in Deutschland zwischen 1750 und 1800. Diss. phil. (masch.) Göttingen 1959. Ders.: Zur Entstehung der bürgerlich-literarischen Intelligenz und des Schriftstellers in Deutschland zwischen 1750 und 1800. In: Literatur und Sozial Wissenschaften 3. Deutsches Bürgertum und literarische Intelligenz 1750-1800. Hg. von B. Lutz. Stuttgart 1974. S. 113-275. - Den Zusammenhang zwischen Befreiung einerseits und Sicherheitsverlust andererseits betont Herbert Jaumann: Emanzipation als Positionsverlust. Ein sozialgeschichtlicher Versuch über die Situation des Autors im 18. Jahrhundert. In: LiLi 11, 1981, H. 42, S. 46-72. - Zur Professionalisierung im Gegensatz zu den emphatischen Selbstdeutungen der Schriftsteller vgl. Jörg Schönert: Professionalisierung der Schriftsteller? Zu Praxisformen und Reflexionstypen des Schriftstellerberufs zwischen 1850 und 1920. Mskr. Universität Hamburg 1989. S. 4. - Letztlich personenbezogen argumentieren auch die Verfasser der Einzelporträts in: Gunter E. Grimm (Hg.): Metamorphosen des Dichters. Das Rollenverständnis deutscher Schriftsteller vom Barock bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M. 1992.

15

Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1989. S. 293.

8

Kontexte

entierten Arbeiten zu beobachten ist, 16 muß nicht nur aus prinzipiellen, sondern vor allem aus praktisch-heuristischen Erwägungen vermieden werden: Literaturwissenschaftliche Untersuchungen beobachten Texte, keine Handlungen; ob die beobachteten Texte als intentionale Handlungen gedeutet werden können, ist wiederum nur durch die Beobachtung von Texten zu entscheiden. Die Untersuchung, wie das Handeln und die Ausbildung des Dichters im 18. Jahrhundert in den Handbüchern und Kompendien der Poetik und Ästhetik, in Autobiographien und Romanen beschrieben wird, berücksichtigt, daß Handlungen und Intentionen »über Kommunikation und Attribution« konstituiert werden; 17 die Beschreibung und Zuschreibung dichterischen Agierens in den aufgegriffenen Quellentexten wird nicht als Summe isolierter Ereignisse beobachtet, sondern als ein kommunikativer Zusammenhang, den ich unter dem Begriff der >Dichterausbildung< zusammenfasse. Er ordnet sich der Leitdifferenz KunstNatur und den spezielleren Themen der Regeln, der poetischen Vorbilder oder Muster sowie des Genies zu. Es wird sich schließlich zeigen, daß gerade die Beschreibung der poetischen Handlungen und der poetischen Ausbildung in den literaturdidaktischen Quellen zu jenen Aporien führt, an die weitere Kommunikationen, nämlich Autobiographien und Romane anschließen. Um poetische Handlungen zu beschreiben, verwendet die alteuropäische Kommunikation >formularische< Regeln, die jeden poetischen Text einem Handlungstyp zuordnen, so daß der einzelne Text als Eintrag in ein vorgegebenes Formular erscheint. Daß aber auch die emphatischen Beschreibungen unverwechselbarer Individualität nicht ohne Vollzug von Gesellschaft, ohne Typisierungen und Verallgemeinerungen auskommen, zeigt die Beobachtung von Autobiographien und anderen Formularen für Individualität. So enthalten etwa Autobiographien und Romane in dem Prozeß, da der agonale Traditionsbezug durch moderne »Einflußfurcht« 18 abgelöst wird, unabdingbar eine Rubrik für Lektüre, die von allen jeweils unterschiedlich ausgefüllt wird. 19

16

17 18

19

Ebd., S. 38. - Vgl. auch: Dieter Pfau/Jörg Schönert: Probleme und Perspeküven einer theoretisch-systematischen Grundlegung für eine Sozialgeschichte der Literatur. In: Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der deutschen Literatur: ein strukturalfunktionalistischer Entwurf. Hg. im Auftrag der Münchener Forschergruppe: »Sozialgeschichte der deutschen Literatur« von R. von Heydebrand. Tübingen 1988. S. 1-27. Hier: S. 3 f. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1987. S. 191. Vgl. Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. Oxford, Oxford University Press 1973. Zur Theorie des »Formulars« vgl. Jürgen Frese: Prozesse im Handlungsfeld. München 1985.

Ungelehrte Leser, Mode,

Schriftlichkeit

9

Als Einstiege und zur Kontextbildung dienen die folgenden Abschnitte über die Transformation des dichterischen Selbstverständnisses im Zusammenhang mit dem Entstehen des Buchmarktes sowie das Kapitel über die Transformation der literaturtheoretischen und poesiedidaktischen Kommunikation im Zuge der Etablierung jenes Bereiches, dem der Kollektivsingular >Kunst< zugeordnet wird. Da weder eine vollständige Darstellung der Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts noch eine Gattungsgeschichte der Autobiographik und des Romans angestrebt wird, ist die Reihe der verwendeten und angeführten Quellen selbstverständlich ergänzungsbedürftig und -fähig. Relevanz für das Thema, d. h. häufig auch Wiederholung und Variation von Aussagen, die durch einen veränderten Kontext eine neue Bedeutung annehmen, nicht Einzigartigkeit und Vollständigkeit war die Hauptmaxime bei der Erschließung des Quellenmaterials. Um dem Leser eine Möglichkeit zur Überprüfung dessen zu geben, was hier nicht aufgegriffen wurde, sei auf die verwendeten bibliographischen Hilfsmittel verwiesen. 20 Anders als die Dichtergenies müssen Wissenschaftler die Kontingenz ihres Vorgehens deutlich machen: Daß sie auch anders hätten vorgehen können, macht sie als handelnde Personen sichtbar und der Kritik zugänglich.

C. Ungelehrte Leser, Mode, Schriftlichkeit: Bedingungen f ü r den W a n del in dichterischer Selbstdarstellung und -behauptung Christian Fürchtegott Geliert, Fabeldichter, Romancier und Goethes Lehrer der Poetik in dessen Leipziger Studienjahren, schreibt um die Jahrhundertmitte ein kurzes satirisches Lehrgedicht mit dem Titel »Der unsterbliche Autor«. Darin behandelt er, aus der Perspektive des gelehrten Dichter- und Dichtungsver-

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Zur Literaturtheorie vgl. Armand Nivelle: Literaturästhetik der europäischen Aufklärung. Wiesbaden 1977. S. 81-149. Vgl. eine zeitgenössische Bibliographie Friedrich Blankenburg: Litterarische Zusätze zu Johann Georg Sulzers allgemeiner Theorie der schönen Künste. Leipzig 1796-1798. Zur Poetik vgl. Grimm, Literatur und Gelehrtentum in Deutschland, S. 758-789. Eine zeitgenössische kommentierte Bibliographie zur Ästhetik liefert J. (Joseph Benedikt Maria) Koller: Entwurf zur Geschichte und Literatur der Ästhetik von Baumgarten bis auf die neueste Zeit. Regensburg 1799. Zur Autobiographik leider fehlerhaft: Jens Jessen: Bibliographie der Autobiographien. München 1987. Für frühe Autobiographien vgl. Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977. S. 211 ff. Zur Rekonstruktion deutscher Diskussionen vgl. Zeitschriften-Index: Autoren-, Schlagwort- und Rezensionenregister zu deutschsprachigen Zeitschriften 1750-1815. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen erstellt von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von K. Schmidt. Hildesheim 1987.

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ständnisses, die traditionelle Thematik der poetischen Unsterblichkeit. Auffällig ist jedoch der vollkommen veränderte, auf kurzfristige poetische Wirkungen verweisende Zeithorizont, der mit diesem Gedicht etabliert wird, da es die neuen, gerade in der Entstehung befindlichen Medien der literarischen Kommunikation berücksichtigt: Ein Autor schrieb sehr viele Bande/ Und ward das Wunder seiner Zeit; Der Journalisten gütge Hände/ Verehrten ihm die Ewigkeit./ Er sah, vor seinem sanften Ende,/ Fast alle Werke seiner Hände/ Das sechste Mal schon aufgelegt,/ [...] Und das Verzeichniß seiner Bücher,/ Die kleinen Schriften mitgezählt,/ Nahm an dem Lebenslauf allein/ Drey Bogen und drey Seiten ein.// Man las nach dieses Mannes Tode/ Die Schriften mit Bedachtsamkeit;/ Und seht das Wunder seiner Zeit/ Kam in zehn Jahren aus der Mode,/ Und seine göttliche Methode/ Hieß eine bange Trockenheit./ Der Mann war bloß berühmt gewesen/ Weil Stümper ihn gelobt, eh Kenner ihn gelesen.// Berühmt zu werden ist nicht schwer,/ [...] Doch bei der Nachwelt groß zu bleiben,/ Dazu gehört noch etwas mehr,/ Als, seicht am Geist, in strenger Lehrart schreiben. 21

Die Kombination von öffentlichem, aber ungelehrtem Lob durch Journalisten und kurzfristiger Berühmtheit, die langfristig in Vergessenwerden aufzugehen droht, verweist auf die zunehmenden Orientierungsschwierigkeiten der Individuen, die die Rolle des Poeten und Dichters ausfüllen wollen: Buchhandel, wachsende Leserzahlen und die Etablierung der modernen Literaturkritik zwingen den einzelnen zu einer quälenden Wahl aus neuen Möglichkeiten. Entweder strebt er momentanen, kurzfristigen Erfolg an, der sich in Honorarhöhen niederschlägt, oder er rekurriert auf das traditionelle Konzept dichterischer Unsterblichkeit und Ewigkeit. Immer aber hat er damit zu rechnen, daß die verbindlichen Standards gelehrter Literatur ihre die gelehrte Standeszugehörigkeit definierende Kraft verlieren. Auf die Konzeption dichterischer Ausbildung und poetischen Handelns schlagen diese neuen Optionen mit voller Wucht durch: Das gelehrte Curriculum verliert ebenso wie die Demonstration von Gelehrsamkeit im poetischen Text die Funktion, Poeten im Hinblick auf ihre Intentionen verwirklichende, erlernte und trainierte Geschicklichkeit zu beobachten und zu beschreiben. Gellerts Text steckt den kommunikativen Bereich ab, den es im folgenden zu beobachten gilt. Dabei tut man gut daran, die Quellen ohne die Beschränkung durch den sich gerade erst herausbildenden modernen Literaturbegriff zu mustern: »Litteratur« im Sinn des 16. und 17. Jahrhunderts ist nämlich die gesamte in Büchern gesammelte Gelehrsamkeit, »der Inbegriff aller in Büchern niedergelegten Kenntnisse und Ideen«. 22 Die produzierende und die

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Christian Fürchtegott Geliert: Sämmtliche Schriften. Leipzig 1769-1774. 1. Theil. S. 96. So noch Anon.: Idee einer Litteratur. In: Neues Museum der Philosophie und Litteratur 1, 1803, 1. H., S. 129-143. Hier: S. 133 f. - Vgl. vor allem Klaus Weimar: Literatur, Literaturgeschichte, Literaturwissenschaft. Zur Geschichte der Bezeichnungen für eine

Ungelehrte

Leser, Mode,

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rezipierende Beschäftigung mit Poesie und Dichtkunst muß als ein Fall des U m gangs mit Texten, mit in Büchern gesammelter Gelehrsamkeit verstanden werden, der im 18. Jahrhundert seine Beschränkung auf die Mitglieder des Gelehrtenstandes und einige Angehörige des A d e l s verliert. 2 3 Gesellschaftliche M o bilität und die langsam zunehmende Durchlässigkeit der Standesgrenzen manifestieren sich in Westeuropa besonders deutlich und sehr früh in den Diskussionen um die Gelehrsamkeit, die, gerade weil sie sich Personen unterschiedlichen Standes öffnet, kommunikative Schließungen v o l l z i e h t D i e buch- und buchhandelsgeschichtliche Forschung 2 4 bewegt sich, w o sie nicht Einzelphänomene untersucht, zwischen statistischen Erhebungen 2 5 mit all ihren methodischen Schwierigkeiten, und Thesen, die sich sehr e n g an Ursachenzuschreibungen der zeitgenössischen Beobachter und Teilnehmer anlehnen. Sicherlich ist von den Steigerungen in der Buchproduktion nicht einfach auf entsprechende Z u w ä c h s e an Rezipienten zu schließen, sicherlich bestehen

Wissenschaft und ihren Gegenstand. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft Akten des IX. Germanistischen Symposions der DFG Würzburg 1986. Hg. von C. WagenknechL Stuttgart 1988. S. 9-23. - Vgl. auch Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegescbichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989. S. 6 f. - Zuletzt dazu: Rainer Rosenberg: Eine verworrene Geschichte. Vorüberlegungen zu einer Biographie des Literaturbegriffs. In: Ästhetische Grundbegriffe. Studien zu einem historischen Wörterbuch. Hg. von K. Barck, M. Fontius und W. Thierse. Berlin (DDR) 1990. S. 93-133. Hier: S. 94 f. 23 Vgl. Alberto Martino: Barockpoesie, Publikum und Verbürgerlichung der literarischen Intelligenz. In: IASL 1, 1976, S. 107-145. 24 Dazu immer noch grundlegend: Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels vom westfälischen Frieden bis zum Beginn der klassischen Literaturperiode (16481740). Leipzig 1908. Hier: S. 178-181. Reinhard Wittmann: Soziale und ökonomische Voraussetzungen des Buch- und Verlagswesens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Buch- und Verlagswesen im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Kommunikation in Mittel- und Osteuropa. Hg. von H. G. Göpfert u.a. Berlin 1977. S. 527. Hier: S. 5: Wittmann diagnostiziert jedoch die Schwierigkeit, die Fakten »zu differenzieren und in ein kausales Verhältnis zu bringen«, weil »jede monokausale Interpretation dem verwirrenden und kaum überschaubaren Geflecht von Bezügen nicht gerecht werden kann.« - Vgl. Helmuth Kiesel/Paul Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert: Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Markts in Deutschland. München 1977. Insbesondere einschlägig sind Teil II sowie der aus anderen Quellen schöpfende statistische Anhang; grundlegend und mit besonderem Bezug zum Erfolg des Romans vgl. Albert Ward: Book Production, Fiction, and the German Reading Public 1740-1800. Oxford 1974. 25

Über die Höhe einzelner Auflagen und die Praxis der vielfachen Lektüre eines Exemplares durch mehrere Leser informiert Rolf Engelsing: Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft Stuttgart 1973. S. 57-68. - Ders.: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. In: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten. S. 112-154. - Vgl. Rudolf Schenda: Volk ohne Buch: Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 17701910. Frankfurt a. M. 1970. S. 444 f.

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enorme methodische Schwierigkeiten, exakte Leserzahlen zu ermitteln, sicherlich setzen die Zeitgenossen die Zahl ungelehrter Leser beträchtlich überhöht an, dennoch ist die Beunruhigung der zeitgenössischen Beobachter erklärungsbedürftig. Sie nehmen eine enorme Veränderung im Umgang mit Büchern wahr und beschreiben eine Ausdehnung der Leser- und Autorenschaft auf Personenkreise, die als ungelehrt gelten. Die Irritation der Zeitgenossen darf weder ungeprüft als berechtigt akzeptiert noch ideologiekritisch gemustert werden, sondern muß als seismographischer Indikator für gesellschaftliche und mediale Verwerfungen im Hinblick auf den Wandel der Autorenrolle untersucht werden. Erst in den letzten Jahren ist die Kulturtechnik des Lesens verstärkt in das Blickfeld der Forschung geraten.26 Sie soll ebenfalls unter Berücksichtigung ihrer Konsequenzen für das Selbstverständnis der Autoren und Dichter skizziert werden. Beobachtet man ohne theoretischen Zugriff die zeitgenössischen Beobachtungen, die den Wandel der gelehrt-literarischen Kommunikationsbedingungen unter den Stichworten »Vielschreiberei«, »Vielleserei« und »Bücherwuth« behandeln, gerät man schnell in den Bann der Frage nach der Henne und dem Ei: In den zeitgenössischen Quellen erscheint die neue Lage nämlich als Krise, zu deren Lösung vor allem Ursachenforschung empfohlen wird. Den im 18. Jahrhundert dramatisch zunehmenden Orientierungsschwierigkeiten von Autoren und Lesern, von Erziehern und Aufklärern, die nicht mehr mit den Topoi der Gelehrtenkritik und -satire und auch nicht mit dem Verweis auf das Bibelwort in Prediger 12 »des Bücherschreibens ist kein Ende«27 zu bekämpfen und zu erfassen sind, werden kausale Zuschreibungen als Bewältigungsstrategie empfohlen; sie dienen als ein neues, leistungskräftigeres Wahrnehmungsschema. Doch geraten die zeitgenössischen Beobachter wie die Wissenschaftler, die ihnen zu eng auf den Fersen sind, bei dieser Ursachensuche entweder in einen vitiösen Zirkel oder in eine Addition heterogener Faktoren: Man erklärt die steigende Zahl der Autoren28 und der Buchproduktion mit den neuen, vielfaltigen Bedürfnissen einer in ihrer Zusammensetzung völlig veränderten Leser-

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Vgl. die quellenkritische Erörterung bei Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlung des Lesers. Stuttgart 1987. S. 303 ff. - Vgl. jetzt Fritz Nies: Bahn und Bett und Blütenduft. Eine Reise durch die Welt der Leserbilder. Darmstadt 1991. Vgl. etwa das Motto auf dem Titelblatt zu Aegidius Henning: Gepriesener Büchermacher Oder Von Büchern/ und Bücher machen [...] Franckfurt 1666. Nachdruck in: Das Buchwesen im Barock. Hg. von R. Wittmann. München 1981. S. 106-111. Eine zeitgenössische Statistik liefert der Herausgeber eines Biographischen Lexikons: Johann Georg Meusel: Das gelehrte Teutschland oder Lexikon der jetzt lebenden teutschen Schriftsteller. Angefangen von Georg Christoph Hamberger, fortgeführt von Johann Georg Meusel. 12 Bde. 5. Aufl. Lemgo 1796-1806. Hier: Bd. XII, S. 6f. - Vgl. auch Kiesel/Münch, Gesellschaft und Literatur, S. 90 f.

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schaft, oder man begreift das neue Publikum als das Ergebnis einer Intellektuellenpropaganda, die >AufklärungBürgerlichkeit< zu besitzen.30 Dem Dilemma zwischen kausalen Ein zelzuSchreibungen und teleologischen Annahmen entkommt man, indem man die Debatte um Vielleserei und Vielschreiberei als kommunikatives Syndrom einer gesellschaftlichen >Krise< beobachtet, die den vormals exklusiven Umgang mit Büchern und Texten ergriffen hat und die gleichermaßen auf die Orientierungsbemühungen von Autoren und Lesern durchschlägt.31 Vornehmlich die Konsequenzen für das Selbstverständnis der Dichter werden im folgenden Aufmerksamkeit beanspruchen; sie markieren jenes funktionale Scharnier, an dem sich die traditionellen Formen poetischer Ausbildung als obsolet erweisen und wo die Beschreibung dichterischen Handelns veränderte Grundbegriffe und neue literarische Formen erfordert. Bei der Beobachtung der Beobachter des späten 18. Jahrhunderts stellt man »Angst«, »Staunen«, »Sorge«,32 »Beunruhigung« und »Verunsicherung«33 als Reaktion auf die Auflösung der gelehrten Umgangsformen mit Büchern und Texten fest, die zugleich die alten Orientierungsmuster der Gelehrsamkeit obsolet werden läßt. Das Buch, vormals ausgezeichnet als Quelle und Effekt der 29

Wolfgang v. Ungern-Stemberg: Schriftsteller und literarischer Markt. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 3. Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789. Hg. von R. Grimminger. München 1980. S. 133185. Hier S. 134 f. - Vgl. auch Hans-Jürgen Gabler: Geschmack und Gesellschaft. Rhetorische und sozialgeschichtliche Aspekte der frühaufklärerischen Geschmackskategorie. Frankfurt a. M./Bem 1982. S. 169. - Vgl. auch deis.: Der Tod des Mäzens: Politische Rhetorik im Dienste des literarischeil Marktes - Zur Rhetorisierung der Poetik im 18. Jahrhundert. In: Rhetorik 3, 1983, S. 35-64. 30 So bereits Leo Balet/Ernst Gerhard: Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert. Hg. von G. Mattenklott. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1972. - Zum Konzept der Trägerschichten vgl. Christa Bürgen Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst im höfischen Weimar. Literatursoziologische Studien zum klassischen Goethe. Frankfurt a. M. 1977. S. 9. - Vgl. auch Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 15. Aufl. Dannstadt/Neuwied 1984. 31 Bosse, Autorschaft, S. 119. 32 Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels vom Beginn der klassischen Literatuiperiode bis zum Beginn der Fremdherrschaft (1740-1804). Leipzig 1909. S. 248. 33 Dominik v. König: Lesesucht und Lesewut In: Buch und Leser. Hg. von H. G. Göpfert Hamburg 1977. S. 89-124. Hier: S.90f.

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Gelehrsamkeit, dessen Vertrieb durch Privilegien und Korporationen gesichert wurde 34 und dessen Käufer fast ausschließlich aus dem Stand der Gelehrten stammten, 35 wird zu einer Ware, die scheinbar an >alle< verkauft und von >allen< gekauft wird.36 In der Auflösung der einheitlichen >BücherweltBeiträger< der Debatte nehmen an der neuen Situation vor allem die bedrohliche Auflösung der ständischen Hierarchie wahr, die das Schreiben und Lesen exklusiv dem Gelehrtenstand zuschrieb. Sie beschreiben sie als Niedergang, der sowohl die ständische Stellung der Personen als auch den »innern Werth« 4 1 der Bücher bedroht. Besonders die zunehmende Lesepraxis der Frauen und Mädchen wird als gefährlich beschrieben, da das Viellesen bislang ausschließlich den Gelehrten zukam und ihnen als Standescharakteristikum diente. 42 Frauen, die an den gesellschaftlichen Bereich der familiären Häuslichkeit gebunden sind und bleiben sollen, bedrohen, sobald sie »statt in häuslichen Verrichtungen sich zu üben [...] sich mit Romanen, Gedichten, Allmanachs und Rittergeschichten« 43 unterhalten, als ungelehrte Leser paradigmatisch die auf Exklusion angewiesene hierarchische Gesellschaftsdifferenzierung. 4 4 So wie die neuen Leser und Leserinnen Lesebedürfnisse und Leseweisen zu entwickeln lernen, die nicht mit der Konzeption der Gelehrsamkeit vereinbar sind, so schreiben die Autoren nicht mehr allein um der Gelehrsamkeit oder um des poetischen Ruhms willen, sondern um schnöden Mammon und um den Beifall eines ungelehrten Publikums zu erringen. Die vermeintliche Ungebundenheit des freien oder privatisierendem Schriftstellers, der keine ständische Rücksichten nehmen muß, erweist sich als Illusion, sobald ein unbekanntes Publikum erobert werden muß. Die Gebundenheit an Amt und Stand wird durch »Speculation« und »Hazard« 45 ersetzt. Dadurch, daß Bücher wie jede

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Anon.: Ueber die gegenwärtige Vielschreiberei, ihre Ursachen und Folgen. In: Allgemeiner Litterarischer Anzeiger 1797. No. 66. S. 690-694. Hier: S. 690. Johann Rudolph Gottlieb Beyer: Ueber das Bücherlesen in so fern es zum Luxus unsrer Zeiten gehört. In: Acta Academiae Electoralis Moguntinae Scientiarium Utilium Quae Erfurti est. Erfurti 1796. Nachdruck in: Quellen zur Geschichte des Buchwesens. Die Leserevolution. Hg. von R. Wittmann. Bd. 10. München 1981. S. 23. Vgl. Bernhard Fabian: Der Gelehrte als Leser. In: Buch und Leser. Hg. von Herbert G. Göpfert. Hamburg 1977. (= Schriften des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens. Bd. 1) S. 48-88. Beyer, Ueber das Bücherlesen, S. 13. Vgl. Helmut Kreuzer: Gefahrliche Lesesucht. Bemeikungen zu politischer Lektürekritik im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Leser und Lesen im 18. Jahrhundert. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert der Gesamthochschule Wuppertal. Heidelberg 1977. S. 62-75. Johann Jacob Bauer: Gespräch im Reich der Todten zwischen dem Buchhändler Johann Jacob Bauer und dem Kaufmann L * * * von den vielerley Arten des Buchhandels in ihrem

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andere Ware an möglichst viele, unbekannte Abnehmer verkauft werden müssen, gilt es für sie zu werben, ohne daß dies wie bisher üblich als gelehrte »Charlatanerie« und unziemliche Marktschreierei kritisiert werden könnte. 46 Die Behauptung, ein Werk trage den »Stempel des Genies«, wird ebenso zu einem Mittel der Werbung 4 7 wie die Kunst des Buchhändlers, »seine Ware« allen potentiellen Käufern »recht marktschreierisch anzupreisen«. 48 Wirkung und Erfolg eines Textes unterliegen den Mechanismen der Konkurrenz, der Werbung und der Leserbedürfnisse und -reaktionen, so daß die Autoren in dieser Konstellation verstärkt danach trachten, Kontrolle über ihre Texte auszuüben. Der selbst als Vielschreiber geltende Christian Heinrich Schmid beschreibt 1790, wie z. B. die Wahl des Titels auf den Verkaufserfolg eines Buches Einfluß zu nehmen sucht: Titel dienen der ersten Informationsverbreitung über Bücher und ermöglichen das Reden über sie, ohne daß man sie schon gelesen hat. 49 Titel kompensieren, als eine Methode unter anderen, die Folgelasten aus der nun möglichen Strategie, »sich ein beliebiges Publikum zu denken, und für selbiges seine Waare einzurichten.« 50 Die Titel der Bücher eröffnen einen Weg, unter diesen Vorzeichen rational vorzugehen, während unter den Bedingungen der Gelehrsamkeit die Büchertitel als »elende Schale« denunziert werden konnten. 51 Bedingung der Möglichkeit für diese gelehrte Attribuierung ist, daß der Inhalt aller Bücher an einem gemeinsamen Perfektionsstandard gemessen werden kann, so daß schlechte Bücher, die jedoch einen »rechtschaffenen« Titel tragen, »übertünchten Gräbern« gleichen, die »auswendig hübsch erscheinen/

rechten Gebrauch und Mißbrauch; und über die Frage: Ob ein Buchhändler ein Gelehrter sein muß? da die Wissenschaften die höchste Stuffe erreicht haben sollen. Nürnberg 1770. Nachdruck in: Der Buchmarkt um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Quellen zur Geschichte des Buchwesens Bd. 4. Hg. von R. Wittmann. München 1981. S. 8 ff. 46 Vgl. Johann Burckhardt Mencke: Zwey Reden von der Charlatanerie der Gelehrten. Nebst verschiedener Autoren Anmerckungen. Leipzig 1728. Nachdruck in: Der Schriftsteller im 18. Jahrhundert. Satiren und Pasquille. Quellen zur Geschichte des Buchwesens 2,1. Hg. von R. Wittmann. München 1981. - Johann Gabriel Büschel: Ueber die Charlatanerie der Gelehrten seit Mencken. Leipzig 1791. Nachdruck in: Der Schriftsteller im 18. Jahrhundert. Satiren und Pasquille. Quellen zur Geschichte des Buchwesens. Bd. 2,3. Hg. von R. Wittmann. München 1981. S. 44 ff. 47 Anon.: Die schöne Seite der deutschen Litteratur. In: Neues Museum für Philosophie und Litteratur 3, 1805, H. 3. S. 93-110. Hier: S. 102. 48 Anon.: Bemerkungen über Leserei, und über den Einfluß der kritischen Journale auf die Lesewelt. In: Der Genius der Zeit 1795, Bd. 3, S. 437-446. Hier: S. 441. 49 Christian Heinrich Schmid: Ueber die Wahl der Büchertitel, ein Beytrag zu der Charakteristik der neuesten deutschen Litteratur. In: Journal von und für Deutschland 1790. 12. St. S. 525-541. Hier: S. 526. Nachdruck in: Der Buchmarkt der Goethezeit. Eine Dokumentation. Hg. von E. Fischer. Hildesheim 1986. Bd. 2. 50 Anon.: Publikum. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste 1787, 33. Bd., 1. und 2. St., S. 1-18, 177-189. Hier: S. 8. 5 1 Henning, Gepriesener Büchermacher, S. )(vj.

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aber inwenndig sind sie voller Toden=Bein und alles Unflaths.« 52 Die Klage über die betrügerischen Büchertitel gehört zum Topos der Kritik an der gelehrten »Marktschreierey«, mit der der Gelehrte auf der Bühne der Welt Furore macht, aber das Publikum täuscht. Sie wird in das barocke Vanitas-Thema eingeordnet und erscheint so als Sinnbild menschlicher Gottesferne und Unvollkommenheit. Am Ausgang des 18. Jahrhunderts ist von dieser Argumentation kaum noch etwas zu spüren: Schmids Argumentation beruht auf der Prämisse des freien Handels mit Büchern: Die »Concurrenz« mache es notwendig, daß ein »Deutscher Schriftsteller [...] sich vor seinen Kollegen durch irgend etwas, wäre es auch nur der Titel seines Buches«, auszeichnet, »um bemerkt« zu werden. 53 Mit Hilfe eines Titels kann sich ein Buch entweder im Vertrauen auf die wechselhafte Laune des Publikums 54 als ein neues, einzigartiges Werk präsentieren, oder es kann sich, durch die intertextuelle Verweisstruktur von Titeln, 55 in ein schon bestehendes erfolgreiches Genre oder in eine der gerade grassierenden »Moden« einordnen. 56 In einer Zeit, wo »täglich« neue Bücher um die kurzfristige Aufmerksamkeit des Käufers wetteifern, verspricht sowohl das Neue, Gesuchte, auf Einzigartigkeit und Originalität Anspruch Machende wie das, was sich bereits als Mode etabliert hat, die potentiellen Käufer anzusprechen: »Ein moderner Schriftsteller wird es nicht verabsäumen, sich durch irgendeinen der herrschenden Modetitel zu empfehlen«. 57 Weitere Instrumente der literarischen Spekulation sind Titel, die eine bestimmte Käufergruppe aus der allgemeinen Leserschaft isolieren und ihr signalisieren, daß ein Buch speziell an sie adressiert ist, 58 oder Titel, die explizit machen, »daß alle Klassen und Stände von Lesern« 59 angesprochen werden und als Käufer in Frage kommen. Unabhängig davon, ob solche Titelspekulationen bereits auf das mo-

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Ebd., Gepriesener Büchermacher, S. 107. Schmid, Büchertitel, S. 528. 54 Vgl. Wilhelm Hauff: Die Bücher und die Lesewelt. In: Sämtliche Werke in drei Bänden. Bd. III. S. 55-71. München 1970. S. 66: Der Buchhändler Salzer meint im Gespräch mit dem angehenden Autor: »Veränderung macht Vergnügen und neue Besen kehren gut, [...] so ist einmal das Publikum, wetterwendisch, und weiß nicht warum. Kleider machen Leute, und eine hübsche Vignette, ein auffallender Titel tut in der Lesewelt soviel als eine neue Mode in einer Assemblee«. 55 Vgl. Wolfgang Karrer: Titles and Mottoes as Interlextual Devices. In: Intertextuality. Hg. von H. F. Plett. Berlin/NewYork 1991. S. 122-134. Zur Geschichte des literarischen Titels vgl. Arnold Rothe: Der literarische Titel. Funktionen, Formen, Geschichte. Frankfurt a. M. 1986. 56 Ragotzky: Über Mode-Epochen in der Deutschen Lektüre. In: Journal des Luxus und der Moden 1786. Abgedruckt in und zitiert nach: O Lust, allen alles zu sein. Deutsche Modelektüre um 1800. Hg. von O. Reincke. Leipzig 1989. S. 5-11. " Ebd., S. 535. 58 Ebd., S. 539 f. 59 Ebd., S. 538 f. 53

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derne, allgemeine Publikum reagieren oder dieses erst konstituieren und befördern, ist die Bedingung der Möglichkeit für beide Strategien die Sprengung des exklusiven Zirkels der Gelehrten und der exklusiven gelehrten Kommunikation über Bücher und den Umgang mit ihnen. Die Wahl der Titel ist hier beispielhaft als ein Mittel des Verfassers beschrieben worden, Verantwortung und Kontrolle über seine Texte wahrzunehmen und auszuüben. Daß angesichts der veränderten Leserschaft auch Selbstbehauptungsstrategien der Autoren aufkommen, die Textkontrolle und -Verantwortung leugnen, zeigt sich nun in der Unterscheidung zwischen >gebildetem< und >trivialem< Leser. Die Debatte um Vielschreiberei und -leserei kristallisiert sich an mehreren Differenzen aus, die jeweils mehrere einander zugeordnete Ausprägungen der komplementären Leser- und Autorrolle entwerfen: Auf der Negativseite stehen sowohl die passiven, flüchtigen Leserinnen und Leser als auch der spekulierende Autor, dem Gehalt und Form seiner Texte letztlich gleichgültig sind und der verantwortungslos Texte verbreitet, ohne jene Wirkungen zu berücksichtigen, die über Honorarzahlungen hinausgehen. Den Lesern aus Unterschichten, »Handwerksbursche, Bediente, Bürger und Bauern von aller Art« 60 , vor allem aber den Frauen wird unterstellt, daß sie durch das Lesen in einen Gegensatz zu der ihnen zugeordneten »Bestimmung« geraten. 61 Beruht diese Kritik noch auf der Voraussetzung eines >natürlichen< Bereichs der Häuslichkeit, auf den die funktionale Differenzierung der Gesellschaft mit ihren für das Individuum bedeutsamen Konsequenzen der Arbeitsteilung und Spezialisierung nicht durchschlagen soll, so nimmt die Lesekritik später den Lesevorgang selbst in den Blick und kulminiert in dem Vorwurf, daß die Leser »Automaten« 6 2 und »Maschinen« 63 gleichen, die gänzlich passiv bleiben und von außen, d. h. vom

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Beyer, Ueber das Bücherlesen, S. 13. »Die Lesesucht der Frauenzimmer stimmt ihren Fleiß und Thätigkeit herab, und führt zu einer falschen lächerlichen Empfindsamkeit. Das alltägliche und gewöhnliche will nicht mehr gefallen, also auch die Berufsgeschäfte nicht; überspannte Phantasien wirken auf die Nerven und erzeugen Kränklichkeit, und häusliche Unordnung macht das Elend vollkommen.« So Johann Gottfried Hocke: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht und Uber den Einfluß derselben auf die Verminderung des häuslichen und öffentlichen Glücks. Hannover 1794. S. 124 f. und S. 122 f. Nachgedruckt in: Quellen zur Geschichte des Buchwesens. Herausgegeben von R. Wittmann. Bd. 10. München 1981. - Vgl. auch Holger Dainat: Abaellino, Rinaldini und Konsorten. Zur Geschichte der Räuberromane in Deutschland. Diss. phil. Bielefeld. 1989. S. 83. Dazu auch Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a. M. 1979. Vgl. Barbara BeckerCantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frauen und Literatur (1500-1800). Stuttgart 1987. S. 174 ff. Johann Georg Heinzmann: Appell an meine Nation. Über die Pest der deutschen Literatur. Bern 1795. Nachdruck Hildesheim 1977. S. 398.

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Urheber des gedruckten Buches bestimmt werden. 64 Zumal die Leserinnen stehen für die Lesekritik unter einem als geradezu vergewaltigend beschriebenen Einfluß von Büchern und von deren Autoren, dem sie sich entgegenzusetzen haben, wollen sie ihre >Unbeflecktheit< erhalten. 65 Im Gegenzug zu dieser Auffassung gewinnt eine These an Überzeugungskraft, die die Reaktionen der Leser von den Texten und den damit verbundenen Intentionen der Autoren abkoppelt, die damit Kontrolle und Verantwortung für die Wirkung ihrer Texte verlieren, aber an Freiheit gewinnen. Unüberschaubarer und damit unkontrollierbarer wird die Wirkung von Büchern, sobald die Leser zum einen im Zeichen der Empfindsamkeit als unendlich affizierbare Wesen mit gesteigerter Sensibilität begriffen werden, deren Aufmerksamkeit mehr den eigenen Empfindungen als den Ursachen dieser Empfindungen gilt. 66 Zum anderen ist damit zu rechnen, daß das Durcheinanderlesen unterschiedlicher Texte in der Vergangenheit die aktuelle Wirkung eines Textes mit beeinflußt. Da die ungelehrten Leser viele unterschiedliche Schriften lesen und >empfindsamungebildeten< Lesern zählen, mutet man zu, selbständig aus jedem Buch etwas für sie Nützliches zu ziehen: Aus der Annahme, daß nicht alle Bücher gut sein können, 71 folgt für den Lesedidaktiker Johann Adam Bergk 72 lediglich, daß die Leser sie nach ihren individuellen Voraussetzungen nutzen oder verwerfen sollen: Jedes Buch ist gut, das unsere Einsichten vennehrt. Herrscht nun wohl ein gleich großer Grad von Kenntnissen unter den Menschen, oder ist jener nicht eben so verschieden, als diese? Kann man daher wohl sagen, ein Buch sey absolut gut, ein anderes absolut schlecht, oder muß man ein Urtheil über die Güte desselben nicht vielmehr auf seine eigene Person beziehen, der das Buch nutzen kann oder nicht? 73

Die Annahme eines unmittelbaren kausalen Zusammenhangs zwischen richtigen oder falschen Inhalten, die in den Büchern und Texten verbreitet werden, und den richtigen oder falschen Wirkungen auf die Leser, wird ersetzt durch das Postulat selbständiger und individueller Reaktionen der Leser, die durch ihren inneren Zustand und ihre vergangenen Erfahrungen mitbestimmt werden: Der Leser wird, um die Terminologie der Kybernetik zu verwenden, »enttrivialisiert«. 74 Die auffällige Maschinenmetaphorik, die neben dem Bild des Verdauens 75 die am häufigsten verwendete Metapher der Lesedebatte ist, vermittelt den Anstoß zu diesem Vergleich. 76 Eine »Maschine« ist nämlich nur dann trivial, wenn ihr Output eindeutig durch den Input bestimmt ist. Sobald,

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Albrecht Christoph Kayser: Ueber belletristische Schriftstellerei mit einer Parallele zwischen Werther und Ardinghello. Allen belletristischen Schriftstellern und Lesem ihrer Schriften gewidmet. Strasburg 1788. S. 22. 70 Heinzmann, Appell an meine Nation, S. 109. 71 Anon.: Über die Ursachen der jetzigen Vielschreiberey. In: Journal von und für Deutschland 1798. 4. St. S. 139-143. Hier: S. 140. 72 Vgl. Onno Frels: Buch und Leser bei Johann Adam Bergk. Eine Studie zur Funktionsbetimmung und Didaktik des Lesens in der deutschen Spätaufklärung. In: Bibliothek, Forschung und Praxis 10, 1986, S. 239-276. 73 Johann Adam Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen. Nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller. Jena 1799. S. 34. 74 Niklas Luhmann: Codierung und Programmierung. Bildung und Selektion im Erziehungssystem. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 4, Opladen 1987. S. 182-201. 75 So z.B. bei Hocke, Lesesucht, S. 138: »Sie lesen alles und verdauen nichts.« 76 Vgl. Dainat, Abaellino, Rinaldini und Konsorten, S. 88 f.

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wie im Falle der neuen Leserkonzeption, das »Innere« der Maschine für den Output mitverantwortlich gemacht werden muß, hört sie auf, »trivial« zu sein. Die Verdauungsmetaphorik spielt ebenfalls darauf an, daß das Ergebnis der Lektüre bei unterschiedlichen Lesern unterschiedlich ausfällt, wenn sie die Bücher »roh und unzubereitet« verschlingen und keine Rücksicht auf ihre spezifischen Verarbeitungsfähigkeiten nehmen. 77 Gegen die triviale »Maschine« und den bloßen »Automaten« wird polemisch das »Selbstdenken« 78 gesetzt. Es ist als selbstreferentielles Verfahren durch den Bezug auf den jeweils eigenen psychischen Zustand und die eigenen vergangenen psychischen Zustände charakterisiert. Der psychische Zustand eines Lesers wird durch seine vorhergegangenen Lektüren determiniert, so daß er durch die Lektüre eines neuen Buches zwar >erregtselbstdenkerischen< Vergleich mit seinen vorherigen Lektüren kann der Leser aus allen Büchern etwas lernen und legitime individuelle Präferenzen bilden, die diejenigen Bücher identifizieren, die für ihn weder nützlich noch erfreuend sind. Diese Vervielfältigung von Lesern und Lektüren im 18. Jahrhundert als »Leserevolution« zu charakterisieren, die sich lediglich durch einen Umschlag von intensiver Lektüre eines oder weniger Bücher zu extensiver Lektüre einer Vielzahl von Texten auszeichnet,79 ist eine allzu schlichte Epochenkonstruktion, die den Konsequenzen einer unübersichtlichen Bücherproduktion und eines schichtenübergreifenden Publikums nicht gerecht wird. Die Dichotomien zwischen schnellem, »cursorischem« und langsamem, »statarischem« Lesen und zwischen einmaliger und wiederholter Lektüre, die den ständischen Hierarchien oder dem Unterschied zwischen sakraler und weltlicher Sphäre parallelisiert werden, lösen sich nämlich auf und werden durch eine kombinierende Methode der Lektüre ersetzt, die die unüberschaubare Menge der neuen Bücher so einzuteilen versucht, daß man mit ihr umgehen kann: 80 »Klassischen« Werken gilt eine wiederholte, zunächst kursorische, dann statarische Lektüre, während die »Modelektüre« im wesentlichen mit einmaliger, häufig auch nur kursorischer Lektüre identifiziert wird. Diese differenziertere Auffassung des Lesens setzt die enttrivialisierte Konzeption des Lesers voraus, dessen Lektüren als >Bildung< aufgefaßt werden, weil er bei jeder Lektüre einen Schritt tut, der auf allen vor-

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Beyer, Ueber das Bücherlesen, S. 19 f. Vgl. zum aufklärerischen Topos des Selbstdenkens Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1986. S. 270 f. 79 Engelsing, Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit, S. 112-154. Hier: S. 121 ff. SO Detlev Kopp/Nikolaus Wegmann: »Wenige wissen noch, wie Leser lieset.« Anmerkungen zum Thema: Lesen und Geschwindigkeit. In: Germanistik und Deutschunterricht im Zeitalter der Technologie. Hg. von N. Oellers. Bd. 1. Tübingen 1988. S. 92-105.

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hergehenden Schritten gründet. Nicht allein die Nur-Leser, sondern selbstverständlich auch die der Gelehrsamkeit entwachsenen Autoren charakterisieren sich jetzt durch ihre individuelle Lektüre-, d. h. Bildungsgeschichte: Ob, wann und wie einer einen bestimmten Text gelesen hat, ist für seine Reaktion auf neue Texte und für die eigene Textproduktion mit verantwortlich. Die Beschreibung dichterischen Handelns wird daher zunehmend auch auf die nicht-kanonische, ungelehrte Lektüre des einzelnen als Moment seiner dichterischen Ausbildung und seiner jeweiligen Textherstellung rekurrieren müssen. Die Konsequenzen der veränderten, komplizierteren Bedingungen der literarischen Kommunikation für die Autorrolle beschreiben die Zeitgenossen unter zwei thematischen Schwerpunkten, Mode und Schrift. Der Begriff der Mode referiert auf den veränderten Zeithorizont, dem Schriftsteller ausgesetzt sind, für die die ewigwährende Monumentalität des alteuropäischen Poeten und Gelehrten ein entweder kaum noch erreichbares oder aber gar nicht mehr ins Visier genommenes Ziel bildet. Das Medium der Schrift wird hingegen zum Fokus für Wirkung und Wahrnehmbarkeit des Autors: Die Fernwirkung der Schrift geht einher mit dem Verschwinden des Autors als intentional handelnder Person. Ein 1779 anonym erschienener Text »Der Auktor nach der neuen Mode« 8 1 entfaltet das Paradox einer Schrift, die die »Auktorkrätze« und »Auktorseuche« kritisch behandelt und sich gleichzeitig in die Reihe derjenigen Schriften einzureihen droht, die nur entstehen, weil »alles Auktor seyn will« und »alles schreibt«. Diese Diagnose gilt selbstreflexiv für den Autor dieser Schrift, dem nichts anderes übrigbleibt als zu schreiben, »das(sic!) alles schreibt.« 82 Die reflexive Anwendung aller Ein- und Aussichten über die Mechanismen der Mode auf das eigene Buch manifestiert sich im »Auktor nach der neuen Mode« in einer Fußnote: »Sobald mein Werkchen wird bekannt geworden seyn, so wird es Mode werden. Denn ich verspreche mir viele bewunderer (sie!), und dann - welches der Endzweck ist, viele Nachahmer.« 8 3 Das Paradox, daß ein kritisches Buch über das Bücherschreiben auf die Expansion und die neuen Unübersichtlichkeiten eines freien Büchermarktes reagiert und seinerseits selbst Anlaß für weitere Bücherproduktion sein kann, schließt zwar die »Bücherwelt« noch einmal ab, öffnet sie aber für neue Kriterien. Daß jedes

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Anon.: Der Auktor nach der neuen Mode. Denkhofen 1779. Ebd., S. 3, 10. - Dieser Modus legitimatorischer Selbstreflexivität wird sich in den frühen Bildungsromanen, die den Dichterehrgeiz der Jünglinge als Paradigma innergesellschaftlicher Außenseiterkarrieren thematisieren, wiederholen. Diese Romane rechtfertigen sich durch den Hinweis, daß sie die Mechanismen der Faszination von Romanen erklären und sich so von allen anderen Romanen unterscheiden, die diese Mechnismen lediglich ausnutzen. Ebd., S. 184.

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Buch entweder modisch oder nicht-modisch sein kann und sogar gerade deshalb modisch werden kann, weil es das Faktum der modischen Bücher behandelt, ist ein Indiz für die wachsende Relevanz von Maßstäben, die quer zu den vermeintlich zeitlosen Standards der Gelehrsamkeit stehen: Der »Auktor nach der Mode« muß »sich nach den Zeiten richten in welchen er schreibt« und zwar nicht nur deshalb, weil man so »den entzückenden Namen eines Auktors, oder eines Gelehrten erhäschen kann« 84 , sondern auch, weil nur so die mindestens ebenso wichtige Frage »Was bekomme ich Honorar?(sic!)«85 zu beantworten ist. Aus der Sicht des gelehrten Kritikers ist diese Haltung eines Autors, der sich als »Mercenär« gibt, verwerflich, denn er entzieht sich dem Urteil »der Nachwelt«, indem er vor allem den modeabhängigen »Geldpreis« 86 berücksichtigt. Der Differenz zwischen den »Zeitgenossen«, die sich nach der Mode richten, und der »Nachwelt«, an die die Gelehrten traditionell ihre Texte - >aere perennius< - adressieren und die außerhalb des Bereichs der Mode steht, wird folglich die Differenz zwischen wahrem und flachem Autor, zwischen »Geldautoren« und »edlen Schriftstellern« 87 zugeordnet. Beide Differenzen markieren den Bruch zwischen ständisch gebundener Gelehrsamkeit und den funktional differenzierten Systemen Wirtschaft und Literatur. Voraussetzungen und Implikationen der Differenzierung zwischen zeitgebundener »Mode« und einem zeitenthobenen Bereich der »Schönheit« und Klassizität zeigt auch Christian Garves Text »Über die Moden« von 1792. Die Definition der Mode als die zur »Zeit herrschende Meinung von dem Schönen und Anständigen in kleinren Sachen [...], die weder durch Anwendung der Regeln des Geschmacks noch der Zweckmäßigkeit [...] reguliert werden können,« 88 fixiert einen Sektor beschleunigten, nicht-zirkulären Wandels. Die das späte 18. Jahrhundert prägende und eine Epochenschwelle indizierende Empfindung wachsender Beschleunigung89 in heterogenen Bereichen wird auf den Begriff der »zwar wechselhaften, dennoch unsterblichen Mode« 90 gebracht, der Diskontinuität auf Dauer stellt. In Bewegung gesetzt wird der Wechsel der Moden durch die Nachahmung, die Abgrenzung nach unten und Streben nach Gleichheit ermöglicht Sie fungiert als Motor für den Wechsel der Moden in ei-

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Ebd., S. 148. Heinzmann, Appell an meine Nation, S. 150. 86 Ebd., S. 151. 87 Ebd., S. 148 ff. 88 Christian Garve: Über die Moden. Hg. von T. Pittrof. Frankfurt a. M. 1987. S. 11. 89 Vgl. dazu Reinhart Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hg. von R. Herzog und R. Koselleck. München 1987. S. 269-282. 90 So der Repräsentant der Ossian-Mode, der »Barde Ringulph«: Karl Friedrich Kretschmann: Sämmtliche Werke. Leipzig 1784-1799. Bd. 5. S. 349 f. 85

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nem sich auflösenden hierarchischen Gesellschaftsgefüge. Die Sphäre der Mode unterscheidet sich von einem zweiten Bereich, der im Gegensatz dazu durch Kontinuität geprägt sein muß, denn Bewegung und Diskontinuität zeigen sich nur in Kontrast zu und auf dem Hintergrund von Kontinuität und Stabilität. Jedoch ist auch dieser Kontrast zunächst nur relativ und graduell. Wie sich die Mode in »kleinen« Dingen so schnell ändert, daß der Betrachter während seiner Lebenszeit unter Umständen eine Vielzahl unterschiedlicher Moden hat kommen und vergehen sehen, so ändern sich alle menschlichen Dinge, nur langsamer; sie scheinen für den Beobachter beständig zu bleiben, wenngleich die Veränderlichkeit in kleinen Dingen auf die Veränderungen in großen Angelegenheiten schließen läßt: Wer die schnellen Wechsel der Moden beobachtet, kann die langsamen Revolutionen in den wichtigen Angelegenheiten der Menschen besser verstehen.91 Was zunächst als ein lediglich gradueller Unterschied zwischen zwei unterschiedlichen Geschwindigkeiten und ihrer jeweiligen Wahrnehmbarkeit für die Menschen beschrieben wird, erscheint an anderer Stelle als fundamentale Dichotomie: Neben die Sphäre der Veränderung, der »Mode«, setzt Garve die Sphäre der Schönheit, die dem Wandel w i d e r s t e h t . 9 2 Garve unterscheidet streng zwischen dem natürlichen Bereich der Schönheit und dem menschlichen Bereich der Mode, dehnt jedoch schließlich den Bereich der Mode so weit aus, daß der kontrastierende Begriff der unveränderlichen Schönheit lediglich als eine regulative Idee übrigbleibt, die für die Unterscheidung zwischen langsamerem und schnellerem Wandel notwendig ist. Der Begriff der »Mode« markiert so einen Bereich, in dem Kommunikation immer schwieriger zu koordinieren ist, weil sie sich auf unterschiedliche Codes spezifiziert. Wenn »Mode« einerseits auf die die Orientierung leitende Kommunikation des Adels bezogen ist, die die kleinen, aber feinen Unterschiede betont, so bezeichnet der Begriff andererseits aus der Perspektive des Wirtschaftssystems jene Signale, die dem wirtschaftlich Handelnden finanziellen Erfolg andeuten; aus der Perspektive der Gelehrsamkeit jedoch ist »Mode« jener Bereich, der sich ihren Gepflogenheiten nicht fügen will, weil er den kurzfristigen Erfolg über das Urteil der Nachwelt und die Unsterblichkeit des gelehrten Dichters stellt. Die Expansion des Buchmarktes, der gegen Gepflogenheiten der gelehrten Kommunikation durch den Code des Geldes reguliert wird, 93 führt bei Lesern und Autoren zu Irritationen und kulminiert in Desorientierung. Die Überschwemmungs- und Flutmetaphorik sowie die Beschleunigungs- und Kontingenzformel »Mode«, deren Verwendung für eine seit dem 18. Jahrhundert

1 Garve, Moden, S . 6 5 f. 2 Ebd. S. 37 ff. 9 3 Luhmann, Soziale Systeme, S. 478. 9 9

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grassierende kultur- und medienkritische Debatte typisch ist, verweist auf die Störung der bis dahin üblichen, die Wahrnehmung überhaupt erst ermöglichenden Muster: Die Reaktion auf die Überforderung der Wahrnehmung besteht in der Filterung der Texte, Autoren und Leser unter der Leitdifferenz klassischmodisch und im gleichzeitigen Versuch, dieser Differenz eine neue Hierarchie parallel zuzuordnen, nämlich die von Bildung und Unbildung: Aus der unübersehbaren Menge der Bücher, die tendenziell für alle geschrieben sind und ihre Adressierung an bestimmte Gruppen von Lesern erst explizit machen müssen, während zuvor Bücher primär für Gelehrte und nicht für das ungelehrte Volk bestimmt waren, wird jene Gruppe ausgegrenzt, die als klassisch gilt und deshalb wiederholter Lektüre wert ist und ihrer bedarf: »Eine klassische Schrift muß nie ganz verstanden werden können. Aber die, welche gebildet sind und sich bilden, müssen immer mehr daraus lernen wollen.«94 Wie die Konzeption des Schönen fungiert der Begriff des Klassischen als Gegenbegriff zum Bereich der »Mode«. Der nicht-trivialen Tiefe und Komplexität des gebildeten Menschen entspricht die Unergründlichkeit und Rätselhaftigkeit des klassischen Kunstwerks. 95 Die Lektüre der Texte, denen Klassizität zugebilligt wird, zielt auf die Bildung des Individuums, das, indem es die Lektüre eines Buches wiederholt, seinen vergangenen mit seinem gegenwärtigen Zustand vergleicht und sich so selbst erfährt und verändert, während triviale Lektüre einem trivialisierten, passiven Individuum zugeordnet wird. Für den Autor eines Buches eröffnen sich hier zwei widerstreitende Optionen, die zunächst noch als einander ergänzende Möglichkeiten wahrgenommen werden: »Die große Kunst ist freylich die, zugleich seinen Zeitgenoßen zu gefallen und auch ein Schriftsteller für die Nachwelt zu werden.«96 Was hier noch kongruent gedacht wird, entwickelt sich mit der Ausdifferenzierung des literarischen Marktes und der literarischen Kommunikation zu einem Dilemma. Ein Schriftsteller kann beides sein, jedoch nicht beides zugleich: Entweder er setzt darauf, als »Auktor nach der Mode« Erfolg zu haben, oder er strebt, was seit Horaz' »Exegi monumentum« lur den gelehrten Poeten als Charakteristikum fungiert, Zeitlosigkeit und das Überleben im Werk an. Jede Option bringt spe-

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Friedrich Schlegel: Kritische Schriften. Hg. von W. Rasch. 2. erw. Aufl. München 1964. S. 7. Vgl. dazu Bernd Brunemeier: Vieldeutigkeil und Rätselhaftigkeit: D i e semantische Kommunikativitätsfunktion des Kunstwerks in der Poetik und Ästhetik der Goethezeit. Amsterdam 1983. S. 54 ff. - Vgl. jetzt auch die Beschreibung des Zusammenhangs bei Gerhard Kurz: Vieldeutigkeit. Überlegungen zu einem literaturwissenschaftlichen Paradigma. In: V o m Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Hg. von L. Danneberg und F. Vollhardt. Stuttgart 1992. S. 315-333. Friedrich Justus Riedel: Über das Publikum. Briefe an einige Glieder desselben. Jena 1768. S. 8 1 .

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zifische Folgelasten mit sich: Wer zu Lebzeiten Erfolg will und sich um das Überdauern seines Werkes nicht kümmert, muß sich ganz nach dem Zeitgeschmack richten, ist von den wechselnden Moden abhängig, und der Autor mit Unabhängigkeitssinn, der eine Versorgung durch Ämter ablehnt, begibt sich in die lediglich »frei scheinende Lage eines Schriftstellers.« 97 Er muß schnell publizieren 9 8 - »Geschwind, eh sich's ändert« 9 9 - und wird deshalb notgedrungen zum diskriminierten Vielschreiber. Wer dagegen im Sinne der gelehrten Standards unter den neuen Bedingungen auch für die Nachwelt schreiben will, geht fast aller gelehrter Orientierungsinstrumente, die Rhetorik und Poetik bereitstellen, verlustig, denn ein großer Teil des Publikums vermag die Anwendung gelehrter Regeln und das Aufgreifen klassischer Muster nicht zu erkennen. Die Tatsache allein, daß ein Werk dem modegebunden Zeitgeschmack widerspricht, läßt indessen nicht darauf schließen, daß es seinen Autor überleben wird und ihm Unsterblichkeit verleiht. Deshalb werden gerade auch Poeten von dem Gefühl des Überlebtwerdens ereilt, das mit den Beschleunigungs- und Diskontinuitätserfahrungen der Moderne verbunden ist und das Hans Blumenberg unter der Differenz von »Lebenszeit« und »Weltzeit« entfaltet hat. 100 Das neue Orientierungs- und Rollendilemma des Autors zeigt sich außerdem in der medialen Reflexion auf die kommunikativen Bedingungen reiner Schriftlichkeit: Bevor man bemerkt, daß sich bei der Vielzahl und der Inhomogenität der neuen Leser literarische Texte der örtlichen und zeitlichen Identifizierung als Handlungsereignis entziehen, wird die schriftliche Kommunikation phonozentrisch 1 0 1 als Verstärkung und Ausbreitung primärer, mündlicher Kommunikation beschrieben: Der Mensch, mit Sprachorganen und mit Handlungsvermögen begabt, wirkt durch beyde auf den Zirkel derer, die um ihn sind, unmittelbar: der Einfluß davon verbreitet sich dann mittelbar weiter, und verliehrt sich endlich in der ringsum wimmelnden Menge der Menschen. Der Schriftsteller aber wirkt unmittelbar auf Tausende, die er nie gekannt, nie gesehen hat, und dieser unmittelbare Einfluß verliehrt sich oft in Jahrtausenden nicht. Er

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Anon.: Ueber die gegenwärtige Vielschreiberey, S. 691. Adolph Freiherr von Knigge: Über Schriftsteller und Schriftstellerei. Hannover 1793. Neudruck Leipzig 1977. S. 60 Auch in: Sämtliche Werke. Bd. 19. Hg. von P. Raabe. Nendeln 1978. Ebenso: Anon.: Die Kunst berühmt zu werden. In: Hannoverisches Magazin 1777, 15. Jg., S. 1483-1510. Hier: S. 1491. 99 Kretschmann, Werke, Bd. 5. S. 354. 100 Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a. M. 1986. S. 77. 101 Vgl. Jacques Derrida: Signature Event Context. In: Glyph 1, 1977, S. 172-197. Dazu auch ders.: De la Grammatologie. Paris (Minuit) 1967. S. 21 ff.

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spricht mit Menschen, die hundert, vielleicht tausend Meilen von ihm sind, spricht selbst oft nach dem Tode noch mit mehreren Personen, als er im Leben je gesehen h a t 1 0 2

Umgekehrt wird die »Würde« des Schriftstellers »entweiht«, wenn sie etwa »zum Nachtheil der Menschheit« angewendet wird. 103 Gerade in letzterem Fall tritt jedoch der zunächst nivellierte fundamentale Unterschied zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation in den Vordergrund: »Der Monarch, der über Millionen gebeut, kann einen Befehl zurücknehmen, der Schriftsteller selbst ein Wort nicht.« 104 Anders als in der Situativität mündlicher Kommunikation, wo der Sprecher seine vergangene Äußerung mit einem vergleichsweise geringen Aufwand widerrufen oder korrigieren kann, ist dies im Falle der schriftlichen und der gedruckten Kommunikation nur mit großem Aufwand möglich. Da das Revisionsprivileg der 1. Person Singular im Falle einer schriftlichen, gedruckten Äußerung beschnitten ist, verselbständigt sich der Text und entzieht sich der Kontrolle durch den Verfasser. 105 Die negativen Konsequenzen der Schriftlichkeit heben auch Herders >Humanitätsbriefe< hervor: Dem positiven Effekt der Schrift und des Buchdrucks, den menschlichen Erfahrungen Zusammenhang zu verleihen, 106 stellt Herder polemisch gegenüber, daß die Vielzahl der Texte keinen »eignen Geist« vermittele. Es besteht für die, die nicht in der Lage sind, »die Stimmen zu sondern«, die Gefahr, daß sie »verwirrte Buchstabenmänner und zuletzt selbst in Person gedruckte Buchstaben« 107 werden. Zunehmende Schriftlichkeit tritt als babylonische »Stimmenverwirrung« auf, die die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation offenlegt. 108 Zum einen wird als Folge zunehmender Schriftlichkeit beklagt, daß keine einzelne Stimme mehr unterschieden werden kann und daß der einzelne keine eigene Stimme, die traditionell mit dem eigenen >Geist< identifiziert wird, ausbildet. Die Vielfalt der unterschiedlichen Texte, die die Bahnen der Gelehrsamkeit verlassen, erscheint als eine überkomplexe

102 Carl Friedrich Benkowitz: Ueber die Würde des Schriftstellers und über ein Gedicht von Hrn. Schiller. In: Neue Litteratur und Völkerkunde 1790. Bd 2. S. 577-590. S. 577. Vgl. auch die Berücksichtigung des Buchdrucks bei Kayser, Ueber belletristische Schriftstellerei, S. 7: »Nehmen wir nun an, daß durch die Verbreitung gedrukter Werke der Fall nicht so leicht mehr denkbar ist, daß sich eine vorzügliche Schrift ganz verliehren, ganz in Vergessenheit kommen sollte und könnte, welch' eine Emdte eröfnet sich hier dem belletristischen Schriftsteller! Durch den Druk überallhin verbreitet kann er tausende seines Zeitalters und ihre Nachkommenschaft rühren, vergnügen, bessern.« 103 Benkowitz, Würde, S. 579. 104 Ebd., S. 581. 105 Walter J. Ong: Orality and Literacy. London/New York 1982. S. 101 ff. 106 Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. Sämmtliche Werke. Bd. 18. S. 90. 107 Ebd., S. 91. 108 Ebd., S. 91.

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Summe von Stimmen, deren >Rauschen< zu Unterscheidungs- und Wahrnehmungsschwierigkeiten führt. Zum anderen bewirkt die Expansion geschriebener Texte das Verstummen jener Stimmen, die durch das Durcheinanderschreien der »Romane und Journale« übertönt werden. Äußerungen können nicht mehr >unmittelbar< den Personen, die sie machen, zugeschrieben werden, sondern erscheinen als Wirkung jeweils unterschiedlicher Lektüre, die nun statt des Geistes aus den Personen spricht. Das Vordringen der Texte erscheint als forcierter Angriff fremder, anonymer auf wehrlose, individuelle Stimmen; die Lettern gleichen den Sirenenklängen, deren man sich selbst mit Wachspfropfen nicht erwehren kann: »Ist kein Riegel zu finden, der uns gegen das Andringen schwarzer Buchstaben schütze?« 109 Während die Konzeption der Gelehrsamkeit noch ganz selbstverständlich den einzelnen in den Kontext der schriftlich überlieferten gelehrten Tradition stellte und keinerlei Gegensatz zwischen der ausschließlich schriftlich zutage tretenden Stimme des einzelnen Gelehrten und dem Chor der Gelehrsamkeit sah, in die sie sich selbstverständlich einordnet, bedroht das weitreichende, laute Rauschen der Texte, das auf die unersättlichen Leser eindringt und jedes Wirkungskalkül verhindert, die distinkte Position eines Autors samt seiner Texte. Techniken, das Rauschen der Texte zu übertönen, müssen, wollen sie nicht nur die >Lautstärke< erhöhen, auf Unterscheidung setzen. Ob das Sich-unterscheiden durch Beifügung neuer Texte möglich und ob das Sich-unterscheiden erlernbar ist, sind die Fragen, die die traditionellen Institutionen der Dichterausbildung mit Schweigen beantworten und auf die Autobiographik und Roman paradox reagieren. Schrift und Text im Anklang an Horaz als >Monumente< des abwesenden Schreibers »auch über die Grenzen des Grabes hinaus« zu beschreiben, steht in Knigges Arbeit »Über Schriftsteller und Schriftstellerei« im Einklang mit einer sonst phonozentrischen Auffassung, es sei möglich, die »todte Materie« auch »in der Entfernung [...] für uns sprechen zu lassen.« 110 Weil die Unsterblichkeit im und durch das Werk mit dem expandierenden Buchhandel und wegen der Auflösung des exklusiven Gelehrtenstandes zur unerfüllbaren Hoffnung aller geworden ist, erscheinen die »Fluth« der Bücher, der ständige, letztlich inkalkulable Wechsel immer neuer Moden und das Durcheinanderlesen unterschiedlicher Personen so eminent bedrohlich für das gelehrt-poetische Selbstverständnis; denn wer vermag Unsterblichkeit zu erlangen, wenn die konkurrierenden Stimmen einander übertönen und in einem sinnlosen Rauschen resultieren und wenn die Leser für die Dichter zu unerreichbaren, intransparenten

109 Ebd., S. 9 2 . HO Knigge, Über Schriftsteller und Schriftstellerei, S. 5 f.

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Phantomen werden? Die Freiheit, die aus der neuen Verantwortungslosigkeit gegenüber gebildeten, enttrivialisierten Lesern folgt, kompensiert indessen nicht den Verlust an Textkontrolle, der damit einhergeht. Mit der Kategorie der Dekadenz kommt man diesem Befund allerdings kaum bei: Nicht die »unsterblichmachende Kraft der Dichtkunst hat so entsetzlich abgenommen, daß sie kaum ihre eigenen Kinder [...] dem Leben erhalten und dem schrecklichen Tode der Vergessenheit entreißen kann,« 1 1 1 sondern die kommunikativen Bedingungen für die Unsterblichkeit dessen, der Texte macht, haben »so entsetzlich« abgenommen, daß der Tod durch Vergessen jeden Autor bedroht. Knigge thematisiert zudem die aus der reinen Schriftlichkeit erwachsenden Wahrnehmungsprobleme für Leser. Sobald die gelehrten Schemata ihre die Beobachtung leitende Funktion verlieren, weil die Autoren die gelehrten Regeln nicht mehr beachten können oder wollen, werden besondere Ansprüche an die Konsistenz der schriftlich verbreiteten Meinungen und Haltungen eines Autors gestellt, der sich durch mehrere verschiedene Schriften einen »Namen« gemacht hat: Vermeiden muß dieser Schriftsteller: zuerst, daß er plötzlich seine Haupt=Grundsätze für die entgegengesetzten vertausche, oder sich wie den eifrigsten Feind eines Systems zeige, zu dessen warmer Vertheidigung er ehemals alle seine Talente verwendet. [...] Je größer der Name wäre, den er sich durch diese erworben hätte, um desto größer würde nachher der Unwillen des Publicums gegen ihn werden. 112

Das prekäre Verhältnis von An- und Abwesenheit, die Trennung des schriftlichen Produkts von seinem Produzenten, das erst in einer Kultur virulent wird, die sich zunehmend auf schriftliche Kommunikation verlassen muß, führt zu neuen Konsistenzbedingungen für Texte. Sie erlauben es einerseits, zwischen Person und Werk zu unterscheiden, lassen andererseits aber eine Einheit von Person und Werk annehmen, damit die Differenz der einzelnen, isoliert erscheinenden Schriften durch eine Einheit zusammengehalten wird: Daß die Autobiographie der Dichter unter solchen kommunikativen Bedingungen sowohl dazu dient, den Lesern gegenüber die Einheit ihrer Schriften herzustellen, als auch dazu, durch Hinzufügung eines kommentierenden Textes das Überleben der eigenen Werke und damit der eigenen Person zu befördern, wird zu zeigen sein.

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Anon., Die Kunst berühmt zu werden, S. 1496 f. 112 Ebd., S. 22.

Π. Ortswechsel der Dichtkunst - Definitionen, Klassifikationen, Prinzipien

A. Die Forschung zu Poetik und Ästhetik des 18. Jahrhunderts Lange hat die literaturwissenschaftliche Forschung die Geschichte der Literaturtheorie im 18. Jahrhundert als einen zielgerichteten Prozeß aufgefaßt und die poetologischen Texte daraufhin untersucht und bewertet, welche Spuren des Alten oder des Neuen darin zu finden seien. Zwischen genetischen und teleologischen Ansätzen besteht dabei lediglich eine Scheinkonkurrenz: Während die einen vornehmlich mit dem Adverb >noch< operieren und unermüdlich darauf hinweisen, wie stark Terminologie und Argumente der literaturästhetischen Debatten des 18. Jahrhunderts von älteren, ursprünglich aus der griechisch-römischen Antike stammenden rhetorischen und philosophischen Vorstellungen geprägt sind, suchen die anderen nach modernen, in die Zukunft weisenden Aspekten der zugrundeliegenden Texte. 1 Auf diese Weise entsteht eine sich selbst perpetuierende Spirale, in der jedem >noch< ein >schon< und jedem >schon< ein >noch< entgegengesetzt werden kann. Ein Beispiel dafür ist die

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Vgl. dazu Kurt Wölfel: Über ein Wörterbuch zur deutschen Poetik des 16. -18. Jahrhunderts. Ein Vortrag. In: Archiv für Begriffsgeschichte 19, 1975, S. 28-49, und seine Diagnose, daß vieles häufig nur aus Unkenntnis für neu gehalten wird. Doch die Frage ist, was genau gezeigt wird, wenn man vermeintlich neues als alt bestimmen kann. Repräsentaüve Vertreter des »noch« sind etwa Klaus Dockhorn: Die Rhetorik als Quelle des vorromantischen Irrationalismus in der Literatur- und Geistesgeschichte. In: Ders.: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichle der Vormodeme. Bad Homburg/Berlin/Zürich 1968. S. 46-95, und Hans Peter Hermann: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670-1740. Bad Homburg/Berlin/Zürich 1970. Dagegen suchen, aus völlig unterschiedlichen Gründen, Bruno Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik. Bd. 1: Barock und Fruhaufklärung. 2. Aufl. Berlin 1957: Bd. 2: Aufklärung, Rokoko, Sturm und Drang. 2. Aufl. Berlin 1970; und Hartmut Scheible: Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter. Bern/München 1984, nach dem Neuen und Modernen: Dieser nach den Anfängen einer Werkästhetik, jener nach den frühesten Spuren einer Genie- und Begabungsästhetik.

Die Forschung zu Poetik und Ästhetik des 18. Jahrhunderts

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Auseinandersetzung in der Forschung zu Gottsched und den Schweizern: Unter der Voraussetzung, daß der Konflikt zwischen den beiden Parteien den Scheitei- und Wendepunkt einer Entwicklung bilde, die von rhetorischen, meistens negativ beurteilten Konzepten zu neuen, oft in besserem Licht erscheinenden poetologischen Auffassungen fortschreite, versucht man bei der Analyse der Texte sorgfältig zwischen Elementen der Rhetorik, Spuren der Leibniz-Wölfischen Philosophie und Ansätzen zur Genie- und Autonomieästhetik zu unterscheiden, so daß jeder schließlich genau feststellen zu können glaubt, wo das Alte aufhört und das Neue beginnt.2 Solche Auseinandersetzungen um die Einordnung einzelner Autoren in den Transformationsprozeß von Regel- und Gelehrtenpoetik zum Postulat der Natumachahmung und schließlich zur Genie- und Werkästhetik sind nur möglich, weil eine gemeinsame Prämisse als Supposition die divergierenden Positionen bedingt: Ihr zufolge schreitet die Geschichte prinzipiell einsinnig, kontinuierlich und mit Notwendigkeit fort. Nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, Altes und Neues reinlich voneinander zu unterscheiden, nur unter dieser Voraussetzung gilt es, Wendepunkte zu markieren, Sprünge aber möglichst auszuschließen. Nur wenn dies akzeptiert wird, kann das Neue dem jeweiligen Autor zugerechnet werden, während das Alte jeweils als lediglich Übernommenes betrachtet wird.3 Hält man sich aber vor Augen, daß diese Supposition selbst ein Element des für das 18. Jahrhundert auf den verschiedenen Ebenen festgestellten >Epochenwandels< ist, erscheint ihre methodische Fragwürdigkeit: Schreibt man die Geschichte der Literaturtheorie im 18. Jahrhundert unter der Leitdifferenz alt-neu, rekonstruiert man den Gegenstandsbereich mit Hilfe eines begrifflichen Instrumentariums, das selbst in den Gegenstandsbereich gehört4 und deshalb nicht als dessen Explanans fungieren kann. Zugleich befördert diese Prämisse eine teleologische Verzerrung, weil man die Differenz alt-neu auf die Differenz wahr-falsch projiziert und so solche poetisch-ästhetischen Positionen, die man als Teilnehmer der gegenwärtigen ästhetischen Debatte favorisiert, dadurch legitimiert, daß man sie historisch herleitet und von >veralteten< Meinun-

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Vgl. die entsprechende Auseinandersetzung um die Rolle des Nachahmungsbegriffs für Fiktionstheorie und Autonomieästhetik zwischen Hermann, Natumachahmung und Einbildungskraft, Hans Freier: Kritische Poetik. Legitimation und Kritik der Poesie in Gottscheds Dichtkunst. Stuttgart 1973, und Horst-Michael Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung (Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer und Breitinger). München 1982. Zusammenfassend dazu: Hans Otto Horch/Georg Michael Schulz: Das Wunderbare und die Poetik der Frühaufklärung. Gottsched und die Schweizer. Darmstadt 1988. Vgl. hierzu besonders die Kriük von Michel Foucault: L'archéologie du savoir. Paris (Gallimard) 1969. S. 184 ff. Vgl. Koselleck, Das 18. Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, S. 277 ff.

