Autobiographisches Schreiben nach 1989: Generationelle Verortung in Texten ostdeutscher Autorinnen und Autoren 9783110710793, 9783110708332

Numerous autobiographical texts by East German authors since 1989 do not just tell of individual pasts – they also revea

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Autobiographisches Schreiben nach 1989: Generationelle Verortung in Texten ostdeutscher Autorinnen und Autoren
 9783110710793, 9783110708332

Table of contents :
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
1 Politische Umwälzungen von 1989/1990 und ihre Konsequenzen
2 Zum Problem der Generationen
3 Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht
4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916). Zum Gründungsmythos der DDR
5 Im Gleichklang mit dem Lebensrhythmus der DDR. Die Aufbau-Generation (1925–1935)
6 Generation mit stabiler Bindung? Die Funktionierende Generation (1936–1948)
7 Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Hineingeborenen im DDR-Generationsgefüge – die Integrierte Generation (1949–1959)
8 Generation Trabant, Generation ‘89, Zonenkinder? Die Adoleszenz im Zeichen eines politischen Umbruchs
9 Phantomschmerz der Wende-Kinder (1973–1984)
10 Zum Wert eines Idealtypus oder die Frage der Periodisierung. Ausblick
Polyphonie ostdeutscher Erinnerung an die DDR. Zeittafel
Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Personenregister

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Katarzyna Norkowska Autobiographisches Schreiben nach 1989

Deutsche Literatur Studien und Quellen

Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Band 40

Katarzyna Norkowska

Autobiographisches Schreiben nach 1989

Generationelle Verortung in Texten ostdeutscher Autorinnen und Autoren

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und der NikolausKopernikus-Universität in Toruń.



ISBN 978-3-11-070833-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-071079-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-071089-2 ISSN 2198-932X Library of Congress Control Number: 20200945021 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelabbildung: Johann Wolfgang Goethe an Johann Gottfried Herder, wahrscheinlich zwischen Mitte Januar und Mitte Februar 1786. Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Danksagung An dieser Stelle möchte ich meinen besonderen Dank all denen aussprechen, ohne deren Unterstützung das Buch in dieser Form nicht zustande gekommen wäre. Der Alexander von Humboldt-Stiftung bin ich für die jahrelange, großzügige Förderung des Habilitationsprojektes außerordentlich dankbar. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Leszek Żyliński, dem es an unserem Lehrstuhl gelang, eine offene und intellektuell anregende Atmosphäre des wissenschaftlichen Austausches und der freundschaftlichen Kooperation zu schaffen. Meinen Freunden und Mitarbeitern – Dr. Alexandra Burdziej, Dr. Alexander Jakovljević und Prof. Dr. Tomasz Waszak – danke ich für die zahlreichen Anregungen und die stete Unterstützung in jeglicher Hinsicht. Dr. Jakovljević, dem ersten Leser des Buches, danke ich von Herzen für die Korrektur, vor allem aber für die Ermunterung und die spannenden Diskussionen, die in der Endphase wesentlich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Die endgültige Form verdankt das Buch der rücksichtsvollen Betreuung durch Miterbeiterinnen des Verlages – Anja-Simone Michalski und Susanne Rade –, denen ich für ihre professionelle und stets aufgeschlossene Begleitung danken möchte. Mein ganz besonderer Dank gilt an dieser Stelle jedoch Prof. Dr. Claudia Stockinger, ohne deren Zutrauen mein Buch in diesem Verlag nie erschienen wäre. Mein außerordentlicher Dank gilt Prof. Dr. Sabine Doering, ohne deren Beistand ich mich nicht getraut hätte, meinen Weg konsequent zu gehen. Sie hat mich nicht nur mit ihren höchst differenzierten wissenschaftlichen Anmerkungen unterstützt, sondern mir auch in schwierigen Situationen Kraft und Mut gegeben. Meinen Eltern danke ich, dass sie immer zu mir gehalten haben. Für ihre Geduld und ihren unaufhörlichen Beistand bedanke ich mich aber vor allem bei den wichtigsten Männern meines Lebens – meinem Mann und meinem Sohn. Ihnen ist dieses Buch gewidmet; nicht zuletzt als Entschädigung für all jene Stunden, die wir hätten gemeinsam verbringen können. Toruń im Juli 2020

https://doi.org/10.1515/9783110710793-202

Inhaltsverzeichnis Danksagung  1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

 V

 1 Politische Umwälzungen von 1989/1990 und ihre Konsequenzen  Die ‚Wende‘ als Störerfahrung der Identität   1 Die Erinnerung an die DDR   5 Schweigende Schafe? Zur Reaktion der ostdeutschen SchriftstellerInnen   7 Die ostdeutsche Reaktion auf die ,Wende‘   10 Generationelle (Selbst-)Verortung als (neues) Paradigma in der Forschung zur ,Wendeliteratur‘. Zum Untersuchungsobjekt   11

2

 17 Zum Problem der Generationen  Generation – Habitus – Feld. Nebenbemerkungen 

3

Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht   35 Entwicklung des Autobiographie-Verständnisses von der literarisierten Zweckform zur literarischen Gattung   35 Autobiographie als Vertragseffekt. Autobiographischer vs. romanesker Pakt   40 Autobiographie als literarischer Akt. Die illokutionäre Wirkung des Textes   46 Autobiographie als soziales Handeln. Sozialgeschichtliche Beschreibungsmodelle   51 Autobiographik als potentielles Medium generationeller Verortung   59

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.3 4.3.1

 32

Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916). Zum Gründungsmythos der DDR   65 Stefan Heyms Einmischungen. Nachruf (1988)   70 „Frisierte Vergangenheit“ Erwin Strittmatters?   88 Die Lage in den Lüften (1990)   89 Der Laden III (1992)   90 Strittmatters Abschiedsbuch Vor der Verwandlung (1995)   94 Posthumes Schuldbekenntnis? Tagebuchaufzeichnungen Der Zustand meiner Welt (2014)   99 Blinde Flecken im Gedächtnis? Mediendebatte um Erwin Strittmatter   104 Stephan Hermlins Legende   109 Abendlicht (1979). Gründungsmythos eines Widerstandskämpfers   110

VIII 

4.3.2 4.4 5 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.3.1 5.3.2 5.4

6 6.1 6.2 6.3

7 7.1 7.2

7.3

 Inhaltsverzeichnis

Eine erlogene Biographie? Karl Corinos Enthüllungen und die Folgen   116 Biographische Selbstkonstruktion einer Generation?   124 Im Gleichklang mit dem Lebensrhythmus der DDR. Die Aufbau-Generation (1925–1935)   129 Lebensweg eines Funktionärs? Hermann Kants Abspann. Erinnerungen an meine Gegenwart (1991)   138 „Unspektakuläre Resistenz“ oder Günter de Bruyns Überlebensstrategie   160 Das erzählte Ich (1995) oder Wahrheit und Dichtung Günter de Bruyns   164 Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin (1992)   167 Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht (1996)   181 Die „Staatsdichterin“ Christa Wolf   192 Tagesprotokolle Ein Tag im Jahr. 1960–2000 (2003) zwischen authentischem Zeitdokument und paratextueller Korrektur   194 Ausgraben und Erinnern. Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010)   207 Bringschuld und Aufbau der DDR. Zur moralischen Inferiorität von AutorInnen der Aufbau-Generation   223 Generation mit stabiler Bindung? Die Funktionierende Generation (1936–1948)   227 Schriftstellerin in einer Nische oder Rita Kuczynskis Mauerblume. Ein Leben auf der Grenze (1999)   232 „Mathematikerin mit ungehörigen Träumen“. Helga Königsdorfs Landschaft in wechselndem Licht (2002)   243 Generationszusammenhang ohne Erfolgserzählung oder Stimmen aus der zweiten Reihe   255 Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Hineingeborenen im DDR-Generationsgefüge – die Integrierte Generation (1949–1959)  Kurt Drawerts Spiegelland (1992) oder Generation der ‚Hineingeborenen‘ rechnet mit der Welt der Väter ab   264 Poetisch verdichtete Geschichte eines Lebens in Peter Wawerzineks Erzählungen Das Kind das ich war (1994) und  Mein Babylon (1995)   280 ‚Hineingeboren‘ und doch nicht integriert?   296

 259

Inhaltsverzeichnis 

8 8.1 8.2 8.2.1 8.2.2 8.3 8.4 8.5

9 9.1 9.2 9.3

10

 IX

Generation Trabant, Generation ‘89, Zonenkinder? Die Adoleszenz im Zeichen eines politischen Umbruchs   299 Von den Nicht-Mehr-Eingestiegenen. Die Entgrenzte Generation (1960–1972)   302 Der Arzt und Schriftsteller(sohn) Jakob Hein   307 Mein erstes T-Shirt (2001) made in DDR oder Jakob Heins witzige Pubertätsgeschichten   310 Rekonstruierte Familiengeschichte oder die Frage der jüdischen Identität – Vielleicht ist es sogar schön (2004)   315 Von der „alltägliche[n] Schizophrenie“ und der „Gnade der späten Geburt“. Claudia Ruschs Meine freie deutsche Jugend (2003)   319 Ohne Vaterland und Muttersprache. Ines Geipels Generation Mauer. Ein Porträt (2014)   335 Generation – Zeit – öffentlicher Diskurs oder die Frage der Perspektive   347  351 Phantomschmerz der Wende-Kinder (1973–1984)  ‚Heimatmuseum‘ der Zonenkinder (2002). Jana Hensels Antwort auf die westdeutsche „Generation Golf“   357 „Schluss mit traurig!“ Daniel Wiechmanns Version einer DDR-Kindheit in Immer bereit! (2004)   369 Von den Zonenkindern zur Dritten Generation Ostdeutschland. Mediales Phänomen der Wende-Kinder   379 Zum Wert eines Idealtypus oder die Frage der Periodisierung. Ausblick   387

Polyphonie ostdeutscher Erinnerung an die DDR. Zeittafel  Siglenverzeichnis  Literaturverzeichnis  Personenregister 

 395  397  415

 391

1 Politische Umwälzungen von 1989/1990 und ihre Konsequenzen Die Ereignisse des Herbstes 1989 sind in die Geschichte unter dem Begriff ,Wende‘ eingegangen. Sowohl Texte aus der Geschichtswissenschaft als auch Literaturgeschichten und Lexika schildern die Öffnung der DDR-Grenze, die bildhaft als Fall der Berliner Mauer beschrieben wird, als ein epochales Ereignis, wobei die Darstellungen nicht selten Parallelen zu einem anderen Wendepunkt in der deutschen und europäischen Geschichte ziehen, nämlich zum Jahr 1945. Die zweite ,Stunde Null‘ wird zwar nicht wortwörtlich heraufbeschworen, auf Analogien verweisen aber etliche Wissenschaftler, vor allem jedoch Feuilletonisten. In beiden Fällen handelt es sich um den Zusammenbruch eines totalitären Systems. Die zahlreichen Schlagwörter, unter denen die politischen Umwälzungen 1989/90 in die Geschichtsbücher wie in das Bewusstsein der Bürger eingegangen sind, gehen allerdings über eine bloße Benennung der historischen Ereignisse hinaus, indem sie ein jeweils spezifisches Deutungsangebot unterbreiten, das schnell zu einer Dominante zu werden droht. Die friedliche Revolution des DDR-Volkes setzte dem diktatorischen System ein Ende und ermöglichte das Zusammenwachsen dessen, was – um die rasch zu Berühmtheit gelangte Formulierung Willy Brandts zu zitieren – zusammengehöre, das heißt die ,Wiedervereinigung‘. Allem Anschein nach haben wir es hier mit einer eindeutig als positiv zu bewertenden historischen Entwicklung zu tun. Bei genauerer Betrachtung sind auf diesem scheinbar makellosen Bild aber schnell gewisse Schattierungen zu erkennen, die weitreichende Konsequenzen für die Wahrnehmung der Ereignisse seitens der ehemaligen DDR-Bürger haben können.

1.1 Die ‚Wende‘ als Störerfahrung der Identität Welche Bedeutung den Ereignissen des Jahres 1989/90 zugewiesen wird, hängt vom jeweiligen Standpunkt des Betrachters ab. Wie vielfältig und teils divergierend die Interpretation der Wendejahre ist, zeigen die Sichtweisen von Bundesbürgern, die von außen auf die DDR-,Realitäten‘ blickten, aber auch von ehemaligen DDR-Bürgern, die aus ideologischen, politischen oder auch persönlichen Gründen das Land bereits vor 1989 verlassen mussten. Eine nochmals anders gelagerte Wahrnehmung ist bei jenen zu beobachten, die im Land blieben, sei es aus Überzeugung, Mangel an Gelegenheit oder aus anderen Gründen. Für die allermeisten der unmittelbar Betroffenen – damit sind nur die in den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik lebenden Menschen gemeint – mag die Öffnung der Grenze ein langersehntes Ereignis gewesen sein, das nicht zuletzt ihrem Wunsch nach Reisefreiheit entsprach. Nichts-

https://doi.org/10.1515/9783110710793-001

2 

 1 Politische Umwälzungen von 1989/1990 und ihre Konsequenzen

destotrotz nimmt die Entwicklung einen überraschend schnellen Verlauf1 und stellt die DDR-Bürger – die sehr bald zu den Bürgern der neuen Bundesländer werden sollten – vor neue Herausforderungen, auf die niemand vorbereitet sein konnte. An die Stelle des gewohnten Alltags im Sozialismus trat nun die marktwirtschaftliche Realität, die nach schneller Anpassung verlangte. Dass sich das politische System und damit auch die Lebensbedingungen änderten, war für das Selbstbewusstsein der DDR-Bürger gravierend genug. Die Situation wurde aber auch dadurch erschwert, dass all die Veränderungen von heute auf morgen vollzogen werden mussten. Die Radikalität der Veränderungen blieb vor allem nicht ohne Einfluss auf die psychische Verfassung derjenigen, die einen großen Teil ihres bisherigen Lebens hinter dem Eisernen Vorhang verbracht hatten. Doch nicht nur die Unterschiede in der ost- und westdeutschen Wahrnehmung des Umbruchs sind weitreichend, auch unter Einwohnern der Länder des Ostblocks gehen die Erfahrungen und Urteile teilweise weit auseinander. Dies hängt wiederum stark mit dem Verlauf der Umwälzungen wie auch mit dem Endergebnis des Umgestaltungsprozesses zusammen. Diesen Sachverhalt hebt Anna Wolff-Powęska hervor, die den Verlauf der Revolution in der DDR und in Polen vergleicht. Zwar lassen sich in beiden Ländern ähnliche Phasen der Verarbeitung unterscheiden, von der „Zerstörung der alten Ordnung“ über „das Fegefeuer“ bis zum „Aufbau einer neuen Struktur“.2 Dennoch verweist Wolff-Powęska auf wesentliche Unterschiede im Umgestaltungsprozess, die nicht ohne Einfluss auf die psychische Verfassung der Bevölkerung blieben. Der Sieg der demokratischen Opposition in Polen bedeutet die Wiedergewinnung der vollen nationalen und staatlichen Souveränität. Der Abriss der Berliner Mauer hat die Ostdeutschen aus ihrer Isolation befreit; die spezifische Transformation mit der Wiedervereinigung, die praktisch eine Einverleibung in die Bundesrepublik gewesen ist, hat jedoch den Verlust der eigenen Subjektivität und eine tiefe Repräsentationskrise mit sich gebracht. Den Deutschen zwischen Elbe und Oder ist die lange Phase des Übergangs erspart geblieben. Sie sind sozusagen als Bürger des SED-Staates abends zu Bett gegangen und am nächsten Morgen als Bürger der Berliner Republik aufgestanden.3

Von der alten DDR-Identität musste von heute auf morgen Abschied genommen werden. Auch wenn viele DDR-Bürger dem Regime feindlich gegenüber standen, bot das Leben in den recht stabilen Strukturen des Landes ein gewisses Maß an Geborgenheit. Dies hatte auch damit zu tun, dass die Menschen, mit den dort herrschenden Mechanismen vertraut waren. Das Ende der vertrauten – wenn auch nicht

1 Vgl. Kerstin E. Reimann: Schreiben nach der Wende – Wende im Schreiben? Literarische Reflexionen nach 1989/90. Würzburg 2008, S. 9. 2 Anna Wolff-Powęska: Polen und die neuen Bundesländer im Zeichen des Wandels. In: Andreas Lawatty/Hubert Orłowski (Hg.): Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik. München 2003, S. 376. 3 Wolff-Powęska: Polen und die neuen Bundesländer, S. 377.

1.1 Die ‚Wende‘ als Störerfahrung der Identität 

 3

unbedingt geliebten – Ordnung brachte nicht nur ein Moment des Glücks, sondern zog auch weitreichende Verlusterfahrungen nach sich. Die ,Wende‘ bedeutet einen tiefen Einschnitt in die Biographie und kann als eine Art Störerfahrung interpretiert werden, die nach einer entsprechenden Verarbeitung verlangt, um „nichtintegrierbare Erfahrungsanlässe“4 in die eigene Lebensgeschichte sinnvoll einzuordnen. Der Zusammenbruch des DDR-Regimes, die schnelle Vereinigung und der Transformationsprozess, der im Grunde Anpassung an die in der Bundesrepublik geltenden Normen bedeutete, können als Phänomene interpretiert werden, die sich der Kontrolle des Einzelnen entzogen. Irritationen dieser Art verlangen nach Besinnung, Darstellung und Interpretation, kurz nach Verarbeitung. Dieses Bestreben kommt in zahlreichen autobiographischen Erzählungen zum Vorschein. Die Ostdeutschen versuchen nicht nur ihrem neuen Leben nach der sogenannten ,Wende‘ Sinn abzugewinnen, sondern auch ihr bisheriges Leben in Form von Erinnerungen in die neue Lebenswirklichkeit hinein zu retten. Die zwiespältige Lage, in der sich die Ostdeutschen nach der ‚Wende‘ wiederfanden, fasst der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz, Autor des viel beachteten Bandes Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR (1990),5 im Vorwort zu dem ein Jahr später herausgegebenen Resümee der Wiedervereinigung Das gestürzte Volk. Die unglückliche Einheit prägnant zusammen. Seinen Band eröffnet Maaz mit einem Lob der äußeren Umstände. Ein Jahr Deutsche Einheit. Ich lebe in Freiheit. Sehnlichste Wünsche – jedenfalls solche, die ich dafür hielt – haben sich erfüllt: Ich reise frei herum, ich sage unzensiert meine Meinung, ich finde Zugang zu allen Informationen, die ich brauche, ich darf Menschen treffen und sprechen, wie ich will, ich verdiene mehr Geld, ich renoviere ein altes Haus, um endlich (48jährig!) aus einer 30-qm-Neubauwohnung zu entkommen, und ich habe einen wunderbaren neuen Gebrauchtwagen aus dem Westen. Endlich ein richtiges Auto!6

Bereits wenige Sätze später verweist der Verfasser indes auf eine tiefgreifende Krise der ehemaligen DDR-Bürger, die sich aus einem Identitätsbruch und einem VerlustSyndrom ergibt. Maaz eröffnet den Band mit seiner persönlichen Geschichte, bevor er auf seine psychotherapeutische Erfahrung rekurriert und die Lage der Ostdeutschen skizziert. So sei auch sein neues japanisches Auto7 anscheinend nicht mehr im Stande, den bis dahin unbewussten Verlust auszugleichen.

4 Peter Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre. München/ Wien 1978, S. 113. 5 Vgl. Hans-Joachim Maaz: Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR. München 1992. Maaz widmet das Buch „den Menschen, die den Weg der psychischen Revolution gehen“ (S. 7). 6 Hans-Joachim Maaz: Das gestürzte Volk. Die unglückliche Einheit. München 1993, S. 9. 7 Vgl. Maaz: Das gestürzte Volk, S. 10.

4 

 1 Politische Umwälzungen von 1989/1990 und ihre Konsequenzen

Der Identitätsbruch ist auch der Grund, weshalb keine Freude aufkommen will. So viel gewonnen und doch nicht zufrieden? Ich lebe in zwei Welten und bin in keiner wirklich zu Hause. […] Ich stecke mitten in einem Verlust-Syndrom, das ich nicht annehmen wollte, solange ich es als DDR-Verlust-Syndrom diagnostizierte. Da hatte ich meinen Stolz: Das konnte doch nicht wahr sein, daß der Untergang dieses verachteten Systems, wenn ich es auch längst als ambivalent besetztes, gehasst-geliebtes Objekt angenommen hatte, mich so zu irritieren vermochte. Erst die persönlichere Perspektive, der ich bei meiner Arbeit als Psychotherapeut nicht entgehen konnte, konfrontierte mich mit den Begriffen „Trennung“ und „Orientierungsverlust“.8

Im Falle des Umbruchs von 1989/90 kommen tatsächlich mehrere Traumata zum Vorschein. Belastend für viele Menschen ist nämlich nicht die ‚Wende‘ allein, sondern auch die nicht verarbeiteten Ereignisse von früher. So verweisen Psychologen und Therapeuten nicht von ungefähr auf die Tatsache, dass die Umbruchserfahrung 1989/90 für viele Jahrgänge als eine Wiederholung der traumatischen Situation von 1945 wahrgenommen wird, flankiert von einer Reihe anderer Traumata (politische Ereignisse wie der 17. Juni 1953, der Aufstand in Ungarn von 1956, der Mauerbau 1961, der Einmarsch in die ČSSR im Jahre 1968 sowie systemimmanente Elemente wie die permanente Stasi-Kontrolle, Einschränkung der Meinungs- und Reisefreiheit), die niemals hinreichend zur Sprache gekommen waren. Dieses Konglomerat von Ereignissen prägt die psychosoziale Situation der Ostdeutschen nach 1989. Diesem Problem nähert sich Michael J. Froese, der auf eine subjektive (oft unbewusste) Wahrnehmung des Geschehens als eine Art Wiederkehr der Geschichte hinweist, allerdings nicht in dem schon genannten positiven Sinne eines Neuanfangs. Die Wiederholung wird zur psychischen Belastung für die unmittelbar betroffene Generation, aber auch für die nachfolgenden Generationen, denen die Stimmung weitergegeben wird. In der ehemaligen DDR hat sich die Erfahrung des politischen Umbruchs, wie er in Deutschland nach dem Krieg stattfand, mit ,Wende‘ und Wiedervereinigung wiederholt. Nach 1945 war nicht nur der Nationalsozialismus geschlagen; die Männer, die für ihn in den Krieg gezogen waren, sofern sie überlebten, waren es auch. In Ostdeutschland kam 1989 wiederum eine Entwertung der Machthaber zustande. Diese doppelte Umbruchsituation, bezogen auf die radikale Umbewertung von Grundüberzeugungen innerhalb breiterer Schichten der Bevölkerung, prägt die Biografie nicht weniger Ostdeutscher. […] Mit der Wiedervereinigung verloren die Ostdeutschen ihre alten Existenzbedingungen. Es wiederholte sich eine Situation, die mit der Nachkriegszeit Ähnlichkeit aufweist. Menschen wurden – wie damals die Flüchtlinge – zu „Fremden im eigenen Land“ (Simon und Faktor 2000). Eine Entwurzelung von ehemals gesicherten Arbeits-, Wohn-, und Beziehungsverhältnissen fand statt, Identitäten brachen zusammen. Biografien vor allem von ,älteren‘, d.h. über 40-jähriger Menschen, verloren Sinn und Bedeutung.9

8 Maaz: Das gestürzte Volk, S. 10. 9 Michael J. Froese: Überlegungen zur psychohistorischen Situation Ostdeutschlands. In: Christoph Seidel/Michael J. Froese (Hg.): Traumatisierungen in (Ost-)Deutschland. Gießen 2006, S. S. 82–83.

1.2 Die Erinnerung an die DDR 

 5

Froese vergleicht die Situation der ostdeutschen Bevölkerung mit der Lage der Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg.

1.2 Die Erinnerung an die DDR Ähnlich wie nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur kam mit dem Bankrott der Deutschen Demokratischen Republik die Zeit der Besinnung und der Abrechnung, und zwar mit der eigenen Vergangenheit, mit den Machthabern sowie mit der Generation der Väter. Es handelt sich um eine mehrdimensionale Verarbeitung der Vergangenheit – sowohl in der Privatsphäre als auch im öffentlichen Bereich, deren Anlass teils im Inneren des Einzelnen zu sehen ist, teils von außen erzwungen wird. Autobiographisches Nachdenken ostdeutscher Autoren kann als Konsequenz der ,Wende‘ – verstanden als Störerfahrung – gedeutet werden. Martin Sabrow verweist in seinem Artikel „DDR erinnern“ aus dem von ihm herausgegebenen Band Erinnerungsorte der DDR auf die Verbreitung verschiedener Ich-Erzählungen, die es bereits zu Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik gab. Diese Tendenz wird nach dem Zusammenbruch des alten Systems nicht nur fortgesetzt, vielmehr tritt sie verstärkt in den Vordergrund. Wirkungsmächtig ist schließlich in unserer Zeit vor allem der Strom postkommunistischer Bewältigungsbiographien, der die nachträgliche Auseinandersetzung mit dem Zeitalter des Kommunismus so eklatant vom beredten Schweigen der Ich-Erzählungen nach dem Ende des Nationalsozialismus unterscheidet. Sie alle arbeiten sich an der autobiographischen Brucherfahrung ab, welche die Hinwendung zur Idee des Sozialismus und ihrem Staat nach 1945 ebenso mit sich brachte wie später die Ablösung von ihr – und nach 1989 das Verschwinden kommunistischer Systeme in Europa.10

Kaum zu übersehen sind die literarischen, aber auch die alltagsprachlichen Erinnerungen an die DDR, die Elemente des verschwundenen Staates gegenwärtig machen und „als kommunikatives Gedächtnis an die nächste Generation“11 weitergeben. Anders als im Falle des Nationalsozialismus – bemerkt Sabrow – habe der Kommunismus noch keine eindeutig markierte Position im kulturellen Gedächtnis gefunden, was auch darauf zurückzuführen sei, dass die DDR keinen Zivilisationsbruch markiert habe.12 Während der Nationalsozialismus die moralischen Normen verletzt hatte, was ihn eindeutig als verbrecherisches System klassifiziert, ist die Idee der Gleichheit und der Brüderlichkeit, die dem Sozialismus bzw. dem Kommunismus zu Grunde liegt, weit von der nationalsozialistischen Ideologie des deutschen Her-

10 Martin Sabrow: Die DDR erinnern. In: ders. (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. München 2009, S. 13–14. 11 Sabrow: Die DDR erinnern, S. 14. 12 Vgl. Sabrow: Die DDR erinnern , S. 15.

6 

 1 Politische Umwälzungen von 1989/1990 und ihre Konsequenzen

renmenschen entfernt. Der Vergleich der beiden totalitären Systeme und der beiden Brucherfahrungen führt Sabrow zum folgenden Schluss: Der sozialistische Traum lässt mehr Lesarten zu als der nationalsozialistische Zivilisationsbruch. Auch wer die DDR als totalen Unrechtsstaat begreift und die Aufarbeitung des Kommunismus nach 1945 umstandslos an der Bewältigung des Nationalsozialismus nach 1945 misst, wird schwerlich bestreiten können, dass die wie immer pervertierte Weltanschauung der kommunistischen Bewegung humanitärere Ziele anstrebte als die Ideologie des Nationalsozialismus. Anders gesagt: Bertolt Brecht und Anna Seghers sind selbstverständlicher Teil der literarischen Moderne; Artur Dinter oder Erich Edwin Dwinger sind es ebenso selbstverständlich nicht.13

Nach über drei Jahrzehnten seit der Öffnung der DDR-Grenze ist weder ein kohärentes Bild der DDR noch ein fest umrissenes DDR-Gedächtnis greifbar. Dennoch lassen sich verschiedene Erzählmuster erkennen, denen jeweils gewisse Kommunikationskanäle zueigen sind. Sabrow verweist auf drei Perspektiven, nämlich das „Diktaturgedächtnis“,14 das „Arrangementgedächtnis“ und das „Fortschrittsgedächtnis“.15 Unter dem ersten Begriff fasst er Inhalte zusammen, die „[i]m Zentrum vor allem des öffentlichen Gedenkens“ stehen und „auf den Unterdrückungscharakter der SED-Herrschaft und ihre mutige Überwindung in der friedlich gebliebenen Revolution von 1989/90“16 verweisen. Im Zentrum des Interesses steht der Macht- und Repressionsapparat, ohne die kleinen Details des Alltagslebens zu berücksichtigen, deren Beurteilung weniger eindeutig erschiene. Neben diesem bei offiziellen Anlässen und Gedenkfeiern gepflegten DDRBild existiert eine weitere Interpretationslinie, die unter Ostdeutschen immer noch als dominant erscheint. Es handelt sich dabei um das von Sabrow als „Arrangementgedächtnis bezeichnete Gedächtnis, das vom richtigen Leben im falschen weiß und die Mühe des Auskommens mit einer mehrheitlich womöglich nicht gewollten, aber doch als unabänderlich anerkannten oder für selbstverständliche Normalität gehaltenen Parteiherrschaft in der Erinnerung hält.“17 In dieser Perspektive werden Machtherrschaft und Privatleben als aufeinander bezogene Phänomene reflektiert. Mit dem Diktaturgedächtnis teilt das Arrangementgedächtnis viele Orte, die jedoch andere – oft positive private – Erinnerungen wachrufen. Man „fühlt sich vom Blauhemd der FDJ nicht allein an die Zurichtung durch die Parteimacht erinnert, sondern auch an die glückliche Zeit der eigenen Jugend, und von dem Einkaufsbeutel nicht nur an den deprimierenden Mangel an Waren, sondern auch an den einstigen Wert der Dinge.“18 Ein weiteres Erinnerungsmuster schließlich, als Fortschrittsgedächtnis bezeichnet, knüpft an die Idee einer Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft an, das heißt an die Ursprünge der DDR.

13 Sabrow: Die DDR erinnern, S. 15. 14 Sabrow: Die DDR erinnern, S. 18. 15 Sabrow: Die DDR erinnern, S. 19. 16 Sabrow: Die DDR erinnern, S. 18. 17 Sabrow: Die DDR erinnern, S. 19. 18 Sabrow: Die DDR erinnern, S. 19.

1.3 Schweigende Schafe? Zur Reaktion der ostdeutschen SchriftstellerInnen 

 7

Es baut seine Erinnerungen auf der vermeintlichen moralischen und politischen Gleichrangigkeit der beiden deutschen Staaten auf, die zu friedlicher Koexistenz und gegenseitiger Anerkennung geführt hätten, wenn die Fehler der DDR-Führung, die Ungunst der Umstände oder die Machinationen des Westens nicht zur endgültigen oder nur vorläufigen Niederlage des sozialistischen Zukunftsentwurfs geführt hätten.19

Das Fortschrittsgedächtnis wird – so Sabrow – vornehmlich in Reihen der ehemaligen DDR-Elite sowie in politischen Kreise der Linkspartei gepflegt. Dennoch liegt es eher im Schatten der öffentlichen Auseinandersetzung. Als dominant kann das Diktaturgedächtnis angesehen werden, insbesondere in der ersten Phase der Transformation. Seit Mitte der 1990er Jahre setzt sich aber das Arrangementgedächtnis, das sich im Medium der Literatur und der Alltagskommunikation artikuliert, immer stärker durch.20 Dieser Sachverhalt kann unterschiedlich erklärt werden, wobei ein vollständiges Bild erst durch die Summe der Teilaspekte entsteht. Sabrow nennt in diesem Zusammenhang einen wichtigen Umstand, nämlich den Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis, der erst zwanzig Jahre nach dem Mauerfall sichtbar wird, weil die DDR immer weniger Bestandteil der „Erfahrungswelt“21 ist. Phänomene, die noch vor wenigen Jahren für selbstverständlich galten, werden erklärungsbedürftig. Im Falle der genannten Perspektiven handelt es sich also nicht um eine bloße Präsentation der eigenen Geschichtsversion, sondern um die Frage, welches Bild der DDR (und des eigenen Lebens) die Probe der Zeit bestehen wird.

1.3 Schweigende Schafe? Zur Reaktion der ostdeutschen SchriftstellerInnen Im Falle der literarischen Auseinandersetzung mit der ‚Wende‘ und der DDR-Zeit haben wir es mit der von Sabrow als Arrangementgedächtnis bezeichneten Form des Gedächtnisses zu tun. Die politischen Umwälzungen des Herbstes 1989 bewogen viele Autorinnen und Autoren dazu, sich in die Diskussionen um den kürzlich untergegangenen Staat einzuschalten und Stellung zu den politischen und sozialen Veränderungen zu beziehen. Auch wenn Schriftstellern und Schriftstellerinnen mehrmals ihre Sprachlosigkeit im Angesicht der beinahe revolutionären Vorgänge vorgeworfen wird – teilweise werden sie als schweigende „Schafe“22 oder auch „schweigende Wortführer“23 abgestempelt –, finden derartige Urteile nur in dem Maße Bestätigung, als die Schrei-

19 Sabrow: Die DDR erinnern, S. 19. 20 Vgl. Sabrow: Die DDR erinnern, S. 20. 21 Sabrow: Die DDR erinnern, S. 20. 22 Vgl. Rolf Schneider: Das Schweigen der Schafe. Über den ostdeutschen Kulturbetrieb. In: Merkur 48 (1994), H. 543, S. 537–543. 23 Joachim Fest: Schweigende Wortführer. Überlegungen zu einer Revolution ohne Vorbild. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (30.12.1989), S. 25.

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 1 Politische Umwälzungen von 1989/1990 und ihre Konsequenzen

benden aus der DDR die Wünsche und Erwartungen der westdeutschen Feuilletonisten und Kritiker nicht erfüllt haben. Schweigsam waren sie nicht – weder im Jahre 1989 selbst noch in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten. Unterscheiden lassen sich allerdings gewisse Phasen der literarischen Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte und der eigenen Anteilnahme am Geschehen, die auch mit prägnanten Tendenzen im Bereich der Ästhetik einhergehen. Von scharfen Grenzen kann hier allerdings kaum die Rede sein; es handelt sich eher um eine Unterscheidung, die die jeweiligen Dominanten im ostdeutschen Erzählen von der DDR und der ,Wende‘ hervorhebt. So erwarten die westdeutschen Kritiker in der unmittelbaren Nachwendezeit vergeblich einen Gesellschaftsroman, der eine Diagnose der Diktatur hervorbringen würde. Wulf Kirsten hat in einem Interview bereits im Frühjahr 1990 eine Diagnose formuliert, die sich im Laufe der Zeit als durchaus begründet erwiesen hat. Jetzt wird es erst mal dokumentarische Literatur geben, Augenzeugenberichte, Protokolle. Aber die eigentliche literarische Verarbeitung in Romanen, Theaterstücken und Gedichten, das wird ein Weilchen auf sich warten lassen.24

Darauf mag die Enttäuschung der Kritiker gründen, wenn sie zum Argument der vermeintlichen ostdeutschen Sprachlosigkeit greifen. Damit scheint aber eine Fülle von Material übersehen zu werden, das zum Teil bloß dokumentarischen Charakter hat, zum Teil aber auch anspruchsvolle literarische Texte umfasst. Die von Wulf Kirsten angesprochene Produktion – worunter auch autobiographische Schriften zu zählen sind – erreicht ein von ihm wohl kaum erwartetes Ausmaß. Die sogenannte Wendeliteratur erscheint als „Wegbegleiterin des gesellschaftlichen Transformationsprozesses“,25 die beinahe kein Ereignis, kein Tagesthema unkommentiert lässt. Kerstin Reimann weist darauf hin, dass die Wendeliteratur jedoch Geschichte nicht einfach historiographisch abbildet. Sie „dokumentiert die Grundgefühle einer Gesellschaft, gibt Auskunft über das Befinden der Menschen und greift Diskussionen auf, die tiefer gehen als der Tagesjournalismus der Presse und Medien.“26 Reimann zeigt das Ausmaß des Phänomens. Allein bis zum Jahr 1995 sind mehr als eintausend Titel erschienen, die sich mit der ,Wende‘ und den damit verbundenen Transformationsprozessen auseinandersetzen. Rund zwanzig Prozent der Bücher, die der ,Wendeliteratur‘ zugerechnet werden können, haben autobiographischen oder dokumentarischen Charakter. Weitere zwanzig Prozent können als essayistisch klassifiziert werden.27 Tagebücher, Protokolle, Autobiogra-

24 Peter Mosler: Jetzt erst mal Dokumente. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Wulf Kirsten. In: Frankfurter Rundschau (5.04.1990). 25 Reimann: Schreiben nach der Wende, S. 9. 26 Reimann: Schreiben nach der Wende, S. 10. 27 Vgl. Reimann: Schreiben nach der Wende, S. 10; vgl. dazu auch Jörg Fröhling (Hg.): WendeLiteratur. Bibliographie und Materialien zur Literatur der deutschen Einheit. Frankfurt a.M. 1996.

1.3 Schweigende Schafe? Zur Reaktion der ostdeutschen SchriftstellerInnen 

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phien und Essays dokumentieren einerseits die individuelle Geschichte, andererseits die historische Umwälzung – das Ich und dessen Reaktion auf die ,Wende‘.28 Diese Tendenz lässt sich auf die neuen Rahmenbedingungen der Literatur zurückführen. In der DDR noch in der Funktion einer Ersatzöffentlichkeit verharrend, wurde die Literatur nach 1989 von dieser Rolle entbunden, und zwar durch Presse und Medien, die nun unmittelbare Aussagen – ohne den Schleier des Fiktiven, ohne Zwischen-den-Zeilen-Lesen – nicht nur förderten, sondern nahezu forderten. Diese neue Chance wussten aber eben die DDR-Autoren zu nutzen, indem sie in zahlreichen öffentlichen Reden, Essays, Interviews oder Protokollen ihre Position unverhüllt zu artikulieren vermochten. Die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen wirkten sich also auf die Schreib- und Ausdrucksweisen der AutorInnen und Autoren im ,Wendejahr‘ sowie in den darauffolgenden Jahren aus.29 Diese Tendenz zu einer ,Wende‘ in der Literatur auszudehnen, wäre allerdings übertrieben. Das Jahr 1989 führte zwar zu einer Akzentverschiebung, hatte allerdings keinen eindeutigen Bruch mit der literarischen Tradition zur Folge. Ähnlich wie das Jahr 1945 einen „Kahlschlag“ nur im metaphorischen Sinne bedeuten konnte und von Literaturwissenschaftlern die Kontinuität der literarischen Tendenzen vor 1933 nachgewiesen wurde,30 bedeutet der Zusammenbruch der DDR kein definitives Absterben ihrer Literatur. Die dokumentarische, darunter auch die uns hier interessierende autobiographische Auseinandersetzung mit der ,Wende‘ sowie der DDR-Vergangenheit kann allerdings schwerlich bloß als ein Phänomen nur der ersten Phase nach den politischen Umwälzungen charakterisiert werden. Der Autobiographie-Boom reicht zeitlich bis in die letzten Jahre hinein. Als Beispiel könnten etwa Christa Wolfs (geb. 1926) autobiographischer Roman Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010), Andrea Hanna Hünnigers (geb. 1984) Autobiographie Das Paradies. Meine Jugend nach der Mauer (2011) oder aber Durs Grünbeins (geb. 1962) Kindheitsbiographie Die Jahre im Zoo (2015) genannt werden. An die Öffentlichkeit treten Autoren in unterschiedlichem Lebensalter, mit unterschiedlicher Lebenserfahrung, die ihr Leben in (und mit) der Deutschen Demokratischen Republik thematisieren. Allerdings durchzieht ein Trend zum Autobiographischen nicht nur die ostdeutsche Literatur. Die in einem Spiegel-

28 Vgl. dazu auch Julia Kormann: Literatur und Wende. Ostdeutsche Autoren nach 1989. Wiesbaden 1999, S. 238; Anne-Marie Corbin-Schuffels: Auf den verwickelten Pfaden der Erinnerung: autobiographische Schriften nach der Wende. In: Volker Wehdeking (Hg.): Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000). Berlin 2000, S. 69; Frank Thomas Grub: Wende und Einheit im Spiegel der deutschsprachigen Literatur: ein Handbuch. Bd.1: Untersuchungen. Berlin 2003, S. 250. 29 Vgl. dazu Kerstin E. Reimann: Sprachlosigkeit nach der Wende? Dokumentarisches Material von DDR-Autorinnen nach 1989. In: Gerhard Fischer/David Roberts (Hg.): Schreiben nach der Wende: ein Jahrzehnt deutscher Literatur 1989–1999. Tübingen 2001, S. 223–234. 30 Vgl. Hans Dieter Schäfer: Zur Periodisierung der deutschen Literatur seit 1930. In: Literaturmagazin 7 (1977), S. 95–115; Hans Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewusstsein. Vom Dritten Reich bis zu den langen Fünfziger Jahren, erweiterte Neuausgabe. Göttingen [o.J.].

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Artikel vom Dezember 1973 verzeichnete „Konjunktur des öffentlichen Privaten“31 bleibt seit Jahren unverändert aktuell, wobei in jüngerer Zeit die fiktionalen Elemente im autobiographischen Erzählen immer präsenter werden.32 Im Zentrum der Texte steht aber immer ein Ich – mehr oder weniger mit fiktionalen Elementen ausgestattet, welche nicht selten die Lücken der Erinnerung zudecken sollen –, das während des Schreibprozesses in den historischen Kontext eingebettet wird.

1.4 Die ostdeutsche Reaktion auf die ,Wende‘ Wird über die Reaktion auf die ,Wende‘ diskutiert, werden oft die ehemaligen DDRBürger als ein Kollektiv betrachtet, dem eine gemeinsame Art des Denkens, Fühlens und Handelns zugeschrieben wird. Das Jahr 1989 hat für ältere Autoren indes eine andere Bedeutung als für die Jüngeren. Zwar haben wir es mit einer historischen Umwälzung zu tun, die zu einem epochalen Ereignis erklärt wurde, dennoch wird das Geschehen

31 Endlich ich sagen. In: Der Spiegel 12 (1973), S. 161, URL: http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-42645394.html (letzter Zugriff am 26.03.2012). Mit einer Art Durchbruch haben wir es in den  1970er Jahren zu tun, die der Krise des Erzählens – diagnostiziert in Schlagworten wie Georg Lukàcs‘ „transzendentale Obdachlosigkeit“ (Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied/Berlin 41971, S. 62, zit. nach: Sylwia Schwab: Autobiographik und Lebenserfahrung. Versuch einer Typologie deutschsprachiger Schriften zwischen 1965 und 1975. Würzburg 1981, S. 7) – ein Ende setzt. So wird das Jahr 1972 zum „Jahr der Biographen“ – wie es Peter Wapnewski bezeichnete (Peter Wapnewski: Das Jahr der Biographen. In: DZ (22.12.1972), zit. nach: Schwab, S. 9.) – erklärt. Heraufbeschworen wird die „Rückkehr des Ich“ (R. Michaelis: Rückkehr des Ich. In: Das war es – war es das? Ein Rückblick auf die kulturelle Szene 1974, zit. nach: Schwab, S. 10.) Die Entwicklung der Autobiographik und eine Typologie des Genres in den Jahren 1965–1975 stellt Sylwia Schwab in ihrem Buch Autobiographik und Lebenserfahrung auf. (Zu der hier angedeuteten Entwicklung vgl. Schwab, S. 7–14). Schwab schreibt der Autobiographik das Verdienst zu, die Krise des Erzählens überwunden zu haben. Die Autobiographik des von  ihr behandelten Lebensraums habe dem Roman ganz neue erzählerische Impulse vermittelt. Die Wissenschaftlerin prognostiziert, dass diese Tendenz wohl in den nächsten Jahren aufrechterhalten werden wird, was sie anhand der Neuerscheinungen der Buchmesse 1976 feststellt. „Dass das Thema Autobiographik weiterhin höchst brisant bleiben wird, dass auch nach dem Jahr 1975 […] noch kein Ende der autobiographischen Welle abzusehen ist, beweist die weiter steigende Flut autobiographischer Neuerscheinungen. Auf der Buchmesse 1976 wird noch immer die ,neue Lust am privaten Vergnügen‘ festgestellt und befriedigt, denn ,der Trend zur Erinnerung hält weiter an‘.“ (S. 12–13) Der Trend hält bis in die Zeit der Niederschrift des vorliegenden Manuskriptes an, wobei die Erzählmuster im Laufe der Zeit nicht die gleichen blieben. So wäre ein groß angelegtes Projekt einer typologischen Erfassung der Autobiographik der letzten Jahrzehnte ein höchst wünschenswertes, wohl aber auch recht komplexes Unterfangen. 32 Vgl. Alexander Cammann/Christoph Dieckmann: Aus dem Osten kommt die Kraft. DDR-Literatur (Gespräch mit Angelika Klüssendorf, Marianne Birthler und Ines Geipel). In: Die Zeit 12 (2014), URL: https://www.zeit.de/2014/12/literatur-ddr-aus-osten-kommt-kraft/komplettansicht (letzter Zugriff: 12.11.2019).

1.5 Generationelle (Selbst-)Verortung als (neues) Paradigma in der Forschung 

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von den jeweiligen Akteuren in der eigenen Lebenserzählung unterschiedlich verortet. Die so genannte ,Wende‘ ist für jeden ein – Wilhelm Pinder paraphrasierend – anderes Zeitalter seiner selbst und deswegen wird es auch recht unterschiedlich wahrgenommen. Das Denken an das Jahr 1989 und die von den Umwälzungen aktivierte, öffentlich vollzogene Erinnerung an die DDR müssen dementsprechend polyphon verstanden werden. Ließen wir aber nur individuelle Stimmen gelten, würden wir in der Flut unterschiedlicher Reaktionen ertrinken, ohne uns mittels einer heuristischen Konstruktion einen Überblick verschaffen zu können, der es uns gestattet, gesellschaftliche Tendenzen zu verstehen. Greifen wir zu der Vorstellung des ostdeutschen Kollektivs, müssen wir uns mit einer allzu grobschlächtigen Vereinfachung begnügen. In diesem mehrstimmigen Chor – so lautet die in der vorliegenden Untersuchung aufgestellte These – lassen sich gewisse gleichgestimmte Einheiten unterscheiden und identifizieren, die von manchen Soziologen als generationsspezifische Perspektive wahrgenommen werden. Fragen wir also nach ,Generationen‘, suchen wir nach überindividuellen Mustern, die jedoch im Gegensatz zu einem nicht näher definierbaren Kollektiv als altersspezifisch präzisiert werden können.

1.5 Generationelle (Selbst-)Verortung als (neues) Paradigma in der Forschung zur ,Wendeliteratur‘. Zum Untersuchungsobjekt Die Hauptfrage der vorliegenden Studie bezieht sich auf die Konstruktion der Selbstbiographie, die von ostdeutschen Schriftstellern und Schriftstellerinnen in den nach der Auflösung der DDR zahlreich herausgegebenen autobiographischen Texten vollzogen wird. Den Ansporn zu einer Art Lebensbilanz gab die Umbruchserfahrung des Jahres 1989. Der literarische Text wird zur Bühne der Verarbeitung der jüngsten Geschichte sowie der individuellen Verantwortung, und vor allem, was damit zusammenhängt oder sich daraus ergibt, der Identitätsfindung, -korrektur oder auch -behauptung. Da sich das autobiographische Schreiben in unterschiedlicher Ausprägung als dominante Aussageform nach 1989 erweist – weil erstens das eigene Leben einen geeigneten Stoff liefert und zweitens der Umbruch zur Selbstreflexion bewegt (vor allem in der unmittelbaren Nachwendezeit, aber auch in den letzten Jahren) –, ist es das Untersuchungsobjekt dieser Studie. Ein weiteres Argument für die Wahl des Genres – außer seiner Popularität – ist die Eigenart des autobiographischen Schreibens als Schauplatz der intendierten Selbstaussage oder präziser der Ich-Inszenierung, die das individuelle Schicksal vor dem Hintergrund seiner Zeit zu verorten und das (individuelle/ kollektive DDR-/ostdeutsche) Dasein zu legitimieren sucht. Es muss explizit darauf hingewiesen werden, dass die Untersuchung sich keineswegs auf die Autobiographie im strikten Sinne beschränkt (zur genauen Begriffsbestimmung und -unterscheidung siehe Kapitel 3). Das Ziel ist vielmehr die Analyse der jeweiligen Selbstaussage und Selbstverortung, die oft die Grenzen der Gattung Autobiographie sprengt. Außerdem greifen einzelne Autoren und mit ihnen verschiedene Generationen zu recht unter-

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schiedlichen literarischen Ausdrucksformen, die sich unter den Begriff „Autobiographik“ subsumieren lassen. Texte, in denen das Fiktive zur Dominante geworden ist – darunter zahlreiche Erfolgsromane zu der DDR-, Wende- und Nachwendezeit wie Thomas Brussigs Helden wie wir, Ingo Schulzes Simple Storys oder auch Uwe Tellkamps Der Turm – werden dagegen in dieser Studie ausgespart, auch wenn sich vermutlich von ihnen sagen ließe, dass sie auf den Erlebnissen und Erfahrungen der Autoren fußen (was man von beinahe jedem literarischen Text behaupten kann). Es geht hier aber nicht um bloße Erlebnisse oder um eine Art Bestandsaufnahme subjektiver Stimmung, sondern um die bewusste Verortung im Erinnerungsdiskurs, die der jeweilige Autor vollzieht, indem er seinen Text mit expliziten Hinweisen – im eigentlichen Text sowie in Paratexten – versieht, die auf eine autobiographische Lesart der erzählten Lebensgeschichte hindeuten und so auch von den Lesern rezipiert werden. Da die Schriftsteller und Schriftstellerinnen in der DDR eine exponierte Rolle spielten und ihre Texte die fehlende Öffentlichkeit ersetzten, wird ihnen auch nach dem Zusammenbruch des alten Systems eine wichtige Aufgabe zuteil, nämlich eine persönliche Abrechnung öffentlich zu vollziehen, die vielen DDRBürgern als Identitätshilfe angeboten wird. Es handelt sich um exemplarische Schicksale, in denen sich zwar nicht jeder wiederfinden kann, deren Aussagekraft jedoch größere Reichweite findet und über das Individuelle hinausgeht. Im Gegensatz zu Memoiren von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, deren Aussagen um ihre gesellschaftliche Rolle, das Feld der Politik oder auch trivial gesagt den Zeitgeist kreisen, ohne die Frage der Identitätssuche bzw. -findung zu berühren, stellen die Schriftstellerautobiographien (in ihren verschiedenen Ausprägungen) das individuelle Schicksal vor dem Hintergrund der geschichtlichen Umwälzungen dar. Mit der ,Wendeliteratur‘ begeben wir uns mitnichten auf ein unerforschtes Gebiet der Gegenwartsliteratur – im Gegenteil, in den letzten Jahren haben wir es mit einer Flut von wissenschaftlichen Beiträgen zu tun, die sich damit auseinandersetzen. Die Interessen der Forscher reichen von Einzelstudien über Beiträge zu Erzählstrategien in der jüngsten Prosa bis zu der Frage nach der Fortdauer der DDR-Literatur bzw. nach dem Stellenwert des literarischen Erbes der DDR. Eine Vielfalt von Perspektiven und Themen wächst zu einer kaum überschaubaren Fülle von Material an. Nichtsdestotrotz fehlt es auf diesem Terrain an theoretischen Paradigmen, die der Forschung neue Impulse geben könnten. Diesen Standpunkt vertritt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Wolfgang Emmerich – Autor der Kleinen Literaturgeschichte der DDR, die zum Standardwerk geworden ist –, der in seinem Beitrag „Habitus- und Generationsgemeinschaften im literarischen Feld Ostdeutschland vor und nach der Wende“ auf methodische Defizite hinweist. Was er bemängelt, sind beschränkte Kenntnisse der Literaturwissenschaftler über die sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungen zu der Lebenswirklichkeit von ,Ostdeutschen‘. Die soziologischen und psychosozialen Studien – im Gegensatz zu den germanistischen Forschungen meistens empiriegestützt – geben einen interes-

1.5 Generationelle (Selbst-)Verortung als (neues) Paradigma in der Forschung 

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santen Einblick in das seit der ,Wende‘ und der Vereinigung veränderte literarische Feld sowie in die habitualisierten Dispositionen der in diesem Feld handelnder Akteure. Wolfgang Emmerich liefert folgende Argumente, die auch meinem Ansatz zugrundeliegen. [U]m verstehen und erklären zu können, welche tiefgreifende Differenzen zwischen Autoren (Autorengruppen) in West und Ost, aber auch zwischen verschiedenen Lesern (Lesergemeinschaften) in West und Ost (und noch einmal intern differenziert: in Ostdeutschland für sich) bestehen, muß man ein Wissen darüber erwerben, mit welchem „kulturellen Erbe“ […], mit welchen habitualisierten Verhaltensdispositionen, mit welchem sozialen, kulturellen und symbolischen Kapital Ostdeutsche in die Wende- und Nachwendezeit eingetreten sind. All das ist wiederum stark abhängig davon, wie alt – 70, 50, 30, 10 Jahre oder kaum geboren? – ein Mensch damals, 1989/90, war, d.h., in welchem Lebensalter die neuen Lebenschancen und Verhaltenszumutungen […] über ihn oder über sie gekommen sind.33

Dieser Versuch wird in der vorliegenden Studie unternommen, und zwar ausschließlich auf dem Gebiet der Autobiographik. Tatsächlich sind die in den Texten entworfenen Selbstbiographien als Selbstthematisierungsformeln ein viel versprechendes Untersuchungsobjekt, weil das von Emmerich angesprochene ,Kapital‘ hier in doppelter Hinsicht zum Tragen kommt – einerseits wird es zum literarischen Thema, andererseits erhält es eine materielle Gestalt in Form des Buches, in dem nach dem Prozess der Selbsterkenntnis und Selbstauslegung der Weg der Kommunikation mit der Außenwelt und damit der eigenen Positionierung angeschlagen wird. Wolfgang Emmerich nennt in seinen Überlegungen zwei Theorieparadigmen, mit denen das Verhalten und Handeln ostdeutscher Autoren, Literaturwissenschaftler sowie Leser im literarischen Feld erforscht werden kann. Er greift einerseits zu der Habitus- und Kapitaltheorie Pierre Bourdieus, andererseits zum Generationstheorem Karl Mannheims. Beide Theoreme heben im besonderen die Bedeutung der frühen Prägungen im Sozialisationsprozess hervor und scheinen dazu geeignet zu sein, das ostdeutsche Idiom zu problematisieren. Die vorliegende Arbeit versucht den soziologischen Standpunkt miteinzubeziehen, womit sie der Forderung Wolfgang Emmerichs zumindest ansatzweise entgegenkommt. Nun geht es hier nicht um die Präsentation einiger ausgewählter Beispiele, die die individuelle Sicht veranschaulichen, sondern darüber hinaus um eine Antwort auf die Frage, ob sich die Einzeldarstellungen in gewisser Hinsicht, in bestimmten Fragen, Daten, Gefühlen überschneiden und damit über eine kollektive Dimension verfügen. Man könnte zwar der Versuchung erliegen und das ganze Gebiet schlechthin als ,ostdeutsche‘ Erinnerung klassifizieren. Bevor man diesem Gedanken allzu vorschnell erliegt, muss jedoch in den Texten selbst untersucht werden, ob sich die einzelnen Autoren auf diese Weise definieren oder ob

33 Wolfgang Emmerich: Habitus- und Generationsgemeinschaften im literarischen Feld Ostdeutschland – vor und nach der Wende. In: Holger Helbig (Hg.): Weiterschreiben. Zur DDRLiteratur nach dem Ende der DDR. Berlin 2007, S. 270.

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sie zu anderen Identitätszuschreibungen greifen. Will man aber noch weiter differenzieren, erscheint der Generationenbegriff als viel versprechend. Er findet hier als heuristische Kategorie Anwendung, um die verschiedenen Sicht- und Schreibweisen ostdeutscher Autoren und Autorinnen und die von ihnen vollzogenen (Re)Konstruktionen der Selbstbiographie zu untersuchen. Im Zentrum des Interesses stehen jedoch nicht modische Generationen-Labels34 wie „Generation X“, „Generation Single“ oder auch „Generation Mietwagen“ – um nur einige zufällig ausgewählte Zuschreibungen zu erwähnen, die heute in Umlauf sind –, von den Medien oder den Akteuren selbst erzeugt, sondern der Generationenbegriff als „zeitliche[r] Ordnungsbegriff“ – wie ihn Ulrike Jureit auslegt –, der „verspricht, eine spezifische Ausprägung des Denkens, Fühlens und Handelns zu erklären, indem die unterstellte dauerhafte und gleichwertige Wirkung von Sozialisationsbedingungen als kollektive Erfahrungen aufgefasst wird.“35 Zur ausführlichen Erklärung willen sei einleitend die Definition Ulrich Herrmanns zitiert, die die Mehrdimensionalität des Terminus auf den Punkt bringt: Eine Generation – genauer und richtiger eine Generationseinheit [im Sinne des Klassikers der Generationsforschung Karl Mannheim, siehe dazu Kapitel 2 – K.N.] – ist ein kollektives Handlungs- und Deutungs-Subjekt, das als sozial-kulturell wirksame Größe auftritt, sich bemerkbar macht, sein Selbstverständnis dokumentiert, oder als solches (re)konstruiert wird. Generation ist ein aufschlussreiches historiographisches Instrument, vor allem zur Markierung von Zusammenhängen und Differenzen in Prozessen des sozial-kulturellen und politisch-ökonomischen Wandels, in geschichtlichen Kräftekonstellationen und Bewegungen […]. Generationseinheit ist – um mit Dilthey zu sprechen – Zentrum von ,Kraft‘, ,Energie‘, ,Wirksamkeit‘. Das unterscheidet sie von der Kohorte, die wie Jahrgang lediglich Zeitgenossenschaft und deren ,durchschnittliche‘ Mentalität bezeichnet. Generationszugehörigkeit beleuchtet meist auf höchst aufschlussreiche Weise die Hintergründe, Triebkräfte und Motive von Akteuren durch Rekonstruktion der ihnen gemeinsamen lebensgeschichtlich wirksamen Prägungen. Generationen gestalten Geschichte, und der Gang der Geschichte gestaltet Generationen.36

Wenn auch Hermanns Auslegung des Begriffes komplex und überzeugend wirken mag, bleiben einige Aspekte nach wie vor erklärungsbedürftig. Mit dem Terminus „Generation“ begeben wir uns nämlich wiederum in das schwer durchschaubare Gebiet der wissenschaftlichen Theorie und Praxis. Generation ist zwar ein vielversprechender Begriff, auf den wir heutzutage beinahe in allen Lebensbereichen – privater wie öffentlicher Art – stoßen. Während aber in der Geschichte von Familien 34 Vgl. Laura J. Hohenstein-Hintermüller: Die Karriere des Begriffes „Generation 9/11“ im Spiegel ausgewählter US-amerikanischer Printmedien und des bedeutendsten US-amerikanischen online 9/11-Archivs. Dissertation an der Universität Wien, Juli 2010, S. 13, URL: http://othes.univie. ac.at/11127/1/2010-07-12_9908884.pdf (letzter Zugriff: 4.07.2011). 35 Ulrike Jureit: Generationenforschung. Göttingen 2006, S. 7–8. Soweit nicht anders vermerkt, stammen alle Hervorhebungen von den AutorInnen, die zitiert werden. 36 Ulrich Herrmann: Was ist eine „Generation“? Methodologische und begriffsgeschichtliche Explorationen zu einem Idealtypus. In: Annegret Schüle/Thomas Ahbe/Rainer Gries (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Leipzig 2006, S. 39.

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eine Abfolge von Generationen sich ohne Schwierigkeiten nachweisen lässt, sind Generationen auf dem gesellschaftlichen und kulturellen Gebiet „pure Metaphorik, Erfindung, Konstrukt.“37 Thomas Anz verweist auf Parallelen zwischen Generationen und Epochen – beide „komplexitätsreduzierende Konstruktionen“ mit „rhetorische[r] Funktion“.38 Um den Generationenbegriff zu verteidigen, greift Anz zu den Argumenten von Niklas Luhmann aus dessen Arbeit „Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie“. „Man könnte“, schreibt Luhmann […], „Geschichtsverlaufdarstellungen und Epocheneinteilungen [sowie Behauptungen über einen Generationenwechsel, ergänzt Thomas Anz – K.N.] als eine Art Volksglauben der Intellektuellen abtun, der sich bei näherem Zusehen in Nebel auflöste.“ Damit wäre freilich, so Luhmann weiter, „verkannt, in welchem Maße solche Selbstbeschreibungen, die Differenzerfahrungen artikulieren und überartikulieren, als Fakten in den Geschichtsverlauf eingehen und in ihm weiterwirken.“39

So vertritt Thomas Anz den Standpunkt, dass der Begriff „Generation“, auch wenn er zu Simplifizierungen verführe, weiterhin seine Verwendung in der wissenschaftlichen Praxis finden könne. Das aber nur unter der Bedingung, dass der Forscher sich dessen bewusst ist.40 Diesen Weg geht auch Wolfgang Engler, der in seinem populär gewordenen Buch über Die Ostdeutschen als Avantgarde, in dem er ein Porträt der einzelnen Generationen der DDR-Bevölkerung sowie eine Art kollektive Biographie der Ostdeutschen zu skizzieren versucht, die in seinem Vorhaben steckenden Gefahren wie auch deren Vorteile präsentiert. „Kollektive Biographien, gemeinschaftliche Schicksale gibt es so gut wie individuelle,“ – konstatiert der Soziologe – „und solange man sich der Vielfalt in der Einheit bewußt bleibt, spricht nichts gegen ein solches Verfahren.“41 So wird auch hier das Generationenkonzept im Bewusstsein seiner Defizite in Anschlag gebracht. Ulrich Herrmann verweist im Kontext geschichtswissenschaftlicher Begriffsbildung auf den von Max Weber entwickelten Begriff des Idealtypus, mit dessen Hilfe „die Konstruktion eines geschichtlichen oder sozialkulturellen Sachverhalts möglich [ist], den es in seiner Spezifik […] zunächst deskriptiv darzustellen, insoweit dadurch zu verstehen und auf dieser Grundlage theoretisch zu erklären gilt.“42 Diese Gedan-

37 Thomas Anz: Generationenkonstrukte. Zu ihrer Konjunktur nach 1989. In: Andrea Geier/Jan Süselbeck (Hg.): Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generationsfragen in der Literatur seit 1990. Göttingen 2009, S. 16. 38 Anz: Generationenkonstrukte, S. 26. 39 Niklas Luhmann, zit. nach: Anz: Generationenkonstrukte, S. 28. 40 Vgl. Anz: Generationenkonstrukte, S. 29. 41 Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde. Berlin 2002, S. 13. 42 Herrmann: Was ist eine „Generation“, S. 24.

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kenfigur dient somit dazu, den Prozess des Verstehens zu unterstützen. Hermann legt den Weberschen Idealtypus wie folgt aus: Bei Max Weber heißt es, daß sich der Sozialwissenschaftler zunächst ein „Idealbild“ von als widerspruchslos „gedachten Zusammenhängen“ macht, dessen „Eigenart“ wir „an einem Idealtypus pragmatisch (!) veranschaulichen und verständlich machen können.“ Dieser Idealtypus „ist keine Hypothese, aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen. … Er wird gewonnen durch die einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandener Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde.“43

Ein Idealtypus ist demzufolge ein zielgerichtet konstruierter Begriff, der einer verstehenden Methode zuzuordnen ist. Es handelt sich um eine Gedankenfigur – vom Realtypus manchmal weit entfernt –, eine Art ‚Messlatte‘, an der die Realität gemessen wird. So dürfen als Idealtypen sowohl der von Luhmann erwähnte Epochenbegriff als auch der Generationenbegriff angesehen werden. Beide können zu einem strukturierten Überblick über literarische bzw. soziale Phänomene verhelfen. Der Generationenbegriff ermöglicht aber auch, den untersuchten Zeitraum nicht als ein homogenes Ganzes zu betrachten, sondern manchmal widersprüchliche Tendenzen offen zu legen, die parallel auftreten, wie etwa die unterschiedliche Sicht der DDR-Vergangenheit. Bereits Wilhelm Pinder verwies in seinem Werk Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas aus dem Jahre 1928 auf diese eigenartige „Polyphonie“.44 Jeder lebt mit Gleichaltrigen und Verschiedenaltrigen in einer Fülle gleichzeitiger Möglichkeiten. Für jeden ist die gleiche Zeit eine andere Zeit, nämlich ein anderes Zeitalter seiner selbst, das er nur mit Gleichaltrigen teilt. Jeder Zeitpunkt hat für Jeden nicht nur dadurch einen anderen Sinn, daß er selbstverständlich von Jedem in individueller Färbung erlebt wird, sondern […] schon dadurch, daß das gleiche Jahr für einen Fünfzigjährigen ein anderer Zeitpunkt seines Lebens ist, als für einen Zwanzigjährigen […].45

Autobiographische Texte ostdeutscher Autoren und Autorinnen zeigen in aller Schärfe die von Pinder akzentuierte „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“.46 Was für eine Gemeinschaft als Niederlage gilt, wird von einer anderen als Triumph interpretiert und gefeiert. Was für eine Generation ein zentrales Ereignis darstellt, wird von einer anderen Generation als zweitrangige Erfahrung gedeutet. So dürften auch Erinnerungen an die gleiche Zeitspanne von vergleichbarer Ungleichzeitigkeit geprägt sein. 43 Herrmann: Was ist eine „Generation“, S. 24 (Fußnote 3) – Herrmann zitiert Max Webers „Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ (1904) – Hervorhebungen stammen von Weber. 44 Wilhelm Pinder: Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas. Köln 1949, S. 40. 45 Pinder: Das Problem der Generation, S. 35. 46 Pinder: Das Problem der Generation, S. 27.

2 Zum Problem der Generationen …das Jahrhundert, als welches sowohl den willigen als unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt daß man wohl sagen kann, ein Jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden seyn. (Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit)

Die inflationäre Verwendung des Generationenbegriffs in beinahe allen Bereichen der menschlichen Tätigkeit, als wäre es einer der selbstverständlichsten Termini, hält nicht Schritt mit seiner theoretischen Auslegung. Auf Konjunktur und gleichzeitige Unschärfe des Terminus verweist etwa Sigrid Weigel in ihrem Buch Genea-Logik. Vom Feuilleton über Wirtschaft bis zu der Wissenschaft stößt man auf ‚Generationen‘, ohne dass im Vorfeld über ihre theoretische Abgrenzung nachgedacht wird. In den letzten Jahren sind Feuilletons und Zeitungspublikationen zu einem reichen Betätigungsfeld für die Porträts und Geschichten immer neuer Generationen und für den Einfallsreichtum in der Erfindung neuer Generationsnamen geworden. Für längere Zeit hatte es so ausgesehen, als sei der Begriff eher in die Bereiche von Technik und Werbung hinübergewandert, wo er den schnellen Wechsel von Typen, Leistungsfunktionen und Design der Geräte, Maschinen, Fahrzeuge oder Computer anzeigt, für neue Modelle wirbt […]. In jüngster Zeit aber ist der Begriff in den Diskurs über Haltungen, Stile und Mentalitäten zurückgekehrt, in dem nahezu wöchentlich neue Generationen auftreten. Und auch in der Wissenschaft ist ein Trend zur Generationenforschung zu verzeichnen […]. 1 Allerdings ist

1 Weigel verweist auf Forschungsinstitute und Graduiertenkollegs, darunter auf das Göttinger Graduiertenkolleg „Generationengeschichte“. Während im Feuilleton tatsächlich keinerlei Spuren einer theoretischen Begründung dieses Forschungsfeldes zu finden sind, setzen sich Forschungsgruppen doch mit dem Terminus auseinander. Auch wenn jedes Konzept Angriffsflächen bieten mag, darf nicht behauptet werden, dass der Generationenbegriff unreflektiert verwendet wird. So lieferte auch der Göttinger Graduiertenkolleg eine recht ausführliche Beschreibung seines Vorhabens: „Das Forschungsprogramm verbindet die verschiedenen Ansätze in den meist getrennt wahrgenommenen Forschungsfeldern zur Generationsfrage, um aus Elementen der Sozialisationsforschung (Generationsbeziehungen), der politischen Konflikt- und Revolutionsforschung (politische Generation), der literarischen Stilforschung (literarische Generation), der empirischen Kulturforschung (Konsumgeneration) sowie der Erzählforschung (Erinnerungsgeneration) einen integralen Ansatz für generation studies in den historischen Kultur- und Sozialwissenschaften zu begründen. Die Historisierung dieser generationellen Thematik erfordert eine Periodisierung von der sogenannten ‚Sattelzeit‘, d. h. der sich beschleunigenden Zeiterfahrung am Ende des 18. Jahrhunderts, bis zum Ende der politischen Generationen der Weltkriegs- und Revolutionsepoche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Generationsbildung wird jedoch oftmals verkürzt in der selber [sic!] historisch geprägten Definition (von Karl Mannheim) als wiederkehrende heroische oder tragische Selbst-Generierung der männlichen Jugend wahrgenommen. Das Kolleg geht statt dessen von der Generation als Bewegungs- und Beziehungsbegriff aus, der das Muster des ‚generation building‘ als soziokulturelle Kategorie des politischen Konflikts und des kulturellen Wandels versteht und neben Klasse und Geschlecht eine https://doi.org/10.1515/9783110710793-002

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 2 Zum Problem der Generationen

in all diesen Vorhaben und Texten selten das Konzept der Generation selbst Gegenstand von Untersuchungen […]. 2

Auch in wissenschaftlichen Arbeiten gibt es kein Einverständnis darüber, was ‚Generationen‘ seien und ob es sie überhaupt gebe.3 Auch wenn in der Generationenforschung grundsätzlich zwischen Generation als Selbstthematisierungsformel und Generation als analytischer Kategorie theoretisch unterschieden wird, verschwimmen die Grenzen in der Forschungspraxis.4 So gehen viele Wissenschaftler von der generationellen Selbstthematisierung aus und versuchen daraus ein Modell abzuleiten, das auch gesellschaftliche Veränderungen erklären helfen soll.5 „Die Einsicht, dass es sich um ein wirkmächtiges Konstrukt handelt,“ – erklären Andrea Geier und Jan Süselbeck in der Einleitung zum Sammelband Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generationenfragen in der Literatur seit 1990 – „bedeutet allerdings keineswegs, dass damit bereits ein inhaltlicher Konsens hergestellt wäre. Denn umstritten bleibt, ob sich mittels dieses sozio-kulturellen Modells tatsächlich bestimmte lebensweltliche Phänomene sinnvoll beschreiben lassen […].“6 So stoßen wir auf den soziologischen, historischen oder auch pädagogischen Generationenbegriff, ohne dass die einzelnen Disziplinen zu einer fachübergreifenden Definition gelangen. Während im pädagogisch-psychoanalytischen Bereich ein familiäres Generationenverständnis dominiert,7 bei dem der Fokus auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern

spezifische Differenzkategorie sowohl für die Marktgesellschaft als auch für das Geschlechterverhältnis […] bereit stellt. Das Studienprogramm überwindet auf diese Weise die disziplinären Grenzen […].“ (Göttinger Graduiertenkolleg „Generationengeschichte“, URL: http://www.generationengeschichte. uni-goettingen.de/forschungsprogramm.php, letzter Zugriff: 2.03.2012). 2 Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München 2006, S. 107. 3 Bernd Weisbrod erachtet nicht die Frage, ob es so etwas wie Generationen gebe, sondern „in welcher Weise und mit welchem Interesse ihr Vorhandensein jeweils deklariert oder konstruiert wird.“ – Bernd Weisbrod: Einführung. In: ders. (Hg.): Historische Beiträge zur Generationsforschung. Göttingen 2009 (Göttinger Studien zur Generationsforschung. Veröffentlichungen des DFG-Graduiertenkollegs „Generationengeschichte“. Bd. 2), S. 7. Ähnlich argumentieren u.a. auch Ohad Parnes/Ulrike Vedder/ Stefan Willer: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Frankfurt a.M. 2008, S. 20. 4 Dass der Gebrauch des Generationenkonzeptes auch in den Literaturwissenschaften nicht einheitlich ist, darauf verweist Gerhard Lauer in seinem Sammelband Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationsforschung. Der Begriff „wird zwar sporadisch in der Literaturwissenschaft verwendet, das aber ohne systematischen Anspruch.“ – Gerhard Lauer: Einführung. In: ders. (Hg.): Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationsforschung. Göttingen 2010 (Göttinger Studien zur Generationsforschung. Veröffentlichungen des DFG-Graduiertenkollegs „Generationengeschichte“. Bd. 3), S. 15. 5 Vgl. Jureit: Generationenforschung, S. 9–10. 6 Andrea Geier/Jan Süselbeck: Was haben die „Trends im Erzählen“ seit 1990 mit der „Generationenfrage“ zu tun? Einführendes zur Konzeption des Bandes. In: dies. (Hg.): Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generationenfragen in der Literatur seit 1990. Göttingen 2009, S. 7. 7 Vgl. Jureit: Generationenforschung, S. 10.

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gerichtet wird, entwerfen vor allem soziologische, historische und politikwissenschaftliche Studien „horizontal strukturierende Forschungsmodelle“, die – wie es Ulrike Jureit in ihrem Versuch der systematischen Darstellung der verschiedenartigen Ausrichtungen der Generationenforschung auf den Punkt bringt – generationelle Vergemeinschaftungen als altersspezifische Prägungs- und Deutungseinheiten verstehen und in ihnen potentielle und tatsächliche Handlungseinheiten identifizieren. Generation gilt dann als Kategorie der Gleichzeitigkeit, wobei die Beziehungsgröße nicht die Familie, sondern die Gesellschaft darstellt.8

Da es sich hier in erster Linie um die Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft handelt, wird vorwiegend auf soziologische Arbeiten zurückgegriffen, denen auch quantitative wie auch qualitative empirische Studien zugrunde liegen. Das grundlegende theoretische Werk der soziologischen Generationenforschung bleibt die bereits 1928 veröffentlichte Arbeit Karl Mannheims „Das Problem der Generationen“. Auch wenn inzwischen eine Menge neuerer theoretischer Überlegungen entstanden sind, die Mannheims Thesen kritisch hinterfragen,9 wird sein

8 Jureit: Generationenforschung, S. 10. 9 Die Kritik am Ansatz Mannheims lässt sich drei Lagern zuordnen, worauf ausführlich Andreas Kraft und Mark Weißhaupt in ihrem Beitrag „Erfahrung – Erzählung – Identität und die Grenzen des Verstehens“ zu sprechen kommen. Sigrid Weigel sieht in dem Begriff ein Ideologem, das unreflektiert verwendet wird, was sie in ihrem Buch Genea-Logik auslegt. Ulrike Jureit und Michael Wildt – die die Aktualität Mannheims kaum hinterfragen – hegen in ihrem Beitrag (einer Einleitung zu ihrem Sammelband Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs) den Zweifel, ob Generation als geschichtswissenschaftliches Erklärungsmodell geeignet sei. Das Göttinger DFGGraduiertenkolleg Generationengeschichte fasst in seinem Sammelband Generation als Erzählung Generationen als Erzählungen, die es zu dekonstruieren gelte. (Vgl. Andreas Kraft/Mark Weißhaupt: Erfahrung – Erzählung – Identität und die „Grenzen des Verstehens“: Überlegungen zum Generationenbegriff. In: dies. (Hg.): Generationen. Erfahrung – Erzählung – Identität. Konstanz 2009, S. 18–19). „Man kann zusammenfassend sagen – erklären Kraft und Weißhaupt –, wenn Weigel die generationale Erfahrungsdimension als unterschwelligen Mechanismus der Weitergabe von gefährlichen Deutungsmustern deterministisch verengt, wird der Zusammenhang von generational bedingter Erfahrung und generational gleichartigem gesellschaftlichem Gestaltungswillen bei Jureit/ Wildt als unproblematisch einfach vorausgesetzt.“ (S. 22) Das DFG-Graduiertenkolleg unterscheidet verschiedene Erzählstrategien, die von Generationen verwendet werden. „Die Herausgeber [des Bandes – K.N.] unterscheiden zum einen generationale Erzählungen, die als Argument für strategische Verortung in Inklusions- und Exklusionsprozessen dienen, des Weiteren Erzählungen, die in der Form eines Mythos auf ein Ursprungserlebnis einer generationalen Abfolge rekurrieren, welches weitergegeben wird, dann Erzählungen, welche Generationen einen Auftrag für die Zukunft aufgeben (insbesondere auch im Sinne der Selbstbeauftragung) sowie die Kategorie der generationalen Erzählungen als Konstrukte […].“ (Kraft/Weißhaupt: Erfahrung – Erzählung – Identität, S. 23). Die einzelnen Strategien können sich dabei durchaus überlagern. Das Hauptproblem erblicken Kraft und Weißhaupt allerdings darin, dass sich die Herausgeber des erwähnten Bandes nicht entschieden hätten, ob sie das Generationenkonzept grundsätzlich als „bloße Erzählung“ entlarven oder aber die ‚wirklichen‘ Generationen von den konstruierten unterscheiden wollen (vgl. S. 23). Oliver Neun weist in demselben

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Generationenbegriff noch immer in der Soziologie und anderen Disziplinen rezipiert und weiterentwickelt.10 Das Mannheimsche Grundkonzept bleibt weiterhin aktuell.11 Generation ist für Mannheim keine Gruppe im soziologischen Sinne. „Die Einheit einer Generation“, schreibt er, „ist zunächst gar keine auf konkrete Gruppenbildung hinstrebende soziale Verbundenheit“, sondern ein „bloß[er] Zusammenhang“,12 ein „Verhältnis der Gleichzeitigkeit von Individuen“,13 wie es vorher schon Wilhelm Dilthey formuliert hatte. So bezeichnet Wilhelm Dilthey – und nach ihm auch Karl Mannheim – diejenigen Menschen als einer Generation zugehörig, „welche gewissermaßen nebeneinander emporwuchsen d.h. ein gemeinsames Kindesalter hatten, ein gemeinsames Jünglingsalter, deren Zeitraum männlicher Kraft teilweise zusammenfiel“.14 Berücksichtigt wurden demzufolge nur männliche Subjekte. Diejenigen – lesen wir weiter bei Dilthey – welche in den Jahren der Empfänglichkeit dieselben leitenden Einwirkungen erfahren, machen zusammen eine Generation aus. So gefasst, bildet eine Generation einen engen Kreis von Individuen, welche durch Abhängigkeit von denselben grossen Tatsachen und Veränderungen, wie sie in dem Zeitalter ihrer Empfänglichkeit auftraten, trotz der Verschiedenheit hinzutretender anderer Faktoren zu einem homogenen Ganzen verbunden sind.15

Band darauf hin, dass während Mannheim in Deutschland diskutiert, nicht selten auch hinterfragt wird, er im angelsächsischen Raum gerade erst entdeckt wird. (Vgl. Oliver Neun: Zur Kritik am Generationenbegriff von Karl Mannheim. In: Kraft/Weißhaupt (Hg): Generationen, S. 237.) Neun analysiert Kritikpunkte an dem Generationenkonzept Mannheims, die er auch konsequent zurückweist, „da sie sich entweder am Text nicht belegen lassen oder einer empirischen Überprüfung nicht standhalten.“ (S. 238). 10 Vgl. auch Mary Fulbrook: Generationen und Kohorten in der DDR. Protagonisten und Widersacher des DDR-Systems aus der Perspektive biographischer Daten. In: Annegret Schüle/Thomas Ahbe/Rainer Gries (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Leipzig 2005, S. 113–130. 11 Vgl. Jürgen Zinnecker: Das Problem der Generationen. Überlegungen zu Karl Mannheims kanonischem Text. In: Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. München 2003, S. 55. Ulrike Jureit und Michael Wildt verweisen ebenfalls auf die Aktualität Mannheims, dessen „analytischer Vorschlag […] für zahlreiche Untersuchungen richtungweisend geworden [ist]. Bis heute gilt ,Generation‘ als wissenschaftlich anerkannte und aussagekräftige Kategorie zur Systematisierung und Deutung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, insbesondere zur Erklärung historischer Dynamik.“ – Jureit/Wildt: Generationen, S. 12. 12 Mannheim: Das Problem der Generationen. In: ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. von Kurt H. Wolff. Neuwied am Rhein/Berlin 1970, S. 524. 13 Wilhelm Dilthey: Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat. In: ders: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Stuttgart/Göttingen 81990, S. 37. 14 Dilthey: Über das Studium der Geschichte, S. 37. 15 Dilthey: Über das Studium der Geschichte, S. 37.

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Auch Mannheim deutet die frühesten Erlebnisse von Heranwachsenden – die zumeist als „natürliches Weltbild“16 empfunden werden – als prägende Faktoren, die auch im Erwachsenenleben unsere Weltsicht beeinflussen. Es ist weitgehend entscheidend für die Formierung des Bewußtseins, – erklärt Mannheim im weiteren Verlauf seiner Argumentation – welche Erlebnisse als ,erste Eindrücke‘, ‚Jugenderlebnisse‘ sich niederschlagen, und welche als zweite, dritte Schicht usw. hinzukommen. Ferner: es ist ganz entscheidend für ein und dieselbe ‚Erfahrung‘ und deren Relevanz und Formierung, ob sie von einem Individuum erlebt wird, das sie als einen entscheidenden Jugendeindruck, oder von einem anderen, das sie als ,Späterlebnis‘ verarbeitet.17

Der von Mannheim erwähnte Mechanismus der „Erlebnisschichtung“18 ist ein ernst zu nehmender Befund. Den Jugenderlebnissen wird in der Ausformung des menschlichen Bewusstseins eine wichtige Aufgabe zuteil. Dass sie aber allein den weiteren Verlauf des Lebens determinieren, stellen heutzutage viele Forscher in Frage. Aus psychologischer Sicht sind die in der Kindheitsphase gesammelten Erlebnisse, die im Laufe des weiteren Lebens zu Erfahrungen verarbeitet werden,19 die sich auf die Weltanschauung wie auch auf die Handlungsweise auswirken mögen, genauso wichtig wie die Jugenderlebnisse. Auch die Erfahrungen des Erwachsenenalters bleiben nicht ohne Einfluss auf die Identität des Einzelnen wie des Kollektivs – und als solchen müssen wir die Kategorie der ‚Generation‘ verstehen. Ulrike Jureit zufolge bleiben im Mannheimschen Konzept frühkindliche Prägungen wie Erlebnisse der Erwachsenen zweitrangig und erscheinen beinahe wie unbedeutende Wiederholungssequenzen.20 Diese Einschränkung hält sie für unzeitgemäß. Ein Identitätskonzept, dass [sic!] Selbstbilder nicht als prozeßhaft hergestellte und lebenslang zu bearbeitende Konstrukte versteht, kann heute nicht mehr überzeugen. Menschen haben keine Identität, sondern arbeiten an ihr. Dabei rekurrieren sie zwar auf zurückliegende, biographisch einschneidende Erfahrungen […]. Psychoanalyse und Hirnbiologie sprechen beispielsweise den ersten Lebensjahren eine sehr viel stärkere Prägekraft zu.21

So stößt man in den jüngsten Studien zu den Generationen in der DDR und in der Nachwendezeit auf diesen Begriff, der die gesamte Spanne des Lebens umfasst. Dies ist auch der Fall in den Arbeiten von Thomas Ahbe und Rainer Gries, auf die

16 Mannheim: Das Problem der Generationen, S. 536. 17 Mannheim: Das Problem der Generationen, S. 536. 18 Mannheim: Das Problem der Generationen, S. 536. 19 Mit Erfahrungen haben wir es zu tun, wenn Menschen ihre Erlebnisse verarbeiten, aus ihnen „bestimmte Schlüsse ziehen, Gewohnheiten ableiten und zu begründen versuchen.“ – Jureit: Generationenforschung, S. 13. Anzumerken wäre an dieser Stelle, dass Mannheim in seinem Text nicht zwischen Erlebnis und Erfahrung unterscheidet. (Vgl. Kraft/Weißhaupt: Erfahrung – Erzählung – Identität, S. 17). 20 Vgl. Jureit: Generationenforschung, S. 27. 21 Jureit: Generationenforschung, S. 27.

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im weiteren Verlauf des Buches Bezug genommen wird. Der Soziologe Ahbe und der Historiker Gries berücksichtigen ein breites Spektrum der Faktoren, die das von ihnen angestrebte Porträt der einzelnen Generationen ausfüllen sollen. Über die für die politische Sozialisation wichtigen Jugendzeit hinaus soll die gesamte Lebensspanne einer Generation oder eines Generationszusammenhanges beschrieben werden; gefragt werden soll also auch nach den jeweiligen kollektiven Prägungen der Kindheit, nach den Problemen und Gratifikationen ihrer mittleren Lebensphase, nach dem Beitrag, welchen die Erwachsenen zur spezifischen Funktion der DDR-Gesellschaft leisteten, nach dem sozialisatorischen Erbe, welches sie als Eltern ihren Kindern mitgaben oder etwa nicht mitzugeben vermochten und schließlich soll die generationsspezifische Lebensbilanz im Alter dokumentiert werden.22

Auch wenn Thomas Ahbe und Rainer Gries – als einige der vielen Soziologen und Historiker auf diesem Feld – Karl Mannheims Konzept modifizieren, basieren ihre Ausführungen immer noch auf dessen Grundannahmen, ohne den Ansatz in Frage zu stellen. Als das Hauptverdienst Mannheims können wir seine Unterscheidung der einzelnen ,Stufen‘ der Generationenbildung ansehen, die vor einer undifferenzierten Verwendung des Begriffs bewahren mag.23 „Indem man nämlich ohne weitere Differenzierung einfach von ‚Generationen‘ spricht,“ – erklärt Mannheim in seiner Arbeit „Das Problem der Generationen“ – „vermengt man biologisch-vitale Phänomene stets mit den entsprechenden, durch gesellschaftlich-geistige Mächte geformten Erscheinungen und kommt dadurch zu einer ,Geschichtstabellensoziologie‘ […].“24 So unterscheidet der Soziologe zwischen Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheit, um Missverständnissen vorzubeugen und um das sich aus dem biologischen Rhythmus ergebende Potential von der gefühlten, geistigen Verwandtschaft zu unterscheiden. Die Generationslagerung ist fundiert durch das Vorhandensein des biologischen Rhythmus im menschlichen Dasein: durch die Fakta des Lebens und des Todes, durch das Faktum der begrenzten Lebensdauer und das Faktum des Alterns. Durch die Zugehörigkeit zu einer Generation, zu ein und demselben ,Geburtenjahrgange‘ ist man im historischen Strome des gesellschaftlichen Geschehens verwandt gelagert.25

22 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte. Theoretische und methodische Überlegungen am Beispiel der DDR. In: Annegret Schüle/Thomas Ahbe/Rainer Gries (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Leipzig 2006, S. 492. 23 Lutz Niethammer verweist darauf, dass Mannheim den Generationenbegriff „differenziert dimensioniert“, was auch vor Widersprüchen schützen kann. – Lutz Niethammer: Sind Generationen identisch?. In: Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. München 2003, S. 10. 24 Mannheim: Das Problem der Generationen, S. 553. Darin sieht auch Ulrike Jureit das Verdienst Mannheims. Seine „Differenzierung zwischen Alterskohorten, Generationszusammenhang, Generationseinheit und konkreten Trägergruppen ermöglicht es, der Suggestivkraft generationeller Selbstthematisierungen mit analytischer Distanz zu begegnen.“ – Jureit: Generationenforschung, S. 47. 25 Mannheim: Das Problem der Generationen, S. 527.

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Mannheim ist jedoch weit davon entfernt, aus diesen biologischen Fakten direkt eine soziale Vergemeinschaftung abzuleiten. Solch eine pauschale Schlussfolgerung der „Positivisten“ – wie Mannheim es selbst nennt –, die von ihm scharf kritisiert wird, ist einer der Pole, zwischen denen der Soziologe seinen Ansatz formuliert. Im Gegensatz zu der ,positivistischen‘ Ausrichtung, die bestrebt ist, aus biologischen Gesetzen eine Art historische Rhythmik abzuleiten,26 scheint die „romantisch-historische“27 Ausrichtung das Gesellschaftliche vergessen zu haben. Mannheim versucht zwischen beiden Denkrichtungen zu vermitteln. So ist der Generationszusammenhang viel mehr als eine bloße Generationslagerung, „genau so, wie bloße Klassenlage noch nicht gleichzusetzen ist einer sich selbst konstituierenden Klasse.“28 Die Generationslagerung verkörpert Möglichkeiten, die bei günstigen soziohistorischen Bedingungen aktiviert werden können. Man muss noch in derselben historischen Lebensgemeinschaft leben, um der potentiellen Kraft zur Entfaltung zu verhelfen. Man muß im selben historisch-sozialen Raume – in derselben historischen Lebensgemeinschaft – zur selben Zeit geboren worden sein, um ihr zurechenbar zu sein, um die Hemmungen und die Chancen jener Lagerung passiv zu ertragen oder auch aktiv nützen zu können. Nun ist aber der Generationszusammenhang noch mehr als die so umschriebene bloße Präsenz in einer bestimmten historisch-sozialen Einheit. Irgendeine konkrete Verbindung muß noch hinzukommen, um von einem Generationszusammenhang sprechen zu können. Diese Verbundenheit könnte man kurzweg eine Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen dieser historisch-sozialen Einheit bezeichnen.29

Nicht die Geburtsjahrgänge allein machen einen Generationszusammenhang aus, sondern dieselben historischen und sozialen Auswirkungen, denen deren Angehörige ausgesetzt sind, dieselben Erlebnisse, die allerdings recht unterschiedlich verarbeitet werden und zu verschiedenen Reaktionen bewegen können. Damit gelangen wir auch zu der letzten Stufe der Generationsbildung, nämlich der Generationseinheit, in der wir die Generation im eigentlichen Sinne erblicken können. Es handelt sich um eine gefühlte Gemeinschaft, um eine vergleichbare Art der Reaktion auf die äußeren Einwirkungen.30 In diesem Sinne erscheint die Generationseinheit als Verarbeitungskategorie. Der Generationseinheit schreibt Mannheim ein formendes Potential zu und folgt in diesem Sinne dem bereits von Wilhelm Pinder eingeschlagenen Weg, der in seiner Untersuchung Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas von der für 26 Vgl. Mannheim: Das Problem der Generationen, S. 511. 27 Mannheim: Das Problem der Generationen, S. 516–517. 28 Mannheim: Das Problem der Generationen, S. 542. 29 Mannheim: Das Problem der Generationen, S. 542. 30 Lutz Niethammer erklärt die einzelnen Kategorien als „die objektive Generationenlagerung“, den Generationenzusammenhang als „geschichtsverstrickte[…] Schicksalsgemeinschaft, die er [Mannheim – K.N.] wieder nach soziologischen und erfahrungsgeschichtlichen Kriterien in mehrere ,Generationseinheiten‘ mit unterschiedlichen Betroffenheiten und differenzierbaren Handlungs- und Deutungsmöglichkeiten auseinander nimmt.“ – Niethammer: Sind Generationen identisch?, S. 10–11.

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jede Generation charakteristischen „Entelechie“31 ausgeht. Mannheim verweist ebenfalls auf „Formierungstendenzen“, ohne die eine Generation kaum zu denken ist: Wir sprechen in solchen Fällen von einem neuen Generationsstil, von einer neuen Generationsentelechie. Auch hier gibt es zwei Abstufungen. Es gibt zunächst den Fall, wo diese Generationseinheit einfach und unbewußt aus einem neuen, durch sie geschaffenen Impuls heraus ihre Werke und Taten gestaltet und nur intuitiv von einer Zusammengehörigkeit weiß, diese aber noch nicht als Generationseinheit ins Bewußtsein hebt. Dann aber gibt es den Fall, wo die Generationseinheit als solche bewußt gewertet und gepflegt wird: wie etwa bei der modernen Jugendbewegung in der neuesten Entwicklung […].32

Nicht jede Generationseinheit muss sich zwangsläufig als solche definieren. Nicht selten erfolgt der Prozess der generationellen Vergemeinschaftung erst im Rückblick auf das bisherige Leben,33 was durch bestimmte Ereignisse bzw. sich verändernde Lebensumstände hervorgerufen werden kann. In diesem Sinne erscheinen ,Generationen‘ auch als Erinnerungsgemeinschaften.34 Im Gegensatz zu der ‚positivistischen‘ Forschungsrichtung führt Mannheim die Frequenz der Generationsbildung nicht auf den biologischen Rhythmus des Todes und der Geburt zurück. Es sei ihm zufolge nicht vorauszusehen, wie oft – alle 15, alle 30 oder auch alle 100 Jahre – ein neuer ‚Generationsstil‘ zustande kommt. Es hängt von den äußeren sozialen und geistigen Umständen ab. Nicht jeder Geburtsjahrgang bringt aus sich heraus eine neue formende Kraft hervor. Mannheim lenkt seine Aufmerksamkeit auf die Frage, die in wissenschaftlichen Kreisen auch heutzutage lebhaft diskutiert wird, nämlich wie es dazu kommt, dass sich aus manchen Jahrgängen Generationseinheiten herauskristallisieren, während andere Kohorten nie zu gefühlten Gemeinschaften werden. Die Antwort findet der Soziologe in Großereignissen und dem damit verbundenen beschleunigten Tempo, das allerdings nicht zu sehr gesteigert werden darf, weil der Prozess des generation building dadurch gestört oder gar unterbrochen werden könne. Je beschleunigter also das Tempo der gesellschaftlich-geistigen Dynamik ist, um so mehr Chancen bestehen, daß bestimmte Generationslagerungen gerade aus ihrer neuen Generationslage heraus auf die Wandlungen mit einer eigenen ,Entelechie‘ reagieren. Andererseits kann ein zu stark beschleunigtes Tempo dazu führen, daß die Keime der Generationsentelechien sich gegenseitig verschütten.35

31 Pinder: Das Problem der Generation, S. 45. 32 Mannheim: Das Problem der Generationen, S. 550. 33 Vgl. Jureit: Generationenforschung, S. 52. 34 Auf solche „Ex-post-Konstrukte“ verweist auch Bernd Weisbrod. Nicht der Krieg selbst sei identitätsstiftend, „sondern nur der ,Mythos‘ des Krieges kann als ersehnter identitärer Erfahrungsraum angesprochen werden.“ – Bernd Weisbrod: Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 8 (2005), S. 6. 35 Mannheim: Das Problem der Generationen, S. 551.

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Was nach Mannheim identitätsstiftend wirkt, sind gemeinsame Erfahrungen. Bernhard Giesen verweist in diesem Kontext insbesondere auf leibliche Erfahrung, denn Narben seien bessere Zeugen des Kampfes als Worte.36 Partizipation scheint auch Authentizität der Erfahrung zu sichern. So erklärt Giesen, welche Kriterien eine generationsstiftende Erfahrung erfüllen soll: Die kollektive Erfahrung sollte nicht zu gut in wohlbekannte Muster passen, sie muss unvergleichlich, unmittelbar und authentisch wirken. Ein Ereignis erreicht diese Glaubwürdigkeit gewöhnlich durch einen Bezug auf persönliche, insbesondere körperliche Erfahrung.37

Dank medialer Vermittlung – sei es im Fernsehen, Radio, Literatur o.Ä. – muss aber nicht zwangsläufig jeder am Ort des Geschehens gewesen sein. Es erscheint als zweitrangig, ob ein Akteur daran persönlich teilnahm oder aber potentiell dabei hätte sein können, denn „[a]uch die medial vermittelte Teilnahme am Außerordentlichen ist eine Teilnahme und kann diese körperliche Präsenz erzeugen, wenn auch in abgeschwächter Form. Die fehlende Anwesenheit wird dabei durch die Gleichzeitigkeit der medialen Wahrnehmung ausgeglichen […].“38 In dem Mannheimschen Ansatz werden historische Umbruchserfahrungen zu entscheidenden Faktoren der Generationenbildung erklärt. Mag diese Bemerkung für politische Generationen zutreffend sein, scheint sie ihre Geltungskraft im einundzwanzigsten Jahrhundert zum Teil verloren zu haben. Es wird in neueren Arbeiten immer häufiger danach gefragt, welche andere Faktoren die generationelle Vergemeinschaftung einleiten und fördern können. Was im Prozess der Generationenbildung auf jeden Fall nötig erscheint, sind „Generationsobjekte“,39 die Mannheim zwar nicht auf diese Weise bezeichnet, wohl aber in den Großereignissen erblickt. Der britische Psychoanalytiker Christopher Bollas verweist auf die emotionale Bindung an gewisse Objekte, die Identität schaffen, was die Gemeinschaftsbildung fördert. Jede Generation wählt sich ihre Generationsobjekte, Personen, Ereignisse, Dinge, die für die Identität dieser Generation eine besondere Bedeutung haben. Alle Generationsobjekte sind auch für eine andere Generation potentiell signifikant – zum Beispiel die Beatles –, aber diese Generationsobjekte haben dann gewöhnlich eine andere Bedeutung.40

Das Spektrum der möglichen Generationsobjekte ist viel breiter, als es Mannheim in seiner Abhandlung berücksichtigt, und reicht von historischen Großereignissen bis zu kleinsten Details des täglichen Lebens wie Musikgruppen, Songs, Filmen oder auch Verhütungsmitteln wie Eva-Maria Silies in ihrem Buch Liebe, Lust und Last. Die 36 Vgl. Bernhard Giesen: Ungleichzeitigkeit, Erfahrung und der Begriff der Generation. In: Andreas Kraft/Mark Weißhaupt (Hg.): Generationen. Erfahrung – Erzählung – Identität. Konstanz 2009, S. 201. 37 Giesen: Ungleichzeitigkeit, S. 201. 38 Giesen: Ungleichzeitigkeit, S. 202. 39 Jureit: Generationenforschung, S. 91 40 Bollas, zit. nach: Jureit: Generationenforschung, S. 91.

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Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960–198041 behauptet. Eine besondere Rolle schreibt Ulrike Jureit den Bildern (darunter auch den Fotografien) zu, deren Wert über ihre bloße Präsenz als Generationsobjekte hinausgeht. Sie fungieren als „Gefühlscontainer“.42 Sie können je nach Bedarf wieder aufgerufen werden und das Gemeinschaftsgefühl stärken. Jureit verweist auf die Existenz anderer Objekte, die generationsstiftend wirken können, darunter Musik, bildende Kunst und Literatur. Für sie hätten die Sozial- und Kulturwissenschaften es versäumt, das generationsstiftende Potential der genannten Bereiche näher zu erforschen.43 Begreift man Generationen als Erfahrungsgemeinschaften, verliert der Bezug zu historischen Großereignissen nahezu zwangsläufig an Relevanz. […] [N]ahezu alle Lebensbedingungen können für die Herstellung generationeller Verbundenheit Bedeutung erlangen. Gefühlte Gemeinschaften  brauchen keine konkreten Geschehnisse, wohl aber die Erwartung, dass andere ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie man selbst und daraus auch vergleichbare Schlüsse ziehen. Generation ist aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive vornehmlich eine Verarbeitungskategorie, mit der sich Menschen sowohl ihre alltäglichen als auch ihre biographisch einschneidenden Erlebnisse kollektiv aneignen. […] Das gemeinschaftsstiftende Potential liegt auf der kulturell codierten Ebene der Deutung und der Verarbeitung.44

Aber abgesehen davon, was in den Rang eines Generationsobjektes erhoben wird, kann dies nur im Akt der Kommunikation vollzogen werden. Keine generationelle Vergemeinschaftung ist ohne geistigen Austausch, ohne gegenseitige Verständigung denkbar.45 Während im Falle der postheroischen Generationen Elemente des Alltags zu Generationsobjekten avancieren, basiert die Gruppenidentität im Falle der politischen bzw. politisch geprägten Generationen auf historischen Ereignissen wie politischen Umbrüchen. Gesucht wird nach einem Gründungsereignis, das nicht selten auf ein traumatisches Erlebnis zurückgeführt werden kann. Bernhard Giesen46 – ähnlich wie Andreas Kraft und Mark Weißhaupt – verweist auf die (sprachliche) „Unvermittelbarkeit von [insbesondere traumatisierenden – K.N.] Erfahrungen“.47 Der Mannheimsche Generationenbegriff sei besonders im Zusammenhang mit den Teilnehmern des Ersten und Zweiten Weltkriegs anschlussfähig an das psychoanalytische Konzept des Traumas.48 41 Eva-Maria Silies: Liebe, Lust und Last. Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960–1980. Göttingen 2010 (Göttinger Studien zur Generationsforschung. Veröffentlichungen des DFG-Graduiertenkollegs „Generationengeschichte“. Bd. 4). 42 Jureit: Generationenforschung, S. 94. 43 Vgl. Jureit: Generationenforschung, S. 95. 44 Jureit: Generationenforschung, S. 14. 45 Vgl. Jureit: Generationenforschung, S. 92–95. 46 Vgl. Giesen: Ungleichzeitigkeit, S. 206. Bernhard Giesen: Generation und Trauma. In: Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. München 2003, S. 60–71. 47 Kraft/Weißhaupt: Erfahrung – Erzählung – Identität, S. 26. 48 Vgl. Kraft/Weißhaupt: Erfahrung – Erzählung – Identität, S. 25.

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So erzeugt das kollektive Trauma einer Generation einen charakteristischen geschichtlichen Horizont […], ein Gründungsereignis der Geschichte, das für die Lebenszeit einer Generation weder mit der vorhergehenden, noch mit der folgenden Generation geteilt wird. Erst später, wenn die Generation dahinschwindet und das Schreckliche ausgesprochen werden kann, wenn das, was bis dahin ein unveräußerliches Trauma gewesen ist, zum Gegenstand historischer Rekonstruktion wird, erst dann löst die Grenze des Verstehens auf und das Gründungsereignis wird in eine Abfolge historischer Erzählungen eingebunden.49

Nun stellt sich aber im Kontext eines totalitären Systems eine viel grundsätzlichere Frage, ob es unter Bedingungen eingeschränkter Freiheit der Prozess der Generationsbildung überhaupt zustande kommen kann. So bestreitet etwa der Politikwissenschaftler Albert Göschel grundsätzlich die Möglichkeit der Ausbildung von Generationseinheiten in der DDR.50 Ahbe und Gries vertreten den Standpunkt, dass Kritiker wie Göschel „die auch in der DDR-Diktatur bestehenden Chancen für eigensinnige generationsstiftende Kommunikation“51 unterschätzen. Zensur und staatliche Kontrolle seien nicht im Stande gewesen, die zur Herausbildung von Generationen notwendige Kommunikation gänzlich zu verhindern.52 So kommen Thomas Ahbe und Rainer Gries zu dem Schluss: In gewisser Hinsicht legt gerade der Umstand, dass die DDR diktatorisch verfaßt war, eine jahrgangs- beziehungsweise generationsspezifische Analyse nahe. Denn durch die zentrale Steuerung von Wandlungs- und Aufstiegsprozessen bekam die Zugehörigkeit zu Geburtsjahrgängen für Privilegien und Benachteiligungen und damit für die Ausbildung von Deutungsmustern, Arrangements und Identifikationen eine größere Bedeutung als in liberal verfaßten Gesellschaften.53

Laut Ahbe und Gries repräsentieren Generationen „das bewußtgewordene und auch angenommene Schicksal von benachbarten Jahrgängen, deren Angehörige sich in den Konflikten ihrer Zeit in bestimmter Weise positioniert haben.“54 Dieser Positionierung standen die Kontrollmaßnahmen nicht im Wege, was sie in ihrer Studie auch zeigen. Der Soziologe Thomas Ahbe und der Geschichtswissenschaftler Rainer Gries haben zuerst Interviews mit Vertretern der ostdeutschen Gesellschaft durchgeführt, die sie später sozialgeschichtlich kontextualisiert haben.55 Daraus ist ein Modell entstanden, eine „idealtypische Konstruktion“, die gewisse Mechanismen „provisorisch veranschaulicht“ und „erklärendes Verstehen anstrebt“,56 auch wenn sie in dieser 49 Giesen: Ungleichzeitigkeit, S. 206. 50 Vgl. Albert Göschel: Kontrast und Parallele. Kulturelle und politische Identitätsbildungen ostdeutscher Generationen. Stuttgart u. a. 1999, S. 18–19. 51 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 487. 52 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 487. 53 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 487–488. 54 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 486. 55 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 489. 56 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 491.

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reinen Form kaum zu finden ist. „In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in seiner Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Fall festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbild steht.“57 Ahbe und Gries orientieren sich dabei – ähnlich wie der bereits angeführte Ulrich Herrmann – an Max Weber.58 In den zahlreichen Texten, die sich auf die ,Wendeliteratur’ und die DDR-Literatur beziehen, werden meistens drei Generationen von DDR-Autoren unterschieden – die Aufbaugeneration, die mittlere Generation und die jüngere Generation59 –, wobei die Grenzen je nach Fragestellung anders festgelegt werden und sich selten mit konkreten Ereignissen in Verbindung setzen oder sich von ihnen ableiten lassen, was die Identifikation des generationellen ,Kerns‘ erschwert. Die Grenzen erscheinen meistens diffus. Dieses Modell scheint aber – und darin liegt eine grundlegende methodische Schwäche – gewisse Unterschiede zwischen einzelnen ,Gruppen‘ zu übersehen und rechnet einer Generation Kohorten mit recht unterschiedlichen Grunderfahrungen zu. Thomas Ahbe und Rainer Gries60 modifizieren dieses Drei-Generationenmodell, indem sie stark ausgeprägte Generationseinheiten und weitere weniger ausgeprägte

57 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1968 [1922], S. 191, zit. nach: Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 491. 58 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 491. 59 Verwiesen wird in diesem Kontext auf die viel beachteten Studien von Dorothee Wierling zum Geburtsjahrgang 1949, der ersten Nachkriegsgeneration in der DDR. (Vgl. Dorothee Wierling: Geboren im Jahr Eins. Der Geburtsjahrgang 1949 in der DDR. Berlin 2002; Dorothee Wierling: Wie (er)findet man eine Generation? Das Beispiel des Geburtsjahrgangs 1949 in der DDR. In: Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. München 2003, S. 217–228). 60 Die Wahl des Generationenmodells als Grundlage des vorliegenden Projektes erfolgt nicht zufällig, sondern resultiert aus der Analyse der vorhandenen Arbeiten zu den Generationen in der DDR und in Ostdeutschland, die auch in der Arbeit erörtert werden. Nennenswert sind u.a. die Arbeiten von Bernd Lindner: Die Generation der Unberatenen. Zur Generationenfolge in der DDR und ihren strukturellen Konsequenzen für die Nachwendezeit. In: Annegret Schüle/Thomas Ahbe/Rainer Gries (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Leipzig 2005, S. 93–112; Lindner: Sozialisation und politische Kultur junger Ostdeutscher vor und nach der Wende – ein generationsspezifisches Analysenmodell. In: Uta Schlegel/Peter Förster (Hg.): Ostdeutsche Jugendliche. Vom DDR-Bürger zum Bundesbürger. Opladen 1997, S. 23–37; Lindner: „Bau auf, Freie Deutsche Jugend“ – und was dann? Kriterien für ein Modell der Jugendgenerationen der DDR. In: Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. München 2003, S. 187–215; Lindner: Auf der Suche nach der eigenen Generation. Zur generationellen (Selbst-)Bestimmung ostdeutscher Jugendlicher vor und nach dem Ende der DDR. In: Ute Dettmar/Mareile Oetken (Hg.): Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien. Heidelberg 2010, S. 125–140; vgl. auch Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde. Berlin 2002; Engler: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land. Berlin 52008; darüber hinaus: Dorothee Wierling: Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie. Berlin 2002; Peter Förster: Langzeitwirkungen der DDR-Sozialisation. In: Kurt Lüscher/Ludwig Liegle (Hg.): Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft. Konstanz 2003, S. 143–155.

2 Zum Problem der Generationen 

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Formen, so genannte Generationszusammenhänge, berücksichtigen. Daraus ergibt sich eine Konstellation von sechs Generationen, die in bestimmten Beziehungen zueinander stehen und sich auch gegenseitig beeinflussen: die Generation der Misstrauischen Patriarchen (Geburtsjahre von etwa 1893–1916), die Aufbau-Generation (Geburtsjahre 1925 bis 1935), die Funktionierende Generation (Geburtsjahre von etwa 1936 bis 1948), die Integrierte Generation (etwa 1949 bis 1959), die Entgrenzte Generation (geb. um etwa 1960 bis 1972) und die Generation der Wende-Kinder (geb. um etwa 1973 bis 1984).61 Ahbe und Gries liefern hiermit ein vielversprechendes Strukturierungs- und Erklärungsmodell, das nun als heuristischer Rahmen herangezogen wird, das es ermöglicht, die literarischen Texte in ihrem soziologischen Umfeld zu situieren und daran anknüpfend literaturwissenschaftliche Analysen zu vollziehen. Diese ,idealtypischen Konstruktionen’ der ostdeutschen Generationen sollen im folgenden am Beispiel ausgewählter AutorInnen und ihrer intendierten Selbstaussagen überprüft, das heißt das Generationenmodell mit der Realität des literarischen Textes konfrontiert werden. Das Generationsparadigma verspricht eine Erklärung der verschiedenen Reaktionen auf die ,Wende‘ und damit einhergehend verschiedener Formen der literarischen Verarbeitung, die hier zwar nur im Bereich der Autobiographik erprobt wird. Allerdings erscheint gerade dieses Genre – in dem die eigene Lebenserfahrung rekonstruiert und in einen Sinnzusammenhang gebracht wird, um durch die Veröffentlichung dem Erzählten Relevanz zu verleihen – ein geeignetes Übungsfeld zu sein. Dieses Verständnis der autobiographischen Aussage – worauf im Kapitel 3 näher eingegangen wird – liefert Peter Sloterdijk (in der Nachfolge Werner Mahrholz‘ und Bernd Neumanns): Mit der Veröffentlichung seiner Lebensgeschichte entwirft der Autobiograph eine globale Bedeutsamkeit seiner Erzählung. Er nimmt die Hypothek der Repräsentanz auf seine Geschichte. Wann immer der Autor seine Lebenserfahrungen auszubreiten beginnt, tut er es im Bewußtsein, eine repräsentative Rolle zu spielen hinsichtlich historischer, sozialer, geistiger Instanzen, die durch seine Erzählung hindurch sichtbar gemacht werden sollen.62

Die Autobiographik – verstanden als Form der „soziale[n] Handlung“63 – erscheint als ein Medium der Erinnerung, durch das ein kollektives Gedächtnis aufgespannt werde64 und damit auch als eine denkbare Bühne der generationellen Verständigung. 61 Vgl. Thomas Ahbe/Rainer Gries: Geschichte der Generationen in der DDR und in Ostdeutschland. Ein Panorama. Erfurt 2007, S. 80. 62 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre. München/Wien 1978, S. 305. 63 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 249. 64 Vgl. Andreas Nießeler: Erinnerung als Teilhabe. Aspekte sozial- und kulturanthropologischer Gedächtnistheorien. In: Günter Bittner (Hg.): Ich bin mein Erinnern. Über autobiographisches und kollektives Gedächtnis. Würzburg 2006, S. 143.

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 2 Zum Problem der Generationen

Die individuelle Erinnerung – als (R)konstruktion der eigenen Biographie – wird „mithilfe der Kunst Teil eines sozialen und kulturellen Gedächtnisses“.65 Laut Ulrike Jureit beruhe die Herstellung generationeller Verbundenheit auf einem kollektiven Verständigungsgeschehen66 und […] ist daher als überwiegend öffentlicher Kommunikationsprozess zu konzipieren. Dabei geht es selten direkt um das Bekenntnis zu einem bestimmten generationellen Zusammenhang, sondern die emotionale Verbundenheit wird durch die Identifikation mit codierten Objekten erzeugt. Ein ähnlicher Lebensstil, eine gemeinsame Weltanschauung oder ein einschneidendes Erlebnis sind als komplexe Phänomene nur begrenzt oder in Teilen kollektiv verhandelbar, gemeinschaftsstiftend sind daher eher ihre Repräsentationen. Ebenso wie andere Großgruppen brauchen auch Generationen symbolische Ausdrucksformen, um sich zu finden und zu binden.67

Autobiographische Texte dürfen als symbolische Ausdrucksformen, als die erwähnten Repräsentationen definiert werden. Sie leiten einen öffentlichen Kommunikationsprozess ein, was dem Prozess der Generationsbildung entgegenkommt. Generation building sei ein Kommunikationsgeschehen.68 Im Zentrum einer kommunikationstheoretischen Perspektive steht die gegenseitige Verständigung der sich selbst als Generationsangehörige empfindenden Akteure. Ihre Selbstthematisierung muss bereits den privaten Bereich überschreiten und halböffentliche und öffentliche Kommunikationsräume nutzen, um ihre generationsspezifischen Deutungsmuster und Handlungsoptionen auszuhandeln und zu verbreiten.69

Und Literatur darf wohl als ein öffentlicher Kommunikationsraum gedeutet werden. Im Falle der veröffentlichten autobiographischen Texte werden individuelle Selbstthematisierungsformeln zu Angeboten, die kollektiv angenommen werden dürfen,70 zumal Generationen – wie Jureit in Anlehnung an Anderson formuliert – „imagined communities“ sind, d.h. „Generationen gibt es nicht einfach, sondern sie werden gemacht.“71 Dabei wäre anzumerken, dass generationelle Vergemeinschaftung nicht auf alle Kohortenangehörigen zutrifft. Sie sei ein von Eliten – darunter auch von SchriftstellerInnen – getragener Vorgang.72

65 Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, S. 216. 66 Vgl. Jureit: Generationenforschung, S. 129. 67 Jureit: Generationenforschung, S. 129. 68 Vgl. Jureit: Generationenforschung, S. 87. 69 Jureit: Generationenforschung, S. 89. 70 Zu dem „Wir-Bezug im Generationsbegriff“ siehe: Heinz Bude: Die biographische Relevanz der Generation. In: Martin Kohli/Marc Szydlik (Hg.): Generationen in Familie und Gesellschaft. Wiesbaden 2000, S. 19–35. 71 Jureit: Generationenforschung, S. 41. 72 Vgl. Jureit: Generationenforschung, S. 46. Auf ein auf soziale Eliten konzentriertes Konzept stoßen wir bereits bei Mannheim. (Vgl. Jureit: Generationenforschung, S. 34).

2 Zum Problem der Generationen 

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Während der inzwischen als Klassiker geltende Mannheim die Generationen als Jugendgenerationen konzipiert hat, untersuchen Ahbe und Gries die gesamte Lebensspanne einer Generation, was für meine Fragestellung den Vorteil hat, dass die Lage aller Kohorten – nicht nur der Jugendlichen – nach dem Mauerfall berücksichtigt werden kann. Dies eröffnet auch den Weg zur Erklärung der verschiedenartigen Reaktion auf das Ende der DDR und die deutsche Wiedervereinigung, der als Einschnitt in der Biographie der Angehörigen der einzelnen Generationen nicht die gleiche Bedeutung zugeschrieben werden darf. Das bleibt allerdings nicht ohne Konsequenzen für die Textauswahl. In Frage kommen nur diejenigen AutorInnen, die in der DDR geboren und sozialisiert wurden bzw. dort den Großteil ihres Erwachsenenlebens verbracht haben, die also letztendlich im sozialistischen Staat – von einigen Ausnahmen abgesehen – bis zum Mauerfall geblieben sind. Stellungnahmen von Flüchtlingen oder Ausgebürgerten wären zwar höchst interessant. Die unterbrochene DDR-Sozialisation ändert aber die Betrachtungsperspektive der Umwälzungen, so dass diese AutorInnen meines Erachtens in einer separaten Studie behandelt werden sollten. Die meisten Wissenschaftler gehen in ihren Untersuchungen von der generationellen Selbstthematisierung, Selbstverortung aus, d.h. der „Generation für sich“, um daraus ein Modell abzuleiten,73 um festzustellen, ob wir es auch mit einer nachweisbaren „Generation an sich“ zu tun haben. Ich gehe in meiner Untersuchung den umgekehrten Weg und mache von den wenigen vorhandenen Arbeiten zu DDRGenerationen bzw. zu Generationen der Ostdeutschen Gebrauch, um zu prüfen, wie die generationsspezifische Sicht, die Soziologen behaupten, sich auf die Literatur übertragen lässt, ob diese Thesen sich bestätigen, ergänzen oder auch in Frage stellen lassen. Das Generationenmodell wird hier als heuristische Kategorie angewendet, um die verschiedenen Sicht- und Schreibweisen ostdeutscher AutorInnen zu untersuchen. Die literaturwissenschaftlichen Analysen werden nun sozialgeschichtlich kontextualisiert. Im analytischen Teil der Arbeit werden einzelne Generationen – nach dem Modell von Thomas Ahbe und Rainer Gries – vorgestellt. Besondere Aufmerksamkeit soll nur einzelnen ausgewählten Texten geschenkt werden, die bestimmte Tendenzen exemplarisch veranschaulichen können, wobei andere autobiographische Aussagen am Rande mitberücksichtigt werden sollen, um ostdeutsche Dominanten im Erinnerungsdiskurs nach der ,Wende’ herauszuarbeiten. Explizit wird auf AutorInnen eingegangen, die im öffentlichen Diskurs eine exponierte Rolle – sei es als die sich treu gebliebenen vehementen Kritiker der Diktatur, parteitreue Funktionäre oder auch angepasste Mitläufer – spielten, deren Texte breit rezipiert und diskutiert wurden. Gesucht wird sowohl nach generationenübergreifenden Tendenzen als auch nach Konstanten in den jeweiligen Erzählungen, und zwar mit

73 Vgl. Jureit: Generationenforschung, S. 9.

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 2 Zum Problem der Generationen

der Frage, ob wir es mit einer generationsspezifischen Sicht und Schreibweise zu tun haben.

Generation – Habitus – Feld. Nebenbemerkungen Das Hauptanliegen des vorliegenden Projektes orientiert sich zwar am Generationsparadigma, ohne dass auf die von Emmerich vorgeschlagenen Kategorien Pierre Bourdieus explizit eingegangen wird. Bei näherer Betrachtung lassen sich aber Berührungspunkte der beiden Ansätze beobachten, so dass der eine Begriff in die gedankliche Nähe des anderen rückt. Wenn hier nämlich gefragt wird, wie der in der DDR erworbene (generationsspezifische) Habitus die Haltung ostdeutscher Autoren und Autorinnen, ihre Vergangenheitsverarbeitung sowie Positionierung im Erinnerungsdiskurs nach der ,Wende‘ beeinflusst hat, so sind die Bourdieuschen Töne unüberhörbar. Mit seinem Begriff „Habitus” – der selbst eine längere Geschichte hat – versucht Pierre Bourdieu ein System von Dispositionen zu umfassen, die für das Bewusstsein und Handeln eines Individuums verantwortlich sind. „Der Habitus als System von Dispositionen und Schemata fungiert als Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmatrix. Schemata sind im Verlauf der kollektiven Geschichte ausgebildet worden und werden von den Akteuren in ihrer je eigenen Geschichte erworben.“74 Bourdieu hebt besonders jene „Primärerfahrungen“ hervor, die für die Konstitution des Einzelnen ein Leben lang relevant sind. In dem vorliegenden Projekt gehen wir vom Individuellen aus, um zu prüfen, ob sich eine Art generationsspezifischer Habitus erkennen lässt, und zwar im literarischen Feld nach 1989, in dem die Akteure mit DDR-Sozialisation ihre eigene Position neu zu bekräftigen versuchen. Das scheint allerdings nicht in Widerspruch zum Bourdieuschen Forschungsansatz zu stehen. Bourdieu argumentiert nämlich wie folgt: Da die Geschichte des Individuums nie etwas anderes als eine gewisse Spezifizierung der kollektiven Geschichte seiner Gruppe oder Klasse wiedergibt, können in den Systemen der individuellen Dispositionen strukturelle Varianten des Gruppen- und Klassenhabitus gesehen werden.75

Hier wird die individuelle, autobiographische Aussage nach Spuren eines generationsspezifischen Habitus befragt. Obwohl Generation weder als Gruppe noch Klasse verstanden wird, handelt es sich in beiden Kategorien um einen gesellschaftlichen Zusammenhang. Auch wenn Bourdieus Konzept seit den 1980er Jahren teilweise angefochten wird, weil der Autor seine Erklärungsmuster auf stabile Klassengruppen bezieht, die in der 74 Cornelia Bohn/Alois Hahn: Pierre Bourdieu. In: Dirk Kaesler (Hg.): Klassiker der Soziologie. Bd. 2: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu. München 1999, S. 296. 75 Zit. nach: Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Gerhard  Fröhlich. Stuttgart 2009, S. 115.

Generation – Habitus – Feld. Nebenbemerkungen 

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modernen Gesellschaft nicht mehr anzutreffen seien,76 scheinen diese mit Blick auf die ostdeutsche Gesellschaft, die ihre Habitualisierung in den starren Strukturen des sozialistischen Staates durchmachte, geradezu treffend zu sein.77 Wer zum Bourdieuschen Habitus-Begriff greift, muss zwangsläufig den FeldBegriff in seine Überlegungen miteinbeziehen. Beide werden nämlich als zwei Komponenten gedacht, die eine spezifische Funktion in der Theorie Bourdieus erfüllen. Den Zusammenhang erklärt Markus Schwingler folgendermaßen: In jedem Fall müssen ,Habitus‘ und ,Feld‘ theoretisch immer zusammen gedacht und in der empirischen Analyse aufeinander bezogen werden. Es handelt sich um zwei Theoriekomponenten, welche die Opposition von Individuum und Gesellschaft – die eine weitere Variante des Antagonismus von Subjektivismus und Objektivismus darstellt – überwinden sollen. An die Stelle des klassischen Dualismus von Individuum und Gesellschaft (und des Versuchs, individuelle Verhaltensweisen auf die Gesellschaft oder umgekehrt diese auf jene zurückzuführen) tritt bei Bourdieu das Komplementärverhältnis von Leib gewordener Gesellschaft und Ding gewordener Gesellschaft, von Habitus und Feld.78

Was in den Überlegungen immer mitgedacht wird, ist das literarische Feld nach 1989, in dem sich Autoren als soziale Akteure mit ihren autobiographischen Aussagen zu positionieren versuchen. Andererseits muss man das literarische Feld der ehemaligen DDR79 mitdenken, dessen latente Strukturen – obwohl es selbst nicht mehr vorhanden ist – im Habitus verankert sind.

76 Vgl. Bourdieu-Handbuch, S. 116. 77 Bohn und Hahn schlagen vor, von der Pluralität von Habitus auszugehen, die die Individuen im Laufe der Zeit übernehmen. Folglich unterscheiden sie auch einen „Primärhabitus“ (Herkunftsfamilie) und eine Vielzahl von „Sekundärhabitus“. (Vgl. Bohn/Hahn: Bourdieu, S. 261). 78 Markus Schwingler: Pierre Bourdieu zur Einführung. Hamburg 1995, S. 81. 79 Zur Anwendbarkeit des Feldbegriffes auf das Forschungsfeld DDR – Leon Hampel: Die agonale Dynamik des lyrischen Terrains. Herausbildung und Grenzen des literarischen Feldes der DDR. In: Ute Wölfel (Hg.): Literarisches Feld DDR. Bedingungen und Formen literarischer Produktion in der DDR . Würzburg 2005, S. 13–29; Henning Wrage: Feld, System, Ordnung. Zur Anwendbarkeit soziologischer Modelle auf die DDR-Kultur. In: Wölfel (Hg.): Literarisches Feld DDR, S. 53–73.

3 Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht Die beinahe weitweite Popularität des autobiographischen Schreibens nehmen auch Literaturwissenschaftler zur Kenntnis. Davon zeugen zahlreiche Studien zur Autobiographik. Die theoretische Verortung der Autobiographik blieb lange weit hinter ihren Ausdrucksformen zurück. Das wundert allerdings weniger, wenn wir versuchen, uns dieser Aussageform mit dem Hang zum Innovativen anzunähern. Bereits bei dem Definitionsversuch der „Autobiographie“ – um mit dem engeren Terminus anzufangen und im nächsten Schritt zur „Autobiographik“ als Oberbegriff für verschiedene Varianten des autobiographischen Schreibens überzugehen – stoßen wir auf Schwierigkeiten, die Gattungsgrenzen genau zu bestimmen und ihr Wesen zu umreißen, um auf einem dergestalt klar definierten Gebiet unsere literaturwissenschaftlichen Analysen durchführen zu können. Dennoch scheint es unabdingbar, alle möglichen selbstbezogenen Äußerungen zum Zwecke der Definition einzugrenzen. Um das Untersuchungsobjekt der vorliegenden Studie genau zu profilieren, nähere ich mich ausgewählten Definitionsversuchen der Autobiographie an. Auf diese Weise soll ihre Eigenart gezeigt und um die anderen verwandten Formen der autobiographischen Aussage platziert werden. Daran knüpft auch die Formulierung des Rahmens an, der einerseits nicht zu weit gefasst werden soll, um der Gefahr vorzubeugen, in der Fülle des Materials zu ersticken, andererseits muss er so weit gefasst sein, dass er die verschiedenartigen Formen der intendierten Selbstaussage zum Vorschein bringt und die mit und in ihnen betriebene individuelle und generationsspezifische (Re) konstruktion der Selbstbiographie und in ihrem Licht die unterschiedliche Reaktion auf die ,Wende‘ herausarbeiten lässt.

3.1 Entwicklung des Autobiographie-Verständnisses von der literarisierten Zweckform zur literarischen Gattung Die Literaturwissenschaft hat die Gattung Autobiographie erst im zwanzigsten Jahrhundert zur Kenntnis genommen. Dies ist der monumentalen Geschichte der Autobiographie (erster Band 1907/1949) von Georg Misch – einem Schüler Wilhelm Diltheys – zu verdanken. Bis zu dessen Definitionsversuch wurde die Autobiographie vorwiegend als Zweckform begriffen, so dass deren formale Beschaffenheit kaum berücksichtigt wurde und dadurch hinter den Inhalt trat. So definierte Johann Gottfried Herder – über hundert Jahre vor Misch – die Autobiographie als „Spiegel der Zeitumstände“ und suchte in ihr nur nach dem „Stoff zur wahren

https://doi.org/10.1515/9783110710793-003

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 3 Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht

Seelenlehre“.1 Für Herder war die Verstrickung der individuellen Geschichte mit den Zeitumständen ausschlaggebend, was ihn dazu führte, autobiographische Texte nicht nur als Dokumente des einzelnen Menschenlebens zu lesen, sondern darüber hinaus als Zeitzeugnisse.2 Die bloße Abbildfunktion der Autobiographie betonte ebenfalls Wilhelm Dilthey, der das Einzelleben als eine Art Ausschnittsvergrößerung der ‚großen‘ Geschichte auslegte.3 Die in der Autobiographie vollzogene „Besinnung über das Leben“4 mache laut Dilthey „geschichtliches Sehen möglich“.5 So geht das Verständnis des Autobiographischen jahrzehntelang in Richtung der Geschichtsschreibung. Die hermeneutische Perspektive findet auch heutzutage ihre Anhänger, wobei der Akzent immer mehr weg vom Inhalt in Richtung der Form verschoben wird – allerdings noch nicht so stark bei Georg Misch, dem wir die erste – hinsichtlich ihrer Offenheit bis heute brauchbare – Definition der Autobiographie zu verdanken haben. Michaela Holdenried zufolge erhielt die Autobiographie erst dadurch „einen Stellenwert im Kanon der Gattungen“ und wurde somit endlich „theoriefähig“.6 Von seinen Vorgängern entfernt sich Georg Misch deutlich, was in seinem Abschied von der Auffassung der Autobiographie als historischer Quelle sichtbar wird. So legt er die Selbstbiographie nicht als Ausschnitt der ,großen‘ Geschichte aus, sondern als Ausdruck „des menschlichen Selbstbewusstseins“.7 In dieser Position wird ein sichtbarer Wechsel der Perspektive hin zur Sprache sichtbar. [D]ie Selbstbiographien als lautere Quelle für speziell historische Kenntnisse anzusehen, das widerstreitet in der Regel dem Charakter dieser Gattung; ist es doch eine allgemeine psychologische Einsicht, daß die Erinnerung nicht als mechanische Reproduktion vonstatten geht.8

Dieser Paradigmenwechsel bezieht sich nicht nur auf das Verständnis des autobiographischen Textes als Quelle historischen Wissens, sondern greift darüber hinaus das Thema der (Re-)Konstruierbarkeit des eignen Lebens auf. Damit geht der Wahrheitsanspruch der Autobiographie einher, womit eine der Schlüsselkategorien in den frühen Diskussionen um die Gattung angedeutet wird. So kann die Autobiographie höchstens  als

1 Zit. nach: Almut Finck: Subjektbegriff und Autorschaft: Zur Theorie und Geschichte der Autobiographie. In: Einführung in die Literaturwissenschaft, hg. von Miltos Pechlivanos/Stefan Rieger/Wolfgang Struck/Michael Weitz. Stuttgart/Weimar 1995, S. 284. 2 Vgl. Fink: Subjektbegriff, S. 284. 3 Vgl. Michaela Holdenried: Autobiographie. Stuttgart 2000, S. 22. 4 Wilhelm Dilthey: Das Erleben und die Selbstautobiographie. In: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1989, S. 26. 5 Dilthey: Das Erleben und die Selbstautobiographie, S. 30. 6 Holdenried: Autobiographie, S. 14. 7 Georg Misch: Begriff und Ursprung der Autobiographie. In: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1989, S. 42. Es handelt sich um den Ausschnitt aus der dritten, stark vermehrten Auflage von 1949. 8 Misch: Autobiographie, S. 46.

3.1 Entwicklung des Autobiographie-Verständnisses  

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Zeugnis des menschlichen Selbstbewusstseins ausgelegt werden, das auf inhaltlicher und formaler Ebene zum Vorschein kommt, nicht aber als verifizierbare geschichtliche Quelle mit dem Anspruch auf eine objektive Wiedergabe des Geschehens. Georg Misch legt den Begriff „Autobiographie“ folgendermaßen aus: Sie [die Autobiographie – K.N.] läßt sich kaum näher bestimmen als durch die Erläuterung dessen, was der Ausdruck besagt: die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto).9

Die Definition ist dermaßen offen, dass sie weder die formalen Aspekte dieser Darstellung noch eine Darstellungsperspektive näher bestimmt. Insofern macht sie es schwer, die Wesensmerkmale der Autobiographie zu bestimmen und diese von anderen Gattungen abzugrenzen. Andererseits scheint diese Art der Definition der Variabilität der Gattung – vor allem in den letzten Jahrzehnten mit einer Fülle innovativer Formen – gerecht zu werden. Auch wenn manche formalen Kriterien variieren mögen, scheint der Kern des Autobiographischen unverändert geblieben zu sein, der in dem Begriff selbst codiert ist. Im Gegensatz zu seinen Nachfolgern schließt Misch nicht aus, dass auch ein Gedicht oder ein Drama dem Genre der Autobiographie zugerechnet werden dürfen. Darauf weist er in der Vorbereitung seiner Definition explizit hin. Der Wissenschaftler geht vom Wesen des Autobiographischen aus. Sie [die Autobiographie – K.N.] gehört ihrem Wesen nach zu den Neubildungen höherer Kulturstufen und ruht doch auf dem natürlichsten Grunde, auf dem Bedürfnis nach Aussprache und dem entgegenkommenden Interesse der anderen Menschen, womit das Bedürfnis nach Selbstbehauptung der Menschen zusammengeht; sie ist selber eine Lebensäußerung, die an keine bestimmte Form gebunden ist.10

In der Autobiographie treffen sich dementsprechend der jedem Menschen innewohnende Trieb zur Selbstaussage mit dem Interesse an Positionen der Mitmenschen, denen gegenüber er sich mit seiner Darstellung zu behaupten sucht. Dieser Mechanismus kann unterschiedliche Formen annehmen, deren Spannbreite Misch erörtert: Und keine Form fast ist ihr fremd. Gebet, Selbstgespräch und Tatenbericht, fingierte Gerichtsrede oder rhetorische Deklamation, wissenschaftlich oder künstlerisch beschreibende Charakteristik, Lyrik und Beichte, Brief und literarisches Porträt, Familienchronik und höfische Memoiren, Geschichtserzählung rein stofflich, pragmatisch, entwicklungsgeschichtlich oder romanhaft, Roman und Biographie in ihren verschiedenen Arten, Epos, selbst Drama – in all diesen Formen hat die Autobiographie sich bewegt [Hervorhebung K.N.] […].11

Misch scheint demzufolge von der Frage ausgegangen zu sein, welche Formen die autobiographische Aussage im Laufe der behandelten Jahrhunderte angenommen 9 Misch: Autobiographie, S. 38. 10 Misch: Autobiographie, S. 36. 11 Misch: Autobiographie, S. 37.

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 3 Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht

hat oder präziser gesagt, welchen sie sich angenähert hat, womit der fließende Charakter der Gattung mit dem Hinweis auf ihre „Bewegung“ explizit angesprochen wird. Dem Vorhaben liegt eine Art Bestandaufnahme zugrunde, anhand derer ein Definitionsversuch unternommen wurde, der all den Ausdrucksformen gerecht werden könne. Bei späteren Theoretikern werden unter dem Begriff „Autobiographie“ üblicherweise Prosatexte subsumiert, d.h. man beschränkt sich auf narrative Gattungen, denen eine Geschichte zugrunde liegt, deswegen auch der Ausschluss der Lyrik (ohne Geschichte) und des Dramas (mit Geschichte, ohne Erzähler). So könnte als Beispiel der berühmte Definitionsversuch Philippe Lejeunes aus dem Jahre 197312 angeführt werden, in dem die formalen Kriterien stark in den Vordergrund gerückt werden. Eine Autobiographie sei Lejeune zufolge [r]ückblickender Bericht in Prosa, den eine wirkliche Person über ihr eigenes Dasein erstellt, wenn sie das Hauptgewicht auf ihr individuelles Leben, besonders auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.13

Lejeune schränkt den Begriff auf narrative Texte ein. Vorgeschrieben wird eine rückblickende Perspektive auf das Geschehen, was das Spektrum der literarischen Formen noch stärker einschränkt. So dürfte exemplarischerweise das Tagebuch nicht mehr der Autobiographie zugeordnet werden, weil hier in den meisten Fällen das Tagesgeschehen reflektiert wird. Man könnte allerdings in diesem Fall auch so weit gehen (nicht im Sinne Lejeunes), den Erzählvorgang eines Tagebuchs als eine Art deutender Rückschau aufzufassen. Das Erzählte wird aus einer, wenn auch nicht weit entlegenen, so doch rückblickenden, Perspektive des Erzählsubjektes wiedergegeben. Zur Unterscheidung zwischen der Autobiographie und dem Tagebuch liefert Ingrid Aichinger im Anschluss an das Konzept Wilhelm Grenzmanns14 das Argument, dass das Tagebuch sein Hauptgewicht nicht auf das Werden des Subjektes lege und dass ihm einheitliche Komposition und historische Schau fehlen.15 Trotz ihres Versuchs einer theoretischen Abgrenzung der Autobiographie vom Tagebuch verweist Aichinger auf die Gefahr einer zu eng gezogenen Gattungsgrenze.

12 In den 1970er Jahren haben wir es mit einem regen Interesse an der Gattung der Autobiographie zu tun, das nicht nur in Form zahlreicher literarischer Texte dem Genre verpflichtet zum Ausdruck kommt, sondern auch in theoretischen Überlegungen. Im Gegensatz zu dem weit gefassten Begriff werden in den späteren Jahren immer wieder Versuche unternommen, das Gebiet klarer zu umreißen und die ,eigentliche‘ Autobiographie von benachbarten literarischen Formen abzugrenzen, was allerdings nicht selten in der Einsicht mündet, eine zu scharfe Grenzziehung könnte unserer literaturwissenschaftlichen Erkenntnis im Wege stehen. 13 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. In: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1989, S. 215. 14 Vgl. Wilhelm Grenzmann: Das Tagebuch als literarische Form. In: Wirkendes Wort 9 (1959), S. 84–93. 15 Vgl. Ingrid Aichinger: Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk. In: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1989, S. 195.

3.1 Entwicklung des Autobiographie-Verständnisses  

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Hält man am Unterschied der beiden Arten fest, so dürfen in einer Untersuchung über moderne deutsche Autobiographik viele Tagebücher von hoher sprachkünstlerischer Leistung nicht berücksichtigt werden; […] Es würde sich ein verzerrtes Bild der Bemühungen um die literarische Selbstdarstellung ergeben.16

Aus diesem Grunde neigt Aichinger dazu, „die rigorose Scheidung“17 aufzugeben. Die Forscherin geht von einem weit gefassten Begriff „des Autobiographischen Schrifttums“ aus – das auch zur Grundlage der folgenden Untersuchung wird –, worunter eine Vielfalt von Formen subsumiert wird: „die ,eigentliche‘ Autobiographie, […] Memoiren bzw. Erinnerungen, de[r] autobiographische[…] Roman, das Tagebuch; ferner de[r] Brief, das literarische Selbstporträt, die philosophische Reflexion über das Ich, Reisebeschreibungen, Apologien, hin und wieder auch Chroniken“.18 Bezeichnenderweise berücksichtigt auch Aichinger in ihrem theoretischen Versuch weder Lyrik noch Drama als Formen der Selbstbiographie. Ein weiterer Grund dafür mag in der Tatsache liegen, dass die Forscherin explizit auf den Unterschied zwischen ,Erlebnis‘ und ,Leben‘ verweist, wobei das ,Erlebnis‘ mit dem Punktuellen, Spontanen, Fragmentarischen assoziiert werden darf, im Gegensatz zum ,Leben‘, in dem größere Sinnzusammenhänge hergestellt werden. So bedeutet es für Aichinger etwas „grundsätzlich anderes“, „ob ein Erlebnis den Impuls zu einer Dichtung gibt oder ob das Leben eines Menschen in seinen Zusammenhängen beschrieben wird; die Begriffe ,Erlebnis‘ und ,Leben‘ sind also zu trennen.“19 Diese Unterscheidung kommt auch der Leitfrage der vorliegenden Studie entgegen. Die ,Wende‘ fungiert als ein Erlebnis, das den Ansporn zur literarischen Auseinandersetzung gibt. Das Interesse soll aber nur den autobiographischen Aussagen gelten, die sich dem Leben (bzw. abgeschlossenen Lebensabschnitten) zuwenden und in denen auch größere Sinnzusammenhänge hergestellt werden. So wird auch das Tagebuch nicht prinzipiell ausgeschlossen, vorausgesetzt, es thematisiert nicht nur ein Erlebnis, sondern geht von diesem aus und greift in die Darstellung der Totalität des vergangenen Lebens über. In diese Richtung gehen allerdings auch Memoiren, was ebenfalls einer klaren Abgrenzung im Wege stehen kann. Die Unterschiede zwischen Autobiographie und Memoiren lassen sich auf Nuancen zurückführen. Es wird zwar auch in Memoiren das erinnerte Leben dargestellt. Aichinger deutet sie als eine Form der autobiographischen Aussage, in der das Hauptgewicht auf äußere – oft politische – Ereignisse gelegt wird, die zwar auch in den Autobiographien vorkommen können – hier allerdings im Dienste individueller Persönlichkeitsentfaltung. In den Memoiren fehlt der „eigentliche autobiographische Antrieb“, den schon Roy Pascal in den 1960er Jahren zum Hauptmerkmal der Autobiographie macht.20 16 Aichinger: Probleme der Autobiographie, S. 195. 17 Aichinger: Probleme der Autobiographie, S. 195. 18 Aichinger: Probleme der Autobiographie, S. 175. 19 Aichinger: Probleme der Autobiographie, S. 175. 20 Vgl. Roy Pascal: Die Autobiographie. Stuttgart u.a. 1960, S. 19.

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 3 Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht

Dies bedeutet, daß der Autor [der Memoiren – K.N.] selten den tieferen Zusammenhängen seines Lebens nachspürt, seine Existenz ihm nicht zum Problem wird, zum Rätsel, dessen Lösung er zu finden sucht. So ist der manchmal unverbindliche Ton der Memoiren zu erklären, die häufige Blickrichtung auf die Umwelt, die fehlende Einordnung der Geschehnisse in eine Sinngebung für das eigene Ich. – Freilich handelt es sich hier um sehr feine Unterschiede; scharfe Grenzziehungen sind ebenfalls kaum möglich.21

So lassen sich zusammenfassend einige Merkmale der Autobiographie festhalten: die Hervorhebung der Persönlichkeitsentfaltung, die Darstellung des Lebens in seinen Zusammenhängen und als Totalität sowie der autobiographische Antrieb, der auch als Suche nach einem tieferen Sinn zu verstehen ist. Diese Kriterien ermöglichen eine erste Trennung der Autobiographie von anderen Gattungen der intimen Literatur. Diesem Versuch begegnet Elisabeth W. Bruss allerdings mit dem Argument, eine solche Trennung habe sehr oft keine Gültigkeit bei den Autobiographen selbst und lasse sich auf die Erwartungen zurückführen, die die Leser im zwanzigsten Jahrhundert an die Literatur stellen.22

3.2 Autobiographie als Vertragseffekt. Autobiographischer vs. romanesker Pakt Greift man auf die Definition Georg Mischs zurück, die von der Auslegung des Wortes „Autobiographie“ ausgegangen ist, so bleiben noch einige Kategorien übrig, die für das Verständnis der Gattung grundlegend sind. „Die Beschreibung des Lebens eines Einzelnen durch diesen selbst“ bedeutet, dass wir es nun nicht mit der unmittelbaren Präsenz des bloßen Lebens zu tun haben, sondern mit dessen Darstellung. Dies hat zur Folge, dass das Inhaltliche dank einer vermittelnden Instanz im schöpferischen Akt des erinnernden Erzählens wiedergegeben wird. Dass da nichts anderes (re)konstruiert bzw. entworfen wird als das „eigene“ Leben, verweist auf die Identität des Autors mit dem Erzähler und der Figur. Wie schafft es aber der Text selbst von seiner literarischen Realität auf die reale Welt hinzudeuten und das Beschriebene in einem der Konvention eigenen Modus lesen zu lassen? Anders gesagt muss nicht nur gefragt werden, wie der Text beschaffen ist, sondern auch wie er durch diese Beschaffenheit funktioniert. Um diese Fragen zu klären, wird die Perspektive von der produktionsästhetischen auf die rezeptionsästhetische Ebene verlagert, was zu Philippe Leujenes bahnbrechender Kategorie des autobiographischen Paktes führt. An dieser Stelle kommt der doppelte Charakter der Autobiographie als Schreib- und als Leseweise

21 Aichinger: Probleme der Autobiographie, S. 178. 22 Vgl. Elisabeth W. Bruss: Die Autobiographie als literarischer Akt. In: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1989, S. 259.

3.2 Autobiographie als Vertragseffekt. Autobiographischer vs. romanesker Pakt 

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zum Ausdruck,23 als Bühne einer innen- und (durch die die Gattung bestimmende Referenzialität) außerliterarischen Kommunikation. Philippe Lejeune geht in seinem Buch Der autobiographische Pakt vom Standpunkt des Lesers aus, für den der Text geschrieben werde, den der Leser auch im Akt der Lektüre als autobiographisch dechiffriert.24 Der Autor einer Autobiographie geht mit dem Leser eine Art Vereinbarung ein, die die Rezeption des Textes beeinflusst. Wird das autobiographische Paktangebot angenommen, erklärt sich der Leser dazu bereit, den Text in der vorgegebenen Weise zu lesen. Die Bedingungen dafür seien die Nennung des Eigennamens des Autors auf dem Titelblatt – ein recht unscharfes Differenzierungskriterium, weil Texte ohne Angabe des Autornamens auf dem Umschlagsblatt kaum zu finden sind (jedenfalls nicht im zwanzigsten oder einundzwanzigsten Jahrhundert) – und die Identität von Erzähler und Hauptfigur, was Lejeune zufolge am häufigsten durch die Verwendung der ersten Person zustande komme.25 So wäre ein autodiegetisches Erzählen der Normalfall einer Autobiographie schlechthin. Lejeune verweist zu Recht darauf, dass im literarischen Text nicht jedes „ich“ auf den Autor zu übertragen sei. Dazu ist der explizite Bezug zum Eigennamen erforderlich, über den sich Person und Rede erst verknüpfen lassen.26 Man muß also die Probleme der Autobiographie in Beziehung zum Eigennamen setzen. In gedruckten Texten wird jede Aussage von einer Person übernommen, die üblicherweise ihren Namen auf den Buchdeckel und auf das Deckblatt oberhalb oder unterhalb des Werktitels setzt. In diesem Namen wird die gesamte Existenz dessen, den man den Autor nennt, zusammengefaßt: einziges Zeichen im Text von einem unbezweifelbaren Außerhalb-des-Textes, auf eine wirkliche Person verweisend, die auf diese Weise Anspruch erhebt, daß man ihr in letzter Instanz die Verantwortung für die Aussage des ganzen geschriebenen Textes zuschreibt. In vielen Fällen beschränkt sich die Anwesenheit des Autors im Text lediglich auf diesen Namen. Aber der Platz, der diesem Namen eingeräumt wird, ist erstrangig, ist er doch nach allgemeiner Übereinkunft mit dem Engagement einer wirklichen Person zur Verantwortlichkeit verknüpft.27

Dementsprechend bürgt der Autor mit seinem Namen für den Text. Er übernimmt damit die Verantwortung für das Geschriebene. Die Formel dafür wäre Lejeune zufolge: „Ich schwöre, daß ich die Wahrheit sage, die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit.“28 Diese zwar nicht explizit ausgesprochene doch im Text verankerte Erklärung rückt die Autobiographie nicht in die Nähe der Geschichtsschreibung, weil es sich nicht um Rekonstruktion des Geschehens von einer Außeninstanz handelt,

23 Vgl. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 71. 24 Vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. In: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1989, S. 215. 25 Vgl. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 217. 26 Vgl. Wagner-Egelhaaaf: Autobiographie, S. 68. 27 Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 226. 28 Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 245.

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 3 Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht

sondern um jene subjektive ,Wahrheit‘, die dem Individuum zuteil wird, die auch Vergessenes, Verdrängtes oder ungewollt Entstelltes miteinbezieht.29 Wie kommt der autobiographische Pakt zustande? Lejeune sieht zwei Möglichkeiten vor. Entweder ist der Name des Ich-Erzählers und des Protagonisten mit dem auf dem Umschlag abgedruckten Namen des Autors identisch oder die Gattungsattribution („Autobiographie“, „Aus meiner Lebensgeschichte“, „Aus meinem Leben“) – verweist implizit auf die der Gattungskonvention innewohnende Identität AutorErzähler-Protagonist.30 „Der Pakt begegnet bereits im Titel, er wird im Vorwort weiterentwickelt und über die ganze Länge des Textes hinweg bestätigt […].“31 Dass die Verwendung der ersten Person der häufigste Fall der Konstruktion der autobiographischen Aussage bzw. des autobiographischen Lektüreabkommens zwischen dem Autor und dem Leser ist, ist zweifellos zutreffend. Es handelt sich hier allerdings um einen direkten Weg zur autobiographischen Fundierung des Textes. Das Spektrum der Möglichkeiten ist aber viel breiter, als diese einfache Gleichsetzung zwischen Erzähler/Figur und Autor suggeriert. Das wird im Konzept des autobiographischen Paktes ebenfalls am Rande berücksichtigt, wobei die größte Aufmerksamkeit dem weit verbreiteten Fall der Ich-Erzählung geschenkt wird.32 So sei auch Erzählen unter Verwendung einer anderen grammatischen Form denkbar. Dabei bleibt das Kriterium der „Identität der Individuen, auf die die Merkmale der grammatikalischen Person hinweisen“33 unverändert gültig. Wird aber auf die Ich-Erzählung verzichtet, gerät die von Lejeune als Grundsatz der autobiographischen Lektüre formulierte Identität Autor-Erzähler-Figur ins Wanken, weil sie nicht mehr direkt im Text dargeboten zu sein scheint. Die Lösung wird auf einem mittelbaren Weg gefunden. Indem die Autobiographie das Problem des Autors mitspielen läßt, beleuchtet sie tatsächlich Phänomene, die die Fiktion im Ungewissen läßt: besonders die Tatsache, daß es sehr wohl eine Identität des Erzählers mit der Hauptfigur geben kann, nämlich im Fall des Berichtes „in der dritten Person“. Diese Identität, die nun nicht mehr im Inneren des Textes durch den Gebrauch des „Ich“ begründet ist, wird indirekt, jedoch ohne jegliche Zweideutigkeit, durch die doppelte Gleichung Autor = Erzähler und Autor = Figur begründet, woraus man ableitet, daß Erzähler = Figur ist, auch wenn der Erzähler implizit bleibt. Dieses Vorgehen steht, dem Buchstaben nach, im Einklang mit der Grundbedeutung des Wortes Autobiographie: einer Biographie, die von der innerlich beteiligten Person geschrieben wurde, geschrieben jedoch wie eine einfache Biographie.34

Lejeune räumt diesen von ihm zu Randerscheinungen erklärten autobiographischen Erzählweisen wenig Aufmerksamkeit ein. Allerdings drohen aber hier gerade 29 Vgl. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 245. 30 Vgl. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 69. 31 Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 237. 32 Vgl. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 254–255. 33 Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 218. 34 Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 218.

3.2 Autobiographie als Vertragseffekt. Autobiographischer vs. romanesker Pakt 

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die äußeren Bedingungen des autobiographischen Paktes zu verschwimmen, was die Leser daran hindern mag, den autobiographischen Charakter des Geschriebenen zu erkennen und nach den der Gattungskonvention entstammenden Regeln zu rezipieren. So muss das Vertragsabkommen auf andere Textebenen und in Paratexte (gedacht wird an die Peritexte wie Titelseite, Kommentare und Ausschnitte aus den Rezensionen auf der Rückseite des Covers, Informationen zum Autor, Vorworte sowie Anmerkungen des Verfassers oder die öffentlichen Epitexte wie die die Veröffentlichung begleitenden Interviews) verlagert werden, damit der Rezipient den vorgegebenen Weg geht und den in dem Abkommen besiegelten Authentizitätsanspruch nicht hinterfragt. Die Begleitumstände eines Buches, die in Gérard Genettes Paratexte35 ausführlich thematisiert werden, sollen in der Analyse der autobiographischen Schriften mitberücksichtigt werden, weil sie einen nicht geringen Beitrag zur Konstituierung des autobiographischen Paktes leisten.36 Diese Aspekte werden in Lejeunes Ausführungen nur angedeutet, ohne dass der Theoretiker ihren Stellenwert näher erörtert. Im weiteren Verlauf müßte die Untersuchung über die Kontrakte Autor–Leser, über die impliziten oder expliziten Codes der Veröffentlichung – über diese Umsäumung des gedruckten Textes (Autorname, Titel, Untertitel, Name der Sammlung, Name des Herausgebers, bis hin zum zweideutigen Spiel der Vorworte), die in Wirklichkeit die ganze Lektüre bestimmt – müßte diese Untersuchung eine historische Dimension erhalten, die ich hier nicht gegeben habe.37

Philippe Lejeune besteht ausdrücklich auf der Abgrenzung der Autobiographie, der eine Identität Autor-Erzähler-Figur zugrunde liegt, vom autobiographischen Roman, in dem der Leser gewissen Ähnlichkeiten zwischen dem Erzähler/Figur und dem Autor auf der Spur ist. Im letzten Fall wird ein Pakt unter anderen Bedingungen geschlossen, der auch einen entsprechenden Umgang mit dem geschriebenen Wort vorschreibt. Lejeune erklärt seine Verwendung des Begriffes „autobiographischer Roman“:

35 Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Aus dem Französischen von Dieter Hornig, Vorwort Harald Weinrich. Frankfurt a.M. 2001 [1987]. 36 Verwiesen sei in diesem Kontext auf den Paratext als eine parergonale Struktur im Sinne Jacques Derridas. Wie das Parergon dem Ergon nicht nur untergeordnet bleibt, sondern die Haltung des Betrachters beeinflusst, bleibt auch der Paratext nicht ein bloßer Rahmen des literarischen Textes, sondern erscheint beinahe wie ein fester Bestandteil des Werkes. Paratexte dürfen als parergonale Grenzlinie angesehen werden, weil sie einerseits auf das literarische Werk verweisen, andererseits den eigentlichen Text nach außen führen. (Vgl. Katarzyna Norkowska: Selbstinszenierung an den Rändern des Buches? Zum paratextuellen Aufbau ostdeutscher Autobiographik nach 1989. In: Kalina Kupczyńska/Jadwiga Kita-Huber (Hg.): Autobiografie intermedial. Fallstudien zur Literatur und zum Comik. Bielefeld 2019, S. 289–304; Carsten Heinze: Der paratextuelle Aufbau der Autobiographie. In: BIOS 20 (2007), S. 22–39). 37 Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 255–256.

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 3 Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht

Als solche [autobiographische Romane – K.N.] werde ich alle fiktionalen Texte bezeichnen, bei denen der Leser – ausgehend von Ähnlichkeiten, die er zu erraten glaubt – Anlaß hat zur Vermutung, daß es eine Identität von Autor und Figur gebe, während er, Autor, es für richtig hält, diese Identität zu leugnen oder sie doch wenigstens nicht zu bestätigen.38

Im Gegensatz zu Texten, in denen der Autor durch den autobiographischen Pakt explizit die Verantwortung für seinen niedergeschriebenen Lebensentwurf übernimmt, haben wir es hier mit einer Art Distanzierung zu tun. Der Autor entwirft damit auch einen Spielraum für potentielle Leser. Es hängt nämlich von dessen Einstellung ab, wie sich der Rezipient dem Geschriebenen nähert. Wenn die Identität nicht bestätigt worden ist (im Falle der Fiktion), wird der Leser versuchen, Ähnlichkeiten herzustellen, dem Autor zum Trotz. Wenn sie bestätigt worden ist (im Falle der Autobiographie), so wird er dazu neigen, Unterschiede (Irrtümer, Verzerrungen usw.) finden zu wollen. Bei einem Bericht autobiographischen Charakters neigt der Leser oft dazu, sich als Spürhund zu gebärden, das heißt Vertragsbrüche zu suchen (was immer der Kontrakt zu besagen mag). Daher stammt der Mythos, der Roman sei „wahrhaftiger“ als die Autobiographie: Man hält immer das für wahrer und tiefer, was man selber im Textverlauf zu entdecken vermeint hat, dem Autor zum Trotz.39

Die Wahl des Paktes – sei es des autobiographischen, sei es des „romanesken“40 – bleibt demzufolge nicht ohne Einfluss auf die Art der Lektüre. So entwirft der Autor einer autobiographischen Aussage seinen Leser – im Falle der Autobiographie im strikten Sinne als einen potentiellen Zweifler, der den Authentizitätsanspruch des Textes kritisch auf den Prüfstand zu stellen vermag, im Falle des autobiographischen Romans einen Suchenden nach Spuren des Biographischen. All dies bewegt sich allerdings immer im Bereich des Spekulativen. Den referentiellen Formen rechnet Lejeune nur Texte zu, denen der autobiographische Pakt zugrunde liegt. Nur ihre narrative Konstruktion und die damit erzeugte Erklärung des Autors gestatten es, sie als verifizierbare Aussagen zu klassifizieren. Im Gegensatz zu allen Formen der Fiktion sind die Biographie und Autobiographie referentielle Texte: genau wie die wissenschaftliche oder historische Rede geben sie vor, eine Information über eine außerhalb des Textes liegende „Realität“ zu geben und sich somit einer Prüfung der Verifizierbarkeit zu unterziehen. Ihr Ziel ist nicht die bloße Wahrscheinlichkeit, sondern die Ähnlichkeit mit dem Wahren. Nicht „die Wirkung des Realen“, sondern das Abbild des Realen. Alle referentiellen Texte enthalten also implizit oder explizit das, was ich einen „referentiellen Pakt“ nennen werde […].41

Der romaneske Pakt scheint dem Autor größere Schaffensfreiheit sowie eine Art Schutzschild gegen Zweifler zu gewährleisten. Die Lektüre eines Textes als auto38 Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 229. 39 Lejeune: Der autobiographische Pakt, 231. 40 Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 232. 41 Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 244.

3.2 Autobiographie als Vertragseffekt. Autobiographischer vs. romanesker Pakt 

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biographischer Roman muss allerdings sorgfältig vom Autor wie vom Verleger vorbereitet werden, damit das Ziel nicht verfehlt wird. So werden den potentiellen Lesern die nötigen Informationen in Form von Paratexten dargeboten, die den von Lejeune angesprochenen Detektivsinn des Lesenden entfachen sollen, was allerdings nicht bedeutet, dass dieser nicht in die Irre geführt werden darf. Was im Falle der Autobiographie einer Paktverletzung gleichkäme, kann als Normalfall des autobiographischen Romans betrachtet werden. Die formale Beschaffenheit einer autobiographischen Schrift, deren Wesensmerkmale auf die jeweiligen Paktbedingungen zurückzuführen sind, bestimmt auch die Wirkung, die der jeweilige Autor mit seiner Stellungnahme erzeugt. Autobiographische Texte erfüllen Lejeune zufolge noch eine weitere Funktion. Sie vermögen ihren Geltungsbereich auszudehnen und auf das Gesamtwerk des jeweiligen Autobiographen als Bestandteil seiner künstlerischen Selbstbiographie zu verweisen. So wird ein autobiographischer Raum geschaffen, der über die einzelne strikt autobiographische Aussage hinausgeht. Diesen Mechanismus erklärt Lejeune im Zusammenhang mit der oft zitierten Behauptung, Roman sei wahrer als die eigentliche Autobiographie, die in Statements nicht weniger Schriftsteller hervorgehoben wird. Hier sei nur die Stellung von André Gide angeführt, die im Aufsatz des französischen Theoretikers neben Worten von François Mauriac exemplarisch zitiert wird: Die Erinnerungen sind immer nur halbwahr, so groß das Bemühen um Wahrheit auch sein mag: Alles ist immer viel komplizierter, als man es sagen kann. Vielleicht kommt man im Roman der Wahrheit sogar näher.42

Die scheinbare Herabsetzung des Autobiographischen mag verwundern, vergegenwärtigt man sich, dass die besagten Schriftsteller doch Autoren autobiographischer Texte sind. Diese Argumentationslinie wird von Lejeune allerdings zu Recht als eine bewusste Strategie interpretiert, die nicht darauf hinausläuft, die Autobiographie zu verurteilen. Diese Aussagen selbst seien in Wirklichkeit nichts anderes als eine mittelbare Form des autobiographischen Paktes.43 Wenn der Roman wahrer ist als die Autobiographie, warum haben dann Gide, Mauriac und viele andere sich nicht damit begnügt, Romane zu schreiben? Wenn man die Frage so stellt, wird alles klar: Wenn sie nicht auch autobiographische Texte (selbst „unzulängliche“) geschrieben und veröffentlicht hätten, so hätte niemand je gesehen, von welchem Rang die Wahrheit ist, die man in ihren Romanen suchen soll.44

Der autobiographische Text wird demzufolge nicht nur als ein geschlossenes Ganzes verstanden, das in sich ruht, sondern als Medium der Verständigung, als Werkzeug,

42 André Gide: Si le grain ne meurt, zit. nach: Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 251. 43 Vgl. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 252. 44 Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 252.

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 3 Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht

mit dem Relevanz erzeugt wird, und zwar nicht nur für das in Zeilen der Autobiographie selbst Erzählte, sondern auch für Gegenstände und Bereiche, die in ihrem Umfeld angesprochen werden. Das Wesen des Autobiographischen darf demzufolge nicht bloß auf formale Kriterien zurückgeführt und reduziert werden. Was mithilfe dieser erzeugt wird, ist ein mehrdimensionales Vertragsabkommen mit all den bereits beschriebenen Konsequenzen.

3.3 Autobiographie als literarischer Akt. Die illokutionäre Wirkung des Textes Definitionsversuche von Georg Misch bis Philippe Lejeune bilden den Ausgangspunkt der theoretischen Überlegung „Autobiographie als literarischer Akt“ von Elisabeth W. Bruss, in der die Literaturwissenschaftlerin das Wesen der Autobiographie zu erfassen sucht. Den Grund für das Scheitern jeglicher theoretischer Bestimmung der Autobiographie als Gattung erblickt Bruss darin, dass man nicht selten von „einer naiven Klassifikation“ ausgegangen ist, ohne zu fragen, wie die Gattung „wirklich ,existiert‘”.45 So ordnet sie die formale Beschaffenheit des Textes seiner Rolle unter, weil der so oft untersuchten Form eine bestimmte Funktion beigemessen wird und der Text auf eine vorgesehene Wirkung hinausläuft. Die Kriterien einer Gattungsbestimmung sagen weniger darüber aus, was der Stil oder der Aufbau eines Textes sein soll, als vielmehr darüber, wie dieser Stil oder diese Art der Komposition zu betrachten ist, wobei sie angeben, welche „Wirkung“ der Text auf uns ausüben soll. Ein Text schöpft seine gattungsgemäße Wirkung aus dem Aktionstypus, auf den er sich ja gerade beziehen soll: aus dem ihn implizit umgebenden Kontext, aus dem Wesen der Elemente, die zu seiner Vermittlung beitragen, und aus der Art, wie diese Faktoren auf den Status der übermittelten Information einwirken. Daher ist es nicht unangebracht, eine Analogie herzustellen zwischen dem Begriff der literarischen Gattungen und demjenigen des „illokutionären Akts“, so wie er von mehreren Sprachphilosophen im Laufe dieses Jahrhunderts entwickelt worden ist […].46

Im Zuge sprachlicher Äußerungen werden nicht nur Sachverhalte beschrieben, sondern selbst Handlungen vollzogen. In einem Sprechakt können Befehle, Aufforderungen, Warnungen etc. (un)mittelbar formuliert werden, die den Hörer zur Interaktion bewegen mögen. Der illokutionäre Akt – im Sinne Austins47 „doing something in saying something“ – wird auch zum festen Bestandteil der autobiographischen Aussage. Diese geht nämlich über eine bloße Bestandaufnahme hinaus und zielt auf eine bestimmte Wirkung (wie auch immer sie sein mag). 45 Elisabeth W. Bruss: Die Autobiographie als literarischer Akt. In: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1989, S. 258. 46 Bruss: Die Autobiographie, S. 261–262. 47 Vgl. John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny. Stuttgart 2000 [1962/1975].

3.3 Autobiographie als literarischer Akt. Die illokutionäre Wirkung des Textes 

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Elisabeth W. Bruss fragt in erster Linie nicht nach formalen Kriterien der autobiographischen Texte, weil diese stark variieren können und auch keine ihrer Erscheinungsformen als die ‚eigentliche‘ bezeichnet werden darf.48 Die Veränderungen innerhalb der Gattung sind die Folge von Veränderungen innerhalb der Konventionen, die sich auf das beziehen, was eine Autobiographie „tut“: nämlich das, was ein Autobiograph und sein Publikum aller Erwartung nach mit der Information und den formalen Charakteristika eines Textes anfangen werden.49

Bruss spricht Fragen an, die weder in dem ersten Definitionsversuch Georg Mischs noch in den theoretischen Ansätzen der 1970er Jahre berücksichtigt wurden. Das Produkt früherer Definitionsversuche sind starre Konstruktionen, die der geschichtlichen Veränderung nicht gerecht werden konnten.50 Es ist ihnen nicht gelungen, dem Wesen des Autobiographischen näher zu kommen. Laut Bruss kann man nämlich nicht sagen, was Autobiographie ist, ohne die „Aktivitätsdimensionen“, die den Text umgeben, sowie Charakteristika, die selbst im Text enthalten sind, zu erforschen.51 Auf die Frage, wie stark die Hinweise im Text selbst verankert werden müssen, kann ebenfalls keine verbindliche Antwort gegeben werden, weil dies historischen Wandlungsprozessen unterliegt. Intensive Steuerung erhält der Leser in Texten von noch nicht stark etablierten Gattungen, weil der Autor sich noch nicht darauf verlassen kann, dass die illokutionäre Wirkung erzeugt wird.52 Soweit sich die Gattung aber etabliert, werden die Hinweise immer subtiler. Später, wenn die Gattung zu einem klar erkennbaren Typ literarischen Schaffens geworden ist, werden die Elemente eines Textes „analytischer“ und die Hinweise, die der Kennzeichnung der Gattungsfunktion dienen, immer seltener und vereinzelter. Allein schon die Titelseite, die Art der Veröffentlichung können genügen, um die illokutionäre Wirkung zu erzeugen. So können z.B. allein schon aus dem Erscheinen eines Textes in einer Sammlung, die „wahren Bekenntnissen“ vorbehalten ist, schließen, daß dieser als Autobiographie aufzufassen ist.53

Dementsprechend soll der mit der Gattungskonvention vertraute Leser im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert den Text nur nach wenigen Signalen als eine autobiographische Aussage erkennen können. Von einem gültigen Regelkatalog darf im Falle der Autobiographie nicht die Rede sein. Dennoch verweist auch Elisabeth Bruss auf einige Punkte, ohne die die illokutionäre Wirkung des Textes nicht erzeugt werden kann. Es ist unschwer zu erkennen, dass all die genannten Regeln in unmittelbarer Nähe zu Voraussetzungen des autobiographischen Paktes

48 Vgl. Bruss: Die Autobiographie, S. 272. 49 Bruss: Die Autobiographie, S. 273. 50 Vgl. Bruss: Die Autobiographie, S. 258. 51 Vgl. Bruss: Die Autobiographie, S. 263. 52 Vgl. Bruss: Die Autobiographie, S. 264. 53 Bruss: Die Autobiographie, S. 264.

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 3 Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht

im Sinne Lejeunes stehen. Der Autor des Textes sei eine reale, verifizierbare Person, identisch mit dem Textgegenstand, die die Verantwortung für das Geschriebene (die Struktur wie die erzählte Geschichte) übernimmt, womit die von Lejeune mehrfach thematisierte Gleichung Autor=Erzähler=Figur angesprochen ist. Des weiteren kommt Bruss auf den Authentizitätsanspruch des Textes zu sprechen. Im Sinne der bestehenden Konvention müssen die im Text dargestellten Informationen „unbedingt wahr sein, wahr gewesen oder hätten wahr sein können.“54 Dem Leser, der diese Erklärung nun hinnehmen soll, steht das Recht zu, sie auf den Prüfstand zu stellen. Hinzugefügt wird, dass der Autobiograph von dem Geschriebenen überzeugt sein soll.55 Im Gegensatz zu Regeln, die für einen Roman, ein Gedicht oder auch ein Drama als konstitutiv gelten, handelt es sich hier – was Bruss ausdrücklich betont – um Kriterien, die gelegentlich durchbrochen werden (können). Dies disqualifiziert allerdings den Text selbst als eine Autobiographie nicht, vorausgesetzt, der Autor tut so, als ob er die Regeln erfüllt hätte, sonst wird die illokutionäre Wirkung des Textes verfehlt.56 Diese Ausführungen scheinen den Ansatz Lejeunes in dem Maße zu ergänzen, dass die Autobiographie hier als eine Gattung präsentiert wird, der ein Komplex von impliziten Verträgen zugrunde liegt. Dementsprechend scheint kein Text ohne solch eine Art der Kommunikation als autobiographisch funktionieren zu können. Andererseits entfernt sich Bruss in jenem Moment deutlich von dem französischen Theoretiker, in dem sie den fließenden Charakter der Gattung betont und die scharfe Grenzziehung im Bereich des Formalen in Frage stellt. Von Bedeutung ist hier die Kommunikation zwischen Autor und Leser in dem vom autobiographischen Pakt geschaffenen Raum, der formale ,Unzulänglichkeiten‘ nicht im Wege stehen können. Die Autobiographie wird nicht mehr als ein isoliertes Kunstwerk interpretiert, sondern als „Produkt und Medium kommunikativer Prozesse zwischen Autor bzw. Autorin und Publikum“.57 Die autobiographische Aussage erscheint demnach nicht nur als eine Form des Schreibens, sondern darüber hinaus des Handelns. Die Sprechhandlungstheorie, die zur Grundlage der Ausführungen Elisabeth Bruss‘ wurde, findet ihren Niederschlag auch in Jürgen Lehmanns Buch Bekennen – Erzählen – Berichten. Studien zur Theorie und Geschichte der Autobiographie (1988).58 Lehmann interpretiert die Autobiographie als eine Form sprachlichen Handelns, weil ihre Intention darauf hinausläuft, mit dem Beschriebenen eine bestimmte Position gegenüber der Umwelt zu beziehen. „Entscheidend für die Identifizierung eines Vorgangs als Hand-

54 Bruss: Die Autobiographie, S. 274. 55 Vgl. Bruss: Die Autobiographie, S. 274. 56 Vgl. Bruss: Die Autobiographie, S. 274. 57 Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 57. 58 Jürgen Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie. Tübingen 1988.

3.3 Autobiographie als literarischer Akt. Die illokutionäre Wirkung des Textes 

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lung sind Absicht, Zweck und eine durch den Vorgang ausgelöste Veränderung.“59 Die Sprechaktheorie in der Ausprägung John L. Austins (How to do Things with Words von 1962) und John R. Searles (Speech Acts von 1969)60 wird hier zum tragenden Interpretationsansatz.61 Sprachliches Handeln wird bei Lehmann als „besondere Form des sozialen Handelns“62 interpretiert, „eine regelgeleitete Form intentionalen Verhaltens in Übereinstimmung mit Systemen semantischer Regeln.“63 Seien aber manche Komponenten im Falle einer mündlichen Kommunikation implizit gegeben (z.B. durch entsprechende Artikulation), müssten diese im schriftlichen Text sprachlich artikuliert werden. Wenn die Anwendung dieser semantischen Regeln – darunter sind nach Lehmann auch die „Konversationsmaximen“ zu verstehen, die Paul Grice in Bezug auf die vier Kategorien der Quantität, der Qualität, der Relation (Relevanz) und der Modalität formuliert hat64 – dem Gelingen einer sprachlichen Handlung im Falle mündlicher Kommunikation den Weg bereitet,65 müssten vergleichbare Regeln im Rahmen schriftlicher Kommunikation (als sprachlicher Handlung) gewährleistet und erfüllt werden.66 Will man einen schriftlichen Text im Hinblick auf seinen Status als sprachliche und soziale Handlung prüfen, müssen nach Lehmann folgende „Indikatoren“ berücksichtigt werden, die 1. auf den propositionalen Gehalt der Textäußerung verweisen […], 2. auf die für die Entstehung des Textes relevante Schreibsituation und den Interaktionsrahmen deuten, 3. im Zusammenhang damit Intentionen, Erwartungen und Erwartungserwartungen artikulieren, 4. dabei das Verhältnis zwischen Autor und intendierten und antizipierten Rezipienten anzeigen, 5. auf Autor und intendierten Rezipienten gemeinsame Wissenshorizonte deuten, 6. dabei im Besonderen die Orientierung dieser „Texthandlung“ an bestimmten Systemen wie Literatur, Historiographie oder Theologie erkennen lassen, 7. die Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit der mit der betreffenden Textäußerung vollzogenen Handlung unterstreichen und erkennen lassen, daß der Text einem Wahrheitsanspruch gerecht wird.67

59 Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 13–14. 60 Vgl. John R. Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Aus dem Englischen von Rolf und Renate Wiggershaus. Frankfurt a.M. 1983 [1969]. 61 Vgl. Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 13–14. 62 Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 14. 63 Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 14. 64 Quantität: „1. Make your contribution as informative as is required (for the current purposes of the exchange). 2. Do not make your contribution more informative than is required.” Qualität: „Try to make your contribution one that is true.” Relation (Relevanz): „Be relevant.” Modalität: „Be perspicuous.” – Paul Grice: Logic and Conversation. In: Peter Cole/Jerry L. Morgan (Hg.): Syntax and Semantics, Bd.3: Speech Acts. New York u.a. 1975, S. 45–46, zit. nach: Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 16 (Fussnote 13). 65 Vgl. Lehmann: Bekennen- Erzählen – Berichten, S. 15–16. 66 Vgl. Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 22. 67 Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 22–23.

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 3 Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht

Auf diese Indikatoren hin werden von Jürgen Lehmann Texte des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts befragt, die unter seine Definition der Autobiographie fallen. Als Forschungsergebnis entsteht eine Art Typologie der autobiographischen Texte als sprachlicher (und dadurch auch sozialer) Handlungen. Lehmann definiert die Autobiographie als eine Textart, durch die ihr Autor in der Vergangenheit erfahrene innere und äußere Erlebnisse sowie selbst vollzogene Handlungen in einer das Ganze zusammenfassenden Schreibsituation sprachlich in narrativer Form so artikuliert, daß er sich handelnd in ein bestimmtes Verhältnis zur Umwelt setzt.68

Lehmann unterscheidet drei Idealtypen der autobiographischen Sprechhandlungsformen, die in Realität in ihrer reinen Form selten zu finden sind, nämlich die im Titel des Bandes genannten Kategorien „Bekennen“, „Erzählen“ und „Berichten“. Historisch gesehen erweisen sich aber die einzelnen Sprechhandlungen in bestimmten Epochen als dominant. Bekennende Haltung überwiegt in den frühen Autobiographien, vor allem in der pietistischen Bekenntnisliteratur.69 In den Vordergrund wird die stark profilierte Sprechergestalt gerückt, die ihre Geschichte vorwiegend in der ersten Person präsentiert, und zwar in der Haltung, dass die Äußerungen beim Leser auf entsprechendes Interesse treffen.70 Vorausgesetzt wird ein bestimmten moralischen Normen verpflichteter Hörer.71 „Für das Bekennen gelten uneingeschränkt die Bedingungen der Verteidigungspflicht sowie der Aufrichtigkeit, vor allem aber die der Konsequenz.“72 In der Sprechhandlung des Berichtens zieht sich der Sprecher hinter die Darstellung der Ereignisse zurück, die er erörtert. Die Sprecherposition sei neutral, eine spezifische Perspektivierung kaum erkennbar.73 Berichtet werden weniger Details als „vielmehr die Resultate bestimmter prozessualer Abläufe.“74 Auch in diesem Fall setzt der Autobiograph einen bestimmten Hörer bzw. Hörerkreis voraus, dessen Informationsbedürfnis er befriedigen will.75 „Es gelten uneingeschränkt die Bedingungen der Aufrichtigkeit, der Ernsthaftigkeit und der Konse-

68 Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 36. 69 Vgl. Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 89. 70 Vgl. Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 59–60. 71 Vgl. Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 60. 72 Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 60. 73 Vgl. Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 61. 74 Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 61. 75 Vgl. Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 60.

3.4 Autobiographie als soziales Handeln. Sozialgeschichtliche Beschreibungsmodelle 

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quenz: das Berichtete muß einer Kontrolle seines Wahrheitsanspruches in jeder Form standhalten.“76 Im Falle des Erzählens haben wir es wieder mit einer stark profilierten Sprecherfigur zu tun, die vergangene Sachverhalte aus ihrer Perspektive wiedergebe.77 Die Hörergestalt wird dagegen weniger profiliert. Das Erzählte richtet sich eher an ein heterogenes Publikum.78 „Es gelten uneingeschränkt die Bedingungen der Aufrichtigkeit und der Ernsthaftigkeit, aber nur eingeschränkt die der Konsequenz: wer erzählt, muß zwar Einwände gegen die Wahrheit des Gesagten ausräumen, aber er braucht nicht für die sich aus dem Erzählen ergebenden Folgen einzustehen.“79 Die Autobiographie wird bei Lehmann als „Medium der kommunikativen  Interaktion“80 gedeutet, wobei der Hauptakzent auf die sprachliche Vermittelbarkeit der Sachverhalte gelegt wird. Sie darf aber auch über das Sprachliche hinaus als eine der denkbaren Forman sozialen Handelns aufgefasst werden, worauf bereits in den 1970er Jahren in den sozialgeschichtlichen Beschreibungsmodellen aufmerksam gemacht wird.

3.4 Autobiographie als soziales Handeln. Sozialgeschichtliche Beschreibungsmodelle Sozialgeschichtliche Beschreibungsmodelle, in deren Visier das von gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit beeinflusste Individuum steht, werden als Fortsetzung der hermeneutischen Herangehensweise entwickelt. So können als Klassiker dieses Deutungsansatzes Werner Mahrholz mit seinem 1919 veröffentlichten Beitrag Deutsche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie bis zum Pietismus81 und Bernd Neumann mit seinem Buch Identität und Rollenzwang von 1970 genannt werden, die die soziale Bestimmung der individuellen Persönlichkeit thematisieren. So sei jeder Mensch nach Neumann ein „Kind seiner Zeit“ 82 und als solches geprägt von der historischen und sozialen Lage.

76 Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 61. 77 Vgl. Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 61. 78 Vgl. Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 61. 79 Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 61–62. 80 Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 60. 81 Mahrholz schreibt der Autobiographie eine herausragende Rolle als historische Quelle zu, weil sie das Verhältnis des Autobiographen zu seiner Umwelt wiederspiegelt. (Vgl. Werner Mahrholz: Der Wert der Selbstbiographie als geschichtliche Quelle. In: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1989, S. 72–74). 82 Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt a.M. 1970, S. 1.

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 3 Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht

Als der, der das Leben lebte, das er nun schildert, war er das Objekt sozialer und psychischer Zwänge. Er mag diese Zwänge in der Rückbesinnung als sinnvoll bejahen, verleugnen kann er sie nicht, selbst wenn er dies wollte: denn es waren diese Zwänge, die ihn auch als Autobiographen, als Autor der eigenen Lebensgeschichte, prägten.83

Neumann bezieht sich in seiner fortlaufenden Argumentation explizit auf Georg Misch, deren Charakteristik der Autobiographie er auch wortwörtlich zitiert und damit die für diese Art der Aussage eigenartige Verknüpfung der Form mit dem Sachverhalt hervorhebt. Hier ist nämlich die Verbindung von Form und Sachverhalt intensiver und durchgreifender als in irgend einer Gattung der Kunst; und so verschieden auch ihre Bildungsgesetze sind, so viel unpersönliche Menschen auch sich in der dargestellt haben, die sich mit einem festen Schema begnügen konnten: ihr Wesen ist, daß die Form aus der konkreten erlebten Wirklichkeit einzigartig herauswächst, so daß Individualität und Formgestalt eins werden.84

Aus der Charakteristik der Gattung schließt Neumann auf die Untersuchungsmethode, die dem Sachverhalt gerecht wäre. So sei neben einem rein literaturwissenschaftlichen Zugang auch ein psychosozialer Ansatz erstrebenswert. Jede Autobiographie beschreibt die spezifische Art, in der ihr Autor am Gesellschaftsganzen teilhatte oder teilhat. Als ein Stück Literatur fällt sie unter die Zuständigkeit der Literaturwissenschaft. Wo es jedoch darum geht, literaturwissenschaftlich ermittelte Sachverhalte zu erklären, sie als literarische Widerspiegelung des „Lebens“, also psychologischer und sozialer Strukturen, begreifbar zu machen, da wird diese Arbeit sich vor allem der Sozialpsychologie als Hilfswissenschaft bedienen.85

Auch wenn heutzutage jede Aussage – die literarische nicht ausgenommen – nicht mehr als Abbild, sondern eher als Konstruktion des ,Realen‘ verstanden wird,86 kann Neumann Recht gegeben werden, dass der Text selbst psychosoziale Strukturen widerspiegelt. Ähnlich wie Misch fasst auch Neumann die Geschichte der Autobiographie als „Geschichte der menschlichen Individuation“87 auf, die er aber in seiner Studie „historisch-soziopsychologisch[…]“88 zu bestimmen versucht. Zur „Erklärung  psy83 Neumann: Identität, S. 1. 84 Georg Misch: Geschichte der Autobiographie, Bd.I.1. Bern 1949, S. 14, zit. nach: Neumann: Identität, S. 1. 85 Neumann: Identität, S. 6. 86 Die Konstruktivisten werden hier zwar in eher kursorischer Weise behandelt, ihr Ansatz bleibt aber nicht ohne Bedeutung für Argumentation der vorliegenden Arbeit. Die beschriebenen Lebensläufe werden nämlich nicht mit Kategorien des „Abbildes“ bzw. der „Wahrheit“ gemessen, sondern als Konstrukt gedeutet. Allerdings sind die Konstruktivisten in ihrer Auffassung der Wirklichkeit viel  radikaler, indem sie grundsätzlich die „äußere Wirklichkeit“ in Frage stellen, die im autobiographischen Text sprachlich abgebildet werden soll, ähnlich wie die Stabilität der Autor- und LeserIdentität. (Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 60–65). 87 Neumann: Identität, S. 6. 88 Neumann: Identität, S. 6.

3.4 Autobiographie als soziales Handeln. Sozialgeschichtliche Beschreibungsmodelle 

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chischer Vorgänge“ rekurriert der Forscher auf Sigmund Freud. Andererseits deutet er das Individuum als Teil des „Gesellschaftsganze[n]“.89 Sein methodischer Ansatz zielt darauf ab, den „Inhalt“ mit der „Form“ und dadurch auch literaturwissenschaftliche und sozialpsychologische Betrachtungsweisen zu vereinbaren.90 Ins Zentrum seiner Bestimmung der Autobiographie rückt Neumann die – in seinem Verständnis klare – Abgrenzung gegen Memoiren. Dieser Versuch beweist allerdings in aller Deutlichkeit den fließenden Charakter der beiden Formen der autobiographischen Aussage, wobei manches dafür spricht, die in vielen Fällen unsichere Unterscheidung aufzugeben und das Gesamtgebiet mit dem Terminus „Autobiographik“ abzudecken. Neumanns Studie zielt aber eher auf begriffliche Trennung der beiden Aussageformen. Verwiesen wird auf die Perspektive des Autobiographen, die auf persönliche Erlebnisse und innere Vorgänge gerichtet sei, im Gegensatz zum Memoirenschreiber, der „äußere[…] Ergehen“91 zur Sprache bringe. In Memoiren spreche der Autor als Träger einer sozialen Rolle.92 Der Memoirenschreiber vernachlässigt also generell die Geschichte seiner Individualität zugunsten der seiner Zeit. Nicht sein Werden und Erleben stellt er dar, sondern sein Handeln als sozialer Rollenträger und die Einschätzung, die dies durch die anderen erfährt. Sein Aufgehen im sozialen Rollenspiel kann bis zur totalen, schizophren anmutenden Trennung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Menschen führen.93

Der Privatbereich wird so zur Domäne der (bürgerlichen – nur mit solcher beschäftigt sich Neumann) Autobiographie, in der nach Neumann die Entwicklung der Identität dargestellt wird.94 Indem das Individuum diese Entwicklungsstufe durchläuft, übernimmt es auch eine soziale Rolle.95 Wenn die Memoiren das Ergehen eines Individuums als Träger einer sozialen Rolle schildern, so beschreibt die Autobiographie das Leben des noch nicht sozialisierten Menschen, die Geschichte seines Werdens und seiner Bildung, seines Hereinwachsens in die Gesellschaft. Memoiren setzen eigentlich erst mit dem Erreichen der Identität, mit der Übernahme einer sozialen Rolle ein, die Autobiographie endet dort. […] Wird die Autobiographie über die erreichte Identität und die darin begriffene Rollenübernahme hinaus fortgeführt, nimmt sie in der Regel den Charakter von Memoiren an.96

Neumann sieht Situationen vor, wo Lebenserinnerungen von der memoirenartigen Haltung „zur echten Autobiographie“97 wechseln. Das Verhältnis zwischen der Erzählhaltung des Memoirenschreibers und des Autobiographen kann aber als ein 89 Neumann: Identität, S. 6. 90 Vgl. Neumann: Identität, S. 6–7. 91 Neumann: Identität, S. 10. 92 Vgl. Neumann: Identität, S. 11. 93 Neumann: Identität, S. 12. 94 Vgl. Neumann: Identität, S. 20. 95 Vgl. Neumann: Identität, S. 23–24. 96 Neumann: Identität, S. 25. 97 Neumann: Identität, S. 13.

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 3 Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht

graduelles verstanden werden. Fruchtbarer als feste Begriffe zu setzen, die die Konstruktion der manchmal mehrdimensionalen autobiographischen Aussage eher auf ein einfaches Schema zurückzuführen versuchen, kann sich nämlich für die Analyse der Texte die Frage erweisen, welche Erzählhaltung sich als dominant erweist. Im Zusammenhang mit der autobiographischen Produktion der Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus der DDR darf die Frage aufgeworfen werden, wie diese Texte nach Neumann klassifiziert werden sollen. Einerseits wird in ihnen an die Kindheit und Jugend erinnert, was unter das Kriterium der Identitätsentwicklung fällt. Andererseits werden die hier behandelten Texte von Autoren geschrieben, die schon in der DDR Träger sozialer Rollen waren und die nach 1989 mit diesem Bewusstsein ihre Schriften verfassen, was ihren Charakter als Autobiographien nicht abschwächt. Es muss die Frage gestellt werden, ob diese Unterscheidung in diesem konkreten Feld der literaturwissenschaftlichen Analyse vollzogen werden soll. In dem vorliegenden Buch wird weniger nach Definitionen und Begriffen gesucht, als nach Erzählhaltungen, die zur Dominante werden, aber auch nach Konsequenzen solcher narrativen Strategien. Die Erörterung dieser beiden Fragen führt nämlich direkt zum Problem der Wirkung bzw. der mit dieser literarischen Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte betriebenen Positionierung im literarischen Feld. Diese Problemkonstellation steht außerhalb der Neumannschen Betrachtungsperspektive. Zur Charakteristik der autobiographischen Erzählhaltung darf aber Neumanns Differenzierung zwischen dem Erinnern (Haltung des Autobiographen) und dem Belegen (Domäne des Memoirenschreibers) übernommen werden. Die Autobiographie erinnert das vergangene Leben, die Memoiren hingegen trachten dessen Ablauf möglichst genau an Hand von Belegen zu rekonstruieren. Der Memoirenschreiber fürchtet, daß die Erinnerung das Erlebte verfälscht wiederbringen könnte, der Autobiograph akzeptiert und bejaht diese Tatsache.98

Inwieweit dieses generalisierende Urteil in den Texten ostdeutscher AutorInnen seine Bestätigung findet, muss von Fall zu Fall geklärt werden. Diese Positionen sind aber auch als Stilisierungstaktiken denkbar – sei es als eine subjektive Erinnerung, sei es als ein beglaubigter Bericht –, die für die illokutionäre Wirkung des Textganzen nicht ohne Bedeutung bleiben. Der Strategie des Autobiographen schreibt Neumann darüber hinaus das „Lustprinzip“ zu. Darunter versteht er, dass die Erinnerung „im wesentlichen nur die glücklich verbrachten Tage“99 zurückbringt, während der Memoirenschreiber bemüht ist, „möglichst fehlerfrei und genau seine Laufbahn zu schildern“, womit er „dem Realitätsprinzip“100 verpflichtet bleibt. Im Lichte der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung, die sich über zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung der

98 Neumann: Identität, S. 60. 99 Neumann: Identität, S. 61. 100 Neumann: Identität, S. 62.

3.4 Autobiographie als soziales Handeln. Sozialgeschichtliche Beschreibungsmodelle 

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Erkenntnisse Neumanns etabliert, unterscheidet sich das Ergebnis der Erinnerungsarbeit des Memoirenschreibers nicht von den literarischen Gedächtnisfrüchten des Autobiographen. Trotz seiner Bemühung bleibt sein Erinnern lückenhaft. Der Memoirenschreiber kann allerdings anders mit diesem Sachverhalt umgehen. Im Bewusstsein seiner Defizite kann er die Rolle eines ,einfachen‘ Biographen übernehmen, dessen Arbeit gründliche Recherchen zugrunde liegen. Die Grenze zwischen den beiden Haltungen ist demnach fließend. Vor allem in den letzten Jahrzehnten wird der Mechanismus des Erinnerns in vielen autobiographischen Texten reflektiert und der Stand des eigenen Wissens mit anderen Quellen konfrontiert. Unter kritischer Bezugnahme auf Mahrholz und Neumann entwickelt Peter Sloterdijk in seiner 1978 veröffentlichten Dissertation Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre den sozialgeschichtlichen Ansatz weiter. Auch Sloterdijk ist der hermeneutischen Tradition verpflichtet. Allerdings sind in seiner Argumentation Spuren der neu entwickelten Sprechhandlungstheorie erkennbar. So kann zumindest die Tatsache gedeutet werden, dass hier der kommunikative Charakter der Autobiographie hervorgehoben wird. Sloterdijk konzentriert sich aber weniger auf die sprachliche Ausrichtung als auf den Mechanismus der „Relevanzproduktion“.101 Der Wissenschaftler legt sein Verständnis der Literatur aus und weist in dem Universum literarischer Aussagen der Autobiographik einen Sonderstatus zu, weil darin die besondere Verflechtung zwischen Individuum und Gesellschaft besonders stark zum Vorschein komme. Begreifen wir „Literatur“ als die klassische Organisationsform von Erfahrung im bürgerlichen Zeitalter, so ist Autobiographik das subjektive Zentrum der ästhetischen Organisation lebensgeschichtlichen Wissens, also in gewisser Weise das Paradigma von Literatur überhaupt. Zugleich sprengt die autobiographische Literatur den Rahmen der Literatur als Kunst, da sie wie sonst kaum eine Gattung den Anspruch auf Wahrheit und Lebensnähe erhebt. […] Ebensowenig wie sich in der Dokumentarliteratur das „Faktische“ schlechthin zeigt, so wenig kommt in der Autobiographik Subjektivität schlechthin zum Vorschein. Sie zeigt sich immer als historisch bestimmte Subjektivität, bestimmt hinsichtlich des stofflichen Lebensschicksals, der sozialen Position, der Sprachform, der Selbstdarstellungsgebärde, bestimmt aber auch in den Zwecksetzungen, den Denkmitteln, Begriffen und Grenzen der Selbstinterpretation.102

Das Subjekt bzw. „dieses historisch-sozial individualisierte Ich“103 – wie es Sloterdijk nennt – organisiert seine Lebenserfahrungen, indem es sie in einem autobiographischen Text auswählt, ordnet und mit einer Deutung versieht, in dem es eine Art synthetische Darstellung der biographischen Einzelheiten anstrebt. Dadurch produziere es ein „Lebensbild“, das für andere zugänglich werde.104 Die autobiographische 101 Peter Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre. München/Wien 1978, S. 6. 102 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 5–6. 103 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 6. 104 Vgl. Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 6.

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 3 Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht

Erzählung zielt nämlich nicht nur auf Selbsterkenntnis, sondern darüber hinaus auf Kommunikation mit anderen sozialen Akteuren. Lebensgeschichtliches Erzählen wird an dieser Stelle als „eine Form sozialen Handelns“ definiert, das heißt „eine Praxis, in der individuelle Geschichte mit kollektiven Interessen, Phantasien und Leidenschaften zusammengewoben werden.“105 In diesem Zusammenhang wird auch das besondere Interesse des Forschers angedeutet: Mein Blick – erklärt Sloterdijk in der Einleitung zu seiner Studie – stellt sich ein auf jene Ausdrücke des Textes, mit denen der Autobiograph sich „veröffentlicht“, d.h. mit denen er einen Kredit auf Interesse des Publikums aufnimmt. In der Terminologie dieser Arbeit heißt dieser Vorgang „Relevanzproduktion“. Durch sie vermag es der Autobiograph, seine eigene Erfahrung allgemein anbietbar zu machen; durch die Allgemeinbegriffe, die Relevanzgesichtspunkte […] stellt er das Private in eine „semantische Öffentlichkeit“, zugleich läßt er das Publikum herein in eine formulierte Privatsphäre.106

Von Bedeutung ist der hier unternommene Versuch, durch den Erfahrungsgesichtspunkt das Dilemma der literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweise zu lösen und eine Brücke zwischen werkimmanenter Analyse und werktranszendenten Verfahren zu schlagen. So werden die autobiographischen Erzählungen von Sloterdijk ausdrücklich als „Medien“ aufgefasst, „die für gemachte Erfahrung und für die Spuren blockierter Erfahrung durchlässig sind.“107 Der Forscher nimmt auch die Umstände autobiographischer Produktion ins Visier und kommt so zum Schluss, dass sich Krisensituationen für diese Aussageform als fördernd erweisen. Es handelt sich um „bestimmte Krisen“, in denen sich das Individuum genötigt fühlt, seine eigene Lebenshaltung kritisch in einer Art Spiegelschau zu betrachten und zu hinterfragen. Erfahrungen dieser Art nennt Sloterdijk „StörErfahrungen“: Sie sprengen den Vorrat der anerzogenen Deutungsmuster; sie wecken und verletzen das übernommene Bewußtsein und treiben es zu neuen Modellen, sei es zu neuen kritischen Einsichten in widersprüchliche Verhältnisse, sei es in Ideologien.108

Durch die Verknüpfung der Faktoren, die als Störerfahrungen klassifiziert werden dürfen, mit dem Drang nach öffentlich vollzogener Selbstaussage in autobiographischen Texten kommt Sloterdijk dem Forschungsansatz der vorliegenden Studie entgegen. Dieser Umstand erklärt die vermehrte autobiographische Produktion ostdeutscher Autorinnen und Autoren nach 1989, die damit auf die ,Wende‘ – hier aufgefasst als Störfaktor der Identität – reagieren und durch die Veröffentlichung ihrer Texte soziale Relevanz ihrer Lebenserzählungen zu erzeugen versuchen und damit

105 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 6. 106 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 6. 107 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 10. 108 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 11.

3.4 Autobiographie als soziales Handeln. Sozialgeschichtliche Beschreibungsmodelle 

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Interesse der Leser voraussetzen. Um festzustellen, inwieweit diese Relevanzproduktion ihren Erfolg erzielt, müsste unser Forschungsinteresse wieder von der produktionsästhetischen auf die rezeptionsästhetische Ebene verlagert werden. Sloterdijk geht weiter als seine Vorläufer und deutet die Autobiographik als Medium der sozialen Verständigung. Wenn ein Autor sich in der Gegenwart entscheidet, seine Lebenserinnerungen niederzuschreiben, bezieht er sich laut Sloterdijk auf „ein kulturelles Handlungsmuster“109 mit einer langen Tradition, das seit Jahrhunderten überliefert, aber auch immer wieder aktualisiert wird. Die autobiographische Aussage wird an dieser Stelle als die menschliche Kommunikation schlechthin interpretiert. Wenn das Autobiographische eine Grundstruktur menschlichen Wissens ist, die das unausweichliche Wachstum von lebensgeschichtlichem Wissen der Individuen im Fortgang ihrer Biographien bezeichnet, so ist selbstverständlich, daß autobiographisches Reden auch zu den Grundformen menschlicher Kommunikation überhaupt gehört. […] Das Autobiographische in diesem Sinn ist nicht ein bestimmter historisch gewachsener Texttypus, sondern eine allgemeine subjektive Wissensstruktur, die sich in zahlreichen Texttypen erst verwirklichen kann. Georg Misch hat in seiner monumentalen Geschichte der Autobiographie den Begriff in diesem philosophischen Wortgebrauch aufgefaßt.110

Der bereits skizzierte Zugriff – der den Kern des Autobiographischen nicht als eine bestimmte Textsorte festlegt, sondern als eine Haltung mit variablen Formen deutet – scheint von den neueren Definitionsversuchen der Autobiographie weit entfernt zu sein. Wieder taucht die Frage nach dem Wesen autobiographischer Aussagen auf. Man könnte den von Georg Misch vorgeschlagenen Weg gehen und alle Formen der Ichäußerung gelten lassen. Das autobiographische Wissen kann sich in vielfältigen Redeanlässen aussprechen, etwa in Gespräch und Selbstgespräch, im Gebet und im Lied, in Grabschrift, Regesten, Gerichtsreden, in wissenschaftlichen und künstlerischen Selbstcharakteristiken, im lyrischen Gedicht, in der Beichte, in Briefen und Familienchroniken, literarischen Portraits, Romanen, Tagebüchern u.ä.111

Nun geht es aber in der vorliegenden Untersuchung nicht um autobiographisches Wissen, sondern um autobiographische Aussagen im Bereich der Literatur, so dass eine gewisse formale Einschränkung erforderlich erscheint. Da Sloterdijk seinen Gegenstand nicht philosophisch ausrichtet, sondern zum Thema „literarische Geschichte“112 beitragen will, sieht er auch die Notwenigkeit, das Forschungsfeld „historisch, texttypologisch und soziologisch“113 stärker einzugrenzen. Die Erklärung der Funktion des autobiographischen Schreibens wird nämlich zwangsläufig mit

109 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 20. 110 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 21. 111 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 21. 112 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 21. 113 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 21.

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 3 Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht

der Frage nach seiner formalen Beschaffenheit verknüpft, die – wie bereits gezeigt wurde – stark variieren darf, sich jedoch – wie es Elisabeth W. Bruss begründet hat – an die Gesetzgebung der illokutionären Wirkung halten muss. Um die (literarische) Autobiographik als Form der sozialen Handlung und ein denkbares Medium der generationellen Verständigung zu erörtern, erscheint die in den bereits gelieferten theoretischen Zugängen herausgearbeitete Basis als Hilfskonstruktion geeignet. Unser Ziel ist nämlich keine „Phänomenologie der Ausdrucksweisen menschlicher Selbsterkenntnis“114 – was die Anwendung des Autobiographie-Verständnisses von Georg Misch wohl bringen würde –, sondern Aussagen zum literarischen Gegenstand, der in einem historisch, sozial und letztendlich texttypologisch bestimmbaren Universum funktioniert. Peter Sloterdijk formuliert in seinem Buch drei „Grundsätze einer künftigen Sozialgeschichte des lebensgeschichtlichen Erzählens“.115 Obwohl die vorliegende Untersuchung nicht darauf zielt, eine Geschichte der Autobiographik zu liefern, liegt ihr die soziologische Perspektive nahe. Deswegen können die von Sloterdijk gelieferten Kriterien einer klaren Konstituierung des Forschungsgegenstandes entgegenkommen. Als „das textpragmatische Prinzip“ fasst er alle Maßnahmen auf, die auf die „Zweckbestimmung, Schreibsituation und intentionale Publikumsbeziehung der Texte“116 hinauslaufen. Jedem Text lasse sich „ein Ort in der sozialen Sprechkultur“117 zuweisen. „Das öffentlichkeitssoziologische Prinzip“ – zweiter Grundsatz Sloterdijks – besteht darin, dass die Gattungsgeschichte nur „intentional publikumsbezogene Texte“118 umfasst. Last but not least wird das „individualitätstheoretische Prinzip“ genannt. Ein autobiographischer Text habe in der Persönlichkeitsstruktur seines Autors eine der wichtigsten Konstituenten. Nichtdestotrotz dürfe die Autobiographik nicht als „eine endogene, aus subjektiver Freiheit entspringende Ausdruckshandlung“ gelesen werden, sondern immer als „Resultat einer gesellschaftlich normierten Persönlichkeitskultur“.119 Dementsprechend stehen im Zentrum einer sozialgeschichtlich ausgerichteten Analyse autobiographische Texte, die als intendierte Aussagen gefasst und dem Publikum vorgelegt werden, und zwar von Autoren, die als soziale Akteure mit der Darstellung ihrer Lebenserfahrung ein bestimmtes Ziel verfolgen mögen. In dieses Forschungsfeld fügen sich auch autobiographische Schriften ostdeutscher Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die hier als Medium der generationellen Selbstverortung zu untersuchen sind.

114 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 21. 115 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 38. 116 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 38. 117 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 38. 118 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 38. 119 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 39–40.

3.5 Autobiographik als potentielles Medium generationeller Verortung 

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In autobiographischen Texten wird per definitionem die eigene Lebensgeschichte erzählt. Der Erzählvorgang wird aber nicht in einem Vakuum vollzogen, sondern in einem bestimmten sozialen Raum, in dem sich auch der potentielle Leser bewegt. Seine Lebensgeschichte erzählen heißt, Erfahrungen in Sinnzusammenhänge organisieren. Dies öffentlich zu tun bedeutet, dem Gehalt der eigenen Erlebnisse allgemeine Dimensionen zu geben; Autobiographie als soziale Handlung ist nichts anderes als der Versuch, Lebenserfahrungen an die Kraftströme kollektiver Bedeutungen und Wichtigkeiten (Relevanzen) anzuschließen. Autor und Leser kennen sich in der Regel nicht; nur durch das Medium der interessant gestalteten Erfahrung wird die tiefe Fremdheit zwischen Autobiographie und Leser zu einer Art literarischer Intimität.120

Führen wir diese Argumentation weiter und fassen den Schreibenden sowie den potentiellen Leser als Angehörige nicht nur einer bestimmten Gesellschaft, sondern noch präziser einer bestimmten Generation (oder auch verschiedener Generationen) auf, kann der Text als Medium der intra- (innerhalb einer Generation) sowie intergenerationellen (zwischen Generationen) Kommunikation gedeutet werden. Erzeugt wird Relevanz für die eigene Geschichte als Teil eines größeren Sinnzusammenhangs. Voraussetzung dafür ist allerdings die Veröffentlichung des Textes bzw. das bereits dem Schreibprozess zugrunde liegende Ziel der Publikation, durch die die Geschichte eine Art Anspruch auf Repräsentanz erhebt. Für den Autobiographen kann der Schreibprozess zwar die Rolle einer Therapie erfüllen. Abgesehen vom Therapeutischen wird aber durch die Veröffentlichung der Weg der Kommunikation eingeschlagen. Jede autobiographische Schrift wird mit dem Bewusstsein verfasst und daraufhin veröffentlicht, dass die dort (re)konstruierte Lebensgeschichte den Zeitgeist trifft, indem sie über das bloße Interesse des Schreibenden hinausgeht. Wie die einzelnen Autobiographen diese Repräsentanz genau verstehen, müsste allerdings anhand einzelner Texte geprüft werden.

3.5 Autobiographik als potentielles Medium generationeller Verortung Die theoretische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Autobiographik beschränkte sich im Laufe ihrer über hundert Jahre währenden Geschichte nicht auf die in der bisherigen Erörterung genannten Konzepte und Positionen. Das Ziel des Kapitels war aber keine geschichtliche Rekonstruktion der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Selbstbiographie – zu diesem Thema sind zahlreiche Studien verfasst worden, die dem Sachverhalt in ihrer systematischen Vorgehensweise gerecht werden –, sondern es wurde vielmehr als Weg zur Grundlegung des vorliegenden Projektes konzipiert. Will man nämlich die beiden Textkategorien „Autobiographik“ und 120 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 249.

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 3 Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht

„generationelle Verortung“ miteinander verknüpfen, muss ein Bindeglied gefunden werden, das solch eine Ausrichtung der Perspektive und der Fragestellung erlaubt. Als Schnittstelle der mit den beiden Termini abgedeckten Aspekte kann das Kommunikative angesehen werden. Als Erfahrungsgemeinschaft kann „Generation“ nach Ulrike Jureit wie folgt definiert werden: Generation ist aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive vornehmlich eine Verarbeitungskategorie, mit der sich Menschen sowohl ihre alltäglichen als auch ihre biographisch einschneidenden Erlebnisse kollektiv aneignen. Der einzelne will wissen, wie andere mit bestimmten Erfahrungen, die er für vergleichbar hält, umgehen. Generationelle Deutungsangebote müssen dafür konkret und zugleich allgemein genug sein, damit viele damit etwas anzufangen und es mit den eigenen Empfindungen, Hoffnungen und Erkenntnissen in Kongruenz zu bringen wissen. Das gemeinschaftsstiftende Potential liegt auf der kulturell codierten Ebene der Deutung und der Verarbeitung.121

Verstehen wir die Autobiographik als literarischen Akt im Sinne der der Sprechhandlungstheorie nahe liegenden Konzepte von Elisabeth W. Bruss oder Jürgen Lehmann und in Folge ihrer formalen Beschaffenheit sowie ihrer gesellschaftlichen Rolle als soziale Handlung im Sinne Peter Sloterdijks, darf sie als eine Art potentieller Übermittler von Informationen und Haltungen verstanden werden, durch die sich Autoren als soziale Akteure den Diskussionen ihrer Zeit anschließen können. So kommt die Autobiographik als Artikulationsort, aber auch als Kommunikationskanal in Frage. Bereits bei Philippe Lejeune wird das kommunikative Potential des Autobiographischen zur Grundlage des Gattungsverständnisses. Ob wir es mit dem autobiographischen oder auch mit dem romanesken Pakt zu tun haben, ist eine Frage, die eine der Gattungskonvention innewohnende Verständigung zwischen dem Autor und seinem potentiellen Leser zur Voraussetzung ihrer Existenz erklärt. In diesem Sinne dürfen intendierte autobiographische Aussagen, die zum Zwecke der Veröffentlichung verfasst wurden, als denkbarer Raum definiert werden, in dem die generationsspezifische Position artikuliert und mit der Publikation die soziale Relevanz für die im literarischen Text vollzogene Identitätskonstruktion beansprucht wird. Autobiographik erscheint als Träger von Informationen und Haltungen, die in den erzählten Lebensgeschichten bzw. konstruierten Selbstbiographien den Gattungsregeln gemäß codiert und im Laufe der Lektüre vom Leser decodiert werden müssen. Die Gattungskonvention lässt sich dementsprechend als ein Zeichensystem definieren, das der intentionalen Übermittlung den Weg bahnt. In diesem Sinne darf die Autobiographik als Medium der Darstellung und Reflexion der individuellen Erinnerung und der konstruierten Identität angesehen werden, die im Text selbst die Form einer generationellen Selbstzuschreibung annehmen kann oder auch durch die Veröffentlichung sich an die von Sloterdijk genannten „Kraftströme der kollektiven Bedeutungen“ anschließt und gemeinsam mit anderen Gleichgesinnten bzw. gegen die Andersgearteten eine generationsspezifische Vergangenheitsversion durchzusetzen versuchten. Die Erinnerung erscheint als Bestandteil der individuellen 121 Jureit: Generationenforschung, S. 14.

3.5 Autobiographik als potentielles Medium generationeller Verortung 

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Identität. Individuelle Vergangenheitsversionen dienen sozialen Gruppen aber dazu, kollektive Identitäten zu entwerfen und dadurch „soziale Praktiken, Machtansprüche und Wertesysteme“122 zu legitimieren oder auch zu delegitimieren. Dieses Verständnis der Autobiographik entspricht den Konzepten der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung. Als Beispiel sei hier der Forschungsansatz von Astrid Erll, Marion Gymnich und Ansgar Nünning genannt, in dem „Literatur als Medium der Repräsentation und Konstruktion von Erinnerung und Identität“123 begriffen wird. Eine Beschäftigung mit den vielfältigen Verknüpfungen und Interdependenzen, die literarische Werke auf mehreren Ebenen mit den kulturellen Phänomenen der Erinnerung und der Identität aufweisen, verspricht Antworten auf die Frage, welche Rolle Literatur in individuellen und gesellschaftlichen Deutungsprozessen spielt, wie sie sich aus mentalen, materiellen und sozialen Phänomenen der Kultur speist und wie sie ihrerseits auf diese wieder zurückwirken kann.124

Die Literatur – darunter auch die Autobiographik – bietet sich als Medium der „Darstellung und Reflexion, der Modellierung und Konstruktion“125 von Erinnerung und Identität an. Dies liegt an den Möglichkeiten der Literatur selbst wie an der Rolle begründet, die ihr in der Erinnerungskultur zugewiesen wird. Zu ergänzen wäre, dass die Literatur nur als einer von vielen Kommunikationskanälen angesehen werden soll. Allerdings scheint in der abendländischen Kultur der schriftlichen Überlieferungsform (zu prüfen wäre, ob dies auch auf die – relativ neue – digitalisierte Schriftform zutrifft) eine größere Resistenz als der mündlichen Überlieferung bzw. der im Medium des Theaters oder des Films geäußerten Inhalte zugeschrieben zu werden. Erstens geht es um die spezifischen Möglichkeiten des Mediums Literatur, Selbstbilder und Vergangenheitsversionen sowie Erinnerungs- und Identitätskonzepte ihres kulturellen Kontextes durch ästhetische Formen zu inszenieren, zu thematisieren und zu problematisieren. Zweitens ist das (sich aus der ästhetischen Gestaltung ableitende) Potential des Mediums Literatur von Interesse, Erinnerungen und Identitäten aktiv zu konstruieren und damit individuelle Gedächtnisse und Erinnerungskulturen mitzuformen.126

Nun scheint den autobiographischen Schriften als Ergebnis eines mehrdimensionalen Vertragsabkommens zwischen Autor und Leser ein besonderer Status im Universum der literarischen Erinnerung zugeschrieben werden zu dürfen. Die Präsenz des Autors als einer realen Gestalt verleiht der literarischen Aussage jene Deutlichkeit,

122 Astrid Erll/Marion Gymnich/Ansgar Nünning: Einleitung. Literatur als Medium der Repräsentation und Konstruktion von Erinnerung und Identität. In: dies. (Hg.): Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Trier 2003, S. III. 123 Vgl. Erll/Gymnich/Nünnung: Einleitung, S. III–IX. 124 Erll/Gymnich/Nünnung: Einleitung, S. III. 125 Erll/Gymnich/Nünnung: Einleitung, S. V. 126 Erll/Gymnich/Nünnung: Einleitung, S. V.

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 3 Zum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht

die sie als ein besonderes Medium der Repräsentation von Erinnerung und Identität anzusehen erlaubt. Die Verknüpfung von Literatur, Erinnerung und Identität erfolgt im Konzept von Erll, Gymnich und Nünning sowie in den Fallstudien des Sammelbandes in Anlehnung an Paul Ricœur, der im ersten Band seiner Studie Zeit und Erzählung ein dreidimensionales Modell eines „Kreises der Mimesis“ präsentiert, worunter die Präfiguration, Konfiguration und Refiguration zu verstehen sind. Die Textkonfiguration vermittle laut Ricœur zwischen „der Vorgestaltung (préfiguration) des praktischen Feldes und seiner Neugestaltung (refiguration) in der Rezeption des Werkes“.127 Erll, Gymnich und Nünning formulieren ihre Forschungsperspektive unter Berücksichtigung des Ricœurschen Konzeptes. Sie gehen davon aus, dass Literatur „bezogen auf und präformiert durch eine vorgängige, außerliterarische Wirklichkeit“128 wird (Präfiguration). „Literarische Werke entstehen im Kontext von Kulturen, in deren symbolischen Ordnungen bereits bestimmte Versionen und Konzepte von Erinnerung und Identität (objektiviert in sozialer Interaktion, Texten der literarischen Tradition und Medien anderer Symbolsysteme) kursieren.“129 Als Konfiguration wird literarische Darstellung von Erinnerung und Identität gefasst. Individuelle und kollektive Gedächtnisinhalte, Stereotypen [sic!] vom Eigenen und vom Anderen, aber auch gesellschaftlich nicht-sanktionierte, ausgeschlossene und verdrängte Erinnerungen und Selbstbilder kommen im als fiktional ausgezeichneten Raum und durch eine Reihe von spezifisch ästhetischen Verfahren modellhaft und probeweise zur Anschauung.130

Als dritte Stufe des Prozesses wird die Refiguration gedeutet, in deren Folge literarische Darstellungen von Erinnerung und Identität auf außerliterarische Wirklichkeit zurückweisen würden. „Literatur war und ist an der Ausformung und Reflexion von Erinnerungen und Identitäten in nicht unwesentlichem Maße beteiligt. Literarische Werke – immer vorausgesetzt, sie finden Leser – formen Vergangenheitsversionen und Selbstbilder (individueller wie kollektiver Art) aktiv mit.“131 Der letzte Hinweis auf die Rezeption als Voraussetzung der Refiguration liefert auch das Kriterium der Textauswahl für die Untersuchung der generationellen Verortung im Medium der Autobiographik. Nur Texte, die ihre Leser gefunden haben, vermögen es, am intra- und intergenerationellen Diskurs aktiv mitzuwirken. Als Indikator dafür können einerseits die verkauften Auflagen, andererseits Rezensionen gedeutet werden. Allerdings müssten am Rande auch Texte berücksichtigt werden, die sich auf dem Buchmarkt nicht genauso erfolgreich etabliert haben. Hier wäre die 127 Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd.1. Zeit und historische Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz. München 1988 [1983], S. 88. 128 Erll/Gymnich/Nünnung: Einleitung, S. IV. 129 Erll/Gymnich/Nünnung: Einleitung, S. IV. 130 Erll/Gymnich/Nünnung: Einleitung, S. IV. 131 Erll/Gymnich/Nünnung: Einleitung, S. IV–V.

3.5 Autobiographik als potentielles Medium generationeller Verortung 

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Frage nach ihrem Stellenwert für die generationelle Perspektive bzw. ihrer Rolle in der Prägung generationsspezifischer Vergangenheitsversion zu stellen. Die zahlreichen Definitionsversuche der Autobiographie verdeutlichen die Schwierigkeit einer klaren Abgrenzung der Autobiographie von benachbarten Formen der intimen Literatur. Die Affinität zu Memoiren, dem Tagebuch und dem autobiographischen Roman ist die Hauptachse der theoretischen Verortung dieser Gattung. Damit ist allerdings das Spektrum ihrer Variationsformen nicht ausgeschöpft. Als Oberbegriff zu all den genannten Formen der intendierten autobiographischen Aussage wird der Terminus „Autobiographik“ konzipiert, der auch in dem vorliegenden Projekt seine Anwendung findet. Die Beschränkung auf Autobiographie unter Ausschluss aller Grenzfälle bzw. anderer Formen autobiographischen Schreibens entspräche nicht den Voraussetzungen des Projektes. Generationelle Selbstverortung bzw. generationsspezifische Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte kann nämlich unterschiedliche Grade der Unmittelbarkeit annehmen. In Schriften, denen ein autobiographischer Pakt zugrunde liegt, die als referentielle Texte gelesen werden sollen, scheint der Autor mit voller Verantwortung für das Geschriebene zu bürgen. Im autobiographischen Roman scheint er sich dagegen in gewisser Hinsicht vom Boden der Tatsachen zu entfernen, nicht jedoch von dem Anspruch auf Authentizität der dargestellten Welt, die sich nun im Bereich des Möglichen bewegt. Anders wird die Haltung des Memoirenschreibers wahrgenommen, der seinen Werdegang als Träger einer sozialen Rolle mit Hilfe von verschiedenen Beglaubigungsstrategien dokumentiert, anders wiederum die des Tagebuchautors, der das innere Vorgehen betont. Generalisierende Urteile sollen dennoch vermieden werden. Es handelt sich in dieser Aufzählung eher darum, dass die Erzählhaltung des Autobiographen die illokutionäre Wirkung des Textes vorprogrammiert. Wollen wir verschiedene Varianten solch einer Kommunikation erfassen – und diese kommt durch unterschiedliche literarische Praktiken zustande –, muss der Gesamtkomplex des autobiographischen Schreibens ins Visier genommen werden, vorausgesetzt die behandelten Texte konstruieren eine Lebensgeschichte (bzw. Geschichte eines Lebensabschnitts), statt sich ausschließlich einem punktuellen Erlebnis zuzuwenden. Erst die Ausdehnung der Frage auf die generationsspezifische Sicht jener Umwälzungen des Jahres 1989 und die Problematisierung der Legitimierung des eigenen Lebens angesichts der ,Wende‘ erscheint in diesem Kontext als ein vielversprechender Ansatz, der es gestattet, derart unterschiedliche Reaktionen zu erklären.

4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916). Zum Gründungsmythos der DDR Im Generationenmodell von Thomas Ahbe und Rainer Gries werden als erste Gruppe die Geburtsjahrgänge von etwa 1893 bis 1916 unterschieden, allerdings mit der auf das ganze Modell zutreffenden Bemerkung, dass es sich um Orientierungswerte handele. Diese Unterscheidung entspricht der von Wolfgang Engler, der ungefähr die gleichen Jahrgänge zu den „Altkommunisten“ zählt, unter denen sowohl der 1876 geborene Wilhelm Pieck als auch der 1914 geborene Walter Janka zu verstehen seien,1 sowie der „KZ-Generation“ von Mary Fulbrook.2 Diese Generation umfasst mehr als zwei biologische Reproduktionszyklen.3 Die Jüngsten könnten die Kinder der Ältesten sein, was den nicht ganz unbegründeten Verdacht wachrufen könnte, dass es sich in diesem Fall doch um zwei verschiedene Generationen handelt. Trotzdem wird die Gruppe von allen oben genannten Wissenschaftlern als eine Generation wahrgenommen, weil die Erfahrungen der Angehörigen dieser Gruppe – wie Wolfgang Engler es treffend formuliert – „derart einschneidend und existentiell prägend [waren], daß sie die große altersmäßige Streuung aufwogen und einen gemeinsamen Typus schufen – den opferbereiten und kampferprobten Altkommunisten.“4 Darüber hinaus waren sie sich ihrer generationsspezifischen Erfahrung bewusst.5 Dementsprechend haben wir es nicht nur mit einer Generation „an sich“ zu tun, deren Gemeinsamkeiten von außen her erkennbar sind, sondern auch mit einer gefühlten Gemeinschaft, das heißt einer Generation „für sich“. Verstehen wir eine Gruppe als einen generationellen Zusammenhang, so können wir von der Annahme ausgehen, dass ihre Angehörigen von vergleichbaren Erfahrungen geprägt wurden und infolge dessen bestimmte Denkund Verhaltensmuster entwickelten.6 1 Vgl. Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, S. 43. 2 Vgl. Mary Fulbrook: Generationen und Kohorten in der DDR. Protagonisten und Widersacher des DDR-Systems aus der Perspektive biographischer Daten. In: Thomas Ahbe/Rainer Gries/Annegret Schüle (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Leipzig 2005, S. 122–123. 3 Vgl. Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, S. 43. 4 Engler: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, S. 320. 5 Vgl. Fulbrook: Generationen und Kohorten, S. 123. 6 Wolfgang Engler versteht die genannten Jahrgänge als eine Generation, auch wenn man den inneren Konflikt mitberücksichtigt, der im Jahr 1956 gipfelte. Die Fraktion der „Partisanen“ (mit Walter Janka und Wolfgang Harich an der Spitze) trat gegen die Fraktion der „Funktionäre“ (unter Walter Ulbricht) auf und erlitt eine Niederlage. Beide Fraktionen rechnet Engler aber derselben Generation zu, dessen Erfahrungshintergrund bereits beschrieben wurde. Es handelt sich laut Engler um die „Altkommunisten“, die er als „die eigentliche Gründergeneration der DDR“ bezeichnet. – Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, S. 43. https://doi.org/10.1515/9783110710793-004

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

Den Erfahrungshintergrund der Generation der Misstrauischen Patriarchen – so wird diese Gruppe von Ahbe und Gries genannt – bezeichnen diese als „extrem und existentiell“.7 Sie wurden von Krieg(en), Todesgefahr und Not geprägt.8 Die grundlegenden Erlebnisse dieser Generation fallen in die späten Jahre der Weimarer Republik, den Nationalsozialismus bzw. den antifaschistischen Widerstand; in vielen Fällen handelt es sich auch um die Erfahrung der Vertreibung und des Exils. Als Anhänger des antifaschistischen Widerstandes waren die Patriarchen nur eine Minderheit unter ihren Altersgenossen.9 Die Mehrheit der gemeinten Jahrgänge unterstützte den nationalsozialistischen Staat, sei es als hohe Funktionäre des Hitler-Regimes, sei es als Mitläufer, deren Schuld im Jasperschen Sinne moralischer oder metaphysischer Art ist. Aus dieser moralischen Position schöpfen die Patriarchen ihre Machtlegitimation und bauen nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches einen – nach ihrer Wahrnehmung – neuen, unbelasteten sozialistischen Staat auf, der gern mit einem unschuldigen Neugeborenen verglichen wird.10 Nicht alle Jahrgänge innerhalb dieser Generation konnten sich (aus Altersgründen) am antifaschistischen Kampf im gleichen Maße beteiligen. Die Ältesten hatten ihre ersten Erfahrungen bereits im Ersten Weltkrieg sammeln können. Zur Zeit des Nationalsozialismus waren sie erwachsene Menschen, während die Jüngsten 1933 erst die späte Phase der Adoleszenz – in der sich das politische Bewusstsein formiert – durchmachten.11 Die jungen und alten Patriarchen einte nach Ahbe und Gries nicht nur die recht exklusive Erfahrung des antifaschistischen Widerstandes, sondern vor allem ihre besondere Position nach dem Kriege. Sie teilten „die gemeinsame Erfahrung der Besonderheit wie auch der Isolierung“:12 Der ureigene Diskurs dieser Generation war zwar nahezu deckungsgleich mit dem Offizialdiskurs der DDR, darüber hinaus verfügten die Angehörigen dieser Gruppe über eine intensive und einseitige Binnenkommunikation: Sie lebten in einer ganz eigenen geistigen Welt. All das führte zur Herausbildung eines gemeinsamen Lebensstils und Habitus – der Typus des hohen Funktionsträgers in Politik und Partei, in Staat und Wirtschaft, in Kultur und Wissenschaft bildete sich heraus. Keine andere generationelle Gruppe vermochte in der DDR eine Generationseinheit vergleichbarer Prägnanz auszubilden.13

Zurecht verweisen Thomas Ahbe und Rainer Gries auf Kommunikation, die neben gemeinsamen Grunderlebnissen und Herausforderungen zur Voraussetzung der generationellen Vergemeinschaftung wird. Obwohl die Mehrheit der in der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR lebenden Menschen über andere gemein7 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 493. 8 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 493. 9 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 501. 10 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 497. 11 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 497. 12 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 501. 13 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 501.

4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916) 

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same Erfahrungen und andere Interpretationen der Wirklichkeit verfügte, blieb deren Sichtweise weitgehend unbeachtet, weil sie im öffentlichen Raum nicht miteinander kommunizieren durften. Die ehemaligen Anhänger des Nationalsozialismus konnten in der DDR keinen offiziellen Gegendiskurs entwickeln, der generationsbildend hätte wirken können.14 Der antifaschistische Widerstand wurde zum Gründungsmythos der Deutschen Demokratischen Republik. „Er wurde“ – Herfried Münkler zufolge – „zu einer säkularen Staatsreligion, die in der Verehrung kommunistischer Widerstandskämpfer als Märtyrer ihren Ausdruck fand.“15 Die Märtyrer des Sozialismus – wie etwa Ernst Thälmann (1886–1944), von Münkler als die „gründungsmythische[…] Identifikationsfigur Nr. 1 in der DDR“16 bezeichnet – bildeten auch den symbolischen Kern der Generation der Misstrauischen Patriarchen, gleich neben denjenigen, die am antifaschistischen Kampf teilnahmen und den Krieg auch überlebten.17 So wird der antifaschistische Widerstand auch zum Gründungsmythos der Generation der Misstrauischen Patriarchen. Sie „fungierten in der DDR sowohl als Interpreten des Vermächtnisses der Märtyrer“ – konstatieren Ahbe und Gries – „wie auch als Träger und Vermittler der ,historischen Wahrheit‘, also der gültigen Ideologie.“18 Kaum zu übersehen ist eine Art „Selbstsakralisierung“,19 aus der konsequenterweise das Monopol auf Wahrheit abgeleitet wurde, was jeder Kritik den Boden entzog. Wer es nämlich wagte, die Gründerväter der Republik anzugreifen, der wandte sich gegen die Grundsätze des sozialistischen Staates und wurde einer faschistischen Gesinnung bezichtigt. Die Mehrheit – auch viele politische Opponenten – stellte die moralische Überlegenheit der Patriarchen kaum in Frage. Die Sakralisierung hatte aber noch weitere negative Folgen. Ernest Geller – von Münkler zitiert – erblickt in ihr die Ursache des Untergangs nicht nur der DDR, sondern auch anderer sozialistischer Staaten, wobei hinzugefügt werden muss, dass es sich um eine Form der Sakralisierung handelt, die in allen Bereichen des Alltags zum Vorschein kam. „Wenn nahezu alles heilig ist,“ – ergänzt Münkler – „kann so gut wie nichts mehr verändert werden. Die Folge sind Erstarrung und Immobilismus.“20 Der Krieg, die Todesgefahr und die damit einhergehende Unsicherheit prägten die Haltung der ältesten Generation im Generationsgefüge der DDR, was weitreichende Konsequenzen für die gesamte gesellschaftliche Struktur des Landes sowie die Richtung seiner Entwicklung hatte. An der Schwelle zur neuen Staatsform stand das Gefühl des Misstrauens und die ständige Kampfbereitschaft gegen äußere wie

14 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 502. 15 Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen. Reinbek bei Hamburg 22011, S. 423. 16 Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, S. 431. 17 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 493. 18 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 493. 19 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 499. 20 Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, S. 440.

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

innere Feinde, woraus sich zwangsläufig ein Überwachungsapparat entwickeln musste. Mary Fulbrook spricht sogar von einer „erworbene[n] Paranoia in Hinsicht auf politische Gegner […].“21 Dieses Grundmisstrauen wurde selbst den Verbündeten gegenüber – wie der Aufbau-Generation – entgegen gebracht. Die Unfähigkeit, anderen Gruppen oder Generationen Vertrauen zu schenken und deren Engagement für die DDR wahrzunehmen und zu honorieren, verhinderte in der DDR einen geregelten Generationswechsel und damit auch den dringend nötigen Erfahrungstransfer. Diese Blockade war einer der entscheidenden Gründe für die stark gehemmte Entwicklung dieser neuen Gesellschaft. Bis in die Siebziger- und Achtzigerjahre hinein konnten die Misstrauischen Patriarchen ihre Macht und Moral mit Erfolg verteidigen.22

Die Patriarchen als Architekten des neuen Staatsgebildes, alleinherrschende Ideologen und jahrelange Entscheidungsträger schrieben jüngeren Kohorten Lebensszenarien vor, ohne den Stab den Nachfolgern zu übergeben. Die Konstitution der Gründergeneration spielt in meiner Überlegung insofern eine Rolle, als sie als Basis der DDR die gesellschaftliche Dynamik mitbestimmte, wenn nicht sogar diktierte. Die Denk- und Handlungsmuster jüngerer Kohorten können meines Erachtens nur als Element eines größeren Zusammenhanges rekonstruiert und in Interaktionen gezeigt werden. Hat man die Geburtsjahrgänge (1893–1916) vor Augen, kann man schwer erwarten, dass sich die Repräsentanten der Misstrauischen Patriarchen rege an den Diskussionen der Nachwendezeit beteiligen. Viele von dieser insgesamt zahlenmäßig schmalen Generation waren nicht mehr am Leben. Von den Lebenden ergriffen auch nur wenige das Wort, vermutlich weil das Alter nicht das politische Bilanzieren fördert, zumal sich viele bereits zu DDR-Zeiten auf ihr Leben literarisch zurückbesonnen haben. Die sogenannte ,Wende’ kann als weiterer Bruch in ihrer Biographie genannt werden, der die Patriarchen allerdings zu einer ganz eingeschränkten literarischen Auseinandersetzung bewogen hat. Bestünde man konsequent auf der im Titel festgelegten Zäsur 1989, müsste die älteste Generation (beinahe) vollständig übergangen werden. Um die intergenerationelle Dynamik erforschen und das generationelle Panorama rekonstruieren zu können, scheint es allerdings unentbehrlich, eine Ausnahme zuzulassen und die Auswahlkriterien zu lockern. So stehen im Visier der vorliegenden Untersuchung drei Autoren, die nach der sogenannten ,Wende‘ medial präsent sind, deren (alte und neue) Werke diskutiert werden und die auch zu Bezugspersonen für die jüngeren Kohorten werden, das heißt Stephan Hermlin (1915), Stefan Heym (1913) und Erwin Strittmatter (1912). Sie alle waren dem Sozialismus treu geblieben, auch wenn ihre Haltung dem Staat gegenüber nicht identisch war. Stephan Hermlin, der jüngste von den Genannten, versuchte nach Günter Kunert – wie dieser im Nachruf auf seinen ehemaligen Freund formuliert – in einem 21 Fulbrook: Generationen und Kohorten, S. 122. 22 Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen, S. 16.