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Ortswechsel der Dichtkunst

gen absetzt Die Prämisse historischer Kontinuität und Notwendigkeit impliziert außerdem, daß alles so kommen sollte und mußte, wie es gekommen ist und verhindert, die Kontingenz geläufiger poetologischer Überzeugungen in Rechnung zu stellen. Zu erwägen, daß etwas auch anders möglich ist, erlaubt statt dessen, in einer Transzendentalreflexion die Bedingungen der Möglichkeit für den Erfolg jener literaturtheoretischen Positionen zu klären, an die weitere Kommunikationen anschließen. Die besondere Relevanz der Kategorie des Publikumsbezugs für die Literaturtheorie zwischen gelehrter Exklusivität und heterogenem Lesepublikum ist in mehreren Arbeiten zu einzelnen Autoren und zum Gesamtkomplex betont worden. 5 An sie knüpft diese Arbeit mit der Frage an, wie die Orientierungsschwierigkeiten von Autoren und Lesern im 18. Jahrhundert durch die Literaturtheorie diagnostiziert und behandelt werden. Dabei ist jedoch zuerst zu beachten, daß die Dichtung ihren Ort im Feld der Wissenschaften und Künste verändert: Die Kompendien und Lehrbücher der Poetik und der philosophischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts ordnen ihre Beschreibungen des Dichters und dessen, was er lernen und können muß, in eine definitorische und klassifikatorische Umorganisation ein, die das Verhältnis der Poesie zur Rhetorik, zu den bildenden und musikalischen Künsten und zu den Wissenschaften neu bestimmt. Die Veränderungen im Verhältnis der >Wissenschaften und Künste< zueinander, wie sie Paul Oskar Kristeller in seiner luziden, jedoch rein geistesgeschichtlich argumentierenden Arbeit zur Entstehung des modernen Systems der Künste nachweist, 6 sind in jüngster Zeit als Beleg für die Etablierung eines Sozialsystems Literatur in der entstehenden funktional differenzierten Gesellschaft herangezogen worden: Daß die Poesie, die im traditionellen Kanon der artes liberales dem Trivium als Spezialfall der Rhetorik zugewiesen war, während des 18. Jahrhunderts aus diesem Kontext gelöst und im Zusammenhang der philosophischen Ästhetik statt dessen mit den bildenden Künsten und der Musik verbunden wird, um im Kollektivsingular »Kunst« zusammengefaßt zu werden, erscheint aus systemtheoretischer Perspektive als Indiz für die »gelingende Ausdifferenzierung« des sozialen Systems »Kunst«, insbesondere

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Vgl. Angelika Wetlerer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch. Der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern. Tübingen 1981. S. 19 ff. - Michael J. Böhler: Soziale Rolle und ästhetische Vermittlung. Studien zur Literatursoziologie von A. G. Baumgarten bis F. Schiller. Bonn/Frankfurt a. M. 1975. S. 21. - Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989. S. 56 ff. - Hans-Jürgen Gabler: Geschmack und Gesellschaft, S. 30 ff. Paul Oskar Kristeller: Das moderne System der Künste. In: Humanismus und Renaissance. Bd. 2: Philosophie, Bildung und Kunst. Hg. von E. Keßler. München 1976. S. 164-206.

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aber des sozialen Systems »Literatur«, denn in der philosophischen Disziplin Ästhetik werde in erster Linie die Literatur reflexiv.7 Ohne weitere Begründung fehlt dieser Annahme jedoch Plausibilität, da gerade die Ästhetik zwischen der Literatur und den anderen Künsten eine enge Verbindung etabliert, die zunächst keine Sonderrolle der Literatur erkennen läßt. Erinnert man sich allerdings an die im vorhergehenden Kapitel beschriebenen fundamentalen Veränderungen der literarischen Kommunikationsbedingungen im 18. Jahrhundert, sieht man, daß Poesie bzw. Literatur eine Art >Leitsektor< bilden, in dem sich die kommunikativen Verschiebungen, die mit dem Wandel der Publikumsstruktur und der veränderten Autorenrollen einhergehen, früher als in den übrigen Künsten auswirken. Die Literatur hat als erste der schönen Künste und Wissenschaften die Folgen zu verarbeiten, die die Sprengung der Oberschichtenexklusivität mit sich bringt; die Literaturtheorie reagiert nicht nur darauf, sondern ist, indem sie das tut, selbst ein Moment des Transformationsprozesses: Da die Orientierungsfunktion der rhetorischen Poetik unter den Bedingungen eines inhomogenen, ständeübergreifenden Publikums versagt, entsteht der Zwang zur Suche nach neuen Prinzipien, Definitionen und Klassifikationen, die im Sog der Poesie die bildenden Künste und die Musik als autonom bestimmen. In der Folge soll die Geschichte dieser Definitionen und Klassifikationen rekonstruiert werden, da ihre schriftlich fixierte Tradition und die neuen literarischen Kommunikationsbedingungen schließlich den Kontext für die Beschreibungen poetischer Ausbildung und dichterischen Handelns bilden.

B. Poetik als Rhetorik Im Rahmen des gelehrt-artistischen Kanons wird die Poesie als Spezialfall der Rhetorik behandelt, von der sie sich nur durch die ligatio, den metrisch gebundenen Vers, sowie durch den Reim unterscheidet.8 Die Fähigkeit, lateinische Verse zu verfertigen, gehört zu den Charakteristika des akademisch gebildeten Gelehrten, der in der hierarchischen Ständeordnung durch Sonderrechte und

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Vgl. Gerhard Plumpe: Systemtheorie und Literaturgeschichte. In: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachtheorie. Hg. von H. U. Gumbrecht und U. Link-Heer. Frankfurt a.M. 1985. S. 251-264. - Hans Freier: Ästhetik und Autonomie. Ein Beitrag zur idealistischen Entfremdungskritik. In: Literatur und Sozialwissenschaften 3. Deutsches Bürgertum und literarische Intelligenz 1750-1800. Hg. von B. Lutz. Stuttgart 1974. S. 329-384. Hier: S. 330. So noch Johann Gotthelf Lindner: Kurzer Inbegriff der Ästhetik, Redekunst und Dichtkunst. Königsberg und Leipzig. 2 Theile. 1771/72. S. 79.

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Ortswechsel der Dichtkunst

Exemtionen eine Stellung auf einer der obersten Stufen einnimmt und sich selbst durch seine Zugehörigkeit zur >nobilitas litteraria< beschreibt 9 Die beginnende gesellschaftliche Mobilität schlägt jedoch allmählich auf die ständisch geprägte Konzeption der Poesie durch: Die traditionelle Form der Gelehrsamkeitskritik, die sich an den »Schulpedanten« und »Schulfüchsen« entzündet, die »allein mit Worten« umgehen, »von guten höflichen Sitten« nichts wissen und »die Welt nicht kennen« 1 0 , nimmt im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert im Zuge der Etablierung des frühabsolutistischen Staates, der ein starkes Bedürfnis nach akademisch ausgebildeten Funktionsträgern entwikkelt, eine neue, schärfere Richtung an, die auch die Poesie und mit ihr die Dichter zu treffen droht. Das prodesse der Horazischen Formel tritt in einer spezifischen Auslegung in den Vordergrund: Christian Weise, der als Direktor der Ritterakademie in Weißenfels und des Gymnasiums in Zittau wie Thomasius, Gundling und andere im Anschluß an Gracian die Rhetorik in den Dienst des >(privat)-politischen< Handelns gestellt hat, unternimmt zugleich eine rhetorische Neufundierung der Poetik. Die höfische Rhetorik legt den Akzent, polemisch gegen die traditionelle akademische Rhetorik gerichtet, auf die praktische Anwendbarkeit in gesellschaftlichen Situationen, in denen sich der einzelne gegen die Konkurrenz aller anderen durchsetzen muß. Besonders relevant für die höfische Sphäre ist das Komplimenten- und Formularwesen, mit dem sich der einzelne in einem geregelten Modus bei kunstgerechter Ausführung Vorteile in der höfisch-ständischen Konkurrenzgesellschaft verschaffen kann. 11 Weise, dessen pragmatische pädagogische Konzeption auf die Ausbildung einer Beamtenschaft für den frühabsolutistischen Staat zielt, 12 weitet das Nützlichkeitspostulat der Rhetorik auf die Poesie aus; nur insofern sie nützlich sind, »darf man sich in solchen studiis vertieffen. [...] Denn es geht uns sonsten/ wie jenem Kauffmanne/ der kriegte seine Wahren mit guter Gelegenheit zusammen; doch er kunte sie nicht mit gutem profit wieder an den Mann bringen.« 13 Der Ver-

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Erich Trunz: Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur. In: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Hg. von R. Alewyn. Köln/Berlin 1966. 2. Aufl. S. 147-181. - Vgl. auch Grimm, Literatur und Gelehrtentum in Deutschland, S. 25 ff. Eberhard Werner Happel: Der akademische Roman. Ulm 1690. Nachdruck Bem/Stuttgart/Wien 1962. S. 270 ff. Vgl. Karl-Heinz Göttert: Einführung in die Rhetorik. Grundbegriffe - Geschichte - Rezeption. München 1991. S. 159 ff. - Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992. S. 51 ff. Vgl. Volker Sinemus: Poetik und Rhetorik im friihmodemen deutschen Staat: Die sozialgeschichtliche Bedeutung des Normenwandels im 17. Jahrhundert. Göttingen 1978. S. 105. Weise, Christian: Curióse Gedancken von Deutschen Versen [...]. Leipzig 1693. S. 4 f.

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gleich mit dem Bereich des wirtschaftlichen Erwerbs- und Gewinnstrebens zeigt, daß der hier verwendete Begriff des Nutzens nicht gesamtgesellschaftlich zu interpretieren ist, sondern sich ausschließlich auf den Bereich des privatpolitischen Ehrgeizes, am Hofe Karriere zu machen, bezieht. So veröffentlicht Weise 1693 ein Lehrbuch, das für den Erwerb poetischer Fähigkeiten von der neuen Wertschätzung der Rhetorik profitiert: Der Schüler wird mit der Dichtkunst vertraut gemacht, um »gute Verse vor sich erkennen/ selbige leicht und geschickt nachmachen« zu können. Die Geschicklichkeit in der Dichtkunst verspricht dem einzelnen die gleiche Wertschätzung, wie sie dem »polite(n) Redner« 14 im Zeichen der Privatpolitik bereits entgegengebracht wird. Er muß dieselben Verfahren beherrschen wie der Redner, »weil das meiste mit der Oratorie so weit übereinkömmt/ daß man auch einen jungen Menschen schwerlich zu künstlichen Versen kommen lässet/ wenn er nicht in der Oratorie disponiren und ampliflciren gelernet hat.« 15 Die Anordnung (disposino) der sachlichen Materialien sowie die sach- und anlaßgerechte Entfaltung der Argumente und des verbalen Schmuckes (amplificatio) wird im Rahmen der traditionellen Schulrhetorik durch die Beachtung der rhetorischen Regeln und durch die Nachahmung vollkommener Muster erlernt und in praktischen Übungen, wie z.B. Schulchrien, weiterentwickelt. Im akademischen Unterricht sind für Weise nur solche Vorschriften legitim, die sich in der höfischen Praxis bewähren und der ständigen Revision durch sie aussetzen. Beim anschließenden Erlernen des »Versemachens« können die rhetorischen Fertigkeiten »praesupponirt« 16 werden. Weise unterscheidet zwischen dem »äusserlichen Nutz« der Poesie, die der Rhetorik untergeordnet bleibt und sich positiv auf die »Reden/ derer sich ein Theologus und Politicus bedienen muß« 17 auswirkt, und dem »innerliche(n) Nutzen/ da die Verse vor sich selbst etwas verrichten können«: Man lernt den Leuten dienen/ daß man in allerband Glücks= und Unglücksfällen der eingeführten Gewohnheit nach etwas gedrucktes oder geschriebenes übergeben kan. [...] Man lernet seine andere affecten vergnügen/ daß sie einer gewissen meditation desto lieber nachhängen/ man mag es nun mit geistlichen Liedern/ mit Tugend=Liedem/ auch wol mit verliebten arien versuchen [...] lernet man was zu eignen und fremden Belustigung in den Nebenstunden aufsetzen.18

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Ebd., Deutsche Verse, Titelblatt. Ebd., S. 62. 16 Ebd., S. 63. 17 Ebd., S. 16 f. 18 Ebd., S. 18. 15

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Ortswechsel der Dichtkunst

Das Verfertigen von Versen dient vermittelt und direkt der Karriere und dem Ansehen des einzelnen, sofern es den Anlässen angepaßt ist, zu denen die höfische Gesellschaft dem einzelnen >GelegenheitklugePoliticus«, in dem sich Gelehrter und Kavalier verbinden: Sein Ziel ist die nun mögliche, Standesgrenzen überschreitende Karriere am frühabsolutistischen Hof, die zum einen höfische Verhaltensweisen und Durchsetzungsvermögen erfordert und zum anderen spezifische funktionsbezogene Kenntnisse voraussetzt. 22 Die Betonung des Nützlichen der Dichtkunst weist darauf hin, daß in den beginnenden Wirren der Umstellung auf die funktional differenzierte >bürgerliche< Gesellschaft zunächst jene Konzeption der Dichtkunst Erfolg verspricht, die die Poesie auf den situativen Nutzen für den einzelnen festlegt. Bedingung der Möglichkeit solcher Zweckbestimmung ist jedoch noch immer die gelehrte Exklusivität der Leser- und Hörererwartungen, die die gelehrte Mühe des Autors erkennen können müssen, um sie zu belohnen oder zu tadeln. Daß

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Vgl. Georg Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert. Tübingen 1989. S. 50 ff. - Zu Allegorik und Emblematik der >GelegenheitUngelehrte< zu wenden und bei ihnen nach persönlichem und materiellem Erfolg zu streben, ist erst in Ansätzen zu erkennen. Deshalb ziemt es sich für den Poeten weiterhin, wie der Gelehrte traditionellen Zuschnitts Honorare abzulehnen und seine poetische Praxis in die >Nebenstunden< zu verlegen.

C. Poetik als Ästhetik Solange Exklusivität und Homogenität des Publikums vorausgesetzt werden können, erscheinen die Dichter in und mit ihren Texten als rhetorisch-poetisch Handelnde, auch wenn sie weniger ihre Zugehörigkeit zum Gelehrtenstand demonstrieren als ihre privatpolitischen Zwecke verfolgen. Sobald aber ein inhomogenes, ständeübergreifendes Publikum in den Blick kommt, tritt die Rhetorik in Konkurrenz zu ihrer alten Gegnerin, der Philosophie, die als Ästhetik mit ihren Reflexionen über die allgemeine Natur des Menschen und die sinnliche Erkenntnis den Poeten neue Orientierungsmarken zu geben verspricht. Die Debatte über das Problem, wie stark die Beharrungskraft rhetorischer Elemente in den Poetiken Gottscheds und der Schweizer sowie in der Ästhetik Baumgartens und Meiers trotz ihrer Neuorientierung an der Leibniz-Wölfischen Philosophie ist, entzündet sich an der bekannten These Piatons, Rhetorik und Philosophie seien letztlich inkompatibel, so daß eine konsequente philosophische Fundierung der Poetik notwendig zu einem Verzicht auf die wirkungs- und adressatenbezogenen Prämissen der Rhetorik führen muß. Die literaturwissenschaftliche Forschung sieht ihre Aufgabe dementsprechend vornehmlich darin, die verschiedenen Traditionsstränge bei den einzelnen Theoretikern zu isolieren und auf Widersprüche zu untersuchen, um schließlich jedem einzelnen einen Punkt auf einer historischen Skala zuzuweisen, die ihren Abschluß meistens bei Kant und seiner Abqualifizierung der Rhetorik in der »Kritik der Urteilskraft« findet. Dank der wachsenden Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang zwischen Poetik und Ästhetik einerseits und der Veränderung des literarischen Publikums andererseits wird jedoch neuerdings betont, daß das Verhältnis zwischen Rhetorik und philosophischer Grundlegung der Poetik und Ästhetik auf Gegenseitigkeit und funktionaler Abhängigkeit beruht: Das Problem der neuen, nicht auf den Gelehrtenstand eingeschränkten Leserschaft, die in einsamer Lektüre Romane, Journale und Modeschriften verschlingt, wird zunächst durch

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Ortswechsel der Dichtkunst

eine kritische, aber konstruktive Prüfung der rhetorischen Wirkungsmittel beantwortet. Die philosophische Fundierung der Poetik, die Erkenntniswert und Wahrheitsgehalt poetischer Texte zum Thema macht, versucht mittels allgemeingültig deduzierter Prinzipien sicherzustellen, daß einem inhomogenen Publikum, dessen Lektüre nicht mehr kontrollierbar zu sein scheint, dennoch die moralische oder psychologische Lehre vermittelt wird, die der Autor zu verbreiten beabsichtigt. Dabei stellt die Redekunst neben den allgemein formulierten Regeln der Schulrhetorik auch einen Fundus psychologischer Erfahrungsregeln zur Verfügung, die der rein schriftlichen Kommunikationssituation angepaßt werden müssen, auf daß die poetisch vermittelte Wahrheit möglichst unverfälscht und effektiv in das Gemüt der Leser eingehe.23 Im Kontext der philosophischen Ästhetik wird die traditionelle Liaison von Rede- und Dichtkunst aufrechterhalten, bis sie von der Suche nach einem neuen Prinzip, das nicht nur Rhetorik und Poesie, sondern auch die bildenden Künste und die Musik umfaßt, ergänzt wird. Baumgartens Magisterdissertation »De nonnullis poemata pertinentibus«24 beschränkt sich auf eine neuartige Definition des Gedichts, die auf die von Christian Wolff der oberen, vernünftigen Erkenntnis gegenübergestellte sinnliche Erkenntnis rekurriert. In Baumgartens »Aesthetica« wird jedoch bereits die Definition des Gedichts als »oratio sensitiva perfecta«, die durch den doppelten grammatischen Bezug von »perfecta« auf »oratio« und auf »sensitiva« weitergehende Explikationen herausfordert, in den Hintergrund gerückt: Im Vordergrund steht nun die Definition der Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis: »scientia cognitionis sensitivae«.25 Weil sie auf die sinnliche Erkenntnisfähigkeit der Menschen zurückgreift, beansprucht sie, mehr als Poetik und Rhetorik zu leisten:

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Die spezifisch philosophische Komponente der Ästhetik betont Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Wiesbaden 1972. S. 10 f. Den Weiterbestand der Rhetorik hebt dagegen hervor: Wolfgang Bender: Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert: Baumgarten, Meier und Breitinger. In: ZfdPh 99, 1980, S. 481-506. Den Rekurs auf die wirkungsbezogenen Regeln der Rhetorik angesichts der Veränderung der Leserstruktur betont Gabler, Der Tod des Mäzens. - Die Reaküon der Schweizer auf die stille und vereinzelte Lektürepraxis untersucht Friedrich Schlegel: Sich »von dem Gemiithe des Lesers Meister machen.« Zur Wirkungsästhetik der Poetik Bodmers und Breitingers. Frankfurt a. M./Bem/New York 1986. S. 7. Den Zusammenhang zwischen Zeichentheorie und veränderter kommunikativer Situation beobachtet David E. Wellbery: Lessing's Laocoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge/London/New York u.a. 1984. Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts. Übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von H. Paetzoldt. Hamburg 1983. Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica. Frankfurt 1750/58. Nachdruck Hildesheim 1961. § 1.

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Obici posset nostrae scientiae: [...] earn eandem esse cum rbetorica et poetica. Resp. a) latius patet, b) complectitur his cum aliis artibus ac inter se communia, quibus hic loco convenienti semel perspectis quaelibet ars sine tautologiis inutilibus suum fundum felicius colat. 26

Die Ästhetik rühmt sich nicht nur der Entdeckung von Gemeinsamkeiten zwischen Rhetorik, Poetik und anderen Künsten, die bislang niemand gesehen habe, sondern schreibt sich das Auffinden eines gänzlich neuen Gebiets von Zusammenhängen zu, das ausschließlich durch die Theorie der sinnlichen Erkenntnis zugänglich wird. Sie verspricht Orientierung für Leser und Autoren, für Künstler und Publikum, indem sie mittels Axiomatisierung einen Bereich fixiert, der bislang in unterschiedlichen Diskursen behandelt wurde, nämlich einerseits im etablierten >Kommunikationssystem«27 der Rhetorik und Poetik, das dem Gelehrtenstand zugeordnet ist und andererseits in den weniger systematisierten und gesellschaftlich weniger anerkannten handwerklichen Traktaten zur bildenden Kunst und zur Musik. 28 Diese Reduktion von Komplexität, die sich in Deutschland in einer Vielzahl von Schriften niederschlägt, die nach dem Prinzip und dem obersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften suchen, überträgt zugleich die kommunikativen Orientierungsschwierigkeiten, die zuerst bei Dichtern und Lesern festgestellt werden, auf die anderen »schönen Künste«. Damit vollzieht sich sowohl die Spaltung des gelehrten >LitteraturKunstKommunikationssystem< der Rhetorik bis in das 18. Jahrhundert hinein als sehr eng beschrieben: Es ist ganz selbstverständlich, daß der gelehrte Poet nicht nur die Verbal-Disziplinen des Triviums kennen und beherrschen muß, sondern er hat sich außerdem mit den Real-Disziplinen des Quadriviums auseinanderzusetzen, um Kenntnisse zu sammeln und zu ordnen, die er in seiner poetischen Produktion verwenden kann. So formuliert auch Christian Weise in seiner politisch-galanten Poetik im Einklang mit gelehrten Bestimmungen des Dichters und im Anschluß an Piatons Dialog »Symposion«: Ein Poet/ welcher den Nahmen in der That führen soll/ ist ein solcher Mann/ der in artigen und annehmlichen Gedichten die Göttliche und Menschliche Weißheit vorstellen kan/ wie

5 8 Vgl. dazu Erich Haase: Zur Bedeutung von »je ne sais quoi« im 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 67, 1956, S. 47-68; - Erich Köhler: »Je ne sais quoi« - Zur Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen. In: Romanistisches Jahrbuch 6, 1953/54, S. 21-59.

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Ortswechsel der Dichtkunst etwan der alte Plato die Poeterey το ολον, das ist, alles mit einander/ und den gantzen Begriff der Weißheit zu nennen pflegt 5 9

Die von Weise aufgegriffene Beschreibung des gelehrten Poeten knüpft zudem an die des idealen Redners bei Cicero und Quintilian60 an: Sie fordert, daß der Redner von allen Gebieten des Wissens und der Weisheit etwas verstehen müsse, weil sich die Rede je nach Anlaß und Situation allen Gegenständen zuwenden kann. Im Zusammenhang des rhetorisch-gelehrten >Kommunikationssystems< werden die Dichter und die Poesie traditionell dadurch gerechtfertigt und verteidigt, daß auf ihre Universalität hingewiesen wird, die sie mit dem Redner teilen: Im Kontext einer Apologie der Poesie stellt etwa Martin Opitz in seinem 1624 erschienenen »Buch von der deutschen Poeterey«, das die Reform der deutschen Dichtung im 17. Jahrhundert einleitet, fest, daß die »Poeterey [...] doch alle andere künste und wissenschafften in sich helt«, und leitet daraus die Forderung ab, daß der Poet, der Anspruch auf die Attribute doctus und eruditus erhebt, »alle künste und wissenschafften durchwandern«61 müsse, um die res, die Materialien für seine poetischen Werke zu finden, zu sammeln und zu ordnen, wie es in einer Poetik des frühen 18. Jahrhunderts formuliert wird: Man muß sich auch fleißig exerciren, wenn man eine Poetische Fertigkeit erlangen will, anbey auch andere Studia nicht hindansetzen; Denn was wird von einem rechtschaffenen Poeten wahrhafftig viel erfordert, und soll er billig in allen Disziplinen zum wenigsten etwas gethan haben. Denn also kan er nicht nur gelehrt schreiben, sondern auch viel vortreffliche Inventionen haben. Daher hat der weise Plato nicht unrecht gethan, wen er die Poesie το ολον genennet, weil sie ja in ihrem Umfange alle andere Künste und Wissenschafften beschliesset. 62

In Gottscheds Dichtungstheorie, die das Programm einer Poesie als »ars popularis« auf der Basis allgemeingültiger Prinzipien entwirft und damit dem neuen, ungelehrten Publikum gerecht zu werden versucht, steht die Poesie mit der

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Weise, Deutsche Verse, S. 4. 60 Marcus Tullius Cicero: De oratore 1, 17; 1, 19. Marcus Fabius Quintilian: Inst, orat., 1, 10, 1-10; sowie 1, 12. 61 Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterey. In: Gesammelte Werke. Krit. Ausgabe Bd. II, 1. Hg. von G. Schulz-Behrendt. Stuttgart 1968. S. 347 und 413. 62 Johann Samuel Wahll: Kurtze doch gründliche Einleitung zu der rechten/ reinen und galanten Teutschen Poesie [...] unter dem Titul eines Poetischen Weg=Weisers. 2. Aufl. Chemnitz 1715. S. 136. - Vgl. auch Daniel Georg Morhof: Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie. 2. Aufl. Lübeck/Frankfurt 1700. Nachdruck Bad Homburg/Berlin/Zürich 1969. Hg. von H. Boetius. S. 315. Dieser Definition schließen sich nicht nur die traditionellen Anweisungspoetiken an, sondern auch solche Arbeiten, die den Anspruch erheben, die Poesie auf der Grundlage der Leibniz-Wolffschen Philosophie neu zu begründen: Daniel Heinrich Arnoldt: Versuch einer systematischen Anleitung zur deutschen Poesie. Leipzig 1732. Hier verwendet: 2. Auflage 1741 unter dem Titel: Versuch einer nach demonstrativischer Lehrart entworfenen Anleitung zur Poesie der Deutschen. § 29.

Poetik als Ästhetik

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Rhetorik in einem dienenden Verhältnis zu den Wissenschaften und zur Philosophie, denen es um Wahrheit und Moral zu tun ist. Auch hier wird noch gefordert, daß der Poet sich bemühe, »von allen Wissenschaften [...] zum wenigsten, einen kurzen Begriff zu fassen.« Auf den Einwand, daß die Zahl der Wissenschaften immer größer werde und den Rahmen der artes liberales sprenge, folgt die nonchalante Antwort, daß man eine Sache nach ihrer größten Vollkommenheit schildern solle: Der ideale Poet kennt, wie der ideale Redner, alle Wissenschaften. 63 Auch der Gegner Gottscheds, Johann Jacob Breitinger, nimmt an, daß das Gebiet der Poesie mit der menschlichen Erkenntnis und der Philosophie deckungsgleich ist. Rede- und Dichtkunst verzuckern die »bittere Pille« der wissenschaftlichen Lehren und sind »allgemeine Dollmetscherinnen der Weisheit« und »Lehrerinnen der Tugend«.64 Durch das ordnungsbildende System der Topik, das die >Invention< von Gegenständen und Argumenten als Grundmodell der vormodernen, humanistischen und barocken Wissenschaften und Gelehrsamkeit ermöglicht, ist lange Zeit ein gemeinsames Feld abgesteckt, in dem Poetik und Rhetorik als Kunstlehren zur Herstellung eines Produktes fungieren und wo gleichzeitig alle Wissensgebiete durch das System der loci communes, das dieses Feld gliedert und allen Dingen ihre Stelle zuweist, zu einer Einheit verbunden sind. Die neue Metaphysik dagegen stellt mit aller Macht die Frage nach den Sachen selbst, unabhängig von ihrem vorgegebenen Ort, so daß der Universalitätsanspruch der Topik partikularisiert wird. 65 Auch die neuen, experimentellen Verfahren der aufkommenden Naturwissenschaften, die die Bücher als primäre Quelle der Erkenntnis verwerfen, sprengen das artistisch-topische Modell der Wissenschaften. An der Debatte um den Stellenwert des Lehrgedichts läßt sich nachvollziehen, wie das bislang enge Verhältnis von Poesie und Realwissenschaft in Frage gestellt wird: Das Lehrgedicht als Vermittler naturwissenschaftlicher und philosophischer Inhalte erscheint immer mehr als problematische Zwittergestalt, die den eigentlichen poetischen Zweck, zu nützen und zu erfreuen, nicht erfüllen

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Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst durchgehende mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert. 4., sehr vermehrte Auflage Leipzig 1751. Nachdruck Darmstadt 1962. 5. Auflage. S. 105. - Vgl. dazu jetzt Istvan Gombocz: »Es ist keine Wissenschaft von seinem Bezirke ganz ausgeschlossen.« Gottsched und das Ideal des aufklärerischen poeta doctus. In: Daphnis 18,1989, S. 541-561. Johann Jakob Breitinger: Critische Dichtkunst Nachdruck der Ausgabe Zürich 1740. Mit einem Nachwort von W. Bender. Stuttgart 1966. S. 53 f., S. 8. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983. S. XV ff.

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Ortswechsel der Dichtkunst

kann, weil die inhaltliche Vermittlung eines wissenschaftlichen Gegenstands alle spezifisch poetischen Absichten überlagert.66 Für das Individuum, das als Dichter Karriere machen will, zeitigt dies die Konsequenz, daß es einerseits vermeiden muß, nach den spezifischen Maßstäben der einzelnen Disziplinen beurteilt zu werden, die es nicht erfüllen kann und will, daß es aber weiterhin angehalten ist, sich gelehrte Wissensbestände anzueignen, um als Gelehrter Eindruck zu machen: Folglich kan ein schöner Geist, in den Disciplinen, Wissenschaften und Künsten, kein gänzlicher Fremdling seyn. Ist ers so kan er gar leicht einen Fehler wider die Disciplinen, Wissenschaften und Künste begehen [...]. Da setzt er [...] sein eigenes Ansehen in Gefahr. Zum schönen Denken braucht niemand, eine gründliche, tiefsinnige, mathematische Gelehrsamkeit. Folglich muß ein schöner Geist eine weitläuftige Gelehrsamkeit besitzen, er mus sehr vieles wissen, [...] er mus auch von einer jeden eine weitläufige Eikentnis zu erlangen vermögen. Mit einem Wort, er mus ein Polyhistor seyn. 6 7

Die Ausdifferenzierung von Wissenschaft auf der einen Seite sowie Literatur als Kunst auf der anderen Seite, die jeweils nach gänzlich unvereinbaren Kriterien vorgehen, führt zu einem Rollenkonflikt für das Individuum, das gegen die traditionellen Beschreibungen des Gelehrten gezwungen ist, sich zu spezialisieren: 68 Dem Dichter ist nur noch eine laienhafte wissenschaftliche Kenntnis zugänglich und zuträglich, die ihn als Poet nicht besonders auszeichnet und als Wissenschaftler disqualifiziert.

D. Poesie als autonome Kunst Der radikalste Versuch einer Neu-Definition und Neu-Klassifikation der Poesie unternimmt es, durch die Zusammenführung aller Negationen der Poesie ihre Substanz aufzuweisen. In den Fokus dessen, was Poesie nicht ist, gerät die Rhetorik. Die Diffamierung der Rhetorik durch die Philosophie, wie sie Piaton in die abendländische Geistesgeschichte paradigmatisch einführt, indem er die Sophisten, die die Bewährung in einer auf Mündlichkeit basierenden Situativität 66

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Vgl. Bernhard Fabian: Das Lehrgedicht als Problem der Poetik. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Hg. von H.R. Jauß. Poetik und Hermeneutik III. München 1968. S. 67-89. Georg Friedrich Meier: Anfangsgriinde der schönen Wissenschaften. 3 Theile. Halle 175459. Nachdruck Hildesheim/New York 1976. Bd. 1: § 232 f., S. 544, 548. Vgl. dazu Rudolf Stichweh: Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung. In: Wissenschaft und Nation. Zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von J. Fohrmann und W. Voßkamp. München 1991. S. 99-112. Hier: S. 101.

Poesie als autonome Kunst

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lehren, im Namen der schriftlichen, d.h. komplexeren Kommunikationsform attackiert und damit auch die Sängerpoeten trifft, wird von Kant in der »Kritik der Urteilskraft« wieder aufgenommen; er rekurriert auf Lessings semiologische Wirkungsbestimmung der Poesie, um diese für die Philosophie zu reklamieren und gegen die Rhetorik auszuspielen: Die Redekunst sei lediglich eine »Kunst [...], durch den schönen Schein zu hintergehen«, und entlehne aus der Dichtkunst »so viel als nötig ist, die Gemüter, vor der Beurteilung, für den Redner zu dessen Vorteil zu gewinnen.« Dagegen »geht in der Dichtkunst [...] alles ehrlich zu«, denn sie »erklärt sich: ein bloßes Spiel mit der Einbildungskraft [...] treiben zu wollen.« 69 Daß die Rhetorik für die unbemerkte Durchsetzung persönlicher Zwecke und Ziele eingesetzt werden kann, macht für Kant nur den Redner, nicht den Dichter, der hier vornehmlich als Verfasser offenkundig fiktionaler Texte erscheint, zum Lügner: Der Erfolg des Romans, der sich im Wechselspiel zwischen Fiktionalität und Realitätsbezug etabliert, 70 führt zugleich zu der Konsequenz, daß alle dem Poeten zugeschriebenen Intentionen, dem nicht einmal mehr das Lügen und Verstellen möglich ist, verschwinden: Was der einzelne Autor mit einem Roman erreichen will, wird als irrelevant für das von einem Text bei seinen Lesern initiierte oder auch nur veranlaßte »Spiel der Einbildungskraft« abgetan. Im Gegensatz zur höfisch-politischen Auffassung, die die Poesie nur zuläßt, sofem sie für die Verfolgung persönlicher Ziele »nützlich« ist, im Gegensatz auch zu Gottscheds Bestimmung der gesamtgesellschaftlichen Nützlichkeit der Dichtung, wird die Poesie von Kant als »Spiel« definiert, das allen äußeren Zwecksetzungen enthoben ist. Diese Herauslösung der Kunstwerke aus jeglichem Funktionszusammenhang, wie sie in der deutschen idealistischen Ästhetik vornehmlich von Moritz, Kant und Schiller formuliert wird, richtet sich nicht bloß gegen die rhetorische Intentionalität eines Einzelnen, sondern auch gegen jede Indienstnahme der Kunst durch Philosophie, Moral und Wissenschaften. Sowohl die Orientierung am persuadere der Rhetorik als auch an der Vermittlung philosophischer Begriffe, wie sie etwa Gottsched zu allgemeinem Nutzen etablieren will, wird nun von Schiller wie zuvor bereits von Karl Philipp Moritz als >Heteronomie< beschrieben: Schön [...] ist eine Form, die keine Erklärung foderi, oder auch eine solche, die ohne Begriffe erklärt [...]. Denn jeder Begriff ist etwas Äußeres gegen das Objekt. Eine solche Form ist jede strenge Regelmäßigkeit [...] weil sie uns den Begriff aufdringt, aus dem sie

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Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. von W. Weischedel. Frankfurt a. M. 1977. S. 2 6 6 f. Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Nachahmung und Illusion. Hg. von H.R. Jauß. Poetik und Hermeneutik 1. München 1964. S. 9-27.

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Ortswechsel der Dichtkunst entstanden ist: eine solche Form ist jede strenge Zweckmäßigkeit besonders die des Nützlichen, weil die immer auf etwas anderes bezogen wird.71

Die Gleichsetzung von Schönheit und Vollkommenheit, die in der BaumgartenNachfolge sehr erfolgreich war und die die Vollkommenheit als Einheit des Mannigfaltigen72 begreift, so daß im Werk die Vollkommenheit des Weltganzen repräsentiert wird, erscheint hier genauso als heteronom, weil begrifflich gedeutet, wie die Nützlichkeit eines Kunstwerkes als Mittel zu einem äußeren Zweck, sei er nun auf den privaten Nutzen oder allgemeinmenschliche Ziele bezogen. Mit dieser Abgrenzungsbewegung vollzieht sich die Definition eines kunstspezifischen Codes, der das Sozialsystem Kunst auf die Kommunikation über Schönes und Häßliches fixiert. Daß mit der Konzentration auf das einzelne Werk und auf die Erkenntnis, die es seinen Lesern vermittelt, das intentionale Handeln der Dichter aus dem Blickfeld verbannt wird, zeitigt Konsequenzen für die Selbstdarstellung und die Wahrnehmbarkeit der Autoren; sie zeigen sich in den neuen Aufgaben von Autobiographik und Roman. Daß Texte nicht mehr als trainierbare Geschicklichkeit handelnden Dichtern zugeschrieben werden können, ist jedoch auch eine Konsequenz aus dem Funktionsverlust der poetischen Didaktik; dieser muß rekonstruiert werden, bevor sich schließlich der Blick auf die >prosaischen< Gattungen des autobiographischen Schreibens richtet.

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Friedrich Schiller: Kallias oder über die Schönheit. Briefe an G. Körner. In: Sämtliche Werke. Hg. von G. Fricke und H.G. Göpfert. München 1962. S. 402 f. So etwa Mendelssohn, Hauptgrundsätze, S. 58 f.

ΙΠ. Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln in den Lehr- und Handbüchern der Poetik und Ästhetik

Bei der Suche nach Beschreibungen der Poeten und ihrer Ausbildung in der Poetik und Ästhetik des 18. Jahrhundert gilt es, die Leitdifferenz zwischen Kunst und Natur beobachtend anzuwenden; zwischen diesen beiden Polen entfaltet sich die Debatte um die Rolle des Dichters. Zwischen angeborener Begabung und erlernbaren Kunstregeln eröffnet sich ein diskursives Feld, das die spezifischen Themen der Regeln und Muster einerseits sowie der Genies andererseits umfaßt. Die Leitdifferenz Kunst-Natur und diese Themen vereinheitlichen und gliedern die Kommunikationen über die Dichter; sie erlauben die Bestimmung dessen, was zur Debatte und zum Thema gehört, und ermöglichen so die Untersuchung jener Quellen, in denen sich die Kommunikation über Dichterbildung im 18. Jahrhundert vornehmlich abspielt. In den Hand- und Lehrbüchern der Poetik und Ästhetik vollzieht sich im 18. Jahrhundert sowohl die Ausbildung der Poeten als auch die Debatte darüber, ob sie möglich ist. Ihre Verankerung im gelehrten Unterricht als Kompendien wie ihre Loslösung aus diesem Zusammenhang als philosophische Traktate bilden die Bedingungen der Möglichkeit für die Diskussion um die Dichter; zugleich demonstrieren sie die fundamentalen Aponen der Dichterausbildung.

A. Die Funktion der Differenz Kunst-Natur Die Vieldeutigkeit des Naturbegriffes, der in der abendländischen Geistesgeschichte als Kontrastbegriff zu techne und nomos, aber auch zur göttlichen gratia auftritt, wird erst dann zu einem Problem, wenn diese Vieldeutigkeit nicht mehr auf eindeutige Differenz- und Kontrastrelationen zu beziehen ist, weil der Naturbegriff, absolut gebraucht, auch die Einheit der Differenzen für sich okkupiert. Die Krise der alteuropäischen Ordnungen im 18. Jahrhundert, die in unterschiedlichen Wissensbereichen zutage tritt, löst jedoch die Eindeutigkeit

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des Naturbegriffs auf, indem die Oppositionsbeziehungen ihre Eindeutigkeit verlieren. Neben der Entwicklung der empirischen Naturwissenschaften und der damit einhergehenden Abkehr von einem teleologisch konstituierten Naturverständnis ist auch die Steigerung der gesellschaftlichen Komplexität für die Komplizierung und Unberechenbarkeit im Gebrauch des Naturbegriffes verantwortlich zu machen: 1 Der Naturbegriff verdankt seine unübersehbare und unübersichtliche Karriere im 18. Jahrhundert seiner Funktion als Kontingenzabwehrbegriff, da für den jeweiligen Kontrastbegriff - in unserem Fall für den Begriff der Kunst - ein Zuwachs an Kontingenzerfahrungen zu verzeichnen ist: Im Zuge jener umfassenden gesellschaftlichen Transformation, die durch die beginnende Auflösung der hierarchischen Ständeordnung und der religiös-teleologisch geprägten Weltauffassung gekennzeichnet ist, häufen und verstärken sich die Wünsche, Hoffnungen, Forderungen und Erfahrungen, etwas könne oder müsse auch anders sein, so daß nahezu alles als kontingent erscheint.2 Dieser Wandel schlägt sich im Bereich von Poesie, Dichtung und Literatur als Krise und Auflösung der gelehrten Kommunikationsordnung nieder: Mit dem Entstehen eines allgemeinen, auch Ungelehrte umfassenden Lesepublikums kann man das Auftreten genialer, ungelehrter Autoren und die wachsenden Orientierungsprobleme von Autoren wie Lesern beobachten, die sich nicht nur in den Disputen um Viel- und Schlechtschreiber, um Viel- und Falschleser manifestieren, sondern auch in den Kompendien der Poetik und Ästhetik; in ihnen findet ein Großteil der Kommunikation statt, die die neuen Orientierungsprobleme der Poeten und der Leser zu behandeln und zu lösen sucht, aber, indem sie das tut, die Transformation mitbetreibt und neue Probleme produziert. Zumal die Differenz zwischen ars und natura, die als einheits- und zusammenhangstiftende Voraussetzung der Kommunikation in den Lehrbüchern und Kompendien der Poetik und Ästhetik fungiert, reagiert empfindlich auf die veränderten Bedingungen der literarischen Kommunikation, selbst wenn eingeräumt werden muß, daß das Ideengut der abendländischen Literaturtheorie bereits einen immanenten Anreiz bietet, es zu verändern.3 Der Begriff >Kunst< richtet sich auf alles, was in den Lehrbüchern und Kompendien der Poetik und Ästhetik explizit vorgeführt, entfaltet und dem angehenden Dichter empfohlen und demonstriert werden kann, also auf die rhetorischen und poetischen Regeln

1 Vgl. Robert Spaemann: Genetisches zum Naturbegriff des 18. Jahrhunderts. In: Archiv für Begriffsgeschichte 11, 1967, S. 59-74. 2 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 424. Zum Kontingenzbegriff ebd. S. 379 f. 3 Niklas Luhmann: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. In: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Bd. 1. Frankfurt a. M. 1970. S. 9-72. Hier: S. 47.

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und auf die gelehrte, imitative Berücksichtigung der Tradition in ihren Mustern; der Naturbegriff fungiert dazu als Kontrast- und Komplementärbegriff. Die demonstrative Anwendung der gelehrten und gelernten Standards qualifiziert den einzelnen zum Dichter und zum Mitglied des Gelehrtenstandes. Um dessen Exklusivität gegen wachsende Mobilität, gegen >Anmaßungen< des >Pöbels< und des >großen Haufens< zu sichern, reicht es nicht aus, die Be(ob)achtung der gelehrten Kriterien zu fordern, sondern es gilt, auf natürliche, angeborene, nicht erlernbare Qualitäten zu rekurrieren. Im Zusammenhang einer ständischen Poetik genügt es nicht, einen Schüler durch Unterricht zum Poeten zu bilden: Dichter werden geboren, nicht gemacht Warum auch unter den Bedingungen allgemeiner Autor- und Leserschaft der Rekurs auf das nascitur und die natürliche poetische Begabung weit verbreitet bleibt und sogar mit dem Versuch verbunden ist, die poetische Bildung aus dem schulischen und akademischen Kanon auszuschließen, kann im folgenden nur durch eine relational und funktional orientierte Analyse der Themen, die der ars-natura-Differenz zugeordnet sind, gezeigt werden. Doch bereits die Debatte um die didaktische Funktion der Kompendien und Lehrbücher weist Symptome für weitreichende Veränderungen der Dichterausbildung auf und muß zuvor in den Blick genommen werden.

B. Kompendien und Kompilationen 1) Der Ausschluß der Kompendien aus dem Objektbereich der Literaturwissenschaft Die Lehrbücher der neuen akademischen Disziplin Ästhetik werden von der modernen literaturwissenschaftlichen Forschung als Kompendien und Kompilationen charakterisiert, die nichts Neues zu sagen haben. Unter dieser Prämisse vollzieht sich nahezu die gesamte wissenschaftliche Beschäftigung mit der Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts. Diese Textgattungen als quantité négligéable zu behandeln, beruht auf einem nicht wahrnehmbaren blinden Reck, der die wissenschaftliche Praxis, indem er ein bestimmtes Quellenkorpus ausgrenzt, zugleich ermöglicht und beschränkt. Während die Poetiken des Barocks und der Frühaufklärung im Zuge des wachsenden Interesses an der Rhetorik eingehend behandelt werden und den bekannten Literaturtheoretikern wie Gottsched, Baumgarten, Sulzer und Mendelssohn größere Aufmerksamkeit zuteil wird, die sich vor allem darauf richtet, die Einflüsse untereinander zu beschreiben und eindeutige historische Wendepunkte zu fixieren, werden die Schriften unbekannter Gymnasial- und Universitätsprofessoren ohne Begründungsaufwand

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weithin vernachlässigt. Die Behauptung, daß Lehr- und Handbücher für den akademischen Unterricht bloß Wiederholungen aus älteren, aber originelleren Texten anböten, bildet die Grundlage für den Ausschluß und für den Verzicht auf die Lektüre. Metaphern der Unbeweglichkeit werden gegen Ursprungsvergleiche ausgespielt, so daß die Disziplin der philosophischen Ästhetik, da sie neu ist, an einen Erfinder und wenige Weiterentwickler geknüpft wird. »Schulmäßig erstarrtes Denken über Kunst«, das »sich und wenige Vorbilder« immer wieder reproduziere, 4 kann man in der wissenschaftlichen Praxis beiseite legen, um sich möglichst schnell den klassischen Texten und Autoren, zumeist Baumgarten und Kant, zuzuwenden. Mit der Begründung, daß man nicht durch jede unbedeutende »Pfütze waten (muß), um zu wissen, daß es geregnet hat«, wird der Verzicht auf die »Aufarbeitung von Kompendien wie Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen KünstePhilosophie der schönen Künste< und Gängs >Ästhetiknützlich< charakterisierten Kompendien, Kompilationen, Hand- und Lehrbücher im Zeichen von kritischer Philosophie und autonomem Selbstdenken zu denunzieren beginnen.

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Rolf Grimminger: Die Utopie der vernünftigen Lust. Skizze zur Ästhetik des 18. Jahrhunderts bis zu Kant. In: Aufklärung und literarische Öffentlichkeit. Hg. von C. Bürger, J. Schulte-Sasse und P. Bürger. Frankfurt a. M. 1980, S. 116-132. Hier: S. 117. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus. Darmstadt 1985. S. XIII.

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2) Kriterien des Ausschlusses und ihre Voraussetzungen 1733 definiert Johann Heinrich Zedier in seinem »Universal-Lexikon« den Begriff »Compendium« folgendermaßen: »Ein kurtzer Begriff, eine Erspahrung, Vortheil, Gewinn. Etwas in ein Compendium bringen, etwas in die Kürtze fassen, daher compendios, kürtzlich, enge, behend oder bequem in der Kürtze abgefaßt.« 6 Kompendien sind dieser Definition zufolge in eine Zweck-MittelRelation eingebettet, die Kompendien als Instrumente danach beurteilt, wie gut sie ihren spezifischen Zweck erreichen. Ähnlich zweckrational beschreibt der Baumgarten-Schüler Georg Friedrich Meier in seiner »Vernunftlehre« die Funktion der Kompendien im Kontrast zu den »grosse(n) Werke(n)«, die »beynahe alles von ihrem Gegenstande [...], was von demselben bekant ist,« vortragen, während die »Auszüge oder Compendia« viel weniger und«nur so viel, als zu dem besonderen Zwecke nöthig ist, den sich ein Verfasser zum Ziele gesetzt hat«7 enthalten. Kompendien zeichnen sich also durch einen selektiven Zugriff auf ihren Gegenstand aus, der von der Intention des Verfassers abhängt. Damit geraten sie zwar in einen Gegensatz zu den Maßstäben der Leibniz· Wolffschen Philosophie, weil sie ihr Objekt nicht vollständig, also nicht klar und deudich beschreiben, passen sich aber den jeweiligen Intentionen ihres Verfassers an; seine Person verleiht den Kompendien ihre Einheit und ihren Wert. Den zweck- und wirkungsbezogenen Definitionen Zedlers und Meiers und den daran geknüpften Werturteilen, die dem Kompendium eine wichtige Rolle für die Vermittlung und Verbreitung beliebiger Themen zumißt, steht ein Verdikt gegenüber, das sich im Zusammenhang mit den Debatten um Vielschreiberei und Vielleserei des ausgehenden 18. Jahrhunderts durchsetzt.8 Es trifft auch die Vielzahl der poetologischen und ästhetischen Kompendien, diese »elende(n) Sudelkocherey«; weil sie jedoch als typische Produkte der verpönten Vielschreiber »Eckel und Langeweile erregen«, tun sie umgekehrt der ebenso verpönten »Lesesucht Einhalt«9 In Friedrich Nicolais Roman »Sebaldus Nothanker« wird die Konjunktur der Kompendien, schnellgeschriebenen Bücher die »Ruhm und Belohnung« versprechen, ohne daß man in ihnen »Talente zeigt«, dadurch erklärt, daß immer mehr Professoren zu ihren Kollegien anschließend ein »besonderes Kompen-

6 Johann Heinrich Zedier: Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschafften und Künste. Halle und Leipzig 1732-1754. 6. Bd. Sp. 868. Georg Friedrich Meier: Vernunfüehre. Halle 1752. S. 750. 8 Vgl. zum Erfolg der Kompendien und Kompilationen im Zusammenhang mit der Expansion des Buchmarktes: Goldfriedrich, Geschichtes des Deutschen Buchhandels II, S. 307 ff. 9 Heinzmann, Appell an meine Nation, S. 170. 7

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dium der ganzen Wissenschaft« schreiben: »Dies kostet wenig Zeit und Mühe, erfordert auch wenig Talente; und doch gibt es einem bei den Studenten das Ansehen, als ob man die Sachen besser verstehe als seine Vorgänger, und bei der Welt das Ansehen, als ob man ein Buch schreiben könne.« 10 Daß aus Originalitätssucht Kopien hervorgehen können, macht später ein Kritiker zum Zentrum seines Einwandes gegen Kompendien: Weil die Veröffentlichung eines Buches das gelehrte Renomée sichert und fördert und weil jeder Lehrer der Dichtkunst originalitätssüchtig eine eigene Methode des Unterrichts in einem Kompendium niederlegen wolle, vermehrten sich auch die poetischen Lehrbücher unaufhaltsam. 11 Der Verweis auf die Praxis des akademischen Unterrichts, die zunehmend Vorlesung und Diktat durch Lektüre ergänzt, sowie auf die materiell schlecht ausgestatteten Gelehrten, die auf Publikationen zur Sicherung ihrer Stellung, zur Verbesserung ihres Ansehens und zur Erhöhung ihrer Einkünfte 12 angewiesen sind, steht in einer Reihe mit den Versuchen, die >Bücherflut< des ausgehenden 18. Jahrhunderts durch kausale Erklärungen in den Griff zu bekommen; der Rekurs auf die Person des Verfassers und der Hinweis, daß Position und Motivation der Autoren den gelehrten Maßstäben widersprechen, reichen aus, um ihren Schriften mangelnde Qualität zu unterstellen. Bevor sich die Kritik von den Verfasserintentionen abwendet und auf sachlich-systematische Gesichtspunkte richtet, sind unentschiedene Beschreibungen verbreitet, die die Orientierungsschwierigkeiten der Kritiker angesichts des Phänomens der Kompendien und Lehrbücher erkennen lassen. Ob Wissenschaft auf Fortschritt in der Erkenntnis des Wahren, auf Verbreitung in einem Massenpublikum oder auf Bestätigung und Repetition der Tradition angelegt ist, bleibt die vorerst unbeantwortete Frage der Beobachter: Die Menge unsrer sogenannten Compendien oder Lehrbücher hält freilich die Fortschritte der Wissenschaften auf, indem sie ihre Ausbreitung befördert. Aber manches deutsche Compendium eröffnet auch neue Aussichten für die Wissenschaft selbst; und manches Goldkorn neu entdeckter Wahrheit liegt in der unscheinbaren Hülle des Compendienfleißes verborgen. 13

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Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Mit Nachworten hg. von H. Zimmermann und N. Miller. Frankfurt a. M. 1986. S. 81. So Carl August Böttiger in seinem Vorwort zu Anon.: Praktische Anleitung zur Dichtkunst mit sorgfältig gewählten Beispielen für Schulen und Privatunterricht. Nebst einem Vorwort von C.A. Böttiger. Dresden 1829. Charles E. McClelland,: State, Society and University in Germany 1700-1914. Cambridge u.a. 1980. S. 342 f. Anon.: Die schöne Seite der deutschen Literatur. In: Neues Museum für Philosophie und Litteratur 3, 1805, H. 3, S. 93-110, S. 110.

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Eine Wendung gegen die Identifizierung des wissenschaftlichen Fortschrittes mit dem Neuen folgt jedoch auf dem Fuße, wenn der Fleiß in den hier mit Reproduktion und Sammeltätigkeit assoziierten Kompendien gegen die Flüchtigkeit des Neuen, das ebenso schnell veraltet, wie es modern und modisch ist, ausgespielt wird: Die neue Selektivität, die das Neue aufgreift, gerät in Konflikt mit der alteuropäischen Selektivität, die das Stabile vor dem Flüchtigen auszeichnet: Die alte Litanei vom deutschen Sammelfleiße paßt auf die gegenwärtige deutsche Litteratur so wenig, daß eher zu besorgen steht, dieser höchst verdienstliche Heiß möchte außer in Deutschland, wie überall, der modernen Flüchtigkeit weichen, die nur nach dem Neuen, dem Kühnen und dem Interessanten hascht[...].14

Daß gerade die Entdeckung des Neuen einen als stabil begriffenen Hintergrund erfordert, wird im polemischen Rahmen der Debatte nicht erwogen. Aus der Perspektive der philosophischen Kritik gelten Kompendien seit Kant im Gegensatz zu den zuvor vorgestellten unentschiedenen Äußerungen zumeist als schnell, ohne Anspruch auf Originalität und Neuigkeit geschriebene Texte, die lediglich reproduzieren, was bereits bekannt ist, und die, weil sie auf die Überprüfung der Wahrheit verzichten, nur einen flüchtigen Wert haben. Koller, der erste Bibliograph und Kommentator der ästhetischen Handbücher des 18. Jahrhunderts, stellt im Jahre 1799 in seinen rezensierenden Kommentaren bei vielen der aufgeführten Texte den Mangel an Originalität und Neuigkeit fest. So kritisiert er ein ästhetisches Lehrbuch durch den Vorwurf, daß der Verfasser, Eulogius Schneider, »Eschenburg, Sulzer, Steinbart, Eberhard« und andere »fast wörtlich kopirt« habe. Den »Grundbegriffen zur Philosophie über den Geschmack« des Schulmanns Gotthelf Samuel Steinbart, die 1785 und 1786 in zwei Teilen erschienen waren, wirft er vor, der Text sei fast vollständig aus Sulzers »Allgemeiner Theorie der schönen Künste« kompiliert, und über Wilhelm Friedrich Hezels »Anleitung zur Bildung des Geschmacks für alle Gattungen der Poesie« stellt er fest: »Nicht eine eigne Bemerkung von Neuheit und Werth.«15 Diese Kritik verfehlt jedoch die Funktion der Texte, da diese gar nicht den Anspruch erheben, neue und originelle Gedanken zu verbreiten. So gesteht der kritisierte Wilhelm Friedrich Hezel selbst ein, daß er zur Verfertigung seines Textes Eschenburgs Handbuch zur Grundlage genommen und Sulzer, Schütz und andere zur Ergänzung herangezogen habe: »Verdienst such' ich bey diesem Büchlein gar nicht, als das — des Kompilators.«16 Nicht Neuigkeit

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Ebd. Koller, Geschichte und Literatur der Ästhetik, S. 30, 52, 56, 79. Wilhelm Friedrich Hezel: Anleitung zur Bildung des Geschmacks für alle Gattungen der Poesie. 2 Tble. Hildburghausen 1791. S. V.

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und Originalität ihrer Gedanken sind die Maximen dieser Texte, sondern die wiederholende Zusammenstellung des bereits Bekannten, um den Studenten der Verfasser und anderen Lesern ein bequemes Studienwerkzeug in die Hand zu geben, das die verschiedenen Richtungen der Ästhetik und die Verweise auf die einschlägigen Autoren als Kompilation enthält und so den Zugang zur Thematik erleichtert. Kompilationen stehen, wie die Kompendien, zunächst unter einem positiven und einem negativen Vorzeichen: Johann Georg Heinzmann, der in seiner bereits angeführten Polemik »Über die Pest der deutschen Literatur« behauptet, daß die »ungeheure Menge von schlechten Compilationen« ein Charakteristikum der deutschen Literatur sei, führt im Gegenzug den Begriff des »guten Kompilator(s)« ein, dem er »Geschmack und scharfe Beurtheilungskraft« zuschreibt, weil er »die Widersprüche mehrerer sichtet« und »die verschiedensten Meynungen« zu einer«gewissen Harmonie« 17 bringt. Der positive oder auch nur neutrale Sinn der Begriffe, wie man ihn bereits im Artikel »Compilatores« bei Zedier findet, wo Kompilatoren die sind, »die eines andern Meynungen mit den ihrigen mischen und zusammen tragen,« 18 ist mit einem positiven Verständnis der Eklektik verbunden; sie präsentiert die vorhandenen Meinungen vollständig und ausführlich unter topischer Systematik, um von der Frühaufklärung im Zeichen eines eindeutigen Praxisbezugs gegen die professionelle Pedanterie der akademischen Scholastik des späten 17. Jahrhunderts gesetzt zu werden.19 Die Auseinandersetzung zwischen praxisbezogener Eklektik auf der einen Seite, wie sie Thomasius und in dessen Nachfolge Christian Weise formulieren, und der rigiden philosophischen Kritik, die Kant repräsentiert und die auf die systematische Tiefe der theoretischen Argumentation setzt, schlägt sich damit in der Auseinandersetzung um den Status der Lehrbücher und Kompendien der Poetik und Ästhetik nieder. Jean Paul, selbst in vielen Zügen Eklektiker und Gelehrter im traditionellen Sinne des 17. Jahrhunderts, 20 verweist in der »Vorschule der Ästhetik« ebenfalls auf die Vielzahl der bereits publizierten Ästhetiken und gibt als Ursache für ihr Zustandekommen die große Zahl junger Leute an, die den Besuch von Vor17

Heinzmann, Appell an meine Nation, S. 170 f. 18 Zedier, Universal-Lexikon, Bd. 6, Sp. 871. 19 Wilhelm Schmidt-Biggemannn: Zwischen dem Möglichen und dem Tatsächlichen. Rationalismus und Eklektizismus, die Hauptrichtungen der deutschen Aufklärungsphilosophie. In: Ders.: Theodizee und Tatsachen: das philosophische Profil der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1988. S. 7-57. Hier: S. 31 ff. 20 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Vom enzyklopädischen Satiriker zum empfindsamen Romancier. Jean Pauls frühe Entwicklung. In: Jean Paul: Sämtliche Werke. Hg. von N. Miller und W. Schmidt-Biggemann. Abt. II. 4. Bd. München 1985. S. 263-292. Hier: S. 274 ff.

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lesungen der Ästhetik dazu nutzen, alsbald selbst durch die Publikation eines ästhetischen Kompendiums zum Autor zu werden. 21 Für Jean Paul stehen Neues und Altes in Lehrbüchern und Kompendien nebeneinander; dies unterscheidet sie von Büchern, die sich durch den Vortrag von Neuigkeiten auszeichnen: »Sobald ein Lehrbuchmacher irgend etwas Neues zu sagen weiß, so steht ihm eo ipso uneingeschränkt das Recht zu, so viel Altes dazu abzuschreiben, bis er aus beiden ein ordentliches vollständiges Lehrbuch fertig hat.< Die Benutzung dieses so wichtigen Freiheitsbriefs behält sich der Verfasser für die dritte Auflage vor, wo er zu seinen eignen Gedanken so viele fremde [...] abschreiben will, daß der akademische Lehrer ein Lehrbuch in die Hand bekommt [...]. 22

Jean Paul distanziert sich sowohl vom strengen Begriff des geistigen Eigentums als auch von dem Versuch, der überhandnehmenden Bücherproduktion durch die Einschränkung Herr zu werden, eine wissenschaftliche Buchpublikation habe nur dann ein Existenzrecht, wenn sie etwas gänzlich Neues verbreite. Er rekurriert damit auf die traditionelle Wissenschafts- und Gelehrsamkeitsgepflogenheit, die Bücher und Texte nicht allein durch ihre eindeutige genetische Relation zu ihrem jeweiligen Urheber und durch eine Position auf der Skala des Fortschrittes identifiziert, sondern eher daran interessiert ist, wie sich ein Buch durch Referenz auf die gelehrte Tradition in den Kosmos der Gelehrsamkeit und auf der Perfektionsskala einordnet. Die radikale Abkehr von diesem traditionellen alteuropäischen Wissenschaftsverständnis kann man dagegen beispielhaft an Karl Ludwig Pörschke beobachten, einem Königsberger Kantianer. Er reflektiert in der Vorrede zu seinen 1794 erschienen »Gedanken über einige Gegenstände der Philosophie des Schönen« über den Charakter seines Lehrbuches, das er für Hörer seiner Vorlesungen schreibe, weil das »Nachschreiben« störe und unnütz sei, denn es geriete den »Unkundigen« meistens schlecht. 23 Der kritischen Philosophie sind Redeverarbeitungsverfahren wie Diktat und Nachschreiben allemal suspekt, da sie das eigene Nachdenken der Hörer lähmen und die strenge Kritik, die der schriftlich niedergelegten Argumentation bedarf, behindern. Er habe kein »einziges philosophisches Werk, am wenigsten eine Ästhetik« zu Rate gezogen, denn mit seiner Publikation solle die »ungeheure Anzahl gelehrter Werke, oder Compilationen dieser Art«24 nicht vermehrt werden. Die Kontingenzerfahrung 2

1 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Sämtliche Werke. 5. Bd. Hg. von N. Miller. München 1962. S. 22. 22 Ebd., S. 20. 23 Karl Ludwig Pörschke: Gedanken über einige Gegenstände der Philosophie des Schönen. Slg. 1. Libau 1794. Nachdruck Bruxelles 1973. S. 4 f. 24 Ebd., S. 6.

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aufgrund einer Vielzahl auch anders möglicher Publikationen zur Ästhetik übt spürbaren Druck aus, die einzig richtige Art der Ästhetik zu formulieren und alle anderen Möglichkeiten auszuschließen. Der Verzicht auf die Berücksichtigung anderer Schriften zum gleichen Thema, der das Buch jeder Kontinuität entzieht und allen traditionellen gelehrten Verfahren widerspricht, darf jedoch nicht nur durch den Verweis auf eine grassierende Bücherflut gerechtfertigt werden, der man sich durch die Entscheidung entgegensetzt, von ihr nichts wissen zu wollen. Sie muß zusätzlich durch den Beweis begründet werden, daß man von ihr nichts zu wissen braucht: So folgt die Behauptung auf dem Fuß, es sei nämlich »wünschenswerter [...], bald zu wissen was die Lehrer des Geschmacks einstimmig hätten sagen sollen, als das noch einmal zu referieren was sie sich einander widersprechend schon zu oft gesagt haben.«25 Die Abkehr von der gelehrten Tradition und die dafür gegebene Begründung, alle Widersprüche durch die einzig richtige Position aufzulösen, entsteht bei Pörschke aus dem Anspruch der Kantischen Philosophie, die bisherigen theoretischen Bemühungen zu überbieten und damit den Fortschritt für sich zu reklamieren: Anders als die unerträglich kontingenten »Ruinen« der »bisherigen Bemühungen«26, an die niemand anschließen darf, steht »der kritische Weg [...] allein noch offen.« 27

3) Die Kompendien der Poetik und Ästhetik zwischen Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Philosophie und Rhetorik Das Ausspielen der wissenschaftlichen Novität gegen jede Berücksichtigung der Tradition setzt eine ausgeprägte Literalität der wissenschaftlichen Kommunikation voraus, denn nur der Rekurs auf den schriftlich fixierten Text ermöglicht die Wahrnehmung jener Differenz, die Neuigkeit ausmacht. Pörschkes Abkehr vom Kompendienstil impliziert, daß sich der Text seines Buches ausschließlich schriftlich konstituiert und ohne mündliche Ergänzungen in Vorlesungen verständlich ist, denn andernfalls wäre die Wahrnehmung der postulierten Totaldif-

25 Ebd., S. 6. 26 Immanuel Kant: Kriük der reinen Vernunft. Werkausgabe Bd. III, IV. Hg. von W. Weischedel. Frankfurt a. M. 1981. S. 709. 27 Ebd., S. 712. - Dieser Anspruch verwandelt nicht nur die Philosophie in eine permanente Überbietungsanstrengung, sondern auch die Philosophiegeschichtsschreibung, die in der Tradition Thomasius' in Deutschland eine »Darstellung von Meinungen« war, »die teils curios, teils affirmativ beschrieben wurden« in ein strikt teleologischen Unternehmen, das die einzelnen Texte nur wahrnimmt, insofern sie als Stationen auf dem Weg zur allein richtigen philosophischen Position erscheinen. Vgl. Schmidt-Biggemann, Zwischen dem Möglichen und dem Tatsächlichen, S. 39. Vgl. auch Lutz Geldsetzer: Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert. Zur Wissenschaftstheorie der Philosophiegeschichtsschreibung und -betrachtung. Meisenheim a.G. 1968. S. 19 ff.

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ferenz zu allen anderen Texten nicht möglich. Reine Schriftlichkeit als Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlich-philosophischer Novität darf jedoch der literaturdidaktischen Kommunikation des 18. Jahrhunderts nicht schon unterstellt werden, wenn nach ihrer Funktion für die Dichterausbildung und die Beschreibung poetischen Handelns gefragt wird. Die Debatte um Nutzen und Nachteil der Kompendien und Lehrbücher partizipiert an einer Diskussion um den Vorrang mündlicher oder schriftlicher Vermittlung im akademischen Unterricht, die nicht von vornherein als entschieden betrachtet werden darf. Wie sich mündlicher Vortrag, Diktat und selbständiger Gebrauch von Lehrbüchern und Kompendien im akademischen Unterricht zueinander verhalten sollen, ist lange Gegenstand des öffentlichen Nachdenkens von akademischen Lehrern und Philosophen. Dieselbe Frage gerät zudem zum Ansatzpunkt des Streites zwischen Philosophie und Rhetorik um den Primat in der akademischen Welt. Dem Siegeszug der Philosophie über die Rhetorik entspricht die Abkehr von den Kompendien und Lehrbüchern und von allem, was sie leisten konnten. Die Koppelung der Debatte um die Kompendien an die Differenz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit vollzieht Thomas Abbt in seiner Abhandlung »Vom Verdienste«: Im Zusammenhang mit der zunehmend komplizierter werdenden Bestimmung des »Verdienstes« von Schriftstellern, Künstlern und Predigern, das jeweils davon abhänge, welchen »Beytrag zum gemeinsamen Besten«28 sie leisten, etabliert Abbt eine Ebenendifferenz zwischen Regeln und ihrer Theorie, die dem Komplexitätsgefälle zwischen dieser und jenen Rechnung tragen soll: Unsere bürgerlichen Gesellschaften haben so, wie sie jetzt beschaffen sind, eine Menge von Kenntnissen nöthig, die man füglich unter zwo Gattungen bringen kann. Die eine mag die Regeln zur Ausübung der verschiedenen Künste und Gewerbe enthalten: die andre aber die Theorie zu diesen Regeln. Die Regeln selbst können entweder mündlich, wie es noch immer bey tausend Gewerben geschieht; oder schriftlich überliefert werden. Bey der Theorie geht dieses nicht so gut an: und diese scheint unumgänglich einen schriftlichen Vortrag zu erfordern. Man wird nicht einwenden, daß die Regeln ohne Theorie hinreichend seyen; da alle Tage und immer gezeiget wird, wie aus der Theorie die Regeln verbessert werden.29

Dem Unterschied an Abstraktion und Komplexität zwischen den Regeln, die der unmittelbaren Anweisung zur praktischen Ausübung einer Kunst oder eines Gewerbes zugeordnet sind, und der zugehörigen Theorie, die die einzelnen Regeln unter einen Grundsatz zu bringen versucht, entspricht eine Differenz der Vermittlungsmedien. Regeln und Handlungsvorschriften werden vornehmlich der mündlichen Kommunikation zugeordnet, können jedoch im Einzelfall auch

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Thomas Abbt Vom Verdienste. 2. Aufl. Goslar und Leipzig 1766. S. 281. Ebd., S. 293 f.

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schriftlich vermittelt werden. Angewiesen auf schriftliche Vermittlung sind dagegen die Theorien der Regeln, die auf einer höheren Abstraktionsstufe liegen und wegen ihrer komplexeren argumentativen Struktur nur schriftlich formuliert werden können. Damit sind sie zugleich allen situativen und machtabhängigen Klärungs- und Vereindeutigungsmechanismen entzogen: Schriftlich vermittelte theoretische Argumentationen sind prinzipiell der Kritik und dem Deutungsstreit ausgesetzt, während die der mündlichen, situativ determinierten Kommunikation zugeordneten Regeln und Handlungsanweisungen eindeutig erscheinen, da die Situation und die asymmetrische, von Machtunterschieden, -Streitigkeiten und -ausiibung geprägte mündliche Kommunikation die möglichen Mehrdeutigkeiten durch die Gewalt der Präsenz einschränkt.30 Die Beobachtung dieser Differenz zwischen Regeln und Theorie parallel zur Differenz ihrer Vermittlungsmedien legt eine entscheidende Perspektive des Blickes auf die Selbstreflexion der poetischen und ästhetischen Kompendien und Handbücher frei, die es erlaubt, den Status der Handbücher und Kompendien der Ästhetik und Poetik zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, zwischen Didaktik und Wissenschaft, zwischen Eklektik und philosophischer Kritik zu bestimmen und auf die Problematik der Dichterausbildung und des poetischen Handelns zu projizieren. Es ist die Hypothese zu belegen, daß der Schritt vom Kompendium, das an die mündliche Vorlesung gekoppelt ist, zum eigenständigen Buch einhergeht mit dem Schritt von den Regeln der Verfertigung poetischer Werke zur komplexabstrakten Theorie, die Dichtern und Lesern die Prinzipien der Dichtkunst nahebringt, ohne jedoch dem angehenden Dichter Produktionsanweisungen zur Verfügung zu stellen. Andreas Heinrich Schotts Kompendium »Theorie der schönen Wissenschaften« präsentiert sich als Antwort auf Rezeptionsschwierigkeiten der Hörer: Wenn ein Dozent seine Vorlesung nach »eigenem Plane« liest und offen läßt, wieviel dem »künftigen eigenen Studium seiner Zuhörer nach ihrer verschiedenen Bestimmung« überlassen bleibt, vermittelt die reine Vorlesung seinen Hörern vor allem Unsicherheiten. Da »eine Vorlesung ohne Leitfaden [...] einer Seereise ohne Charten« gleicht,31 muß ein dazu gehöriges Lehrbuch vor allem die Gliederung und Ordnung der Vorlesung enthalten. In einer captatio benevolentiae hält Schott fest, daß »Lehrbücher [...] nie als vollendete Werke« angesehen werden und dennoch »gute Aufnahme« finden, »wenn sie einigen Werth haben, wenn sie Wissenschaften betreffen, die noch nicht genug bearbeitet sind und wenig Aufmunterung genießen [...] und wenn sich auf die Nachhülfe ihrer

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Ong, Orality and Literacy, S. 44 f. Andreas Heinrich Schott: Theorie der schönen Wissenschaften. Tübingen 1789/90. S. III f.

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Verfasser mit Wahrscheinlichkeit rechnen läßt.« 32 Die enge Anbindung des Lehrbuchtextes an den mündlichen Vortrag konstituiert ein beiderseitiges Abhängigkeitsverhältnis: Das Lehrbuch verspricht dem Vortrag Gliederung und Ordnung, sein Text aber bleibt auf den Vortrag angewiesen, ohne den er unvollständig und unverständlich bleibt. Das Prädikat der »Vollkommenheit«, das in der zeitgenössischen philosophischen Diskussion im Anschluß an Leibniz und Christian Wolff auf die Einheit des Mannigfaltigen verweist, kann Schott seinem Lehrbuch jedoch nicht zusprechen, weil es auf mündliche Ergänzung und Vervollständigung angewiesen ist und ihm deshalb Einheit und Geschlossenheit fehlen. Die Haltung der rigiden Philosophen, die Neuigkeit gegen Wiederholung und damit Schriftlichkeit gegen Mündlichkeit ausspielen, ist nicht nur den Handbüchern der Ästhetik, sondern vor allem den Poetiklehrbüchern des frühen 18. Jahrhunderts fremd und sollte daher nicht als Kriterium ihrer Bewertung dienen. Kompendien der Poetik sind weder als einzigartige Unternehmungen, die die Tradition der Wissenschaft gar nicht wahrzunehmen brauchen, noch als Texte ausschließlich für die isolierte Lektüre geplant und benutzt worden. Sie nehmen die antike und neulateinische Tradition der Poetik selbstverständlich zur Kenntnis und würden gegen alle gelehrten Standards verstoßen, wenn sie Neuigkeit und Geltung eines Argumentes einander annäherten. Das Alter und die Beglaubigung eines Argumentes tragen im Zusammenhang der gelehrt-rhetorischen Kommunikation viel mehr zu seiner Dignität bei als die abstrakte metaphysische Wahrheit. 33 Die Poetiken entstehen zumeist aus der Praxis akademischer Vorlesungen und sind als Texte lediglich Hilfsmittel für den mündlichen Vortrag: »Ich habe nemlich [...] nun schon eine geraume Zeit [...] verschiedenen Herren Studiosis artium elegantiorum, auf deren Ansuchen/ Collegia académica über die Teutsche Poesie gehalten«34, schreibt der Altdorfer Professor Magnus Daniel Omeis in seiner 1704 erschienen »Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dichtkunst« und nimmt dies als Rechtfertigung für die erneute Veröffentlichung einer Poetik, obgleich es schon einige Bücher dieser Sorte gebe. Die publizierten Texte sind im Vergleich zum mündlichen Vortrag und in Abhängigkeit von ihm zu beurteilen:

3

2 Ebd., S. V f. Joachim Dyck: Rhetorische Argumentation und poetische Legitimation. In: Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.-20. Jahrhundert. Hg. von H. Schanze. Frankfurt a. M. 1974. S. 69-86. Hier: 69-73. 4 3 Magnus Daniel Omeis: Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dichtkunst [...] Nürnberg 1704. Fol. )( )(2v f. 33

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Die Handbücher der Poetik und Ästhetik Der Discours [...] thut so viel zur Sache/ daß ich bey dem gegenwärtigen Buche den Leser alles nicht versprechen kan/ was ich im auditorio selbst zu schaffen gedencke [...], im Lesen würde der Nutz [...] so nicht erfolgen/ als wenn die Pronunciation den Worten selbst das Leben und die Annehmlichkeit zu geben pfleget 3 5

Während aus der Perspektive der kritischen Philosophie, wie sie etwa Pörschke einnimmt, dem gesprochenen Worte keine Aufmerksamkeit gewidmet wird und für die Prüfung der argumentativen Richtigkeit allein der geschriebene Text ausschlaggebend ist, sehen die Vertreter einer rhetorischen Konzeption der Poetik und des akademischen Lehrbuchs im Text nur einen schwachen Abglanz der akademischen Rede, der alle Mittel der Rhetorik zur Verfügung stehen, die den Worten ihre Wirksamkeit verleihen und ihren Einfluß auf das »Gefühl« der Hörer garantieren. Ob dagegen »der Schriftsteller immer sicher seine Endzwecke« erreicht, bleibt für die Verteidiger der Redekunst wegen der »todte(n) Sprache« der Texte durchaus zweifelhaft 36 Andere verweisen geradezu entschuldigend auf die Mühe des Diktierens und Nachschreibens, um die Verfertigung eines Poetikhandbuchs zu rechtfertigen. Der Schluß, daß die Vorlesungen selbst unerheblich seien, liegt ihnen jedoch fern: Solchen edlen Gemüthem nun die Zeit und die Mühe zu ersparen/ welche sie nothwendig auf die Abschreibung dieser Grund=Sätze wenden musten/ wo sie anders die Collegia Poetica mit Nutzen hören wollen/ ist meine einzige Ursache/ daß ich die Resolution ergriffen/ solche unter die Presse zu geben. 37

Die schriftliche Aufzeichnung einer Vorlesung in einem Buch entlastet von »der mit dem Dictiren verbundenen Beschwerde«38 und den Mühen des Nachschreibens, ohne jedoch den professoralen Vortrag überflüssig zu machen. Daß zu den Endzwecken eines Lehrbuches häufig auch die Öffnung des Adressatenkreises auf solche Leser zählt, die »ohne mündliche Anweisung für sich eine Wissenschaft studieren wollen,« 39 führt zu einer weiteren Ausdifferenzierung der Lehrbuchgattungen: Johann Bernhard Basedow definiert in seinem »Lehrbuch prosaischer und poetischer Wohlredenheit in verschiedenen Schreibarten

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36 37 38 39

Christian Weise: Curióse Gedancken von der Imitation, welcher gestalt die Lateinischen Auetores von der studierenden/ sonderlich von der Poliüschen Jugend mit Nutzen gelesen mit gutem Verstände erkläret und mit einer gelehrten Freyheit im Stylo selbst gebrauchet werden. Leipzig 1698. An meine Gesammten Untergebenen. Unpag. Josias Ludwig Gösch: Fragmente über den Ideenumlauf. Kopenhagen 1789. S. 123. Johann Georg Neukirch: Anfangsgründe zur Reinen Teutschen Poesie itziger Zeit [...] Halle 1724. Fol. )(2v. So noch Gotthilf Samuel Steinbart, Grundbegriffe zur Philosophie über den Geschmack, 1. Heft Züllichau 1785. S. X. Ebd., S. XIV.

Kompendien und Kompilationen

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und Werken zu academischen Vorlesungen« auch die einzelnen Arten der Lehrbücher. Die Gattung der Lehrbücher zählt er zu den Gegenständen, die in seinem rhetorischen und poetischen Lehrbuch behandelt werden müssen, so daß dieses sich im Hinblick auf seine Anwendung selbst enthält und beschreibt: Ich nenne ein Lehrbuch, worinnen eine ganze Wissenschaft, oder ein großer Theil derselben vorgetragen wird. Ihre Deutlichkeit als ihre Haupttugend muß sich nach der Absicht richten, die der Verfasser gehabt hat. Und eben dieses gilt von ihrer Kürze und Weitläuftigkeit. Denn einige sind bloß zu Grundsätzen academischer Vorlesungen bestimmt. Diese dürfen weder deutlicher noch weitläuftiger seyn, als daß der Professor dabey gute Gelegenheit finde, alles Nöthige zu sagen, und der Zuhörer, das Gesagte zu wiederholen. Andre werden zwar auch zu Vorlesungen gebraucht; aber der Professor macht in denselben mehr einen Auszug daraus, als daß er sie erweitern sollte. Diese müßten so deuUich seyn, daß sie ein jeder verstehen kann, wer auch keine Vorlesungen darüber gehört hat, wofern er nur die Wissenschaften besitzet, die als vorläufige vorausgesetzet werden. Denn das sind Lehrbücher, die anstatt der Vorlesungen dienen sollen. Es giebt noch andre Lehrbücher, die denen in solcher Wissenschaft schon geübten Lesern in der Absicht bestimmt sind, daß sie hin und wieder die neuen Entdeckungen und besondern Gedanken des Verfassers bemerken, und also ihre Erkenntniß erweitern sollen. Diese dürfen geübten Lesern nur verständlich seyn. 4 0

Die Trias der Lehrbuchgattungen wird jeweils nach Leser- und Vortragsbezug eingeteilt: Die eine soll den mündlichen Vortrag ergänzen, die andere ihn ersetzen. Die eine ist für den Leser gedacht, der in eine Wissenschaft eingeführt werden soll, die andere nützt nur dem, der bereits Grundkenntnisse besitzt und diese erweitem will. Die akademische Didaktik bewegt sich hier zwischen zwei Extremen, die jeweils umschifft werden müssen: Entweder wendet der Student zuviel Zeit für zuviele Vorlesungen auf, oder er bleibt außerhalb der akademischen Kommunikation ohne mündliche Anleitung und ist auf die einsame Lektüre von Büchern angewiesen, ohne zu wissen, was er aus ihnen lernen muß und was er nicht zu wissen braucht. Die empfohlene Kombination mündlicher und schriftlicher Lehrmethoden soll dem Studenten im Sinne der >Privatklugheit< eine vorteilhafte Zeiteinteilung sowie das spätere Selbststudium ermöglichen. Das Verfahren einzelner, ganz ohne Vorlesungsbesuch zu studieren, wird jedoch als das des Autodidakten, »welcher nur bloß aus Büchern, ohne einige mündliche Unterrichtung gelehrt und geschickt zu seyn vermeynet« 4 1 beschrieben und zumeist kritisiert: Das autodidaktische Lernen ohne mündliche Anweisung entwickelt sich im Zuge der Auflösung der gelehrt-exklusiven

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Johann Bernhard Basedow: Lehrbuch prosaischer und poetischer Wohlredenheit in verschiedenen Schreibarten und Werken zu academischen Vorlesungen. Kopenhagen 1756. S. 415 f. 41 Johann Georg Walch: »Autodidactus«. In: Ders.: Philosophisches Lexicon [...]. 4. Aufl. Leipzig 1775. Bd. 1, Sp. 267.

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Die Handbücher der Poetik und Ästhetik

Kommunikationssituation zu einem zentralen Problem, da es akademische Effektivität und Kontrolle bedroht: Autodidakten erheben den Anspruch auf Gelehrsamkeit, ohne den gelehrten Ausbildungsgang durchlaufen zu haben. Da Nur-Leser nicht wissen, daß und wie sie auszuwählen haben, was sie nicht zu lesen brauchen, scheint es legitim, daß das Lehrbuch, die Präsenz des mündlichen Vortrags ersetzend und imitierend, für sie die nötige Auswahl übernimmt, indem es »Sammlungen aus den besten neuem Werken« präsentiert und »Auszüge aus denselben« liefert. 42 Wer mit der Autorität eines akademischen Lehrers behauptet, das Beste und das unter gelehrten Standards Legitime ausgesucht zu haben, kann dem Leser versprechen, ihm eigene Mühen zu ersparen und ihn vor der Gefahr autodidaktischer Abwege zu bewahren. Die Eklektik eines poetischen Lehrbuches dient somit dem praktischen Vorteil des angehenden Dichters, der allein die Klugheit aufbringen muß, sich den Vorgaben des Lehrbuches anzuvertrauen: Es giebt zwar mannichfaltige und gute Anleitungen, oder Anweisungen zur deutschen Dicht= und Versekunst, worinn von unterschiedenen Gattungen der Gedichte gehandelt wird: aber eben die meisten davon sind endweder ihrer Weitläuftigkeit und des hohen Preises halber den jungen Leuten zu beschwerlich; oder ihrer gar zu abstrackten und manchesmal auch gefährlichen Lehrart wegen nicht dienlich [...]. Ich habe also der Nothdurft zu steuern gesucht, und da gegenwärtigen Innbegriff verfertiget, den man meinetwegen auch einen Auszug heißen mag; weil er aus den besten neuern Werken gesammelt und nur hin und wieder, wo es mir nöthig geschienen, mit meinen eigenen Zusätzen veimehrt worden ist. 43

Der Verzicht auf ein »neu erfundenes System«, auf eine »tiefgehende Kunsttheorie« zugunsten des Durchwanderns einer Ebene aus Topoi geht einher mit der ausdrücklichen Zweckbestimmung des zu publizierenden Werkes, das nichts anderes sein soll als »die erste faßliche Anleitung zur schönen Literatur für Jünglinge«. 44 Da Auswahl und Zergliederung der besten Stücke dem mündlichen Unterricht vorbehalten bleiben,45 werden jene Leser von der Unterweisung ausgeschlossen, die den akademischen Unterricht ablehnen oder für

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44 45

Johann Heinrich Faber: Anfangsgründe der schönen Wissenschaften zu dem Gebrauche seiner akademischen Vorlesungen. Mainz 1767. Vorrede, unpag. Vgl. zum Zusammenhang von Autodidaktik und Lehrbüchern jetzt Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a. M. 1991. S. 683 ff. Franz Seraphim Haase: Kurzer Inbegriff der Kenntnisse und Lehrsätze zur Einsicht und Verfassung aller notwendigen Gattungen der Gedichte. München 1778. S. 3 f. Johann Joachim Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, S. 2. Ebd., S. 3.

Kompendien und Kompilationen

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die er nicht zugänglich ist. Es bleibt die Ausnahme, daß ein Lehrbuch der Ästhetik ausdrücklich an »Unstudierte« gerichtet wird.46 Das komplementäre Verhältnis, das Basedow zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit der Kompendien und Lehrbücher etabliert hatte, erstreckt sich auch auf das Verhältnis zwischen Philosophie und Rhetorik. Zwar sind »Deutlichkeit« und »Gründlichkeit«, d. h. Erklärung der Wörter und die Ableitung der Argumente nach »unumstößlichen Gründen« im Anschluß an Christian Wolff die Haupterfordernisse eines guten, d. h. philosophisch-systematisch argumentierenden Lehrbuches,47 doch muß eine »angenehme Schreibart« für die Eingängigkeit des Ganzen sorgen. Mit rhetorischen Mitteln, nämlich der Einkleidung in den traditionsreichen Metaphemkomplex der Reise und des Weges,48 beschreibt Basedow, daß ein Lehrbuch rhetorisch geschickt verfaßt sein kann und soll, damit es seine Wirkung tue: »Sobald man in diesen Schriften hier und da Gelegenheit hat, ohne größere Absichten zu verlieren, etwas schönes zu sagen, so muß man sie nicht versäumen, gleichwie man von einem rauhen Hauptwege gern auf bequemere und angenehmere Fußsteige abgeht, wenn sie uns nur gewiß nicht irre führen, und unsre Reise länger aufhalten, als unsre Absichten leiden.«49 Die traditionelle Beschreibung des Verhältnisses zwischen Rhetorik und Philosophie bleibt unangetastet, denn die Rhetorik steht weiter im Dienste der Philosophie, die sie wie eine >bittere Pille< zu verzuckern hat. Die Metaphorik der Reise dient außerdem dazu, die »Einheit« eines Lehrbuchs zu postulieren. »Es ist eine Reise, der Innhalt der Hauptweg. Man muß nicht immer in Osten, Westen und Norden herumschweifen, und hin und her wandern, wenn man nach Süden will: Aber man kann zuweilen wohl ein wenig zur Seite ausweichen.«50 Die Beobachtung, daß sowohl die Differenz als auch der Zusammenhang zwischen Philosophie und Rhetorik ihrerseits in metaphorischer >Verkleidung< präsentiert werden, bestätigt den Befund Blumenbergs, daß auch die Abkehr von der Rhetorik rhetorischer Tropen bedarf.51 Daraus jedoch prinzipiell auf einen unendlichen, unabschließbaren Signifikationsprozeß zu schliessen, ist zumindest im Falle der Kompendien und Lehrbücher der Poetik und

46

Christian Friedrich Schubart: Vorlesungen über die schönen Wissenschaften für Unstudierte. Hg. von C. G. Ebner. Augsburg 1797. 47 Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit Gesammelte Werke. 1. Abt. Bd. 1. Hg. und bearb. von H. W. Arndt. Hildesheim 1965. S. 224. 48 Vgl. Manfred Frank: Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text. Frankfurt a. M. 1979. 49 Basedow, Lehrbuch prosaischer und poetischer Wohlredenheit, S. 417. 50 Ebd., S. 418. 5 1 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 6, 1960, S. 7-142 und 301-305. Hier S.9-11.

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Die Handbücher der Poetik und Ästhetik

Ästhetik unangemessen, denn diese Textgattung bleibt zunächst Moment einer auf Abschluß angelegten, mündlichen Kommunikation: 52 Ob der Student der Poetik aus Vorlesung und Lehrbuch gelernt hat, beweist er dem Lehrer, dem die Autorität der Beurteilung verliehen ist, dadurch, daß er mehr oder weniger >perfekte< Gedichte verfertigt. Der akademische Lehrer, der seine Poetik- oder Ästhetikvorlesungen einem kleinen, geschlossenen Kreis von Studenten vorträgt, kann als Redner, dem sein Publikum bekannt ist, das externe, situationsbezogene aptum der Rhetorik beachten. Die Situation und das geklärte Autoritätsgefalle zwischen Vortragendem und Zuhörern definieren die kommunikative Methode. Mit Überraschungen, etwa grundlegender Kritik ist erst dann zu rechnen, wenn durch die schriftliche Vermittlung auch Personen erreicht werden, die nicht zu den Vorlesungshörern zählen und die ausschließlich den schriftlichen Text zur Kenntnis nehmen, wenn trotz der Absicht, nur zum Gebrauche der eigenen »Lehrlinge« zu schreiben, viele Reaktionen der »Welt«53 eintreffen. Zu einer solchen unerwarteten Reaktion der Leser zählt vor allem die detaillierte, umfängliche Kritik der einzelnen Argumente und ihrer Prämissen im Hinblick auf Widerspruchsfreiheit; sie ist nur auf der Grundlage des schriftlich fixierten Werkes möglich. 54 So kritisiert Herder in seinen Rezensionen zu den verbreiteten und einflußreichen Lehrbüchern Batteux', Lindners und Riedels die »Methode der Noten, der Noten zu Noten, der Abhandlungen, der Widersprüche« 55 . Nichts werde, so Herder an anderer Stelle, »verworrener geliefert [...], als Lehrbücher der schönen Wißenschaften und Künste«: wo man Poetiken liebt auf dem Boden der Malerei, und Betrachtungen der Malerei liebt, auf den Boden der Poesie gebauet: wo man die Ästhetiken mit Voßius Rhetorik, und die Commentare der Aesthetik mit Baumgartenscher Psychologie füllet. Aus Home Kritik und aus Gerards Abhandlung vom Geschmack, mit andern Schriftstellern versetzt, wird, was jene gar nicht liefern wollten, eine Theorie der schönen Künste und Wißenschaften. 56

Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit der Argumente fallen nur dem auf, der den Text als abgeschlossene Einheit ernst nimmt und ausschließlich seine 52

Vgl. Paul de Man: Semiology and Rhetoric. In: Allegories of Reading. Figurai Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust. New Haven/London (Yale U. P.) 1979. S. 9 ff.: Paul de Man verallgemeinert seine These über die notwendige Pluralität von Lektüren auf die mündliche Kommunikaüon, ohne jedoch deren Vereindeutigungsmechanismen und -konventionen in Rechnung zu stellen. 53 So stellt es Friedrich Justus Riedel in der Vorrede zur zweiten Auflage Wien 1774 seiner 1767 erstmals erschienen »Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Neue Auflage« fest. 54 Ong, Orality and Literacy, S. 78 ff. 55 Herder, Recensionen, Sämmtliche Werke Bd. 5, S. 283. 56 Herder, Kritische Wälder, Sämmüiche Werke Bd. 4, S. 127 f.

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philosophische Validität überprüft. Ein eklektisch-rhetorisches Kompilieren der unterschiedlichen Positionen, die unter philosophischen und logischen Gesichtspunkten inkompatibel sind, ist jedoch, wenn es lediglich um praktische Anweisungen und um das Durchschreiten der topischen Erfahrungsebene geht, - nicht umsonst verwenden viele Verfasser zur Charakterisierung ihres Buches die Reisemetaphorik - durchaus angebracht: Wenn Lehrbücher als Hilfsmittel im Zusammenhang vornehmlich mündlicher Anweisung publiziert werden, die den angehenden Dichter befähigen soll, durch Imitation der Muster und durch die Befolgung der Regeln perfekte Gedichte zu verfertigen, so sind allzu hohe Ansprüche an Konsistenz, Widerspruchsfreiheit und Originalität der Argumentation verfehlt. Die »Annehmlichkeit« des Vortrages, die Basedow hervorhebt, und die Präsenz des Vortragenden spielen eine größere Rolle für den Unterweisungseffekt als die interne Schlüssigkeit der vorgetragenen Argumentation. Wenn jedoch ein Buch, das als Theorie der schönen Künste und Wissenschaften auftritt, seinen Text ausschließlich dazu benutzt, eine komplexe Theorie über die Prinzipien der schönen Künste und die Charakteristika des Geschmacksurteils aufzustellen, so ist eine rigide Kontrolle auf Widerspruchsfreiheit und Fortschrittsbezug impliziert, wohingegen die Dimension der praktischen Unterweisung für angehende Dichter in den Hintergrund tritt. Theorien enttäuschen den, der wissen will, wie man es machen soll. Erinnern wir uns an die Unterscheidung Thomas Abbts: Wenn die mündlichen Vermittlungsformen vornehmlich der praktischen Anweisung, dem Vorführen und Einüben von Regeln dienen, so steht die Prüfung der logischen Schlüssigkeit dahinter zurück. Eine Theorie jedoch, die die Deduzierbarkeit der einzelnen Regeln aus einem übergeordneten Prinzip und ihre immanente Widerspruchsfreiheit erweisen soll, ist auf Schriftlichkeit angewiesen und deshalb auch der Konsistenz und Originalitätsüberprüfung zugänglich; daß gleichzeitig ihre Funktion für die Dichterbildung immer undeutlicher wird, folgt auch aus ihrer opaken Schriftlichkeit: In seiner Rezension des so einflußreichen Werkes von Batteux »Les beaux arts réduits à un même principe« wirft Herder dem Verfasser vor allem vor, daß unklar bleibe, ob und für welche Adressaten der Text als Lehrbuch dienen könne: »Ein Lehrbuch? und für wen? für was für Lehrer? für was für Schüler?«57 Den »Kurzen Inbegriff der Ästhetik, Redekunst und Dichtkunst« von Johann Gotthelf Lindner, der 1771/72 in zwei Theilen erscheint, kritisiert Herder nicht nur, weil es sich »um das dritte Aufwärmen desselben Breis«58 handelt, womit er auf Lindners frühere Arbeiten

57 Herder, Recensionen, Sämmtliche Werke Bd. 5, S. 282. 58 Ebd., S. 370.

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zum gleichen Thema anspielt, sondern vornehmlich, weil Adressaten und Funktion des Textes im Dunkeln bleiben: Wen will der Lehrer bilden? Dichter? Liebhaber? Dichtkünstler? Kritiker? oder gar nur Literatoren? [...] was ist nun wesentlich und was zufällig? was nöthig zuvor zu wissen und worauf kommt man selbst? und worauf muß man selbst kommen, oder man lernts halt schief und verdirbt sich? Endlich sollte doch Plan gemacht seyn: was muß im Lehrbuch stehen, und was wird besser mündlich gesagt oder diktirt? und in welchem Maße muß es hier stehen? 5 9

Mit den Regeln der Poetik, die durch die komplexere Theorie der Ästhetik ersetzt werden, verschwinden auch die angehenden gelehrten Dichter, der urpriingliche, exklusive Adressatenkreis der Poetiken, in einem inhomogenen Publikum, das auch Nur-Leser und Autoren umfaßt, die die gelehrten Standards ablehnen oder gar nicht kennen. Wo zuvor ein Lehrbuch den mündlichen Vortrag lediglich ergänzte und wo dieser Vortrag die Regeln zur Verfertigung eines poetischen Produktes durch Anweisungen und Übungen so vermittelte, daß die Hörer auch zur Verfertigung eines Gedichtes befähigt wurden, übernimmt nun das Lehrbuch Aufgaben, die die Mündlichkeit einer Anweisung unter Anwesenden nicht erfüllen kann; sie wird durch die reine Schriftlichkeit der Theorie ersetzt. Mit der Verlagerung des theoretischen Interesses auf die Reaktion und auf das Urteil der Leser im Zuge der Untersuchung der sinnlichen Erkenntnis wird undeutlicher, ob ein Lehrbuch auf den produzierenden Künstler oder auf den rezipierenden Leser und Betrachter gemünzt ist und ob diese beiden Ausprägungen noch etwas miteinander zu tun haben. Diese Doppeldeutigkeit und Zwiespältigkeit in den Kompendien des poetischen Unterrichts an Universitäten und Schulen ist eine Reaktion auf die mit der Inklusion des Publikums verbundenen Folgelasten: Wenn die Leserschaft potentiell alle umfassen kann, geraten angehende Dichter, aber auch die Leser in Orientierungsschwierigkeiten. Der Poet kann sich nicht mehr an die Regeln halten, die nur auf eine exklusive Gruppe von Adligen und Gelehrten zielten und bei ihnen Anerkennung als Dichter und Gelehrter versprachen. Er muß sich damit auseinandersetzen, daß sich Texte, die durch den expandierenden Buchmarkt an potentiell alle Leser als Kunden gerichtet sind, in ihrer Wirkung nicht mehr kontrollieren lassen, so daß auch die in der Rhetorik enthaltene, auf Erfahrungen mit mündlich-monologischer Kommunikation gründende Rezeptionstheorie ihre Funktion verliert. Parallel dazu nehmen auch die Leser poetische Texte anders wahr: Entweder fehlt ihnen die Kenntnis der gelehrten Standards, so daß sie deren Realisierung nicht beobachten und Texten zu Erfolg verhelfen, die diesen Standards nicht

59 Ebd., S. 375.

Poetische Regeln

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entsprechen, oder aber sie kennen und verteidigen diese Standards, müssen sich aber damit abfinden, daß mehr und mehr Texte publiziert werden und breiten Erfolg haben, die allen gelehrten Regeln widersprechen. Von Texten auf Intentionen zu schließen gerät damit zu einem heiklen Unterfangen. Die Theorie der philosophischen Ästhetik reagiert nicht nur auf die Dissoziation von Autoren und Lesem, die die poetischen Regeln obsolet werden läßt, sondern ist selbst ein Moment in einem Prozeß zunehmender Unwahrscheinlichkeit poetischer Kommunikation. Dies soll im folgenden an den Themen der Regeln, der Muster und des Genies im Detail belegt werden.

C. Poetische Regeln Der Funktionsverlust der Kompendien der Dichtkunst, der Ästhetik, der schönen Künste und Wissenschaften für die Ausbildung der Dichter, der zuvor im Hinblick auf die Rolle dieser Texte zwischen mündlicher Anleitung und schriftlicher Theorie beobachtet wurde, muß nun im inhaltlichen, poetologischen Detail betrachtet werden: Eines der zentralen Themen der Kommunikation über die Lehrbarkeit der Poesie und der Dichtkunst ist das der Regeln, denen ein Dichter folgen muß, die er lernen soll oder von denen er sich in einem genialischen Kraftakt befreit und die er schließlich selbst kreiert. Der Begriff der Regel ist vielschichtig und wird sowohl von den Literaturwissenschaftlern als auch von den Beiträgern der dichtungstheoretischen Diskussion im 18. Jahrhundert in so unterschiedlichen Bedeutungen benutzt, daß die Komplexität der Regelbegriffe durch den Blick auf ihre didaktische und handlungsvermittelnde Funktion reduziert werden muß.

1) Die Mehrdeutigkeit des Regelbegriffs Den engen Zusammenhang zwischen den poetischen Regeln, ihrer Funktion sowie ihrer Verankerung in den Kompendien und Lehrbüchern der Poetik und Ästhetik betonen, verbunden mit einer Kritik an den poetischen Lehrbüchern, so unterschiedliche Denker wie d'Alembert und Fichte: d'Alembert behauptet in der Einleitung zur Enzyklopädie,60 daß »la pratique des beaux arts« vor allem »une invention qui ne prend guère ses lois que du génie« sei, während die »règles qu'on a écrites [...] n'en sont proprement que la partie mécanique«;

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d'Alembert, Discours préliminaire, S. 42.

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Die Handbücher der Poetik und Ästhetik

damit gleichen die Regeln einem »télescope«, das allein für diejenigen von Nutzen ist, die bereits sehen können. Johann Gottlieb Fichte setzt einen anderen kritischen Akzent und behauptet, daß sich die Regeln der Kunst, wie sie in den Lehrbüchern formuliert sind, nur auf »das Mechanische der Kunst« beziehen: »Sie müssen im Geiste gedeutet werden, und nicht nach den Buchstaben.« 61 Beider Kritik an den Lehrbüchern und den darin schriftlich aufgezeichneten Regeln der Künste im Zeichen einer vorhergehenden Fertigkeit und des individuellen Geistes und Genius zwingt zur Frage nach der Bedeutung des kontrastiv benutzten Regelbegriffs: Die Funktion der Kunstregeln muß deutlich werden, bevor verständlich ist, wieso der Rekurs auf das Genie, auf die Person des Dichters und ihr selbstreferentielles Bewußtsein erfolgreich ist. Es gilt zu erklären, warum im Laufe des 18. Jahrhunderts nicht nur einzelne Regeln der Poetik in Frage gestellt werden, sondern die Geltung poetischer Regeln generell in den Fokus einer radikalen Kritik gerät. Die Unterscheidung zwischen Regeln, die aus dem »Endzweck der Dichtung« hergeleitet werden, und Regeln, die bloß »das Mechanische, die äußere Regelmäßigkeit, oder das Zufällige betreffen,« 62 ersetzt im Laufe des 18. Jahrhunderts das, trotz aller Unterschiede zwischen einzelnen Autoren, geschlossene Regelwerk der Poetik und verweist auf eine fundamentale Umorientierung der poetischen Theorie: Sie sucht nach einer Grundlegung der Dichtkunst, die den weitreichenden Veränderungen der literarischen Kommunikation im Zuge der Auflösung der Gelehrsamkeit Rechnung trägt. Daß mit der Kritik an den poetischen Regeln zugleich die Tradition der Poesie attackiert wird, die sich der gelehrte Dichter nicht nur aneignen, sondern die er in jedem seiner Texte aufrufen und präsent werden lassen muß, wird die genaue Betrachtung der formularischen Regelkonzeption zeigen, die in den Poetiken eine enge Verbindung zwischen Traditionsvermittlung, Anweisung und poetischer Praxis der angehenden Poeten herstellt. Die Geschichte der literaturtheoretischen Debatten im 18. Jahrhundert wird von der Literaturwissenschaft zumeist als eine Geschichte der Befreiung aus der Zwangsjacke strenger Regeln rekonstruiert. Statt dessen finde das Genie die Regeln in sich selbst und setze diese gegen die in den Lehrbüchern schriftlich fixierten Regeln durch. 63 >Individualität< und > Subjektivität sind in den letzten 20 Jahren ähnlich wie der Irrationalitätsbegriff 64 in den 20er Jahren dieses Jahr-

61 62 63 64

Johann Gottlieb Fichte: Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie. In: Sämmtliche Werke. Hg. von J.H. Fichte. 8. Bd. Berlin 1846. S. 270-300. Hier: S. 299. Eschenburg, Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, S. 42. Nivelle, Literaturästhetik, S. 67 ff. Vgl. Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft Nachdruck der 2. durchgesehenen Auflage. Tübingen 1967. Mit einem Nachwort zum Neudruck 1967. Darmstadt 1974. S. 37 f.

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hunderte die Schlüsselbegriffe der wissenschaftlichen Bemühungen, die Abkehr von den poetischen Regeln zu beschreiben: Die Befreiung von den alten und die Besinnung auf »geniale« Regeln wird mit dem »Weg vom Hofdichter und vom poetisch kompetenten Mitglied der Gelehrtenzunft zum autonomen, sein Selbstbewußtsein ganz auf seine Schöpferkraft gründenden Dichter« parallelisiert; trotz der bestehenden »Zwänge des literarischen Marktes« werde im Geniegedanken ein »Moment der Befreiung« mitideologisiert: »Darüber hinaus fördert dies Denken (das Geniedenken; K. S.) die Freisetzung der Subjektivität überhaupt bis hin zur Lösung von allen geschichtlich-gesellschaftlichen Bindungen.« 65 Die diesen Bemerkungen zugrundeliegende Vorstellung, Subjektivität und Individualität seien substantiell stets vorhanden und müßten nur von ihren Fesseln befreit werden, zeugt von einer unzureichenden Wahrnehmung der Veränderungen der literarischen Kommunikationsbedingungen. Betrachtet man Subjektivität und Individualität des einzelnen weniger als zu befreiende Gefangene der Tradition, sondern als erfolgversprechende Optionen des Dichters, der sich unter den neuen literarischen Kommunikationsbedingungen zu behaupten sucht, sieht man zugleich, daß die Ansiedelung der poetischen Praxis »jenseits der Höfe und der Gelehrtenkreise«66 und die Emanzipation des Dichters aus den Bindungen der gelehrten Kommunikation Folgelasten und Orientierungsprobleme mit sich bringt.67

2) Poetische Regeln als Handlungsformulare Die heutigen wissenschaftlichen Beobachtungen schließen eng an Formulierungen an, die bereits die zeitgenössischen Beobachter benutzen: Schon im Jahre 1801 findet man die anonyme Feststellung, man rechne »es überall unserem Zeitalter zum Verdienst« an, »daß unsere Dichter sich von dem Zwange angenommener Regeln und bestimmter Formeln losgemacht haben.« 68 Die kommunikative Konstellationsveränderung, die den Zeitgenossen diese Wahrnehmung ermöglicht und nahelegt, bleibt jedoch von einer Forschung, die solche Beobachtungen einfach übernimmt, unbemerkt. Der anonyme Gewährsmann rekurriert mit dem Begriff der »Formel« auf eine Besonderheit der poetischen und rhetorischen Regeln, die sprachliche Äusserungen als Handlungen be-

65

Gerhard Sauder: Geniekult im Sturm und Drang. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 3. Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789. Hg. von R. Grimminger. München 1980. S. 327-340. Hier: 331. 66 Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, Bd. 2, S. 24. 67 Jaumann, Emanzipation als Positionsverlust, S. 48 ff. 68 Anon.: Ueber Formen und Regeln in der Poesie. In: Eunomia 1801. 1. Bd. S. 123-133.

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schreiben: Die Begriffe »Formel« und »Formular« werden im Sprachgebrauch des 17. und 18. Jahrhunderts als »Muster und vorgeschriebene Weise einer Handlung, Schrift oder Rede« 69 definiert. Nicht nur mündliche, sondern auch schriftliche Äußerungen werden durch die Beachtung vorgegebener Formulare zu rechtskräftigen Vollzügen von Handlungen: Es ist von alten Zeiten her kein Volk, welches nicht bey allerhand Verrichtungen, z.E. bey Hochzeiten, Begräbnissen, in Gerichts-Sachen, im kauffen und verkauffen u.s.w. ihre besondere und eingeführte Ceremonien und Gebräuche, sondern auch ihre verordnete und beliebte Formeln hatte, wodurch die Handlung erst vollzogen und gleichsam rechtskräftig wurde. 70

Die Deutung der poetischen Regeln, die in den Hand- und Lehrbüchern der Poetik untrennbar mit Beispielen ihrer Anwendung aus der gelehrten Tradition verbunden sind, als Formulare, in die der angehende Dichter nach Anlaß und aptum Handlungen >einzutragen< hat, zeigt, daß der poetische Text in der gelehrten Kommunikation als schriftliche Handlung erscheint, die den Anspruch des Autors, als Poet anerkannt zu werden, gemäß den Konventionen der exklusiven Gelehrtenschaft rechtskräftig präsentiert. Zugleich bleibt die Nähe der Poesie zur mündlichen Kommunikation gewahrt, denn die Texte präsentieren ihren Verfasser als quasi-anwesenden Akteur, der die Konventionen seines Standes auszufüllen versucht. 71 Daß die »Dicht- und Redekunst [...] allen Gelehrten unentbehrlich« sei, »wenn sie sich in ihrer Denkungssart von dem Pöbel« unterscheiden wollen, 72 ist bis in das 18. Jahrhundert hinein Prämisse aller Beschreibungen des Dichters und der Dichtkunst. Der Poet wird innerhalb des rhetorisch-gelehrten Kommunikationszusammenhangs als Handelnder beschrieben, dessen komplexe Intentionen auf die Absicht reduzierbar sind, sich durch die Verfertigung poetischer Texte als Gelehrten zu charakterisieren. Die Vorschriften und Regeln, die die Handlungen des Dichters in richtige und falsche differenzieren, und alle anderen Faktoren, die für das Zustandekommen eines poetischen Werkes verantwortlich sind, werden mit Hilfe der Differenz von Natur und Kunst

69

Zedier, Universal-Lexicon Bd. 9, Sp. 1515. - Vgl. Frese, Prozesse im Handlungsfeld. S. 16. ° Ebd., Sp. 1511. 71 Vgl. dazu jetzt Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990. S. 80. - Vgl. den guten Überblick zur Sache und zur Forschung bei Ursula Geitner: Die "Beredsamkeit des Leibes". Zur Unterscheidung zwischen Bewußtsein und Kommunikation im 18. Jahrhundert. In: Das achtzehnte Jahrhundert 14, H. 2, 1990. S. 181-195. 72 Heinrich Braun: Anleitung zur deutschen Dicht- und Verskunst. München 1765. 2. verb. AuH. 1775. 3. Aufl. 1778. S. )(2. 7

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formuliert; die poetischen Regeln sind eindeutig der Kunst zugeordnet: »Eine Kunst ist eine Sammlung von Regeln über die Art und Weise ein Ding gut zu machen, was sich gut oder schlecht machen läßt.« 73 Die Einheit der Differenz Kunst-Natur manifestiert sich sowohl am poetischen Text, der als Resultat individueller Inspiration, angeborener Fähigkeiten und der kunstgerechten Befolgung der Regeln der Poetik angesehen wird, als auch an der Person der Verfassers. Eine Person wird nämlich zu Recht ein Dichter genannt, wenn sie nicht nur »die worte und syllaben in gewisse gesetze zue drängen/ und verse zue schreiben« fähig ist, sondern wenn sie außerdem »von sinnreichen einfallen und erfindungen« ist, ein »grosses unverzagtes gemüthe« hat und »hohe sachen bey sich erdencken« kann. 74 Die Differenz von res und verba wird auf der einen Seite dem Bereich der ligatio und der Prosodie, d. h. der Sphäre von Metrum, Reim und Vers, und auf der anderen Seite dem Bereich der inventio, d. h. dem Suchen und Finden thematischer Materialien zugeordnet. Die Poetiken enthalten im Normalfall Regeln, die beide Bereiche abdecken und deren Befolgung den Zugang zum Dichterstand eröffnet. Zu den Topoi aller Lehrbücher der Poetik gehört die auf das Sprichwort poeta nascitur non fit verweisende Versicherung, daß die Beachtung der in den Poetiken enthaltenen Regeln und Beispielen nicht hinreichend sei, um Dichter zu werden: bin ich doch solcher gedancken keines weges/ das ich vermeine/ man könne iemanden durch gewisse regeln vnd gesetze zu einem Poeten machen. Es ist auch die Poeterey eher getrieben worden/ als man je von derselben art/ ampte vnd zuegehör/ geschrieben: vnd haben die Gelehrten was sie in dem Poeten (welcher Schrifften auß einem Göttlichen antriebe vnd von natur herkommen/ wie Plato hin vnd wieder hiervon redet) auffgemercket/ nachmals durch richtige Verfassungen zuesammen geschlossen/ vnd aus vieler tugenden eine kunst gemacht. 75

Die Betonung der zeitlichen Priorität der poetischen Praxis vor der poetischen Lehre und der Verweis auf den göttlichen Einfluß, unter dem die Dichter stehen, werden wieder einmal gegen die erlernbaren Regeln der Dichtkunst angeführt, um zu demonstrieren, daß der Dichterstand nicht allen Personen offen steht. Erst eine exklusive, angeborene Begabung bzw. ein exklusiver göttlicher Einfluß machen den einzelnen zum Mitglied des Poeten- und Gelehrtenstandes. Martin Kempes Anmerkungen zu Georg Neumarks Poetischen Tafeln z. B. präsentieren und entfalten das gesamte im 17. Jahrhundert verfügbare Bil-

73

So noch Batteux, Einleitung in die schönen Wissenschaften, mit Zusätzen von K.W. Ramler, S. 10. 74 Opitz, Buch von der deutschen Poeterey, S. 348 f. 75 Ebd., S. 343.

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dungsgut zur Horazischen Frage «natura an arte« 76 , die sie durch Amplifikation evozieren. Es gehört zum rhetorischen Lob, zur Legitimation und zur Verteidigung der Poesie als charakteristischer Praxis der Mitglieder des Gelehrtenstandes zu behaupten, daß für sie eine natürliche Anlage unabdingbar ist. Das Postulat des nascitur verhindert, daß die ständische Ordnung zerstört wird, indem ein Angehöriger der Unterschichten, der durch gelehrte Kunstfertigkeit vorgeben kann, Dichter zu sein; als Poet anerkannt wird, während er doch als >Pritschmeister< und >Verseschmied< zum >Pöbel< zählt: Bey einem ieglichen/ der sich einer Kunst ergeben will/ werden nach Außage der Weltweisen/ dreyeriey erfordert Nemlich die Natur/ die Unterweisung und die Übung. In allen anderen Wissenschafften können die zwo letzten Stücke viel verrichten/ In der Poesie aber wird nothwendig die natürliche Neigung vorangesetzt.77

Martin Kempe zitiert aus Cicero, Ovid, Horaz, Opitz und anderen gelehrten Autoritäten, um die Aussage zu untermauern, daß »die Kunst [...] vollkommen« macht, »was die Natur angefangen,« 78 und stützt sich dabei auf die kanonische Formulierung in Horaz' Lehrgedicht »De arte poetica«: »Natura incipit, Ars dirigit, Exercitatio perficit«. 79 Besonders deutlich akzentuiert Barthold Feind die gelehrte Konstellation von Regeln, praktischer Regelbefolgung und der Anerkennung als Poet in seinem Traktat »Von dem Temperament und Gemüths=Beschaffenheit der Poeten« aus dem Jahr 1708, der auf die Temperamenten- und Affektenlehre Buddes, Stahls und Thomasius' rekurriert: 80 Er formuliert die topische Behauptung, daß die Kenntnis und die Befolgung der poetischen Regeln für den Dichter zwar notwendig, aber nicht hinreichend sei, als Negation: »Alle Regeln sind auch nicht gleich Gesetze/ wie die Regeln zwar verhindern/ daß einer kein méchanter Poet sey/ aber nicht vermögend/ einen guten zu machen.« 81 Die demonstrative Beachtung der poetischen Regeln, mit der sich der Poet in Formulare der Gelehrsamkeit einträgt und in das gelehrte Kontinuum einschreibt, ist zwar für die Anerkennung der Zugehörigkeit zum Dichter- und Gelehrtenstand nötig, muß aber durch die angeborene, exklusive Begabung ergänzt werden, für die es keine eigenen Kriterien gibt; die Regelverletzung dagegen führt garantiert, sobald sie

76

Horaz, De arte poetica, 408. Martin Kempe: Anmerkungen zu: Georg Neumark: Poetische Tafeln oder Gründliche Anweisung zur Teutschen Verskunst. Jena 1667. Nachdruck Frankfurt a. M. 1971. Mit einem Nachwort hg. von J. Dyck. S. 4. 78 Ebd., S. 5. 79 Horaz, De arte poetica, 410 f. - So auch Neukirch, Anfangs-Griinde zur Reinen Teutschen Poesie Itziger Zeit, S. 10. 80 Vgl. dazu Grimm, Literatur und Gelehrtentum, S. 520 f. 81 Feind, Von dem Temperament und Gemüths=Beschaffenheit eines Poeten, S. 92. 77

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über die licentia poetica hinausgeht und als Regelignoranz erscheint, dazu, daß einer nicht mehr als gelehrter Dichter gilt: Wer »wider die Natur und die Regeln der Alten« schreibt, ist, so die anonyme »Breslauer Anleitung«, lediglich ein »Verse=Macher« und kein Poet. 82 Diese anonyme Anleitungspoetik aus dem Jahr 1725 rekurriert ebenfalls noch auf die ständisch-zünftige Argumentationsfigur, die den rechten Poeten vom »Reim=Schmied« 83 und >Pritschmeister< unterscheidet. Zu den Charakteristika des gelehrten Poeten gehört es, den Regeln zu folgen, die, bei den Alten vorgefunden, die antike und gelehrte Tradition implizieren. Das barock-gelehrte Dichtungsverständnis koppelt die Regeln, denen ein Dichter folgen muß, wenn er seine Zugehörigkeit zum Gelehrtenstand beweisen will, mit einer angeborenen, exklusiven Begabung, um zu garantieren, daß nicht alle Poet werden können. Sobald jedoch diese Einheit von ars und natura aufbricht, weil den Kunstregeln im Zeichen emanzipativer Aufklärung und steigender gesellschaftlicher Mobilität die Funktion zugewiesen wird, Begabungsdefizite zu kompensieren, unterliegt auch die gelehrte Dichtungskonzeption einer fundamentalen Transformation: Was von vernunfftigen Menschen geschickt vorgebracht wird/ daß andere nicht so gleich aus ihrem blossen naturel nachfolgen können/ da muß die Vemunfft auf einer Regel beruhen/ welche sich durch fleißiges Nachsinnen leicht hervor suchen lässeL 84

Unterschiede in der Geschicklichkeit der einzelnen erscheinen nicht allein als angeborene Differenz, sondern sind auch als Differenz des Regelfolgens zu deuten, die durch Einsicht und Training nivelliert werden kann. Diese These Christian Weises öffnet Personen, die nicht im Gelehrtenstand geboren sind, den Weg zum Poetenamt und entspricht damit seinem pädagogischen Programm, höfisch-gelehrte Karrieren auch über Standesgrenzen hinweg zu ermöglichen. Zugleich entwertet sie die etablierten Standards und Kriterien der Poetik, die es erlauben, am poetischen Text seinen Verfasser zu erkennen, ihn als Mitglied der Gruppe anzuerkennen oder als >Pritschmeister< abzuqualifizieren. Weises Poet ist nämlich primär als eine karrierebewußte Person zu beobachten, die das Wohlwollen höhergestellter Personen für sich gewinnen will, während die Absicht, durch poetisches Agieren als Gelehrter anerkannt zu werden, in den Hintergrund tritt. Weise verweist nicht auf die einzelnen Regeln, sondern auf die menschliche Vernunft als Legitimationsinstanz für alle Regeln

82

Vgl. Anon.: Anleitung zur Poesie darinnen ihr Ursprung/ Wachsthum/ Beschaffenheit und rechter Gebrauch untersuchet und gezeiget wird. Breßlau 1725. S. 103. 83 Ebd., S. 105. Weise, Imitation, S. 60 f.

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der Poetik, die dadurch einem allgemeinen, übergeordneten Prinzip unterworfen werden und zugleich auf die Wirkung bei den Adressaten der Dichtung zielen. Die kommunikative Umstellung, die dieser argumentative Zug mitvollzieht und zur Folge hat, manifestiert sich bei der Beobachtung der poetischen Komplementärrolle, der Leser und des Publikums. Die Befolgung der poetischen Regeln, wie sie in der gelehrten Kommunikation fungieren, dient als Ausschlußkriterium für Personen: Wer mit einem Text die Regeln ignoriert, ist kein Poet. Diese kommunikative Konstellation setzt ein festes Gefüge voraus, das Leser und Autoren über gemeinsam unterstellte Erwartungen und Maßstäbe miteinander verbindet und ihre Beobachtungen aneinander zu koppeln erlaubt. Nur dort reicht die Formulierung der für den Poeten geltenden Regeln hin, um die Kontinuität der Kommunikation zwischen Publikum und Dichter zu gewährleisten: Beide Parteien können sich auf die in den Lehrbüchern der Poetik schriftlich fixierten und ausformulierten Regeln berufen, die im gelehrten Schulunterricht durch Anweisung und praktische Übungen vermittelt werden, um in eine Auseinandersetzung über die Qualität eines Gedichtes oder eines anderen poetischen Produktes einzutreten. Dort hingegen, wo zunehmend Werke Erfolg haben, die nicht in die bekannten Wahrnehmungsschemata passen, weil sie vornehmlich in Prosa geschrieben sind oder sich als Roman etikettieren 85 und wo die Bücher quantitativ so überhandnehmen, daß kein einzelner sie mehr überschauen kann, wird die Kommunikation über Texte, die zugleich immer auch eine Kommunikation über Personen ist, überkomplex und unberechenbar. Wo auch ungelehrte Personen lesen, schreiben und durch ihre Urteile und Kaufentscheidungen die Kommunikation über Dichtung, Bücher und Worte mitbestimmen, können die gelehrten Kriterien nicht mehr in Geltung gehalten werden, weil der undurchsichtige »Geschmack« eines Publikums ins Spiel kommt, das die gelehrten Standards ablehnt oder nicht mehr kennt: Dieser Geschmack verletzt nämlich das Exklusivitätsprinzip der Gelehrsamkeit, das Daniel Heinrich Arnoldt selbst noch im Zusammenhang einer demonstrativischen, d. h. an der Leibniz-Wolffschen Metaphysik orientierten Legitimation der poetischen Regeln formuliert: Ob an einem Gedichte etwas auszusetzen, was ihn (!) fehle, und woher der Fehler gekommen, kann keiner so gut wissen, als der selbsten ein Poet ist, das ist, weis, was zu einem Gedichte gehöret, und selbsten Gedichte verfertiget hat. 86

85 86

Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blankenburg. Stuttgart 1973. S. 2, 127 ff. Amoldt, Versuch einer nach demonstrativischer Lehrait entworfenen Anleitung zur Poesie der Deutschen, S. 7.

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Besonders früh kann man das Aufbrechen dieser poetologischen Konstellation in England und Frankreich beobachten, wo die Oberschichten bereits im 17. Jahrhundert mit der gelehrt-humanistischen Tradition brechen und wo Bürgerliche früh den Zugang zur Dichtkunst finden. Im Kontext der adligen Salons und des großstädtischen Theaterlebens bestimmt in Frankreich eine wechselhafte, von der Mode des Tages geprägte Oberschichtenkommunikation, - »la cour et la ville«87 - , die sich von den Kriterien der Gelehrsamkeit gelöst hat, über den Erfolg einzelner Werke und zieht damit den gesamten Regelkomplex der gelehrten Tradition in einen Sog des Zweifels. Neubegründung und Homogenisierung der Regeln ist die Hauptaufgabe der englischen und französischen Literaturtheorie. Auf die in diesem Zusammenhang formulierten Argumente beziehen sich die deutschen Theoretiker, die sich jedoch weniger mit dem Wandel der Kommunikation in den Oberschichten, sondern mit dem Phänomen eines Publikums auseinandersetzen, das sich zunehmend auch aus Personen niederen Standes zu rekrutieren scheint.88

3) Poetische Regeln, Homogenisierung des Publikums und Automatismen der Wirkung Der Appell an die Vernunft in Boileaus L'art poétique - »la Raison« - , die die Regeln der Poesie garantiere und legitimiere,89 dient zwar der Verteidigung der Alten und der Rechtfertigung der antiken Tradition, die Boileau mit der Imitation von Horaz' »Ars poetica« evoziert, führt aber zu einer veränderten poetologischen Argumentationsstruktur: Der Hinweis auf allgemein geltende Regeln und auf den allgemeinen Geschmack der Menschen steht im Dienste einer neu zusammengesetzten literarischen Oberschicht, die die Maßstäbe der gelehrten Kenner, der alten literarischen Elite, durchbricht: Un ouvrage a beau être approuvé d'un petit nombre de connoisseurs; s'il n'est plein d'un certain agrément et d'un certain sel propre à piquer le goût général des hommes, il ne passera jamais pour un bon ouvrage, et il faudra à la fin que les connoisseurs eux-mêmes avouent qu'ils se sont trompés en lui donnant leur approbation. 90

87

Nicolas Boileau-Despréaux: Art poétique - Die Dichtkunst. Hg. von R. Schober. Halle (Saale) 1968. III, 391. - Vgl. Erich Auerbach: Das französische Publikum des 17. Jahrhunderts. München 1933. S. 24. 88 Vgl. Jochen Schulte-Sasse: Literarischer Markt und ästhetische Denkform. Analysen und Thesen zur Geschichte ihres Zusammenhangs. In: LiLi 2, 1972, S. 11-31. Hier: S. 27. 89 Boileau-Despréaux, Art poétique, III, 43. 9 Ebd., Préface. Edition de 1701. S. 6.

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Diese Verallgemeinerung poetischer Maßstäbe wirkt jedoch nur nach innen egalitär, nach außen aber elitär, denn es kann keine Rede davon sein, daß Boileau mit dieser Bemerkung bereits das Rezeptionsverhalten ungelehrter Unterschichten berücksichtigt. Der Anspruch, alle anderen auf die eigenen, angeblich der allgemein menschlichen Vernunft entsprechenden Maßstäbe verpflichten zu können, überspielt die Tatsache, daß auch Boileaus allgemeiner Geschmack der Geschmack eines exklusiven Publikums ist. Boileaus Unterstellung der poetischen Regeln unter den allgemeinen Maßstab der Vernunft ist weiterhin produktionsorientiert; sie hilft den Autoren, die Kontrolle über ihre Texte zu behalten, da die Reaktion der Leser auf Vernunft fixiert wird. Im Konzept der »Raison« konvergieren literarische Produktions- und Rezeptionsregeln. Dies gilt selbst für den anvisierten Fall, daß »un esprit vigoureux [...] sort des règles prescrites, et de l'art mesme apprend à franchir leurs limites.«91 Das Prinzip der Vernunft etabliert nämlich zugleich auch eine Hierarchie von Regeln, die den Verfasser in Zweifelsfällen zu der Entscheidung führt, ob eine Regel zugunsten einer anderen Regel im Zeichen der übergeordneten Vernunft durchbrochen werden kann, ohne daß der allgemeine Geschmack darauf negativ reagiert. Sobald aber die Konvergenz von Produktionsund Rezeptionsmaßstäben wie ein unerfüllbares Postulat erscheint, weil der breite Publikumserfolg weder vorhergesagt noch nachträglich expliziert werden kann, fallen die verallgemeinerten und unter dem Vernunftbegriff homogenisierten Produktionsregeln unter skeptischen Verdacht: Literarischen Erfolg zu erzielen, ist dann ein »je ne sçay quoy, qu'on peu beaucoup mieux sentir, que dire.« 92 Bei Gottsched, der seine »Critische Dichtkunst«, wie Boileau die »Art poétique«, in die Nachfolge von Horaz' »Ars poetica« stellt, läßt sich die Funktion des Rekurses auf die menschliche Natur besonders gut beobachten. Das Festhalten an den »Regeln und Lehrsätze(n) des griechischen und römischen Alterthums« begründet Gottsched zunächst damit, daß diese »wohl gegründet« seien, denn »die Natur des Menschen [...] ist noch eben dieselbe, als sie seit zweytausend Jahren gewesen: und folglich muß der Weg, poetisch zu gefallen, noch eben derselbe seyn, den die alten dazu so glücklich gewählet haben.«93 Das Postulat einer gemeinsamen menschlichen Natur verbürgt die Gültigkeit der etablierten Regeln. Gottsched verläßt sich auf das Kriterium rhetorischer Wirkung; weil sie im Fall der antiken Muster über die Zeit hinweg Konstanz auf-

91 Ebd., IV, 79 f. 92 Ebd., Préface. Edition de 1701. S. 6 - Vgl. dazu August Buck: Einleitung zu Nicolas Boileau: L'art poétique. München 1970. S. 28. 93 Gottsched, Versuch einer critischen Dichtkunst, S. VIII-X.

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weist, wird sie in eine Konstanz der menschlichen Natur umgemünzt, die das Publikum homogenisiert und auf potentiell alle Personen ausdehnt. Andererseits stellt er im Sinne gelehrter Exklusivität fest, daß über den Künstler und Poeten nur der Künstler urteilen dürfe, nicht der >PöbelMasken< des Autors im Text zu lüften versucht. Die Beachtung der Regeln im dichterischen Text demonstriert nicht mehr die Zugehörigkeit des Dichters zum Gelehrtenstand, sondern macht die Poesie zu einem universellen Manipulationsinstrument, dessen sich alle bedienen können und dem alle Leser solange ausgesetzt sind, bis sie Verdacht schöpfen und die verzweifelte Suche nach dem Autor hinter seinem Text aufnehmen. Daß auch die Gegenkonzeption eines individuell-genialischen Schreibens, das die Manipulation durch den Dichter auszuschließen behauptet und zugleich die Präsenz des Autors als unverwechselbares Genie durch den Text selbst zu sichern vorgibt, mit Deutungsproblemen der Leser und für die Autoren mit Orientierungsverlusten verbunden ist, wird alsbald die Untersuchung des Geniekonzepts zeigen. Bei Gottscheds Gegner Johann Jacob Breitinger läßt sich wie bei Brämer eine doppeldeutige Regelkonzeption beobachten. Nachdem Breitinger in seiner »Critischen Dichtkunst« den Poeten »als einen weisen Schöpfer einer neuen idealischen Welt oder eines neuen Zusammenhanges der Dinge« bezeichnet hat, wobei die Schöpfung dieser idealischen Welt im Dienste einer Hauptabsicht steht und die gelungene Zweck-Mittel-Verknüpfung über die »Vollkommenheit« eines »Gedichtes« entscheidet,126 fährt er mit einem Hinweis auf die Vielfältigkeit der »besonderen Absichten« der Dichter fort und vollzieht damit die Abkehr von der gelehrten Handlungsbeschreibung des Dichters, die die Komplexität poetischer Intentionen auf die Absicht reduziert, als Dichter anerkannt zu werden: Da nun die besondern Absichten eines verständigen Scribenten unendlich verschieden seyn können, indem er seinen Haupt=Zweck durch die Verbindung so unendlich vieler und verschiedener Eindrücke zu befödem suchen muß, so sind auch die Gesetze und Regeln, nach welchen sich das Unheil in der Wahl der Umstände richten muß, eben so unzehlbar und unendlich verschieden, als die besondem Absichten sind, so diese Wahl bestimmen. 127

Gerade weil sich Breitinger nicht so ausdrücklich wie Brämer auf die unvermerkte Mitteilung, Belehrung und Überredung als allgemeine Endzwecke der Dichtkunst festlegt, wird die Konsequenz einer Definition der Poesie über das Kriterium der Fiktion deutlich. Handlungen werden als intentional aufgefaßt, und Erdichtungen dienen dazu, diese Intentionen zu verwirklichen; doch wie die Präsentationen des Abwesenden vollzogen, wie die »Umstände«, d. h. die neuen Zusammenhänge der Dinge, gestaltet und ausgewählt werden müssen, kann nicht durch Regeln festgelegt werden. Wenn die individuellen Absichten

126 Breitinger, Critische Dichtkunst, S. 426. 127 Ebd., S. 429.

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der Dichter infinit und unterschiedlich sind, ist es unmöglich, ein für allemal eine Liste abzählbarer und zugleich konkreter Handlungsanweisungen aufzustellen, die im voraus die Handlungen des Dichters in richtige oder fehlerhafte unterteilt. Die Differenz von richtig und fehlerhaft fungiert nicht mehr als vorentscheidende Handlungsanweisung für den Dichter, nach der er sich richten muß, will er sein Ansehen als Poet nicht in Frage stellen, sondern als nachträgliches, je nach den Umständen zu entscheidendes Kriterium der Beurteilung sowie als Differenz, die die Leser bei der Beobachtung von dichterischen Werken verwenden können. Die didaktische Funktion der Regeln wird, gerade weil oder obgleich sie einer Absicherungs- und Neufundierungsmaßnahme unterzogen worden waren, immer unklarer und unzuverlässiger: Verzeichnet die Poetik noch solche Regeln, die direkte, konkrete Handlungsanweisungen vermitteln und Schemata der Gelegenheiten und möglichen Absichten zur Verfügung stellen, auf die der gelehrte Poet stoßen könnte, so werden hier die Vorschriften auf eine übergeordnete, abstrakte Regel reduziert, die, indem sie den Hauptendzweck und das Medium der Dichtung festlegt, nur noch allgemeine Maßstäbe der Beurteilung von bereits fertigen Werken zur Verfügung stellt, nicht aber dem produzierenden Dichter sagt, was er im Einzelfall tun kann und soll. Es hängt nun von unwägbaren, unbeschreibbaren Fähigkeiten des einzelnen ab, ob er das tut, was hinterher als vollkommen anerkannt wird. Da es nicht gelingt, den postulierten Zusammenhang zwischen der »Theorie« als einer »Sammlung von Grundsätzen«, aus denen »praktische Regeln mit Zuverläßigkeit erkant werden können«, und der »Kunst« als »Inbegriff der praktischen Regeln« und als »Fertigkeit in Ausübung der Regeln« 128 tatsächlich nachzuweisen, bleibt dem Dichter nur übrig, sich damit abzufinden, daß er aus den Lehrbüchern der ästhetischen Theorie für die praktische Ausübung der Dichtkunst nichts lernen kann und sich allein und selbstbezüglich auf sein »Genie« verlassen muß.

5) Regeln und sinnliche Erkenntnis Daß die philosophische Disziplin der Ästhetik gegen eigene Bekundungen nicht mehr die Aufgabe der Dichterbildung erfüllt, manifestiert sich bereits in ihrem Regelkonzept. Alexander Gottlieb Baumgarten unterläuft schon mit seiner Magisterdissertation des Jahres 1735 den traditionellen Ansatz, die Poesie zu definieren, indem er das Gedicht nicht mehr durch die ligatio, sondern durch den Bezug auf sinnliche Vorstellungen und die sinnliche Erkenntnis von der Rede

128 Steinbart, Grundbegriffe zur Philosophie über den Geschmack, S. 19.

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unterscheidet. Die poetischen Regeln werden von Baumgarten durch die »philosophia poetica« eingerahmt, die das Wesen der sinnlichen Vorstellungen und der Wörter, die als ihre Zeichen auf sie verweisen, untersucht. 129 In der »Aesthetica«, deren zwei Teile 1750 und 1758 erscheinen, stellt Baumgarten die Priorität der Theorie der »forma pulchrae cognitionis« innerhalb der »disciplina aesthetica« fest, die »accuratioribus et adstrictioribus exercitiis in usum deducenda« sei, so daß man schließlich eine »ars aesthetica« erhalte. 130 Unklar ist nicht nur das Verhältnis zwischen scientia und ars, sondern unklar bleibt auch das Verhältnis zwischen den poetischen Übungen, denen Baumgarten eine große Bedeutung für die Ausbildung des Dichters zumißt, und der Theorie: Ob es sich um ein logisches Abhängigkeitsverhältnis handelt, derart daß die poetischen Übungen logisch aus der Theorie erschlossen werden können, oder ob die Übungen den ersten Schritt bilden, der nach und nach auf die Theorie hinführt bzw. die Theorie anschaulich macht, »in die Praxis herabholt«, 131 bleibt eine offene Frage. Die speziellen Kunstlehren, Rhetorik und Poetik, werden durch Verallgemeinerung an die ästhetische Kunstlehre angeschlossen. Damit sind die konkreten, handlungsanleitenden Regeln in die Ästhetik eingebettet und die allgemeineren ästhetischen »leges« als Leitsterne auf die freien Künste verteilt, so daß ein Verhältnis gegenseitiger Kompatibilität postuliert wird, ohne daß klar gemacht würde, wie und ob die speziellen Regeln der Poetik aus der Ästhetik abgeleitet werden können. Im Anschluß an die Frage, welche anderen Disziplinen ein schöner Geist kennen und welche Form der Gelehrsamkeit er sich aneignen müsse, stellt Baumgarten fest: Wann man bisher fragte, welchen Regeln dann ein schöner Geist überhaupt folgen müsse, wann er die Sachen schön denken wolle, so herrschte ein tiefes Süllschweigen; ob man gleich für einige besondere Arten im Schönen, z. B. für die Poesie und Beredsamkeit schon etwas festgesetzt hatte. Die ars aesthetica löset diese Aufgabe auf, denn sie bleibt beim Allgemeinen stehen. Es werden unzählige Vorfälle kommen, wo man Regeln brauchen wird, und je stärker gewisse Sätze von mir erkannt werden müssen pp., je nöüger werden mir mit Gewißheit verbundene Regeln sein. 132

129

Baumgarten, Meditaciones philosophicae, S. 10 f. Baumgarten. Aesthetica, § 68. 131 So die Übersetzung Hans Rudolf Schweizers ,für »in usum deducenda«. (§ 68) in: Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoreüsche Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der »Aesthetica« (1750/58). Übersetzt und herausgegeben von H. R. Schweizer. Hamburg 1988. S. 42. 132 Alexander Gottlieb Baumgarten: Kollegnachschrift. In: Bernhard Poppe: A.G. Baumgarten, seine Stellung und Bedeutung in der Leibniz-Wolffschen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant, nebst Veröffenüichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens. Diss. Münster 1907. Borna-Leipzig 1911. S. 110 f. 130

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Baumgartens Versprechen, ein konsistentes System von Regeln zu entwickeln, in dem die konkreten Handlungsanweisungen für hypothetische Fälle der Verfertigung eines poetischen Produkts aus »allgemeinen Gründen [...] hergeleitet werden« 133 können, ist nicht zu erfüllen. Daß die strenge Ableitbarkeit, die zuvor postuliert wurde, an anderer Stelle in eine bloße Vorrangstellung der allgemeinen Regeln der Ästhetik vor den speziellen Regeln der Künste umgedeutet wird, indiziert die Leerstelle der neuen Ästhetik, die immer noch behauptet, den Dichter auszubilden: »Wann ich die Natur der Schönheit kenne und daraus die Regeln bilde, so schreibe ich schön, und zwar mit Gewißheit.« 134 Doch die Definition der Schönheit als »perfectio cognitionis sensitivae« und der sinnlichen Erkenntnis als undeutlicher, aber klarer Erkenntnis »analogon rationis« sowie die zeichentheoretische Fundierung dieser Erkenntnis 135 verhindern die Formulierung von Regeln, die lehren, wie man »schön schreibt«. Statt wie die rhetorische Poetik die Verfertigung von Texten zu lehren und zu trainieren, präsentiert die Ästhetik Baumgartens poetische Texte als Gegenstände der sinnlichen Erkenntnis.136 Die damit einhergehende zeichentheoretische Grundlegung der Poesie verwandelt Worte und Schrift in transparente Instrumente der sinnlichen Erkenntnis, die klare Vorstellungen vermittelt.137 Sie entreißt sie der rhetorischen Einheit mit den Sachen, so daß die Verfasser poetischer Texte als mehr oder minder geschickt Handelnde aus dem Blick geraten und statt dessen vornehmlich als Erkennende beobachtet werden, die, indem sie schreiben, den Lesern ihre Vorstellungen vermitteln. Dabei soll die Psychologie LeibnizWolffscher Prägung, die Autoren und Leser auf sinnliche Erkenntnis festlegt, garantieren, daß Autoren und Leser durch ein- und denselben Text die gleiche Vorstellung vermittelt bekommen. Der naheliegende Einwand, daß sprachliche Zeichen immer mehrdeutig sind, so daß ein Aspektwechsel zwischen der Wahrnehmung der Autoren und der Leser stattfinden kann, wird - gegen jede Wahrscheinlichkeit - ausgeblendet. Waren die poetischen Regeln der gelehrten Ordnung dadurch legitimiert, daß sie auf kongruierenden Erwartungen von Autoren und Lesern fußten und das Handeln des Dichters an die Absicht, als Dichter Anerkennung zu finden, kop-

133

Ebd., S. 111. Ebd., S. 112. 135 Baumgarten, Aesthetica, § 20. 136 Auch das explizite Aufgreifen von Begriffen aus der rhetorischen Tradition kann nicht überspielen, daß die philosophische Ästhetik Baumgartens erkenntnisbezogen argumentiert. Vgl. dazu: Marie Luise Linn: A.G. Baumgartens »Aesthetica« und die antike Rhetorik. In: Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.-20. Jahrhundert Hg. von H. Schanze. Frankfurt a. M. 1974. S. 105-125. 137 v g l . Wellbery, Lessing's Laocoon, S. 71 f.

134

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peln, so verlieren sie diese Funktion, sobald sich die gelehrte Exklusivität von Dichtern und Lesern auflöst. Die Regeln auf die Kongruenz der sinnlichen Erkenntnis von Autoren und Lesern festzulegen, ist ein letzter Versuch, die Dissoziation von Autoren- und Leserwahrnehmung im Zuge der Auflösung der Gelehrtenkommunikation aufzuhalten. 6) Der Funktionswandel der poetischen Regeln und das Verschwinden der Dichter Daß die Befolgung der poetischen Regeln nicht hinreichend ist, eine Person zur Verfertigung von Gedichten zu befähigen, wenn »Genie« und die iudiziöse 138 Fähigkeit zur konkreten, situativen Anwendung der Regeln fehlen, ist ein Topos im Zusammenhang des gelehrten nascitur, auf den Geliert in seiner Rede vom »Nutzen der Regeln« 139 auch dann noch rekurriert, wenn er die Maxime »Man muß Genie haben!« zur »ersten Regel in der Poesie« erklärt. 140 Gleichzeitig wendet sich Geliert aber dem neuen Problem zu, daß die axiomatische Reduktion der einzelnen Regeln auf ein allgemeines Prinzip die handlungsanweisende Funktion poetischer Regeln in den Hintergrund rückt. Dabei findet eine Landkartenmetaphorik Verwendung, die das topische Feld und damit auch die Einheit von res und verba evoziert: Die besten Regeln in der Poesie sind allgemeine Lehren. Sie reichen nicht bis an die besondern und einzelnen Fälle [...]. Die Regeln der Poesie gleichen einer allgemeinen Karte eines Landes. Diese zeigt mir seine Grenzen, die vornehmsten Plätze, Flüsse und Straßen. Ich reise nach ihrer Anweisung von dem einen Ort zum andern. Ich kenne die Hauptstraße; aber ich treffe Nebenwege auf meiner Reise an. Ich frage die Karte: sie sagt mir nichts. [...] Wie werde ich den Weg finden?141

Die Genialität des einzelnen entspringt der unzulänglichen Orientierungsleistung allgemeiner, auf Prinzipien zurückgeführter poetischer Regeln; zwar wird auch dem gelehrten Poeten zugemutet, den Schritt vom Regelverständnis zur praktischen Anwendung auf der Grundlage einer angeborenen Begabung zu gehen und sein iudicium anzuwenden, doch da die poetischen Regeln aufhören, die unmittelbare Kontrolle über die Texte, die als Handlungen des Poeten erscheinen, auszuüben, verliert die angeborene Genialität ihre Komplementärbegriffe

138 Vgl. Fischer, Gebundene Rede, S. 249; Bamer, Barockrhetorik, S. 184 f. 139 Christian Fürchtegott Geliert: Wie weit sich der Nutzen der Regeln in der Beredsamkeit und Poesie erstrecke. Eine Rede, bey dem Beschlüsse der öffentlichen rhetorischen Vorlesungen gehalten. In: Sämmtliche Schriften, S. Theil. S. 154-186. Hier: S. 154. !40 Ebd., S. 169. 41 I Ebd., S. 176 f.

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Kunst und Regeln: Das ingenium des Dichters zeigt sich dann nicht mehr im poetischen Agieren als Anwendung der Regeln, sondern in der selbstbezüglichen Operation, die eigene Individualität auszudrücken. Georg Friedrich Meier, Schüler und Popularisator Baumgartens, reagiert mit einem anders gesetzten Akzent auf die offene Frage nach der Ausbildung und dem Handeln der Dichter. Einerseits wendet er sich gegen die autodidaktischen »Dichter [...], welche aus Nachlässigkeit und Eigensinn, alle Regeln der Lehrer der Dichtkunst verachten, weil sie glauben, sie hätten ihnen nichts zu befehlen.« 142 Der Möglichkeit, daß ungelehrte Personen den Anspruch erheben, als Dichter anerkannt zu werden, wird damit Rechnung getragen, ohne daß daran der übliche Rekurs auf das nascitur anschließt. Regeln sind für Meier notwendig, »weil die blose Natur so wohl verwildern, als auch in den gehörigen Ordnungen der Volkommenheiten bleiben kan: so ist es ein blosses Glück, wenn man volkommen schön denkt, indem man der Natur folgt.« 143 Die natürlichen Anlagen des Dichters, die im gelehrten Kommunikationszusammenhang die Exklusivität der Dichterschaft zu sichern hatten, werden hier als korrumpierbar beschrieben, so daß sie der Korrektur und Kontrolle durch die poetischen Regeln bedürfen. Gleichwohl ist Meier an anderer Stelle gegenüber den Regeln ebenso skeptisch eingestellt wie gegenüber der Natur: Die Naturen der schönen Geister, ihrer Leser und Zuhörer, und der Sachen, wovon sie handeln, sind auf eine unendliche Art von einander unterschieden. Da sich nun die aesthetische Methode, nach allen diesen Dingen richten muß, so gibt es unendliche Verschiedenheit in dieser Methode. Es ist demnach schlechterdings unmöglich, daß man alles, in der Zusammenordnung der schönen Gedanken, in allen Fällen nach Regeln bestimmen könte. Die Menge der Regeln würde das gezwungene Wesen nothwendig verursachen. Das meiste in der aesthetischen Methode muß demnach, dem eigenen Gutbefinden und dem Willkühr des schönen Geistes, überlassen werden. Daher diese Methode mit Recht eine willkührliche Methode genennt werden kan. 1 4 4

War zunächst der Natur Kontingenz und Korruption zugeschrieben worden, so ergibt sich jetzt aus den infiniten Möglichkeiten der Fälle eine Kontingenz im Bereich der Regeln; die in der rhetorischen Poetik avisierten und absehbaren situativen Umstände lösen sich wie die feste Gruppe der Rezipienten auf, so daß die Anwendung der »Schulmethoden« 145 das dichterische Handeln nicht mehr zureichend beschreibt. Obwohl die Fundierung der Ästhetik durch die sinnliche Erkenntnis ein Mittel sein soll, die Symmetrie zwischen Lesern und Autoren zu wahren, führt sie in der Praxis zu neuen Unsicherheiten. Zwar ge142 143 144 145

Meier, Anfangsgriinde der schönen Wissenschaften, Thl. 3, S. 292, § 682. Ebd., Thl. 1, S. 539, § 231. Ebd., Thl. 3, S. 287, § 680. Ebd., Thl. 3, S. 290, § 682.

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lingt es, Wesensdefinitionen der Poesie und der Dichtkunst zu erarbeiten, die vor allem den Prosagattungen, in erster Linie dem Roman, Rechnung tragen, doch fehlt die feste Verbindung zwischen den allgemeinen Definitionen, die auf Fiktions- oder Nachahmungsbegriffen basieren, und den Handlungsanweisungen für den Dichter, die einer lemen könnte, der sich entschlösse, in einer Zeit des Risikos und der Unsicherheit Dichter zu werden. »Die Regeln selbst, die gleichsam metaphysische Modelle sind, geben uns nur einen sehr unbestimmten Plan an.« 146 Als Axiome einer Wissenschaft, die, trotz aller anderslautenden Selbstbeschreibungen, aufhört, die Verfertigung von Texten zu lehren und statt dessen die Wahrnehmung von Repräsentationen beschreibt, die durch angeblich transparente Texte vermittelt werden, verlieren die Regeln ihre vormals zentrale Funktion, das Handeln des Dichters zu lenken und zu beschreiben. Handlungsanweisungen und Formulare, die poetische Einträge enthalten, kommen im Diskurs der Ästhetik lediglich unverbunden und am Rande vor. Ebenso verändert die zeichentheoretische Orientierung der Ästhetik den Begriff der Regel selbst. Sie verwandelt sich aus einem Formular, das dichterische Handlungen ermöglicht und beschreibt, in eine Repräsentation auf dem Hintergrund von Zeichenkonfigurationen: »Eine Regel kan durch Zeichen ausgedrückt werden oder nicht. Denn man kan Regeln in Gedanken haben, die bloße Vorstellungen sind, ohne daß es uns möglich ist, sie durch Zeichen deutlich auseinander zu setzen.«147 Die Differenz zwischen zeichenhaften Regeln und Regeln, die nicht in sprachlichen Zeichen dargestellt werden können, beruht auf der Unterscheidung zwischen deutlicher und konfuser, klarer und dunkler Erkenntnis, die bei Christian Wolff im Anschluß an Descartes die Grundlage der theoretischen Entfaltung bildet: Die Auffassung, daß Vorstellungen durch Zeichen vermittelt werden, ist für die Aufklärungsepistemologie zentral und wirkt sich unmittelbar auf die Ästhetik aus, indem sie die Kunstwerke als Zeichen für Repräsentationen auffaßt und in gleicher Weise die Regeln der Ästhetik als Zeichenkonfiguration für Vorstellungen konzeptualisiert. Dichtern, die bei der Verfertigung poetischer Produkte Regeln folgen, wird in der gelehrten Kommunikation unterstellt, daß sie dieser Regel wissentlich und bewußt folgen, um sich als Gelehrte zu qualifizieren. Den neuen Dichtern dagegen kann, nach der Umdeutung der Regeln in Zeichen für Vorstellungen, zugestanden werden, daß sie unbe-

146 Kaji Wilhelm Ramler: Kurzgefaßte Einleitung in die schönen Künste und Wissenschaften. Görlitz 1798. S. 11. 147 Karl Friedrich Flögel: Geschichte des menschlichen Verstandes. Breslau 1776. 3. verm. und verb. Auflage. S. 303.