4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916) 

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„Spagat“ 23 zwischen Literatur und Macht zu leben. So war er mit Erich Honecker befreundet. Andererseits gehörte Hermlin zusammen mit Heym zu denen, die die Initiative ergriffen, die Biermann-Petition 1976 zu verfassen und ihr dann Scharen von Befürwortern zu sichern. Stefan Heym, der bis in die letzten Jahre seines Lebens seine sozialistische Überzeugung beteuerte,24 war ein vehementer Kritiker diverser Missstände. Neben Havemann und Biermann wurde er – laut Günter Kunert – wie kein anderer „vollständig überwacht“.25 Trotzdem bewog ihn dies nie zu der Entscheidung, die DDR zu verlassen. Erwin Strittmatter war ebenfalls kein Parteidichter, verhielt sich aber dem Staat gegenüber loyal.26 Nach der ,Wende‘ blieb er einer der wenigen ostdeutschen Erfolgsautoren, der trotz seines Alters sein literarisches Werk fortsetzte und seine Texte in hunderttausend Exemplaren verkaufte – das gilt vor allem für den letzten Band seiner Romantrilogie Der Laden. Die genannte Gruppe ist nicht repräsentativ, weil sie erstens nur die jüngsten Jahrgänge der behandelten Generation berücksichtigt, zweitens weil unter den Autoren parteitreue Schriftsteller fehlen. Diese einzubeziehen wäre sinnvoll, um die innerhalb einer Generation hervortretende recht unterschiedliche Ausgangssituation im Jahr der ,Wende’ näher betrachten zu können. Aber auch mit den drei genannten Autoren haben wir es mit einer eher bescheidenen Stichprobe zu tun. Auch wenn ihre Vertreter medial präsent waren, produzierten sie nicht viele Werke, die sich als autobiographische Aussagen ins Forschungsfeld dieser Arbeit fügen. Heym und Hermlin veröffentlichten ihre autobiographischen Texte bereits vor 1989. Autobiographische Aufzeichnungen Strittmatters wurden zwar nach dem Umbruch herausgegeben, freilich erst posthum durch seine Frau. Nichtsdestotrotz soll die von diesen Autoren – mit welchen Mitteln auch immer – erreichte Position und die von ihnen betriebene Positionierung innerhalb des Erinnerungsdiskurses erörtert werden, weil sie einen wichtigen Baustein der ostdeutschen Generationen-Konstellation ausmachten, dem gegenüber sich wiederum die jüngeren Kohorten noch innerhalb der DDR und dann nochmals nach dem Zusammenbruch der alten Gesellschaftsordnung verorten mussten, um ihren eigenen Geltungsbereich zu markieren. Nach 1989 wurden nicht nur neue Bücher von Hermlin, Heym und Strittmatter diskutiert. Reges Interesse weckten auch ihre früheren Werke sowie ihre Lebenshaltung, die angesichts neuer Befunde – darunter wären vor allem die 23 Dichter zweier Herren. Günter Kunert zum Tod von Stephan Hermlin. In: Der Spiegel 16 (1997), S. 223, URL: https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/8694897 (letzter Zugriff: 13.11.2019). 24 Vgl. als Beispiel das Interview: „Ich habe auch geschossen“. Der Schriftsteller Stefan Heym über sein Leben als Oppositioneller in drei deutschen Saaten. In: Der Spiegel 53 (1998), S. 142–147, URL: https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/8456510 (letzter Zugriff: 13.11.2019). 25 Günter Kunert: Nachruf. Stefan Heym 1913 bis 2001. In: Der Spiegel 52 (2001), S. 195, URL: https:// www.spiegel.de/spiegel/print/d-21057540.html (letzter Zugriff: 13.11.2019). 26 Vgl. Petzen und Plaudern. Die Stasi-Kontakte des ostdeutschen Erfolgsautors Erwin Strittmatter. In: Der Spiegel 39 (1996), S. 226–227, URL: https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/ pdf/9094558 (letzter Zugriff: 13.11.2019).

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

Stasi-Akten zu nennen – erneut erörtert wurden. Die einzelnen Autoren machen mit ihrer Präsenz im literarischen Leben des vereinigten Landes auch auf ihr bisheriges Schaffen aufmerksam. Sie verdeutlichen ihre noch in der DDR verfassten Werke und ihre vor der ,Wende’ angenommene Haltung, was uns dazu bewegen sollte, uns den ausgewählten Aspekten zumindest ausschnittsweise anzunähern, auch wenn sie ein Randthema sind. Werden alte Texte neu herausgegeben, was nicht selten von aktualisierenden Paratexten begleitet wird, gewinnen sie ein zweites Leben und werden in dem gegenwärtigen Kontext neu reflektiert. Sorgen alte Bücher für öffentliche Kontroverse in der Nachwendezeit, gehören sie zum aktuellen Diskurs um die jüngste Vergangenheit und sollen zumindest im Falle der ältesten Autoren mitberücksichtigt werden, zumal diese oft ihre einzigen – oder ihre stärksten – Präsenzzeichen sind. Allerdings ist hier Vorsicht geboten, weil der Markt nach 1989 gerade von den DDRBüchern überflutet wird, die neu herausgegeben werden oder zum ersten Mal veröffentlicht werden dürfen. So werden hier nur wenige exemplarische Werke besprochen, die in diese Kategorie der Neuauflagen bzw. der neuen (alten) Tagesthemen passen, die der zentralen Frage der vorliegenden Untersuchung entgegenkommen. Es wird trotz der unzulänglichen Repräsentanz gefragt, ob sich in den vorhandenen Selbstaussagen eine generationsspezifische Legitimation des eigenen Lebens im Sozialismus erkennen lässt, ob ein Ich in ein Wir übergeht und – falls dies der Fall ist – was unter diesem Kollektiv zu verstehen ist. Zu untersuchen wäre darüber hinaus, ob sich feste Punkte in der autobiographischen Positionierung der drei genannten Autoren ausmachen lassen.

4.1 Stefan Heyms Einmischungen. Nachruf (1988) Das Jahr 1989 wird in der vorliegenden Arbeit als ein radikaler biographischer Einschnitt gedeutet, weil sich mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems die Rahmenbedingungen des Lebens und des Schreibens über das gelebte Leben veränderten. Die Umwälzungen stellten die Schriftsteller vor eine Neudefinition ihrer Rolle, aber auch vor eine persönliche Abrechnung. Die Zäsur 1989 ist jedoch eine Art Regelung, deren Geltungskraft nicht uneingeschränkt gilt. Für den 1913 in Chemnitz als Helmut Flieg geborenen Stefan Heym, der sich einen Sonderstatus in der DDR erarbeitet hat, bedeutete dieses Datum einen markanten Punkt, der jedoch seine öffentliche Positionierung nicht in dem Maße beeinflusste wie viele DDR-Autoren, die davor anders schreiben mussten, um veröffentlicht zu werden. Recht spät wählte Heym die Deutsche Demokratische Republik zu seinem Wohnort, denn erst im Jahre 1952 zog der damals amerikanische Bürger in das sozialistische Land und blieb dort bis zum Mauerfall. Seinen Status eines spät Gekommenen pflegte er lebenslang, was zusätzlich von dem Umstand verstärkt wurde, dass er seine Bücher relativ lange in englischer Sprache verfasste, auch lange nachdem er den amerikanischen Pass abgegeben hatte. Seine mediale Präsenz, das Leben in

4.1 Stefan Heyms Einmischungen. Nachruf (1988) 

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der DDR und gleichzeitig seine enorm aktive Tätigkeit auf dem literarischen Markt des Westens gewährten ihm den Schutz, den der aktive Kritiker brauchte, um trotz der dem Staat unbequemen Position weiterhin in dessen Grenzen wirken zu dürfen, um nicht ,unschädlich‘ gemacht zu werden. Als „die bekannteste Unperson der DDR“ war er eine Institution; geschützt durch seine Popularität, konnte er offen aussprechen, was andere nur verklausuliert anzudeuten wagten. Er ließ sich nicht einschüchtern, denn an Selbstbewußtsein mangelte es Heym nicht.27

Heym gab seine Bücher auch vor 1989 im Westen heraus, nicht selten mit kritischen Bemerkungen, die anderen Autoren erst nach dem Zusammenbruch des Repressionsapparates möglich wurden, weil ihre Existenz – im Gegensatz zu der von Heym – von vielfältigen Sanktionen bedroht war. Er wurde nach Günter Kunert zur Stimme derjenigen, die nicht wagten, selber zu sprechen.28 Heym selbst scheint sich als Repräsentant der Unterdrückten zu begreifen, was er in seiner noch zu den DDR-Zeiten veröffentlichten Lebensbilanz ausdrücklich zur Sprache bringt. Und so lesen wir in der 198829 in dem westdeutschen Bertelsmann Verlag unter dem Titel Nachruf herausgegebenen Autobiographie folgende Charakteristik: Heute […] gilt der Schriftsteller S.H. als eine […] Fernsehpersönlichkeit, Spezialist Ost-WestDeutsches, sozialistische Absonderlichkeiten, gelegentlich auch Psychological Warfare, DDRLiteratur, Holocaust. […] Die Öffentlichkeit sein Panzer, kann er, die bekannteste Unperson der Republik, vor Millionen aussprechen, was die meisten seiner Mitbürger nur zu denken wagen, und kann derart ihr Denken hier und da sogar beeinflussen;30

Heym brauchte keine ,Wende‘, um sein Leben beschreiben zu dürfen. Eine zeitliche Verschiebung wird hier sichtbar. Aus diesem Grunde scheint es berechtigt zu sein, seine ein Jahr vor der sogenannten ,Wende‘ veröffentlichte Autobiographie Nachruf bei der Analyse mit zu berücksichtigen, zumal der Autor nach dem Zusammenbruch der DDR seine frühere Position in zahlreichen essayistischen Texten, in Interviews und Reden deutlich macht und die Kontinuität hervorhebt. Dem Nachruf folgt keine

27 Hans Wolfschütz/Michael Töteberg: Stefan Heym. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1978ff., S. 15. 28 Vgl. Kunert: Nachruf. Heym, S. 194. Sein Engagement soll der Titel des vorliegenden Kapitels betonen. Angespielt wird damit auf den 1990 herausgegebenen Band mit Gesprächen, Reden und Essays Stefan Heyms Einmischung (München 1990, Lizenzausgabe: Frankfurt a.M. 1992). 29 In dieser Zeit lässt sich im Ostblock und zögernd auch in der DDR die Klimaveränderung beobachten, die zur Kurskorrektur im kulturellen Bereich führte. Gedruckt wurden Bücher, die jahrelang nicht erscheinen durften. Die Idee von Glasnost und Perestroika greifen um sich um. Auch wenn Heym seinen Text nicht nach der politischen Wende veröffentlicht, so doch zu jener Zeit, als sich Vorzeichen eines gesellschaftlichen Umbruchs ablesen lassen. 30 Stefan Heym: Nachruf. Frankfurt a.M. 1990, S. 776. Im Folgenden werden Zitate als Sigle SHN mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen. Ein Siglenverzeichnis steht vor dem Literaturverzeichnis.

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

Fortsetzung in Form einer Autobiographie im strikten Sinne, was damit erklärt werden kann, dass die existenzwichtigen Entscheidungen und die lebensprägenden Erfahrungen bereits in dem über 800 Seiten starken Buch thematisiert wurden. Der ,Wende‘ begegnet Heym in Form einer unmittelbaren Aussage, ohne das bereits Gesagte zu wiederholen. Wie passt aber Stefan Heyms Autobiographie eines Einzelgängers zu der Frage nach dem generationellen Habitus, nach der generationsspezifischen Sicht der jüngsten Vergangenheit sowie dem eigenen Rollenverständnis? Heym als Sonderfall kann – trotzdem oder gerade deswegen – das generationelle Porträt ergänzen. Auch wenn sein persönlicher Weg sich von vielen Lebensläufen der DDR-Schriftsteller unterscheiden mag, die hier von den ersten Tagen der DDR an lebten, werden alle seit diesem Zeitpunkt von vergleichbaren Bedingungen geprägt und nicht zuletzt erleben sie die revolutionären Ereignisse des Herbstes 1989 und dessen Folgen im gleichen Raum. Auch wenn sich Heyms Perspektive durch den amerikanischen Einfluss etwas unterscheiden mag, weist sein Leben Elemente auf, die an die Generation der Misstrauischen Patriarchen denken lassen. Die Schlüsselerfahrungen für diese Generation sind auch diejenigen Stefan Heyms – das Nazideutschland, die Exilzeit und dann die politischen ,Wendepunkte‘ der DDR-Geschichte. Ob sie in seinem Fall zur Herausbildung eines generationsspezifischen Habitus geführt haben, muss genau erforscht werden. Heym war aber auch eine der bedeutendsten Gestalten des literarischen Lebens in der ehemaligen DDR und einer der wichtigsten Vertreter der ostdeutschen Gesellschaft im vereinigten Land. Seine Bedeutung fasst treffend Peter Hutchinson in einer der wenigen Monographien über ihn zusammen: Stefan Heym war ein Rebell schon lange bevor er in die DDR kam. Er war aber einer der ersten Dissidenten, einer der bedeutendsten, und sicherlich einer der erfolgreichsten dieses Landes. Es ist charakteristisch für ihn, dass er entscheidend an dem Druck auf die DDR-Regierung beteiligt war, der sie schließlich zu ihrem Rücktritt zwang, und gehörte auch zu den ersten, der jenen symbolischen Schritt durch die Berliner Mauer tat. Anders als viele seiner Zeitgenossen ließ sich Heym weder von der Zensur einen Maulkorb anlegen, noch nach Westdeutschland ins Exil drängen. Er hielt trotz aller Gefahren an seiner deutlich kritischen Position fest, und er stand mehr als fünfunddreißig Jahre lang in offenem Widerspruch zur Regierung und ihren offiziellen Organen. Kein Buch über die DDR-Literatur oder auch über die DDR-Geschichte kann ohne Bezugnahme auf seine Bedeutung als vollständig gelten [Hervorhebung – K.N.].31

Im generationellen Panorama darf Stefan Heym deshalb nicht fehlen. Stefan Heyms Nachruf (1988) spielt bereits mit seinem Titel auf eine das Leben zusammenfassende Erzählhaltung an, wobei sich für den Leser ein überraschender Effekt aus dem Spiel mit der Gattungskonvention ergibt.32 Nachrufe sind tradi31 Peter Hutchinson: Stefan Heym – Dissident auf Lebenszeit. Aus dem Englischen von Verena Jung. Würzburg 1999, S. 5. 32 Den Anlass zur Arbeit an der als Nachruf betitelten Autobiographie gab der im Epilog des Buches erwähnte Besuch des Journalisten Alden Whitman von der New York Times. Whitman hat sich auf

4.1 Stefan Heyms Einmischungen. Nachruf (1988) 

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tionsgemäß Würdigungen eines unlängst verstorbenen Menschen, und zwar nicht von diesem selbst verfasst, sondern von einer dritten Person, die dem Porträt den Anschein der Objektivität verleiht. Die Titelwahl lässt die Interpretation zu, dass der Verfasser den Zeitpunkt für angemessen hält, eine Lebensbilanz zu ziehen, die auch das den Nachkommen überlieferte Bild determiniert. Dass es sich nicht um eine fiktive Geschichte handelt, wird bereits in den Paratexten explizit angesprochen. Auf der Umschlagseite leuchtet ein Foto Stefan Heyms, eines älteren Herren in nachdenklicher Haltung, worunter die Personalien des Autors und die Titelangabe zu finden sind, was dem ersten spontanen Schluss den Weg bereitet, es könnte sich um einen autobiographischen Text handeln. Diese Ahnung des Lesers wird schnell in Gewissheit umschlagen, wenn die Umschlagrückseite (Ausgabe von 1990) ins Blickfeld rückt. Dort wird der Text als die „ebenso erregende wie amüsante Autobiographie des großen alten Mannes der DDR-Literatur“ (SHN Rückseite des Covers) charakterisiert. Die Identität des Erzählers mit dem Autor wird ebenfalls im Vorfeld der Lektüre bestätigt. Auf derselben Umschlagseite wird ein Ausschnitt einer Buchbesprechung zitiert, in dem die in Nachruf thematisierte Geschichte als der Werdegang Heyms beschrieben wird: Den Autor hat niemand und nichts jemals brechen und mundtot machen können, und nichts und niemand wird es jemals können, jetzt schon gar nicht mehr. Für alles, woran er sein Leben lang geglaubt hat, wird dieser Autor, der nicht lügen kann, weiterkämpfen bis zum Tod. Viel länger! Denn es bleiben seine Bücher. (SHN Rückseite des Covers)

Diese enthusiastische Beschreibung wird im weiteren Begleittext fortgesetzt, in dem das Werk als eine „fulminante Autobiographie“ überschrieben wird. So sind die ersten Voraussetzungen geschaffen, um das Buch als eine autobiographische Aussage lesen und als einen referentiellen Text funktionieren zu lassen. Von einer autobiographischen Schrift eines Autors, der nicht lügen könne – wie Johannes Mario Simmel in dem zitierten Abschnitt konstatiert –, hat der potentielle Rezipient wohl eine aufrichtige, um nicht zu sagen ,wahre‘, Lebensdarstellung zu erwarten. In der Kurzfassung des Lebenslaufs erhält der Leser die wichtigsten Stationen des Heymschen Lebens, die er im Laufe der Lektüre im Text wieder erkennt und die autobiographische Lesart ungestört verfolgt, auch wenn im Text eine durchgehende Ich-Erzählung – an die er gewohnt sein mag – nicht vorhanden ist. Die durchdachte Strategie des Autors Stefan Heym beschränkt sich nämlich nicht auf den Titel, sondern wird zur Erzählstrategie ausgeweitet. So berichtet ein Erzählsubjekt, das selten in der Ich-Form zu Wort kommt (allerdings eröffnet es die Erzählung mit einer konventionellen Ich-Formel, was der Irritation des Leser vorbeugen mag), vom Nachrufe spezialisiert, die er noch zu Lebzeiten des Gewürdigten verfasste, ohne dass er den fertigen Text vor dem Tod des Betroffenen jemals gezeigt hat. Da Whitman vor Heym stirbt, setzt sich der Schriftsteller in gewissem Sinne selbst ein Denkmal, in dem er die von ihm selbst anerkannte Version des eigenen Lebens darstellt.

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Schicksal eines Erzählobjektes, nämlich eines männlichen Protagonisten namens Helmut Flieg, genauso wie der Autor eines Nachrufs vom Leben eines Gewürdigten erzählt – mit dem einen Unterschied, dass Heyms Ausführungen die Länge des konventionellen Nachrufs überschreiten und der Grad der Detailliertheit die Gattungskonvention sprengt. Die Zweiteilung in eine objektivierende Instanz des Erzählers und das behandelte Objekt erzeugt eine Art Verfremdung, die im Falle der ununterbrochenen Ich-Erzählung, wo die Identität des Erzählsubjektes mit dem Erzählobjekt nicht angezweifelt wird, kaum möglich wäre. Dieses Verfahren steht jedoch dem autobiographischen Pakt mitnichten im Wege. Den Namen des Protagonisten erfahren wir gleich auf der ersten Seite. Der hier angesprochene Helmut Flieg entpuppt sich etliche Seiten später (vgl. SHN 83) als Stefan Heym. Dass diese Personalangaben auch auf den Erzähler bezogen werden sollen, wird im Text explizit angesprochen: „Das Leben des Mannes, über den ich schreibe, mein Leben [Hervorhebung K.N.], ist nicht gerade reich gewesen an Momenten, in denen ein Gefühl der Sicherheit das Herz erfüllte. Die Zeiten waren nicht danach.“ (SHN 126) Es wäre allerdings etwas voreilig, auf eine Identität von Erzählsubjekt und -objekt zu schließen. Identisch sind sie nämlich nicht. Auch wenn die Inhalte ihres Lebens übereinstimmen mögen, unterscheidet sie die Perspektive. Der Erzähler mit seinem Wissensvorsprung nähert sich den einzelnen Lebensstationen Helmut Fliegs/Stefan Heyms an, ohne seine distanzierte Haltung preiszugeben. So werden von ihm an manchen Stellen Zweifel an der Vollständigkeit der Erinnerung formuliert, die Verdrängungsmechanismen thematisiert: „Das Gedächtnis arbeitet selektiv, und es hat seine eigenen Gründe, wenn es einmal Verdrängtes nicht mehr berührt.“ (SHN 70) Der Versuch einer distanzierten, selbstreflexiven Betrachtung wird von Anfang bis zum Ende des Buches vollzogen. So wird dem Leser eine historische Gestalt in ihren Zeitumständen (das Erzählte) und ihr gegenwärtiger Bewusstseinsstand (in Form des Erzählvorgangs) dargeboten. Der Erzähler bemüht sich von einzelnen Lebensstationen Helmut Fliegs/Stefan Heyms zu berichten, wobei er den Anschein erweckt, nichts davon verschwiegen zu haben. Die Detailtreue sowie die an manchen Stellen übertrieben genaue Erzählweise, bei der lange Passagen im dramatischen Modus wiedergegeben werden, sollen dem ganzen Vorhaben die für die Autobiographie unentbehrliche Authentizität gewährleisten.33 Die Akribie in der Rekonstruktion des Geschehens – aus den Erinnerungen, Notizen und Recherchen –, die im Text selbst thematisiert wird, verleiht dem Erzählten einen Zug Wahrhaftigkeit. Dennis Tate verweist in der Monographie Shifting Perspectives: East German Autobiographical Narratives Before and After the End oft the

33 Diese Geste mag manche Leser und Kritiker überzeugt haben. So erkennt Karl Corino in seiner Rezension aus dem Jahre 1988, dass Heyms Autobiographie „unvergleichlich mehr Wahrheit als Irrtum“ enthalte und auch als (historisches) Dokument den jüngeren Generationen Einblick in das Leben in dieser Epoche geben werde. (Vgl. Karl Corino: Unser Zeitalter wird besichtigt. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 8.10.1988).

4.1 Stefan Heyms Einmischungen. Nachruf (1988) 

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GDR (2007) auf die umfangreichen Sammlungen des Archivs von Stefan Heym, die im Text als eine Art Hilfsmittel des Gedächtnisses in Anspruch genommen werden. His personal archive includes not just the latter but also a wide range of secret police files relating to different periods in his life […], documents relating to the writing and reception of his literary works as well as his private correspondence […]. Like the physical evidence of return visits to locations associated with period of his earlier life […], each mentioned at the appropriate moment in his account, Heym’s documents provide a corrective to the distortions of memory and the inexplicable gaps it has left.34

Heyms Lebensgeschichte wird mit Hilfe dieser Mittel (re)konstruiert. Obwohl die materiellen Beweise seiner Existenz – wie die offiziellen Dokumente, Zeitungsartikel und Buchbesprechungen oder auch die persönliche Korrespondenz – als eine Art Korrektiv des Gedächtnisses fungieren können, bleibt die Auswahl der angeführten Quellen nicht ohne Bedeutung für das Endergebnis dieser doch recht subjektiven Rekonstruktion. Revidiert können die Quellen nicht werden, weil sie in Nachruf weder in der ersten Fassung noch in den Neuauflagen abgedruckt werden. Die akribische Rekonstruktion der einzelnen Lebensepisoden mündet in einer Überfülle von Einzelheiten. Neben politischen Ereignissen und lebenswichtigen Entscheidungen werden die Abenteuer eines Pubertierenden wie sein „erste[r], aufregende[r] Besuch in einem Bordell“ (SHN 99) beschrieben. Andererseits sind gerade diese Erlebnisse Aspekte der Persönlichkeit, die sich im Laufe der im Text beschriebenen Entwicklung herausgebildet hat und deren Endergebnis uns gerade sein Werden schildert. Denn in der Autobiographie wolle – um nochmals Ingrid Aichinger heranzuziehen – der Autor sein Leben im Zusammenhang darstellen und die Entfaltung seiner Persönlichkeit thematisieren,35 dessen fester Bestandteil nicht nur das öffentliche Leben, sondern eben auch die Privatsphäre ist. Darin liegt der Hauptunterschied zu Memoiren, in denen der Schreibende nicht „die Einordnung der Geschehnisse in eine Sinngebung für das eigene Ich“,36 nicht die Darstellung der Totalität des Seins anstrebt, sondern Akzente auf äußere, oft politische Umstände setzt, ohne „den tieferen Zusammenhängen“37 nachzuspüren. Das Erzählobjekt wird in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Er wird nicht als Zuschauer der Vorgänge – wie im Falle von Memoiren – dargestellt, sondern als Handelnder, der in die Zeitgeschichte verwickelt ist. Seine eigene Existenz wird ihm aber nicht zum Problem. Er sucht nicht nach seiner Identität, sondern scheint vielmehr eine gültige Version seines Lebens glaubwürdig darzustellen. Auf diesen

34 Dennis Tate: Shifting Perspectives: East German Autobiographical Narratives Before and After the End of the GDR. Rochester 2007, S. 144–145. 35 Vgl. Aichinger: Probleme der Autobiographie, S. 176. 36 Aichinger: Probleme der Autobiographie, S. 178. 37 Aichinger: Probleme der Autobiographie, S. 178.

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Sachverhalt verweist Gregory L. Ketcham in seiner Dissertation The construction of the revolutionary writer in autobiographical works of Stefan Heym aus dem Jahre 1998: Heym’s autobiography is not a radical reappraisal and questioning of the past on Heym’s part. It is an attempt to establish a sense of continuity by showing that despite small missteps, the general path of his life was correct.38

Und so versucht der Erzähler im Jahre 1988 zu rekonstruieren, was ihn dazu bewogen hat, als Oppositioneller in drei politischen Systemen zu agieren, nämlich im Nationalsozialismus, im US-Kapitalismus und im Sozialismus. Die Stationen seines bewegten Lebens […] – bemerkt Michael Töteberg – behandelt Heym wie einen Roman-Stoff: Er weiß spannend zu erzählen, setzt dramatische Akzente und gibt komische Einlagen, präsentiert einen sympathischen Helden: sich selbst.39

In seiner autobiographischen Erzählung konstruiert Heym die Gestalt eines isolierten Gerechten, der sich von Kindesbeinen an vom Rest der Gesellschaft unterschieden hat. Der Erzähler schildert nicht den Lebensweg S.H.s als Angehörigen einer Gruppe, sondern als den eines Außenseiters. Viel Platz räumt er seinen Kinder- und Jungendjahren ein. Und so bleiben weder seine jüdische Herkunft noch seine Bildungszeit ohne Bedeutung, die mit dem Aufbruch des Nationalsozialismus zusammenfällt. Historische Ereignisse werden als fester Bestandteil des Privatlebens gezeigt. Der junge Flieg – wie später der Schriftsteller und Journalist S.H. – erscheint als „Zeitzeuge“ (SHN 43), den die innere Überzeugung und eine Kette von Ereignissen dazu trieben, als überzeugter Linker – ohne einer bestimmten linken Gruppierung anzugehören (vgl. SHN 57) – zu emigrieren. Bereits am Anfang der Erinnerungen wird auf die Bedeutung der frühen Prägungen verwiesen, die als eine Art Kindheitsmuster das Erwachsenenleben beeinflussen (vgl. SHN 10), indem sie die Persönlichkeit mitgestalten. Im Laufe der Zeit treten „zu den Empfindungen des Kindes […] Beobachtungen hinzu und Reflexionen; Meinungen bilden sich heraus und gewisse Haltungen“ (SHN 18). Und so spürt das Erzählobjekt spätestens in seiner Schulzeit seine „Andersartigkeit“ (SHN 16), die sich aus seinem Judentum ergibt und kaum zu verstecken ist, weil der junge Flieg vom Religionsunterricht „befreit“ (SHN 16) ist. Seine Familie wird aber nicht als besonders gläubig gezeigt. Nicht sie hat ihrem Glauben eine besondere Bedeutung zugeschrieben, sondern die Gesellschaft, die daraus eines der Argumente macht, um sie zu isolieren. In dieser Isoliertheit erblickt der junge Flieg seine Schwäche, die ihn leicht angreifbar macht (vgl. SHN 29). Dieses Gefühl wird noch zusätzlich durch den 38 Gregory L. Ketcham: The construction of the revolutionary writer in autobiographical works of Stefan Heym, zit. nach: Christine Cosentino: Stefans [sic!] Heyms Autobiografie Nachruf: Selbstporträt, Lesart seines Lebensweges, Lebenslegende?. In: Peter Hutchinson/Reinhard K. Zachau (Hg.): Stefan Heym: Socialist – Dissenter – Jew. Bern 2003, S. 164. 39 Wolfschütz/Töteberg: Heym, S. 14.

4.1 Stefan Heyms Einmischungen. Nachruf (1988) 

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nationalsozialistisch genährten Judenhass gestärkt. Der Einbruch des Nationalsozialismus wird aus der Perspektive eines Heranwachsenden dargestellt, nicht als eine Frage politischer Brisanz, sondern als Begebenheit mit persönlicher Dimension. Die Badestrände am Ost- und Nordsee boten das erste weithin sichtbare Zeugnis der Erstarkung der nationalsozialistischen Bewegung, deren lärmender Judenhaß, mit dem Appell an alles, was primitiv war im Menschen, im Hause Flieg zunächst nicht recht ernst genommen wurde; (SHN 36)

Im jungen Flieg erwacht aber schnell politisches Bewusstsein. Er hat die Gelegenheit, Adolf Hitler in Chemnitz „aus dreieinhalb Meter Entfernung“ (SHN 44) zu sehen, und findet „den Mann, seine Aufmachung, seine Gesten, lächerlich“ (SHN 44). Man gewinnt den Eindruck, dass die frühe Ablehnung der nationalsozialistischen Performance sich eher aus ästhetischem denn aus politischem Widerspruch ergibt. Flieg beobachtet „Hitler in Aktion“ (SHN 43) und sein „Gruß“ wirkt auf ihn ekelerregend: [D]er junge Flieg sah plötzlich den dunklen, feuchten Fleck in der Achselhöhle des Mannes und dachte: „Nein, der nicht, der ist kein Prophet und kein Held, der schafft’s nicht.“ (SHN 44) Überraschend mag die Scharfsinnigkeit des jungen Protagonisten wirken, der im Gegensatz zu seinen Mitschülern und den meisten Personen aus seiner Umgebung die Angehörigen der nationalsozialistischen Bewegung durchschaut hat. Flieg ist aber nicht nur gefährdet, weil er Jude ist, sondern auch weil er sein erstes (kritisches) Gedicht publiziert, das zum „politischen Provinzskandal[…]“ (SHN 45) wird. Der Primaner Flieg wird der Schule verwiesen (vgl. SHN 52) und muss im März 1933 Deutschland aus Sicherheitsgründen verlassen. Im Gegensatz zu der passiven Masse der Deutschen, die den Marsch der braunen Kolonnen beobachten oder sich vom Enthusiasmus mitreißen lassen, wird Flieg als ein mutiger (manchmal sogar übermutiger), tatbereiter Mann dargestellt, dessen Vorbild Schiller und Kästner waren. Flieg nehme Partei, „links natürlich, obwohl es nicht leicht ist zu entscheiden, welcher der linken Gruppierungen ein einigermaßen denkfähiger junger Mensch sich anschließen soll.“ (SHN 57) Seine Haltung wird also nicht als Resultat einer ideologischen Lenkung durch eine Partei gezeigt. Seine politische Orientierung erscheint in dieser Narration als natürliche Konsequenz der inneren Überzeugung, die ihn an die Seite der wenigen Widersacher des Systems treten lässt. So übernimmt Heym die Rolle des „Rebellen aus Gewissenszwang“,40 die er ein halbes Jahrhundert lang innehält. Heym ist zwanzig Jahre alt, als er – zuerst nach Prag, dann in die USA – emigriert. Der Tatsache, dass seine „Lehrjahre“ (SHN 90) mit den Jahren der Emigration zusammenfallen, schreibt der Erzähler eine besondere Bedeutung zu: Die Flucht nach Prag, entscheidender Einschnitt in seinem Leben, stülpte die einmal begonnene Entwicklung ja nicht um, sondern beschleunigte sie höchstens und radikalisierte sein Denken. Da waren in ihm, die Wurzeln müssen in seiner Kindheit liegen, ein Sinn für Recht und Unrecht, und eine Abneigung gegen Macht, die unterdrückt. (SHN 95)

40 Die Bezeichnung stammt von Hans-Bernhard Moeller, zit. nach: Wolfschütz/Töteberg: Heym, S. 2.

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In Prag nimmt der junge Flieg auch das Pseudonym Stefan Heym an, das später in Amerika zu seinem amtlich anerkannten Namen wird. Dieser Vorgang wird aber in der Autobiographie nicht als ein symbolisches Zeichen eines Neuanfangs gedeutet, sondern als „prosaisch[e]“ (SHN 84) Notlösung. Ein falscher Name, den er auf die an seine Familie geschickte Postkarte setzt, soll seine Angehörigen beschützen. Er ist sich – trotz seines jungen Alters – der Gefahren bewusst, was ihn allerdings nicht in die Passivität eines Opfers treibt, sondern zur aktiven Haltung bewegt, die sich in seinem geschriebenen Wort äußert. Heym kommentiert die Wirklichkeit, und zwar in seinen journalistischen und literarischen Texten. Während in Deutschland „die Schaufensterscheiben an den jüdischen Geschäften [klirren], […] die Synagogen [brennen] und […] die Juden bespien [werden]“ (SHN 165), schreibt er an der Frontseite des „Volksecho“, zu dessen Chefredakteur er im Alter von 25 Jahren wird, einen gegen die Nationalsozialisten gerichteten Artikel „Pogroms and Terror Rule Germany“ (SHN 165).41 Heym wird zu einem Kämpfer stilisiert, der in den ersten Jahren seiner Emigration vereinsamt mit Hilfe des geschriebenen Wortes gegen das Hitlerregime stritt, um seit 1943 endlich an der amerikanischen Seite als Soldat gegen die Hitlerarmee zu kämpfen, worum er sich lange Zeit bemühte (SHN 230–232). Einmal fragt ihn ein Sergeant: „Wie fühlen Sie sich eigentlich in dieser [amerikanischen – K.N.] Armee? Glücklich?“ Da antwortet er, „Ich habe zehn Jahre lang ziemlich allein gegen die Bastarde gekämpft, wie soll ich mich jetzt fühlen, wo ich zwei Millionen Mann an meiner Seite habe?“ (SHN 240)

Der Mythos des antifaschistischen Widerstandskämpfers wird im Fortgang der Autobiographie konsequent aufgebaut, was zusätzlich durch den Vergleich mit der deutschen Bevölkerung verstärkt wird. Im Lande seiner Herkunft sieht er nur moralischen Verfall, den er mit einem biblischen Motiv beschreibt. S.H sucht unter den deutschen Soldaten nach ‚Gerechten‘ (vgl. SHN 291), nach Menschen, die von der nationalsozialistischen Ideologie unbefleckt sind, und kommt sich vor wie Abraham bei seinem Handel mit Gott; Gott wird Sodom und Gomorrha verschonen, wenn ich fünfzig Gerechte darin finde, auch fünfundvierzig, bittesehr, vierzig noch, sogar fünfunddreißig, und so heruntergehend bis auf zehn; aber selbst diese armseligen Zehn, wo sind sie? … Schließlich findet er ein paar […]. (SHN 291)

Der Erzähler formuliert keine These von der Kollektivschuld der Deutschen, sondern zeigt nur das Ausmaß der ideologischen Seuche, der die überwiegende Mehrheit seiner ehemaligen Landsleute erlegen ist. S.H. gehört also einer Elite an, einer dünnen Schicht 41 Heym war alleinverantwortlicher Redakteur der Wochenzeitung Deutsches Volksecho, das gegen die nationalsozialistische Propaganda kämpfte. In vielen Beiträgen Heyms sind marxistische Einflüsse sichtbar. (Vgl. Wolfschütz: Heym, S. 3). Diese journalistische Tätigkeit steht im Einklang mit seinen sozialistischen Überzeugungen und seinem gesellschaftlichen Rollenverständnis. Heym mische sich ein, greife ein, um zu verändern (Wolfschütz: Heym, S. 2).

4.1 Stefan Heyms Einmischungen. Nachruf (1988) 

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der Unbefleckten, dazu noch hat er gegen Hitler an der Seite der Sieger gekämpft und zu der Kapitulation beigetragen. Was ihn beim Kontakt mit den Soldaten der Hitlerarmee besonders zu bewegen scheint, sind die verbreiteten Verdrängungsmechanismen, die Versuche, die persönliche Verantwortung von sich zu weisen. Als amerikanischer Soldat, der später für die Re-edukation mitverantwortlich ist, wird er mit einer ganzen Reihe der „Vernunftsgründe[…] für die Anpassung an das Übel“ (SHN 290) konfrontiert. Die meisten Soldaten in der Hitler-Armee versichern, daß sie eigentlich seit je gegen Hitler waren; von der Brutalität des Regimes, von den Verfolgungen Andersdenkender, Juden besonders, von den Methoden der Gestapo und auch von den Konzentrationslagern hätten sie, je nachdem, kaum etwas oder gar nichts gewußt, und von Norwegen bis Sizilien und hinüber bis in den Kaukasus seien sie nur gezwungenermaßen marschiert; (SHN 290)

Auffallend ist die Abgrenzung von den Deutschen, die in den Erinnerungen nicht als Landsleute behandelt werden, denen sich S.H. zugehörig fühlen könnte. Sie werden in Form der dritten Person adressiert, was die Distanz noch deutlicher macht. Allerdings versucht der Erzähler auch diesen Aspekt aus der Perspektive des Jahres 1988 zu betrachten und korrigiert partiell seine ursprünglich negative Einstellung, indem er zugibt, dass er Jahre brauchte, um zu verstehen, was zur Zeit seiner Emigration in Deutschland passiert sei, bis er „die Manipulierbarkeit des Menschen durch den Menschen in ihrer ganzen Vielfalt begriff“ (SHN 291). Nach dem Kriege fühlte er sich aber als amerikanischer Bürger, der den Deutschen gegenüber recht zwiespältige Gefühle empfand. Diese Schuldzuweisung, die sich nur jemand leisten darf, dessen Haltung zwischen 1933 und 1945 einwandfrei war, kann auch als Legitimation des Machtanspruchs der Generation der Misstrauischen Patriarchen gelesen werden: „Das System konnte ja nur funktioniert haben, wenn alle mithalfen, die Rädchen zu bewegen, und so waren sie, ob ihrer Schuld bewußt oder nicht, alle mit schuld.“ (SHN 363) Schuld waren alle, außer den Märtyrern des Sozialismus und den heldenhaften Soldaten, die sich der Mehrheit widersetzten. Diesem moralischen Überlegenheitsgefühl entspricht auch das innere Bedürfnis S.H.s, die Menschen zu verändern (vgl. SHN 364), die Deutschen zu erziehen, damit sie selbständig denken lernen. Heym rekonstruiert aber nicht nur seine kritische Haltung den Deutschen gegenüber, sondern dehnt sie zu einer Grundeinstellung aus, die uneingeschränkt alle Missstände aufdeckt. Letztendlich lehnt S.H. auch die Vereinigten Staaten – seine Wahlheimat – ab, weil er in der kapitalistischen, demokratischen Gesellschaft eine dem nationalsozialistischen Regime ähnelnde „Hexenjagd“ (SHN 490) wiedererkennt. Heym fühlt sich von dem „Terror“ (SHN 472) in den USA bedroht, der der Tätigkeit des Senators McCarthy zugeschrieben wird. Was ihn Anfang der 1950er Jahre zur Ausreise bewegt, sind Handlungsmuster, die er sich in seiner durch das Gefühl der permanenten Bedrohung geprägten Jugend einverleibt hat und die auch seine späteren Entscheidungen beeinflussen.

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Dem Schriftsteller S.H., der das alles ja schon einmal miterlebt hat, als Neunzehnjähriger, in Deutschland, läuft es kalt über den Rücken. […] Er hat Angst. Woher diese Angst, die sich durch die Glieder breitet und das Gehirn lähmt und einen wehrlos macht, so daß nur der Gedanke an Flucht bleibt, sich in sich selber verkriechen, oder gar zurück in den Mutterleib? (SHN 488–489)

Diese Angst, verstärkt durch das „Gefühl von Schwäche“ und „Vereinsamung“ (SHN 489), führt ihn dazu, die Vereinigten Staaten zu verlassen und wieder den unsicheren Weg der Emigration zu wählen. Von Bedeutung ist die Tatsache, dass Heym seinem Leben vor der DDR über die Hälfte seines Buches widmet, wobei der Leser immer wieder auf die Bedeutung seiner frühen Prägungen verwiesen wird, die einen Schatten auf seine späteren Entscheidungen werfen. Heym präsentiert eine „Lesart seines Lebensweges“,42 baut seinen eigenen Gründungsmythos auf. Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass der Text im Jahre 1988 – also noch in der DDR – auf sein Leben zurückblickt, die Tatsachen zu einer kohärenten Lebensgeschichte zusammenfügt, die das symbolische Kapital des überzeugten Sozialisten Heym darstellt. In der DDR landet S.H. nicht, weil er sich nach der deutschen Heimat sehnt. Sein Ziel war die Tschechoslowakei, die ihn aber wegen seiner Abstammung auf die Deutsche Demokratische Republik verwies, was S.H. nicht ohne Vorbehalte akzeptierte. Obwohl Persönlichkeiten wie Anna Seghers oder auch „der große Brecht“ (SHN 499) in die DDR zurückgekehrt sind, fällt es dem Schriftsteller schwer, sich vorzustellen, wieder auf deutschem Boden zu leben: Nach Deutschland! – selbst in das andere, bessere Deutschland, wie Hoffmeister [der Botschafter der Tschechoslowakei in Frankreich – K.N.] ausdrücklich betont hat – unter diese Deutschen, die er vorbeimarschieren sah in schönem Gleichschritt vor Adolf Hitler und die er, nachdem sie geschlagen waren, vor sich gehabt hat in all ihrer Jämmerlichkeit, im Kriegsgefangenenlager, in den eroberten Städten, unter sie soll er sich nun begeben; (SHN 499)

Heym begibt sich nach Deutschland mit dem Gefühl der moralischen Überlegenheit. Das wird zwar im Buch nicht explizit angesprochen, steht jedoch im Hintergrund des Erzählten. Er wird von dem neu gegründeten deutschen Staat, der sich in die Tradition des antifaschistischen Widerstandes einschreibt und von der nationalsozialistischen Vergangenheit abgrenzt, gern aufgenommen (vgl. SHN 521). Gleich nach der Ankunft wird S.H. erklärt, was für eine gesellschaftliche Rolle er und seinesgleichen – zum ersten Mal wird Heym einer Gruppe zugeordnet – in der DDR spielen. Und so hört er von Lou Eisler – Frau des Komponisten Hanns Eisler (geb. 1898), der mit Bertolt Brecht (geb. 1898) arbeitete (vgl. SHN 535–536) – gewisse Gebrauchsanweisungen,

42 Cosentino: Heyms Autobiografie Nachruf, S. 161.

4.1 Stefan Heyms Einmischungen. Nachruf (1988) 

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in denen eine generationsspezifische Auslegung der eigenen Position explizit angesprochen wird: [W]ir sind ein paar von den ganz wenigen im Lande mit anerkannter antifaschistischer Vergangenheit, und Intellektuelle dazu, wir gehören daher zur Elite hier, die ausgestattet ist mit den entsprechenden Rechten; nehmt eure Rechte gefälligst wahr. (SHN 536)

Obwohl der Erzähler ausdrücklich betont, dass er und seine damalige Frau Gertrude nicht gewohnt waren, Privilegien in Anspruch zu nehmen (vgl. SHN 539), zeugen die Erinnerungen vom Gegenteil des Gesagten. Allein schon dass er ein Haus in einer Neubausiedlung – extra für Künstler und Intellektuelle aufgebaut (vgl. SHN 539) – erhält oder dass er reisen darf – sei es in die Staaten des Ostblocks, in die Bundesrepublik oder auch nach Indien –, gehört keinesfalls zur sozialistischen Norm. Diesem Umstand schenkt Heym aber nicht besonders viel Aufmerksamkeit. Statt eine selbstkritische Analyse des eigenen Verhaltens zu versuchen, scheint er eher seinen Platz unter den sakralisierten Symbolgestalten hinzunehmen, in manchen Momenten sogar zu genießen. Er steht immerhin in einer Reihe mit der Elite der Emigranten, die die DDR zu ihrer Heimat wählten, genannt werden in diesem Kontext Bertolt Brecht, Anna Seghers (geb. 1900), Ludwig Renn (geb. 1889), Willi Bredel (geb. 1901), Ernst Bloch (geb. 1885) und Stephan Hermlin (geb. 1915) (vgl. SHN 542–543). Wenn man sich die Geburtsjahrgänge näher anschaut, erkennt man schnell, dass die von Heym zu Bezugspersonen gewählten Intellektuellen meist zwischen 1893 und 1916 geboren wurden, also nach Thomas Ahbe und Rainer Gries der Generation der Misstrauischen Patriarchen zugeordnet werden könnten. Diese Beobachtung wird zusätzlich durch den biographischen Hintergrund unterstützt. Unter diesen Exilautoren gibt es einige, die inhaftiert wurden, die sich auch am spanischen Bürgerkrieg beteiligten und in der Thälmann-Kolonne kämpften. Um den Rang der Rückkehrer zu betonen, fügt der Erzähler hinzu, dass Heinrich Mann (geb. 1871) auch vorhatte, sich in der DDR niederzulassen, aber verstarb, bevor er seine Pläne realisieren konnte (vgl. SHN 543). Heym bricht im symbolischen Sinne aus der Isoliertheit aus und avanciert vom gesellschaftlichen Abfall (im Nationalsozialismus) zur intellektuellen Elite (im Sozialismus). Der Erzähler verweist auf die hoffnungsvollen Erwartungen, die viele Bürger dem neu gegründeten deutschen Staat gegenüber äußerten. S.H. kommt in das Land noch in der Zeit dieser „Aufbruchsstimmung“ (SHN 547). Er glaubt an die Idee des Sozialismus und übernimmt als Schriftsteller gern die ideologische Verantwortung, ohne sich vereinnahmen zu lassen. Er bleibt Hans Wolfschütz zufolge „der unbequeme und streitbare Einzelgänger“.43 Das sozialistische Ideal kollidiert aber schnell mit dem real existierenden Sozialismus. Eine der ersten erschütternden politischen Erfahrungen, die S.H. nach seiner Ankunft macht, sind die Ereignisse des 17. Juni 1953. Der Aufstand

43 Wolfschütz: Heym, S. 2.

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

der Arbeiter gegen den Arbeiterstaat – von Heym als traumatisch erlebt44 – wird zum „Schlüsselerlebnis“45 und begleitet den Autor im gewissen Sinne fast die nächsten zwanzig Jahre über, weil das von ihm zu einem Buch überarbeitete Thema der Vorstellungen der Parteiführung nicht entspricht und nicht veröffentlicht werden darf. Das ursprünglich mit dem Titel Der Tag X versehene Manuskript – beinahe eine direkte Reaktion auf die Ereignisse –, in dem Heym „das Versagen [d]er Partei […] in den fünf Tagen des Juni“ (SHN 653) diagnostiziert, missfiel sowohl den Parteifunktionären, die sich mit dem dort dargestellten Porträt der politischen Führung nicht identifizierten konnten (vgl. SHN 653), als auch den Parteigegnern wie Robert Havemann, „dessen Erlebnisse und Beobachtungen an dem bewußten 17. in das Manuskript eingegangen sind“ (SHN 653). Havemann findet, manche Stellen hätten kritischer ausfallen können (vgl. SHN 653). Die erste Fassung des Textes stand tatsächlich der offiziellen Lesart nahe, in der der 17. Juni als ein vom Westen vorbereiteter Putschversuch interpretiert wurde.46 Heym brauchte Jahre, um die Juni-Ereignisse einer ideologisch unvoreingenommenen Analyse zu unterziehen und von allen Mythen Abstand zu nehmen. Er brauchte auch Distanz, um seine eigene Haltung zu überdenken. Heym überarbeitet seinen Text, was als eine Art symbolische Verarbeitung eines traumatischen Erlebnisses wahrgenommen werden kann. Der König David Bericht war erschienen, zunächst im Westen und schließlich auch in der DDR; aber noch immer liegt im Keller des Grünauer Hauses das schwarz gebundene Manuskript, auf weißem Etikett der Titel, Der Tag X: ein Gespenst, das ihm keine Ruhe läßt in seinen Nächten. Auch für die Partei, das weiß er, ein Gespenst, ein unerlöstes. Nie ist man dem Problem dort auf den Grund gegangen, auch wenn, was selten genug, die Rede auf die Kalamität des Juni 1953 kam, hieß es stets: ein Putsch, angestiftet vom Westen; (SHN 786)

In der neuen Fassung des Buches, das 1974 in der Bundesrepublik (und 1989 in der DDR) unter dem Titel Fünf Tage im Juni erscheint47 und zu Heyms Lebenswerk48 wird, präsentiert er seine „Sicht auf das Ereignis 17. Juni“, eine Sicht, die in keiner Weise den Mythen entspricht, welche seit 1953 hüben wie drüben im Schwange: nein, es war kein Putsch, so zeigt sich’s in seinem Buche, angezettelt von den kapitalistischen Geheimdiensten, noch war es ein Arbeiteraufstand, blutig niedergeschlagen von den Sowjets; es war von diesem wie von jenem ein Teil, und vieles andere auch noch, dialektisch verknäult und verknotet alles miteinander, und es war höchst blamabel für beide Seiten. (SHN 788)

44 Vgl. Herbert Krämer: Stefan Heym. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur, hg. von Michael Opitz/Michael Hofmann. Stuttgart/Weimar 2009, S. 128. 45  Wolfschütz: Heym, S. 6. 46 Vgl. Krämer: Heym S. 128. 47 Vgl. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 544. 48 Vgl. Wolfschütz: Heym, S. 7. Hans Wolfschütz weist darauf hin, dass journalistische Texte Heyms im Jahre 1953 sowie die erste Fassung seines Buches letztlich der offiziell anerkannten Auslegung der Juni-Ereignisse erlagen.

4.1 Stefan Heyms Einmischungen. Nachruf (1988) 

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Der fehlenden Auseinandersetzung mit dem 17. Juni schreibt Heym die Schuld für den Verfall des Staates und für die Flucht vieler Bürger in den Westen (vgl. SHN 661) zu. Die Republik zerbröckele (vgl. SHN 661), weil die Parteiführung die Diskussionen meidet. Statt die eigene Position zu revidieren, errichtet sie 1961 die Mauer, was den engagierten Schriftsteller S.H. – der sich in dem Moment Sorgen um die Reaktion der Nachbarländer macht (vgl. SHN 667) – empört. Er sieht sich aber nicht in der Position eines Opfers, das eingesperrt wurde, sondern manifestiert seinen Scharfsinn in einem Kommentar, den er im Jahre 1961 nicht öffentlich präsentiert: „Und [er] denkt: Aber was ist das für ein Sozialismus, der sich einmauern muß, damit ihm sein Volk nicht davonläuft? Doch behält er diesen Gedanken für sich.“ (SHN 668) Mit seinen Büchern und öffentlichen Auftritten kämpft Heym aber immer stärker gegen „die Besserwisserei der Doktrinäre und ihre Menschenverachtung, die den Sozialismus zu einem Zerrbild der Idee entstellen.“ (SHN 551) Politische Ereignisse werden in den Erinnerungen Heyms zu Orientierungspunkten. Manchen Daten – wie dem 17. Juni – scheint er aber eine besondere Bedeutung zuzuschreiben. Sie werden von ihm intensiver reflektiert. Und so bezieht sich der Erzähler im Nachruf auf das Jahr 1956, auf den Prager Frühling 1968, auf die Ausbürgerung Biermanns 1976 und auf eine Reihe kleinerer Episoden. Als Einschnitte – nicht unbedingt in seiner eigenen Biographie – werden auf jeden Fall die Invasion in der Tschechoslowakei im Jahre 1968 (vgl. SHN 756) und die Kontroverse um Wolf Biermann im Jahre 1976 dargestellt. Das erste Ereignis erschütterte Heym, der bis dahin der Sowjetunion gegenüber eher respektvoll eingestellt war. Für seine kranke Frau Gertrude wird es aber zum „psychische[n] Schock“ (SHN 757), der ihren „Verfall“ (SHN 757) und baldigen Tod begünstigt. Die überzeugte Kommunistin wird ihres Glaubens beraubt (vgl. SHN 757). S.H. beobachtet, wie mit seiner Frau auch sein Ideal des Sozialismus zugrunde geht: [D]ie sowjetischen Luftlandetruppen urplötzlich auf dem Flugplatz Ruzynĕ, der sorgfältig koordinierte Überfall von Nord und Ost her über die Grenzen; die Armee gelähmt, wie kann man kämpfen gegen die Bruderarmeen, die sowjetische vor allem, die Befreierin von einst; das stumme Entsetzen der Bevölkerung, zum zweiten Mal in Menschengedanken der Einmarsch; und, welcher Hohn, es marschieren auch wieder die Deutschen ein, aus der brüderlichen Deutschen Demokratischen Republik. (SHN 757)

Die ehemaligen Befreier werden zu neuen Angreifern, deren Invasion noch heimtückischer erscheint, weil sie vonseiten der Verbündeten, der ideologischen Freunde kommt. Und wieder ist es die deutsche Armee, die in die Tschechoslowakei einmarschiert. Kaum zu überhören ist der Ton der Enttäuschung. S.H. verliert aber nicht den Glauben an den Sozialismus, auch wenn die Entstellung der Idee nicht mehr zu übersehen ist. Wenig später – im Rahmen eines Literatur-Festivals in Australien – verteidigt er sein Ideal: Der Sozialismus, meine ich, ist unser Baby. Wenn nun das arme Wurm schielt, O-Beine hat und Grind auf dem Kopf, so bringt man es deshalb doch nicht um, sondern man versucht es zu heilen. (SHN 773)

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

S.H. bleibt loyal, auch wenn er mit dem Machtapparat immer wieder um die Veröffentlichung seiner Bücher kämpft, auch wenn er nach der Biermann-Affäre permanent überwacht (vgl. SHN 806) wird, wenn er wegen Devisenvergehens verurteilt wird (vgl. SHN 833) und aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wird (vgl. SHN 836). Auch wenn er die Missstände in der DDR kritisiert, fühlt er sich dem von seiner Generation regierten Staat zugehörig, mehr noch: er nimmt sich als einen seiner Schöpfer und Mitgestalter wahr. Die Ausbürgerung Biermanns ist das nächste Ereignis, das in dieser politischen Autobiographie relevant erscheint. Allerdings scheint es mehr ein Einschnitt in der Biographie der jüngeren Autorinnen und Autoren als in Heyms eigener Lebensgeschichte zu sein. In dieser Krise wird S.H. wieder als der scharfsinnige Geist dargestellt, der sich der Konsequenzen des offenen Briefes, den neben Heym u.a. Christa Wolf, Heiner Müller, Volker Braun, Sarah Kirsch, Franz Fühmann und Günter Kunert unterzeichnet haben, bewusst ist. Seine eigene Haltung wird nicht zum Rang einer heldenhaften Tat erhoben. Im Gegensatz zu den anderen Unterzeichnern braucht S.H. die Repressionen nicht in dem Maße wie die Parteimitglieder zu fürchten. S.H. beteiligt sich kaum an dieser Debatte [über die Art und Weise der Verbreitung der Petition – K.N.], die unterschwellig die Ängste der im Raum Versammelten zeigt; ahnen sie doch, oder wissen es vielleicht gar, daß sie drauf und dran sind, die Sünde aller Sünden zu begehen: den Auftritt als Gruppe, als politische, gegen die Herrschaft der Partei – und nur weil sie, wie Hermlin es formulierte, sich des Morgens ins Gesicht sehen möchten im Rasierspiegel. S.H. jedenfalls weiß um die Größe der Sünde, und er macht sich Sorgen, nicht so sehr um sich selber als um die andern, die Mitglieder sind in der Partei und die man viel härter hernehmen wird als ihn, der nie die Disziplin dieser Partei zu halten geschworen. (SHN 801)

Die Repressionen, die der Petition folgen, erinnern S.H. wieder an die Maßnahmen des Senators McCarthy: „dieselben Verhöre […]; dieselben Schuldbekenntnisse; dieselben Urteile, Ausschluß, Verdammung; dieselben schwarzen Listen, dieselben Berufsverbote“ (SHN 805). Obwohl sie auch S.H. erreichen, tritt er in den Erinnerungen als ein distanzierter Beobachter auf, der Situationen dieser Art in seinem Leben mehrmals bewältigt hat. Nach einer Weile lerne man, mit so etwas zu leben (vgl. SHN 805). Heym fällt – wie andere Unterzeichner der Petition – unter die Aufsicht der Staatssicherheit, deren Bedeutung jedoch nicht dämonisiert wird. Der Einblick in die psychologischen Mechanismen der Überwachung führt zu einer Art Entzauberung des unsichtbaren Feindes. Der Erzähler verweist auf verschiedene Typen der Observation, darunter die sogenannte offene Observation, „bei welcher es der Behörde egal ist, ob der Observierte merkt, daß er beobachtet wird. Unter Umständen soll er es sogar merken. […] ein psychologischer Kleinkrieg“ (SHN 806), den sensible Autoren wie Sarah Kirsch oder Günter Kunert nicht aushielten. S.H.s psychische Stärke macht ihn aber immun gegen allerlei psychologische Unterdrückung. Er scheint den StasiMitarbeitern überlegen zu sein, „bringt seinen Observateuren, wenn er Zeit hat, Kaffee zum Wagen.“ (SHN 806) Die Überwachung, so anstrengend sie sein kann,

4.1 Stefan Heyms Einmischungen. Nachruf (1988) 

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erscheint  aus der Sicht des Nachruf-Erzählers als nicht bedrückend. Dekonstruiert wird auch der Mythos der konspirativen Überwachung, deren Geheimakten er zufällig auf der Straße entdeckt: eine Geheimpolizei, die die Tarnnamen nicht etwa den eigenen Spitzeln gibt, sondern den Leuten, die sie bespitzeln läßt, und die Buch führt über Mülltonnenbesuche und Schreibfehler auf dem Postamt, und die zum Schluß noch die eigene Kladde verliert samt zugehörigen Fotos und Dokumenten, eine solche Geheimpolizei wirkt schon fast wieder sympathisch. Nur gehört sie eher ins Kasperletheater als vor das Haus eines Schriftstellers. (SHN 811)

Heym verfasst diese Zeilen vor der ‚Wende‘, als ihm der Inhalt seiner Stasiakten – von der zufälligen Leseprobe abgesehen – nicht bekannt war. Die Akteneinsicht verändert jedoch sein Urteil deutlich. Wie stark die „Verfügbarkeit dieser sekundären Perspektive auf die eigene Biografie“49 die Beurteilung der Vergangenheit korrigieren kann, bezeugen die nach dem Umbruch geschriebenen Aufzeichnungen Der Winter unseres Mißvergnügens (1996). Der Text stellt eine ganz andere Reaktion auf die Repressalien der Stasi als die in der Autobiographie skizzierte „trotzige Haltung des Protagonisten“50 dar. Die Dokumentation entblößt den Ernst der Überwachung und veranschaulicht Heym, wie sehr er sich damals hätte fürchten sollen.51 Von Bedeutung ist jedoch auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung der späteren Aufzeichnungen. Sie erscheinen während der Debatte um die Verantwortung der ehemaligen DDR-Intellektuellen und die Verwicklungen der Schriftsteller mit der Staatssicherheit. Heym war einer der Angegriffenen. So kann die Selbststilisierung zum Opfer der gefährlichen Überwachung und Repressalien vonseiten der Stasi als eine Art Abwehrmechanismus gedeutet werden. Im Gegensatz zu der späteren Konstruktion ist der Protagonist des Nachrufs ein Kritiker der Umstände, aber kein Opfer des Systems. Er wird als ein aktiver Kämpfer gezeichnet, dessen Haltung zum Vorbild für andere engagierte Schriftsteller wird. In der Erzählung über die 1970er und 1980er Jahre erscheint S.H. sogar in Gestalt eines geistigen Vaters, der – neben seinen wenigen Freunden und Verbündeten wie Stephan Hermlin und Robert Havemann – über seine jüngeren Kollegen, die auf sich die ganze Gefahr des Protestes gegen den Parteiapparat nehmen, wacht. Wenn Ereignisse dieser Zeitspanne als Einschnitt in der Biographie angesehen werde sollen, dann nur im Falle der jüngeren Generationen. In der Schlusspartie von Nachruf erkennt man diskrete Spuren der Aufbruchsstimmung, die der Ära Gorbatschow zu verdanken sind. Eine Art Kurskorrektur 49 Sara Jones: Wie man ‚das Gruseln‘ lernt. Stefan Heym, Autobiografie und die Stasi-Akten. In: Heinz-Peter Preusser/Helmut Schmitz (Hg.): Autobiographie und historische Krisenerfahrung. Heidelberg 2010, S. 126. 50 Jones: Wie man ‚das Gruseln‘ lernt, S. 120. 51 Vgl. Stefan Heym: Der Winter des Mißvergnügens. Aus den Aufzeichnungen des OV Diversant. o.O. 1996, S. 222.

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

glaubt der Erzähler zu erkennen. Allerdings erhoffte er keinen ,Mauerfall‘, auch keine Wiedervereinigung, sondern Reformen (vgl. SHN 837). Die Erzählung endet mit dem Hinweis darauf, dass sein Lebensbuch Fünf Tage im Juni auch in der DDR erscheinen soll, was von einem politischen Klimawechsel zeugen kann. Obwohl die politischen Veränderungen in der DDR der 1980er Jahre angedeutet werden, kommt diese Zeitspanne in der sonst sehr ausführlichen Erzählung zu kurz, so dass wir die Position S.H.s kurz vor dem Umbruch nicht rekonstruieren können. Da Stefan Heym sich aber an den öffentlichen Diskussionen der ,Wende‘-Zeit rege beteiligte, können seine zahlreichen Reden und Essays als Ergänzung betrachtet werden. Suchen wir nach einer generationsspezifischen Interpretation des eigenen Lebens, sollten wir uns nicht nur auf die politischen Ereignisse konzentrieren, die als Einschnitte in der Biographie gedeutet werden, sondern auch auf andere, potentiell identitätsstiftende Generationsobjekte. Die politische Ebene spielt in Heyms Lebenskonstruktion eine entscheidende Rolle. Ihr können auch seine politisch engagierten Lieblingsautoren wie Friedrich Schiller, Erich Kästner oder auch Bertolt Brecht zugeordnet werden. Aus dieser Sphäre stammen seine Freunde, Mitarbeiter, Begleiter wie Stephan Hermlin, Robert Havemann oder auch Wolf Biermann. In dieser Reihe der Zentralgestalten fehlt aber noch ein Name, eine Symbolfigur, die für sozialistische Autoren zum Orientierungspunkt wurde, mit der sie sich entweder identifizieren oder sich von ihr abgrenzen konnten, nämlich Josef Stalin. Auch für Heym bleibt die Gestalt „de[s] Genosse[n] Stalin“ (SHN 559) nicht ohne Bedeutung. In der Autobiographie schildert der Schriftsteller seine Trauer, als Stalin im Jahre 1953 stirbt. Er bekennt sich zu seiner Faszination, die wiederum ohne Heyms Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus kaum zu verstehen wäre. Ohne Stalin hätte Hitler gesiegt (vgl. SHN 559). In der Schilderung der damaligen Haltung Heyms kommt eine besondere Mischung als Dankbarkeit und Bewunderung zum Vorschein: Ein Riese, der Mann; in seiner ruhigen, selbstsicheren Haltung, in dem harten Gesicht und dem prüfenden Blick war personifiziert, was man unter Sozialismus verstand; er war die Autorität, sein Wort galt, bis zum Tag seines Todes; nun waren die Völker verwaist, wie sollte man auskommen ohne die große Vaterfigur? (SHN 559)

Trotz seiner eingestandenen Verehrung hielt S.H. Distanz zum Führerkult und – wie er ausdrücklich zu seiner Verteidigung betont – verfasste zu Lebzeiten Stalins keine „Elogen auf den großen Sohn der Mutter Gori“ (SHN 559), was viele Autoren – darunter auch Brecht und Zweig – taten (vgl. SHN 559). Stalins Tod würdigt Heym aber in einem Nachruf, was er mit Verlegenheit zugibt. Der Autor zitiert sogar lange Passagen aus seinem Text und versieht sie mit selbstkritischen Kommentaren. Tatsächlich veröffentlichte er 1953 folgende Lobeshymne: Der Mann war von solchem Format – als Mensch, als Parteiführer, als Wissenschaftler, Historiker, General und Staatsmann – daß weder der Dreck noch die künstlichen Lorbeerblätter, die man ihm in den Weg warf, auch nur an seine Schuhsohlen reichten. (SHN 560)

4.1 Stefan Heyms Einmischungen. Nachruf (1988) 

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Der zu einem scharfsinnigen Beobachter stilisierte S.H., der bereits als junger Mann in Hitler einen falschen Propheten erkannte, entzückt sich an der Größe eines anderen Diktators. Diese Verehrung kann als Makel auf dem sonst einwandfreien Antlitz S.H.s gesehen werden, was der Erzähler auch zugibt: Wer die Gabe hat, die Töne zu hören, die zwischen den Zeilen mitschwingen, dürfte erkennen, daß der Autor dieser Passage sehr wohl geglaubt hat, war er da schrieb. Um so schlimmer für ihn, könnte einer einwenden. Dem würde ich entgegenhalten: ich hätte das Bild des S.H. ja auch schönen können, indem ich seinen Lapsus unterschlug; die Sache ist ärgerlich genug – so lange Enthaltsamkeit geübt, und nun doch noch der Sündenfall. Aber ich glaube, es ist gar nicht so falsch, aus dem fatalen Text zu zitieren, dokumentiert er doch ein Stück Entwicklung des Schriftstellers S.H., das hinführen wird zu seinem späteren, Stalin verlässt den Raum, einer Abrechnung zugleich mit dem einstigen Idol und der eigenen Verblendung. (SHN 560–561)

Seine öffentlich kundgegebene Verehrung Stalins wird als „Lapsus“, „Sündenfall“ und „Verblendung“ abgetan. Der Authentizität wegen werden seine Fehler und Schwächen aber nicht verschwiegen, sondern als unentbehrlicher Teil seiner Persönlichkeitsentwicklung kritischer Analyse unterzogen. S.H. habe zwar ab und zu geirrt, was allerdings immer Resultat seiner ehrlichen inneren Überzeugung gewesen sei. Die Tatsache bleibt aber, dass auch der politisch geschulte Heym sich dem Zauber des sozialistischen Diktators nicht widersetzen konnte. Die 1950er Jahre bringen allerdings – nicht zuletzt mit der Erschütterung des 17. Juni – eine Art Ernüchterung mit sich und leiten eine Phase der zunehmenden Distanzierung von der gültigen Ideologie ein. In seiner Autobiographie positioniert sich Stefan Heym der DDR gegenüber als Kritiker, der allerdings immer ein Teil des Systems bleibt. Der überzeugte Sozialist greift die Entstellung des Ideals an, ohne die Idee des Sozialismus vor wie nach der ‚Wende‘ aufzugeben. Seine politischen Grundwerte und sein Politikverständnis – so argumentiert Angela Borgwardt in ihrer Studie zum „Umgang mit der Macht“ – basierten in wesentlichen Punkten auf der gleichen Theorie wie die offizielle SED-Ideologie. Heym kritisierte den DDR-Sozialismus immer systemimmanent und stellte nie das sozialistische Gesellschaftsmodell in Frage.52

Diese Position bleibt nicht ohne Bedeutung für sein Verhalten im Jahre 1989, wenn er sich „Für unser Land“ einsetzt wie auch nach der Vereinigung, wenn er noch immer an die Idee des Sozialismus zu glauben scheint. Heym weint zwar nicht um den Verlust des von ihm kritisierten Systems der DDR, erhofft aber eine gewisse Zeit lang

52 Angela Borgwardt: Im Umgang mit der Macht. Herrschaft und Selbstbehauptung in einem autoritären politischen System. Wiesbaden 2002, S. 142.

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

eine Erneuerung. Noch im Oktober 1989 beharrt er in einem Essay ausdrücklich auf seinem Glauben an den Sozialismus: In Wahrheit aber ist nicht Marx tot, sondern Stalin, und fehlgeschlagen ist nicht der Sozialismus, sondern nur dieser besondere, real existierende; der andere, bessere, in dessen Namen so viele tapfere Menschen ihre Ideen gaben und ihr Blut, steht noch aus.53

Heym unterscheidet zwischen dem misslungenen Experiment „DDR“ als einem Missbrauch der sozialistischen Idee und dem ‚echten‘ Sozialismus, in dem er eine Möglichkeit der gesellschaftlichen Erneuerung erblickt. Er bekundet häufig seine Überzeugung, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Sozialismus wolle, „bloß diesen autoritativen, von oben her gemachten und auch noch schlecht gemachten Sozialismus, den wollen sie nicht.“54

4.2 „Frisierte Vergangenheit“ Erwin Strittmatters? Der 1912 in Spremberg (Niederlausitz) geborene Erwin Strittmatter55 war einer der erfolgreichsten DDR-Autoren. Seine Texte sorgten nicht selten für Kontroversen, ohne seiner Popularität (in Ostdeutschland) Schaden zuzufügen. Seine Bücher wurden zu Bestsellern, Strittmatter selbst zum „Sympathieträger“.56 Im Gegensatz zu Heym war er dem westdeutschen Publikum aber so gut wie unbekannt. Martin Ahrends nennt Strittmatter einen „Sonderfall von einem DDR-Autor, allbekannt im Osten, beinahe unbekannt im Westen. Die bequemen politischen Wertungen greifen hier noch weniger als anderswo.“57 Im Jahre 1996 wird Strittmatter in einem Spiegel-Artikel folgend charakterisiert: Mit keinem Autor, soviel ist sicher, haben sich die Leser im Osten so identifiziert wie mit dem knorrigen und humorigen Dichter aus dem brandenburgischen Dörfchen Dollgow, der zwar stets loyal zum Arbeiter-und-Bauern-Staat stand, aber niemals als willfähriger Parteidichter galt.58

53 Stefan Heym: Neue Hoffnung für die DDR. Essay. In: ders.: Einmischungen. Gespräche, Reden, Essays. München 1990, S. 221. 54 Stefan Heym: Der Ausreisedruck steigt. Interview mit Claus Richter für den „Bericht aus Bonn“. ARD Fernsehen. August 1989. In: ders.: Einmischungen. Gespräche, Reden, Essays. München 1990, S. 220. 55 Die Bezeichnung in der Überschrift stammt aus dem Artikel Gerrit Bartels: Sein Schweigen als Programm. In: Die Zeit (25.07.2012), URL: http://www.zeit.de/kultur/literatur/2012-07/erwin-strittmatter/ komplettansicht?print=t... (letzter Zugriff: 14.11.2019). 56 Volker Hage: Ein Anflug von Reue. In: Der Spiegel 29 (2012), S. 130, URL: https://magazin.spiegel. de/EpubDelivery/spiegel/pdf/87347272 (letzter Zugriff: 14.11.2019). 57 Martin Ahrends: Welt im Winkel. Der Laden – Erwin Strittmatter hat seine autobiographische Trilogie vollendet. In: Die Zeit 41 (1992), URL: https://www.zeit.de/1992/41/welt-im-winkel/ komplettansicht?print (letzter Zugriff: 14.11.2019). 58 Petzen und Plaudern. Die Stasi-Kontakte des ostdeutschen Erfolgsautors Erwin Strittmatter. In: Der Spiegel 39 (1996), S. 226, URL: https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/9094558 (letzter Zugriff: 18.09.2019).

4.2 „Frisierte Vergangenheit“ Erwin Strittmatters? 

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Strittmatter war seit 1947 Mitglied der SED, seit 1959 Mitglied der Akademie der Künste, hatte auch hohe Posten im Deutschen Schriftstellerverband (Sekretär und Vizepräsident) inne. Vier Mal wurde er mit dem Nationalpreis der DDR geehrt. Seit 1954 lebte er immer zurückgezogener auf dem Vorwerk Schulzenhof bei Gransee. Strittmatter, der in der Bundesrepublik zu einem linientreuen SED-Schriftsteller abgestempelt wurde, erscheint dort als Teil des Systems.59 „Gewiß war Strittmatter nie ein Dissident,“ – bemerkt Der Spiegel 1992 – „aber ebensowenig diente er dem Regime als willfähriger literarischer Propagandist.“60 Seine Position ist nicht eindeutig und der Blick darauf wandelt sich bis auf den heutigen Tag, was seinen nach der ‚Wende‘ erschienenen autobiographischen (und autobiographisch gefärbten) Werken wie auch neueren Erkenntnissen der Literaturwissenschaftler und Historiker zu verdanken ist. 4.2.1 Die Lage in den Lüften (1990) Strittmatter bleibt nach der Zäsur des Jahres 1989 nicht untätig. Er schreibt und publiziert weiter. Bereits im Jahre 1990 erscheinen Auszüge aus seinen Tagebüchern Die Lage in den Lüften – die Zeitspanne 1973 bis 1980 betreffend –, die seine Arbeit am Wundertäter III und zugleich auch die Desillusionierung des Autors und seine Distanzierung von der gültigen Ideologie illustrieren. In einem früher unveröffentlichten Interview aus dem Jahre 1980, das dem Band angehängt wird, deutet Strittmatter seine Lage in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die ihn für die kommunistische Ideologie anfällig machte. Da spielten die Wünsche, die Utopien unserer damaligen Politiker und Wirtschaftler hinein, die ich zu den meinen gemacht hatte; als Kollektivschuldiger am Kriege war ich sehr bereit, ihnen zu trauen, an sie zu glauben, und ich glaubte, mit meiner schriftstellerischen Arbeit das Umdenken der Menschen, wenigstens in unserem Teil Deutschlands, beschleunigen zu helfen.61

Die Zeit des Zweiten Weltkrieges und das eigene Schuldbewusstsein werden in anderen Texten Strittmatters nicht besonders exponiert, was am Beispiel seiner 2014 erschienenen Tagebücher noch gezeigt wird.62 Die 1990 veröffentlichten Aufzeichnungen weihen die Leser in die Verfahren der Buchproduktion unter Bedingungen der Diktatur ein und zeigen das Ringen des Kunstschaffenden mit den inneren und 59 Vgl. Im Osten läuft der Laden. In: Der Spiegel 45 (1992), S. 272, URL: https://magazin.spiegel.de/ EpubDelivery/spiegel/pdf/9288208 (letzter Zugriff: 14.11.2019). 60 Im Osten läuft der Laden, S. 272. 61 Anstelle eines Nachworts. Interview Dr. Plavius – Strittmatter im Januar 1980 für die AkademieZeitschrift Sinn und Form (unveröffentlicht). In: Erwin Strittmatter: Die Lage in den Lüften. Aus Tagebüchern. Berlin 1990, S. 246. 62 Da es sich im Falle des Bandes Die Lage in den Lüften nur um einen Ausschnitt aus den Tagebuchaufzeichnungen handelt, die vorwiegend einem Aspekt des Werkes gewidmet sind, wird in dem vorliegenden Kapitel die vollständige Fassung der Tagebücher der Analyse unterzogen.

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äußeren Schranken. Sie fungieren als Dokument, das die moralische Unversehrtheit des Autors bezeugen kann. Allerdings handelt es sich immer noch um einen „Nationalschriftsteller einer halben Nation“,63 dessen selbstkritische Äußerungen das westdeutsche Publikum kaum aufgenommen hat. 4.2.2 Der Laden III (1992) Ob Sommer, ob Winter, ob Krieg, ob Frieden – das Merkwürdige ist stets unterwegs.64

Zwei Jahre später folgt der letzte Band der Roman-Trilogie Der Laden. Mit dem Erfolg des Buches kann sich wohl kein anderer Text eines ehemaligen DDR-Autors messen. Die Verfilmung steigert die Popularität, nun auch beim westdeutschen Publikum. Im sorbischen Heidedorf Bossdom erkennen die Kritiker „ein literarisches Miniaturmodell der einstigen DDR, in dem vor allem die Sorgen und Vergnügen des Alltags zu ihrem Recht kommen […].“65 Der Text wird als Roman ausgewiesen, ohne dass in  den  Paratexten sein autobiographischer Charakter explizit angesprochen wird. Eine autobiographische Lesart wird damit aber nicht ausgeschlossen. Auf dem Umschlag werden Strittmatters Worte zitiert, die eine bestimmte Deutung des Buches vorbereiten: Immer wieder versuche ich zu ergründen, ob das Erzählen eine üble Angewohnheit oder eine Krankheit von mir ist, ob mich das Leben, von dem ich ein Teil bin, ausersehen hat, sich durch mein Geplapper selber darzustellen [Hervorhebung – K.N.], ob ich beim Erzählen etwas herausfinden oder hervorkehren soll, was beim Dahinleben übersehen werden könnte […]. (ESL Rückseite des Covers)66

Im Zentrum steht also der Autor, der sich selbst ausdrückt, der Geschichten entdeckt und erfindet. Daraus entsteht eine besondere Mischung aus Fakten und Fiktion. Die Grenzen zwischen literarischem Erfinden und dokumentarischem Rekonstruieren werden verwischt, was auch dem potentiellen Leser im Vorfeld der Lektüre verdeutlicht wird. Diese Verwirrung wird noch zusätzlich durch das als Motto ausgewählte Schopenhauer-Zitat verstärkt: … so sind die Vorgänge und die Geschichte eines Dorfes und die eines Reiches im Wesentlichen die selben; und man kann am Einen, wie am Andern, die Menschheit studiren und kennen lernen. Auch hat man Unrecht zu meynen, die Autobiographien seien voller Trug und Verstellung. Vielmehr ist das Lügen (obwohl überall möglich) dort viel schwerer, als irgendwo. (ESL 7)

63 Im Osten läuft der Laden, S. 272. 64 Erwin Strittmatter: Der Laden. Roman. Dritter Teil. Berlin 41996, S. 33. Im Folgenden werden Zitate als Sigle ESL mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen. 65 Im Osten läuft der Laden, S. 279. 66 Die Stelle aus dem Romantext übernommen (ESL 290).

4.2 „Frisierte Vergangenheit“ Erwin Strittmatters? 

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Das literarische ‚Lügen‘ schließe die Wahrhaftigkeit der Aussage nicht aus. So wie eine exemplarische Geschichte eines Dorfes Kraftströmungen der großen Geschichte wiedergeben kann, kann ein fiktiver literarischer Kosmos die ,wahren‘ Verhältnisse abbilden. Obwohl der Text als Roman vermarktet wird, worauf der Untertitel eindeutig verweist, ist im Motto vom Wahrheitsgehalt der Autobiographie die Rede, was irreführend wirken kann. Der autobiographische Gehalt bleibt nämlich im Spiel, auch wenn das Buch nicht mit dem Label „Autobiographie“ versehen wird. Aus Strittmatters Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, dass er im Laden seine Erlebnisse aufgearbeitet habe. Das auf dem Umschlag abgedruckte Familienfoto erweist sich als authentisches Bild der Familie Strittmatter.67 Almut Giesecke, die Herausgeberin von Strittmatters Tagebüchern, bestreitet nicht, dass der Schriftsteller autobiographische Reminiszenzen als Grundmaterial für die Laden-Romane benutzte.68 Die autobiographische Lesart wird in der Rezeption festgeschrieben:69 Dieser Bezug auf sein eigenes Leben bestärkt in der Rezeption, ungeachtet der literarischen Verfremdung und Objektivierung, eine Legendenbildung, die Werk und Autobiographie gleichsetzt. Aber sogar für Strittmatter selbst verwischen sich die Grenzen.70

Strittmatter selbst scheint sein Buch nicht im Sinne eines historischen Dokumentes zu interpretieren. Die Geschichte basiert zwar auf seinen Erinnerungen, wird aber den Spielregeln der Gattung Roman angepasst. Auch wenn der Stoff zum ,Naturalismus‘ verlocke, wehrt sich der Autor vehement dagegen, sich ausschließlich an Tatsachen zu halten, ohne das erzählte Leben mit fiktiven Elementen zu bereichern. Der Lauf meines Lebens spricht sich selber heilig. Er sträubt sich dagegen, dass ihm etwas Erfundenes zugefügt wird. Er möchte aus sich heraus ohne Zutaten, ohne Veränderung, ohne das Hinzufügen von Dramatisierungen ein Kunstwerk sein. Das aber ist er nicht und das kann ich nicht zulassen und daraus entstehen die Konflikte, dadurch gerät die Arbeit [am Laden-Roman – K.N.] von Zeit zu Zeit ins Stocken.71

Ohne Einblick in die textexternen Paratexte ist die autobiographische Fundierung des Buches meines Erachtens nicht stark genug, um von allen Rezipienten unmissverständlich erkannt zu werden. Den autobiographischen Akzenten können vor allem 67 Vgl. Erwin Strittmatter: Vor der Verwandlung. Aufzeichnungen, hg. von Eva Strittmatter. Berlin 2000 [1995], S. 63. 68 Vgl. Almut Giesecke: Nachwort. In: Erwin Strittmatter: Der Zustand meiner Welt. Aus den Tagebüchern 1974–1994, hg. von Almut Giesecke. Berlin 2014, S. 521. 69 Als Beispiel kann der Band Erwin Strittmatter, Lebenszeit. Ein Brevier, hg. von Helga Pankoke. Berlin/Weimar 1987 (Neuausgabe 1996) dienen, in dem neben Strittmatters Fotos und Dokumenten Ausschnitte aus seinen Werken abgedruckt werden, ohne eine sichtbare Grenze zwischen Leben und Werk zu ziehen. Die Trennlinie zwischen den beiden Bereichen wird verwischt. 70 Giesecke: Nachwort, S. 521. 71 Erwin Strittmatter: Der Zustand meiner Welt. Aus den Tagebüchern 1974–1994, hg. von Almut Giesecke. Berlin 2014, S. 334.

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die vertrauten, d.h. die ostdeutschen Leser auf die Schliche kommen, die Strittmatter und sein Werk kennen, die seine Texte „nostalgisch-identifikatorisch“72 lesen. In ihrem Fall kann angenommen werden, dass sie die Anspielungen verstehen, wenn der Erzähler beispielsweise vorgibt, dass er nicht vorhabe, auf gewisse Episoden zurückzukommen: „Ich hab über sie in dem Buch vom Grünen Juni geschrieben und setze anmaßend voraus, daß ihr [die Leser – K.N.] es gelesen habt.“ (ESL 121) Auch viele Literaturwissenschaftler und Kritiker interpretieren den Text autobiographisch. So erkennt Wolfgang Emmerich in den Laden-Romanen Strittmatters „Summe seines Lebens und Schreibens zugleich“.73 Frauke Meyer-Gosau klassifiziert das Werk sogar als eine „literarische[…] Autobiographie“,74 „die kaum noch literarisch maskierte Erzählung der eigenen Lebensgeschichte“.75 Dieter Schlenstedt verweist auf die autobiographische Rezeption der Texte Strittmatters: Bei Strittmatter empfanden viele, daß in seinen Romanen die Hauptfiguren sehr nahe an den Autor, die Familie, die Bekannten herangerückt, daß in den Icherzählungen Autor, Erzähler und erzählte Hauptgestalt fast ununterscheidbar sind.76

Tatsächlich gibt es Parallelen zwischen dem Leben des Protagonisten Essau Matt und dem Lebensweg Erwin Strittmatters. Nuancen entscheiden aber über die Klassifizierung. Eine Identität zwischen dem Autor und dem Erzähler bzw. der Hauptfigur wird nicht hergestellt. Es handelt sich zwar um eine Ich-Erzählung, die aber nicht vom Protagonisten namens Strittmatter stammt, sondern von einem gewissen Essau Matt. Der im Falle des autobiographischen Paktes unentbehrliche Bezug zum Eigennamen, über den sich Lejeune zufolge Person und Rede verknüpfen, ist im LadenRoman nicht vorhanden. Im Text wird die Trennung zwischen dem Erzähler-Ich und dem „Romanverfasser[…]“ (ESL 371) vollzogen, was in „Zwischenbemerkung[en]“ (ESL 371) explizit zur Sprache kommt. Weder der Titel noch eine Art Einleitung – abgesehen von dem recht verwirrenden Motto – verweisen auf eine Autobiographie. In Frage kommt also nur ein romanesker Pakt, bei dem der Leser veranlasst wird, nach Ähnlichkeiten zwischen dem Autor und dem Erzähler bzw. der Figur zu suchen, wobei sich der Schreibende einen größeren Spielraum für fiktive Elemente sichert, die sich der Verifizierbarkeit entziehen. Dank der biographischen Notiz erfährt der Leser, dass Strittmatter wie sein Protagonist Matt in der Niederlausitz zur Welt gekommen ist, dass beide den Bäcker-Beruf ausgeübt haben, dass beide schreiben. Die Parallelen – obwohl nicht zufällig – werden aber in den

72 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 488. 73 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 488. 74 Frauke Meyer-Gosau: Erwin Strittmatter. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1978ff., S. 8. 75 Meyer-Gosau: Strittmatter, S. 7. 76 Dieter Schlenstedt: Eine deutsche Erinnerung. Erwin Strittmatter als Fall. In: Weimarer Beiträge 4 (2009), S. 530.

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verlegerischen Paratexten nicht deutlich genug gezeigt, um den Text strikt autobiographisch zu interpretieren. Vielmehr hat man das Gefühl, dass wir es mit einer bestimmten Atmosphäre zu tun hätten, die rekonstruiert wird. All die dargestellten Tatsachen werden diesem Ziel untergeordnet. Denn Essau Matt, gelernter Bäcker und heimlicher Schriftsteller, ist ein Menschenbeobachter und Geschichten-Finder. Und dafür gibt es in der Heide genug Stoff. Hinter all den Geschichten über die heiteren und die dunklen Stunden im Dorfalltag und die Zerwürfnisse und Versöhnungen in der eigenwilligen Familie Matt zeichnen sich die „Spuren und Spürchen“ einer Zeit ab, die voller Wirrungen und Hoffnungen war. (ESL 2)

Strittmatter bündelt Dorfgeschichten – im dritten Band vorwiegend der Nachkriegszeit   –, die apolitisch wirken. Dass es sich um den frisch gegründeten sozialistischen Staat handelt, wird nur am Rande des erzählten Bauernlebens bemerkbar. Die nationalsozialistischen und dann die kommunistischen Verstrickungen der Einwohner werden zwar thematisiert. Die sich verändernden politischen Systeme scheinen aber ein natürlicher Lauf der Geschichte zu sein, dem die Bossdomer wie alle anderen Erdbewohner ausgesetzt sind. Der Erzähler verhüllt seinen Wissensvorsprung nicht. Das Schicksal der Familie Matt in der Nachkriegszeit erzählt er aus der Perspektive der Nachwendezeit. Erzählt wird anekdotenhaft, ohne die „Erinnerungen“ (ESL 30) dem Gesetz der Chronologie – die die Feindin der Kunst sei (vgl. ESL 30) – unterzuordnen. Hervorgehoben wird nicht eine vereinzelte Lebensgeschichte – obwohl Esau Matt die Zentralgestalt bleibt, an deren Perspektive das Erzählte gebunden ist – sondern unzählige Schicksale, „die Kriege der Kleinen Leute“ (ESL 220), die den manchmal gesetzlosen Verlauf der Menschengeschichte veranschaulichen. „Viele kleine Unwichtigkeiten bilden eine Wichtigkeit, sechzig Minuten eine Stunde“ (ESL 197), rechtfertigt der Erzähler seinen Ansatz. Und mit dem Schicksal der Bossdomer dürften sich wohl viele ostdeutsche Bürger identifiziert haben.77 Sie überstanden die Herrschaft der „Adolfiner“ (ESL 38), dann haben die Russen sie von den Adolfinern befreit (vgl. ESL 168) und so sind sie „in die zweete Diktatur reingeworfen“ (ESL 168). Und vierzig Jahre später – so urteilt der Erzähler aus Distanz – verlangen „die radikal rechts gesinnten Landsleute der Westzone, denen die Gnade des richtigen Wohnortes widerfuhr“ (ESL 252) nun von den Ostdeutschen die „Buße“ (ESL 252). Esau Matt wird als ein gutgläubiger und aufrichtiger Idealist gezeichnet, der den Großteil der Romanhandlung parteilos (vgl. ESL 391) bleibt, der als Bäcker, heimlicher Schriftsteller, Vertreter des Amtsvorstehers (vgl. ESL 391) tätig ist, um schließlich

77 In einer unruhigen Zeit wird den Lesern eine recht behäbig anmutende Geschichte erzählt, was für den Erfolg des Buches von entscheidender Bedeutung gewesen sein mag. Wolfgang Emmerich fasst die Umstände zusammen wie folgt: „Ebendiese Nachkriegsjahre sind die Handlungszeit des dritten Bandes von Strittmatters Heimatroman, der nun unvermutet in die Hektik der Wende hereintritt und den gestreßten, aber noch lesenden Neubürgern einen Platz anbietet, an dem sie sich wiedererkennen, niederlassen und ausruhen können.“ (Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 488).

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die Stelle des Redakteurs der Volksstimme (vgl. ESL 445) zu übernehmen. Dieser letzte Schritt bedeutet freilich, dass Esau Matt in die Partei eintreten muss (vgl. ESL 448). Nun sitze ich vor jener Spalte des Fragebogens und befrag mich, weshalb ich parteiisch werden will […] Ich prüfe alle Gründe, die ich in Verdacht habe, und der triftigste ist und bleibt die Aussicht, unangefochten von meiner Umgebung, schreiben zu dürfen. […] Einige Jahre später werde ich wissen, daß ich mit diesem Entschluß den unparteiischen Kerl, der ich war, für einige Zeit verkaufte, und doch bereue ich es nicht, weil ich in dieser Zeit die Lust an der Macht bis in ihr Myzelgeflecht kennen und verabscheuen lernte. (ESL 449)

Die in der Schlusspartie des Buches abgedruckte Stelle klingt beinahe wie ein Resümee des Lebens im Sozialismus und könnte wie eine schöne Formel im Munde Strittmatters selbst klingen, vorausgesetzt, dass es sich um eine Autobiographie handelte. Da wir es aber nicht mit einem referentiellen Text zu tun haben, wäre solch eine Übertragung unbegründet. Zu einem ähnlichen Argument greift Carsten Gansel in Bezug auf die Gestalt Stanislau Büdners aus dem Roman Wundertäter, wenn er darauf verweist, dass „im Bemühen, Erwin Strittmatters Antikriegsgesinnung herauszustellen“78, Worte der Romanfigur als Strittmatters eigene Stellung interpretiert wurden: Ganz abgesehen davon, dass es schlichtweg verwegen ist und mit ernsthafter Textarbeit nichts zu tun hat, wenn aus einem Romanganzen die Reden einzelner Figuren herausgelöst werden, um dann im nächsten Zirkelschluss daraus eine politische oder moralische Haltung des Autors (!) abzuleiten.79

Was aber Literaturwissenschaftlern und Kritikern nicht zusteht, darf Leserinnen und Lesern nicht untersagt werden. Vor allem die nostalgisch-identifikatorische Lektüre, die darauf zielt, die Lebenslegende des Lieblingsautors aufrechtzuerhalten, hält sich selten an Regeln der Fachleute. 4.2.3 Strittmatters Abschiedsbuch Vor der Verwandlung (1995) Im Jahre 1995 erscheint in dem Aufbau-Verlag das letzte Buch des ein Jahr zuvor verstorbenen Erwin Strittmatter Vor der Verwandlung. Aufzeichnungen. Der autobiographische Charakter des Buches wird explizit angesprochen. Aus Paratexten erfährt der Leser, dass es sich um ein „Abschiedsbuch“ handelt, in dem sich der Autor an „ein ganz besonderes Jahr“ erinnert, „an die Zeit, in der er den letzten Teil seiner Laden-Trilogie beendete, achtzig Jahre wurde und den Höhepunkt seines literarischen Ruhms erlebte.“80 Strittmatter erzählt in seinen Diktaten – die nur zum 78 Carsten Gansel: „Blinde Flecke“, nachholende Bekenntnisse und Archivfunde als Aufstörung – Erwin Strittmatter und das Gedächtnis. In: Carsten Gansel/Matthias Braun (Hg.): Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung. Göttingen 2012, S. 29. 79 Gansel: „Blinde Flecke“, S. 29. 80 Erwin Strittmatter: Vor der Verwandlung. Aufzeichnungen, hg. von Eva Strittmatter. Berlin 2000

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Teil von ihm selbst transkribiert wurden – nicht nur von den Ereignissen der letzten Zeitspanne, sondern blickt auch auf Episoden aus seiner Vergangenheit zurück, aus denen sich eine – wenn auch lückenhafte, so doch kohärente – Version des Lebens (re)konstruieren lässt. Der Hauptakzent wird auf das Altern gelegt. Der Erzähler registriert seine eigene körperliche Schwäche, die das nahende Lebensende andeutet. Umgeben von der Tier- und Pflanzenwelt in Schulzenhof, deren Beschreibungen den Großteil der Aufzeichnungen ausmachen und zum Kern des nun thematisierten Lebens werden, widmet er sich auch seinen Erinnerungen, zu denen ihn einerseits die Arbeit an dem Laden-Roman, andererseits die neuen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in dem vereinigten Land bewegen. Die Veröffentlichung seines letzten Buches liegt fünf Jahr zurück. Strittmatter setzt aber sein Laden-Projekt fort, ohne dass ihn die neuesten Ereignisse zu einer Kurskorrektur bewogen haben. In der Zwischenzeit hat auch ein Umsturz stattgefunden, eine Wende hat man ihn genannt, man habe uns einen heiligen Wunsch erfüllt, wie es heißt, habe uns zu einem einig Volk von Brüdern gemacht, nachdem uns fremde Mächte jahrzehntelang trennten, schützten und auf unser Gutes aus waren. Nichts davon oder nur ganz wenig ist in meinem Roman zu lesen. (ESV 42)

Konsequent wehrt sich Strittmatter dagegen, die neueste Wirklichkeit zu kommentieren. Stattdessen flieht er in die Naturwelt, die ihn zum Schaffen inspiriert. Seine literarische Produktion kreist um sein Leben und seine Erfahrungen. An mehreren Stellen seiner Aufzeichnungen behauptet er, der neueste Laden-Band habe ihn aufgefordert, sich an den Zweiten Weltkrieg wieder zu erinnern (vgl. ESV 63). Was Essau Matt im Zweiten Weltkrieg erlebte, wird nur in Episoden angedeutet, ohne dass dieser Zeitspanne ein separates Kapitel gewidmet wird. Der Berliner Germanist Werner Liersch formuliert daraus einen Vorwurf: Und auch ein gerühmtes Buch wie Der Laden, das authentisch sein soll, spart kräftig aus. Als der 3. Teil nach der ‚Wende‘ entsteht, hätte er rigoros sein können, es gibt keine DDR mehr, er ist ein Mann am Ende der Jahre, eine Last und eine Freiheit. Kein Wort über seinen wirklichen Krieg. Keine wirklichen Störungen des Typus Heimatroman.81

Auch in den Aufzeichnungen Vor der Verwandlung wird die Erfahrung des Nationalsozialismus, die zum Schüsselerlebnis der Generation der Misstrauischen Patriarchen erklärt wurde, nur am Beispiel der Nachbarin Wilhelminele und ihrer Familie erzählt. Obwohl der Autor behauptet, dass er ganz für sich und zu seinem Troste über die Zeiten schrieb, die er „in der Heimat verbrachte, und die Zeiten, die längst vorüber sind und von ganz anderen Zeiten ersetzt zu sein scheinen“ (ESV 94), (Rückseite des Covers). Im Folgenden werden Zitate als Sigle ESV mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen. 81 Carsten Gansel/Mattias Braun: „Den Stand der Unschuld verlieren“ – Gespräch mit Werner Liersch. In: Gansel/Braun (Hg.): Es geht um Erwin Strittmatter, S. 392.

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beweisen die Verkaufszahlen und die überfüllten Räume während seiner Lesereisen, dass die beschriebenen Erinnerungslandschaften dem Interesse des Publikums entgegenkommen. Bei der Abendveranstaltung im Gohliser Schlößchen wurde ich von den Zuhörern mit solcher Liebe empfangen, daß mir die Tränen in die Augen wollten. Normalerweise faßt der Saal zweieinhalb Hundert Besucher, aber es waren vierhundert drinnen. Wer nicht sitzen konnte, stand, saß auf dem Fußboden oder lag. Besonders viele Jugendliche. […] Am Schluß meiner Vorlesung Beifall und Beifall. Vielleicht zahlte sich aus, daß ich in der vergangenen Zeit nicht auf jeder Hochzeit tanzte. (ESV 11)

Eine besondere Zuneigung scheint den Schriftsteller mit dem ostdeutschen Publikum zu verbinden. Anders wird er von den westdeutschen Rezipienten aufgenommen, was die in Aufzeichnungen thematisierten Interviews anlässlich seines 80. Geburtstags zeigen. Die Fragen der westdeutschen Gesprächspartner zeugen Strittmatter zufolge von „wenig Gespür für poetische Anliegen“ (ESV 98), von naiver Ahnungslosigkeit in ostdeutschen Angelegenheiten, manchmal sogar von Dummheit (vgl. ESV 109) der Gesprächspartner. Die Bemühungen Strittmatters, ihnen die Komplexität des Systems zu veranschaulichen, scheitern an der fehlenden Bereitschaft westdeutscher Journalisten, das Gegenüber vorurteilslos wahrzunehmen. So werden die Nationalpreise als ein Beweis interpretiert, dass das Schaffen Strittmatters den Wünschen der damaligen Regierung entsprochen habe (vgl. ESV 109). Der Erzähler verweist in diesem Kontext auf die Bedeutung der Leser, deren Sympathie den Regierenden nicht gleichgültig gewesen sei (vgl. ESV 109). Die Ehrung vonseiten des Staates wird zum Beweis der Anerkennung vonseiten des Publikums uminterpretiert. Strittmatters Position erscheint widersprüchlich. Einerseits verteidigt er die Vergabe der Nationalpreise als die vom Publikum erzwungenen Sympathiezeichen, andererseits prangert er an, dass er damals nicht genügend Distanz den Ehrungen gegenüber hielt. An einer anderen Stelle seiner Erinnerungen kommt Strittmatter auf seine Eitelkeit zu sprechen. So gibt er zu, dass die Nationalpreise ihm nicht ganz gleichgültig gewesen seien, dass er sich durch sie im gewissen Sinne habe vereinnahmen lassen. Es war der Nationalpreis dritter Klasse, mit dem mich die Öberen [sic!] unseres Ländchens ausgestattet hatten. Ich nahm ihn nur zu gern an, denn ich war noch auf Ehren aus und lüstern, jene Leute, hauptsächlich in meinem Heimatdorf, ins Unrecht zu setzen, die da gesagt hatten: aus dem wird nie was. Außerdem war Brecht für mich der Nachkriegsmustermensch, einer, der sich aus meiner damaligen Sicht stets und überall richtig verhielt. Er gehörte zu den ersten Künstlern, die diesen Nationalpreis in unserem blutjungen Ländchen angesteckt kriegten […]. (ESV 14)

Nicht zu übersehen sind die genannten mildernden Umstände. Wenn ‚der große‘ Brecht der Falle nicht entgangen ist, kann man von einem weniger erfahrenen, noch nicht etablierten Autor kaum erwarten, dass er öffentliche Anerkennung ablehnt. Wenn auch Strittmatter keine Schuld zugibt, übernimmt er doch eine gewisse Verantwortung für seine Entscheidungen. Wenn er aber in einer intimen Gewissensbefragung seine Schwächen und Fehler offen legen kann, wehrt er sich angesichts „einer

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politisch peinlichen Befragung“ (ESV 98) in der Öffentlichkeit dagegen, seine Zweifel bekannt zu machen, zumal sie vonseiten der Westdeutschen erzwungen werden. Sehr stark wird die Kluft zwischen Strittmatter als Vertreter der Ostdeutschen und den westdeutschen Journalisten, Verlegern oder auch Lektoren betont. Alte Ressentiments kommen auf beiden Seiten zum Vorschein. Strittmatter nimmt den Vertretern des bundesrepublikanischen Literaturmarktes übel, dass sie ihn „in ihren Zeitungen den Konsalik des Ostens, also den Vielschreiber“ (ESV 140) nannten, dass der Wert der DDR-Literatur in Frage gestellt wurde (vgl. ESV 99–100), dass nach der ‚Wende‘ Bücher ostdeutscher Autoren in Müllcontainer landeten (vgl. ESV 71). All diese Ereignisse werden anlässlich des 80. Geburtstags Strittmatters und der Veröffentlichung seines Laden-Romans vergessen gemacht, was beim Erzähler auf Unbehagen stößt und sein Misstrauen steigert. Manche Buchhändler stellten […] mehrere oder alle Bücher aus, die ich schon geschrieben habe, darunter auch Bücher, die hie und da, nachdem uns der Kanzler die Einheit geschenkt hatte, aus Bibliotheken und Buchhandlungen auf die Straße oder in Abfallcontainer geworfen wurden, zwei oder drei mit einer gewissen Berechtigung, weil ich mich verpflichtet fühlte, in manchen Partien allzu gläubig sozialistisch-realistisch auf meine Nachbarn einzureden. Andere meiner Bücher allerdings flogen, ohne daß sie etwas von einem Glaubensbekenntnis in sich trugen. Dieser Vorgang machte mich nachdenklich und erinnerte mich an eine gewisse Bücherverbrennung. (ESV 71)

Für Strittmatter erscheinen die Methoden im demokratischen Westen nicht weit davon entfernt, wie die Nationalsozialisten mit den Andersdenkenden umgegangen sind. In beiden Fällen – so die holzschnittartige Argumentation – handelt es sich um Denk- und Handlungsmuster, die einer – zum bestimmten Zeitpunkt als einzig wahr geltenden – Ideologie untergeordnet sind. Dieser vermeintlich versklavten Denkweise setzt Strittmatter seine Haltung entgegen. Er habe jeder Art ideologischer Voreingenommenheit den Rücken gekehrt. Das ist die Haltung des achtzigjährigen, lebenserfahrenen Schriftstellers, der seine Erfahrungen mit zwei Diktatursystemen gemacht hatte, und dadurch viel „Vergleichsmöglichkeiten“ (ESV 105) hat. Dass er selbst aber vor Jahrzehnten der Idee des Kommunismus Glauben geschenkt hatte, wird in den Aufzeichnungen nur erwähnt. Der Erfolg der kommunistischen Ideologie sei ohne die nationalsozialistische Vergangenheit des Landes kaum möglich gewesen. Vor vierzig Jahren fielen die Deutschen in ihr [der Russen – K.N.] Land ein, um ihre Ideologie auszurotten. Es gelang den Deutschen nicht. Die Russen durften sich für eine Zeitlang Sieger fühlen und besetzten das halbe Deutschland, um hier die politische Ideologie zu korrigieren. Es gelang ihnen nicht, nein gar nicht. Ihre politische Ideologie, die sie für sieghaft gehalten hatten, ging dabei zugrunde. (ESV 90–91)

Die DDR-Bürger scheinen von der kommunistischen Idee nicht besonders durchdrungen zu sein. Auch Strittmatter selbst war der Ideologie nur für kurze Zeit verfallen. Der Erzähler unterzieht aber seine Haltung keiner systematischen Analyse. Er erzählt

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episodenhaft, nicht chronologisch, verzichtet auf Erklärungen, die für nicht eingeweihte Leser nötig wären. Er erklärt weder den Hintergrund des Aufstandes vom 17. Juni 1953 noch die Umstände der Ausbürgerung Biermanns. Notiert werden eher spontane Assoziationen, die von den Ereignissen der Gegenwart des Erzählens wachgerufen werden. „Der Politik enthält der plaudernde Strittmatter sich weitgehend“, konstatiert Sabine Brandt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.82 Immer wenn die Erinnerungen bedrückend werden, wenn das Vergangene unbequeme Fragen aufwirft, flieht der Erzähler zu Landschaftsbeschreibungen oder zu der fiktionalisierten Geschichte der Nachbarin Wilhelminele. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass Strittmatters Aufzeichnungen eine ‚echte‘ Autobiographe und einen – wie Frank Hoffmann und Silke Flegel treffend bemerken – „kleinen ‚Roman‘ in Episoden“,83 d.h. die Geschichte von Wilhelminele umfassen, so dass die Grenze zwischen Dokument und Fiktion verwischt wird. „Die Verquickung von ernst und heiter, wahr und erfunden, Roman und Leben wird hier in der reinsten Form erkennbar.“84 Auch wenn die Aufzeichnungen Vor der Verwandlung nicht als ein Schuldbekenntnis gelesen werden dürfen, fehlt es in ihnen nicht an selbstkritischen Kommentaren des Verfassers. Seine Ideologiegläubigkeit entstammt nicht nur seiner Naivität, seiner Eitelkeit oder auch den negativen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, sondern auch seinem Selbstverständnis als Autor, dessen Leben dem inneren Bedürfnis nach sprachlichem Ausdruck untergeordnet ist. Nie hätte man ihm vom Schreiben abhalten können (vgl. ESV 27). Der Schaffensprozess verlangt im Verständnis Strittmatters nach Ruhe. Aus dieser Position versucht er seine fragwürdige Haltung im Jahre 1961, als er den Mauerbau unkritisch hingenommen hatte, zu rechtfertigen. Weshalb sollte ich verhehlen, daß ich das, für einige Monate wenigstens, nicht ablehnte, ich wollte mit meinen dummen Gedanken, die damals bei mir noch vorkamen, in Ruhe gelassen werden. Es währte nicht lange, bis ich merkte, daß ich mich hatte selber einsperren lassen. (ESV 31)

Die Motivation seiner Entscheidung kann wiederum den mildernden Umständen zugerechnet werden. Allerdings enthüllt der Autor kein geheimes Wissen. Seine Reaktion auf den Mauerbau war allgemein bekannt. Im Westen veranlasste sie den FischerVerlag dazu, die gerade vorbereitete Auflage von Wundertäter einzustampfen.85 Diesem Sachverhalt verdankt Strittmatter auch den Ruf eines linientreuen Parteischriftstellers. Wie die Arbeiten von Werner Liersch und Anette Leo Jahre nach dem Tod des Schriftstellers zeigen, gab es in seinem Lebenslauf dunkle Flecken, die hätten offenbart werden können, wenn Strittmatter sich eine Abrechnung zum Ziel gesetzt 82 Sabine Brandt: Erwin Strittmatter: Vor der Verwandlung. Rezension. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.03.1995), S. 36. 83 Frank Hoffmann/Silke Flegel: Autobiografie und Dichtung. Die Sommer-Debatte um Erwin Strittmatter. In: Deutschland Archiv 42 (2008), S. 978. 84 Hoffmann/Flegel: Autobiografie und Dichtung, S. 979. 85 Vgl. Im Osten läuft der Laden, S. 272.

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hätte. Stattdessen stilisiert er sich beinahe zu einem inneren Emigranten, der nach einer kurzen Phase der Gläubigkeit eine Art Waldeinsamkeit auf dem Vorwerk Schulzenhof wählt, um sich von den Institutionen des sozialistischen Landes fernzuhalten. Konsequent zeigt er sich nicht als einen der Entscheidungsträger, sondern als einen Isolierten. Die Berliner kamen meist, um mich für irgend etwas einzuspannen, einen Aufruf zu unterschreiben, an einer Resolution mitzuwirken oder irgendwohin zu fahren, um dort anwesend zu sein. Der Keller hat mir zu ungestörter Schreibzeit verholfen und zuweilen verhindert, daß ich politische Dummheiten unterstützte. (ESV 21)

Der Schreibprozess, um dessen willen er politischen Missbrauch akzeptierte, schützt ihn später davor, andere Irrtümer zu begehen. Die Emigration lehnt er als Lösung prinzipiell ab. Ein Schriftsteller habe Wurzeln, „wenn er sie ausrisse, [wäre] es gleichbedeutend […] mit seinem literarischen Tod.“ (ESV 109) Er bleibt im Land, aber – in seinem Verständnis – in einer sicheren physischen und geistigen Distanz zu dem Machtapparat. 4.2.4 Posthumes Schuldbekenntnis? Tagebuchaufzeichnungen Der Zustand meiner Welt (2014) Wenn in den Aufzeichnungen Vor der Verwandlung nur gewisse Aspekte des Lebens thematisiert werden, wird in den Tagebüchern beinahe eine komplette Lebensgeschichte erzählt. Pünktlich zum 100. Geburtstag des Schriftstellers erscheint der erste Teil der von Almut Giesecke getroffenen Auswahl Nachrichten aus meinem Leben. Aus den Tagebüchern 1954–1973.86 Zwei Jahre später folgt die Fortsetzung unter dem Titel Der Zustand meiner Welt.87 Die Notizen umfassen zwar die Zeitspanne 1974–1994, doch wird auch auf die frühen Erlebnisse Bezug genommen, so dass Strittmatters Konstruktion seiner Selbstbiographie – in den bereits behandelten Texten nur in Ausschnitten präsentiert – nun umfassender wiedergegeben wird. Tagebuch führt Strittmatter systematisch seit 1954. Je mehr er sich aus dem öffentlichen Leben zurückzieht, desto intensiver setzt er sich in den Tagebüchern mit der Wirklichkeit der DDR und mit seiner früheren Parteigläubigkeit auseinander. 86 Erwin Strittmatter: Nachrichten aus meinem Leben. Aus den Tagebüchern 1954–1973, hg. von Almut Giesecke. Berlin 2012. 87 Erwin Strittmatter: Der Zustand meiner Welt. Aus den Tagebüchern 1974–1994, hg. von Almut Giesecke. Berlin 2014. Im Folgenden werden Zitate als Sigle ESZ mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen.    Da Strittmatter in den späteren Tagebuchaufzeichnungen auf seine Vergangenheit zurückkommt sowie die Zeit der Vereinigung thematisiert, werden sie – und nicht der erste Band – in diesem Unterkapitel einer Analyse unterzogen. Seit 1974 reflektiert er auch seine Distanzierung von dem Parteiapparat. Er scheint seine Fehler eingesehen zu haben.

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Das Tagebuch fungiert der Herausgeberin Almut Giesecke zufolge als „Medium der Selbstverständigung“.88 Das bedeutet aber nicht, dass Strittmatter seine an manchen Stellen sehr intimen Aufzeichnungen der Öffentlichkeit vorenthalten wollte (vgl. ESZ 304). Eine Publikation wurde vom Autor nicht ausgeschlossen.89 Er wollte auch der Nachwelt Auskunft geben. Wie stark die Grenzen zwischen Autobiographie und Werk bei Strittmatter verwischt werden, wird in den Tagebüchern sichtbar. Es handelt sich um literarisierte und stilisierte Aufzeichnungen, in denen der Schriftsteller an manchen Stellen zur Verfremdung seiner Identität greift.90 Er verwendet nicht nur die für Tagebuch übliche Ich-Form, sondern wechselt zur Erzählung in der dritten Person [„alter Mann“ (vgl. ESZ 199)] oder verwendet auch den Namen seiner literarischen Gestalt Essau Matt (vgl. ESZ 289, 300, 342). Dargestellt wird eine Welt, in der Erwin Strittmatter die Hauptfigur ist.91 Strittmatter reagiert in seinen Tagebuchaufzeichnungen auf aktuelles politisches Geschehen wie die Ausbürgerung Wolf Biermanns, die Demonstrationen in den 1980er Jahren sowie die Flucht der DDR-Bürger, schließlich den Mauerfall und die Vereinigung. Gewisse Daten bringen ihn aber auch dazu, über historische Ereignisse wie die Zeit des Nationalsozialismus, den 17. Juni 1953 oder den Mauerbau 1961 zu reflektieren. Aus den Notizen geht eine Art Topographie der Schlüsselerlebnisse hervor. Auf seine frühen Kindheitserinnerungen kommt der Autor kaum zu sprechen. Sie werden ausführlicher in seinem Laden-Roman behandelt. Der Jugendzeit schenkt er mehr Aufmerksamkeit, weil den Prägungen dieser Lebensperiode seine späteren Entscheidungen entstammen. Die Folgen des Krieges hätten ihn in „eine philosophische Primitivität und Sektiererei“ gestürzt, notiert er rückblickend am 13. August 1974, „in eine solche Veräusserlichung, dass ich für den Rest meines Lebens Erhebliches leisten muss, um dieses Loch von Schwäche mit entsprechender Stärke aufzufüllen.“ (ESZ 25–26) Strittmatter kann sich keiner Episoden wie des antifaschistischen Widerstands oder auch Emigration rühmen. Er kämpfte nicht gegen die Hitler-Armee, sondern war einer ihrer Soldaten. Weder in den Tagebüchern noch in Romanen oder auch Interviews gibt es aber vonseiten Strittmatters Hinweise darauf, dass er der nationalsozialistischen Ideologie verfallen war, so dass der Leser ihn nicht an die Seite der negativen Helden der Geschichte stellt. Almut Giesecke behauptet, der Schriftsteller halte sich „an den allgemeinen Konsens jener Kriegsgeneration, die weitgehend über ihre Erfahrungen und ihre Traumata schwieg.“92

88 Giesecke: Nachwort, S. 520. 89 Vgl. Giesecke: Nachwort, S. 523. 90 Vgl. Giesecke: Nachwort, S. 521. 91 Vgl. Giesecke: Nachwort, S. 522. 92 Giesecke: Nachwort, S. 522.