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wußt Regeln »beobachten und anwenden«, 148 die sie wie die Leser erst nachträglich aus ihrem poetischen Text erkennen: Wie viele Regeln liegen in dem Genie [...] die er in einem Kunstwerk anwendet, ob er gleich keine deutliche Ericentniß durch Zeichen davon bat. [...] Ein Artist braucht oft Erfindungsmittel, auf die ihn sein entscheidendes Genie bringt, sie liegen in seiner Seele, aber er kan sie [...] nicht in Merkmale entwickeln, ohngeachtet er sie glücklich anwendet, und offt glücklicher, als ein blos nachahmendes Genie. 149

In dieser Bemerkung des Gymnasial- und Ritterakademielehrers Karl Friedrich Flögel wird die für die Aufklärungsästhetik typische Vermischung des erkenntnis- und des anwendungsbezogenen Regelbegriffs besonders deutlich. Eine formularische Regel, die einem Poeten eine poetische Handlung ermöglicht und sie mit der Absicht verbindet, sich gegenüber der Gruppe der anderen gelehrten Dichter und Leser zum Poeten zu qualifizieren, gibt eine Handlungsanweisung, die es erlaubt, den handelnden Autor im Text als regelfolgend oder als regelignorierend zu beurteilen. Eine Regel dagegen, die, wie Flögel im Anklang an Leibniz und Wolff formuliert, ein »Urtheil« ist, »welches die Übereinstimmung verschiedener Dinge ausdrückt«, 150 vermittelt keinen Handlungsimperativ, sondern formuliert eine Beschreibung der Relation zwischen Vorstellungen und ihrer sprachlichen, durch Zeichen vermittelten Repräsentation. Solche Regeln beschreiben Ordnungen, nicht Handlungen: »Auf solche Weise findet man in jeder Ordnung allgemeine Regeln, daraus sie beurtheilt wird. Und wo man demnach ordentlich verfährt, richtet man sich nach Regeln.« 151 Diese Konzeption löst die poetischen Regeln aus dem Zusammenhang der poetischen Handlungsanweisung und setzt sie als Beobachtungsinstrumente ein, die Texte im Hinblick darauf beschreiben, ob und wie sie Repräsentationen vermitteln. Der poetische Text hört auf, Ergebnis oder Vollzug einer gelehrten Handlung zu sein und wird zu einem Gebilde, das Vorstellungen von Ordnung vermittelt. Die Wendung des Blickes von der Herstellung des dichterischen Produktes auf die Bedingungen seiner Wahrnehmung findet ihre Fortsetzung in Kants »Kritik der ästhetischen Urteilskraft«, deren Einheit vornehmlich durch die Definition und Analyse des Geschmacksurteils hergestellt wird. 152 Ungeachtet der

1 4 8 J. J. Herwig: Grundriß der eleganten Literatur. Würzburg 1774. S. 8. 149 Flögel, Geschichte des menschlichen Verstandes, S. 305. 15 Ebd., S. 303. 151 Wolff, Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, S. 73 f. 152 Die Veibindungen zu den beiden anderen Kritiken Kants bilden ein weiterhin offenes Forschungsproblem. Vgl. dazu Georg Kohler: Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung. Beiträge zur Auslegung von Kants Kritik der ästhetishen Urteilskraft. Berlin/New York 1980. S. VII. Daß die Konzentration auf das ästhetische Urteil auch eine sachlich ange-

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Systematik des Kantischen Gesamtwerks ergibt sich ein Zugang zum Text, wenn man ihn als Auseinandersetzung mit der Geschmacksdiskussion des gesamten 18. Jahrhunderts, d. h. als Reaktion auf die Problematik des entstehenden allgemeinen Lesepublikums liest. Das Korrelat zum ästhetischen Urteil, das durch die Negation jeder Begrifflichkeit definiert wird, ist für Kant die produktionstheoretische Hinwendung zum Genie: Zwar spielt er noch einmal auf den traditionellen intentionalen, handlungsbezogenen Kunstbegriff an, der in jedem Produkt den zweckmäßig nach Regeln handelnden Künstler wahrnimmt, transformiert aber dann den Regelbegriff in eine Beobachtungskategorie, die die Natur als eine »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«153 beschreibt und so den Dichter als intentional Handelnden ausklammert. Erst als Genie tritt er wieder auf den Plan: Eine jede Kunst setzt Regeln voraus, durch deren Grundlegung allererst ein Produkt, wenn es künstlich heißen soll, als möglich vorgestellt wird. Der Begriff der schönen Kunst aber verstattet nicht, daß das Urteil über die Schönheit ihres Produkts von irgend einer Regel abgeleitet werde, die einen Begriff zum Bestimmungsgrunde habe, mithin einen Begriff von der Art wie es möglich sei zum Grunde lege. Also kann die schöne Kunst sich selbst nicht die Regeln ausdenken, nach der sie ihre Produkte zu Stande bringen soll. Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel ein Produkt niemals Kunst beißen kann, so muß die Natur im Subjekte [...] der Kunst die Regel geben, d. i. die schöne Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich. 154

Kant stellt damit die Kongruenz der bereits entkoppelten Rezeptions- und Produktionsregeln wieder her: So wenig das Geschmacksurteil begrifflich und durch willkürliche Zeichen formuliert werden kann, obgleich es auf Allgemeingültigkeit und allgemeine Mitteilbarkeit Anspruch erhebt, so wenig kann dem Dichter eine artikulierte Anweisung gegeben werden. Die Natur, der eine allgemeine Zweckmäßigkeit unterstellt wird, bedient sich des Genies, das ihre Zweckmäßigkeit ohne eigene Intentionen in ein Werk überträgt und so als Handelnder unsichtbar bleibt;155 Kunstwerke heißen nämlich, so ein Nachfolger Kants, nur dann natürlich, wenn »sie keine Spur an sich tragen, daß bei ihrer Ausarbeitung die freie Thätigkeit der Gemüthskräfte des Künstlers durch Regeln gehemmet oder eingeschränkt gewesen sei.«156 Die handelnde Person des Dichters verschwindet hinter den Texten, die sie produziert, weil intentionales

messene Perspektive ist, zeigt Jens Kulenkampff: Kants Logik des ästhetischen Urteils. Frankfurt a. M. 1978. S. 9. 153 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 143. 154 Ebd., S. 242. 155 Vgl. dazu Jürgen Saatröwe: Genie und Reflexion. Zu Kants Kritik des Ästhetischen. Neuburgweier/Karlsruhe 1971. S. 254 ff. 156 Christian Wilhelm Snell: Lehrbuch der Kritik des Geschmacks, mit bestimmter Rücksicht auf die Kantische Kritik der ästhetischen Urteilskraft Leipzig 1795. S. 258.

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Handeln Personen nur auf dem Hintergrund von nicht verwirklichten, aber auch möglichen Optionen zugeschrieben werden kann; freie, uneingeschränkte Subjektivität dagegen ist die Eigenschaft eines Schöpfers, nicht einer handelnden Person. Gleichwohl darf dieses Verschwinden nicht mit der rhetorischen Option verwechselt werden, die in dem traditionellen Grundsatz Quintilians »ars artem celare« 157 formuliert wird und auf die z. B. noch Sulzers verbreitete und einflußreiche »Allgemeiner Theorie der schönen Künste« rekurriert. Als übergeordnete Regel der Kunst nennt er die Vorschrift, daß die durch Kunst in das Werk gebrachten Sachen [...] den Charakter und das Ansehen der Natur haben müssen. [...] Diejenigen, welche das Werk betrachten, müssen nirgends den Künstler erblicken, damit die Aufmerksamkeit allein auf das Werk gerichtet werde. Damm sagt man, es sey die größte Kunst, die Kunst zu verbergen. 158

Sulzer beschränkt mit dieser Bemerkung jedoch die Kunst und das Kunsturteil auf das künstlerische Werk, während Quintilians paradoxer Grundsatz wie alle rhetorischen Grundsätze handlungs- und damit personenbezogen ist: Ihre Absicht können Redner wie Poeten unter bestimmten Umständen besonders gut erreichen, wenn sie durch kunstloses Verhalten so tun, als wollten sie gar keine Absichten erreichen.159 So wie der geniale Dichter für den Leser des dichterischen Werkes verschwindet, weil ihm keine Intentionen zugeschrieben werden können, ist sich das Genie selbst seines Tuns nicht bewußt und kann deshalb weder Auskünfte über seine Handlungen geben noch andere bei ihrer poetischen Tätigkeit anleiten: Man sieht [...], daß Genie [...] ein Talent sei dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben läßt, hervorzubringen [...], folglich daß Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse. [...] Daß es, wie es sein Produkt zu Stande bringe, selbst nicht beschreiben, oder wissenschaftlich anzeigen könne, sondern daß es als Natur die Regel gebe; und daher der Urheber eines Produkts, welches er seinem Genie verdankt, selbst nicht weiß, wie sich in ihm die Ideen dazu herbei finden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Belieben oder planmäßig auszudenken, und anderen in solchen Vorschriften mitzuteilen, die sie in Stand setzen, gleichmäßige Produkte hervorzubringen. 160

Sobald Originalität und Regellosigkeit Hand in Hand gehen, verdeckt der Text, der Individualität und Unverwechselbarkeit des Dichtergenies verbürgen soll,

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Quintilian, Inst. orat. IV, 2, 127; XII, 9, 5. Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, »Kunst. künsUich«. Bd. 3, S. 97 Vgl. dazu Michael Cahn: Kunst der Überlistung. Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Rhetorik. München 1986. S. 96 f. Vgl. Geitner, Sprache der Verstellung, S. 55 ff. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 242 f.

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zugleich die handelnde Person des Dichters, weil Verfahren fehlen, die die spezifische Relation zwischen Text und Autor zu beschreiben erlauben. Der Vorschlag der philosophischen Hermeneutik, wie sie Georg Friedrich Meier formuliert, die aus der Vollkommenheit des Zeichengebrauchs die Vollkommenheit des Autors ableitet,161 ist in diesem Zusammenhang unzureichend, da ein inhomogenes Publikum die Frage nach dem Autor stellt, ohne einen gemeinsamen und allgemein akzeptierten Vollkommenheitsstandard zu besitzen. Für die Ausbildung der Dichter und ihre Handlungen ergeben sich daraus zwei Konsequenzen: Die Festlegung des Genies auf unbewußte Produktion, die eine Ordnung aufweist und Regeln folgt, ohne daß diese Regeln explizit formuliert werden könnten, läßt die Lehrbücher der Poetik und Ästhetik als Handlungsanweisungen obsolet werden. Sie vermitteln keine oder nur noch unwesentliche »mechanische« Regeln und widmen sich statt dessen ausschließlich der Theorie, d. h. der Analyse der sinnlichen Erkenntnis und des ästhetischen Urteils. Zugleich zersplittert die Kontinuität der literarischen Kommunikation, die in der Ordnung der Gelehrsamkeit durch den ständigen, agonalen Traditionsbezug der imitatio klassischer Autoren und Werke sowie durch die gemeinsam akzeptierten und befolgten Regeln und Perfektionsstandards gewährleistet war; isolierte, diskrete Einzelwerke sind die Folge.

D. D e r W a n d e l des poetischen Traditionsbezugs von gelehrter Kontinuität zu genialer Diskontinuität Mit Kants Geniebegriff vollzieht sich in der anspruchsvollen ästhetischen Theorie des 18. Jahrunderts jene Umstellung der dichterischen Produktion auf Diskontinuität, die bereits von Edward Young in seinen in Deutschland besonders einflußreichen »Conjectures of Original Composition« formuliert worden war. Trotz des Kantischen Postulats, die genialen dichterischen Produkte seien ihrerseits exemplarisch und dienten als Vorbilder für Nachfolger, 162 muß jeder einzelne geniale Dichter von vorn anfangen, weil er sich als Original nicht imitativ auf Vorbilder beziehen darf. Exemplarisch sind die Texte des Genies für andere nur insofern, als sie zeigen, wie man sich von allen Vorbildern distanziert, also auch von den Texten anderer Genies. Um den Gegensatz zur Kon-

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Georg Friedrich Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Halle 1757. Mit einer Einleitung hg. von L. Geldsetzer. Düsseldorf 1965. S. 45. Vgl. dazu Hans Graubner: Kant. In: Klassiker der Literaturtheorie. Hg. von H. Turk. München 1979. S. 35-61.

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zeption gelehrter Kontinuität hervorzuheben, wie sie in dem Thema der Musternachahmung formuliert wird, seien im folgenden zunächst die Prämissen der gelehrten imitatio entfaltet 1) Gelehrte imitatio und Agonalität Das Ende der formularischen Regelpoetik und der Erfolg neuer Regelkonzepte, die auf die Entstehung eines allgemeinen Publikums und die wachsenden Zahlen von konkurrierenden Dichtem reagieren, ist eng mit einer veränderten Thematisierung der Nachahmung von Vorbildern und ihrer Texte verbunden; Ausbildung und Handeln des Dichters sind traditionell nicht nur als Regelbefolgung und korrekter Formulareintrag, sondern immer auch als Nachahmung klassischer, kanonischer Muster und als demonstrativer Bezug auf die gelehrte Tradition beschrieben worden. Imitatio läßt sich als Moment von Intertextualität ebenso fassen wie als Charakteristikum des Gelehrten. Daß sich die Beteiligten des literarischen Wandels im 18. Jahrhundert emphatisch von der Fortführung gelehrter Kontinuität verabschieden und statt dessen Originalität und Genialität feiern, ist weniger ein Prozeß der Entdeckung oder Befreiung, sondern eine Antwort auf die Sprengung des gelehrten Kommunikationszusammenhangs. Werkautonomie und Genialität hängen somit als zwei Seiten einer Münze eng zusammen. Jene löst die gelehrte Intertextualität ab, diese setzt sich gegen die gelehrte Agonalität durch. Die Prämissen antiker und humanistischer Dichtungspraxis sind imitatio und aemulatio der Muster und Vorbilder sowie die Agonalität der Dichter mit- und untereinander; sie werden, etwa von Quintilian, in der Metaphorik des Wettlaufes beschrieben.163 Noch in einem anonymen Text des frühen 19. Jahrhundert erscheint dazu diese Paraphrase: Wettstreit, Nacheiferung gehören mit unter die bewährten Mittel zur Erreichung der Vollkommenheit; sie bewegen sich aber in paralleler, nicht in senkrechter Richtung, sie schlagen ihren eigenen Weg zum Vortrefflichen ein. 1 6 4

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Quintilian, Inst, orat., X, 2, 10: »nam qui hoc agit, ut prior sit, forsitan, etiam si non transient, aequabit. eum vero nemo potest aequare, cuius vestigiis sibi utique insistendum putat: necesse est semper sit posterior qui sequitur.« - Vgl. dazu Jürgen Fohnnann: Dichter heißen so gerne Schöpfer. Über Genies und andere Epigonen. In: Merkur 39, 1985, S. 980-989. Das von Fohrmann angeführte Schachspiel als Modell der gelehrten poetischen Praxis, das Agonalität und Topik verbinden soll, wird m. E. der traditionellen Bildlichkeit des Wettlaufs nicht gerecht. 164 Anon.: Ueber Originalität. In: Aurora 1805, S. 178-186. Hier: S. 180.

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Damit wird zwar der jeweils eigene Weg zur Perfektion hervorgehoben, aber die Annahme eines allgemeinen Perfektionsstandards bleibt unbestritten. Die gemeinsame Arena des Wettlaufs, auf dem jedem Konkurrenten eine Bahn zugeteilt wird und die eine direkte Vergleichbarkeit der Wettkämpfer impliziert, verbietet ein Ausscheren des einzelnen. Wer, um in der agonalen Metaphorik zu verbleiben, die Laufbahn verläßt, hat sich bereits disqualifiziert. Noch Christian Gottfried Schütz' Kompendium, das sich bereits in der Hauptsache dem Begründungsproblem des Geschmacks und des ästhetischen Urteils widmet, postuliert die Matrix einer »Balance of Poets«, die es gestatten soll, jedem Autor in jeder poetischen Hinsicht einen eindeutigen Platz auf der Stufenleiter der Perfektionsgrade zuzuweisen. Jedoch muß Schütz einräumen, daß man im konkreten Fall doch oft nicht wisse, an welcher Stelle ein Autor auf der Skala einzuordnen ist. 165 Vielzahl und Vielfältigkeit der dichterischen Produkte sprengen nicht nur die traditionellen Klassifikationsschemata, sondern zerstören auch das traditionelle Konzept des Autors, der in allen Texten, selbst wenn diese sich im Hinblick auf die Gattung oder auf die Stilhöhe unterscheiden, seine gelehrte Kunstfertigkeit demonstriert. Mit dem Aufbrechen der gelehrten Kommunikation wird es möglich, daß ein Verfasser Texte produziert, die sich den Kriterien und den Klassifikationen der gelehrten Dichtungskonzeption entziehen und trotzdem Erfolg haben. Die Gelehrsamkeit als Wissens- und Verfahrensreservoir, auf das die Dichter zurückgreifen müssen, wenn sie sich innerhalb der gelehrten Kommunikation etablieren, ist nach dem Modell der Topik organisiert. Es bildet als Universalitätsanspruch erhebendes Modell barocker Wissenschaft nicht nur die Voraussetzung jener letzten Versuche, die Welt in Enzyklopädien noch einmal systematisch zu ordnen, bevor die Metaphysik und der vor allem durch die Erfolge der empirischen Naturwissenschaften erzielte Wissenszuwachs dieses Modell partikularisieren, sondern immer auch die Grundlage der gelehrten poetischen Praxis. 166 Die Topik stellt ein geordnetes Repertoire von Gegenständen, Argumenten und rhetorischen Techniken in einem gemeinsamen Feld zur Verfügung, aus dem sich die gelehrten Poeten bei der inventio ihrer Texte wie die Redner anlaßund adressatengerecht bedienen. 167 Die Topik eröffnet den Zugang zum Fun-

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Christian Gottfried Schütz: Lehrbuch zur Bildung des Verstandes und des Geschmacks. 2 Heile. Halle 1776/78. S. 27 f. 166 vgl. dazu besonders Schmidt-Biggemann, Topica universalis, S. XXIII ff. 167 Zum Aspekt der geschickten Wahl vgl. Conrad Wiedemann: Topik als Vorschule der Interpretation. Überlegungen zur Funktion von Topikkatalogen. In: Topik. Hg. von D. Breuer und H. Schanze. München 1981. S. 233-255. Hier: S. 243.

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dus der copia verborum,168 die die gelehrte Tradition aufruft und vergegenwärtigt Wo man die Poetischen Erfindungen hernehmen solle? Dann ie wahrlich eine gute Natur/ muntre Phantasie/ und ein feuriger enthusiasmus thuns nicht allein; sondern es müßen auch die Lehre/ die Kunst/ das Nachsinnen und etliche Vortheile/ ein merkliches beitragen. Und sind hier absonderlich/ wie eine Anis Oratoriae Studioso, also auch einem Anfänger in der Poesie/ zu recommendiien die Loci Topici; daraus eine unerschöpfliche Menge der Erfindungen kan genommen werden. Nemlich die Loci Etymologiae, Definitionis, Enumerationis, partium &c. Item Loci Causamm, Effectorum, Adjunctorum, Oppositorum, S ¡milium, Exemplonim Ac. 1 6 9

Die Topik vermittelt denen, die in ihrem Rahmen agieren, indem sie aus ihrem Fundus schöpfen, nicht nur eine Vielzahl von argumentativen und artistischen Optionen, die durch die Verortung im gemeinsamen Feld des Wissens Anschlußkommunikationen wahrscheinlich machen, sondern überdies einen Bildungshabitus; sobald sie das topische Repertoire auffällig und bemerkbar ausschöpfen, unterscheidet er sie von den Ungelehrten und sichert ihnen so die ständische Distinktion.170 Das Handeln des Dichters erscheint unter dieser Perspektive als geschicktes, situationsabhängiges und zweckbezogenes Auswählen bestimmter Möglichkeiten aus dem »Schatz«171 gelehrter Lektüre und ihrer Früchte; diese Möglichkeiten werden nach Maßgabe des aptum miteinander verglichen und dem iudicium unterworfen, 172 so daß der Dichter mit seinem Text den Anspruch erhebt, die beste Option unter anderen schlechteren aufgegriffen zu haben; zugleich setzt er sich und seine Handlung dem Urteil der gelehrten Kenner aus.

2) Die Rolle der poetischen Hilfsmittel und Übungen Die Poetiken des Barock und des frühen 18. Jahrhunderts, die sich, anders als die Dichtungslehren Weises und Thomasius', noch nicht den Durchsetzungstechniken individueller Ansprüche widmen, sondern den gelehrten Zusammenhang fortzusetzen streben, entfalten allesamt ihre didaktischen Passagen, indem

168 Erasmus Roterodamo: De duplici copia verbonim ac rerum commentarli duo [...]. Colonia 1532. Omeis, Gründliche Anleitung, S. 131 f. 170 Lothar Bomscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a. M. 1976. S. 96 ff. - Vgl. dazu vor allem Pierre Bourdieu: Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis. In: Ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a. M.. 1983. S. 125-158. 1 7 1 Morhof, Unterricht, S. 313 f. 172 Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 252. 169

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sie den angehenden Dichter auffordern, die antike Tradition aufzugreifen und dies auch in seinen Texten spüren zu lassen, so daß »er zu zeiten sich mit den alten gleichsam in einen Wettstreit ein lässet, und ihre artige Manieren in Ausdrückung der Gedanken ihnen ablernet, auch ohne Zwang geschickt nach macht.«173 Als Übungen in der deutschen Poesie schlägt etwa Benjamin Hederich Verfahren vor, die die lange unterschätzte und unterprivilegierte deutsche Poesie in die Kontinuität der antiken Dichtung eingliedern; sie orientieren sich an lateinischen Versen der Schulautoren und werden von allen Poetiken in ähnlicher Form empfohlen: Die »Wiederübersetzung« eines ins Lateinische transponierten »guten Teutschen Gedichts«, die »Uebersetzung eines Lateinischen oder Griechischen Carminis in ein Teutsches«, »Imitationes« sowie die Ausarbeitung des »Inhalts eines Carminis«, der in kurzen Sätzen angegeben wird, dienen als poetische Exerzitien, die die gelehrte Kontinuität bei jedem einzelnen, der Poet werden will, sicherstellen sollen. 174 Poetische Aerarien, Florilegien und Reimregister stehen so für die Kontinuität der gelehrten Kommunikation ein, die jeder angehende Poet fortzuführen hat, indem er in und mit seinem Text als gelehrter Poet handelt und sichtbar wird; er demonstriert, daß er von den Vorbildern Gebrauch macht und sich der gelehrten Konkurrenz aussetzt Damit dies nicht allen möglich ist, folgt der Hinweis auf die Unzulänglichkeit solcher Hilfsmittel und auf das nascuntur der Poeten in unmittelbarem Anschluß: Denn wer sich über seine fehlende Begabung »mit Collectaneis, Aerariis, Poetischen Trichtern und andern gebrechlichen Rohrstäben hat trösten wollen/ der findet sich nun betrogen.«175 Senecas Empfehlung, die Dichter sollten es den Bienen gleichtun, »quae vagantur et flores ad mei faciendum idoneos carpunt, deinde quicquid attulere, disponunt ac per favos digerunt et, [...] >liquentia mella / stipant et dulci distendunt nectare cellaspöbelhafte< Unbescheidenheit poetischer Autodidakten, die alles nur sich selbst verdanken wollen und damit die Standesgrenzen mißachten, mokiert sich Gottsched in der »Critischen Dichtkunst« über die poetischen Genies, »die so glücklich sind, dasjenige in sich selbst zu finden, was Leute von meiner Gattung, nach Art ämsiger Bienen, erst auf fremden Fluren, nach vieler Mühe zusammen suchen müssen.« 179 Eine grundlegende Veränderung des Interesses an dem Metaphernkomplex des Bienenflugs kann man dagegen bei Sulzer und schließlich bei Herder beobachten: Beide betonen die individuelle Eigentätigkeit und die Anverwandlung gelehrter Stoffe durch den Dichter, der als Biene »die aus den Pflanzen gesammelten Säfte in Honig verwandelt,« 180 der sich »fremde Gedanken [...] auf gewisse Art zu eigen macht«181 und sich so diametral vom Esel unterscheidet, der trägt, was ihm andere aufbürden, ohne selbst etwas davon zu besitzen.182 War in der gelehrten Kommunikation das Bienengleichnis eine Möglichkeit, die gelehrte Kontinuität zu beschreiben, die jeder einzelne Poet fortzusetzen hat, indem er auf das Studium der antiken und modernen Mustertexte verpflichtet wird und seine Texte in deutlicher und auffälliger Nachahmung der antiken und neueren Muster verfertigt, so verändert sich mit der Fokussierung des Blickes auf die Verwandlung

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Weise, Imitation, S . 7 9 f . Morhof, Unterricht, 313 f. Gottsched, Critische Dichtkunst, S. XXV ff. Johann Georg Sulzer: Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste. In: Vermischte philosophische Schriften. Leipzig 1773. S. 141. Johann Gottfried Herden Von Schulübungen. In: Sämmtlicbe Werke Bd. 30, S. 70. Ebd.

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des Nektars in Honig als »unser Mark und Saft« 183 auch die Beschreibung der Dichter: Daß sie die Tradition berücksichtigen, wird weniger wichtig, als die Art und Weise ihrer Rezeption: Der Modus des Selbstbezugs tritt an die erste Stelle: Sie müssen sich die Vorbilder und Muster aneignen und im Prozeß der Aneignung anverwandeln, so daß das Fremde zum Eigenen und unverwechselbar Eigentümlichen wird. Der Rekurs auf die poetische Tradition wird, wie der Plagiatsbegriff bereits zeigte, immer auch negativ formuliert, um das nascitur zu wahren: Damit die angehenden Dichter nicht als >Reimschmiede< aus den gelehrten Vorlagen »Centones«184 verfertigen, damit der Bezug auf die poetisch-gelehrte Tradition nicht in einem uneinheitlichen »poetischen Flickwerk«185 resultiert, empfehlen die Lehrer der Poetik, einen »vernünfftigen Gebrauch« 186 von den poetischen Hilfs- und Repräsentationsmitteln zu machen. Dieser Rat ist jedoch nicht mit der Forderung nach der Einheit des Mannigfaltigen verbunden, die den modernen Werkbegriff auszeichnet.187 Statt dessen ist die Kategorie des aptum auch hier als Kriterium des poetischen iudicium in Kraft: Was dem Anlaß und den Adressaten eines Textes nicht angemessen ist, weil es zu vielen und heterogenen Mustern folgt, widerspricht auch der Gelehrsamkeit des Verfassers, dem es nicht gelingt, sich nach und nach von den poetischen Hilfsmitteln zu lösen, und der den Anfänger zu deutlich herauskehrt. Selbst ein Angehöriger des >Pöbels< könnte sich ja dieser Lehr- und Hilfsmittel bedienen und würde doch, wegen des fehlenden Naturells, nie zum Dichter taugen. Auf die Warnung vor den poetischen Aerarien und Florilegien bezieht sich noch die anonyme Breslauer Anleitung von 1725, um die Unabdingbarkeit des poetischen Naturells, das den >Pöbel< von der Dichtkunst ausschließt, und den durch Lektüre angestachelten poetischen Enthusiasmus zu betonen: »Hier kan zwar eine gute Belesung etwas thun; das meiste aber muß ein gutes Naturell ausrichten.«188 Wenn dagegen nur »allerhand gute Sententien, Gleichnisse, Historien und dergleichen aus andern ausgezogen und citirt« würden und dies hinreichte, Dichter zu werden, könnte

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Ebd., S. 68 ff. 184 vgl. zu Ablehnung und Praxis des Cento Theodor Verweyen/Gunther Witting: The Cento. A Form of Intertextuality from Montage to Parody. In: Intertextuality. Hg. von H. F. Plett. Berlin/NewYork 1991. S. 165-178. 1 SS Johann Christoph Dommerich: Entwurf einer deutschen Dichtkunst zum Gebrauche der Schulen. Braunschweig 1758. S. 58 f. 186 Ebd., S. 64. 187 Wolfgang Thierse: »Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat« Problemgeschichtliche Beobachtungen zur Geschichte des Weikbegriffs. In: Ästhetische Grundbegriffe. Studien zu einem historischen Wörterbuch. Hg. von K. Barck, M. Fontius, W. Thierse. Berlin (DDR) 1990. S. 378-414. 188 Anon.: Anleitung zur Poesie, (Breslauer Anleitung), S. 101.

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»ein jeder, weil Reimen und Versemachen zu lernen nicht gar so schwer, ein Poete werden«, obwohl »doch diese Schwäne an gar wenigen Orten singen.« 189 Die Seltenheit der Dichter ist die Prämisse der exklusiven gelehrten Dichtungskonzeption, die die angeborenen und individuellen Fähigkeiten des gelehrten Dichters nur betont, um Mobilität und Exklusivität in der gelehrten Kommunikationsgemeinschaft zu verbinden: Wo die Ausübung der Dichtkunst von allen gelernt werden könnte, wäre es nämlich nicht mehr möglich, einen >Pöbel< zu identifizieren und auszuschließen. Unter Bedingungen jedoch, da die gelehrte Exklusivität bedroht scheint, weil potentiell alle als Dichter und als Leser auftreten, gewinnt eine bisher unmögliche Option Attraktivität, nämlich demonstrativ auf alle Gelehrsamkeit zu verzichten und sich durch poetische >Blödigkeit< einerseits und unverwechselbare Individualität andererseits auszuzeichnen. 190 Wo ungelehrte Leser das gelehrte Handeln eines Poeten an den Texten nicht wahrzunehmen vermögen, braucht man seine Texten nicht auf Vorbilder abzustimmen und kann sich bei den Gelehrten durch demonstrativen Widerspruch zur gelehrten Tradition Aufmerksamkeit verschaffen. Durchhalten läßt sich, wie noch deutlich werden wird, die Totaldifferenz zu allen anderen Texten jedoch nur, wenn die Negation - zu wissen, wie man es nicht machen will - positiv und selbstreferentiell umformuliert wird: Man kann nur dann sicher sein, daß man es anders macht als alle anderen, wenn man ausschließlich sich selbst folgt.

3) Der Funktionswandel des poetischen Exempels Günther Buck hat in mehreren Arbeiten darauf hingewiesen, daß der Wandel des poetisch-literarischen Lernens vor allem im Hinblick auf den unterschiedlichen Traditionsbezug der vormodernen und der modernen Bildung und ihrer Institutionen beschrieben werden muß.191 Der Typus des gelehrten Lernens ist im Schnittpunkt aus kanonischer Tradition, Topik und Exemplarität anzusiedeln und stets bemüht, die Gegenwart in den dadurch konstituierten Traditionszusammenhang einzufügen, während das Lernen der Moderne die Gegenwart als Vorbereitung einer radikal neuen Zukunft auffaßt und sich aus der gelehrten Kontinuität verabschiedet. Im Gegensatz zur rhetorisch geprägten Pädagogik, 189 190 191

Christian Friedrich Hunold (Menantes): Vorwort zu Erdmann Neumeister: Die allemeueste Art/ zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. 3. Aufl. Hamburg 1735. Fol. a8v. Vgl. Stanitzek, Blödigkeit, S. 186 ff. Günther Buck: Literarischer Kanon und Geschichtlichkeit. (Zur Logik des literarischen Paradigmenwandels). In: DVjS 57, 1983, S. 351-365. - Vgl. auch Ders.: Lernen und Erfahrung. Zum Begriff der didaktischen Induktion. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967. S. 85.

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die die Rolle des Beispiels als Muster und Formular für das Erlernen von produktiven Fertigkeiten betont, konzentriert sich die metaphysische, in Deutschland durch Leibniz und Wolff wirksam gewordene Theorie des Beispiels auf dessen Erkenntnisfunktion im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Besonderem und Allgemeinem. Das Beispiel eines imitierenden Lernens, das den Kanon und die allgemeine, formularisch strukturierte Regel als bereits er- und bekannt voraussetzt, und das Beispiel der Erkenntnis, das einen individuell beschriebenen Fall als Beispiel für einen noch zu erkennenden allgemeinen Begriff setzt, werden dadurch in ein neues Verhältnis gesetzt. Bereits bei Gottlob Samuel Nicolai, einem älteren Bruder Friedrich Nicolais, ist in seiner »Critick der Beispiele« zu beobachten, wie die Beispiele der Nachahmung, die als Formeln für die eigene poetische Produktion fungieren, unvermerkt als Beispiele allgemeiner Begriffe erscheinen und so zu Erkenntnisinstrumenten geraten. Nicolai kritisiert zunächst die Beredsamkeit der »mittleren Zeiten«, die in gebundenen und ungebundenen Reden einen bloßen »Schein der Gelehrsamkeit und Belesenheit« vermittelt, weil sie »dem besonderen Reichthum der Sammlungsbücher verbunden« ist, aber keinen »inneren Zusammenhang« aufweist. 192 Das topische Feld, repräsentiert durch die poetisch-rhetorischen Hilfsmittel der Aerarien und Florilegien, wird im Zeichen der Metaphysik verlassen. Sie bricht die gelehrte Einheit von res und verba auf, indem sie auf die Erkenntnis der Sachen selbst pocht: Nicolai zufolge verwendet man bei der Nachahmung eines poetischen Mustertextes diesen nicht als Formular für die eigene Produktion, mit der man den Anspruch auf Anerkennung als Poet erhebt, sondern sucht durch »Isolation« des Beispiels, durch die Betrachtung des Textes »als Ganzes« und der »einzelnen Eigenschaften« im Hinblick darauf, »wie sie wieder ein Ganzes« bilden, die Vollkommenheitsstruktur, seine Einheit des Mannigfaltigen, zu erkennen, zu begründen und zu vermitteln. 193 Musternachahmung hört auf, Ausfüllung und Bestätigung eines vorgegebenen, kanonisch akzeptierten Formulars zu sein, und etabliert sich als pure Erkenntnisleistung, die das eigene Produkt dem vorgegebenen ähnlich macht; Nachahmung besteht ausschließlich in der Abbildung eines Vorbildes: Die Nachahmung eilt durch eben diesen Weg zur Vollkommenheit, und sucht das Muster zu erreichen und eine solche Aehnlichkeit [...] mit diesem zu erhalten, welche auch der grösten Volkommenheit des Musters nichts nachgiebt. 194

192

Gottlob Samuel Nicolai: Versuch einer Algemeinen Critick der Beispiele. Berlin 1752. S. 5. 193 Ebd., S. 138-141. ¡94 Ebd., S. 144.

Von gelehrter Kontinuität zu genialer Diskontinuität

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Die »Begierde ein Original zu seyn« und der Hochmut der »Autodidatti« 195 widersprechen unter diesen Vorzeichen weniger der gelehrten Kontinuität als vielmehr der Erkenntnis poetischer Vollkommenheit, die durch die Nachahmung vollzogen wird: »Man lasse also den Geist so lange durch gute Vorurtheile in Absicht auf andere regiert werden, biß er durch seine eigene Größe geleitet, selbst urtheilen kann, welche Dinge gut und welche es nicht sind.« 196 Auch die Beurteilung der Vorbilder im Hinblick auf Fehler und Mängel der Vollkommenheit ist somit als Erkenntnisprozeß konstituiert, der sich vom Vollzug des iudicium abhebt, das die Angemessenheit der Vorbilder für konkrete >Gelegenheiten< beurteilt, da mit poetischer Produktion die eigene Gelehrsamkeit ausgestellt werden kann.

4) Kunst als Natumachahmung Je mehr der klassische Kanon durch die zunehmende Zahl der Werke der Neueren, die ebenfalls Anspruch auf nachahmende Beachtung erheben, sowie durch die ungelehrten Leser, die diesen Kanon weder kennen noch aktualisieren, bedroht und marginalisiert scheint, desto mehr Erfolg hat die Rückbindung der Kunst an die >Naturersten< Künstler, die bereits im Rahmen der Poetik und Rhetorik angeführt werden, ist eines der wichtigsten Symptome für die Auflösung der gelehrten Kontinuität. 5) Autoschediasmata, poetische Anfänge und die Auflösung der gelehrten Kontinuität Die Wahrung der gelehrten Kontinuität ist nur unter den Bedingungen einer Geschichtsauffassung, die ebenfalls von der Prämisse der Kontinuität ausgeht, problemlos möglich: Der einzelne wiederholt, indem er die dichterische Tradition zur Kenntnis nimmt und für die eigene Produktion verwendet, was alle anderen gelehrten Dichter auch getan haben; zugleich gilt, daß die ersten Dichter ohne Kenntnis von Regeln und Mustern dichteten. Der Anfang jeder historischen Kontinuitätskonstruktion ist aber zugleich ihr Schwach- und Angriffspunkt: Während sich alle gelehrten Dichter auf ihre Vorgänger beziehen können und müssen, stehen den ersten Dichtern weder Regeln noch Muster zur Verfügung, an denen sie sich orientieren könnten. Daß sie dennoch und gerade deshalb legitime Poeten sind, gehört zu den Topoi gelehrten Dichtungsverständnisses. Der Anfang der Dichtung und die ersten Dichter werden etwa in den Poetiken des Barock angeführt, um die jeweilige Dichtungskonzeption und damit zugleich eine bestimmte Dichterkorporation durch den Hinweis auf ihr Alter und ihren Anfang als Schäfer-, Hirten-, Druiden- oder Bardendichtung zu legitimieren. Siegmund von Birken etwa verweist auf die »gelehrten Hirten«, die als er-

2°0 Ebd., S. 489.

Von gelehrter Kontinuität zu genialer Diskontinuität

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ste in »Sicilien und Arcadien« die Dichtkunst ausgeübt haben.201 Diese traditionelle, auf Aristoteles zurückgehende Beschreibung der dichterischen Anfänge als ungelehrte Naturdichtung wird im 18. Jahrhundert mit seinen grundlegenden Veränderungen der literarischen Kommunikation eine besondere Rolle spielen; daran werden nämlich jene Konzeptionen der Poesie anschließen, die die gelehrte Kontinuität in geniale Diskontinuität umdeuten: Die dichterisch besonders Begabten haben - so Aristoteles in der »Poetik« - »von Anfang an [...] aus den Improvisationen (=αυτοσχεδιασματα) die Dichtung geschaffen.« 202 Diesen poetologischen locus classicus greift die philosophische Ästhetik auf, setzt nun aber den literaturhistorischen Anfang mit den dichterischen Anfängen eines jeden Individuums gleich. Auf die angehenden Dichter projiziert, fungiert die Konzeption der poetischen Improvisationen und des Naturalisierens als erste Stufe der poetischen Ausbildung; das Individuum wiederholt die Geschichte der Poesie im eigenen Lebenslauf. So schreibt Baumgarten in der »Aesthetik« unter Hinweis auf die ungeschliffenen Verse der Bauern aus uralter Zeit: Exercitia aesthetics erunt 1) αυτοσχεδιασματα ci tra directíonem artis erudì tae, qua polleat exercendus, suscepta. [...] Hue generis Immani omnia ante aites eruditas inventas pulchiae cognitionis specimina, hue cuiusvis pulchrioris naturae primi igniculi omnem artem ante veren tes. 2 0 3

Daß Baumgarten im unmittelbaren Anschluß an die Einfuhrung der autoschediasmata auf eine autobiographische Bemerkung Ovids verweist, - »sicut Ovidius de se memorat: >Quidquid temptabit dicere, versus eritAlten< und >NeuernPöbelSchulfüchserei< verfallen ist, in allen Wissensbereichen Erfahrung und Kenntnisse zeigt.251 Daß für den Pädagogen trotz der Spezialisierungsnotwendigkeit die Maxime gilt, seine Schüler zu einer »mittelmäßigen Brauchbarkeit« zu erziehen, bezeugt den Weiterbestand und die Umfunktionierung hierarchischer und exklusiver Gesellschaftskonzeptionen: »Große Männer ziehn zu wollen, würde heissen, Alpen aufzuthürmen. Dadurch erhalten wir so viele verschrobene Köpfe, die groß seyn wollen, und Narren sind. Der große Mann wird nicht erzogen, er wird geboren.«252 Vor allem der Wunsch, Dichter zu werden, auf den der Pädagoge mit dem Rekurs auf das nascitur anspielt, ist ein häufiges und typisches Beispiel aus dem Bereich, auf den sich die der »Brauchbarkeit« widersprechenden Bedeutsamkeitswünsche der Jünglinge einpendeln: 253 Sobald sich die

249

Hermes, Bestimmung der Lebensart, S. 10. Villaume, Brauchbarkeit, S. 615. Vgl. Stichweh, Spezialisierung, S. 101. 252 Villaume, Brauchbarkeit, S. 615. - Vgl. auch Herwig Blankertz: Geschichte der Pädagogik von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982. S. 83 ff. 253 vgl. zur Opposition von Brauchbarkeit und Schriftstellerehrgeiz auch Anon.: Der Genius auf der akademischen Laufbahn. Ein Lesebuch für Schulen und Universitäten. Leipzig 1795. S. 54: »Brauchbar ist jeder, der sich durch seine erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten wirksam für's allgemeine Wohl öffentlich beschäftigt und nicht in olio litterario lebt« 25

251

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Die Handbücher der Poetik und Ästhetik

Schulen von der Aufgabe abwenden, »Grammatiker, Redner und Poeten« zu erziehen, und sich statt dessen der Aufgabe widmen, »Menschen zu bilden [...], die zu den verschiedenen Geschäften und Pflichten des Lebens die erforderlichen Kräfte, Geschicklichkeiten und den nötigen guten Willen aus den Schulen mitbringen müßten,« 254 gewinnt im Gegenzug das Versemachen als traditionelles Mittel, Ruhm und Bedeutsamkeit gegen die Banalitäten des >großen Haufens< zu erringen, eine besondere Attraktivität für jene Jünglinge, die nicht bereit sind, der Spezialisierung Opfer zu bringen: Einige Jünglinge auf Schulen plagt [...] auch schon die Schriftstellersucht. [...] Bald fangen sie selbst an Geniedrang und geistige Geburtsschmerzen zu fühlen [...] erfahren Beifall, werden gedruckt [...] vollendet sind die Dichterlinge. 255

Was hier der Pädagoge Böttiger in erster Linie als Folge der deutschen Lektüre zu diagnostizieren und zu denunzieren sucht, muß gleichermaßen als Konsequenz des allmählichen Rückzugs der Schulen und Universitäten aus der Unterweisung angehender Dichter gesehen werden: Zwischen der stratifikatorisch gegliederten feudalen Gesellschaft, die den Dichter zur nobilitas Iliteraria zählte, ihn als Träger einer universalen, alle Wissenschaften umfassenden Gelehrsamkeit auszeichnet und ihm mit seinem Werk den Ruhm über den Tod hinaus versprach, und den Anfängen der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft, die allen verspricht, alles werden zu können, um dieses Versprechen im Zeichen gesellschaftlicher Brauchbarkeit und Spezialisierung wieder zurückzunehmen, ist eine konfliktträchtige Interferenz festzustellen. Die Schüler, denen ihre Lehrer die Ausbildung zum Dichter verweigern, greifen auf die Versprechungen der gelehrten Kommunikation zurück, um ihren Ansprüchen auf Bedeutsamkeit, Exklusivität und Universalität Nachdruck zu verleihen und ihnen außerhalb und im Gegensatz zur Schule Geltung zu verschaffen. Ihren Lehrern zeigen sie, daß sie wie die in den 1760er Jahren in Berlin Furore machende >Naturdichterin< Anna Louisa Karsch Verse machen können, »ohne zu wissen, was Verse sind«, denn »der wahre Dichter bildet sich größtentheils selbst.« 256 Er demonstriert sein traditionell alle Hindernisse

254

Emst Heinrich Trapp: Ueber das Studium der alten classischen Schriftsteller und ihrer Sprachen in pädagogischer Hinsicht. In: Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens. Thl. 7. S. 309-384. Hier: S. 361. 255 Carl August Böttiger: Ueber den Misbrauch der Deutschen Leetüre auf Schulen und einige Mitteln dagegen. Leipzig 1787. S. 19 f. Nachdruck in: Der Deutschunterricht auf dem Gymnasium der Goethezeit. Eine Anthologie. Hg. von G. Jäger. Hildesheim 1977. 256 So der Kommentar Friedrich Gedikes zu John Lockes Weigerung, Jünglinge das Verseschreiben lemen zu lassen. In: Übersetzung des Erziehungsaufsatzes Lockes und der Kommentare von Campe, Resewitz, Gedike u. a. in der Allgemeinen Revision, Bd. 9, S. 517.

Die Funktion der Genieemphase

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überwindendes Genie gerade dann, wenn es im Gegensatz zu den Intentionen seiner Lehrer steht. Nur wer sich gegen alle Hindernisse durchsetzt, wer »trotz dem Verbot« Verse macht, darf Dichter werden. 257 Die Dichterjünglinge behaupten und demonstrieren zuerst jenen Lehrern gegenüber, die der »schalen Schöngeisterei und Versemacherei« entgegentreten,258 ihr dichterisches Genie, um aufzufallen, und müssen diese Selbstdarstellung auf dem literarischen Markt nochmals intensivieren, weil die Behauptung poetischen Genies allgemein geworden ist. Sie sind gezwungen, ihre natürliche Begabung absolut zu setzen, denn nur so können sie ihre Geduld, ihr Durchsetzungsvermögen und ihre Kraft zur Originalität demonstrieren. Allein auf diese Art und Weise ist die zusätzliche Unterscheidung zwischen Genies und Dichtern möglich, die die prinzipiell offene Personengruppe jener, die den Anspruch erheben, Dichter zu sein, der weiter differenzierenden Beobachtung aussetzt.259 Da die praktische poetische Unterweisung bei den Pädagogen, die keine Dichter mehr bilden wollen und können, umstritten ist, verlagert sich der Schwerpunkt der schulischen und akademischen Beschäftigung mit literarischen Texten von der Orientierung an der poetischen Praxis der Schüler auf die Orientierung an ihrer Lektüre. 260 Angesichts der quantitativen Zunahme des Geschriebenen scheint die Ausbildung der Schüler zum kompetenten Leser wichtiger zu sein als die zum Poeten: Poeten gibt es ohnehin zu viele und die meisten von ihnen streben ihren Erfolg auf ungelehrte, illegitime Art und Weise an. Legitimität gewinnt statt dessen der Ausschluß der praktischen Anleitung zur Poesie aus dem Kanon der Schul- und Universitätsfächer: So fühlt sich etwa Gottfried August Bürger gezwungen, seine Stilvorlesungen an der Universität Göttingen dadurch zu rechtfertigen, daß er sie ausdrücklich von poetischen, auf Schönheit zielenden Übungen abgrenzt und ihren praktischen Nutzen für die späteren Geschäfte der Studenten hervorhebt.261 Daß die Schulen und Universitäten zwar keine Dichter mehr ausbilden wollen, daß sie aber weiterhin, durch ihren Lektürekanon durch die Institutionalisierung des deutschen Aufsatzes,

257

Villaume, Brauchbarkeit, S. 594. Gedike, Kommentar zu John Locke, S. 517. 259 Luhmann, Die Selbstreproduküon der Kunst, in: Stil, S. 640. 260 Vgl. Weimar, Deutsche Literaturwissenschaft, S. 102 ff., sowie Bosse, Dichter kann man nicht bilden. - Vgl. auch Gerhard Rupp: »In der Anarchie der Sprache eine gar schöne Ordnung« sehen. Ästhetische Schulung durch Stilübungen im Literaturunterricht des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hg. von H.U. Gumbrecht/ K.L. Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1986. S. 394-410. 261 Gottfried August Bürger: Über Anweisung zur deutschen Sprache und Schreibart auf Universitäten. Einladungsblätter zu seinen Vorlesungen. In: Sämtliche Werke. Hg. von G. und H. Häntzschel. München 1987. S. 773-799. 258

Die Handbücher

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der Poetik und

Ästhetik

aber auch durch das Verbot, Verse zu machen, Einfluß auf die Bildung v o n angehenden Dichtergenies nehmen, ist ein D i l e m m a , das v o n den » S c h u l m ä n nern« s e l b s t , 2 6 2 vor allem aber von den G e n i e s und ihren Beobachtern reflektiert wird.

262

Vgl. dazu Friedrich Rambach: Ueber die Bildung des Gefühls für das Schöne auf öffentlichen Schulen. Berlin 1794. S. 82 ff: »Ich [...] glaube aber, daß man nicht umhin könne selbst wider seinen Willen Dichter zu erziehen, indem das Genie jede dargereichte Nahrung leicht auffängt. [...] Es würde wahrscheinlich sehr schlecht um deutsche Kunst stehen, wenn dies nicht der Fall wäre, wenn sich nicht [...] die Sänger des Meßias und Oberen hätten durch eigne Kraft bilden können.«

IV. Beobachtungen des autobiographischen Schreibens

Der Funktionsverlust der Kompendien der Poetik und Ästhetik für die Beschreibung dichterischen Handelns und dichterischer Ausbildung findet seine Fortsetzung in der Weigerung vieler >Schulmännerpoint-de-vue-Lehreempirische Psychologie< der unteren und höheren Erkenntniskräfte beobachtet werden, sondern davon müssen Geschichten erzählt werden, und zwar auf eine Weise, die den eigentümlich-einzigartigen Zusammenhang zwischen Innen und Außen, zwischen Eigenem und Fremdem narrativ, d. h. als zeitlichen, kontinuierlichen Prozeß, etabliert.19 Individualität erscheint aus dieser Perspektive nicht als etwas, das im 18. Jahrhundert aufgefunden wird oder nach einer kontinuierlichen geistesgeschichtlichen Entwicklung nun endgültig zum Vorschein kommt, 20 sondern als Effekt der semantisch-kommunikativen Umstellungen im

17 18 19 20

Luhmann, Die Autopoiesis des Bewußtseins, S. 46. Ebd., S. 74. Buck, Die systematische Stellung des Emile, S. 98 ff. - Vgl. dazu auch Frese, Prozesse im Handlungsfeld, S. 12. So noch Karl Joachim Weintraub: The Value of the Individual. Self and Circumstance in Autobiography. Chicago and London 1978. - Vgl. auch Ralph-Rainer Wuthenow: Das

Spuren oder Monument

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Zuge der zunehmend funktionalen Gesellschaftsdifferenzierung. Sie verlangt eine Instanz, die Einheit und Identität des Individuums garantiert, bevor es in jeweils unterschiedlicher Weise in die gesellschaftlichen Funktionsbereiche eingespannt wird. In der emphatischen Konzeption des unverwechselbaren, einzigartigen und sich selbst transparenten Individuums wird die Vervielfältigung der gleichzeitig für den Einzelnen möglichen Rollen und die Kontingenz der nun auch immer anders möglichen, riskanten Karrieren thematisiert. Die Auflösung der hierarchischen Ständeordnung bereitet sich vor in der neuzeitlichen Anthropologie, die den Menschen als nicht-festgelegtes, unruhiges Wesen beschreibt, das seinen festen Ort in der Reihe der Dinge verloren hat.21 Mit dem nicht-teleologischen Begriff der anthropologischen Perfektibilität beschreibt ζ. B. Rousseau diese prekäre, instabile Situation des modernen Menschen, eine Lage, der sich jedoch in Deutschland nur wenige stellen mögen. 22

B. Spuren oder Monument - Autobiographik zwischen Sprechen und Schreiben Bei der Untersuchung, wie die Dichterrolle in der Autobiographie und im Roman thematisiert wird, die zeigen wird, weshalb und wie der Zusammenhang von Leben und Werk eines Autors hergestellt wird, soll keine strenge Gattungsdefinition vorausgeschickt werden; oft genug dient sie nur dazu, das erste oder einzige Exemplar einer Gattung festzuhalten, um deren Geschichte als kontinuierliche Entwicklung konstruieren zu können, die Anlehnung an das Paradigma und Abkehr von ihm einschließt.23 Statt dessen gilt es, einen Problemzusammenhang aufzudecken, der zur Erklärung der parallelen Karrieren von Autobiographie und (Bildungs)-Roman beiträgt. Beide Gattungen sind wegen ihres noch zu beweisenden engen genetischen und funktionalen Zusammenhangs im Untersuchungszeitraum als Antwort auf das moderne anthropologische und pädagogische Interesse zu beschreiben, das die Problematik der komparativen Existenz des modernen Menschen und der funktionalen Differenzierung, mit deren komplexen Rollenanforderungen sich der einzelne zurecht fin-

21

22 23

erinnerte leb. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert. München 1974. S. 211. Vgl. Niklas Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie. Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft. In: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1980. S. 162-234. Hier: S. 212 ff. Buck, Die systematische Stellung des Emile, S. 123 ff. Für die Autobiographie so noch Olav Severinen: Individuum est ineffabile. De modernistische autobiographie tussen Goethe en Leiris. Amsterdam 1989.

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Beobachtungen des autobiographischen Schreibens

den muß, in den Blick nimmt.24 Am Beispiel des entstehenden modernen Literatursystems kann diese allgemeine Problematik spezifiziert und exemplifiziert werden. Zu zeigen ist, welche Funktionen Autobiographie und Roman mit der Auflösung der gelehrten Ordnung und deren Ersetzung durch Büchermarkt und allgemeines Publikum zugeschrieben werden. Um die Thesen dieser Arbeit in einen kontrollierbaren und produktiven Zusammenhang zu stellen, muß die komplexe Geschichte der Autobiographieforschung beachtet werden. Sie präsentiert sich als Kontinuität einer doppelten Latenz: Sie partizipiert erstens, ohne es zu bemerken, an der Fortschreibung jener Aponen, die bereits in der Diskussion des 18. Jahrhundert beobachtet werden können, und versäumt es zweitens, jene Umorganisation der Bücher- und Lesewelt, in die die moderne Autobiographie zusammen mit der neuen Konzeption dichterischer Ausbildung und dichterischen Handelns eingebettet ist, zu berücksichtigen. Schließlich soll der im Kontext romantheoretischer Arbeiten postulierte Zusammenhang zwischen Autobiographie und Roman kritisch ins Auge gefaßt werden. Obwohl bereits im späten 18. Jahrhundert im Anschluß an Rousseau und im Zuge des neuen anthropologischen Interesses gerade in Deutschland eine umfangreiche Diskussion über Wert, Funktion und Konstitution autobiographischer Texte in Verbindung mit der Behandlung ähnlicher Fragen im Hinblick auf Biographie und Roman einsetzt, hat es sich eingebürgert, die Geschichte der Autobiographieforschung mit dem monumentalen Werk des Dilthey-Schülers Georg Misch 25 beginnen zu lassen, das in den großen autobiographischen Texten der abendländischen Geschichte die Entwicklung des menschlichen Selbstbewußtseins ausgedrückt sieht.26 Es ist von Diltheys Auffassung geprägt, daß alle geisteswissenschaftlich-historische, hermeneutische Erkenntnis wegen ihrer Distanz zum aktuellen geschichtlichen Geschehen und Erleben in Analogie zur autobiographischen Selbsterkenntnis fungiert, so daß umgekehrt die Betrachtung autobiographischer Texte das »geschichtliche Sehen« lehrt: 24 Vgl. dazu vor allem Georg Stanitzek: Bildung und Roman als Momente bürgerlicher Kultur. Zur Frühgeschichte des deutschen Bildungsromans. In: DVjS 62, 1988, S. 416450. - Wilhelm Voßkamp: Der Bildungsroman in Deutschland und die Frühgeschichte seiner Rezeption in England. In: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Hg. von J. Kocka. Bd. 3. München 1988, S. 257-286. - Ders.: Der Bildungsroman als literarisch-soziale Institution. Begriffs- und funktionsgeschichtliche Überlegungen zum deutschen Bildungsroman am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der DFG Würzburg 1986. Hg. von C. Wagenknecht. Stuttgart 1988. S. 337-352. 25

26

Georg Misch: Die Geschichte der Autobiographie. 4 Bde. Frankfurt a. M. 1949-1969. Hier: Bd. 1, S. 5 ff. So auch Günter Niggl: Einleitung. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hg. von G. Niggl. Darmstadt 1989. S. 2 f.

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Durch das Lesen autobiographischer Texte sehe man, was ihr Verfasser nicht sehen kann und nicht sehen darf, um sich selbst zu beobachten.27 Die Tatsache indes, daß zwischen Leser und Autobiograph der auslegbare autobiographische Text steht, wird heruntergespielt. Daß außerdem das historische Distanz- und Perspektivenbewußtsein bereits im 18. Jahrhundert von dem Historiker Chladenius zur notwendigen Voraussetzung historischer Erkenntnis erklärt und bald darauf von anderen - wie man später sehen wird - auch auf Autobiographik und Roman appliziert wurde, bildet wegen des auf Misch (und Dilthey) festgelegten Ursprungs der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Autobiographien einen blinden Fleck der Autobiographieforschung. Darin gleicht sie der Bildungsromanforschung, die ihren Beginn zunächst ebenfalls auf Diltheys Definition des Begriffes »Bildungsroman« datierte, um später feststellen zu müssen, daß dieser Begriff eine viel längere Geschichte hat, die man kennen sollte, bevor man beginnt, einzelne Texte als Paradebeispiele der Gattung aufzugreifen, zu analysieren und in einen historischen Zusammenhang zu stellen.28 Im Anschluß an Misch, der in seiner Materialfülle als unerreichtes, in vielen Details aber als ergänzungs- und korrekturbedürftiges Vorbild erscheint, kann man eine Vielzahl von Spezialuntersuchungen ausmachen, die autobiographische Texte als (geistes)-geschichtliche Quellen mehr oder minder großen dokumentarischen Wertes lesen und die später vornehmlich die spezifischen Regeln des Genres, zwischen Gattungsgeschichte und Gattungsdefinitionen oszillierend, untersuchen. Ausschlaggebend für die Hinwendung zum Begriff des autobiographischen Genres und seiner Regeln und Prämissen ist die Problematik des autobiographischen >QuellenwertsSpur< des Lebens und als sinnstiftendes Monument erscheint, ist die strenge Unterscheidung wahr-falsch jedoch nicht anzuwenden: Kein Schilderungskunstgriff [...} vermag den Erzähler daran zu hindern, stets das Ende der Geschichte zu kennen, die er erzählt, d. h. irgendwie von dem bereits gelösten Problem auszugehen. [...] Die Autobiographie ist ein Moment des von ihr geschilderten Lebens; sie bemüht sich, den Sinn dieses Lebens herauszukristallisieren - nur ist sie selbst ein Sinn dieses Lebens. Ein Teil des Ganzen erhebt den Anspruch, das Ganze widerzuspiegeln, aber dieser Teil fügt diesem Ganzen, von dem er nur ein Moment ist, noch etwas hinzu. [...] Die Bedeutung der Autobiographie ist somit jenseits von falsch und richtig zu suchen. 34

Der autobiographische Text, hier Dokument und Monument eines Lebens, führt zu einer Spaltung des autobiographischen Gegenstandes sowohl für den Autor als auch für den Leser: Der Autor beobachtet sich als einen, der seinen vergangenen Lebenslauf zu schreiben unternimmt, und gleichzeitig als den, der er war.

32 33 34

Georges Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie. In: Die Autobiographie. Hg. von G. Niggl. S. 121-147. Hier: S. 131. Ebd., S. 131. Ebd., S. 139 ff. - So auch Aichinger, Probleme der Autobiographie, S. 183.

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Beobachtungen des autobiographischen Schreibens

Der Leser sieht durch den Text der Autobiographie hindurch den Verfasser der Autobiographie: Dieser erscheint doppelt, als Ich auf einem Lebensweg und als Schreibender, der sich selbst darstellt und verstellt. Den Text einer Autobiographie beobachtet man also gleichzeitig als transparent und intransparent, er gibt den Blick auf das Individuum frei und verstellt ihn zugleich. Weil das Schreiben der Autobiographie selbst nicht vollständig zum Gegenstand des autobiographischen Schreibens werden kann, ist ein paradoxes Verhältnis zwischen Teil und Ganzem die Folge: Der Teil des Lebens, den das Schreiben des eigenen Lebensbeschreibung okkupiert und darstellt, erscheint gleichzeitig als Vervollständigung und als additive Ergänzung des Ganzen, so daß iterativ jeder Autobiographie eine weitere folgen müßte, die die vorherige mit in ihren Gegenstandsbereich einbezieht. Zeitlichkeit und Sterblichkeit des Menschen verhindern die Transparenz des Menschen für sich selbst, ermöglichen jedoch seine vorläufige Selbstbeschreibung, in der sie selbst vorkommt. Mit der Differenz zwischen >Ich< und den >Anderen< werden in polemischer Absicht der eigenen Lebensbeschreibung Wahrheit und Transparenz zugesprochen, während alle übrigen Autobiographien als abstrakte Verallgemeinerungen und als rhetorische Verstellungen diffamiert werden. Dies funktioniert, seitdem im 18. Jahrhundert jene Konzeption des autobiographischen Schreibens Erfolg verspricht, die Text und Sprache der Autobiographie dem gelebten Leben und der Person des Autobiographen annähert, d. h. die Opazität und Rhetorizität des autobiographischen Textes leugnet. Der Stil und die sprachlich-rhetorische Form des autobiographischen Textes werden dann nicht mehr als strategische Instrumente der möglichst positiven Selbstdarstellung und -Verstellung aufgefaßt, sondern als eindeutige, unmittelbar auf die Person verweisende Zeichen, die selbst transparent sind. Eine Konzeption, die die Spontaneität des Schreibens als Abpausen der gegenwärtigen und der vergangenen Empfindungen auffaßt und nicht als technisch-rhetorische Herstellung von Wirkungen beim Leser, 35 erlaubt den Stil des einzelnen autobiographischen Textes als Abweichung von allen anderen Stilen und rhetorischen Schreibarten aufzufassen; so wirkt der Text der Autobiographie als ein System enthüllender, symptomatischer, individualisierender

35

Rousseau, Ebauches des Confessions, S. 1154: »Je dirai chaque chose comme je la sens, comme je la vois. (...) En me livrant à la fois au souvenir de l'impression receue et au sentiment présent je peindrai doublement l'état de mon âme, savoir au moment où je l'evenement m'est arrivé et au moment où je l'ai décrit; mon style inégal et naturel, tantôt rapide et tantôt diffus, tantôt sage et tantôt fou, tantôt grave et tantôt gai fera lui-même partie de mon histoire.« - Daß es sich hier um eine Montaigne-Paraphrase handelt, von dem sich Rousseau eigentlich absetzen will (Ebd., S. 1 ISO) bleibt unerwähnt. - Vgl. dazu Jean Starobinski: Le style de l'autobiographie. In: Poétique 1, 1970, S. 257-265. Vgl. auch Heinz Gockel: Individualisiertes Sprechen. Lichtenbergs Bemerkungen im Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Sprachkritik. Berlin/New York 1973. S. 110.

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Züge. Daß aber gerade eine Schreibweise, die sich explizit als >Spur< beschreibt und ihre Rhetorizität leugnet, den Autor in den Verdacht geraten läßt, heuchlerisch und am eigenen Vorteil interessiert zu sein, kann man bereits an der frühen Rousseau-Rezeption beobachten. Wer sich so betont emphatisch von den anderen unterscheidet, das Urteil über sich selbst allein der eigenen Person zuweist und zudem noch behauptet, keine rhetorische Persuasion im Sinne zu haben, gerät für jeden Beobachter in den Verdacht, um so absichtsvoller rhetorisch zu verfahren. 36 Ebenso ist Herders Hoffnung, mit Autobiographien eine »lebendige Physiognomik« zu erhalten, an die Sprachkonzeption eindeutiger, sich selbst erklärender Zeichen gebunden: Nur wenn der Verfasser den Mut hätte, »sich selbst zu zeichnen, ganz, wie er sich kennet und fühlet, [...] sich durch seinen ganzen belebten Bau, durch sein ganzes Leben zu verfolgen, mit allem, was ihm jeder Zeigefinger auf sein inneres Ich zuwinkt,« könne man den Menschen »tiefer« erkennen, »als aus dem Umriß von Stirn und Nase.« 37 Die Polemik gegen die Physiognomik Lavaters wendet sich gegen ihren - tödlichen - Schriftcharakter; ihr wird ein vermeintlich »lebendiger«, auf Präsenz beruhender Zeichengebrauch entgegengesetzt. Aus körperlichen Charakteristika folgt keine zuverlässige Menschenkenntnis, weil es nicht gelingt, eine eindeutige Relation zwischen körperlichen Signifikanten und unkörperlichen Signifikaten festzustellen; die »Zeigefinger« Herders dagegen verweisen vermeintlich unmittelbar und eindeutig auf das innere Ich des Autobiographen. Daß jedoch selbst Fingerzeige unter Anwesenden mehrdeutig und interpretationsbedürftig wie Texte sind, bleibt um des Kontrastes willen verschwiegen. Der eigenen Lebensbeschreibung wird der Textcharakter abgesprochen, damit sie für den Leser durchsichtig scheine und den Blick unmittelbar auf den Verfasser freigebe. Zweifel an der behaupteten Transparenz verfehlen jedoch den Verfasser und werden statt dessen auf den autobiographischen Text gelenkt, der plötzlich als notwendig opak erscheint. Diese Verstrickungen, in die Autoren und Leser moderner Autobiographien geraten, vollzieht die ältere Forschung zu häufig lediglich nach, statt sie historisch und sprachtheoretisch zu erklären. Deshalb hat sich die Aufmerksamkeit 36

37

Vgl. z.B. diese Kritik: Anon.: Unmaßgebliche Bedenken Uber das Verdienst derer, die ihr eigenes Leben beschreiben. In: Deutsche Monatsschrift. Leipzig 1798. Bd. 1. S. 213-218. S. 215: »Er (Rousseau, K.S.) spricht freilich sehr oft von seinen Fehlern, und die Unbefangenheit, womit er auf die Flecken seiner Seele hinweißt, dürften viele glauben machen, es sey ihm um nichts so sehr zu thun gewesen, als sein Inneres so daizulegen, wie es an sich war. Es ist eine eigene Art Eitelkeit, von seinen Fehlern zu sprechen, denn gemeiniglich werden sie in ein solches Licht gestellt, so daß der Geschichtsschreiber derselben am Ende noch dabei gewinnt.» Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, Sämmtliche Werke Bd. 8, S. 181.

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Beobachtungen des autobiographischen Schreibens

neuerdings auf die Frage gerichtet, wie man zu einer allgemeinen Gattungsdefinition gelangen kann, die den Ansprüchen an sprachtheoretisch-linguistische Widerspruchsfreiheit gerecht wird, ohne die historischen Beispiele ungebührlich zu vernachlässigen. Interessante, zugleich aber auch problematische Einsichten verbinden sich mit dem Versuch, »autobiographische Akte« 38 und »Pakte« 39 zu analysieren, die die Autobiographie eindeutig von anderen Gattungen wie Biographie, Roman und Tagebuch unterscheiden: Philippe Lejeune definiert die Autobiographie als »récit rétrospectif en prose qu'un personne réelle fait de sa propre existence, lorsqu'elle met l'accent sur sa vie individuelle, en particulier sur l'histoire de sa personalité.«40 Die »klassische Autobiographie« ist für Lejeune zunächst im Anschluß an Genettes Klassifikation der »Stimmen« des Erzählens »autodiegetisch«, d. h. Erzähler und Hauptfigur sind identisch, weil der Autor mit beiden identisch ist, außerdem ist die Autobiographie zumeist in der ersten Person Singular geschrieben.41 Weil aber ein Autor als Verfasser von Texten, anders als ein Sprecher, erst dann für die Leser zu einer Realität wird, wenn sein Name einer Serie von Texten vorangestellt ist, in die sich die Autobiographie mit einem identischen Verfassernamen einordnet, bedarf es einer kontraktuellen Bestätigung der Identität von Autor, Erzähler und Figur im Text der Autobiographie unter Einschluß ihres Vorworts und Titelblatts. Dies ist der »pacte autobiographique«.42 Er hat vielfach zur Folge, daß die Leser sich als »Spürhunde« gebärden und nach Vertragsbrüchen suchen, also nach Fällen, wo die abgemachte Identität durch Irrtümer einerseits und absichtliche Verstellungen andererseits verletzt wird 4 3 Im umgekehrten Fall, dem »pacte romanesque« 44 , wird im Buch eine Differenz zwischen Autor, Erzähler und Figur indiziert. Hier neigen die Leser dazu, Übereinstimmungen zwischen Autor und Figuren aufzuspüren und den Text autobiographisch zu entschlüsseln. Wenn jedoch fiktionale Texte als quasi-autobiographische Dokumente ein-

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Elizabeth W. Bruss: Autobiographical Acts: The Changing Situation of a Literary Genre. London/Baltimore 1976. - Dies.: L'autobiographie considérée comme une acte littéraire. In: Poétique 17, 1974, S. 14-26. Übersetzter Nachdruck in: Die Autobiographie. Hg. von G. Niggl. S. 258-279. 39 Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique. In: Poétique 4, 1973, S. 137-162. - Ders.: Le pacte autobiographique. Paris, Seuil, 1975. Darin: S. 13-46: Ausführliche Fassung des Poétique-Aufsatzes. 40 Lejeune, Le pacte autobiographique (Seuil), S. 14. 41 Ebd., S. 16 ff. 42 Ebd., S. 26, 31. 43 Ebd. S. 26. 44 Ebd. S. 27 ff.

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geführt werden, wenn also Autoren ihre Werke als Konfessionen ausgeben, 45 werde ein »pacte fantasmatique« 46 geschlossen, der die Leser auffordert, die fiktionalen Texte auch als »enthüllende Phantasmen« eines Individuums zu entziffern. Seit wann und warum diese Lektüre- und Veröffentlichungsgepflogenheiten möglich und notwendig sind, wird leider nicht weiter ausgeführt; dies ist jedoch eines der wichtigsten Desiderate der Forschung, da erst die Reflexion auf die historischen Bedingungen der Möglichkeit für Gattungsgepflogenheiten erlaubt, eine Gattungstheorie zu formulieren, die ohne normative Prämissen auskommt. Bezeichnenderweise stehen für Lejeune Dichter- bzw. Autorenautobiographien pars pro toto stellvertretend für die ganze Gattung, ohne daß deutlich würde, wieso gerade die Betrachtung autobiographischer Texte von Verfassern, die auch andere Texte publizieren, so aufschlußreich für das gesamte Genre ist. Die Theorie des autobiographischen Paktes enthält lediglich den Hinweis, daß es sich bei den Pakten zwischen Autoren und Lesern, die den Ausgangspunkt für die Lektüre veröffentlichter Texte anzugeben versuchen, um Codes handelt, deren historische Genese eng mit den »technischen und kommerziellen Problemen des Veröffentlichens« verknüpft seien, und nicht um einen gleichsam natürlichen Umgang mit Texten. Leider wird dies selbst im historischen Kapitel der Arbeit nicht weiter erläutert.47 In expliziter Kritik an der Theorie autobiographischer Pakte und unter Vernachlässigung der von ihr betonten schriftlich-textuellen Konstitution der Gattung formuliert Elizabeth Bruss ihre These, daß die Autobiographie nicht von heute aus, wie es Lejeune tue, sondern aus der Perspektive des zeitgenössischen Publikums, für die sie jeweils bestimmt war, als Gattung zu analysieren sei. Sie verwendet den Terminus »autobiographischer Akt«, um deutlich zu machen, daß es sich beim autobiographischen Text um ein Ereignis handelt, das wie eine sprachliche Handlung unter Berücksichtigung eines situationeilen und von Gepflogenheiten geprägten Kontextes analysiert werden kann. Die Tatsache freilich, daß die Autobiographie prinzipiell als Text konstituiert ist, dessen Reichweite über das zeitgenössische Publikum und über Anwesende hinausgeht und der wegen der Möglichkeit der zeitlichen und räumlichen Fernwirkung und -rezeption nicht auf ein Handlungsereignis zu reduzieren ist, wird außer Acht gelassen. Unter Berufung auf die Theorie der 45

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Das berühmteste und einflußreichste Beispiel im deutschen Sprachraum ist Goethe, der bekanntlich in seiner Autobiographie die eigenen Werke als »Bruchstücke einer großen Konfession« beschreibt. HA Bd. 9, S. 283. Lejeune, Le pacte autobiographique, S. 42. Vgl. das Kapitel: Autobiographie et histoire littéraire. In: Lejeune, Le pacte autobiographique (Seuil), S. 311-341.