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Unbequeme Episoden wurden gern von den Mitläufern des Nationalsozialismus verschwiegen. Elemente, die den Machtanspruch der DDR-Gründergeneration legitimieren, wurden dagegen der Öffentlichkeit präsentiert und zum Kultobjekt erhoben. Wenn also von einem Konsens die Rede sein darf, dann betraf er diejenigen, die keine ‚unbefleckte‘ Biographie aufweisen konnten. Auch Strittmatter liefert nur spärliche Informationen über seinen Soldatendienst. Als ich jung war (in der Weimarer Republik), hatte ich (als Dorfjunge) weder Geld noch Wagemut genug in der Welt umherzustromern. Dann sperrten die Nazis zu, und es folgten die befohlenen Reisen unter Todesbedrohung als Soldat, schliesslich sperrten wir Kommunisten zu. Gibt’s nicht doch ein „ostdeutsches“ Schicksal, das uns noch bereithält, ungefragt Einwohner eines SowjetStaates zu werden? (ESZ 9)

In der am 20. Januar 1974 niedergeschriebenen Notiz wird das Bild eines versklavten Geschichtsobjektes entworfen, dem keine Entscheidungsfreiheit zusteht. Dementsprechend kann es auch keine Verantwortung tragen. Diese Umstände dienen nicht einer individuellen, sondern einer beinahe kollektiven Entlastung. Zwei Diktatursysteme scheinen den DDR-Bürgern aufgezwungen worden zu sein. Die negativen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus begünstigten auch den Erfolg des Kommunismus. Strittmatter erklärt in diesem Kontext auch seine Parteigläubigkeit, die als eine der wunden Stellen angesehen werden darf: Richtig ist, dass ich nach 1945, als ich, der leise Sozialdemokrat, anfing, mit den Kommunisten zu sympathisieren, als ich anfing, ihnen zu glauben, die Sozialdemokraten hätten Schuld am Emporkommen Hitlers und damit Schuld am Kriege, mich in eine künstliche Naivität versetzte und dass ich meinen Intellekt bewusst degradierte, weil er mir beim Glauben im Wege stand. Ich glaubte damals, dass möglich sein würde, die Menschheit mit Hilfe der kommunistischen Idee vom Krieg zu befreien. (ESZ 171)

Bereits 1981 stellt Strittmatter seinen Glauben an den Kommunismus als vergangenen Sachverhalt dar und verurteilt seine Position als Naivität. Die Phase des blinden Vertrauens an die neuen Machthaber wird zum Hauptproblem des Tagebuchs. Zu diesem Themenkomplex gehört auch die Reflexion über die (fehlende) Reaktion auf den Mauerbau. Diesmal zeigt sich Strittmatter distanzierter. Für ihn sei die Mauer kein Symbol gewesen (vgl. ESZ 428) und ist es im Jahre 1991 – wenn er es niederschreibt – immer noch nicht. Der Schriftsteller sieht seine Passivität im Jahre 1961 nicht in Kategorien von Schuld oder Unschuld. Am 13. August 1989 schiebt er die Verantwortung allein den Politikern zu: Ein makaberes Jubiläum: Die Mauer durch Berlin wurde vor 28 Jahren gezogen. Sie war damals als Hilfskonstruktion gedacht, ihr Bau war einsehbar. Hinter dem Antifaschistischen Schutzwall, wie die Politiker die Mauer genannt haben wollten, hätten sich die Verhältnisse demokratisieren sollen, hätten die Politiker unseren Staat „entdiktatisieren“ sollen. Leider sind die Politiker und die Beamten herzloser und überheblicher geworden und die provinzielle Dummheit hat um sich gegriffen. (ESZ 381)

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

Der Erzähler identifiziert sich weder mit den Politikern noch mit den Beamten. In der Verwendung der indirekten Rede kommt seine Distanz zum Vorschein. Er stellt sich in die Opposition zu den Entscheidungsträgern und zwar als einer der Betrogenen. In vergleichbarem Ton erinnert er sich an die Ereignisse des Jahres 1953, die zu einem seiner Schlüsselerlebnisse stilisiert werden. Am 17. Juni 1974 setzt er dieses Datum mit seiner Desillusionierung zusammen: Ein Datum von Bedeutung für die deutsche Nachkriegszeit! Was geschah, wurde und wird von rechts und links durch Lügen unkenntlich gemacht. Für mich war’s der erste Riss in der fünfjährigen naiven Gläubigkeit, mit der ich den sozialistischen (kommunistischen Partei-Oberen) folgte. Der zweite „unheilbare Riss“ kam von Stalin und denen her, die in seiner Nachfolge sind bis auf den heutigen Tag. (ESZ 39–40)

Ähnlich wie Stefan Heym nennt Strittmatter den Arbeiter-und-Bauern-Aufstand und die Bloßstellung Stalins als Wendepunkte seines Denkens, die ihn zu der zum Zeitpunkt des Erzählens präsentierten Haltung brachten. Er scheint das System durchschaut zu haben. In den Inszenierungen vonseiten der Partei erkennt er ein „Schauspiel […] für eine imaginäre Gottheit“ (ESZ 6). Man erfinde „Kulthandlungen und Liturgien, wie es die Kirche tat.“ (ESZ 7) Bereits in den 1970er Jahren gibt sich Strittmatter als Ungläubiger zu erkennen, der der ‚Sekte‘ innerlich entgangen ist. Er bezeichnet seine Distanzierung als einen „Prozess [der] Befreiung“ (ESZ 60). Rückblickend betont Strittmatter, dass er nie ein „bezahlter Beamter“ (ESZ 116) werden wollte. Deshalb bezog er als Sekretär des Schriftstellerverbandes kein Gehalt. Nichtsdestotrotz sei er wie ein „Postbote“ (ESZ 116) gewesen, der nichts habe leisten können (vgl. ESZ 116). Formell gehört er weiter offiziellen Gremien und Institutionen an. Sein Pflichtbewusstsein lasse ihn an Veranstaltungen zu offiziellen Anlässen teilnehmen (vgl. ESZ 8). Die Versammlungen werden ihm aber zur „Qual“ (ESZ 59). Er behauptet schon in den 1970er Jahren, dass er schreiben wolle, wozu es ihn dränge, und dass er auf niemanden Rücksicht nehmen müsse (vgl. ESZ 13). Trotz des inneren Wunsches nach Autonomie tritt er nicht aus der Partei aus und bleibt noch einige Jahre lang einer der das System unterstützenden Künstler. Mehrmals betont Strittmatter in den Aufzeichnungen, dass er auf den richtigen Zeitpunkt wartet, um der Partei endgültig den Rücken zuzukehren, das heißt auf die Veröffentlichung des dritten Teils seines Romans Wundertäter (vgl. ESZ 70).93 Wie für

93 Die Biographie des Protagonisten Stanislaus Büdner weist genauso wie das Schicksal des LadenHelden Essau Matt eine kaum zu übersehende Nähe zu dem Lebenslauf Strittmatters auf. Es handelt sich wieder um einen Dorfjungen, der eine Bäckerlehre machte und auch heimlich schrieb. Eine enttäuschte Liebe trieb ihn dazu, in die Wehrmacht einzutreten. Auch seine Flucht aus der Armee entspricht der lange geltenden Version des Soldaten Strittmatter, der angeblich desertierte. Neben Büdner porträtiert Strittmatter eine Vielzahl von Gestalten und entwirft „ein zeitkritisches Gesellschaftspanorama“. „In dieser Bilanz eines halben Jahrhunderts deutscher Geschichte“ – führt Brigitte Bergheim fort – „erhält die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg besonderes Gewicht.“ (Brigitte Berg-

4.2 „Frisierte Vergangenheit“ Erwin Strittmatters? 

 103

Stefan Heym Fünf Tage im Juni zum Lebensprojekt wurden, markiert Wundertäter III im Schaffen Strittmatters einen symbolischen Wendepunkt. Obwohl das Buch 1980 erscheint, bleibt Strittmatter bis zum Jahre 1990 Mitglied der SED (vgl. ESZ 405), „oppositionelles Mitglied!“ (ESZ 145), wie er sich selbst definiert. Aus dem öffentlichen Leben zieht er sich immer mehr zurück, ohne an die Ausreise zu denken (vgl. ESZ 71), weil er keinen besseren Staat für sich wisse (vgl. ESZ 167). Politisch wählt er „die innere Emigration“ (ESZ 105). Auf politisches Geschehen reagiert Strittmatter selten in der Öffentlichkeit. Das Tagebuch wird zunehmend zur Bühne der Auseinandersetzung mit den aktuellen Angelegenheiten. Und so reagiert er auch auf die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Die „Biermann-Hysterie“ (ESZ 66) betrachtet er aber distanziert. Die Gestalt des Liedermachers wird ohne jede Spur Sympathie skizziert: B. politischer Querkopf, der unsere selbstherrlichen Politiker in Liedern verspottete. Was er anzubieten hatte, wurde (mir) nie klar. Eine Art von „reinem Kommunismus“. Sowas glaubte ich zu erkennen. Naiv das freilich und vom Geist her unbefriedigend. (ESZ 65)

Nicht Biermann wird dem Tagebuch-Ich zum Problem, sondern das Verhalten der „Stalinisten im Polit-Büro“ (ESZ 69), die die Unterzeichner der Petition gegen die Ausbürgerung Biermanns bestrafen wollen. Aus den Aufzeichnungen geht eindeutig hervor, wie intensiv sich Strittmatter bei Kurt Hager dafür eingesetzt hat, die Schriftstellerkollegen vor den Repressalien zu beschützen (vgl. ESZ 73). Allerdings kommt er an keiner Stelle darauf zu sprechen, warum er selbst die Petition nicht unterzeichnet hat. Diese Ereignisse werden nicht zum Wendepunkt seines Lebens stilisiert. Sie werden nicht zur Erschütterung. Der Autor zeigt seine Reserviertheit. Den Ereignissen des Jahre 1989 – der Welle der Demonstrationen, die in die Öffnung der Grenze mündet – nähert er sich ebenfalls als distanzierter Beobachter. Das TagebuchIch betrachtet misstrauisch Gorbatschows Pläne, „sein Land aus der ärgsten Diktatur“ (ESZ 324) herauszuführen. In den fliehenden und protestierenden DDR-Bürgern sieht er nichts weiter als orientierungslos umherirrende Kinder, die den Sozialismus in der DDR aufrechterhalten wollen, ohne zu wissen, „wie dieser Sozialismus auszusehen habe“ (ESZ 390), denen es mehr „um den Besitz von Devisen, […] um seichte Wohlstandsgefühle“ (ESZ 384) als um die öffentlich geforderte Meinungsfreiheit gehe. Die Entwicklung im Land wird aber registriert. Dem Prozess der Auflösung der DDR und der Vereinigung schreibt der Tagebuchschreiber eine zweitrangige Bedeutung zu: „Was geht’s dich, der du mit einem Bein im Grabe stehst, noch an?“ (ESZ 383) – fragt er am 21. August 1989. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass der 3. Oktober 1990 im Tagebuch kaum registriert wird, als spielte er keine Rolle in dem literarisch entworfenen Leben Erwin Strittmatters.

heim: Der Wundertäter. In: Kindlers Literatur Lexikon, hg. von Heinz Ludwig Arnold, Bd. 15. Stuttgart/ Weimar 32009, S. 690). In dem Roman setzt sich Strittmatter aber vor allem mit dem sozialistischen Machtapparat kritisch auseinander.

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

Die in Strittmatters Texten konstruierte Lebensgeschichte weicht von dem Porträt der Generation der Misstrauischen Patriarchen ab. Die historischen Ereignisse, die er als prägend definiert, decken sich zwar mit den Elementen, die Thomas Ahbe und Rainer Gries als identitätsstiftend für die gesamte Generation ansehen. Strittmatter kann sich aber weder auf den antifaschistischen Widerstand noch auf eine Art existentielle Bedrohung während der Nazizeit berufen. Die Deutsche Demokratische Republik betrachtet er an keiner Stelle als sein Geschöpf. Er stilisiert sich – zunehmend seit den 1970er Jahren – zu einem inneren Emigranten, der sich nach einer Phase der Parteigläubigkeit, von dem Machtapparat distanziert. Er glaubt weder an den Staat noch an den Sozialismus als Idee, die – wie es Heym lebenslang beteuerte – missbraucht wurde. Was allerdings Strittmatters Zugehörigkeit zu der Generation der Misstrauischen Patriarchen bestätigen kann, sind weniger die erzählten Lebensstationen als die verschwiegenen Episoden, die eine Anpassung an das generationelle Erzählmuster bestätigen. 4.2.5 Blinde Flecken im Gedächtnis? Mediendebatte um Erwin Strittmatter Erst nach dem Tode des Schriftstellers tauchen Informationen über seine Vergangenheit auf, die er der Öffentlichkeit vorenthalten hatte. 1996 werden Strittmatters Stasi-Kontakte bekannt.94 Die medial zu einer Sensation stilisierten Befunde („die insgesamt 177 Seiten starke[…] IM-Akte“95) bleiben nicht ohne Einfluss auf den Ruf des Autors. Und so wird in einem Spiegel-Artikel bemerkt, Strittmatters Bild bedürfe zumindest in einem Punkt einer Korrektur.96 Die – vor allem westdeutsche – Presse zeigt wenig Verständnis dem unter dem Decknamen „Dollgow“ registrierten Geheimen Informanten – „wie Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi damals noch hießen“97 – gegenüber. Obwohl diese Enthüllungen nicht mehr eine so heftige Debatte wie im Falle von Christa Wolf auslösten, wurde Strittmatter mit voller Härte verurteilt: „Und im Gegensatz zu Christa Wolf, die sich als GI „Margarete“ dem MfS gegenüber bedeckt hielt, sprudelte es aus dem Dörfler nur so heraus, wenn er Geheimbesuch bekam.“98 Schließlich enthüllt Der Spiegel, dass Strittmatter den Auftrag so ernst genommen habe, dass er den Kontakt zu anderen Dichtern nicht mehr habe aufnehmen können und nutzlos geworden sei.99 Der Lebenslauf Strittmatters enthält offensichtlich mehr Risse, als die in seinen autobiographischen Texten angesprochenen Schwächen und 94 Vgl. Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1996, S. 630–635; Christian Krause: „Die Zusammenarbeit mit dem Gen. ST. wird eine gute Perspektive besitzen“ – Das MfS-Material zu Erwin Strittmatter. In: Gansel/Braun: Es geht um Erwin Strittmatter, S. 289–314. 95 Petzen und Plaudern, S. 226. 96 Vgl. Petzen und Plaudern, S. 226. 97 Petzen und Plaudern, S. 226. 98 Petzen und Plaudern, S. 226–227. 99 Vgl. Petzen und Plaudern, S. 227.

4.2 „Frisierte Vergangenheit“ Erwin Strittmatters? 

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Fehler. Seine Stasi-Kontakte werden von ihm verschwiegen. Auch in den intimen Tagebuchaufzeichnungen Der Zustand meiner Welt erinnert er sich kaum an diese Episoden. Das Bild des ‚Heimatdichters‘, mit dem sich viele ostdeutsche Leser identifizierten, denen er beinahe als Alibi dienen konnte, wurde 1996 erschüttert, ohne jedoch zerstört zu werden. Der entscheidende Angriff auf eine dem sozialistischen Ideal angepasste Version des Lebens von Erwin Strittmatter kam dann im Jahre 2008 mit den Enthüllungen des Berliner Germanisten Werner Liersch unter dem Titel „Erwin Strittmatters unbekannter Krieg“, in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlicht.100 Hier wurde deutlich: Verschwiegen hatte der Autor nicht nur seine Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit, sondern auch sein Schicksal im Zweiten Weltkrieg. Während Strittmatters Biographen101 bis zu diesem Zeitpunkt behaupteten, dass er Wehrmachtsoldat gewesen sei, war Liersch aufgefallen, dass der Schriftsteller an keinem der Fotos eine Wehrmachtsuniform getragen habe, sondern „eine Uniform, die nach der Ordnungspolizei aussah“.102 Und tatsächlich kam er nach den  darauf folgenden Recherchen zum Schluss, Strittmatter sei Angehöriger des SS-Polizei-Gebirgs-Jäger-Regiments 18 gewesen.103 „Die ,OrPo‘ verantwortet die Exekution Zehntausender Juden. Die Liquidation polnischer, ukrainischer, russischer Gettos. Einsätze gegen Zivilisten und Partisanen in ganz Europa.“104 Liersch behauptet nicht, dass Strittmatter persönlich für die verbrecherischen Taten verantwortlich ist, sondern dass er darüber informiert war, dies aber seinem Publikum konsequent verschwiegen hat. Keine dieser prekären Tatsachen kommt in der DDR vor. Das offiziöse Schriftstellerlexikon notiert 1974 lediglich: „Desertierte als Soldat der Hitlerwehrmacht gegen Ende des Krieges 1945“. Das Dogma, zu den „Siegern der Geschichte“ zu gehören, verschweigt, was nicht zu ihm passt. Allein die Partei weiß intern mehr. Strittmatter, der in den siebziger Jahren einer ihrer Kritiker geworden ist und nicht müde wird, darauf zu pochen, dass der Schriftsteller allein der „Wahrheit“ verpflichtet sei, durchbricht nie, was er allein mit ihr besprochen hat.105

100 Werner Liersch: Erwin Strittmatters unbekannter Krieg. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Feuilleton (8.06.2008); Wiederabdruck in: Gansel/Braun (Hg.): Es geht um Erwin Strittmatter, S. 397–404. 101 Vgl. dazu etwa Günther Drommer/Eva Strittmatter (Hg.): Erwin Strittmatter. Eine Biographie in Bildern. Berlin 2002. Die im Band abgedruckten Bilder wurden mit den Textstellen aus Wundertäter versehen, was beim Leser den Eindruck wachrufen mag, Kriegserlebnisse des Romanhelden seien identisch mit denen des Autors, was dem heutigen Stand des Wissens nach nicht den Tatsachen entspricht. (Vgl. Annette Leo: Erwin Strittmatter. Die Biographie. Berlin 42012, S. 31). 102 Gansel/Braun: „Der Stand der Unschuld verlieren”, S. 387. 103 Vgl. Liersch: Strittmatters unbekannter Krieg, S. 399. 104 Liersch: Strittmatters unbekannter Krieg, S. 398. Zu der Tätigkeit des SS-Polizei-Gebirgs-Jäger-Regiments 18 siehe den Beitrag des Militärhistorikers Ralf Klein: Das SS-Polizei-Gebirgsjäger-Regiment 18 und seine Bataillone. In: Gansel/Braun (Hg.): Es geht um Erwin Strittmatter, S. 325–361. 105 Liersch: Strittmatters unbekannter Krieg, S. 399.

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

Diese Erkenntnisse zeugen von der Anpassung der eigenen Biographie an die im ‚antifaschistischen‘ Land propagierten Normen. Liersch verweist auf eine bewusste Manipulation. In einem der Partei vorgelegten Fragebogen wird Strittmatters wirkliche Dienststelle durch „Schutzpolizei“ ersetzt, seine Tätigkeit im Kriege als harmlos und seine Gesinnung beinahe als pazifistisch dargestellt: Ich habe trotz meiner Zugehörigkeit zur Schutzpolizei, außer bei der Ausbildung auf dem Schießstand, nie eine Gewehr- oder Pistolenkugel abgeschossen. Das gehörte zu meinem individualistischen Programm, wenn ich so sagen darf. Es gelang mir auch, es einzuhalten.106

Werner Lierschs Auseinandersetzung mit der verschwiegenen Vergangenheit Strittmatters lässt persönliche Töne erkennen, wenn der ostdeutsche Germanist in einem Interview mit Carsten Gansel und Matthias Braun zugibt, dass er dem Autor Strittmatter eher distanziert gegenüber stand, sich mit dieser Persönlichkeit aber „ein progressiver Konservatismus verband, eine Widerständigkeit gegen die Flüchtigkeit der Zeit“,107 die ihm gefallen habe. Die Erkenntnis, dass bei Strittmatter fast nichts aus der Kriegszeit stimme – dies wurde überprüft –, dass er darüber geschwiegen habe,108 bringt den Literaturwissenschaftler zu der enttäuschten, öffentlichen Reaktion: „[…] mit der Recherche hatte ich den Stand der Unschuld verloren. Mit dem Schweigen wäre ich zum Komplizen geworden.“109 Der 1932 geborene Werner Liersch, der selbst ein Teil des DDR-Literatursystems war, nähert sich dem Objekt zwar mit Fachkompetenz, nicht aber ohne persönliches Interesse. Nicht zufällig rechnet mit einem der Hauptvertreter der Generation der Misstrauischen Patriarchen einer ab, den wir als Angehörigen der Aufbau-Generation klassifizieren können, d.h. einer Generation, die im ,naiven‘ Glauben an die Heldentaten der DDR-Mitbegründer und im Bewusstsein des eigenen Versagens – verstanden auch als fehlender antifaschistischer Widerstand – sich der Macht der Älteren unterworfen hat. Bemerkenswert erscheint allerdings, dass diese Abrechnung in einer westdeutschen Zeitung veröffentlicht wird. Der Veröffentlichung Lierschs folgt eine heftige Reaktion in den Medien, die als Fortsetzung der früheren Debatte um die SS-Vergangenheit von Günter Grass110 oder auch die NSDAP-Mitgliedschaft von Walter Jens oder Dieter Hildebrandt gelesen werden 106 Zit. nach: Liersch: Strittmatters unbekannter Krieg, S. 400. 107 Gansel/Braun: Gespräch mit Werner Liersch, S. 390. 108 Vgl. Gansel/Braun: Gespräch mit Werner Liersch, S. 388. 109 Gansel/Braun: Gespräch mit Werner Liersch, 389. 110 Obwohl Strittmatters Fall oft mit der Debatte um die verschwiegene Vergangenheit von Grass in Zusammenhang gestellt wird, ist die Kriegserfahrung des fünfzehn Jahre älteren DDR-Autors von einem anderen Format. Am Krieg nahm er nicht als unerfahrener Junge teil, sondern als bewusst handelnder Akteur, was der Aufmerksamkeit mancher Diskussionsteilnehmer nicht entgangen ist. (Vgl. Jörg Magenau: Sichtbare Lebenslügen. SS-Debatten mit DDR-Bezug. In: Süddeutsche Zeitung (11.05.2010), URL: http://www.sueddeutsche.de/kultur/2.220/ss-debatte-mit-ddr-bezug-sichtbarelebensluegen-1.219243, letzter Zugriff: 16.06.2015).

4.2 „Frisierte Vergangenheit“ Erwin Strittmatters? 

 107

darf.111 Der Meinungsstreit112 scheint zu einer erneuten ost-west-deutschen Auseinandersetzung ausgedehnt worden zu sein, wovon manche der Pressetexte zeugen können, wie etwa Oliver Jungens Artikel „Erwin Strittmatters SS-Vergangenheit“ mit dem markanten Untertitel „Endlich einer aus dem Osten!“,113 was beinahe wie eine Abrechnung mit dem antifaschistischen Lebensmythos eines der Hauptvertreter der DDR-Literatur – zugleich einem integrativen DDR-Mythos114 – erscheint. „Wunschgetreu“ habe der „Doyen“ die eigene Vergangenheit „zurechtgeflunkert“,115 lautet das Urteil Jungens. Es handelt sich aber nicht um Strittmatter allein, sondern darüber hinaus um den ostdeutschen Umgang mit der unbequemen Vergangenheit.116 Bemerkenswert erscheint, dass die Mediendebatte im Sommer 2008117 – im Gegensatz zum Fall von Günter Grass, als die in seiner Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel (2006) enthaltenen Enthüllungen für Kontroversen sorgten – nicht von einem autobiographischen Text ausgelöst wurde, dass Strittmatter überhaupt keine Autobiographie veröffentlichte und trotzdem der Lebenslüge bezichtigt wurde.118 Frank Hoffmann und Silke Flegel suchen in ihrem

111 Vgl. dazu Christian Krause: Zur Mediendebatte um Erwin Strittmatter. In: Gansel/Braun (Hg.): Es geht um Erwin Strittmatter, S. 315–324. 112 Ziel des Kapitels ist nicht die vollständige Rekonstruktion der Debatte um die NS-Vergangenheit Strittmatters. Angesichts der Fülle der Wortmeldungen kann solch ein Vorhaben im Rahmen dieser Arbeit nicht geliefert werden. Es geht vielmehr darum, die medialen Auswirkungen der autobiographischen Selbstpositionierung und zugleich auch die Bedeutung derartiger Lebenskonstruktionen zu veranschaulichen. 113 Oliver Jungen: Endlich einer aus dem Osten! Erwin Strittmatter SS-Vergangenheit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (9.06.2008), URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/erwinstrittmatters-ss-vergangenheit-endlich-einer-aus-dem-osten-1547971.html (letzter Zugriff: 16.06.2015). 114 Vgl. Krause: Zur Mediendebatte um Erwin Strittmatter, S. 321. 115 Jungen: Endlich einer aus dem Osten. 116 Vgl. Jungen: Endlich einer aus dem Osten. Angeführt werden Reaktionen von „Kollegen und Freunden Strittmatters” wie Erich Loest, Hermann Kant, die Witwe Eva Strittmatter und der Biograph Günter Drommer. 117 Liersch setzt seine Enthüllungen fort und veröffentlicht einen Monat später einen weiteren Artikel, in dem er Strittmatters Schicksal am Ende des Krieges schildert. (Werner Liersch: Das amerikanische Zeugnis. Der Fall Erwin Strittmatter ist nicht abgeschlossen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (2.08.2008); weiter dazu auch: Liersch: Kronzeuge für dies und das. Strittmatter NS-Vergangenheit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (7.02.2009), URL: http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/buecher/strittmatters-ns-vergangenheit-kronzeuge-fuer-dies-oder-das-1772107.html, letzter Zugriff:16.06.2015). 118 Liersch setzt sich auch mit Strittmatters „Erinnerungsbuch“ Grüner Juni auseinander, um die Fakten aus seinem Leben der literarischen Fiktion gegenüberzustellen und zu beweisen, wie Strittmatter seine Kriegsvergangenheit in der Ägäis „übermalte“. (Werner Liersch: Die Inseln des Verschweigens. Strittmatters Erinnerungsbuch Grüner Juni und der Krieg auf den Zykladen. In: Bundeszentrale für politische Bildung, URL: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/53866/ inseln-des-verschweigens?p=all, letzter Zugriff: 16.06.2015).

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

Beitrag „Autobiografie und Dichtung. Die Sommer-Debatte um Erwin Strittmatter“ nach Ursachen dieses Sachverhaltes und kommen zu dem Schluss: [D]ie Gewichtung und Bewertung des lebensgeschichtlichen Faktums ergibt sich aus dem Werkzusammenhang, genauer aus dem Anspruch auf Authentizität, Wahrhaftigkeit und Vorbildlichkeit, der sich für das Werk des 1994 verstorbenen Erzählers gerade aus der postulierten Kongruenz von Werk und Wirken eingestellt hatte. Denn über den autobiografischen Charakter des weitaus größten Teils von Strittmatters Œuvre kann bis heute kein Zweifel bestehen.119

Strittmatter habe keinen „autobiographischen Pakt“ brechen können – fügen Hoffmann und Flegel treffend hinzu –, weil er keine Autobiographie vorlegte. Er habe den „phantasmagorischen Pakt“ im Sinne Lejeunes überdehnt, d.h. die Aufforderung an die Leser, „Romane nicht bloß als Fiktionen zu lesen“, sondern als „Aufschlüsse über ein Individuum“.120 Dass viele von Strittmatters Texten auf persönlichen Erfahrungen fußen, wurde bereits erwähnt. „Und dies Autobiografische verführt zur fatalen InEinssetzung von Werk und Leben […].“121 Strittmatters Vergangenheit wird erneut zum Tagesthema im Jahre 2012, was nicht nur auf den 100. Geburtstag des Schriftstellers zurückzuführen ist. Im Berliner Aufbau-Verlag erscheint eine neue Biographie Erwin Strittmatters,122 die den von Werner Liersch eingeschlagenen Weg fortzusetzen scheint. Der Historikerin Annette Leo, die 1948 in der DDR geboren wurde und – wie sie selbst in den einleitenden Worten ihres Buches bekennt – Strittmatters Werke bereits als Schulstoff kennenlernte,123 ist es gelungen, sich den Zugang zum Privatarchiv der Familie Strittmatter zu verschaffen, was der Einwilligung der Söhne des Schriftstellers zu verdanken ist. Mit Hilfe von Briefen, Tagebüchern und anderen Dokumenten sowie Zeugenbefragungen enthüllt sie weitere Schattenseiten von Strittmatters Vergangenheit. Die persönlichen Beweggründe werden von der Autorin offen gelegt: […] ich bin eine Frau, ich habe in der DDR gelebt, und ich stamme aus einer Familie, deren Mitglieder in der NS-Zeit zu den Verfolgten gehörten, die im Widerstand/oder im Exil waren. Im Laufe meiner Arbeit ist mir deutlich geworden, dass Erwin Strittmatter zu den Menschen gehörte, vor denen meine Eltern sich wohl immer ein wenig gefürchtet haben.124

Ohne auf die Einzelheiten der Darstellung einzugehen, sei an dieser Stelle auf die Interpretation von Annette Leo hingewiesen, die es ermöglicht, Diskussion um Strittmatter und die DDR-Geschichte im Kontext der intergenerationellen Auseinandersetzung zu lesen. Die Autorin definiert ihre Perspektive als „Blickwinkel der Nachgeborenen, der 119 Hoffmann/Flegel: Autobiografie und Dichtung, S. 974. 120 Hoffmann/Flegel: Autobiografie und Dichtung, S. 978. 121 Hoffmann/Flegel: Autobiografie und Dichtung, S. 978. 122 Annette Leo: Erwin Strittmatter – Die Biographie. Berlin 42012. 123 Vgl. Leo: Strittmatter, S. 9. 124 Leo: Strittmatter, S. 34.

4.3 Stephan Hermlins Legende 

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zweiten Generation“,125 die mit Strittmatter als Repräsentanten einer Generation der DDR-Bürger abrechnen wollen, die ihre nationalsozialistischen Verstrickungen verschwiegen haben.126 Diese „Übereinkunft des Schweigens“127 wurde zur Basis des neuen Staatsgebildes. Annette Leo, selbst der Funktionierenden Generation zugehörig, schreibt der Generation der Misstrauischen Patriarchen – unter diese Kategorien fallen nach Thomas Ahbe und Rainer Gries die genannten Jahrgänge – die Schlüsselposition in der DDR zu und bemerkt zugleich, dass der Staat „zerfiel, als diese Generation sich in den Ruhestand verabschiedete, und gleichzeitig stand damit auch der bisherige Umgang mit der NS-Vergangenheit zur Disposition.“128 Mit der Ablösung der ältesten Generation im DDR-Generationsgefüge wird der Abrechnung mit dem antifaschistischen Mythos der DDR der Weg bereitet. Die ,Wende‘ in der Verarbeitung der unbequemen Vergangenheit ist weniger dem zeitlichen Abstand zu verdanken, als dem daraus resultierenden Generationswechsel. Zu Wort kommen diejenigen Jahrgänge, die die Oberhand der Misstrauischen Patriarchen hingenommen haben oder auch in den von ihnen gegründeten Staat ‚hineingeboren‘ wurden und den antifaschistischen Mythos im Rahmen der sozialistischen Erziehung zur Grundlage ihrer Weltanschauung machten. Da die DDR-Gründer die Bühne verlassen, müssen auch ihre Deutungsmuster wegfallen. Die Erstellung der eigenen Generationserzählung verläuft im Falle der Nachfolger nie ohne Ablösung der vorher geltenden Deutungsmuster.

4.3 Stephan Hermlins Legende Das früheste der in der vorliegenden Studie besprochenen Werke stammt aus dem Jahre 1979. Unter dem Titel Abendlicht veröffentlichte Stephan Hermlin „eine kleine poetische Autobiographie“,129 die erst in den 1990er Jahren für Kontroversen sorgte. Das Buch wurde gelobt, und zwar von Literaturkritikern, Lesern sowie von Schriftstellerkollegen.130 Anerkennung fand nicht nur der Stil, sondern auch der Inhalt. Das Interesse am Text mag an „eine[r] gewisse[n] Ausnahmestellung“ Hermlins wie an „seiner anerkannten Position eines der jüngsten Angehörigen der heute schon legendären Generation von antifaschistischen deutschen Exilschriftstellern“131 liegen, 125 Leo: Strittmatter, S. 33–34. 126 Vgl. Dazu die Rezension von Helmut Peitsch in: H-Soz-Kult http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-19555 (letzter Zugriff: 17.06.2015). Helmut Peitsch hebt das generationelle Argument besonders deutlich hervor. 127 Leo: Strittmatter, S. 16. 128 Leo: Strittmatter, S. 16. 129 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 334. 130 Vgl. dazu die Angaben in dem Artikel aus dem Jahre 1984, in dem der Literaturwissenschaftler Jaroslav Kováŕ seine eigene Bewunderung kaum zu verstecken versucht. (Vgl. Jaroslav Kováŕ: Stephan Hermlins Abendlicht und sein Kontext. In: Brünner Beiträge zur Germanistik und Nordistik 4 (1984), H. 6, S. 107). 131 Kováŕ: Stephan Hermlins Abendlicht, S. 109.

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

behauptet Jaroslav Kováŕ in einem literaturwissenschaftlichen Beitrag „Stephan Hermlins Abendlicht und sein Kontext“ aus dem Jahre 1984, in dem der Autor sich seinem Untersuchungsobjekt voller Bewunderung anzunähern versucht. Bewundert wurden in der DDR allerdings nicht nur literarische Texte Hermlins, sondern auch seine vorbildhafte Biographie. Geboren wurde er 1915 in einer bürgerlichen Familie jüdischer Herkunft in Chemnitz. Aufgewachsen in Berlin, tritt er bereits 1931 als Gymnasiast dem Kommunistischen Jugendverband Deutschlands bei. Bekannt wurde seine illegale politische Tätigkeit im Hitlerdeutschland, es folgten Jahre der Emigration. In der DDR wurden besonders Hermlins Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg und seine Nähe zur französischen Resistance hervorgehoben. Jahrelang genoss der Autor den Ruf eines überzeugten Kommunisten und eines der wenigen deutschen Widerstandskämpfer. Hermlin war u.a. Mitglied der Akademie der Künste der DDR, Vorstandsmitglied des Schriftstellerverbands der DDR, Vize-Präsident des internationalen P.E.N.-Zentrums und Mitglied der Akademie der Künste in West-Berlin (ab 1976).132 Es handelt sich um eine der prominentesten Gestalten der DDR-Kultur. 4.3.1 Abendlicht (1979). Gründungsmythos eines Widerstandskämpfers In dem schmalen Prosaband Abendlicht erinnert sich ein Ich-Erzähler an die Jahre seiner Kindheit in der heilen Welt des Wohlstands, seine Jugend im Hitlerdeutschland, den Eintritt in den Kommunistischen Jugendverband sowie die Emigration. Auch wenn manche Rezipienten auf die eigenartige Mischung aus faktualem und fiktionalem Erzählen verweisen, hat bis in die 1990er Jahre hinein niemand den Versuch unternommen, den Wahrheitsgehalt der von Hermlin konstruierten Geschichte anzuzweifeln. Die autobiographische Lesart des Textes scheint sich durchgesetzt zu haben. So lesen wir in dem bereits angeführten Text von Jaroslav Kováŕ folgende Charakteristik: Abendlicht ist weder Erzählprosa noch Memoirenliteratur im üblichen Sinne des Wortes; vielmehr eine poetisch, emotional wie ästhetisch ergreifende, streng abgewogene Komposition einer assoziativen Kette von autobiographischen Erlebnissen, Reflexionen, Momentaufnahmen, Stimmungen, Träumen, Ängsten und Erfahrungen eines dichterischen Subjekts.133

Auch wenn der Text aus literaturwissenschaftlicher Sicht nicht als Autobiographie im strikten Sinne klassifiziert wurde, erwies sich die autobiographische Lesart als dominant.134 Noch im Jahre 1995 preist Gustav Seibt anlässlich des 80. Geburtstags des

132 Vgl. David Bathrick: Stephan Hermlin. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur, hg. von Michael Opitz/ Michael Hofmann. Stuttgart/Weimar 2009, S. 128. 133 Kováŕ: Stephan Hermlins Abendlicht , S. 108. 134 Es muss hinzugefügt werden, dass manche der Literaturwissenschaftler und -kritiker auf die besondere Form von Abendlicht von Anfang an verwiesen haben. So schrieb Ulla Hahn im Jahre 1981,

4.3 Stephan Hermlins Legende 

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Schriftstellers in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung „die autobiographische Prosa des Abendlichts“.135 Zitate aus dem Buch unterstützen seine Erzählung vom Leben eines Mannes, der sich selber treu bleibe. Seibt verweist explizit auf die Wahrhaftigkeit der episodenhaft erzählten Geschichte: „Hier ist nichts mehr erfunden. Die Kunst entsteht aus der Reduktion und der Intensivierung des Selbsterlebten.“136 Die literarischen Texte scheinen die Lebenslegende Stephan Hermlins zu untermauern. Auf dem Umschlag – sowohl der DDR-Ausgabe (Reclam jun. Leipzig) als auch der Ausgabe „für die nichtsozialistischen Länder“ (Verlag Klaus Wagenbach) – leuchtet ein Landschaftsbild auf, auf dem ein dämmernder Himmel über einem Überschwemmungsgebiet oder über einem Fluss bei Niedrigwasser abgebildet ist. Es handelt sich um das Gemälde Das große Gehege bei Dresden von Caspar David Friedrich.137 Weder der Titel noch die Graphik verweisen auf einen autobiographischen Text. Verzichtet wird auf jede Gattungsattribution im Untertitel. Zum Motto wurden Worte von Robert Walser gewählt: „Man sah den Wegen am Abendlicht an, daß es Heimwege waren.“ (SHA 5) In den verlegerischen Peritexten wird auf biographische Angaben verzichtet, so dass nur die eingeweihten Leser einen Zusammenhang zwischen den im literarischen Text beschriebenen Episoden und den Lebensstationen des Autors herstellen können, d.h. diejenigen, die mit Hermlins Lebenslauf vertraut waren oder auch durch die öffentlichen Epitexte – Interviews, Debatten, Kommentare des Autors – auf die Lektüre vorbereitet wurden. Eine Interpretationslinie wird aber in den verlegerischen

dass der Text „weder eine Zeitchronik noch Memoiren“ sei. „In 27 kapitelähnlich gegliederten Abschnitten skizziert und reflektiert Hermlin gelebtes Leben, Träume, Kunsterlebnisse in locker assoziierter Reihenfolge. So entsteht ein Geflecht aus Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, aus – im Goetheschen Sinne – Dichtung und Wahrheit.“ (Ulla Hahn: Spätbürger und Kommunist: Stephan Hermlin. Ein Porträt. In: die horen (26.4.1981), S. 98, zit. nach: Wolfgang Ertl: Dichtung und Wahrheit: Zum Fall Stephan Hermlin. In: Glossen. German Literature and Culture after 1945 3 (1997), URL: http:// www2.dickinson.edu/glossen/heft3/hermlin.html, letzter Zugriff: 24.09.2015). Ulla Hahn verweist zwar auf eine für autobiographische Texte charakteristische Mischung aus Wahrheit und Dichtung, interpretiert den Text aber immer noch als eine Lebensgeschichte Hermlins. Der Ich-Erzähler wird mit Stephan Hermlin gleichgesetzt. Sie scheint sich nur von der Vorstellung zu distanzieren, autobiographischer Text könne die Tatsachen wie ein Dokument wiedergeben. 135 Gustav Seibt: Das Neue stürzt vorwärts. Einer bleibt sich selber treu: Stephan Hermlin zum achtzigsten Geburtstag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (13.4.1995), S. 33, URL: https://fazarchiv.faz. net/document?id=FAZ__F19950413HERMLIN100#start (letzter Zugriff: 14.11.2019). 136 Seibt: Das Neue stürzt vorwärts, S. 33. 137 Stephan Hermlin: Abendlicht. Berlin 1983, S. 4. Die Berliner Ausgabe erschien „[m]it freundlicher Genehmigung des Verlags Philipp Reclam jun.. Leipzig“. Beide Ausgaben unterscheiden sich weder inhaltlich noch graphisch – das Bild auf dem Umschlag bleibt in beiden Fällen gleich. Im Folgenden werden Zitate als Sigle SHA mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen.

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

Peritexten bereits angedeutet,138 indem auf der Rückseite des Umschlags der IchErzähler mit Stephan Hermlin gleichgesetzt wird: Hermlin, einer der großen Schriftsteller der DDR, erinnert sich an die dreißiger Jahre. An Beobachtungen und Erfahrungen eines jungen Mannes aus gebildeter bürgerlicher Familie, der auf der Straße zum Kommunisten wird und so beides aus fremder Nähe wahrnimmt: das Großbürgertum, das die heraufkommenden Nazis als barbarische Horde abtut, und die Arbeiter, die sich […] widersetzen. Ein glänzend geschriebenes Portrait deutscher Irrungen […]. (SHA Rückseite des Covers)

Abendlicht wird nicht nur als autobiographischer Text, sondern beinahe wie ein Dokument eines scharfsinnigen Zeitzeugen vermarktet. Kein Wort von ‚Dichtung und Wahrheit‘ der Autobiographie, keine Spur Zweifel an der rekonstruierten Vergangenheit der vorliegenden Erinnerungen. Bereits auf der ersten Seite des Textes kommt ein Ich-Erzähler zu Wort. Der Zusammenhang zwischen der literarischen Instanz des Erzählers und der realen Gestalt des Autors wird allerdings nicht explizit hergestellt. Es fehlt die für den autobiographischen Pakt unentbehrliche Identität, die in erster Linie durch die Namensgebung zustande kommt. Wie das Ich heißt, erfährt der Leser nicht. Die autobiographische  Lesart wird aber in gewissem Sinne provoziert, und zwar durch eine Reihe von Spuren wie kleineren Hinweisen auf die Familienverhältnisse,139 historische Ereignisse und die Angaben zum Alter und zur Lage des Erzählers,140 durch  die genannten realen Orte, die wie eine Brücke zur Welt Stephan Hermlins wirken. Es vermischen sich reale Schilderungen der politischen Situation mit traumhaften Landschaftsbeschreibungen. Episodenhaft aufgerufene Lebensstationen lassen es nicht zu, die Geschichte lückenlos zu rekonstruieren. Es handelt sich vielmehr um eine gewisse Stimmung, die erzeugt wird. Dieser ästhetische Ansatz wird auf der Erzählebene explizit angesprochen, als der Ich-Erzähler seine Lektüren rekapituliert. „Von frühen Leseerlebnissen“ (SHA 19) nennt er u.a. Tausendundeine Nacht und Andersens Bilderbuch ohne Bilder, bei denen ihn vor allem „eine vorgestellte Landschaft, eine Tageszeit, eine Aura, in denen sich Personen bewegten, ihre Handlungen vollbrachten“ (SHA 19) berührten. „Atmosphärisches“ wird „über das eigentlich Berichtete“ (SHA 19) gestellt. Der Erzählstil von Abendlicht scheint dieser früh erzeugten Neigung untergeordnet zu sein. Den eigentlichen Text eröffnet eine beinahe poetische Beschreibung der Dämmerung. Abgeschlossen wird er ebenfalls mit beinahe traumhaften Szenen im Gebirge. Dazwischen wird aber die Aura des Lebens eines überzeugten Kommunisten dargestellt, vor allem aber die Schlüsselerlebnisse der DDR-Gründergeneration. 138 Ich beziehe mich auf die Berliner Ausgabe. 139 Onkel Herbert, der jüngere Bruder des Vaters (vgl. SHA, 23–24), der zwei Jahre jüngere Bruder des Erzählers (vgl. SHA 65), der als Flieger bei einem Unfall ums Leben gekommen ist oder Hinweise auf Verwandte aus England (vgl. SHA 79). 140 Im Jahre 1931, als er in den Kommunistischen Jugendverband eintritt, ist er Gymnasiast. An einer anderen Stelle wird erwähnt, dass er im Jahre 1945 30 Jahre alt ist, was bedeutet, dass der Erzähler in demselben Jahr wie Hermlin d.h. 1915 geboren wurde (vgl. SHA 101–102).

4.3 Stephan Hermlins Legende 

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Die Erzählung kreist um zwei Lebensbereiche, denen der Rang von Zentralerfahrungen zukommt. Einerseits wird die heile Kindheit in der wohlhabenden, bürgerlichen Familie beschrieben, andererseits der Zusammenbruch der alten Weltordnung, die Zeit des Nationalsozialismus, aber auch die Annäherung des jungen Protagonisten an die Ideen des Kommunismus, schließlich sein Widerstandskampf und seine Exilzeit. Die Familiengeschichte scheint eher im Dienste der legendenbildenden Erzählung von der Lebensgefahr, der Vereinsamung eines der wenigen Gerechten zu stehen. Dass der Ich-Erzähler auf den im Text beschriebenen Luxus des bürgerlichen Hauses verzichtet, um sich den Kommunisten anzuschließen, steigert noch seine Verdienste. Aufgewachsen ist er in einer Umgebung, der weder Musik noch Literatur oder Malerei fremd waren. Der Vater war ein Kunstsammler, er habe vor allem die deutschen Meister vom Beginn des neunzehnten Jahrhunderts an gesammelt (vgl. SHA 45). „Das Haus war groß und wir hatten oft Gäste“ (SHA 23), darunter auch Persönlichkeiten wie Kandinsky (Vgl. SHA 44). In dem Musikzimmer ertönte Klavierspiel (vgl. SHA 44). Die Eltern konnten sich für ihre Kinder sowohl die Schule mit Internat (vgl. SHA 15) als auch einen Hauslehrer und eine Erzieherin (SHA 27) leisten. Von Armut erfuhr das Erzähler-Ich aus Werken wie Oliver Twist. Voll kindlicher Naivität glaubte er aber, arme Kinder gebe es nur in Büchern (vgl. SHA 17). Diese Geborgenheit verschwand mit den Unruhen der 1930er Jahre, aber auch mit dem politischen Bewusstsein, das sich während des Heranwachsens herausbildete. Er wurde seiner heilen Welt nicht beraubt, sondern verzichtete vielmehr auf seine Privilegien, indem er an die Seite der Schwachen und Unterdrückten trat: Von Zeit zu Zeit besuchte ich meinen Vater. Seit unserer letzten heftigen Auseinandersetzung, als ich mich geweigert hatte, nach Cambridge zu gehen, und, auf seine Frage nach den Gründen, ihm erwidert hatte, es ginge um die deutsche Revolution und ich wolle bei den Arbeitern bleiben, hatte er es aufgegeben, mit mir über Politik zu streiten. (SHA 105)

Die Atmosphäre des Elternhauses scheint nicht ohne Einfluss auf die Lebenshaltung der Kinder geblieben zu sein. Schließlich erklärte sich auch der Bruder gegen die nationalsozialistische Ideologie. Es gelang ihm sogar, in die Royal Airforce einzutreten (vgl. SHA 67) und gegen Hitler zu kämpfen. Er fiel Anfang 1943 (vgl. SHA 68). Auch die Haltung des Vaters ist weit von passiver Unterordnung entfernt. In der so genannten Kristallnacht wurde er nach Sachsenhausen gebracht (vgl. SHA 107). Der Erzähler berichtet, was er von wenigen Zeugen erfahren hat: Der Vater „habe der SS bis zuletzt eine merkwürdige Haltung gewahrt, die Disziplin, Höflichkeit und Verachtung ausdrückte.“ (SHA 109) Der Ausdruck „bis zuletzt“ deutet auf den Tod des Vaters hin. Das Thema wird aber nicht weiter entwickelt. Der Leser muss sich mit dieser vielsagenden Andeutung begnügen. Zum Wendepunkt seines Lebens wird der Eintritt des Gymnasiasten in den Kommunistischen Jugendverband im Jahre 1931 stilisiert. Das Kommunistische Manifest habe er zwar einige Jahre zuvor gelesen. Die bewegten Zeiten beschleunigten aber seine Entscheidung, auf welcher Seite er stehen wollte.

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Das rasend um sich greifende Interesse an politischen Vorgängen hatte auch mich erfaßt; ich konnte leicht erkennen, daß die Diskutierenden drei Gruppen zuzurechnen waren: es waren Sozialdemokraten, Kommunisten oder Nationalsozialisten; […] Von den Argumenten, welche die drei Gruppen vorbrachten, überzeugten mich die der Kommunisten am meisten. Auch gefielen mir die Kommunisten, die ich täglich sah – sie hatten, obwohl es ihnen offensichtlich nicht gut ging, etwas Freudiges und Zuversichtliches an sich. (SHA 30–31)

Sein Eintritt vollzog sich auf der Straße. Er unterschrieb „den zerdrückten, verwischten Zettel“ (SHA 33), ohne dass es ihm bewusst wurde, wozu er sich verpflichte. Eine eher spontan gefasste Entscheidung beeinflusste sein ganzes Leben. Ich wußte damals nicht, was alles ich unterschieb: die Verpflichtung, mit den Unterdrückten in einer Front zu kämpfen, von vielen, die mir bis dahin vertraut gewesen waren, als Feind behandelt zu werden, beharrlich, kaltblütig, verschwiegen zu sein, zu lernen und das Erlernte weiterzugeben, Prüfungen verschiedener Art zu ertragen, den Sinn höher zu stellen als das Wort. (SHA 33)

Rückblickend stellt der Erzähler eine Art Ehrencodex eines Kommunisten zusammen, an dem er sich zu halten versuchte. Er gibt aber auch den Einblick in das geheime Wissen von den Anfängen der Bewegung. Es handelt sich allerdings nicht um reine Berichterstattung, sondern – aus der Perspektive des Jahres 1979 – um eine Art Stilisierung zum Patriarchen. Skizziert wird der Werdegang eines der DDR-Würdenträger, eines der wenigen Antifaschisten, die sich in den 1930er Jahren der verblendeten Masse widersetzten. Das Bekenntnis zum Kommunismus bedeutete, dass man sich einer unpopulären Minderheit anschloss, die der „Sekte[…]“ (SHA 58) Adolf Hitlers kein Vertrauen schenkte. Der Erzähler erinnert sich an seine Freunde, die die Seite gewechselt haben (vgl. SHA 49), und kommentiert die Tendenz folgendermaßen: „Unbezähmbar ist der Drang, bei den Stärkeren zu sein.“ (SHA 49) Trotz der wachsenden Isoliertheit wehrt sich der Protagonist dagegen, die Front zu wechseln und sich dem Massenrausch auszusetzen. Den kollektiven ,Wahnsinn‘ (vgl. SHA 59) beobachtet er mit Abscheu. Im Schein der Fackel sah ich ihre großen, tränenüberströmten Gesichter. „Deutschland ist frei!“ lallte der eine, und der andere wiederholte: „Deutschland ist frei!“ Eine Stimme in mir sagte eintönig und hartnäckig: Ich gehöre nicht zu euch, ich will nicht zu euch gehören. […] Ich war allein, und die Engel des Vaterlands standen um mich her. (SHA 55)

Die von Thomas Ahbe und Rainer Gries angesprochene Erfahrung der Besonderheit und der Isoliertheit als Signum der Generation der Misstrauischen Patriarchen sticht aus Abendlicht hervor. Allein unter den Feinden, scheut der junge Protagonist sich nicht, um die Wahrheit zu kämpfen. Ihm werden Scharfsinn und Mut zugeschrieben, die den meisten seiner erwachsenen Landsleute fehlen, geschweige denn seinen Altersgenossen. Er erscheint als nüchterner Beobachter der deutschen Gesellschaft, der seine Abseitsposition zu akzeptieren scheint.

4.3 Stephan Hermlins Legende 

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Ich gewöhnte mich daran, unter Wahnsinnigen zu leben. Mein Leben hindurch habe ich beobachten können, wie der Wahnsinn sich verbreitete, wie er auf andere Länder übergriff. Nur so war zu erklären, warum noch Jahrzehnte nach dem Kriege Tausende behaupten konnten, sie hätten von den faschistischen Untaten nichts gewußt. (SHA 61)

Die Anpassung – sei es aus Opportunismus, sei es aus Feigheit – wird zur Lebenshaltung der meisten Deutschen, auch der späteren DDR-Bürger. Viele verdrängten die Verbrechen der Nationalsozialisten, aber auch die eigenen Verfehlungen (vgl. SHA 62). Sie werden im Abendlicht von einem erklärten Antifaschisten, der trotz der Todesgefahr den Weg der „Illegalität“ (SHA 93) einschlug, zur Rede gestellt. Hier spricht einer, dem das Recht zusteht, über seine Landsleute zu urteilen, zumal er sich nicht nur der illegalen antifaschistischen Arbeit im Hitlerdeutschland widmete, sondern auch in die Emigration getrieben wurde (vgl. SHA 68). Emigranten wurden zur Elite der Deutschen Demokratischen Republik. Und an der Spitze der Auserwählten standen diejenigen, die als Soldaten gegen die Hitlerarmee kämpften. Auch diese Episode darf in einem vorbildhaften Lebenslauf eines Kommunisten nicht fehlen. Und so erscheint der Erzähler auch als Widerstandskämpfer. Die verschwommenen, beinahe traumhaften Bilder geben die existentielle Bedrohung wieder. Genannt werden die einzelnen Stationen auf dem langen Weg des Emigranten (vgl. SHA 71). Erwähnt werden „die Schüsse von Spanien“ (SHA 71) – die an den Spanischen Bürgerkrieg denken lassen und zu dem Schluss verführen, der Erzähler sei einer der Kämpfer gewesen – und Paris, wo die Erde nicht aufgehört habe zu beben (vgl. SHA 71), als er den Saal hinter dem Palais Bourbon betrat. Ausgemalt werden weniger die historischen Ereignisse als die Atmosphäre des heldenhaften Kampfes. Enttäuscht wurde der Erzähler aber nicht nur von der anonymen Masse seiner Landsleute, sondern auch von seinen literarischen Jugendidolen. Im Hinweis auf „den berühmten Dichter“, der den „emigrierten Freunden“ (SHA 80) des Erzählers nachgerufen habe, „sie sollten nur gehen, die Geschichte mutiere und ein Volk wolle sich züchten“ (SHA 80), lässt sich eine Anspielung auf Gottfried Benns „Offenen Brief an die literarischen Emigranten“ erkennen. Und im Gegensatz zu Benn – der die „poetischen Versuche“ (SHA 80) des Erzähler-Ichs mit viel Zustimmung gelesen habe – entwickelt dieser ein anderes Literaturkonzept. Dichtung und Leben seien zwei untrennbare Elemente. Das Engagement wird zu einer Lebensphilosophie, von der die Dichtung nicht unberührt bleiben darf: „ich konnte nicht außerhalb der Zeit stehen, in der ich lebte, und auch ich bejahte die unreine, die nicht reine Dichtung.“ (SHA 103) Mittels dieser doppeldeutigen Erklärung schreibt er sich in die Tradition der engagierten Literatur – im Gegensatz zur absoluten Dichtung eines Gottfried Benn – ein, gleichzeitig verweist der Ausdruck „unreine Kunst“ auf die Klassifizierung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie, die alle unerwünschten Erscheinungen als ,entartete Kunst‘ kategorisierte und als feindliches Element hartnäckig bekämpfte. Der Protagonist steht in der Opposition zum Nationalsozialismus, was

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

sowohl seine Taten als auch seine Texte bezeugen sollen. Sein literarisches Programm wird explizit angesprochen: Was ich hervorbrachte, konnte nicht ohne Einfluss meiner Lebensumstände bleiben, der politischen Ziele, die ich gemeinsam mit den anderen erreichen wollte, der Gesellschaft, die mir erstrebenswert zu sein schien. Am leichtesten fiel mir alles zwischen dem zweiundzwanzigsten und dem dreißigsten Lebensjahr – in diesem Jahr endete der Krieg; einige Monate zuvor war mein erster Gedichtband in Zürich erschienen. (SHA 101–102)

Die Prägephase darf als abgeschlossen betrachtet werden. Die erzählte Zeitspanne reicht bis in das Jahr 1945. Obwohl der Text 1979 veröffentlicht wird, werden Ereignisse wie der 17. Juni 1953, der Mauerbau oder auch die Ausbürgerung Biermanns ausgespart, als wolle der Autor nur den heldenhaften Ursprung der kommunistischen Bewegung vergegenwärtigen. Aus den dargestellten Episoden geht ein kohärentes Bild hervor, ohne dass seine Festigkeit angesichts der Störungsfaktoren geprüft wird. 4.3.2 Eine erlogene Biographie? Karl Corinos Enthüllungen und die Folgen Hermlins Abendlicht wäre nach 1989 mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Tagesthema mehr, wenn nicht die Enthüllungen des Journalisten Karl Corino gewesen wären. Im Jahre 1996 veröffentlicht Die Zeit Corinos Artikel „DDR-Schriftsteller Stephan Hermlin hat seinen Lebensmythos erlogen. Dichtung in eigener Sache“,141 in dem das jahrzehntelang geltende Konstrukt des heldenhaften Lebens zunichte gemacht wird. Die anschließende Diskussion geht über den Fall Hermlin hinaus. Aufgerollt wird das Thema der stilisierten Biographie der gesamten Generation, damit auch der Gründungsmythos der ehemaligen DDR, denn – wie in Kindlers Literaturlexikon zu lesen ist –: „Hermlins Abendlicht ist zugleich die gelassen-wehmütige, aber nie sentimentale Bilanz einer ganzen Generation, die sich für den Aufbau des Sozialismus engagierte […].“142 Karl Corino bezichtigt Hermlin bereits im Titel seines Beitrags einer Lebenslüge. Der Fall wird von den ersten Zeilen des Artikels an nicht als eine individuelle Geschichte behandelt, sondern als ein Paradebeispiel des kommunistischen Selbstbetrugs. Eröffnet wird der Text mit einem Zitat aus der Wochenpost, in dem Stephan

141 Karl Corino: DDR-Schriftsteller Stephan Hermlin hat seinen Lebensmythos erlogen. Dichtung in eigener Sache. In: Die Zeit 41 (1996), URL: http://www.zeit.de/1996/41/hermlin.txt.19961004.xml (letzter Zugriff: 13.10.2015). Der Beitrag Corinos zum Thema Hermlin wurde am 3. Oktober 1996 auch im Hessischen Rundfunk unter dem Titel „Quasi una fantasia. Die Legenden des Stephan Hermlin“ gesendet. 142 Djavad Vahabzadeh: Abendlicht. In: Kindlers Literatur Lexikon, hg. von Heinz Ludwig Arnold, Bd. 7. Stuttgart/Weimar 32009, S. 405.

4.3 Stephan Hermlins Legende 

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Hermlin über Ursachen für den Zusammenbruch des kommunistischen Systems reflektiert: …ich glaube, die wesentliche [Ursache – K.N.] war die Absage an die Wahrheit. Der Kommunismus bediente sich einer Strategie, die auf Lüge und Selbstbetrug aufgebaut war […] diese Leute logen, weil das gegenseitige Belügen zu einem Grundsatz des Systems geworden war.143

An die Diagnose Hermlins wird eine rhetorische Frage angeschlossen, die suggestiv seine eigenen Sünden andeutet, die dann im weiteren Verlauf der Argumentation nachgewiesen werden. Wäre es denkbar, daß der Schriftsteller Hermlin, geboren 1915 unter dem Namen Rudolf Leder, langjähriger Gesprächspartner Honeckers, Mitglied der DDR-Akademie der Künste wie der Westberliner Akademie der Künste und der neuen Berlin-Brandenburgischen Akademie, Vizepräsident des Internationalen PEN, hier das Gesetz seiner eigenen Existenz formuliert hat, daß ein Großteil seines autobiographischen Werks, seine Erzählungen und seine Bilanzschrift Abendlicht die Inszenierung einer großangelegten Lebenslüge sind?144

Hinterfragt wird die Lebensgeschichte eines prominenten Vertreters des DDRKulturlebens, der als eine der Säulen das Lügensystem unterstützt hat, ohne dass er nach dem Kollaps von 1989 jegliche Fälschungen offen gelegt hätte. Sowohl in dem Zeit-Artikel als auch in dem ebenfalls 1996 erschienenen Buch „Aussen Marmor, innen Gips“. Die Legende des Stephan Hermlin rekonstruiert Corino anhand offizieller Angaben und literarischer Werke Hermlins Lebensgeschichte. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Kontext dem Band Abendlicht zu, weil dieser „immer auch als Hermlins Autobiographie gelesen wurde“.145 Aus den Recherchen des Journalisten ergeben sich nicht nur kleine Korrekturen, sondern die grundlegende Demontage eines Denkmals. Im Buch wird die gesamte Vita Hermlins für ungültig erklärt: „Nichts von dem gelte unbesehen, was seit den späten vierziger Jahren an biographischen Daten von Hermlin selbst und anderen über ihn verbreitet wurde.“146 Und so entpuppt sich die „Familienlegende“147 als eine weitgehende Stilisierung. Zahlreiche Angaben weichen von den Tatsachen ab. Corino weist nach, dass Hermlins Vater nicht am Ersten Weltkrieg teilnehmen konnte – wie im Abendlicht angegeben –, weil er bis 1925 rumänischer Staatsbürger war und als solcher im Deutschen Reich nicht wehrpflichtig.148 Die Eltern waren in den 1930er Jahren nicht mehr so wohlhabend wie angegeben. „Die finanzielle Krise David Leders [des Vaters – K.N.] wurde manifestiert 143 Wochenpost vom 10. September 1992, zit. nach: Corino: Dichtung in eigener Sache (die Kürzungen stammen von Corino); die Stelle unverändert auch in: Corino: „Aussen Marmor, innen Gips“. Die Legenden des Stephan Hermlin. Düsseldorf 1996, S. 16. 144 Wochenpost, die Stelle fast unverändert auch in: Corino: Aussen Marmor, S. 16. 145 Corino: Dichtung in eigener Sache, S. 1. 146 Corino: Aussen Marmor, S. 16. 147 Corino: Aussen Marmor, S. 16. 148 Vgl. Corino: Dichtung in eigener Sache, S. 1.

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

in der Versteigerung seiner 316 Handzeichnungen Liebermanns“149 im Jahre 1925. Die Familie zog gleich danach nach Berlin. „Auto, Chauffeur, Equipage, Kutscher und Kindermädchen waren in Chemnitz abgeschafft“,150 noch vor dem Umzug. Corino zählt eine lange Liste verdrehter Tatsachen auf. Dies alles wäre allerdings zu wenig, um daraus einen ernst zu nehmenden Vorwurf formulieren zu können. In Abendlicht bereitet die Familiengeschichte aber den Mythos des Widerstandskämpfers vor und Corino erblickt in Hermlins Erzählweise eine durchdachte Strategie. Gewisse Episoden werden verschwiegen oder umgedeutet. Nähere Umstände werden verschleiert.151 Fremde Geschichten werden angeeignet und seiner Biographie gewaltsam angepasst.152 Dazu dienen raffinierte syntaktische Mittel – der Übergang von der Möglichkeitsform und einem hypothetischen Präsens zum Realis und zu einer Art von faktischer Vergangenheit. Und er manipuliert Zeit und Ort.153

Corino interpretiert Hermlins Umgang mit den Tatsachen nicht im Sinne eines literarischen Konzeptes, sondern als Mittel zum „Schutz des Verfassers vor unliebsamen Recherchen“.154 Wenn die kleinen Unstimmigkeiten in der Familiengeschichte verziehen werden könnten, weil sie nur die Wahrhaftigkeit der Hermlinschen Aussage in Frage stellen, ohne gesellschaftliche Tabuthemen zu berühren, erscheint die Schilderung der Todesumstände seiner Familienangehörigen problematischer. Die Recherchen Corinos haben ergeben, dass der Bruder nicht als Jagdflieger im Kampf gegen Hitler ums Leben gekommen ist, sondern „beim Zusammenstoß zweier Harvard-Maschinen“155 in Kanada gestorben ist. Die eine Heldengeschichte erweist sich als unwahr. Noch weiter geht er in der Schilderung des Todes seines Vaters. Aus Abendlicht geht hervor, dass der Vater im KZ umgekommen ist. Er hat aber in Sachsenhausen nur sechs Wochen verbracht und ist erst im Jahre 1947 an Leberkrebs gestorben.156 David Leder war nach Aussage des Sohnes in der Pogromnacht nach Sachsenhausen geschleppt worden […]. Die düstere Wendung [in Abendlicht – K.N.], „bis zuletzt“ habe er seine Haltung bewahrt, zwingt zu dem Schluß, er sei im KZ umgekommen – und so steht es auch im internationalen biographischen „Munzinger-Archiv“ und in vielen anderen Veröffentlichungen. Die Recherche in Sachsenhausen ergibt – erfreulicherweise für den Vater, bedauerlicherweise für den Sohn und seine Glaubwürdigkeit – erneut etwas anderes.157

149 Corino: Dichtung in eigener Sache, S. 3. 150 Corino: Dichtung in eigener Sache, S. 4. 151 Vgl. Corino: Aussen Marmor, S. 60. 152 Vgl. Corino: Aussen Marmor, S. 30. 153 Corino: Aussen Marmor, S. 30. 154 Corino: Aussen Marmor, S. 44. 155 Corino: Dichtung in eigener Sache, S. 9. 156 Vgl. Corino: Dichtung in eigener Sache, S. 8. 157 Corino: Dichtung in eigener Sache, S. 8.

4.3 Stephan Hermlins Legende 

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Diese Version der Geschichte – im literarischen Text entworfen – scheint den Raum der Literatur zu verlassen, indem sie als Lebenstatsache fungiert. Die in Umlauf gesetzte Fassung wird von ihrem Urheber aber nicht dementiert. Ähnliche Mechanismen lassen sich im Falle des Mythos vom antifaschistischen Widerstand erkennen. Die Hauptvorwürfe Corinos beziehen sich auf die Angaben zur illegalen antifaschistischen Arbeit Hermlins, also auf Elemente seiner Vita, denen er seine exponierte Position in der DDR-Hierarchie zu verdanken hat. Stilisiert wurde Corino zufolge der Eintritt Hermlins in den Kommunistischen Jugendverband, der in Abendlicht auf der Straße vollzogen wurde, während die Erinnerung Hermlins jüngerer Schwester „weniger schwindelerregend“158 erscheint. 1931, gerade dreizehn Jahre alt, verliebte sie sich in einen Jungen, der dem SBB, dem Sozialistischen Schülerbund (der Jugendorganisation der Kommunisten), angehörte und sie überredete, dort ebenfalls einzutreten. Später brachte sie ihre beiden älteren Brüder Rudolf und Alfred mit.159

Literarische Stilisierung zwecks Emotionssteigerung ist freilich keine Seltenheit, auch wenn dies die Konvention des autobiographischen Schreibens verletzt. Ernsthafter erscheinen die von Corino nachgewiesenen Unstimmigkeiten in der Schilderung von Hermlins Illegalität. Verwiesen wird auf die Tatsache, dass Hermlin 1935 heiratet und Ende 1936 „ganz legal, mit Hausrat“160 ausreisen darf, was im Falle illegal wirkender Antifaschisten schwer vorstellbar wäre. Bezweifelt wird auch die Existenz einer von Hermlin geführten Widerstandsgruppe: Er will eine Widerstandsgruppe geführt haben, die damals gewöhnlich aus drei Personen bestand; […] Erich Honecker war Hermlins Formulierung nach „Vorgesetzter“. Nun, Honecker kam erst im August 1935 aus Prag nach Berlin, um im Auftrag des Zentralkomitees des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands dem Berliner Verbandschef Bruno Baum unter die Arme zu greifen.161

Erlogen sei auch Hermlins Aufenthalt in Sachsenhausen, den der Schriftsteller 1946 in einem Frageboden erwähnt. Diese Episode geht als Faktum in die Lexika ein und untermauert Hermlins Position im kommunistischen System. Von einem Missverständnis könne laut Corino nicht die Rede sein. Wollte Hermlin laut Fragebogen von 1946 nur drei Monate, von Januar bis März 1934, im KZ gewesen sein, so klingt es jetzt, 1953, schon nach einem halben Jahr oder gar Jahren. Schlimm genug, wenn jemand ins Exil mußte und während jener Jahre Frau und Bruder verlor – aber muß man den Mitleidsbonus auch anhand eines fingierten Aufenthalts im Konzentrationslager schinden? Das ist eine Anmaßung gegenüber all jenen, die wirklich dort gelitten haben.162

158 Corino: Dichtung in eigener Sache, S. 8. 159 Corino: Dichtung in eigener Sache, S. 4–5. 160 Corino: Aussen Marmor, S. 74. 161 Corino: Aussen Marmor, S. 74. 162 Corino: Aussen Marmor, S. 86.

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

In einer kommunistischen Musterbiographie dürfen anscheinend weder der illegale antifaschistische Kampf noch traumatische Erlebnisse des Verlustes und existentieller Bedrohung fehlen. Stephan Hermlin scheint seine Vita den Bedürfnissen der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Republik angepasst zu haben. Literarische Texte unterstützen die offizielle Version der Laufbahn. Auf ähnliche Weise entstand auch die ,Legende‘ von Hermlins Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg. In „dem fragmentarisch-andeutenden Stil“163 des Abendlichts wird dem Leser „immer wieder unterschwellig“164 nahegelegt, der Autor habe in Spanien gekämpft. Die Episode wird schnell von anderen Quellen übernommen und bleibt als Tatsache bis zum Jahr 1996 im Umlauf, auch wenn Alfred Kantorowicz – der zwischen 1936 und 1938 als Offizier der Internationalen Brigaden auf republikanischer Seite im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte165 – in seinem Deutschen Tagebuch bereits 1956 unverhüllt notiert, Hermlin sei nicht einen Tag in Spanien gewesen.166 Auf „diese blamable Enthüllung“167 hat Hermlin nicht reagiert. Er hat weder gegen Kantorowicz polemisiert noch falsche Angaben zu seinem eigenen Spanienkampf dementiert. Aus derartigen Andeutungen erwächst, so Corino, ein gezielt gesteuerter Mythos. Hermlins Beteiligung an der Résistance als aktiver Kämpfer entpuppt sich ebenfalls als erfunden.168 Wahrheit ist für Hermlin seit Jahrzehnten eine höchst flexible Materie. Was sie jeweils ist, entscheidet er je nach der faktischen oder strategischen Lage. Manches ist nur Großsprecherei und Ruhmredlichkeit, um die eigene Statur imposanter zu machen, anderes gehorcht politischen Zwecken, dient der Anpassung an die Linie der SED […].169

Hermlin konstruiert eine DDR-„Wunsch-Biographie“.170 Abendlicht zeigt aber etwas mehr als einen individuellen Drang nach Selbststilisierung. Frauke Meyer-Gosau deutet das Werk als „ein eindrucksvolles Zeugnis für den inneren wie äußeren Druck in einer ideologisch strikt ausgerichteten Massengesellschaft, sich als aus eben dieser Masse hervorragendes Einzelwesen selbst öffentlich zu erfinden.“171 Hermlins nachgebesserte Biographie schreibt sich in das gesellschaftlich akzeptierte Erzählmuster ein. Seine Erkenntnisse präsentierte Corino ursprünglich im Hessischen Rundfunk am 3. Oktober 1996, genau sechs Jahre nach der Wiedervereinigung. Der beinahe symbolische Zeitpunkt entging nicht der Aufmerksamkeit des Fachpublikums. 163 Corino: Aussen Marmor, S. 98. 164 Corino: Aussen Marmor, S. 98. 165 Vgl. Corino: Aussen Marmor, S. 105. 166 Vgl. Corino: Aussen Marmor, S. 100. 167 Corino: Aussen Marmor, S. 102. 168 Vgl. Corino: Aussen Marmor, S. 150. 169 Corino: Aussen Marmor, S. 156–158. 170 Corino: Aussen Marmor, S. 190. 171 Frauke Meyer-Gosau: Stephan Hermlin. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1978ff., S. 13.

4.3 Stephan Hermlins Legende 

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Die Süddeutsche Zeitung las die „knallige Enthüllungsstory“172 Corinos als „Beitrag zum Tag der Deutschen Einheit“.173 Der Fall eines DDR-Autors wurde im gesamtdeutschen Kontext diskutiert. Die Frage nach dem Stellenwert der DDR-Literatur wurde erneut aufgerollt. Dass sich „der Grand Old Man der DDR-Literatur“ als „Schwindler“174 herausstellte, warf einen Schatten auf das gesamte Land. Im Hirn der Leser bleibt wie immer etwas hängen. So war die DDR! Selbst ein Mann, der angeblich für Humanität kämpfte, sich für Kunze einsetzte und den Protest gegen die BiermannAusbürgerung initiierte, war im Grunde ein Lügner, ein Scharlatan.175

Der Entmythologisierungsversuch bleibt nicht ohne Folgen. In der Öffentlichkeit entfacht er eine emotionsbeladene Debatte, in der nicht nur mit Hermlin, sondern auch – und zwar in einem viel schärferen Ton – mit Karl Corino abgerechnet wird. An der Seite der Verteidiger der DDR-Symbolfigur176 sind vor allem ostdeutsche Literaturwissenschaftler, Kritiker und Schriftsteller zu erkennen, darunter Dieter Schlenstedt, Silvia Schlenstedt, Friedrich Dieckmann, Stefan Heym sowie der Satiriker Peter Ensikat. Der Hauptvorwurf gegen Corino lautet, er könne Literatur vom Leben nicht unterscheiden und betrachte einen literarischen Text wie Abendlicht als historische Quelle. Ein Stück Literatur sei zur Lebenslüge umgedeutet worden, lautet das Argument Dieter Schlenstedts.177 Die Gattungsfrage erscheint ausschlaggebend: In Corinos Vorgehen wirkt zum einen ein (gewolltes?) Mißverstehen von Kunst, von literarischen Texten, die auf schon peinliche Weise mit biographischen Selbstzeugnissen verwechselt werden. Da wird Abendlicht durchweg als Autobiographie hergenommen […].178

Es handelt sich um denselben Text, der noch ein Jahr zuvor (nicht nur) von Gustav Seibt als autobiographische Äußerung wahrgenommen wurde.179 1996 werden die 172 Enthüllung, wie vorgeplant. In: Süddeutsche Zeitung (4.10.1996), zit. nach: Corino: Aussen Marmor, S. 226. 173 Enthüllung, wie vorgeplant, S. 226. 174 Enthüllung, wie vorgeplant, S. 226. 175 Enthüllung, wie vorgeplant, S. 227. 176 Noch im Jahre 2015 – zum 100. Geburtstag Stephan Hermlins – erscheinen zahlreiche Gedenkartikel, auch eine neue Ausgabe von Abendlicht. (Vgl. Stefan Tuczek: Erinnerungen und Bekenntnisse eines Kommunisten. Über eine enttäuschende Neuausgabe von Stephan Hermlins Abendlicht. In: literaturkritik.de, URL: https://literaturkritik.de/id/20631, letzter Zugriff 24.06.2015). 177 Dieter Schlenstedt: Kritik an Karl Corinos versuchter Hermlin-Demontage in der Zeit. „Lügner im Umhang der Wahrheit“. In: Neues Deutschland (4.10.1996), zit. nach: Corino: Aussen Marmor, S. 219. 178 Silvia Schlenstedt: Der Glanz ist weg, das Elend endgültig? Zum Stephan-Hermlin-Dossier von Karl Corino. Eine Ausblendung gelebter Geschichte. In: Neues Deutschland (8.10.1996), zit. nach: Corino: Aussen Marmor, S. 228. 179 Autobiographische Elemente werden von vielen Literaturwissenschaftlern erkannt. So schreibt Bernd Witte in Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur: „Genau in der Mitte […] [von Abendlicht – K.N.] steht ein Selbstporträt, zusammengesetzt aus lauter bedeutenden Augenblicken […].“ – zit. nach: Corino: Aussen Marmor, S. 239.

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

Akzente eindeutig anders gesetzt. Abendlicht wird von der Mehrheit der Rezipienten als „ein genreloser Text“180 interpretiert, „weder Memoiren, noch Autobiographie noch Erzählung“,181 was als Argument der Verteidigung zu Hilfe gerufen wird. Die Tatsache, dass nicht nur unerfahrene Leser den Ich-Erzähler mit dem Autor des Abendlichts identifiziert haben, wird kaum erwähnt. Auch kann man schwer allein den Werbematerialien die Schuld an der falschen Klassifizierung des Textes zuschreiben. Weder Hermlin noch seine Exegeten haben den Fehler korrigiert. Während zu den Kernargumenten der ostdeutschen Seite die unlauteren Absichten Corinos wie sein ungeschickter Umgang mit Gattungsfragen werden, konzentrieren sich die westdeutschen Journalisten auf Argumente, die in dem Artikel anführt werden. Verwiesen wird auf Tabuthemen, die jeglicher Instrumentalisierung und Stilisierung verschlossen seien. Als Normverletzung versteht Fritz J. Raddatz die Tatsache, dass Hermlin gewisse Episoden seines Lebenslaufs um heldenhafte Elemente bereichert hat. Mit KZ indes spielt man nicht. Nicht mit Tod, nicht mit Illegalität. Da muß diesem Papperlapapp von ‚dichterischer Wahrheit‘ das schlichte Wort ‚Authentizität‘ gegenübergestellt werden.182

Ähnliche Argumente werden von Henryk M. Broder im Artikel „Im Dickicht der Lügen“ angeführt. Stephan Hermlin sei zwar nicht der erste Autor, der in seinen Büchern Sachverhalte beschrieben hat, die er nie mit eigenen Augen gesehen hat. Während aber im Falle der Abenteuerromane Erfahrungen des Autors zweitrangig erscheinen, gelten sie bei referentiellen Texten als ausschlaggebend. Und Abendlicht – worauf explizit verwiesen wird – wurde bis zu den Enthüllungen Corinos als autobiographische Aussage klassifiziert. Niemand nimmt es Karl May übel, daß er durch das wilde Kurdistan gereist ist, ohne Sachsen zu verlassen. Aber wäre Imre Kertész nicht in Auschwitz gewesen und hätte Anne Frank ihr Tagebuch nicht in einem Amsterdamer Versteck geschrieben, würde kein Mensch das Argument von einem „poetischen Ich“ (Berliner Zeitung) gelten lassen. Die „Rückübersetzbarkeit in die Wirklichkeit“ (Raddatz) war auch Hermlins Gütesiegel, von ihm selbst und seinen Verehrern kräftig herbeigefördert.183

Seine anerkannte Position auf dem literarischen Markt verdankte Hermlin weniger seinen literarischen Texten als den darin beschriebenen Abenteuern, die als Erlebnisse des Autors gelesen wurden. Konstruiert wurde die unantastbare Gestalt eines kommunistischen Kämpfers sowie eines kaum zu überbietenden Gründervaters, der 1996 vom Piedestal gerissen wurde. Was aber Henryk M. Broder negativ deutet, wird von Günter Kunert

180 Friedrich Dieckmann (12.10.1996), zit. nach: Henryk M. Broder: Im Dickicht der Lügen. In: Der Spiegel 46 (1996), S. 198, URL: https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/9118807 (letzter Zugriff 24.06.2015). 181 Broder: Im Dickicht der Lügen, S. 198. 182 Zit. nach Broder: Im Dickicht der Lügen, S. 197. 183 Broder: Im Dickicht der Lügen, S. 197.

4.3 Stephan Hermlins Legende 

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ins Positive gewendet. Zum Tode Stephan Hermlins bemerkt er, dass Corinos Enthüllungen, die „dem Dichter einige Unwahrheiten und Übertreibungen“184 nachweisen, aus dem selbststilisierten Denkmal einen Menschen werden lassen – einen schwachen Mann, der sich an seinen Phantasien aufgerichtet hat. Ich bin sicher und nehme sonst noch Wetten an: Die Gestalt Hermlins würde wohl sonst rasch verblassen.185

Nicht die heroischen Heiligen scheint ein (Ost)Deutscher 1997 zu brauchen, sondern – zu diesem Schluss verleitet zumindest Kunerts Nachruf „Dichter zweier Herren“ – Schicksalsgenossen, denen auch manche Fehler unterlaufen sind. Die Debatte um Hermlin geht in eine Diskussion über die conditio humana (schließlich auch der neuen Bundesbürger) über. Den medialen Streit um Corinos Enthüllungen interpretiert auch Henryk Broder im Kontext der Abrechnung mit der DDR, allerdings aus der Position eines (West-)Außenbeobachters in einem viel schärferen Ton als Günter Kunert. Worum geht es im Falle Hermlin, den einige zu einem Fall Corino umdeklarieren möchten? Um die Demontage eines Denkmals? Mitnichten, denn da gibt es nicht mehr viel zu demontieren. Was übrigblieb, könnte auf dem Rücksitz eines Trabi bequem Platz nehmen. Es geht um ein Stück DDR-„Kultur“ oder „Identität“, an das sich viele Ex-DDR-Bürger gewöhnt haben und das auch im Westen der Republik seine Anhänger hat. Es geht darum, daß im real existierenden Sozialismus eigentlich nichts real war. Die Parteien spielten Demokratie, die Volkskammer spielte Parlament, die Justiz spielte Rechtsstaat; die Gesellschaft für die Deutsch-Sowjetische Freundschaft führte eine Posse auf; die Regierung simulierte Kompetenz, die Gewerkschaften täuschten Klassenkampf vor; […] und der Antifaschismus hatte Konjunktur, obwohl es doch keine Faschisten mehr gab.186

Hermlin wird zum Repräsentanten erklärt und seine Geschichte als ein Modelfall einer DDR-Lüge uminterpretiert. Vernichtet wird damit nicht nur Hermlins Denkmal. Mit ihm werden auch die Überreste des Mythos vom ‚besseren‘ Deutschland – für die neuen Bundesbürger eines der identitätsstiftenden Objekte – entsorgt. Dass die westund ostdeutsche Interpretationslinie nicht deckungsgleich ist, darf niemanden verwundern. Der Fall veranschaulicht die soziale Relevanz der in literarischen Texten konstruierten Selbstbiographien. Sie erscheinen nicht nur als Übermittler von Informationen und Haltungen eines Autors. Durch die Veröffentlichung entwirft der Autobiograph „eine globale Bedeutsamkeit seiner Erzählung“,187 er wird zum Repräsentanten eines Schicksals. Seine Geschichte erscheint als Identitätsangebot. Mit Hermlins Version der jüngsten Geschichte identifizierten sich viele ehemalige DDR-Bürger. Der Angriff auf ihr Idol wird persönlich genommen und verursacht Abwehrmechanismen. 184 Günter Kunert: Dichter zweier Herren. Zum Tode von Stephan Hermlin. In: Der Spiegel 16 (1997), S. 223, URL: https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/8694897 (letzter Zugriff: 14.11.2019). 185 Kunert: Dichter zweier Herren, S. 223. 186 Broder: Im Dickicht der Lügen, S. 199. 187 Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 305.

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 4 Selbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893–1916)

Diskutiert wird nicht mehr über Hermlin, sondern über die eigene Haltung. Auch die westdeutsche Seite rechnet nicht nur mit einem DDR-Schriftsteller ab, sondern mit einem Kollektiv, das hinter der Symbolgestalt steht.

4.4 Biographische Selbstkonstruktion einer Generation? Aus der Analyse des Werdegangs von Stefan Heym, Erwin Strittmatter und Stephan Hermlin lässt sich eindeutig der gemeinsame Erfahrungshintergrund dingfest machen, den sie ihrem Geburtsort und dem Zeitpunkt ihrer Geburt zu verdanken haben. Alle erlebten die Zeit der Weimarer Republik als Kinder. Als Adoleszente wurden sie zu Zeugen der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Sie waren imstande die politische Entwicklung in Deutschland der 1930er und 1940er Jahre bewusst wahrzunehmen und die Entscheidung zu treffen, auf welcher der Seiten sie Stellung beziehen. Sie alle drei scheinen einen besonderen Wert auf eine kohärente biographische Konstruktion – den Bedürfnissen der sozialistischen Gesellschaft angepasst – zu legen, um deren willen sie zu manchen Korrekturen – sei es in Form des Verschweigens, sei es als Schönfärberei – greifen. Auch wenn das geistige Klima, in dem die Texte entstehen, sowohl bei Heym und Hermlin wie auch bei Strittmatter erkennbar ist, sind gewisse Unterschiede kaum zu übersehen. Während die Lebenserzählungen Heyms und Hermlins viele Gemeinsamkeiten aufweisen, weicht die Positionierung Strittmatters in einigen Punkten von dem Bild der Generation der Misstrauischen Patriarchen ab. Stefan Heym und Stephan Hermlin konstruieren die vorbildhafte Biographie eines kommunistischen Widerstandskämpfers, die sich dem gesellschaftlich akzeptierten Erzählmuster fügt. Hermlin passt dabei gewisse Episoden seiner Vita den Bedürfnissen der jungen Republik an, wodurch auch er zu einem der legendären deutschen Antifaschisten, Gründerväter des ‚besseren‘ Deutschland wird. Beiden Schriftstellern ist die Erfahrung der Besonderheit und Isoliertheit zu eigen, die von Thomas Ahbe und Rainer Gries zum Markenzeichen der DDR-Gründergeneration erklärt wird. Als mutige, scharfsinnige Antifaschisten kämpfen sie – oder auch ihre literarischen Gestalten, missverständlicherweise mit dem Autor gleichgesetzt – allein gegen die Masse der Verblendeten. In dieser Lebenserzählung fehlt wohl keine Episode, der die Generation der Misstrauischen Patriarchen ihren Geltungsanspruch zu verdanken hat. Als Schlüsselerlebnis wird die Zeit des Nationalsozialismus dargestellt, die sie zum Kampf auf der Seite der Unterdrückten bewegt und sich der kommunistischen Bewegung bereits in der Jugendzeit anschließen lässt. Der Glaube an ihre Ideale verlangt Opfer, die in Form der Emigration und des Kampfes gegen den faschistischen Feind erbracht werden. Beide Autoren konstruieren eine Vita voll heldenhafter Taten. Sie formen die Wirklichkeit mit und stehen von Anfang an unmissverständlich auf der Seite der ‚Sieger‘ der Geschichte – zumindest aus der DDR-Sicht.

4.4 Biographische Selbstkonstruktion einer Generation? 

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Erwin Strittmatters Haltung im Zweiten Weltkrieg – wie die späteren Recherchen nachgewiesen haben – war vom Ideal des antifaschistischen Kampfes weit entfernt. Als Angehöriger des SS-Polizei-Gebirgs-Jäger-Regiments konnte er seinen offiziellen Lebenslauf schwer in die Geschichte eines Widerstandskämpfers umdeuten. In seinen autobiographischen Texten scheint er seine Rolle als Soldat herunterzuspielen, indem er dieses Thema verschweigt. Er stilisiert sich eher zum Objekt der Geschichte, während Heym und Hermlin in ihren Selbstzeugnissen als handelnde Akteure auftreten. Da die Mehrheit (auch) der DDR-Bürger ihre Vergangenheit hinter einem Vorhang des Schweigens versteckt, schafft der Schriftsteller mit seinen Heimatgeschichten ein Identitätsangebot, auf das – wenn man die hohen Auflagen berücksichtigt – wohl viele eingegangen sind. Im Band Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000 verweist Werner Mittenzwei – selbst langjähriges Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Künste in der DDR188 – auf die unterschiedlichen Positionen Hermlins und Strittmatters im Literaturbetrieb und die divergente Rezeption ihrer Werke. Als Schriftsteller wurden er [Strittmatter – K.N.] und Hermlin vom Publikum unterschiedlich wahrgenommen. Obwohl Strittmatter drei Jahre älter als Hermlin war, galt Letzterer als der Dichter, der die Vergangenheit, Faschismus und Emigration, mit dem Neuanfang verband, während Strittmatter mehr der jungen Aufbau-Generation zugezählt wurde, den Neubeginnern. Er, der das Leben der DDR so authentisch in seinen Werken festgehalten hatte, zog sich relativ früh aus dem politischen Leben und dem Literaturbetrieb zurück. Wäre nicht der ständige Kontakt zu seinen Lesern gewesen, könnte man ihn als einen inneren Emigranten bezeichnen, der zuletzt nicht viel von ideologischen Bindungen hielt, selbst wenn sie noch so gut gedacht waren.189

Auf den ersten Blick klingt es überraschend, wenn der mit dem literarischen Markt der DDR vertraute Literaturwissenschaftler behauptet, Strittmatter sei eher als Angehöriger der Aufbau-Generation wahrgenommen worden denn als einer der Gründerväter des neuen Staatsgebildes. Zu bedenken wäre hier, ob der Eindruck nicht der Strategie Strittmatters zu verdanken ist, mit der er versucht, seine Position im sozialistischen Land trotz Verleumdungen zu begründen. So beruft er sich selten auf die Vergangenheit, aber nicht aus den gleichen Gründen wie es Autoren der AufbauGeneration taten. Im Gegensatz zu Strittmatter hatten die jüngeren Schriftsteller so gut wie keine Chance, zu antifaschistischen Widerstandskämpfern zu werden, weil sie erst in den späten 1920er und 1930er Jahren geboren wurden.190 Nur die Ältesten mussten als Soldaten am Krieg teilnehmen. Die Mehrheit unterstützte den NS-Staat als Mitglieder der Kinder- und Jugendorganisationen. Ihre Wahlmöglichkeiten waren

188 Vgl. Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945 bis 2000. Berlin 2003, S. 2. 189 Mittenzwei: Die Intellektuellen, S. 474–475. 190 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 502. Näheres zur Aufbau-Generation im Kapitel 5.

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durch die Kontrolle der Erwachsenen – sei es im Elternhaus, sei es in den nationalsozialistisch gesinnten Bildungsanstalten – eindeutig eingeschränkt. Mit dem Bekenntnis zur sozialistischen Gegenwart greift Strittmatter aber zu einem Narrativ, das den Erzählungen der jüngeren Generation ähnelt und den Autor im gewissen Sinne der Verantwortung entbindet. Einige Gemeinsamkeiten liegen tatsächlich auf der Hand. Beiden Seiten eröffnet das Bekenntnis zum Sozialismus Karrieremöglichkeiten. Das Jahr 1945 bedeutet für sie einen Einschnitt – für den dreiunddreißigjährigen ExSoldaten einen Neuanfang, für die Jüngeren (die Fünfzehn- bis Neuzehnjährigen) den Anfang des erwachsenen Lebens. Es ist auch im Mannheimschen Sinne das Schlüsselerlebnis für die Aufbau-Generation,191 deren Angehörige „vor den Trümmern ihrer jugendlichen Träume und ihres vielfach nationalsozialistisch getränkten Weltbildes“192 stehen. Mit dem Zusammenbruch des Dritten Reichs verliert Strittmatter weder eine heile Welt der Kindheit, noch muss er Hunger und Not als Folge des von der Elterngeneration verschuldeten Krieges leiden. An diesem Punkt kommt wiederum die ‚Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen‘ im Sinne Pinders zum Vorschein. Nicht nur das Jahr 1945 wird von Strittmatter und den Angehörigen der Aufbau-Generation in ihren Erfahrungsraum unterschiedlich aufgenommen und mit anderer Bedeutung versehen. In den literarischen Selbstkonstruktionen nennt Strittmatter Daten und Fakten, die dennoch Ähnlichkeiten mit den Misstrauischen Patriarchen aufweisen. Eine besondere Bedeutung kommt in den autobiographischen Erzählungen der Misstrauischen Patriarchen dem Ursprung der kommunistischen Bewegung zu. Stephan Hermlin beschränkt sich in seiner ,Wunschbiographie‘ ausschließlich auf die Darstellung der Kindheit in der Weimarer Republik, den antifaschistischen Widerstand und die Emigration. Heym räumt diesem Zeitraum ebenfalls weite Partien seiner Autobiographie ein, wohingegen einige Episoden der DDRGeschichte nur in spärlichen Kommentaren angesprochen werden. Auch wenn Strittmatter seinen weniger heldenhaften Lebensweg verschweigt, scheint er sich an dem generationsspezifischen Leitbild zu orientieren, gegen das er zumindest nicht verstoßen will, auch wenn er sich ihm nicht uneingeschränkt unterordnen kann. Die Arbeit am Gründungsmythos der Generation (wie auch des von ihr gegründeten Staates) wird zur Aufgabe, die die besprochenen Autoren – mit welchen Mitteln auch immer – zu übernehmen scheinen, auch wenn sie kein eindeutiges Manifest im Namen eines Kollektiv formulieren. Alle vereint der Glaube an das sozialistische Ideal, dem sie auch ihre Schriftstellerarbeit unterordnen. Die gesellschaftliche Wirkung der Literatur steht für sie außer Frage. Als Schriftsteller übernehmen sie Verantwortung und setzen sich zum Ziel, die deutschen Leser zu beeinflussen. Besonders im Falle Hermlins und Heyms wird das Engagement zur Lebensphilosophie. Strittmatter, obgleich weniger politisch, steht jener Realität nahe, die er

191 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 504. 192 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 504.

4.4 Biographische Selbstkonstruktion einer Generation? 

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seinen Leserinnen und Lesern im Glauben an die heilende Rolle der Literatur vermitteln will. Das Schreiben wird zur moralischen Anstalt. Da die Geschichten Heyms und Strittmatters über das Ende des Krieges hinausgehen, lassen sich weitere Generationsobjekte – Personen und Ereignisse – rekonstruieren. Zum Schlüsselerlebnis in der DDR-Geschichte können die Ereignisse des 17. Juni 1953 angesehen werden, die bei Heym und Strittmatter zur Desillusionierung führen. Für Heym wird der Aufstand zu einem traumatischen Ereignis und die literarische Verarbeitung beinahe zur Lebensaufgabe. Das Datum bedeutet eine bittere Enttäuschung, die sich aus der Kluft zwischen dem Idealbild des Sozialismus und seiner Entstellung ergibt. Die hoffnungsvollen Erwartungen der Anfangsphase werden endgültig zerstört. In diesem Kontext ist auch die Gestalt Josef Stalins zu verorten. Der charismatische ,Sohn der Mutter Gori‘, der in der Anfangsphase zum sozialistischen Idol wurde, ist für den zweiten Riss verantwortlich. Auch wenn viele DDR-Intellektuelle große Hoffnungen mit ihm verbanden, weil ihm der Sieg über Hitler zugeschrieben wurde, nahmen sie spätestens mit den Enthüllungen seiner Verbrechen und mit dem Einblick in die Praxis der Stalinisten in der DDR Abschied von dem verklärten Bild des Sozialismus stalinistischer Prägung. Nach der Aufbruchsstimmung erreichen Ernüchterung und eine vom Misstrauen genährte Distanz auch den sozialistischen Propheten. Heym und Strittmatter beziehen sich in ihren Erinnerungen auf eine Reihe historischer Ereignisse, deren Zeugen sie sind. So werden sowohl der Mauerbau als auch die Ausbürgerung Biermanns registriert, wobei sie zwar als relevant, aber nicht als Zentralereignisse in den eigenen Erfahrungsraum eingeordnet werden. Für die Identität der Misstrauischen Patriarchen sind sie nicht mehr signifikant. Aus der Perspektive der Gründergeneration werden sie eher als Einschnitt in der Biographie der jüngeren Autoren interpretiert. Auf die Stimmung des Tauwetters kommen sie kaum zu sprechen. Der Mauerfall und die Vereinigung kommen nur in den Aufzeichnungen Strittmatters zum Vorschein, wobei auch diese Ereignisse als Randerscheinungen angesprochen werden, die die äußeren Bedingungen seines Lebens zwar verändern, ohne seine Grundkonstitution zu erschüttern. Die Mannheimsche These von der Bedeutung der frühesten Erlebnisse von Heranwachsenden als prägende Faktoren scheint im Falle der autobiographischen Texte von Heym, Hermlin und Strittmatter bestätigt zu werden, was nicht heißt, dass Späterlebnisse frühere Erfahrungen nicht korrigieren können. Weder die Erschütterungen der DDR-Geschichte noch der Mauerfall stellen aber ihre personelle wie kollektive Identität in Frage. Die extremen Erlebnisse der Kindheit und Jugend, die in ihrer Schärfe kaum zu überbieten sind, scheinen sich am stärksten in das Bewusstsein niedergeschlagen zu haben.

5 Im Gleichklang mit dem Lebensrhythmus der DDR. Die Aufbau-Generation (1925–1935) Der nächste Generationszusammenhang in dem DDR-Generationsgefüge wird als „Aufbau-Generation“ überschrieben. Den Begriff verwendet etwa Bernd Lindner in seinem Beitrag „Bau auf, Freie Deutsche Jugend“. Die Doppeldeutigkeit der Bezeichnung ist auffallend. Einerseits wird damit auf die Aufbauphase in der Geschichte der Deutschen Demokratische Republik verwiesen, andererseits kommt die Rolle der Generation zum Vorschein, die sie in den Strukturen des neu gegründeten Staatsgebildes zu übernehmen vermochte. Die Bezeichnung übernehmen auch Thomas Ahbe und Rainer Gries mit einem expliziten Verweis auf die Vorgängerarbeiten,1 verstehen unter diesem Begriff – etwas anders als viele Forscher2 – die in den späten 1920er und der Mitte der 1930er Jahre Geborenen. Tatsächlich deckt sich der Lebenslauf der Aufbau-Generation mit der Entwicklungslinie der DDR-Geschichte. „Die Aufbau-Generation ist von allen Generationen die am engsten mit der DDR verbundene: Der Takt dieser Generation befand sich mit dem Rhythmus der DDR in einem überraschenden Gleichklang“, konstatieren Ahbe und Gries im Beitrag „Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte“.3 „Die Lebenskurve keiner anderen Generation ist so eng mit der Lebenskurve der DDR, ihrem Aufbau, Aufstieg, ihrer Stabilisierung, Etablierung und ihrem Niedergang verquickt.“4 Es handelt sich um eine gut profilierte Generationseinheit im Sinne Karl Mannheims,5 der deshalb besondere Bedeutung zukommt, weil sie „eine tragende Funktion in der DDR annahm“.6 Die Kindheitsphase der Aufbau-Generation fällt in die Friedensjahre des Dritten Reichs.7 Soweit es sich nicht um die Angehörigen der verfolgten Gruppen wie etwa Bürger jüdischer Abstammung handelte, verbrachten sie ihre frühen Jahre in Frieden und Wohlstand.8 In den stabilen Verhältnissen verfielen viele von ihnen dem Reiz der 1 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 502. 2 Lindner versteht unter dieser Gruppe die um die 1930er und 1940er Geborenen, während bei Ahbe und Gries die 1940er-Kohorte dem nächsten Generationszusammenhang zugerechnet wird. (Vgl. Bernd Lindner: „Bau auf, Freie Deutsche Jugend“, S. 201). Der Unterschied mag auch am Zeitpunkt der Veröffentlichung liegen. Lindner verweist in seinem Beitrag aus dem Jahre 2003 auf die Notwenigkeit eines interdisziplinären Blicks, der den sozialwissenschaftlichen mit dem geschichtswissenschaftlichen Ansatz verknüpft. Ahbe und Gries scheinen mit ihrem Projekt das Forschungsdesiderat auszugleichen. 3 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 516. 4 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 503. 5 Vgl. Silke Satjukow/Rainer Gries: Grenzüberschreitungen. Die ostdeutsche Aufbaugeneration im Widerstreit zwischen Freund- und Feindbildern. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 4 (2005), S. 49. Auch Mary Fulbrook charakterisiert die „Aufbaugeneration“ als eine der Generationen, „die sich wirklich ihrer selbst bewusst waren und klar definierbar sind“. – Fulbrook: Generationen und Kohorten in der DDR, S. 122. 6 Satjukow/Gries: Grenzüberschreitungen, S. 49. 7 Vgl. Satjukow/Gries: Grenzüberschreitungen, S. 49. 8 Vgl. Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR und in Ostdeutschland, S. 24. https://doi.org/10.1515/9783110710793-005

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 5 Im Gleichklang mit dem Lebensrhythmus der DDR. Die Aufbau-Generation (1925–1935)

nationalsozialistischen Jugendorganisationen, die der Abenteuerlust mancher Adoleszenten wohl entsprechen mochten. Im fortgeschrittenen Kindes- und im Jugendalter kamen ihnen die Angebote und Zumutungen der nationalsozialistischen Organisationen zum Teil sogar entgegen. Sie entsprachen dem kindlichen und jugendlichen Weltverständnis, der Sehnsucht nach Abenteuer, Aufbruch und Gemeinschaft, der Faszination an Technik und auch dem Streben, sich in altersgemäß verantwortlichen Führungspositionen zu bewähren. Ein großer Teil dieser Jugendgeneration folgte der großdeutschen Rhetorik, war in die nationalsozialistischen Rituale eingebunden und „glaubte“ wie selbstverständlich an „Führer, Volk und Vaterland“. Man lernte, sich für das „Große Ganze“ einzusetzen und unterzuordnen, sich zu uniformieren und zu formieren.9

Die jüngsten Jahrgänge gehörten ausschließlich der HJ bzw. dem BDM,10 während die männlichen Jahrgänge 1926 bis 1928 als Soldaten ihre Erfahrungen mit dem Krieg sammelten, als sie 1943 als Marine- und Flakhelfer eingezogen wurden.11 Wie stark die Angehörigen der Aufbau-Generation von den nationalsozialistischen Erziehungsanstalten geprägt wurden, skizziert bereits im Jahre 1938 Erika Mann in ihrem Text über „Erziehung der Jugend im Dritten Reich“, allerdings ohne auf das Generationenkonzept zu sprechen zu kommen. Das breit rezipierte Buch veranschaulicht die Folgen des Heranwachsens im Nazi-Regime, indem es von der Erfahrungswelt des Kindes ausgeht und es auf treffende Weise mit dem Horizont der Erwachsenen vergleicht: Das Leben aller Menschen in Deutschland hat sich wesentlich geändert, seit Adolf Hitler dort Reichskanzler wurde. […] Keine Menschengruppe […] wurde so sehr, so entscheidend erfaßt von den Wandlungen, welche die Nazi-Diktatur im Leben ihrer Untertanen vornahm, wie die Kinder. Denn während der erwachsene Deutsche zwar erstens Nationalsozialist zu sein hat, zweitens aber doch vorläufig noch Ladenbesitzer oder Fabrikant sein mag […], ist das deutsche Kind schon heute ein Nazi-Kind und nichts weiter. Die Schule, die es besucht, ist eine Nazi-Schule, die Jugendorganisation, der es angehört, ist eine Nazi-Organisation, die Filme, zu denen man es zuläßt, sind Nazi-Filme, und sein Leben gehört ohne Vorbehalt dem Nazistaat. Mögen die Privatund Einzelinteressen der Erwachsenen in bescheidenstem Ausmaß weiterbestehen, – mag ihr Wissen um eine Welt außerhalb der Landesgrenzen, in der alles so anders aussieht als in Hitlers Kopf, nicht ganz beseitigt worden sein, – die Jugend kennt keine Privatinteressen mehr, und sie weiß nichts von einer anders und besser regierten Umwelt.12

9 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 503. 10 Dass das Problem „Geschlecht“ in der Generationenforschung zu kurz kommt, fällt auch in der ansonsten sehr vielfältigen und mehrdimensionalen Studie Ahbes und Gries‘ auf. So werden nur die Hitlerjugend im Allgemeinen (ohne die Unterscheidung des weiblichen Zweigs der Hitlerjugend, nämlich des BDMs) und der Soldatendienst erwähnt, was nur im Falle der männlichen Subjekte in Frage kommt. Mädchen und junge Frauen wurden im nationalsozialistischen Bildungssystem ebenfalls berücksichtigt. Zu untersuchen wäre, welche Rolle ihnen zugeschrieben wurde und was für einen Einfluss das früh erworbene Frauenbild auf das Selbstverständnis der weiblichen Subjekte in der DDR hatte. 11 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 504. 12 Erika Mann: Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich. München 1986,

5 Im Gleichklang mit dem Lebensrhythmus der DDR. Die Aufbau-Generation (1925–1935) 

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Die frühen Prägungen sind einem diktatorischen System zu verdanken. Der Aufstieg der Jugendlichen bzw. der jungen Erwachsenen verläuft im Rahmen eines anderen diktatorischen Systems, dem sie sich genauso unterzuordnen haben. Wie unterschiedlich die einzelnen Lebensläufe und Lebensentscheidungen auch sein mögen, ist den Angehörigen dieser Generation eine Geste der Unterordnung gemeinsam, die ihnen in ihren Prägejahren anerzogen wurde.13 Die heile Welt der Kindheit und der Jugend findet ihr abruptes Ende mit der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands, worin Ahbe und Gries das Schlüsselerlebnis der Aufbau-Generation – im Mannheimschen Sinne – erblicken.14 Die Aufbau-Generation lernt erst jetzt Hunger und Not kennen, die sie dem von der Elterngeneration aufgebauten verbrecherischen System zu verdanken hat. Die Grundlagen ihrer Welt wurden zerstört, und zwar im materiellen – mit den Luftangriffen

S. 18. Die Erstausgabe erschien im Jahre 1938 unter dem Titel School for Barbarians. Education under the Nazis. Im gleichen Jahr erschien auch die deutsche Erstausgabe (vgl. S. 4). Die Jugenderziehung im Dritten Reich fußt auf drei Säulen, die Erika Mann in ihrem Buch in separaten Kapiteln behandelt, nämlich Familie, Schule und Jugendorganisationen. Obwohl der Text selbst mittlerweile als ein historisches Dokument gelten kann, darf den Beobachtungen der Verfasserin Scharfsinn nicht abgesprochen werden. Die Mechanismen der geistigen Vereinnahmung und der Erziehung zum Gehorsam werden hier – trotz der mangelnden zeitlichen Distanz und des emotionalen Engagements der Autorin – durchaus treffend dargestellt. Die pädagogischen Maßnahmen nationalsozialistischer Provenienz sind bis heute Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. So charakterisiert der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Keim – um nur einen der Forscher als Beispiel zu nennen – das System wie folgt: „Mit Erziehungs- und Bildungsvorstellungen, die von kindlichem und jugendlichem Eigenrecht ausgehen, haben solche Beschreibungen nichts zu tun. In der Tat passen als Bezeichnung dafür eher ,Formierung‘, ‚Prägung‘, ‚Züchtung‘, ‚Zurichtung‘ oder ,Verhaltensregulierung‘; […] [Es] wurden im Rahmen ständig kontrollierter Organisationen und Institutionen permanent fremdbestimmter jugendlicher Enthusiasmus und totale Einsatzbereitschaft produziert, und zwar auf die aus der NSIdeologie resultierenden Zielvorstellungen hin, zu denen schon früh ‚Krieg‘ an zentraler Stelle gehörte.“ (Wolfgang Keim: Erziehung unter der Nazi-Diktatur. Antidemokratische Potentiale, Machtantritt und Machtdurchsetzung. Darmstadt 1997, S. 19). 13 Satjukow und Gries verweisen ähnlich wie Erika Mann auf den Erfahrungshorizont eines im NaziRegime großgezogenen Kindes, das nach dem Kriege nicht auf Erfahrungen „davor“ rekurrieren kann. Es hatte keine Vergleichsfolie. „[I]m Gegensatz zu den Älteren konnte gerade diese Generation in der existentiellen Herausforderung der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht auf ein vornazistisches Set von Werten und Normen zurückgreifen. So waren sie wie keine andere Generation eine Generation der Losigkeit, die sich ‚vaterlos, sprachlos und geschichtslos‘, ebenso orientierungslos wie hoffnungslos einen Weg suchen mußte.“ (Satjukow/Gries: Grenzüberschreitungen, S. 50). So hatten auch diejenigen, die sich entschieden haben, in dem sozialistischen Deutschland zu bleiben und das Angebot der Patriarchen anzunehmen, „einen gewaltigen Spagat zu bewältigen, um im Gedanken- und Gefühlskosmos des Arbeiter-und-Bauern-Staates in statu nascendi anzukommen.“ (S. 51) Das bezieht sich auch auf eine Wandlung der Freund- und Feindvorstellungen. Die im nationalsozialistischen Erziehungssystem als Feind Bezeichneten werden im sozialistischen Land zu Freunden und umgekehrt. Auf diesen „doppelten Umwidmungsprozeß“ (S. 53) kommen Satjukow und Gries in ihrem Beitrag explizit zu sprechen. 14 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 504.

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auf ihre Heimatstädte – wie im symbolischen Sinne – mit dem Abbau des gesamten Gesellschaftssystems, des einzigen, das sie kannten. „Sie fanden sich nicht nur in den Ruinenlandschaften der Nachkriegsstädte wieder, sondern auch in der Trümmerlandschaft ihrer jugendlichen Träume und ihres nationalsozialistisch durchtränkten Weltbildes.“15 In dieser psychologisch äußerst schwierigen Situation konnten sie sich nicht auf die in dieser Lebensphase ansonsten sehr wichtige Instanz des Elternhauses verlassen. Intakte Familien waren eine Ausnahme „Die Integrität der Familien war prekär und die Stabilität der Familien war fragil,“16 fügen Ahbe und Gries hinzu. Die Frauen waren damit beschäftigt, den Alltag zu meistern, wobei sie nicht selten die im Krieg gefallenen oder in der Gefangenschaft verbliebenen Männer zu ersetzen hatten. Die Desorientierung entzog den Eltern den Rang einer Instanz, bei der Kinder Rat und Zuflucht hätten suchen können. Der Zusammenbruch der alten Weltordnung traf im Falle der in den 1920er und 1930er Jahren Geborenen mit einer Entwicklungsphase zusammen, in der junge Leute typischerweise nach neuen Orientierungen suchen. Der symbolische Neuanfang kam ihrer psychologischen Konstitution sehr gut entgegen. Und dass sie die Schule des ‚blinden Gehorsams‘ durchgemacht haben, waren sie für die Generation der Misstrauischen Patriarchen gutes Material, das sich nach den Bedürfnissen der neuen Stunde beliebig formen ließ. Die Generation der mißtrauischen Patriarchen machte diesen Jahrgängen ein Angebot: Wenn sie sich zum Sozialismus und zum Antifaschismus bekannten und sich entsprechend integrierten, würden ihnen im Arbeiter-und-Bauern-Staat eine „gesicherte Zukunft“, ein vor allem über Bildung vermittelter sozialer Aufstieg garantiert.17

Die Elite der Widerstandskämpfer konnte das Angebot schwer ihren Altersgenossen machen, die den nationalsozialistischen Staat – durch unmittelbares Engagement oder auch eine passive Duldung der verbrecherischen Praktiken – hatten aufbauen helfen. Zahlenmäßig waren sie jedoch eine zu kleine Gruppe, um den neuen, unbelasteten Staat im Geiste des Sozialismus alleine tragen zu können. Helfer waren willkommen. Und diese erblickten die Altkommunisten in den Scharen der Jugend, die zwar mit dem nationalsozialistischen Geist infiziert wurde, aber jung genug war, um sich entsprechend umstimmen zu lassen. Konstant blieb allerdings bis zu den letzten Jahren der DDR der hierarchische Aufbau. Die Entscheidungen lagen bei den Patriarchen. Die Angehörigen der Aufbau-Generation wurden zu Helfern, denen ausschließlich die mittleren Leitungsschichten überlassen wurden.18 Auch wenn sich die Jüngeren im Laufe der Zeit innerlich empören konnten, wird bei ihnen kein deutlicher 15 Satjukow/Gries: Grenzüberschreitungen, S. 50. 16 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 505. 17 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 506. 18 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 506.

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Widerstand gegen die Regeln der Patriarchen erkennbar, was auf ihre Selbstwahrnehmung als moralisch doch nicht ganz einwandfrei zurückzuführen ist. Die Zurückhaltung wird Ahbe und Gries zufolge zur Kennmarke dieser Generation: Den jungen Aufsteigern war bewußt, daß weder sie selbst, noch ihre Eltern sich gegen den Nationalsozialismus engagiert hatten. Die durch die Erfahrung des Zusammenbruches, durch Aufklärung und am sozialistischen Offizialdiskurs orientierte Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen hatte sie zwar für deren Ausmaß sensibilisiert, aber zugleich auch den eigenen geringen moralischen Kredit bloßgelegt. Gegenüber den Kämpfern gegen den Nationalsozialismus, den Emigranten, gewissermaßen gegenüber der gesamten Patriarchen-Generation […] befanden sie sich in einer Position moralischer Inferiorität. Sie empfanden gewissermaßen eine Bringe-Schuld, die sowohl Unterordnung wie auch große Anstrengungen im Interesse des Aufbaues der neuen Ordnung förderte.19

Paradoxerweise machte die Aufklärung über die eine Diktatur die Angehörigen der Aufbau-Generation der anderen Diktatur verfügbar. Die Anerkennung der eigenen Schuld stand jedem Protest im Wege, der die Verhältnisse in dem Arbeiter-undBauern-Staat grundlegend und im Sinne der Jungen hätte verändern können. Im Glauben an die Versprechen der Patriarchen nahmen die Jüngeren die Last des Wiederaufbaus auf sich. Die Verheißungen der älteren Generation wurden in die Form eines präzise ausformulierten Plans gefasst, was ihnen bei den ‚adoptierten Kindern‘ Gehör verschaffte. Das Versprechen lautete, bis 1961 werde der Westen wirtschaftlich überholt; bis 1965 sei der Sozialismus verwirklicht; im Zeitraum 1980 bis 2000 erwarte man die Verbreitung des Kommunismus im westlichen Teil Deutschlands wie in anderen europäischen Ländern.20 Diese Zuversicht geriet jedoch langsam ins Wanken. Die erste Erschütterung erfolgte für die Aufbau-Generation allerdings nicht mit dem Arbeiter-und-Bauern-Aufstand, sondern erst mit dem Mauerbau im Jahre 1961, dem in intellektuellen Kreisen die Ereignisse des Jahres 1965 und schließlich auch 1976 folgten. Vom Mauerbau war die Aufbau-Generation am stärksten betroffen. Die offene Grenze gab den jungen, oft gut ausgebildeten DDR-Bürgern die Möglichkeit, ihr Leben westlich der Elbe aufzubauen, was nicht wenige von ihnen in Erwägung zogen. Etliche entschieden sich dann auch tatsächlich, aus dem DDR-Leben auszusteigen und in den Westen zu fliehen.21 Mit der Schließung der Grenze verschloss der Staat den Gebliebenen die Wahlmöglichkeiten, was oft als schmerzhaft empfunden wurde. Nun musste ein Leben neu, d.h. aus der Alternativlosigkeit heraus gemeistert werden.

19 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 507–508. 20 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 507–508. 21 Vgl. Bernd Lindner: „Bau auf, Freie Deutsche Jugend“, S. 203. In Anlehnung an den Fischer Weltalmanach. Sonderband DDR (Frankfurt a.M. 1990) nennt Lindner 2,7 Millionen Menschen, die die DDR in dem Zeitraum 1949 bis zum 13. August 1961 verließen (vgl. S. 204).

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Mit dem Mauerbau […] – erklären Thomas Ahbe und Rainer Gries – verwandelte sich die ambivalente oder offengehaltene Entscheidung für eine Lebensperspektive im Sozialismus in einen unhinterfragbaren Tatbestand, der nicht mehr individuell zu entscheiden war. Fortan war die Aufbau-Generation noch fester an die DDR gebunden.22

Bei der Mehrheit der behandelten Kohorten verursachte der Mauerbau eine verstärkte Verankerung im System. Im Endeffekt haben wir es im Falle der Aufbau-Generation mit zwei Haltungen zu tun, und zwar mit den „dezidierten Sozialisten“ und den „mehr oder weniger unpolitischen Konformisten“.23 Die Systemgegner hatten das Land vorher verlassen. Lindner zufolge seien über zwei Drittel der Aufbau-Generation „als mit dem Sozialismus ,Arrangierte‘ einzustufen“.24 Der Mauerbau setzte eine Phase der Reformen in Gang, so dass bei den Angehörigen der Aufbau-Generation die Erneuerungshoffnung wachgerufen wurden,25 aus der Not eine Tugend zu machen. Der Wende-Punkt ihres hoffnungsvollen Engagements – zumindest im Falle der Intellektuellen – kann auf den 15. bis 18. Dezember 1965 zurückdatiert werden. Das 11. Plenum des ZK der SED – als „Kahlschlagplenum“ bezeichnet – bedeutete eine Umorientierung.26 Das Klima fasst die 1933 geborene Brigitte Reimann zusammen: Die Katze ist aus dem Sack: die Schriftsteller sind schuld an der sittlichen Verrohung der Jugend. Destruktive Kunstwerke, brutale Darstellungen, westlicher Einfluß, Sexualorgien, weiß der Teufel was – und natürlich die böse Lust am Zweifeln. Die Schriftsteller stehen meckernd abseits, während unsere braven Werktätigen den Sozialismus aufbauen.27

Abgesehen von Christa Wolf widersprach zwar kaum ein Autor dem offiziellen Parteikurs öffentlich,28 die meisten schienen aber begriffen zu haben, dass sie den Legitimationskampf verloren hatten und sich mit ihren Visionen nicht durchsetzen würden. Das Psychogramm der Aufbau-Generation im Jahre 1965 zeichnet Wolfgang Engler wie folgt: Die Jungen hatten die Schlacht verloren, und sie wußten es. Sie blieben ihrer alten Überzeugung in gewisser Weise treu, aber das Zutrauen in ihre gemeinsame Kraft war dahin. Sie kämpften noch immer gegen die Karrieristen, fast noch erbitterter sogar, weil diese das Rennen gemacht hatten; aber sie selbst verstanden sich nicht länger als Neuerer, als Pioniere. Lose verbundene Einzelkämpfer, die sie nunmehr waren, deuteten sie ihr Los und ihre Rolle in moralischen statt wie früher in politischen Kategorien. Sie begriffen sich als Ethiker.29

22 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 509. 23 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 517. 24 Bernd Lindner: „Bau auf, Freie Deutsche Jugend“, S. 204. 25 Vgl. Engler: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenem Land, S. 126. 26 Vgl. Michael Opitz: 11. Plenum des ZK der SED 1965. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur, hg. von Michael Opitz/Michael Hofmann. Stuttgart/Weimar 2009, S. 87. 27 Brigitte Reimann: Alles schmeckt nach Abschied, zit. nach: Opitz: 11. Plenum des ZK der SED 1965, S. 87. 28 Vgl. Opitz: 11. Plenum des ZK der SED 1965, S. 88. 29 Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, S. 135.