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»speech acts«, wie sie von Austin, Strawson und Searle im Anschluß an Bemerkungen Ludwig Wittgensteins formuliert worden ist, steht die Empfehlung, literarische Gattungen wie mündliche sprachliche Handlungen zu analysieren: Genau wie die >sprachlichen< illokutionären Akte spiegeln für Bruss auch die literarischen illokutionären Akte erkennbare, konventionelle Sprechsituationen wider. Jeder Akt setze bestimmte Kontexte, bestimmte Bedingungen, bestimmte Absichten voraus, mit denen man ihn aus sozialer und/oder literarischer Konvention in Verbindung bringe. Deshalb werde eine Gattung wie die Autobiographie durch die Rollen, die sie spielt, und durch das, was man gewöhnlich mit ihr anfängt, definiert. Nur wenn Verfasser und Publikum einer Autobiographie von gemeinsamen konstitutiven und institutionalisierten Regeln, Voraussetzungen und Unterstellungen ausgehen, könne von einem gelingenden autobiographischen Akt die Rede sein. Diese Regeln und Gepflogenheiten seien dem historischen Wandel unterworfen und veränderten sich mit allen anderen Veränderungen im Gattungs- und Literatursystem.48 Trotz dieser historisierendrelativierenden Einschränkungen formuliert Bruss Regeln des autobiographischen Aktes, die auf die nachprüfbare Identität zwischen Autor und dargestellter Figur, auf die Wahrheit der geschilderten Tatsachen und auf die Wahrheitsintention des Autors zielen sowie auf linguistischen Details wie performativen Verben, indexikalischen Ausdrücken und Leseranreden beruhen. Daß die Grundannahme eines autobiographischen Aktes eine dialogisch-mündliche Konstitution des autobiographischen Textes voraussetzt und deshalb den spezifisch schriftlichen Charakter dieser Gattung zugunsten von Kategorien, die nur auf mündliche Kommunikation anzuwenden sind, vernachlässigen muß, bleibt vor allem deshalb unbemerkt, weil die historischen Funktionsbestimmungen, die außerhalb der autobiographischen Texte formuliert wurden und die einen Zugang zur funktionalen Einbettung der Gattung in literarische Gepflogenheiten erlauben würden, ignoriert werden.49 Die Annahme, autobiographischen Tex-

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Bruss, L'autobiographie considérée comme une acte littéraire, S. 19 ff. Der gleiche Vorwurf gilt auch für die Arbeit von Jürgen Lehmann: Bekennen-ErzählenBerichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie. Tübingen 1988. Lehmann faßt ebenfalls den autobiographischen Text als Handlung auf, die durch Handlungsindikatoren im Text rekonstruiert werden kann. Sprachliche Hinweise auf den propositionalen Gehalt, die Schreibsituation, die mit dem Text verbundenen Intentionen und Leserwirkungen sowie auf die Authentizität und Ernsthaftigkeit des Schreibenden seien geeignet, den autobiographischen Text als Handlung zu verstehen.(S. 20 ff.) Die Geschichte der Autobiographie sei im Detail zu analysieren, indem man die vorkommenden Exemplare der Gattung drei Typen von Sprechhandlungen zuordnet: Die Sprechhandlung des »Bekennens« profiliere den Sprecher in bezug auf einen Hörer, der das Mitgeteilte vor allem moralisch bewertet. Das »Berichten« setze einen wenig profilierten, neutralen Sprecher voraus, der sich an einen ganz bestimmten Hörerkreis mit bestimmten Informationsbedürfnissen wende. Das »Erzählen« schließlich profiliere den Sprecher durch

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ten gerecht werden zu können, indem man sie dialogischen Sprechhandlungen annähert und alle Charakteristika, die auf Schriftlichkeit verweisen, ausblendet, versperrt den Blick auf die Funktion der charakteristischen Spannung, die zwischen An- und Abwesenheit des Autors einer eigenen Lebensbeschreibung herrscht. Die neuere germanistische Autobiographieforschung hat zwar einen wesentlichen Impuls durch Friedrich Sengles Forderung erhalten, literarische Zweckformen in den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft aufzunehmen. 50 Der Hauptgesichtspunkt wurde jedoch auf die Feststellung des literarisch-ästhetischen Charakters der autobiographischen Texte gelegt und nicht auf die genaue Untersuchung und Bestimmung ihrer historischen Funktion. Dem liegt das Vorurteil zugrunde, daß eine Gattung erst dann ein legitimer Gegenstand der Literaturwissenschaft ist, wenn sie ihren Ursprung als »Zweckform« überwunden hat und autonome Geschlossenheit aufweist. 51 Dabei spielt eine wesentliche Rolle die sehr früh aufgekommene Vorstellung, daß die Karriere der modernen Autobiographie mit dem Aufkommen des Romans einhergegangen sei und daß die Autobiographie spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert nicht nur »romanhafte Elemente« 52 enthalte, sondern mit dem Roman die zunehmende Literarisierung im Sinne ästhetischer Autonomie teile. 53 In einem verbreiteten Kurzschluß wird dann insbesondere »Dichtern und Künstlern« die Fähigkeit zugeschrieben, literarisch-künstlerisch hervorragende und besonders interessante und aufschlußreiche Beispiele der autobiographischen Gattung zu verfertigen. 54 Diese normative These hängt jedoch von dem durchaus nicht selbstverständlichen Faktum ab, daß insbesondere Autoren mit Autobiographien hervortreten. Für sie spielt nämlich die eigene Lebensbeschreibung eine beson-

seine Perspektivierung des Erzählten, das an einen inhomogenen Hörerkreis gerichtet sei.(S. 57-62) Die Arbeiten von Bruss hat Lehmann offenbar nicht zur Kenntnis genommen. 50 Friedrich Sengle: Die literarische Formenlehre. Vorschläge zu ihrer Reform. 2. Aufl. Stuttgart 1969. Vgl. auch Niggl, Einleitung. In: Die Autobiographie. Hg. von G. Niggl. S. X . 51 Vgl. dazu Günter Niggl: Probleme literarischer Zweckformen. In: IASL 6,1981, S. 1-18. 52 Vgl. Hans Glagau: Das romanhafte Element der modernen Selbstbiographie im Urteil des Historikers. In: Die Autobiographie. Hg. von G. Niggl. S. 55-71. Hier: S. 70 f. 53 Klaus Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographik der Goethezeit. Tübingen 1976. 54 Glagau, Das romanhafte Element, S. 70: »Es ist gewiß nicht zufällig, daß die hervorragenderen neueren Selbstbiographien fast ausnahmslos der Feder von Dichtem und Künstlern entstammen.« - Vgl. dazu auch Gusdorf, Voraussetzung und Grenzen, S. 144 f. - Roy Pascal: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt Übersetzung aus dem Englischen von M. Schaibl; überarbeitet von K. Wölfel. Stuttgart u.a. 1965. S. 159-174. - Monika Schüz: Die Autobiographie als Kunstwerk. Vergleichende Untersuchungen zu Dichterautobiographien im Zeitalter Goethes. Diss. Kiel 1963.

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dere Rolle: Seitdem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts poetische Texte, vor allem Romane, auf das Leben ihres Verfassers bezogen werden, erfüllen die autobiographischen Texte von Gelehrten, Autoren und Dichtern zum einen die Aufgabe, einen Zusammenhang zwischen literarischen Werken durch den Verweis auf das Leben ihres Verfassers zu konstruieren. Zum anderen übernehmen sie von den poesiedidaktischen Handbüchern Aufgaben der Dichterbildung. Um die herausgehobene Rolle von Dichterautobiographien nicht nur postulieren, sondern verstehen zu können, muß diese funktionale Verfugung von Roman, Autorleben und Autorautobiographie entfaltet werden. Der Bruch mit den normativen Fixierungen der germanistischen Autobiographieforschung gelang erst, als die Anfänge des »Gattungsbewußtseins« im 18. Jahrhundert in den Blick genommen wurden. 55 Die Erklärungen für die Genese der spezifisch modernen Ausprägung der Gattung Autobiographie im 18. Jahrhundert verweisen auf den Aufstieg des neuzeitlichen Bürgertums und seines Individualitätsbewußtseins im Zusammenhang zunehmender sozialer Mobilität 56 , auf die protestantisch-pietistischen Frömmigkeitsformen mit ihrer Betonung der speziellen Relation des Individuums zu Gott 57 , die >pragmatische< Geschichtsschreibung mit ihrer Betonung der Ursache-Wirkung-Relation als narratives Konstruktionselement 58 sowie auf das moderne anthropologische Interesse an privaten, vor allem auch körperlichen Details. 59 Zu wenig beachtet werden jedoch jene Funktionsbestimmungen der Autobiographie, die im engen Zusammenhang mit den Veränderungen des gelehrt-literarischen Lebens und seiner Institutionen stehen: Die Autobiographik ist vor allem deshalb ein legitimer Gegenstand der Literaturwissenschaft, weil ihr im Kontext mit den Orientierungsproblemen innerhalb der modernen literarischen Kommunikation die neuartige Aufgabe zugewiesen wird, durch den Rekurs auf das Leben des Verfassers einen Zusammenhang zwischen seinen literarischen Werken herzustellen und ihn als selbsreferentiell handelnde Person für angehende Dichter sichtbar zu machen. Und diesen Zusammenhang und die Intentionalität von Texten zu behaupten oder zu bezweifeln, macht doch einen Großteil der erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung der Literaturwissenschaft aus.

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So vor allem Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977. 56 Vgl. Lionel Trilling: Sincerity and Authenticity. Cambridge, Mass. 1973. S. 16 ff. 57 Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie, S. 6 ff. 5 8 Ebd., S. 4 2 ff. 59 Vgl. dazu vor allem Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographie und ihre Geschichte am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987.

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Daß die Karriere der Autobiographik im 18. Jahrhundert 60 und die gleichzeitige Entstehung des Bildungsromans in Deutschland eng miteinander zusammenhängen, ist, wie bereits gezeigt, vornehmlich im Hinblick auf die ästhetisch-autonome Konstitution der Texte diagnostiziert worden, 61 unter ausdrücklicher Minderbewertung und -beachtung der zweckbezogenen und funktionalen Aspekte beider Gattungen. 62 Jedoch muß nicht nur die Autobiographie in ihrem Charakter als »Zweckform« ernst genommen werden, sondern auch der Bildungsroman des ausgehenden 18. Jahrhunderts steht im Banne eines Zweckbezugs, der seine Karriere und seine ästhetische Autonomisierung erst ermöglicht. Der Bildungsroman greift autobiographische Schreibweisen nicht trotz, sondern wegen ihres Zweckbezuges auf und legitimiert sich so im Kontrast zu den »bloß unterhaltenden« anderen Romanen. 63 Unter dem Begriff der >pragmatischen< Darstellung werden Belehrung und narrative Darstellungstechnik miteinander verbunden. Man verengt den Blick auf die Phänomene unnötigerweise, wenn man im Banne eines normativ aufgefaßten Begriffes der »Literarisierung« 64 und im Zeichen ästhetischer Autonomie zu früh jene Texte außer acht läßt, die in spezifischer Weise, indem sie auf unterschiedliche literarische Traditionen Bezug nehmen, Unterweisungsfunktionen erfüllen. Außerdem übersieht man die Hegemonie der Rhetorik, wenn man vermeintlich »reine Zweckformen [...] ohne jeden literarischen Anspruch« 65 voraussetzt, um die zunehmende Literarisierung der Autobiographie in Richtung auf den vermeintlich bereits >literarisierten< Roman als kontinuierlichen Prozeß beschreiben zu können. Gerade eine wirkungs- und zielbezogene Schreibweise bedient sich ja des rhetorischen Schmuckes und erhebt so auch einen literarischen Anspruch. Daß die Autobiographie im 18. Jahrhundert von den Darstellungs- und Erzähltechniken des Romans profitiert hat, darf nicht dazu verleiten, eine einseitige Abhängigkeit der »Zweckform« von der literarisierten Form zu behaupten; die Rekonstruktion der romantheoretischen Debatte des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zeigt, daß es angemessener ist, von einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis auszugehen, denn die dort zu beobachtende

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Unter den zeitgenössischen Beobachtern bezeichnet z. B. Daniel Jenisch »Autobiographien, oder Beschreibungen unseres närrischen Selbst,« als eine jener erstaunenswürdigsten Erfindungen, mit welchen das »laufende achtzehnte Jahrhundert all seine Vorgänger und Nachfolger so glorreich überstrahlet.« In: Ders.: Der allezeit-fertige Schriftsteller (...). Berlin 1797. S. 118 f. So zuletzt Müller, Autobiographie und Roman, S. 74 ff. Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman. Stuttgart 1984. S. 52 f. Vgl. Niggl, Zweckformen, S. 17. Vgl. Vosskamp, Der Bildungsroman in Deutschland. S. 261. So Müller, Autobiographie und Roman, S. 29. Ebd.

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Engführung von Bildungsroman, autobiographischem Schreiben und Verfasserleben erklärt sich gleichermaßen als Reaktion auf die Legitimationsnöte des Romans und die neue literaturdidaktische Funktion der Autobiographie. Neben der Dichterbildung übernimmt die Autobiographie in unserem Beobachtungszeitraum eine weitere Aufgabe; diese ist eng mit dem Konflikt zwischen den Prämissen abendländischen Schreibens und dem Wandel von Schreib- und Leseverhältnissen verknüpft Paul de Man diagnostiziert in einem von der Autobiographieforschung kaum rezipierten Aufsatz »Autobiography as De-Facement« 66 das Grundproblem der Autobiographieforschung als Oszillation zwischen Schreiben und Sprechen. Er rekurriert dabei auf die Monumentalität autobiographischer Texte: Die Lektüre einer Autobiographie zwinge dazu, das Verhältnis zwischen autobiographischem Text und seinem Urheber so zu beschreiben, als sei die jeweilige Autobiographie ein zeitlich zu fixierendes Sprechhandlungsereignis, in dem die Person des Verfassers selbst spricht, obgleich die Schriftlichkeit und die Buchform der Autobiographik genau dies immer wieder als Fiktion erweisen. Diese Aporie ist jedoch nicht aufzulösen, sondern zu entfalten. De Man verweist zunächst insistierend auf jene Lektüre, die alle fiktionalen Texte, die mit einer Autorzuschreibung versehen sind, als autobiographische Dokumente wahrnehme und die umgekehrt explizit autobiographische Texte als Fiktionen beobachte und erklärt dies dadurch, daß autobiographisches Schreiben stets epitaphisches, monumentales Schreiben sei: Der Grabstein mit der Aufschrift des Namens und der Lebensdaten, der die lebendige Stimme und das Gesicht des lebenden Menschen repräsentiere und ihn zugleich als abwesend, tot kenntlich mache, wird so zum Paradigma der Autobiographik, die mit der rhetorischen Figur der Prosopopöie die Fiktion einer Stimme aus dem Grabe entwerfe. Dieser Hinweis auf eine abendländische Lektürekonstante korreliert mit den Thesen des Ägyptologen Jan Assmann über die Entstehung der ägyptischen Literatur aus der Institution der monumentalen Grabinschrift, die die Unsterblichkeit ihres hochgestellten Urhebers im Sinne einer Präsenz seiner Person im kollektiven Gedächtnis sichert und verbürgt: »Das Grab ist das >Zeichen< [...] einer Personalität; durch die Inschrift entfaltet sich das Zeichen zum Text, zur Erzählung.«67 Diese Grundannahme der ägyptischen Kultur setzt sich in Horaz'

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Paul de Man: Autobiography as De-Facement. In: Modem Language Notes 94, 1979, S. 919-930. Jan Assmann: Schrift, Tod und Identität. Das Grab als Vorstufe der Literatur im alten Ägypten. In: Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. Hg. von A. und J. Assmann, C. Hardmeier. München 1983. S. 64-93. Hier: S. 64. - Vgl. auch Jan Assmann.: Sepulkrale Selbstthematisierung im Alten Ägypten. In: Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis. Hg.

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Ruhm- und Unsterblichkeitskonzeption des »Exegi monumentum« fort, die das poetische Werk - »aere perennius« - mit dem dauerhaften und deshalb den Tode besiegenden Grabmonument der Ägypter identifiziert und auf diese Weise zu einem autobiographischen Zeugnis macht. 68 Daß autobiographisches und poetisches Schreiben ihre Permanenz und Dramatik aus der menschlichen Sterblichkeit und der Kürze des Lebens sowie aus dem Wunsch des Überlebens im Gedächtnis der Nachwelt erhalten, zeigt sich in der Moderne noch in so unterschiedlichen Beispielen wie Puschkins Horaz paraphrasierendes »Ja pamjatnik sebe vosdvig nerukotvornyj« (Ein Denkmal baut' ich, nicht von Hand geschaffen) (1836)69, aber auch schon in Benjamin Franklin's selbstentworfener Grabinschrift von 1728 mit ihrer ingeniösen Ausnutzung der Buchmetaphorik: The Body of/ Β Franklin Printer, (Like the Cover of an Old Book/ Its Content torn out/ And stript of its Lettering & Gilding)/ Lies here. Food for Worms./ But the Work shall not be lost;/ For it will, (as he believ'd) appear once more/ In a new and more elegant Edition/ Revised and corrected/ By the Author70

Für den Analytiker der Macht durch Überleben, Elias Canetti, bildet die Unsterblichkeit des Dichters und Schriftstellers die einzige Ausnahme in einem Kosmos brutaler Machthaber, die ihrem Überleben alle anderen opfern. 71 Die Unsterblichkeit im Werk ist die einzig legitime Form von Machtausübung. Daß auch das literarische Überleben Texte opfert, sei die Folge allein von Textrivalität; während die Texte miteinander rivalisieren, verschmähten es die Autoren, einander zu töten. Die Folie des Orpheus-Mythos dagegen benutzt Klaus Theweleit, um zu zeigen, daß der Überlebenswille des Dichters ebenso gewaltsam ist, wie jede andere Machtausübung.72 Die Rezeption und Umformung des Topos von der Verewigung durch Schrift und Dichtung in der abendländischen Geistesgeschichte nachzuvollziehen, dürfte vor allem dann eine lohnende Aufgabe sein, wenn man ihn nicht als

von A. Hahn und V. Kapp. Frankfurt a. M. 1987. S. 208-231. - Zuletzt hat Assmann die universal-existentielle Grundstruktur der Überlebenshoffnung betont, die jedoch unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Vorzeichen jeweils verschiedene Formen annimmt. Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. S. 62 f. 68 Horaz, Oden III, 30. - Vgl. Harald Fuchs: »Nun o Unsterblichkeit, bist du ganz mein ...«. In: Antidoron. Edgar Salin zum 70. Geburtstag. Tübingen 1962. S. 149-166. " Russische Lyrik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Russisch/Deutsch. Hg. von K. Borowsky und L. Müller. Stuttgart 1983. S.134 ff. 70 Benjamin Franklin: The Autobiography and Other Writings. Edited and with an Introduction by P. Shaw. Toronto/New York/London/Sydney 1982. S. 270. 7 1 Elias Canetti: Masse und Macht. Hamburg 1960. S. 318 f. 72 Klaus Theweleit: Das Buch der Könige. Frankfurt a. M. 1988. S. 15 ff.

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geistesgeschichtliche Konstante73 oder als unaufhebbare Trope behandelt, sondern aufzuklären versucht, unter welchen spezifischen historischen Bedingungen die dichterische Unsterblichkeit im Sinne zeitlicher und räumlicher Fernwirkung besonders problematisch und deshalb auch intensiv thematisiert wird. Wie das Epitaph des Buchdruckers und -händlers Franklin durch die Identifikation der Person mit ihrem durch das Medium der Schrift und des Druckes verbreiteten Werk andeutet, ist nach der Erfindung des Buchdrucks und der Ausbreitung des Buchmarktes von der exklusiven Gelehrtenschicht auf ein allgemeines Publikum eine grundlegend veränderte Situation entstanden, in der das gedruckte Buch seinem Verfasser einerseits eine erhöhte zeitliche und räumliche Reichweite verspricht, in der aber andererseits der Erfolg des im Buch aufbewahrten Werkes sowie der Ruhm und das Überleben seines Verfassers immer unwahrscheinlicher werden. Für die ungelehrten Leser verhüllen die Texte und Bücher ihren Verfasser und stacheln so zur Autorsuche an. Die Regeln und Muster verlieren ihre Funktion als Instrumente der Dichterausbildung wie als Mittel, einen Text daraufhin zu untersuchen, ob sich in ihm das Handeln einer Person zeigt, die als gelehrter Poet anerkannt werden will. Wenn Puschkin sein Überleben - »Nein ganz werde ich nicht sterben« - an die Existenz anderer Dichter knüpft, - »solange auf Erden/ auch nur ein Dichter lebt«74 - die wie der Gelehrtenstand des Mittelalters und der frühen Neuzeit für die Kontinuität der Kommunikation sorgen, reagiert er auf die immer unsicherer werdende Anschlußfähigkeit schriftlich aufgezeichneter Werke, die an eine inhomogene Adressatengruppe gerichtet sind und die möglicherweise ganz ohne Reaktion und Fortsetzung bleiben bzw. nur zu wirtschaftlichen Reaktionen führen, die der Poet nicht sehen will und kann. Die Zunahme der Buchproduktion ins Unübersehbare, die Inklusion eines allgemeinen Publikums und die Abfolge unvorhersehbarer Moden machen es immer wahrscheinlicher, daß ein Dichter bereits zu Lebzeiten vergessen und damit gleichsam gestorben ist. Die Reflexion auf das Unsterblichkeitspostulat, das dem Autor postumen Ruhm und damit den Sieg über den Tod verspricht, weil er sich der Schrift bedient, muß in dem Moment eine neue Virulenz bekommen, da die kommunikativen Prämissen für Dichter und Leser eine völlig neue Gestalt annehmen.

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Vgl. Emst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 7. Aufl. Bern und München 1969. Das Kapitel »Dichtung als Verewigung« , S. 469-470, enthält eine Serie von Belegstellen, die die Verewigung des Dichters und des Dargestellten thematisieren. Russische Lyrik, S. 137.

Funktionen der Autobiographie für Dichter, Schriftsteller und Leser

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C. Funktionen der Autobiographie für Dichter, Schriftsteller und Leser des 18. Jahrhunderts 1) Die Lebensbeschreibungen der Gelehrten Die Beobachtung der oft in verstreuten und entlegenen Quellen zugänglichen Autobiographiedebatte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter der Fragestellung, wie die dort formulierten Aufgaben der Autobiographie mit der veränderte Autoren- und Dichterrolle zusammenhängen, erfordert zunächst, die Thematisierung der Lebensbeschreibungen von Gelehrten in den Blick zu nehmen. Anhand der Gelehrtenautobiographie und -biographie wird nämlich begründet, warum die Verfasser von Büchern in einem weiteren Buch, ihrer Autobiographie, dargestellt werden. Außerdem ist die Ausdehnung des Blickes auf die Biographie nötig, da in der Rhetorik, aber auch in der historiographischen Diskussion die Autobiographie als Untergattung der Biographie definiert wird. 75 Zwischen autobiographischem und biographischem Bericht besteht zugleich ein enger funktionaler Zusammenhang, solange die Autobiographie noch nicht auf den Ausdruck unverwechselbarer Individualität, sondern auf den Ausweis der Standeszugehörigkeit festgelegt ist.76 So sind die großen Gelehrtenlexika des 18. Jahrhunderts, die sich verstärkt der Information über noch lebende Gelehrte widmen, in der Praxis häufig auf autobiographische Berichte angewiesen, die sich die Herausgeber von den Gelehrten aus Mangel an eigenen Recherchemöglichkeiten erbitten, ohne daß Biograph und Autobiograph in größeres gegenseitiges Mißtrauen verfallen.77 Sobald aber der Autobiograph gegenüber dem Biographen einen unaufholbaren Vorsprung behauptet, so daß der, der sein eigenes Leben beschreibt, das liefert, »was er am besten, oder vielmehr, was er einzig und allein liefern kann, den reinen lautem unverfälschten Stoff,« 78 wird die Autobiographie als Medium unverwechselbarer Individualität beschrieben, die gegen die biographischen Fremdbeschreibungen das Privileg der Selbstbeschreibung einklagt. In der Gelehrtenautobiographie des frühen 18. Jahrhunderts kann man zwei Traditionsstränge isolieren: Die bürgerlichen Haus- und Familienbücher, die an die Nachkommenschaft gerichtet und nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt

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Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, S. 263, verweist auf die Autobiographie nur kurz im Anschluß an die Behandlung der Biographie. - Vgl. Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie, S. 117; dort auch weitere Belege. Vgl. dazu Tninz, Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur, S. 158 f. Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie, S. 22. J. F. Fritze: Über Selbstbiographien. In: Deutsche Monatsschrift 1795, 1. Bd. S. 156168. Hier: S. 166.

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sind, treffen sich mit der Biographie als »benachbarter Leitgattung«, die sich vor allem in der Form der Leichenpredigt und des Nekrologs am Vorbild von Cornelius Nepos »De viris illustribus« ausgeprägt hat, ohne daß ein unmittelbarer gegenseitiger Einfluß angenommen werden kann. Die Texte weisen ein gemeinsames Grundmuster oder -formular auf, in dessen Rubriken die jeweiligen Details des Personenstandes und des Lebenslaufes nur noch eingetragen werden müssen. Es besteht aus der Ahnenreihe, der Darstellung der eigenen Geburt und Taufe, dem Hinweis auf besondere Erlebnisse, meistens iiberstandene Unglücksfälle, sodann aus der Schilderung des Bildungsganges in Haus, Schule und Universität, aus der Beschreibung wichtiger Reisen, aus den Etappen der Berufslaufbahn, den Änderungen des Personenstandes, der Liste von Geburten und Todesfällen. Im Anschluß an das curriculum vitae steht üblicherweise die Selbstcharakteristik, die die Person einem vorgegebenen Temperament zuordnet. Das wesentliche »Individualisierungselement« ist für den Gelehrten das Werkverzeichnis, das in ermüdender Ausführlichkeit alle Schriften und Pläne zu Schriften verzeichnet. 79 Indem die einzelnen dieses vorgegebene Muster ausfüllen, handeln und zeigen sie sich als Zugehörige des Gelehrtenstandes. Ähnlich dem Verfertigen von Gedichten ist die Abfassung einer Autobiographie für den Gelehrten eine Handlung, mit der die Anerkennung der Standesgenossen erstrebt wird. Die Schilderung poetischer Ausbildung und dichterischen Handelns innerhalb der Gelehrtenautobiographie wird im Mittelpunkt der späteren Analyse der Beispieltexte stehen. Daß und wie die Formulare der Gelehrtenautobiographie im Zeichen >pragmatischen Historiographie aufgebrochen werden, zeigen zunächst verstreute und bisher wenig beachtete Quellen, die die Rolle des autobiographischen Schreibens im Zusammenhang mit den veränderten Bedingungen der literarischen Kommunikation neu bestimmen. Unsterblichkeit, Ruhm und Verdienst sind die zentralen Themen, in deren Rahmen die Rolle der Gelehrtenbiographie und -autobiographie bestimmt wird: Im Hannoverschen Magazin erscheint 1763 ein anonymer Text unter dem Titel »Schickt es sich vor einen Gelehrten, seine eigene Lebensgeschichte drucken zu lassen?«, der das prekäre Verhältnis zwischen Schriften, Leben und Unsterblichkeit satirisch bestimmt. Wie die Spinne für die Ewigkeit webe, so schreibe der Gelehrte für diese, doch »zwey Jahr nach unserm Tode sind wir oft so unbekant, als vor unsrer Geburt.« Das auffälligste Symptom für das Vergessenwerden ist die öffentliche Nicht-Existenz des Automamens:

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Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie, S. 23 ff. - Vgl. zur Gelehrtenautobiographie auch: Gerhard v. Graevenitz: Innerlichkeit und Öffentlichkeit. Aspekte deutscher »bürgerlicher« Literatur im frühen 18. Jahrhundert. In: DVjS 49, 1975, Sonderheft >18.Jahrhundertgroßen Begebenheiten hatte bereits in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts zur Aufwertung einer Form von Biographie geführt, die sich bewußt den »Todten ohne

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Jobann Georg Wiggers: Ueber die Biographie. Mitau 1777. Zitate werden im folgenden belegt durch nachgestelltes, eingeklammertes Β und die Seitenzahl. Daniel Jenisch: Theorie der Lebensbeschreibung. Nebst einer Lebensbeschreibung Karls des Großen. Berlin 1802. Zitate werden im folgenden belegt durch nachgestelltes, eingeklammertes LB und die Seitenzahl. Weder bei Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie, noch in der jüngsten Gesamtdarstellung zur Geschichte der Biographie findet man einen Hinweis auf die Arbeiten von Wiggers und Jenisch. Vgl. Helmut Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979. Berücksichtigt wird Wiggers jetzt von Hans-Martin Kruckis: »Ein potenziertes Abbild der Menschheit«. Idolatrie und Wissenschaft in der GoetheBiographik bis Gundolf. Diss. phil. Bielefeld 1989. S. 41 ff.

Funktionen der Autobiographie für Dichter, Schriftsteller und Leser

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Gefolge«, deren >Privatleben< und der niedrigen Schreibart - dem genus humile dicendi - zuwendet: Diese sei, so Thomas Abbt, wegen der größeren Identifikationsmöglichkeiten lehrreicher für eine »große Menge«, als die Schilderung von Heldentaten.87 Sie wird im Zeichen aufklärerischer Adelskritik der etablierten, nur Oberschichtenbedürfnisse erfüllenden Historie entgegengesetzt, bis die Geschichtsschreibung ihrerseits beginnt, die Biographie für sich zu reklamieren: Im Sinne der neuen >pragmatischen< Geschichtsschreibung, die zunehmend ihre allgemeine Nützlichkeit behauptet, betont Wiggers den Zusammenhang zwischen dem Privatleben eines Menschen und dem öffentlichem Geschehen, an dem er beteiligt ist, und kritisiert die Ausschließlichkeit, mit der allein »Großthaten« und »hohe Verdienste«(B 78) geschildert werden. Damit die Biographie aber nicht nur ein »Beytrag zur Geschichte der Gesellschaft«, sondern ein unabhängiges »Ganzes« ist, muß sie zeigen, was »den Mann mittelbar und unmittelbar in die Geschichte gebracht hat.«(B 76 f.) Unterstellt wird im Einklang mit der Geschichts- und Erziehungsphilosophie Rousseaus, daß der Mensch quasi außerhalb der Geschichte steht, in die er erst als >Mannaustricksenden< Einzelnen löst sich für Wiggers ein festgelegtes Allgemeininteresse: »Er muß für oder wider das Interesse der Gesellschaft gehandelt haben«, damit ein einzelner denkwürdig ist und sich ein Geschichtsschreiber ihm widmet. Damit der »Psychologe« die Beobachtung eines einzelnen Menschen aufnimmt, muß dieser einen besonderen Grad an »Merkwürdigkeit« aufweisen, d. h. es muß ein spezifisches Verhältnis zwischen der »eigenthümlichen Beschaffenheit seines Geistes und Herzens« und der »Natur der menschlichen Seele« vorliegen. (B 56) Unter diesen allgemeinen Gesichtspunkten behandelt Wiggers schließlich auch den Schriftsteller und Gelehrten, der sich »nicht bloß das Leben in der Menschen Ohren« sichert, sondern der »in ewigen Werken [...] sein wirksames Daseyn auf ferne Zeiten und Länder« erweitert.(B 45) Der Topos der Schriftlichkeit eines Monuments »aere perennius«, in dem das Werk gleichzeitig Namen und Person seines Urhebers festhält und über Zeit und Raum hinweg repräsentiert, findet hier Verwendung, um die biographische Behandlung der Schriftsteller zu rechtfertigen: Wenn das biographische Werk »Unsterblichkeit« dem verbürgt, »welchen es vorstellt, und dem, der es entwarf«(B 81 f.), so verspricht die Autobiographie ihrem Verfasser zweifache Unsterblichkeit, nämlich als Autor und als Gegenstand des Textes. Wie die egoistische Menschenkenntnis des Hofes von der gemeinnützigen Menschenkenntnis unterschieden wird, so besteht eine grundlegende Differenz zwischen der exklusiven, nach Mustern verfahrenden Gelehrtenautobiographie und der pragmatischen eigenen Lebensbeschreibung, die sich an alle richtet. Solange die »Beschäftigung der Gelehrten wenig verschieden« war, sei auch die Information darüber »sehr gleichförmig« gewesen »und eine Biographie, die sich zu ihrem Vortheil unterschied,« dementsprechend selten. Die Urteile über die Biographien seien von »Zunftvorurtheilen, Zunftaffekten [...] und Zunftschwachheiten« bestimmt, die es verhinderten, daß »eine Sache aus mehr

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Beobachtungen des autobiographischen Schreibens

als einem Gesichtspunkte« angesehen werde. Nur das Urteil des »ungelehrten, aber vernünftigen Publikums« vermöge dagegen festzustellen, »was die Welt dabey gewonnen, daß dieser oder jener berühmte Gelehrte sein kenntnisvolles Leben durchlebte.«(B 117, 120) Die traditionelle Gelehrtenbiographie wird der exklusiven Gruppe der Standesgenossen zugeordnet, für die sie verfertigt wurde und die die Beurteilung nach lediglich partiellen standesspezifischen Kriterien vorgibt. Die neuartige, pragmatische Lebensbeschreibung von Gelehrten dagegen ist an ein allgemeines, ständeübergreifendes Publikum adressiert, dem ein Blick auf das allgemeine Beste zugeschrieben wird. Nicht mehr seine Standeszugehörigkeit soll durch die Lebensbeschreibung eines Gelehrten ausgewiesen werden, sondern vielmehr sein spezifischer Beitrag zum allgemeinen Nutzen, der durch keinen anderen ersetzt werden kann. Nur um die »Lücke der Begebenheiten« auszufüllen, hätten viele Biographen von Gelehrten die »Familienangelegenheiten«, das »litterarische Handwerk«, die »alltäglichen Gebräuche« geschildert, das, »was Gelehrte mit Ungelehrten gemein haben«. »Die Eigenheit des Schriftstellertalents« und das »besondere Verdienst eines Autors« seien darüber jedoch vernachlässigt worden.(B 123) Dieser Einwand ist der Hinweis auf die spezifische Rolle eines Gelehrten innerhalb eines hypothetischen gesellschaftlichen Ganzen, das er ebensowenig repräsentiert wie die höfische Gesellschaft. Wiggers bezieht sich damit vermutlich auf Thomas Abbts Gesellschaftsbild in dessen 1765 erschienen Arbeit »Vom Verdienste«. Am Beispiel der Schriftsteller stellt Abbt die feste Zuordnung zwischen gesellschaftlicher Stellung in einer Hierarchie und dem Beitrag für das gemeinsame Ganze in Frage. Den Schriftstellern wird zwar grundsätzlich ein »Verdienst« eingeräumt, doch gleichzeitig angemerkt, daß dieses, verstanden als »Beytrag zum gemeinsamen Besten«, im Falle der Schriftsteller nicht so leicht festzustellen sei wie bei »alle(n) übrigen Stände(n) des bürgerlichen Lebens«, die »ihren bestimmten Standort, ihre angewiesene Stäte, aus welcher sich ihr Beytrag zum gemeinsamen Besten ohne Schwierigkeiten angeben läßt« 91 , einnehmen. Die Schriftsteller und Gelehrten, die sich aus allen Gesellschaftsschichten rekrutieren, sich an alle richten und potentiell alle erreichen, sprengen das ständische Konzept einer hierarchisch aufgebauten Ordnung. Um die gesellschaftliche Rolle der Schriftsteller zu visualisieren, verwendet Abbt das Modell des Kreises, in dem die Stände ihren auf den Mittelpunkt bezogenen Ort haben, sich aber durch differierende Entfernung zum Zentrum voneinander unterscheiden; allein die Schriftsteller lassen sich nicht so einfach situieren:

91 Abbt, Vom Verdienste, S. 281.

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Der Weg, der von jenem Standorte auf das allgemeine Ziel hinführt [...] gleichet einer geraden Linie, deren Länge man durch die gemeine Maßschnure nothdiirftig bestimmen kann. Die Bemühungen des Schriftstellers gehen nicht so unmittelbar nach das gemeine Ziel bin. Er nimmt Umwege, scheinet, wie in einer krummen Linie seine Richtung zu verändern, nicht immer in derselben Ebene zu bleiben, und ob sich gleich zuletzt sein Weg, vielleicht desto sicherer, zum Mittelpunkte des gemeinsamen Besten herabsenkt, so ist er doch den Augen des großen Haufens zu verwickelt, als daß sie ihn verfolgen könnten. Man kann das Verdienst des Schriftstellers nicht nach den gewöhnlichen Formeln berechnen, wonach diß bey den anderen Ständen angeht. Seine Linie ist für viele zur Berechnung zu schwer. 92

Damit wird eine frühe Reaktion auf die Auflösung des Gelehrtenstandes samt seiner traditionellen Charakteristika formuliert, die mit der Expansion des Buchmarkts und der damit verbundenen Inklusion eines allgemeinen Publikums einhergeht. Wenn Abbt vom Verlassen der »Ebene« und von »Umwegen« schreibt, kann man dies zudem bereits als Versuch sehen, die gesellschaftlichen Veränderungen des 18. Jahrhunderts, den Beginn der Umstellung von der hierarchisch strukturierten auf eine funktional differenzierte Gesellschaft sowie die damit verbundene Komplexitätssteigerung mit den zeitgenössischen semantischen Mitteln anschaulich zu beschreiben: Die Auflösung der gelehrten Kommunikationseinheit wird offenbar besonders früh besonders deutlich, so daß man die Mobilität des Schriftstellers gegen die scheinbar unbewegliche Umgebung absetzen kann. Tatsächlich spricht jedoch nichts für eine prinzipielle Ausnahmerolle der Text- und Bücherproduzenten. In der sich funktional ausdifferenzierenden Gesellschaft ist die gesamtgesellschaftliche Funktion der »Schriftsteller«, die Abbt als »Verdienst« bezeichnet, immer schwieriger zu bestimmen, denn die >Gelehrsamkeitsichtbar< zu machen: Das »Innere« der im Roman dargestellten Personen ist ja für Blanckenburg nicht etwas prinzipiell Unsichtbares und von außen Unzugängliches, sondern der Effekt der kausal-genetisch individualisierenden Darstellung dieses Menschen. Da der Roman die illusionistische Darstellung des Dramas nicht erreichen kann, muß er sich auf die ihm zugänglichen Möglichkeiten besinnen, nämlich auf die schriftliche Herstellung eines Zusammenhanges von Innen und Außen, von Eigenem und Fremdem, der die Entwicklung einer Person ausmacht. Der Bedarf nach einer solchen Art der Orientierungsvermittlung, die auf verallgemeinernde Aussagen über Stände, Temperamente und Charaktere verzichten muß, nimmt zu, wenn der >Umgang mit Menschen< immer komplizierter wird, weil die modernen, nicht festgelegten, unruhigen Menschen nicht mehr nach den Kriterien der Ständegesellschaft situativ-berechenbar agieren, sondern unter gleichen Umständen höchst unterschiedliche, inkalkulable Verhaltensweisen zeigen, die nur durch den Rekurs auf ihren jeweils unterschiedlichen, eigentümlichen inneren Zustand zu erklären sind. Sobald die Menschen immer weniger als - triviale - »Maschinen« 117 zu verstehen sind, muß ein Inneres als Leerstelle für die noch unbekannten Kausalverknüpfungen postuliert werden, die das aktuelle Verhalten zu erklären vermögen. Die Zuschreibung dieser Kausalitäten enthüllt das versteckte Innere und löst es zugleich auf: Hinter und neben seinem öffentlichen Verhalten kann man das Innere eines Menschen unmittelbar wahrnehmen, ja sehen, ohne daß es einer expliziten moralischen Bewertung und der Entzifferung von Zeichen bedarf. Diese allgemeinen Überlegungen sind auch auf Gelehrte und Dichter zu übertragen, denn an und mit ihren veröffentlichten Schriften kann man sich nur noch unter großen Schwierigkeiten orientieren. Nicht allein der >Umgang mit MenschenBildung< sowie auf Textkonstitution in einen Funktionszusammenhang eingebettet und schließlich einander so angenähert werden, daß sie schwerlich zu unterscheiden sind. Morgensterns Prämisse, die Adäquation von gutem Roman und Bildungsroman, 119 läßt eine auf klaren Kriterien beruhende, deskriptive Definition einer auffindbaren Gat-

118 Vgl. dazu vor allem Fritz Martini: Der Bildungsroman. Zur Geschichte des Wortes und der Theorie. In: Ders.: Literarische Form und Geschichte. Aufsätze zu Gattungstheorie und Gattungsentwicklung vom Sturm und Drang bis zum Erzählen heute. Stuttgart 1984. S. 33-47. 119 Karl Morgenstern: Zur Geschichte des Bildungsromans. In: Neues Museum der teutschen Provinzen Rußlands 1, 1824, H. 1, S. 1-46. Wieder abgedruckt in: Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans. Hg. von R. Selbmann. Darmstadt 1988. S. 73-99. Hier S. 75.

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tung vermissen. Statt dessen dient diese Gleichsetzung der Ausschließung und der Prämiierung bestimmter Exemplare, die aus der unüberschaubaren Menge der bereits publizierten und immer noch entstehenden Romane herausgehoben und zur Lektüre empfohlen werden. Wer die von Morgenstern ausgezeichneten Romane liest und die ausgeschlossenen verschmäht, darf sich selbst als >gebildet< betrachten.120 Die Auswahl einer Anzahl exzeptioneller Romane und der Versuch, ein gebildetes Publikum aus dem allgemeinen Lesepublikum herauszulösen, gehen Hand in Hand. 121 Betrachtet man nun die Darstellung bei Morgenstern im Detail, so wird die kriterienlose Gleichsetzung von Bildungsroman und gutem Roman durch den doppelten Rekurs auf die Thematik und den Verfasser entfaltet: Bildungsromane sind solche Romane, die »des Helden Bildung in ihrem Anfang und Fortgang bis zu einer gewissen Stufe der Vollendung« darstellen und die so den Leser bilden, weil sie, anders als andere Romane, »auf mehr als die bloß flüchtige Unterhaltung Anspruch machen.« 122 Darüber hinaus dürfen insbesondere jene Romane den Anspruch auf den Titel »Bildungsroman« erheben, die in ein dichterisches Gesamtwerk eingeordnet werden können und die Stationen der Bildung ihres Autors markieren, 123 denn »zur gemeinen Romanfertigung gehört eine schreibende Tagelöhnerhand: zum Schaffen eines Romans höherer Ordnung [...] ein würdiges, bedeutendes Menschenleben, wie der wahrhaft große Schriftsteller ein solches [...] geführt hat.« 124 Damit dient die Beziehung zwischen Text und Autorleben vor allem zur Unterscheidung zwischen guten und schlechten Romanen. Die Texte dessen, der aus materieller Not schreibt, werden automatisch als minderwertige beur-

120 Vgl. z. B. Friedrich Erdmann August Heydenreich: Ueber die zweckmäßige Anwendung der Universitätsjahre. Hin Handbuch für Academisten, und die es werden wollen. Leipzig 1804. S. 159: »So charakterisieren sie sich, durch die Wahl der Schriften, und durch die Ursachen, warum sie sich mit der Leetüre derselben befassen.» 121 Karl Morgenstern: Ueber das Wesen des Bildungsromans. In: Inländisches Museum 1, 1820, H. 2, S. 46-61 und H. 3, S. 13-27. Wieder abgedruckt in: Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans. Hg. von R. Selbmann. S. 54-72. Hier: S. 64. - Dazu jetzt vor allem: Stanitzek, Bildung und Roman als Momente bürgerlicher Kultur, S. 441 ff. - Vgl. auch Selbmann, Der deutsche Bildungsroman, S. 5-8. Zum Zusammenhang zwischen gebildetem Lesepublikum und Konzeptionen einer gesellschaftlichen Elite im Sinne eines normativen Begriffes von Bildungsbürgertum vgl. auch Hans Weil: Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips. Bonn 1930. S. 174 ff. 122 Morgenstern, Geschichte des Bildungsromans, S. 75. 123 Karl Morgenstern: Über den Geist und Zusammenhang einer Reihe philosophischer Romane. In: Dörptsche Beyträge für Freunde der Philosophie, Litteratur und Kunst 3, 1. Hälfte 1816,1817, S. 180-195. Wieder abgedruckt in: Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans. Hg. von R. Selbmann. Dannstadt 1988. S. 45-72. Hier: S. 46. 124 Morgenstern, Geschichte des Bildungsromans, S. 99. Bezeichnenderweise ist diese gegen die Vielschreiber (Ebd. S. 93 f.) gerichtete Bemerkung verbunden mit der Lektüreempfehlung, »nicht zu jener losen Speise von Alltagsromanen« zu greifen.

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Beobachtungen des autobiographischen Schreibens

teilt, denn er tendiert per definitionem zum >Vielschreiben< und ist von >Viellesem< abhängig, die sich nur unterhalten, nicht aber bilden lassen wollen. Das Kriterium für Qualität wird aus dem Text herausgelöst und der Person des Autors überantwortet. An seinem Leben, in dem ein Roman nur ein Moment bildet, bilden sich die Leser, so oder so. Anläßlich der Autobiographie Goethes stellt Morgenstern dann auch fest: »Ein so vom Dichter und Denker dargestelltes eigenes Leben wiegt den schönsten und zugleich lehrreichsten eigentlichsten Bildungsroman auf.« 125 Die Dichterautobiographie ist hier ein funktionales Äquivalent für Romane, deren Qualität vom Thema wie vom Lebenszusammenhang des Autors abhängig gemacht wird. Umgekehrt ersetzten Romane die Dichterautobiographien, sobald sie die Karriere eines Dichters zu ihrem Thema erheben. Im Rahmen der Gesamtgesellschaft fungieren Dichterautobiographie und Dichterromane als Medien für Individualisierung. Die Referenz auf das Leben des Dichters erbringt für das Literatursystem die doppelte Leistung, Qualitätskriterien für Texte bereitzustellen und einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Werken eines Autors herzustellen, sobald sie nicht mehr als gelehrte Meisterstücke des Poeten betrachtet werden, die in das traditionelle Gattungssystem und in die rhetorischen Zwecksetzungen und Traditionsrekurse eingebettet sind. Somit dienen nicht nur Begriffe wie >Stil< dazu, Werke miteinander zu vergleichen und kommunikative Einheiten zu schaffen, die über das einzelne Werk hinausgehen, sondern Leben und Person eines Autors stiften ebenfalls eine solche Einheit. Sie verbindet verschiedene Texte zum >Gesamtwerk< eines Dichters und konstituiert damit ein wesentliches Element literarischer, literaturkritischer und literaturwissenschaftlicher Kommunikation.

1 2 5 Morgenstern, Geschichte des Bildungsromans, S. 90.

V. Autobiographik und Roman als Vermittler poetischer Ausbildung und dichterischen Handelns

A. Autobiographik zwischen Gelehrsamkeit und Genialität Die ersten Teile dieser Arbeit zeigen durch die Untersuchung der didaktischen Themen in den Kompendien der Poetik und Ästhetik, wie die poetischen Regeln und die gelehrten Muster und Vorbilder ihre Funktion für die Ausbildung und für die Beschreibung der Handlungen der Dichter verlieren; diese Bücher, die sich allmählich aus ihrer engen Bindung an die gelehrte Ausbildung in Gymnasium und Universität lösen, weisen spezifische kommunikative Transformationen und Gewichtsverlagerungen der Differenz ars-natura und der um sie kreisenden begrifflichen Komplexe der Regeln, der Muster und des Genies auf, die die Auswirkungen der beginnenden und antizipierten Auflösung der gelehrten, ständischen Ordnung markieren. Die Regeln der dichterischen Produktion, die in der Tradition der Poetik das Lernen und das Handeln des Dichters beschreiben, werden in Regelmäßigkeiten der Leserreaktionen, die die Wirkung von Texten sicherzustellen versprechen, und in eine erkenntnisvermittelnde Repräsentativität der Texte umgedeutet. Die Kategorie der angeborenen dichterischen Begabung, die in der gelehrten Ordnung nur zusammen mit gelehrter Kenntnis den Dichter ausmacht und die mit der Exklusivität des Gelehrtenstandes einhergeht, wird absolut gesetzt, um Personen nicht nur als Poeten, sondern als Originalgenies zu beschreiben, die sich nicht durch mehr oder weniger geschicktes poetisches Handeln, sondern durch die Differenz zu allen Vorbildern auszeichnen. Der expandierende Buchhandel, die Wahrnehmung eines wachsenden, allgemeinen, d. h. ständeübergreifenden Lesepublikums und der beschleunigte Wandel des Geschmacks und der Moden wirken sich auch darin aus, daß die akademischen und pädagogischen Diskussionen um Sinn und Unsinn der Dichterausbildung im öffentlichen Erziehungssystem an Dramatik und Brisanz zunehmen. Die Frage, ob man an Schulen und Universitäten Dichter ausbilden

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Autobiographik und Roman

soll und kann, wird nicht nur zum Kristallisationspunkt für den veränderten Umgang mit poetischen Texten, sondern zeigt auch die Auswirkungen und den Vollzug jener gesamtgesellschaftlichen Transformation, die durch die Differenz zwischen ständischer Gesellschaft und moderner, funktional differenzierter Gesellschaft beschrieben wird. Nicht nur die allgemein zu diagnostizierende Abwendung von der Rhetorik im Zeichen natürlichen, unmittelbaren Sprechens und Schreibens macht die Regeln zur Verfertigung literarischer Texte verdächtig, auch die zunehmende gesellschaftliche Spezialisierung und die Arbeitsteilung windschief zu den bisherigen Standesgrenzen führen zu einer Abwertung der gelehrten Fähigkeiten und des gelehrten Habitus. Jünglinge zu Dichtern auszubilden erscheint gleichbedeutend mit ihrer Ausbildung zu gesellschaftlichen Außenseitern, die weder >brauchbar< sind noch ein hinreichendes Auskommen finden. Zugleich widerspricht das geniale Schreiben aus der Perspektive der Gelehrsamkeit den traditionellen Eigenschaften und Verhaltensweisen eines Gelehrten, der nur in den >Nebenstunden< Verse macht und seinen Respekt vor der gelehrten Tradition durch Nachahmung bekundet. Auf diese Situation reagieren die Zeitgenossen des Umbruchs vor allem mit und in Autobiographie und Roman, denn die Bücher, die traditionell Dichter ausbilden und dichterisches Handeln thematisieren, scheitern unter den Bedingungen des ständeübergreifenden Publikums und der Emphase genialer Originalität. Wo weder die Befolgung allgemeiner Regeln und die Nachahmung empfohlener Muster noch Hypothesen über Rezeptionsregelmäßigkeiten der Leser sicherzustellen vermögen, daß das Publikum, die >Leseweltbestimmt< sind, kommen mit der Poesie in der Schule und auf der Universität in Berührung, da diese fest im gelehrten Ausbildungsgang verankert ist Ob sie die Poesie im Erwachsenenalter ganz aufgeben oder auf die >Nebenstunden< beschränken, ist für die Zugehörigkeit zum Gelehrtenstand nicht ausschlaggebend. Sobald jedoch prinzipiell alle als Dichter in Frage kommen, weil selbst Personen, die nicht oder kaum mit den gelehrten Ausbildungstraditionen in Berührung stehen, anfangen, Gedichte und vor allem Romane zu schreiben, muß bei der Betrachtung differenziert werden, ob die Zeit der poetischen Tätigkeit eine auf die Kindheit und Jugend beschränkte Episode bleibt oder ob die Heranwachsenden die riskante literarische Karriere anstreben. Daß das Versemachen und Romaneschreiben zunehmend als Übergangsstadium und als Charakteristikum pubertierender Jünglinge erscheint, ist ein Indiz dafür, daß die Poesie aufhört, Ständemerkmal zu sein, und sich statt dessen als eigener kommunikativer Bereich etabliert, der zugleich als Spekulation auf den wechselnden Geschmack ungelehrter Leser und als individualitätsbildende Gegenwelt zur >Prosa< der Wirklichkeit erscheint Zuletzt gilt es, einen kleinen Teil der Romanproduktion im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert vorzustellen, der in unterschiedlichem 2

Vgl. Theodor Klaiber: Die deutsche Selbstbiographie. Beschreibungen des eigenen Lebens, Memoiren, Tagebücher. Stuttgart 1921. S. VII. Diese Beschränkung formuliert Klaiber als »Höhenwanderung«, die bei den »ragenden Gipfeln der Selbstdarstellung verweilt«

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Autobiographik und Roman

Ausmaß und in divergierender Weise das Thema der Dichterbildung und des dichterischen Handelns aufgreift, um die These über den funktionalen Zusammenhang zwischen veränderten literarischen Kommunikationsbedingungen, Autobiographie und Bildungsroman zu belegen. Im Zentrum wird zwar der »Anton Reiser« Karl Philipp Moritz' stehen, doch daneben geraten einige kaum bekannte Romane in den Blick, die sich mit dem Versuch, angehende Dichter zu beschreiben, eine besondere Dignität zuschreiben. Wenn Romane benutzt werden, um zu beschreiben, ob und wie ein Knabe zum Dichter wird, mit welchen Orientierungsschwierigkeiten er es zu tun bekommt, sobald er sich in die Öffentlichkeit wagt und Wünsche und Zusammensetzung des neuen Publikums berücksichtigen muß, so hat der Roman wie die Autobiographie eine spezifische Funktion für Autoren und Leser: Die Romane selbst werden, indem sie den Zusammenhang zwischen Innen und Außen, zwischen Eigenem und Übernommenem, zwischen Selbst- und Fremdreferenz herstellen und demonstrieren, zu Instrumenten der Orientierung für angehende Dichter. Sie beschreiben sich selbst als Texte, die die Bildung ihrer Leser fördern und deshalb aus der Masse der illegitimen, als schädlich diffamierten anderen Romane herausragen. Indem sie auf autobiographische Schreibweisen zurückgreifen und das Verfertigen von Autobiographien als literarische Option thematisieren, legen sie eine biographische Deutung nahe, die sie im Sinne Morgensterns als Momente der Bildung des Autors selbst betrachtet. Daß Romane ihre Nähe zur Autobiographie demonstrieren und Autobiographien ihre Affinität zur >Dichtung< proklamieren, rechtfertigt jedoch nicht die wissenschaftliche Nivellierung der Differenz zwischen Autobiographie und Roman/Dichtung, ist doch die Einheit dieser Differenz die Bedingung der Möglichkeit für das vielfach zu beobachtende Spiel, Selbstdarstellung und literarische Texte in eins fallen zu lassen. Wann und warum dieses Spiel eröffnet wird, kann nur beobachtet werden, wenn methodisch die Differenz von Dichterautobiographie und Dichtungen intakt bleibt und Texte, die als Autobiographien auftreten, getrennt von Texten behandelt werden, die sich als Roman beschreiben. Aus diesem Grund werden eigene Lebensbeschreibungen und Romane im folgenden nacheinander vorgestellt und untersucht. 1) Klassische autobiographische Rubriken Daß die Dichterautobiographie keine Erfindung des 18. Jahrhunderts ist, sondern an einer vielleicht nicht sehr bekannten, aber doch wichtigen Tradition partizipiert, zeigt die Lektüre autobiographischer Texte der klassischen Antike und der Renaissance. In den Selbstdarstellungen Ovids und Petrarcas finden sich bereits autobiographische Elemente und Strukturen, die im 18. Jahrhundert

Autobiographik zwischen Gelehrsamkeit und Genialität

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unter gänzlich veränderten kommunikativen Bedingungen wieder aufgegriffen werden können, weil sie den Zusammenhang zwischen Leben und Texten herstellen, der für die moderne Dichterrolle so zentral wird. Die im Exil am Schwarzen Meer zwischen 8 und 17 n. Chr. entstandenen »Tristia« (Lieder der Trauer) Ovids enden mit einer »Sphragis« (Siegel), einem traditionellen Gedichtelement, in dem seit der hellenistischen Zeit der Dichter seinen Namen nennt, sich seinen Lesern vorstellt und den Text als sein Eigentum reklamiert:3 »Die ego qui fuerim, tenerorum lusor amorum/ quem legis, ut noris, accipe posteritas.«4 Die Differenz zwischen dem Einzelwerk, auf das sich Ovid bezieht, der Ari amatoria, die den Vorwand für seine Verbannung geliefert hatte, und der Person des Autors wird durch diesen Text kenntlich gemacht, aber sogleich dementiert. Der autobiographische Bericht steht im Banne jener Metonymie, die das schriftliche Werk mit der Person seines Verfassers identifiziert Sie ermöglicht das Spiel der Identifikationen und Differenzierungen von Werk und Verfasser, das den Lesern der Mit- und Nachwelt erlauben soll, durch die Texte hindurch die Person ihres Verfassers zu erkennen; die Texte verstellen nicht den Blick auf ihren Autor, sondern eröffnen ihn. Die autobiographische Schrift soll ihren Verfasser gegen die Attacken verteidigen, die ihm als Autor erotischer Texte gelten; der Hinweis auf seine integre Person läßt auch die moralisch anrüchigen Texte in einem besseren Licht erscheinen. Zu diesem Zweck schildert der Verfasser seine Geburt, seine hohe Herkunft und schließlich die Anfänge in der Poesie: at mihi iam puero caelesüa sacra placebant, inque suum fuitim Musa trahebat opus, saepe pater dixit »Studium quid inutile templas? [...]< motus erara dictis, totoque Helicone relicto saibere temptabam verba soluta modis. sponte sua carmen números veniebat ad aptos, et quod temptabam scribere versus eraL5

Gegen den auf Nützlichkeit pochenden Rat des Vaters, der noch für die Beschreibung der Vaterrolle im 18. Jahrhundert Vorbild ist, denn kein Vater wolle, so der französische Theoretiker Dubos zu Beginn des Jahrhunderts, daß sein Sohn Dichter werde,6 und gegen den eigenen Willen wandelt sich alles,

3

Vgl. »Sphragis«. In: Pauly-Wissowa: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft 2. Reihe. 2. Bd. Stuttgart 1929. Sp. 1757 f. 4 Ovid, Tristia IV, 10, 1-2. 5 Ebd., 19 ; 24. 6 Dubos, Über die Poesie und Mahleiey, S. 27: »Niemals te ein Vater den Vorsatz gefaßt, aus seinem Sohne einen Dichter zu machen.«

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Autobiographik und Roman

was der Knabe schreibt, zu Versen. Ein nicht weiter analysierter, in die Nähe göttlicher Instanzen gerückter äußerer Einfluß dient der Begründung für die Exklusivität und Echtheit der eigenen Autorschaft: Daß der Knabe poetisch tätig ist, wird nicht durch Hinweis auf eigene Intentionen, sondern auf den Einfluß seiner Muse und eines alle Hindernisse überwindenden Dranges zurückgeführt; damit erscheint die Autorschaft als exklusiver Effekt einer singulären Beziehung zwischen dem Individuum und einer fremden, höheren Instanz. Im Anschluß daran beschreibt Ovid die unmittelbare Konkurrenz mit den gleichzeitig lebenden anderen Dichtern ebenso wie seine frühen Erfolge, seine Ehen und schließlich die Verbannung, die auf ein »error«, nicht auf ein »scelus« zurückgehe.7 Den Abschluß der »Sphragis« bildet der traditionelle Musenanruf, der mit einem eindrucksvollen Rekurs auf den Unsterblichkeitstopos verknüpft wird: tu mihi, quod rarum est, vivo sublime dedisti nomen, ab exequiis quod dare fama solee.

[...]

si quid habent igitur vatum praesagia ven, protinus ut moriar, non ero, terra, tuus.8

Anders als in Horaz' Versen »exegi monumentum [...]« verbürgt nicht das schriftliche Werk die Unsterblichkeit seines Verfassers, sondern die exklusive Beziehung des Dichters zu seiner Muse sorgt für die Bekanntheit des Eigennamens bereits zu Lebzeiten, die auch nach seinem Tode ihre Fortsetzung finden wird. Die Sicherheit, mit der Ovid den Nachruhm für sich reklamiert, ist nicht nur ein Zeichen dichterischen Selbstbewußtseins, sondern auch Ausdruck einer spezifíschen Zukunftserwartung: Selbst wenn dunkel bleibt, wer der Leser (»candide lector«9) ist, den Ovid anspricht und dem er dankt, ist die anvisierte Zukunft, die die Lebenszeit des einzelnen überschreitet, eine direkte Fortsetzung der Gegenwart; die Leserschaft, bei der er zu Lebzeiten Ruhm erworben hat, wird sich in der Erwartung des Dichters nach seinem Tod weder in ihrer Zusammensetzung noch in ihren literarischen Ansprüchen so verändern, daß der Nachruhm ernsthaft in Frage gestellt ist. Die Genese der eigenen poetischen Praxis wird von Ovid durch einen Rekurs auf die religiöse Konzeption der Musen erklärt, die traditionell für die poetische Begeisterung verantwortlich sind. Dieser göttliche Ursprung der Poesie wird noch bis in das 18. Jahrhundert hinein den Hintergrund für die Beschreibungen des Dichters abgeben, ohne daß bis dahin ein fundamentaler Gegensatz zwi7 8 9

Ovid, Tristia, IV, 10, 90. Ovid, Tristia, IV, 10, 121-130. Ovid, Tristia, IV, 10, 132.

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sehen exklusivem, göttlichem Einfluß und der Lehr- und Lernbarkeit der Poesie entsteht, auch wenn diese Differenz bereits im platonischen Dialog »Ion« bis zum ausschließenden Widerspruch entfaltet wird. Die Kombination von göttlich induzierter, irrevozierbarer Begeisterung und gelehrten Fertigkeiten bildet, zusammen mit der Differenz ars-natura, solange die Folie für die Beschreibung des Dichters, bis die eine Seite der Differenz, die göttliche Begeisterung, in ein rein selbstreferentielles Konzept des Genies umgemünzt wird, das sich absolut setzt Vor allem an das Vorbild Ovids schließen jene humanistischen Dichterautobiographien und -biographien an, die ebenfalls im Dienste des dichterischen Nachruhms stehen, auch wenn sie im Unterschied zu den »Tristia« Prosaformen verwenden. Sie folgen zumeist einem festen Schema, das von Hermogenes formuliert und durch Priscian ins Mittelalter überliefert wurde. 10 Dieses autobiographische Formular setzt die familiäre Herkunft an den Anfang, um daran die Schilderung der educatio, der res gestae, des animus, des corpus und der fortuna sowie die comparado mit zeitgenössischen und historischen Dichtern anschließen zu lassen.11 Als epochemachendes, die Renaissance einläutendes Ereignis gilt Petrarcas um 1370 entstandener autobiographischer Brief »De studiorum suorum successibus ad posteritatem«, weil er, gemeinsam mit anderen autobiographischen Texten dieses Dichters, zu den frühesten Dokumenten zählt, die auf die antike Vorstellung des Ruhmes, der das Überleben im Werk garantiert, zurückgreifen. 12 Im Rahmen der Fiktion einer unmittelbaren Mitteilung an die Nachlebenden erfüllt Petrarca das autobiographische Schema und erweitert es zugleich: In einer Leseranrede, die er mit dem Gestus der Bescheidenheit vorträgt, bezweifelt er zunächst, daß sein Eigenname im Gedächtnis der Nachwelt erhalten bleibt Für den Fall des Überlebens bei der Nachwelt jedoch liegt zusätzlich der autobiographische Bericht vor, der die Werke des Autors zuverlässig unter den Nenner seines Lebens und seines Eigennamens zu bringen verspricht. Noch bevor die Leser die poetischen Texte zur Kenntnis nehmen, steht ihnen mit der Autobiographie ein Deutungsinstrument zur Verfugung:

10 11

12

Vgl. James J. Murphy: Rhetoric in the Middle Ages. A History of Rhetorical Theory from Saint Augustine to the Renaissance. Berkeley/Los Angeles/New York 1974. S. 41. Vgl. dazu Josef Ijsewijn: Humanistic Autobiography. In: Studia Humanitatis. Ernesto Grassi zum 70. Geburtstag. Hg. von E. Hora und E. Keßler. München 1973. S. 209-219. Ders.: Die humanistische Biographie. In: Biographie und Autobiographie in der Renaissance. Arbeitsgespräche in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Hg. von A. Buck. Wiesbaden 1983. S. 1-19. Vgl. August Buck: Das Lebensgefühl der Renaissance im Spiegel der Selbstdarstellungen Petrarcas und Cardanos. In: F a m e n der Selbstdarstellung. Festgabe für Fritz Neubert Berlin 1956. S. 35-52.

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Autobio graphik und Roman

Fuerit tibi forsan de me aliquid auditum; quanquam et hoc dubium sit: an exiguum et obscurant longe nomen seu loconim seu temporum perventurum sit. Et illud forsitan optabis nosse: quid hominis fuerim aut quis operum exitus meorum, eorum maxime quorum ad te famapervenerit vel quorum tenue nomen audieris.13

Petrarca schildert anschließend sein Äußeres, seine Herkunft und, erneut die eigene Bescheidenheit unbescheiden demonstrierend, seine Abneigung gegen äußeren Prunk und das Vergnügen der Sinne. Der angebeteten Laura und seiner Liebe zu ihr wird eine eigene Passage gewidmet, die die Charakterschilderung unterbricht. Zwar wird die Entstehung des Werkes nicht unmittelbar mit der persönlichen Liebesgeschichte verknüpft, doch deutet sich hier bereits die Möglichkeit an, persönlich-private Erfahrungen mit dem poetischen Werk so zu verbinden, daß nicht mehr die Regeln der Poetik, die benutzten Muster und die rhetorisch-topisch klassifizierten Anlässe und Gelegenheiten die Produktion der poetischen Texte erklären und ihre Rezeption lenken, sondern die privaten Erfahrungen des einzelnen für die Texte verantwortlich gemacht werden und so eine nicht-gelehrte Lektüre ermöglichen. Die poetischen Texte erscheinen dann als Verarbeitung privater, persönlicher Erfahrungen, zu deren Deutung die Selbstdarstellung, die im Falle Petrarcas eine Vielzahl anderer, überlieferter Selbstzeugnisse einschließt, wesentliche Beiträge liefert: »Mich verfolgt/ Ein herrlich Weib, durch Tugend, alten Adel/ Daheim bekannt, im Lied von mir gefeiert/ Und so in aller Welt berühmt geworden.«14 Der Beschreibung der vergangenen Liebe, von der sich das autobiographische Ich schließlich distanziert, folgt die Schilderung seiner Charaktereigenschaften und seines äußeren Lebenslaufes, seiner gelehrten, an den antiken Vorbildern ausgerichteten Erziehung sowie seiner Reisen und Bekanntschaften. Gründet Ovids Selbstdarstellung vornehmlich auf der Behauptung eines göttlichen Einflusses, so wird in Petrarcas autobiographischer Schrift die erste Konfrontation mit der Dichtkunst als Bestandteil des schulischen Curriculums beschrieben. Im Rahmen einer allgemeinen Charakterschilderung beschreibt der Verfasser Neigung und Ausbildung zur Poesie: Ingenio fui equo potius quam acuto, ad omne bonum et salubre Studium apto, sed ad moralem precipue philosophiam et ad poeticam prono; quam ipse processu temporis neglexi, sacris literis delectatus, in quibus sensi dulcedinem abditam, quam aliquando contempseram, poeücis literis non nisi ad ornatum reservatis [...]; inque his duabus

13

Francesco Petrarca: Ad posteritatem. In: Prose. Hg. von G. Martellotti u.a. Mailand/Neapel 1955. S. 2. 14 Francesco Petrarca: Das Bekenntnis. In: Poetische Briefe. In Versen übersetzt und mit Anmerkungen hg. von F. Friedersdorff. Halle/Saale 1903. S. 44 ff.

Autobio graphik zwischen Gelehrsamkeit und Genialität

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aliquantulum grammatice dyalectice ac rhetorice, quantum etas potuit, didici; quantum scilicet in scolis disci solet, quod quantulum sit, carissime lector, intelligis.15

Die Darstellung der ersten Begegnung mit der Poesie ist sehr knapp gehalten und bezieht sich lediglich auf den traditionellen gelehrten Unterricht, dessen Einfluß für die spätere Entwicklung zum Dichter heruntergespielt wird. Die Neigung zur Dichtkunst stellt Petrarca zugunsten des theologischen Interesses zurück, so daß mit dieser Darstellung die Poesie in ihre traditionell dienende Rolle zurückverwiesen wird. Der Rückzug in die Einsamkeit von Vaucluse und die dort entstandenen Schriften, vor allem die »in der Volkssprache gedichteten Gesänge an die Liebe«, 16 befördern seinen Ruhm, so daß er schließlich zum poeta laureatus gekrönt wird. Im nachhinein jedoch verwirft der Autobiograph Petrarca das damalige Urteil: »Plus in eum valuit amor et etatis favor quam veri Studium«17, und seine Liebesgedichte erscheinen ihm wie »Torheiten«, von denen er wünscht, sie wären niemandem, auch ihm selbst »nicht bekannt«. 18 Doch sie »sind in den Händen des Volks und werden lieber gelesen, als was ich später mit Ernst und kräftigerem Geiste geschrieben.«19 Daß der Autor die Kontrolle über seine Texte verlieren kann, indem sie anders und von anderen gelesen werden, als er selbst beabsichtigt, wird zwar berücksichtigt, doch nicht eigens als Problem behandelt. Der zurückblickende, sich reifer und bescheidener gebende Autor widmet sich diesem Thema lediglich im Kontext einer generellen Demonstration von Bescheidenheit und Selbstkritik: Den Ruhm, der einem zu Lebzeiten zuteil wird, als zufällig hinzustellen, dient dazu, den Nachruhm zu befördern und als notwendig erscheinen zu lassen; die eigene Gegenwart und mit ihr das falsche Urteil des ungelehrten Volkes über einen Teil seiner Werke wird von Petrarca als Periode des Niedergangs und der Entfernung vom antiken Ideal beschrieben, damit die übrigen eigenen Texte in die unmittelbare Nachbarschaft mit den antiken Vorbildern gestellt werden können und der eigene Ruhm als Ergebnis einer direkten Konkurrenz mit den Alten erscheint.20

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Ad posteritatem, S. 6 ff. Francesco Petrarca: Über sich selbst. In: Das lyrische Werk. Deutsch von B. Geiger. Darmstadt 1958. S. 20. 17 Ad posteritatem, S. 16. 18 Über sich selbst, S. 20. 19 Ebd. 20 So etwa Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, Sämmtliche Werke, Bd. 17, S. 269 ff. - Vgl. auch Eckhard Kessler: Antike Tradition, historische Erfahrung und philosophische Reflexion in Petrarcas Briefen an die Nachwelt. In: Biographie und Autobiographie in der Renaissance. Aibeitsgespräche in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Hg. von A. Buck. Wiesbaden 1983. S. 21-34. 16

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Bis in die Frühaufklärung hinein beruhen dichterische und gelehrte Selbstdarstellung auf der bei Ovid und Petrarca paradigmatisch zu beobachtenden Voraussetzung geschichtlicher Kontinuität und Stabilität. Die eigene Zeit kann zwar als Abfall vom antiken Ideal beschrieben werden, jedoch besteht eine prinzipielle Vergleichbarkeit zwischen den Autoren und Texten der klassischen Antike sowie den jeweiligen zeitgenössischen Autoren, so daß der Dichter als Autobiograph versuchen kann, sich mit seinem Werk und mit seiner Selbstdarstellung aus der negativ geschilderten Gegenwart herauszuheben und in die Reihe der Exempel großer Autoren aus Antike und Gegenwart einzuordnen. Agonalität und Exemplarität bilden die Ausprägungen jener Grundannahme historischer Kontinuität, die es erlaubt, aus den Beispielen der Vergangenheit Lehren für die eigene Gegenwart und für die Zukunft unmittelbar abzuleiten.21 Biographische und autobiographische Lebensbeschreibungen >großer Männer< dienen unter diesem Vorverständnis noch bis weit in das 18. Jahrhundert hinein dazu, ihr Beispiel direkt jenen zu vermitteln, »qui n'ont pas pû les voir, et aux siècles où ils n'ont pas vécu.«22 Sie sind darauf angelegt, »comparer les grands hommes les uns avex les autres.«23 2) Gelehrte Autobiographik Beobachten kann man diese Grundannahmen etwa an Christian Hofmann von Hofmannswaldaus Vorrede zu seinen »Deutschen Übersetzungen und Gerichten« aus dem Jahre 1679: Autobiographische und literaturhistorische Elemente bilden hier die wesentlichen Komponenten der poetologischen Argumentation: Ich scheue mich nicht zu bekennen/ daß ich zu den Poetischen Sachen/ von Jugend auff einen zimlichen Zug gehabt/ und darinnen fast mein eigener Meister gewesen bin/ massen ich denn keine gedruckte Anweisung dazu auffgeschlagen/ und allein durch fleißige Uberlesung der reinen deutschen Reimen/ reimen lernen/ biß daß ich bey anwachsenden Jahren/ vermittelst fleissiger Durchsuchung gelehrter Schrifften/ auch endlich tichten und erfinden können/ indem das erste alleine/ der Pritschmeisterey gar nahe kommt/ das andere aber/ so zu sagen/ der Poesie Seele ist. 24

21 Vgl. dazu vor allem Reinhart Koselleck: Historia magistra vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1985. S. 38-66. 22 Pierre Louis Moreau de Maupertuis: Sur la manière d'écrire et de lire la vie des grands hommes. In: Königliche Akademie der Wissenschaften. Histoire de l'Académie Royale des Sciences et des Belles Lettres de Berlin 1754. S. 507-513. Hier S. 507. 23 Ebd., S. 508. 24 Christian Hofmann von Hofmannswaldau: Vorrede zu Deutschen Übersetzungen und Getichten. Hg. und eingel. von K.G. Just. In: Poetica 2, 1968, S. 541-557. Hier: S. 541.

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Der ausdrückliche Verzicht auf die Zuhilfenahme von poetischen Lehrbüchern und der induktive Erwerb der Fähigkeit zu reimen, d. h. die Beherrschung der Regeln von Prosodie und ligatio allein aufgrund der Lektüre von perfekten Mustern, ohne auf Anweisungspoetiken zurückzugreifen, rücken die traditionellen Institutionen gelehrter Dichtungspraxis nur scheinbar in ein neues Verhältnis zueinander, das die selbständige Tätigkeit des einzelnen gegenüber den Poetiken hervorhebt; tatsächlich formuliert Hofmannswaldau lediglich jenes traditionelle Argument der Gelehrsamkeit um, das die allgemein erlernbaren poetischen Fertigkeiten disqualifiziert: Die bloße Fähigkeit zu reimen wird als »Pritschmeisterey« abgetan und im Sinne der hierarchischen gesellschaftlichen Differenzierung und ständischer Exklusion dem >Pöbel< zugeordnet. Die Originalität dessen, der sein eigener Meister ist, wird nicht gegen die Anweisungspoetik ausgespielt, sondern erscheint als Korrelat ständischer Exklusivität: Reimen können alle, weil es eine erlernbare Fertigkeit ist, erfinden jedoch nur die geborenen Poeten, d. h. die Gelehrten. Als Kernstück barock-gelehrter Dichtungspraxis ermöglicht und regelt die inventio die produktive Aneignung und Kombination topisch organisierter gelehrter Inhalte. Die gelehrte poetische Praxis manifestiert sich bei Hofmannswaldau vor allem in der imitatio anerkannter Vorbilder, während die unverhüllte Benutzung von poetischen Hilfsmitteln, etwa Aerarien und Florilegien, aber auch von Kompendien der Dichtkunst wieder den Verdacht der pöbelhaften, anmaßenden >Pritschmeisterei< erregen. Konsequent behauptet Hofmannswaldau, das poetische Lehrbuch Martin Opitz', »Von der deutschen Poeterey« vernachlässigt und nur auf dessen poetische Praxis zurückgegriffen zu haben, die ihm in seiner Jugend zur Orientierung gedient habe: Meine Jugend traff gleich in eine Zeit/ da der gelehrte Mann Martin Opitz von Boberfeld/ der berühmte Schlesische Buntzlauer/ durch der Frantzosen und Holländer poetische Wercke angeleitet/ mit einer Feder in das Licht trat. Meiner Natur gefiel diese reine SchreibensArth so sehr/ daß ich mir auß seinen Exempeln Regeln machte/ und bey Vermeidung der alten rohen Deutschen Art/ mich der reinen Liebligkeit/ so viel möglich gebrauchte: BiB nachmals ich auff die Lateinischen/ Welschen/ Frantzösischen/ Niederländischen und Englischen Poeten gerieth/ darauß ich die sinnreichen Erfindungen/ durchdringende Bey-Wörter/ artige Beschreibungen/ anmuthige Verkniipffungen/ und was diesem anhängig/ mir ie mehr und mehr bekant machte/ umb nicht/ was sie geschrieben/ nachzuschreiben/ sondern nur derer Arth und Eigenschafft zu beobachten/ und solches in meiner Mutter-Sprache anzuwehren. 2 5

Das induktive Verfahren der Ableitung von Regeln aus den Exempeln, d. h. aus den einzelnen Texten der fremdsprachigen Muster steht im Gegensatz zur Reim-

25 Ebd., S. 541 f.

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kunst, die in den gedruckten Lehrbüchern vermittelt wird, und zur bloßen, plagiatorischen Nachahmung fremder Vorbilder. Die produktive Aneignung ausländischer Muster durch einen deutschen Dichter ist dagegen das einzige geeignete Mittel, die deutschsprachige Poesie gegenüber den Gelehrten, aber auch gegenüber anderen Mitgliedern der Oberschichten zu fördern und zu legitimieren, denn dieses Projekt, an dem Hofmannswaldau direkt beteiligt ist, beruht auf der Voraussetzung eines gemeinsamen Perfektionsstandards sowie rhetorisch-poetischer Konkurrenz und Agonalität. Im Kontext der Legitimation deutschsprachiger poetischer Praxis wird die Dichtkunst, mit der sich der Gelehrte nur in den >Nebenstunden< beschäftigen darf, aus der topisch angeführten »jtzigen Schreibesucht«26 herausgehoben und durch ihr hohes Alter beschrieben und so vor allem der klassischen lateinischen und neulateinischen Poesie gleichgestellt.27 Die literaturhistorische Abhandlung, die Hofmannswaldau den autobiographischen Bemerkungen folgen läßt, dient nicht allein dem Zweck, Modelle für die zukünftige deutschsprachige Poesieproduktion vorzustellen, sondern auch die bereits geschriebenen und erschienenen deutschen Texte, zu denen selbstverständlich Hofmanswaldaus eigene Texte zählen, als gleichrangige Manifestationen der deutschsprachigen poetischen Kompetenz in die Reihe der klassischen Musterbeispiele einzuordnen. Die Verbindung von autobiographischer, poetologischer und literaturhistorischer Darstellung richtet sich nicht nur an die Dichter als Nachahmer und Aneigner der Vorbilder der Vergangenheit, sondern an alle Leser und literarisch Interessierten des Adels und des städtischen Gelehrtenstands, die zwar nicht mehr alle selbst dichten, denen jedoch die Kenntnis und Anwendung der gelehrten Standards unterstellt werden kann. 28 Die autobiographische Darstellung poetischer educatio, der Abkehr von den verpönten Anweisungspoetiken und der Orientierung an den vorbildlichen Mustern der Vergangenheit und fremder Sprachen, verdichtet sich zum exemplum dichterischer Tätigkeit, das jenen potentiellen Nachfolgern zur Orientierung dient, denen ein gemeinsames Interesse und dieselben Intentionen unterstellt werden, wie sie Hofmannswaldau verfolgt, nämlich die deutsche Poesie durch ihr Alter und durch ihre Leistungen im Vergleich mit allen anderen poetischen Leistungen zu legitimieren und zu beför-

26 Ebd., S. 541. 27 Zur Bedeutung und zum Einfluß der neulateinischen Dichtung auf die deutsche Dichtung vgl. Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962. S. 189 ff. 28 Vgl. Klaus Günther Just: Zwischen Poetik und Literaturgeschichte. Christian Hofmann von Hofmannswaldaus »Gesamtvorrede«. In: Poetica 2, 1968, S. 553-557. Zur Bedeutung der autobiographischen Passagen äußert sich Just nicht.