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Die Identifikation mit der DDR vollzog sich nicht mehr auf der politischen Ebene, sondern wurde in den Alltag verlagert. Rebellisch wurde die Aufbau-Generation allerdings immer noch nicht.30 Zu einem offen ausgetragenen Konflikt, der erneut die Frage nach dem Verhältnis zwischen Geist und Macht aufrollte, kam es im Jahre 1976. Allerdings handelt sich um einen Sachverhalt, der als Einschnitt nicht nur im Leben der Aufbau-Generation wahrzunehmen ist. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns31 löste heftige Reaktionen innerhalb verschiedener Altersgruppen aus. Prominente Künstler erhoben sich gegen die Macht der Funktionäre, indem sie Protestaktionen organisierten. Der stärkste Akzent war dabei eine Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, die von Stephan Hermlin – einem der Misstrauischen Patriarchen – initiiert wurde, unterzeichnet zuerst von 12 Autorinnen und Autoren,32 von denen die meisten der Aufbau-Generation entstammen. Die Protesterklärung wandte sich aber nicht gegen die Idee des Sozialismus, sondern schien diese gerade zu verteidigen. So lesen wir folgende Erklärung: Wir identifizieren uns nicht mit jedem Wort und jeder Haltung Wolf Biermanns und distanzieren uns von den Versuchen, die Vorgänge um Biermann gegen die DDR zu mißbrauchen. Biermann selbst hat nie, auch nicht in Köln, Zweifel darüber gelassen, für welchen der beiden deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt. Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossene Maßnahme zu überdenken.33

Auffallend ist der relativ milde Ton der Petition, die eher als Gesuch denn als Forderung formuliert wird. Die Infragestellung der politischen Entscheidung war an sich jedoch 30 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 512. 31 Neues Deutschland veröffentlicht am 17. November 1976 eine offizielle Mitteilung: „Die Entscheidung [über die Ausbürgerung – K.N.] wurde aufgrund des ‚Gesetzes über die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik – Staatsbürgerschaftsgesetz – vom 20. Februar 1967, Paragraph 13‘, nach dem Bürger wegen grober Verletzung der staatsbürgerlichen Pflichten die Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt werden kann, gefasst.“ – zit. nach: Roland Berbig/Arne Born/Jörg Judersleben (Hg.): In Sachen Biermann. Protokolle, Berichte und Briefe zu den Folgen einer Ausbürgerung. Berlin 1994, S. 69. 32 Vgl. Gerrit-Jan Berendse: Biermann-Petition. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur, hg. von Michael Opitz/Michael Hofmann. Stuttgart/Weimar 2009, S. 39. Von Bedeutung ist die Wahl der Unterzeichner, die Stephan Hermlin getroffen hat. Es handelt sich um Autorinnen und Autoren, die auch außerhalb der DDR-Grenzen etabliert waren, deren Name der Aktion Resonanz garantierte. Roland Berbig und Holger Jens Karlson formulieren die These, dass Hermlin nun mit Absicht eine Gruppe konstruiert habe, und zwar mit Bewusstsein der Konsequenzen. (Vgl. Roland Berbig/Holger Jens Karlson: „Leute haben sich eindeutig als Gruppe erwiesen“. Zur Gruppenbildung bei Wolf Biermanns Ausbürgerung. In: In Sachen Biermann, S. 13). 33 Die Protesterklärung mit der Liste der Unterzeichner. In: In Sachen Biermann, S. 70. Zu den Erstunterzeichnern gehören u.a. Stephan Hermlin und Stefan Heym, von den Jüngeren: Sarah Kirsch, Christa Wolf, Volker Braun, Günter Kunert, Heiner Müller und viele andere. Später haben die Petition auch viele andere Autoren unterschrieben – von den im Buch analysierten oder angesprochenen Autoren Fritz R. Fries und Günter de Bruyn.

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stark genug, um eine weit verbreitete Diskussionswelle auszulösen, die in letzter Konsequenz zu einer Repressionswelle seitens des Staates führte. Thomas Ahbe und Rainer Gries interpretieren die Ereignisse des Jahres 1976 als einen grundsätzlichen Konflikt, der zu einer Spaltung zwischen der ‚Elterngeneration‘ – d.h. den Patriarchen – und ihren mittlerweile erwachsen gewordenen ‚Kindern‘ – der Aufbau-Generation – geführt hat. [I]m Unterschied zu vergleichbaren kulturpolitischen Krisen der DDR-Geschichte war der hier offenbarte und vollzogene Bruch zwischen den Generationen nicht mehr zu kitten. Um noch einmal die Familienmetapher zu bemühen: Die erwachsen gewordenen Kinder verließen frustriert das Haus der störrischen und mißtrauischen Patriarchen oder wandten sich von ihnen ab.34

Diese ‚Kinder‘ sind inzwischen über vierzig bzw. fünfzig Jahre alt und kommen in eine Entwicklungsphase, wo neue Impulse nicht mehr gefragt sind. Man versucht sich eher mit den – wenn auch finsteren, so doch stabilen – Verhältnissen zu arrangieren. Und so genießt die Aufbau-Generation in den 1980er Jahren relativen Wohlstand. Ihre eigenen Kinder sind mittlerweile erwachsen geworden. Die politischen Unruhen der letzten Jahre der DDR sind für sie kein Zentralthema mehr. Eine Krise kommt jedoch 1989/1990 zum Vorschein, als sie den Zusammenbruch ihrer alten Welt beobachten. Allerdings hatten sie auch in diesem Moment das Glück, bei der Transformation nicht mehr mitmachen zu müssen, weil sie vorwiegend im Pensionsalter waren.35 Diese Zeitspanne erwies sich aber als besonders schwierig für die Kunstschaffenden, deren Werke in der neuen Realität wenig Resonanz fanden.36 Dies stand im krassen Widerspruch zu ihrer in der DDR bewusst angenommenen Rolle einer beinahe moralischen Instanz. Die Aufbau-Generation spielt eine herausragende Rolle in dem DDRGenerationsgefüge. Auch nach der ‚Wende‘ stehen ihre Vertreter im Zentrum des öffentlichen Interesses. Erwartet werden von ihnen eine Abrechnung mit dem DDRStaat und das Bekenntnis zur eigenen Schuld. Ein Paradebeispiel ist der sogenannte deutsch-deutsche Literaturstreit, der im Jahre 1990 entfachte und dessen Anlass die Erzählung Christa Wolfs Was bleibt war. Auch wenn es im weiteren Verlauf der Debatte nicht um Christa Wolf als Individuum ging, sondern um ein Musterbeispiel jener Haltung, die unter den Begriff „Gesinnungsästhetik“ subsumiert wurde – allerdings zusammen mit westdeutschen Autoren wie Günter Grass oder Martin Walser37 –, zeugt der Angriff von der Bedeutung der Autorin und ihrer Altersgenossen. Dass der „Staatsdichterin“ Wolf – neben ihren Berufskollegen von der Aufbau-Generation – so viel Aufsehen gewährt wurde, ist kein Zufall. 34 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 515. 35 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 516. 36 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 517. 37 Vgl. Kerstin Dietrich: DDR-Literatur im Spiegel der deutsch-deutschen Literaturdebatte. DDRAutorinnen neu bewertet. Frankfurt a.M. u.a. 1998, S. 65–78.

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Sind die Misstrauischen Patriarchen auf dem literarischen Markt der Nachwendezeit – von wenigen Ausnahmen abgesehen – beinahe vollständig abwesend, erscheinen im Falle der Aufbau-Generation zahlreiche autobiographische Texte, in denen das Leben in der DDR (nicht selten aber auch in zwei Diktaturen) thematisiert wird. Nennenswert – außer den für die Analyse Gewählten – sind etwa Heiner Müllers (geb. 1929) Interview-Autobiographie Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen (1992), Fritz Rudolf Fries‘ (geb. 1935) Diogenes auf der Parkbank (2002), Werner Heiduczeks (geb. 1926) Im Schatten meiner Toten (2005) oder Heinz Czechowskis (geb. 1935) Die Pole der Erinnerung (2006). Da die Analyse aller literarischen Äußerungen im Rahmen dieses Buches nicht  möglich ist, werden drei Gestalten ins Zentrum gerückt, die in dem DDRLiteratursystem eine hervorragende – jeweils etwas unterschiedliche – Rolle spielten. Alle drei Autoren veröffentlichen nach 1989 autobiographische Texte, die für reges Interesse – aus welchen Gründen auch immer – sorgen. Die erste Gestalt, nämlich Hermann Kant (Jahrgang 1926) kann den parteitreuen Schriftstellern zugeordnet werden, die selbst führende Posten bekleidet haben. Deshalb ist die Klassifizierung Kants als eines der Funktionäre des DDR-Literatursystems nicht unbegründet. Seine Autobiographie Abspann erscheint schon im Jahre 1991. Im nächsten Schritt wird die Gestalt Günter de Bruyns (Jahrgang 1926) dargestellt, dessen Karriere zu DDR-Zeiten nicht so erfolgreich wie die Hermann Kants verlief, der auch nicht so stark im Rampenlicht wie etwa Christa Wolf stand und der weder ein Funktionär noch ein Dissident war. Er darf etwas abseits der ersten ‚Frontlinie‘ positioniert werden. Aus seinen Texten geht die Haltung eines ‚inneren Emigranten‘ hervor. De Bruyn reagiert auf die ‚Wende‘ mit einer Reihe von Essays, aber auch mit zwei autobiographischen Bänden: Zwischenbilanz (1992) – über die frühen Prägejahre – und Vierzig Jahre (1996) – über das Leben in der DDR. Beachtenswert im Zusammenhang mit der Konstruktion der Selbstbiographie ist auch sein Text Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie (1995). Als letzte Gestalt wird die 1929 geborene Christa Wolf dargestellt, von der hier am Rande schon mehrmals die Rede war. Die Schriftstellerin gehörte eindeutig zu den Zentralgestalten des DDR-Literaturlebens, die jedoch weder als eine parteitreue Konformistin noch als eine Dissidentin klassifiziert werden darf. Mit der Autorin taucht auch die Frage nach einer weiblichen Sicht bzw. nach der Selbstwahrnehmung der Frauen und nach dem eventuellen Zusammenhang zwischen Generation und Geschlecht auf. Ihre autobiographischen Texte, die für diese Analyse ausgewählt werden, die Tagebuchprotokolle Ein Tag im Jahr (2003) und der autobiographische Roman Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010) erscheinen deutlich später als Autobiographien der vorher Genannten.

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5.1 Lebensweg eines Funktionärs? Hermann Kants Abspann. Erinnerungen an meine Gegenwart (1991) Die Gegenwart ist in diesem Augenblicke das Wichtigere, und das Thema … ist von der Art, daß überhaupt jedes Weiterschreiben von ihm abhängt. (Heinrich Heine: Französische Zustände)38

Im Falle Hermann Kants haben wir es mit einem Autor zu tun, dessen literarische Texte wie Die Aula (1965)39 oder auch Der Aufenthalt (1977)40 in Ost wie West gelobt werden, dessen politisches Engagement jedoch Kontroversen hervorruft. Selbst in den Pressenotizen anlässlich seines Todes im Jahre 2016 wird seine umstrittene Position mehrmals herbeizitiert. So charakterisiert Jens Jessen in Die Zeit Hermann Kant als „[m]oralisch zweifelhaft, als Literat begnadet.“41 Das hier gezeichnete Porträt spiegelt die Haupttendenz der Kant-Nachrufe:42 Von Lesern geliebt, von Kritikern auch im Westen gerühmt, aber von den meisten Kollegen im Osten ebenso aufrichtig gehasst: Hermann Kant war eine zwiespältige Figur, und das ist eine vielleicht noch zu vorsichtige Formulierung für den Gegensatz, den er in seinem Dichterleben 38 Die Stelle wird auch in den Erinnerungen Abspann zitiert. Hermann Kant: Abspann. Erinnerungen an meine Gegenwart. Berlin 1991, S. 320. Im Folgenden werden Zitate als Sigle HKA mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen. 39 Die Aula gilt als das erfolgreichste Buch Hermann Kants. Es schildert den Aufstieg der ABFGeneration – der auch der Autor angehört – und wird der Ankunftsliteratur zugerechnet. In seinem Roman greift Kant zu literarischen Mitteln, die nicht nur über die Grenzen des sozialistischen Realismus hinausgehen, sondern dieser Doktrin sogar widersprechen. (Vgl. dazu Wolfgang Gabler: Hermann Kant. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur, hg. von Michael Opitz/Michael Hofmann. Stuttgart/ Weimar 2009, S. 156–157; Manfred Jäger: Hermann Kant. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1978ff., S. 2–3). Noch in den Nachrufen wurde der Erfolg des Romans in Ost und West betont. 40 Der Roman Der Aufenthalt erzählt eine Geschichte, deren autobiographische Züge für Kant-Leser unverkennbar sind. Im Mittelpunkt steht die Gestalt eines achtzehnjährigen Druckergesellen, der in einem polnischen Gefangenenlager verweilt und irrtümlich als ein Mörder aus dem KZ Lublin erkannt wird. Das Buch wurde in Polen mit viel Interesse rezipiert. (Vgl. dazu Gabler: Kant, S. 157; Jäger: Kant, S. 6). 41 Jens Jessen: Mit Super-Ironie. In: Die Zeit 35 (2016), URL: https://www.zeit.de/2016/35/nachrufhermann-kant?print (letzter Zugriff: 30.09.2016). 42 Die Doppelrolle Hermann Kants wird seit Jahren hervorgehoben. Um die Tendenz zu veranschaulichen, reicht es aus, die Pressetexte anlässlich seines 80. Geburtstages zu verfolgen, aus denen das gleiche Bild hervorgeht. Vgl. als Beispiel Walter Hinck: Großironiker der DDR. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.06.2006), URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/hermann-kant-wird-achtzig-grossironiker-der-ddr-1328052.html (letzter Zugriff: 27.07.2016). Hinck verweist auf die Prophezeiung Reich-Ranickis, der kurz nach dem Erfolg des Aula-Romans die Zukunft des Autors vorhersah: „Marcel Reich-Ranicki schrieb schon in seiner Kritik von Kants erstem Roman Die Aula 1966: ‚Und früher oder später wird Kant, ob er es will oder nicht, einen harten Sitz im Zentralkomitee erhalten.‘ Die Prophezeiung blieb kein Kritiker-Aperçu.“ (Hinck: Großironiker).

5.1 Lebensweg eines Funktionärs? Hermann Kants Abspann (1991) 

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zusammenband. Als Schriftsteller bedeutend weit über die DDR hinaus, ein wirklicher deutscher Klassiker der Nachkriegsliteratur, ein Stilist großer Härte, Helligkeit und höhnisch-heiterer Ironie – und zugleich als Schriftstellerfunktionär feige und fürchterlich, eine Plage für alle Kollegen, die etwas wagen wollten in dem Zensorenstaat, ein Verhängnis für manche, die sich von dem, was er als Präsident des Schriftstellerverbandes zuließ oder veranlasste, nicht mehr erholten.43

Die Doppelrolle Hermann Kants wird ebenfalls in einer Spiegel-Notiz zum Tode des  neunzigjährigen Autors hervorgehoben, der als „einer der wichtigsten DDRSchriftsteller“ und „ein einflussreicher Funktionär“44 charakterisiert wird. Die  FAZ stellt ihn als „DDR-Autor und Kulturfunktionär“45 vor, der zugleich „einer der meistgelesenen Autoren der DDR, Präsident des Schriftstellerverbands, Mitglied des Zentralkomitees der SED – und informeller Mitarbeiter der Stasi“46 war. Abgesehen davon, wie Kants moralische Haltung beurteilt wird, entgeht sein Engagement im Namen des Sozialismus keinem der Kritiker. Sein Schicksal ist mit der DDR eng verbunden. Kants Lebensweg weist Stationen auf, die im Falle der Aufbau-Generation kein Seltenfall sind. Im Jahre 1926 geboren, gehört er neben Günter de Bruyn zu den Jahrgängen, die den Nationalsozialismus als Kinder nicht nur aus der Distanz beobachten, sondern auch der Schulerziehung nationalsozialistischer Prägung ausgesetzt werden und schließlich auch am Kriegsgeschehen teilnehmen. Im Falle Hermann Kants erscheint allerdings nicht der Krieg selbst als eigentlicher Wendepunkt seines Lebens, sondern die Kriegsgefangenschaft in Polen. Die vier Jahre, die er zwischen 1945 und 1949 in Warschau verbringt, bringen ihn in die Nähe der Kommunisten. Und so wird er zum Mitbegründer des Antifa-Komitees im Warschauer Arbeitslager, der nach seiner Entlassung konsequent den Weg weiter geht. Nach der Rückkehr besucht er die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) in Greifswald, anschließend studiert er Germanistik und arbeitet als wissenschaftlicher Assistent. Die DDR schafft für den aus den ärmsten Verhältnissen stammenden Kant die Möglichkeit, seine Bildungsdefizite nachzuholen. Das frühe Erlebnis der sozialen Ungleichheit in der Vorkriegszeit, der der sozialistische Staat entgegen wirkt, indem er die bis dato unterdrückten Schichten aufwertet, erscheint prägend für diese Vita. So kommen im Falle Hermann Kants zwei Faktoren zum Vorschein, die seinen Habitus beeinflusst haben mögen, nämlich milieu- und generationsspezifische Erfahrungen.

43 Jessen: Mit Super-Ironie. 44 Herman Kant ist tot. In: Der Spiegel (15.08.2016), URL: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/hermann-kant-ist-tot-a-1107610.html (letzter Zugriff: 30.09.2016); vgl. dazu auch Hermann Kant ist tot. In: Die Zeit (14.08.2016), URL: http://www.zeit.de/kultur/literatur/2016-08/hermann-kantschriftsteller-tod (letzter Zugriff: 11.11.2017). 45 Der Schriftsteller Hermann Kant ist gestorben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.08.2016), URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/autor-hermann-kant-gestorben-14387297. html?service=printPreview (letzter Zugriff 30.09.2016). 46 Der Schriftsteller Hermann Kant ist gestorben.

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Kant ordnet der Idee des Kommunismus nicht nur seine literarischen Texte unter. Er dient dem System auch als Funktionär. Von 1969 bis 1978 ist er einer der Vizepräsidenten des Schriftstellerverbandes. Von 1978 bis März 1990 bekleidet er den Posten des Vorsitzenden. Im politischen System der DDR spielte Kant demzufolge eine exponierte Rolle, worauf Karl Corino in seinem die Zusammenarbeit Kants mit der Stasi enthüllenden Band Die Akte Kant explizit zu sprechen kommt: Wenige Bereiche im öffentlichen Leben der DDR waren für die Partei und das Ministerium für Staatssicherheit so bedeutsam wie die Literatur. Man traute ihr besondere Fähigkeiten der Bewußtseinsbildung zu, maß ihr eine Schlüsselfunktion bei, wenn es darum ging, das von der Partei gewünschte Lebensgefühl in der sozialistischen Gesellschaft nicht nur zu formulieren, sondern auch zu formen. Für die Bevölkerung im „Leseland DDR“ wiederum war die Literatur immer auch ein Seismograph, an dem sich gesellschaftliche und politische Entwicklungen, verbotene Konflikte, Fortschritte und Rückschritte ablesen ließen. Insofern kam Hermann Kant, von 1978 bis März 1990 Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR, eine gesellschaftliche und politische Schlüsselfunktion zu. Er war ein Multifunktionär, kaum ein wichtiges Gremium unterhalb des Politbüros wollte auf ihn verzichten.47

Hermann Kant erscheint als eine der Zentralgestalten des Literaturlebens in der DDR. Allerdings zeigen auch seine autobiographischen Enthüllungen, wie stark verbunden er sich der Gründergeneration fühlte, so dass auch er in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Machthabern aus der Reihe der Misstrauischen Patriarchen stand. Hermann Kant blickt auf sein Leben in der bereits 1991 herausgegebenen Autobiographie Abspann zurück. Wie die Gestalt selbst wird auch ihr Selbstporträt in der Öffentlichkeit scharf kritisiert. Es handelt sich um einen der am heftigsten diskutierten Texte der Nachwendezeit. Das Buch sammelt negative Rezensionen. Auch im Literarischen Quartett vom 10. Oktober 199148 wird der Text von Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler und 47 Karl Corino (Hg.): Die Akte Kant. IM „Martin“, die Staatssicherheit und die Literatur in Ost und West. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 3.      Die Enthüllungen über die Zusammenarbeit Hermann Kants mit der Stasi kommen erst nach der Veröffentlichung von Abspann ans Tageslicht, so dass sie in der Debatte um die Autobiographe keine Rolle spielen. 48 Vgl. Das Literarische Quartett vom 10.10.1991, URL: https://www.youtube.com/watch?v=OsbUjhIA0jg (letzter Zugriff: 1.10.2016).      In der Sendung plädiert Sigrid Löffler dafür, Hermann Kant in erster Linie als einen „Literaturfunktionär“ darzustellen. Löffler sieht in Abspann ein Beispiel von Rechtfertigungsmemoiren, die in letzter Zeit von vielen „DDR-Größen“ „aufgetischt“ wurden, gleichzeitig aber handelt es sich für sie um „eines der unangenehmsten Bücher“, die sie gelesen habe. Karasek fügt dem kritischen Urteil zustimmend hinzu: es sei ein „Buch, das diesen kleinen lächerlichen Feudalstaat DDR in all seiner Kläglichkeit zeigt.“ Peter von Matt bezeichnet das Buch als „bösartig[…]“. So fühlt sich Reich-Ranicki – wie es „in jedem Gericht“ der Fall ist – dazu berufen, die Rolle eines „Pflichtverteidigers“ zu übernehmen. Reich-Ranicki verweist darauf, dass in allen großen Zeitungen die Kritiken von AutorInnen verfasst wurden, die aus der DDR stammen – nämlich Günter Kunert, Monika Maron und Günter de Bruyn –, die auch Opfer der DDR gewesen seien. In all den Fällen – vor allem aber bei Kunert und Maron – habe man mit einer Art Rache der Opfer gegenüber einem Täter zu tun. Reich-Ranicki verteidigt wiederholt

5.1 Lebensweg eines Funktionärs? Hermann Kants Abspann (1991) 

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Peter von Matt vehement abgelehnt, so dass Marcel Reich-Ranicki sich verpflichtet fühlt, die Rolle eines Pflichtverteidigers zu spielen, der zwischen dem literarischen Können und der moralischen Haltung zu unterscheiden weiß. Aber selbst der einen gerechten Umgang mit dem Text fordernde Literaturkritiker entdeckt nur Partien der Autobiographie, die seines Erachtens auf einem bestimmten literarischen Niveau sind. Ein ähnlicher Ton ist in der Buchbesprechung von Günter de Bruyn zu erkennen, der Abspann zwar nicht den besten Büchern zurechnet, wohl aber einige ästhetisch akzeptable Stellen entdeckt. „Dieses hastig geschriebene Buch“ – so eröffnet de Bruyn seine Besprechung – „besteht eigentlich aus dreien, einem überflüssigen, einem ärgerlichen und einem guten, die mehr oder weniger geschickt ineinander verwoben sind.“49 Zu den „geglückte[n] Passage[n]“ zählen de Bruyn zufolge die Erinnerungen an die Kinder- und Jugendjahre. Ansonsten findet er das Buch eher enttäuschend: Tiefere Aufschlüsse über Staat und Partei […] hat wohl niemand von Kant erwartet, wohl aber vielleicht welche über seine Person. Aber auch in dieser Hinsicht ist das redselige Buch enttäuschend. Es zeigt ihn so, wie man ihn immer schon kannte, als treuen Parteimann mit Ausdrucksreichtum, als geschickten und intelligenten Autor, über dessen Intelligenz aber die Geltungssucht immer siegt. Sie verhindert auch Selbsterkenntnis und verstellt ihm den Blick auf die von ihm Unterdrückten, so daß er die Rolle, die er gespielt hat, anscheinend wirklich nicht richtig begreift.50

Die Enttäuschung ergibt sich aus bestimmten Leseerwartungen, die – an Hermann Kant gestellt – nicht erfüllt werden (können), weil der DDR-Autor und -Funktionär anscheinend nicht vorhat, seine Haltung einer grundlegenden Korrektur zu unterziehen. Hermann Kants autobiographischer Band Abspann. Erinnerungen an meine Gegenwart (1991) gehört zu den frühesten Texten der Nachwendezeit, in denen ein Blick auf das Leben in der nicht mehr existierenden DDR mit der Wahrnehmung der Lage in dem vereinten Land aufeinandertreffen. Dem Schriftsteller fehlt der Abstand der Jahre, der es erlaubt, die gesellschaftlichen Umwälzungen aus der Distanz zu betrachten und in seinen Erfahrungshorizont entsprechend zu verorten. Kant hat seine Arbeit am Text auch nicht erst nach der sogenannten ‚Wende‘ angefangen. Vielmehr scheinen die unerwarteten Umwälzungen des Jahres 1989 in seine Arbeit eingegriffen und ihn dazu gebracht zu haben, seine Erinnerungen zu überarbeiten (vgl. HKA 367), den Text den Umständen entsprechend mit erklärenden Kommentaren51 zu versehen das literarische Talent Hermann Kants. Man müsse gerecht werden und das Gute anerkennen, meint der Literaturkritiker im Literarischen Quartett. 49 Günter de Bruyn: Scharfmaul und Prahlhans. In: Die Zeit 39 (1991), URL: https://www.zeit. de/1991/39/scharfmaul-und-prahlhans/komplettansicht?print (letzter Zugriff: 1.10.2016). 50 de Bruyn: Scharfmaul und Prahlhans. 51 So dürfen die zahlreichen Textpassagen in Klammern wahrgenommen werden, wo der Autor seinen Erzählvorgang unterbricht, um auf den gegenwärtigen Stand der Dinge zu verweisen oder auch andere Sachverhalte zu erklären.

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und den Bankrott seines Staates zu reflektieren. Der Hintergrund wird auch im verlegerischen Peritext erläutert. So steht im Klappentext – unter einem kurzen biographischen Umriss mit Daten, Funktionen und Werken – folgende Erklärung: Als Hermann Kant im Februar 1989 mit der Niederschrift dieses Buches begann, war er ein prominenter Schriftsteller und Funktionär der DDR. Heute gehört er zu den am heftigsten umstrittenen Literaten des vereinigten Deutschlands. Dies, vor allem jedoch der Niedergang des Staates, dessen Geburt und Lebensweg Hermann Kant wie kein anderer in seinen Büchern als Teil der eigenen Geschichte beschrieben hat, verleiht seinen bis Ende 1989 reichenden, sprachlich virtuosen und hintergründig bissigen Erinnerungen Brisanz. (HKA 2)

Hermann Kant wird eindeutig als ein prominenter DDR-Autor klassifiziert, dessen Rang im Jahre 1991 hinterfragt wird. Ihm wird zwar zuerkannt, dass er über eine „virtuose“ Formulierungskraft verfügt. Seine Position scheint er aber verloren zu haben. Seine Bedeutung sei stark mit dem sozialistischen Staat verbunden. Und da dieser nicht mehr existiert, erscheint auch Kants Werk nicht mehr so relevant wie noch vor zwei Jahren. Kant kann aber immer noch denjenigen interessieren, der ihn „schon früher gelesen hat […]“ (HKA 2), lautet das Urteil Manfred Jägers, dessen Rezension im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt mit einem einzigen Satz angeführt wird. Es wird im verlegerischen Peritext nicht viel zitiert. Auf der Rückseite des Covers taucht noch ein Ausschnitt aus der Besprechung Waltraut Lewins in der Berliner Zeitung auf, in der Kant als „[d]er Kerl […] voll Geschichten“ (HKA Rückseite des Covers) charakterisiert wird. Diese Geschichten können aber als provokant wahrgenommen werden, heißt es im verlegerischen Kommentar auf dem Cover. Kants Lebensdarstellung mag in manchen Punkten von der Vorstellung der Rezipienten abweichen: „Man schreibt im Schutz der Tatsachen, wenn man von seinem Leben schreibt“, behauptet Hermann Kant. Er weiß natürlich, daß er mit seiner Darstellung der Tatsachen provoziert, so wie er stets eine provokante Rolle zwischen den Parteiungen spielte – als einer der prominentesten Autoren der DDR und als Funktionär, der an entscheidender Stelle in Auseinandersetzungen einbezogen war. (HKA Rückseite des Covers)

Gezeichnet wird ein Porträt einer Zentralgestalt der ehemaligen DDR, die über Kulissenwissen verfügt. Der Hinweis auf „Tatsachen aus erster Hand über Privates wie Öffentliches“ (HKA Rückseite des Covers) lautet beinahe wie ein Versprechen auf Einblicke hinter die Kulissen, um nicht zu sagen auf sensationelle Enthüllungen oder Klatschgeschichten aus der DDR. Auf dem Coverbild bekommt der Leser das Gesicht Hermann Kants zu sehen,52 unter dem sein Vor- und Nachname wie auch der Titel des Bandes Abspann. Erinnerungen stehen. Diese Zusammenstellung eröffnet einer autobiographischen Lesart den Weg. Die Identität zwischen dem Autor, dem Erzähler und 52 Die äußere Ausgestaltung – mit der ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Ästhetik – ähnelt dem Band Stefan Heyms Nachruf.

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dem Protagonisten wird bereits auf der ersten Seite hergestellt. Erzählt wird in der ersten Person Singular. Der Name des erzählten und erzählenden Ich wird mehrmals angeführt, so dass kaum Raum für Zweifel bleibt. Die immer wieder angeführten Namen der Persönlichkeiten öffentlichen Lebens, die Stationen des Kantschen Schicksals wie der deutschen Geschichte begründen die Referentialität des Textes. Die bereits im Untertitel angedeutete Gattungsattribution scheint dem Leser ein Versprechen zu geben, hier wird der auf der Titelseite stehende Hermann Kant von seinem vergangenen Leben mit der der Gattung gebührenden Wahrhaftigkeit berichten, wofür er (im Sinne des autobiographischen Paktes) mit seinem Namen bürgt. So eindeutig die Ausgangssituation auch erscheinen mag, werden mit dem Titel aber mehrere Wege der Interpretation eröffnet. Mit dem Begriff „Abspann“ assoziiert man eine lange Namensliste am Ende eines Films, in der die am Projekt Beteiligten samt ihrer Funktionen in hierarchischer oder auch alphabetischer Ordnung verzeichnet werden. Das Bild passt gut zu der autobiographischen Erzählweise.53 Nun scheint der Autor der Erinnerungen an den bereits zu Ende gegangenen Film unter dem Titel „DDR“ zu sprechen zu kommen und die für sein Lebensprojekt relevanten Persönlichkeiten zu benennen. Allerdings geht der Text in Richtung Memoiren, in denen die Sphäre des öffentlichen Lebens vor das Private tritt. Am Ende des Buches werden die angeführten Namen sogar in einem Personenregister zusammengestellt. Die Zahl ist beträchtlich – über 600 Namen tauchen im Text auf.54 Diese Interpretationslinie wird vom Text selbst bestätigt, indem eine Reflexion über den Wortlaut des Titels eingebaut wird. Eine der Ideen war nämlich – außer dem „Abspann“ – „Namen spielen eine Rolle“ (HKA 488). Auf der langen Liste tauchen sowohl Kants Gegner als auch Freunde wie Vorbilder auf, alles namhafte Gestalten, die dem eigenen Leben auch eine Art Dignität zu verleihen scheinen. Gleichzeitig verspricht der Autobiograph Wahrhaftigkeit, indem er versichert, er „mag im Abspann nicht tun, als sei ein ganz anderer Film gelaufen.“ (HKA 473) Bis dahin scheinen die Spielregeln nicht verletzt worden zu sein. Sobald man das Buch öffnet, stößt man auf den Untertitel, der von der auf dem Umschlag stehenden Bezeichnung etwas abweicht. Es heißt hier nämlich Erinnerungen an meine Gegenwart, was zu gewissen Irritationen führen kann. Der Vorgang des Erinnerns wird mit vergangenen Sachverhalten assoziiert, die vom Autobiographen in einer Rückschau rekonstruiert und zu (s)einer Lebensgeschichte verflochten werden.

53 Frank Thomas Grub verweist darüber hinaus auf das Wortumfeld. „Abspannen“ deutet er als „das Abschirren der Pferde nach der getanen Arbeit“ (Grub: Wende und Einheit, S. 312). Dieses Bedeutungsfeld wird aber im Text selbst nicht aufgerufen. Die Parallelen zum Film werden dagegen mehrmals hergestellt. So verweist der Erzähler in einem anderen Zusammenhang, er habe den Film nicht verstanden, zu dem er jetzt den Abspann schreibe (vgl. HKA 59). 54 Vgl. Manfred Jäger: Hermann Kant. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1978ff., S. 10.

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Mit dem scheinbaren Widerspruch wird aber die Vergangenheit mit der Gegenwart des Erzählten miteinander verknüpft. Der Zusammenhang wird auch deutlich in einem Heine-Zitat hergestellt, das von Hermann Kant zum Aula-Motto gewählt wurde und auch in der Autobiographie vergegenwärtigt wird (vgl. HKA 320): „Der heutige Tag ist/ das Resultat des gestrigen./ Was dieser gewollt hat,/ müssen wir erforschen,/ wenn wir zu wissen wünschen,/ was jener will. (Heinrich Heine)“55 Vergangenheit und Gegenwart werden miteinander verschränkt. Die früheren Erlebnisse und Entscheidungen scheinen das gegenwärtige Leben zu beeinflussen. Wer das Leben also begreifen will, muss es als „Gewöll“ (HKA 155) aus Jetztzeit und Geschichte auffassen. Diese Vorstellung bleibt auch nicht ohne Konsequenzen für die Schreibweise des Autobiographen Kant. Der Titel evoziert aber auch eine andere Perspektive, die besonders stark von den Literaturdebatten der unmittelbaren Nachwendezeit provoziert wird und auch im Text selbst vernehmbar ist. Im Kapitel VIII wird ein Fernsehfilm aus dem Jahre 1989 erwähnt, der das Interesse des Erzählers weckt, weil er zum Gegenstand der Filmgeschichte wird. Der aussagekräftige Titel – Der Mann mit der Doppelrolle (HKA 178) – führt Aussagen verschiedener Gestalten auf, die mit Kant Umgang hatten. Man lässt über Kant sprechen, ohne das in der Sendung konstruierte Bild um ein Kommentar des Betroffenen ergänzt zu haben. Nun sitzt er vor dem Bildschirm, als wäre er nur ein Zuschauer seines eigenen Lebens, ohne dass ihm das Recht auf Korrektur, geschweige denn Widerspruch zuerkannt wird. In diesem Sinne ist auch Kants Rolle nach dem Zusammenbruch der DDR zu verstehen. Von einem Kulturträger, wird er zu einer Randgestalt, die für das vergangene Unheil verantwortlich gemacht wird. Die Autobiographie soll nun seine Wortmeldung sein. Die Erinnerung an meine Gegenwart lässt sich auch in diesem Sinne als Präsenzzeichen eines zum Untergang verurteilten Lebens lesen, als wolle der Verfasser die deutsche Öffentlichkeit nun daran erinnern, dass er noch da sei. Der Text kann als Reaktion auf „die üble Nachrede“ (HKA 255) gedeutet werden, als Versuch, als Gleichberechtigter behandelt zu werden, dem auch das Verteidigungsrecht zusteht: Nun, da hierzulande auch dortzulande und dortzulande auch hierzulande sein soll, wird man ähnlich den Ländern die Bräuche vereinigen müssen und bei uns, wo es ihn bislang nicht für jedermann gab, den Grundsatz einführen, daß zur Behauptung der Beweis gehört. Wenn nun schon Reich-Ranickis westliche Welt ebenso als die meine gilt, möchte ich von ihren Regeln nicht ausgeschlossen sein. (HKA 255)

Hermann Kant konstruiert auf den mehr als 500 Seiten seiner Autobiographie konsequent die Lebensauffassung eines politischen Menschen,56 der in der ehemaligen 55 Hermann Kant: Die Aula. Berlin 1974, S. 5. 56 In einem Interview aus dem Jahre 2007 bezeichnet sich Kant als politischer Mensch: „Ich war kein politisierender Literat, sondern ein politischer Mensch, der sich aus dieser Wurzel zum Schriftsteller entwickelte.“ (Irmtraud Gutschke: Hermann Kant. Die Sache und die Sachen. Berlin 2007, S. 197).

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DDR sowohl als Schriftsteller als auch Funktionär tätig war. Versprochen wird dem Leser Wahrhaftigkeit in der Berichterstattung: Ich berichte nicht von einem Leben, das ich hätte führen sollen, führen müssen, sondern von dem einen, das ich führte. Alles soll nach Möglichkeit nur so auf dieses Papier, wie ich es wahrgenommen habe. (HKA 129)

So scheint dem Projekt der Ansatz zugrunde zu liegen, den Bewusstseinsstand des erzählten Ich zu rekonstruieren, und zwar ‚wahrheitsgemäß‘, d.h. ohne Korrekturen und absichtliche Ausblendungen. Die Objektivität der Berichterstattung wird aber von dem Autobiographen selbst relativiert, indem er auf Störfaktoren wie „Gedächtnistäuschung, Ideologie und Erzählerübermut“ (HKA 129) verweist, die sich aus seiner Denk- und Arbeitsweise vermutlich nicht ganz ausschließen lassen. Und auch wenn der Autor im Begriff ist, die Komplexität des Lebens abzubilden, um zu zeigen, „[a]lles hat mit allem zu tun“ (HKA 463)57 – in der diachronen wie in der synchronen Perspektive –, muss er sich dem Selektionsprinzip unterordnen. Der Verfasser habe auf jeden Fall nicht vor, jede Episode seines Daseins zu beleuchten. Er wolle weniger der Historie als der Biographie (vgl. HKA 463) das Sagen überlassen. Er verfährt also selektiv, nicht aber „beliebig“ (HKA 493). Er müsse „beim gewählten Gegenstand bleiben, kann nicht beliebig, wie etwa beim Roman, Einfälle darbieten, sondern ist auf die Vorfälle verwiesen, aus denen sein Leben bestand und das Leben besteht.“ (HKA 493) Autobiographie sei „Ein-Mann-Museum“ (HKA 156), in dem nur Sachverhalte den Platz zugewiesen bekommen, die „bedeutend“ (HKA 155) sind. Womit wir wieder bei der Treue der Details wären und beim Realismus, an den sich wohl halten sollte, wer einen Lebensbericht verfaßt. Ohne diese Treue stellte sich kein Dokument von Nutzen her, und ein Museum konstruiert sich erst durch sie. Andererseits: Treue der Details heißt nicht, getreulich alle Details, heißt also Auswahl. Ob man mit der berühmten Miß X gegessen hat, ist nicht erwähnenswert; ob man mit ihr hungerte, schon. (HKA 156)

Es gibt aber keine objektiven Maßstäbe, die die Bedeutung der Sachverhalte bemessen helfen. Was als erwähnenswert angesehen wird, erscheint demzufolge als eine subjektive Entscheidung des Autobiographen. Die Schwierigkeiten thematisiert auch das Erzähler-Ich.

57 Auch wenn die Schreibweise als eine mit Absicht gefasste ästhetische Entscheidung aufzufassen ist, machen manche Gedankensprünge den Text eher unüberschaubar. Der Schreibstil sorgte auch bei den Rezensenten für Irritationen und brachte Kant viele kritische Kommentare ein.

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Erwähne nur das Erwähnenswerte, lautet die simple Anweisung, und von da an bleibt es nicht mehr ganz so simpel. Denn wie bestimmen sich solche Werte? „Man schreibt im Schutze der Tatsachen, wenn man von seinem Leben schreibt“, behauptet einer auf Seite 6 dieses Berichts, und hier, auf Seite 156, wäre festzustellen, da es, wenn man vor einer Tatsachenhalde steht, die sich in dreiundsechzig Jahren aufgeschüttet hat, nicht so weit her ist mit jenem Schutz. Schon gar nicht, wenn der Verfasser des Reports ein Erzähler ist. Denn dann tritt zum Zwang des Auswählens die Lust des Darbietens […]. (HKA 156)

Der Autobiograph erscheint demzufolge als ein Künstler, der seinen Gestaltungssinn nicht betäuben kann. Dies steht aber im Widerspruch zur Berichterstattung und relativiert den dokumentarischen Wert der Autobiographie. Denn was auch hier präsentiert wird, ist die subjektive Darstellung der eigenen Lebensversion, die auch mit einem bestimmten Ziel vor Augen verfasst wird. Auf die Schreibintention kommt auch Kant zu sprechen: „Ich denke, man wird mich im Laufe dessen, was ich hier aufzuschreiben begonnen habe, kennenlernen und kann dann beurteilen, ob ich mich von blindwütiger Parteilichkeit leiten ließ.“ (HKA 20) Nun versuche der Erzähler, „sich zu erklären“ (HKA 493), was wiederum zweideutig klingt. Denn einerseits versucht das Erzähler-Ich den Einblick in seine Lage wie in seine Entscheidungen zu gewinnen. Darin ähnelt die autobiographische Reflexion auch einem Selbstgespräch (vgl. HKA 493). Abspann wird auch als „eine Auto-Enquete“ (HKA 364) bezeichnet. Andererseits zielt er auf eine an die deutsche Öffentlichkeit adressierte Erklärung des eigenen Verhaltens und der Spielregeln in der ehemaligen DDR, die erklärungsbedürftig erscheinen, weil sie von den in der bundesrepublikanischen Gesellschaft geltenden Normen und Werten abweichen. Angedeutet wird dies in zahlreichen eingeklammerten Kommentaren. In seiner ursprünglichen Form schien das Buch aber eher an die ostdeutschen Leser adressiert zu sein.58 Manche Partien des Textes – wie etwa Kapitel XX (vgl. HKA 465–490), in dem die nach der Biermann-Affäre vollzogenen Ausschlüsse aus dem Schriftstellerverband thematisiert werden (hinter dem Euphemismus „Rathaus-Desaster“ (HKA 470) versteckt), an denen der Funktionär Hermann Kant beteiligt war – lassen sich beinahe als eine Art Selbstverteidigungsrede lesen, die an manchen Stellen sogar in einen Angriff auf die Repräsentanten der westdeutschen Kultur und Politik übergehen.59 58 Sichtbar ist es in jenen Kommentaren, in denen der Autor explizit darauf zu sprechen kommt, dass er nach 1989 nicht zu den in der DDR üblichen Abkürzungen (wie z.B. ABF) greifen kann, weil sie dem deutschen Publikum kein Begriff mehr sind und sich verpflichtet sieht, das interne DDR-Wissen und die DDR-Begrifflichkeit mit Erklärungen zu versehen. Allerdings schlägt sich dies nicht in der Konstruktion des Buches nieder. Manche Sachverhalte scheinen immer noch nur für die Eingeweihten verständlich zu sein. 59 So versucht das Erzähler-Ich dem Kniefall Willy Brandts in gewissem Sinne seine Bedeutung abzusprechen, weil er nur als symbolische Geste gedeutet wird: „Daß ich mit Händen die Stelle in Warschau freigelegt hatte, an der er [Brandt – K.N.] seinen befreienden Kniefall tat, konnte er weder wissen noch meinen.“ (HKA 21) Kants Ressentiments kommen an vielen Stellen zum Vorschein. Auf der langen Liste der Gegner – manchmal auch der ehemaligen Freunde, die zu Gegenspielern wurden – tauchen Namen wie Loest (vgl. HKA 118), Grass (vgl. HKA 179), Raddatz (vgl. HKA 210), Kantorowicz

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Im Text lassen sich zahlreiche emotional aufgeladene Passagen mit dialogischem Charakter und ironische Bemerkungen erkennen, sei es im Zusammenhang mit der für den Spiegel charakteristischen „Neigung zu Halb- oder Anderthalbwahrheiten“ (HKA 406), sei es in seiner Bitte um „Verzeihung“ (HKA 483) an alle, die „ein Recht darauf [haben]“ (HKA 483). Eine Art Mischung aus (altem DDR-)Stolz und (neuem) Resignationszustand wird erkennbar. Kant scheint immer noch die Rolle eines Repräsentanten inne zu haben.60 Nach dem Zusammenbruch der DDR steht er aber stellvertretend nicht für den Mainstream, sondern für die Außenseiter. Das Gestaltungsprinzip des Autobiographen – diese „Lust des Darbietens“ – scheint im Falle Hermann Kants darauf zu zielen, die Gleichzeitigkeit der Erlebnisse im Erzählvorgang abzubilden, um die Komplexität des Lebens wiederzugeben. Vergeblich sucht der Leser nach einer kontinuierlich erzählten Lebensgeschichte. Erzählt wird episodenhaft, nicht chronologisch, auch wenn die Lebensgeschichte mit der Familiengeschichte anzufangen scheint. Die Erinnerungen an vergangene Sachverhalte werden immer wieder mit Episoden einer anderen Zeitebene ergänzt. Diese „Gleichzeitigkeit von Erlebtem“ lasse sich schwer „in eine Abfolge von Erzähltem“ (HKA 493) verwandeln. Das strebt der Verfasser jedoch an, weil es als die Voraussetzung der Selbsterklärung erscheint, der auch die Angst im Wege steht, man könne nicht verstanden werden (vgl. HKA 493).61 Will man die Stationen des in Abspann dargestellten Lebens rekonstruieren, muss man sie aus der Fülle der beschriebenen Begebenheiten herausarbeiten. Die Schlüsselerfahrungen und Prägefaktoren kommen im Text deutlich zum Ausdruck, auch wenn sie jeweils nicht mit gleicher Intensität thematisiert werden. Wieviel Raum den einzelnen Episoden zuerkannt wird, hängt jedoch nicht immer mit ihrer Bedeutung zusammen. Das Erzähler-Ich erläutert im Zusammenhang mit seinem Autobiographie-Projekt, er wolle in Abspann nur Episoden vergegenwärtigen, die in

(vgl. HKA 248) auf. Besonders empfindlich scheint der Verfasser auf ungerechte Behandlung zu reagieren, die er den oben genannten vorwirft. 60 Dieses Selbstverständnis kommt auch in dem Abschnitt zum Vorschein, in dem Kant angeblich um Verzeihung bittet, den Adressatenkreis seiner ‚Beichte‘ aber einschränkt. Gleichzeitig äußert er den Verdacht, seine Freunde würden auf seine Versöhnungsgeste enttäuscht reagieren. Die Passage wird in aller Ausführlichkeit zitiert, weil sie die uneindeutige Position Kants wiedergibt. Einerseits kann sie als Versöhnungsversuch gelesen werden, andererseits lassen sich alte Ressentiments kaum übersehen, so dass die Intention gleich relativiert wird: „Ich bekam unrecht, bestreite jedoch, Unrecht begangen zu haben. Wo aber jemandem unter Berufung auf mich und meine Reden Unrecht geschehen ist, ohne daß ich dagegen etwas unternommen hätte, will ich sagen, wie sehr ich das bedauere. Ich will es, und es fällt mir schwer. Denn nützen wird es nichts. Den einen wird es nicht reichen, weil ihnen wortlose Unterwerfung als Minimum gilt. Die anderen werden meinen, sie seien gemeint, obwohl gerade sie nicht gemeint sind. […] Auch manchen meiner Freunde kann es nicht recht sein, mich mit dem Hut in der Hand zu sehen. Sie wollen mich stolz; einer muß es ja sein. Dennoch: Wer ein Recht darauf hat, sei hiermit um Verzeihung gebeten.“ (HKA 482–483). 61 Mit der Angst, nicht richtig verstanden zu werden, erklärt der Autor auch den im Text immer wieder anzutreffenden „verklammerte[n] Einschub“ (HKA 493).

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seinen „Geschichten nicht untergekommen“ (vgl. HKA 5, 156–157)62 sind. Da seine Kriegsgefangenschaft und die Frühphase der DDR, die er an der Arbeiter-und-BauernFakultät verbrachte, entsprechend in seinen Romanen Der Aufenthalt (1977) und Die Aula (1965) bereits zu DDR-Zeiten literarisch verarbeitet wurden, werden diese in ihrer Bedeutung markiert, jedoch nicht ausführlich rekonstruiert. Auffallend ist an dieser Stelle eine Lenkung des Leseverhaltens vonseiten des Autors Hermann Kant. Nun scheint er nämlich seine Rezipienten dazu bewegen zu wollen, seine früheren Texte autobiographisch zu lesen. Intertextuelle Bezüge, die in Abspann hergestellt werden, verweisen darüber hinaus eher auf eine Kontinuität denn auf eine ‚Wende‘ der ästhetischen Tendenzen, aber auch der Selbstwahrnehmung des Schriftstellers. Der Gründungsmythos der Aufbau-Generation – mit den Kindheitserfahrungen im Nazi-Deutschland und der ,rettenden‘ Kraft des Kommunismus – wird aktualisiert. Gezeichnet wird der Habitus des jungen Hermann als der eines „artig[en]“ (HKA 7) Kindes, das keine Neigung zur „Rebellion“ (HKA 6) hatte, das auch später „weder kräftig noch mutig war“ und sich „mit Einfällen durch die Gefährdung helfen“ (HKA 60) musste. Trotz der Einsicht in die frühe Konstitution des erzählten Ich reagiert der Erzähler mit Verwunderung und Enttäuschung auf die in einem Fernsehinterview von seiner Mutter geäußerte Feststellung, Hermann sei „ihr regierbarstes Kind gewesen“ (HKA 5). Diese Diagnose – die in der Autobiographie refrainartig in verschiedenen Formen und Zusammenhängen wiederkehrt – wird auf den Prüfstand gestellt. Das Fremdbild wird mit dem Selbstbild konfrontiert. Das Erzähler-Ich scheint darum bemüht zu sein, seine Entwicklung vom braven Kind zum kritischen Zeitzeugen auszumalen. Daraus entsteht eine Art Genealogie eines Kommunisten. Und da die erste Wahrnehmung jedes Menschen mit den Werten des Elternhauses und der unmittelbaren Umgebung stark verbunden ist, eröffnet der Einblick in die Familienverhältnisse auch diese Lebenskonstruktion. Der Wert der Kindheitsmuster wird auch in dieser Lebensgeschichte betont. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen (vgl. HKA 13) wird der junge Hermann zum Zeugen (und auch zum Opfer) sozialer Ungleichheit. Klassenunterschiede will er früh kennengelernt haben. Der eigene Vater – „Verächter alles Politischen“ (HKA 18) – wird vom Gärtner zum Straßenfeger degradiert (vgl. HKA 31). In Parchim, wohin die Familie aus Hamburg (Stadtteil Lurup) zieht, wird die Diskriminierung der Proletarier für den Schuljungen noch sichtbarer: Die Unverblümtheit Parchims bewährte sich an den Schulen ohne jegliche Hemmungen. Zwar waren unsere Nachbarsjungen nicht nur meine Marterknechte, sondern kamen mir auch blöd wie Mehlsuppe vor, aber als Sprosse des Gasdirektors besuchten sie das Gymnasium. Zwar galt mein Freund Gerhard als stockgescheiter Kerl, doch blieb er Volksschüler, da seine alleinstehende Mutter die Putzfrau des Gasdirektors war. (HKA 100) 62 Der Autor meidet nicht Redundanzen. Manche klingen zwar wie ein konsequent eingesetztes Mittel. Bei anderen entsteht eher der Eindruck, dass Wiederholungen – in der Fülle der angeführten Episoden – übersehen wurden oder auch im Hinblick auf das Gesamtkonzept nicht begründet erscheinen.

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In Parchim beobachtet das erzählte Ich, wie der Nationalsozialismus seine Triumphe feiert. Ohne eine Spur Sympathie kommt es auf diese Lebensstation zu sprechen und aus den Stellen geht nicht die Sicht eines Kindes von damals hervor, sondern eines Erwachsenen mit einem entsprechenden historischen Hintergrund, der auch den Ausgang der Geschichte kennt. Das erzählte Ich hatte bei seinem „ersten Schulanlauf“ 1932 seine Lehrer noch mit „Guten Morgen“ zu grüßen und im Jahr darauf mit „Heil Hitler“ (HKA 9). Obwohl Kant bei der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten sechseinhalb Jahre alt war – und für die Nazis kaum in Haft hätte genommen werden können (vgl. HKA 16) –, wird in den Parchimer Passagen eine Perspektive evoziert, die von der Naivität eines Kindes weit entfernt ist. So wird Parchim als „ein Städtchen“ charakterisiert, an dessen mittelalterlichen Kirchtürmen zwanzig Meter lang Hakenkreuzfahnen hingen und in dessen Bäckerläden ebenso oft Heil Hitler geschrien wie Brot gekauft wurde; geht man zu weit, wenn man sagt, ein solcher Platz sei ein rechtes Nazinest gewesen? Ich will die Legende nicht nähren, Hamburg habe dem Faschismus widerstanden, kein deutscher Ort hat das getan, und ich war einer der jubelnden Pimpfe, als meine Vaterstadt ihren Führer begrüßte […], aber in den Alltag Hamburgs eingebeizt wie in den Alltag Parchims war das Nazitum doch lange nicht. (HKA 105–106)

Das Städtchen wird zu einem negativen Beispiel. Und der Umzug von Hamburg nach Parchim wird als Ende der Kindheitsphase markiert (vgl. HKA 93). Diese Kindheit scheinen nicht Nazirituale ausgefüllt zu haben, sondern politische Diskussionen der Familienangehörigen, die in der überwiegenden Mehrheit als links orientiert  oder unpolitisch gezeichnet werden. So wird auch das Kind von damals als Zeuge der politischen Auseinandersetzungen dargestellt. Und da es in einem Milieu zur  Welt kommt, in dem weder Hindenburg oder Hitler gewählt worden seien  (vgl.  HKA  18) noch Hitler-Skulpturen oder -Bilder die Räume schmückten – „In diesem Hause diesen Scheitel nicht, mein Lieber“ (HKA 37), lautete der Satz seines Vaters –, wo seine zwei Onkel – der eine Sozialdemokrat, der andere Kommunist – in einem vehementen politischen Streit standen, scheint das erinnerte Ich mit einem kritischen Blick ausgestattet worden zu sein, der es vor der Faszination für das Reich des Führers bewahrte. Das Familienbild ist aber nicht so makellos, wie es der bisherigen Beschreibung zu entnehmen ist. Sowenig die Eltern Anhänger des Nationalsozialismus waren, waren sie auch keine Widerstandskämpfer. Wir sind regierbar geworden. Denn wie auch stimmt, daß wir keine Nazis wurden, stimmt ebenso, daß wir die Nazis nicht störten. Fast meine ich, das Regime habe in Friedenszeiten und am eigenen Volk ein Verfahren erprobt, das dann in seiner gepanzerten Version lange erfolgreich blieb: Mit äußerster Gewalt stieß man weit hinein in das zur Eroberung gewählte Terrain, zerschlug die Kernstücke des Widerstands, besetzte strategische Punkte im gewonnenen Gelände und überließ es der Zeit, durch Gewöhnung für Zerfall zu sorgen. (HKA 83)

Das konforme Verhalten seiner Eltern wird als Konsequenz ihrer Liebe zu den Kindern dargestellt und dadurch scheinen sie der Last der schweren Schuld enthoben zu werden. Den Vater hört das Erzähler-Ich nie Heil Hitler sagen (vgl. HKA 31). Für das

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Wohl seines Sohnes wäre er aber zu Kompromissen bereit. In diesem Sinne erwiesen sich auch die Eltern als regierbar. Zu meinem Kummer drückte er [der Vater – K.N.] sich vor den Ummärschen zum „Tag der Arbeit“, und als sie ihm mit der Freiwilligen Feuerwehr kamen, nahm er deren Namen beim Wort. Er ging in die „Arbeitsfront“, weil er sonst sogar die verhaßte Straßenfegerei losgeworden wäre, aber nie hörte ich ihn Heil Hitler sagen. Ich glaube jedoch, er hätte es gesagt, wenn mein Fortkommen damit verbunden wäre. Schließlich hinderte er mich mit keinem Wort, als ich ins Jungvolk wollte. (HKA 31)

All die kleinen Kompromisse erwiesen sich jedoch für den Werdegang des erzählten Ich wie auch vieler Kinder, die nicht dem wohlhabenden Bildungsbürgertum oder den Großbesitzerfamilien entstammten, als nutzlos. In der hierarchischen Ordnung dieses Gesellschaftssystems wurden für sie keine Aufstiegsmöglichkeiten vorgesehen. Die Erfahrung der sozialen Ungleichheit zusammen mit dem nationalsozialistischen Unheil, das nicht Städtchen wie Parchim, sondern die jungen Soldaten der Aufbau-Generation mit ihrem Leben wie mit ihrer Gesundheit bezahlt haben (vgl. HKA 131), bereiten den jungen Protagonisten auf die bewusste Entdeckung des Kommunismus vor. Zwar hatte er schon als Kind den ersten Kontakt mit den Linken verschiedener Provenienz, doch als Schlüsselerfahrungen erscheinen eher spätere Begegnung im Warschauer Lager (vgl. HKA 131). Seine Offenheit für sozialistisches Denken wird aber auf die frühen Prägungen zurückgeführt. Im Vergleich zu den überzeugten Nationalsozialisten wie zu den Mitläufern – ob aus Opportunismus, Angst oder Dummheit – erscheinen die Kommunisten als zuverlässig. Manchmal, und heute mehr denn je, wird man, und natürlich nicht von Kommunisten, gefragt, warum man (an dieser Stelle klingt nicht selten ein „um Gottes willen“ durch) Kommunist geworden sei. Ich habe darauf keine Antwort, die sich von denen, die man so kennt, wesentlich unterscheidet. Auch ich nenne unter mehreren Gründen die Verläßlichkeit, mit der (eine Zeitlang wenigstens) gekommen ist, was die Kommunisten sagten […]. (HKA 15)

Milieu- und generationsspezifische Einflüsse werden miteinander verschränkt und führen zusammen mit der individuellen psychischen Konstitution zur Wahl der einen oder anderen Option. Wird aber Kant im Jahre 1989 aus seiner Kommunismusgläubigkeit ein Vorwurf gemacht, erschien diese vor der ,Wende‘ als Alternative zu der nationalsozialistischen Ideologie der Herrenrasse, die in einen zerstörerischen Krieg mündete. Die nationalsozialistische Schule wird in Abspann nicht ausführlich thematisiert. In dem idealisierten Lurup „machte sich der Hitler-Kram nicht übermäßig bemerkbar“: Rektor Hahn liebte es zwar, sich in schwarzer SS-Uniform zu zeigen, aber von den meisten Lehrern hieß es, sie seien ehemalige Sozialdemokraten, die sich in der Stadtrandsiedlung bewähren sollten. An mir haben sie das getan; ihr Unterricht beschwerte mich nicht, ihre Tonlage erreichte mich […]. (HKA 84)

Den ideologischen Einflüssen werden Kinder und Jugendliche nicht nur im Schulunterricht oder in Kinder- und Jugendorganisationen – und das erzählte Ich wird

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nur im Zusammenhang mit dem Jungvolk erwähnt – ausgesetzt. Sie übernehmen Verhaltensmuster auch von Lektüren, Kinofilmen und Kinderspielen. Und hier muss das Erzähler-Ich selbstkritisch zugeben, auch er konnte sich diesen Einflüssen nicht widersetzen, weil sie ihm nicht bewusst wurden. Die bei Kindern für wünschenswert gehaltene Leselust führte ihn gerade zu den von der deutschnationalen Ideologie durchtränkten Texten. Die Einsicht kommt erst Jahre später: Auch so blieb vom völkischen Schrifttum übergenug an mir hängen. Ich sehe den entsetzten Blick von Hans Reitzig noch, dem Leiter unserer Antifa-Gruppe in Warschau, als ich auf seine Aufforderung hin, einmal zu sagen, was ich so gelesen habe, die braunen und bräunlichen Barden in wahrscheinlich beängstigender Vollständigkeit aus meinem Kopfe aufmarschieren ließ. Ob Zöberlein oder Mirko Jelusich, ob Benn von Mechow oder, selbstverständlich, Dwinger, ob Felix Dahn, Hermann Löns, Ettighofer, Zischka oder Beumelburg, ob also die milden Großväter der deutschnationalen Bewegung oder die schreibenden Totschläger des Dritten Reiches, sie waren in mir angetreten, die Reihen fest geschlossen, und hielten besetzt, was wirklicher Literatur ein Platz hätte sein können. (HKA 85)

In diesem Kontext markiert das Erzähler-Ich einen gravierenden Unterschied in der Wahrnehmung des deutschnationalen Gedankenguts gegenüber der älteren Generation – die hier die Antifaschisten wie der im Zitat erwähnte Reitzig vertreten sollen – wie auch gegenüber seinen Altersgenossen. Die Jüngeren wurden mit keinen Vergleichsgrößen ausgestattet. Im Gegensatz zu seinem Gesprächspartner war das erzählte Ich kein „scharfsinnige[r] und eloquente[r] Berliner Jurist[…] aus der KP-Opposition“ (HKA 85), der seinen Leserblick an Werken Prousts, Barbusses, Kafkas und Kästners geschult hatte. Der Aufbau-Generation ist dieser Bildungsweg verschlossen: Für mich – ich kannte die meisten der von ihm [Reitzig – K.N.] genannten Verfasser nicht einmal beim Namen – waren es einfach zeitgenössische Autoren. Als ich die Bibliotheken betrat, hatten Barbusse und Kafka schon gebrannt, und ich wußte kaum davon. (HKA 85)

Die Bildungsdefizite haben die Chance, erst nach dem Kriege nachgeholt zu werden. Vor allem die literarische Moderne wird für die Aufbau-Generation ein Neuland. Als Schlüsselerlebnis wird die Kriegszeit markiert. Auch wenn diese Zeitspanne nicht ausführlich beschrieben wird, geht aus den Kriegspassagen eine Erschütterung hervor, die nicht ohne Einfluss auf das spätere Leben blieb. Der Krieg zerstört nämlich seinen Vater und beschädigt auch das Familienleben. Paul Kant kehrt aus dem Kriege „todwund“ (HKA 147) und hat auch nicht mehr lange zu leben. Das Leiden des Vaters kann nicht einmal vor den Kindern versteckt werden. Nach einer durstmachenden Übung griff er [der Vater – K.N.] im bäuerlichen Quartier die falsche Flasche und verätzte sich den Schlund mit Natronlauge. Man brachte ihn nach Rostock ins Lazarett, aber die Speiseröhre konnte ihm niemand öffnen. So öffneten sie ihm Bauchdecke und Magenwand, legten einen Gummischlauch in den Schnitt, sorgten mit chemischen Mitteln, daß der nicht verheilt – künstliche Fistel nennt man das, wie ich schaudernd lernte –, verschrieben ihm einen gläsernen Trichter und entließen ihn nach etlichem Bedenken aus der Deutschen Wehrmacht. (HKA 147)

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Die Sinnlosigkeit des Krieges kommt in der Gestalt des Krüppels unverhüllt zum Ausdruck. Von nun an müssen sich auch die Kinder und die Frau den neuen Spielregeln anpassen. Die Frau habe dabei ihre Größe gezeigt (vgl. HKA 148), indem sie die Launen ihres Mannes ertrug und ihren vier Kindern neue Verhaltensmuster anzugewöhnen versuchte. „[M]it einem saftigen Apfel zwischen den Zähnen in die Küche zu stürzen oder lauthals von Speis und Trank zu reden“ (HKA 148) war von nun an tabu. Drei „Sterbejahre“ (HKA 150) des Vaters werden verzeichnet, der im August 1945 in Folge der Unterernährung stirbt. Ja, doch, es hat blutigere und schmutzigere Geschichten gegeben – konstatiert das Erzähler-Ich –, aber mir reicht diese. Mit heldischen Toten war zu rechnen gewesen, mit einem verwitternden Vater, der sich Brei durch einen Trichter in den Magen goss, nicht. Ich hatte den Krieg für gefährlich gehalten; in unserer Küche sah ich, welche Gemeinheit er war. Ich finde, er und die dazugehörende Nazizeit haben meinen Eltern etwas viel aufgeladen. Mag sein, es kam ihnen ein Anteil zu, aber es ist ein ungerecht großer Anteil geworden. (HKA 148–149)

Die Grausamkeit des Krieges bekommt das erzählte Ich aber noch direkter zu spüren, denn auch ihm blieb das Kriegsgeschehen nicht erspart. Und auch wenn es beim „Jawohl!“ „Du Arsch!“ (HKA 146) gedacht hatte, konnte es sich den Folgen des verbrecherischen Krieges nicht entziehen, mit denen es in Polen konfrontiert wurde. Besonders eindrucksvoll wird sein Aufenthalt in Obóz Pracy Warszawa (vgl. HKA 388) beschrieben, wo die deutschen Häftlinge in einem Gebäude des ehemaligen Gettos untergebracht wurden, ohne davon gewusst zu haben. Auch die Kommunisten haben den Insassen den bedrückenden Umstand verschwiegen (vgl. HKA 395), weil dieser die Gefangenen noch mehr zu Boden gedrückt hätte (vgl. HKA 394–395). Das ErzählerIch gibt zwar zu, dass es damals noch nicht alles wusste. Es sah aber genug, um sich ein Bild von den Naziverbrechen machen zu können. Traumatische Erlebnisse wie die Entsorgung der Leichen hinterließen Spuren: Glaubet mir, ich hätte nicht sagen können, mit wem ich es zu tun hatte, wenn meine bloße Hand durch rissige Haut und stinkenden Schleim auf bloße Knochen geriet. War’s ein Gerechter, war’s eine Ungerechte […]? Durch den Gestank hindurch war das alles nicht zu erkennen, überm Schrei der reißenden Haut vernahm ich nichts davon. […] Ich fand […] mich zu der Vermutung hindurch, die Leute, so klebrig tot, könnten noch knusprig leben ohne August 14, September 39 oder ähnliche Termine dazwischen und seither. (HKA 436)

Das erzählte Ich mutiert nicht zu einem Pazifisten, wenn auch ihm eine Art Friedensbedürfnis zuteilwurde. Eine antifaschistische Haltung wird aber zum festen Bestandteil seines Weltbildes. Und auch ihr scheint die Aufgabe des Schriftstellers untergeordnet zu sein. Denn auch wenn Schriftsteller den Krieg nicht mit Waffen bekämpfen können, leisten ihre Bücher dem Erzähler zufolge einen Beitrag zur Zerstörung seines guten Rufs (vgl. HKA 437). Als eines dieser Werke kann auch Hermann Kants Der Aufenthalt gelten. Die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und der Einblick in die Kriegsverbrechen können die Bereitschaft des erzählten Ich erklären, beim Aufbau des sozia-

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listischen Staates mitzumachen. Es wird im Text zwar nicht explizit darauf verwiesen. Dieser Eindruck geht aber aus der Zusammenstellung der nationalsozialistischen Gräueltaten mit der ethischen Haltung der Antifaschisten hervor. Dazu kommen noch die vom neuen Staat angebotenen Aufstiegschancen. Für einen, der im Hitlerdeutschland nur zum Elektriker ausgebildet wurde, bedeutet das im „Expreß- und Preßkurs“ (HKA 53) an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät gemachte Abitur und das anschließende Studium an der Humboldt-Universität (vgl. HKA 54) einen gesellschaftlichen Aufstieg. Auch das erzählte Ich scheint dabei die hierarchische Ordnung der DDR anzuerkennen, versteht sich in den ersten Jahren eher als Gehilfe der bewunderten Patriarchen. Die namhaften Altkommunisten, darunter antifaschistische Widerstandkämpfer und Emigranten, tauchen immer wieder auf. Und es wird über sie nicht ohne Bewunderung geschrieben, auch wenn ihre menschlichen Makel erwähnt werden. So werden in Bezug auf Erich Honecker Elemente seiner Vita genannt, die seine Stellung in der DDR-Hierarchie sicherten. Es gehörte zum Personenkult um Ulbricht, daß man von seinen Gehilfen wenig wußte. Aber die zehn Jahre Brandenburg wußte man, und mir reichten sie hin, um Erich Honecker so gut wie alles einzuräumen. […] Ich war etwas vertraut mit dem Leben unter Verschluß und ahnte die Stärke, die einer braucht, wenn er durchkommen will. […] Es ist ein Zuchthaus-Bonus gewesen, den ich Honecker sehr lange in jede Rechnung setzte […]. (HKA 282)

Das erzählte Ich kann einen vergleichbaren Nachweis des Widerstands nicht vorlegen. Dass es mit der Aufnahme in den Schriftstellerverband in ein Elitengremium aufgenommen wird, wird als eine Ehre dargestellt. Gezeigt wird der Sachverhalt nicht als Karrierestufe, sondern als eine Begebenheit mit einer persönlichen Dimension. Denn er wird in den Kreis der von ihm Bewunderten aufgenommen. Für mich war die Aufnahme in eine Organisation, in der man Seghers, Zweig, Renn, Uhse, Marchwitza, Claudius, Bredel, Herzfelde, Abusch, Arendt, Maurer und Weiskopf treffen konnten, von Hermlin in diesem Zusammenhang gar nicht zu reden, eine Sache der Ehre, und eine der Eitelkeit war es, Kollege nun von Strittmatter, Fühmann, Bobrowski, Kohlhaase, Rücker, Kunert, Strahl, Brĕzan, Wiens, Pludra und Christa Wolf zu heißen. Ich hatte mich beworben; hatte nicht gemußt, sondern gewollt. (HKA 483)63

Die namhaften Autoren, die hier nicht zufällig so zahlreich genannt werden, werden beinahe als Alibi zu Hilfe gerufen, als wären die Emigranten und die antifaschistischen Widerstandskämpfer im Stande den guten Ruf des Schriftstellerverbandes samt des guten Rufs Hermann Kants zu retten. Auffallend ist der hierarchische Aufbau der Namensliste. In der ersten Reihe – als Vorbilder – werden die Vertreter der Mis63 Die Liste wird noch weiter ergänzt. In diesem Gremium gibt es auch Nazi-Opfer: „Buchenwald war mit Apitz präsent, Sachsenhausen mit Selbmann, Auschwitz mit Peter Edel, die Barnimstrasse mit Eva Lippold […].“ (HKA 485).

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strauischen Patriarchen genannt. Darunter tauchen Namen von Exilanten (wie etwa Seghers oder Zweig) und Spanienkämpfer (wie Renn, Marchwitza oder Claudius) auf. Vor allem handelt es sich um kommunistische Aktivisten, die sich der Bewegung nicht erst nach dem Bankrott des Nationalsozialismus angeschlossen hatten, sondern nicht selten Jahre vor dem Krieg die KPD unterstützt hatten. Als Kollegen, was auf den gleichen Rang verweist, werden vorwiegend Vertreter der Aufbau-Generation erwähnt – mit der Ausnahme Erwin Strittmatters. Wie bereits im letzten Kapitel gezeigt, passt sich Strittmatter, dessen Biographie – wie spätere Recherchen nachgewiesen haben – als Baustein des DDR-Gründungsmythos kaum geeignet war, dem Habitus nach der Aufbau-Generation an, die nach ihrem Verhalten im Dritten Reich nicht gefragt wird. In Abspann werden neben Namen auch Daten genannt, anhand deren sich auch einige Schlüsselerfahrungen rekonstruieren lassen. Als lebensprägend erscheint eindeutig die Zeit des Nationalsozialismus, die auch das erzählte Ich in der DDR als dem Land des Antifaschismus eine Alternative zu der zerstörerischen Ideologie des HitlerDeutschlands und auch für sich eine Aufstiegsmöglichkeit sehen lässt. Der Arbeiterund-Bauern-Aufstand vom 17. Juni 1953 wird zwar erwähnt, ohne dass er als Erschütterung markiert wird. In der topographisch geordneten Erzählweise wird in Bezug auf „[d]ie Ecke Unter den Linden/Friedrichstraße“ nur beiläufig die Haltung des erzählten Ich zu den Ereignissen erwähnt: „Ich hatte meins versucht, der Menge den Auflauf auszureden; das Geschichtsbuch weiß, mit welchem Erfolg.“ (HKA 295) Die Feststellung wird auch an einer anderen Stelle der Autobiographie wiederholt. Das Erzähler-Ich erinnert sich wieder an einen Ort, „nahe dem Punkt, an dem ich morgens um sieben am 17. Juni 1953 versuchte die Streikentschlossenen zur Umkehr zu bewegen.“ (HKA 426) Eine tiefgreifende Analyse des Aufstands ist hier kaum zu finden. Der Erzähler fasst das Ereignis in diesen wenigen Worten zusammen, die auch zeigen wie wenig ergriffen er von der Bewegung war. Das Jahr 1953 scheint ihn nicht erschüttert zu haben. Ähnlich wird seine Reaktion auf den Mauerbau charakterisiert. Im Rückblick auf die Ereignisse des Jahres 1961 und die Fluchtwelle, der durch die Schließung der Grenze endgültig ein Ende gesetzt wurde, konstatiert der Erzähler – und beweist damit wieder seinen Wissensvorsprung im Vergleich zum erinnerten Ich – „Die Mauer […] verschaffte, auch wenn sie letztlich zu seinem Verschwinden beitrug, dem Staat, den sie bewahren sollte, eine Atempause.“ (HKA 466) Als Einschnitt im persönlichen Sinne wird der Mauerbau nur insofern markiert, als das erzählte Ich seine regulären Kino-Besuche mit der mittlerweile im Westen wohnenden Mutter aufgeben muss. Als eine Tragödie wird es allerdings nicht skizziert. Die Bedeutung der Mauer wird heruntergespielt: Dies ist vielleicht der Platz für ein Bekenntnis, das mir nichts als schwere Schelte bringen wird: Von allem, was entfiel, als die Mauer entstand, hat mir womöglich am meisten das Kino gefehlt. Ich könnte immer noch in den Stadtplan eintragen, wo zwischen Spandau und Neukölln oder Reinickendorf die Lichtspielhäuser standen, deren kennerischer Kunde ich in meinen zehn Berliner Vor-Mauer-Jahren war. (HKA 55)

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Als Freiheitverlust wird der Mauerbau nicht dargestellt. Auch die Trennung von der Mutter wird nicht sonderlich stark akzentuiert. Das erzählte Ich fühlt sich nicht ,eingesperrt‘. Der Eindruck, dass an dieser Stelle der DDR-Funktionär den Sachverhalt im Rückblick verharmlosen will, ist wohl begründet: Seit Wochen hatten Stephan Hermlin und ich die Berliner Dinge beredet und waren uns einig: Eine Mauer durch die Stadt werde es nicht geben. Und als es sie dann zu geben begann, fing ich nicht an, nun jegliches für möglich zu halten, sondern sah vom verschwindenden Westberlin nur, was mich ihm verbunden hatte. Das war nicht viel. (HKA 56)

Um das Bild zu vervollständigen, wird das Leid der in Westberlin wohnenden Mutter herbeizitiert: „Ich hatte meine Mutter in einer Westberliner Baracke vielmals weinen sehen […].“ (HKA 57) Das erzählte Ich hat also keine emotionalen Bindungen zum Westteil der Stadt, so dass es die Teilung einfach hinnimmt. Und auch über dreißig Jahre später reflektiert das Erzähler-Ich seine Einschätzung der Lage von damals kaum. Solche Stellen veranlassen Kritiker dazu, Kants Umgang mit Tatsachen zu hinterfragen. Paul Gerhard Klussmann charakterisiert Abspann als „eine Autobiographie mit zu vielen Gedächtnislücken, mit einer auffälligen sprachlichen Verharmlosungstendenz, mit unpräzisen politischen Aussagen ohne jede gedankliche oder zeithistorische Tiefe. Das Ich erweist sich als idealtypisches Untertanensubjekt.“64 Intensiver setzt sich der Erzähler mit den Folgen der Biermann-Ausbürgerung und mit der ,Wende‘ auseinander, die für ihn – aus der Perspektive der Nachwendezeit – eine persönliche Dimension zu haben scheinen. Es handelt sich um Ereignisse, die den Funktionär Kant berühren. Dieser fühlt sich dadurch anscheinend verpflichtet, seine Entscheidungen und seine Lage zu rekonstruieren und zu erklären. Mit einem Schuldbekenntnis hat dies dennoch nichts zu tun. Stattdessen muss sich der Leser mit einer Reihe von Ausweichmanövern begnügen. So erscheint das erzählte Ich im Zusammenhang mit der Biermann-Affäre weniger als ein Akteur, sondern eher als ein Ahnungsloser, dem unbegründet Schuld an der Entscheidung zugeschoben wird. [S]eit einem Konzert in Köln und einem Komplott in Berlin hatten wir Biermann-Zeit, und unsereins zog keinen Gewinn aus der Affäre, unsereins machte nur Verlust. Wie die Empörung die Aufenthaltsverweigerer nicht erreichte, erreichte sie doch den Aufenthalt-Verfasser und nahm sich seiner an, als sei er nicht ahnungslos, sondern oberster Ahnder gewesen. Sowenig ich das war, sowenig ließ ich öffentlich davon verlauten […]. (HKA 394)

Mit dem Fall Wolf Biermanns scheint sich der Ich-Erzähler weniger aus Interesse am Schicksal des Liedermachers zu beschäftigen. Mehr Aufmerksamkeit schenkt er den Folgen der Ausbürgerung für sein eigenes Leben. Die Biermann-Affäre – die viele AutorInnen dazu brachte, sich der Willkür der Machthaber zu widersetzen – markiert Kants Position als Funktionär, die er allerdings in den Aufzeichnungen herunt-

64 Zit. nach: Grub: Wende und Einheit, S. 314.

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erzuspielen versucht. Dass er von seinen Schriftsteller-Kollegen und von den für einen Freund gehaltenen Hermlin zur Unterzeichnung der Petition nicht aufgefordert wurde, kann als ein Zeichen des Misstrauens Hermann Kant gegenüber gedeutet werden. Dieser Sachverhalt wird zum Problem des erzählten Ich: Immer noch ist mir nicht völlig klar, warum mich von denen keiner aufgefordert hat, beim Versuch mitzutun, den Rausschmiß rückgängig zu machen. […] Wer von meinem Einfluß auf die Bewegungsrichtung des Verbandes wußte, konnte mich kaum für einen verstockten Dogmatiker oder knechtischen Dumpfnickel halten. Wer ein wenig von mir kannte, durfte nicht glauben, mir gelte die Ausbürgerung eines Künstlers für Politik. Meine Bücher waren da, meine Reden, aber vor allem gab es eine Rollenänderung der Schriftstellerorganisation […]. (HKA 445–446)

Kant scheint darum bemüht zu sein, seinen guten Ruf als Vorsitzender des Schriftstellerverbandes zu sichern, indem er negative Erscheinungen verschweigt. Wolfgang Emmerich verweist in diesem Zusammenhang auf Kants „Beihilfe zu Zensur und Schikanierung“,65 die der Autor von Abspann nicht wahrhaben will, woraus der Eindruck entstehen kann, „daß der Autor sein Tun nachträglich schönredet oder auch, so treffend Günter de Bruyn, ,zerredet‘ und sich damit ,der Selbstauseinandersetzung entzieht‘.“66 Zwar scheint das Erzähler-Ich nach einer Antwort zu suchen, warum er in die Pläne der Petitionisten nicht eingeweiht wurde. Im Grunde präsentiert er aber mehr eine vorgefasste Meinung. Aber wieder zu der weit wichtigeren Frage, warum mich im November 76 niemand zuzog, und die unangenehmste der möglichen Begründungen zuerst: Man traute mir nicht über den Weg, fürchtete, die Regierenden würden sogleich von mir unterrichtet werden. – Alles andere einmal beiseite, wäre solche Erklärung nicht sehr logisch, denn eben um schnellste Unterrichtung im Sinne schnellsten Protestes ging es den Kollegen ja. […] Die (von mir nur angenommene) Erklärung bekommt erst Sinn, wenn man auf jeden Fall den Westen vor dem Osten erreichen wollte und glaubte, ich werde etwas zu verhindern suchen, was ich, wenn es dann geschehen war, in der Tat kritisierte. Nun von den denkbaren Begründungen eine halbwegs schmeichelhafte: Man wollte sich auf einen Disput mit mir nicht einlassen. Doch auch das entfällt, denn einen Autor, der einem anderen lebenden Autor mehr Überzeugungskraft als sich selber zutraut, gibt es nur selten. (HKA 452–453)

Auch wenn diese beiden Gründe abgelehnt werden, wirft diese Argumentation einen Schatten auf die Petitionsschreiber, so dass bei dem Leser Zweifel an deren Prämissen hervorgerufen werden mögen, und wertet die ethische Haltung und die intellektuellen Fähigkeiten Hermann Kants auf. Der Sachverhalt wird schließlich ins Positive umgedeutet.

65 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 482. 66 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 482.

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Stephan Hermlin verhindert es; er hat mir den Grund genannt, als wir dann doch darüber sprachen; er nannte ihn, aber ich verstand ihn nicht. […] Die Auskunft, deren Bedeutung ich nicht begriff, lautete: „Ich sagte, man soll dir das ersparen, du bist in der Bezirksleitung.“ […] Ich habe bis in diese Tage gebraucht, um Hermlins Worte von 76 zu verstehen. Ich mußte viele Schichten der Erinnerung abtragen, ehe ich begriff, vor welcher Kollision er mich bewahren wollte. Ich verstand nicht, daß er nicht die gesamte Leitung meinte, sondern mir zum privaten Konflikt mit einem ihrer Mitglieder den politischen ersparen wollte. Oder die Vermengung des einen mit dem anderen. (HKA 461)

Von einem Gegner der Petitionisten wird Kant im Kapitel XIX seiner Autobiographie zu einem – moralisch und intellektuell vielleicht sogar überlegenen – Gleichgesinnten, der vorsichtshalber von seinem Freund verschont wird. Zwischen den Zeilen wird Kants Scharfsinn betont, der – im Gegensatz zu vielen Unterzeichnern der Petition – in die geheimen Mechanismen der DDR-Kulturpolitik eingeweiht wurde und die Absichten der Protestierenden durchschauen konnte, der schließlich durch seine exponierte Position in der DDR mehr riskieren würde als andere Schriftsteller. Zum Themenkomplex um die Biermann-Ausbürgerung gehört auch die darauf folgende Welle der Ausschließungen aus dem Schriftstellerverband, an der Funktionäre wie Hermann Kant beteiligt waren. In diesem Kontext hätte das Erzähler-Ich eine Chance, die Haltung des erzählten Ich zu hinterfragen. Auch diesmal greift es aber eher zu Ausweichmanövern als zu einer grundlegenden Aufklärung. So werden die Auseinandersetzungen des Jahres 1979 als „Rathaus-Desaster“ (HKA 470) oder auch „Rathaus-Affäre“ (HKA 489) zusammengefasst. Der Erzähler distanziert sich von den Entscheidungen, die der Parteiführung zugeschrieben wurden. „[D]ie Affäre war nicht der Verband, unser Irrtum nicht unser Leben, und DDR-Literatur ist kein Druckfehler gewesen“ (HKA 489), heißt es in der Autobiographie, als möchte das Erzähler-Ich zu einem durchdachten und differenzierten Umgang mit Episoden der DDR-Geschichte bewegen. Statt diese Chance selber zu nutzen, scheint er eher die Anschuldigungen abzutun, als wären ausschließlich die Anderen für den Ausschluss und die anschließende Ausreisewelle der namhaften SchriftstellerInnen verantwortlich:67 Die Leute im Obersten Büro […] schienen vom Zusammenhang zwischen dem wilden November 76 und dem wilden Frühjahr 79 nichts zu ahnen, oder wenn, dann dachten die meisten von ihnen vermutlich, sie hätten damals nicht nur den einen schrillen Solisten, sondern den ganzen mißtönenden Chor vor die Tür setzen sollen. (HKA 471)

67 Kants Umgang mit den Fakten empört Günter de Bruyn, dem als einem der Unterzeichner der Petition die Kulissen nicht fremd waren. Die Selbststilisierung Kants wird von de Bruyn scharf kritisiert: „Unter dem Stichwort ,Rotes Rathaus‘, dem Tatort der unguten, aber gut dokumentierten Geschichte, wird dieser dunkle Punkt in des Verfassers Karriere oft angespielt und mehrmals umgangen, mit innerparteilichen Machtkämpfen auf höchster Ebene verwoben […] und schließlich in einem Schuldbekenntnis zerredet, das Kants würdig ist.“ (de Bruyn: Scharfmaul und Prahlhans).

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Das Erzähler-Ich distanziert sich von den Entscheidungsträgern – was in der Verwendung der dritten Person Plural zum Vorschein kommt –, wodurch es seine damalige Haltung zwischen der Partei und den Unterzeichnern der Petition verortet, als stünden die beiden Pole einander als Extreme gegenüber, denen seine Kritik gilt. Dass das erzählte Ich zum damaligen Zeitpunkt aber kein Zuschauer war,  sondern reale politische Macht hatte, wird nicht genügend akzentuiert,  so dass dem mit den DDR-Verhältnissen vertrauten Leser die vorgenommene Stilisierung auffallen muss. Markierte das Jahr 1976 mit seinen Folgen eine Irritation für den Funktionär Kant, bringt das Jahr 1989 eine Erschütterung für den Funktionär, den Schriftsteller sowie für den DDR-Bürger Kant. Im Vergleich zum literarischen Zeugnis etwa Günter de Bruyns sind Kants Aufzeichnungen um die Wendezeit eher pessimistisch. Ironisch wird der Umbruch als „das gloriose Jahr 89“ (HKA 530, 513) bezeichnet. Die Ereignisse verdienen in den Augen des Erzählers nicht den Namen einer Revolution. Denn „[w]as […] ist revolutionär an der Wiederherstellung des Kapitalismus“ (HKA 531), lautet seine rhetorische Frage. Im Gegensatz zu vielen DDR-Bürgern zeigt er keine Freude. Zum Untergang wird nämlich „die Arbeiter- und Bauern-Republik“ (HKA 531) verurteilt, die er befürwortete und teilweise mitschuf. Mit dem Verschwinden des sozialistischen Staates scheint auch ein wichtiger Teil seiner Identität verloren zu gehen. Ein solcher Deutungsansatz wird auch durch eine Passage bekräftigt, in der die – allerdings nicht tiefgründige – Reflexion über die neuesten Ereignisse mit der Selbstbeobachtung zusammengestellt werden. „Es geht nun einmal um mein Leben“ (HKA 531), heißt es an der erwähnten Stelle. Und der Band wird mit einer Szene beschlossen, in der der 8. Oktober 1989 beschrieben wird: „Am 8. Oktober 89 jährte sich Ernie Meyers68 Todestag zum ersten Mal, und die Deutsche Demokratische Republik begab sich in ihr einundvierzigstes und letztes Lebensjahr. Stunden zuvor hatte Gorbatschow untern Linden gesagt: ,Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!‘ […].“ (HKA 532) Auf dem Weg zum Friedhof treffen das erzählte Ich und seine Frau einen Unbekannten. Die eigenen Zweifel werden auf eine fremde Gestalt projiziert: Aus einem der Koloniegärtchen […] trat ein älterer Mann und fragte hastig und zu leise für meine schlechten Ohren: „Wie geht denn das hier nun weiter, Genosse?“ Das wisse ich auch nicht, antwortete ich, und fast beruhigt ging mein Genosse in seinen Schrebergarten zurück. Wir aber sind beunruhigt zu der Grabstelle mit den wenig beschwichtigenden Ortsnamen gegangen. Wir legten Steine auf die gemauerte Einfassung und blieben still. Von der fernen Stadt hörte man nichts, und die Schalmeien schrien schon lange nicht mehr. (HKA 533)

68 Gemeint ist Ernst Hermann Meyer (Jahrgang 1905), Komponist, Musikwissenschaftler, Präsident des Verbands Deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler, Mitglied der KPD, dann der SED. (Vgl. Wer war wer in der DDR. Ein biographisches Lexikon, hg. von Müller-Enbergs/Wielgohs/Hoffmann. Berlin 2006, S. 576).

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In den letzten Worten des Bandes –, die in der oben zitierten Passage wiedergegeben wurden – kommt ein resignierter Ton zum Vorschein. Die Friedhofsszenerie wird der Trauer der älteren Menschen um den symbolischen Tod ihres Staates gegenübergestellt. Der Ausgang der Geschichte wird offen gelassen. Was zurückbleibt, ist Unsicherheit. Hermann Kants Autobiographie Abspann wird nicht ohne Vorbehalte aufgenommen, und zwar sowohl von den westdeutschen als auch von manchen ostdeutschen Rezipienten. Die Buchbesprechungen enthalten viele kritische Punkte. Diese reichen von der Form der Aussage über ihren Ton bis zu dem Inhalt. Ein prägnantes Beispiel liefert ein Schriftsteller seiner Generation, im gewissen Sinne also ein Schicksalsgenosse, nämlich Günter de Bruyn. Als Involvierter darf er sich eine härtere Kritik erlauben als die westdeutschen Rezensenten, deren Argumente immer mit dem Vorwurf abgewehrt werden könnten, sie beziehen sich auf Gegebenheiten, von denen sie wenig Ahnung haben. Der DDR-Schriftsteller kann aber nicht nur die Sachverhalte beurteilen, die von Kant zur Sprache gebracht werden, sondern auch Aspekte herausfinden, die entstellt oder auch verschwiegen werden. De Bruyn bezeichnet Abspann als ein „redselige[s]“ und „enttäuschend[es]“69 Buch, in dem der Autor „prahlt“ und immer „auf Beifall aus [ist] oder auf dessen Gegenteil.“70 Die Selbstbezogenheit eines Autobiographen ist kein Einzelfall und verstößt nicht gegen die Verhaltensregeln. Was Günter de Bruyn stört, ist der dadurch entstehende Mangel an Selbsterkenntnis,71 eine entstellte Version der DDR-Geschichte. Die Schwachstellen fasst de Bruyn wie folgt zusammen: Da er Schwierigkeiten mit seinem Roman Impressum hatte und ihm für die Aula sogar ein Nationalpreis vorenthalten wurde, sieht er sich einerseits als Opfer, andererseits aber als Haupt der kritischen DDR-Autoren, die sich in der Literatur Freiräume erobert hatten, die es anderswo nicht gab […]. Er klagt über den Bau der Mauer, da durch sie seine Kinoleidenschaft eingeschränkt wurde, ohne daran zu denken, daß die Mauer für ihn kaum bestand. Das moralische Problem der Privilegien ist ihm überhaupt noch nicht aufgegangen. Daß keiner das lesen durfte, was er ständig las, den Spiegel zum Beispiel, erwähnt er gar nicht. […] Als man ihm sagt, er sei ein mächtiger Mann, kann er das gar nicht begreifen […]. Er versteht auch nicht, warum Leute ihn meiden, Christa Wolf zum Beispiel, der er doch gar nichts getan hat; […] (Franz Fühmann, der auf dem Totenbett noch verfügte, daß Kant bei der Trauerfeier für ihn nicht anwesend sein sollte, spart er bei seinen Klagen über die unverdienten Anfeindungen sicher nicht zufällig aus.)72

Hermann Kant konstruiert in den Augen seines Berufskollegen seine Biographie aus Versatzstücken, die den Anforderungen der Zeit angepasst werden, wobei er unangenehme Inhalte ausspart.73 Der apologetische Ton entgeht auch nicht seiner Auf69 de Bruyn: Scharfmaul und Prahlhans. 70 de Bruyn: Scharfmaul und Prahlhans. 71 Vgl. de Bruyn: Scharfmaul und Prahlhans. 72 de Bruyn: Scharfmaul und Prahlhans. 73 De Bruyn beschreibt Kants Strategie wie folgt: „Er redet zuviel um das Erzählte herum. Glänzende

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merksamkeit. Dieser Auslegung der DDR-Geschichte stellt Günter de Bruyn kurz darauf seine eigene Narration entgegen.

5.2 „Unspektakuläre Resistenz“ oder Günter de Bruyns Überlebensstrategie War Hermann Kants Leben und Werk sehr stark mit der DDR verbunden, so dass ihm die Position eines Repräsentanten der parteitreuen Linie zugewiesen werden darf, ist die Verortung Günter de Bruyns74 weniger eindeutig. Seine literarische Laufbahn beginnt in den 1960er Jahren. Früh zieht er die Aufmerksamkeit der DDR-Leser auf sich. Erst später gewinnt er im Westen an Bedeutung.75 Von Literaturkritikern der Bundesrepublik wird er als eine der „eindrucksvollsten und sympathischsten Gestalten“76 der DDR-Literatur bezeichnet. Anlässlich des 80. Geburtstags des Schriftstellers charakterisiert Peter Mohr seine Gestalt wie folgt: Günter de Bruyn hat es verstanden, sich durch vier Jahrzehnte DDR-Diktatur hindurchzulavieren, ohne sich zum Büttel der Machthaber degradieren zu lassen. Allerdings gehörte der in Ost wie West gleichermaßen renommierte Autor (unter anderem bekam er den Heinrich-Mann-Preis, den Lion-Feuchtwanger-Preis, den Heinrich-Böll-Preis, den Bonner Curtius-Preis und den Konrad Adenauer-Preis) auch nicht zum Kreis der lautstarken Oppositionellen gegen das SED-Regime.77

Tatsächlich war Günter de Bruyn kein Kämpfer an vorderster Front. Er schien eher im Schatten zu stehen, auch wenn seine Position weit von der parteitreuen Linie etwa Hermann Kants entfernt war. Er wusste zwischen den beiden Extremen geschickt zu Formulierungen entwertet er durch sein Bestreben, ihnen eine Überdosis an Glanz zu geben, und da er Witz und Originalität, die er oft hat, in jedem Satz unter Beweis stellen will, wird er langstielig und umständlich, während das, was erzählt werden soll, stockt. Man liest und liest, bleibt aber oft auf der Stelle und fragt sich, ob die vielen Umschreibungen und Verschränkungen, die dem Autor anscheinend zufliegen, dem Leser aber gesucht erscheinen, nur schmückendes Beiwerk sind oder etwas verbergen sollen, die Wahrheit vielleicht.“ (de Bruyn: Scharfmaul und Prahlhans). 74 Den in der Überschrift angeführten Begriff übernehme ich von Joachim Walther. (Joachim Walther: Stille Bestimmtheit, sanfte Beharrung. Zur politischen Rolle Günter de Bruyns in der DDR. In: Lothar Jordan (Hg.): Geschichte und Landschaft. Beiträge zu Günter de Bruyn. Mit einem Text von Günter de Bruyn. Würzburg 2009, S. 62). 75 Vgl. dazu Anja Kreutzer: Untersuchungen zur Poetik Günter de Bruyns. Frankfurt a.M. u.a. 1995, S. 11. 76 Walter Hinck: Zaudern im Hinterhaus. Günter de Bruyns Lebensbericht Vierzig Jahre. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (13.11.1996), URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/rezension-belletristik-zaudern-im-hinterhaus-11312635.html (letzter Zugriff: 27.07.2016). 77 Peter Mohr: Noch viele Bücher schreiben. Zum 80. Geburtstag des Schriftstellers Günter de Bruyn. In: literaturkritik.de, URL: http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10126&ausgabe=200611 (letzter Zugriff: 27.07.2016).

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balancieren, ohne dass seine Werke davon beeinträchtigt wurden. Das weiß auch Heinz Ludwig Arnold zu schätzen, der in einem de Bruyn gewidmeten Heft von Text + Kritik nicht nur in einem Beitrag auf den ersten Band seiner Autobiographie Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin zu sprechen kommt, sondern auch die Neugier des Lesers weckt, indem er zwei Kapitel aus der „Fortsetzung dieses faszinierenden Lebensberichts“ druckt, noch bevor Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht als Buch erschienen ist. Wenn einer unter den Schriftstellern der ehemaligen DDR diese Zeit unangetastet und integer überstanden hat, dann eben Günter de Bruyn. Und als ein solcher konnte er sich dann auch in Aufsätzen klug und distanziert einmischen in das Gezänk zwischen Ost-West und West-Ost über Vergangenheitsbewältigung, Schuldzuweisungen und das neue gefährliche Gebräu, das aus westlicher Arroganz und östlicher Bunkermentalität zu entstehen droht: DDR-Nostalgie.78

In ihrer Habilitationsschrift Systemumbruch und Lebensgeschichte. Identitätskonstruktionen in autobiographischen Texten ostdeutscher Autoren legt Katrin Löffler Gründe nahe, die hinter Günter de Bruyns Popularität im Westen stehen mögen. Er sei einer der DDR-Kritiker gewesen – auch wenn nicht der Lauteste (wie Peter Mohn anzumerken hätte) –, der aber selbst nie eine sozialistische Überzeugung beteuert habe. Es kommen noch Löffler zufolge seine „Bescheidenheit und Bedachtsamkeit“ hinzu, die dazu beigetragen haben, dass „ihm nach 1989 von westdeutscher Seite wohlwollend begegnet wurde.“79 Darüber hinaus ist auch de Bruyn einer der wenigen DDR-Autoren, die wegen ideologischer Unvoreingenommenheit, sich mit seinen ausgewogenen essayistischen Texten Gehör verschaffen. Die Besonderheit seiner Position und das wachsende Interesse an seinem Werk nach 1989 fasst Dennis Tate in dem einführenden Beitrag zum deutsch-englischsprachigen Band Günter de Bruyn in Perspective aus dem Jahre 1999 zusammen: In the decade since the collapse of the German Democratic Republic, Günter de Bruyn’s literary standing has grown in a way which sets him apart from other East German authors of his generation. The dramatic change […] is attributable to various factors. Primarily, of course, it reflects the strong impact which his two-volume autobiography […] has made both in the cultural media and amongst the general readership […]. De Bruyn has also enjoyed a fully deserved moral bonus resulting from the open and self-critical manner in which he has dealt with the fallout from his Stasi files […]. There is, however, another less obvious reason for this remarkable growth in respect to his literary abilities […]: the fact, before 1989, that his achievements as an essayist and a writer of fiction were significantly underplayed in comparison to those of his GDR contemporaries (Christa Wolf is an obvious example) who have in turn experienced much greater difficulty in re-establishing themselves in the new cultural context of the 1990s.80

78 Heinz Ludwig Arnold: Nicht nur eine Zwischenbilanz. Günter de Bruyns „Jugend in Berlin“. In: Text+ Kritik 127 (1995), S. 3–4. 79 Katrin Löffler: Systemumbruch und Lebensgeschichte. Identitätskonstruktion in autobiographischen Texten ostdeutscher Autoren. Leipzig 2015, S. 298. 80 Dennis Tate: Changing Perspectives on Günter de Bruyns: An Introduction. In: ders.: Günter de Bruyn in Perspective. Amsterdam/Atlanta 1999, S. 1. Ähnlich interpretiert die Position de Bruyns Mi-

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Im Vergleich zu den Plakativgestalten der DDR-Literatur ist Günter de Bruyns Neuanfang in dem wiedervereinten Land weniger schmerzhaft. Seine Essays und autobiographischen Texte begründen seine Position. Es ist ihm auch gelungen, Angriffe vonseiten der westdeutschen Kritiker zu vermeiden, was – wie im Zitat angemerkt – nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass er sich mit seinen Versäumnissen (wie etwa den Enthüllungen in den Stasi-Akten) auseinandergesetzt hat, noch bevor er von der Öffentlichkeit zur Rechenschaft gezogen wurde. De Bruyn reagiert auf die Umwälzungen auch in Artikeln und Essays, die der Unruhe und den gegenseitigen Schuldzuweisungen eine Art Besänftigung entgegenstellen, ohne Selbstkritik und Selbstironie als sein Markenzeichen aufgegeben zu haben. Michael Töteberg verweist auf de Bruyns Bedeutung in der öffentlichen Diskussion der Wendezeit: Günter de Bruyn ist kein Mann von Pauschalurteilen. Das belegen auch die Essays und Artikel, die de Bruyn zur öffentlichen Debatte um die Vereinigung Deutschlands, die ,Schuldfrage‘ der DDR-Intellektuellen und -Literaten und die Stimmung der DDR-Bevölkerung beigesteuert hat. Sie sind 1991 unter dem Titel Jubelschreie, Trauergesänge. Deutsche Befindlichkeiten zusammen mit wichtigen literarischen Essays erschienen und gehören zum Klügsten, was zum Versinken der DDR geschrieben worden ist – fern von jener DDR-Nostalgie, die aus westlicher Arroganz und östlicher Bunkermentalität zu entstehen begann.81

Heinz Ludwig Arnold und Michael Töteberg sind sich in ihrer Lobeshymne auf Günter de Bruyn so einig, dass sie sogar zu gleichlautenden Worten greifen, um die Position des Autors – jenseits jeglicher Nostalgie – zu markieren. Auch wenn der Schriftsteller auf jeden Fall Bewunderung verdient, kann die Tatsache schwer übersehen werden, dass die westdeutsche Öffentlichkeit einen neuen ‚Liebling‘ gefunden zu haben scheint, der die ‚alten‘ DDR-Größen, von denen manche auch in der Bundesrepublik rezipiert und mit Literaturpreisen gekrönt wurden, nach 1989 vom Piedestal stürzt. Für die Haltung de Bruyns scheinen die moralischen Werte seines katholischen Herkunftsmilieus lebenslang prägend geblieben zu sein.82 Geboren im Jahre 1926 gehört er zu den Jahrgängen, die nicht nur die Realität der Hitlerjugend kennenlernen mussten, sondern auch am Krieg beteiligt waren. So wird auch de Bruyn nach

chael Braun: „In den Debatten über den Bankrott der DDR-Diktatur ist Günter de Bruyn als eine bedächtige Mittelfigur hervorgetreten, als intellektueller und literarischer Gewährsmann der Wende, an den man sich […] getrost halten konnte. Während es um hochgelobte Autoren der ehemaligen DDR wie Heiner Müller und Christa Wolf veritable Literaturstreits gegeben hat und es um andere wie Volker Braun und Christoph Hein vergleichsweise still geworden ist, erfuhr Günter de Bruyn eine enorme Aufwertung in der gesamtdeutschen Rezeption.“ (Michael Braun: Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. Günter de Bruyns literarische Auseinandersetzung mit der Diktatur. In: Günter Rüther (Hg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn u.a. 1997, S. 391). 81 Harald Kern/Michael Töteberg: Günter de Bruyn. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1978ff., S. 14. 82 Vgl. Roland Berbig: Günter de Bruyn. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur, hg. von Michael Opitz/ Michael Hofmann. Stuttgart/Weimar 2009, S. 73.

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dem Abitur 1943 als Flakhelfer eingezogen.83 Im letzten Kriegsjahr wird er als Soldat ernsthaft verletzt. Der Krieg endet für ihn mit einer kurzen Gefangenschaft. Nach der Entlassung absolviert er eine Ausbildung als Neulehrer und arbeitet anschließend drei Jahre lang – der Verpflichtung gemäß – in einem märkischen Dorf.84 Dann erfolgt der Berufswechsel zum Bibliothekar (1953–1961 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im  Zentralinstitut für Bibliothekswesen in Berlin tätig). In den 1960er Jahren fängt auch seine Schriftstellerlaufbahn an. Seit 1961 lebt er als freischaffender Schriftsteller.85 Schwierigkeiten mit der Zensur waren ihm zwar bekannt. Verboten, geschweige denn verfolgt, wurde er aber nie.86 Als Autor gehörte er zahlreichen Gremien an (u.a. der Akademie der Künste in der DDR, der West-Berliner Akademie der Künste, dem PEN-Zentrum), ohne dabei jemals Leitungsposten bekleidet zu haben. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen – in Ost und West –, mit einem deutlichen Zuwachs an Ehrungen nach 1990.87 Im Oktober 1989 – kurz vor dem Mauerfall – lehnt er den DDRNationalpreis ab. Günter de Bruyn scheint früher als viele seiner Schriftstellerkollegen „den Bankrott des DDR-Staates“ erkannt zu haben. Er verabschiedet „illusionslos auch den Traum vom sozialistischen Experiment“,88 konstatieren Harald Kern und Michael Töteberg im Kritischen Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. De Bruyns autobiographische Texte – Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin (1992) wie auch Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht (1996) – erfreuten sich großen Interesses nicht nur der Kritiker, sondern – was den Verkaufszahlen zu entnehmen ist – auch der deutschen Leser.89 Dass de Bruyn die Kindheit und Jugend unter dem Nazi-Regime und das Erwachsenenleben im sozialistischen Staat in getrennten Bänden darstellt, veranschaulicht auch die Bedeutung der beiden Phasen in der Entwicklung seiner Generation. In diesem Zusammenhang darf auch auf Parallelen zwischen de Bruyn und Christa Wolf verwiesen werden. Katrin Löffler kommt explizit darauf zu sprechen, dass auch Wolf ihre Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus erstmals in Kindheitsmuster dargestellt hatte, ihr erwachsenes Leben im Sozialismus dann in Stadt der Engel.90 Die Erfahrungen mit zwei Diktaturen scheinen eine generationsspezifische Verarbeitung der Vita beeinflusst zu haben. Anzumerken wäre allerdings, dass Wolf und de Bruyn ihre Erlebnisse literarisch anders verarbeiten, aber auch zu einem anderen Zeitpunkt veröffentlichen. Trennen die Veröffentlichung von Zwischenbilanz und Vierzig Jahre nur wenige Jahre, wodurch sie sich – auch der formalen Aspekte

83 Kern/Töteberg: de Bruyn, S. 1. 84 Vgl. Berbig: de Bruyn, S. 73. 85 Vgl. Berbig: de Bruyn, S. 74. 86 Vgl. Kern/Töteberg: de Bruyn, S. 13. 87 Vgl. Kern/Töteberg: de Bruyn, S. 1. 88 Kern/Töteberg: de Bruyn, S. 13. 89 Vgl. Löffler: Systembruch und Lebensgeschichte, S. 301. 90 Vgl. Löffler: Systembruch und Lebensgeschichte, S. 301.

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wegen – als ein kohärentes Ganzes verstehen lassen, steht zwischen Kindheitsmuster und Stadt der Engel die Erfahrung des Zusammenbruchs der DDR.

5.2.1 Das erzählte Ich (1995) oder Wahrheit und Dichtung Günter de Bruyns Auch wenn Günter de Bruyn kein Literaturtheoretiker ist und eher zum Essayistischen denn zu poetologischen Erörterungen neigt, sammelt er 1995 seine Einfälle nach der Veröffentlichung des ersten Bandes seiner Autobiographie und während der Arbeit am zweiten Teil im Essay Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie.91 Da seine Reflexion im Kontext der hier behandelten Autoren ein Einzelfall bleibt, aber de Bruyns Vorstellung vom Autobiographischen oft zitiert wird, werden die theoretischen Gedanken de Bruyns der Analyse seiner Autobiographie vorangestellt. Das erzählte Ich kann schließlich auch dem weit gefassten Paratext zugeordnet werden. Günter de Bruyn markiert seine Position eindeutig, indem er seine Überlegungen nicht als die eines Wissenschaftlers deklariert, der sich dem Gattungsproblem mit einem Gerüst professionell formulierter Fragen zuwendet, sondern – was er in Bezug auf Theodor Fontane ausspricht – als die eines Schriftstellers, dem es erlaubt sei, Grenzen zu überschreiten. Er verweist explizit auf die „Gleichgültigkeit des LiteraturPraktikers gegenüber den Gattungsgrenzen, die eindeutig nur theoretisch zu ziehen sind.“ (GBI 22) Und als Literatur-Praktiker stellt de Bruyn ein ganzes Repertoire von Fragen, die ihm im Zusammenhang mit seiner Arbeit an seinen autobiographischen Schriften bewusst wurden. Denn eine entsprechende Form zu finden, um dem Leser seine Erlebnisse zu präsentieren, war kein leichtes Unterfangen. Lange neigte er zum Fiktionalen, dem zwar auch Erfahrungen mit der Welt zugrunde liegen, jedoch nicht als die seinen in den Vordergrund gerückt werden. Über diesem mühseligen Irrtum bin ich zum Romanschreiber geworden. Aber obgleich alle meine fiktiven Texte eignes Erleben zur Grundlage hatten, blieb der Drang, unter Verzicht auf Fiktionen Tatsachen zu erzählen, immer noch rege, weil die Bestandteile meines Lebens, die solche von Romanen und Erzählungen geworden waren, nicht mehr mir gehörten, sondern den Kunstfiguren. In den Zusammenhang eines anderen Lebens gestellt, wurden sie anders, lösten sich von mir ab. (GBI 16)

Den Stoff seines Lebens als Roman darzustellen, deutet er als Missverständnis und beginnt an seinem sechzigsten Geburtstag mit der Arbeit an der Autobiographie Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. De Bruyn plant von Anfang an die Fortsetzung des Projektes, um nicht nur einen Ausschnitt seiner Lebensgeschichte anzubieten – im 91 Günter de Bruyn: Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie. Frankfurt a.M. 1995. Im Folgenden werden Zitate als Sigle GBI mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen.

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Falle des ersten Bandes bis in die frühen 1950er Jahre hinein (vgl. GBI 17) –, sondern auch, um seinen Weg, der durch zwei Diktaturen führt, aus der Erfahrungsperspektive der 1990er Jahre zu rekonstruieren. Obwohl der Titel des zweiten Teils Vierzig Jahre „die Lebensjahre der DDR meine“ (GBI 17), ist es kein Buch über die Deutsche Demokratische Republik, sondern eines über de Bruyns „Erwachsenenleben, das sich zwar in der DDR abspielte und von ihr beeinflußt wurde, aber doch [sein] Leben blieb.“ (GBI 17–18) Autobiographie ist nämlich keine Geschichtsschreibung, auch wenn eines der Hauptstränge der Schreibmotivation, die de Bruyn in seinem Aufsatz ausführlich erklärt, die Geschichte sei. [E]s ist der Chronist im Schreiber, der sich hier regt. Hier gilt es, das Ich in die historischen Geschehnisse einzuordnen, es aus ihnen erklären, durch sie vielleicht auch bewerten zu können. Das Ich und die Zeitläufte müssen aufeinander bezogen werden, in der Hoffnung, daß beide dadurch Konturen gewinnen und daß aus dem Einzelfall so etwas wie eine Geschichtsschreibung von unten entsteht. (GBI 19–20)

Die individuelle Sicht bleibt aber ausschlaggebend; und in keiner Weise strebt der Autobiograph nach Objektivität seiner Darstellung. Was er beleuchten und vor allem erforschen will, sind nicht historische Ereignisse, sondern seine Stellung im Strom der Geschichte. Als erster der von de Bruyn genannten Antriebe eines Autobiographen erscheint die „Selbstauseinandersetzung, [die] Selbsterforschung und Selbsterklärung“ (GBI 18) und schließlich auch die „Rechenschaftslegung vor einer nur [ihm] bekannten Instanz“ (GBI 18–19). Konstruiert wird die Lebensgeschichte eines Individuums, in der nach den „Grundlinien“ gesucht wird, denen die Frage vorausgeht: „wer eigentlich ich sei.“ (GBI 19) Da autobiographische Texte meistens von Personen in einem bestimmten Alter verfasst werden, die sich ihrer Stellung inzwischen bewusst geworden sind, wird die „Entwicklung des Ich […] auf ein Ziel hin beschrieben; das Leben läuft sozusagen ab nach einem Programm.“ (GBI 35) Ein Wissender stelle sein Leben vom Ende her dar (vgl. GBI 36). Um über mich selbst erzählen zu können, muß ich einen ungefähren Begriff von mir haben, der später, im Prozeß des Erzählens, genauer wird. Ich muß wissen, was für mich wichtig war, um aus der Masse dessen, was ich über mich weiß, auswählen und Schwerpunkte setzen zu können. Wenn ich Linien ziehe, muß ich vor Augen haben, welches Bild sie begrenzen sollen. (GBI 37)

Autobiographien werden aber nicht nur zu Privatzwecken geschrieben. Sie verbinden diesen selbsttherapeutischen Antrieb mit einem dialogischen Aspekt. Geschrieben werden sie nicht immer – oder vielmehr selten – für die Schublade, sondern eher für die Veröffentlichung. Und dabei wird auch ein Leserkreis imaginiert, an den das Buch adressiert ist. Für de Bruyn beeinflusst die Vorstellung vom Adressaten die Form der Autobiographie. Wie im Alltag jede Version der Vita dem (sozialen) Kontext wie dem Verwendungszweck angepasst ist, sind auch autobiographische Schriften auf den Empfänger ausgerichtet.