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dem. 29 Dabei handelt es sich immer noch um die Kommunikationen innerhalb eines eng begrenzten, der Oberschicht zugehörigen Gelehrtenstandes, der die Poesie als exklusive, standesgemäße Beschäftigung beschreibt, und nicht um die Berücksichtigung eines allgemeinen, heterogenen und zumeist ungelehrten Lesepublikums. Die barocken poetae docti bewegen sich in einem gemeinsamen Feld gelehrter Wissenschaft und Poesie, auf dem sie in quasi unmittelbarer Konkurrenz zu den Poeten aller Zeiten und Länder stehen. Gemeinsame Kriterien und ein gemeinsamer Perfektionsstandard werden vorausgesetzt und entscheiden darüber, ob ein Dichter mit seinen Werken an erster oder letzter Stelle das poetische Wettrennen beendet. Diese Rolle der gelehrten Kommunikationsgemeinschaft für die poetische Initiation des einzelnen präsentiert die Autobiographie des poetischen praeceptor Germaniae besonderes eindringlich: Der Band mit der sechsten Auflage von Johann Christoph Gottscheds »Ersten Gründen der gesammten Weltweisheit«, der 1762 in Leipzig erscheint, enthält nicht nur in einem Anhang weitere philosophische Abhandlungen zu verschiedenen Themen, sondern auch, vor dem eigentlichen Haupttext abgedruckt, die »Fortgesetzte Nachricht von des Verfassers eignen Schriften, bis zum 1745sten Jahre«. 30 Diese autobiographische Arbeit zeichnet annalistisch alle gedruckten Arbeiten ihres Verfassers auf und ergänzt die Liste der eigenen Schriften durch kurze Bemerkungen über Anlaß und Umstände ihres Entstehens und Erscheinens. Gottscheds Autobiographie ist somit eine verselbständigte, ausgeweitete Publikationsliste, die traditionell nur einen Teil der Gelehrtenautobiographie ausmacht.31 Sie ersetzt die »überflüssige Vorrede«, die die sechste Auflage seiner praktischen Philosophie nicht mehr nötig habe, und richtet sich an den »Geneigten Leser« und die »Nachwelt«.32 Aufgabe dieses autobiographischen Textes ist es, seinen Verfasser durch das vollständige Verzeichnis seiner Werke als Mitglied des Gelehrtenstandes auszuweisen. Den Hinweis auf andere Gelehrte, die ebenfalls mit »dieser Art Nachrichten« ihren »Gönnern und Freunden« gedient haben, benutzt Gottsched als captatio benevolentiae und Rechtfertigung dafür, daß er überhaupt von sich selbst spricht, ist es doch dringlichstes

29 Daß den friihen Projekten deutscher Poesiegeschichtsschreibung diese agonale Struktur zugrundeliegt, zeigt Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, S. 73 f. 30 Johann Christoph Gottsched: Fortgesetzte Nachricht von des Verfassers eigenen Schriften, bis zum 1745sten Jahre. In: Ders.: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Ausgewählte Werke. Hg. von P.M. Mitchell. Bd. 5. Teil 2. Berlin/New York 1983. S. 33-66. 31 Vgl. dazu unter Bezug auf Gottsched Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie, S. 25. 3 2 Gottsched, Nachricht, S. 3. Im folgenden werden die Zitate aus Gottscheds Autobiographie durch die eingeklammertes Ν und Angabe der Seitenzahl belegt.

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Ziel jeder Gelehrtenautobiographie zu verhindern, daß die autobiographische Schrift als egoistisches, marktschreierisches Instrument des Selbstlobes wahrgenommen wird. Deshalb ist die autobiographische Äußerung an die Bitte von gelehrten Freunden geknüpft: »Alles kömmt nur darauf an, daß es solche Freunde giebt, die es verlangen.«(N 3) Mit dieser Prämisse seiner Autobiographie evoziert Gottsched die Vorstellung einer symmetrischen Oberschichtenkommunikation, in der die Standesgenossen sich gegenseitig Anerkennung gewähren und die autobiographische Liste der jeweils eigenen Schriften als Beweis und Zeichen ihrer Standeszugehörigkeit auffassen. 33 Die Namen der Freunde anzuführen, die die Autobiographie erbeten haben, würde dagegen »Pralerei« und »Beleidigung« sein (N 3 f.), so daß der anonyme Hinweis auf den eigenen Altruismus ausreichen muß, das Schreiben über die eigene Person zu rechtfertigen. Noch in Goethes Autobiographie wird der Verweis auf die Bitten der Freunde und Leser als Legitimation der eigenen Lebensbeschreibung dienen müssen, doch die argumentative Entfaltung der Freundesbitte in »Dichtung und Wahrheit« wird den Rahmen des gelehrten Topos schließlich sprengen. Zur Etablierung eines gelehrten Kommunikationszusammenhangs muß jede Schrift als Ergebnis des gelehrten Zusammenwirkens mehrerer Personen erscheinen; sie darf nicht als originelle Leistung eines Einzelnen beschrieben werden, die die gelehrte Ordnung und ihre Kontinuität aufbrechen würde: Martin Opitz ζ. B. beschreibt die Herstellung dieses Zusammenhangs in seinem »Buch von der Deutschen Poeterey« als eine Art Initiations- und Aufnahmeprüfung, der sich der Kandidat der Gelehrsamkeit zu unterziehen hat: »So geben auch die/ welche in der zahl der Poeten wolten gerechnet werden/ jhre getichten anderen Poeten zue vbersehen/ vnd erkundigten sich darüber jhrer meinung.« 34 Diese Konvention erklärt, warum Gottsched in seinem autobiographischen Schriftenverzeichnis durchgängig Namen und Titel seiner Kritiker, Unterstützer und Anreger aufzählt, so daß die Autobiographie nicht nur ein Register der Gottschedischen Schriften liefert, sondern auch ein Verzeichnis aller Gelehrten, mit denen Gottsched in Verkehr stand und steht. Ausführlicher und detailfreudiger als die Liste seiner sonstigen Publikationen ist die Schilderung der allerersten Veröffentlichung Gottscheds. Die Erstpublikation konstituiert das Initiationsritual für den jungen Gelehrten. Es handelt sich um ein deutsches Gedicht auf den mit allen Titeln genannten »königl. preuß.

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34

Zur Bedeutung der gelehrten Freundschaft für die Ständegesellschaft vgl. Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. Vom Ausgang des Barock bis Klopstock. Halle/Saale 1936. S. S. Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, S. 410.

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Tribunalsrath, und Consistorialpräsidenten zu Königsberg, Herrn von Röder«(N 4) Wie Gottsched die Anfertigung poetischer Schriften gelernt hat, wird nicht geschildert, sondern als selbstverständliche Station seiner gelehrten Ausbildung vorausgesetzt: In recht vagen Formulierungen beschreibt er die Gelegenheit für die erste öffentliche Äußerung seines poetischen ingenium : Ich batte Ursachen, ihn durch eine Probe meines Fleißes zu verehren. Er war Amtshauptmann des Ortes, wo mein Vater Prediger war, und iiberdem mein Pathe. Ich besang also sein Jahrfest 1719, aber aus Blödigkeit hatte ich das Herz nicht, meinen Namen dabey anders als mit den Anfangsbuchstaben drucken zu lassen. Wie Apelles wollte ich hinter der Tafel lauschen, was die vorbeygehenden sagen würden. Mein Bogen kam unter die Leute; und viele forscheten begierig, wer ihn gemachet hätte? Das schien mir nun [...] ein gutes Zeichen zu seyn.(N 4)

Die gesellschaftliche Stellung dessen, dem Gottsched seine erste Dichtung widmet, ist hinreichender Anlaß für die Verfertigung eines Gedichtes, das zugleich als erster Test für die poetische Begabung des Verfassers dient. Die Trennung von Text und Verfasser durch das Mittel der anonymen Publikation ermöglicht das Ausprobieren einer gelehrten Rollenkonvention, ohne gleich mit der ganzen Person für das mögliche Scheitern eintreten zu müssen. Der Adressat und die anderen Leser dieses Textes beurteilen ihn nach den gemeinsamen Regeln und Formeln der Gelehrsamkeit. Auf diese Weise kommt zugleich ein allgemein akzeptiertes Urteil über den Verfasser im Hinblick auf seine Standeszugehörigkeit zustande. Daß dieser seine Identität nicht zu erkennen gibt, ist ein Zeichen für seine »Blödigkeit«, d. h. für die Ängstlichkeit des Individuums, das seine gesellschaftliche Stellung in einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft zwar kennt, aber noch nicht weiß, ob es sie geschickt auszufüllen vermag.35 Die Verfasseranonymität ist in diesem Kontext eine Vorsichtsmaßnahme, die aufgehoben werden kann, sobald die gelehrte Anerkennung vollzogen und das Risiko, nicht als gelehrter Poet akzeptiert zu werden, minimiert worden ist. Um das positive Urteil der »Leute«, zu denen selbstverständlich nur die Standesgenossen zählen, durch eine weitere, maßgebliche Instanz bestätigen und legitimieren zu lassen, wendet sich der junge Gottsched an einen Professor der Poesie: Weit gefehlet aber, daß mich dieses Stolz gemachet hätte: so gieng ich endlich damit um, daB ich von einem unstreitigen Kenner und Meister in der Kunst beurtheilt seyn wollte: weil ich auf die Urtheile anderer mittelmäßiger Gelehrten nicht viel gab. Ich gieng also zu Hofrath Pietschen, der dazumal Professor der Dichtkunst zu Königsberg war. Dieser hielt zwar nicht viel Vorlesungen, war aber bereit, denen, die ihn zu Rathe ziehen wollten, einen

35 Vgl. Stanitzek, Blödigkeit, S. 13 ff.

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Zutritt, und oft Unterredungen von ganzen Stunden zu verstatten. Er ließ mich vor sich, und ich bath ihn um ein Urtheil über mein Gedicht Er war bereit dasselbe in meiner Gegenwart durchzulesen, und mir meine Fehler zu sagen.(N 4)

Die Beschreibung einer unmittelbaren Interaktion zwischen poetischem Anfänger und poetischem Lehrer gehört in den Bereich der gelehrten Kommunikation, die im Zeichen des nascitur darüber entscheidet, ob ein Individuum die ständischen Zugangsvoraussetzungen erfüllt. Der Initiationstest steht paradigmatisch für eine kommunikative Situation, in der der Kreis der Adressaten begrenzt und homogen ist und wo die Reaktion der Leser als Wirkung erfüllter oder nicht erfüllter Gelehrsamkeitskonventionen begriffen wird und nicht als Äußerung eines komplexen Inneren, das jeden Leser von jedem anderen unterscheidet. Die Symmetrie der kommunikativen Situationsbeschreibung verlangt, daß der Verfasser insofern für seinen Text verantwortlich ist, als dieser nach gelehrten Maßgaben beobachtet werden kann. Der Autor ist mit seinem Text, in dem er die formularischen Regeln der Gelehrsamkeit erfüllt, als Handelnder präsent. Die Möglichkeit eines Aspektwechsels zwischen dem Text als Autorprodukt und als Leserobjekt, der als Kriterium für die kommunikative Umstellung zum modernen Literatursystems dient,36 ist hier noch nicht gegeben: Leser und Autoren nehmen den Text unter gleichen Voraussetzungen und mit gleichen Beobachtungsinstrumenten wahr, so daß Zuschreibungs- und Verantwortungsprobleme nicht entstehen. Der wichtigste Einwand des Poesieprofessors richtet sich dagegen, daß der poetische Anfänger eine »Zeile [...] von Neukirchen« verwendet und sich damit des Plagiats schuldig macht: Wer hierbey bluthroth ward, das war ich. Er hatte nämlich recht: und ich wußte es wohl, daß ich diese Zeile gemauset hatte. [...] Ich schämte mich also herzlich, und verschwor es, künftig keine Zeile mehr zu stehlen: sie möchte mir noch so sehr gefallen. Der Hofrath selbst wiederrieth mirs; und hielt es für eine unerlaubte Dieberey, die einen, der selbst etwas machen könnte nur beschimpfete.(N S)

Obwohl der rhetorisch-gelehrten Ordnung der literarischen Kommunikation ein strenger Begriff literarischer Originalität und Einzigartigkeit fehlt, weil die Nachahmung antiker und moderner Muster Beweis für die Gelehrsamkeit des Dichters ist, wird die wortgetreue Übernahme einer fremden Formulierung streng kritisiert: Das Plagiat disqualifiziert nämlich das Individuum als Gelehrten, weil die Gelehrsamkeit über die wortgetreue Wiedergabe hinausgeht. Nur >pöbelhafte Pritschmeister< handeln als poetische Diebe, während die wahren Gelehrten in amplifizierender und variierender Imitation ihre Kunstfertigkeit

Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, S. 104.

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beweisen. Die Kontinuität der gelehrten Poesie wird nicht durch Wiederholung, sondern durch traditionsrespektierende Fortführung garantiert. Die frühe »Autorschaft«(N 7) Gottscheds in seiner Vaterstadt umfaßt »viele einzelne Gedichte, die ich in Königsberg bey verschiedenen Gelegenheiten, auf öffentliche Feyerlichkeiten habe drucken lassen; z.E. auf den Herzog von Hollstein, königl. preuß. Generalfeldmarschall, und Statthalter zu Königsberg; auf ein Reformationsjubelfest der Hauptkirche daselbst; auf einen Staatsminister, Kanzler von Ostrau u.a.m.«(N 7) Seine dichterische Praxis bleibt an die »Gelegenheiten« der städtisch-ständischen Gesellschaft gebunden und ist daher noch nicht mit den Orientierungsproblemen der Autoren konfrontiert, die ihre Texte an ein Publikum adressieren, das nicht mehr an den gelehrten Lektüreund Schreibgepflogenheiten teilhat. Erst ein unerwarteter poetischer Markterfolg mit einer Ode auf den Tod Peters des Großen läßt die Konsequenzen ahnen, die der expandierende Buchmarkt und die Veränderung in Zahl und Zusammensetzung der Leserschaft auf die Erfolgs- und Anerkennungserwartungen des Dichters haben: Nach üblichem Test und Korrektur des Textes durch die gelehrten Freunde wird die Ode gedruckt, verkauft sich mit 500 Exemplaren unerwartet gut und erzielt eine mehrfache Auflage: Sie fand also einen unerwarteten Beyfall; und ward nicht nur in gelehrten Zeitungen gerühmet, sondern auch in Monathschriften und andern poetischen Sammlungen ganz eingeriicket und nachgedrucket. Da ich mir einen so starken Abgang nicht vermuthet hatte, so war ich froh, daß mir der Verleger bey dem ersten Drucke eine kleine Anzahl von Abdrücken für meine Freunde bewilliget hatte. Ich genoß aber keinen Häller fur meine Mühe: und selbst bey den folgenden Ausgaben, war ich, wie Horaz von den Griechen rühmet,

PRAETER LAUDEM, NULLIUS AVARUS. Ich ging also allemal leer aus. Damals konnte ich es noch nicht überschlagen, wie viel ein Verleger, an einer Schrift, die gut abgeht, verdienen kann.(N 11)

Dem Gelehrten kommt es nicht zu, für die poetischen Arbeiten, die den >Nebenstunden< zugewiesen werden, ein marktabhängiges Honorar zu verlangen, widerspricht dies doch der gelehrten Selbstbeschreibung. Daß Gottsched zwar auf dieser besteht, zugleich jedoch eine neue, an Wirtschaftlichkeits- und Marktbeobachtungen geknüpfte Honorarberechnung in Erwägung zieht, deutet auf den Wandel im Umgang mit Texten hin, der mit der Expansion des Buchmarktes und dem Entstehen eines ständeübergreifenden Publikums verbunden ist und der erst später in den Blick der kritischen Beobachter gerät Daß Gottscheds autobiographische Liste seiner Werke trotz der bereits sichtbar werdenden Transformation des kommunikativen Bedingungsgefüges weiterhin an die homogene, exklusive Gruppe der Gelehrten gerichtet ist, wird am stärksten darin sichtbar, daß alle gelehrten und poetischen Unternehmungen einzelner Individuen zugleich als Angelegenheit aller Gelehrten beschrieben

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werden. So wird etwa die Herausgabe einer moralischen Wochenschrift, - die »Vernünftigen Tadlerinnen« - die einem breiteren Publikum gewidmet ist und als Ersatz für die vielgelesenene Erbauungsliteratur auftritt, als gemeinschaftliche, quasi-dialogische Angelegenheit mehrerer Gelehrter beschrieben. Damit die neuen Leser aus den bürgerlichen Schichten davon nichts merken, entwerfen die Herausgeber eine Autorfiktion, die eine unmittelbare Beziehung zwischen Lesern und einem einzigen Autor nachahmen soll.(N 11 f.) 37 Gottscheds 1762 veröffentlichte autobiographische Publikationsliste gehört in einen Zeitraum, da er seinen größten Einfluß bereits verloren hat und auch die Furore machenden Auseinandersetzungen zwischen ihm und den Schweizern abgeklungen sind. Diese Autobiographie in ihrer Eigenart lediglich als Beweis für Gottscheds Anachronismus zu lesen, würde ihr jedoch Unrecht tun, denn sie kann und will nichts anderes sein als die standesgemäße Selbstdarstellung eines Gelehrten. Hier zeigt sich kein Individuum, das durch Abweichung und Originalität Anerkennung auch über den Tod hinaus zu erzwingen sucht, sondern ein Mensch, der in seiner Eigenschaft als Mitglied eines Standes akzeptiert werden will. Da Autobiographien von Gelehrten und Dichtern als monumentale Zeugnisse fungieren, die wie die eigentlichen poetischen Werke die Lebenszeit ihres Verfassers überschreiten und postum seinen Ruhm behaupten und befördern sollen, gerät diese Zukunftserwartung mit der >Epochenschwelle< des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die sich auch im Bereich der literarisch-gelehrten Kommunikation niederschlägt, in den Strudel allgemeiner Verzeitlichung: Die Autoren können sich, wenn alle schreiben, alle lesen und wenn die Moden ständig wechseln, nicht mehr an den Formeln und Kriterien orientieren, die in der gelehrten Ordnung den Status als Dichter und den Ruhm nach dem Tode garantieren sollten. Statt dessen ist nun damit zu rechnen, daß sich bereits zu Lebzeiten ein Mißerfolg einstellt, der nicht durch postumen Ruhm ausgeglichen wird, oder daß dem Erfolg zu Lebzeiten ein Vergessenwerden nach dem Tode folgt. Die Möglichkeit, daß Autoren anders schreiben und Leser anders lesen, als die Umgangs- und Kommunikationsformen der Gelehrsamkeit vorschreiben, führt zu Konflikten über die Verantwortung von Lesern und Autoren für Schreiben und Lesen: Die Frage, was für die Wirkung eines Buches oder eines Textes verantwortlich ist, kann nicht mehr durch den Rekurs auf die antiken Muster oder die poetisch-rhetorischen Regeln entschieden werden, sondern nur durch den Hinweis auf das Genie des Verfassers. Die Entscheidung, dieser Verantwortung auszuweichen oder sich ihr zu stellen, bildet den Angelpunkt vieler ei-

37

Vgl. zur Rolle der Autorfiktion Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968. S. 30 ff.

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gener Lebensbeschreibungen, auch jener, die die Ausübung der Dichtkunst auf eine Episode des eigenen Lebenslaufs beschränken. Eine noch für die Ordnung der Gelehrsamkeit typische Weise, mit Poesie in Berührung zu kommen, schildert der später als Religionskritiker bekannt gewordene Johann Christian Edelmann in seiner Selbstbiographie aus dem Jahr 1752.38 Nachdem er bereits in Sangerhausen die Schule besucht hat, kommt er anschließend nach Lauban in der Oberlausitz, wo er in die »2te Ordnung der ersten Classe« gesetzt wird. Auffällig ist ihm, daß die Mitschüler »lauter erwachsene Leute« sind, die sich »sehr propre und galant aufführten«. 39 Im Gegensatz zu seiner früheren Schule befindet »sich auch ein ziemlicher Adel allda«.40 Ein Mittel der Selbsteinschätzung seiner Stellung im Rahmen seiner Klasse bildet die Poesie: »Das aber weiß ich gewiß, daß die meisten unter ihnen, weit gelehrter waren, als ich; sonderlich gab es treffliche Versmacher unter ihnen, gegen welche ich, der ich in Sangerhausen kaum gehöret hatte, was Poesie war, gar nicht aufsehen durfte.« 41 Der einzelne zeichnet sich in seiner Gelehrsamkeit durch die aktiven Fertigkeiten in der Poesie aus. Das Vorbild eines anderen Schülers, der die »materiam poeticam, die der Conrector mit dem Rector wöchentlich wechselweise zu dictiren pflegte, ex tempore in den reinsten Deutschen und Lateinischen Versen nachzuschreiben« vermag, entzündet auch in Edelmann »Lust zur Poesie«. Unter seinen Mitschülern wird er gemeinsam mit seinem bewunderten Vorbild zum strebsamen Außenseiter: Die oft beschriebene Abneigung der jungen Adligen gegen die traditionelle Form der Gelehrsamkeit42 erstreckt sich auch auf die Poesie, die für die politisch-höfische Karriere kaum von Nutzen zu sein scheint und die die Frühaufklärer Thomasius und Weise im Sinne oberschichtenspezifischer, höfisch-galanter Verhaltensformen umzuformen versuchten, um sie für die Adligen wie für die ehrgeizigen, verstärkt in höfische und politische Ämter drängenden Bürgerlichen attraktiv zu machen. Das poetische Desinteresse der Adligen gibt dem aufstrebenden Schüler Gelegenheit, sich seine Mitschüler zu verpflichten und so seinen Ehrgeiz zu befriedigen. Unter Berufung auf das traditionelle nascitur, das ihn selbstverständlich nicht hindert, das Versemachen zu lernen, begründet Edelmann seine poetischen Anstrengungen:

Johann Christian Edelmann: Selbstbiographie. Faksimilie-Neudruck der von C . R . W . Klose veranstalteten Ausgabe Berlin 1849; neu herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von B. Neumann. Stuttgart 1976. 39 Ebd., S. 12. 4 » Ebd. 4 1 Ebd., S. 13. 42 Grimm, Literatur und Gelehrtentum, S. 356 ff.

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Und ob ich gleich damals schon überzeugt war, daß Reimenschmiede keine Poeten wären und diese gebohren und nicht gemacht werden miisten, so wollt ich doch, da ich einmal als ein Mitglied dieser poetischen Geister Verse machen muste, auch nicht gem vor den schlechtesten unter ihnen gehalten werden. Ich griff mich also an, und lernte nach und nach zum wenigsten so viel in dieser Kunst, daß ich den Edelleuten, die um mich saßen und zum Poetisiren noch weniger, als ich aufgelegt waren, oft vor ein paar Kayser-Groschen, die Materie machte, die sie hätten machen sollen. 43

Die Fähigkeit des jungen Bürgerlichen, für die Adligen an deren Stelle die poetischen Schulaufgaben zu erledigen und ihnen so nützlich zu werden, daß sie dafür bezahlen, erscheint hier als Paradigma bürgerlich-gelehrten Selbstbewußtseins. Trotz seiner Fähigkeiten und der Beobachtung, »daß das Versemachen Geld eintrug«, 44 bleibt die Poesie für Edelmann auf eine Episode der Jugend beschränkt. Nur unter fremdem Namen schreibend, beginnt er erst gar nicht, sich den Konflikten poetischer Verantwortung zu stellen. Eine ebenfalls noch ganz traditionell verlaufende rhetorisch-poetische Ausbildung schildert der Schulmann Johann Gottlieb Lindner, der nicht mit dem Ästhetiker Johann Gotthelf Lindner zu verwechseln ist, in seiner Selbstbiographie: In der Schule sind »griechische Imitationen über den Isokrates und Plutarch« wöchentliche Aufgaben; dazu kommen lateinische Ausarbeitungen, »gemeiniglich eine Rede«. So oft der Schüler ein »Zeiträumchen« übrig hat, »lief ich über die Bücher, worunter mir Phädrus und Cornelius Nepos die liebsten waren.« 45 Die Fabeln des Phädrus und die Biographien des Cornelius Nepos gehören zur leichteren Schullektüre und sind hier doch Gegenstände des >Privatfleißes< und -interesses, die noch nicht durch deutsche Romane und Verse okkupiert werden. Die praktische Verfertigung deutscher Verse ist nur sehr begrenzt Gegenstand des Unterrichts und vollständig in den lateinischen Rhetorik- und Poetikunterricht eingebunden: Bei der wenigen Gelegenheit, sich in der deutschen Dichtkunst zu üben, gab es doch [...] mit unter einige, die einen ganz artigen teutschen Vers verfertigten. Lateinische Verse wurden versetzt in Sekunda gegeben, auch wohl [...] ein Versuch zu Parodien über den Horaz gemacht. In Prima wurde [...] die letzte Viertelstunde von 9 bis 10 dazu angewandt, daß einer einen beliebigen Gedanken oder Materie angab, welche hernach, mit Beyhülfe des Rectors, poetisch eingekleidet und sodann in [...] Verse gebracht wurden. 46

Der gesamte poetische Unterricht Lindners steht unter der Einheit der Differenz von res und verba: Unter dem rhetorischen Schlüsselbegriff des aptum werden

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Edelmann, Selbstbiographie, S. 13. Ebd. 45 Johann Gotüieb Lindner: Kurze Selbstbiographie mit Anmerkungen, einem Nachtrage und einigen Beylagen herausgegeben von Johann Christian Hellbach. Arnstadt 1812. S. 6-10. 46 Ebd., S. 13 44

Autobiographik zwischen Gelehrsamkeit und Genialität

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Materien aufgefunden und poetisch-rhetorisch passend eingekleidet. Die deutsche Poesie spielt zwar eine gänzlich unter- und nebengeordnete Rolle, prinzipiell aber folgt sie denselben Regeln wie die lateinische. Daß mit der Verwendung der Volkssprache und wegen des dadurch neu erschlossenen Publikums neue Methoden verwendet werden müßten, wenn ideeller und materieller Erfolg angestrebt wird, bleibt in dieser Darstellung jedoch außer Betracht 3) Autobiographik >nach< Rousseau In Abkehr von der Beschreibung poetischer Praxis als Ausweis der Gelehrsamkeit beschreibt Karl Spazier unter Ausnutzung der Vorarbeiten Rousseaus die pädagogisch-anthropologischen Implikationen poetischer Praxis. Die anthropologische Voraussetzung seiner Autobiographie, die unter dem sprechenden Pseudonym »Carl Pilger« und dem absichtlich Fiktion und Autobiographie verknüpfenden Titel »Roman meines Lebens« publiziert wird, ist die Nichtfestgelegtheit des Individuums, das, von Natur aus instabil, äußeren Einwirkungen unterworfen ist und dessen allmähliche Festlegung deshalb im Nachhinein als problematischer Prozeß beschrieben werden muß, dem keine Teleologie mehr zugrundeliegt: »Wir sind in jüngeren Jahren meist so charakterlos, so aller zufälligen Einwirkung blosgestellt, das es kein Wunder ist, wenn wir in Absicht unsrer Vorstellungs- und Empfindungsart nur das sind, was die Umstände aus uns machen.«47 Die daraus entstehende Eigenart des Individuums, »sich in tausendfache zufällige Formen« zu »schmiegen«(RL I, 5), führt zugleich zur Distanzierung vom aktuellen, als kontingent wahrgenommenen Lebensvollzug durch den autobiographischen Rückblick: Aus den zufälligen Formen müsse man sich »allgemach wieder herauswinden, um zu seiner Zeit als Werk dazustehen.«(RL I, 5) Der Begriff des »Werks«, dem in den literatur- und kunsttheoretischen Debatten mehr und mehr Einheit, teleologische Notwendigkeit und autonome Abgeschlossenheit von äußeren Einflüssen und Bestimmungen zugeschrieben werden, 48 steht hier kontrastiv gegen Zufall und Fremdbestimmung. Das eigene Leben erscheint erst im autobiographischen Rückblick als »Werk« im emphatischen Sinn, d. h. als selbstgeschaffene, notwendige Einheit außerhalb aller Kontingenz, die Spazier veranlaßt, sie einem Roman gleichzusetzen: Man dürfe andererseits darunter jedoch nicht eine romanhafte »Ver-

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Karl Spazier: Carl Pilger's Roman seines Lebens. Von ihm selbst geschrieben. Ein Beitrag zur Erziehung und Kultur des Menschen. 3 Theile. Berlin 1792-1796. Hier. 2. Theil, S. 170. Zitate werden im folgenden durch RL, Bandzahl und Seitenzahl belegt. Vgl. dazu jetzt Thierse, »Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat«, S. 394 ff.

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Autobiographik und Roman

muthung von ausserordentlichen Abentheuern« und einem »freien Gewebe der Phantasie« verstehen: Wer einmal den Faden seiner Schicksale aufnimmt, der wird, mögen sie auch noch so verworren seyn, dennoch darin einen gewissen notbwendigen Zusammenhang erblicken; und in sofern kann man immer sagen, daß eines jeden Menschen Leben wenigstens die Eigenschaft der Einheit hat, welches sich von manchen Romanen nicht einmal sagen läßt.(RL I, 2)

Mit dieser Verfugung von Autobiographie und Roman verweist Spazier sowohl auf Blankenburgs Romantheorie, die den Roman in Analogie zum autobiographischen und damit teleologischen Rückblick auf das eigene Leben konzipiert, als auch auf den einige Jahre zuvor erschienenen Roman Karl Philipp Moritz' »Anton Reiser«, der, wie wir später sehen werden, den autobiographischen Rückblick zum Paradigma, aber auch zum Ersatz für poetische Praxis erklärt und so Roman und Autobiographie annähert. Die Autobiographie dient jenen, die sich wegen mangelnder Fähigkeiten, mangelnder Geduld und mangelndem Durchsetzungsvermögen nur episodisch und >dilettantisch< der Poesie widmen, als einzige legitime, quasi-poeüsche Beschäftigung. An der Autobiographie des Musikers und Pädagogen Spazier, der den philanthropinischen Bestrebungen nahesteht, kann man darüber hinaus den Zusammenhang zwischen pädagogisch-anthropologischem Problembewußtsein und der modernen Form der literarischen Bildung beobachten. Der empfindlichen, instabilen Individualität des einzelnen entspricht seine autodidaktische Lektüre, die nicht allein die klassischen Schulautoren an den Rand drängt, sondern die vor allem »Gutes und Nützliches und tolles Zeug, alles durcheinander« rezipiert.(RLI, 301) Statt zu formulieren, was man aus dieser Darstellung positiv lernen kann, wird auch hier das Paradox autobiographischer Didaktik aufgestellt, daß man nämlich am eigenen Beispiel nur zeigen könne, wie man es »nicht machen müsse.«(RL II, 50) Aus dieser Negation läßt sich für die Leser, die aus der Lektüre lernen sollen, nur das Postulat eines selbstreferentiellen Lernens folgern: Der Imperativ, sich selbst zu folgen, ist die positive Umformulierung der sich selbst dementierenden Anweisung, keinem andern zu folgen. Wenn Spazier also aus der Unbestimmtheit der menschlichen Natur unmittelbar schließt und kritisiert, daß »der junge Mensch, der von Autoritäten und insonderheit von der Allgewalt der sinnlichen Vorstellungen und der Produkte der Einbildungskraft hingerissen wird, sich in den Ton zu schmiegen suche, den empfindungsvolle und prägnante Schriftsteller seiner Zeit, die sich die Manier ihrer Zeitgenossen auf eine gewisse Zeit unterwerfen, annehmen«(RLII, 171 f.), so geraten jene Transformationen poetisch-literarischer Bildung in den Blick, die an der Umstellung von einer hierarchisch zu einer

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funktional differenzierten Gesellschaft teilhaben. Was in der ständischen Gelehrsamkeit eine legitime Imitation klassischer, d. h. überzeitlich gültiger Exempel und zugleich der durch Geburt bestimmten Laufbahn als Gelehrter und der Oberschichtenkommunikation zugeordnet war, wirkt unter den neuen Bedingungen einer schnellebigen literarischen Kommunikation lediglich als Modetorheit; mehr Aussicht auf Anerkennung hat nun die geniale Abwendung sowohl von der gelehrten Kontinuität als auch von der Diskontinuität der Moden. Sie erscheint aber aus der Position des Gelehrten als Abfall vom gemeinsamen, exklusiven Perfektionsstandard. Die schnelle Abfolge literarischer Modeepochen und ihren unmittelbaren Einfluß auf die eigene Person schildert Spazier voller Ironie als Manifestation seiner unselbständigen, instabilen Persönlichkeit: Die Siegwartsche und die Werthersche Epoche war so ziemlich vorüber, und, wie man weiß, hatte ich darin meinen Mann gestanden. Was hatte ich nicht gewimmert und gewinselt in Briefen [...] Thränen und Seufzer und Mondschein, und Perioden voll lauter und, das waren lauter Herrlichkeiten, mit denen man es halten mußte, wenn man kein kalter Hund auf Gottes Erdboden gescholten sein wollte. Jetzt wechselte das Schwulstwesen und die elend kopirte Klopstockeley, mit dem gedrungenen Kraftgenie, und dem Intuitionswesen ab [...] Es waren unser etliche, die alle an Lavaters Fragmenten, an den Vulkanausbrüchen des Haman(!), an Herders Plastik und seinen übrigen Sturm- und Drangschriften damaliger Zeit, [...] an Lenz und Klingers genialischen Explosionen krank darnieder lagen. Wir kamen fleißig zusammen, und exaltirten uns gegenseitig und beräucherten uns gar weidlich, wenn wir etwas von der Art zu Stande gebracht hatten.(RL II, 173 ff.)

Die eigene poetische Produktion erscheint vollständig als fremdbestimmt, obwohl oder gerade weil Originalität und Genialität die Schlagwörter der Zeit sind. In Abhängigkeit von zufällig herrschenden Moden, die die jungen Leute und ihre freundschaftlichen Zirkel immer neu in ihren Bann schlagen, ordnet sich der einzelne in eine Nachahmung von Vorbildern ein, die sich zwar als Opposition zur Gelehrsamkeit beschreibt, aber statt wirklicher Originalität nur kurzfristige Moden erzeugt. Erst die Retrospektive auf die jugendlichen poetischen Aspirationen vermittelt die Möglichkeit eines Lernens, das nicht an äußeren und fremden Vorbildern orientiert ist, sondern selbstreferentiell vorgeht: Der Abdruck von »jugendlichen Sachen«(RL II, 191), eines Aufsatzes, der den Tod eines engen Freundes betrauert, sowie einer Ballade, wird als »Versuchung« beschrieben, »ein Denkmal an seinem Lebenswege, das man im Jugendtraume dort hin legte, wieder zu finden und es für sich selbst aufzubewahren«(RL II, 178), so daß die Texte, die die eigene Jugend >überlebenMeistersEmpfindung< des Autors entspringen und keine rhetorisch-gelehrte, am Standard der perfectio orientierte Korrektur erfahren haben. Die Substitution gelehrter Regeln und Muster durch die unmittelbare Empfindung erscheint zugleich als Merkmal des Autors und seiner Texte: Wenn der Autor seine Empfindungen und so sich selbst schreibt, weist er jede rhetorische Verfassung seiner Texte zurück, kann aber nur nachträglich feststellen, welche Textmerkmale ausschlaggebend für das Urteil der Rezensenten sind. Die traditionelle Form des poetischen Lernens ist damit für den Dichter ausgeschlossen. Allein die autobiographische Beschreibung seiner von den eigenen Empfindungen abhängigen Schreibpraxis vermag anderen angehenden Dichtem Orientierung zu vermitteln, indem sie zeigt, daß man sich mit Erfolg an seinen Empfindungen orientieren kann. Daß Bronner die eigene Dichtungspraxis zusätzlich durch die Rezensenten beglaubigen läßt, öffnet den Blick auf eine zweite Option für den angehenden Dichter: Er kann versuchen, sich nach dem wechselnden Geschmack der Leser und Rezensenten zu richten, setzt sich aber damit solange dem Risiko aus, als Modeschriftsteller verrufen zu sein, bis er überzeugend darlegt, daß er sich nur insofern nach der Mode und dem wechselnden Geschmack der Rezensenten richtet, als beides mit seinen eigenen Empfindungen konvergiert 6) Zwischen Gelehrtem und Genie - Christian Felix Weiße Im Jahre 1806 erscheint die Selbstbiographie des 1804 verstorbenen Dichters, Schriftstellers und Pädagogen Christian Felix Weiße, die von seinem Sohn und seinem Schwiegersohn herausgegeben wird. 61 Es handelt sich um eine nicht mehr zu rekonstruierende Mischung aus autobiographischen Äußerungen einerseits sowie Interpolationen und Ergänzungen durch die Herausgeber andererseits. Die Editoren rechtfertigen sich damit, daß Weiße »einen großen Theil der Nachrichten über seine dichterischen Erzeugnisse, schriftstellerischen Arbeiten, litterärischen Verbindungen, über seine häuslichen Verhältnisse und Begebenheiten, aufgesetzt« und Sohn und Schwiegersohn mit dem Auftrag hinterlassen habe, sie geordnet herauszugeben, um »falsche Erzählungen, insbesondere von seinem litterärischen Leben zu verhindern.«(SB III f.) Die Kombination von autobiographischer und biographischer Lebensdarstellung dient in diesem Falle der typischen autobiographischen Absicht, unkontrollierbare und falsche postume Behauptungen zu verhindern. Der prinzipiell entstellenden Fremdbeschreibung wird die Selbstbeschreibung entgegengesetzt, die um die Tätigkeit

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1 Christian Felix Weisse: Selbstbiographie. Hg. von Christian Ernst Weiße und Samuel Gottlob Frisch. Leipzig 1806. Zitate werden im folgenden durch SB und Seitenzabi belegt

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Autobiographik und Roman

autorisierter Bearbeiter ergänzt wird. Welche möglichen falschen Nachrichten Weiße genau im Auge hat, bleibt jedoch offen. Da er in eine Vielzahl intellektueller Auseinandersetzungen und Fehden verwickelt ist, so ζ. B. noch in die Debatte zwischen den Schweizern und den Gottsched-Anhängern sowie in den Streit zwischen seinem Freund Lessing und dem Professor Klotz, kann man unterstellen, daß die Intention der Autobiographie vor allem darin besteht, die eigene Position in diesen auch für die Zeitgenossen oft schwer zu durchschauenden Auseinandersetzungen ein- für allemal klarzustellen. Daß die Veröffentlichung der Lebensbeschreibung jedoch nur einen weiteren Text in die Welt entläßt, der sich der Kontrolle des Verfassers und seiner Nachlaßverwalter ebenfalls entzieht, weil er der Interpretation und damit prinzipiell dem Mißverständnis offensteht, bleibt unbemerkt. Bei Weißes Autobiographie handelt es sich wegen dieses expliziten Bezuges auf ein allgemeines Publikum nicht mehr um eine reine Gelehrtenautobiographie,62 sondern um die Selbstdarstellung eines Autors, dem eine Position zwischen gelehrtem und modernem Autor zugeschrieben werden kann. Die erste Begegnung mit der Dichtung beschreibt Weiße durch den Kontrast zwischen der schulischen Beschäftigung mit den antiken Autoren und dem >PrivatfleißPrivatfleißNaturdichter< und ihr Gegenstück, der >elende Scribent< Die Auflösung der gelehrten Ordnung vollzieht sich in mehreren begrifflichen Umstellungen, die sowohl die Leserschaft als auch die Autoren betreffen: Wenn mit poetischen Werken zunehmend auch die ungelehrten Leser angesprochen und erreicht werden sollen, folgt zugleich die Konsequenz, daß die Reaktion auf die Lektüre nicht mehr von der gelehrten Kommunikationsgemeinschaft kontrolliert werden kann. Ungelehrte Leser lesen auch die Texte, die nicht an sie adressiert sind, und dies auf eine Weise, die der gelehrten Lektürepraxis widerspricht. Da zugleich Dichter auftreten, die ohne gelehrte Bildung Verse machen, die sogenannten »Naturdichter«, und zunächst als Kuriosa für die Oberschicht, später auch auf dem allgemeinen Buchmarkt Erfolg haben, müssen für deren Texte neue Maßstäbe und Lektürevorschriften entwickelt werden, da die traditionelle gelehrte Lektüre, die vor allem nach Mustern und Vorbildern fahndet, in diesen Fällen offenkundig unangemessen ist. Der Rekurs auf das Leben dieser Dichter eröffnet die Möglichkeit einer solchen ungelehrten Lektüre, die die Texte nicht als Demonstration gelehrter Kunstfertigkeit, sondern als Verarbeitungsmodi von Lebenserfahrungen deutet. Diesen Rückgriff auf das Leben und eine Lektüre ihrer Schriften, die Kontinuität nicht im ständigen Bezug auf die gelehrte Tradition, sondern durch die Eingliederung in den Lebensgang ihrer Verfasser herstellen, machen Autobiographien möglich. Ob die Selbstdarstellungen der »Naturdichter« auch die Funktion haben, den eigenen Nachruhm sicherzustellen, muß aufmerksam beobachtet werden, denn diese Personen gehören zu den ersten, die ihre Texte finanziell verwerten, aber wenig Interesse am Thema des Nachruhms zeigen, das für die Selbstdarstellung der Gelehrten eine so zentrale Rolle spielt. Zu diesen Sensation machenden Naturdichtern zählt Anna Louisa Karsch; von ihren Zeitgenossen und männlichen Förderern als »schlesische« oder »preußische Sappho« tituliert, übernimmt sie diese gelehrte Staffage ihrer Rolle und tritt in vielen ihrer Gedichte im klassischen Rollenspiel auf. Sie findet in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts durch ihre patriotischen Gelegenheitsgedichte und ihre Fähigkeit, auf Zuruf Gedichte zu improvisieren, aus ärmsten und beschränkten Verhältnissen Einlaß in die Berliner Gesellschaft, in »Stadt« und »Hof«,65 wo sie mit den renommierten Vertretern der intellektuellen Szene, 65

Moses Mendelssohn: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend. Zweyhundert und zwey und

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etwa mit Gleim und Sulzer, Bekanntschaft macht, ohne jedoch zu einem akzeptierten Mitglied der »guten« Gesellschaft zu werden. Die Wahrnehmung dieses Phänomens eines ungelehrten, dichtenden Frauenzimmers durch die Zeitgenossen vollzieht sich in den Bahnen der aktuellen poetologischen Diskussion um poetisches Genie und poetischen Unterricht: Die Fähigkeit, »ihre witzigen Einfalle augenblicklich [...] in Versen einzukleiden«, und die »ausserordentliche Geschwindigkeit«, mit der ihre poetische Produktion vonstatten geht, lassen auf »ihr Genie« schließen, das die Standesgrenzen nicht bestätigt, sondern sprengt, weil es »ohne Ermunterung und Unterricht, in einem niedrigen Stande« gewirkt habe.66 Die Aufrufe zur Subskription schmücken sich mit den Namen der »Personen, welche die Besorgung dieser Sammlung über sich genommen haben,« und versprechen, die »Namen derer«, die zur »Classe der Unterschreiber« gehören werden, »dem Werke beydrucken zu lassen.«67 Diesem Versuch, eine die Schrift überwindende, exklusive Beziehung zwischen der Dichterin und ihren Lesern herzustellen, die den gelehrten Kommunikationszusammenhang ersetzt, entspricht der Rekurs auf Leben und Person der Karschin:68 »Man würde manche Dichtung der Schlesischen Sappho mit weit größerem Interesse lesen, wenn man wüßte, wie sie veranlaßt wurde.«69 So wie der anonyme Verfasser des »Sammlungs-Plans« aus den autobiographischen Passagen eines Briefes der Karschin zitiert, so verbindet der Herausgeber der von Gleim initiierten Ausgabe ihrer »Auserlesenen Gedichte«, Johann Georg Sulzer, die poetologische mit der biographischen Beschreibung. Er stellt dem Publikum die Verfasserin als »Beispiel« und Beleg der »alten und bekannten Anmerkung« vor, »daß die Dichter nicht durch Unterricht und Regeln gebildet werden, sondern ihren Beruf und ihre Fähigkeiten bloß von der Natur erhalten.«70 Der siebenzigster Brief. In: Anna Louisa Karsch: O, mir entwischt nicht, was die Menschen fühlen. Gedichte und Briefe. Stimmen von Zeitgenossen. Hg. und mit einem Nachwort von G. Wolf. Berlin (DDR) 1981. S. 239. - Vgl. allgemein zu Biographie und Rolle der Karschin Hannelore Schlaffer: Naturpoesie im Zeitalter der Aufklärung. A. L. Karsch (1722-1791). Ein Porträt. In: Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 1: Vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Hg. von G. Brinker-Gabler. München 1988. S. 313-324. 66 Anon.: Sammlungs-Plan zur Herausgabe der Gedichte der Frau A. L. Karschinn. In: Hannoversche Beyträge 1762, 4. Theil, Sp. 195-206. Hier: Sp. 196-199. - Anon.: Fernere Nachricht von der Frau Karschin und ihren Gedichten. In: Hannoveische Beyträge 1762,4. Theil, Sp. 667-672. 67 Anon., Sammlungs-Plan, Sp. 204 f. - Vgl. die eindrucksvolle Liste der Subskribenten in: Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1764. Mit einem Nachwort von A. Anger. Stuttgart 1966. S. XXVII ff. 68 Vgl. dazu vor allem: Schlaffer, Naturpoesie, S. 323. 69 Anon.: Anekdoten von Anna Louise Karschin. In: Eunomia 1805, l.Bd., S. 456-458. 70 Johann Georg Sulzen Vorrede zu Anna Louisa Karsch Auserlesene Gedichte. In: Karschin, O, mir entwischt nicht, was die Menschen fühlen, S. 237-239. Dieser Abdruck enthält nur

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Verweis auf das nascitur der Poetiken und auf die im platonischen Dialog »Ion« vertretene These, daß der Dichter seine Kunst nicht lerne, sondern durch göttliche Begeisterung Gesänge hervorbringe, »unbewußt, was er singe«, und daß die »fürtreflichsten Dichter älter sind als die Regeln«, 71 spielt, wie bereits gezeigt, in der Poetik und der frühen Ästhetik die Rolle eines argumentativen Versatzstückes, das immer wieder angeführt wird, um die Lehrbarkeit der Poesie einzuschränken und deutlich zu machen, daß nicht alle Poeten werden können. Um die Gruppe der Dichter weiterhin als exklusiv beschreiben zu können und um darauf zu reagieren, daß, wenn alle dichten, sie genau deshalb mit dem Risiko konfrontiert sind, nicht anerkannt zu werden, ist es notwendig, auf angeborene Anlagen oder auf göttliche Einflußnahme zu rekurrieren, die nur wenigen Ausgewählten zukommt. Der Fall der Anna Louisa Karsch, die als Ungelehrte und als Frau eine Dichterin zu sein behauptet, zwingt die Vertreter der traditionellen Gelehrsamkeit dazu, ihr die exklusive Eigenschaft der Naturdichterin beizulegen, damit nicht jeder ebenso auf Anerkennung und begrenzten Erfolg Anspruch erheben kann: Wie unzweifelhaft es sei, daß unsre Dichterin ihren Beruf allein von der Natur bekommen, erhellet am deutlichsten aus allen Umständen ihres Lebens. Denn darin finden wir nichts, das vermögend gewesen wäre, an statt des natürlichen Hangs einen künstlichen Trieb zur Dichtkunst in ihr zu erregen, keinen einzigen Umstand, woraus wir begreifen könnten, daß gelernte Regeln bei ihr die Stelle des Genies vertreten. Sie ist in einem Stande geboren, der zunächst an den niedrigsten grenzet, ihre Erziehung, die Beschäftigungen ihrer Kindheit und ersten Jugend, waren der Niedrigkeit ihrer Geburt angemessen, in ihren reiferen Jahren aber waren ihre Umstände so, daß ihr Geist notwendig in den tiefsten Staub wäre niedergedrückt worden, wenn die Natur nicht weit stärker wäre als alle Hindernisse, die ihr entgegen wirkten. 7 2

Der Hinweis auf das Leben der Dichterin muß ihre nicht mehr durch Gelehrsamkeit ergänzte und vervollständigte Genialität garantieren, so wie umgekehrt die behauptete Genialität dafür sorgt, daß ihre niedrige Herkunft eben nicht als Beleg für eine allgemeine Lehr- und Lernbarkeit der Poesie fungiert, sondern den Rekurs auf singuläre, angeborene Fähigkeiten nahelegt. Für seine Vorrede hatte Sulzer die Karschin um ihre Lebensgeschichte gebeten, die sie ihm im September 1762 in vier Briefen schildert.73 Sulzer verwendet die Selbstdarstel-

die dichtungstheoretischen, nicht die biographischen Passagen der Vorrede. Vollständig findet man Sulzers Vorrede in: Karsch, Auserlesene Gedichte. S. VII-XXVI. 1 Sulzer, Vorrede, S. 237. 72 Ebd., S. 238 f. 73 Anna Louisa Karsch: Vier Briefe an J.G. Sulzer. In: Dies.: Gedichte und Selbstzeugnisse. Hg. von Alfred Anger. Stuttgart 1987. S. 5-32. - Vgl. dazu auch Elisabeth Hausmann (Hg.): Die Karschin. Friedrich des Großen Volksdichterin. Ein Leben in Briefen. Frankfurt a.M. 1933. S. 11. 7

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lung der Karschin jedoch nur für seine Nacherzählung der biographischen Details, ohne sie selbst zu Wort kommen zu lassen, obwohl der autobiographische Bericht die Rolle der Naturdichterin eindrucksvoll bestätigt: Als Tochter eines Bierbrauers und Gastwirts geboren, kommt sie in ihrem sechsten Lebensjahr in die Obhut ihres Oheims, der sie im Lesen, Schreiben und den lateinischen Anfängen unterrichtet. Die Sprüche Salomonis sind ihre erste Lektüre, doch später läßt sich ihre »Lesesucht« selbstverständlich nicht auf die Bibel beschränken. Breit schildert sie die Schlüsselszene ihrer Biographie: Mit ihren Eltern zieht sie in das Fürstentum Glogau, wo ihre Eltern ein Vorwerk pachten, »und ich ward eine Hirtin«: Ich genoß alle die Annehmlichkeiten des Sommers, und oft dachte ich mir kleine Geschichten aus, die den biblischen Historien ähnlich waren. Ich bauete Thürme von Sand, mauerte sie mit Steinen und stürmte sie mit hölzernem Geschoß darnieder. Ich führte in meiner rechten Hand einen Stab, und indem ich mit mir selbst redete, war ich das Haupt einer Armee! Alle Disteln waren meine Feinde, und mit kriegerischem Mut hieb ich allen die Köpfe ab. [...] Nach vielen wichtigen Schlachten saß ich an einem Herbsttage am Rande eines kleinen Flusses und ward jenseits des Wassers einen Knaben gewahr, welchen einige Hirtenkinder umgeben hauen. Er war ihr Vorleser, und ich flog hin, die Zahl seiner Zuhörer zu vennehren. Welch ein Glück für mich. Ich [...] fand meine so lange entbehrte Wollust, die Bücher, wieder. 74

Diese Verbindung von pastoraler Szenerie und Dichtung eignet sich im Zeitalter der anakreontischen Lyrik der Gleim, Uz und Ramler besonders gut, eine ungelehrte Dichtungspraxis im Kontext der traditionell-gelehrten Beschreibungsformen von Dichtung zu legitimieren. Die Konzeption der Hirtendichtung ist seit der Antike ein gängiger Topos und Bildungshintergrund, den die Gelehrten zur Beschreibung ihrer poetischen Praxis aufgreifen. In den barocken Kompendien der Poetik diente der Rekurs auf die poetischen Hirten als Ursprungsmythos der Poesie.75 Sie zeichnet sich durch ihr Alter und durch den Primat der praktischen Dichtung vor den abgeleiteten Regeln aus. Die ersten Dichter werden seit Aristoteles1 Poetik als »Autoschediasmatisten« beschrieben,76 die ohne Kenntnis der Regeln Poesie zu improvisieren vermögen. Die Poetik als Regelkomplex, der zur Ausübung anleitet und befähigt, beschreibt sich selbst traditionell

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Karsch, Vier Briefe an J. G. Sulzer, S. 8 f. Vgl. etwa Siegmund von Birken: Teutsche Rede- bind- und Dichtkunst Nürnberg 1679. Nachdruck Hildesheim/New York 1973. Fol. ):( iij v: »Sie sangen anfangs (...) gekrönt mit Blumen und Grünzweigen/ unter schattichten Bäumen stehend/ lehnend oder sitzend/ oder mit der Heerde fortspazirend/ den Schäferstab in der Hand/ und die Hirtentasche/ darin Brod und Wein/ am Leibe tragend. Arcadien und Sicilien sind bei den Griechen/ von solchen gelehrten Hirten berühmte Landschaften.« - Vgl. dazu Dyck, Rhetorische Argumentation und poetische Legitimation, S. 69 f. Aristoteles, The Poetics, IV, 7.

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als zeitlich und sachlich sekundär gegenüber der praktischen Ausübung, um die eigene didaktische Funktion trotz dieses Bescheidenheitsgestus begründen zu können. Obwohl und weil die ersten Dichter keine Regeln kannten und dennoch dichteten, ist die Poesie für die Späteren lehrbar und damit jenen zugänglich, die Begabung mit Regel- und Musterkenntnis zu verbinden in der Lage sind. Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts ist in den Kompendien der aufkommenden Ästhetik zu beobachten, daß das Konzept der autoschediasmatischen Dichtung von einer Formel, die den historischen Anfang der Poesie markiert, zu einer Kategorie der individuellen Entwicklung eines Poeten umgedeutet wird. Improvisationen zu verfertigen ist ζ. B. für Alexander Gottlieb Baumgarten ein erster Schritt zum Erwerb und zur Überprüfung der individuellen poetischen Fähigkeiten, der durch die Nachahmung von Mustertexten, das Befolgen spezieller Regeln und den Erwerb von Sachkenntnissen ergänzt werden muß.77 Im Zuge der Ausweitung und Verabsolutierung genialer, angeborener Fähigkeiten und der zunehmenden Erklärungen, die die gelehrte Regel- und Musterkenntnis als obsolet und verzichtbar beschreiben, gerät auch die Konzeption der Autoschediasmatisten in den Sog absoluter Setzungen: Der Anfang der Poesie wiederholt sich nun in jedem einzelnen Dichter, der ohne Regel- und Musterkenntnis poetische und literarische Werke verfertigt und somit jedesmal die Dichtung neu schafft. Die Kontinuität der Gelehrsamkeit, die Regel- und Musterkenntnis als Stifter eines Zusammenhanges zwischen den Werken einsetzte, geht verloren und kann durch den Lebenszusammenhang der einzelnen Dichter und ihrer Werke nur unzureichend ersetzt werden. Daß Anna Louisa Karsch ihre Kindheit mit Attributen und Verhaltensweisen auskleidet, die bei den Zeitgenossen den Knaben vorbehalten bleiben, zeigt den Rechtfertigungsdruck einer Frau, die sich als Ausnahme von der Regel, als Verkörperung von Diskontinuität darstellen muß, damit sie auffällt und so die Chance zum Erfolg in einer Gesellschaft hat, die noch nicht wahrhaben will, daß Ungelehrte und Frauen als Dichter auftreten, aber zugleich auf Sensationen der Natürlichkeit versessen ist. Zugleich ist sie - das zeigt die Übernahme der »Sappho«-Sülisierung - gezwungen, auf die den männlichen Gelehrten geläufigen und akzeptierten Beschreibüngsmuster für weibliches, marginales Schreiben zurückzugreifen, um sich in einer bekannten Sprache auf dem Hintergrund des gelehrten Wissens einen etabliert-unetablierten Ort zuzuweisen. Besonders prägnant präsentiert sich Karschins männlich-weibliche Selbstbeschreibung im Motiv der »Disteln«, die vom spielenden Kind als Feinde geschlagen werden. Ist die Datierung der Briefe auf den Herbst 1762 richtig, und daran gibt es kei-

77 Baumgarten, Aesthetica, § 60.

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nen begründeten Zweifel, so hätte die Karschin zwölf Jahre vor Goethes »Prometheus« die Darstellung eines Heranwachsenden mit der Vorstellung verknüpft, daß dieser beim Schlachtenspiel mit einem Stab die Disteln als Sinnbilder der Feinde köpft, und dieses Verhalten als Sinnbild kindlich-pubertären Selbstbewußtseins gedeutet. Die Kommentare zu Goethes Prometheushymne und die jüngste Forschung zu diesem Motiv 78 stimmen darin überein, daß in Goethes Bild vom Knaben, der die Disteln köpft, eine Entlehnung aus mehreren Stellen der Ossiandichtungen MacPhersons vorliegt. Die Puerilisierung der Götterwelt und die Vergöttlichung des jugendlichen, männlichen Menschen gehen dort Hand in Hand. Die enorme Faszination dieses Bildes läßt sich noch in Karl Philipp Moritz' »Anton Reiser« ablesen, wo der unterdrückte und heimlich aufbegehrende Protagonist ebenfalls göttergleich die Disteln und Pflanzen unter den Streichen seines Stecken fallen läßt. 79 Die Verwendung des Bildes bei Anna Louisa Karsch, die aus chronologischen Gründen die Ossian-Stellen vermutlich nicht kennen kann - ihre Erstpublikation fand 1761-63 statt - ist bislang nicht wahrgenommen und erklärt worden, obwohl das Bild nicht nur in den unveröffentlichen autobiographischen Briefen, sondern auch in einem publizierten Gedicht 80 und in einem postum veröffentlichten bio- bzw. autobiographischen Text auftaucht.81 Diese »vorläufige Lebensbeschreibung« verweist, wie die Briefe an Sulzer, auf eine mögliche, aber nicht verifizierbare biblische Herkunft

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8 Vgl. Arthur Henkel: Disteln und Mohn. Ein Scherflein zur Tradition poetischer Bilder. In: Das Subjekt der Dichtung. Festschrift Gerhard Kaiser. Hg. von G. Buhr, F. A. Kittler und H. Turk. Würzburg 1990. S. 555-566. 79 Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. In: Werke. Hg. von H. Günther. 1. Bd. Frankfurt a. M. 1981. S. 51: »Ein Fleck voll hochgewachsener Nesseln oder Disteln waren ihm so viele feindliche Köpfe, unter denen er manchmal grausam wütete, und sie mit seinem Stabe einen nach dem andern herunter hieb.« 80 Vgl. dazu auch die Verwendung des Bildes im Gedicht »An die Kartenspieler«: Nur Bücher hab ich liebgewonnen/ Darin gelesen, nachgesonnen,/ Selbst eins gemacht, so schlecht es war!/ Nichts fragt ich da nach Spiel und Tänzen,/ Ich las, wodurch sich Helden kränzen/ Und träumte Schlachten und Gefahr!// Ich ging auf selbst gebauten Wällen/ Ließ sich mein Volk in Ordnung stellen/ Und tat, als wie ein General;/ Warf Schanzen auf, schoß Ziegelstücke,/ zog schlechterdings mich nicht zunicke/ Sprach laut, wenn ich den Sturm befahl/ (...) Hieb viele tausend Feinde nieder/ In allen Nesseln, die ich fand.« S. 84. Vgl.: Leben der A. L. Karschin, geb. Dürbach. Von ihr selbst, in Briefen an Sulzer. Mit Ergänzungen von Wilhelm Körte. In: Zeitgenossen. Ein biographisches Magazin für die Geschichte unserer Zeit. Hg. von F. C. A. Haase. R. 3. Bd. 3. Nr. 18. Leipzig 1831. S. 342. Vgl. dazu Alfred Anger: Zur Auswahl und Textgestalt. In: Karsch, Gedichte und Selbstzeugnisse, S. 151. 81

Die postume biographisch-autobiographische Darstellung erscheint im Berlinischen Musenalmanach von 1792. Hg. von Κ. H. Jördens: Vorläufige Lebensbeschreibung der Dichterin Anne Louise Karschin, geb. Dürbach. Zit. nach: G. Staupe (Hg.): Katalog zur Ausstellung Anna Louisa Karsch (1722-1791) Dichterin für Liebe, Brot und Vaterland. Staatsbibliothek preußischer Kulturbesitz 1991. S. 24-28.

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des Distel-Motivs: »Freudig weidete sie auf dem Stoppelfelde die drei Rinder, und hieb dabei mit einer kleinen Gerte allen Disteln die Köpfe ab, wie David, Joab und die Makkabäer ehemals den Feinden Israels gethan hatten.« 82 Ließe sich eindeutig feststellen, daß die Karschin dieses Motiv des Köpfens von Disteln und Nesseln in die deutsche Literatur eingeführt hätte, so wäre dieses Bild männlich-menschlichen Selbst- und Unabhängigkeitsbewußtseins paradoxerweise zuerst von einer Frau verwendet worden, die sich in einer männlichen Rolle versucht und zugleich deren Ausstattung vollzieht Die Lektüre und der Vorlesestoff des weiblichen »Hirtenjungen« bestehen aus den zeitgenössischen Lieblingstexten, den Robinsonaden, die als niedere Gattung gelten, aber durch ihre weite Verbreitung für das sich ausbildende bürgerliche Selbstverständnis eine wichtige Rolle gespielt haben, 83 sowie der >hohen< Gattung der barocken Ritter- und Historienromane. Die >Lesesucht< des Mädchens bleibt jedoch nicht unbemerkt und dauert nur solange fort, bis die Mutter die Tochter einer Nählehrerin übergibt, die den >unweiblichen< Betätigungen des Mädchens ein Ende macht.84 Die Tätigkeit des Mädchens wird auf den häuslichen Bereich begrenzt; der Umgang mit Büchern erscheint, wenn überhaupt, dann einzig und allein für Knaben legitim: »Ich war unwillig über mein Schicksal! Meine einzige Zuflucht war das geliebte Buch, und schon hatte ich wieder vergessen, daß ich ein Mädchen war.« 85 Das Lesen wird überdies als das einzige Mittel der »Erquickung« während ihrer unglücklichen ersten Ehe vorgestellt, und das Singen geistlicher Lieder verhilft ihr zu ein wenig »Zufriedenheit«. Als Konsequenz der kompensatorischen Zufallslektüre richtet sich der Blick auf mögliche eigene poetische Fähigkeiten: Sollte es wohl möglich sein, ein Lied zu machen? Ich kannte noch keinen Poeten außer einigen zerstreuten Blättern von Johann Franck, der durch verschiedene Kirchengesänge sein Gedächtnis verewigt hat. Seine Lieder waren meine Lieblinge, und die Überbleibsel seiner weltlichen Gedichte schwebten mir noch vor; ich fand sie in meinen Mädchenjahren auf dem Söller des Hauses meines Oheims bestäubt und voneinandergerissen. Es waren Hochzeitgedichte, mit viel Mythologie gemischt; ich verstand ihren Inhalt nicht, aber sie kamen mir schön vor. 8 6

Die Verwendung der Dichtung als Fluchtmittel aus der bedrückenden Wirklichkeit hat die Vernachlässigung des gelehrt-mythologischen Inhalts der Texte zur Folge und beruht auf dem vagen, durch keine gelehrten Kriterien gestützten Ge«2 Ebd., S. 25. 83 Vgl. dazu: Jürgen Fohrmann: Abenteuer und Bürgertum. Zur Geschichte der deutschen Robinsonaden im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1981. S. 225 ff. 84 Karsch, Vier Briefe an J.G. Sulzer, S. 8. 85 Ebd., S. 9. 86 Ebd., S. 13.

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fühl ihrer Schönheit. Das Stillen und Wiegen ihres Kindes schließlich bietet die Gelegenheit, die im 18. Jahrhunderten auch in nichtadligen Kreisen verbreiteten höfisch-historischen Staatsromane Ziglers und Anton Ulrich von Braunschweigs zu lesen: »Ich las die >Asiatische BaniseTausend und eine Nacht< und einen syrischen Roman: >Aramena Autorstolz< und ihr gesellschaftliches Überleben hängen jedoch zweifelsohne davon ab, daß ihre »Geburten aus der Presse kommen«90 und einen größeren Leserkreis erreichen. Erst die Publikation ihrer Gedichte mittels Subskription erlaubt ihr ein bescheidenes Auskommen in Berlin und macht sie zugleich zu einem Gegenstand der öffentlichen Kritik: In der Buchpublikation nämlich werden ihre Verstöße gegen die Regeln der Prosodie und die falschen mythologischen Details offenkundig, die während des mündlichen Vortrags kaum auffallen und eher als aparte Geniebeweise galten. Werden die Gedichte schriftlich verbreitet und rezipiert, fehlt die Gegenwart der Dichterin, die alle Verstöße gegen gelehrte Regeln durch Hinweis auf ihre Lebensumstände entschuldigt:

87

Ebd., Ebd., 89 Ebd., 90 Ebd., 88

S. S. S. S.

14. 15. 14 f. 19.

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So lange diese Gedichte nur noch geschrieben von Hand zu Hand herum giengen, half die Rücksicht auf das Geschlecht und die Umstände der Dichterin manchen kleinen Fehler bedecken, manche kleine Schönheit aufmutzen. Sobald der Leser ein Buch in die Hand nimmt, um zu lesen; so wird er vergessen, wer der Verfasser sey [...]. 91

Daß die Karschin sich mühsam, autodidaktisch und in großer Eile die zeitgenössische Literatur und einige gelehrte Rudimente aneignet, nachdem ihr ein Gönner »schöne Bücher« von Günther, v. Besser, Haller, Geliert und Klopstock gegeben hat, schildern die autobiographischen Briefe nur kurz, während die überraschte Reaktion auf eines ihrer Gedichte, in dem sie »die ersten Menschen« schildert, stark hervorgehoben wird: Man ward ganz Verwunderung, man fragte, ob ich den Milton gelesen hätte; ich sagte, daß ich kaum wüßte, daß jemand in der Welt diesen Namen geführt hätte; ich hätte ihn irgendwo in einem Buche gelesen aber niemals seine Gesänge gesehen; man sagte mir, ich hätte ein kleines >Verlorenes Paradies< geschrieben.92

Die negativ beantwortete Frage der Leser nach dem poetischen Vorbild ist im Sinne der Naturdichterschaft ein weiterer Beweis für das Natürliche und Ungekünstelte ihrer Produktion. Daß ihr Text Ähnlichkeiten mit Werken eines Autors aufweist, der von den gelehrten Lesern akzeptiert wird, ohne daß die Verfasserin irgendwelche Kenntnisse über das vermeintliche Vorbild hat, ist ebenso eine Demonstration der These von der unbewußten Regelbefolgung und Vorbildnachahmung: Genie ist ja nicht nur, wer Neues und Unbekanntes zeugt, sondern auch wer unwissend jene Muster erfüllt, die die Gelehrten bewußt be(ob)achten. Konsequent im Dienste ihrer Selbstdarstellungsstrategie behauptet Anna Louisa Karsch, obwohl sie durchaus auf Lektüreerfahrungen zurückgreifen kann, daß »die Natur [...] bisher mein erstes Buch gewesen« 93 war, um anschließend die Bildungsbemühungen ihrer Freunde und Förderer zu schildern, die für eine »Bibliothek« sorgen: An ihren neuen Texten habe dennoch die »Kunst« keinen Anteil, die »Belesenheit nur hat hie und da einen Zug getan.«94 Doch diese Einschränkungen verhindern nicht, daß die Rezensenten der Buehausgabe gerade wegen der ostentativen, aber illegitimen Gelehrsamkeit das hervorheben, was unter gelehrten Vorzeichen als Defekt gilt:

91

Moses Mendelssohn: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend. 273. Brief. In: Karsch, O, mir entwischt nicht (...), Hg. von G. Wolf. S. 244. - Vgl. Schlaffer, Naturpoesie, S. 321. - Jetzt auch Kerstin Brandt: Mit natürlichem Genie wider die Regel. Anna Louisa Karsch und die Ästhetiktheorie ihrer Zeit. In: Staupe (Hg.), Ausstellungskatalog, S. 14-22. 92 Karsch, Vier Briefe an J.G. Sulzer, S. 19. 93 Ebd., S. 29. 94 Ebd., S. 29.

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Man hätte ihr [...] nicht verschweigen sollen, wie vieles zu einer vollkommenen Ode gehöre und wie selten es dem Enthusiasmus allein gelinge, dieses alles zu leisten; daß ein faselndes Geschwätz, ohne Plan und Ordnung, ganz artige Verse enthalten könne, aber den Namen derOde nicht verdiene. [...] 95

Die Lücke, in der die Karschin Anerkennung und Erfolg finden kann, ist also eng bemessen: Ihre Texte haben Erfolg und finden Anerkennung, wenn sie mündlich oder als Einzeldrucke verbreitet werden, weil dann die fehlende Gelehrsamkeit der Texte durch die Natürlichkeit der Person als Frau und Ungelehrte aufgewogen wird. Die Buchpublikation dagegen ruft die Kritiker auf den Plan, die, selbst wenn sie nicht mehr streng die gelehrten Maßstäbe ansetzen, doch nichts schlimmer finden als Texte, die auf Unfähigkeit und gleichzeitigen gelehrten Ehrgeiz eines Autodidakten schließen lassen. Karschins Strategie ist es daher, lediglich den kurzfristigen Erfolg anzustreben und den Ruhm, der traditionell nur den gelehrten, männlichen Dichtern zukommt, zu verschmähen: Die Frage »ob Sappho für den Ruhm schreibt,« wird durch den Verweis auf die unmittelbare und kurzfristige Wirkung ihrer Texte beantwortet: »Nein, zum Vergnügen meiner Freunde! [...] Homer, Virgil, Horaz und Pindar sind geblieben;/ Die Griechin aber nicht, die meine Leier trug [...] Noch ehe sich an mir die Würmer satt gefressen, [...] hat schon die Welt mich und mein Buch vergessen.« 96 Die autobiographische Selbstdarstellung in den Briefen an Sulzer und mit manchen der Gedichte - hervorzuheben ist »Belloisens Lebenslauf«, wo die Karschin ihre einfache Herkunft noch einmal im Zeichen von Anakreontik und Natürlichkeit stilisiert 97 - fungiert hier nicht als Monument der Unsterblichkeit, sondern als Moment der Rollenausstattung. Die Rolle der Naturdichterin kann nur spielen, wer mithilft, das eigene Leben so zu beschreiben, daß es als Ersatz für Gelehrsamkeit dient; die Briefe der Karschin an Sulzer erfüllen diese Aufgabe, indem sie zeigen, welche Lebensumstände für die dichterische Praxis verantwortlich sind und wie die Dichterin agiert, obwohl sie nicht auf die Muster und Regeln der Gelehrsamkeit zurückgreifen kann. Das Beispiel der Anna Louisa Karsch lehrt die Zeitgenossen - das zeigt ein kurzer Text eines anonymen Verfassers mit dem Titel »Der Nachtwächter« aus dem Jahre 1766 - vor allem, »daß man gute Verse machen könne, ohne jemals Mamsell geheissen zu haben,« und daß man »etwas [...] drucken lassen könne, ohne ein Doctor oder ein Magister, oder überhaupt ein Herr zu sein.« 98 Sobald es möglich ist, daß alle in die Rolle des Autors schlüpfen und daß die Autoren 95 Mendelssohn, 273. Brief, S. 243. 96 Karsch, Gedichte und Lebenszeugnisse, S. 74 f. 97 Ebd., S. 69 f. 98 Anon.: Der Nachtwächter. In: Hannoversches Magazin 1766, 4. Jahrgang, Sp. 507-510. Hier Sp. 507.

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den Erwartungen einer nicht mehr nur gelehrten Leserschaft entgegenkommen, indem sie >natürlich< schreiben, müssen sie jedoch die dringlich gestellte Frage beantworten, »wie das wol komme, daß er drucken lasse«.99 Diese Frage vermag nur die Autobiographie zu beantworten, und so macht sich in der Nachfolge der Karschin auch der anonyme »Nachtwächter« daran, aufzuschreiben, was ihn zum Schreiben aufgemuntert hat. Eine Generation später durchläuft der Besenbinder Gottlieb Hiller eine ähnliche Karriere wie die Karschin.100 Doch seine Zeitgenossen nehmen diese Karriere bereits differenzierter wahr als es die Differenz zwischen Kunst und Natur erlaubt In einer frühen Rezension heißt es, daß Gottlieb Hiller »bei Hof und in der Stadt« als »Naturdichter akkreditiert«101 sei: Diese Beobachtung verwirft das Konzept der absolut gesetzten natürlichen Begabung und macht die gesellschaftliche Anerkennung der Rolle Hillers für seinen Erfolg verantwortlich. Sein Ruhm erstreckt sich nicht nur auf die Oberschichten, sondern auf einen inhomogenen Kreis von Lesern, dessen Einheit und Zusammenhang durch die gemeinsame Bewunderung für den Naturdichter konstituiert wird: An 3000 Personen beiderlei Geschlecht's, jedes Alters und jedes Standes, und nicht nur Barone und Grafen, auch, wenn wir nicht irren 2 Becker, 1 Schneider, 4 Seifensieder, 1 Schuster und 5 Lohgerber: alles pränumeriert auf seine Gedichte. 102

Die angestrebte Exklusivität der Beziehung zwischen Autor und Lesergemeinde zeigt sich besonders deutlich, wie man im Falle der Karschin bereits feststellen konnte, an der neuen Gepflogenheit, die Namen der Subskribenten, die sich im voraus zum Kauf verpflichten, und der Pränumeranten, die durch Vorauszahlung das Unternehmen der Buchpublikation und das Auskommen des Dichters sicherten, im Buch abzudrucken: Der Autor charakterisiert sich durch diejenigen seiner Leser, die zu den gebildeten oder den oberen Ständen zählen, und die Leser zeichnen sich vor anderen durch ihre Zuwendung und ihr Mäzenatentum für einen bestimmten Dichter aus. Die kommunikative Bedeutung dieser Gepflogenheit besteht nicht so sehr im Bestreben des lesenden Mittelstands, das adlige Privileg literarischer Patronage unter veränderten Bedingungen weiterzuführen und neu zu füllen, 103 sondern darin, daß das komplex-undurchsichtige Konglomerat gelehrter und ungelehrter Leser über eine Relation zu einem Lieb-

99

Ebd., Sp. 507. Horst Meyer: Aus den frühen Tagen der Subskription. Der wundersame Weg des Naturdichters Gottlieb HiUer. In: Imprimatur 10, 1982, S. 259-271. 101 Anon.: Rez.: Gottlieb Hillers Gedichte und Selbstbiographie. Cöthen 1805. In: Tartarus. Zeitung für Poesie, Kunst und neuere Zeitgeschichte 1806, No. 2, S. 5-6. 102 Ebd., S. 5. 103 Meyer, Aus den frühen Tage der Subskription, S. 259. 100

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lingsautor neu sortiert wird, so daß mit der Kategorie des favorisierten Autors die Beobachtung neuer Gruppen und neuer Hierarchien innerhalb der allgemeinen Leserschaft möglich wird. Berühmt geworden ist Hiller weniger durch seine Texte als durch seine einer Werbetournee gleichende Reise nach Berlin, wo er, unterstützt durch seinen Mentor, den Köthener Regierungssekretär Ludwig Gustav Bäntsch, mit Hilfe von Empfehlungsschreiben Einlaß in die Gesellschaft findet und, begleitet von publizistischen Offensiven für einen Band seiner Gedichte erfolgreich um Pränumeranten wirbt. 104 Am Anfang steht, wie im Falle der Karschin, das gesprochene Wort; es wirbt für den Sprecher und propagiert Verschriftlichung und Publikation. Die gedruckten poetischen Texte jedoch fallen hinter den Eindruck unmittelbar wirkender Dichtungsfahigkeit, den der anwesende, improvisierende Autor vermittelt, zurück. Diesen unwiederholbaren Effekt der Präsenz zu ersetzen, das ist die Aufgabe der eigenen Lebensbeschreibung des Naturdichters. Ein anonymer Rezensent der Gedichte Hillers und seiner Selbstbiographie, die praktischer- und bezeichnenderweise zusammen in einem Band erscheinen, kritisiert die Texte wegen ihrer mangelnden Originalität, während er die Autobiographie des Dichters lobt: Es fehle den Gedichten an »echtem poetischen Geist und Ausdruck«; der Verfasser schleppe ein »Arsenal von poetischen Waffen« mit sich, die ihm »Gott weiß, wer; entweder sein starkes Gedächtnis, oder der Rath guter Freunde aufgebürdet« 105 haben. Kaum miteinander kompatible Begriffe bilden das kritische Arsenal des Rezensenten: »Derber Naturmensch«, »fließender Versifikateur«, »mechanisches Talent« 106 sind die Attribute, mit denen die Person des Dichters, so wie sie in seinen Texten erscheint, beschrieben wird. Die Kritik bemängelt gleichzeitig zuviel und zuwenig Natürlichkeit und weist damit die Orientierungsschwierigkeiten auf, die entstehen, wenn die Einheit der gelehrten Differenz ars-natura aufgebrochen ist. Der Erfolg eines Ungelehrten als Dichter kann, wenn er an Eigenschaften des Autors zurückgebunden wird, nur in Widersprüchen gefaßt werden. Die Natürlichkeit erscheint als »derb«, die mühsam erworbene Gelehrsamkeit als aufgenötigt und die Fähigkeit, Verse zu produzieren, als mechanisch. Die Autobiographie des Naturdichters dagegen »bereichert« für den Rezensenten die »Naturgeschichte der verschiedenen Menschenspezies.« 107 Dieser Beurteilung entspricht auch die Ankündigung des Hiller-Förderers Ludwig Gustav Bäntsch, der in der Vorrede zum Gedicht- und Autobiographieband die Selbstdarstellung weniger als Zeug-

104

Ebd., S. 264 ff. Anon., Gottlieb Hillers Gedichte und Selbstbiographie, S. 6. Ebd., S. 6. 10< 7 Ebd., S. 5. 105

106

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nis der Naturdichterschaft seines Zöglings, sondern eher als anthropologisches Dokument für den »Denker«, den »Psychologen« und den »Menschenfreund« beschreibt: Die Lebensgeschichte enthält manches Anziehende. Bei dem naiven Vortrage, bei der sonderbar ausgeführten Entwickelung der Geistesanlagen [...] bei der offenherzigen Aufzählung der Verwirrungen und Schwärmereien, bei der oft nahe an Trotz, Uebermuth und Ruhmsucht glänzenden Geradheit der Selbstbiographie [...] übersehen und verzeihen wir. 1 0 8

Die Betonung der Ehrlichkeit und Unverstelltheit der Hillerschen Selbstdarstellung zeigt, daß die autobiographische Wahrheit, die diesem Dokument zugeschrieben wird, ein Effekt der Tatsache ist, daß weder die Beobachter noch Hiller selbst dem Phänomen des Naturdichters beikommen, indem sie die traditionelle Differenz zwischen angeborener poetischer Begabung und erworbener Gelehrsamkeit aufrechterhalten. Natur und Natürlichkeit müssen, gerade wenn sie als Manifestationen einer nicht gelehrten Dichtungspraxis anerkannt werden wollen, genauso künstlich demonstriert werden wie die Fähigkeit, gelehrte Texte zu verfertigen; daß sie zu einem Produkt von Kunst werden, weil sie ihre Künstlichkeit zu verstecken suchen, macht Hillers eigene Lebensbeschreibung sichtbar. Hiller selbst verweist in der Einleitung, wie zuvor Gottsched und später Goethe, auf eine an ihn herangetragene Bitte, die für die Publikation der eigenen Lebensbeschreibung verantwortlich sei: Daß ein »großes Publikum nach meiner Geschichte fragen würde«(8)109, habe er bereits geahnt und vor drei Jahren den »innerlichen Ruf« empfunden, seine Autobiographie zu schreiben. Was an dieser Bemerkung Dichtung und was Wahrheit ist, braucht nicht entschieden zu werden, denn die Interessen des Naturdichters und die des Publikums gehen Hand in Hand. Es handelt sich bei der Verfertigung einer Autobiographie nicht nur um eine manipulative Strategie des Autors, der die Leser in seinem Sinne beeinflussen und kontrollieren will, sondern auch um ein Interesse des Publikums, das den Lebenslauf des nichtgelehrten Dichters kennen muß, um den einzelnen Texten, die außerhalb der gelehrten Kontinuität stehen, Zusammenhang, Einheit und einen Interpretationscode zu unterlegen. So ist es nicht in das Belieben des Autors gestellt, wie er sich autobiographisch darstellt: Ein Naturdichter, der mit diesem Titel Karriere macht, muß sich anders präsentieren als ein gelehrtes Genie, das die etablierten Institutionen der Ausbildung, die es selbst durchlaufen hat, attackiert und darauf seinen Erfolg zu gründen versucht. 108 Ludwig Gustav Bäntsch: Vorrede zu: Gottlieb Hillers Gedichte und Selbstbiographie. Cöthen 1805. S. 4 f. 109 Die Zitate aus der Autobiographie Hillers werden durch eingeklammerte Seitenzahlen belegt.

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Als Beweis für sein poetisches Talent führt selbstverständlich auch Hiller frühe Schreibversuche an: Schon im Alter von zehn Jahren habe er »kleine Liedchen« verfaßt, »welche die armen Kinder auf den Dörfern absangen, um die Leute zum Mitleid zu bewegen.«(14) Durch die Prügel, die er erhält, weil er eine Satire »nach Hans Sachsen Manier« auf einen Lehrer verfaßt hat, sei seine poetische Muse in einen »todtenähnlichen« Siebenschlaf verfallen und habe erst wieder nach seinem 22. Lebensjahr Reime gemacht.(14) Sein Talent zum Schreiben zeigt sich dem Naturdichter am deutlichsten, wenn es sich gegen alle widrigen Umstände durchsetzen muß: »Ich bin immer sehr schreiblustig gewesen, denn kaum konnte ich etwas kritzeln, so suchte ich alle Papierspäne auf den Straßen zusammen und beschmierte sie.«(21) Diese Beschreibung entspricht den traditionellen Kriterien für Genialität, die sich vor allem dann zeigt und beweist, wenn sie gegen widrige äußere Umstände dennoch zutage tritt. Angewendet werden diese Kriterien jedoch nicht von einer gelehrten Autorität, sondern vom Jüngling selbst, der durch diese Selbstbeschreibung sich und anderen bestätigt, daß er gegen alle Ansprüche von außen und trotz aller Hindemisse Dichter werden kann. Die Beschreibung der eigenen Lektüre, traditionelle Rubrik jeder Autorautobiographie, dient selbstverständlich der Stilisierung als Naturdichter: Hillers Lektüre gleicht dem Sammeln des Papiers für das Schreiben; er liest, was er »auf der Straße und in Feldern« findet, und es gelingt ihm, aus der nun vollends als kontingent beschriebenen Lektüre der Bibel, geistlicher Schriften und Volksbücher ein »System« zu verfertigen, das das »Publikum« in Erstaunen versetzt.(30) Sich so als »nichttriviale Maschine« zu beschreiben, die aus dem Durcheinander der Lektüre ein geordnetes System verfertigt, zielt darauf ab, die eigene Individualität als unverwechselbare Kombination von Eigenem und Fremdem zu beobachten, die alles von außen Kommende nach Maßgabe ihres inneren Zustandes wahrnimmt und verarbeitet Doch im Widerspruch dazu steht das areligiöse Bekehrungserlebnis der Lektüre von »Thomas Paynes, über wahre und fabelhafte Theologie«. Die Wirkung ist enorm: »Als ich damit fertig war, legte ich's, ganz aus meiner Bahn geworfen, nieder. Nun waren die Bande meines Geistes auf immer zerrissen, nichts konnte mich wieder zurück fuhren. Es schleuderte mich aus den engen Grenzen der Bigotterie in die ungebahnten Steppen der Irreligiosität. Allein dieses Extrem war zu groß, als daß es hätte bestehen können. Doch mein guter Genius verließ mich auch hier nicht.«(38) Der erste Schritt am Scheideweg seines Lebens wird als äußerer, fremder Einfluß beschrieben, wohingegen die Instanz, die diesen Schritt korrigiert, auf ein personales, inneres Prinzip, den »Genius« projiziert wird. Doch nicht seinen Genius, sondern eine neue Lektüre macht Hiller zunächst für die Mäßigung seiner Irreligiosität verantwortlich: Wielands Agathon, der Vergleich der Systeme

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von Hippias und Archytas, die schnelle Lektüre aller übrigen Schriften von Wieland »hellten meinen Geist auf«(39). Beendet wird diese Lektüre durch das Ordnen und Vereinheitlichen, das die selbstbezügliche Operation seines Bewußtseins exemplifiziert und gegen die Einflüsse von außen absetzt »Und mein Mutterverstand ordnete alle diese Dinge in meinem Kopfe, wodurch mehr System in meine Kenntnisse kam.«(40) Die Wieland-Lektüre ist der Auslöser für das Wiedererwachen seiner poetischen Produktion, deren »Funken« durch lange Monologe zur »Flamme« ausbrechen.(41) Die Entstehung seines ersten gedruckten Textes schildert Hiller als unmittelbare Verarbeitung einer persönlichen Erfahrung, die außerhalb aller ständischen >Gelegenheiten< steht. Primär ist das >ErlebnisErlebnisse< verarbeitet, braucht die Anerkennung von außen: Ein Freund, beeindruckt von dem Gedicht über die grüne Schote, gibt den Text zum Test seines poetischen Wertes einem »Kandidaten« der Theologie. Dessen positives Urteil, legitimiert durch seine gelehrte Bildung, gibt das Signal für weitere Verse, die Hiller in »Kothen in kurzer Zeit allgemein bekannt« machen.(41) Neben diesem maßgeblichen Einfluß einer Autorität, die von den Gelehrten wegen der Jugend des Kandidaten kaum akzeptiert würde, erscheint der Regierungsrat Bäntsch als Mentor, dem Hiller »seine nachherige bessere poetische Bildung« verdankt,(60) der ihn die »Regeln der Poesie« lehrt und ihm in seinen Gedichten das »Leere, Mangelhafte und Matte« zeigt.(61) Daß gerade der Einfluß der gelehrten Freunde später negativ beurteilt wird, wie es die bereits vorgestellte Rezension zeigt, und daß er im Sinne seiner Werbestrategie besser daran getan hätte, den Einfluß fremder

110

Vgl. dagegen die Goethecharakteristik bei Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Hg. von R. Rosenberg. Leipzig 1991. S. 217 ff.

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Maßstäbe möglichst klein zu halten, sieht Hiller erst, als die Mechanismen naturdichterischen Rollenspiels offenkundig werden. Der Naturdichter läßt sich auch durch Einwände eines >Kunstrichters< nicht von seinen Versen abbringen.(42 f.) Die Behauptung indes, »weniger um Gewinnsucht, als aus wirklicher Empfindung« zu dichten,(44) wird konterkariert durch die genaue Angabe des Preises für seine Verse - »4 bis 6 Gr« - und die auffällige Betonung der »öffentlichen Achtung«, die ihm erwiesen wird.(44 f.) Daß ein »solcher Mann vom gnädigen Herrn Sie genannt und an der Hand geführt werden könnte«, veranlaßt Hiller, sich selbst kaum ironisch als »Seine geehrte Poetet« zu titulieren. (56 f.) Immer wieder muß er seine poetischen Fähigkeiten, die ihm aufgrund seiner Herkunft und Bildung nicht zukommen, in der Praxis beweisen, indem er ohne Hilfsmittel und in schneller Geschwindigkeit Impromptus produziert.(46 f., 55, 70, 89) Nur in der Wiederholung kann sich das Genie zeigen, das vermeintlich unbewußt und augenblicksbezogen produziert. Die Auflistung aller Empfehlungsschreiben und die Erzählung der Anerkennung durch »Vater Gleim« in Halberstadt (51) dienen ebenfalls der Beglaubigung seiner Dichter- und Autorschaft Um als Naturdichter Anerkennung zu finden, reicht es nicht aus, ein Buch mit Gedichten zu publizieren, sondern die autobiographische Erzählung der bisher erfolgten gesellschaftlichen Anerkennung gehört notwendigerweise dazu. Die Namen der Gönner und Förderer vermitteln den Kredit, für den der eigene Name und die eigenen Texte nicht ausreichen. Daß Gleim, der bereits zu den wichtigsten Gönnern der Karschin gehört hatte, ein Gedicht auf Hiller verfertigt, das mit seinem Titel »Gottlieb Hiller, - kein gemachter, nein, ein gebohrner Dichter«(52 f.) an das Sprichwort vom poeta nascitur anschließt, gehört zu dem neuen kommunikativen Mechanismus, einen Ungelehrten durch die Behauptung zum Dichter zu machen, er sei, wie die gelehrten Poeten, als Dichter geboren. Das Verhältnis zwischen der Rolle des Naturdichters, seiner gesellschaftlichen Anerkennung und der autobiographischen Selbstdarstellung wird in Hillers Autobiographie an prominenter Stelle selbst thematisiert. Indem der Text Hillers Karriere als erfolgreiches Rollenspiel begreift, entdeckt er die vergangenen ungeschickten Verstöße gegen die Rollenerwartung. In Berlin erlebt Hiller die Auszeichnung, vom preußischen Königspaar empfangen zu werden, und der Bedeutung dieses Ereignisses entsprechend unterbricht er an dieser Stelle der Autobiographie die Erzählung, um eine dialogisierte Passage einzufügen: Auf die Frage des Königs, ob er seine gerade gezeigten dichterischen Fertigkeiten »von selbst erlernt« habe(86), antwortet Hiller: »Ich denke es, [...] da ich nicht auf Schulen gewesen bin.«(87) Unmittelbar im Anschluß an die Demonstration seiner Dichterbegabung, der die gelehrte Kunst als Ergänzung und Vervollständigung fehlt, läßt Hiller die Königin nach seiner »Geschichte« fragen,

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Autobiographik und Roman

die er »bey'm Ey« anfangend erzählt und »wozu mir beyde Majestäten eine Viertelstunde auch ein aufmerksames Ohr liehen.«(87) Die Schilderung des eigenen Lebenslaufes komplettiert die ungelehrte Dichtungsproduktion und ersetzt den unmöglichen Verweis auf poetische Regeln und Vorbilder. Was er mündlich dem Königspaar vermittelt, muß im autobiographischen Teil seines Buches schriftlich angestrebt werden, nämlich die Rolle des Naturdichters konsequent auszufüllen. Im Rückblick auf den Empfang beim preußischen Herrscherpaar reflektiert Hiller gar nicht naiv über sein unhöfisches, aber rollenkonsistentes Verhalten: leb dachte mich als den Repräsentanten der Natur, ich hätte es für ein Verbrechen gegen dieselbe gehalten, wenn ich auch nur ein Wort gesagt hätte, was ich nicht mit dem Herzen fühlte, daher meine Unbefangenheit. Femer wollte man ein unkultivirtes Mutterkind sehen, der Komplimententon würde mir also nicht hübsch gestanden haben[...](91)

So wie es für den Naturdichter am Königshofe unangebracht ist, die Gepflogenheiten des höfischen Verhaltens und der Hofberedsamkeit zu demonstrieren, weil dies den Erwartungen der Adressaten und der eigenen Rollenkonstruktion widersprechen würde, so ist es für den Naturdichter empfehlenswert, die eigene, kontingente und autodidaktische Bildungs- und Produktionsgeschichte autobiographisch zu entwickeln, während eine zu deutliche Demonstration angelesener Muster und vom Freunde Bäntsch vermittelter poetischer Regeln die Kritik auf den Plan ruft, die dem Naturdichter vorwirft, nicht natürlich genug zu sein. Es gilt auch hier: Kunst ist, die Kunst zu verbergen. Die Autobiographie Hillers zeichnet sich dadurch aus, daß sie die generellen Voraussetzungen für eine Koppelung von Autobiographik und Poetik deutlich werden läßt. Indem Hiller die Notwendigkeit seines nichtgelehrten, nichtrhetorischen Auftretens entfaltet, nimmt er paradoxerweise der autobiographischen Darstellung jene Naivität, die er demonstrieren muß, um die Rolle des Naturdichters auszufüllen, die die modernen literarischen Kommunikationsbedingungen einem Aufsteiger wie ihm offenhalten. Dem »gefährlichen Wiederspruch« der Kritik, die einem unsicheren »Leuchtfeuer« gleicht, entzieht sich der Naturdichter, indem er seiner »eignen Laterne« 111 folgt. Die Negation der Orientierung an Mustern, Regeln und Kritikersprüchen resultiert in der Radikalisierung des Selbstbezugs: Lernt man das Dichten nicht mehr aus poetischen Lehrbüchern, so lernt man nur noch, was man nicht tun soll, nämlich fremden Vorbildern zu folgen, und ist damit allein auf sich selbst verwiesen.

111 Gottlieb Hillers Reise durch einen Theil von Sachsen, Böhmen, Oesterreich und Ungarn. Als zweiter Theil seiner Gedichte und Selbstbiographie. Köthen 1808. S. V.

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Die Negativversion des ungelehrten Naturdichters konstituiert der >elende Scribentelenden Scribents< jedoch enthüllt zugleich die Leichtgläubigkeit und mangelnden Kenntnisse seiner Leser, während der Erfolg des Naturdichters seine Leser positiv auszeichnet. Im Gegensatz zum Naturdichter, der davon lebt, daß er dichten kann, obwohl ihm die gelehrten Ausbildungsinstitutionen verschlossen waren, erhebt der >elende Scribent< den Anspruch auf Anerkennung, nachdem er wissentlich und willentlich auf die gelehrte Ausbildung verzichtet hat. Ein >elender Scribent< protestiert mit seiner Ignoranz gegen die gelehrten Standards poetischer Produktion; die Ignoranz des Naturdichters dagegen bestätigt solange die gelehrten Maßstäbe und die Qualität seiner Leser, wie die Naturdichter »seltene Vögel« bleiben. Auf Liscows Satire »Die Vortrefflichkeit und Nothwendigkeit der elenden Scribenten« aus dem Jahre 1736 antwortet der Buchhändler und Schriftsteller Friedrich August Schumann 1796 mit den »Selbstgeständnissen eines elenden Scribenten.«112 Ob es sich bei dem Text, der Details aus dem Lebenslauf seines Verfassers aufnimmt, um eine autobiographische Darstellung oder um eine Fiktion handelt, darf nicht beantwortet werden, denn die satirische Pointe des Textes ist ein Effekt seines Changierens zwischen Aufrichtigkeitsemphase und ihrer Parodie. Der parodistische Rekurs auf die Kategorie der Konfession, die heimliche und allgemein abgelehnte Verhaltensweisen enthüllt, setzt auf die Neugier der Leser, die durch den Begriff des »elenden Scribenten«, einer der beiden Oppositionsbegriffe zum »Gelehrten«, aufgefordert sind, alle Enthüllungen auf der Folie der gelehrten Maßstäbe zu bewerten. Der »elende Scribent« entlarvt nicht so sehr sich selbst, sondern vor allem die Bedingungen, unter denen er Karriere macht, den Verlust von gelehrten Maßstäben. Gegen das gelehrte nascitur wird nun die kontingente Karriere eines ungelehrten Dichters beschrieben. Die ehrgeizige Entscheidung seiner Mutter, die dem Sohn den Ausbruch aus den Standesschranken ermöglichen will, >bestimmt< den Ich-Erzähler zum Theologen. Der Beginn des typischen Aufsteigerstudiums enthebt ihn einer großen »Ungewißheit«: »denn ich wußte selbst nicht zu was ich mich entschließen sollte.«(SG 152) Die Unsicherheit des Individuums über die »Wahl der Lebensart« läßt als einzige Möglichkeit einer Selbstbestimmung das poeta nascitur übrig, das in der gelehrten Kommunikation den Ausschluß des >Pöbels< besorgt, hier jedoch durch das Individuum in den Ausschluß aller anderen Begabungen und Tätigkeiten umgedeutet wird:

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Friedrich August Gottlieb Schumann: Selbstgeständnisse eines elenden Scribenten. In: Ders.: Die Changeante Mappe. 1. Thl. Berlin/Leipzig 1796. S. 149-170. Zitate werden im folgenden durch SG und die Seitenzahl belegt.

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»Ich bin einmal zu nichts, als zum Schriftsteller gebohren; eine bestimmte Wissenschaft hab' ich einmal nicht getrieben, weil ich sie alle treibe, und das ist dem Wesen der gesellschaftlichen Welt entgegen.«(SG 169) Wurde dem Gelehrten der hierarchisch strukturierten Gesellschaft zugestanden und zugemutet, sich in allen Wissenschaften und Disziplinen polyhistorisch zu betätigen, so verlangt die moderne Gesellschaft jedem einzelnen zugleich Spezialisierung und gleichmäßige Ausbildung aller Fähigkeiten ab. Dieser permanente Widerspruch setzt die pädagogische Debatte um »Vollkommenheit« und »Brauchbarkeit« in Gang. 113 Sich zum geborenen Poeten zu erklären, heißt, die geforderte funktionale Spezialisierung abzulehnen und sich durch eine Spezialisierung auf das >Ganzeeigentümliche< Manifestationen einer Autorindividualität seien. 8) Die Autobiographie eines Anonymus Eine frühe Formulierung für die Manifestationsthese findet sich in der Autobiographie Theodor Gottlieb Hippels. Der Verfasser der anonym erschienen »Lebensläufen nach aufsteigender Linie« schreibt 1791 eine Bruchstück gebliebene Autobiographie, die postum für Schlichtegrolls Nekrologe ergänzt und vervollständigt wird und 1801, also fünf Jahre nach seinem Tode erscheint. 114 Die autobiographischen Teile gehen auf den Plan zurück, der eigenen Familie eine detaillierte Beschreibung seines Lebens zu vermitteln, die mit allgemeinen Lehren und Ratschlägen verknüpft wird. Es ist dem Text anscheinend überhaupt nicht darum zu tun, der rätselnden Öffentlichkeit eine Autobiographie zu liefern, die über einen Autor, dessen Werke ohne Angaben zur Verfasserschaft erschienen sind, Aufschluß vermitteln könnte. 115 Daß an einer versteckten Stelle schließlich doch ein deutlicher Hinweis auf den Zusammenhang zwischen den eigenen Texten und der Autobiographie gegeben wird, ist leicht zu übersehen. Hippels generelle Tendenz zur Anonymität und Verhüllung seiner Autor-

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Theodor Gottlieb von Hippel: Biographie. Zum Theil von ihm selbst verfaßt. Nachdruck der Ausgabe Gotha 1801. Hildesheim 1977. Mit einem Nachwort von R.-R. Wuthenow. Zitate werden im folgenden durch Β und Seitenzahl belegt Hippel hatte zwar die Absicht, neben der Autobiographie für seine Familie eine zweite für die breite Öffentlichkeit zu schreiben, doch ist dieser Plan nicht zur Ausführung gekommen. Vgl. seine Anmerkung zur »Biographie«, S. 17.

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schaft setzt sich in der Autobiographie fort, die nicht dazu dient, einem allgemeinen Publikum und den anderen Dichtern die Möglichkeit zu eröffnen, die publizierten übrigen Schriften des Verfassers in einen Zusammenhang zu bringen und aus dem autobiographischen Kommentar Lehren zu ziehen, obwohl diese Möglichkeit an versteckter Stelle beschrieben wird. Auch der Versuch, die Rezeption der eigenen publizierten Schriften durch die Autobiographie zu kontrollieren, unterbleibt, obwohl er in Erwägung gezogen wird. An seine Stelle treten die späteren Kommentatoren und Interpreten, die die »Lebensläufe« biographisch zu entschlüsseln suchen. 116 So schreibt der Nekrologherausgeber Schlichtegroll im Vorwort zu Hippels Autobiographie: In jede seiner Schriften legte dieser originelle Denker den Abdruck seines eigenen Wesens [...] und so sind seine Biicber [...] ganz eigentlich unter die Quellen seiner Biographie zu rechnen.117

Zwar ermuntert die Anonymität eines Romanautors die Durchsuchung des veröffentlichten Textes nach Hinweisen auf die Identität des Verfassers; daß Schlichtegroll jedoch ohne Zögern die fiktionalen Texte des Autors Hippel als Verweise auf sein Leben deutet, rührt auch daher, daß Hippel selbst in einer versteckten Passage seiner Autobiographie einen genetischen Zusammenhang zwischen persönlichem Erleben und Romantext etabliert, so daß ein »romanesker Pakt« 118 geschlossen wird, der den Roman als Bekenntnis des Autors zu lesen erlaubt. Ausgangspunkt der Selbstdarstellung ist ein familiäres »Unter uns«(B 50) Der Beginn der Autobiographie besteht aus der Genealogie der Familie und aus an die Nachkommen gerichteten Ratschlägen, welche Laufbahn sie einschlagen sollen. Erst danach beschreibt Hippel sein eigenes Leben und verzichtet dabei nach eigener Aussage auf »peinliche Ordnung«(B 87); dagegen setzt er »sein eigen System«, das er jedem Menschen zu bauen empfiehlt, ohne auf mehr als »Steine und Kalk außer sich« Anspruch zu erheben.(B 88) Damit wendet sich Hippels Autobiographie gegen das Schema der Gelehrtenautobiographie, die sie durch eine unverwechselbare Perspektive auf das autobiographische Ich ersetzen will. Erst sie erlaubt eine vollkommen selbstbezügliche, nicht mehr durch äußere Vorgaben gelenkte, individualisierte Darstellung des eigenen Inneren, das sich durch eine spezifische Kombination von Eigenem und Fremdem auszeichnet. Doch auch in der Abkehr vom gelehrten Muster müssen tradi116 Ralph-Rainer Wuthenow: Die Osterbeichte. Theodor Gottlieb von Hippel. Bruchstücke einer Autobiographie. Nachwort zu Hippel, Biographie, S. 484. 117 So bereits Friedrich Schlichtegroll im Vorwort zur ergänzten Autobiographie Hippels. In: Hippel, Biographie, S. 9 f. 118 Lejeune, Der autobiographische Pakt, S. 249.

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tionelle autobiographische Rubriken ausgefüllt werden. Poetischer Unterricht, erste eigene poetische Versuche, das Überwinden der väterlichen Poesiegegnerschaft, Lektüre und die Thematisierung des potentiellen Zusammenhanges zwischen Texten und Autorleben bilden auch dann die Bausteine der eigenen Lebensbeschreibung, wenn die Demonstration ständischer Zugehörigkeit durch die Demonstration unverwechselbarer Individualität abgelöst wird. Hippel wird von seinem Vater, einem Pastor, zu Hause erzogen, der ihn verpflichtet, seine Predigten lateinisch nachzuschreiben und mit dem der Sohn ausschließlich lateinisch spricht. Mit den Mustern der antiken Poesie macht der Vater den Knaben zwar vertraut, doch sie dienen ihm nicht als Beispiele der Schönheit, die den Sohn zu eigener Produktion oder zu spezifischer Lektüre anregen und anleiten könnten: Mein Vater hielt es für vergebliche Mühe, demjenigen, der die Schönheiten in den Alten nicht von selbst schmecken und sehen könnte, solche auseinandersetzen zu wollen. Darnach richtete sich seine Erklärung der Classiker. Er hielt das Schöne überhaupt für etwas Subjectives, und war daher auch kein Herold der schönen Wissenschaften, die er nur als Schmuck ansah, um damit den Verstand etwa zu heben. [...] Er widerrietb mir zwar nicht die Poesie, die mich, ich kann es wohl sagen, aufsuchte; allein er ermahnte mich doch bey aller Gelegenheit, das die cur hic nicht zu vergessen.(B 90 f.)

Die Ablehnung jeder Beschäftigung mit Poesie durch Hippels Vater verweist indirekt auf die Problematik der Intransparenz der Leserschaft, die es verbietet, weiterhin auf die Art und Weise, wie es den Gelehrten ziemte, dichterisch zu agieren. Der väterliche Rat, die rhetorische Maxime des Anwendungsbezuges zu beachten, verweist auf jene Situation zurück, die sich durch die Unterstellung eines auf die Gelehrten beschränkten Adressatenkreises poetischer Texte auszeichnet; dagegen wird die neue, inhomogene Leserschaft mit dem Begriff des Subjektiven und der inkalkulablen, nichttrivialen Reaktion erfaßt, die dem Gelehrten unerträglich ist Die ironische Darstellung der frühesten Schreibtätigkeit des Knaben steht allein im Zeichen des mündlichen Wirkungsbezugs und besteht im Verfassen eines Aufsatzes, »ohne noch die geringste Anleitung erhalten zu haben«. Weil seine Mutter ihn mit einer Speise quält, die er nicht essen mag, schreibt der Knabe »ein ordentliches Buch wider den unzeitigen Kohl«, das zumindest bei den Adressaten den gewünschten Effekt erzielt, mit diesem Essen verschont zu werden: »Diese kindische Abhandlung gefiel meinem Vater und meiner Mutter; ich wurde nicht mehr zum Kohl gezwungen.«(B 94 f.) Die Anleitung, die ihm der Vater gibt, wird abgelehnt: »Oft dacht' ich, daß niemand, als der liebe Gott, der aber Gottlob ! nie Autor geworden, Regeln geben könne, die ja, nach meines Vaters eigenem Geständnisse, nur aus den schönen Aufsätzen der Alten und Neuen abgezogen wären.«(B 94) Gleiches gilt für die Verskunst: »Poesien

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machte ich ohne allen Unterricht, ein Klaglied der Jugend an das Alter, einige geistliche Lieder, und wozu mich sonst Natur drang und Gelegenheit reizte. Meinem Vater, der nicht den geringsten Hang zur Poesie hatte, kam das wie vom Himmel gefallen vor.«(B 94 ff.) Die Schlüsselbegriffe dieser Beschreibung einer ersten dichterischen und schriftstellerischen Betätigung eines Knaben, »Natur« und »Gelegenheit«, verweisen einerseits auf die Einheit des rhetorischen Gegensatzpaares von ars und natura zurück, andererseits auf die Gelegenheitsdichtung, die die dichterische Praxis in einen vom ständisch gedeuteten Kriterium des aptum geprägten Anwendungsbezug einbettet: Weil aber der Kontrastbegriff zur Natur, die Kunst als Inbegriff des Lehr- und Lernbaren, hier explizit ausgeschlossen wird, bricht das traditionelle Bedingungsgefüge von gleichzeitig notwendiger Kunst und Begabung auf. Weil zudem die Kategorie der »Gelegenheit« im Sinne eines rein subjektiven Reizes, nicht im Sinne einer gesellschaftlich vorgegebenen funktionalen Einbettung der dichterischen Praxis in die ständische Gesellschaft verwendet wird, zeigt sich ein Ansatz zu einer Beschreibung genialer Dichtungspraxis. Aus der Retrospektive macht die sarkastische Darstellungsweise Hippels deutlich, daß es sich lediglich um geniale Allüren eines Jünglings handelt, der sich von seinem Vater nichts sagen läßt und statt dessen auf Gott verweist, der als die einzige Autorität erscheint, an der sich der junge Dichter und Schriftsteller orientieren kann. Analog zum traditionellen Musenanruf wird hier versucht, eine exklusive Beziehung zwischen Gott und Individuum zu benutzen, um die Exklusivität der eigenen poetischen Praxis zu behaupten. Daß es sich bei der göttlichen Autorität nur um eine - vom Verfasser aus dem Rückblick durchschaute - Fiktion handelt, die das rein autodidaktische Vorgehen kaschieren soll, wird durch eine Anmerkung deutlich: Gott selbst sei ja nicht als Autor hervorgetreten, an dem sich ein Nachfolger orientieren könne; deshalb erscheint das geniale Dichten für den autobiographischen Beobachter kontingent und von einem überzogenen subjektiven Selbstbewußtsein geprägt. Ungeachtet seiner sonstigen, zuvor geschilderten Begeisterung für die Autoren der Antike, die er untereinander vergleicht und über deren Rang er mit dem Vater in Streit gerät,(B 92 ff.) lehnt der Autobiograph eine Orientierung an ihnen als Musterbeispielen, aus denen die Regeln zur eigenen schriftstellerischen Produktion abgeleitet werden, ab. Was der Vater als Anweisung zu vermitteln sucht, ist >nur< aus ihnen deduziert und besitzt gerade deshalb keine verbindliche Autorität mehr. Was in der gelehrten Kommunikation der Garant für Perfektion der eigenen schriftstellerischen und dichterischen Produktion war, ist nun nichts anderes als eine willkürliche Vorgabe, an die sich der einzelne nicht mehr zu halten braucht. Bemerkenswert ist der Rekurs auf das traditionelle Bienengleichnis im Zusammenhang mit Hippels Beschreibung seiner Studien und seiner Lektüre: Der

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Vergleich zwischen dem Dichter und den Bienen, die aus allen Blüten das Beste sammeln, 119 gehört ja zu den traditionellen Beschreibungsschemata des gelehrten Dichters, das hier verwendet wird, obwohl sich Hippel von dem Vorbild des poeta doctus absetzt: Hier (im Garten, K.S.) las ich, lernte auswendig, und brachte alles in meinem Kopfe in Fächer. Oft dacht' ich, wenn ich Bienen um mich sumsen hörte, daß es meine Collegen wären. Der Fleiß dieser Kleinen stärkte mich sehr in meinem Vorsatz, nie müßig zu seyn, und ich kann als ein ehrlicher Mann betheuren, auch noch in meinem jetzigen Alter keinen Tag gelebt und verlebt zu haben, an dem ich nicht wenigstens Etwas in den Bienenstock getragen und gelernt hätte.(B 96)

Auch der Hinweis auf die »Fächer«, in die er das Gelesene und Gelernte einordnet, zeigt, daß Hippels autobiographische Konfrontation mit der Literatur und der Poesie trotz des trotzigen Insistierens des Knabens auf den eigenen Fähigkeiten im wesentlichen noch mit und in den Kategorien der traditionellen Gelehrsamkeit beschrieben wird. Das barocke Wissenschafts- und Gelehrsamkeitsverständnis, in das Poesie und Rhetorik fest eingebunden waren, funktioniert unter der Voraussetzung festgelegter loci, an denen die Wissensbestände aufzufinden und abzulegen sind. In Hippels Darstellung manifestiert sich also gleichermaßen die moderne Selbstbeschreibung des genialen Dichters, der sich als selbständig und nur von eigenen Vorgaben abhängig darstellt, und deren Dekonstruktion, denn der Text zeigt, ohne es zu wollen, daß gerade die moderne Beschreibungsweise in ihrem Versuch, sich explizit vom Kommunikationszusammenhang der Gelehrsamkeit abzusetzen, noch immer von ihren Kategorien abhängt Während das Verfertigen von Versen allein dem Jugendalter zugestanden wird, weil es für den Jüngling die gleiche aufklärende Funktion habe wie die Poesie für die unerfahrene Nation, die die »Wahrheiten der Philosophie« mit ihrem »Laternenglase« umgibt,(B 181) weist Hippel das Büchermachen dem erwachsenen Alter mit seinen zunehmenden Anstrengungen der Selbsterkenntnisund -beschreibung zu. Ohne einen direkten Zusammenhang mit seiner Autobiographie und seiner schriftstellerischen Tätigkeit herzustellen, formuliert Hippel die allgemeine These, daß alles und gerade poetisch-fiktionales Schreiben notwendig Verweise auf die Person des Verfasser impliziert, so daß in einer Autobiographie, die angeblich nur der innerfamiliären Kommunikation dienen soll, ein Zusammenhang zwischen Leben und Werk hergestellt wird, der auch auf Hippels eigenen Fall anzuwenden ist:

119 Vgl. dazu Stackelberg, Das Bienengleichnis, S. 280 ff.

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Es giebt viele Schriftsteller, die sich selbst copiren, und ihr eignes Lebens unter fremden Namen herausgeben. Fast möchte ich behaupten, daß kein Buch in der Welt sey, in welches der Autor nicht Abdrücke von sich gelegt und in welchem er nicht ein paar Linien von sich angebracht hätte [...] Der Schriftsteller ist fröhlich und guter Dinge, den Weg eineç so gut gewählten Incognito's eingeschlagen zu haben, auf welchem er, ohne irgend jemand mit seinem Ich zu beschweren und ins Gehege zu kommen, diese Lieblingsneigung, von sich selbst zu reden, die mit dem Lebens- und Erhaltungstriebe so nahe verwandt ist, befriedigen konnte. Wie oft hört man von dem reden, was dem Verfasser eigen ist! Vielleicht ist eben dieses Eigenthiimliche in den meisten Fällen eben das, was er aus sich selbst nahm. Jeder Mensch unterscheidet sich von andern. [...] Jeder ist anders, hat Etwas Individuelles [...].Da sehr wenige sich zu beobachten im Stande sind, so haben wir auch so wenig Fixsterne, die ihr eigenes Licht haben, so wenig Selbstlauter, die todte Buchstabe beleben [,..].(B 228 ff.)

Das Universum der Texte gliedert sich für Hippel nicht nach poetischen Regeln und Gattungen, sondern nach der Individualität der Autoren. Diese und nicht mehr die gemeinsamen Standards der Gelehrsamkeit zeichnen die Texte vor anderen aus: Nur wer in der Lage ist, die »philosophische Aufgabe« des »Nosce te ipsum«, die »schwerer als zehn pythagoreische Theoreme«(B 232) sei, zu lösen, kann seine Texte, die sonst »todten Buchstaben« glichen, dem lebendigen Geist unterstellen. So allgemein, wie Hippel für jeden Text die Präsenz seines Verfassers postuliert, beschreibt er auch das Instrument, das die Identität des Verfassers, der sich in jedem seiner Text zeige, wieder verhüllt: Er findet Hang zum Eigennutz und Eigendünkel, so daß, wenn er mit einem andern in Collision kömmt, er immer recht, der andere aber immer unrecht behält, und dieß demüthigt sein Herz. Und da er nebenher befürchten muß, es könnten denn doch Zeitgenossen wider ihn auftreten [...] so will er sich decken, so viel er kann.(B 232 f.)

Im Dienste individueller Selbstbehauptung fungieren alle dichterischen Texte für Hippel als Ent- und Verhüllungsinstrument zugleich. Genauso dient die Autobiographie gleichzeitig als Ent- und Verrätselungsmittel, indem sie zunächst alle Texte auf ihren Urheber zurückführt und damit sowohl die Schlichtegrollsche Autorsuche als auch die autobiograpische Dekodierung der fiktionalen Texte Hippels initiiert, um schließlich das Incognito und die Verhüllung des Autors durch seinen Text als Mittel der Selbsterhaltung zu legitimieren. Daß dem autobiographischen Schreiben einer Person, die bereits als Verfasser von Texten hervorgetreten ist, ein intrikates Verhältnis zwischen Verstecken und Verhüllen der eigenen Person etabliert, enthüllt in seiner vollen Komplexität jedoch erst Goethes eigene Lebensbeschreibung.

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B. Von Lesern und Lügnern: Die Konstruktion der Einheit von Leben und Werk in »Dichtung und Wahrheit« 1) Position und Funktion von Goethes Autobiographie im Rahmen der Gattungsgeschichte Die Autobiographie Johann Wolfgang Goethes, »Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit«, die der Autor seit 1809 plant und deren erste drei Teile zwischen 1811 und 1814 veröffentlicht werden, während der vierte und letzte Teil erst nach Goethes Tod erscheint, ist von der germanistischen Forschung zum Gipfel- und Wendepunkt nicht nur der deutschen Autobiographiegeschichte erhoben worden, an der sich die früheren und die nachfolgenden Beispiele der Gattung messen lassen müssen: »Dichtung und Wahrheit« schließt demzufolge nicht nur die Entwicklung von der pietistischen Selbstdarstellung bis zu den autobiographischen Zeugnissen von Jung-Stilling und Moritz ab, sondern eröffnet eine neue Epoche, deren Selbstbiographien im Hinblick auf Differenzen und Ähnlichkeiten zu »Dichtung und Wahrheit« beobachtet werden.120 Goethes Autobiographie wirft ihr Licht über Vorgänger und Nachfolger, weil es ihrem Verfasser vorbildlich gelungen sei, die Gesetze der Gattung zu etablieren und zu erfüllen; er postuliere und formuliere die Wechselwirkung zwischen Ich und Welt im Text überzeugend: Ob als Paradebeispiel der »hochbürgerlich-klassischen deutschen Autobiographie« 121 , ob als »Ziel und Höhepunkt der Gattungsentwicklung im 18. Jahrhundert«122, in dem die »Koinzidenz von Selbstund Weltdarstellung« erscheine, die von »Goethes Vorgängern höchstens im Ansatz erreicht« 123 worden sei, »Dichtung und Wahrheit« wird als norm- und ordnungsstiftende Instanz eingeführt, die die Konstruktion einer Gattungsgeschichte unter dem Oberbegriff >Autobiographie< erlaubt und zugleich einen Kanon autobiographischer Mustertexte aus dem zu vernachlässigenden Rest heraushebt. Die Behauptung, daß »Dichtung und Wahrheit« den »Übergang von der literarisierten Zweckform zur literarischen Form der Autobiographie«

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Martin Sommerfeld: Die dichterische Autobiographie seit Goethes »Dichtung und Wahrheit«. In: Die Ernte. Franz Muncker zum 70. Geburtstag. Hg. von F. Strich und H.H. Borcherdt. Halle/Saale 1926. S. 176-203. - Pascal, Die Autobiographie, S. 160. - Hans Mayer: Ein Weg zur Geschichte (Dichtung und Wahrheit). In: Ders.: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg. Frankfurt a.M. 1973, S. 108. - Ingrid Aichinger: Künstlerische Selbstdarstellung. Goethes »Dichtung und Wahrheit und die Autobiographie der Folgezeit. Bern/Frankfurt a. M./Las Vegas 1977. S. 10. 121 Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt a.M. 1970. S. 136. 122 Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie, S. 153. 123 Ebd., S. 158.

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vollzogen habe und daß Goethe »der erste und streng genommen sogar der einzige repräsentative Autor [,..](sei), der die Form aufgenommen hat«, führt konsequent zur Abwertung der anderen zeitgenössischen Autobiographen.124 Zudem beruht diese Behauptung auf einem normativ-idealen Autobiographiebegriff, der »Dichtung und Wahrheit« und seinen Verfasser zu Realisationen platonischer Ideen deklariert. Auch der Versuch, dagegen die Singularität dieses autobiographischen Textes zu betonen,125 entkommt nicht seinen ungeklärten Prämissen. Der durch Goethes Autobiographie explizit postulierte und vermittelte Zusammenhang von Leben und literarischem Werk ist in der Literaturwissenschaft lange Zeit als eine Selbstverständlichkeit vorausgesetzt worden, deren Funktion für den literarischen und literaturwissenschaftlichen Diskurs man nicht mehr zu klären braucht: Man glaubt an ihn, oder man leugnet ihn, doch es bleibt ungefragt, warum das Thema der Einheit von Leben und Werk eines Dichters in einem bestimmbaren historischen Moment und in einem bestimmbaren historischen Zusammenhang an seine zentrale Stelle gerät. Die Arbeiten, die sich mit »Dichtung und Wahrheit« im Zusammenhang der Gattungsgeschichte und im Kontext der Goethephilologie ausführlich beschäftigen, setzen, zu ihrer eigenen Legitimation, den Zusammenhang zwischen Goethes Leben und seinem Werk, das die Autobiographie einschließt, voraus, um die Qualität der Autobiographie an Eigenarten und Fähigkeiten der Person Goethes zurückzubinden: Seine umfassende Kenntnis der autobiographischen Tradition, seine ausführliche, aktive Beschäftigung mit den Problemen der Biographie und der Selbstdarstellung, seine Übersetzung der Autobiographie Benvenuto Cellinis sowie die ständige philosophisch-poetische Arbeit an der Problematik des Ichs, die durch die Übernahme naturwissenschaftlich-philosophischer Vorstellungen, etwa der Konzepte der »Entelechie« und der »Metamorphose«, den Zusammenhang zwischen Eigenem und Fremdem, Innerem und Äußerem zu beschreiben versucht, sowie sein fraglos profundes autobiographisches Methodenbewußtsein, das sich in einer Vielzahl von Reflexionen niederschlägt - all dies veranlaßt die literaturwissenschaftliche Forschung, dem Autor Goethe, der in allen Bereichen Höchstes leistet, auch die Spitzenstellung in der Gattungsgeschichte der Autobiographie zuzusprechen. Wo man Qualität finden will, da sucht man nicht vergebens. Wie es aber möglich und warum es notwendig ist, daß die Autobiographie bei Goethe zum ersten Mal konsequent als Vermittlerin zwischen Leben

124

So bleiben angeblich z. B. Schubart, Hippel, Weiße, Kotzebue »hinter dem Anspruch« zurück, »den die Form durch die Erweiterung ihrer Darstellungsmöglichkeiten gewonnen hatte.« Nach Müller, Autobiographie und Roman, S. 242. 125 So Pfotenhauer, Literarische Anthropologie, S. 162.

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und Werk eines Dichters und Schriftstellers eingesetzt wird, scheint einer eigenen Untersuchung nicht zu bedürfen. Wenige biographische Verweise scheinen auszureichen, um die persönlichen Krisenerfahrungen zu benennen, die Goethe zum Schreiben seiner Autobiographie veranlaßt haben: So werden u.a. der Beitrag Schillers zur Selbstobjektivierung Goethes, die Schwellenerfahrung seines 60. Geburtstages und die Bedrohung seines nichtpublizierten Werkes durch die Kriegsereignisse 1806 angeführt, 126 um die Entstehung von »Dichtung und Wahrheit« zu erklären. Daß damit die Autobiographie Goethes auf eben die Art und Weise erklärt wird, die erst mit und in »Dichtung und Wahrheit« etabliert wird, um die zuvor entstandenen Texte und Schriften Goethes zu entschlüsseln, bleibt unbemerkt. 127 Nur der >kalte< Blick der Abstraktion verspricht hier eine Erweiterung der Perspektive, denn er erlaubt, das kommunikative Bedingungsgefüge zu berücksichtigen, das einen Text wie »Dichtung und Wahrheit« ermöglicht: Die Autobiographie Goethes erhält ihre Bedeutung nicht dadurch, daß Goethe, wie jeder voraussetzt, der bedeutendste deutsche Autor ist und daß der Text selbstverständlich den großen Intentionen entspricht, die seinem Verfasser zugeschrieben werden können, sondern dadurch, daß diese Autobiographie explizit auf jene Probleme antwortet, die die veränderten Kommunikationsbedingungen des modernen literarischen Lebens für den Autor aufwerfen: Der expandierende Buchmarkt und das allgemeine, ständeübergreifende Lesepublikum, der zunehmende Verlust an Kontrolle über das, was mit den eigenen gedruckten und verkauften Texten geschieht, die Unwahrscheinlichkeit literarischer Anerkennung und des Nachruhms und vor allem der Funktionsverlust der poetisch-rhetorischen Ausbildung im Hinblick auf die eigene poetische Produktion, aber auch auf die Techniken der Lektüre, eröffnen ein neues Aufgabenfeld für die Dichterautobiographie. Daß und wie Goethe mit »Dichtung und Wahrheit« dieses Feld bestellt, macht die Bedeutung seiner Autobiographie aus und erklärt, warum ihr auch in dieser Arbeit ein prominenter Platz zugewiesen wird.

126 Vgl. Ursula Wertheim: Zu Problemen von Biographie und Autobiographie in Goethes Ästhetik. In: Dies.: Goethe-Studien. Berlin (DDR) 1968. S. 89-126. Hier S. 105. Müller, Autobiographie und Roman, S. 243 f. - Mayer, Der Weg zur Geschichte, S. 124. - Stephan Koranyi: Autobiographik und Wissenschaft im Denken Goethes. Bonn 1984. S. 159. Koranyis Arbeit geht aber sonst weit über das hier kritisierte biographische Erklärungsmodell hinaus, indem sie zeigt, wie Goethes Autobiographik Anteil bat an dem »Epochenumbruch«(S. 157), der sowohl das naturwissenschaftliche Denken als auch das Verhältnis von Autor und Werk gänzlich umorganisiert. 127

So Kurt Jahn: Dichtung und Wahrheit. Vorgeschichte - Entstehung - Kritik - Analyse. Halle a.S. 1908. S. III: »Dichtung und Wahrheit« soll als »eine Frucht des Goethischen Wesens« dargestellt werden. Vgl. auch S. 279 f.: »Der Ursprung seiner Dichtung liegt immer im eigenen Erlebnis (...), seitdem sich der Dichter in Leipzig in seiner Eigenart selbst gefunden hat«. - Vgl. auch Derek Bowman: Life into Autobiography. A Study of Goethe's »Dichtung und Wahrheit«. Bern 1971. S. 99.

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Mit diesem Text antwortet Goethe nicht nur, wie Stephan Koranyi 128 gezeigt hat, auf das Verschwinden der taxonomischen Klassifizierung in den Naturwissenschaften, 129 indem er autobiographische und biographische Texte als wissenschaîtsgeschichtliche Dokumente einführt, sondern auch und vor allem auf den Umbruch der literarischen Kommunikationsverhältnisse. Dies soll im folgenden ausführlich untersucht werden: Zunächst wird die Aufmerksamkeit dem Problem des literarischen Ruhms und dem damit zusammenhängenden autobiographischen Versuch gewidmet sein, die Kontrolle über die eigenen Texte zu Lebzeiten und postum zu gewährleisten. Im Anschluß daran und im engen Zusammenhang damit wird die Funktion der Autobiographie Goethes als neuartige Institution der Dichterbildung deutlich.

2) Autobiographien und Nekrologe - Schrift oder Leben Mit Herder teilt Goethe die Abneigung gegen die zeitgenössische Praxis, Nekrologe von Dichtern und anderen berühmten Männern in Sammelwerken zu publizieren: Herder hatte sich im 5. Humanitätsbrief von 1793 anläßlich des Erscheinens des ersten Bandes von Friedrich Schlichtegrolls Nekrologen im Jahr 1791 gegen das »unbestimmte Leichenlob« mit seinen »allgemeinen Ausdrükken«, »Allgemeinsätzen« und »Gemeinplätzen« 130 gewendet und trifft damit nicht nur die Tradition rhetorisch-formelhafter Panegyrik, wie man sie in barock-gelehrten Elogen und Leichengedichten vorfindet, sondern auch die »Charakteristiken« der Aufklärung, in denen die Personen im Sinne der abstrakt-rationalistischen Anthropologie der Wolffschen Schule durch vermögenspsychologische Merkmale beschrieben und identifiziert werden. Die Verwendung von erstarrten Topoi und abstrakt-allgemeinen Begriffen und Argumenten trägt für Herder wesentlich dazu bei, daß der Begriff »Todtenregister« ein »trauriger Name« ist: Laßt Todte ihre Todten begraben; wir wollen die Gestorbenen als Lebende betrachten, uns ihres Lebens, ihres auch nach dem Hingange noch fortwirkenden Lebens freuen, und eben deßhalb ihr bleibendes Verdienst dankbar für die Nachwelt aufzeichnen. Hiemit verwandelt sich auf einmal das Nekrologium in ein Athanasium, in ein Mnemeion. 131

128

Stephan Koranyi: Autobiographik und Wissenschaft, S. 108 ff. 129 Vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Der Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1976. S. 16 ff. 130 Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, Sämmtliche Werke, Bd. 17, S. 20. 131 Ebd., S. 19. Vgl. dazu Scheuer, Biographie, S. 14 f.

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Nekrologe sollen, in den Worten Schlichtegrolls, einen »Todtengarten« bilden, in dem die »Kenotaphe aller Verstorbenen« errichtet werden, »die uns der Erinnerung würdig scheinen und deren Beyspiel beleben und aufmuntern kann.«132 Doch unter der Vorherrschaft des rhetorischen, von topischen Allgemeinplätzen geprägten Foimularwesens, das für die gelehrte biographische Personenbeschreibung in Anspruch genommen wird, erscheinen die einzelnen nicht als Individuen, sondern als Mitglieder eines in der hierarchischen Gesellschaft genau situierbaren Standes. Ihre Nachwirkung über den Tod hinaus, d. h. die Lebendigkeit ihres »Verdienstes« und ihres »Andenkens«133 in der Gegenwart sicherzustellen, wird für Herder von diesen Nekrologen versäumt, weil das »Verdienst« eines einzelnen - das hatte Thomas Abbt in seiner Abhandlung über dasselbe Thema bereits angedeutet - nicht mehr in Abhängigkeit von der immer stärker obsolet erscheinenden Ständeordnung beschrieben werden kann.134 Auch die differenztheoretischen Bemühungen der »Charakteristiken«, die die nekrologische Personenbeschreibung auf Annahmen über die allgemeine Menschennatur gründen, verhindern, daB die von Identitätsannahmen abhängige lebendige Präsenz der dargestellten Person zutage tritt. Gegen die abgelehnte nekrologische Praxis führt Herder vor allem »eigne Biographien [...] merkwürdiger Menschen«135 ins Feld: Die Autobiographie ist Denkmal der Unsterblichkeit (»Athanasium«) und Erinnerungszeichen (»Mnemeion«); weil autobiographische Zeugnisse »einer Stimme aus dem Grabe« gleichen, in denen der Verstorbene »ein Testament [...] über sein eigenstes Eigenthum, über seinen edelsten Nachlaß« verfügt,136 fungiert die eigene Lebensbeschreibung als Prosopopöie, zwischen Absenz und Präsenz changierend.137 Goethes Angriff gegen die nekrologische Praxis zielt dagegen weniger auf die loci communes der Rhetorik und die abstrakten Konzepte der philosophischen Anthropologie, als vielmehr auf das neue, >bürgerliche< Konzept der Tugend. Die eindeutigen Attributionen von Tugenden und Lastern zu einzelnen Menschen versagen nicht nur als Instrumente der Lebensbeschreibung, sondern wirken darüber hinaus destruktiv und mortifizierend: Wie übel nehmen sich [...] jene Nekrolog» aus, die, indem sie das was Gutes und Böses, durch das Leben eines bedeutenden Menschen, von der Menge gewähnt und geklatscht worden, gleich nach seinem Verscheiden, emsig gegen einander stellen, seine sogenannten Tu-

132 friedlich Schlichtegroll: Vorrede. Nekrolog auf das Jahr 1790. 1. Hälfte. Gotha 1791. S. 34. - Vgl. dazu auch Scheuer, Biographie, S. 16. 133 Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, Sämmtliche Weite, Bd. 17, S. 19. 134 Abbt, Vom Verdienste, S. 281. 135 Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, Sämmtliche Werke, B& 17, S. 22. 136 Ebd^ S. 19. 137 VgL de Man, Autobiography as De-Facement, S. 919 ff.

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genden und Fehler mit heuchlerischer Gerechtigkeit aufstutzen und dadurch, weit schlimmer als der Tod, eine Personalität zerstören, die nur in der lebendigen Vereinigung solcher entgegengesetzten Eigenschaften gedacht werden kann. 138

Die Assoziation der Differenz von Gut und Böse, von Tugend und Laster mit dem pejorativ benutzten Begriff der »Menge« - häufig gebrauchte zeitgenössische Synonyme sind >Pöbel< sowie der >große Haufen< - macht die Perspektive der Goetheschen Polemik deutlich: Gegen die bürgerliche politische Kritik der Aufklärung, die im Namen der Tugend vorzugehen behauptet und von der Attacke gegen die Lasterhaftigkeit der Oberschichten lebt,139 die damit die gesellschaftliche Öffnung nach oben fordert, nach unten aber immer noch Abgrenzungen aufrichtet, setzt sich Goethe zur Wehr. Er lehnt das Urteil der »Menge« ab, das seine destruktive Energie in den Gewalttätigkeiten der Französischen Revolution gezeigt hatte, und setzt ihm die Auffassung einer individuellen Vermischung von Tugend und Laster in jedem Menschen entgegen. Jede Person ist für Goethe die Einheit von Oppositionen, die zerstört zu werden droht, sobald einseitige Zuschreibungen dominieren. Faßt man diese Befunde zusammen, so bemängeln Herder und Goethe an den Nekrologen den Vorrang von Abwesenheit und Schriftlichkeit vor Präsenz und Mündlichkeit. Die schriftliche Darstellung, die mit rhetorischen Formeln, später mit der Voraussetzung einer allgemeinen Menschennatur und nach einem fixierten Tugend- und Lasterkatalog das Leben des einzelnen festhält, tötet den Toten ein zweites Mal. Lebendigkeit und Anwesenheit dagegen können in einer schriftlichen Darstellung nur vermittelt werden, wenn man sowohl auf die rhetorischen Gemeinplätze als auch auf die reinliche Scheidung von Tugenden und Lastern verzichtet, die sich im lebendigen Menschen nie unvermischt zeigen. Wie Herder, der den doppelten Tod dessen beklagt, dem mit der postumen Biographie ein Denkmal gesetzt wird, und der statt dessen eine Erinnerung postuliert, die den Gegenstand der Beschreibung fiktiv lebendig macht, indem sie auf autobiographische, quasi-sprechende Zeugnisse zurückgreift, fordert auch Goethe dazu auf, die Nekrologe durch autobiographische Lebensbeschreibungen zu ersetzen: In einer Rezension der von S.M. Lowe herausgegebenen »Bildnisse jetzt lebender Berliner Gelehrter, mit ihren Selbstbiographien«, in denen sich das physiognomische Interesse des ausgehenden 18. Jahrhundert mit dem autobiographischen verbindet, unterscheidet Goethe zwischen zwei Arten der Autobiographie, der für die »Wissenden« und der für die »Nichtwissenden«:

!38 Brief an Zelter vom 29.5.1801. WA IV, Bd. 15, S. 231. 139 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a. M. 1973. S. 81 ff.

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Bei der ersten setzt man voraus, daß dem Leser das Einzelne bis zum Überdruß bekannt sei. Man denkt nur darauf, ihn auf eine geistreiche Weise, durch Zusammenstellungen und Andeutungen an das zu erinnern, was er weiß, und ihm für das zerstreut Bekannte eine große Einheit der Ansicht zu überliefern oder einzuprägen. Die andere Art ist die, wo wir, selbst bei der Absicht eine große Einheit darzustellen, auch das Einzelne unnachläßlich zu überliefern verpflichtet sind. Sollten zu unserer Zeit Männer, die über vierzig oder fünfzig Jahre im Leben stehen und wirken, ihre Biographie schreiben, so würden wir ihnen rathen, die letzte Alt in's Auge zu fassen. Denn [...} so ist unsere Zeit so reich an Thaten, so entschieden an besonderem Streben, daß die Jugend und das mittlere Alter, für die man denn doch eigentlich schreibt, kaum einen Begriff hat von dem, was vor dreißig oder vierzig Jahren eigentlich dagewesen ist. [...] In allen freien schriftlichen Darstellungen gehört Wahrheit, entweder in Bezug auf den Gegenstand oder in Bezug auf das Gefühl des Darstellenden, und, so Gott will, auf beides. [...] Aber wir ersuchen sämmtliche Theilnehmer, eine doppelte Pflicht stets vor Augen zu haben: nicht zu verschweigen was von außen, sei es nun als Person oder Begebenheit, auf sie gewirkt, aber auch nicht in Schatten zu stellen, was sie selbst geleistet, von ihren Arbeiten, von deren Gelingen und Einfluß mit Behaglichkeit zu sprechen [...]. 140

In diesem Text aus dem Winter 1805/1806 deutet sich bereits an, was Goethe in »Dichtung und Wahrheit« zu den Angelpunkten seiner eigenen Selbstdarstellung erklären wird: den expliziten Bezug auf das Publikum, den Zeitbezug, der die Autobiographie nicht zu einem allgemein-menschlichen oder einem ständebezogenen Exempel, sondern zu einem genuin historisch-individuellen Dokument der Unverwechsel- und Unvergleichbarkeit von Zeit und Person macht, sowie die Wechselwirkung zwischen Innerem und Äußerem, Eigenem und Fremdem. Darüber hinaus wird das fundamentale Spannungsverhältnis angesprochen, das zwischen der biographischen Version des eigenen Lebens, wie sie die anderen formulieren, und der autobiographischen Version der Lebensdarstellung besteht, so daß die Wahrheit über eine Person prinzipiell mindestens zweifach, jeweils perspektivisch gebunden, behauptet wird. Weil aber über den Gegenstand und über das Gefühl der beschriebenen Person, Wahrheit erzielt werden muß, wenn die Darstellung die Präsenz der beschriebenen Person vermitteln will, ist für Goethe die Selbstdarstellung die einzige Form der Lebensbeschreibung, die beide Arten von Wahrheiten in Einklang zu bringen erlaubt und ihren Verfasser lebendig erhält. Daß die biographisch-nekrologische Verzerrung durch eine Verzerrung der notwendig subjektiven Selbstdarstellung ersetzt wird, ist für Goethe keine Gefahr, sondern das Recht jedes einzelnen, den Verfälschungen durch die Nekrologe und Biographen die eigene Sicht entgegenzustellen. Biographische Fremddarstellung und autobiographische Selbstdarstellung leben in ihrer Polemik gegeneinander von der Behauptung, die jeweils andere Art der Lebensbeschreibung verfälsche die Wahrheit und nur sie

140 WA I, Bd. 40, S. 361-365.

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selbst dienten dem Erkenntnisgewinn, indem sie die Person durchsichtig machten und ihre Verhüllungen entfernten; daß das Geflecht der Verstellungen und Verfälschungen eine notwendige Folge der prinzipiellen Perspektivität aller, gerade auch der selbstbezüglichen Beobachtungen ist, wird bereits mit dem Titel der Autobiographie Goethes eingestanden und in die größte Stärke dieses Textes umgemünzt. Die Autobiographie Benvenuto Cellinis, mit deren Übersetzung sich Goethe seit 1796 beschäftigt, demonstriert, welch wichtige Rolle die autobiographische Lebensbeschreibung für die Sicherung des Nachruhms gerade auch eines bildenden Künstlers zu spielen vermag; seit Horaz wird der Schrift das Verewigungsmonopol zugeschrieben: »Seinen Nachruhm«, so Goethe, verdanke Cellini »fast mehr seinen Schriften, als seinen Werken«, 141 und er habe die Fähigkeit besessen, »durch die Feder seinem Leben und seiner Kunst fast mehr als durch Grabstichel und Meißel dauerhafte Denkmale zu setzen.«142 Den eigenen Ruhm hat Goethe bereits im Blick, wenn er in den »Confessionen des Verfassers«, die im Rahmen der »Materialien zur Farbenlehre« erscheinen, seine Laufbahn als Naturwissenschaftler zu beschreiben versucht. Seine Karriere als Dichter und Schriftsteller jedoch wird erst in »Dichtung und Wahrheit« zum Thema gemacht. Hier verselbständigt und entfaltet sich, was traditionell ein Element der Gelehrtenautobiographie war, nämlich die Liste und die Geschichte seiner Werke, zu einem Monument der Unsterblichkeit.

3) Goethes autobiographisches Programm Goethes in der Lowe-Rezension verbreitete allgemeine Aufforderung, Autobiographien zu verfassen, ergänzt und vervollständigt seine früheren, auf die Rolle des Dichters und Künstlers bezogenen Funktionsbestimmungen der Autobiographie. In der Sulzer-Rezension sowie im Aufsatz »Literarischer Sansculottismus« hatte Goethe ja, wie man sich erinnert, die Dichterautobiographien als Instrumente der Dichterbildung und der Publikumslenkung etabliert, ohne diese Funktion der Autobiographie bereits für den eigenen Fall auszunutzen und auf sich selbst anzuwenden. Dies geschieht erst in späteren Jahren, da ein beträchtlicher Teil des Goetheschen Gesamtwerks dem Publikum vorliegt und da der Autor im Zusammenhang mit der Herausgabe seiner Werke beginnt, »sich selbst historisch« zu werden. 143 Insbesondere das Vorwort zu »Dichtung und

141 142 143

Benvenuto Cellini, WA I, Bd. 44, 2. T., S. 370. Ebd., S. 361. HA 8, S. 465. - Vgl. auch den Brief an Schlosser vom 7.10.1814. WA IV, Bd. 25, S. 92: »(...) um mich in mir selbst historisch zu bespiegeln.«

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Autobiographik und Roman

Wahrheit« verknüpft Goethes eigene Lebensbeschreibung mit der Grundproblematik literarischer Kommunikation nach der Auflösung der gelehrten Kommunikation. Es greift die von Gottsched bekannte autobiographische Gepflogenheit der Gelehrten auf, die das Schreiben der eigenen Lebensgeschichte an die Bitte von Freunden knüpft, damit der Vorwurf der Eitelkeit und Unbescheidenheit keine Nahrung fíndet und die Autobiographie in die Kontinuität gelehrter Kommunikation eingebettet wird. Unter den komplexeren Bedingungen des modernen literarischen Lebens nimmt jedoch auch diese Gepflogenheit einen anderen Akzent an. Aus Freunden werden unterschiedliche unbekannte Leser. Der fiktive Brief eines solchen Lesers, den Goethe im Vorwort die Bitte um autobiographische Aufklärung äußern läßt, 144 formuliert eine Beobachtung, die für die zeitgenössische Goethe-Rezeption und -Wirkung typisch war: 145 Bereits mit seinen frühen Werken, deren Mannigfaltigkeit und Verschiedenartigkeit für das Publikum irritierend wirken, überfordert Goethe die gelehrte und die ungelehrte literarische Öffentlichkeit. Dem »Werther« fehlt die erwartete eindeutige moralische Stellungnahme, die Dramen »Götz von Berlichingen« und »Stella« unterscheiden sich untereinander mindestens ebenso sehr, wie sie sich von den bisherigen Beispielen und Mustern der Gattung abheben. Mit seiner frühen Lyrik, die sich zum Teil durch freie, reimlose Verse auszeichnet, fällt Goethe ebenfalls aus dem Rahmen und widerspricht den Erwartungen des gelehrten wie des ungelehrten Publikums. Sein zehnjähriges Schweigen zu Beginn seiner Weimarer Zeit, die Wiederaufnahme der Produktion mit den ganz anders gearteten Werken der >Frühklassik< sowie die erste Publikation »Gesammelter Schriften« ab 1787 bei Göschen setzt das Publikum erneut in Erstaunen: In seinen Werken erscheint Goethe als ein sich ständig wandelnder Autor, wie ein Proteus, der sich weder auf eine Gattung noch auf einen Stil oder einen Gegen-

144

Die Kommentare stimmen darin überein, daß Goethe an dieser Stelle nicht aus einem wirklich an ihn geschickten Brief zitiert, sondern daß er jene Wünsche und Stimmen zusammenträgt, die ständig an ihn gerichtet wurden. So hat z. B. Schiller, indem er Goethes Entwicklung analysierte und von ihm eine Chronologie seiner Werke erbat, die Selbstreflexion Goethes sicher enorm befördert. - Wenn Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie, S. 155 f., behauptet, mit der angeblichen Freundesbitte verweise Goethe auf die traditionelle pragmatische Künstlerbiographie, um die Überforderung der Leser durch die anschließende Engführung von Individual-, Literatur- und Weltgeschichte zu verhindern, so wird die Funktion der Autobiographie innerhalb der literarischen Kommunikation zugunsten eines inhaltlichen Aspektes unterschätzt. 145 Karl Robert Mandelkow: Der proteische Dichter. Ein Leitmotiv in der Geschichte der Deutung und Wirkung Goethes. In: Neophilologus 46, 1962, S. 19-31. Vgl. auch ders.: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes I. München 1975. Einleitung: S. XXV.- Vgl. dazu auch Mayer, Der Weg zur Geschichte, S. 127 f.

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stand festlegen läßt.146 Schließlich sprengen auch die Schriften zur Farbenlehre die Regeln und Gepflogenheiten wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Texte. 147 Und dennoch gibt es Verleger, die um die Ausgabe gesammelter Werke noch zu Goethes Lebzeiten konkurrieren und die aufgrund hoher Gewinnaussichten dem Autor die höchsten Honorare zahlen können. 148 Es sind die in der 1806-1808 von Cotta publizierten Werkausgabe versammelten, heterogen erscheinenden Texte, die für die Beschreibung der Funktion von »Dichtung und Wahrheit« eine zentrale Rolle spielen, denn auf die Einheit der Differenzen zwischen diesen Texten bezieht der fiktive Leser und Briefverfasser die Aufgabe der Autobiographie. Als Grundlage seiner Argumentation führt er die zwölf gleichformatigen Bände der Cotta-Ausgabe an: Während ihre Reihe den Eindruck eines »Ganzen« vermittelt, scheint der Verfasser der darin unter seinem Namen zusammengefaßten Texte zu verschwinden: Man kann sich nicht enthalten, diese zwölf Bände, welche in einem Format vor uns stehen, als ein Ganzes zu betrachten, und man möchte sich daraus gem ein Bild des Autors und seines Talents entwerfen. Nun ist nicht zu leugnen, daß für die Lebhaftigkeit, womit derselbe seine schriftstellerische Laufbahn begonnen, für die lange Zeit, die seitdem verflossen, ein Dutzend Bändchen zu wenig scheinen müssen. Ebenso kann man sich bei den einzelnen Arbeiten nicht verhehlen, daß meistens besondere Veranlassungen dieselben hervorgebracht, und sowohl äußere bestimmte Gegenstände als innere entschiedene Bildungsstufen daraus hervorscheinen, nicht minder auch gewisse temporäre moralische und ästhetische Maximen und Überzeugungen darin obwalten. Im ganzen aber bleiben diese Produktionen immer unzusammenhängend; ja oft sollte man kaum glauben, daß sie von demselben Schriftsteller entsprungen seien. 149

Unter der Annahme, die sich zur topischen Metonymie verfestigt hat, daß ein Autor so in seinen Werken erscheint, daß man ihn liest, wenn man seine Texte liest, 150 ergibt sich im Falle der Texte, die unter dem Eigennamen Goethe publiziert werden, die Konsequenz, daß dort ein rätselhafter Proteus erscheint, der nie derselbe bleibt. Einheit und Differenz von Autor und Werk bilden jetzt ein dringliches, brisantes Thema, da die Person des Verfassers als einzige Instanz übrig zu bleiben scheint, die einzelne dichterische Texte und Werke untereinander verknüpft und unter ihnen Kontinuität und Einheit herstellt. Sobald das Sy-

146 Mandelkow, Der proteische Dichter, S. 23 ff. 147 Zur Wirkung der Ablehnung der Farbenlehre auf Goethe vgl. Koranyi, Autobiographik und Wissenschaft, S. 127. 148 Vgl. jetzt Siegfried Unseld: Goethe und seine Verleger. Frankfurt a. M. 1991. - Vgl. Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk. Frankfurt a. M. 1987. Teil 2, S. 137 f. 149 HA 9, S. 7. Im folgenden werden die Zitate aus »Dichtung und Wahrheit« durch die eingeklammerten Seitenzahlen belegt; alle Zitate aus dem 10. Band der Hamburger Ausgabe außerdem durch die Angabe der Bandzahl. 150 Ovid, Tristia, 10, 1-2.