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Wer alle Lebensläufe, die er im Laufe des Lebens hat schreiben müssen, gesammelt hat, kennt dergleichen. Da sind die erwähnten Erfahrungen und Fähigkeiten haargenau auf die Erwartungen, die man beim Adressaten vermutet, ausgerichtet. (GBI 10)

Dabei handelt es sich nicht um Hinzufügen von ausgedachten Geschichten, sondern um eine Auswahl, die unvermeidbar ist. Denn der Schreibende wird genötigt, aus der Fülle der Episoden diejenigen auszuwählen, die sich der gezeichneten Lebenslinie fügen. In diesem Zusammenhang ist es an der Zeit, die Frage nach der Wahrheit solch einer Lebensgeschichte zu stellen, die bereits im Titel des Aufsatzes mitklingt und an das große Vorbild der deutschen Literatur, nämlich Johann Wolfgang von Goethe, denken lässt. In Anlehnung an Goethe setzt de Bruyn Dichtung nicht mit Erfindung gleich, genauso wie Wahrheit nicht „ein Erzählwerk aus bloßen Tatsachen“ (GBI 20) meint. Er versucht deutlich zu machen, daß (nicht nur bei Goethe) der Begriff Dichtung nicht Erfindung bedeutet, sondern daß er als Verdichten des Geschehenen, als Konzentrieren des Vielfältigen und Zufälligen oder auch als gedankliches Durchdringen oder Deuten zu verstehen ist. Dichtung im autobiographischen Schreiben ist die Fähigkeit, das Vergangene gegenwärtig zu machen, Wesentliches in Sein und Werden zu zeigen, Teilwahrheiten zusammenzufassen zu dem Versuch der ganzen Wahrheit über das schreibende und beschriebene Ich. Dieser Anspruch auf die ganze Wahrheit ist es, der die Autobiographien von den zweckbestimmten Alltagslebensläufen und auch von anderen Arten der Beschreibung von Selbsterlebtem unterscheidet. (GBI 31–32)

Gesprochen wird nicht von der Wahrheit im philosophischen Sinne, sondern von „eine[r] gattungsspezifische[n] Wahrheit“ (GBI 65), die – wie überraschend es auch klingen mag – äußerst subjektiv ist. Auch wenn der Autor versucht, sich seinem Leben anzunähern, als wäre es ein fremdes Objekt, von dem er in der dritten Person zu berichten versucht – wie es etwa Stefan Heym getan hat (vgl. GBI 33) – „gewinnt er nur den Schein der Objektivität.“ (GBI 33) Dazu gehören Widersprüche, die nicht vertuscht werden dürfen (vgl. GBI 42), wie auch „Erinnerungsschwächen“ (GBI 45). Autobiographien sind auch „zeitbezogen[…]“ (GBI 61). Sie sind dem Zeitalter verpflichtet, von dessen Weltbild der Schreiber abhängig ist oder zumindest beeinflußt wurde, und sie sind auf das Lebensalter […] bezogen, in [dem] der Schreiber zurück auf sein Leben sieht. Morgens denkt und fühlt man oft anders als abends; das mit sechzig gefällte Urteil verwirft man möglicherweise mit achtzig Jahren; und ein Liebesglück sieht unmittelbar nach seinem Erleben anders aus, als wenn man es ein halbes Jahrhundert später beschreibt. (GBI 61)

Autobiographischen Schriften kommt dementsprechend eine doppelte Aussagekraft zu. Sie führen das Leben eines Subjektes mit Stationen vor, die den damaligen Lebensumständen entsprechen. Als historische Quelle können sie aber nur eingeschränkt verwendet werden. Der Umstand, dass ein Individuum selbst Informationen auswertet und zu einer Erzählung verarbeitet, entzieht dem Geschriebenen den Status eines Dokumentes. Was Autobiographien aber vorzüglich dokumentieren, ist der Bewusstseinsstand des Autobiographen zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner

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Lebensgeschichte. Die Lebenserzählungen gewährleisten einen Einblick in die ,Mentalität‘, in den Wertekanon, in die gesellschaftstragenden Mythen. Das Besondere der Autobiographie besteht ja nicht darin, daß hier derjenige ein Leben beschreibt, der am meisten über es weiß, sondern darin, daß hier jemand sich so beschreibt, wie er sich selbst sieht und beurteilt. Interessanter als die mitgeteilten Fakten über eine Person ist die Art, wie sie von dieser Person mitgeteilt werden. (GBI 62)

So scheint auch Günter de Bruyn – eines der Objekte der vorliegenden Studie – den Sinn und die Relevanz der hier aufgeworfenen Fragestellung zu bestätigen.

5.2.2 Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin (1992) Mit der Arbeit an dem ersten Band seiner Autobiographie fängt Günter de Bruyn nicht als einer an, der sein nahendes Lebensende spürt und die Bilanz seines Lebens zu ziehen versucht, sondern als Sechzigjähriger mit dem Bewusstsein, dass sich noch einiges ereignen kann. Angeboten wird das Resümee eines Lebensabschnitts; mit dem Status des Vorläufigen versehen. Das Buch wird mit den Worten des Autos eröffnet: Mit achtzig gedenke ich, Bilanz über mein Leben zu ziehen; die Zwischenbilanz, die ich mit sechzig beginne, soll eine Vorübung sein: ein Training im Ich-Sagen, im Auskunftgeben ohne Verhüllung durch Fiktion. Nachdem ich in Romanen und Erzählungen lange um mein Leben herumgeschrieben habe, versuche ich jetzt, es direkt darzustellen, unverschönt, unüberhöht, unmaskiert. Der berufsmäßige Lügner übt, die Wahrheit zu sagen. Er verspricht, was er sagt, ehrlich zu sagen; alles zu sagen, verspricht er nicht.92

Der im theoretischen Text wiederholte Standpunkt des Autobiographen wird zur Grundlage des ersten Bandes seiner Erinnerungen. Verzichtet wird demzufolge auf fiktionale Elemente, um der Wahrheit näher zu kommen.93 Und nach dem Essay Das erzählte Ich ist dem Leser de Bruyns klar, dass es sich um die Wahrheit der Autobiographie handelt, die äußerst subjektiv und selektiv ist, immer aber den Anspruch auf Aufrichtigkeit erhebt. Die Zuordnung des Textes der Gattung Autobiographie, was die ersten Worte des Autors bestätigen, wird bereits im Titel begründet und konsequent auf der Ebene des Textes und des Paratextes untermauert. Die Identität von Autor, Erzähler und Protagonist wird gewährleistet, so dass die Grundlagen für den autobiographischen 92 Günter der Bruyn: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. Frankfurt a.M. 1992, S. 7. Im Folgenden werden Zitate als Sigle GBZ mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen. 93 Anzumerken wäre an dieser Stelle, dass der Erzählung keine Dokumente – sei es in Form von Akten, Zeitungsauschnitten oder auch Briefen – zur Beglaubigung der Aussage angehängt werden. Genauso wie in Hermann Kants Abspann oder auch Christa Wolfs Stadt der Engel werden auch keine Fotos abgedruckt.

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Pakt geschaffen werden. Der Text gebe sich uneingeschränkt als Autobiographie aus, genauso wie seine Fortsetzung,94 und zwar ihre „traditionelle[…] Form“.95 Wenn de Bruyn sein Werk als Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin überschreibt, eröffnet er eine Perspektive auf sein Werk, die einerseits offenlegt, dass es sich nicht um Adoleszenz aus psychologischer Sicht handelt, sondern um seine eigene Jugend, genauer gesagt: seine Version der jungen Jahre, andererseits deutet er auf den Zeitpunkt des Berichtes hin. Eine Bilanz kann nur im Hinblick auf die Vergangenheit gezogen werden und ist – wie Das erzählte Ich ausführt – sehr stark mit der Gegenwart des Erzählers verbunden. Zwischenbilanz ist also eine retrospektiv erzählte Geschichte, die sich – von kleinen zeitlichen Ausflügen abgesehen – an die Chronologie hält. Auch wenn es in der ersten Person Singular berichtet wird, ist der Unterschied zwischen dem sich erinnernden Ich und dem erinnerten Ich zu vernehmen. Auf der Rückseite des Umschlags wird die Autobiographie, in der „Entwicklungsroman“ mit „Epochenpanorama“ miteinander verschmelzen, vom Verlag als „ein literarisches Ereignis“ gefeiert.96 Lob wird ebenfalls im Hinblick auf den Stil des Textes ausgesprochen, denn es handele sich um „ein Werk von seltener Kraft, Klarheit und Anmut.“ (GBZ Rückseite des Covers) Ausschnitte aus den Buchbesprechungen in Zeitungen und Zeitschriften ergänzen die Präsentation. Im Gegensatz zu der Autobiographie Hermann Kants Abspann wird hier aus angesehenen Zeitungen zitiert, die alle die Erzählkraft des Autos zu schätzen wissen. So wird von Volker Klotz in der Frankfurter Rundschau angemerkt: „Günter de Bruyn schreibt eine Prosa, die blitzschnell zugreift und den Leser packt.“ (GBZ Rückseite des Covers) Martin Lüdke in Die Zeit erkennt in de Bruyns Erzählstil den „Plauderton Fontanes“ und verweist auf seine „mit Fontanes Sinn für Gerechtigkeit“ (GBZ Rückseite des Covers) gezeichneten Figuren. Sibylle Wirsing lobt in der Frankfurter Allgemeinen de Bruyns Haltung, die auch in seiner Sprache zu verzeichnen sei: „Wenn man unter den deutschsprachigen Schriftstellern unserer Jahrzehnte denjenigen auszeichnen wollte, der die Arroganz bis zum letzten Hauch aus seiner Sprache getilgt und die Fairness zur Arbeitsmoral erhoben hat, gehört Günter de Bruyn der Preis“ (GBZ Rückseite des Covers), heißt es in der letzten der angeführten Rezensionen. 94 Vgl. Walter Hinck: Über autobiographisches Schreiben in der Gegenwart (Greve, Klüger, de Bruyn, Harig, Walser). In: Sabine Doering/Waltraud Maierhofer/Peter Philipp Riedel (Hg.): Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreutzer zum 65. Geburtstag. Würzburg 2000, S. 464. Zu der Autobiographie de Bruyns siehe auch das Kapitel „Der Einschüchterung widerstanden: Günter de Bruyn“. In: Walter Hinck: Selbstannäherungen. Autobiographien im 20. Jahrhundert von Elias Canetti bis Marcel ReichRanicki. Düsseldorf/Zürich 2004, S. 106–109. 95 Vgl. Joachim Garbe: Auf der Suche nach dem Idealdeutschen. Autobiographien deutscher Schriftsteller am Ende des 20. Jahrhunderts (Günter de Bruyn, Ludwig Harig, Sigmar Schollak, Martin Walser). In: Manfred Misch (Hg.): Autobiographien als Zeitzeugen. Tübingen 2001, S. 202. 96 Und das Buch wird tatsächlich zu einem Ereignis auf dem Literaturmarkt. Michael Töteberg verweist auf die hohe Auflage mit über 230 000 Exemplaren. Die Buchbesprechungen waren positiv. (Vgl. Töteberg: de Bruyn, S. 15).

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Bemerkenswert ist die Klassifizierung vonseiten westdeutscher Zeitungen bzw. vonseiten des Verlags, der die Ausschnitte aus den Buchbesprechungen ausgewählt hat. De Bruyn wird mit keinem Wort als DDR-Autor oder auch ostdeutscher Autor gefeiert. Die DDR wird verschwiegen. Und auch bei der Kurzinformation zum Autor wird der Begriff „DDR“ ausgespart.97 Unter einem Schwarz-weiß-Foto – auf dem ein sympathisch wirkendes, runzeliges Männergesicht zu sehen ist, mit einer Hand gestützt, in einer nachdenklichen Pose – stehen nur das Geburtsdatum und der Geburtsort des Autors (Berlin), neben der Angabe, er „war vorübergehend Lehrer und Bibliothekar. Seit 1963 lebt er in Ost-Berlin und bei Frankfurt/Oder als freier Schriftsteller“ (GBZ hintere Klappe). Dass die benannten Orte dem Gebiet der ehemaligen DDR angehörten, mag dem Leser bekannt sein. Der Verlag vermarktet de Bruyn aber vordergründig als einen deutschen Schriftsteller, mit dessen Version der Jugend sich manch ein Leser in der Bundesrepublik identifizieren kann. Dass es sich um einen preisgekrönten Autor handelt wird ebenfalls betont. Genannt werden einige Literaturpreise. Dass es sich um Auszeichnungen in West und Ost handelt, fällt einem unerfahrenen Leser nicht unbedingt auf. Auch hier erfolgt eine knappe Inhaltsangabe: Günter de Bruyn erzählt von seiner Jugend in Berlin zwischen dem Ende der zwanziger und dem Beginn der fünfziger Jahre. Die Stationen sind: seine Kindheitserfahrungen während des Niedergangs der Weimarer Republik, die erste Liebe im Schatten der nationalsozialistischen Machtwillkür, seine Leiden und Lehren als Flakhelfer, Arbeitsdienstmann und Soldat, und schließlich die Nachkriegszeit mit ihrem kurzen Rausch anarchischer Freiheit und die Anfänge der DDR. (GBZ vordere Klappe)

Da das Possessivpronomen nicht unmittelbar auf die „Anfänge der DDR“ bezogen wird, erscheinen diese mehr als ein Kapitel der deutschen Geschichte denn als die Erfahrung de Bruyns. In den Vordergrund wird die Universalität seines Blicks gerückt.

97 Die Gründe für die positive Rezeption – von der stilistischen Qualität des Textes mal ganz abgesehen – bringt Joachim Garbe auf den Punkt, indem er die positive Besprechung von Frank Schirrmacher mit dem bereits abgeklungenen deutsch-deutschen Literaturstreit in Zusammenhang bringt. Bereits am 4. Dezember 1991 lobt der Literaturkritiker das Buch in der FAZ, in der auch Abschnitte der Autobiographie abgedruckt werden, noch bevor sie in Buchform erscheint. Dort heißt es (zit. nach: Garbe), es ist „das erste Buch, das nicht nur der geteilten, sondern der gesamtdeutschen Literatur zugeschlagen werden kann“, was Garbe weiter erklärt: „Hiermit wurde ein Akzent gesetzt, der erkennen läßt, warum de Bruyns eigentlich wenig spektakuläre Autobiographie in diesem Moment gebraucht wurde: Der sogenannte Literaturstreit um Christa Wolf war gerade abgeklungen, und mit de Bruyn und seinen Lebenserinnerungen bot sich ein Autor mit einem Werk an, das seine Integrität betonte und für jeden Deutschen, ob aus den neuen oder alten Bundesländern, eine Art Vorbildcharakter haben konnte.“ (Garbe: Suche nach dem Idealdeutschen, S. 211). Besonders einleuchtend erscheint die in diesem Zusammenhang formulierte These Garbes, wonach Schriftsteller(auto)biographien der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland eine Art Indikator seien, anhand derer sich ablesen lässt, „welche Sicht auf die Vergangenheit in bestimmten historischen Phasen eine große gesellschaftliche Akzeptanz hat“ (S. 211). Diese Behauptung kann mit hoher Wahrscheinlichkeit auf andere Genres übertragen werden.

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Sein Buch – heißt es weiter – „spiegelt den Lebenslauf eines skeptischen Deutschen wider, der sich nie einverstanden erklärte mit den totalitären Ideologien, die sein Leben prägten.“ (GBZ vordere Klappe) Auch wenn der Autor also doch die Erfahrung mit zwei Diktaturen gemacht hat, habe er die Bewährungsprobe bestanden und sein Werk dürfe nun der deutschen Öffentlichkeit präsentiert werden. Obwohl die DDR im Paratext nur in Untertönen vernehmbar ist, ist sie bereits auf dem Umschlagsbild98 erkennbar. Abgebildet wird dort das Gemälde Lovis Corinths Schlossfreiheit in Berlin. Das 1923 entstandene Bild, das das Buch eröffnet, baut eine Brücke zu der Endpartie des Textes auf. Auf den letzten Seiten der Autobiographie werden von dem Ich-Erzähler Veränderungen in dem von ihm so geliebten Berlin wahrgenommen. Die Stadt liegt in Trümmern, ist aber im Begriff, wieder aufzuerstehen. Die Richtung der Veränderungen im Jahre 1950 liefert einen Vorgeschmack auf das Neue, nämlich die kommunistische Ideologie. Die Ruinen des Berliner Schlosses werden wider Erwarten nicht wieder aufgebaut, sondern von den DDR-Machthabern vernichtet, was für de Bruyn zum Zeichen wird. Als Interessierter kannte man sich schon aus in der Schloßruine, erwartete, daß Jahr für Jahr ein Teilstück wiederhergestellt werden würde, war also über Ulbrichts Abrißbefehl entsetzt. Die Dozenten, die für die Erhaltung des Schlosses gewesen waren, änderten über Nacht ihre Meinung, weil allen Relikten des Feudalismus doch der Garaus gemacht werden mußte und für die Werktätigen ein Aufmarschplatz nötig war. (GBZ 377–378)

Das Umschlagsbild gehört also definitiv der Vergangenheit an, zeigt es doch eine verloren gegangene Landschaft und mit ihr auch eine Welt, die nicht mehr existiert. Dem durch die Schuld der einen Diktatur beschädigten Gebäude setzten dann die Propheten der neuen Ideologie ein Ende, um das Symbol ihrer Macht aufzubauen. Der erste Band der Autobiographie wird mit folgendem Absatz abgeschlossen: Im September 1950 wurde mit den Sprengungen begonnen, zu Neujahr waren sie abgeschlossen, im April waren die Trümmer abgefahren, und in die Öde des riesigen, von Ruinen umstandenen Platzes wurde eine Tribüne für die Parteiführung gebaut. (GBZ 378)

Zwanzig Jahre später wird auf dem Platz ein neues Symbol aufgestellt, der Palast der Republik, der seinem Vorgänger ähnlich ebenfalls abgerissen wird, daraufhin wird die Idee des Wiederaufbaus des historischen Gebäudes ins Leben gerufen.99 Die

98 Ich beziehe mich auf die Erstausgabe von Zwischenbilanz. In späteren Ausgaben wurde das Umschlagsblatt neu gestaltet. Auf der Fischer-Taschenbuchausgabe (1994) steht ein Foto, auf dem ein Boot auf einem See erkennbar ist. (Vgl. http://www.fischerverlage.de/buch/zwischenbilanz/9783596119677, letzter Zugriff: 28.07.2016). Dominant erscheint eine idyllische Naturlandschaft, die spontan mit der Unbekümmertheit der Jugend einerseits und mit de Bruyns Vorliebe für Natur andererseits assoziiert werden kann. Preisgegeben wird dabei der historische Kontext dieser Lebensgeschichte. 99 Vgl. Humboldt Forum http://www.sbs-humboldtforum.de/de/Berliner-Schloss/Geschichte/ (letzter Zugriff: 28.07.2016).

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Geschichte vom Palast der Republik steht zwar nicht im Werk de Bruyns, setzt aber seine Denklinie fort. Das Umschlagsbild vergegenwärtigt nämlich nicht nur ein nicht mehr vorhandenes Gebäude, sondern bereitet darüber hinaus die Reflexion über die zerstörerische Machtwillkür der Ideologie vor. Dies wird zum Gegenstand seiner autobiographischen Schrift.100 Seine Erzählung beginnt de Bruyn mit einem kurzen Abriss der Familiengeschichte (vgl. GBZ 7), in dem er allerdings unnötige Details ausspart und darauf bedacht ist, die geistige Atmosphäre seines Elternhauses einzufangen, die seine Lebenshaltung nachhaltig prägte. Seine Kindheit wird als eine glückliche Lebensperiode gedeutet, die er und seine drei Geschwister der elterlichen Fürsorge zu verdanken haben. Der katholische Glaube bringt dem Kind nicht nur die Verhaltensregeln der Bibel, vor allem die zehn Gebote, nahe, und stattet es nicht nur mit einem ethischen Gerüst aus, sondern organisiert auch seinen Alltag mit einer Reihe von Ritualen, die die Familienbande zu stärken scheinen. Die Sicherheit, der ich das Glück meiner frühen Kindheit verdanke, basierte neben der Liebe der Eltern zu uns und zueinander auch auf einem Familien-Katholizismus, der unser Leben in die festen Regeln von Tisch- und Abendgebet, von sonntäglichem Kirchenbesuch und fleischlosen Freitagen zwängte, sonst aber von Person zu Person individuell gefärbt war. (GBZ 36)

Diese Sicherheit versuchten die Eltern ihren Kindern nicht nur durch die Familienrituale zu vermitteln, sondern auch durch den Schutz vor den beunruhigenden Informationen, die ihre heile Welt vernichten könnten. Diese Schutzmaßnahmen galten vor allem dem Jüngsten. Darin glaubt der Autobiograph aber die Quelle eines tiefgreifenden psychologischen Problems zu erkennen. In der bedrohten Welt hat das Gefühl des Geborgenseins oft etwas mit Informationsdefiziten zu tun. Die Seelenruhe meiner frühen Kindheit beruhte zum Teil auf Unwissenheit. Durch Verschweigen glaubten meine Eltern bei Hitlers Machtantritt die heile Welt des Sechsjährigen erhalten zu können. Sie verschonten mich also mit den Berichten von Verhaftungen und Morden, die meinen Vater an seiner Arbeitsstelle, dem Bischöflichen Ordinariat, erreichten; doch hatte das nur zur Folge, daß Politisches tabuisiert wurde, ich meine Angst vor der Zukunft für mich zu behalten lernte und so der Bereich des Nicht-Sagbaren in der Familie wuchs. (GBZ 53)

100 Die Ebene des Paratextes wird in den meisten Besprechungen zu de Bruyns Zwischenbilanz wie auch Vierzig Jahre kaum berücksichtigt. Das Coverbild wird allerdings von Katrin Löffler bemerkt und auch im Zusammenhang mit der DDR-Geschichte zur Sprache gebracht, wobei hier eine andere Interpretationsmöglichkeit eröffnet wird. „Den Intentionen des neuen Staates zufolge war dieser Akt der Zerstörung [des Berliner Schlosses – K.N.]“ – beleuchtet Löffler die historischen Umstände – „ein geschichtspolitischer Akt, ein gewollter Bruch historischer Kontinuität, eine symbolische Machtübernahme. Die Platzierung an das Textende, die Nahtstelle zum folgenden autobiographischen Band, markiert eine kritische, dezidiert politische Haltung dem jungen Staat und seinen Herrschaftsansprüchen gegenüber.“ (Löffler: Systemumbruch und Lebensgeschichte, S. 306.) Über das Text-BildVerhältnis wird auch in diesem Fall nicht reflektiert.

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Dass sechsjährige Kinder nicht in politische Diskussionen involviert werden, gehört eher zur Norm. Wenn aber Kindheit mit historischen Umwälzungen zusammenfällt, dringt das Politische zwangsläufig in den Privatbereich ein, auch wenn die Erzieher ihre Schützlinge davor bewahren möchten. Und Günter de Bruyn kommt 1926 auf die Welt, in der unruhigen Zeit der Weimarer Republik, als zwar niemand das nahende Unheil voraussehen konnte, die Vorzeichen sich aber im Rückblick bemerkbar machen. Historische Details, die dem Zeitgenossen unerheblich erscheinen, können dem Nachgeborenen symptomatisch sein; das kommende große Unheil kündigt sich durch Kleinigkeiten schon an. Die Chronik meines Geburtsjahres ist voll davon, und auch der Tag meiner Geburt zeigt in zwei Ereignissen schon die Katastrophentendenz: Goebbels wird zum Gauleiter der NSDAP in Berlin ernannt, und Reichsbahn und Reichspost führen um Mitternacht die 24-Stunden-Zählung ein. Einen Zusammenhang bekommt das in der Rückschau erst: Wahn- und Präzisionsdenken schreiten gleichzeitig voran; während die Ethik verfällt, wird die Technik verfeinert […]. (GBZ 22–23)

Die Zusammenhänge können erst aus historischer Distanz erkannt werden und ein Autobiograph kann seinem Leben einen Sinn verleihen, indem er die losen Episoden, zu einer Erzählung verarbeitet, in der eine klare Linie erkennbar wird. Für das Kind von damals war die Realität weniger übersichtlich. So ist auch de Bruyn in seinen Texten nicht darum bemüht, den Bewusstseinsstand des Kindes von damals vordergründig zu rekonstruieren, auch wenn dies angemerkt wird, sondern sein Leben aus der Perspektive eines Erwachsenen zu erzählen, der dank seines Wissensvorsprungs Korrelationen erkennen bzw. herstellen kann. In der „Spannung und Diskrepanz zwischen damaligen Eindrücken und Erlebnissen und späterem Wissen um die Ereignisse“ erkennt Ursula Reinhold treffend das „Strukturprinzip der Darstellung“101 von Zwischenbilanz. Und in der Rückschau wird dem Herkunftsmilieu eine hervorragende Bedeutung in der Prägephase der Kindheit zuerkannt, weil aus dieser Lebensphase auch die ersten Welterklärungen und -interpretationen stammen. In diese Richtung wird auch die Sympathie des Lesers gelenkt; und auch wenn Renate Rechtiens Vorwurf, de Bruyn sei „bei der Darstellung mancher Episoden seines Lebens [wie etwa der sonntäglichen Familienrituale – K.N.] uncharakteristisch romantisch und sentimental“,102 nicht ganz unbegründet ist, lässt sich doch gerade diese für den kühnen, unsentimentalen Ton seiner Lebenserzählung untypische Distanzlosigkeit als ein Kunstgriff interpretieren, der der Mehrdimensionalität seines Textes den Weg bahnt. Denn eine besondere Dynamik des Buches ergibt sich nicht nur aus dem Spannungsverhältnis von heute und damals, sondern auch aus dem Wechselspiel zwischen nüchternen, (seltener) sentimentalen und oft auch ironischen und komischen Passagen. Und

101 Ursula Reinhold: Authentizität und ästhetische Distanz. Elemente des Erzählens in Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. In: Text + Kritik 127 (1995), S. 27. 102 Rechtien: Gelebtes, erinnertes, erzähltes und erschriebenes Selbst, S. 159.

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auch Renate Rechtien muss zugeben, dass de Bruyn „seine Schilderung erzählerisch ebenso anschaulich wie fesselnd und unterhaltsam“ (GBZ 157) zu gestalten weiß.103 Auch wenn das Politische im Elternhaus nicht stark exponiert wird, erhält das erinnerte Ich durch seinen ältesten Bruder Karlheinz einen kleinen Einblick in die politische Lage. Die katholische Perspektive wird auch in dieser Sichtweise stark akzentuiert, weil der Bruder der katholischen Jugendorganisation „Neudeutschland“ angehört (vgl. GBZ 42). Konstruiert wird ein Vorbild.104 Auch wenn er nicht zum Widerstandskämpfer stilisiert wird, wird seine moralische Haltung, die sich  dem naziverseuchten Denken widersetzt, aufgewertet. Der frühe Einblick in die Machtverhältnisse soll de Bruyn mit einigen Regeln für das erwachsene Leben ausgerüstet haben.

103 Rechtien zieht daraus überraschenderweise den Schluss, dass sich de Bruyns Text einem autobiographischen Roman nähert: „Als Autor bedient er sich gezielt narrativer und stilistischer Mittel, die seine Autobiographie als Kunstform in die Näher des autobiographischen Romans rücken. Erinnert schon die Struktur von Zwischenbilanz mit der episodenhaften Darstellung an den Entwicklungsroman, so bleibt dieses Schema auch dadurch präsent, daß im Zentrum des Erzählten ein erlebendes Ich steht.“ (Rechtien: Gelebtes, erinnertes, erzähltes und erschriebenes Selbst, S. 159). All die genannten stilistischen Mittel können aber auch zum festen Bestandteil einer Autobiographie werden, vorausgesetzt der autobiographische Pakt wird nicht verletzt. Und damit haben wir bei de Bruyn auf jeden Fall zu tun, was selbst Rechtien in ihrem Beitrag nicht nur zugibt, sondern eine Seite zuvor auch ausführlich darlegt: „Die persönliche Integrität des Autors, seine Intention der ganzen Wahrheitsfindung sowie die Verifizierbarkeit geschildeter objektiver Begebenheiten bürgen dem Leser für den Wahrheitsgehalt des Dargestellten und beschließen den ‚autobiographischen Pakt‘, der im Sinne Philippe Lejeunes ausschlaggebend ist für den Erfolg jeder Autobiographie.“ (S. 156) Und noch früher betont die Autorin, dass de Bruyn in Zwischenbilanz „im Sinne der klassischen Autobiographie […] den Erzählerstandort des Wissenden“ einnimmt. (S. 155) Wenn schon von ,klassischer‘ Autobiographie die Rede ist – die hier allerdings nicht genau definiert wird –, dann scheint sie vom Entwicklungsroman doch nicht weit entfernt zu liegen. Leseerwartungen mögen aber anscheinend auch mal bei den Literaturwissenschaftlern ans Tageslicht kommen. Zu dem Schluss kann man kommen, wenn man in dem Resümee Rechtiens weiter liest, de Bruyn halte an vormodernen Denk- und Erzählstrukturen fest, orientiere sich an Modellen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, was „[a]us der Perspektive modernen Subjektverständnisses und postmodernen Bewußtseins“ eindeutig „fragwürdig“ (S. 161) erscheine. Und die positive Rezeption von Zwischenbilanz – „einer in ihrer Anlehnung an klassische Modelle sehr traditionsverpflichteten Autobiographie“ – deutet die Kritikerin eindeutig als „einen Rückschritt“ (S. 167). Ob unsere Aufgabe darin besteht, die ästhetischen Entscheidungen unserer Untersuchungsobjekte zu hinterfragen, lasse ich an dieser Stelle offen. So erscheint es meines Erachtens als viel fruchtbarer, wenn die Frage umformuliert und eher danach gefragt wird, warum eben die ‚klassischen‘ Muster autobiographischer Erzählungen gerade bei ostdeutschen Autoren der älteren Generationen in den 1990er Jahren so populär wurden. 104 Als Kontrapunkt zu dem ältesten Bruder erscheint der etwas jüngere Wolfgang, der sich den neuen Verhältnissen anzupassen vermochte. Der Zwanzigjährige ist bei Stalingrad gefallen. Das Erzähler-Ich rekonstruiert die Gestalt anhand seiner Erinnerungen und Briefe des Bruders, die er regelmäßig an die Familie schickt. Daraus entsteht das Bild „eines unkomplizierten, fröhlichen Jungen, der sich im Hitlerreich wohl fühlt und bewährt.“ (GBZ 121).

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Weniger um meine Gemütsharmonie besorgt, und also beredter, war mein ältester Bruder, weshalb er für meine Entwicklung in den kommenden Jahren auch wichtiger wurde als meine schweigenden Eltern. Über ihn, dessen Neudeutschland in das neue Deutschland nicht paßte, erlebte ich mit, was man Gleichschaltung nannte, was nur ein anderes Wort für die Unterdrückung Andersdenkender war. Dabei lernte ich, daß die Mächtigen zwar zu fürchten, aber auch zu verachten waren, daß man sich dem Starken und Dummen äußerlich unterwerfen und doch triumphieren konnte, weil man sie innerlich überwand. (GBZ 56–57)

Stark hervorgehoben wird der innere Widerstand – in der katholischen Moral verankert –, der zum Markenzeichen de Bruyns wird. Für bewaffneten Widerstand gibt es dieser Lebensphilosophie zufolge anscheinend wenig Platz. Auch wenn sich die katholische Jugend im Gegensatz zur evangelischen Jugendorganisation nicht in die HJ überführen ließ, sei sie zum Widerstand überhaupt nicht gerüstet gewesen (vgl. GBZ 57). Sie war eher bemüht, zu überleben. Der Standpunkt der katholischen Kreise wird vom Erzähler keinesfalls verherrlicht. Er bleibt kritisch, auch selbstkritisch. In den Gesprächen seiner unmittelbaren Umgebung spielt die katholische Wochenzeitung Junge Front, „die eines der mutigsten und geschicktesten Oppositionsblätter war“ (GBZ 58), eine bedeutende Rolle. Auch wenn de Bruyn zugibt, dass er als Leser der 1935 verbotenen Zeitung kaum in Frage kommt (vgl. GBZ 59), meint er eine Lesehaltung an diesem Beispiel erworben zu haben. Durch sie [Junge Front – K.N.] lernte ich, ehe ich richtig lesen konnte, schon Begriffe wie Zensur, Zwischen-den-Zeilen-Lesen und Totalitätsanspruch kennen. Die Zeitung versuchte, den Anspruch auf den ganzen Menschen, den der neue Weltanschauungsstaat erhob, zurückzuweisen und christliche Moral der Vergötzung von Rasse und Blut entgegenzusetzen. Ihre Taktik war dabei, die Grenze dessen, was man sagen dürfte, zu erreichen, aber nicht zu überschreiten und es den Lesern zu überlassen, die vorgegebenen Schlüsse selber zu ziehen. (GBZ 58–59)

Ließe de Bruyn seinen Leser in der Überzeugung, er sei ein äußerst scharfsinniges Kind gewesen, das zwischen den Zeilen zu lesen vermochte, noch ehe es die Kunst beherrschte, die Buchstaben zusammenzustellen, wäre die Selbststilisierung unverkennbar. Der Erzähler zielt aber nicht auf eine abgerundete Heldengeschichte, sondern ist bemüht ein Psychogramm der Gesellschaft – einschließlich des katholischen Milieus – zu skizzieren, zu dem auch Irrwege gehören. Und auch wenn katholische Ideale ihm im Elternhaus einverleibt wurden und ihm auch in Form der Lektüre zur Verfügung standen, muss er nach Jahren gestehen, dass sein Leseinteresse damals anderen Textsorten galt. Er erinnert sich an die Lektüre der neudeutschen Jugend-Zeitschriften. Einsam am Ofen sitzend, begeisterte ich mich, als Zuspätgekommener, für das Fahrten- und Glaubensleben dieser Spätwandervögel. In der Nachkriegszeit wiederholte ich diese Lektüre und erschrak über das pathetische Deutschnationale und die Sehnsucht nach einem heiligen Reich. Dem Reich Hitlers war dieses Traumreich zwar wenig ähnlich, gar nicht aber einem demokratischen Staatswesen. (GBZ 59)

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Diese Jugendzeitschriften kommen der Abenteuerlust des Jungen entgegen. Und auch wenn die Lektüre der ersten Jahre dem Kind von damals nicht zu Last gelegt werden darf, zeugt sie sehr stark von den Mechanismen der ideologischen Vereinnahmung. Infiziert werden alle Bereiche des Privatlebens. Ideologien schleichen sich heimtückisch ein, ohne immer rechtzeitig erkannt zu werden. Selbst der Katholizismus schützt nicht vor dem Glauben an Autoritäten, bewahrt nicht vor der Wirkung der Propaganda, die sich durch Zeitungen, Kinofilme, Bücher und Schulstoff ihre Wege sucht und – wenn auch ungewollt – nicht ohne Wirkung bleibt. Weder Kinder noch Erwachsene bleiben immun. So muss de Bruyn in einem Brief seiner Mutter von 1945 an ihre Schwägerin erkennen, dass auch sie dem Denkschema nicht entkommen ist. „Wie sehr sie das Aufblicken zu einer Autorität brauchte“ (GBZ 299), soll der Brief zeigen. Erwähnt wird die Angst vor den Russen, die immer näher rücken. [U]nd dann folgt ein Satz, den man der Frau, die die schlimmen zwölf Jahre in einer Familie verbracht hatte, die zu Hitler und seiner Partei immer Distanz gewahrt hatte, nicht zutrauen will. Auch sie habe Angst, schreibt sie, aber ein wenig auch Hoffnung, da „das der Führer doch nicht zulassen wird“. (GBZ 299)

Dieses Denk- und Handlungsschema glaubt der Ich-Erzähler in den 1950er Jahren wiedererkannt zu haben. Neben das Bild des Papstes, das die Stube der Mutter stets geschmückt hatte, wird nun das Porträt Ulbrichts aufgehängt (vgl. GBZ 303). Doppelmoral könnte der Mutter vorgeworfen werden, vorausgesetzt hinter der Tat stünde eine durchdachte Absicht. Dieser Widerspruch wird von ihr aber kaum reflektiert. Er ist auch nicht auf den Opportunismus, sondern eher auf das gut gemeinte Gehorsamsgebot zurückzuführen. Der katholische Glauben erscheint wie ein zweischneidiges Schwert. Einerseits wird ein innerer Widerstand im Namen der Moral gepflegt, andererseits leistet diese introvertierte Haltung durch ihre Passivität einen Beitrag zum Unheil. So stehen auch dem jungen de Bruyn die Eltern nicht im Wege, als er sich von den Verheißungen der Hitlerjugend angesprochen fühlt. Der Vater manifestiert offen seinen Widerspruch. Die Mutter zeigt ihr Unbehagen. Die Unterschrift unter die Einwilligung wird dennoch gegeben. Durch seinen Freund Hannes kommt de Bruyn zu der HJ, kurz bevor 1938 die Mitgliedschaft obligatorisch wird (vgl. GBZ 87). Wie seiner Beschreibung zu entnehmen ist, ließ er sich aber mit der Idee der jugendlichen Gemeinschaft im Geiste des Nationalsozialismus nicht anstecken. An diesem Abend – erinnert sich das Erzähler-Ich an den ersten Kontakt zu der Hitlerjugend – wurden Volks- und Wanderlieder gesungen und eine Wochenendfahrt vorbereitet, die nach Großbeeren führen sollte, mit Abkochen in Hordentöpfen und Übernachten im Zelt. Ich glänzte durch Lieder-Kenntnisse und Fähigkeiten im Kartenlesen, und da die Anerkennung, die mir zuteil wurde, mich korrumpierte und die so nahe Erfüllung meiner Fahrten-Träume mich reizte, überraschte ich meine Mutter mit einer Eintrittserklärung, die sie nach längerem Widerstand unterschrieb. Sie drohte, mich mit den Problemen, die ich mir damit auflud, allein zu lassen, und sparte auch in der Folgezeit nicht mit Vorwürfen. Mein Vater mißbilligte zwar meine Entscheidung, schritt aber, seinen Prinzipien folgend, dagegen nicht ein. (GBZ 88)

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Selbstkritisch gibt der Erzähler seine Eitelkeit und seine jugendliche Abenteuerlust zu, die ihm beinahe zum Verhängnis wurden. Die Liaison dauerte aber nicht lange, weil ihr jede Spur leidenschaftlicher Hingabe seitens des jungen de Bruyn fehlte. Auch wenn der Abschied von der Hitlerjugend schnell erfolgt und als „endgültig“ (GBZ 92) markiert wird, zeigt sein Beispiel die Zufälligkeit der Lebensläufe und die Versuchungen, denen seine Generation als Kinder und Jugendliche ausgesetzt wurde, ohne jemals ein Training im selbständigen Denken und Urteilen absolviert zu haben. Die in Günter de Bruyns Autobiographie skizzierte Jugendgeschichte deutet auch Ursula Reinhold als „Generationserfahrung“.105 Als „Stationen einer Generation, von der nicht viele überlebt haben“,106 werden das nationalsozialistische Schulsystem, die HJ und der Einsatz als Flakhelfer genannt. Als Vita einer Generation107 kann das gezeichnete Porträt aber nicht ohne Einschränkungen gelten, weil es sich um einen männlichen Weg handelt. Während das Glaubensbekenntnis zum NS-Staat allen in Schulen vermittelt wurde, wurden nur Männer zu Soldaten erzogen. Den weiblichen Subjekten wurden manche Erfahrungen erspart, auch wenn sie nicht unberührt vom Kriegsgeschehen blieben. Günter de Bruyn definiert eindeutig Faktoren, die seine Denkweise in den jungen Jahren mitgestalten, was die Frage nach generationsspezifischen Erfahrungsmustern um die Einflüsse des Herkunftsmilieus zu ergänzen scheint. Eine besondere Bedeutung wird in erster Linie nämlich nicht den historischen Großereignissen zugeschrieben, sondern dem Elternhaus und der Kirche, die ihn auf den Umgang mit 105 Reinhold: Zwischenbilanz, S. 28. 106 Reinhold: Zwischenbilanz, S. 28. 107 Katarzyna Jaśtal erkennt in den beiden Bänden der Autobiographie eine Geschichte, die als „repräsentativ für die lebensgeschichtliche Erfahrung einer Generation“ gedeutet werden kann. (Jaśtal: Zur Wahrheit des Abschieds. Günter de Bruyns autobiographische Schriften Zwischenbilanz und Vierzig Jahre. In: Matthias Harder (Hg.): Bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Literatur der neunziger Jahre aus interkultureller Sicht. Würzburg 2001, S. 108). Auch Katrin Löffler kommt explizit auf die Erlebnisse der Jugend als „die generationstypischen Erfahrungen” (Löffler: Systemumbruch und Lebensgeschichte, S. 306, vgl. auch S. 307) zu sprechen. Obwohl Löffler bereits in der Einleitung zu ihrer Habilitationsschrift auf die Bedeutung der generationellen Perspektive verweist, hat man den Eindruck, dass diese Perspektive im Buch doch nicht richtig ausgearbeitet wurde. So können wir die einleitenden Gedanken als ein Versprechen lesen, dem die Konstruktion des Buches – in der zwei Generationen (im Sinne Löfflers, nicht aber etwa Thomas Ahbes und Rainer Gries‘) analysiert werden – nicht gerecht wird: „Angesichts der offensichtlich generationsabhängig forcierten Textproduktion stellt sich dem Literaturwissenschaftler die Frage nach der Relevanz der Generationszugehörigkeit für die Identitätsfrage, zumal in der Forschung mittlerweile der Begriff der Generation als Gedächtniskategorie eine Rolle spielt, genauer gesagt: das Generationsbewusstsein als eine Form des kommunikativen kollektiven Gedächtnisses, das im Blick auf die Identitätskonstitution in Betracht zu ziehen ist. Inwieweit, so lässt sich hinsichtlich des Potentials für die Textanalyse fragen, spielen generationsprägende Erfahrungen für die Reflexion von Identität in autobiographischen Texten eine Rolle?“ (S. 18) Dann erklärt Löffler aber, dass die „Bildung von Textgruppen nach Autoren“, die von ihr mit Generationen zusammengesetzt werden, als eine pragmatische Maßnahme zur „Reduktion der Heterogenität“ eingesetzt wird. (S. 18) Daraus entsteht dann ein recht lückenhaftes Bild.

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der Außenwelt vorbereitet haben. Die Episode in der Hitlerjugend wird als unbedeutend eingestuft. Etwas wichtiger erscheint unter dieser Hinsicht die Schule, in seinem Fall eine Schule nationalsozialistischer Prägung, der niemand entkommen konnte. Diese Erfahrung teilen alle Angehörigen der Aufbau-Generation, unabhängig von Geschlecht oder Herkunftsmilieu. Von den Zwangsmaßnahmen, die man Erziehung nennt, sind bei mir ohne Zweifel die familiären und kirchlichen früh von Einfluß gewesen; später wirkte, in geringem Maße, die Schule, die HJ nie. Wohl war ich dort zeitweilig Mitglied, machte davon aber keinen Gebrauch. (GBZ 87)

Die Erziehung im Geiste des Nationalsozialismus wird von den Schulen übernommen. Nicht die HJ wird vom Ich-Erzähler als „die beste Zwangsorganisation der Jugend“ (GBZ 103) eingestuft, sondern eben die Schule, auch wenn sie unter dem Vorwand wirkte, „nicht Hitler, sondern Deutschland zu dienen“ (GBZ 103). De Bruyn versucht die deutsche Schule der 1930er und 1940er Jahre weder zu rechtfertigen noch zu retten. Eindeutig wird ihre „Mitschuld“ (GBZ 103) zur Sprache gebracht, die nicht einem abstrakten Objekt zugewiesen wird, sondern einem konkreten Verhalten, das den Nationalsozialismus – später auch den Kommunismus – mitgetragen hat. Die Mentalität mancher Lehrer fand ich später bei Offizieren der Wehrmacht wieder. Man hatte für die Partei nur abfällige Worte, hielt Hitler für einen Dilettanten, einen Hochstapler oder einen Esel und glaubte doch, ihm folgen zu müssen, weil mit ihm, dem legalen Staatsoberhaupt, die Existenz des Vaterlands stand oder fiel. (GBZ 103)

Dieser nationalsozialistischen ‚Zucht‘ sind die Kinder aber wehrlos ausgesetzt, weil ihnen jegliche Vergleichsgrößen fehlen und auch kein Immunsystem ausgebaut werden kann. Ihnen wird die Welt durch das Prisma der Nazi-Ideologie präsentiert – in der Rassenkunde, aber auch im Mathematikunterricht, wo man „mit ballistischen Problemen und Truppenstärken operierte[…]“ (GBZ 106), auch durch die scheinbar harmlosen Diktate im Deutschunterricht, wo man „die Soldaten durch die Stadt marschieren ließ[…]“ (GBZ 106). Selbständiges Denken wird in der nationalsozialistischen Schule nicht unterrichtet. Es gab natürlich auch unter den Lehrern Ausnahmen, die ihren Schülern verbotene Gebiete – wie etwa literarische Texte der deutschen Klassik, die verpönt waren – erschließen wollten (vgl. GBZ 106–108). Ihrer Bedeutung kann das sich erinnernde Ich erst in der Rückschau gerecht werden. Die Schule bereitet die jungen Männer auf den Krieg vor. Das Produkt sind „politische[…] Analphabeten“ (GBZ 143), die leicht regierbar sein sollen. „Von der Welt isoliert, dumm gehalten und mit Vorurteilen beladen, waren wir als williges Kanonenfutter aufgewachsen;“ – charakterisiert de Bruyn sich und seine Altersgenossen – „aber fanatische Nazis waren wir wider Erwarten nicht geworden.“ (GBZ 143) Diese Generation wurde zum Werkzeug in den Händen der Machthaber. Ihre Entwicklung wurde gestört, weil ihnen der Boden für eine freie Entfaltung entzogen wurde. Der

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Krieg hat den Reifeprozess nicht beschleunigt, sondern eher behindert.108 Zu tun haben wir demzufolge mit beschädigten Schicksalen: Zum Reifeprozeß junger Menschen gehört das Erkunden fremder Sozialbereiche; das aber war uns Frühkasernierten verwehrt. Wir kannten nur Familie und Militär, Unterordnung und Abhängigkeiten; wir lernten weder, uns anderswo frei zu bewegen, noch uns zu entscheiden, blieben in dieser Hinsicht bis Kriegsende Kinder, wenn auch Entbehrungen und Gefahren uns frühreif machten und unsere Sprache und unser Gehaben das von erprobten Soldaten war. (GBZ 146)

Verfolgt man die Passage, in der Günter de Bruyn seine Erfahrungen mit der Schule, mit den „Kinderlandverschickungen“ (GBZ 109) beschreibt und auf die Tatsache zu sprechen kommt, wie die ersten im Krieg Gefallenen unter den Schülern in Appellen gefeiert wurden, als seien sie Heldentote von Thermopylae (vgl. GBZ 104), dem gleich Beschreibungen des sinnlosen Sterbens der Scharen von jungen Männern (beinahe noch Kindern) im Namen des Krieges folgen, fallen Texte eines anderen deutschen Schriftstellers ein, nämlich Heinrich Bölls (Jahrgang 1917). Im zweiten Teil der Autobiographie kommt de Bruyn explizit auf Böll, als sein großes Vorbild, zu sprechen. Beide teilen ihre Kriegserfahrungen, aber auch die pazifistische Haltung. Der Krieg wird nicht verherrlicht, sondern – um sich auf Ursula Reinhold zu beziehen – „in seiner forcierten Sinnlosigkeit als absurder, organisiert zerstörerischer Leerlauf erlebt, dem auch im Nachhinein keinerlei menschliche Qualität zuerkannt wird.“109 Die Sinnlosigkeit des Todes, die Böll etwa in „Wanderer, kommst du nach Spa…“ in Form einer Kurzgeschichte darstellt, füllt weite Partien von Zwischenbilanz. Denn „die ganze Jugend“ de Bruyns erfüllt der Krieg (vgl. GBZ 134). Er wird zum Zeugen von vergeudeten Menschenleben. Er wird aber auch zum Opfer. Schwer verwundet – mit einem Granatsplitter im Schädelknochen (vgl. GBZ 234) – landet er (der literarischen Gestalt bei Böll ähnlich) in einem Klassenzimmer, das von seiner ursprünglichen Funktion entlassen jetzt als Pflegesaal für Schwerverwundete dient (vgl. GBZ 239). Und auch bei de Bruyn ist der Tod allgegenwärtig: „Gestorben wurde im Zimmer der schweren Fälle nicht selten, oft so, daß alle anderen Patienten nächtelang daran teilnehmen mußten, manchmal aber auch […] lautlos und unbemerkt.“ (GBZ 241) Das Bild des Krieges, das von Günter de Bruyn entworfen wird, ist nicht das eines Historikers, sondern eines von ihm Gezeichneten. Geplagt von Angst, Kälte und Hunger wird er nie „[e]in rebellischer oder auch nur bemerkenswert undisziplinierter Soldat […], eher ein müder und uninteressierter“ (GBZ 202). Er gibt zu, dass er kaum imstande war, die Vorgänge mit Distanz eines reifen Zeugen zu registrieren: „Diese ganze Kriegszeit, das heißt die ganze Jugend hindurch war mein Aufnahmevermögen von Angst vernebelt und von den Folgen der Pubertät verwirrt.“ (GBZ 134) Am Ende des Krieges stilisiert er sich aber im Gegensatz zu vielen Entscheidungsträgern nicht

108 Vgl. Reinhold: Zwischenbilanz, S. 31. 109 Reinhold: Zwischenbilanz, S. 32.

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zu einem Unschuldigen, den Unreife rechtfertigen könnte. Moralische Schuld wird auch ihm zuteil, der, „ob gern oder nicht, auf der Seite der Mörder stand.“ (GBZ 245) Das Jahr 1945, das mit dem Ende des Krieges einen historischen Einschnitt markiert, wird in Zwischenbilanz weniger als eine Zäsur gedeutet. Beglückt durch die Freiheit (vgl. GBZ 251), aber nicht befreit von Hunger und Schwäche (vgl. GBZ 277) will das Erzähler-Ich schnell erkannt haben, dass sich die Verhältnisse nicht grundlegend verändert haben. Der schöne Wahn vom Mai 1945, daß nun eine neue Zeitrechnung beginnen und alles, alles sich wenden würde, brauchte zwar Jahre, bis er von der Realität berichtigt wurde, aber schon in den ersten Tagen und Wochen fing die Desillusionierung an. Staat und Militär war man los, aber an die lästig gewordene Nation blieb man gebunden; und auch manches andere, das man mit Hitler gestorben geglaubt hatte, lebte noch fort. (GBZ 266–267)

Auch in dem neuen sozialistischen Staat finden alte Nazis zu ihren neuen Positionen. De Bruyn scheint den Gründungsmythos des antifaschistischen Landes in Frage zu stellen, indem er einige Karrieren seiner Mitarbeiter kritisch beleuchtet. „Die Wandlung vom Hitler-zum-Stalin-Glauben“ (GBZ 368) verläuft bei vielen reibungslos. Kritisch nimmt der Erzähler die kommunistische Alternative ins Visier und – obwohl er sich als einen „politische[n] Analphabeten“ (GBZ 307) bezeichnet – entzieht er sich dem Neuen, in dem er intuitiv den alten Geist zu erkennen glaubt: „Mein Grundsatz war lediglich: was gewesen war, sollte nicht wiederkommen, und darunter verstand ich vor allem, daß keine Zwangsorganisation mehr mein Leben bestimmen durfte […].“ (GBZ 307) Der Einheitspartei und damit auch der Karriere im neuen Deutschland kehrt er also den Rücken. In diesem Punkt scheint er sich deutlich von seiner Generation zu unterscheiden. Er definiert seine Haltung als die eines „christlich-pazifistischen Idealisten“ (GBZ 323).110 Die neuen Lehren der „Aktivisten der ersten Stunde“ scheinen nicht viel von „Mitleid und Barmherzigkeit“, also von „christliche[n] Tugenden“ (GBZ 295) zu halten, die zur Grundlage der Weltanschauung des erinnerten Ich wurden. Allerdings prägen auch de Bruyn Schuldgefühle, die ihn der Macht der Patriarchen gefügig machen, auch wenn er Distanz zu ihnen pflegt. Und in diesem Zusammenhang spricht er auch nicht nur von einem Einzelschicksal, sondern von Erfahrungen, die mit anderen

110 Als ein symbolisches Moment der Rückkehr zu den alten Idealen bzw. der Entdeckung des eigenen Selbst wird eine Beichte gedeutet, die vor seiner Hochzeit – kurz nach dem Ende des Krieges – stattfindet. Nach langen Jahren im Kollektiv, wo individuelle Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden, aber auch individuelle Verantwortung entfällt, kehrt das erinnerte Ich zu sich selbst zurück. Es wird wieder ein Individuum: „Nach jahrelangem Lager- und Kasernenleben, wo mein Gefühl mit Angst und Ekel, mein Verstand mit Überlebensstrategie beschäftigt war und Uniformität in Kleidung, Tagesablauf und Gebaren nivellierend gewirkt hatte, führte diese Beichte, die nur mir als Individuum galt, mich zu mir selbst zurück. […] Es war ein Erwachen, ein Erwachsenwerden.“ (GBZ 358).

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geteilt werden. Die Verwendung des Personalpronomens „wir“ deutet auf sein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe, die sich auch in der DDR unterzuordnen weiß: […] in jedem Fall wurde man zur Disziplin und zur Beachtung von Grenzen erzogen und damit für das System brauchbar oder doch wenigstens ungefährlich gemacht. Gehemmt wurde der Widerstandswille auch durch den die Macht adelnden Antifaschismus, den einzigen Bestandteil der verordneten Lehre, der der eignen Meinung entsprach. Da aber diese Meinung sich bei den meisten von uns erst durch den Krieg und nach Hitler gebildet hatte, fühlten wir uns mehr oder weniger mit Schuld beladen und glaubten den Emigranten und Widerstandskämpfern gegenüber zu Ehrfurcht verpflichtet zu sein: in diesem Punkt war man moralisch erpreßbar. Die Kritik an Verblendung und Intoleranz war getrübt von schlechtem Gewissen. Denn die eifernde Schulleiterin hatte unter Hitler im Gefängnis gesessen, der dogmatische und gebildetste der Dozenten war ein Emigrant gewesen – man selbst aber hatte Hitler gedient. Man war also auch in moralischer Hinsicht der Schwächere und wurde es noch mehr durch die ständige Vorsicht, die doch eine Form von Unehrlichkeit war. (GBZ 374)

Der „Außenseiter“ (GBZ 374) teilt mit seinen Altersgenossen nicht nur die Erfahrungen mit Hitler-Deutschland, dem er gedient hat. Er stuft sich in der Hierarchie der DDR-Gesellschaft auch ähnlich ein. Die Anfänge der DDR werden in dem Schlussteil der Autobiographie nicht ausführlich dargestellt. Es fehlt ihnen auch die tiefe Einsicht in die skizzierten Gestalten, die eher als Menschentypen denn als Individuen erscheinen. Diesen Textstellen nähert sich Ursula Reinhold kritisch an: Die Erzählung wird allerdings hier verallgemeinernd, die Wahrnehmung großflächiger, sie scheint von späteren Einsichten überlagert und vom Ende der DDR geprägt zu sein. Damit verwischt sich leider der authentische Eindruck der damaligen Erfahrung. Die differenzierte Figurenzeichnung, wie sie zum Beispiel auch für die militärischen Vorgesetzten eingesetzt wird, findet bei den antifaschistischen Lehrern der Bibliothekarsschule keine Entsprechung.111

Auch wenn den Argumenten eindeutig zuzustimmen wäre, muss – um dem Vorhaben de Bruyns gerecht zu werden – auch der Umstand berücksichtigt werden, dass er auf Erfahrungen mit der DDR genauer im zweiten Band seiner Autobiographie zu sprechen kommt. Darauf deutet auch der Titel des letzten Kapitels „Rückblicke auf Künftiges“ hin. Im Schlussteil der Zwischenbilanz wird die Überbrückungsphase ausgemalt, die den Systemvergleich aus der Perspektive des sich erinnernden Ich besonders deutlich veranschaulicht. Die Zusammenstellung der Grundsätze nationalsozialistischer Erziehung mit den Ursprüngen antifaschistischen Aufbaus hebt eine überraschende Nähe der scheinbaren Antipoden hervor. Auch wenn sie sich anderen Göttern verschreiben, sind ihre Handlungsschemata vergleichbar. Gezeichnet werden die Mechanismen der geistigen Versklavung. Und auch wenn die sozialistischen Lehrerfiguren nicht mehr so plastisch gestaltet werden, scheinen sie mit ihren Handlungsmustern

111 Reinhold: Zwischenbilanz, S. 33.

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die früher genauer beleuchteten psychologischen Typen – mit Opportunisten und fanatischen Glaubensträgern an der Spitze – fortzusetzen. Die historischen Ereignisse erscheinen in der Lebenskonstruktion Günter de Bruyns so stark, dass sie ihr sogar eine Struktur zu verleihen scheinen. Seine Schulzeit fällt in das Dritte Reich. Der Krieg beraubt ihn der Jugend. Mit der Gründung der DDR beginnt für ihn auch eine neue Lebensphase, die das Erzähler-Ich als Erwachsensein einordnet. Gezeichnet wird dementsprechend ein beinahe exemplarischer Lebensweg eines Angehörigen der Aufbau-Generation, auch wenn das generationelle Bewusstsein hier nicht zur Sprache gebracht wird. Hinsichtlich der Abneigung, die de Bruyn jedem Kollektiv gegenüber hegt, wirkt dies allerdings kaum überraschend. Im Rückblick auf das Jahr 1949 fasst der Erzähler die Lebensstationen wie folgt zusammen: Gäbe es zwischen der Jugend und dem Erwachsensein eine deutliche Grenze, an der jede Entschuldigung wegen Minderjährigkeit und Unreife endet, würde ich sie bei mir auf den 1. Oktober 1949 legen, als in Berlin meine Bibliotheksausbildung begann. Die neue Lebensperiode fiel ziemlich genau mit einem neuen Kapitel der deutschen Geschichte zusammen – ein Zufall, wie ich ihn schon von früher her kannte: Hitler regierte ziemlich exakt meine zwölfjährige Schulzeit hindurch. Jetzt begann mein Berufs- und Mannesalter mit dem Beginn des östlichen Staates, der zu der Zeit, in der ich in den Vorruhestand hätte gehen können, sein Ende fand. (GBZ 371)

De Bruyns Ausführungen bestätigen den von Thomas Ahbe und Rainer Gries erwähnten Gleichklang zwischen der Entwicklung der DDR und dem Leben der Aufbau-Generation. Sie zeigen aber auch, wie stark das Bewusstsein dieser Übereinstimmung tatsächlich ist. Bis jetzt wurden historische Ereignisse ins Visier genommen, die zum Erfahrungshorizont eines Individuums wie auch einer Generation werden könnten. Sucht man in Zwischenbilanz nach potentiellen generationsbildenden Objekten, so fällt noch eine Dominante in dem autobiographischen Konstrukt de Bruyns auf, nämlich seine Erfahrungen mit literarischen Texten – als Leser und als werdender Schriftsteller. Was er mit vielen Zeugen dieser unruhigen geschichtlichen Periode teilen mag, sind seine Tagebuchnotizen, die ihn den ganzen Krieg hindurch zu begleiten scheinen, häufig aber nur aus Bemerkungen zu aktuellen Lektüren bestehen. Da im Text zahlreiche Titel genannt werden, wäre die Frage nach Büchern als Generationsobjekten nicht ganz verkehrt. Die Angehörigen einer Generation können Vorlieben für bestimmte Genres oder Autoren teilen. In diesem konkreten Fall erscheint diese These aber zweifelhaft, weil der im Geiste der nationalsozialistischen Ideologie geschulten Jugend der freie Zugang zu Büchern verwehrt blieb. Was sie aber auf jeden Fall verbindet, sind Defizite und der starke Nachholbedarf in der Nachkriegszeit.

5.2.3 Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht (1996) Der zweite Band der Autobiographie wird als Fortsetzung des ersten Teils konzipiert und auch als solcher vermarktet. Auf der Rückseite des Umschlags wird auf de Bruyns

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„vielbeachtete autobiographische Zwischenbilanz“ hingewiesen, die der Schriftsteller mit dem vorliegenden Band nun fortsetze, womit eine Art Verspechen auf literarische Qualität des Textes gegeben wird. Der auf dem Cover abgedruckte Ausschnitt aus einer Buchbesprechung kommt einem aufmerksamen Leser de Bruyns bekannt vor. Es handelt sich nämlich um die bereits bei Zwischenbilanz zitierte Rezension von Sibylle Wirsing, in der „die Fairness“ des Autors gelobt wird. Im verlegerischen Peritext werden die beiden Bände einander näher gerückt, was sie sowohl stilistisch als auch inhaltlich als Bestandteile des de Bruynschen Autobiographie-Projektes erscheinen lässt. Auf seinen Essay Das erzählte Ich wird dagegen kaum Bezug genommen. Unmissverständlich werden die im Titel genannten „vierzig Jahre“ nicht allein auf die Geschichte der DDR übertragen, sondern auf das Leben de Bruyns, womit die individuelle Sicht stark hervorgehoben wird. Als die DDR gegründet wurde, war Günter de Bruyn 22, als der Staat von der politischen Bühne abtrat, 63 Jahre alt. Die vierzig Jahre, die dazwischen liegen und den größten Teil seines bewußten Lebens ausmachen, hat de Bruyn in der DDR verbracht. In diesem Buch berichtet er offen, so uneitel, ruhig und gewissenhaft, wie dies bislang wohl noch nie geschah, vom Leben eines Bürgers in einem diktatorischen Staat und setzt damit seine vielbeachtete autobiographische Zwischenbilanz fort.112

De Bryuns Autobiographie ist nicht der erste Versuch einer Auseinandersetzung mit der DDR. Hermann Kants Abspann erschien ein paar Jahre früher, fand aber in der Öffentlichkeit wenig Zustimmung. So wird vom Verlag zwar nicht direkt ein Vergleich angestellt, wohl aber angedeutet. Denn der vorliegende Band soll mit seiner Aufrichtigkeit des Berichts ein Einzelfall sein. Im Klappentext wird die Charakteristik wiederholt und weiter um Informationen zu seinen Lebensstationen und seinem Erzählstil ergänzt. De Bruyn stelle nicht nur die Haltung seiner Mitbürger auf den Prüfstand, sondern bleibe sich selbst – seinem „Handeln und Unterlassen“ – gegenüber genauso schonungslos. Der Autor wird auch im Literatursystem DDR zwischen Christa Wolf und Hermann Kant verortet, indem Wolf neben Wolf Biermann den „Autoren“ zugerechnet wird und Kant den „SEDFunktionären“. Auffallend ist besonders die Aburteilung Hermann Kants. De Bruyn schildert Begegnungen mit Autoren wie Heinrich Böll, Wolf Biermann und Christa Wolf, mit SED-Funktionären wie Hermann Kant und Klaus Höpcke, aber auch mit unbekannten Freunden und Kollegen. (GBV vordere Klappe)

Die persönliche Dimension der Begegnungen präsentiert den Text nicht als Memoiren,113 sondern als eine Autobiographie, und öffnet ihn für ein breites Lesepublikum, denn 112 Günter de Bruyn: Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht. Frankfurt a.M. 1996 (Rückseite des Covers). Im Folgenden werden Zitate als Sigle GBV mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen. 113 Katarzyna Jaśtal merkt im Zusammenhang mit der Gattungsfrage an, dass der zweite Band eher in Richtung Memoiren tendiert, was sie bezugnehmend auf Bernd Neumann wie folgt erklärt: „Sein

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de Bruyns „Lebensbericht konzentriert sich auf Erfahrungen und Erlebnisse, die sich heute in beiden Teilen Deutschlands verallgemeinern lassen, auf Situationen, die von sowohl großem intellektuellen wie menschlichem Interesse sind.“ (GBV vordere Klappe) Die Universalität der erzählten Geschichte wird auch diesmal hervorgehoben. Und tatsächlich scheint de Bruyn nicht nur für die Eingeweihten zu erzählen, die mit dem DDR-Literatursystem, mit der Propaganda, der Zensur aber auch mit dem DDRAlltag – obwohl dieser hier nicht so stark hervorgehoben wird wie etwa in Christa Wolfs Ein Tag im Jahr – vertraut sind, sondern er skizziert die Lage umfassend, so dass auch das westdeutsche Publikum daran Interesse finden mag. So wird auch in diesem Band konsequent ein deutscher Autor mit einer ostdeutschen Geschichte (mit einer universellen Aussage) dargeboten. Dies scheint auch das Coverbild zu untermauern. Auf dem Umschlag suchen wir vergeblich nach DDRSymbolen. Das verschwommene Bild scheint eher einen Wald abzubilden, was als eine Anspielung auf de Bruyns Naturliebe gedeutet werden kann. Seine Ausflüge in die Märkische Umgebung haben Züge einer Flucht vor der bedrückenden politischen Realität. Die Sesshaftigkeit des Autors wird in der Autobiographie stark betont. Der Aufbau der Autobiographie – einschließlich der Schließung des autobiographischen Paktes – entspricht den künstlerischen Maßnahmen des ersten Teils. Die Identität zwischen Autor, Erzähler und Hauptfigur wird hergestellt. Zahlreiche Daten, Namen und Orte begründen die Referentialität des Textes. Die Gattungsattribution taucht bereits im Titel auf. Berichtet wird demzufolge von den vierzig Jahren des Lebens von Günter de Bruyn. Den Zusammenhang zwischen den beiden Teilen der Autobiographie und dadurch auch den beiden Abschnitten des Lebens stellt auch de Bruyn von der ersten Seite seines Buches an unmissverständlich her. „Vierzig Jahre does pick up where Zwischenbilanz left off“,114 fasst Owen Evans das Konzept zusammen. Es handelt sich aber nicht nur um den historischen Zeitpunkt, in dem der Erzähler seine Geschichte in Zwischenbilanz abbricht, um sie in Vierzig Jahre aufzunehmen, sondern auch um die im ersten Band verzeichneten Prägeerfahrungen, die die Haltung des Erwachsenen mitzuformen scheinen. In dem Erinnerten wird der Schatten der NS-Zeit sichtbar. Das Hitler-Deutschland erscheint wie eine Art Vergleichsfolie, vor der kein Ereignis mehr erschütternd zu wirken vermag. Eine Perspektive auf sein Leben eröffnet das Erzähler-Ich bereits auf der ersten Seite des Lebensberichts:

[de Bruyns – K.N.] Augenmerk ruht nicht mehr auf der Entwicklung des Individuums (diese ist eigentlich abgeschlossen), sondern (was als lebensgeschichtlich bedingt erscheint) auf dessen offiziellen Auftritten und Begegnungen mit öffentlichen Persönlichkeiten.“ (Jaśtal: Zur Wahrheit eines Abschieds, S. 112). 114 Owen Evans: „Schlimmeres als geschah, hätte immer geschehen können“: Günter de Bruyn and the GDR in Vierzig Jahre. In: Tate: de Bruyn in Perspective, S. 175.

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Schlimmeres als geschah, hätte immer geschehen können. Als ich in Ulbrichts Staat um Selbstbestimmung und Selbstachtung bangte, war zum Vergleich noch der unfreiere Hitler nahe, der mich um ein Haar Kopf und Kragen gekostet hätte. […] Gefängnis und Heimatverlust sind mir erspart geblieben […]. (GBV 7)

Aus diesen Erfahrungen scheint das sich erinnernde Ich sein „Harmoniebedürfnis“ abgeleitet zu haben, das auch eine „Kompromißbereitschaft“ (GBV 7) in dem neuen sozialistischen Staat zur Folge hatte. Diese bei der Eröffnung der autobiographischen Erzählung gestellte Selbstdiagnose scheint in der Lebenskonstruktion de Bruyns bestätigt zu werden. Gezeichnet wird der Habitus eines Skeptikers, der aus pragmatischen Gründen Anpassung übt, immer aber wachsam darauf achtet, dass seine Ideale nicht verraten werden. Und aus dieser Position ergeben sich Gewissenskonflikte, von denen er auch berichtet. Seine Lebensdevise heiße: „Da ich keinem vertraute, war ich keinem verpflichtet.“ (GBV 11) Darauf kann seine distanzierte Haltung zurückgeführt werden: „Ich beobachtete mit Erstaunen die verschiedenen Typen politischer Eiferer und hielt, bis auf seltene Ausnahmen, Äußerungen des Widerwillens zurück.“ (GBV 11) Seine „mangelnde Einordnung ins Kollektiv“ (GBV 10) und sein „Ruf eines unbelehrbaren Pazifisten“ (GBV 11) werden als seine bewusst betonten Eigenschaften evoziert, die nur einen Teil seines Doppellebens ausmachten. Denn so wenig das erinnerte Ich auch von dem kommunistischen System hielt, konnte es weder dem Land den Rücken kehren noch sich dem System widersetzen. Eine Vereinbarung zwei sich scheinbar ausschließender Lebenshaltungen schwebte ihm vor – wie „zwei Seelen in […] einer Brust“ (GBV 42): „Ich wollte gebunden sein und mich in Freiheit bewegen können, wollte alles wissen und mich auf ein Spezialgebiet konzentrieren können.“ (GBV 33) Den Erwartungen kommt auch die Arbeit als Bibliothekar – nach dem Abschluss der Bibliothekarschule, in der er ohne Ehrgeiz sich „im Diagonal- oder Querlesen“ (GBV 15) übte und die Kunst beherrschte, „über nichtgelesene Bücher verständig zu reden“ (GBV 15) – entgegen, weil er in der „mechanischen Ordnungsarbeiten“ (GBV 33) Zeit zum Nachdenken findet, Erfahrungen für seine späteren Bücher zu sammeln glaubt. Freilich konnte ich das eintönige Bibliotheksdasein nur deshalb so gut ertragen, weil ich in dienstfreien Stunden ein anderes Leben führte, an Wochenenden draußen bei meiner Mutter im Garten oder im Märkischen unterwegs auf dem Fahrrad, und an den Abenden bei Freunden aus Kindertagen, in Buchhandlungen, Kinos, Theatern, vorwiegend im Westen Berlins. (GBV 33)

Gezeichnet wird ein für das erzählte Ich prägnanter innerer Zwiespalt. Das Leben in der DDR lässt sich anscheinend nur ertragen, wenn das Subjekt eine Nische für sich findet, ein von Kontrollmaßnahmen des Systems freies Gebiet. Und eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang seiner Märkischen Heimat, vor allem aber Berlin zu. Auch nach der Teilung der Stadt genießt das erinnerte Ich die Spaziergänge zwischen Ost und West und „noch offene Grenzen“ (GBV 18). In Bezug

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auf das Jahr 1953 stellt er seine Wege in Berlin wie folgt dar: „Der Wechsel zwischen Osten und Westen war mir in diesen Jahren so zur Gewohnheit geworden, daß ich die Gegensätze zwischen den beiden Stadthälften als selbstverständlich empfand.“ (GBV 48) Während der Aufstand des 17. Juni 1953 – den er illusionslos beobachtet, vorübergehend sogar zum Teil des Menschenstroms wird, ohne sich mitreißen zu lassen (vgl. GBV 42–44) – für de Bruyn keine Zäsur markiert, ist der Mauerbau mit einem tiefen Einschnitt gleichzusetzen. Er verliert einen Teil seiner Freiheit, indem er von seiner Freiheitszone Westberlin durch die von nun an überwachte Grenze abgetrennt wird. Das Jahr 1961 erscheint in vieler Hinsicht als eine Zäsur.115 Am 1. April genießt das erzählte Ich den ersten Tag als freier Schriftsteller. Im November feiert es seinen fünfunddreißigsten Geburtstag (vgl. GBV 106). Dazwischen kommt die Mauer. Die Reaktion auf „die Wandlung des Albtraums in Realität“ (GBV 107) wird als „Trauer, Wut, Verzweiflung“ (GBV 106) gefasst. De Bruyn wird zum Zeugen, der es „mit eigenen Augen“ (GBV 107) sehen will. Ich wollte dabei sein, wenn man uns einsperrte, wollte zu der Menge gehören, deren Blicke den Bewaffneten wenigstens zeigten, daß sie mit Jubel nicht rechnen können. Ich hoffte, Spuren schlechten Gewissens in den Augen der Wächter entdecken zu können, rechnete auch mit spontanem Aufbegehren, fand aber auf beiden Seiten nur Aufgeregtheit und Angst. Siegesjubel, der am nächsten Morgen die kraftmeiernden Zeitungen füllte, war in keinem der Gesichter zu lesen, und niemanden traf ich, der, wie das Neue Deutschland, behauptet hätte, daß man nun endlich wieder frei atmen könnte. (GBV 107)

Verzeichnet wird die Gefühlslage des erzählten Ich am Tag des Mauerbaus. Die Szene wird als prägendes Erlebnis skizziert, das zum Trauma wird. Es kehrt in den „Mauerträumen“ (GBV 108) wieder, die es auch nach dem Mauerfall immer noch plagen. Die Mauer wird zum „Hindernis“ (GBV 108), das ihm im Wege steht, seine „Heimat“ (GBV 109) zu besuchen, die nicht in Berlin-Mitte liege, sondern dort, wo er „die ersten  siebzehn Lebensjahre verlebte, in Britz nämlich, das nun zu den unerreichbaren Westsektoren gehört.“ (GBV 109) Da viele die Chance nicht nutzten, die DDR vor dem Mauerbau zu verlassen, sind sie jetzt auf das Leben in einem ,eingesperrten‘ Land angewiesen. Und weil das Leben in einem Ausnahmezustand kaum möglich erscheint, müssen sich die Bürger ihr Leben neu einrichten. Auch das erinnerte Ich,

115 Halina Ludorowska bezeichnet de Bruyns Haltung in der 1961 eingeleitete Lebensphase als einen „ästhetische[n] Ketman” (S. 222). Den Begriff und das damit gezeichnete Bild übernimmt sie von Czesław Miłosz. Der Analyse von Vierzig Jahre wird folgende Erklärung vorangestellt: „Die erzwungene Identifikation mit dem Sozialismus in den Ländern des Ostblocks erzeugte bei den Bürgern Mimikry-Erscheinungen – das spezifische Spiel mit der Macht. Czesław Miłosz benannte diese Schauspielerei schon 1951 mit der Bezeichnung ,Ketman‘, die er bei Gobineau […] gefunden hat.“ (Halina Ludorowska: Tabu: Anpassung. Zu Günter de Bruyns Autobiographie Vierzig Jahre. In: Hartmut Eggert/Janusz Golec (Hg.): Tabu und Tabubruch. Literarische und sprachliche Strategien im 20. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 2002, S. 216).

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obwohl es sich mit der Mauer nie abgefunden habe (vgl. GBV 109), muss die neue Lage hinnehmen: Trotzdem mußte man mit ihr leben, konnte sich nicht über Jahre, Jahrzehnte, weil man den Schritt nach Westen nicht rechtzeitig getan hatte, einen entschlußlosen Dummkopf schelten, konnte sich nicht ewig in Sehnsucht nach dem Kurfürstendamm oder dem Britzer Dorfteich verzehren […]. Man mußte vergessen lernen, daß die häufig besuchte Ackerstraße, wo Fräulein Broder in der schäbigsten aller schäbigen Wohnungen lebte, noch eine Fortsetzung nach Norden hatte […]. […] Um eingesperrt überhaupt leben zu können, mußte man so zu leben versuchen, als gäbe es die Absperrung nicht. (GBV 109–110)

Vom Ausnahmezustand musste man zurück in das normale Leben kommen, auch wenn einem Außenbeobachter der oft praktizierte Selbstbetrug der DDR-Bürger auffallen mag. Das ganze Spektrum der selbstberuhigenden Lügen entgeht auch nicht der Aufmerksamkeit des Erzähler-Ich. Und auch wenn er seinen Mitbürgern die Kritik nicht erspart, gibt er gleichzeitig zu verstehen, dass der Selbstbetrug als eine Schutzmaßnahme wahrzunehmen ist, „denn in politischer Dauerschizophrenie lebt es sich schlecht.“ (GBV 110) Selbstkritisch glaubt de Bruyn auch bei sich die stille Duldung der Lage zu erkennen, die allerdings von der Akzeptanz der Teilung weit entfernt war (vgl. GBV 110). Der innere Widerspruch entwickelt sich bei dem erinnerten Ich zu keinem äußeren Widerstand. Vom Mauerbau wird de Bruyn – wie seine ebenfalls in der DDR gebliebenen Altersgenossen, die die Ausreise erwogen, aber mit der endgültigen Entscheidung gezögert haben – besonders stark getroffen, weil das Gefühl, eine Chance versäumt zu haben, im Westen das Glück zu suchen, sich wie ein roter Faden durch seine Lebensschilderung zieht. Die Autobiographie Vierzig Jahre wurde bereits in Zwischenbilanz entsprechend angekündigt: „Ich war unter den Zurückbleibenden. Das Warum wird der nächste Band meiner Lebensbilanz ausfüllen.“ (GBZ 376) Und auch dieses Problem erscheint vielschichtig. Die Entscheidung kann mit Angst (vgl. GBV 71–72) erklärt werden. Eitelkeit kann ebenfalls nicht ausgeschlossen werden – schließlich hoffte der damals junge wissenschaftliche Mitarbeiter des Zentralinstituts für Bibliothekswesen (vgl. GBV 39) auf eine Schriftstellerkarriere (vgl. GBV 106), von der er als Literaturliebhaber seit Jahren träumte. Im Jahre 1976 nennt er seinem Freund aus jungen Jahren, der diskret als H. angeführt wird, eine Reihe der Gründe, warum er seinen Besuch in Frankfurt am Main anlässlich der Buchmesse nicht zu einem Daueraufenthalt in der Bundesrepublik ausdehnen kann. Das Familiäre wird in den Vordergrund gerückt. Die Verlockung […] war groß gewesen, entsprechend groß war auch die Genugtuung, ihr widerstanden und den Entschluß nicht von einem Zufall abhängig gemacht zu haben. Alles, was mich am Osten hielt, war mir wieder bewußt geworden: die Mutter, die Kinder, die Kiefernwälder und vor allem die Frau […]. (GBV 129)

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Wie stark die Familienbande sind, wird dem Leser nicht näher erläutert.116 Ihre Bedeutung scheint von der Entscheidung bestätigt zu werden. Von der Kraft seiner Argumente ist der Verfasser selbst aber anscheinend nicht stark genug überzeugt, um mit diesem Kapitel endgültig abzuschließen. Noch im Zusammenhang mit der BiermannAffäre – dem nächsten Ereignis, das in der Autobiographie als Schlüsselerfahrung markiert wird – fühlt er sich gezwungen, über seine Entscheidung, in der DDR trotz allem zu bleiben, zu reflektieren. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich Fluchtmöglichkeiten versäumt hatte, träumte vom zensurlosen Schreiben in West-Berlin oder Hamburg und fand es gleichzeitig widersinnig, ohne Lebensbedrohung aus einer Gegend, die die meine war, wegzugehen. Ich war stolz darauf, aller Bedrückung zum Trotz auszuhalten, und verachtete mich meiner Seßhaftigkeit wegen, an deren Ende womöglich die provinzielle Verblödung stand. (GBV 204)

Die Ausbürgerung Biermanns wird zu einem Wende-Punkt in der Haltung des erzählten Ich. Es handelt sich aber weniger um Biermann, von dem das Erzähler-Ich sich vielmals eindeutig distanziert. Einerseits wird Biermann als ein bewundernswerter Kämpfer gezeigt. Andererseits gibt de Bruyn zu, er habe auf manche Ideen mit Kopfschütteln reagiert (vgl. GBV 208), was er wie folgt begründet: „Sein idealkommunistisches Credo machte mich seiner Naivität wegen verlegen.“ (GBV 208) Nicht Biermann scheint in der Schilderung der Ereignisse 1976 wichtig zu sein, sondern die Folgen der Ausbürgerung und die dadurch aufgezwungene Frage nach der eigenen Haltung, die eine Kurskorrektur einleitet. Sein eigenes Verhalten sei in Frage gestellt worden (vgl. GBV 203). Vorzeichen einer „repressive[n] Kulturpolitik“, die er schnell zu erkennen scheint, machen sein „Taktieren mit seinem dauernden Wechsel von Mitlaufen und Distanzhalten vielleicht nicht mehr möglich“ (GBV 204). Es wird als die Zeit einer Entscheidung gedeutet, als wäre Passivität in diesem Fall zum Zeichen des Einverständnisses mit der SED-Politik. So muss das erinnerte Ich seine „Waldeinsamkeit“ (GBV 158) für eine Weile aufgeben. Einige Jahre nach dem Mauerbau glaubt er dem Staat entkommen zu können, indem er „in die Emigration [ging], ohne das Land, das [ihn] hielt, verlassen zu haben.“ (GBV 158) Er sei dem Staat auf seinem eignen Territorium entflohen (vgl. GBV 158), glaubt der damals zweiundvierzigjährige Schriftsteller, der ein Waldhaus kauft und sich von der Illusion tragen lässt, er könne das Land selbst bebauen (vgl. GBV 159) oder sogar Pferde züchten (vgl. GBV 161).

116 De Bruyn verrät nichts Intimes. Außer den Träumen und ersten Erfahrungen eines Pubertierenden im ersten Band wird das Sexuelle kaum zur Sprache gebracht. Sein Verhältnis zu Frauen ist nicht das Thema des Buches und es wird nur im Zusammenhang mit seinen Entscheidungen erwähnt, ohne allzu viel davon zu verraten, was sich hinter den Kulissen abspielt. Ähnlich verfährt Christa Wolf in ihren Tagebuchprotokollen wie in Stadt der Engel. Ihre Ehe wird manchmal erwähnt, jedoch nicht in den Mittelpunkt gestellt. Es scheint in beiden Fällen eine klare Grenze festgelegt worden zu sein, hinter der das Private zum Verschwinden gebracht wird.

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Von der Realität des SED-Staates wird er aber eingeholt und fühlt sich moralisch verpflichtet, die Biermann-Petition zu unterzeichnen. Der Unterschrift kommt eine symbolische Bedeutung zu. Das erläutern die Worte des Autobiographen: „doch mußte ich mit unterschreiben, um nicht als Befürworter der Regierungsmaßnahme zu gelten.“ (GBV 210) Das Jahr 1976 war auch für de Bruyn ein „Versuch intellektueller Emanzipierung.“ (GBV 212) Nicht die Repressionen, die nach der Initiative folgen, werden ins Zentrum gestellt – auch wenn sie hier nicht fehlen –, sondern die verbindende Kraft der gemeinsamen Erhebung. Nicht der Inhalt der Petition, in der man jede Schärfe vermieden hatte, war entscheidend, sondern die Tatsache, daß es sie gab. Zum ersten Mal hatte man sich im Protest zusammengefunden. Das stärkte das Selbstbewußtsein und klärte die Fronten. Der Riß zwischen den Protestierern und den parteitreuen Schreibern sollte sich nie mehr schließen. Solange die DDR existierte, blieb für die Beurteilung eines jeden sein Verhalten in diesen Tagen wichtig […]. […] Nie war die Verbundenheit der Individualisten so stark wie in diesen Stunden. (GBV 212)

Die Biermann-Petition – „eine Solidarisierungsgeste“ und „ein Versuch politischer Mitbestimmung“ (GBV 215) – wird als „Vorläufer späteren Aufbegehrens“ (GBV 215) gedeutet, das von der jüngeren Generation mitgetragen wird. Die Initiative wird jedoch nicht zu einer oppositionellen Erhebung stilisiert. Sie trug auch nicht dazu bei, dass sich die Gleichgesinnten zu einer Gruppe formten. Statt den Begriff „Protestierer“ zu verwenden, neigt das Erzähler-Ich eher dazu, von den „Petitionisten“ (GBV 215) zu sprechen, weil der Terminus die innere Lage besser zu veranschaulichen vermag: „Sie hatten sich zu diesem einen Zwecke zusammengefunden, ohne die Absicht, Auftakt zu einer Bewegung zu sein. Was die Individualisten verband, war die Ablehnung des Ausbürgerungsaktes, nicht die des Regimes.“ (GBV 215) Dass viele der Unterzeichner – wie etwa Heym und Wolf – die DDR noch im Jahre 1989 reformieren wollen, statt den Staat untergehen zu lassen, zeigt die emotionale Verbundenheit vieler Intellektueller mit dem sozialistischen Idealbild. Günter de Bruyn betont seine Distanz gegenüber den utopischen Vorstellungen. Die Biermann-Affäre markiert auch im ästhetischen Sinne eine Zäsur in dem skizzierten Lebenslauf. Den DDR-Schriftstellern wird klar, dass die repressiven Maßnahmen des Staates auch eine strengere Kontrolle des Literaturstoffes einleiten werden und dass dem Leser von nun an das Zwischen-den-Zeilen-Lesen stärker abverlangt werden wird. Das Anpassungsvermögen des erzählten Ich kommt wieder zum Vorschein: In jener Nacht, als die Stasi-Leute die Haustür umstanden, war beim Abschied von Christa und Gerhard Wolf galgenhumorig davon die Rede, daß unsere Romane mit Gegenwartsstoffen künftig bei der Zensur keine Chancen mehr haben würden, und ich äußerte leichtfertig: Das machte mir wenig aus. Um diese Eiszeit überleben zu können, würde ich mich ins Märkische und Historische begeben […]. (GBV 214)

Mit dem Wechsel des Stoffes gelingt das Ausweichmanöver aber nicht ganz im Sinne des erzählten Ich. De Bruyn veröffentlicht weiter, begibt sich tatsächlich in Märkische

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und historische Landschaften. Auch wenn er im Begriff ist, seine Distanz zum Staat deutlich zu machen, scheinen seine Emanzipierungssignale vom SED-Kulturapparat kaum vernommen zu werden. Und auch wenn der Autor mit seinem 1983 fertig gewordenen Roman Neue Herrlichkeiten sein „Mißverhältnis zum Staat“ (GBV 250) markieren will, scheitern seine Abgrenzungsversuche an der trügerischen Strategie des Systems. Wider Erwarten treffen ihn keine Repressalien, wenn er in den darauf folgenden Jahren wagt, kritische Bemerkungen zu formulieren oder auch sich für die Abschaffung der Zensur einzusetzen. Ich wurde nicht nur in Ruhe gelassen, sondern war ohne Ankündigung in eine Privilegiertenstellung befördert worden, was angenehm, aber auch unheimlich war. Ich ahnte, daß man mich für mein Abseitsstehen belohnte und vielleicht auch dafür, daß ich im Lande blieb. Man nahm an, daß einer, den man in Ruhe ließ, auch keine Neigung hatte, die Ruhe zu stören. (GBV 251)

Der „Methode der Mächtigen, Kritik an ihnen durch Bindung an sie zu verhindern“ (GBV 252), soll das erinnerte Ich zum Opfer fallen. Zum ersten Mal scheint es aber dazu bereit, sich von der Rolle eines DDR-„Kulturalibi[s]“ (GBV 144) zu befreien, was seinen symbolischen Niederschlag in der Ablehnung des Nationalpreises erster Klasse finden soll (vgl. GBV 252). Der Preis soll ihm zwei Tage vor dem Staatsfeiertag am 7. Oktober 1989 verliehen werden, einen Monat vor dem Mauerfall. Nun scheint diese Emanzipierungsgeste wieder gescheitert zu sein, weil sie erst in der Verfallsphase des SED-Systems verkündet wird. Selbstkritisch wendet sich das ErzählerIch der verspäteten Empörung zu und scheint damit selbst eine Heldengeschichte zu demontieren: [Ich hatte] wie alle Welt nicht die leiseste Ahnung davon […], daß der Staat, von dem ich mich da distanzierte, zwar noch seinen vierzigsten Jahrestag mit gewohntem Pomp feiern, dann aber seinem schnellen Ende entgegengehen würde, so daß meine Geste, die Halbheiten, Feigheiten und Versäumnisse von Jahrzehnten gutmachen sollte, ins Leere ging. Die Souveränität, die ich Spätentwickler gewonnen hatte, war dem Staat inzwischen abhanden gekommen. […] Vielleicht war das, was ich als eignen Gewinn verbuchte, nur ein Ausläufer des Stroms der Zeit gewesen. (GBV 253)

So zeigt sich das Erzähler-Ich als nicht darum bemüht, die Legende eines konsequenten, inneren Emigranten zu konstruieren, sondern stattet sein historisches Objekt auch mit Makeln aus. Der Einblick in das heimtückische Diktatursystem entzieht der Schwarz-weiß-Perspektive, die auch in der deutsch-deutschen Literaturdebatte zu beobachten war, den Boden. Die eigene Positionierung wird nicht allein auf individuelle Entscheidung zurückgeführt, sondern als ein von zahlreichen Faktoren beeinflusster Prozess, der in einem anderen Rahmen als in der demokratischen Bundesrepublik zu verlaufen scheint. Das letzte der in der Lebensbilanz de Bruyns beschriebenen Schlüsselerlebnisse, denen er jeweils ein Kapitel widmet, ist der Mauerfall, mit dem der Erinnerungsband auch abgeschlossen wird. Der Tag wird als „Ende der DDR“ (GBV 255) gedeutet, „denn

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ein Gefängnis, in dem Tore und Türen geöffnet werden, hört auf, eins zu sein“ (GBV 260). Der damals dreiundsechzigjährige Schriftsteller schwankt am 9. November zwischen widersprüchlichen Gefühlen. Die Freude mischt sich mit Selbstvorwürfen und der Einsicht, dass die Öffnung der Grenze für ihn nun zu spät komme (vgl. GBV 255). Auch wenn in dem „Konglomerat von Gefühlen […] der Jubel vorherrschend war“ (GBV 255) und das erzählte Ich der DDR keine Träne nachgeweint hat, gilt die bittere Reflexion der Zukunft jener menschlichen Bindungen, die „sich unter dem Druck von Bedrohung und Einschränkung gebildet hatte[n]“ (GBV 255) und nun zu zerfallen drohen. Die Einheit, wie überraschend sie für alle auch war, kann er nur mit Genugtuung befürworten. De Bruyn war einer der wenigen, die die Einheit der deutschen Kulturnation immer wieder betonten (vgl. GBV 256). An dieser Stelle wendet sich seine Kritik den Schriftstellerkollegen, die 1989 immer noch an Reformen glauben, während er illusionslos den Wandlungsprozess hinnimmt. Aber meine Meinung teilten durchaus nicht alle. Besonders unter den Intellektuellen gab es Einheitsverächter, unter ihnen viele meiner Gefährten, die, wie ich, die Diktatur abgelehnt hatten, dem Staat und seiner Idee aber stärker als ich verbunden gewesen waren und nun, da die Herrscher im Abtreten waren, das Produkt ihrer Herrschaft für erhaltenswert und veränderbar hielten. Es sollte zum Experimentierfeld werden für die bisher noch nie realisierte Synthese von Sozialismus und Demokratie. (GBV 257)

Aber auch diesmal bezieht de Bruyn nicht die Position eines Kämpfers, sondern akzeptiert den Prozess, während andere DDR-Intellektuelle – mit Heym und Wolf an der Spitze – die Realität zu beeinflussen suchen. Wie auch immer ihre Aktivität beurteilt wird, bleiben beide Pole in ihrer Handlung oder auch Handlungslosigkeit konsequent. Ähnlich wie Christa Wolf zeichnet de Bruyn mit Genugtuung auf, dass das Ende der DDR gewaltlos verlief, dass er in der von ihm so verabscheuten Macht nun überraschend „etwas Schätzenswertes“ (GBV 264) zu finden vermag, „die Tatsache nämlich, daß sie, obwohl bis an die Zähne bewaffnet, ohne Blut zu vergießen, abtreten konnte, als ihr Bankrott nicht mehr zu verheimlichen war.“ (GBV 264) Im Gegensatz zu Christa Wolf zeigt sich der illusionslose Skeptiker aber von seinen Landsleuten nicht enttäuscht, die die neu gewonnene Freiheit schnell mit Konsumrausch verwechseln. Das Leseland gibt es nicht mehr. Denn die freudig erregte Masse, die das angebliche Leseland hinter sich hatte, schob sich an dem Schaufenster mit Büchern ohne Interesse vorbei. Ich war erfahren genug, um Enttäuschung darüber nicht aufkommen zu lassen, dachte an die alte politische Weisheit, die die geistige Freiheit gegen das Huhn im Topf aufwiegt […]. (GBV 264)

Der Erzähler bezieht in der Autobiographie eine Position des Beobachters, der zwar an dem Geschehen teilhatte, an manchen Stellen – wie etwa in der bereits zitierten Passage – eher zum Blick eines Realitätskritikers neigt, der (besonders im letzten Kapitel des Buches) vieles besser zu wissen scheint. In diese Richtung geht auch das

5.2 „Unspektakuläre Resistenz“ oder Günter de Bruyns Überlebensstrategie 

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Selektions- und Auswahlprinzip. Sein Leben wird konsequent durch das Prisma der historischen Ereignisse gezeigt, in ständiger Wechselwirkung, ohne dem Privatbereich allerdings eine gleichberechtigte Stelle zuzuerkennen. In diesem Zusammenhang würde ich der These Katrin Löfflers zustimmen, dass de Bruyn zu dem Erinnerungsbild tendiere, das Martin Sabrow als Diktaturgedächtnis bezeichnet. Darauf ist auch die kritische Aufnahme bei dem ostdeutschen Publikum zurückzuführen.117  Was bei de Bruyns Schicksalsgenossen auf Unbehagen stoßen kann,118 mag den Erwartungen der potentiellen Rezipienten im Westen entsprechen.119 Wird im Zusammenhang mit Vierzig Jahre nach Generationsobjekten  gesucht, so  kommen nur die historischen Ereignisse in Frage, weil der Autor der Alltagsgeschichte wenig Platz einräumt. So erfahren wird zwar etwas über seine Literaturvorlieben, kaum etwas über Kultfilme oder -songs, geschweige denn über Produkte und Medien. Der Verfasser nimmt in den Band kein dokumentarisches Material in Form von amtlichen Vorlagen oder Privatbildern auf und konstruiert seine Erzählungen auf der Basis seiner Erinnerungen. Seine Version der Ereignisse wird aber an manchen Stellen mit den Einträgen in den Stasi-Akten konfrontiert. Und darin schlägt sich meines Erachtens eine generationsspezifische Erfahrung nieder. Die Angehörigen der Aufbau-Generation werden in den 1990er Jahren mit diesem in den Akten verzeich-

117 Vgl. Löffler: Systemumbruch und Lebensgeschichte, S. 319–320. Auch Valeska Steinig scheint die These in ihrer Dissertation zu bestätigen, indem sie behauptet, Günter de Bruyns Autobiographie sei auch in den Dienst der Delegitimation der DDR gestellt worden. (Vgl. Valeska Steinig: Abschied von der DDR. Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der politischen Alternative. Frankfurt a.M. u.a. 2006, S. 109). Zu dem Erinnerungsbild der 1990er Jahre vgl. auch: Katarzyna Norkowska: Von den DDR-Bürgern zu den Ostdeutschen. Zur Konstruktion des ostdeutschen Identitätsdiskurses. In: Edyta Grotek/dies. (Hg.): Sprache und Identität. Philologische Einblicke. Berlin 2016, S. 67–77. 118 Besonders vernichtend erscheint in dieser Hinsicht das Urteil Hermann Kants, der Günter de Bruyn offen einer Heuchelei bezichtigt: „Sein Können ist bestechend, jede Selbstanklage so vorzutragen, daß man ihn vor ihr in Schutz nehmen möchte. Dabei handelt es sich um den Bericht eines Mannes, der sich ständig hinter längst abgefahrene Züge warf, und zwar gedanklich beim Blättern im Fahrplan. Niemand ist verpflichtet, mutig zu sein, aber hier schreibt ein Reitersmann, der vor lauter Angst, er könne an einen gefrorenen Bodensee geraten, gar nicht erst aufs Pferd kam.“ (Hermann Kant: Die Welt als Schrulle und Verstellung. Vierzig Jahre. In: Vorwärts! Nieder! Hoch! Nie wieder! 11 (1996), S. 228). 119 Valeska Steinig bezeichnet die Position de Bruyns in Vierzig Jahre von Außen her betrachtet als neutral, was die breite Akzeptanz der Öffentlichkeit auch erklären mag, gleichzeitig aber auch der Grund der Ablehnung von Seiten Hermann Kants sein kann. (Vgl. Steinig: Abschied von der DDR, S. 103.) Michael Töteberg verweist auf die vorwiegend positiven Stimmen der Rezensenten – von den „politisch motivierten Verrissen“ abgesehen –, die auch de Bruyns Diskretion loben. (Vgl. Töteberg: de Bruyn, S. 16). Anzumerken wären allerdings auch kritische Stimmen unter den Literaturwissenschaftlern. Der häufigste Vorwurf lautet, de Bruyn fehle es an zeitlicher Distanz, was der entsprechenden Durchstrukturierung des Textes im Weg stehe. In Vierzig Jahre „scheint die Strategie der distanzierenden Narration nicht aufzugehen“, lautet das Urteil von Katarzyna Jaśtal, dem zuzustimmen wäre. (Jaśtal: Zur Wahrheit eines Abschieds, S. 112).

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  5 Im Gleichklang mit dem Lebensrhythmus der DDR. Die Aufbau-Generation (1925–1935)

neten fremden Blick auf ihr Leben konfrontiert, der ihre eigene Vorstellung korrigiert oder in Frage stellt. So verzeichnet auch de Bruyn seine Akteneinsicht: Auch bei wiederholter Lektüre kommen Angst und Scham wieder, und es quält mich das Mißtrauen in mein Erinnerungsvermögen, das offensichtlich in den inzwischen vergangenen Jahren schönfärbend und entlastend tätig gewesen war. Ohne Kenntnis der Akten hätte ich diese Episode anders berichtet. Ich wäre guten Gewissens schonender mit mir umgegangen, weil einiges, das mich belastet, verdrängt oder vergessen war. (GBV 192)

Das Thema des Vergessens bzw. Verdrängens ist auch im Werk Christa Wolfs präsent, vor allem in ihrem Roman Stadt der Engel. Die Stasi-Unterlagen werden allen den hier angesprochenen DDR-Autoren nach der ,Wende‘ wie ein Spiegel – oder auch ein Zerrspiegel – vor Augen geführt. Es wird ihnen nicht nur ein Einblick in die Vergangenheit abverlangt, sondern von manchen sogar ein Schuldbekenntnis.

5.3 Die „Staatsdichterin“ Christa Wolf Christa Wolf wird als eine der Zentralgestalten der DDR-Literatur wahrgenommen.120 Wie  kaum ein anderer DDR-Autor steht sie im Zentrum unzähliger literaturwissenschaftlicher Studien, die ihr Leben wie Werk in den Blick nehmen. Nichtsdestotrotz – oder gerade deswegen – darf dieser Name in diesem Generationengeflecht nicht fehlen. Bekannt wurde sie mit der Erzählung Der geteilte Himmel, deren Titel zur Metapher für die deutsche Teilung wurde. Mit Kassandra erlangte sie Weltruhm. Heute ist Christa Wolf eine der bedeutendsten deutschsprachigen Autorinnen, streitbar, engagiert – und nicht nur wegen ihres Werks, sondern auch als couragierte Zeitgenossin geliebt und verehrt.121

Die Position Christa Wolfs erscheint aber zu DDR-Zeiten und noch deutlicher in der Nachwendezeit etwas komplizierter als Sonja Hilzinger auf dem oben zitierten Umschlag ihrer Wolf-Biographie angibt. Popularität und hoher Rang dürfen Christa Wolf nicht abgesprochen werden. Ihr Dasein verlief aber nicht ohne Reibungen zuerst mit den DDR-Machthabern, später auch mit den Kritikern westlich der Elbe.122 Es 120 Den in der Überschrift angeführten Begriff „Staatsdichterin” verwendete Hans Noll in Bezug auf Christa Wolf bereits im Jahre 1987. Im Jahre 1990 wurde er von Marcel Reich-Ranicki und Ulrich Greiner aufgegriffen und im Kontext der deutsch-deutschen Literaturdebatte verbreitet. (Vgl. Dietrich: DDR-Literatur im Spiegel der deutsch-deutschen Literaturdebatte, S. 66). 121 Sonja Hilzinger: Christa Wolf. Frankfurt a.M. 2007 (Rückseite des Covers). 122 Vor dem Mauerfall gehörte Christa Wolf zu den etablierten DDR-Autorinnen, die in der Bundesrepublik Anerkennung fanden – sichtbar etwa in den verliehenen Literaturpreisen (1980 GeorgBüchner-Preis). William H. Rey verweist auf den Perspektivenwechsel in der Beurteilung der DDRLiteratur nach der Vereinigung. „Vor der Revolution war ihre Rezeption in der Bundesrepublik durch die Auffassung bestimmt, daß sie eine verhaltene Kritikerin des SED-Staates sei. […] Man registrierte

5.3 Die „Staatsdichterin“ Christa Wolf 

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handelt sich aber auf jeden Fall um die in beiden Teilen Deutschlands populärste Autorin aus der DDR.123 Christa Wolf darf sowohl als Repräsentantin des sozialistischen Systems als auch als seine vehemente Kritikerin klassifiziert werden. Das politische und gesellschaftliche Engagement blieb für ihr Schaffen wie für ihre Lebenshaltung bis zu den letzten Tagen der DDR charakteristisch. Im Hintergrund war immer ihr idealistischer Traum vom Sozialismus sichtbar. Sie mischte sich ein, empörte sich über die Einschränkungen der Freiheit seitens der Parteifunktionäre, und trotzdem war sie nicht dazu bereit, das Land zu verlassen, wozu sie sicherlich genügend Gelegenheiten gehabt hätte. Frauke Meyer-Gosau zeichnet ein treffendes Porträt der Schriftstellerin Wolf, in dem sie dieses äußerst komplizierte Verhältnis veranschaulicht: Sie nahm eine seitens der Partei dekretierte gesellschaftliche Funktion wahr und verteidigte darin zugleich deren kritische Dimensionen und Potentiale. Unvermeidlich wurde Christa Wolf daher für ihr Lesepublikum (und, freilich mit entgegengesetzter Wertung, auch für die SED und ihre politischen Agenturen) zu einer moralisch-politischen Leitfigur, einer Instanz in der Auseinandersetzung darum, was „Sozialismus“ sei und welche Gestalt er unter den Bedingungen der DDR anzunehmen habe. So ist Christa Wolfs literarisches Werk denn nirgends losgelöst von Politik zu denken. Ihre Prosastücke und Essays ermöglichen vielmehr immer auch eine Lektüre der Geschichte des Staates, in dem sie entstanden sind, ebenso wie die Verhinderungs- und Rezeptionsgeschichte der Texte den jeweiligen Zustand des politischen Systems schlaglichtartig beleuchtet.124

Das Werk Christa Wolfs erscheint für das vorliegende Projekt nicht nur in dieser Hinsicht vielversprechend. Nahezu modellhaft erscheint auch der Lebenslauf der Autorin. Geboren im Jahre 1929, sammelt sie Erfahrungen in drei politischen Systemen. Als Kind wird sie von den nationalsozialistisch gesinnten Institutionen geformt. Als junge Erwachsene lernt sie die Chancen des Sozialismus kennen. Die letzten Jahrzehnte ihres Lebens verbringt sie zwar in dem geographisch gesehen gleichen Raum, der nun aber von der demokratischen Marktwirtschaft bestimmt wird. Die Prägungen der frühen Jahre scheinen ihre Themen und Schreibweisen aber am deutlichsten beeinflusst zu haben, was beinahe symptomatisch für die gesamte Aufbau-Generation erscheint. Wie ein Refrain kehrt in zahlreichen Abhandlungen über Wolf der Eröffnungssatz aus dem ihren Töchtern Anette und Tinka gewidmeten Buch Kindheitsmuster aus dem Jahre

beiläufig ihre Vergehen gegen gewisse Sprachregelungen des Regimes und sympathisierte mit ihr wegen der Anfeindungen durch orthodoxe Kritiker in der DDR, denen sie wiederholt ausgesetzt war. Daß sie trotz dieser internen Angriffe nicht in die Emigration flüchtete, sondern als permanentes Ärgernis der Zensurbehörden im Lande blieb, wurde ihr als Verdienst angerechnet.“ (William H. Rey: Christa Wolf im Schnittpunkt von Kritik und Gegenkritik. Gedanken zu dem Literaturstreit in der deutschen Presse. In: Orbis Litterarum 46 (1991), S. 223). Die gleichen Sachverhalte werden ihr nach der ‚Wende‘ als Vergehen angerechnet. 123 Vgl. Frauke Meyer-Gosau: Christa Wolf. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1978ff., S. 2. 124 Meyer-Gosau: Christa Wolf, S. 3.

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1976: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“125 In dem als Roman überschriebenen Text werden autobiographische Erlebnisse verarbeitet, die aus soziologischer Sicht als Schlüsselerfahrungen dieser Generation betrachtet werden dürfen, nämlich die Zeit des Nationalsozialismus und der Zusammenbruch der heilen Kindheitswelt im Jahre 1945. Diese Erfahrungen finden aber auch ihren Widerhall in anderen Werken Wolfs, was sie abermals für die Rolle einer Repräsentantin prädestiniert. Ihre Bedeutung für die gesamte Generation wird von Literaturwissenschaftlern durchaus erkannt. Zu nennen wäre wieder die Skizze von Frauke Meyer-Gosau: Die inhaltlichen Leitmotive der Schuld, der Erinnerung, der ‚Humanisierung des Menschen‘ und der persönlichen Verantwortung, die Christa Wolfs Werk von der ersten Erzählung an prägen, sind charakteristisch für die Generation der DDR-Intellektuellen, die den Nationalsozialismus als Kinder und Jugendliche erlebten und als junge Erwachsene den Aufbau des Sozialismus zu ihrer Sache machten.126

Relevant sind aber nicht nur die Erlebnisse, die Wolf mit ihren Altersgenossen teilt, sondern auch die in ihren Texten enthaltenen Identitätsangebote. Therese Hörnigk verweist nach dem Tode Christa Wolfs auf die Bedeutung der Autorin für ihr Publikum: „Vielen Lesern galt sie als moralische Instanz und Identifikationsfigur […].“127 Auch wenn ihre Texte auf universelle Werte rekurrieren, darf angenommen werden, dass das Identifikationsangebot stärker von der ostdeutschen Leserschaft wahrgenommen wurde. In dem beinahe modellhaften Lebenslauf einer DDR-Intellektuellen, in ihren Glücksstunden und in ihren Gewissenskonflikten haben die Landesgenossen womöglich ihr eigenes Schicksal erkannt.

5.3.1 Tagesprotokolle Ein Tag im Jahr. 1960–2000 (2003) zwischen authentischem Zeitdokument und paratextueller Korrektur Im Jahre 2003 erscheint ein Band mit Tagesprotokollen, die die Zeitspanne zwischen 1960 und 2000 dokumentieren, was Einblick nicht etwa in eine kurze Lebensphase der Schriftstellerin verspricht, sondern beinahe in ihr gesamtes Erwachsenenleben. Schon der Titel Ein Tag im Jahr verrät das Konzept des Bandes.128 Behandelt wird jeweils ein Tag im Jahr, und zwar der 27. September, was allerdings an vielen Stellen

125 Christa Wolf: Kindheitsmuster. Roman. Frankfurt a.M. 1989, S. 11. 126 Meyer-Gosau: Christa Wolf, S. 3. 127 Therese Hörnigk: Nachdenken über Christa Wolf. In: Text + Kritik 46 (2012) (Neufassung), S. 36. 128 Hannes Krauss verweist zurecht darauf hin, dass es sich hier weder um ein „Arbeitstagebuch“ noch eine „Bekenntnisschrift“ handele. Im Text erkennt er einen „Schlüssel zum Verständnis von Christa Wolfs Werk und ihrer Poetik.“ (Hannes Krauss: Tagebücher Ein Tag im Jahr (2003), Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (2013), Moskauer Tagebücher (2014). In: Christa Wolf-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Carola Hilmes/Ilse Nagelschmidt. Stuttgart 2016, S. 297).

5.3 Die „Staatsdichterin“ Christa Wolf 

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um weitere Tage oder sogar Wochen erweitert wird. Der Schreibanlass wird in den verlegerischen Peritexten erklärt. Sobald der potentielle Leser das Buch öffnet, wird er vom Verlag über die Einmaligkeit des Projektes belehrt: 1960 erging an die Schriftsteller der Welt ein Aufruf der Moskauer Zeitung Iswestija, sie mögen den 27. September dieses Jahres so genau wie möglich beschreiben. Maxim Gorki hatte 1935 die Schriftsteller aufgerufen „Einen Tag der Welt“ zu dokumentieren. Christa Wolf reizte diese Idee. Sie hat nicht nur 1960 diesen Tag beschrieben, sondern jeden weiteren 27. September […] ein einmaliges literarisches Projekt, das nun veröffentlicht wird.129

Die Gattungsattribution im Titel wie die Charakteristik des Bandes auf der Rückseite des Umschlags werden zusätzlich auf der Bildebene hervorgehoben. Auf dem Umschlag wird nämlich ein Schreibtisch abgebildet, auf dem neben einem Stift ein Heft und lose Papierblätter liegen, was überdeutlich auf den Schreibprozess hindeutet. Da der Schreibtisch an einem großen Fenster steht, dessen vier Flügel mit Daten von 1960 bis 2000 (jeweils dem 27. September) ausgefüllt sind, kommt dem Leser ein Tagebuch in den Sinn. Von der Einmaligkeit des Projektes erfährt der potentielle Leser bereits beim ersten Kontakt mit dem Buch, noch bevor er es aufschlägt. Auf der Rückseite des Umschlags werden in Kürze verschiedene Facetten des über 600 Seiten starken Bandes wie folgt präsentiert: Ein Tag im Jahr ist Christa Wolfs persönlichstes Werk. Vierzig Jahre lang protokolliert sie jeden 27. September und notiert, was sie an diesem Tag erlebt, gedacht, gefühlt hat. Entstanden ist ein beeindruckendes Zeugnis ihrer Existenz als Autorin, als Zeitgenossin, als Frau, Mutter, als Bürgerin der DDR und schließlich der BRD. (CWT Rückseite des Covers)

So wird nicht nur denen ein Angebot gemacht, die an der DDR-Literatur und DDRGeschichte interessiert sind, sondern allen, die an einem persönlichen Schicksal eines weiblichen Subjektes Interesse haben könnten, das nun einen Einblick in seine Privatsphäre erlaubt. Christa Wolf wird nicht als eine DDR-Autorin präsentiert, sondern als eine Persönlichkeit mit vielfältigem Erfahrungshorizont. Rekurriert wird auf die universellen Werte. Wolf interessiere, wie das Leben zustande komme (vgl. CWT vordere Klappe). Ein Tag im Jahr ist Christa Wolfs persönlichstes Buch: ein bewegendes Dokument der deutschen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ein einmaliger Bericht vom Leben im geteilten Deutschland, ein authentisches Werk der autobiographischen Literatur. (CWT vordere Klappe)

Demzufolge handelt es sich um ein Zeitzeugnis, beinahe ein historisches Dokument. Der Text wird eindeutig als autobiographisch klassifiziert, ohne die Wechselbeziehung zwischen Dichtung und Wahrheit zur Sprache zu bringen. Das Subjektive wird in den verlegerischen Peritexten kaum erwähnt, abgesehen von dem Attribut „persön-

129 Christa Wolf: Ein Tag im Jahr 1960–2000. München 2003 (vordere Klappe). Im Folgenden werden Zitate als Sigle CWT mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen.

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lich“, das aber eher die Authentizität des Textes zu bezeugen scheint, als seinen subjektiven oder auch autofiktionalen Charakter. Die Angaben zur Autorin gehören zur Regel, die auch in diesem Fall nicht verletzt wird. Da der Titel die Klassifizierung des Bandes als ein Tagebuch eindeutig bestätigt, wodurch der autobiographische Pakt schnell geschlossen wird, sind keine detaillierten Skizzen zum Leben der Schriftstellerin erforderlich, in denen der Leser die im Buch erzählten Lebensstationen wiedererkennen könnte. Auffallend ist, dass auch an dieser Stelle Wolf nicht als DDR-Autorin vermarktet wird. Es wird nur spärlich informiert: „Sie zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart;  ihr umfangreiches Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet.“ (CWT hintere Klappe) Neben biographischen Angaben zur Autorin werden aber auch Informationen zur Gestalt Martin Hoffmanns angeführt, dem die graphische Ausgestaltung des Bucheszu verdanken ist. Der Länge ihres Porträts nach stehen beide Schaffenden beinahe gleichberechtigt nebeneinander. „Der Maler und Grafiker Martin Hoffmann, Jahrgang 1948, lebt in Berlin. Seine Collagen für dieses Werk eröffnen – zu Christa Wolfs Beschreibungen eines Tages – Blicke auf das zeithistorische Umfeld des von ihm gewählten Jahres“ (CWT hintere Klappe), heißt es im verlegerischen Peritext. So erfahren wir, dass  das Buch quasi einen Ko-Autor erhalten hat, weil die Foto-Collagen Hoffmanns nicht als Illustrationen des Beschriebenen dargeboten werden, sondern die Aussage des Textes in gewissem Sinne um den historischen Kontext ergänzen, der in dem einen oder anderen Eintrag nicht vorkommt. Ob und wieweit Christa Wolf Einfluss auf die Bildebene hatte, wird gar nicht erörtert. Da die Bilder als fester Bestandsteil eines mit Wolfs Namen überschriebenen Buches betrachtet werden dürfen, werden sie bei der Interpretation der Aufzeichnungen mitberücksichtigt. Im Gegensatz zu der historischen Ebene des Textes, das für ein aus der Vergangenheit ausgegrabenes Material fungiert, bringen die Collagen die Gegenwart ins Spiel. War der Tagebuchschreiberin nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit bekannt, kennt der Illustrator nicht nur den Ausgang der  Geschichte, sondern verfügt auch über historisches Wissen, wodurch Akzente anders gesetzt werden können. Durch diese Zusammenstellung wird eine neue Perspektive auf das Zeitgeschehen eröffnet. Auch wenn die Tagebuchnotizen Christa Wolfs größtenteils vor dem Zusammenbruch der DDR niedergeschrieben wurden, wird der eigentliche Text durch den Paratext in gewisser Hinsicht aktualisiert, erweitert, an manchen Stellen sogar kommentiert, wodurch das Buch nicht zwangsläufig als ein Beitrag zu der DDR-Geschichte gelesen werden muss, sondern eben auch als eine der Stimmen in der Diskussion um das Jahr 2000 interpretiert werden darf. Hoffmann ist kein Altersgenosse Christa Wolfs, sondern ein Angehöriger der Funktionierenden Generation – zudem der Lebenspartner ihrer Tochter Tinka,130 was im Buch nicht erwähnt wird. Hier kommt also darüber hinaus eine generationsspezifische Sicht ins Spiel. 130 Vgl. Anna K. Kuhn: Christa Wolfs Ein Tag im Jahr – Das Tagebuch als Alltagsgeschichte. In: Carsten Gansel (Hg.): Christa Wolf. Im Strom der Erinnerung. Göttingen 2014, S. 171.

5.3 Die „Staatsdichterin“ Christa Wolf 

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Im Vorwort präsentiert Christa Wolf ihre „Tagesprotokolle“ (CWT 6) – nachdem sie den Schreibanlass ausführlich erklärt hat – als authentisches Material, das weder durch Komposition noch Korrektur entstellt wurde.131 Ein Tag in einem jeden Jahr wenigstens sollte ein zuverlässiger Stützpfeiler für das Gedächtnis sein – pur, authentisch, frei von künstlerischen Absichten beschrieben, was heißt: dem Zufall überlassen und ausgeliefert. […] Banalem durfte ich nicht ausweichen, „Bedeutendes“ nicht suchen oder gar inszenieren. (CWT 6)

Wolf selbst klassifiziert den Band als „Zeitzeugnis“ (CWT 8), das jedoch nur ein punktuelles Licht auf die Ereignisse der Vergangenheit wirft. Da der „Tag des Jahres“ festgelegt ist, werden manche der sogenannten historischen Ereignisse kaum erwähnt, woraus sich nicht schließen lässt, wie sie sich in den Erfahrungshorizont der Tagebuchschreiberin einfügen. So entsteht daraus ein unvollständiges Bild eines Lebens, weil wichtige Eckdaten fehlen. Als Gewinn kann aber der Einblick in den Alltag und in die psychische Verfassung der Autorin angesehen werden, was in den durchstrukturierten literarischen Texten wie Stadt der Engel – im nächsten Unterkapitel zu besprechen – nicht zu beobachten ist. Und was hier besonders stark auffällt, sind die Freuden und Mühen des Lebens einer Frau mit Kindern und Familie, die sich nur mühsam die Zeit nehmen kann, um sich ihrer schriftstellerischen Arbeit zu widmen. Die Deutsche Demokratische Republik erscheint eher als Kulisse des ,eigentlichen‘ Lebens, die allerdings an gewissen Tagen den ansonsten recht glücklichen Alltag dermaßen bedrückt, das das ‚eigentliche‘ Leben nicht mehr stattfinden kann. Anna K. Kuhn interpretiert den Band als Beitrag zu einer Women’s History im Sinne von Gerda Lerner. Sie erklärt dies wie folgt: Bemerkenswert daran ist, dass die Werte, die Wolfs Verhaltensweise zugrundeliegen und bestimmen, wie menschliche Fürsorge, die Hochachtung zwischenmenschlicher Beziehungen oder die Unterhaltung der Familie bzw. der Gemeinschaft, häufig als spezifisch ‚weibliche‘ bezeichnet werden. Und in der Tat kann Ein Tag im Jahr sowohl als Alltagsgeschichte der DDR als auch als ein Beitrag zur Women’s History betrachtet werde. Gerda Lerner, eine führende amerikanische Theoretikerin dieser Form der ,Geschichtsschreibung von unten‘, stellt die These auf, dass die traditionelle Historiographie, d.h. das, was Lerner als ,Männergeschichte‘ (Men’s History) beschreibt, eine Geschichte der durch männliche Werte und Normen bestimmten Aktivitäten von Männern sei. Women’s History dagegen sei die Antwort auf die Frage, was Geschichte wäre, wenn sie durch die Augen von Frauen gesehen und nach den von ihnen definierten Werte [sic!] geordnet würde.132

Die durch die Augen einer Tagebuchschreiberin gesehene DDR ist mehr als eine Summe politischer Ereignisse. Am 27. September 1961 scheint Wolf beispielsweise mehr „das Gerüst des Tages“ – wie sie es nennt –, „das eigentliche Leben“ (CWT 25) als der Mauerbau vom 13. August zu interessieren, wodurch die Lesererwartungen vermut-

131 Wolf beteuert dazu, dass sie den Text vor der Veröffentlichung nicht umgearbeitet hat. Die einzige Änderung seien die Kürzungen (vgl. CWT 8). 132 Kuhn: Wolfs Ein Tag im Jahr, S. 182.

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lich enttäuscht werden. Vergeblich wird nach Trauer oder Empörung gesucht. Dass sie noch vor dem Mauerbau die Arbeit an Der geteilte Himmel angefangen hatte, „[e]ine[r] Geschichte mit unglücklichem Ausgang durch die unselige Spaltung Deutschlands“ (CWT 34), wird dem Leser ausführlich erklärt. Wolf kommt auch auf die Massen der DDR-Bürger zu sprechen, die das Land vorher verlassen hatten, und konstatiert nicht ohne Trauer: „Das Land blutet aus. Und die Funktionäre, die in den Ämtern ihre Sessel drücken und Bürokratismus exerzieren, tun das Ihre dazu.“ (CWT 35) Sie scheint den Mauerbau hinzunehmen, zwar nicht ganz unkritisch, aber doch einverstanden mit den Maßnahmen des Staates. Wie am Rande des Alltagsgeschehens taucht aber doch die für ihre Generation wichtige Frage auf, warum sie das Land nicht verlassen habe. Ins Gespräch kommt überraschenderweise die Frage, was uns eigentlich, ganz konkret, in der DDR hielt (und hält), da so viele weggingen. (Diese Frage ist ja nun auch zu einem Unterton in meiner Erzählung [Der geteilte Himmel – K.N.] geworden.) Im Negativen sofort zu beantworten: Man weiß, was „drüben“ gespielt wird, und daß man da nicht hingehört. Im Positiven: daß hier bei uns die Bedingungen zum Menschenwerden wachsen. Theoretisch ganz klar. Praktisch: Wachsen sie wirklich? Streuen wir uns nicht oft über die konkreten „inneren Verhältnisse“ „unserer Menschen“ Sand in die Augen? (CWT 34–35)

In den Zeilen kommt Wolfs Selbstverortung, die an vielen Stellen (nicht nur) dieses Textes wiederholt betont wird. Sie gehöre in die DDR, was bedeuten soll, dass die sich der Idee des sozialistischen Staates – auch wenn in dem bereits zitierten Abschnitt nicht explizit ausformuliert – verschrieben hat, dem verklärten Bild, das nun im Widerspruch zu seiner Entstellung in der Realität steht. Die negativen Erscheinungen werden nüchtern registriert. Sie führen aber keine Krise herbei, eher ein leichtes Unbehagen. Was die Tagebuchschreiberin in dieser Lebensphase interessiert, ist ihre Aufgabe als Schriftstellerin und ihre Rolle als Frau und Mutter, was nicht ohne Zweifel und Selbstvorwürfe vonstatten geht (vgl. CWT 36). Die historische Perspektive, die in der Bild-Collage133 angeboten wird, setzt den Mauerbau in den Mittelpunkt der Darstellung. Neben den brav in Paaren unter Aufsicht einer Betreuerin spazierenden Kleinkindern sind auch Leute auf der Flucht zu sehen, mit Säcken in der Hand, ein Haus hinter ihren Rücken zurücklassend, die in Eile die DDR zu verlassen scheinen. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls der Leser, der mit seinen historischen Kenntnissen das Jahr 1961 vorwiegend mit dem Mauerbau assoziiert. Das Foto ist zerrissen, wodurch eine Kluft zwischen den auf ihm abgebildeten Menschen entsteht, die dem durch die Schließung der Grenze verursachten Abschied nahegelegt wird. Die Collage bildet die Unruhe der Zeit ab. Unter diesen bewegten und bewegenden Bildern steht ein Foto, auf dem eine Frau zu sehen ist,

133 Eine vollständige Analyse der Collagen ist nicht möglich, weil sie erstens den Umfang des Kapitels sprengen würde, und zweitens es kein leichtes Unterfangen ist, jedes der Fotos zu identifizieren. Im Zentrum des Interesses bleiben immerhin die Texte, die von den Collagen ergänzt werden, so dass in erster Linie nach dem Text-Bild-Verhältnis gefragt wird.

5.3 Die „Staatsdichterin“ Christa Wolf 

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die auf einer Maschine schreibt. Das Gesicht bleibt unsichtbar. Wachgerufen werden Assoziationen, keine Sicherheit. Es könnte sich um eine Schriftstellerin wie Wolf handeln, die sich – umgeben vom Alltag und von der Politik – ihrer Aufgabe hingibt. Sie wird nicht als eine politische Aktivistin gezeigt, sondern ein Teil dieses Schicksals, das sie schriftstellerisch zu bewältigen scheint. Auf den Mauerbau kommt Wolf noch einmal in ihrem Eintrag zum 27. September 1962 zu sprechen, in dem sie die in ihrer Sicht positiven Folgen der Grenzschließung zur Sprache bringt. Engagiert in die Arbeit der Betriebe, wie es sich für eine Mustersozialistin gehört, registriert sie mit spürbarer Erleichterung: In Halle hatte ich im Waggonwerk eine gewisse Erleichterung gespürt, als die Grenzen geschlossen wurden, weil man vorher fürchten mußte, das Werk würde von Ingenieuren und Facharbeitern entblößt werden. (CWT 46)

Stellen wie diese mögen die Authentizität der Wolfschen Aussage bestätigen. Wie falsch ihre Einschätzung der Situation damals war, hat sie in den späteren Jahren wohl erkannt. Das hat sie jedoch nicht dazu veranlasst, diesen Irrtum aus ihren Aufzeichnungen zu entfernen. Im Gegensatz zu den Tagesprotokollen von 1961 und 1962 wird Wolfs ausführlicher Bericht aus dem Jahre 1965 – erst im Dezember niedergeschrieben – eindeutig politisch und markiert einen Wendepunkt in der Einschätzung der Lage, aber auch in ihrem Selbstverständnis als Schriftstellerin. Nun wird nicht vom Alltag in der Familie erzählt, sondern von existentiellen Fragen, die von dem 11. Plenum des ZK hervorgerufen wurden. Dass Wolf isoliert die Freiheiten zu verteidigen versuchte, kann der Leser aus Literaturgeschichten erfahren. Was hier angeboten wird, ist der Einblick in die Seelenlage einer verängstigten Vertreterin der Aufbau-Generation, die von ihrer älteren, erfahrenen Kollegin Anna Seghers (Angehörige der Generation der Misstrauischen Patriarchen) durch die Nöte dieses kleinen Krieges geführt wird. Zusammengestellt werden hier zwei Perspektiven, die als generationsspezifisch angesehen werden dürfen. Während die in ihrem Glauben an den Sozialismus anscheinend zum ersten Mal spürbar verletzte Wolf resigniert nach einem Ausweg sucht, bietet die Ältere ihrem Schützling, den sie nicht vor Angriffen retten kann, eine geistige Unterstützung an, indem sie ihn aufzuklären und mit dem Schutzschirm der Distanz auszustatten versucht. Zu viele Krisen hatte sie schon zu bewältigen, zu viele Enttäuschungen hinnehmen müssen, um mit der nächsten ein nahendes Weltende zu erwarten. „Es gab schon Schlimmeres.“ – lautet die Aussage von Anna Seghers – „Unter Stalin wurden die Leute an die Wand gestellt – jetzt nicht mehr. Ist das vielleicht kein Fortschritt? Im übrigen geht es vorbei. Oder es bleibt so, dann muß man sich auch darauf einstellen.“ (CWT 73–74) Im Vergleich zu den extremen Schlüsselerfahrungen der Misstrauischen Patriarchen erscheinen solche Einschränkungen der Freiheit als unbedeutende Beeinträchtigungen.134 Durch sie werden die Emanzipationsbestrebungen der Auf-

134 In demselben Tagesprotokoll wird auch Erwin Strittmatter erwähnt, den Wolf nach dem Plenum

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  5 Im Gleichklang mit dem Lebensrhythmus der DDR. Die Aufbau-Generation (1925–1935)

bau-Generation gestört. Die Umstände des ausführlich skizzierten Gesprächs mit Anna Seghers, die Wolf schließlich im Rahmen ihrer therapeutischen Maßnahmen zum Vorderasiatischen Museum führt, werden im Tagesprotokoll dargestellt: Das war am zweiten Tag des Plenums, nachdem ich dort gesprochen hatte, versucht hatte, zu retten, was zu retten war, halbwegs eingebrochen, ohne Beifall abgegangen war; nachdem Paul Verner, mich absichtlich mißverstehend, gegen mich polemisiert hatte (er behauptete, ich hätte absolute Freiheit für die Kunst gefordert, dabei hatte ich von unserem mühsam erworbenen freien Verhältnis zum Stoff gesprochen; er verwahrte sich gegen meine Bitte, den Dialog mit den westdeutschen Schriftstellern nicht abbrechen zu lassen mit Beispielen, bei denen der Dialog zu einem „ideologischen Mischmasch“ geführt habe u.s.w.). Anna Seghers saß draußen im Foyer und las Zeitung, sie ließ mich herausrufen, so daß ich nur die Hälfte der Polemik mitkriegte. Noch war ich zufrieden, gesprochen zu haben, obwohl ich sah, was daraus folgen und vor allem, wie unnütz es sein würde. (CWT 74)

Die idealistischen Vorstellungen stoßen mit den realen Einschränkungen zusammen, was das Tagebuch-Ich mit einem physischen Zusammenbruch bezahlt (vgl. CWT 80–81). Krankheitszustände decken sich im Tagebuch immer wieder mit politischen Krisen. Die Sechsunddreißigjährige (vgl. CWT 79) zeigt sich erschöpft und etwas resigniert, weil sie in ihren Versuchen isoliert bleibt und sich ihr Kampf als aussichtslos erweist. Die Enttäuschung bringt sie aber immer noch nicht dazu, an die Ausreise zu denken. Entschieden beteuert sie: „Wegzugehen – nein, so weit bin ich auch in Gedanken noch nicht. […] Aber ein Vorhang ist hinter mir gefallen. Ein Zurück in das Land vor diesem Vorhang, ein harmloses Land, gibt es nicht mehr.“ (CWT 81) Wie sie sich unter diesen neuen Bedingungen arrangieren wird, wird nur in einem Satz angedeutet. „Die Wände um uns rücken enger zusammen. Doch in der Tiefe, zeigt sich, ist viel Raum.“ (CWT 81) Der Raum der schriftstellerischen Freiheit wird enger, die Einschränkungen immer bedrückender. Aber ein Ausweg liegt in der Tiefe, d.h. zwischen den Zeilen des literarischen Textes, in den Aussagen der Bücher, weniger in der politischen Agitation auf der Oberfläche. Mit der bedrückenden Stimmung des Tagesprotokolls 1965 korrespondiert auch die Collage, die diesmal aus kunstvoll miteinander verflochtenen Fotos besteht – zum Teil überarbeitet –, sodass sie wie ein Kommentar erscheint. Und so werden neben den ernsthaften Männern in Anzügen – die an die Parteifunktionäre denken  lassen –, Teilnehmer einer Versammlung abgebildet, die eine Hand im Zeichen des Einverständnisses heben – im Vordergrund eine Dame, die mehr ein Buch zu interessieren scheint, als der Inhalt der Abstimmung, die aber ungestört ebenfalls die Hand hebt. Darunter ist ein leeres Rednerpult zu sehen, neben einem überblendeten Foto, auf dem man nur mit Mühe ein weibliches Gesicht erkennt. Daraus geht eine tiefe

besucht. Er scheint die stark distanzierte Lebensweisheit von Seghers in gewisser Hinsicht zu teilen. Wolf findet ihn im Bett liegend: „Erwin […] hatte alles schon mal hinter sich. ‚Ich habe angefangen, mich selbst zu verwirklichen‘, sagte er, ‚und daran will ich mich nicht hindern lassen.‘“ (CWT 79).

5.3 Die „Staatsdichterin“ Christa Wolf 

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Stille hervor, als hätte die anonyme, gesichtslose Gestalt keine Stimme mehr. Das ist aber nur die eine Seite der Collage. Die andere zeigt Frauengestalten in anderen Situationen, darunter auch schreiend vor Freude in einem Beatles-Konzert. Die Zusammenstellung der Bilder eröffnet nebenbei den Weg der Reflexion über die Frauenund Männerwelt, ohne das Thema aufdringlich in den Mittelpunkt zu stellen. Unruhig im politischen Sinne gestaltet sich auch das Jahr 1968. Der Einmarsch in die Tschechoslowakei bleibt nicht ohne Widerhall in Wolfs Tagesprotokollen (vgl. CWT 111). Allerdings kommt in diesem Zusammenhang nur eine tiefe psychische Krise zum Vorschein, die einerseits von den politischen Ereignissen, andererseits noch stärker vom Tod der Mutter ausgelöst wird, so dass das Tagebuch-Ich erst in einer auf den 30. Oktober datierten Notiz zu Wort kommt. Seit fünf Tagen zu Hause. Vorher fünf Wochen in Mahlow, im Waldkrankenhaus. […] Diesmal habe ich sogar den „Tag des Jahres“ vergessen. Will statt dessen etwas über die ganze Zeit schreiben […] Über den Tod meiner Mutter, der in diese Zeit fiel, werde ich nichts schreiben, da ist eine Sperre, die ich nicht durchbrechen will. (CWT 111)

Erzählt wird also nicht alles. Das Schweigen erweist sich aber als aussagekräftig. Der überwiegende Teil des Protokolls bezieht sich auf das Schicksal der Menschen, denen sie im Krankenhaus begegnet, die ähnlich wie Wolf wegen psychischer Probleme dort verweilen. In der Collage, mit der Hoffmann auch dieses Jahr versieht, wird der persönlichen Geschichte des Schmerzes ein Ausschnitt aus der großen Geschichte entgegengestellt. Dargestellt werden Unruhen, politische Manifestationen (auch gegen den Krieg). Erkennbar sind aber auch Panzer auf den Straßen, was den Einmarsch der sowjetischen Truppen in die ČSSR vergegenwärtigen kann. Das Bild ergänzt, was im Protokoll verschwiegen wird. Ergänzt wird auch der Eintrag aus dem Jahre 1976, das in den Geschichtsbüchern wie in der Collage unter dem Zeichen der Ausbürgerung Wolf Biermanns steht. Auf den Fotos ist der Liedermacher Biermann mit seiner Gitarre zu sehen. Es werden aber auch Konsequenzen der Ausbürgerung thematisiert, von der Petition bis zu den Repressionen. Gezeigt werden Hände einer Frau, die einmal liest, ein anderes Mal schreibt. Gleich neben der Schreibenden wird ein Foto einmontiert, das eine Wanze im Telefonhörer zeigt, was an die Maßnahmen der Stasi denken lässt, die unter anderem Christa Wolf getroffen haben. Im Tagesprotokoll sucht man aber vergeblich nach Spuren der Biermann-Affäre, von der das Tagebuch-Ich im September noch nichts wissen konnte. Skizziert wird eher eine heile Alltagsgeschichte, jenseits politischer Themen, vom Arztbesuch bis zu den an „eine Art Kaufmanie“ (CWT 210) grenzenden Einkäufen. Die Stabilität soll erst am 16. November 1976 erschüttert werden, was das Tagesprotokoll vom 27. September des darauf folgenden Jahres darlegt. Die Stimmung ist bedrückt, die Resignation groß.

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Immer noch geht es, wenn ich unwillkürlich „mich denken lasse“, um die Bewältigung des Schocks dieses Jahres – Biermann-Ausbürgerung und die Folgen. Immer noch bin ich verstrickt in einen inneren Monolog über dieses Thema, bemüht um Rechtfertigung und Selbstrechtfertigung. (CWT 217)

Passivität kann Wolf zwar nicht vorgeworfen werden. Sie und andere Unterzeichner der Petition haben aber nicht viel erreicht. Repressionen werden nicht aufgezählt oder genau beschrieben. Das Tagebuch-Ich erwähnt aber, wie schwierig die letzte Zeit für die gesamte Familie war. Geplagt wird es von Angstzuständen, die als Folge der Überwachung auftreten. Die Berliner Wohnung ist mir noch nicht wieder geheuer geworden, seit sie überwacht wurde, seit man in sie eingedrungen ist. […] Die Straße, auf die hinauszutreten ich mir einen Ruck geben muß, weil immer noch der Reflex da ist, daß ich beobachtet werde. (CWT 228)

Dass nicht nur die Schriftstellerin betroffen wurde, soll der Hustenanfall ihrer Tochter Tinka bezeugen, der als Überbleibsel der Lungenentzündung gedeutet wird, „welche sie in der Zeit der Auseinandersetzungen um unsere Biermann-Intervention und der Überwachung durch die Stasi überfallen hatte.“ (CWT 230) Und da wenige Seiten früher wieder der Zusammenhang zwischen politischen Krisen und Krankheitssymptomen hergestellt wurde, kann man hier nicht der Versuchung widerstehen, das Versagen des Körpers als Zeichen einer psychischen Krise zu deuten. Die Tagebuchschreiberin scheint mit der Erschütterung des Jahres 1976 an einen Punkt gelangt zu sein, den Anna Seghers ihr bereits 1965 zu zeigen versuchte.135 Die Einsicht in die Vergeblichkeit des Kampfes lässt sie ihre „eigene Rolle realistisch“ (CWT 219) sehen und „[s]ich selbst nicht so wichtig nehmen“ (CWT 219). Sie sehnt sich nach Ruhe, „[n]ach einem Winkel, in dem man mich einfach leben ließe, ohne Verdächtigung, ohne Beschimpfung, ohne den Zwang, mich andauernd vor anderen oder vor mir verteidigen zu müssen dafür, daß ich so bin oder: so werde.“ (CWT 223) Dieser Drang bringt sie aber nicht dazu, die DDR zu verlassen. Im Gegenteil, die BiermannAffäre scheint sie in dem Entschluss zusätzlich verstärkt zu haben, zu bleiben, was auch explizit angesprochen wird: „Beobachte auch seit Tagen an mir eine Verfestigung meines Willens zum Hiersein, was immer das nun für die Zukunft bedeuten mag.“ (CWT 217) Die Entscheidung kann auch mit ihrem „Heimatgefühl“ erklärt werden, das der schon einmal Umgesiedelten besonders kostbar erscheint. Die Ausreise bedeutete 135 Anna Seghers wird in den Tagesprotokollen mehrmals als eine Identifikationsinstanz präsentiert. Noch im Jahre 2000 beruft sich die Tagebuchschreiberin auf ihr Vorbild und setzt Parallelen zwischen dem Leben der älteren Berufskollegin und ihrem eigenen Schicksal. Die Euphorie der ersten Stunde wird bei beiden zerstört: „Das partielle Scheitern als Schriftstellerin hängt wohl mit ihrem [Seghers – K.N.] – genau in diesem Jahr 1947 gefaßten – Beschuß zusammen, mit ihrer Kunst erzieherisch auf dieses moralisch zerstörte deutsche Volk einzuwirken.“ (CWT 623) und weiter: „Später dann, in der DDR, erlebte sie, was wir alle erfuhren: Mit dem Rücken an der Wand zu stehen, zwischen falschen Alternativen. Nur daß sie überhaupt keine Wahl hatte, etwa in ein anderes Land zu gehen.“ (CWT 623–624).

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eine Art Wiederholung der schmerzhaften Geschichte von 1945, als sie alles zurücklassen musste und in ein fremdes, wenn auch deutschsprachiges Land gezogen war. Ich denke, wie kostbar ein Heimatgefühl ist und wie schwer man es aufgeben würde. […] Ich denke, nie mehr würde ich mich woanders heimisch fühlen können, wenn ich hier wegginge. Und ich frage mich, wie hoch der Preis unter Umständen wäre, den ich für dieses Heimatgefühl zu zahlen bereit wäre. Ich frage mich, welchen Preis ich täglich unbewußt zahle, einen Preis in der Münze: Wegsehen, weghören, oder zumindest: schweigen. (CWT 224)

Ein Gewissenskonflikt liegt offen auf der Hand. Diese Zerrissenheit begleitet das Tagebuch-Ich in den darauf folgenden Jahren beinahe unaufhörlich. Das Interesse an der Welt lässt aber nicht nach. Ein anderes Kapitel des Lebens scheint für die Tagebuchschreiberin das Jahr 1989 eröffnet zu haben. Wenn sie am 27. September 1989 – vom nahenden Mauerfall noch nichts ahnend – die Unruhen im Staat, den wachsenden Flüchtlingsstrom mit besorgter Anteilnahme verfolgt, hofft sie immer noch auf ein alternatives System. Eine idealistische Vorstellung von einer Gesellschaftsordnung frei von Unterdrückung und Habgier wird zur Sprache gebracht: „Wenn wir, die DDR-Leute, der Versuchung widerstünden, uns nur an der Gesellschafts- und Wirtschaftsform der Bundesrepublik zu orientieren und dieselben Fehler zu wiederholen, die sie gemacht hätten: Profit und Effizienz als einzige Kriterien der Wirtschaft aufzurichten.“ (CWT 449) Der Vergleich der beiden Gesellschaftssysteme in Ost und West ergibt sich aus einem Treffen mit Otl Aicher und seiner Frau Inge, die bei Wolfs zu Besuch sind. Als Wohnort kommt die Bundesrepublik – als wesensfremd – für das Tagebuch-Ich immer noch nicht in Frage. Ob der wichtigste Anker ihres Lebens wie die Ehe westlich der Elbe so viele Jahre überstanden hätte, lautet eine rhetorische Frage: Wie wäre eigentlich unsere Ehe geworden, wenn wir in der Bundesrepublik leben würden? […] Hätte sie so gehalten wie hier, wo der äußere Druck den Wunsch nach einer Sicherheit, einer Festigkeit so stark werden läßt; nach einem Menschen, auf den man sich blindlings und absolut und unter allen Umständen verlassen kann. Und mir wurde schmerzhaft bewußt, daß widerständige Menschen wie Otl und Inge in der DDR nicht hätten leben können. Und wir wohl kaum in der Bundesrepublik. (CWT 440)

Der Unterschied zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik ist also nicht allein politischer Natur, sondern schlägt sich auch in den Lebensformen und der ,Mentalität‘ der Bürger nieder. Diagnostiziert werden mentale Differenzen, die der Tagebuchschreiberin 1989 unüberwindbar erscheinen. Wie irreal die Vorstellung von einer eventuellen Vereinigung der beiden Staaten damals – nicht einmal zwei Monate vor dem Mauerfall – noch klang, bezeugt ebenfalls das Gespräch mit Otl Aicher – im Tagebuch angeführt: Wenn allerdings zwei große, in ihren Bedürfnissen unreife Bevölkerungsgruppen in Ost und West aufeinandertreffen und sich womöglich vereinigen wollen oder sollen – was dann geschieht, das wage ich mir nicht auszumalen. [– behauptet Otl Aicher – K.N.] – Das müsse er sich auch nicht ausmalen, sagen wir. (CWT 451)

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Was wenige Tage später passiert, zeigen die Foto-Collagen, in denen Bilder des Jahres 1989 präsentiert werden, die in die Geschichte eingegangen sind – von den Massendemonstrationen bis zu dem Mauerfall, überall Menschenmassen. Durch diesen Beitrag wird das Bild des Jahres vervollständigt. Das überwältigende Tempo der Entwicklung wird mit dem Bewusstseinsstand einer Intellektuellen zusammengestellt. Selbst die im politischen Denken trainierte, sozial engagierte Schriftstellerin hat die Zukunft des Staates nicht voraussehen können. Im Jahre 1990 werden noch „Rettungsaktionen“ (CWT 459) thematisiert, an denen sich das Tagebuch-Ich in den Monaten zuvor engagiert hat, die sich aber vergeblich und unerwünscht erwiesen. Eine neue Verfassung – mit ihrer sich auf die „humanistischen Traditionen“ berufenden Präambel, in der von „der Verantwortung aller Deutschen für ihre Geschichte und deren Folgen“ (CWT 468) neben der „Würde und Freiheit des einzelnen“ und „der revolutionären Erneuerung“ (CWT 469) heraufbeschworen wurden – wird nicht mehr gebraucht. Nach dem „Wahlschock am 18. März und dem Beschluss der Volkskammer“ (CWT 469) ist das Datum bekannt, „an dem die DDR der Bundesrepublik beitritt“ (CWT 469). Der Begriff „Wiedervereinigung“ wird in diesem Kontext nicht verwendet. Ebenso misstrauisch wird der Terminus „Wende“ wahrgenommen: „Dieses Jahr ist nicht ein, es ist das Wendejahr. Als sei ihm eine Achse eingezogen, um die herum die Zeit sich wendet“ (CWT 459). Vieles hat sich aber verändert, was der Aufmerksamkeit der scharfsinnigen Beobachterin nicht entgeht. Wie unterschiedlich die Umwälzungen wahrgenommen werden können, zeigen nicht nur Begriffe, die dem Tagebuch-Ich fremd erscheinen, die Menschenmassen, deren Begeisterung es nicht versteht, sondern auch die Einstellung seiner eigenen Tochter Annette. Die gelernte Psychotherapeutin verweist auf die psychische Lage ihrer Mitbürger und die Krise, die nun offen ausgetragen werden kann und die Rückkehr zur Normalität einschlägt. Wir haben uns doch alle in einem seelischen Ausnahmezustand befunden und kehren jetzt nur zur Normalität zurück. – Normalität? sage ich. Du meinst: In die Krise. – Mutter, sagt sie, du weißt es doch selbst: Das ist jetzt die Normalität. Muß es auch sein. Wär schlimm, wenn wir die Krise verdrängen würden. – Krise als Chance, sage ich. Kluge Tochter. (CWT 469)

Die Krise muss aber zuerst erkannt und verarbeitet werden. In den neuen Verhältnissen muss die Schriftstellerin ihren Standort neu bestimmen. Ihre Ratschläge scheinen nicht mehr gebraucht zu werden. Statt Lob kommen jetzt Angriffe, die eine weitere Krise zur Folge haben. Vor der neuen Art der Feindseligkeit wurde sie von Max Frisch gewarnt, auf dessen freundschaftlichen Rat sie sich in dem Tagesprotokoll vom 27. September 1990 erinnert: „Kultfiguren, sagte er, kann man nur entweder anbeten oder stürzen. Du wirst jetzt gestürzt.“ (CWT 463) Ihrer Rolle als DDR-Ikone scheint sie sich bewusst zu sein oder zumindest für solche von den westlichen Kritikern gehalten zu werden, die von ihr nun ein „Schuldbekenntnis als Entreebillett in die westliche Medienlandschaft“ (CWT 465) erwarten. Das Echo

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der Debatte um Was bleibt wird hier erkennbar. Das Tagebuch-Ich fühlt sich missverstanden und zu einem „Fall“ (CWT 467) reduziert: Was bleibt, das nun manche als einen Versuch lesen, mich selber unter die in der DDR „Verfolgten“ einzureihen, andere als Beleg für meine „familiäre“ Verquickung mit dem Regime der DDR als „Staatsdichterin“. […] Kann man einen Text so mißverstehen? (CWT 467)

An keiner Stelle versucht sie sich zu verteidigen, ihre Opferrolle zu betonen oder frühere Entscheidungen zu rechtfertigen. Die Verunsicherung führt weder zu einer Kurskorrektur noch zu einer Beichte. Sie setzt sich den Angriffen aus, was sie mit psychischen und künstlerischen Krisen bezahlt, ohne jedoch sich selbst untreu zu werden. Unter dieser Hinsicht wird eine klare Linie erkennbar, die trotz der äußeren Umwälzungen ihr Leben doch als kohärentes Ganzes wahrzunehmen erlaubt. Denn angegriffen wurde sie schon immer, unabhängig des herrschenden politischen Systems, als sei es das Schicksal eines Anhängers der engagierten Literatur. Und doch markiert das Jahr 1989 einen gewissen ‚Wendepunkt‘ im Schaffen Wolfs. Sie fühlt sich „blockiert“ (CWT 453), zum Schreiben beinahe unfähig. Die Gedanken, den Beruf aufzugeben, kommen ihr immer wieder. 1990 werden erste Zweifel niedergeschrieben. Die Ursache der Schreibblockade wird gesucht: Weil die Zeit sich grundlegend geändert hat? Weil mein Standort in dieser „neuen“ Zeit zu unbestimmt ist, um ihn in Worte fassen zu können? So unbestimmt, dass ich aufhören könnte, meiner Berufspflicht nachzugehen? (CWT 453)

Noch im Jahre 1995 gibt sie zu, dass ihr „Schreibantrieb“ schwächer geworden sei (vgl. CWT 544), was sie nicht etwa auf ihr Alter zurückführt. Gefragt wird nach dem Sinn der schriftstellerischen Bewältigung von Erinnerungen, die auch zur Grundlage ihres Schreibens werden: Da die Staatsgebilde und Gesellschaften, in deren Räumen meine Erinnerungen „spielen“, untergegangen sind, sind diese Erinnerungen seltsam ortlos geworden, und mir ist auch bewußt, daß sie keine nachwachsenden Adressaten haben; (CWT 558)136

136 In den Tagesprotokollen nach 1990 werden Veränderungen registriert, die eine große Verunsicherung auslösen. So durchstreift die Tagebuchschreiberin etwa „die Möbel-und-HaushaltswarenHalle, darauf bedacht, die Veränderungen zu registrieren […], auch die Haushaltswaren sind auf dem Weg zum Weltniveau […].“ (CWT 479) und weiter: „Auch in dem Supermarkt nebenan, ehemals Konsum, jetzt Kaiser‘s, habe ich keine Lust zum Kaufen, ein Hähnchen, das nun nicht mehr ,Broiler‘ heißt, und Basmati-Reis sind fast meine ganze Ausbeute.“ (CWT 479) Verändert haben sich aber nicht nur die Straßen – inklusive der Straßennamen – und Geschäfte oder auch Bezeichnungen für Waren und Gegenstände, sondern auch Besitzverhältnisse im Medienbereich, was das Tagebuch-Ich noch mehr zu beunruhigen scheint: „Ich falte die Zeitung zusammen […]. Ich suche nach dem Impressum. Verlag: Dr. Hubert Burda. Noch vor knappen zwei Jahren war dieses Blatt in der gleichen Aufmachung Parteizeitung der SED. Wie viele der Redakteure mögen übernommen worden sein.“ (CWT 483).

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Diese Zweifel plagen das Tagebuch-Ich auch fünf Jahre später, als die Arbeit an Stadt der Engel angesprochen wird, die wie viele Texte Wolfs – was in den Tagesprotokollen explizit betont wird – der Struktur nach einem Tagebuch ähnelt (vgl. CWT 605).137 Ob der Text überhaupt publiziert werden soll, lautet die Frage. [I]ch weiß gar nicht, ob ich das noch veröffentlicht sehen möchte. Er [Dietrich Simon – K.N.] meint, das müsse ich schon noch erleben, was die Leute dazu sagen, wie sie es preisen und begeifern werden – Ich denke, von beidem habe ich mehr als genug. (CWT 628)

Wie resigniert solche Einträge auch klingen mögen, ist das in den Tagesprotokollen gezeichnete Bild doch nicht eindeutig das eines Opfers. Tatsächlich wird das Tagebuch-Ich vorwiegend in Situationen gezeigt, in denen es angegriffen wird, und zwar in beiden politischen Systemen. In den 1990er Jahren – nach einer kurzen Schockphase – scheint es sich von der Ohnmacht erholt zu haben und gegen Vorwürfe mit Gegenargumenten zu wehren. So kritisiert sie offen die Aufarbeitung der DDR-Diktatur, die zu einem kaum überschaubaren BehördenMonstrum aufgewachsen ist. Die Information, dass der Etat der Gauck-Behörde höher sei als der Verteidigungshaushalt Litauens (vgl. CWT 580), bringt sie zur Auseinandersetzung mit der westdeutschen Vergangenheitsbewältigung bzw. ihren Mangel: „Und der Eifer der Bundesrepublik, die nationalsozialistische Diktatur aufzuarbeiten und zu enthüllen, war wesentlich geringer als jetzt bei den Enthüllungen über die DDR-Diktatur“ (CWT 580), heißt es im Tagesprotokoll vom 27. September 1997. Es ist hier nicht der Ort, um zu entscheiden, ob diese Argumente berechtigt sind. Dass es sich aber um eine alte DDR-Denkfolie handelt, kann man schwerlich übersehen. Der Gründungsmythos des antifaschistischen Arbeiter-und-BauernStaates wird als Unterton hörbar. Dass die Grundlagen dieses ‚besseren‘ Landes nicht selten auf Selbststilisierung beruhten, will Wolf in der Nachwendezeit weniger zu erkennen geben, als es noch zu DDR-Zeiten der Fall war. Die scharfsinnige Kritikerin wird gelegentlich zum Sprachrohr der Unterdrückten. So weiß sie auch Stephan Hermlin zu verteidigen, als Karl Corinos Buch seine stilisierte Kämpferbiographie enthüllt. 1998 zeigt sich die Tagebuchautorin als Eingeweihte, die

137 In einem Gespräch mit der Enkelin Jana wird die Rolle des Tagebuchs hervorgehoben, das sich aus dem „Verlangen“ ergibt, „möglichst alles festzuhalten“ (CWT 605), was sie andernfalls vergessen hätte. Dieses Verlangen wird in den Zusammenhang mit der literarischen Form gebracht: „Nicht zufällig liegt Kindheitsmuster ein Reisetagebuch zugrunde, nicht zufällig beruht die Struktur von Stadt der Engel auch auf einem Tagebuch, Was bleibt ist die Beschreibung eines Tages, ebenso Störfall. Anscheinend glaube ich, nur so ,authentisch‘ sein zu können, den Verfälschungen, die Literatur ja auch bedeutet, zu entgehen…“ (CWT 605).

5.3 Die „Staatsdichterin“ Christa Wolf 

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im Gegensatz zu westdeutschen Kritikern auch das DDR-Leben hinter den Kulissen kennt: Hermlin hat – in Abendlicht – Stücke seiner Biografie mit Fiktion durchsetzt. Er hat seine Identität nicht verleugnet […], und er hat vor allem keine Vergehen oder Verbrechen zu vertuschen gehabt. […] Gerd [Wolf – K.N.] hat übrigens, bei Vorarbeiten zu dem Almanach zu Hermlins 70. Geburtstag, der gerade erschienen ist, einen frühen Brief von Hermlin gefunden, in dem er ihn – Gerd – korrigiert: Er hatte in einem Artikel über Hermlin (sicherlich aus ihm vorliegenden biografischen Angaben) die Behauptung übernommen, Hermlin sei im KZ gewesen. Hermlin schreibt ihm, das sei nicht richtig, er sei nie in einem KZ gewesen. Deutsche Lebensläufe. Sollte ich mir wünschen, nicht betroffen zu sein? (CWT 591)

Die ‚richtige‘ Beurteilung scheint allein in den Händen einer kleinen Schicht kritischer DDR-Intellektueller zu liegen. Auch der Band In Sachen Biermann entspricht nicht den Erwartungen der Tagebuchschreiberin. Die Herausgeber, die noch jünger als ihre Kinder seien (vgl. CWT 525), nannten Namen und Ereignisse zwar korrekt, nicht aber „das Fleisch“ (CWT 525). Erhoben wird ein Monopolanspruch auf die Vergangenheitsversion, die nicht nur als ostdeutsch, sondern darüber hinaus generationsspezifisch zu sein scheint. Obwohl die Öffentlichkeit lange – seit der ,Wende‘ sind immerhin vierzehn Jahre vergangen, in denen außer Was bleibt kein autobiographischer oder autobiographisch gefärbter Text mit DDR-Hintergrund von Christa Wolf erschienen ist – die Erwartung hegte, die wohl populärste Autorin aus der DDR entscheide sich für eine literarische Verarbeitung ihrer DDR-Geschichte und verrate dabei geheimes Kulissenwissen, kommt das Tagebuch den Erwartungen nicht entgegen. Das Bild, das in den 41 Tagesprotokollen gezeichnet wird, überrascht keinen aufmerksamen Wolf-Leser. Ein Tag im Jahr enthüllt keine Geheimnisse, zeigt keine „Leichen im Keller“.138 Wolf erscheint hier als eine „loyale Dissidentin“,139 wie sie von Jörg Magenau treffend bezeichnet wird. Eine Art Fortsetzung der Narration erfolgt im Jahre 2010 mit dem breit rezipierten Roman Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud.

5.3.2 Ausgraben und Erinnern. Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010) Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. (Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte)

Als Christa Wolf im Jahre 2010 ihr lange erwartetes Buch Stadt der Engel140 veröffentlicht, ist die Resonanz groß. Zahlreiche Buchbesprechungen in Tageszeitungen wie in 138 Kuhn: Wolfs Ein Tag im Jahr, S. 177. 139 Jörg Magenau: Christa Wolf. Eine Biographie. Berlin 2002, S. 399. 140 Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Berlin 2010. Im Folgenden werden Zitate als Sigle CWS mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen.

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Fachzeitschriften zeugen vom regen Interesse des Publikums, was nicht allein auf die Leseerwartungen, sondern auch auf die ansprechende und anspruchsvolle Konstruktion des Textes selbst zurückzuführen ist. Der Band wird nicht als Autobiographie herausgegeben, wohl aber als solche vermarktet. Die Gattungsattribution im Paratext provoziert durch ihre Uneindeutigkeit. Auf dem Umschlag wird aus der Vogelperspektive eine Küstenstadt gezeigt, was zusammen mit dem ersten Glied des Titels „Stadt der Engel“ an Los Angeles denken lässt. Der Verweis auf Dr. Freud, der sich dem amerikanischen Titelbild anschließt, deutet auf den Vorgang der Psychoanalyse hin, in der das Leben des behandelten Patienten einer Analyse bzw. Selbstanalyse unterzogen wird, die stark mit einem Erzählvorgang zusammenhängt. So lässt sich an einen selbstanalytischen Erzählvorgang in Form eines Buches denken. Eine autobiographische Lesart schwebt dem Rezipienten vor, was die Rückseite des Umschlags noch zusätzlich bekräftigt. Angeführt wird ein Zitat, das den Erzählanlass einem Augenzeugenbericht nahelegt: „Du bist dabei gewesen. Du hast es überlebt. Du kannst davon berichten“, lautet eine aus dem Kontext gerissene Aussage einer anonymen Gestalt. Gleichwohl versteht der Leser intuitiv die Aufforderung an Christa Wolf gerichtet. Die voreilige Erwartung wird vom Verlag etwas korrigiert. Angeboten wird nicht eine Autobiographie, sondern ein Roman,141 der aber 141 Die Gattungsattribution im verlegerischen Peritext wird von vielen Literaturwissenschaftlern und Kritikern entweder übersehen oder auch in Frage gestellt. So behauptet etwa Eva Pormeister in ihrem Beitrag zu Stadt der Engel: „Auf die Genrebezeichnung ,Roman‘ wird hierbei, wie auch in der zitierten Ausgabe, bewusst verzichtet.“ (Eva Pormeister: Vom Nachdenken über das Vergessen zur „schonungslose[n] Selbsterkenntnis“. Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud von Christa Wolf. In: Therese Hörnigk/Carsten Gansel: Zwischen Moskauer Novelle und Stadt der Engel. Neue Perspektiven auf das Lebenswerk von Christa Wolf. Berlin 2015, S. 94). Pormeister bezieht sich aber auf dieselbe Ausgabe, die der Analyse des vorliegenden Kapitels zugrunde liegt, was nur vom Nichtregistrieren eines Sachverhalts zeugt. Auch wenn die Gattungsattribution nicht im Untertitel steht, darf sie nicht außer Acht gelassen werden, zumal ihr aus literatursoziologischer Perspektive eine ernstzunehmende Bedeutung zukommt. Zu tun haben wir es mit einem Lesecode – aufgegeben von den Buchproduzenten (gemeint Koproduktion vom Autor und Verlag), empfangen von den Rezipienten. Pormeister überschreibt das Buch als einen „unübersehbar autobiographisch geprägten Schwanengesang“ (S. 94). Durch eine eher poetische denn als literaturwissenschaftlich zu bezeichnende Formel entzieht sie sich der Aufgabe, Konsequenzen der Klassifizierung zu erwägen. Wenn auch andere Literaturkritiker die Spielregeln zu kennen scheinen, sind sie doch im Begriff, die Gattungsattribution als Missverständnis zu deuten. So deutet etwa Richard Kämmerlings die Klassifizierung „Roman“ als „Panne“ des Verlags (vgl. Richard Kämmerlings: Mein Schutzengel nimmt es mit jedem Raumschiff auf. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (18.06.2010), URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ buecher/rezensionen/belletristik/christa-wolf-stadt-der-engel-oder-the-overcoat-of-dr-freud-meinschutzengel-nimmt-es-mit-jedem-raumschiff-auf-1999147/stadt-der-engel-oder-the-11005250.html, letzter Zugriff: 8.05.2020), was auch die Zustimmung Michael Haases findet, der in seinem literaturwissenschaftlichen Beitrag zwar zurecht darauf verweist, dass sich dieser Text wie auch viele andere Bücher der Autorin „einer fixen Kategorisierung“ entziehe, was er wie folgt begründet: „Schließlich fehlt im Buch jeder Gattungsverweis, und wer das skrupulöse Verhältnis der Autorin zu einschlägi-

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eine autobiographische Lesart nicht auszuschließen scheint: „Der neue große Roman von Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud spiegelt das Leben der Autorin, wie in Kindheitsmuster immer wieder verbunden mit entscheidenden Momenten deutscher Geschichte.“ (CWS Rückseite des Covers) Dem Leser wird damit ein Vorschlag gemacht, einen romanesken Pakt zu schließen, d.h. die autofiktionalen Elemente als Bestandteil des Erzählten zu akzeptieren. Die starken autobiographischen Spuren werden im Klappentext explizit angesprochen, was beim Öffnen des Buches auffällt. Es folgt eine knappe Inhaltsangabe. Der Leser erhält in dem einer Gebrauchsanweisung ähnelnden Teil eine Lesart vorgeschlagen: „Los Angeles, die Stadt der Engel: Dort verbringt die Erzählerin Anfang der Neunziger einige Monate auf Einladung des Getty Center.“ (CWS vordere Klappe) Das Ereignis ist mit einem realen Vorgang im Leben der Autorin gleichzusetzen. Eine autobiographische Lesart wird abermals provoziert: „Das neue Buch von Christa Wolf ist auch autobiographische Prosa: Sie erzählt von einem Menschenleben, das drei deutschen Staats- und Gesellschaftsformen standhält, von einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, von der Kunst, sich zu erinnern.“ (CWS vordere Klappe) Die dem exzerptartigen Teil angeschlossenen Informationen zum Leben der Autorin sind weder umfangreich noch ausführlich. Die autobiographische Lektüre wurde durch die vorgestellte partextuelle Erörterung ausreichend gesichert. Der Leser hat es nicht nötig, den Lebenslauf der Autorin mit dem Schicksal der Erzählerin bzw. Protagonistin zu vergleichen, um daraus auf den autobiographischen Charakter des Textes zu schließen. Dieser Schritt wird ihm vom Verlag erspart. Darüber hinaus darf angenommen werden, dass die Gestalt Christa Wolfs dem deutschen Leser im Jahre 2010 immer noch ein Begriff ist. In einer Reihe der Gespräche mit Carsten Gansel gibt Christa Wolf im Jahre 2010 zu, die Idee, Stadt der Engel als Roman zu deklarieren, stamme nicht von ihr, sondern vom Verlag. Ihr Gesprächspartner verweist auf die Dominanz des Autobiographischen

gen Genrebezeichnungen kennt, wird nicht verwundert sein.“ (Michael Haase: Christa Wolfs letzter „Selbstversuch“ – Zum Konzept der subjektiven Authentizität in Stadt der Engel oder The Overcoat of. Dr. Freud. In: Gansel (Hg.): Christa Wolf, S. 215). Nun gibt es aber in dem ‚Buchprodukt‘ Stadt der Engel eine Klassifizierung vorgegeben, die als Tatsache hinzunehmen ist. Das Buch ist weder eine posthume Neuauflage noch ein aus dem Nachlass ausgegrabener Text. Die Entscheidung – mag sie auch ursprünglich vom Verlag stammen – wird letztendlich von Christa Wolf befürwortet.    Es gibt allerdings auch eine ganze Reihe literaturwissenschaftlicher Beiträge die die vom Verlag geschaffene Tatsache hinzunehmen scheinen, auf autofiktionale Elemente hinweisen, aber auch den Text im Zusammenhang mit dem Schaffen Wolfs zu deuten wissen. (Vgl. dazu auch: Lennart Koch: „Ein unendlicher Strickstrumpf“. Vergleich autobiographischer Merkmale in Ein Tag im Jahr und Stadt der Engel oder The Overcoat of. Dr. Freud. In: Text + Kritik 46 (2012) (Neufassung), S. 154–170; Hannelore Piehler: „Ein fremder Mensch blickt mir da entgegen“. Das Unsagbare sagbar machen: Christa Wolfs literarische Selbstanalyse in Kindheitsmuster, Was bleibt und Stadt der Engel. In: Text + Kritik 46 (2012) (Neufassung), S. 171–182; Hannes Krauss: Auf der Suche nach der richtigen Sprache. Von Kindheitsmuster zu Stadt der Engel. In: Text + Kritik 46 (2012) (Neufassung), S. 183–190).

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gegenüber dem Fiktionalen in dem frisch erschienenen Buch, worauf die Schriftstellerin erwidert: Eigentlich hat der Verlag das Wort „Roman“ eingeschmuggelt. Aber ich hätte den Text auch „Roman“ nennen können. Denn: Das Fiktive ist sehr stark und dies viel stärker als man annimmt, wenn man die Ich-Figur mit mir gleichsetzt.142

Die Klassifizierung „Roman“ erscheint aber als eine natürliche Konsequenz jener Kunstgriffe, die auf der Ebene des Paratextes vorgeführt wurden, und mag auch den Leser vor der Unschlüssigkeit und einer ungewollten Irritation retten. Denn bereits gleich nach der Titelseite stößt er auf ein Statement, das für Autobiographien eher ungewöhnlich oder präziser gesagt: regelwidrig ist. Alle Figuren in diesem Buch, mit Ausnahmen der namentlich angeführten historischen Persönlichkeiten, sind Erfindungen der Erzählerin. Keine ist identisch mit einer lebenden oder toten Person. Ebensowenig decken sich beschriebene Episoden mit tatsächlichen Vorgängen. (CWS 6)

Durch diese starke Hervorhebung des Fiktionalen scheint sich die Autorin mehr Spielraum zu verschaffen, um an ihr Ziel zu gelangen – und sei es, sich an vergangene Sachverhalte zu erinnern. Wie widersprüchlich es anfangs auch klingen mag, die Autorin geht konsequent den von Walter Benjamin vorgeschlagenen Weg des „Ausgrabens und Erinnerns“. Benjamins Aussage, die Wolf in Verse transponiert, wird zum Motto: So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. Walter Benjamin: Ausgraben und Erinnern (CWS 7)

Benjamin vergleicht in dem Text, den Wolf mit ihrem Motto vergegenwärtigt und in die Analyse einfließen lässt, die Erinnerungsarbeit mit den Handgriffen eines Archäologen, der seine Objekte sammelt. Bei Benjamin lautet die Stelle wie folgt: So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. Im strengsten Sinne episch und rhapsodisch muß daher wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von dem der sich erinnert geben, wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben muß, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene andern vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren.143

142 Casten Gansel/Christa Wolf: „Zum Schreiben haben mich Konflikte getrieben” – ein Gespräch. In: Gansel (Hg.): Christa Wolf. Im Strom der Erinnerung, S. 353. 143 Walter Benjamin: Ausgraben und Erinnern. In: ders.: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa, hg. von Alexander Honold. Frankfurt a.M. 2007, S. 196.

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Der Verweis auf Benjamin eröffnet der Lektüre einen neuen Horizont. Diese wahrhaftigen Erinnerungen bedeuten nämlich etwas mehr als einen Bericht über die ,ausgegrabenen‘ Fundstücke, was meist unter diesem Begriff verstanden wird. Von Bedeutung sind auch der Weg, auf dem zu ihnen gelangt wird, und das sie erforschende Subjekt. Erinnerungen sind also nicht als Sachverhalt konzipiert, sondern als ein mühsamer Prozess. Den Vorgang beleuchtet anschaulich eine andere Stelle im Benjaminschen Werk, wo er das Verhältnis zwischen Gedächtnis und Erinnerung zu erklären versucht. Es wird hervorgehoben, daß das Gedächtnis nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist sondern deren Schauplatz. Es ist ein Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die toten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. Das bestimmt den Ton, die Haltung echter Erinnerungen. Sie dürfen sich nicht scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen; ihn auszustreuen wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen wie man Erdreich umwühlt. Denn Sachverhalte sind nur Lagerungen, Schichten, die erst der sorgsamsten Durchforschung das ausliefern, was die wahren Werte, die im Erdinnern stecken, ausmacht: die Bilder, die aus allen früheren Zusammenhängen losgebrochen als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächtern unserer späten Einsicht – wie Trümmer und Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen.144

Die Erinnerung erscheint als ein aktiver Prozess des dezidierten Durchwühlens des Gedächtnisses, der nicht allein darin besteht, dass Sachverhalte einmal zur Sprache gebracht werden, sondern dass sie immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen, aus verschiedenen Perspektiven hervorgeholt werden. In dem als Motto angeführten Zitat von Benjamin kommt Christa Wolf eindeutig auf Erinnerungen zu sprechen. Und wenn der Betrachter weiter der hier angedeuteten Spur Benjamins folgt, fällt auch seine Unterscheidung zwischen Autobiographie und Erinnerungen auf, die der Philosoph eindeutig zu trennen weiß. Wird seine Berliner Kindheit um neunzehnhundert zumeist als autobiographische Schrift wahrgenommen, deutet Benjamin diese Erinnerungsbruchstücke in einer entgegengesetzten Richtung: Erinnerungen, selbst wenn sie ins Breite gehen, stellen nicht immer eine Autobiographie dar. Und dieses ist hier ganz gewiß keine, auch nicht für die berliner Jahre, von denen hier ja einzig die Rede ist. Denn die Autobiographie hat es mit der Zeit, dem Ablauf und mit dem zu tun, was den strengen Fluß des Lebens ausmacht. Hier aber ist von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede. Denn wenn auch Monate und Jahre hier auftauchen, so ist es in der Gestalt, die sie im Augenblick des Eingedenkens haben.145

Da der Begriff „Autobiographie“ für Walter Benjamin, dessen Werk Wolf mit der intertextuellen Anspielung gegenwärtig macht, eine kontinuierlich rekonstruierte Lebens-

144 Walter Benjamin: Berliner Chronik, Neuausgabe hg. von Karl-Maria Guth. Berlin 2016, S. 23–24. (Sammlung von Beiträgen über Berlin 1932 geschrieben. Vorläufer der Berliner Kindheit um neunzehnhundert). 145 Benjamin: Berliner Chronik, S. 25.

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geschichte markiert, darf auch Stadt der Engel eher als ein Erinnerungsbuch im Benjaminschen Sinne gedeutet werden, in dem eher Augenblicke des Lebens aus dem Gedächtnis ausgegraben werden – zufällig, durch Vorgänge in der Gegenwart unerwartet ausgelöst –, denn als ein kontinuierlich-linear verfasster Lebensbericht. Und der Standpunkt der sich erinnernden Ich-Erzählerin – der Archäologin im Erdreich des Gedächtnisses – wird ebenfalls in diesem Sinne markiert. Neben den ‚ausgegrabenen’ Fundstücken werden auch der Vorgang des Erinnerns inklusive dem Problem des Vergessens und der Bewusstseinsstand der Erzählerin zum Zeitpunkt dieser merkwürdigen archäologischen Tiefenarbeit registriert und reflektiert. In diesem Sinne verliert auch die Frage nach Dichtung und Wahrheit innerhalb der Autobiographie ihre Gültigkeit. Denn keine der Erinnerungsschichten darf als unwahr wahrgenommen werden, sondern entspricht dem jetzigen Stand der Ausgrabung.146 Der Prozess des Erinnerns wird in Stadt der Engel sehr stark hervorgehoben. Das sich erinnernde Subjekt ist eine namenlose Erzählerin, von der wir erfahren, dass sie Schriftstellerin von Beruf ist und aus „East Germany“ stammt, aus einem Staatsgebilde, nach dem ein amerikanischer Flughafenbeamter bei ihrer Ankunft misstrauisch fragt: „Are you sure this country does exist?“ (CWS 10) Die DDR gibt es nicht mehr. Der Pass, mit dem die Ich-Erzählerin in die USA ankommt, ist aber immer noch gültig. Das Land, das auf keiner Landkarte mehr zu verzeichnen ist, gehört für sie nicht der Vergangenheit an, sondern wird zum festen Bestandteil ihres Lebens, kommt in verschiedenen, manchmal überraschenden Zusammenhängen in den Sinn. Von der Erzählerin erfahren wir, dass sie Anfang der 1990er Jahre neun Monaten als Gast des „Center“ in Santa Monica verbracht hat, wovon sie berichtet (vgl. CWS 9, 12, 151).147 Erzählt wird auf drei verschiedenen Zeitebenen. Einige Jahre nach der Rückkehr aus Los Angeles beschreibt die Ich-Erzählerin ihre amerikanische Lebensepisode, wo sie „Briefe einer gewissen L.“ an ihre Freundin Emma148 erforschen wollte, 146 Erinnerung stellt Christa Wolf ebenfalls im Gespräch mit Carsten Gansel aus dem Jahre 2010 als einen aktiven Prozess dar: „Die Erinnerung arbeitet die ganze Zeit. Also ich glaube, dass ich mich an bestimmte Dinge, die in Stadt der Engel erinnert werden und die damit festgelegt sind, anders erinnert habe, als dies vor 10 oder 20 Jahren der Fall gewesen wäre. Einfach, weil ich selbst mich verändert habe und nicht mehr die Person von vor 10 oder 20 Jahren bin. […] Man muss einfach wissen, dass Erinnerungen keine feststehenden Größen sind.“ (Gansel/Wolf: Gespräch, S. 355). 147 Im Text werden auch konkrete Episoden genannt, die auf Christa Wolf hinweisen – ihr Engagement bei der Biermann-Petition (vgl. CWT 160), das Apell „Für unser Land“ (vgl. CWT 266), Erinnerungen an ihre auf der Flucht verhungerte Großmutter (vgl. CWT 405) etc. 148 Obwohl die verstorbene Freundin mit Vornamen und Namen genannt wird, nämlich Emma Schulze  – wodurch dem Versuch, sie mit einer konkreten historischen Persönlichkeit eindeutig  zu identifizieren, der Boden entzogen wird –, wird in der Forschungsliteratur unbeirrt nach Inspirationsquellen gesucht. Und so behauptet Margrid Bircken etwa, dass Emma mit Eigenschaften von Anna Seghers ausgestattet sei. Genannt wird die Beschreibung des 11. Plenums des ZK und die in diesem Zusammenhang genannten beruhigenden Worte der Freundin Emma, die hier mit der von Wolf oft zitierten Begegnung mit Seghers verglichen wird (von der übrigens auch in Ein Tag im Jahr die Rede war). (Vgl. Margrid Bircken: Lesen und Schreiben als körperliche Erfahrung – Christa Wolfs Stadt der

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sich aber auch – oder vor allem – mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzte. In den Rückblicken auf ihr Leben in der DDR – die aus der Perspektive des amerikanischen ‚Exils‘ gemacht werden – wird sie mit einem Distanz verschaffenden Du angesprochen, als handele es sich um ein historisches Objekt. Dank diesem Kunstgriff werden nicht nur die ausgegrabenen DDR-Episoden in den Mittelpunkt gerückt, sondern das Bild wird auch um den mühsamen Prozess des Ausgrabens vervollständigt, der auf die amerikanischen neun Monate fällt, in denen sich die Ich-Erzählerin einer Selbstbefragung aussetzt. Auf der Ebene der Erzählzeit – in der Spanne nach dem Abschluss der Amerikareise und auf der Etappe der Arbeit am Manuskript – scheint die Erzählerin ihren Erinnerungsvorgang zu steuern und aus dem Gedächtnisspeicher entsprechende Sachverhalte und Personen hervorzuholen, die sie in ihre Geschichte einbauen will (vgl. CWS 29). Sie greift dabei auf ihre amerikanischen Tagesprotokolle zurück – „in Kapitälchen geschrieben“ (CWS 30)149 –, die entweder als „Gedankenstütze“ (CWS 30) oder aber Gegenstand der Reflexion dienen. Manchmal wird sie aber von einem Bild oder einem Klang auf Gefühle gebracht, die sie im Zusammenhang mit vergangenen Vorgängen gespürt hat (vgl. CWS 407). Das Bild, das ihr vorschwebt, soll nämlich nicht ein bloßer Tatsachenbericht sein, sondern Rekonstruktion ihres Weges zu dem jetzigen Bewusstseinsstand. Und „Tatsachen, aneinandergereiht, ergeben noch nicht die Wirklichkeit […]. Die Wirklichkeit hat viele Schichten und viele Facetten, und die nackten Tatsachen sind nur ihre Oberfläche“ (CWS 257–258), betont sie entschieden im Verweis auf „mehrere Gedächtnisstränge“. „Das Gefühlsgedächtnis ist das Dauerhafteste und Zuverlässigste. Warum ist das so? Wird es besonders dringlich gebraucht zum Überleben?“ (CWS 43), fragt sich die Ich-Erzählerin in einer der Tagebuchnotizen aus der Zeit in Amerika, in der sie sich sehr stark mit dem Thema des Vergessens auseinanderzusetzen hatte. Denn in Amerika wird sie mit unangenehmen Tatsachen aus ihrer Vergangenheit konfrontiert, die in ihren Stasi-Akten stehen, die sie aber anscheinend vergessen hat. Darum dreht sich auch die ganze Achse des Buches. Rekonstruiert werden punktuell „Erinnerungsbilder“ (CWS 76) mit der Frage, wie sie die unbequemen Episoden habe vergessen können (vgl. CWS 205) – gerade sie, deren „Thema seit langem“ (CWS 202) Gedächtnis und Erinnerung sind. „Man kann alles vergessen.“ – lautet die Diagnose eines mit ihr befreundeten Psychologen – „Man muß sogar. Kennen Sie

Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. In: Gansel (Hg.): Christa Wolf, S. 212.) Michael Haase erkennt in der Gestalt Emmas Details, die sie eher mit einer Vertrauten von Anna Seghers in Verbindung setzen, nämlich Berta Waterstrandt (1907–1990). (Vgl. Haase: Zum Konzept der subjektiven Authentizität, S. 223). 149 Die Notizen aus L.A. unterscheiden sich auch im Buch graphisch von der Ebene des später in Worte Gefassten. Sie werden eben in Kapitälchen abgedruckt, als handele es sich um eine Art Zeitdokument.

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nicht den Satz von Freud: Ohne Vergessen könnten wir nicht leben?“ (CWS 205) Als richtungsweisend gibt sich das Geheimnis des blinden Flecks zu erkennen: Vielleicht ist es uns aufgegeben, den blinden Fleck, der anscheinend im Zentrum unseres Bewusstseins sitzt und deshalb von uns nicht bemerkt werden kann, allmählich von den Rändern her zu verkleinern, so dass wir etwas mehr Raum gewinnen, der uns sichtbar wird. Benennbar wird. Aber […] wollen wir das überhaupt. Können wir das überhaupt wollen. Ist es nicht zu gefährlich. Zu schmerzhaft. (CWS 48)

Blinde Flecken – verstanden als Abwehrmechanismen – können im Prozess der Psychoanalyse verortet und abgebaut werden. Und solche werden im Text wieder vielschichtig konstruiert. Vergangenheitsbilder tauchen in Träumen, in Gesprächen mit den amerikanischen Freunden und Bekannten auf. Sie werden auch durch die amerikanische Realität provoziert. Der Briefwechsel zwischen ihrer Freundin Emma und einer gewissen L. sorgt für Reflexion über das Leben der älteren Generation und den Vergleich mit der eigenen Lage und Bedeutung in der DDR. Die Stasi-Akten werden mit der eigenen Version der Vergangenheit konfrontiert. Dazu kommt noch die Lektüre literarischer Texte und Ratgeber, von denen ebenfalls Denkanstöße stammen. Tonangebend ist aber der im Titel genannte Mantel Dr. Freuds,150 der in einer Anekdote eines gewissen Bob Rice auftaucht und der literarischen Erinnerungsarbeit eine Struktur verleiht. Bob Rice erzählt „eine Geschichte, wie er Freuds Mantel gewann und wieder verlor“ (CWS 154). „The overcoat of Dr. Freud“ wird beinahe als ein Gegenstand mit symbolischer Wirkungskraft gedeutet. „Bob wußte: In diesem Mantel würde er jeder Lebenssituation gewachsen sein, und wir verstanden, daß er durchaus in Situationen geraten konnte, die eine solche warme Schutzhülle dringend erforderten.“ (CWS 155) Erzählt wird die Geschichte genau in dem Moment, als die Schriftstellerin selbst in Schwierigkeiten gerät. Auf seine Frage, „What do you think about my story“ (CWS 155), erwidert die Ich-Erzählerin: “morgen werde ich anfangen, ein Buch zu schreiben, das wird heißen: Die Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“, fügt aber gleich hinzu: „Das wird ein Buch werden […], das ich nicht veröffentlichen kann.“ (CWS 155) Dieser Entschluss wird von der Gestalt des kurzfristigen Mantelbesitzers als eine „Arbeitshypothese“ gedeutet, die der Schreibenden ermöglichen soll, „nahe an die Dinge“ (CWS 156) heranzugehen. Dem Mantel wird aber nicht nur eine Schutzfunktion zugeschrieben. In seinem Innenfutter werden nämlich Geheimnisse versteckt gehalten, an die man sich ungern (und nicht ohne Gefahr, verletzt zu werden) erinnert. Der ehemalige Besitzer des Mantels bringt seinen Verlust mit einem unterbewussten Wusch zusammen, manch unbequemen Gehalt seines Gedächtnisses doch lieber verdrängt zu haben statt immer 150 Zu den psychoanalytischen Implikationen im Roman vgl. David Bathrick: Fetisch oder Aufarbeitung? Zur Rolle des Dr. Freud in Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. In: Therese Hörnigk/ Carsten Gansel (Hg.): Zwischen Moskauer Novelle und Stadt der Engel. Neue Perspektiven auf das Lebenswerk von Christa Wolf. Berlin 2015, S. 107–116.

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wieder daran erinnert zu werden: „Wollte ich diesen Mantel etwa wieder loswerden? Damit er nicht da an meiner Tür hängen und mich jeden Tag an bestimmte Dinge erinnern konnte, die ich lieber vergessen wollte?“ (CWS 177) Denn der Mantel – wie Sally, eine Freundin und Gesprächspartnerin der Ich-Erzählerin, an einer anderen Stelle betont – ist nicht dazu da, um sie zu schützen, sondern um ihr ihren „Selbstschutz wegzuziehen“ (CWS 203). Diese Annäherung an das ehemals Verdrängte oder Vergessene, an jene mit Berührungsangst markierten Zonen, wird in einem geschützten Raum passieren, der symbolisch mit dem englischsprachigen Begriff „the overcoat of Dr. Freud“ markiert wird. Damit wird auf die Zeit in Amerika verwiesen, in der die Schriftstellerin zur Ruhe kommt, weit weg von den Diskussionen, die sie persönlich berühren, wo sie nur ein Echo dessen erreicht, was in ihrem Heimatland passiert. Diese Distanz ermöglicht ihr den ungezwungenen Einblick in bis dahin verschlossene Gebiete. „Der Mantel […],“ – fügt Peter Gutman, der als wichtigster Gesprächspartner der amerikanischen Zeit konstruiert wird, hinzu – „der dich wärmt, aber auch verbirgt, und den man von innen nach außen wenden muß. Damit das Innere sichtbar wird.“ (CWS 261) Das wird auch im Roman getan. In diesem Sinne haben wir es auch mit einer Art Entwicklungsroman zu tun. Der Weg leitet von den Ängsten, über das mühsame und schmerzhafte Durchwühlen des Gedächtnisses, bis zu einem Punkt, wo die Ich-Erzählerin ihre Ruhe findet und sich von der schmerzhaften Vergangenheit, von der deutschen Geschichte, die ihre amerikanische Zeit sehr stark prägte, versöhnt mit sich selbst der Gegenwart zuwendet.151 „The overcoat of Dr. Freud“ – wird nach diesem Wendepunkt angemerkt – habe ihr „gute Dienste geleistet“ (CWS 373) und sie könne ihn Bob Rice zurückerstatten.

151 Nach einer tiefen Krise der Ich-Erzählerin – die durch die Hetzjagd in deutschen Medien (Grund: Stasi-Akten und die Enthüllungen über die Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsdienst) veranstaltet wird, von der sie anhand der Zeitungsauschnitte Notiz nimmt – wird eine Engelsgestalt eingeführt, die die Schriftstellerin im zweiten Teil des Buches begleitet. Der Engel wird Angelina genannt, erscheint also in gewissem Sinne mit dem Ort Los Angeles verbunden, worauf noch stärker die Tatsache verweist, dass der Engel „eine schwarze Frau“ (CWS 384) ist. In diesem Zusammenhang wird auch von einer „Genesung“ die Rede sein (vgl. CWS 326). Benjamins Text „Über den Begriff der Geschichte“ wird bei Wolf zwar nicht explizit angesprochen, und der Engel der Geschichte auch nicht beim Namen genannt, doch die entsprechende Stelle bei Benjamin scheint den für die Ich-Erzählerin qualvollen Umgang mit der Vergangenheit im ersten Teil des Romans, richtig zu veranschaulichen.    Benjamin bezieht sich bekanntlich auf das Bild von Klee Angelus Novus, auf dem ein Engel abgebildet ist, der aussieht, als „wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt.“ Der Engel hat sein „Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.“ (Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Abhandlungen. Gesammelte Schriften, Bd. I. 2, hg. von Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 2013, S. 697–698.)

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In dieser Lebensgeschichte – stark von fiktionalen Elementen genährt152 – wird die herausragende Bedeutung der Vergangenheit erkennbar, die beinahe keinen Freiraum für ein glückliches Leben in der Jetztzeit übriglässt. Die DDR – real nicht mehr existierend – bestimmt immer noch das Dasein der Ich-Erzählerin, die aufgrund ihres Alters und der Eckdaten aus ihrem Leben der Aufbau-Generation zuzuordnen wäre. Und genau die erinnerten Lebensstationen erscheinen für unsere generationelle Perspektive besonders vielversprechend. Statt chronologisch zu erzählen, greift die Schriftstellerin auf Episoden aus ihrer Vergangenheit zurück, die in ihr so stark verankert zu sein scheinen, dass sie ganz unbewusst von Situationen der Gegenwart ausgelöst werden. Ähnlich wie in den Tagebuchprotokollen Ein Tag im Jahr wird auch hier ein enger Zusammenhang zwischen politischem Geschehen und persönlichen Krisen konstruiert, die wiederum psychosomatische Erkrankungen zur Folge haben. So klagt sie Anfang der 1990er Jahre über Haarausfall als Reaktion auf die von Bekanntwerden ihrer Stasi-Akten hervorgerufenen Angriffe. Es handelt sich aber um eines der Symptome, die sie lebenslang zu plagen scheinen: Nach dem Typhus 1945, da warst du ganz kahl. […] Nach jenem Parteiplenum 1965. Nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag 1968. In dem trostlosen düsteren Winter 1976/77, als sich die Autos mit ihrer Doppelbesatzung von Beobachtern vor eurem Fenster ablösten […]. […] Nach dem Scheitern der Volkserhebung vom Herbst 1989 […].“ (CWS 168)

Nicht alle dieser Krisenerfahrungen werden auf der stark autobiographisch geprägten Ebene des Romans gleich intensiv thematisiert. Da manche Einschnitte tiefgehend reflektiert werden, darf ihnen die Bedeutung von Schlüsselerlebnissen zugeschrieben werden, die die Denk- und Handlungsmuster der Ich-Erzählerin beeinflusst haben.

   Die Lage der Ich-Erzählerin im ersten Teil des Romans gleicht der Position des Benjaminschen Engels. Vor ihr häufen sich ebenfalls Trümmer, denen ihr Gesicht unaufhörlich zugewendet bleibt, ohne dass sie sich der Gegenwart zuwenden kann. Lebensgenuss bleit ausgeschlossen, denn er wird immer von der Vergangenheit überschattet – unerwartet tauchen etwa Bilder auf, die die Krisen der DDR-Zeit gegenwärtig machen. Dem strengen, männlichen, deutschen Engel der Geschichte, der eine Art Selbstquälerei markiert, wird der weibliche, amerikanische, beinahe geschichtslose Engel Angelina gegenübergestellt, wodurch eine Art Befreiung von dem der Vergangenheit zugewandten Leben – voll von (Selbst-)Vorwürfen – markiert wird. 152 Ich halte es für begründet, sich der These von Aija Sakova-Merivee anzuschließen, die in ihrem beachtenswerten Aufsatz zu Stadt der Engel im Kontext der Philosophie Walter Benjamins behauptet, „dass die Basiserzählung, also die Erzählebene, die sich in Los Angeles abspielt, einen überwiegend fiktionalen Charakter mit eigenen autobiographischen Zügen trägt und die Analepsen, also die Rückblicke in die DDR-Vergangenheit, größtenteils die autobiographischen Erinnerungen der Erzählerin Christa Wolf darstellen.“ (Aija Sakova-Merivee: Die Ausgrabung der Vergangenheit in Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. In: Gansel (Hg.): Christa Wolf, S. 246, Fußnote 4).

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Und so fängt die Erzählung auch hier mit den Prägejahren an, d.h. mit der Zeit des Nationalsozialismus und mit dem Kriegsende 1945 (hier stärker präsent). Die bekannte Frage nach den Kindheitsmustern darf in der Selbsterkundung nicht fehlen: Kann ein Mensch sich von Grund auf ändern? Oder haben die Psychologen recht, daß seine Grundmuster in den ersten drei Jahren angelegt werden und dann nur noch auszufüllen, nicht zu verändern sind? (CWS 88)

Ob die Abhängigkeit von „Autoritäten“, von „sogenannten Führern“ und „Ideologien“ (CWS 88), die ihr und ihren Altersgenossen in jungen Jahren beigebracht wurde, immer noch ihr Leben bestimmt, fragt sich die Ich-Erzählerin. Der nationalsozialistischen Erziehung wird nicht viel Platz eingeräumt. Ihre Spuren werden aber angedeutet. Eine lakonische, aber in ihrer Aussage deutliche Stelle in Stadt der Engel zeigt die Lage einer ganzen Generation153 von Jugendlichen, die 1945 desorientiert vor dem Nichts standen: „Der Führer war tot. Eine Leere breitete sich in dir aus.“ (CWS 214) Sie standen jedoch nicht vor der Wahl, wo und wie sie ihr Leben weiter gestalten wollen, sondern wurden getrieben. Der Zufall entschied für sie. Darin liegt der zentrale Unterschied zwischen den bewusst handelnden Misstrauischen Patriarchen, die mit ihrem Erfahrungshorizont willentlich zwischen Ost und West entscheiden konnten, und den Kindern, die außer dem Nazi-Deutschland kein anderes Leben kannten. Alternative Lebensentwürfe tauchen erst Jahre später auf: Ich aber frage mich in jüngster Zeit: Vielleicht habe ich durch ein Versäumnis die große Chance meines Lebens verpaßt. […] In den Westen zu kommen. Im Mai 1945: Über die Elbe. […] Es war um Stunden gegangen: Wären die Pferde des Gutsbesitzers, auf dessen Wagen wir hockten, nicht so ausgepumpt gewesen […] – ich hätte ein vollkommen anderes Lebens gelebt. Ich wäre ein anderer Mensch geworden. So war das damals in Deutschland, ein Zufall hatte dich in der Hand. (CWS 242–243)

Die Frage, die nach der ‚Wende‘ an Christa Wolf und ihre Altersgenossen gerichtet wird, warum sie in der DDR geblieben seien, womit sich die Vorstellung verbindet, die Gefragten hätten eine Wahl gehabt, formuliert sie in eine rhetorische Frage um, die den Entscheidungspunkt in das Jahr 1945 verlegt und die Zufälligkeit der Geschichte illustriert. Eine alternative Fassung des Lebens wird skizzenweise gezeichnet, woraus der Eindruck entsteht, im Grunde seien beide Bevölkerungsgruppen östlich wie

153 Im Gespräch mit Carsten Gansel kommt Wolf explizit auf die generationsspezifischen Erfahrungen zu sprechen. Die Autoritätsgläubigkeit habe sie bei verschiedenen Generationen beobachten können. „Und meine, unsere Generation, hatte einen besonderen Hang, übereinstimmen zu wollen. […] Obwohl mir schon bewusst war, dass eine Aufgabe für mich selbst, wenn man davon sprechen kann, darin bestehen musste, mich von dieser Autoritätsgläubigkeit zu lösen und mich kritisch zu verhalten. […] Das ist sozusagen ein Selbsterziehungsgang unserer Generation gewesen. […] Es gibt hoffentlich keine weitere Generation, die drei Gesellschaftsordnungen bei relativer Bewusstheit erleben muss. Eine solche Erfahrung musste sich ja irgendwie auswirken.“ (Gansel/Wolf: Gespräch, S. 359).

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westlich der Elbe doch nicht verschieden veranlagt. Was sie unterscheide, seien die Lebensumstände. Wahrscheinlich wäre ich Lehrerin geworden […]. Ob ich geschrieben hätte, weiß ich schon nicht, denn zum Schreiben haben mich ja immer die Konflikte getrieben, die ich in dieser Gesellschaft hatte. […] Jetzt, als die Mauer fiel, wäre ich als Fremde in ein fremdes Land gekommen, in dem auch Deutsch gesprochen wurde, in dem ich die Leute aber nicht verstanden hätte. Weil ich gedacht hätte, das Leben, das ich, das wir geführt hatten, sei das eigentlich normale. Und ich wäre ohne Schuld gewesen. (CWS 243)

Das Schuldgefühl begleitet sie nicht nur nach dem Zusammenbruch der DDR, sondern bestimmt ihr ganzes Erwachsenenleben. Denn erstens fühlte sie sich als Angehörige des deutschen Volkes für „die deutschen Verbrechen“ (CWS 405) mitverantwortlich, zweitens kam im Vergleich zu der Generation der antifaschistischen Kämpfer das Bewusstsein des persönlichen Versagens hinzu, was ihr jeden Widerstand gegenüber den DDR-Entscheidungsträgern beinahe unmöglich machte. Der Gedanke an die Verdienste der Patriarchen als Widerstandskämpfer, zusammen mit der eigenen Zeit in der Hitlerjugend entzog ihr den Mut zum Widerspruch, geschweige denn zum Widerstand (vgl. CWS 111). Die Bewunderung der Altkommunisten, denen sie sich geistig untergeordnet sah, veranschaulicht ihre Lektüre des Briefwechsels zwischen einer gewissen L. und ihrer Freundin Emma. Es handelt sich um Frauen, die der Kommunistischen Partei schon zu der Zeit angehörten, als die Ich-Erzählerin erst geboren wurde (vgl. CWS 63). Emma wurde von der Gestapo überwacht, ständig von der Verhaftung bedroht (vgl. CWS 67) und musste ihren Widerstand mit einigen Jahren Zuchthaus bezahlen (vgl. CWS 188). Ihre Freundin L. nahm als Korrespondentin am Bürgerkrieg in Spanien teil (vgl. CWS 132) und ertrug die ärmlichen Lebensbedingungen der Emigration (vgl. CWS 133). Im Vergleich dazu sieht das Leben der jüngeren sozialistischen Autorin eher blass und unbedeutend aus, was im Zusammenhang mit ihrer Lage im Jahr 1949 angesprochen wird. Revolution kennt sie nur aus den theoretischen Schriften, die sie in den ersten Jahren beeinflusst und erzogen haben. Was sie wird, hat sie der älteren Generation zu verdanken, die ihr den Weg bereitete. Und ich? War ich, kaum zwanzigjährig, nicht schon einer Überzeugung sicher gewesen, die ich gerade erst einigen Schriften der Klassiker entnommen hatte? […] Euer Mathematik- und Physiklehrer, Flüchtling aus dem Osten, in der thüringischen Kleinstadt gestrandet wie du […], hatte dir diese revolutionären Schriften empfohlen […]. [E]r hatte ohne zu zögern die Bürgschaft übernommen, als du dich entschlossest, der Partei beizutreten. (CWS 133–134)

Das idealisierte Bild der sozialistischen Lehrjahre wird mit einer flüchtigen Anmerkung – der allerdings keine Auseinandersetzung mit der nicht ganz gründlichen Verarbeitung der Nazi-Vergangenheit in der DDR folgte – zerstört: „Später sollte sich herausstellen, daß dieser Lehrer […] ein Mitarbeiter des Goebbels-Ministeriums gewesen war.“ (CWS 134) Dass der antifaschistische Gründungsmythos dadurch ins Schwan-

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ken geraten könnte, kommt an dieser Stelle nicht in Frage. Die eigene Schuld durchkreuzt jederlei Zweifel. Beschrieben werden die sozialistischen Lehrjahre – Vorlesungen an der Jenaer Universität, Schriften von Georg Lukàcs (vgl. CWS 135), „Lieder der Alten“ und „das neue Thälmannlied“ (CWS 140). Aus der Perspektive der Jahre betrachtet sie mit Zuneigung, aber nicht ganz unkritisch die junge Frau von damals: Wäre „dogmatisch“ das richtige Wort, fragte ich mich, um die Person zu kennzeichnen, die du damals warst? Kompromisslos. Konsequent. Radikal. […] Und vor allem: Im Besitz der Wahrheit, was ja unduldsam macht. (CWS 228)

Diese Ungeduld wird im Laufe der Zeit milder, was im Roman aber nicht nur in Zusammenhang mit politischer Einsicht gebracht wird. Zum Vorschein kommt eine weibliche Perspektive. Ihre Mutterrolle scheint sie davor geschützt zu haben, zu einer politischen Aktivistin zu werden. Eine Aktion mit den Flugblättern, die sie in den Westen geschmuggelt hatte, war eine Episode, die sie mit einigen Tagen in der Untersuchungshaft Moabit bezahlte. Gewonnen wurde aber Distanz zum Ideologischen: Ich weiß noch, wie erleichtert du warst, als du an eure Wohnungstür klingeln konntest. Als deine kleine Tochter dir aus der Badewanne entgegensah. Ich glaube, kein Bild von ihr aus jener Zeit hat sich mir so eingeprägt wie dieses, und ich weiß noch, daß der zuerst fremde Blick der Tochter dir einen Stich gab und daß die Frage in dir aufkam, ob dieser ganze Einsatz sich dafür gelohnt hatte, daß dein Kind dich über eine Woche lang missen mußte. (CWS 227–228)

Diese nüchterne Einsicht scheint die junge Frau, die sehr bald den Schriftstellerberuf ergreifen soll, vor manchen Fehlern geschützt zu haben. Private Sorgen standen ihrem Engagement im Jahre 1953 im Wege. Mehr als der Arbeiter-und-Bauern-Aufstand interessierte sie ihr eigenes Leben. „Die Universität lag hinter dir, ein Kind wollte versorgt sein, eine Wohnung für die Familie war das dringlichste […]“ (CWS 183), lautet die knappe Bestandsaufnahme. Im Hintergrund werden aber auch Panzer auf den Straßen registriert, die sie damals aber nicht mit den enttäuschten Träumen vom Sozialismus – wie viele der Gründerväter der Republik – assoziierte. Es war das erste Mal im Leben, dass sie protestierende Menschenmassen sah (vgl. CWS 197). Dich befiel zum ersten Mal ein Gefühl der Ausweglosigkeit […]. Nicht vergessen habe ich, wie du abends […] auf dem Nachhauseweg mindestens zehn Parteiabzeichen aufsammeltest, die ängstliche Genossen weggeworfen hatten. Und wie du entsetzt und erleichtert warst, als die Panzer fuhren. (CWS 199)

Der Eingriff der Staatsmacht wird hingenommen, ohne reflektiert zu werden. Ähnlich im Falle des Mauerbaus, der in Stadt der Engel nicht erinnert wird. Damals ist der Glaube an das sozialistische Land noch da. Das Vertrauen an die Parteiführung wird aber erschüttert. Verzweiflung kommt im Jahre 1965 auf, „nach jenem ZK-Plenum genannten Spektakel, auf dem die Kultur zum Sündenbock gemacht wurde[…]“ (CWS 188). Parallelen zu Tagebuchprotokollen Ein Tag im Jahr liegen auf der Hand.

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Glaubten wir damals noch, durch Reden, durch Argumente die Meinung der Regierenden, sogar ihre Handlungen beeinflussen zu können? […] Macht und Geist vereint, eine typisch deutsche Intellektuellen-Illusion, schon einmal gescheitert an der deutschen Misere. (CWS 235)

Sowohl die beschriebenen Ereignisse als auch die damit verbundenen Emotionen stimmen in Tagesprotokollen wie in Stadt der Engel überein, was das Psychogramm im Roman zu beglaubigen scheint und dadurch die autobiographische Erzählebene zusätzlich untermauert. Auch hier dürfen Reminiszenzen an die Biermann-Ausbürgerung nicht fehlen, weil die Ereignisse zu einer Zäsur erklärt werden. „Dies war einer der Wendepunkte in meinem Leben“ (CWS 163), legt die Ich-Erzählerin nachdrücklich dar. Eine öffentliche Empörung gegen die Willkür der Macht kann als Zeichen von Emanzipation gedeutet werden. Beschrieben wird aber nicht der Verlauf der Affäre, auch nicht die Kulissen der Petition, sondern eine überwältigende Angst, die sie 1976/77 unaufhörlich begleitete: Angst kanntest du ja auch. Angst hattest du ja in jenem November 1976, von dem hier die Rede ist, als ihr von eurer Zusammenkunft bei dem Freund nach Hause fuhrt und in Gedanken den Weg des Protestbriefes verfolgtet, den ihr gemeinsam formuliert hattet und der in dem Augenblick, in dem ihr in eurer Wohnung angekommen wäret, womöglich gerade über verschiedene Stufen des „Apparats“ zur „Nummer Eins“ nach oben befördert […] wurde […]. (CWS 160)

Was in die Geschichtsbücher als eine mutige Tat eingegangen sein mag, wird in den Erinnerungen als eine mit Angst bezahlte Entscheidung dargestellt, die Maßnahmen der Regierenden, die „an die finsteren Zeiten in Deutschland“ erinnern, nicht „stillschweigend“ (CWS 160) hinzunehmen. Und diese eigenartige Zweideutigkeit erscheint ausschlaggebend für diese Erinnerungen wie auch für das DDR-System. Unter den Erinnerungsbildern tauchen auch Szenen des Jahres 1989 auf. Die Gefühlslage der Ich-Erzählerin ist aber weit von unbefangener Euphorie entfernt, die als Reaktion auf die friedliche Revolution und den Mauerfall aus den Presse- und Fernsehberichten hervorgeht. Sie zeigt sich eher besorgt um das Wohl ihrer Mitbürger. Die Gefahr einer gewaltsamen Niederschlagung der Demonstrationen ist ihr bewusst, zumal sie zu den gut informierten Eingeweihten gehört, die durch ein Netz von Kontakten über Informationen zur aktuellen Lage verfügen. Umso größer wird auch die Erleichterung, als die Verkündung vom 4. November 1989 ohne Blutvergießen verlief. Ich erinnere mich […] an deine Erleichterung, als dir am Morgen des 4. November 1989 rund um den Alexanderplatz in bester Stimmung die Ordner mit den orangefarbenen Schärpen entgegenkamen, auf denen stand: keine Gewalt! In der Nacht davor wurde bei einem Treffen, an dem du teilnahmst, das Gerücht verbreitet, Züge mit als Arbeiter verkleideten Stasi-Leuten seien in Richtung Hauptstadt in Fahrt gesetzt, um die friedlich Demonstrierenden zu provozieren und den bewaffneten Kräften einen Vorwand zum Eingreifen zu liefern. Eine Art Panik ergriff dich […]. […] Ihr spracht nicht davon, aber ihr dachtet an das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Die Vorstellung, ihr könntet zu naiv, zu leichtfertig in eine Falle gelaufen sein, lastete auf dir […]. (CWS 22–23)

5.3 Die „Staatsdichterin“ Christa Wolf 

 221

Die Angst, die wieder in einen physischen Zusammenbruch mündet, ergibt sich nicht aus einer persönlichen Bedrohung, sondern aus Verantwortungsbewusstsein. Der DDR-Schriftsteller ist mit seinem Volk stark verbunden, auch ständig bemüht um seine Erziehung zum Guten. Diese Rolle scheint die besorgte Ich-Erzählerin übernommen zu haben. Sie steht auf dem Alexanderplatz vor den Versammelten und spricht zu ihnen. Sie setzt sich für den „Dialog!“ (CWS 265) ein. Sie ist aber auch Teil dieses Menschenstroms, ähnlich wie sie erfüllt von Hoffnungen, „die man wenig später Illusionen nennen mußte […]“ (CWS 266). Dieser „seelische[…] Ausnahmezustand“ (CWS 267), der Menschen vereinte und gemeinsam im Protest marschieren ließ, erscheint als einer der Glücksmomente ihres Lebens. [D]aß ich das erleben, daß ich teilnehmen durfte an einer der seltenen Revolutionen, welche die deutsche Geschichte kennt, das habe mir jeden Zweifel darüber genommen, ob es richtig gewesen sei, in dem Land geblieben zu sein, das so viele mit Grund verlassen hätten. Nun sei ich sogar froh darüber. (CWS 25)

Immer noch scheint sie stolz auf ihr Volk zu sein. Die DDR-Bürger enttäuschen sie aber gleich nach der Maueröffnung. Freiheit wird von ihnen nämlich mit Konsum gleichgesetzt. Das Begrüßungsgeld durchkreuzt die illusorischen Hoffnungen auf eine Rettung des sozialistischen Experiments, dem ihr ganzes Engagement galt (vgl. CWS 288). Ich mußte an die Menschenmassen denken, meine Landsleute, die, wenige Tage nach der Maueröffnung und nachdem sie ihr Begrüßungsgeld abgeholt hatten, mit Tüten und Taschen und Kartons voller bisher unerreichbarer Waren bepackt, von ihrem ersten Westbesuch glücklich zurückkamen. Dies also war des Pudels Kern […]. (CWS 115–116)

Nun scheint diese kritische Intellektuelle, für die sich die Ich-Erzählerin ausgibt, vergessen zu haben, dass sie zu der privilegierten DDR-Elite gehörte, der die Konsumwelt des Westens nicht verschlossen war. Was ihr seit langem bekannt war, holt das einfache Volk erst jetzt nach. Dass dieser hemmungslose Nachholbedarf den Sinn der friedlichen Revolution in Frage stellt, scheint sie am stärksten getroffen zu haben. Die Maueröffnung ist für sie nicht nur aus diesem Grunde kein „Jubeltag“ (CWS 75). Als sie nach einem Kinobesuch von ihrem Schwiegersohn erfährt, dass die Mauer offen sei, erwartet man vergeblich Umarmungen im Zeichen der Freude. Ihre Gefühle sind nicht eindeutig, können es auch nicht sein, weil der Mauerfall einer Epoche das Ende setzt, der sie ihr erwachsenes Leben gewidmet hatte, der ihre Hoffnungen gegolten hatten: Hatte ich zwiespältige Gefühle, als wir dann auf dem Nachhauseweg in unserem Auto lange an der Kreuzung Schönhauser / Bornholmer Straße stehen mußten, weil der Strom der Trabis und Wartburgs, der auf den Grenzübergang Bornholmer zuflutete, nicht abriß? Was habe ich da wirklich gefühlt? Freude? Triumph? Erleichterung? Nein. Etwas wie Schrecken. Etwas wie Scham. Etwas wie Bedrückung. Und Resignation. Es war vorbei. Ich hatte verstanden. (CWS 75)

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  5 Im Gleichklang mit dem Lebensrhythmus der DDR. Die Aufbau-Generation (1925–1935)

Eine Epoche geht zu Ende. Ein Land verschwindet von der Landkarte. Was der IchErzählerin übrigbleibt, ist der Schmerz, den sie in ihr amerikanisches Tagebuch notiert. Die Kunstfigur von Stadt der Engel schreibt eine Liebeserklärung an das nicht mehr existierende Land nieder: Wie soll ich ihnen erklären, dass mich kein anderes Fleckchen Erde auf dieser Welt so interessierte wie dieses Ländchen, dem ich ein Experiment zutraute. Das war mit Notwendigkeit gescheitert, mit der Einsicht kam der Schmerz. Wie soll ich ihnen erklären, dass der Schmerz ein Mass für die Hoffnung war, die ich immer noch in einem vor mir selbst verborgenen Versteck gehegt hatte. (CWS 289)

Vergleichbare Erklärungen vonseiten Christa Wolfs hätten mit hoher Wahrscheinlichkeit für die nächste Debatte gesorgt oder aber manche Kritiker empört. Die literarische Form schafft aber Distanz, die auch als Selbstschutz verstanden werden darf. Wer diese Worte ausspricht, ist nämlich nicht die DDR-Autorin Wolf, sondern eine Figur im literarischen Werk, die zwar mit ihren Zügen ausgestattet wurde, deren Leben mit Tatsachen aus dem Lebenslauf Wolfs übereinstimmt, aber nur von einem ungeschickten Leser mit der Autorin gleichgesetzt werden kann. Mit diesem Kunstgriff wurde jeder Art ideologischer Kritik der Boden entzogen. Am schärfsten wurde sie vom Fachpublikum kritisiert und von dem darf erwartet werden, dass es die Gattungsattribution zumindest zur Kenntnis nimmt. Stadt der Engel wird, was das Schreibprinzip wie auch Themen angeht, von vielen Interpreten mit Kindheitsmuster verglichen. Dies erhellt auch ein Stück weit die für Wolfs Erzählweise markante Verflechtung von Autobiographischem und Fiktionalem. So ist nicht nur die Distanzierung durch den Wechsel des Personalpronomens in beiden Werken zu beobachten, sondern auch – was dem Aufsatz von Hannes Krauss „Auf der Suche nach der richtigen Sprache“ zu entnehmen ist – die Struktur des Erinnerten und Angedichteten.154 Der USA-Aufenthalt bildet den Kern eines Buches, in dem wenig passiert, aber viel reflektiert und räsoniert wird. An Kindheitsmuster erinnern nicht nur das Schreibprinzip, sondern auch die Themen. Es geht um den Sozialismus und die Nachwendezeit in Deutschland, um den Faschismus, die Rolle der antifaschistischen Emigration (im Exil und nach der Rückkehr); es geht um psychosomatische Beschwerden, um die Psychoanalyse und um die eigene Mutter. Von Politik und Moral ist die Rede, von sozialen Unterschieden in den USA, und vom eigenen Schreiben, das heißt von dem lebenslangen und immer neuen Versuch, den „blinden Fleck“ aus der Erinnerung zu tilgen, die Wahrheit auszusprechen.155

Die Frage, mit der Krauss seine Analyse abschließt, wird von vielen Literaturwissenschaftlern und -kritikern gestellt, ob nämlich die genannten Texte – die von den Wolf-

154 Dazu auch: Piehler: Wolfs literarische Selbstanalyse, S. 173. 155 Krauss: Aus der Suche nach der richtigen Sprache, S. 188.

5.4 Bringschuld und Aufbau der DDR 

 223

Kennern zurecht im Kontext der Poetik der „subjektiven Authentizität“156 gerückt werden – autobiographisch seien. Die Antwort lautet: Persönlicher – und verwundbarer – als die inszenierte Intimität von Ein Tag im Jahr sind sie auf jeden Fall. Dort wirkt vieles stilisiert, aufs Aufschreiben ausgerichtet. In den Romanen mischen sich Schreib- und Lebenskrisen ununterscheidbar ins Textgeflecht und geraten so zur Gefahr für die Verfasserin. […] Ausgeliefert hat sich Christa Wolf mit ihren Texten […] in einer Art, die es letztlich auch ihr selbst unmöglich machte, klare Grenzen zu ziehen zwischen dem Schreiben und dem Leben.157

5.4 Bringschuld und Aufbau der DDR. Zur moralischen Inferiorität von AutorInnen der Aufbau-Generation Auch wenn mit Günter de Bruyn, Hermann Kant und Christa Wolf Vertreter recht unterschiedlicher Haltungen dem DDR-System gegenüber ausgewählt wurden, sind in ihren autobiographischen Texten Berührungspunkte erkennbar, die die These von generationsspezifischen Prägeerfahrungen der Aufbau-Generation zu bestätigen scheinen. Im Falle von Kant und de Bruyn kommen noch milieuspezifische Einflüsse hinzu, sei es die proletarischen, sei es die katholischen, die zusammen mit Erlebnissen der Kindheit und Jugend in den Autobiographien als solche dargestellt werden. Diese wirken bei der Herausbildung des Habitus maßgeblich mit. Als eine der stärksten Prägungen – auch aus der Perspektive der Nachwendezeit – werden in allen drei Fällen die Kindheit und die frühe Jugend genannt, die in die Zeit des Nationalsozialismus fallen. Auch wenn das Elternhaus nicht als dezidiert nationalsozialistisch dargestellt wird, entgehen de Bruyn, Kant wie Wolf nicht den Erziehungsmaßnahmen im Geiste der nationalsozialistischen Ideologie, die sowohl im Schulstoff als auch in den Freizeitaktivitäten zum Vorschein kommen. Ohne alternative Denkformen kennengelernt zu haben, nehmen die Kinder des Dritten Reiches

156 Zur Poetik Christa Wolfs gehört die Anwesenheit des Autors im Text. Die Erfahrungen des Autors fließen in den Text ein, persönliche Erlebnisse mischen sich mit historischen Erfahrungen und werden von Wolf „miteinander zu einer Erzählstruktur verbunden“. (Siehe dazu Kapitel „Christa Wolfs Poetik der subjektiven Authentizität. In: Roswitha Skare: Christa Wolfs Was bleibt. Kontext – Paratext – Text. Berlin 2008, S. 243–254, hier S. 244). Franziska Bomski verweist im Zusammenhang mit Stadt der Engel allerdings darauf, dass „phantastisch-symbolische Elemente“ einen viel größeren Raum als bei anderen Texten, „die dem Konzept der subjektiven Authentizität verpflichtet sind“, einnehmen. „Die Frage, ob es sich bei Stadt der Engel um eine (faktuale) Autobiographie oder um einen (fiktionalen) Roman handelt, ist somit gerade nicht eindeutig zu beantworten; die Entscheidung obliegt vielmehr dem Exegeten, der den einen oder den anderen Kontext privilegiert.“ (Franziska Bomski: „Moskauer Adressbuch“ – Erinnerung und Engagement in Christa Wolfs Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. In: Gansel: Christa Wolf, S. 260). Richtet man sich nach den paratextuellen Hinweisen, d.h. liest den Text als einen autobiographischen Roman, vermeidet man den hier skizzierten ,Gewissenskonflikt‘. 157 Krauss: Aus der Suche nach der richtigen Sprache, S. 189.

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  5 Im Gleichklang mit dem Lebensrhythmus der DDR. Die Aufbau-Generation (1925–1935)

unbewusst das Angebot der Machthaber als die einzig mögliche Weltauffassung an. Erschüttert wird diese relativ heile Welt der Kindheit durch den Krieg, aber auch durch den Einblick der Heranwachsenden in die Gräueltaten der Hitler-Anhänger. Unter dieser Hinsicht scheinen sich die DDR-AutorInnen von ihren Altersgenossen im Westen kaum zu unterscheiden. Während aber die Bundesrepublik ihre Existenz mit  der Anerkennung der eigenen ,Schuld‘ am Unheil aufbaut, übernehmen im Osten die antifaschistischen Widerstandskämpfer die symbolische – und auch die reale – Macht und setzen den Antifaschismus als den Gründungsmythos der Deutschen Demokratischen Republik durch. Nun passen die Angehörigen der Aufbau-Generation nicht in das Idealbild. In den Äußerungen der besprochenen AutorInnen wird die Macht der Misstrauischen Patriarchen akzeptiert, die durch ihren antifaschistischen Widerstand und das frühe Engagement für die Idee des Kommunismus legitimiert wird. Die eigene Bringschuld wird zum Problem, das weitgehende Kompromisse erfordert. Auch wenn die einzelnen Maßnahmen der älteren Generation mal Unbehagen ausgelöst haben könnten, steht die moralische Inferiorität der Aufbau-Generation einer offen artikulierten Kritik im Wege. Selbst der sich zum vehementen Kritiker stilisierende Günter de Bruyn scheint diese Spielregel anerkannt zu haben. Und auch er nutzt die von den Patriarchen geschaffenen Aufstiegschancen der DDR, auch wenn er das System nicht ohne Vorbehalte hinnehmen will. Kant und Wolf präsentieren ihr Selbstporträt als treue Verehrer des Sozialismus. Während aber Christa Wolf die Entstellung des Ideals registriert, verhält sich Hermann Kant – selbst eine der tragenden Kräfte – eher unkritisch. Abgesehen von der Art der Reaktion, beziehen sich aber alle drei AutorInnen auf dieselben Bezugsgrößen, d.h. die Generationskoordinaten stimmen bei ihnen überein. Den ersten Einschnitt in der Biographie stellt das Jahr 1945 dar. Obwohl das Kriegsende in den besprochenen Autobiographien nicht gleich ausführlich beschrieben wird, scheint das Datum ein symbolisches Ende der unreflektierten Kindheit und Jugend zu markieren, der eine neue Lebensphase folgt. Wird dieser Zeitpunkt bei Hermann Kant ausgespart, werden in Abspann seine früheren Texte herbeigeführt, die in diesem Kontext als fester Bestandteil des Themenkomplexes ,mein Leben‘ verortet werden.158 De Bruyn und Wolf behandeln die frühen Prägungen jeweils in einem separaten Band. Wolf verfasst ihre zur Kultlektüre gewordenen Kindheitsmuster schon in den 1970er Jahren. Günter de Bruyn beginnt seine Arbeit an Zwischenbilanz noch in der DDR, veröffentlicht den Band aber erst im vereinten Deutschland. Abgesehen von

158 Im Falle von Kant und Wolf macht sich eine eigenartige Erweiterung des Autobiographischen bemerkbar. Kant vergegenwärtigt seine früheren Texte und richtet an den Leser explizit den Hinweis, er soll seine Romane autobiographisch lesen. Christa Wolf schafft mit ihrem Konzept der subjektiven Authentizität eine Basis, die vielen Interpreten den Weg der autobiographischen Lektüre eröffnet. Die Diskussionen um das Genre von Stadt der Engel, aber auch die Kontroversen, die sich aus der autobiographischen Deutung von Was bleibt ergaben, verweisen auf eine Art Erweiterung des Autobiographie-Begriffes in der Rezeption.

5.4 Bringschuld und Aufbau der DDR 

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der Art der literarischen Verarbeitung des Nationalsozialismus, ist allen AutorInnen die Bedeutung dieser frühen Erlebnisse bewusst, die sie in ihren Texten dann auch als Zäsur markieren. Der Gleichklang zwischen den Entwicklungsstadien der DDR und dem Werdegang der Aufbau-Generation – von Thomas Ahbe und Rainer Gries ausführlich beschrieben – lässt sich zwar an den Lebensläufen der behandelten AutorInnen erkennen, allerdings scheinen die Kulturschaffenden sich an manchen Punkten in einer grundsätzlich anderen Situation zu befinden als die Durchschnittsbürger. So markiert das ‚Wendejahr‘ für sie eine viel größere Erschütterung als für ihre Altersgenossen, die bei der Transformation nicht mehr mitmachen müssen, weil sie bereits im Pensionsalter sind. Die Schriftsteller, die noch bis vor kurzem eine exponierte Rolle in dem Gesellschaftssystem der DDR spielten, werden vom Piedestal gestürzt und – abgesehen von ihrer tatsächlichen Positionierung dem Unrechtsstaat gegenüber – als Repräsentanten einer Diktatur zur Rechenschaft gezogen. So stürzt für sie nicht nur die Welt zusammen, die sie – wie Kant und Wolf – aufbauen halfen. Sie werden auch für verantwortlich erklärt und fühlen sich anscheinend verpflichtet, der Öffentlichkeit ihre Version der Geschichte darzustellen. In den autobiographischen Texten beschreiben sie aber nicht nur das Leben eines Individuums, sondern beinahe den Modellfall einer Existenz unter den Bedingungen von zwei Diktaturen. Nicht alle Ereignisse, die von Ahbe und Gries als Generationserfahrungen markiert werden, lassen sich in den autobiographischen Texten von de Bruyn, Kant und Wolf finden. So scheint das Jahr 1953 für sie nicht so prägend wie für die Misstrauischen Patriarchen zu sein. Aber auch der Mauerbau wird – den autobiographischen Äußerungen zufolge – nicht für alle zur Erschütterung. Das Ereignis berührt nicht alle in gleichem Maße. Nichtsdestotrotz scheinen auch die Skeptiker, die sich eingesperrt fühlen, nach der Schließung der Grenze fester an die DDR gebunden zu sein, was etwa Günter de Bruyns Erklärung bezeugt, man habe sich unter diesen neuen Umständen arrangieren müssen, um ein normales Leben führen zu können. Für manche – besonders aber für Christa Wolf – wird diese Phase der Annäherung an den Staat durch die Beschlüsse des Kahlschlagplenums gestört, wenn auch nicht komplett abgebrochen. Als die eigentliche – und endgültige – Erschütterung wird dagegen für all die Genannten die Ausbürgerung Biermanns und ihre Folgen, wobei es weniger um den Liedermacher selbst geht als um den ersten Versuch der Aufbau-Generation, den Machthabern zu widersprechen. Den Protest der Jüngeren erklären Ahbe und Gries, indem sie zu einer Familienmetapher greifen und die Aufbau-Generation als die erwachsen gewordenen Kinder bezeichnen, die das Elternhaus endgültig verlassen. Und tatsächlich scheint der Bruch die Dynamik bis zum Ende der DDR zu bestimmen. Die Biermann-Kontroverse scheint aber die Konstruktion der eigenen Lebenserzählung auch in der Nachwendezeit maßgeblich zu bestimmen, als handele es sich um eine Messprobe der eigenen Aufrichtigkeit. So fühlt sich Hermann Kant als einer der Funktionäre aufgefordert, seine Version der Ereignisse zu präsentieren. Christa Wolf kommt auf die Repressa-

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  5 Im Gleichklang mit dem Lebensrhythmus der DDR. Die Aufbau-Generation (1925–1935)

lien zu sprechen, die sie und ihre Familie trafen. Und für Günter de Bruyn erscheint die Biermann-Affäre als ein unheilbarer Riss zwischen den Petitionisten und den parteitreuen Schriftstellern, der die Gesellschaft bis zum Ende der DDR trennte. Die Lebenskonstruktion der AutorInnen der Aufbau-Generation basiert auf einer Erzählung, in der der eigene Lebensweg an geschichtliche Großereignisse gekoppelt wird. Generationsobjekte anderer Art werden nur am Rande erwähnt. So bekommt der Leser zwar den Einblick in die Erfahrungen der Autobiographen mit den Klassikern der Nazi-Literatur, die jedoch den Themenkomplex ‚nationalsozialistische Erziehung‘ zu ergänzen scheinen. Dem Hinweise auf Bildungsdefizite – vor allem auf dem Gebiet der literarischen Moderne (was allerdings als ein fehlender Generationsobjekt angesehen werden kann) – folgt aber keine Rekonstruktion der Kultbücher in den späteren Jahren, die sich bei allen untersuchten AutorInen wiederfinden lassen. Die Angehörigen der Aufbau-Generation definieren sich weder durch Produkte noch durch Musik (auch wenn etwa bei de Bruyn Hinweise auf Jazz-Musik vorkommen). Ihr Leben scheint den politischen Entscheidungen untergeordnet zu sein, die den Rahmen bestimmen, in dem sie sich Freiheitsräume erkämpfen müssen. Was die Autoren der Aufbau-Generation mit den Vertretern der Misstrauischen Patriarchen zu verbinden scheint, ist auch ihr Verständnis der Schriftstellerrolle. Die gesellschaftliche Wirkung literarischer Texte steht für beide Generationen außer Frage. Das Engagement wird auch bei den Jüngeren zu einer Art Lebensphilosophie erhoben, allerdings nicht mehr in dem uneingeschränkten Glauben an die Idee des Kommunismus. Das Engagement der Aufbau-Generation scheint weit vom idealistischen Heldentum der Altkommunisten entfernt zu sein. Hier überwiegt eher das pragmatische Arrangement.

6 Generation mit stabiler Bindung? Die Funktionierende Generation (1936–1948) Als nächsten Generationszusammenhang im DDR-Generationsgefüge unterscheiden Thomas Ahbe und Rainer Gries die Jahrgänge 1936–1948, womit sie sich von der bisherigen Klassifizierung etwa Bernd Lindners oder auch Wolfgang Englers1 distanzieren. Ahbe und Gries gehen von der Unschärfe der bisherigen Systematisierungsversuche aus: Mit der Konstruktion dieser Generation reagieren wir auf Unschärfe in anderen Systematisierungen zur Generationenabfolge in der DDR. In der prominentesten, derjenigen von Bernd Lindner, folgen auf die „um 1930 bis circa 1940“ Geborenen und als „Aufbaugeneration“ bezeichneten sogleich die „um 1945 bis 1960 Geborenen“, die dort als „integrierte Generation“ bezeichnet werden (vgl. Lindner: „Bau auf, Freie Deutsche Jugend“). Aufgrund der nachfolgend erörterten sehr besonderen Sozialisationsbedingungen der in der Mitte der dreißiger bis in die späten vierziger Jahre Geborenen halten wir es für nachvollziehbar und notwendig, diese Altersjahrgänge als eine besondere Generation zwischen der Aufbau- und der integrierten Generation zu beschreiben.2

Lindner erkennt in den zwischen 1945 und 1960 Geborenen eine Generation, die – wie  es Andreas Molitor in dem hier zitierten Zeit-Artikel in Bezug auf Jahrgang 49 formuliert – „die ersten Kinder der anderen Republik [waren], die nichts als DDR erlebten“.3 Betont wird ihre stabile Bindung an den Staat, der ihnen viele Angebote macht.4 Was auf die integrierte Generation auch im Sinne von Ahbe und Gries bezogen werden kann, passt nicht zu der von ihnen unterschiedenen Gruppe der zwischen 1936 und 1948 Geborenen.5 Sie haben nämlich einen Vergleich zu einem anderen Leben, haben die Zeit des Nationalsozialismus aber im Gegensatz zu den Aufbau-Leuten entweder gar nicht oder nicht bewusst erlebt. Was sich für ihren Habitus als besonders prägend erweisen sollte, sind die katastrophalen Verhältnisse der Nachkriegszeit. Es 1 Wolfgang Engler unterscheidet „die dritte Generation“, darunter auch die ostdeutschen 68er. (Vgl. Engler: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, S. 303–340). 2 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 519 (Fußnote 127). 3 Andreas Molitor: Die Gruppe 49. In: Die Zeit 21 (1999), zit. nach: Bernd Lindner „Bau auf, meine Freie Deutsche Jugend“, S. 206. 4 Vgl. Lindner: Sozialisation und politische Kultur junger Ostdeutscher, S. 27–28. Hier meint Lindner die „Generation der zwischen 1950 und 1960 Geborenen“, die der „Aufbaugeneration“ folgt. 5 Eine ähnliche Unterscheidung wird in der Arbeit Mary Fulbrooks Generationen und Kohorten in der DDR eingeführt. Unterschieden werden darunter die zwischen 1935 und 1945 geborenen „Kinder des Dritten Reiches“. Sie hatten Fulbrook zufolge „oft erschreckende Erinnerungen an Kriegserlebnisse, sie waren öfter in Familien ohne Väter aufgewachsen; sie waren aber zu jung, um den neuen Staat in den ersten Jahren mitaufzubauen, und junge Erwachsene wurden sie gerade in der schwierigen Zeit des Mauerbaus. […] Die ,Kinder des Dritten Reiches‘ teilten also prägende Erlebnisse und Wahrnehmungen, hatten aber keine bemerkenswerten strukturellen Aufstiegsmöglichkeiten und hielten sich meistens von führenden Positionen des neuen Staates fern.“ (Fulbrook: Generationen und Kohorten in der DDR, S. 125–126). https://doi.org/10.1515/9783110710793-006

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 6 Generation mit stabiler Bindung? Die Funktionierende Generation (1936–1948)

mangelte ihnen an allem, von der Unterkunft bis zu der offen gezeigten Zuwendung und Liebe der Eltern. Diese „nüchterne Normalität eines Überlebenskampfes“6 wurde für sie zur Normalität, allerdings einer sehr belastenden. Die Mütter dieser Kinder waren psychisch und physisch überlastet. Nach außen und ihren Kindern gegenüber durften und konnten sie keine Schwäche zeigen. Die früh in die Verantwortung für die Familie und für sich selbst gestoßenen Kinder orientierten sich an den Bewältigungsstrategien ihrer sich stark gebenden Mütter: „Gefühle wie Trauer, Kummer, Verzweiflung, geschweige denn Vorwürfe […] konnten überhaupt nicht gezeigt werden, mußten verdrängt und verleugnet werden und wurden im günstigen Fall heimlich, das heißt, nachts, während die Kinder schliefen, zugelassen. […] In der Regel war das Verbot, Gefühle zuzulassen oder sogar über sie zu sprechen, unausgesprochen […]. Diese Kinder blieben auch als Erwachsene stumm.“7

Diese Kindheitsmuster werden von den Funktionierenden auf das spätere Leben übertragen. Sie prägen Ahbe und Gries zufolge ihre gesamte Lebenshaltung, die auch ihre Positionierung im sozialistischen Staat aber auch in dem vereinten Land beeinflusst. Gegen alle Widrigkeiten bleibt ihnen nämlich nichts Anderes übrig als zu ,funktionieren‘.8 Der Habitus des Funktionierens beinhaltet in diesem Fall, auch als Langzeitfolge, in einem als Kampf verstandenen Leben keine Ausfälle zu haben, keine Auffälligkeiten zu zeigen und keine Störungen zu verursachen.9

Auch wenn sich im Falle der Funktionierenden Generation kein prägendes Ereignis nachweisen lässt, das im Sinne Karl Mannheims als Schlüsselerlebnis angesehen werden könnte, wird sie von den besonderen Bedingungen der Nachkriegszeit10 geprägt, die rekonstruiert werden sollen, um die Handlungsmuster dieser „unauffälligsten“11 Generation in der DDR begreifen zu können. Der Historiker Hartmut Zwahr meint, diese Generation habe „meist weder ein prägendes Kriegsnoch ein tiefgehendes Nachkriegserlebnis“ gehabt. Wenn man im Sinne Karl Mannheims nach Schlüsselerlebnissen einer Generation fragt, mag diese Einschätzung stimmen. Doch sie vermag die Erfahrungswelt einer solchen Kindheit und Jugend und den hieraus erwachsenen, unausgesprochenen und unbewußten Verhaltenskodex nicht adäquat zu erfassen, der die funktionierende Generation ihr gesamtes Leben hindurch leitete.12 6 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 520. 7 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 521. (Zitiert wird hier Hartmut Radebold: Abwesende Väter. Folgen der Kriegskindheit in Psychoanalysen. Göttingen 2001, S. 172–173). 8 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 521. 9 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 521. 10 Als gemeinsamer Nenner für diese Alterskohorten kann die „kriegsbedingte[…] Belastung der Kindheit“ betrachtet werden. Auch wenn es in verschiedenen Regionen Unterschiede geben kann, ist beinahe jeder von den Folgen des Krieges berührt, sei es, dass es sich um die „Erfahrung der Bombardierung“, den „Tod des Vaters oder Demütigung der Mutter“, den Verlust der Wohnung oder auch um Flucht und Vertreibung handelt. (Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 35). 11 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 528. 12 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 522.