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stem der Gattungen, der Stilhöhen und der poetisch-rhetorischen Regeln seine Autoren und Leser bindende Kraft verliert, muß der Person des Verfassers von Texten ein neues Interesse entgegengebracht werden, das die bis dahin üblichen Gepflogenheiten der Gelehrsamkeit sprengt. Die proteusgleiche Wandelbarkeit gerät genau dann zur wesentlichen und problematischen Eigenart eines Dichters, wenn er in seinen poetischen Produkten als schöpferisches Genie oder als Mensch mit einer Vielzahl von Intentionen erscheint, aber nicht mehr als poetisch Handelnder, der mit seiner in den Texten demonstrierten Kunstfertigkeit den Anspruch erhebt, als gelehrter Dichter anerkannt zu werden. Dann reichen einerseits die gelehrten Lektüretechniken nicht aus, die Texte zu deuten und zu beurteilen, und andererseits stehen einem großen Teil des inhomogenen modernen Lesepublikums diese Techniken nicht zur Verfügung. An die Person des Verfassers wird die Bitte um einen Kommentar und autobiographische Aufklärung mit der Hoffnung adressiert, hinter dem permanenten, unbegriffenen Wechsel eine Einheit zu finden, die durch die Rückbindung der Texte an den Lebenslauf ihres Verfassers auch in den größten Differenzen noch Identität zu sehen erlaubt. Die Kategorie des Proteischen, die, statt an das rhetorische Konzept des aptum, an den Lebenslauf des Autors zurückgebunden ist, setzt ein neues Spiel der literarischen und literaturkritischen Kommunikation in Gang, bei dem einund derselbe dichterische Text gegensätzlich beurteilt werden kann, ohne daß die Kontinuität der Kommunikation selbst gefährdet wird. Wird ein Dichter in seinen Texten als wandelbar und instabil wahrgenommen, weil diese untereinander nicht mehr durch Regelbeachtung, Musternachahmung und Gattungscharakteristika verbunden sind, so müssen die Leser zwar mit immer neuen Überraschungen rechnen, können aber doch darauf bauen, daß die Werke, die unter seinem Eigennamen erscheinen, durch den Rekurs auf das Leben des Autors Einheit und Zusammenhang erhalten. Einheit und Zusammenhang der Texte gestatten eine strukturierte Fortsetzung der literarischen Kommunikation. Damit ist die Konstellation skizziert, die die Person des Autors Goethe als Garant der Einheit von Differenzen erfordert: Sobald die Texte nur noch durch den Eigennamen ihres Autors sowie durch das identische Format der Bände seiner Werkausgabe miteinander verbunden scheinen, müssen alle Leser auf ein neues ordnungs- und einheitsstiftendes Prinzip sinnen, das einzelne Texte einander zuordnet und miteinander verbindet. Leser, die nicht nur ein einziges Buch lesen, sind auf neue Standards des Vergleichs angewiesen, wenn sie keine gelehrte Ausbildung genossen haben und wenn sich das Gattungssystem und die Hierarchie der Stilhöhen verflüchtigt. Darüber hinaus begnügen sich die wenigsten Leser damit, Texte als Schöpfungen eines jeder Kritik enthobenen Genies zu bewundern, sondern weisen die Texte den Autoren als Handlungen zu, um ih-

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nen zugleich die Last der Verantwortung aufzubürden. Sich diesen Verantwortungszuschreibungen zu stellen oder zu entziehen, die eigenen Texte als Handlungen zu beschreiben und sichtbar zu machen, ist nur mit und in einer autobiographischen Lebensdarstellung möglich, die dem Autor das Recht des Erstkommentars seiner Schriften gibt. Damit der autobiographische Kommentar seine vielfaltige Aufgabe erfüllt, muß die Person des Autors als Genese einer unverwechselbaren Individualität beobachtet werden. Es reicht nicht mehr aus, sie durch gelehrte Standesmerkmale, zu denen traditionell auch die Reihe ihrer literarischen Werke zählt, zu beschreiben, sondern es müssen zusätzliche Faktoren eingearbeitet werden, ζ. B. die jeweils unterschiedlichen Kindheitserfahrungen, subjektive Lektüren, die außerhalb des gelehrten Unterrichts und seines Kanons stattfinden, sowie Orientierungen an Mustern und Personen, die aus der Perspektive der Gelehrsamkeit kontingent und im schlechten und verpönten Sinne autodidaktisch zu sein scheinen, die nun aber in die individuelle Lebenserfahrung eingebettet und als deren notwendige Teile erklärt werden. Die autobiographische Kommentierung moderner Texte greift auf Formularrubriken der Gelehrtenautobiographie zurück, um sie den neuen Bedürfnissen anzupassen und zu erweitern. Der Rekurs auf die Person des Autors, der nicht allein durch seine Texte, sondern durch sein Leben außerhalb der Texte charakterisiert wird, dient dazu, einem inhomogenen Lesepublikum neues Orientierungswissen an die Hand zu geben, mit dessen Hilfe aus dem Universum der Texte jene herausgehoben werden, die unter einem Autoreigennamen erscheinen; durch die Rückbindung an die Biographie des Autors kann Einheit, die diese Texte von anderen Texten unterscheidet, und Kontinuität, die sie untereinander verbindet, hergestellt werden. Dieses Orientierungswissen verzichtet auf die Kenntnis der antiken Muster und der Techniken der Rhetorik; es trägt somit der Tatsache Rechnung, daß eine neue Form der Ordnungs- und Zusammenhangsstiftung nötig wird, die auch den ungelehrten Lesern und angehenden Autoren zugänglich ist. Da diese ihrerseits ihre literarische Erfahrung vornehmlich den Romanen verdanken, die sich der Aufgabe zuwenden, das >Innere< eines Menschen zu zeigen, und zu denen die Autobiographie eine enge Affinität aufweist, ergibt sich eine Kongruenz zwischen den Leseerfahrungen und den neuen Verfahren zur Kontinuitätsstiftung, die zugleich im Dienste der Leserkontrolle und der Dichterbildung stehen.^

1S1 Mandelkow, Der proteische Dichter, nimmt den Rekurs auf die Person des Autors als selbstverständlich und universal hin und sieht nicht, daß Goethe als Vertreter eines neuen Dichter- und Autorentypus von einem neuen Publikum wahrgenommen wird, so daß die

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Weil, wie er im Hinblick auf die Wirkung des »Werther« schreibt, »Autoren und Publikum durch eine ungeheuere Kluft getrennt«(593) sind, verfaßt Goethe seine Autobiographie, um den Hiat von seiner Seite aus zu überbrücken und den kaum kontrollierbaren Bemühungen der »Freunde«, seine »Lebens- und Denkweise«(7) kennenzulernen, die eigene Version der Lebensgeschichte entgegenzuhalten. Die Forderung des fiktiven Lesers, daß sich ein Schriftsteller »mit denen, die eine Neigung zu ihm gefaßt, auch in die Ferne zu unterhalt e n « ^ ) habe und dazu vor allem autobiographische Mittel verwenden soll, beruht genauso auf der Prämisse, daß die Veröffentlichung eines autobiographischen Textes eine quasi-mündliche, dialogische und abschließbare Kommunikation befördere, um die durch die Schrift und die Anonymität des Marktes hergestellte Distanz zwischen Autor und Leser zu überbrücken, ungeachtet der Tatsache, daß der Text der Autobiographie seinerseits zu Deutungspluralität und Mißverständnissen führt: Der fiktive Leser hofft auf »ein Letztes«(8), auf einen Kommentar, der ein für allemal die richtige Lektüre der Werke Goethes festlegt. Doch für Autobiographien trifft das zu, was in einer späteren Passage von »Dichtung und Wahrheit« über Vorreden zu einzelnen Werken gesagt wird: »Denn je mehr man seine Absicht klar zu machen gedenkt, zu desto mehr Verwirrung gibt man Anlaß.«(593 f.) Auf die prinzipielle Deutungspluralität jedes, auch des autobiographischen Textes reagiert Goethe, indem er »Dichtung und Wahrheit« als Instrument, die eigenen Intentionen ein für allemal festzulegen, für unzulänglich erklärt und bereits 1815 in Erwägung zieht, daß es »über diese Confession eine zweyte, und über diese sodann wieder eine dritte, und so bis in's Unendliche bedürfe, und die höhere Kritik würde immer noch zu thun finden.« 1 5 2 Die in »Dichtung und Wahrheit« nicht mehr enthaltenen Lebensabschnitte werden in der »Italienischen Reise« und der »Campagne in Frankreich« beschrieben, kurze Aufsätze in der Zeitschrift »Über Kunst und Altertum« von 1823 sowie die »Annalen« oder »Tag- und Jahreshefte« füllen nicht nur die noch bestehenden »Lücken eines Autorlebens«(541) »als Ergänzung« seiner »sonstigen Bekenntnisse« 153 , sondern erörtern und beschreiben sogar die Entstehungsbedingungen der anderen autobiographischen Texte, so daß erfüllt wird, was Goethe in seinem Brief an Eichstädt dem Autobiographen als - infinite - Aufgabe gestellt hatte: Autobiographik in zweiter, dritter und infiniter Potenz. 154

Brisanz der biographischen und autobiographischen Lektüre, wie sie hier formuliert wird, undeutlich bleibt. 152 Brief an Eichstädt vom 29. Januar 1815, WA IV, Bd. 25, S. 179. i « HA 10, S. 429. 154 Vgl. dazu Koranyi, Autobiographik und Wissenschaft, S. 175 f.

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Goethe etabliert, mit Hilfe einer fiktiven Leserbitte, die Autobiographie eines Dichters als Poetik und Ästhetik neuer Art und überführt mit »Dichtung und Wahrheit« das in die Praxis, was er früher, an versteckten Stellen, bereits als Funktion autobiographischer Texte von Dichtern festgestellt hatte. Indem an den Autor Goethe die - fiktive - Aufforderung ergeht, selbst die Chronologie seiner Werke zu entwerfen und »sowohl die Lebens- und Gemütszustände, die den Stoff dazu hergegeben, als auch die Beispiele, welche auf Sie gewirkt, nicht weniger die theoretischen Grundsätze, denen Sie gefolgt, in einem gewissen Zusammenhange« den Lesern mitzuteilen,(8) wird die Autobiographie als Instrument literarischer Bildung eingeführt, ohne daß das egoistische Interesse ihres Verfassers sofort deutlich wird. Dies gilt in zweifacher Hinsicht: Sie dient den ungelehrten Nur-Lesern dazu, in den Texten die - autobiographische Wahrheit zu entdecken, und vermittelt den Auch-Schreibern unter ihren Lesern einen paradoxen Zugewinn an Orientierung: Sie zeigt ihnen, wie sie es nicht machen dürfen, wollen sie nicht als bloße Nachahmer fremder Vorbilder und Muster erscheinen, und sie zeigt ihnen, daß sie Goethe nur nachahmen können, indem sie, wie er, »von innen heraus leben [...], von innen heraus wirken.«155 Das Lernen von fremden Vorbildern ist nur dann noch legitim, wenn es sich letztlich selbstbezüglich vollzieht. Durch den Kunstgriff, einen fiktiven Leser die Kommunikationsprobleme zwischen modernen Autoren und Lesern aufzeigen und demonstrieren zu lassen, verbirgt Goethe die eigene Unsicherheit gegenüber seinem Leben und Werk. 156 Ebenfalls anläßlich des Erscheinens der Werkausgabe schreibt er nämlich 1808 an Zelter: Die Fragmente eines ganzen Lebens nehmen sich freilich wunderlich und incohärent genug neben einander aus; deswegen die Recensenten in einer gar eigenen Verlegenheit sind, wenn sie mit gutem oder bösem Willen das Zusammengedruckte als ein Zusammengehöriges betrachten wollen. 157

Nicht nur für die Rezensenten und Leser, sondern auch für Goethe selbst ergibt sich die Schwierigkeit, den inneren Zusammenhang zu belegen, den etwa das Format der Bände seiner Werkausgabe so augenfällig vermittelt.158 Da er bereits voraussetzt, daß die einzelnen Texte zwar nur Bruchstücke, aber doch 155

Noch ein Wort für junge Dichter, HA 12, S. 360. - Daß Goethe den eigenen dichterischen Anspruch nicht nur auf sich selbst beschränkt, sondern ihm Vorbildcharakter für angehende Dichter verleiht, übersieht Bernd Witte: Autobiographie als Poetik. Zur Kunstgestalt von Goethes >Dichtung und Wahrheit. In: Neue Rundschau 89, 1978, S. 384-401. Hier: S. 398. 156 Vgl. Müller, Autobiographie und Roman, S. 251. 157 Brief an Zelter vom 22.6.1808. WA IV, Bd. 20, S. 85. 158 vgl. Müller, Der Körper des Buchs, S. 203 ff.

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Teile des eigenen Lebens sind, geraten die Bemühungen der Leser und Kritiker in denselben Verdacht wie die Nekrologe, denen der einzelne mit seiner Version über das eigene Leben und Werk entgegentritt. Die Abneigung gegenüber den Nekrologen beruht ja nicht allein auf ihrem mortifizierenden Effekt, sondern auch auf der Tatsache, daß in ihnen unkontrollierbare Aussagen verbreitet werden, die der Betroffene nie oder nur streng von ihm selbst kontrolliert publiziert sehen will. 159 Die Selbstbeschreibung ist das einzige Mittel, solchen Entstellungen entgegenzutreten und die neugierigen Fragen der Leser im eigenen Sinne zu beantworten. Die hier als Altruismus verkappte Intention des Autobiographen, der den »Wünschen naher und ferner Freunde gemäß«, über seine »Gedichte irgend einen Aufschluß, von Lebensereignissen auslangende Rechenschaft zu geben« 160 behauptet und das Privileg der Selbsterkenntnis den anderen zugute kommen läßt, muß durch den Hinweis auf die Egozentrik jedes Autobiographen eingeschränkt werden, der sich bei Schriftstellern und Dichtern seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in ganz spezifischer Weise manifestiert. Es handelt sich nicht um einen unaufholbaren erkenntnistheoretischen Vorsprung, der den Autobiographen vom Biographen und Nekrologen trennt, sondern um jenes kommunikative Privileg, das dem, der »Ich« sagt, das Recht einräumt, als erster über sich zu sprechen und zu versuchen, die Kommunikation, die sich daran anschließt, zu beeinflussen und zu kontrollieren. Dieses Privileg setzt ein unendliches Spiel aus Wahrhaftigkeitsbeschwörungen des Autobiographen und Verdächtigungen der Leser in Gang, das nicht einmal der Tod des Verfassers beendet, weil sich - das zeigt das Beispiel Rousseaus - die Nachgeborenen in Verteidiger und Verächter des Autobiographen aufspalten, die gerade auch die Selbstdarstellung in ihrem Sinne deuten. Der Rang der Autobiographie Goethes besteht darin, daß diese Fallstricke der Selbsterkenntnis und der Selbstdarstellung sichtbar bleiben und daß darauf verzichtet wird, für die eigene Wahrheit den Rang der ganzen Wahrheit zu beanspruchen. Der resignative Hinweis Goethes im Vorwort zu »Dichtung und Wahrheit«, daß seine Konzeption der Autobiographie, die das Individuum als Ergebnis eines Wechselspiels von Eigenem und Fremdem, Innerem und Äußerem zeichnet, etwas »kaum Erreichbares«(9) fordert, wurde von der Forschung meist zugunsten einer harmonisch-organischen Konzeption der Entelechie und Metamorphose des Individuums weginterpretiert, um eine idealistisch-teleologische Konzeption von Individualität aufrechtzuerhalten. 161 Doch diese Bemerkung

!59 Vgl. dazu Müller, Autobiographie und Roman, S. 249, 258, 266. 160 Lebensbekenntnisse im Auszug, HA 10, S. 534. 161 Eva Stentzel: Der Entwicklungsgedanke in Goethes »Dichtung und Wahrheit«. BornaLeipzig 1936. (Diss. phil. Danzig 1934) S. 28 f. - Gerhart Baumann: Goethe:

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macht das doppelte Eingeständnis, daß der einzelne weder sich selbst noch seine Zeit vollständig erfassen kann und daß die Konzeption eines identischen, sich entwickelnden Individuums eine - notwendig - fiktive Reduktion enormer Komplexität ist: Dem einzelnen Individuum ist letztlich undurchsichtig, wie es war und wie es wurde, was es ist. Die Beobachtung der Vergangenheit des eigenen Ichs im Hinblick auf die Differenzen Eigenes/Fremdes und Inneres/Außeres ist unvermeidlich »perspektivisch^ 62 , weil sie vom jeweils aktuellen Zustand des einzelnen bestimmt wird, so daß die angestrebte »Wahrheit« über die eigene Person und über das aktuelle »Gefühl« 163 dieser Person im Hinblick auf sich selbst immer zugleich kontingente »Dichtung«, d. h. auch anders möglich ist: In Abkehr vom Rousseauschen Aufrichtigkeitsgestus und in Kontrafaktur zum Altruismus des Vorwortes schreibt Goethe in den »Tag- und Jahresheften« rückblickend auf »Dichtung und Wahrheit«: In diesem Sinne nannt' ich bescheiden genug ein solches mit sorgfältiger Treue behandeltes Werk: >Wahrheit und DichtungNeben< Goethe - Wordsworth's »The Prelude«

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mehr von früheren Eindrücken regiert und bestimmt werde.« Sie scheinen zu konkretisieren, »was mich so lange ganz umfangen, meine Existenz getragen hatte,«(HA 10, 150) und verhüllen es doch im selben Moment, da sie offenlassen, warum das, was im autobiographischen Bericht noch so positiv klingt, im Gedicht mit »des Gefängnisses Schmach« assoziiert wird. Die Metaphorik des ungebundenen Vogels im Kontrast zum »Gefängnis« provoziert eine Vielzahl von Interpretationen, und Goethe hütet sich, diese Pluralität auf eine singulare Deutung zu reduzieren. Mit der Einschaltung poetischer Texte in die Teile der Autobiographie, die besonders den Deutungs- und Meinungsstreit der Leser provozieren könnten, entzieht sich Goethe allen Versuchen, seine Dichtungen wie sein Leben zweifelsfrei zu erklären. Er setzt jenes hermeneutische Spiel in Gang, das die Texte durch das Leben und umgekehrt das Leben durch die Texte zu deuten versucht und koppelt sich damit von fremden Erwartungen, Vorschriften und Zuschreibungen ab. Dies nachzuahmen, ist die Lehre an junge Dichter, die, wie Goethe festlegt, »immer nur sich selbst« hervorbringen können. Zu lernen ist aus Goethes Autobiographie jedoch noch ein Zweites: Das autobiographische Ziel, bei Mit- und Nachwelt lebendig zu bleiben, erreicht der moderne Dichter durch die demonstrative Weigerung, sich und sein Leben als Letztsignifikate festzuhalten. Nur wenn die autobiographische Deutung der eigenen Texte ihrerseits verschlüsselt und damit deutungsbedürftig auftritt, indem der Unterschied zwischen Explanans und Explanandum nivelliert wird, ermöglicht sie das unendliche Unternehmen der modernen Klassikerinterpretation, für das Goethe und sein Werk in Deutschland nicht grundlos das Paradigma bilden.

C. >Neben< Goethe - Wordsworth's »The Prelude« Einzelding und Belegstück für eine These zu sein, ist das Schicksal aller hier vorgestellten Dichterautobiographien. William Wordsworths autobiographisches Epos »The Prelude« leidet sicherlich in besonderem Maße unter der hervorgehobenen Stellung der Goetheschen Autobiographie in dieser Arbeit, doch der theoretische Gesichtspunkt der Anordnung sollte Beobachtungen erlauben, die den Verlust an Prominenz aufwiegen. Daß das »Prelude«, mehrere Male erweitert und umgestaltet sowie zu einem großen Teil vor »Dichtung und Wahrheit« entstanden, 207 erst im Anschluß an Goethes Autobiographie vorgestellt 207

Die Wordsworth-Philologie unterscheidet 3 Fassungen, eine frühe Version enthält nur 2 Bücher und ist bereits 1799 fertiggestellt, eine zweite Version, nach der hier wegen der

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und knapp auf seine poesiedidaktische Funktion gemustert wird, darf daher nicht als Abqualifizierung verstanden werden: Die Besonderheit dieser Dichterautobiographie hinsichtlich unseres Themas zeigt sich eher in Ähnlichkeiten und im Kontrast zu Goethes eigener Lebensbeschreibung als in einer isolierenden Analyse. »Dichtung und Wahrheit« situiert sich mit seinem Vorwort im Spannungsfeld zwischen Lesererwartungen und auktorialer Textverantwortung. Dagegen entzieht sich die poetische Autobiographik Wordsworths, erst postum von der Witwe des Autors veröffentlicht, dem zeitgenössischen Publikum und seinen Orientierungsbedürfnissen. In Wordsworths versepischer Autobiographie ist nichts zu spüren von der Stiftung eines decodierenden Werkzusammenhanges, der von den desorientierten modernen Lesern so dringlich benötigt und von »Dichtung und Wahrheit« in paradigmatischer Manier geliefert wird. Die Einbettung der Autobiographie in einen Brief an den Freund Coleridge und die Einspannung des Textes in ein permanentes Selbstüberprüfungsprojekt des poetischen Ichs läßt die Funktion der Leserkontrolle gegenüber ihrer autodidaktischen Aufgabe und ihrer dichterbildenden Funktion in den Hintergrund treten. Die gesamte Autobiographik des »Prelude« präsentiert sich als dichterisches Exerzitium, das die traditionelle Poetik allen angehenden Dichtern empfiehlt, bevor sie sich an ehrgeizige Werke machen. 208 Diese Vorübung überprüft des Dichters poetische Fertigkeiten und vervollkommnet sie in der Praxis des Schreibens zugleich. Statt der gelehrten Autoritäten tritt hier, wie in anderen Autobiographien, die sich von der Gelehrsamkeit abzuwenden versuchen, der persönliche Freund in die Rolle des Richters über die Qualität des Dichters. Zudem läßt der Adressat Coleridge auf die traditionelle, bereits bei Gottsched und Goethe vermerkte Freundesbitte schließen, die das als eitel geltende Schreiben über sich selbst legitimieren muß. Daß das, was Wordsworth selbst als Einübung in die richtige Fühl- und Schreibweise seines geplanten dauerhaften Werkes - »a work that should endure«(Xni 298) - begreift, was seine Witwe demzufolge als paratextuelles >Vorspiel< klassifiziert, von der nachfolgenden Leserschaft als das eigentliche Monument und >Endspiel< des Wordsworthschen Schaffens und der gesamten romantischen englischen Poesie bestimmt wurde, ist eine besondere, aber nicht seltene Ironie der Literaturgeschichte. Die Entkopplung von Text und aktuellen zeitlichen Nähe zu »Dichtung und Wahrheit« zitiert wird, enthält 13 Bücher und ist 1805 zunächst abgeschlossen worden, und eine dritte Version mit 14 Büchern ist in ihren wesentlichen Teilen bis 1839 fertiggestellt. Sie wird 1850 von Wordsworths Witwe und seinen Nachlaßverwaltem publiziert Vgl. Stephen Gill (ed.): William Wordsworth. Oxford/New York, Oxford U.P., 1984. S. 727. (Alle nachfolgenden Belegangaben beziehen sich auf diese Edition, der die Version von 1805 zugrundeliegt.) 208 Vgl. dazu Kap. III, D.

>Neben< Goethe - Wordsworth's »The Prelude«

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Leserbedürfnissen, wie sie sich in der Publikationsgeschichte manifestiert, hat die Monumentalisierung des Autors zur Folge. Die Funktion der Dichterautobiographie, ihren Autor dadurch im Gedächtnis der Nachwelt zu verewigen, daß er seiner selbst gedenkt, erfüllt sich auch für Wordsworth, der doch >nur< ein poetisches Exerzitium absolviert hat. Andere Dichter zu unterrichten ist ebenso wenig Ziel des »Prelude«; dennoch enthält es didaktische Passagen, an denen die Dichter kommender Zeiten Orientierung finden können. Basis und Inbegriff der autobiographischen Selbstüberprüfung ist die aussichtslose Lage eines Dichters, dessen früh zu Tage getretene und vielversprechende Dichtungskraft an den großen Themen der alteuropäischen Epik zu versagen droht: »If my mind/ Remembering the sweet promise of the pasty Would gladly grapple with some noble theme,/ Vain is her wish; where'er she turns she finds/ Impediments from day to day renewed«.(I 137 ff.) Die der Dichtung würdigen Themen, Sagen aus der britischen Vorzeit, romantische Fabelstoffe, die auch schon der Meister Milton für die eigene Produktion in Erwägung zog, das Rittertum und dessen Gralsfahrten, historische Stoffe - all dies verdunstet unter der Sonne der strengsten poetischen Anforderungen, obgleich bereits eine Überprüfung der eigenen Fähigkeiten, wie sie jedem poetischen Adepten ziemt, vorausgegangen ist. Erst recht scheitert der anspruchsvolle Plan, ein philosophisches Lied zu verfertigen, das der Dichter ängstlich in die Jahre seiner zukünftigen Reife verschiebt. Allen Ausflüchten entronnen, muß sich das autobiographische Ich endlich der Einsicht stellen, daß es keinerlei gerechtfertigte Einsicht in sein eigenes poetisches Können besitzt: Thus from day to day/1 live, a mockery of the brotherhood/ Of vice and virtue, with no skill to part/ Vague longing that is bred by want of power,/ From paramount impulse not to be withstood,/ A timorous capacity, from prudence/ [...] This is my lot; for either still I find/ Some imperfection in the chosen theme,/ Or see of absolute accomplishments/ Much wanting, so much wanting in myself. (I, 238-266)

Damit ist das poetische Ich auf die Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Genie zurückgeworfen, die es allein durch sich selbst treffen muß. Wo die poetischen Meister, die anerkannten poetologischen Regeln fehlen, die über wahres und falsches, echtes und angemaßtes ingenium und damit über die legitime Zugehörigkeit zum Kreise der Dichter entscheiden, bilden das >Genie< und die poetische >Begabung< oder das >Talent< eine kriterienlose Selbstbeschreibungskategorie, die im Dienste der dichterischen Selbstbehauptung steht. Der Prozeß, zu einer Entscheidung über die Qualität der eigenen poetischen Begabung zu gelangen, die sich gut horazisch in einem monumentalen, überdauernden Werk manifestieren und beweisen muß, ist Gegenstand und erhoffte Rechtfertigung des »Prelude«.(XIII, 385 ff.) Die Versenkung in die eigene Lebensgeschichte fungiert so als jene selbstreferentielle Dichterbildung, die im

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Autobiographik und Roman

Zeitalter der Genies zum Standard wird. Wo »Dichtung und Wahrheit« das Sich-selbst-folgen des Genies, das allen Regeln und Meistern den Rekurs auf sich selbst vorschaltet, zum Thema des alternden, bereits erfolgreichen Autors Goethe macht, da ist das »Prelude« diese Selbstreferenz eines Autors, der sich als noch unvollkommenen Anfänger beschreibt: Im Prozeß des autobiographischen Schreibens enthüllt sich nämlich, daß der Rekurs auf sich selbst für den modernen Dichter die einzige unabdingbar einzuhaltende Regel ist Die Tatsache jedoch, daß sich das »Prelude« formal von der traditionellen Prosa der Autobiographie abwendet und statt dessen das Versepos aufgreift, das den höchsten Rang im traditionellen alteuropäischen Gattungssystem einnimmt, setzt bereits eine erfolgreich verlaufene Selbstprüfung voraus. Das an die Tradition Homers und Vergils, besonders aber an Milton gemahnende lange epische Gedicht mit seiner gehobenen Stilebene verzichtet auf die sonst mit der Prosagattung der Autobiographie einhergehende Demutsrhetorik, die die eigene Person als öffentlichen literarischen Gegenstand allererst legitimieren muß. Das autobiographische Ich erhält mit dem Aufgreifen dieser poetischen Form 209 eine Dignität, die es mit den Gegenständen der großen Epen des Abendlandes gleichsetzt und die unterstellt, daß die Entwicklung zum Dichter bereits erfolgreich verlaufen und repräsentativ zugleich ist. Die enorme Aufmerksamkeit für die eigene Person, die Wordsworth selbst als einzigartig und problematisch beschreibt, 210 wird mit der epischen Betonung ihrer anfänglichen, zu überwindenden Unvollkommenheit sowie mit der Adressierung an den interessierten Freund in eine labile Balance gebracht. Die eigentliche autobiographische Erinnerung an Kindheit und Jugend hebt mit einer rhetorischen Frage an. Nachdem dichterischer Selbstzweifel und Unfähigkeitsbeteuerung entfaltet worden sind, fragt sich das poetische Ich, ob alle positiven Kindheitseinflüsse vergebens gewesen seien: »Was it for this/ that one, the fairest of all rivers, loved/ to blend his murmurs with my nurse's song [...]?«(I 272) Der intensive Verweis auf die kleinsten Kindheitseindrücke, die auf die dichterische Begabung Einfluß nehmen, aber auch die Verfertigung und Existenz des »Prelude« selbst erzwingen die negative Antwort und enthüllen die 209 Zur Milton-Nachfolge und zu grundlegenden Aspekten der Intertextualität im Zeitalter der »anxiety of influence« jetzt: Robin Jarvis: Words worth, Milton and the Theory of Poetic Relations. London, MacMillan, 1991. 210 im Brief an Sir George Beaumont vom 1. Mai 1805: »a thing unprecendented in Literary history that a man should talk so much about himself. In is not self-conceit (...) that has induced (me) to do this, but real humility: I began the work because I was unprepared to treat any more arduous subject, and diffident of my own powers.« In: J. Wordsworth, M.H. Abrams, St. Giles (eds ): William Wordsworth. The Prelude 1799, 1805, 1850. Authoritative Texts, Context and Reception, Recent Critical Essays. New York/London 1979. S. 534.

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individualistische Rhetorik dichterischer Selbstüberprüfung. Umsonst können die Kindheitseindrücke des heimatlichen >Lakeland< nicht gewesen sein. Das Rauschen und Murmeln des Flusses Derwent, die Gipfel und Fells der Kindheitslandschaft bilden eine »fair seed-time«(1306) für den Geist des Dichters und begünstigen sein Wachsen, das freilich nicht als harmonistisch-organisch mißverstanden werden darf. Umsonst können nämlich auch die vielen kontingenten Abstecher, vor allem die Beteiligung an der Französischen Revolution, nicht gewesen sein, die zwar im nachhinein als Abwege vom Ziel markiert werden, aber in ihrer Serie genau das ausmachen, was Wordsworth schließlich als seinen eigentümlichen, unverwechselbaren Weg zu erkennen vermag. Aus der Freiheit des Dichters - »now I am free«(19) - folgt die Pflicht und die Chance, auch den willkürlichen Windungen des eigenen Lebenslaufes zu folgen. »[...] should the guide I chuse/ be nothing better than a wandering cloud,/ I cannot miss my way«(I 18 f.; Unterstreichung durch die Verf.). Dieses Ergebnis der poetischen Selbstüberprüfung muß er als petitio principii an den Anfang des »Prelude« stellen. Zwar soll das poetische Exerzitium des »Prelude« erst beweisen und konkretisieren, was hier vorausgesetzt wird, doch ist die Prämisse der unerschütterlichen Selbstsicherheit zugleich notwendig, um die Wahl der epischen Form zu rechtfertigen. Dieser unverfehl- und unverwechselbare Weg, einer wandernden Wolke nachfolgend, mündet in der besonderen Perspektive, die allen Dichtern jeweils eigen ist. Die Schilderung der Besteigung des Snowdon mit ihren unvorhergesehenen Ausblicken bildet nicht nur den zum epischen Höhepunkt ausgearbeiteten Kontext, um philosophische Thesen über die dichterische Produktivität und die Rolle der Natur zu formulieren, sondern fungiert auch als Sinnbild für die Konstitution einer selbstreferentiellen ateleologischen Dichterindividualität: Poets, even as Prophets, each with each/ Connected in a mighty scheme of truth, Have each for his peculiar dower, a sense/ By which he is enabled to perceive/ something unseen before [...]. (XII 301 ff.)

Umsonst aber kann vor allem die autobiographische Erinnerung und Vergegenwärtigung von Kindheit und Jugend nicht gewesen sein; sie feiert Wordsworth als Produktionsbasis für den modernen Dichter, dem keine Meister und Muster mehr zur Verfügung stehen. In mehr als einer Zeit lebt der Dichter; in ihm lagern sich verschiedene Vergangenheitsschichten ab, die er im eigenen Werk allesamt zu vergegenwärtigen sucht: Wordsworths Konzept der »spots of time«(XI 258), in denen plötzlich, die zeitliche Kontinuität aufbrechend, eine belebende Kraft den einzelnen durchströmt, ist unauflöslich mit dem Begriff der Erinnerung verknüpft. Frühere und jetzige Erlebnisse verbinden und verstärken sich: Die Erinnerung an jugendliche Ratlosigkeit, ohne Führer auf einsamem

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Autobiographik und Roman

Moor auf die Hinrichtungsstätte eines Mörders zu stoßen, und an die Erleichterung, schließlich ein Mädchen in der alltäglichen Verrichtung des Wasserholens zu beobachten, verbindet sich mit aktuellem Empfinden zu einem Glanz auf Gegenseitigkeit. »And think ye not with radiance more divine/ From these remembrances, and from the power they left behind [...] this I feel y That from thyself it is that thou must give [...] I would enshrine the spirit of the past for future restoration.«(XI324-343) Suche und Wiederfinden der verlorenen Zeit sind die Prämissen der eigenen Produktivität ebenso wie die Suche nach der eigenen Identität, die sich für Wordsworth in der Rolle des Dichters manifestiert. 211 Sie wird zurückgebunden an die unverwechselbar eigene Erfahrung, während Bücher und Studium, imitatio und agon eine der Selbstreferenz untergeordnete Rolle spielen.(XII 205 ff.) Nur damit Zirkularität und Tautologie als typische Konsequenzen dieser Selbstreferenz nicht zu deutlich zutage treten, damit etwas zu erzählen bleibt, muß ihnen durch Metaphern linearen, harmonischen Wachstums und konsequenter Entwicklung gegengesteuert werden. 212 Gleichwohl ist auch für den Fall des »Prelude« zu konstatieren, daß die Einfügung von Teleologie nur als Effekt basaler Kontingenz zum Tragen kommt. Die erfolgreiche, konstruktive Konstitution von poetischer Identität läßt die moderne Befreiung von vorgegebenen Rollen, die die Suche nach Identität notwendig macht, um so deutlicher hervortreten: »I love a public road: few sights there are/ That please me more; such object hath had power/ O'er my imagination since the dawn of childhood, when its disappearing line,/ Seen daily afar off, on one bare steep/ Beyond the limits which my feet had trod,/ was like a guide into eternity,/ At last to things unknown and without bound.«(XII 145 ff.) Dem autobiographischen Ich eröffnet sich nun eine offene, aber auch ungesicherte Zukunft; eine Identität muß es in seinen jeweils neu und anders ausgestalteten Rollen finden. Nur der Blick auf sich selbst, auf die kontingente, aber irreversible Vergangenheit läßt diese Unsicherheit ertragen, und das lernt nicht nur Wordsworth, sondern auch seine spätere Leserschaft.

2 U Zu Tradition und Rolle der Erinnerung vgl. jetzt Aleida Assmann: Die Wunde der Zeit. Wordsworth und die romantische Erinnerung. In: Memoria - vergessen und erinnern. Poetik und Hermeneutik 15. Hg. von A. Haverkamp und R. Lachmann. München 1993. S. 359-382. - Vgl auch Thomas MacFarland: I cannot paint What then I was: The Psychological Structure of Wordsworthian Intensity. In: Ders.: William Wordsworth. Intensity and Achievement. Oxford 1992. S. 57-88. 212 Vgl. Richard J. Onorato: The Character of the Poet. Wordsworth in The Prelude. Princeton, Princeton U.P. 1971. S. 17 ff. - M.H. Abrams: The Design of the Prelude. Wordsworth' Long Joumey Home. In: J. Wordsworth, M. H. Abrams, St. Giles (eds.), S. 585-598.

>Nach< Goethe

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D. >Nach< Goethe Die Wirkung der Goetheschen Autobiographik beschränkt sich nicht nur auf die Literaturwissenschaft, sondern erstreckt sich selbstverständlich auch auf die autobiographische Praxis. Die Autobiographik des 19. Jahrhunderts ist in Deutschland samt und sonders, in Imitation und Widerspruch, durch »Dichtung und Wahrheit« geprägt. Als Beispiel für die imitativen Texte sei Johann George Scheffners »Mein Leben« genannt: Wie Goethe schreibt auch der als Freund von Kant, Hamann und Hippel bekannt gewordene Kriegsdichter Johann George Scheffner die Motivation für seine Autobiographie der Abwehr nekrologischer Verfälschung zu: Kann nicht Schlichtegroll [...], dem Du bey Gelegenheit des Hippeischen Lebens im Nekrolog bekannt geworden bist, auf den Einfall kommen, auch Dir eine Stelle unter seinen Leichen anzuweisen? Und könnte dann nicht in einer etwanigen Unterhaltung über Dich manches Unrichtige von Dir gesagt werden? Diese Fragen brachten mich im Herbst 1801 auf den Gedanken, auch in dieser Hinsicht mein Haus zu bestellen und selbst einige Bogen über das wenn, wie, wo und mit wem ich gelebt habe, aufzuzeichnen.^

In der Vorrede und im Text seiner Autobiographie führt Scheffner mit ausgiebigen Zitaten sowohl die gesamte autobiographische Tradition als auch die kritischen Reflexionen über das Schreiben von Autobiographie an, die ein Zeichen übermäßiger »Eigenliebigkeit« sei.(ML IV) In einer ausgedehnten captatio benevolentiae versucht er im Gegenzug, sein Vorhaben durch eine rousseauistische »unaussprechliche Wahrheitsliebe«(ML V) zu rechtfertigen. Als Abschluß, aber ohne weitere Erläuterung, fügt er ein langes Zitat der GoetheRezension über Lowes »Bildnisse jetztlebender Berliner Gelehrter« ein, in der dieser, wie an früherer Stelle beschrieben wurde, das Schreiben von Autobiographien nicht nur legitimiert, sondern angesichts der sich immer schneller wandelnden Zeitverhältnisse fordert Durch weitere, meist ohne Zusammenhang eingefügte Zitate und Verweise ordnet sich Scheffner zwar in die Tradition der großen autobiographischen Vorbilder wie Montaignes »Essais« und Rousseaus »Confessions«, vor allem in die Nachfolge von »Dichtung und Wahrheit« ein, auf die er sich selbst mit seiner jugendlichen Telemach-Lektüre beruft(ML 28 f.), doch bleibt dies ohne Konsequenz für die eigene Autobiographie. Der Rekurs auf Goethe und andere prominente Autobiographen dient nämlich lediglich der Absicherung durch anerkannte Autoritäten, nicht der grundsätzlichen Reflexion auf die Bedingungen des autobiographischen Schrei-

Johann George Scheffner: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Königsberg 1821. Zitate werden im folgenden durch ML und Seitenzahl belegt.

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Autobiographik und Roman

bens. Ein Hinweis auf den Bestand der autobiographischen Tradition legitimiert neben der Furcht vor Nekrologen das Schreiben der eigenen Lebensgeschichte, während die traditionelle angeführte Freundes- oder Leserbitte fehlt. Auf diese Weise versäumt es Scheffner, die kommunikative Rolle seiner Autobiographie genauer festzulegen. Die Schilderung der Dichter(aus)bildung rekurriert zwar auf eine ungelehrte Dichtungspraxis, knüpft aber an die Gepflogenheiten der traditionellen Gelehrtenautobiographie an. Improvisationen und Gelegenheitsgedichte sind die erste öffentliche Probe seiner poetischen Fähigkeiten, »jener Unbekanntschaft oder vielmehr der Unversuchtheit mit und in der deutschen Reimschmiederey ungeachtet.«(ML 27) Der traditionelle Unterricht in der lateinischen Dichtkunst(ML 60), der Beifall gelehrter Autoritäten sowie die Lektüre der »damals besten Dichter der Deutschen und Franzosen« werden als förderlich für sein spätere dichterische Praxis beschrieben,(ML 62 ff.) ohne daß die Rubriken des autobiographischen Formulars ausführlich gefüllt werden. Scheffners ehrgeiziger Versuch, seine Autobiographie in eine Reihe mit Goethes »Dichtung und Wahrheit« zu stellen, scheitert aber vor allem deswegen, weil er an keiner Stelle die poetische Praxis unter Bezug auf das eigene >Innere< schildert, so daß nie etwas von jener permanenten dichterischen Selbstreferentialität zu spüren ist, die Goethes Herstellung einer Verbindung zwischen Leben und Werk prägt Vielfältiger und komplexer als Scheffners bloß evozierender Rekurs auf »Dichtung und Wahrheit« fällt Jean Pauls Auseinandersetzung mit Goethes Autobiographie aus. Sie beruht auf autobiographischen Plänen und Vorarbeiten, die noch nicht von »Dichtung und Wahrheit« beeinflußt sein können, während Goethe umgekehrt die fragmentarische »Selberlebensbeschreibung« Jean Pauls vermutlich sofort nach ihrem postumen Erscheinen 1826 zur Kenntnis genommen hat. Die »Selberlebensbeschreibung« entsteht 1818/19 auf der Grundlage einer Vielzahl autobiographischer Notate, die die Grundlage für eine autobiographische Entschlüsselung seiner Romane abgeben sollten: Jean Pauls ursprünglicher Plan um die Jahrhundertwende bestand darin, seinen »opera omnia« in der Gestalt eines fiktiven, selbstverfaßten Nekrologs die eigene Lebensgeschichte voranzustellen. 214 Die »Selberlebensbeschreibung« ist dagegen als Vorlesungsreihe eines »Professors der Geschichte von sich« 215 konzipiert und soll die Reihe von Jean Pauls literarischen Werken dadurch vervollständigen,

214 Vgl. dazu den Kommentar von Norbert Miller zur »Selberlebensbeschreibung« in: Jean Paul: Sämtliche Werke. Bd. 6. München 1963. 215 Jean Paul: Selberlebensbeschreibung. In: Sämtliche Werke. Bd. 6. München 1963. S. 1039.

>Nach< Goethe

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daß sie in einem Band mit dem Roman »Der Komet« als Parallelbiographie zur Geschichte des Apothekers Marggraf erscheint. Jean Pauls Autobiographie erfüllt damit wie Goethes »Dichtung und Wahrheit« die Rolle, einerseits den eigenen Werken das eigene Leben als einheit-, bedeutung- und zusammenhangstiftendes Prinzip zu unterlegen und andererseits die Reihe der eigenen Werke zu vervollständigen. Daß damit die Differenz von Lebensbeschreibung und Werk eingeebnet wird, ist eine Konsequenz, die Goethe und Jean Paul ziehen, um den neugierigen Blick der Leser auf den Zusammenhang von Leben und Texten, der diese Differenz benötigt, zu verstellen. Die »Selberlebensbeschreibung« reagiert auf die Gefahr biographischer und nekrologischer Verfälschung, indem sich der Autor als Geschichtsschreiber seiner selbst positioniert und damit das Recht des Autors, als erster von sich selbst zu sprechen, ausübt. Jean Paul parodiert Goethe nicht nur durch die Beschreibung seiner Geburt, die die Koinzidenz von Dichtergeburt und Frühjahrsbeginn ironisch feiert, sondern auch, indem er bereits einen »künftigen Lebensbeschreiber« in Aussicht stellt, der dem »Professor der Selbergeschichte«216 für die von ihm vermittelten »autobiographischen Züge« dankbar ist.217 Während Goethe vorgibt, für die zeitgenössischen Leser zu schreiben, unterstellt Jean Paul bereits ein postumes Interesse an seinem Leben und demonstriert damit ironisch ein poetisches Selbstbewußtsein, das selbst Goethe in »Dichtung und Wahrheit« nicht an den Tag zu legen gewagt hat. Viel deutlicher und vermutlich auch früher als bei Goethe ist in Jean Pauls »Selberlebensbeschreibung« zu beobachten, wie die autobiographische Aufklärung über die eigenen Werke in eine weitere Verschlüsselung umschlägt. So verzichtet der autobiographische Professor auf die Beschreibung von »Pauls Weihnachtsfest« mit der Begründung, das »in Pauls Werken Gemälde davon« vorhanden seien, »die ich am wenigsten übertreffen kann.« 218 Passagen aus »Quintus Fixlein« oder den »Flegeljahren« werden damit zwar zu Verarbeitungen von Kindheitserlebnissen erklärt, aber nicht im einzelnen gedeutet. Statt dessen fungieren sie ihrerseits als autobiographische Beschreibungen der Kindheitserfahrungen und werden damit zu Teilen jenes Textes, durch den sie eigentlich entschlüsselt werden sollten: Die kindlichen Studien der hebräischen Sprache, das Exzerpieren und Kompilieren aus hebräischen Sprachlehren wird durch den Hinweis auf eine Passage aus dem Roman »Quintus Fixlein« erläutert:

216 Ebd., S. 1050. 217 Ebd., S. 1083. 218 Ebd., S. 1084.

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Autobiographik und Roman

Was noch von des Quintus Fixlein Treibjagd in einer hebräischen Foliobibel nach größern, kleinen, umgekehrten Buchstaben (im ersten Zettelkasten) geschrieben steht, ist wörtlich mit allen Umständen auf Pauls eignes Leben anzuwenden. 21 *

Da Jean Paul selbst auf die Einfügung von Zitaten aus den angesprochenen Texten verzichtet, entsteht eine Lücke, die nur durch die Lektüre der Romane selbst gefüllt werden kann. Jean Paul empfiehlt so seine Romane, die vielfach durch die Einführung des Autors als Romanfigur »Jean Paul« eine biographische Lektüre nahelegen, an Stelle der Autobiographie und braucht so die Autobiographie nicht zu beenden; die Zusammenhangstiftung durch den Rekurs auf die Person des Autors funktioniert auch ohne autobiographische Bedeutungsstiftung und eröffnet wie Goethes »Dichtung und Wahrheit«, jedoch weniger erfolgreich, das unendliche Interpretationsspiel. 1813 publiziert C. Α. H. Clodius die Autobiographie des Schriftstellers Johann Gottfried Seume, der den zeitgenössischen Lesern vor allem durch den »Spaziergang nach Syrakus« bekannt geworden ist. Da der Tod Seumes Arbeit an der Autobiographie abbricht, wird sie durch seinen Freund, den Philosophen Clodius, biographisch zu Ende geführt. Ohne daß eine direkte Einflußnahme vorliegt, läßt sich ein größerer Kontrast zu Goethes Autobiographie »Dichtung und Wahrheit«, deren erste Teile zwei Jahre zuvor erschienen waren, auf inhaltlicher wie auch auf formaler Seite nicht denken. Der sarkastisch-kritischen Lakonie Seumes steht die epische Breite Goethes entgegen, dessen Legitimationsnöte überall zu spüren sind. Seume dagegen stellt sich als Individuum dar, das trotz aller mißlichen und erniedrigenden Lebensumstände mit sich selbst im reinen ist und sich, dank seiner stoischen Grundeinstellung, nicht sonderlich wichtig zu nehmen braucht. Gleichwohl ist die kommunikative Ausgangssituation für das Schreiben der Autobiographie bei beiden Autoren vergleichbar. Im Anschluß an den Hinweis, daß er den Vorschlag eines Buchhändlers, eine »psychologische Geschichte« seiner »Bildung« zu schreiben, abgelehnt habe, weil diese »Spekulationen« sowohl wider sein »Wesen« als auch auf seine »Kosten« gingen und außerdem nur »allgemeine Wahrheiten« vermittelten, die »die eine Hälfte längst weiß und die andere Hälfte nicht wissen will« 220 , rekurriert Seume ganz ähnlich wie Goethe auf die Bitte von Freunden und Bekannten, seine Lebensgeschichte zu publizie-

219 Ebd., S. 1090. 22 Johann Gottfried Seume: Mein Leben. Nebst Fortsetzung von C. Α. H. Clodius. Mit einem Nachwort von G. Birkenfeld. Stuttgart 1961. S. 3. Die Zitate aus dieser Ausgabe werden im folgenden durch eingeklammerte Seitenzahlen belegt.

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ren, und wendet sich zugleich gegen die Biographen, die sich seiner nach dem Tode annehmen könnten: Schon Herder, Gleim, Schiller und Weiße und mehrere noch Lebende haben mich aufgemuntert, nach meiner Weise die Umstände meines Lebens, das sie wohl für wichtiger hielten, als es war, schriftlich niederzulegen. [...] Mehrere meiner Freunde droben mir, [...] daß ich auf alle Fälle einem Biographen doch nicht entgehen würde; und da fürchte ich denn, einem Sudler oder Hyperkritiker oder gar einem schalen, geschmacklosen Lobpreiser in die Hände zu fallen.(3)

Die Autobiographie Seumes stellt sich damit in das gleiche kommunikative Bedingungsgefiige, in dem auch Goethes eigene Lebensbeschreibung angesiedelt ist. Die Neugierde richtet sich auf die Autoren, sobald ihre Texte und der Umgang mit ihnen den Rahmen der gelehrten Schreib- und Lesegepflogenheiten sprengen: Das Interesse der Leser gilt vor allem deshalb der kompletten Lebensgeschichte des Autors Seume, weil seine bisherigen Buch Veröffentlichungen, »Der Spaziergang nach Syrakus« und »Mein Sommer 1805«, die Darstellung der Reise durch Rußland, Finnland und Schweden in Begleitung des russischen Konsuls Schwarz, bereits außergewöhnlich autobiographisch geprägt und rezipiert worden sind.221 So urteilt etwa Clodius über den letzten Text: »Und er hat auch dieses Werk benutzt, um das Leben seiner Seele ohne Schleier darzustellen.«( 139) Damit spielt er auf Seumes Bemerkung im »Spaziergang« an, »daß fast jeder Schriftsteller in seinen Büchern nur sein Ich schreibt.«222 Weil, so Clodius in der »Fortsetzung«, seine »übrigen Schriften den Mann« zeigen, präsentiert die Selbstbiographie »seine Jugend«(99); sie wird damit als notwendiger Bestandteil eines biographisch-autobiographischen Mosaiks eingeführt und auf der gleichen Ebene wie seine übrigen Schriften angesiedelt Nicht nur gegen Kritik und Lob der Biographen, sondern auch gegen die anthropologischen Spekulationen einer Bildungsgeschichte, die die Lebensdetails im Rückblick unter Verweis auf ein komplexes Inneres des Menschen verknüpft und die Person aus ihrer Vergangenheit erklärt, setzt Seume die »redliche Unbefangenheit und Kraft« des Autobiographen, »sich zu zeigen, wie er ist.«(4) Anders als Rousseau habe er nur »Torheiten«, aber keine »Schlechtheit« zu »beichten« und verbinde deshalb mit seinem Leben und Schreiben die Hoffnung, daß die »Erzählung« davon »unterhält und vielleicht hier und dort die Jugend belehrt.«(4) Aus seinen persönlichen Eigenschaften

221

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Vgl. dazu Inge Stephan: Johann Gottfried Seume. Ein politischer Schriftsteller der deutschen Spätaufklärung. Stuttgart 1973. S. 6. Vgl. auch Müller, Autobiographie und Roman, S. 208 f. Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Nördlingen 1985. S. 7.

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leitet er ab, »ehrlich und offen« zu erzählen, »ohne mich zu schonen«, doch »mit dem Selbstgefühl inneren Werts«(4). Die Rückbindung autobiographischer Textualität an persönliche Qualitäten wird von Seume im Anschluß an Rousseau als eine voraussetzungslose, unabsichtliche und nichtrhetorische Signifikation konzipiert: Alles, was von ihm öffentlich bekannt wird, soll das »Gepräge« seines Wesens tragen, das durch »Unbefangenheit und Kraft«(4) gekennzeichnet wird, ohne daß die intentionale Herstellung, seine Rhetorik der Nüchternheit, des Sarkasmus und der Lakonie, in den Blick geriete. Die Art und Weise aber, wie Seume in vielen seiner Texte explizit auf antike Vorbilder rekurriert und sentenziose Zitate anführt, die diese Kunst der Kunstlosigkeit unterstützen, macht gerade das Absichtliche und Künstliche seines Textes sichtbar. Das argumentative Fundament seiner Autobiographie und der darin enthaltenen Darstellung seiner dichterischen Bildung findet sich in der immer wiederkehrenden Behauptung, er, Seume, sei ein »halber Hurone«(26) und von »otaheitische(n) Sitte(n)«(37), ein unbeugbares Naturkind, das die Politur der Gelehrsamkeit zwar schmückt, das aber weder durch Erziehung noch durch äußeren Zwang von seiner naiven Redlichkeit abgebracht werden kann. Analog zu Rousseaus >Blödigkeit< wird hier ein individuelles Defizit in eine Tugend umgemünzt. Dieser Selbstdarstellung entsprechend wählt Seume aus dem Fundus der Gelehrsamkeit, der ihm durch den traditionellen Schulunterricht vermittelt wird, seine Lieblingsautoren aus. Nicht so sehr die Poeten, als vielmehr die Geschichtsschreiber und Philosophen sind seine Gewährsmänner und Vorbilder: Eine Sammlung lateinischer Sprichwörter dient zur ersten poetischen Übung, indem sie der junge Seume ins Deutsche übersetzt und ihre Sentenziosiät zu erhalten versucht.(27 f.) Auf der Schule werden die traditionellen Methoden des Poesieunterrichts angewendet: Die poetischen Übungen bestehen aus Amplifikation, Parodie und Versifikation: Der Rektor versetzt »ein Pensum eigener oder fremder Verse in Prosa«, diktiert diese und verlangt sie in Versen zurück. Das Spielwerk war zu leicht und ununterhaltend. Ich pflegte da oft einen Sprung zu machen und die Verse anders aufzubauen, als sie wohl mochten gewesen sein; darüber mußte meine voreilige Weisheit manchmal leiden. Zuweilen mochte ich auch wohl die Verse verdorben haben: das liegt nun so in der Natur: man stolpert lieber über Felsen, als daß man immer auf gleichem Wege fortschleichL(38 f.)

Zwar möchte man hier den Spaziergänger nach Syrakus sprechen hören, der ebenfalls die gebahnten Wege verschmäht, doch darf nicht übersehen werden, daß Seume auf eine traditionelle Bildlichkeit zurückgreift, die die poetischen Regeln und Muster mit Wegweisern und die gesamte Poesie als ein Feld mit gebahnten und ausgeschilderten Wegen identifiziert, wo der poetische Anfänger,

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der dieses Gebiet betritt, gut daran tut, sich an die bereits begangenen, bekannten Wege zu halten. Daß der erwachsene Seume den Jüngling das Stolpern über Felsen dem Schleichen über langweilige Wege vorziehen läßt, ist ein durchaus übliches rhetorisches Mittel, die eigene jugendliche Widerspenstigkeit und deren Gefahren eindringlich zu beschreiben. Eher beiläufig schildert Seume seine weiteren jugendlichen poetischen Versuche, die noch ganz und gar der traditionellen Gelehrsamkeit entspringen und auch in deren Vokabular beschrieben werden. So urteilt er abfällig über die »Erfindung« einer nicht erhaltenen satirischen Fabel seiner Jugend. (39) Der Begriff »Erfindung« ist hier die deutsche Übersetzung für die rhetorisch-poetische Kategorie der inventio und daher nicht mit der Konnotation des Originellen und gänzlich Neuen zu versehen. Seumes Pathos der Wahrheit, das sich in seinen anderen Arbeiten bis zu schärfster Sozialkritik steigert, fällt die neuere schöne Literatur, vor allem die Romane, zum Opfer: Zumeist machen lediglich »ausgesuchte Stellen aus den Römern und Griechen« seine Lektüre aus.(43) Dem in Anspielung zu den pietistischen Erweckungserlebnissen geschilderten »Durchbruch«(53) skeptischer, anti-orthodoxer Ideen folgt die Flucht aus dem Theologiestudium, die in den Fängen hessischer Werber ihr Ende findet. »Hier übernahm [...] der Landgraf von Kassel, der damalige große Menschenmäkler, [...] die Besorgung meiner ferneren Nachtquartiere nach Ziegenhain, Kassel und weiter nach der neuen Welt.«(57) Nebenbei nur erfährt der Leser, daß Seume unter allerschlimmsten Umständen Zeit und Gelegenheit findet, Verse zu machen, Texte, die inhaltlich in einem engen Bezug zu seinen jeweiligen Lebensumständen stehen. Doch Genaueres bleibt den Lesern vorenthalten. Selbst daß ihn sein Freund Münchhausen, den er unter den Soldaten in Neuengland kennenlernt, »zum Dichten« aufmuntert, wird zunächst eher geringschätzig kommentiert: »Auch kann ich mich nur weniger Kleinigkeiten erinnern, die ich damals geschrieben hätte, und keiner einzigen, die verdient hätte, aufbewahrt zu werden [...].«(82) Als hätte er es sich anders überlegt, folgt einige Seiten später die Wiedergabe einer »Art von Jagdstück«, das als »Bildungsanfang« des Aufbewahrens »nicht unwert« wäre.(86) Auch für Seume ist somit poetisches Lernen nur noch selbstbezüglich möglich, indem man in der Vergangenheit die aufeinander gründenden Bildungsstufen identifiziert. Freilich enthält sich der Autobiograph jeder pathetischen Formulierung und benutzt die vorsichtige Litotes, um ein einziges Schriftsück als >Denkmal< seiner Anfänge, keinesfalls seiner Leistung, zu etablieren. Bezeichnend für Seumes rhetorische Betonung der nackten Wahrheit und für sein Huronentum, aber auch für die Attacke gegen die gelehrte Kontinuität ist, daß er die bittere Erfahrung als Zwangssoldat in Amerika an den Anfang seiner literarischen Bildung stellt, aber anders als autobiographische Vor-

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Autobiographik und Roman

ganger die Auseinandersetzung der Schul- und Universitätsjahre mit der gelehrten Bildung und ihren Lesefrüchten beiseite rückt. Seume beschreibt und begründet auf diese Weise eine dichterische Praxis, die zwar auf einer engen Verbindung zwischen individuellem Leben und poetischen Texten gründet, aber einem realistischen, sozialkritischen Erzählen verpflichtet ist.

E. Romane und Dichterbildung Daß Autobiographie und Roman in der Beschreibung dichterischer Ausbildung und poetischen Handelns gemeinsame Sache machen, zeigt sich besonders deutlich an Karl Philipp Moritz' Roman »Anton Reiser«, der seinerseits in einer nicht unumfangreichen Tradition der romanesken Dichterschilderung steht Wie der Bildungsroman überhaupt, schließt auch der »Anton Reiser« an Elemente des Schelmen- und Pikaroromans an, wie sie u. a. in Knigges Roman »Geschichte Peter Clausens«, 223 verwendet werden, der überdies bereits die autobiographische Schreibweise zur Darstellung der Selbstreflexion seines Helden einsetzt.224 In anderen Romanen wird erneut das Thema der >elenden Scribenten< zum Angelpunkt der Darstellung. 1) >Elende Scribenten< und Scharlatane In der »Geschichte Peter Clausens« erscheint das Lesen und Schreiben von Texten als Station des Helden auf seinem Weg durch verschiedene Stände und Wirklichkeitsbereiche. Sie wird nicht durch eine ausführliche Beschreibung gelehrt-literarischen Unterrichts eingeleitet, sondern taucht ebenso plötzlich im Blickfeld des Protagonisten auf, wie sie später wieder daraus verschwindet Nachdem er als Bedienter, Soldat, Gauner und scharlatanischer Arzt sein Glück versucht hat und bevor er Schauspieler, Musiker und zuletzt Politiker wird, versucht sich Peter Claus in der Schriftstellerrolle; im Hintergrund des hier verwendeten Rollenformulars steht die Kategorie des >elenden Scribentenelenden ScribentenScharlatanerie< »für eine unpoetische Freiheit zu halten. «(PC 174 f.) Weiteren literarischen Unternehmungen bleibt der wirtschaftliche Erfolg versagt: Zuletzt wählt Claus das Modethema der Freimaurerei 226 aus dem einzigen Grund, »weil er Geld nöthig hat«.(PC 179) Zwar erzielt er mit diesem Roman einen begrenzten Erfolg, doch die Mißerfolge weiterer Schriften bringen ihn bei den Verlegern und Buchhändlern mehr und mehr in Mißkredit, so daß er nur noch kleine Honorare erzielen kann; lediglich unter anderem Namen und mit verstelltem Stil gelingt ihm noch ein Verkaufserfolg.(PC 186) Das Pseudonym dient der Verschleierung der Autorschaft, damit die gelehrten und ungelehrten Leser nicht bereits durch seinen verrufenen Eigennamen von der Lektüre abge-

226 vgl. dazu Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen 1987. S. 293-301.

Romane und Dichterbildung

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schreckt werden. Dieses Mittel funktioniert unter den neuen kommunikativen Bedingungen, wo zunehmend der Eigenname eines Autors, der für mehrere Texte verantwortlich zeichnet, einer inhomogenen Leserschaft als Markenzeichen gilt, während die Beobachtung poetischer Regeln und gelehrter Muster weder notwendig noch hinreichend ist, um sich als Dichter bekannt zu machen und anerkannt zu werden. Zuletzt bleibt ihm aus lauter Einfallslosigkeit nichts übrig, als »nunmehro meine opera omnia herauszugeben.«(PC 188) Die Herausgabe gesammelter Werke, bislang entweder Ausweis der Anerkennung als Poet und Gelehrter oder Folge eines besonders großen Publikumserfolges, wird als letztes manipulatives Mittel beschrieben, das eigene Auskommen zu sichern und den Mißerfolg als Schriftsteller zu kaschieren; sie soll zum Zweck der Verkaufssteigerung bei unbedarften Lesern den falschen Eindruck erwecken, beim Verfasser der in dieser Ausgabe versammelten Texte handele es sich um einen bekannten und angesehenen Autor. Doch als die Exploration des Marktes negativ ausgeht, beschließt Claus, seine Laufbahn zu beenden. Der Diebstahl seiner Manuskripte und seines Geldes durch einen vermeintlichen Bewunderer bewegen ihn zu einem »Verflucht sey denn alle Schriftstellerey!«(PC 224) und zum Sprung in die gleichermaßen unsichere Schauspielerlaufbahn. Der Roman schildert die Chancen und Risiken des modernen Dichters und Schriftstellers, indem er die Literatur als ein gesellschaftliches Feld unter anderen zeigt, auf denen sich der gesellschaftliche Ehrgeiz und die Risikobereitschaft des Individuums auffällig manifestieren. Das Scheitern als Autor und Dichter wird zwar plausibel begründet, dient jedoch letztlich nur dem Zweck, den Protagonisten auf das Feld des Theaters zu befördern, ohne einen Zusammenhang dadurch herzustellen, daß der Protagonist des Romans sein Verhalten reflektiert und seine Entscheidung selbstbezüglich rechtfertigt. Er lernt zwar, daß er kein Dichter werden kann, macht sich dieses Wissen aber für seinen weiteren Lebenslauf nicht zunutze, der mit dem resignativen Rückzug auf ein Landgut endet. Knigges Roman kann daher weder strenge Pragmatik noch eine selbstreferentielle Konzeption von Bildung zugeschrieben werden. Indem er sich pikaristischer Traditionen bedient, zeigt der Roman zwar die Vielfältigkeit und die Risiken der Welt, zu der gerade auch die Bücher- und Lesewelt zählt; daß das Individuum seine eigene Komplexität durch Selbstreflexion steigern muß, um sich dieser Welt stellen zu können, wird jedoch nicht gesehen.227

227 vgl. Bernd W. Seiler: Der Schelm, der nur noch gibt, was er hat. A. Knigge und die Tradition des Schelmenromans. In: Dichtung. Wissenschaft. Unterricht. Festschrift R. Frommholz. Hg. von F. Kienecker, P. Wolfersdorf. Paderbom/Miinchen/Wien/Zürich 1986. S. 300-322.

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Autobiographik und Roman

Auch noch der 1803 erscheinende satirische Roman »Magister Skriblerus« Peter Philipp Wolfs 228 , der die Karriere als Schriftsteller auf den gesamten im Roman geschilderten Lebenslauf ausdehnt, rekurriert auf die Konzeption des >elenden Scribentenpolitischen< Handelns und der >Privatpolitik< aufstrebender Schichten der höfischen Gesellschaft beginnt und einen vorläufigen Abschluß in der Auffassung findet, daß nicht mehr so sehr das aktive Verfertigen von poetischen und dichterischen Texten in der Schule gelernt werden, sondern vielmehr durch das Rezipieren musterhafter Texte der Geschmack gebildet werden soll, der im Zuge der Emanzipation der unteren Erkenntniskräfte aufgewertet, aber als bildungsbedürftig erkannt wird. Nun geht es Frizens Lehrer wie allen Pädagogen: Ihre Pläne führen nicht nur zu den Folgen, die sie im Auge haben, sondern auch zu solchen, die nicht in ihrer Absicht liegen. Zu lehren, damit fertig zu werden und dies ins Kalkül zu ziehen, ist eine zusätzliche didaktische Absicht des Romans, denn der Protagonist ist, wegen seiner komplexen Vorgeschichte, keine >TrivialmaschineblödeDichtung und Wahrheit. In: Neue Rundschau 89,1978, S. 384-401. — (Hg.): »Ein Lehrer der ganzen Nation«. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts. München 1990. WOTMANN, Reinhard: Soziale und ökonomische Voraussetzungen des Buch- und Verlagswesens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Buch- und Verlagswesen im 18. und 19. Jahrhundert Beitrage zur Geschichte der Kommunikation in Mittel- und Osteuropa. Hg. von H. G. Göpfert u.a. Berlin 1977. S. 5-27. WÜLFEL, Kurt Über ein Wörterbuch zur deutschen Poetik des 16.-18. Jahrhunderts. Ein Vortrag. In: Archiv für Begriffsgeschichte 19,1975, S. 28-49. WUTHENOW, Ralph-Rainer Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert München 1974. ZEITSCHRIFTEN-INDEX: Autoren-, Schlagwort- und Rezensionenregister zu deutschsprachigen Zeitschriften 1750-1815. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen erstellt von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von K. Schmidt Hildesheim 1987. ZOBELTITZ, Fedor von: Ein verschollener satirischer Roman von 1803. In: Beiträge zur Literatur- und Theatergeschichte. Ludwig Geiger zum 70. Geburtstag. Berlin 1918. S. 186196.

Personenregister

Das Register verzeichnet nur Personen, die im Text der Arbeit erwähnt werden.

Abbt, Thomas 63, 71, 155, 158 f., 246 Anton Ulrich von Braunschweig 223 Aristoteles 42, 113 f., 215, 219 Arnoldt, Daniel Heinrich 80 Assmann, Jan 148 Austin, John L. 144 Balzac, Honoré de 330 Basedow, Johann Bernhard 66,69,71 Batteux, Charles 42 f., 70 f., 111, 209 Baumgarten, Alexander Gottlieb 37 f., 40, 46, 55 f., 93 f., 97, 113 f., 220, 258, 327 Bayle, Pierre 160 Birken, Siegmund von 112 f. Blanckenburg, Friedrich von 173 ff., 202, 316 Blumenberg, Hans 26,69 Bodmer, Johann Jakob 88 Boie, Ernestine 285 Boileau, Nicolas 81 f. Böttiger, Carl August 126 Bramer, Cari Friedrich 88 ff. Breitinger, Johann Jacob 49, 88, 92 Bronner, Franz Xaver 208 ff. Bruss, Elizabeth 143 f. Buck, Günther 109 Bürger, Gottfried August 127 Büsching, Anton Friedrich 44 Canetti, Elias 149 Oilini, Benvenuto 243, 249

Chladenius, Johann Martin 137,162 Cicero, Marcus Tullius 48, 78 Clodras, C.A.H. 298 f. Coleridge, Samuel Taylor 289 Cotta, Johann Friedrich 251 d'Alembert, Jean le Rond de 73 Dalberg, Cari von 119 Descartes, René 98 de Man, Paul 148 Dilthey, Wilhelm 136 f. Dubos, Abbé 84, 185 Duff, William 123 Eberhard, Johann August 59 Edelmann, Johann Christian 199 ff. Eichstädt, Heinrich Karl Abraham 254 Ekhof, Konrad 214 Eschenburg, Johann Joachim 59 Feind, Berthold 78,87 Fichte, Johann Gottlieb 44, 73 f. Flügel, Karl Friedrich 99 Foucault, Michel 5 Franklin, Benjamin 149 f. Gang, Philipp 56 Garve, Christian 23 f. Geliert, Christian Fürchtegott 9 f., 96, 214, 224, 272 ff. Gaiette, Gerard 142 Gerard, Alexander 123 Geßner, Salomon 208 f. Gide, André 330

Personenregister Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 217, 219, 231 Goethe, Johann Kaspar 268 Goethe, Johann Wolfgang 9.166 f., 171 f., 178, 194, 221, 228, 241 ff., 295 ff, 324, 329, 331 Göschen, Georg Joachim 250 Gottsched, Johann Christoph 31, 37, 48 f., 51, 55, 82 f., 88, 92, 107, 193 ff., 212, 228, 250, 290, 318, 324 Gracian, Baltasar 34 Gundling, 34 Günther, Johann Christian 224 Haller, Albrecht von 224 Hamann, Johann Georg 295 Hederich, Benjamin 106 Heinzmann, Johann Georg 60 Herder, Johann Gottfried 27, 44 ff., 70 f., 107 f., 115, 137, 141, 162, 245 ff. Hezel, Wilhelm Friedrich 59 Highsmith, Patricia 332 Hiller, Gottlieb 226 ff. Hippel, Theodor Gottlieb 236 ff., 295 Hofmannswaldau, Christian Hofmann von 191 f. Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 4, 25,28, 78, 81 f., 148 f., 186, 249 Hume, David 84 ff. Jean Paul 60,61,296 ff. Jenisch, Daniel 154,163 ff. Kant, Immanuel 37. 51, 56, 59, 99 ff., 295 Karl August, Herzog von Weimar 269 Karsch, Anna Louisa 126, 216 ff., 231 Kausch, Johann Joseph 204 ff. Kempe, Martin 77 f. Klopstock, Friedrich Gottlieb 224,268 Klotz, Christian Adolf 212 Knigge, Adolph von 28 f., 302 ff. Koller, Joseph Benedikt Maria 59 König, J. C. 56

357 Koranyi, Stephan 245 Kristeller, Paul Oskar 32 lartimann, Ferdinand Heinrich 116 Lavater, Johann Caspar 141,287 Leibniz, Gottfried Wilhelm 31, 37, 65, 86, 99, 110, 130 f., 156, 173 Lejeune, Philippe 142 f. Lessing, Gotthold Ephraim 41, 51, 212, 214 Lichtenberg, Georg Christoph 130,165 Lindner, Johann Gotthelf 70 f., 201 Lindner, Johann Gottlieb 200 Liscow, Christian Ludwig 233 Locke, John 84,156 Lowe, S. M. 247 Ludwig I. von Bayern 258 Luhmann, Niklas 6 MacPherson, James 221 Mann, Thomas 330 Meier, Georg Friedrich 37, 40, 57, 97, 102, 162 Mendelssohn, Moses 55, 86 f. Merck, Johann Heinrich 264 Michaelis, Johann David 207 f. Milton, John 291 Misch, Georg 136 f. Montaigne, Michel Eyquem de 295 Morgenstern Karl 176 ff., 184 Morhof, Daniel Georg 107 Moritz, Karl Philipp 51, 171, 184, 202, 221, 302 ff. Moser, Friedrich Karl 268 Nepos, Cornelius 152,200 Neumark, Georg 77 Nicolai, Friedrich 57,110, 206 f. 309 Nicolai, Samuel Gottlob 110 Omeis, Magnus Daniel 65 Opitz, Martin 48, 78, 191,194 Ovid, (Publius Ovidius Naso) 78,113,182, 184 ff., 190, 265

358 Petrarca, Francesco 182,184,187 ff. Phädrus200 Platon 37,47 f., 50, 168, 187 Pörschke, Karl Ludwig 61 f., 66 Priscian 187 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 149 f. Quintilian, Marcus Fabius 48,101,103 Rabener, Gottlieb Wilhelm 215 Ramler, Karl Wilhelm 219 Riedel, Friedricb Justus 45,70 Rousseau, Jean Jacques 130, 133 ff., 139, 141, 155, 165 ff., 182, 256 f., 264, 283, 295, 299, 321, 327 Scheffner, Johann George 295 f. Schüler, Friedrich 51,244 Schlegel, Gottlieb 122 Schleiennacher, Friedrich 162 Schlichtegroll, Friedrich 236 f.. 245 f. Schlözer, August Ludwig 165 Schmid, Christian Heinrich 16 Schmidt, Michael Ignaz 132 Schneider, Eulogius 59 Schönemann, Lili 286 ff. Schott, Andreas Heinrich 64 f. Schubart, Christian Friedrich Daniel 285 Schulz, Joachim Christoph Friedrich 310 ff. Schumann, Friedrich August 233, 302 Schütz, Christian Gottfried 59,104 Searle, John 144 Semler, Johann Salomo 162 Seneca 106 Sengle, Friedrieb 145 f. Seume, Johann Gottfried 298 ff. Shaftesbury, Anthony Earl of 116 Sömmering, Samuel Thomas 130 Spazier, Karl 201 ff. Steinbart, Gotthilf Samuel 45, 59 Steiner, George 331 f. Strawson, Peter 144

Personenregister Sulzer, Johann Georg 55, 59, 101, 107, 123, 171, 217 ff., 225, 273 Theweleit, Klaus 149 Thomasius, Christian 34, 60, 78, 87 f., 105, 199, 315 Uz, Johann Peter 219 Voltaire 160 VoB, Johann Heinrich 285 Weiland 207 f. Weise, Christian 34 f., 47, 60, 79, 105, 156, 199 WeiBe, Christian Felix 211 ff. Wieland, Martin 166 ff., 173, 230, 309 Wiggers, Johann Georg 154. ff. Wittgenstein, Ludwig 144 Wolf. Peter Philipp 306 ff. Wolff, Christian 31, 37 f., 65, 69, 86, 98 f., 110 Wordsworth, William 289 ff. Young, Edward 102,116 Zedier, Johann Heinrich 57,60 Zelter, Karl Friedrich 255 Zigler und Kliphausen, Heinrich Anselm 223