6 Generation mit stabiler Bindung? Die Funktionierende Generation (1936–1948) 

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In diesem Verhaltenskodex sind Gefühle wie Trauer, Kummer oder Verzweiflung unerlaubt.13 Man soll sich eher selbst überwinden, sich seinen Platz erkämpfen, statt zu zweifeln und zu klagen.14 Die Lebensmaxime der Funktionierenden fassen dementsprechend Ahbe und Gries wie folgt zusammen: „Nie wieder Opfer werden! Nie wieder von meinem Platz verdrängt werden! Nur nicht Außenseiter sein! Ich muß mehr leisten, um das wieder zurückzuerhalten, was meine Eltern verloren haben!“15 So beteiligen sich die Angehörigen dieses Generationszusammenhangs an dem Aufbau des Sozialismus, allerdings nicht mit dem ideologisch motivierten Engagement wie im Falle der Misstrauischen Patriarchen oder auch der Aufbau-Generation. Sie bleiben eher in der zweiten Reihe, politisch meistens inaktiv, im Alltag pragmatisch orientiert.16 Sie werden im Rahmen der sozialistischen Erziehung geformt, so dass sie „die politischen Grundmaximen und Grundregeln der sozialistischen Gesellschaft“17 internalisieren. Die äußere Anpassung an die Rituale ist jedoch nicht mit der tiefer gehenden Identifikation gleichzusetzen. In den Schulen der DDR wurden sie im Sinne der sozialistischen Ideologie erzogen und gebildet. Ebenso wie die Aufbau-Generation lernten und befolgten die Funktionierenden all die vorgegebenen Formeln, Regeln und Rituale des sozialistischen Alltags – der größere Teil von ihnen auch ohne tiefer gehende Identifikation.18

Sie funktionieren in dem sozialistischen System, versuchen nicht aufzufallen und warten ab, bis die Angehörigen der Aufbau-Generation die Bühne verlassen und ihnen den Weg zu dem langersehnten Aufstieg ebneten. Sie sind aber nicht nur in der DDR „im Aufstiegsstau stecken geblieben“.19 Nach der ,Wende‘ stehen sie wieder in der zweiten Reihe, diesmal hinter ihren Altersgenossen aus den alten Bundesländern,20 so dass sie lebenslang so gut wie unbemerkt bleiben. Diese Unauffälligkeit bewegt Ahbe und Gries dazu, in dem Generationszusammenhang eine klassische „Zwischenoder Brückengeneration“21 zu erkennen. Erst im einundzwanzigsten Jahrhundert  – meist im Ruhestand – scheinen die Funktionierenden dazu bereit zu sein, ihre Lebenserinnerungen zu präsentieren und dadurch eine Art Präsenzzeichen zu setzen und „sich als Generation darüber öffentlich zu verständigen.“22

13 Vgl. Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 35. 14 Vgl. Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 28. 15  Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 522. 16 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 523. 17 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 523. 18 Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 35. 19 Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 37. 20 Vgl. Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 37. 21 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 529. 22 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 522.

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 6 Generation mit stabiler Bindung? Die Funktionierende Generation (1936–1948)

Als Kinder erlitten die Funktionierenden die Nachkriegsnot. In den 1950er Jahren beobachteten sie als Schüler die Repressionen des Stalinismus.23 In den 1960er Jahren wurden sie vom westlichen Jugendstil mitgerissen.24 Beat-Musik, Radio-Jugendsender DT64 gehörten zu ihrer Erfahrungswelt, genauso wie der Kurswechsel nach dem Kahlschlagplenum 1965. Die Übernahme des westlichen „alltagskulturellen Stil[s]“25 unterscheidet diese Alterskohorte von der Aufbau-Generation. Ein Großteil dieser Generation wurde in ihrer Jugend in den späten fünfziger und in den sechziger Jahren ebenso von neuen popkulturellen Stilen – Stichworte: lange Haare und Beatmusik – ergriffen, wie in anderen Ländern auch. In der DDR war diese kulturelle Rebellion aus verschiedenen Gründen begrenzt.26

Verhindert wurde ebenfalls die politische Revolte, die 1968 den westlichen Nachbarn erfasste. Ob wir es im Falle der DDR mit der 68er-Generation zu tun haben, sind sich die Geschichts- und Sozialwissenschaftler nicht einig. Während Dorothee Wierling sich gegen diese Kategorisierung ausspricht, spricht Heinz Bude von der „Generation der 68er“ als einer Generation, die „ihren Takt in der Gesellschaft nicht durchsetzen“27 konnte. Auf das Scheitern der ostdeutschen 68er verweist ebenfalls Wolfgang Engler in Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land. Der Soziologe erkennt zwei Tiefpunkte im Werdegang dieser kleinen, politisch engagierten Gruppe, nämlich 1968 und dann erneut 1989.28 Die politisch und gesellschaftlich Engagierten, die in der friedlichen Revolution eine Führungsrolle übernommen haben, waren allerdings nur eine Minderheit in diesem Generationszusammenhang.29 Man kann hier zwar

23 Vgl. Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 35. 24 Vgl. Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR. Bernd Lindner erforscht das Muster der Übernahme der westlichen Kultur, das weit über das bloße Kopieren hinausgeht. Die Impulse gehen zwar von der westlichen Jugendkultur aus. Sie wird aber in der DDR produktiv angeeignet und führt zur „Herausbildung eigenständiger (Ost-)Varianten“. Lindner zufolge wäre es unangebracht, in diesem Kontext von einer „Verwestlichung des Ostens“ zu sprechen: „Zum einen handelte es sich um eine schöpferische Anverwandlung westlicher Kulturmuster auf die eigenen Lebensverhältnisse; zum anderen haben in diesem produktiven Reibungsprozeß Jugendliche der DDR eigenständige kulturelle Leistungen (wie die Rockmusik mit deutschen Texten oder eine breite Palette selbstorganisierter Jugendclubs) hervorgebracht. Sie haben das kulturelle Selbstverständnis ihrer Produzenten nachhaltig mitgeprägt – selbst dann, wenn diese Leistungen später von der FDJ bzw. dem Staat vereinnahmt wurden.“ (Lindner: Sozialisation und politische Kultur junger Ostdeutscher, S. 33–34). 25 Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 36. 26 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 523–524. 27 Von den Machern und Halbstarken. Die Bundesrepublik und ihre Generationen. Interview mit dem Soziologen Heinz Bude. In: Die Zeit (20.05.1999), zit. nach: Lindner: „Bau auf, Freie Deutsche Jugend“, S. 208. 28 Vgl. Engler: Kunde von einem verlorenen Land, S. 328–338. 29 Vgl. Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 37.

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den Keim einer Generationseinheit erkennen.30 Sie hatte jedoch keine Chance, sich endgültig als eine Generation im Sinne Mannheims zu etablieren. Das Führungspotential der „Bürgerbewegung“ stammte aus einem Zusammenhang, in dem man keimhaft eine Generationseinheit mit sehr homogenen DDR-Erfahrungen ausmachen konnte: Aus politischen Gründen wurden die meisten von ihnen in der DDR von höherer Bildung ausgeschlossen oder später in ihren Karrieren behindert. […] Der gemeinschaftsstiftende Diskurs dieser Proto-Generationseinheit pflanzte sich in einer „zweiten“ Kultur- und Kunstszene und über zahlreiche Untergrundzeitschriften fort. Nun, im Alter zwischen vierzig und fünfzig Jahren, führte ebendiese Gruppe für einen historischen Moment den politischen Umbruch an. Ihre Meinung, ihr Wort, ihre Entscheidungen waren für die friedliche Revolution richtungsweisend.31

Nichtsdestotrotz kann im Falle der Bürgerrechtler nicht ohne Vorbehalte von einer Generationseinheit gesprochen werden, worauf Ahbe und Gries explizit verweisen. Der Alltag nach der ‚Wende‘ entzog ihnen den Boden. Die für Generationsbildung unentbehrliche Kommunikation, die Herstellung einer gemeinsamen, identitätsstiftenden Erfolgserzählung kam nicht zustande. Eine Generationseinheit im Sinne der Generationstheorie ist im Generationszusammenhang der funktionierenden Generation nur keimhaft ausgebildet, nämlich in den siebziger und achtziger Jahren mit der relativ prägnant wirkenden Gruppe der Bürgerrechtler oder Bürgerbewegten. Doch ihre kulturell-politische Einheit konnte nach dem Fall der DDR-Diktatur nicht weiter an Profil gewinnen, ganz im Gegenteil. Die durch Demokratie und Marktwirtschaft vervielfältigten Möglichkeiten, sich individuell „selbst verwirklichen“ wie auch die differenzierten Reaktionsweisen auf den politischen Alltag des vereinigten Deutschland löste diese Generationseinheit auf. So konnte diese Gruppe nach 1990 auch keine – zur Herausbildung einer Generationseinheit erforderliche – einheitliche Erfolgs-Erzählung über sich selbst etablieren.32

Auch wenn wir es mit dem wohl unauffälligsten Generationszusammenhang in der DDR zu tun haben, der aus seinen Reihen nie eine Generationseinheit hervorgebracht hatte, spielt er eine kaum zu überschätzende Rolle in dem DDR-Generationsgefüge, nicht nur hinsichtlich seines Engagements in der friedlichen Revolution 1989. Er wirkte nämlich stabilisierend auf die Struktur der DDR-Gesellschaft, indem er sich der Aufbau-Generation unterordnete und geduldig auf seine Zeit wartete. Sein Habitus beeinflusste aber auch jüngere Generationen. Aus den Reihen der Funktionierenden stammen etwa die Eltern der Entgrenzten Generation, die wiederum die pragmatische und emotionslose Haltung zu spüren bekommt und sich nach emotionaler Wärme sehnt.33 Dementsprechend wäre ein generationelles Porträt der DDR, das nur die stark ausgeprägten Generationen berücksichtigte, unvollständig.

30 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 518. 31 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 528. 32 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 530. 33 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 521 (Fußnote 136).

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Hinter diesem in der Öffentlichkeit kaum als solchen zu erkennenden Generationenzusammenhang stehen auch keine Generationserzählungen, die mit dem starken Präsenzzeichen der Aufbau-Leute vergleichbar wären. Von den wenigen vorhandenen Lebensgeschichten werden hier nur zwei Texte ausgewählt, nämliche Landschaft in wechselndem Licht (2002) von Helga Königsdorf und Mauerblume (1999) von Rita Kuczynski. In beiden Fällen handelt sich um Akteure des literarischen Lebens, die eher in der zweiten Reihe stehen. Auch wenn Königsdorf in der ersten Phase nach dem Mauerfall sehr aktiv und auch öffentlich präsent ist, verliert sie in den darauffolgenden Jahren ihre Leser und steht eher im Schatten ihrer älteren BerufskollegInnen. Kuczynski erlangt weder in noch nach der ‚Wende‘ den Rang einer Repräsentantin. Auffallend ist allerdings, dass zu den öffentlich wenig beachteten Stellungnahmen eines kaum beachteten Generationszusammenhangs gerade Texte von Frauen gehören, die in dem öffentlichen Diskurs, aber auch in der generationellen Selbstverortung deutlich hinter den Äußerungen ihrer männlichen Pendants stehen. Als einer der wenigen Erfolgsautoren der Funktionierenden Generation, der auch gegenwärtig seine Erfolge feiert, darf Christoph Hein genannt werden. Seine 1997 herausgegebene „fiktive Autobiographie“34 Von allem Anfang an mag zwar autobiographische Elemente beinhalten, doch zeichnet sie nur die Atmosphäre der Jugend in der DDR der 1950er Jahre nach. Weder der Text noch der Paratext bringen das Problem der Selbstreferenzialität zur Sprache. Dadurch laden sie nicht zu einer Lesart ein, die das Autobiographische in den Vordergrund stellt. Gezeigt wird eher eine ganz ‚normale‘ Pubertät in einer eher nicht ganz ‚normalen‘ politischen Realität. Der sozialistische Staat findet am Rande Beachtung, greift jedoch ab und zu in das Leben des Heranwachsenden ein.

6.1 Schriftstellerin in einer Nische oder Rita Kuczynskis Mauerblume. Ein Leben auf der Grenze (1999) Rita Kuczynski ist der breiten Öffentlichkeit kein Begriff wie etwa Christa Wolf. Während ihre Werke nie den Bestsellerstatus erlangten, weckte ihr Name aber schon immer Assoziationen. Es handelt sich nämlich um – wie es Günter Hellmich in einer der wenigen Besprechungen von Kuczynskis Die Rache der Ostdeutschen auf den Punkt bringt – „Ex-Schwiegertochter des in der DDR schon fast legendären Politökonomen und Sozialhistorikers Jürgen Kuczynski“.35 Dieser Name erscheint wie 34 Christoph Hein: Von allem Anfang an. Roman. Frankfurt a.M. 2002 (Waschzettel). Der 2019 herausgegebene Band Gegenlauschangriff. Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege (Berlin 2019) rekonstruiert dagegen nur ausgewählte Episoden aus dem Leben des Autors. 35  Günter Hellmich: Rita Kuczynski Die Rache der Ostdeutschen (Sendung Das Politische Buch vom 19.07.2002). In: DeutschlandRadio Berlin, URL: http://www.deutschlandradio.de/archiv/dlr/sendungen/politischesbuch/167320/index.html (letzter Zugriff: 11.11.2017).

6.1 Schriftstellerin in einer Nische oder Rita Kuczynskis Mauerblume (1999) 

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ein Versprechen. Erwartet wird von den autobiographischen Äußerungen einer der Funktionärsfamilie entstammenden Autorin in erster Linie ein Einblick hinter die Kulissen des Herrschaftsapparates. Kuczynskis Lebenslauf erscheint jedoch auch aus anderen Gründen interessant. Geboren im Jahre 1944 in Neidenburg (Ostpreußen), wächst sie zwar in der DDR auf. Die ersten Jahre ihres Lebens wohnt sie aber bei ihrer Großmutter in Westberlin, was ihre Einschätzung des sozialistischen Landes beeinflusst haben mag. Ihr Leben scheint sie zunächst der Musik verschreiben zu wollen. Sie entscheidet sich aber letztendlich Philosophie zu studieren, um anschließend über Hegel zu promovieren. Zwischen 1971 und 1975 ist sie als Assistentin am Institut für Philosophie an der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin tätig. Nach der Promotion 1975 wird sie wissenschaftliche Mitarbeiterin. Im Jahre 1972 heiratet sie dann Thomas Kuczynski. Das Kritische Lexikon zur deutschen Gegenwartsliteratur behauptet, die Ehe habe bis 1998 gedauert.36 Die offizielle Homepage von Rita Kuczynski markiert dagegen das Jahr 1991 als Zeitpunkt der „Trennung von Thomas Kuczynski“.37 1981 beendet Rita Kuczynski ihre wissenschaftliche Karriere. Obwohl sie auf ihrer offiziellen Internetseite ihre Tätigkeit in der Zeitspanne 1981 bis 1990 als „freiberufliche Schriftstellerin“38 charakterisiert, verweist das KLG darauf, dass sie „zunächst Hausfrau“ war, bevor sie tatsächlich als freie Schriftstellerin und Journalistin zu wirken begann.39 Nach der ‚Wende‘ hatte sie zahlreiche Gastdozenturen und -professuren inne, etwa an der Columbia University in New York oder auch an der Universidad de Chile.40 Ihre Autobiographie Mauerblume ist wohl ihr bekanntestes Buch. Vergeblich suchen wir den Titel aber auf den Beststellerlisten. Nichtsdestotrotz gibt der Text einen interessanten Einblick in eine Nische, in der die Angehörigen der Funktionierenden Generation verweilten. Der Titel des 1999 veröffentlichten Bandes Mauerblume deutet weder auf den Inhalt41 noch auf die Form des über 300 Seiten starken Bandes hin. Der Untertitel eröffnet aber eine biographische Perspektive, weil er einen Einblick in „ein Leben auf der Grenze“ verspricht. Verzichtet wird jedoch auf das Possessivpronomen „mein“, so dass auf der Titelseite keine autobiographische Lesart in Aussicht gestellt wird. Nun

36 Vgl. Werner Jung: Rita Kuczynski. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1978ff. S. 1. 37 Homepage von Rita Kuczynski, URL: http://www.rita-kuczynski.de/cms/curriculum-vitae-de/ (letzter Zugriff: 12.11.2017). 38 Homepage von Rita Kuczynski. 39 Vgl. Jung: Kuczynski, S. 1. 40 Vgl. Jung: Kuczynski, S. 1. 41 Der Titel scheint auf die Bezeichnung „Mauerblümchen“ anzuspielen, die Sachverhalte und Personen meint, denen kaum Beachtung geschenkt wird.

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sorgen aber die Peritexte für die Perspektivierung des Leserblicks. Auf dem Cover wird das Werk eindeutig als Autobiographie avisiert: Rita Kuczynski erzählt ihr Leben und damit ein ganz eigenes Stück deutsch-deutsche Geschichte. Ein bestechendes Zeugnis eines mehrfach gewandelten Lebens im geteilten und noch lange nicht wiedervereinten Deutschland.42

Verwiesen wird auf ein ‚geteiltes‘ Leben in einem ‚geteilten‘ Land und zwar mit dem Hinweis, dass das hier beschriebene Schicksal der Autorin auch Einblick in die deutsch-deutschen Verhältnisse zu geben vermag. Das Versprechen scheint auch eine angeführte Textstelle zu bestätigen, an der die besondere Lage der Autorin zwischen Ost und West explizit angesprochen wird. Das Hin und Her zwischen zwei Welten war mein natürlicher Lebenshintergrund. Grenze zwischen Ost und West, Demarkationslinie im Kalten Krieg. … Ich hatte mein Leben nicht nur teilen gelernt in ein falsches und ein wahres. Ich habe diese Teilung auch gelebt. (RKM Rückseite des Covers)

Die besagte Teilung bedeutet aber nicht nur eine politische in die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik, sondern auch in ein ‚falsches‘ und ‚wahres‘ Leben, was zwar nicht näher charakterisiert wird, wohl aber auf die Existenz in einem Zwangssystem, dem man sich unterzuordnen hat, hindeutet. Diese Vermutung wird in der Charakteristik im Klappentext bestätigt und präzisiert: „Wie sie immer wieder der Umklammerung durch die Politik zu entkommen versuchte, im fremd bestimmten das eigene Leben zu finden hoffte, davon erzählt sie in ihrer Autobiographie.“ (RKM hintere Klappe) Die Eingeweihten denken an dieser Stelle wohl nicht nur an das sozialistische System der DDR, sondern auch an die besondere Familienkonstellation, deren Teil sie nach der Heirat wird. Die Gestalt des Schwiegervaters, der mit dieser Welt der Politik eindeutig identifiziert werden kann, wird im Klappentext ebenfalls zur Sprache gebracht. Auf der Suche nach einer Nische flüchtet sie sich in die Philosophie. Doch hier markieren Denkverbote die Grenzen der Freiheit. Es folgt die Flucht in die Ehe, ein innerer Rückzug, der auch vom Schwiegervater Jürgen Kuczynski, dem angesehenen DDR-Ökonomen und Redenschreiber Honeckers, nicht unbemerkt bleibt. (RKM vordere Klappe)

Die Protagonistin wird als eine Unangepasste dargestellt, die eher durch Zufall in der DDR gelandet ist und sich vergeblich zurechtzufinden versucht. Aufgewachsen ist sie nämlich in Berlin und konnte sich zwischen den beiden Teilen der Stadt frei bewegen,

42 Rita Kuczynski: Mauerblume. Ein Leben auf der Grenze. München 1999 (Rückseite des Covers). Im Folgenden werden Zitate als Sigle RKM mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen.

6.1 Schriftstellerin in einer Nische oder Rita Kuczynskis Mauerblume (1999) 

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was auch als selbstverständlicher Teil ihrer Erfahrungswelt dargestellt wird. Zum Leben in der DDR wurde sie von ihrer Mutter verurteilt. Ihre Kindheit verbrachte Rita Kuczynski in Berlin, in beiden Teilen der Stadt. Unten im Turnbeutel hatte sie die weiße Tenniskleidung versteckt, die sie gegen den blauen Faltenrock eintauschte, wenn sie zur Großmutter nach Schlachtensee fuhr. In Westberlin bekam sie Klavierunterricht und bereitete sich gerade auf die Aufnahmeprüfung für das Konservatorium vor, als ihre Mutter, eine überzeugte Sozialistin, sie in den Ferien zu sich holte. Es war der August 1961. (RKM vordere Klappe)

Dieser Punkt wird im Klappentext als Zäsur dargestellt. Das Gefühl, gegen seinen Willen eingesperrt zu werden, scheint das erzählte Ich der Aufbau-Generation näher zu stellen als seinen Altersgenossen. Allerdings mit dem bedeutenden Unterschied, dass die Älteren eine Wahl hatten, während über das Schicksal der Jüngeren ohne ihren Willen entschieden wurde. Von nun an sucht die Protagonistin nach Zufluchtsorten, sei es in der Musik, sei es in der Philosophie oder in der Ehe. Die mehrfach unternommenen Anpassungsversuche misslingen immer wieder. Die Teilung wird auch symbolisch durch die Bildermontage auf dem Cover widergespiegelt. Der Titel wird zweigeteilt, und zwar durch eine blaue und eine weiße Farbe. Auf einem im Zentrum stehenden Bild sind Fenster eines hinter der Mauer stehenden Hauses erkennbar, was im Hinblick auf den darunter stehenden rot gedruckten Untertitel Ein Leben auf der Grenze an die Grenze zwischen Ost und West, präziser an die Berliner Mauer und die hinter ihm eingesperrten Einwohner denken lässt. Die im Hintergrund stehenden Fotografien sind grau. Die grellen Farben des Titels und des Umschlags betonen noch zusätzlich die schwarz-weißen Bilder der DDR und dadurch auch die Kluft zwischen den beiden Welten. Das Leben von Rita Kuczynski wird in der Autobiographie konsequent chronologisch erzählt. So fängt auch diese Erzählung mit der Frage nach den Wurzeln an. Am Anfang der Geschichte steht der Krieg, an den sich die Erzählerin zwar nicht erinnern kann, der aber in ihrem Leben gegenwärtig bleibt, nicht zuletzt durch die Bedeutung, die ihm ihre Eltern zuschreiben. Für den Vater, zu dem sie kein inniges Verhältnis hatte, und für die Mutter, der sie die Schuld für ihr missglücktes Leben zuschreibt, scheint der Krieg ein Schlüsselerlebnis gewesen zu sein. Und so vererben auch die Kinder eine bestimmte Vorstellung des Krieges, dem sie dem Bericht der eigenen Mutter zufolge ihre Existenz zu verdanken haben. Bei Tisch hat meine Mutter oft erzählt, ich sei ein echtes Urlaubskind, meine Schwester auch. Damit meinte sie, wenn mein Vater im Juni 1943 nicht auf Fronturlaub gekommen wäre, wäre ich nicht im Februar 1944 geboren worden. Sie wollte, falls mein Vater im Krieg fiele, wenigstens ein Andenken von ihm haben. (RKM 7)

Eröffnet wird diese Autobiographie mit einer Frage, die sämtliche Autobiographien aufwerfen, nämlich, wer man sei, und wie selbst- oder fremdbestimmt die eigene Existenz ist. Ein Leben scheint hier in Dienst einer anderen Sache gestellt zu werden, ohne dass dabei die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zur Geltung gebracht

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werden können. Den ,heißen‘ Krieg kennt die Autobiographin nur aus Erzählungen (vgl. RKM 8). Er ist aber nach wie vor Gesprächsthema während der Familienfeier, steht aber auch im Zentrum des vom Vater initiierten Spiels. „[D]er Vater spielte mit uns heißen Krieg und den Angriff der Russen auf das deutsche Feldlazarett. Dann hatte ich mit meinen Geschwistern einen Sanitätszug zu bilden“ (RKM 8), erinnert sich Kuczynski im Rückblick auf ihre frühen Erlebnisse. Der Zweite Weltkrieg wird jedoch ausdrücklich nicht als Teil ihrer Erfahrungswelt klassifiziert. Was sie als zentrale Prägeerfahrung namhaft macht, ist der Kalte Krieg, den sie zwar nicht verstand, trotzdem mit ihm zu leben hatte: „Ich wuchs in einer geteilten Stadt auf: Sitz von vier Siegermächten. Jede Macht hatte ihren eigenen Sektor von Berlin, mit eigener Militärpräsenz. Mit der Berliner Stadt-Bahn konnte ich alle vier Sektoren für einen Groschen durchfahren.“ (RKM 10) Sie nehme die Teilung als gegeben hin, ohne sich dabei Gedanken zu machen (vgl. RKM 12). Zwei Stadtteile mit zwei verschiedenen Normen und Werten werden für sie zur Normalität (vgl. RKM 12), in die sie hineingeboren wurde und die sie auch in der eigenen Familie erlebte. Während für den in West-Berlin lebenden Großvater der „Ostopa“ ein Feind war, weil er der SED angehörte und „russenfreundlich“ war, hielt der Großvater in Ost-Berlin den „Westopa“ für einen Feind, weil er Mitglied der CDU war und „die Amerikaner unterstützte.“ (RKM 13) Die Machtverhältnisse innerhalb der Familie werden allerdings nicht als ein existentielles Problem dargestellt. Das Kind von damals, das noch über kein politisches Bewusstsein verfügte, nahm nur Eindrücke auf und ordnete sie in seine kindliche Erfahrungswelt ein. Die Einsicht kam erst später (vgl. RKM 13). Die Erzählerin versucht das Ich der Kindheitsphase nicht zu verklären und als ein scharfsinniges Wesen zu stilisieren. Im Gegenteil, gezeigt wird eben die Sicht eines Kindes, das die Wirklichkeit hinnimmt, ohne unnötige Fragen zu stellen. Und so werden auch  die Grenzüberschreitungen zu einem „Spiel“. Kuczynski behauptet, sich damals vorgenommen zu haben, „unerkannt“ (RKM 17) zu bleiben. „In den wärmeren Jahreszeiten zog ich mich im Gebüsch um, im Winter in Hausfluren, damit ich am Ort, den ich aufsuchte, aussah wie eine Einheimische.“ (RKM 18) Sie scheint Farben wie ein Chamäleon zu wechseln. Die Kunst der Camouflage beherrscht sie meisterhaft, was zwar positiv gedeutet werden kann, die erfolgreiche Anpassung deutet aber darauf hin, dass wir es beinahe mit einer Gestalt ohne Eigenschaften zu tun haben. Sind derartige Rollenspiele im Falle eines Kindes eher eine der psychologischen Norm entsprechende Phase, erweisen sich lebenslange, in den späteren Jahren auch weniger erfolgreiche Anpassungsversuche als etwas problematischer. In dieser scheinbar unbedeutenden Beschreibung des Spiels, das in der Tarnung und dem Pendeln zwischen zwei Welten besteht, von denen sich das Objekt keiner innerlich angehörig fühlt, kommt eine Dominante dieser Lebenskonstruktion zum Vorschein. Eine wichtige Rolle kommt in den autobiographischen Erörterungen der Gestalt der Mutter zu. Das Mutter-Tochter-Verhältnis verläuft aber nicht reibungslos und friedlich ab. Die Erzählerin scheint eher mit ihr abzurechnen, als ihr ein Denkmal setzen zu wollen. Die Mutter war eine überzeugte Anhängerin der Sozialistischen

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Einheitspartei und diente mit aller Kraft dem Arbeiter- und Bauernstaat, weswegen sie aus der Sicht der Tochter auch ihre Kinder vernachlässigte. Ich war eifersüchtig und wütend auf die Partei, in der meine Mutter Mitglied war, und für die sie bald als Partei-Funktionärin arbeitete. Ich will sagen, meine Mutter und auch mein Ostopa hatten nie Zeit für mich, weil sie ständig für das Glück der ganzen Menschheit unterwegs waren. Das war ihnen immer wichtiger als ich, und das kränkte mich. Mein Westopa, der von Ost-Berlin her gesehen ein Feind war, hatte alle Zeit für mich. (RKM 16)

Als Glücksfall stellt die Erzählerin den Umstand dar, dass sie gerade bei den Großeltern in Westberlin unterkommt, weil ihre Mutter „unermüdlich“ „für die Menschheit“ (RKM 23) kämpfen muss und so keine Zeit hat, um ihren Mutterpflichten nachzukommen. Der Umzug wird als eine glückliche Fügung dargestellt. Die Erzählerin gelangt zu einem Ort, an dem sie sich heimisch fühlt: „Dort stand mein Klavier, dort fühlte ich mich zu Hause.“ (RKM 23) Hier wird ihre große Liebe zur Musik gepflegt. Sie bereitet sich auf ein Konservatorium vor, macht Zukunftspläne, bis zum 13. August 1961, als das bisher geordnete Leben auseinanderfällt. Dass sie endgültig in der DDR eingesperrt sei, verdankt sie ihrer eigenen Mutter. Den Umstand vermag die Erzählerin nicht mit Mutterliebe, sondern mit dem mütterlichen Egoismus zu erklären. Skizziert wird die Geschichte eines Verrats, der einen tiefen Einschnitt in der Biographie des Kindes von damals markiert und für die späteren Tragödien verantwortlich zu sein scheint. Meine Mutter hatte in der Nähe von Berlin ein Sommerhaus gekauft. Es war Brauch, daß ich einige Zeit der Sommerferien bei den Eltern war. Meine Mutter hatte das Bedürfnis, ihre wenigen Urlaubstage auch mit mir zu verbringen. Schließlich sei ich ihre Tochter. […] Noch beim Frühstück am 11. August fragte mich meine Großmutter, ob ich wirklich fahren wollte, die politische Situation sei so gespannt. Doch ich wollte nichts hören von den Ost-West-Spielen und von Politik. So trieb ich am Sonntag, dem 13. August, auf einem See in Ostdeutschland und erfuhr erst einen Tag später, daß die Mauer stand. Jahrelang habe ich darüber nachgedacht, ob meine Mutter, die zu dieser Zeit schon eine kleine Karriere in der stalinistischen Partei gemacht hatte und in der Abteilung Propaganda der SED-Kreisleitung arbeitete, vom Mauerbau wusste. Nie bin ich den Verdacht losgeworden, daß sie mich mit dem Versprechen, das Segelboot ein ganzes Wochenende nutzen zu dürfen, in den Osten gelockt hatte. (RKM 24–25)

Sie bleibt eingesperrt in einem Land, dessen Verhältnisse sie nicht mehr versteht, in einer Familie, die zwar ihre leibliche ist, von der sie sich allerdings durch die Jahre in West-Berlin entfernte. Zuflucht sucht sie in dem einzigen ihr vertrauten Bereich, nämlich der Musik. Da sie die Atmosphäre im Elternhaus als unerträglich wahrnimmt, spielt sie sich „in einen Trancezustand“ (RKM 26). Musik erscheint als eine Art Flucht aus der als bedrückend empfundenen Lebenswirklichkeit und Melodien fungieren als eine Art Schutzschild: „Solange ich spielte, kam nichts und niemand an mich heran“ (RKM 27), erklärt sie rückblickend ihr an Besessenheit grenzendes Klavierspielen. Dieser Weg mündet aber in einen Nervenzusammenbruch, nach dem sie ihre Töne nicht mehr hört (vgl. RKM 28). „Mein eher unfreiwilliger Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik begann also mit der schrittweisen Entlassung aus der Ner-

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venklinik“ (RKM 29), fasst sie ihre Ausgangslage zusammen. Ihre „Entfremdung“ (RKM 33) scheint sie ihr Leben lang nicht überwunden zu haben. Sie führt zu mehrmaligen Selbstmordversuchen. Die Protagonistin will auch den Entschluss gefasst haben, an den sie sich übrigens auch konsequent hält, nie Kinder zu kriegen, weil sie sich die Möglichkeit offen lassen will, jederzeit von dieser Welt Abschied nehmen zu können, ohne von derartigen Verpflichtungen aufgehalten zu werden (vgl. RKM 56). Das erzählte Ich bleibt unangepasst, greift zu immer neuen Gelegenheitsarbeiten (vgl. RKM 32), liest Klassiker wie Hölderlin, Schiller, Kleist, Büchner und Eichendorff (vgl. RKM 36), bleibt aber immer noch in einer Art „Dämmerzustand“ (RKM 38) stecken. Physisch ist sie zwar in der DDR, innerlich lebt sie in einer Parallelwelt, was sie allerdings vor den Außenzwängen nicht ausreichend zu schützen vermag. Aber ich weigerte mich, mich mit den Verhältnissen auseinanderzusetzen, in denen ich lebte. Ich lief, als hätte ich selbst eine Decke über mich geworfen, die mich unsichtbar machte, auch vor mir selbst. […] Ich wollte nichts wissen von der DDR, von Politik und vom sozialistischen Tralala. Ich las auch keine Zeitung zu jener Zeit. (RKM 38)

Lange schlägt sie sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, vor allem im Glühlampenwerk (vgl. RKM 47), was ihr zwar kein luxuriöses Dasein ermöglicht, wohl aber ein „spartanisches Leben“ (RKM 48), das sie „mit dem Konsum philosophischer Literatur“ (RKM 48) ausgleicht. Durch Hegel kommt sie zu den vertrauten Tönen, die sie bereits in der Musikwelt genossen hatte. Die Hegelschen Sätze erinnern sie an die „Kunst der Fuge“. „Endlich widerschien da etwas aus meiner zerbrochenen musikalischen Existenz, das mir vertraut war, ein Rhythmus, ein Klang, an denen ich festhalten wollte, unbedingt.“ (RKM 50) So fasst sie auch den Entschluss, Philosophie zu studieren, ohne eine Ahnung davon zu haben, dass die in der DDR nicht ohne ideologischen Beigeschmack möglich ist. Das Studium gewährt ihr auch Einblick hinter die Kulissen der DDR-Ideologie, genauer gesagt den Kontakt zu der ihr vorher unbekannten Schicht der „AntifaKinder“ (RKM 65), d.h. Kindern von antifaschistischen Widerstandskämpfern, der eigentlichen Prominenz der DDR. Hier schließt sie Freundschaften, scheint endlich Anschluss an eine Gruppe gefunden zu haben und erlebt auch die Paradoxien des Lebens in einer Diktatur (vgl. RKM 68). Ich fühlte mich sicher unter dem Schutz von Jonas [Vater einer Freundin – K.N.], der in seiner Funktion als Generalmajor der deutschen Volkspolizei wesentlichen Anteil daran hatte, daß ich festsaß, in diesem Land, aus dem ich nicht herauskam. […] Ich fühlte mich sicher in dem Haus eines Parteifunktionärs, der maßgeblich dafür sorgte, daß ich lebend nicht hinüberkam über den antifaschistischen Schutzwall […]. (RKM 68)

Zwiespältige Gefühle begleiten sie auch in ihrem Verhältnis zu der Familie Kuczynski, in der sie sich zum ersten Mal in der DDR wohl fühlt, die Diskrepanz zu den sozialistischen Losungen jedoch nicht übersehen kann. In diese Verhältnisse will sie wieder unwissend geraten sein. Den Sohn Jürgen Kuczynskis heiratet sie

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nämlich, ohne auch nur zu wissen, wer dessen Vater ist (vgl. RKM 129–130). Im Falle der Beziehung zu Emanuel, wie sie Thomas Kuczynski nennt, handelt es sich um eine „Liebe aus Erschöpfung“. (RKM 127) Paradoxerweise findet sie ein Zuhause in der Familie eines Funktionärs. Die Anpassung verläuft aber nicht reibungslos. Den ersten Kontakt zum Familienkreis beschreibt sie als eine Art Schocktherapie. Mitten in Ostberlin gibt es nämlich eine Welt, die sie weniger an die Ideale des Sozialismus als vielmehr an das bürgerliche Haus ihrer Westgroßmutter erinnert. Das Meißener Porzellan, Stoffservietten, der Kronleuchter über dem Tisch passen nicht zu dem ihr bekannten Leben im Arbeiter- und Bauernstaat, dem ihre Mutter so engagiert gedient hatte. Ich begriff nicht genau, wo ich hineingeraten war, aber ich verstand, daß ich irgendwo hineingeraten war, wo ich eigentlich nichts zu suchen hatte. Da war diese eigenwillige Diskrepanz zwischen feinster Mousse-Schokolade, wie ich sie aus ferner Zeit bei meiner Großmutter gegessen hatte, und Lob auf die letzte Rede von Honecker, die so vorzüglich war. An der Wand im Eßzimmer hing ein Original von Käthe Kollwitz. Ich bekam das Puzzle nicht zusammen. Die Beklemmung stieg in mir auf und eine unbändige Wut, in der auch Haß war. Das war also die bourgeoise Variante der DDRElite. Sie konnte Mousse-Schokolade, Liebermann und die Dummheit eines Erich Honeckers in ein Gespräch bringen, ohne daß sie sich am Rinderfilet verschluckte. (RKM 133)

Die Empörung der ersten Stunde legt sich jedoch nach und nach. Kuczynski erfährt mehr von der Familie, ihrer Vergangenheit, aber auch ihrer familiären Zuneigung und Warmherzigkeit, die sie in weiteren Kapiteln ihrer Autobiographie ausdrücklich skizziert (vgl. RKM 148). Nach Jahren der Unruhe kommt endlich eine „Erholungsphase“. Die Protagonistin genießt den „Schutz der Familie, die konsequent zu [ihr] hielt“ (RKM 151). Auch wenn man sie politisch für „nicht zurechnungsfähig“ (RKM 148) hielt, wird der Umgang als freundlich charakterisiert. Es wird ihr aber auch bewusst, dass sie „in eine der privilegiertesten Familien der DDR“ (RKM 135) geheiratet habe. Es handelt sich um die Schicht der Antifaschisten, die nach dem Exil die Deutsche Demokratische Republik zu ihrem Zuhause wählten und am sozialistischen Projekt bauten. Die Eltern von Emanuel waren in freiwilliger Entscheidung nach ihrer England-Emigration in die DDR gegangen. Sie haben selbstbestimmt entschieden, ihre intellektuelle Potenz dem Aufbau einer sozialistischen DDR zur Verfügung zu stellen. Sie waren doppelt privilegiert, denn sie waren in dritter oder vierter Generation bürgerliche Intellektuelle und von daher all den im Schnellverfahren aus der Arbeiter- und Bauern-Fakultät gestanzten Intellektuellen unendlich überlegen. Darüber hinaus waren sie nach ihrer Emigration aus England als jüdische Antifaschisten in die DDR gekommen, in der der Antifaschismus als Legitimationsideologie des sozialistischen Aufbaus verordnet worden war. (RKM 135)

Rita Kuczynski kann sich zwar keinen heldenhaften Lebenslauf zusammenbasteln, sie passt sich aber trotzdem an, indem sie „die Rolle, die Kuczynski zu spielen“ (RKM 157) annimmt. Ihre „Anpassungsspiele“ (RKM 159) unterscheiden sich nicht allzu sehr von dem kindlichen Umzugsspiel während des Pendelns zwischen Ost- und

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 6 Generation mit stabiler Bindung? Die Funktionierende Generation (1936–1948)

Westberlin. Die neue Identität scheint sie perfekt einverleibt zu haben, so dass sie in den neuen Rahmenbedingungen einwandfrei zu funktionieren vermochte. Ich prägte einen Stil, leichte dunkle Wollstoffe, Seide und Chiffon, in denen ich mich verbergen konnte. Der Stil wurde später in der Akademie imitiert. Ich trug den Schmuck meiner Großmutter und wechselte den Schritt. Ich erinnerte mich an den bürgerlichen Teil meiner Erziehung und lernte von der Schwiegermutter, französische Soßen zu machen und Plumpudding zu kochen. Emanuel war zufrieden mit mir. (RKM 157)

Obwohl die Anpassung äußerst erfolgreich verlaufen zu sein scheint, handelt es sich nicht um eine endgültige Korrektur der eigenen Lebenshaltung, sondern eher um eine neue Methode der Tarnung um der Ruhe willen. „Ich baute mein Versteck weiter aus“ (RKM 141), gibt sie zu und verweist auf den sozialistischen Glauben ihres Ehemanns (vgl. RKM 147), den sie kaum teilen konnte. Emanuel sei doch ein Heldenkind gewesen, das von seiner Mission überzeugt war: „Als Kind von ,Siegern der Geschichte‘ hatte er […] keine Zweifel an der Pflicht, Führer in diesem Kampf zu werden. Diese Pflicht schien sein Erbe, von den Eltern dem Sohn übertragen.“ (RKM 153) Rita Kuczynski verweist auf politische Ansichten der Generation der Misstrauischen Patriarchen, die von deren Kindern übernommen wurden. So bildete sich auch in der nächsten Generation eine dünne politische Elite heraus. Dass die Patriarchen zur Grundlage des Arbeiter- und Bauernstaates wurden, ist auch der Erzählerin bewusst. Sie scheint die Hierarchie des ‚antifaschistischen‘ Landes wahrgenommen und akzeptiert zu haben. Dass es sich um einen Mythos handelte, scheint ihr ebenfalls bewusst zu sein. Wenn Jürgen Kuczynski nicht freiwillig als antifaschistischer Immigrant aus England in die DDR gekommen wäre, hätte er wie Stephan Hermlin als Autorität mit bestimmten Merkmalen von der Partei erfunden werden müssen. Wichtig war die Kombination von Antifaschistischem, Kommunistischem und Bildungsbürgerlichem in einem Intellektuellen. Das Antifaschistische und Kommunistische diente der politischen Legitimation, daß sie mehr sagen durften als andere Intellektuelle, und das Bildungsbürgerliche der geschichtlichen Tradition revolutionärer Bourgeois, deren Erbe von der DDR, der offiziellen Propaganda nach, angetreten worden war. (RKM 185)

Die stabilen Strukturen des DDR-Systems, die sie zwar nicht völlig akzeptiert, aber doch hingenommen hat, beginnen für die Protagonistin im Jahre 1976 zu schwanken. Da ihre Empörung dem Kuczynki-Clan zu Willen nicht öffentlich ausgetragen werden darf, zerbrechen für sie auch jegliche Familienbande. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns wird in der autobiographischen Erzählung nicht als eine politische, sondern beinahe als eine existentielle Zäsur wahrgenommen. Rita Kuczynski gibt zu, dass sie nicht die Kraft gefunden habe, um sich zu widersetzen. Der Schutz der Familie Kuczynski hatte nämlich auch seinen Preis. Und so wird sie auch zur Zeugin der Heuchelei und muss auch ihr eigenes Versagen – ob aus Feigheit oder aus Opportunismus – zugeben. Sie ordnet sich dem Familienwillen unter und unterschreibt keine Petition. Der innere Riss ist aber nicht mehr zu heilen.

6.1 Schriftstellerin in einer Nische oder Rita Kuczynskis Mauerblume (1999) 

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Als Wolf Biermann 1976 ausgebürgert wurde, war ich empört und begann meinen Protest nicht nur in der Akademie lauthals zu äußern. So etwas tut man nicht. Ein Land, das seine Sänger nicht aushält, ist am Ende, argumentierte ich. Da bekam ich die geballte Macht der Familie zu spüren. Emanuel beschwor mich, keinerlei Protestschreiben zu unterzeichnen, und suchte für seine Argumente Schutz in der Familie. Mein Schwiegervater, der selber bestürzt war über die Ausbürgerung und sie im Familienkreis als „Blödheit“ bezeichnete, warnte mich väterlich autoritär, an keinerlei Protestaktionen teilzunehmen. Ich könne mich nicht gegen die Partei stellen. Die Partei habe immer recht, selbst im Unrecht, war sein opportunistischer Schluß, mit dem er selbst alle politischen Krisen in der DDR erlebte. […] Ich war zu schwach, um Widerstand zu leisten. Aber ich wußte, das Maß meiner Kompromißbereitschaft war überschritten. Ich wußte, ich würde mich nicht erholen von diesem Zugeständnis. (RKM 159–160)

Wird ihre Haltung bis zu diesem Zeitpunkt als unangepasst dargestellt, markiert das Jahr 1976 einen eigenartigen Rückzug aus dem Rampenlicht. Äußerlich scheint alles beim Alten geblieben zu sein. Sie ist immer noch Frau von Emanuel, allerdings wird die wachsende Distanzierung rekonstruiert. Nach der Dissertation nimmt sie auch Abschied von der Philosophie und entscheidet sich als Hausfrau tätig zu bleiben, was als ein gutes „Versteck“ (RKM 177) präsentiert wird, weil niemand sie ernst genommen habe. Die in weiterem Teil der Autobiographie skizzierte Haltung steht der Pose der inneren Emigranten nahe, die zwar das Land nicht verließen, aber von sich behaupteten, den inneren Rückzug angetreten zu haben: „Ich war raus aus allem. Oder besser. Ich war voll drin. Wenn ich noch weiter rausgewollt hätte, hätte ich die DDR auch physisch verlassen müssen.“ (RKM 179) Auch ihren Wechsel zum Schriftstellerberuf deutet sie als inneren Rückzug: „Ich war ins Arbeitszimmer emigriert. […] Ich war fortgegangen, ohne den Ort gewechselt zu haben, auf dem ich mich aufhielt.“ (RKM 192) Als der nächste Fluchtversuch wird ihre Affäre gedeutet, als sie – obwohl immer noch auf dem Gebiet der DDR – mit ihrem Geliebten „ein Leben […] jenseits der DDR“ (RKM 198) lebte. Die Stilisierung zur inneren Emigrantin erscheint aber nach wie vor etwas problematisch. Kuczynski bleibt zwar politisch ostentativ passiv, ihre Lebenshaltung, wenn auch distanziert, kann aber nicht ohne Vorbehalte als oppositionell charakterisiert werden. Außerdem – im Gegensatz etwa zu den Künstlern im Dritten Reich – erhielt sie auch kein Schreibverbot, wurde an ihrer Karriere kaum gehindert. Ihre Lage unterscheidet sich auch eindeutig von der Situation etwa Günter de Bruyns, der tatsächlich am öffentlichen Leben beteiligt war, bevor er sich entschied, für eine gewisse Zeitlang ‚auszusteigen‘ und durch seine Aktivität den sozialistischen Staat nicht mehr zu unterstützen. So kann der Selbststilisierungsversuch Rita Kuczynskis kaum übersehen werden. Das angebliche Schuldbekenntnis wird durch das zum Teil rechtfertigende Bild einer inneren Emigrantin korrigiert und infolge dessen auch relativiert. Konstruiert wird eher eine unschuldige Opfergestalt, die auf ihrem Rettungsweg nach einer Nische suchte. Dass sie als Angehörige einer Funktionärsfamilie Wirkungsmöglichkeiten hätte, wird in der Autobiographie abgestritten. Die Wende- und Nachwendezeit wird in Mauerblume als Geschichte einer Emanzipation dargestellt, und zwar nicht nur der DDR-Bürgerin, sondern auch der Frau

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 6 Generation mit stabiler Bindung? Die Funktionierende Generation (1936–1948)

und seit kurzem auch der Schriftstellerin Rita Kuczynski. Allerdings ist auch die Beschreibung dieser Phase nicht frei von Widersprüchen und Selbststilisierungsversuchen. Einerseits beschreibt sie ihren Wunsch, die DDR zu verlassen (vgl. RKM 218), was sie auch durch ihre Amerika-Reise verwirklicht. Andererseits verweist  sie  auf ihre Angst, die sie als „Angst vor der Freiheit nach langem Eingesperrtsein“ charakterisiert und mit einem bekannten „Symptom von Häftlingen nach der Entlassung“ (RKM 219) vergleicht. Sie kehrt in die DDR zurück, weil es in ihrer „selbstbestimmten Entscheidung“ gelegen habe. „Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich die freie Wahl zwischen den beiden Weltsystemen“ (RKM 228), fügt sie hinzu. Und obwohl sie auf den letzten 200 Seiten ihrer Autobiographie dem Leser näher gebracht hatte, wie unwohl sie sich in der DDR fühlte, will sie nicht in den USA bleiben. Diese Entscheidung führt sie auf ihr neues Rollenverständnis zurück. Nach dem Hegel-Buch gilt sie nämlich als Schriftstellerin und obwohl sie behauptet, anfangs Probleme mit einer solchen Zuschreibung gehabt zu haben, scheint sie nun zufrieden mit ihrer neuen Rolle zu sein. „Denn ich ahnte, nirgendwo sonst wurden kritische oder staatstreue Intellektuelle und Künstler so ernst und wichtig genommen, wie in den sozialistischen Ländern“ (RKM 234), erklärt sie ihre Entscheidung. Nun stellt sich aber die Frage, welcher Seite Rita Kuczynski zuzuordnen ist. Ihrer Beschreibung nach will sie keine staatstreue Autorin gewesen sein. Sie als eine oppositionelle Intellektuelle zu charakterisieren, wäre aber zu gewagt. Zu diesem Zeitpunkt ist sie auch nicht mehr am Philosophischen Institut tätig. Als Schriftstellerin ist sie auch kaum bekannt, weil sie mit dem Schreiben erst vor kurzem begonnen hatte. Sie scheint aber in dem DDR-System eine Nische für ihre freie Entfaltung gefunden zu haben, die sie anscheinend nicht verlieren wollte. Sie berichtet von Privilegien, die auch ihr zuteilwurden. Ja, die Privilegien – während ich sie als Angehörige hatte und jetzt zynisch nutzte, rangen DDRBürger, die zu keiner Prominenz oder Nomenklatura gehörten, immer hartnäckiger um sie. Während ich mich von meinen Westreisen im DDR-Mief erholte, verfaßten Bürger Staatsratseingaben, um reisen zu können. […] Während ich mit Lack aus dem Intershop das Parkett versiegeln und neues legen ließ, wurde die sowjetische Zeitung Sputnik von der DDR-Postliste gestrichen, weil sie zuviel Glasnost über die Sowjetunion berichtete. (RKM 245–246)

Nur zwischen den Zeilen klingt das leise Schuldbekenntnis einer mit dem Ausbau einer neuen Wohnung beschäftigten Angehörigen der Nomenklatura an, die den Ernst der Lage unterschätzt hatte. Schließlich räumt sie auch ein, dass sie in einem „politischen Tiefschlaf“ (RKM 257) steckte, aus dem sie erst am 9. November 1989 herausgerissen wurde. Die jubelnde Stimmung der Nacht, in der die Mauer fiel, kann sie jedoch nicht teilen. Sie war zu diesem Zeitpunkt dabei, sich in der DDR einzurichten, sie schloss eine Art Frieden mit den Umständen, unter denen sie nicht mehr litt. Und plötzlich platzt ihre heile Welt wie eine Seifenblase und stellt sie wieder vor neue Herausforderungen auf ihrer Reise ins Unbekannte.

6.2 „Mathematikerin mit ungehörigen Träumen“. Helga Königsdorf 

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Ich begriff, mein Leben in den Gärten der Nomenklatura war zu Ende. Eine unbeschreibliche Wut überkam mich, denn gerade war ich dabei gewesen, mich mit mir selbst in der DDR häuslich einzurichten. Gerade hatte ich aufgehört, mit Gott und der Welt zu hadern. Ich hatte mich nach 28 Jahren DDR endlich schreibend in den Irrsinn hineingefunden und wollte alles tun, um bei mir zu bleiben. (RKM 258)

Ihre Welt fällt auseinander, zumal auch ihr Mann endlich auszieht und sich ein neues Leben mit einer anderen Frau aufbaut (vgl. RKM 283–284). Auch im vereinten Deutschland will die Erzählerin „die Einzelgängerin wider Willen“ (RKM 306) geblieben sein, diesmal allerdings frei von jeglichen Beruhigungsmitteln, von denen sie endgültig Abschied genommen habe (vgl. RKM 291). Sie habe sich in den neuen Verhältnissen „[p]rovisorisch“ (RKM 294) eingerichtet. Zuflucht findet sie diesmal aber weder in der Musik noch in der Philosophie, sondern im Schreiben. „Daß das Schreiben mein Leben ist, klang zu pathetisch, um es auszusprechen“ (RKM 312), bekennt sie auf den letzten Seiten ihrer Erinnerungen. Der Tonfall ist versöhnlich. Die inneren Unruhen scheinen sich gelegt zu haben, was allerdings weniger mit der Geschichte der DDR zusammenzuhängen scheint, als mit dem Weg, den die Unangepasste auf der Suche nach ihrer Identität durchgemacht hatte. Aber auch nach der langen Suche nach einem sicheren Hafen ist die Autobiographin weit davon entfernt, ihre Daseinsform mit einem gängigen Label zu versehen. Eine „sogenannte ostdeutsche Identität“ (RKM 312) ist ihr nach wie vor fremd und sie habe nicht vor, sie sich „nachträglich zu erfinden“ (RKM 312), was auch während der Ostalgie-Welle viele ehemalige DDRBürger gemacht haben.

6.2 „Mathematikerin mit ungehörigen Träumen“. Helga Königsdorfs Landschaft in wechselndem Licht (2002) Helga Königsdorfs Name43 ist der deutschen Öffentlichkeit zwar nicht unbekannt, nicht zuletzt weil sie sich während der friedlichen Revolution und in der Wendezeit häufiger zu Wort meldete, als DDR-Autorin scheint sie aber eher in der zweiten Reihe – hinter ihren BerufskollegInnen wie Christa Wolf, Hermann Kant oder Günter de Bruyn – zu stehen. Ihre Positionen geben aus der heutigen Perspektive ein wenig die Nachrufe – von der Emma über Leipziger Volkszeitung bis zum Spiegel – wieder, in denen eher eine schematische Darstellung – im Wortlaut variierend, im Inhalt aber unverändert wiederholt – abgedruckt wird, ohne dass auf ihr Schaffen näher eingegangen wird. Fast alle der 2014 Verstorbenen gewidmeten Texte stellen sie in eine Reihe mit Christa Wolf, Irmtraud Morgner, Brigitte Reimann und Maxi Wander, d.h. eine Reihe jener 43 Die in der Überschrift angeführte Bezeichnung übernehme ich von: Cornelia Geissler: Mathematikerin mit ungehörigen Träumen. Zum Tod von Helga Königsdorf. In: Berliner Zeitung (5.05.2014), URL: http://www.berliner-zeitung.de/kultur/zum-tod-von-helga-koenigsdorf-mathematikerin-mitungehoerigen-traeumen-2744360 (letzter Zugriff: 9.06.2017).

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 6 Generation mit stabiler Bindung? Die Funktionierende Generation (1936–1948)

„ostdeutschen Autorinnen, die sich vehement und kritisch mit der Rolle der Frau im Sozialismus und in der westlichen Welt auseinandersetzten.“44 Ein feministisches Deutungsangebot liefert die ‚Frauenzeitschrift‘ Emma. Königsdorf wird hier als „eine der emanzipiertesten Stimmen der DDR“45 gepriesen. Sie sei „eine weitere selbstbewusste Stimme im Chor der DDR-Autorinnen, die sich in den 1970er und 1980er Jahren nachhaltig und sehr kritisch mit Emanzipation und der Wirklichkeit in ihrem Land auseinandersetzen, in dem die Frauenfrage für gelöst erklärt ist.“46 Erinnerungen Helga Königsdorfs ergänzen neben den autobiographischen Enthüllungen Christa Wolfs oder Rita Kuczynskis das Porträt der DDR-Generationen um die Frauenperspektive, die auf der Bühne sichtbar unterrepräsentiert ist. Den feministischen Argumenten vom Emma kann man schwer widersprechen, denn tatsächlich „hob [Königsdorf] Männer vom Sockel“ – wie etwa in der Bolero-Geschichte aus ihrem Debütband von 1978 Meine ungehörigen Träume – „Da wird Peter mit Entengrütze beworfen und Karlchen einfach von Schneewittchen aufgefressen, ein anderer vom Krokodil verschlungen.“47 Interessant erscheint diese Gestalt allerdings nicht nur aus diesem Grund. Königsdorf begann relativ spät mit dem Schreiben, nämlich als vierzigjährige, bereits erfolgreiche Wissenschaftlerin. Diese Doppelexistenz als Mathematikerin und Schriftstellerin mag eine andere Perspektive eröffnen. Eine auf zwei Gebieten erfolgreiche Gestalt liefert in ihrer Autobiographie Einblicke in die Struktur der DDR-Gesellschaft, und zwar der gebildeten Universitätselite, der um die Autonomie ringenden Kunstschaffenden sowie der Karrierefrau, die ihr Dasein an der Schnittstelle zwischen Beruf, Kinder und Liebesbeziehungen zu organisieren versucht. Geboren im Jahre 1938 lernt Königsdorf zwar die katastrophalen Verhältnisse der Nachkriegszeit kennen. Von persönlichen Katastrophen bleibt sie allerdings verschont. Nach ihrem Physikstudium macht sie in der DDR Karriere als Mathematikerin, wird bald zur Professorin in der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Ihre

44 Nachruf auf Helga Königsdorf. In der Tragödie das Komische entdeckt. In: Thüringische Landeszeitung Zeitung (4.05.2014) (abgedruckt auch in Ostthüringer Zeitung vom 7.05.14), URL: http://www.tlz. de/web/zgt/kultur/detail/-/specific/Nachruf-auf-Helga-Koenigsdorf-In-der-Tragoedie-das-Komischeentdeckt-199599884 (letzter Zugriff: 9.06.2017) Denselben Vergleich finden wir in der Berliner Zeitung, Leipziger Volkszeitung (Janina Fleischer: Schriftstellerin Helga Königsdorf stirbt mit 75 Jahren. In: Leipziger Volkszeitung (5.05.2014), URL: http://www.lvz.de/Kultur/News/Schriftstellerin-Helga-Koenigsdorfstirbt-mit-75-Jahren), Neuer Zürcher Zeitung (Schriftstellerin Helga Königsdorf gestorben. In: Neue Zürcher Zeitung (7.05.2014), URL: https://www.nzz.ch/feuilleton/schriftstellerin-helga-koenigsdorfgestorben-1.18296920), Emma (Brigitte Hussein: Schriftstellerin Königsdorf ist tot. In: Emma (6.11.2014), URL: http://www.emma.de/artikel/die-ernste-hocchstaplerin-316945) wie auch im Spiegel (http://www. spiegel.de/kultur/literatur/helga-koenigsdorf-ddr-autorin-wegen-parkinson-gestorben-a-967666.html) oder Zeit online (http://www.zeit.de/kultur/literatur/2014-05/schriftstellerin-helga-koenigsdorf). All die Titel wiederholen dieselben Informationen, ohne ein tiefgründiges Porträt der Verstorben zu liefern. 45 Hussein: Schriftstellerin Königsdorf ist tot. 46 Hussein: Schriftstellerin Königsdorf ist tot. 47 Hussein: Schriftstellerin Königsdorf ist tot.

6.2 „Mathematikerin mit ungehörigen Träumen“. Helga Königsdorf 

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Forschungsgebiete waren damals Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung.48 Günter Gaus charakterisiert in einem Gespräch mit der Schriftstellerin ihre Wurzeln und ihren Werdegang in den DDR-Strukturen treffend wie folgt: Sie sind das Kind einer, wie man sagt, bessergestellten, gutsituierten Familie. Ihr Vater war Unternehmer, hatte aber auch eine größere Landwirtschaft, die Großmutter väterlicherseits war Jüdin. Nach der barbarischen Kategorie des damaligen Deutschlands galten Sie als Vierteljüdin, als Mischling zweiten Grades. Sie haben Physik studiert im Hauptfach, haben aus der Mathematik Ihren ersten Beruf gemacht, haben sich habilitiert und wurden 1974 Professorin an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Das war für eine junge Frau eine durchaus bemerkenswerte Karriere. Sie waren verheiratet, sind geschieden, haben zwei Kinder.49

Königsdorf feiert Erfolge nicht nur auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, sondern später auch auf dem der Literatur. Hier markiert sie auch ausdrücklich ihre Position als die einer engagierten Schriftstellerin, die nicht um der Kunst willen ihre Texte verfasst, sondern mit dem Geschriebenen Wirkung erzielen will. Nach der ,Wende‘ bleibt sie ihren Grundsätzen treu, was sie in dem eben angeführten Gespräch mit Gaus betont. Ich möchte die Wirkung erzielen, daß die Menschen sich der Probleme bewusst werden, daß aus den Erfahrungen, die wir gemacht haben, Erkenntnis wird, die uns hilft, die Aufgaben der Zukunft lösen. Das klingt vielleicht sehr gewaltig. Es ist doch aber so, daß ich allein, wenn ich in meinen Erzählungen kleine Alltagsgeschichten festhalte, die im Geschichtsbild gar nicht vorkommen, schon diesem Zweck diene.50

Auf gewisse Probleme verweist Königsdorf in ihren Erzählungen oder Romanen. In der Phase des politischen Umbruchs engagiert sie sich aber auch publizistisch. So dokumentiert sie etwa im Band 1989 oder ein Moment der Schönheit (1990) ihre Reaktion auf den Umbruch. In den darauffolgenden Protokollbänden Adieu DDR (1991) und Unterwegs nach Deutschland (1995) überlässt sie das Wort ihren Gesprächspartnern und zeichnet dadurch die Gefühlslage ihrer Landsleute nach. In der neuen marktwirtschaftlichen Realität scheint die Autorin aber ihre Leser nach und nach verloren zu haben. Ihr Schreibstil schien Eva Kaufmann zufolge den neuen Verhältnissen nicht gerecht zu werden: Königsdorfs spezifische, unter DDR-Verhältnissen entwickelte Fähigkeit, destruktive gesellschaftliche Mechanismen mit grimmigen Witz bloßzulegen, läuft angesichts der für ‚Ostler‘ neuen, aber geschichtlich alten, längst durchschauten Mechanismen der Geldherrschaft ins Leere.51

48 Vgl. Eva Kaufmann: Helga Königsdorf. In: Metzler. Lexikon DDR-Literatur, hg. von Michael Opitz/ Michael Hofmann. Stuttgart/Weimar 2009, S. 173. Königsdorfs Erfolge als Mathematikerin waren nicht nur in der DDR anerkannt. Sie erlangte auch einen internationalen Rang. (Vgl. Jung: Kuczynski, S. 1). 49 Zur Person. Günter Gaus im Gespräch mit Helga Königsdorf, Sendung vom 31.05.1994. In: Rundfunk Berlin-Brandenburg, URL: http://www.rbb-online.de/zurperson/interview_archiv/koenigsdorf_ helga.html (letzter Zugriff: 9.06.2017). 50 Günter Gaus im Gespräch mit Helga Königsdorf. 51 Kaufmann: Königsdorf, S. 174.

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 6 Generation mit stabiler Bindung? Die Funktionierende Generation (1936–1948)

Abschied nimmt Helga Königsdorf im Jahre 2002 mit ihrer Autobiographie Landschaft in wechselndem Licht. Ihre fortschreitende Krankheit – sie leidet seit den 1970er Jahren an Parkinson – steht einer weiteren schriftstellerischen Tätigkeit im Wege. So bleibt Königsdorf – wie es den Nachrufen zu entnehmen ist – „präzise Erzählerin des ostdeutschen Alltags“.52 Der Band Landschaft in wechselndem Licht. Erinnerungen, versehen mit Pastellkreidezeichnungen der Autorin, erscheint im Jahre 2002 im Aufbau-Verlag.53 Dass es sich um einen autobiographischen Text handelt, darauf verweist nicht nur in eindeutiger Weise der Untertitel, sondern auch der ausführliche verlegerische Peritext. Die Rückseite des Covers zeichnet die Gestalt der Autorin als einer Privatperson – mit Alltagssorgen vertraut – und einer engagierten Aktivistin. Obwohl der Band in einem ostdeutschen Verlag herausgegeben wird, wird Königsdorf nicht als DDR-Autorin oder Ostdeutsche vorgestellt, sondern als ein Mensch mit all seinen Schwächen. Sie wählte immer den unbequemen Weg, suchte immer die Herausforderung. Jetzt erzählt Helga Königsdorf, gezeichnet von der Parkinson-Krankheit, gegen die sie seit über zwanzig Jahren ankämpft, mit berührender Offenheit über ihr Leben. […] Begierig auf das eigentliche Leben, kann ihr als junges Mädchen kein Abenteuer riskant genug sein. Und dabei bleibt es. Sie favorisiert das Unübliche, das Risiko. Also entscheidet sie sich für eine Karriere als Mathematikerin. Sie ist ehrgeizig, hat Freude an der Macht und am Machen und ist süchtig nach Erfolg. Das schlechte Gewissen, wenn sich Beruf und Kinder im Wege stehen, läßt sich schwer verdrängen. Krisen in der Ehe werden mit heftigen Liebesaffären kompensiert. Dann wieder ein Sprung ins Wasser: sie beginnt zu schreiben – freche, aufmüpfige Geschichten. Als die Krankheit, seit Jahren unerkannt in ihrem Körper, diagnostiziert wird, nimmt sie den Kampf auf. (HKL Rückseite des Covers)

Versprochen wird ein Einblick in das spannungsreiche Schicksal einer abenteuerlustigen Kämpferin, die als Frau und Mutter einerseits und Karrierefrau andererseits vom schlechten Gewissen geplagt wird, weil sie ihre beiden Rollen nicht miteinander zu vereinbaren vermag. Es handelt sich nicht um das verklärte Bild einer Kranken, sondern um einen Bericht, in dem weder Fehler noch Makel verschwiegen werden. Der autobiographische Charakter des Textes wird mit dem Covertext und dem unter ihm stehenden Foto Helga Königsdorfs letztgültig bestätigt. Der Grundriss des Lebens wird im Klappentext um weitere Details ergänzt. Nun erfährt der potentielle Leser auch von ihrer Herkunft und von den Familienverhältnissen, die sich für Königsdorf als prägend erwiesen.

52 DDR-Schriftstellerin Helga Königsdorf gestorben. In: Die Welt (5.05.2014), URL: https://www.welt. de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/boulevard_nt/article127645290/Schriftstellerin-Helga-Koenigsdorfmit-75-gestorben.html (letzter Zugriff: 9.06.2017). 53 Helga Königsdorf: Landschaft in wechselndem Licht. Erinnerungen. Berlin 2002. Im Folgen werden Zitate als Sigle HKL mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen.

6.2 „Mathematikerin mit ungehörigen Träumen“. Helga Königsdorf 

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Ein Jahr vor Kriegsausbruch geboren, wächst sie als behütete Tochter in einem kleinen thüringischen Dorf auf. Die energische Mutter mit der Vorliebe fürs Gutbürgerliche spricht in der WirForm, wenn sie die Tochter meint […]. Der Vater, ein erfindungsreicher Kleinunternehmer, später Landwirt, als Sohn einer jüdischen Mutter wehruntüchtig, als Bauer aber kriegswichtig, kommt in der DDR in die absurde Situation, sich als Großbauer selbst zu enteignen und fortan wissenschaftlich zu arbeiten. (HKL vordere Klappe)

Im Klappentext wird vor allem die Privatsphäre hervorgehoben. Nur zwischen den Zeilen wird das Land erwähnt, in dem Königsdorf als Frau, Mutter, Mathematikerin und Autorin tätig ist, ohne dass sein offizieller Name allzu oft genannt wird. Das lässt die Erinnerungen nicht als eine sozialistische, sondern eine universelle Lebensgeschichte lesen. Auf dem Coverbild sind auch keine DDR-Spuren zu bemerken, sondern eine Frauengestalt, die schwankend auf einem in der See liegenden Fass steht und nach Körperbalance zu suchen scheint. Der Titel54 rekurriert ebenfalls auf eine Landschaft, die wohl mit dem Leben assoziiert werden kann, das im Laufe der Zeit anders wahrgenommen und interpretiert wird. Auf die Bedeutung des Titels deutet die IchErzählerin auf den ersten Seiten ihrer Erzählung hin, indem sie den Prozess der Erinnerung reflektiert. Meine Erinnerung ähnelt einer Landschaft in wechselndem Licht. Manches längst Vergangene strahlt hell und ist voller Konturen. Anderes ist der Dunkelheit anheimgefallen, ist nicht mehr aufrufbar, obwohl es einst für mich von einer gewissen Bedeutung gewesen sein muß. […] Es gibt auch Zwielichtiges. Zurechtgerücktes. Erinnerungen, denen ich selbst nicht traue. Ich bin überzeugt, daß die kleinen Lügen, oder besser: die kleinen Korrekturen der Wirklichkeit, und das Vergessen für mich ihren Sinne hatten. Mein Verstand hat sich verweigert, um die Seele zu schützen. Jetzt ist alles anders. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Und gerade das gibt mir eine ungeahnte neue Freiheit. Ich darf mich getrost umsehen. (HKL 12)

Zu tun haben wir es demzufolge mit einer Lebensbilanz, die angesichts des nahenden Lebensendes vollzogen wird.55 Barbara Lersch-Schumacher zufolge seien Königsdorfs Erinnerungen „aus dem Leiden an der fortschreitenden ParkinsonKrankheit und dem damit einhergehenden Auseinanderklaffen von innerer Person und äußerer Erscheinung motiviert“.56 Die Ich-Erzählerin bestreitet zwar nicht, dass

54 Barbara Lersch-Schumacher vergleicht Königsdorfs Erinnerungen mit früheren Texten und kommt zu dem Schluss, dass sich bereits der Titel „an das innere Auge von Leserinnen und Lesern“ richte. „Damit bringt er zum Ausdruck, dass in ihm der Behauptungswille und die politische Einstellung zum Ich, die in vielen früheren Texten Königsdorfs dominieren, hinter dem kontemplativen und ästhetischen Blick auf das eigene Leben zurücktritt.“ (Barbara Lersch-Schumacher: Helga Königsdorf. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1978ff., S. 11). 55 Helga Königsdorf verstirbt zwar erst im Jahre 2014. Landschaft in wechselndem Licht ist aber eine Art Abschied vom Schreiben. Die Parkinson-Erkrankung steht einer weiteren Aktivität im Wege. Die Gedanken an das Altern und das nahende Lebensende scheinen die autobiographische Lebensbilanz zu fördern, auch wenn der Text weit von einem traurigen Lebensabschied entfernt ist. 56 Lersch-Schumacher: Königsdorf, S. 11.

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 6 Generation mit stabiler Bindung? Die Funktionierende Generation (1936–1948)

ihre Geschichten wahrhaftig sein sollen. Dass es sich dabei aber immer um eine zeitbedingte individuelle Version des erzählten Lebens handelt, wird etwa im Motto ausdrücklich betont: „Das ist ja gerade das Tolle am Leben: Was auch darüber gesagt oder geschrieben wird, es ist immer anders gewesen.“ (HKL 5) Sie übernimmt also nicht die Rolle einer Chronistin, die sich zum Ziel setzt, die Vergangenheit objektiv zu rekonstruieren, sondern blickt in ihre eigene Vergangenheit zurück, ohne ihre subjektive Sicht auszuschalten. Was sich daraus ergibt, empfindet sie als ungewiss und unheimlich: Manchmal fürchte ich mich sehr. Aber ich habe noch etwas vor. Habe noch etwas zu erledigen. Noch bin ich mit dem Leben im Bunde und will nicht loslassen. Ich will mich umwenden und zurücksehen. Und was immer sich herausstellen mag, ich habe inzwischen eine gewisse unerschütterliche Vorliebe für mich selbst. Alle sieben Jahre erneuert der Mensch seine Zellen. Ich habe nichts mehr gemein mit dem Kind, das ich einst war. Was ist geblieben? (HKL 13)

Welche Persönlichkeitskomponenten die Ich-Erzählerin mit dem Kind von damals gemein hat, wird im Rückblick rekonstruiert. Vor allem werden aber die Prägeerfahrungen der Kindheit und der frühen Jugend reflektiert, in denen die Erzählerin Wurzeln ihrer späteren Haltung zu erkennen glaubt. So darf auch die Genealogie nicht fehlen: „Die Familie sucht man sich nicht aus. Sie ist wie eine Stafette. Der Stab wird von Generation zu Generation weitergegeben. Ehe man sich bewußt macht, worum es eigentlich geht, ist der Wechsel schon vollzogen.“ (HKL 29) Sie kommt 1938 in einer wohlhabenden Familie zur Welt und obwohl die Zeit recht unruhig ist, werden die ersten Jahre ihres Lebens als eine recht bequeme und geschützte Phase dargestellt: „Ich hatte von klein auf privilegiert gelebt und hatte das als etwas Selbstverständliches empfunden.“ (HKL 203) Die Privilegien werden der Erzählerin erst später bewusst, genauso wie die Bedeutung der Entscheidungen, die ihre Eltern getroffen hatten und die auch Einfluss auf ihr Leben gehabt hatten. So war etwa ihre Mutter dem Rat der Nationalsozialisten, ihren Ehemann zu verlassen, nicht gefolgt, womit sie ihre Tochter auch gefährdet hatte. Die erwachsene Königsdorf rekonstruiert ihre Reaktion auf die mutige Entscheidung der Mutter, der die jüdischen Ahnen ihres Gatten nicht gestört hatten, und zeigt, wie sich bei ihr Bewunderung mit Schmerz mischen. In ihrer Einschätzung scheint die Liebe zum Mann die zum Kind übertroffen zu haben. So fühlt sich die Tochter verlassen und verraten. Dieses Gefühl legt sich wie ein Schatten auf das Leben der Erzählerin: Als sie mir das erzählte, Jahre später, bewunderte ich meine Mutter für den Mut, mit dem sie zu meinem Vater hielt. Aber ich fühlte mich nicht geliebt, denn eine richtige Mutter mußte zuerst an ihre Kinder denken. (HKL 47)

Die Mutter ist eine der Zentralgestalten, die Einfluss auf ihre „kindliche[…] Meinungsbildung hatten“ (HKL 56), was allerdings nicht bedeutet, dass die beiden Frauen ein inniges Verhältnis verbindet. Ihre Beziehung ist äußerst schwierig. Die Mutter wird als eine starke Persönlichkeit gezeichnet (vgl. HKL 31), die Bewunderung verdient,

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andererseits schafft ihre Zurückhaltung emotionale Distanz. Infolgedessen lernt die Erzählerin nicht, mit ihren Gefühlen umzugehen und selbst Liebe zu zeigen. Sie erscheint beinahe „süchtig nach Zärtlichkeit“ (HKL 140), die sie in ihrem erwachsenen Leben in zahlreichen Liebesaffären sucht. Ihren Kindern gegenüber zeigt sie sich aber genauso gefühllos wie ihre Mutter es ihr gegenüber war. Die Stafette läuft also weiter: Und als ich dann Kinder hatte, machte ich alle Fehler, die man aus der Liebe kennt. Ich konnte meine Liebe nicht zeigen. Vielleicht war ich dazu nicht in der Lage, weil ich es nicht gelernt hatte. Ich dachte, es wäre selbstverständlich. (HKL 141)

Ihr eigenes Verlangen nach Liebe, das von der Mutter nicht gestillt wird, beeinträchtigt ihre sozialen Kompetenzen. So wächst sie mit dem Bewusstsein auf, immer die Beste sein zu müssen, um die Eltern zufriedenzustellen (vgl. HKL 61), um sich auf diese Weise Liebe zu verdienen. Paradoxerweise will sie sich aber von den Anderen nicht unterscheiden. Jedenfalls hatte ich ein starkes Anderssein-Gefühl, obwohl ich mir viel Mühe gegeben hatte, dieses zu überwinden, denn es ängstigte mich. Ich wollte so sein wie alle. (HKL 80)

Als bedrückend erweist sich für sie ihre privilegierte Kindheit, die nicht dem sozialistischen Durchschnittslebenslauf entsprach, aber auch ihre soziale Herkunft, die sie in der sozialistischen Klassengesellschaft weder als ein Arbeiter- noch ein Bauernkind klassifizieren lässt, sondern der Verdacht erweckenden Spalte „Sonstiges“ (HKL 65) zuordnet. Die Erzählerin will ihren Außenseiterhabitus früh erkannt haben, was ihren Wunsch nach Anpassung und Akzeptanz nicht mindert. Wenn ich gefragt worden wäre, ich glaube, ich hätte mich für eine andere Existenz entschieden. Ich hätte gern in einem der kleinen Häuschen gelebt, in der Küche mit der Familie Abendbrot gegessen und unterm Dach geschlafen. Dann hätte ich Pflichten gehabt, deren Erfüllung für die Familie wichtig gewesen wäre. Meine Eltern wären so gewesen wie alle, und auch ich wäre so gewesen wie alle. (HKL 53)

Die Herkunft wird zum Problem. Das perfekte Bild einer idyllischen Kindheit gerät ins Schwanken. Auch im guten Hause entgeht man weder Identitätskrisen noch Ängsten. Im Gedächtnis der Erzählerin gibt es auch Platz für Angstzustände, die stark mit ihren eigenen Erlebnissen – die zum Teil im Unbewussten liegen – wie auch mit den Erfahrungen der älteren Generationen – die den Nachkommen weitergegeben werden – zusammenhängen. Die Ursprünge meiner nächsten Erinnerungen liegen viel später. Zum Beispiel die Erinnerungen an die Nächte in den Luftschutzkellern. Vor solcher Wirklichkeit konnte ein anständiges Gespenst nur neidvoll erblassen. Das Gespenst, das uns nachts in die Keller trieb, hieß Krieg. Auch als der Krieg zu Ende war, hockten wir verängstigt unten. (HKL 18)

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Als Kind sieht sie auch Leichen vom Fluss getrieben, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit von ihrem Vater – als damaligem Bürgermeister – identifiziert werden müssen (vgl. HKL 19). Die Atmosphäre der Bedrohung und des Verlustes füllen das Leben der Ich-Erzählerin und ihrer Altersgenossen aus und werden zur Normalität, weil diese Generation keine andere Welt kennt. Im Herbst begann die Schule wieder. Im Klassenbuch stand beinahe hinter der Hälfte aller Namen: Vater gefallen oder Vater vermißt. Für mich war der Krieg das Normale gewesen. Es war normal, daß Väter verlorengingen. Für meine Eltern sah das Normale anders aus. Es hieß: vordem-Krieg. Vor-dem-Krieg mußte alles besser gewesen sein. (HKL 20)

Die Generation der Eltern hat einen Vergleich, kennt eine andere Realität jenseits von Krieg und der Todesgefahr. Auch wenn darüber nicht offen gesprochen wird, bestimmen auch ihre Erfahrungen und ihre nonverbal artikulierten Ängste das Weltbild ihrer Kinder: „Die Angst wird weitergegeben. Von Generation zu Generation. Wir sprechen nicht darüber. Wir verdrängen unsere Angst aus Angst vor der Angst.“ (HKL 45) Die Rollenzuteilung in der DDR-Gesellschaft scheint der Erzählerin schnell bewusst geworden zu sein. Die Entscheidungen gehörten den älteren Generationen, die diese „vor-dem-Krieg“-Realität kannten, vor allem denjenigen unter ihnen, die ihren Mut in dem antifaschistischen Kampf nachgewiesen hatten. Die Jüngeren hatten sich unterzuordnen. Geregelt wurden Freund- und Feindverhältnisse. Vorgeschrieben wurden auch die Lebensläufe der sozialistischen Jugend. Wer nicht mitmachen wollte, setzte sich einer Gefahr aus. Die Machtverhältnisse werden in Landschaft in wechselndem Licht wie folgt dargestellt: Die neuen Mächtigen bezogen ihre Legitimation aus ihrer guten Absicht. Sie waren für eine gerechte Gesellschaft. Sie standen für den Frieden auf Wacht. Sie waren Antifaschisten. Mehr konnten sie gar nicht sein oder tun. Sie hatten ein klares Feindbild: Wer nicht mit ihnen war, der war gegen sie. Das brachte sie in Schwierigkeiten, denn die Anzahl der Leute, die sich einfach nicht dafür interessierten, war hoch. (HKL 56)

Das Misstrauen der Gründergeneration bekommt auch die Funktionierende Generation zu spüren. Auch wenn sich ihr Interesse am sozialistischen Projekt in Grenzen hält, passen sie sich um der Ruhe willen seinen Anforderungen an. Auch Königsdorf bekennt sich zur Mitarbeit am Aufbau des Sozialismus, wobei sie sich nicht als eine der Entscheidungsträger oder auch Architekten der neuen Ordnung zeigt, sondern eher als ein kleines Rädchen in der großen Maschinerie. Der Partei schließt sie sich eher aus Not denn aus Überzeugung an. Als „Workaholic“ (HKL 167) – mittlerweile eine anerkannte Mathematikerin – spürt sie, an ihre Grenzen gekommen zu sein. Das deckt sich mit der Ehekrise (vgl. HKL 165). Nun erscheint die Sozialistische Einheitspartei als Hoffnungsträger. Sie scheint der jungen erfolgreichen Frau ein Angebot zu machen, ihr neue Wirkungsbereiche zu eröffnen und ihrem Leben erneut einen Sinn zu verleihen.

6.2 „Mathematikerin mit ungehörigen Träumen“. Helga Königsdorf 

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Mein erster Versuch, ein neues Leben zu beginnen, führte mich in die SED. Ich wollte etwas tun, was meine Depression linderte. Die Partei, machterfahren, hatte für solche Leute wie mich Aufgaben bereit. (HKL 167)

Königsdorf hatte vor, „ein guter Kommunist“ (HKL 168) zu sein, auch wenn sie in ihrem Parteieintritt recht schnell „Teil einer gewaltigen […] Inszenierung der Macht“ (HKL 168) erkannt haben will. Sie ist bereits zweifache Mutter, 38 Jahre alt, erfolgreich in ihrem Beruf, gescheitert in der Ehe. Sie zieht die erste Lebensbilanz: Oberflächlich gesehen, war alles ganz gut. Wir waren eine glückliche Familie. Wir waren ein glückliches Paar. Wir machten Karriere. Wir waren tüchtig. Wir durften reisen. Doch wenn ich es recht bedenke, hatten wir einen Bekanntenkreis, aber kaum Freunde. Waren wir tüchtig, aber in Grenzen. Waren wir erfolgreich, aber nie zufrieden. Ich war eine Frau von Format. Aber das war ein großes Mißverständnis. (HKL 150)

Die erste Lebenskrise versucht sie durch den Parteieintritt zu überwinden. Beschrieben wird in diesem Kontext ihre „Freude an der Macht. Im Sinne von: etwas machen können.“ (HKL 198) Sie ist davon überzeugt, dass sich „harte Arbeit und persönliches Engagement“ (HKL 116–117) als wirksam erweisen werden, um den Sozialismus attraktiver zu machen und dadurch andere Leute zu erreichen (vgl. HKL 117). So wie früher auf dem Gebiet der Mathematik, zeigt sie sich auch jetzt als Kämpferin. Das politische Engagement schützt sie nicht vor einer weiteren Krise, die diesmal in der Scheidung mündet (vgl. HKL 176). Dann fängt sie mit dem Schreiben an (vgl. HKL 172). Aber auch diesmal bleibt sie eine aktive und engagierte Beobachterin des gesellschaftlichen Lebens, die über das Wort mitwirken will. Sie verschreibt sich also nicht der l'art pour l'art, sondern der engagierten Literatur. „Ich schrieb von Anfang an in dem Bewußtsein, daß ich mich damit an Leser wandte, nicht zur Selbstverständigung. Ich hatte ein gewisses Sendungsbewußtsein“ (HKL 187), rekurriert die IchErzählerin auf ihre Schreibanfänge. Sie will allerdings nicht wie etwa Hermann Kant schreiben (vgl. HKL 187–188), sie will niemanden nachahmen, sondern ihren eigenen Stil behalten. Ihr Schreibprogramm lautet: Ein Schriftsteller hat eine gewisse Öffentlichkeit. Von den Wissenschaftlern kennt man nicht einmal die Namen. Von einem Schriftsteller wurde ein bestimmtes Maß an kritischer Sicht erwartet. Als Schriftsteller mußte man gebildet sein. Ich begann, über die Strukturen und die Menschen in ihnen nachzudenken. (HKL 203)

Die kritische Auseinandersetzung mit dem Staat und seinen Strukturen münden in der Verzweiflung, die beinahe mit einem Parteiaustritt hätte enden können. Um das Schreiben nicht zu gefährden (vgl. HKL 204), bleibt sie aber weiter in den Reihen der SED. Die Erzählerin stellt das erzählte Ich als einen „ordentliche[n], brave[n] Bürger“ (HKL 206) dar, der jahrelang seinen Pflichten nachging und danach strebte, sich anzupassen und nicht aufzufallen. Auch wenn man dem erzählten Ich das Engagement

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 6 Generation mit stabiler Bindung? Die Funktionierende Generation (1936–1948)

nicht absprechen darf, scheint es die ihm in den DDR-Strukturen zugewiesene Rolle – sei es als Mathematikerin, sei es als Autorin – hingenommen und vorbildlich erfüllt zu haben, ohne den eigenen Kompetenzrahmen zu überschreiten. Dem Ich von damals schaut die Erzählerin kritisch entgegen und entblößt alle Denkfehler. Ihre Selbstkritik formuliert sie unverhüllt, auch wenn sie ihre Entscheidungen zu erklären – an manchen Stellen auch zu rechtfertigen – versucht. Ins Visier nimmt sie aber nicht eine Persönlichkeit öffentlichen Lebens namens Königsdorf, sondern immer eine Privatperson, die zum Zeitpunkt des Erzählens eine gebrochene, kranke Frau ist.57 Sie hat einen Wissensvorsprung, weiß auch wie die Geschichte ausgegangen ist. Das prägt die Erzählperspektive. Die Erinnerungen Helga Königsdorfs werden im Gegensatz zu der literarisch verarbeiteten Vita Heyms, Kants oder auch de Bruyns nicht um die historischen Ereignisse herum aufgebaut, sondern orientieren sich an Anhaltspunkten in der Lebensgeschichte der Autorin. Auch wenn sich das Private aber als dominant erweist, steht es im engen Zusammenhang mit der politischen Lage der DDR. Diesmal ist das erzählte Ich aber nicht immer bzw. selten das Subjekt der Geschichte, es wird eher zum Objekt, über das entschieden wird. So kommt die Ich-Erzählerin auch auf Daten wie den 17. Juni 1953 oder auch den Tod Josef Stalins zu sprechen. Sie war aber damals zu jung, um ihren Standpunkt selbständig bestimmen zu können, geschweige denn zu formulieren. Aus diesem Grund werden in diesem Zusammenhang die Meinungen aus ihrem Umfeld herbeizitiert. Auf den Aufstand vom 17. Juni reagierte ihre Mutter mit der Befürchtung: „Hoffentlich gibt es keinen Krieg.“ (HKL 79) Die Reaktion auf Stalins Tod wurde auch vorgegeben. So übernimmt das erzählte Ich das Verhaltensmuster: „Nur einmal, zu Stalins Tod, war ich voll dabei. Die fünf Schweigeminuten, von denen gesagt wurde, daß sie weltweit stattfinden, die konnte ich auch.“ (HKL 65) Im Jahre 1961 kann sie die Lage bereits selbstständig beurteilen. Aber auch die Antwort auf den Mauerbau ist nicht eindeutig und passt sich eher der schweigsamen Anerkennung der Mehrheit an. „Meine Gefühle waren durchaus nicht eindeutig.“ – gibt die Ich-Erzählerin im Hinblick auf ihre damalige Beurteilung der Situation zu – „Ich war weder erfreut noch betrübt, einfach aus dem Grund, weil ich lange erwartet hatte, daß so etwas passiert.“ (HKL 128) Dieser Generation wird der Krieg als die größte Gefahr dargestellt, der es vorzubeugen galt. In diesem Kontext wurde auch der Mau-

57 In der Autobiographie werden zwei Erzählstränge verknüpft, die parallel ablaufen. In der Gegenwart der Erzählung haben wir die von der Parkinson-Krankheit geplagte Erzählerin vor den Augen, die mit ihrem Lebensgefährten Schach spielt. Es wird von ihrem Bewusstseinszustand berichtet. Im zweiten Strang wird vom Lebensweg Helga Königsdorfs erzählt. Die Geschichte wird vorwiegend chronologisch wiedergegeben. Bericht mischt sich in dem Text mit Reflexion. Damit wird der Einblick in die psychische Lage des erzählten und des erzählenden Ich gewährt.

6.2 „Mathematikerin mit ungehörigen Träumen“. Helga Königsdorf 

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erbau situiert. So versucht die Ich-Erzählerin auch ihre passive Akzeptanz von damals zu rechtfertigen: Im Prinzip paßte mir das Ganze nicht. Es war Freiheitsberaubung, und dagegen habe ich immer etwas gehabt. Aber man mußte das komplexer sehen. Und was mir bei solchen Versuchen, Klarheit in meine Gedanken zu bringen, einfiel, war immer nur, daß nichts schlimmer ist als Krieg. Ich hätte die Freiheit nicht um den Preis eines Krieges bekommen wollen. (HKL 128)

Sie ist bereit, gewisse Unannehmlichkeiten hinzunehmen, um größerem Unheil vorzubeugen. Auf die reale Gefahr eines bewaffneten Angriffs, vor dem der ‚antifaschistische Schutzwall‘ bewahren soll, wird aber in den Erinnerungen nicht verwiesen. Die Erzählerin übernimmt die offizielle Argumentationslinie, ohne ihren Sinn zu prüfen, geschweige denn zu hinterfragen. Sie ist alles andere als heroisch, auch wenn sie sich an anderen Stellen der Autobiographie als Kämpferin präsentiert. Im Gegensatz zu den Misstrauischen Patriarchen schwebt ihr kein Heldentod vor, sondern sie verschreibt ihr Leben dem nüchternen Pragmatismus. Nicht anders wird ihre Haltung im Jahre 1976 dargestellt. 1976 wurde Wolf Biermann ausgebürgert. Und es gingen eine Reihe Leute, die Rang und Namen hatten und die sich solidarisch mit ihm erklärt hatten. Ich war ein vollkommener Außenseiter. Ich war wie einer, der am kalten Wasser steht und hineinspringen will. Und der schon im vorhinein den Schmerz auf der Haut fühlt. (HKL 188)

Königsdorfs Rang ist zum damaligen Zeitpunkt kaum mit dem von Christa Wolf zu vergleichen. Sie steht kurz davor, ihren ersten literarischen Erfolg zu feiern, so dass ihre Haltung die breite Öffentlichkeit nicht beschäftigt. Aus der Perspektive des Jahres 2002 fühlt sie sich aber anscheinend genötigt, ihre Position von 1976 zu erörtern. Die Ausbürgerung Biermanns erscheint beinahe als einer jener Prüfpunkte der moralischen Haltung der ehemaligen DDR-Autoren. Für das erzählte Ich war dieses Ereignis allerdings keine Prägeerfahrung in dem Maße, wie sie es für die Vertreter der AufbauGeneration war. Viel wichtiger erscheint in dieser Hinsicht das Jahr 1989, das in Landschaft in wechselndem Licht auch ausführlich beschrieben wird. Im Jahre 1989 fühlt sich das erzählte Ich gebraucht. Die Stimmung wird beinahe als euphorisch beschrieben. Der Bankrott des DDR-Systems wird zwar erkannt, die Hoffnung auf Veränderungen bewegt die Schriftstellerin aber dazu, sich diesmal öffentlich zu engagieren. Ich war immer ganz sachlich und nüchtern gewesen. Jetzt war ich fast ständig in einer leichten Euphorie. Endlich würde sich etwas ändern. Endlich war die Erstarrung durchbrochen. Ich genoß die neuen Erkenntnisse von Zusammenhängen und genoß auch die Rolle, die ich jetzt spielen konnte. Ich fühlte mich gebraucht. Ich glaubte, daß ich etwas mitgestalten konnte. Ich war auch erschrocken, daß mir das alles passiert war, daß ich so lange die Augen verschlossen hatte. Die Bevormundung durch die Obrigkeit war immer schwerer zu ertragen gewesen. […] Wir schlitterten tiefer und tiefer in den Sumpf. Es war ein Bankrott auf der ganzen Linie. (HKL 212)

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 6 Generation mit stabiler Bindung? Die Funktionierende Generation (1936–1948)

Trotz der Euphorie stilisiert sich die Ich-Erzählerin nicht zu einer „vorsätzliche[n] Revolutionär[in]“ (HKL 209). Sie sei „irgendwie hineingerutscht“ (HKL 209), bekennt sie in den Erinnerungen unverhüllt. Sie ist keine Oppositionelle, wendet sich von dem Staat nicht radikal ab. Noch im Herbst 1989 ist sie nicht im Stande den Nationalpreis abzulehnen, was sie allerdings nicht auf Mangel an Mut zurückführt, sondern auf ihren puren Pragmatismus, der allen unbegründeten, romantischen Heldentaten vorbeugte. Ihre Lage war mit der von Günter de Bruyn kaum zu vergleichen. Deswegen sollen die Entscheidungen der beiden 1989 Nominierten anders beurteilt werden. In diesem Herbst bekam ich den Nationalpreis. Zur gleichen Zeit war auch Günter de Bruyn auf der Liste. Dieser lehnte den Preis ab. Das konnte ich mir nicht leisten, weil ich ein neues Auto brauchte. Wie man sich auch verhielt, es war immer dumm. Außerdem sagte mir mein Gefühl, daß ich den Preis verdient hatte. Wir trafen uns im Palast der Republik, in einem Neubauraum. Alle hatten ihre Orden und Ehrenzeichen anlegen müssen. Ich hatte keine. (HKL 208)

Das erzählte Ich war erst dabei, seinen literarischen Rang in der DDR zu erkämpfen. Königsdorf stand noch vor Ehrungen, die älteren Autoren etwa der AufbauGeneration seit Jahren zuteilwurden, so dass es ihr nicht leicht fiel, auf Privilegien zu verzichten, zumal sie das Leben einer Alleinerziehenden deutlich erleichterten. Sie war aber zu allzu großen Kompromissen nicht bereit und distanzierte sich im Wendejahr eindeutig von den verrosteten Strukturen. Die Erzählerin skizziert ihre enorme literarische bzw. publizistische Aktivität in den Wendejahren, die auch mit der „neue[n] Freiheit“ (HKL 216) verbunden war. Sie bezeichnet ihre Haltung von 1989/90 als „unverschämt“ (HKL 216), ihre Textproduktion von damals grenzt an Besessenheit (vgl. HKL 216). Das wird aber nicht nur mit dem Bedürfnis einer politisch relevanten Stellungnahme erklärt, sondern mit einer beinahe therapeutischen Wirkung: „Da war Schreiben für mich schon so etwas wie eine Existenzform geworden. Existenzform und Bollwerk zugleich. Ein Bollwerk gegen meine Krankheit.“ (HKL 216) Im Jahre 1989 steht sie nicht mehr als passive Zuschauerin da, sondern versucht – sei es mit Texten, sei es mit Ansprachen (vgl. HKL 214) – am Geschehen aktiv teilzunehmen. Sie formuliert Forderungen, spricht zu den Massen der – in ihrer Beurteilung – Gleichgesinnten und scheint Freude an der Macht, oder präziser gesagt: am Machen zu haben. Die Rolle eines Objektes der Geschichte wird beiseitegelegt. „Es war ein eigenartig schönes Gefühl, sich mit seinen Zuhörern in Übereinstimmung zu wissen. Ich spürte etwas von der Verführung, die von der großen Politik ausgehen kann.“ (HKL 215) Ihren geistigen Zustand von damals vergleicht die Erzählerin mit einem Erwachen aus einer „ärgerliche[n] geistige[n] Dumpfheit“ (HKL 224). Die politischen Umwälzungen werden vom erzählten Ich mit großen Hoffnungen verbunden: „Nun war ich endlich Mensch und konnte lesen, schreiben und reden, wie ich wollte. Dachte ich.“ (HKL 224–225) Begrüßt wird auch die Wiedervereinigung,

6.3 Generationszusammenhang ohne Erfolgserzählung 

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die für die mittlerweile Freischaffende „im rechten Augenblick“ (HKL 230) kommt. Aber auch in der Deutung dieses Vorgangs kommen die alten Interpretationsmuster zum Vorschein: Ich aber wollte froh sein. Und erstaunlicherweise war ich es auch. Plötzlich hatte die Welt wieder vier Himmelsrichtungen. Und die längst verlorenen Orte bekamen ihre Namen zurück. Es war auf Dauer unmöglich, ein Volk einzusperren, um es gegen seinen Willen glücklich zu machen. Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist die, daß wir einfach großes Glück hatten. Glück, daß der kalte Krieg kalt blieb und nicht aufflammte. Glück, daß die Mauer gewaltlos fiel, daß es nicht zum Bürgerkrieg kam. Wir sind glimpflich davon gekommen. (HKL 55)

Die Altersgenossen der Erzählerin, nach der Kategorisierung von Thomas Ahbe und Rainer Gries also die Funktionierende Generation, hatten in ihrer Beurteilung im Vergleich zu den Eltern und Großeltern Glück, weil der gesellschaftliche und politische Umbruch nicht in einen Krieg mündete. Vor diesem Prisma wird das eigene Leben nicht als gescheitert gedeutet. Dass die Lage als Geschenk des Schicksals und nicht als Ergebnis der eigenen Arbeit wahrgenommen wird, geht aber aus den zitierten Zeilen hervor. Den autobiographischen Erörterungen Königsdorfs zufolge scheint dieser Generationszusammenhang im Warteraum der Geschichte zu verweilen, und zwar in der Hoffnung auf einen nie stattgefundenen Durchbruch. Einverleibt werden die Deutungsmuster der älteren Generationen, ohne dass die eigene Erfolgserzählung entwickelt wird.

6.3 Generationszusammenhang ohne Erfolgserzählung oder Stimmen aus der zweiten Reihe Auf dem literarischen Markt überwiegen nicht nur im Bereich der Autobiographik Texte ostdeutscher Autoren, während die Frauenperspektive deutlich unterrepräsentiert erscheint. Im Falle dieses unauffälligen Generationszusammenhangs präsentiert sich die Lage anders. Hier fehlt es grundsätzlich an Stimmen anerkannter Persönlichkeiten, die die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Erlebnisse dieser Kohorten lenken könnten. Unter den ganz wenigen literarischen Zeugnissen stoßen wir auf zwei Autobiographien von Frauen, während ihre männlichen Pendants eher zu anderen literarischen Formen greifen. Es handelt sich auch nicht um Akteure des literarischen Lebens, deren (literarischer oder/und gesellschaftlicher) Rang etwa mit dem von Christa Wolf, Stephan Hermlin oder auch Hermann Kant vergleichbar wäre. So darf in diesem Moment nur bedingt von einer Auswahl gesprochen werden. Auf den ersten Blick scheinen die beiden autobiographischen Konstruktionen wenig Gemeinsamkeiten zu haben. Geschrieben wurden sie von zwei Frauen, die zwar in der gleichen Zeitspanne und in demselben Raum zur Welt gekommen sind und dementsprechend ähnlichen Einflüssen ausgesetzt waren, die aber von recht unterschied-

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 6 Generation mit stabiler Bindung? Die Funktionierende Generation (1936–1948)

lichen Erlebnissen berichten. Und doch sind auch hier gewisse Berührungspunkte erkennbar, die mit dem von Ahbe und Gries gezeichneten Porträt der Funktionierenden Generation korrespondieren. Tatsächlich wird in beiden Fällen kein prägendes Ereignis beschrieben, das im Sinne Karl Mannheims als Schlüsselerlebnis angesehen werden könnte. Genannt wird zwar von beiden Autorinnen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, die sie erschüttert, beide scheinen ihm aber nicht die Bedeutung beizumessen, die ihm die Angehörigen der Aufbau-Generation gegeben haben. Viel wichtiger scheint das Jahr 1989 zu sein, weil der Zeitpunkt für sie eine Zäsur bedeutet, sei es im Privaten (wie bei Kuczynski, die durch die Trennung von ihrem Ehemann wieder von vorne anfangen muss), sei es im Schriftstellerischen (wie bei Königsdorf, deren literarische Produktivität eindeutig gesteigert wird). Sie nehmen ihre Rolle nicht mehr als Objekte der Geschichte wahr, über die entschieden wird, sondern lernen nach der ,Wende‘ zu Subjekten werden. Wir haben es aber nicht mit einer einheitlichen Reaktion, geschweige denn Verarbeitung zu tun. Die euphorische Stimmung Königsdorfs unterscheidet sich im Wesentlichen von der resignierten Empörung Kuczynskis. Nicht die historischen Ereignisse bilden aber die Achse der Erzählung, sondern das private Leben, und zwar in beiden autobiographischen Schriften. Im Gegensatz zu den bisher besprochenen AutorInnen waren weder Königsdorf noch Kuczynski vor der ,Wende‘ etablierte Schriftstellerinnen, deren Erinnerungen nach 1989 Stoff für Memoiren hätten sein können. Aber auch Autoren, die vor 1989 auf dem literarischen Markt präsent waren wie etwa Christoph Hein (Jahrgang 1944) oder Thomas Rosenlöcher (Jahrgang 1947), greifen zu anderen Erzählmustern. So verfasst Hein mit Von allem Anfang an (1997) eine „fiktive[…] Autobiographie“,58 in der nicht von historischen Ereignissen und politischen Entscheidungen berichtet wird, sondern von einer Kindheit und Jugend in der DDR der 1950er Jahre. Rosenlöcher, der vorher eher Gedichte verfasste, schreibt diesmal „Tagebuch der Wendemonate“59 Die verkauften Pflastersteine (1990). In all den Stimmen kommt auch kein WirBewusstsein zu Wort. Die genannten Texte als Sprachrohr einer Generation wahrzunehmen, erscheint zu gewagt. Und nichtsdestotrotz scheinen sie gerade diese Brückengeneration zu markieren, und zwar durch eben diese Unauffälligkeit, Stummheit, jahrelange Anpassung, durch Mangel einer Erfolgserzählung und die besonderen Sozialisationsbedingungen. Was mit den Schlussfolgerungen von Ahbe und Gries übereinstimmt, sind im Falle der beiden literarischen Beispiele weniger die katastrophalen Verhältnisse der Nachkriegszeit selbst als der Schatten des Zweiten Weltkrieges und die Haltung der Eltern, vor allem aber der Mütter, die die Lebenshaltung der Protagonistinnen prägen. Im Gegensatz zu Königsdorf hat Kuczynski keine Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Diese Zeitspanne hat aber einen festen Platz im Familiengedächtnis, so dass

58 Christoph Hein: Von allem Anfang an. Roman. Berlin 2002, S. 2. 59 Thomas Rosenlöcher: Die verkauften Pflastersteine. Dresdner Tagebuch. Berlin 2009 (Cover).

6.3 Generationszusammenhang ohne Erfolgserzählung 

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auch sie eine bestimmte Sicht der Vergangenheit tradiert. Beide Autorinnen zeigen sich auch nicht wie die ‚Hineingeborenen‘. Auch wenn sie die westliche Welt vor der Gründung der DDR kaum und vor dem Mauerbau nur sehr schwach kennenlernen konnten, kommt in ihren Erinnerungen deutlich das Bewusstsein der Teilung zum Vorschein. Da sie über eine Vergleichsgröße verfügen, scheint ihr Blick auf die DDR nicht ideologisch voreingenommen zu sein. Andererseits kennen sie das ,Vorher‘ zu wenig, als dass sie sich für die Idee des sozialistischen deutschen Staates so leidenschaftlich wie etwa die Misstrauischen Patriarchen oder auch die Aufbau-Generation hätten einsetzen können. Bestätigt wird von den beiden Texten auch die Bedeutung der Mutter-Figur für die Haltung der beiden Frauen. Der emotionalen Zurückhaltung der eigenen Mutter schreibt Königsdorf die Schuld an ihrer ‚Sucht‘ nach Zärtlichkeit, die für ihre Liebesaffären verantwortlich sein soll. Kuczynskis Verhältnis zur Mutter ist ebenfalls gespannt. Es handelt sich um eine Gestalt, für die der Sozialismus anscheinend wichtiger als die eigenen Kinder war. Einerseits kann darin die Bestätigung der Thesen von Ahbe und Gries erkannt werden, andrerseits darf in diesem Moment die potentielle geschlechtsspezifische Perspektive nicht außer Acht gelassen werden. Die Mutter fungiert als Vorbild des Weiblichen, als eine Gestalt, der potentiell Intimes anvertraut werden darf, und die somit großen Einfluss auf den Prozess der Identitätsbildung des weiblichen Subjektes hat. Insofern darf an diesen literarischen Beispielen nicht ohne Vorbehalte von einer generationsspezifischen Perspektive gesprochen werden, ohne dabei die geschlechtsspezifische Komponente mitzuberücksichtigen. Tatsächlich zeigen aber die beiden Autobiographien gewisse Verhaltensmuster, die sie im Prozess der Sozialisation erworben haben. Königsdorf kommt explizit auf ihren Pragmatismus zu sprechen. Kuczynski, auch wenn sie auf den ersten Blick als ein schwärmerischer und unangepasster Geist dargestellt wird, präsentiert eine Reihe von Lebensentscheidungen, die doch auf eine pragmatische Anpassung hindeuten. Den Wunsch nach Anpassung scheinen die beiden verinnerlicht zu haben, was zwar nicht immer erfolgreich verläuft, aber im Hintergrund der beschriebenen Dilemmata steht. Ihre Empörung gegen Mechanismen der Macht, die angesprochen wird, geht mit einer paradoxen Akzeptanz der Hierarchie der DDR-Gesellschaft einher. Der Mythos der Gründerväter der Republik wird hier gepflegt. Geduldig warten die beiden Protagonistinnen auf ihre Zeit, passen sich – wenn auch nicht ohne Vorbehalte – den Spielregeln an und suchen sich stets Nischen, in denen sie sich frei entfalten können. Diese Freiheitsräume zeigen aber auch Frauen mit einem Wunsch nach Selbstbestimmung, die in ihrem Tun die gesellschaftliche (und moralische) Norm nicht selten verletzen. So haben wir es hier mit Ehefrauen zu tun, die ihre Liebesaffären nicht verschweigen, die – wie Königsdorf – von der Abtreibung oder – wie Kuczynski – von bewusster Kinderlosigkeit berichten, wodurch sie gesellschaftliche Tabus brechen. Konstruiert werden nicht Heldinnen des Sozialismus wie Christa Wolf – engagierte Schriftstellerinnen, vorbildhafte Mütter, treue Ehefrauen –, sondern eher gebrochene Existenzen, die bis dato stumm bleiben mussten.

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 6 Generation mit stabiler Bindung? Die Funktionierende Generation (1936–1948)

Die Stummheit der Funktionierenden Generation wird zwar durchbrochen, ihre Stimme ist aber anscheinend nicht laut genug, um vernommen zu werden. Da die beiden Texte sich auf dem literarischen Markt nicht so erfolgreich positionieren konnten wie die Autobiographien der älteren Generationen, die vorher erschienen sind, kann sich auch die kollektive (Miss-)Erfolgserzählung, die für die Generation im Nachhinein identitätsstiftend wirken könnte, nicht durchsetzen. Bemerkenswert ist aber nicht nur der Mangel an Buchbesprechungen, sondern auch an literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit den beiden Texten auseinandersetzen, so dass behauptet werden darf, dass sie eher eine geringe Rolle spielen. Die Angehörigen der Funktionierenden Generation waren daher auch nach der, Wende‘ nicht imstande die literarische Bühne zu erobern.

7 Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Hineingeborenen im DDR-Generationsgefüge – die Integrierte Generation (1949–1959) Für den Generationszusammenhang der zwischen 1949 und 1959 Geborenen übernehmen Thomas Ahbe und Rainer Gries von Bernd Lindner das Label Integrierte Generation.1 Im Gegensatz zu ihm subsumieren sie aber unter diese Kategorie nur diejenigen, die in den 1950er Jahren zur Welt kommen und im Gegensatz zu den 1940erKohorten2 keine andere Realität als die DDR kennen. Ahbe und Gries sind allerdings nicht die einzigen Forscher, die es für begründet halten, die beiden Altersgruppen getrennt zu behandeln. So konzentriert sich etwa Dorothee Wierling in ihrer Habilitationsschrift explizit auf die 1949 Geborenen,3 die auch Andreas Molitor in einem ZeitArtikel unterscheidet und mit ihren Altersgenossen in der Bundesrepublik vergleicht.4 Dieter Geulen ordnet Ergebnisse seiner autobiographischen Gruppengespräche aus dem Jahre 1998 drei Gruppen zu, nämlich der um 1940, 1950 und 1960 Geborenen.5 In einem seiner Beiträge6 bezeichnet er die um 1950 Geborenen als eine Generation:7 „Diese Generation ist in die 1949 gegründete DDR-Gesellschaft hineingeboren, eine andere Realität hat sie zunächst nicht erfahren. Es fehlt ihr die Gebrochenheit der Kriegsgeneration“.8 Daran ist zu erkennen, dass das Gründungsjahr der Deutschen Demokratischen Republik auch – zumindest potentiell – als die Geburtsstunde einer neuen Generation angesehen werden kann, die sich eindeutig von den wenig älteren, aber doch über einen anderen Hintergrund verfügenden Jugendlichen unterscheidet. Die „Mittfünfziger“9 betrachtet auch Wolfgang Engler näher, der in diesem Zusam-

1 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 531. Lindner verwendet den Begriff in seinem Beitrag „Bau auf, Freie Deutsche Jugend“, S. 205–209. 2 Noch im Jahre 1997 unterscheidet Lindner vier Generationen – neben der „Aufbau- und Ausstiegsgeneration“ (die zwischen 1930 und 1949 Geborenen), die „Generation mit stabiler Bindung“ (Jahrgänge 1950–1960), sowie die „Generation der Nicht-Mehr-Eingestiegenen“ und die „Generation der Unberatenen“ (Lindner: Sozialisation und politische Kultur junger, S. 28). 3 Vgl. Dorothee Wierling: Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie. Berlin 2002. 4 Vgl. Andreas Molitor: Die Gruppe 49. In: Die Zeit 21 (1999), URL: http://www.zeit.de/1999/21/199921. fuenfzig_.xml (letzter Zugriff: 15.03.2018). 5 Vgl. Dieter Geulen: Politische Sozialisation in der DDR. Autobiographische Gruppengespräche mit Angehörigen der Intelligenz. Opladen 1998. 6 Vgl. Dieter Geulen: Typische Sozialisationsverläufe in der DDR. Einige qualitative Befunde über vier Generationen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 26–27 (1993), S. 37–44. 7 Geulen verwendet in dem genannten Beitrag abwechselnd den Begriff „Generation“ und „Jahrgangsgruppe“, was Ahbe und Gries – in Anlehnung an Mannheim – zu vermeiden suchen. 8 Geulen: Sozialisationsverläufe, S. 43. 9 Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, S. 47. https://doi.org/10.1515/9783110710793-007

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 7 Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Integrierte Generation (1949–1959)

menhang auf nicht zu übersehende „kulturelle Generationsphänomene“10 verweist. Ob wir es mit einer Generation – präziser gesagt: mit einer Generationseinheit im Sinne Mannheims – zu tun haben, darüber will Engler nicht urteilen. Generationsfragen sind oftmals eine Sache von Zentimetern oder, um der zeitlichen Ordnung gemäß zu formulieren, von wenigen Jahren oder auch nur Monaten. Doch selbst bei penibler Skalierung sind nicht immer eindeutig zu beantworten. Vor allem dann nicht, wenn, wie in diesem Fall, eine spezifische Herausforderung fehlt und es dennoch zu einer Antwort kommt.11

Gehen wir von dem Mannheimschen Verständnis der Generation aus, fragen wir in erster Linie nach Schlüsselerlebnissen – gewöhnlich historischen Großereignissen –, die generationsstiftend wirken können. Diese fehlen aber gerade im Falle der „Mittfünfziger“. Darin erkennt Engler aber auch die Spezifik dieses Generationszusammenhangs: Gerade weil es kein großes politisches Ereignis gab, auf das sie sich bejahend oder ablehnend beziehen mußten, blieb nur das kulturelle, namentlich subkulturelle Band, um der Vereinzelung und nicht zuletzt auch der unendlichen Langeweile des Alltags vorzubeugen. Ereignisse schaffen, statt sich von ihnen beeindrucken zu lassen, hieß die Parole.12

Trotz der skizzierten Eigenart der Mitte der 1950er Jahre Geborenen wahrt Engler Distanz dem Versuch gegenüber, sie als eine Generation anzuerkennen. Unübersehbar ist allerdings die Tatsache, dass Engler in diesem Kontext nicht von einer Generationseinheit sprechen will, während er den Generationszusammenhang als solchen bemerkt und auch näher untersucht. Den Begriff Integrierte Generation verwenden Ahbe und Gries bewusst, weil er eine besondere Lage dieses Generationszusammenhangs markiert. Er verweist zum Einen darauf, dass die in den 1950er Jahren Geborenen in die DDR ‚hineingeboren‘ wurden, so dass sich ihr Erfahrungshorizont von den Kriegs- und Nachkriegsgenerationen deutlich unterscheidet. Zum Anderen kommt darin auch das Integriert-Werden zum Ausdruck.13 Es handelt sich um „die ersten Kinder der DDR, die ausschließlich vom Sozialismus geprägt wurden.“14 Die Mauer wurde gebaut, noch bevor sie selbst dazu fähig waren, sich eigenständig ein Urteil zu bilden. Die Ältesten unter ihnen waren zwölf Jahre alt und besuchten eine Schule sozialistischer Prägung, in der Angehörige der Aufbau-Generation, „die ersten Vertreter einer ureigenen sozialistischen Intelligenz“15 unterrichteten und das Weltbild der Heranwachsenden entsprechend formten. Der „bildungsbürgerliche Einfluß“16 spielt für die Erfahrung der Integrierten

10 Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, S. 47. 11 Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, S. 47. 12 Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, S. 49. 13 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 532. 14 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 532. 15 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 532. 16 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 532.

7 Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Hineingeborenen 

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Generation kaum eine Rolle. Auch darin wird eine Akzentverschiebung im Vergleich zu den einige Jahre älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen sichtbar. Die Integrierten wurden in der DDR nicht ohne Grund zum Sinnbild des sozialistischen Staates stilisiert. Die Prägejahre fallen mit der Phase der Prosperität und Stabilität der DDR zusammen, so dass den ‚Hineingeborenen‘ die Identifikation mit den sozialistischen Idealen erleichtert wurde, zumal sich die Gründerväter der Republik, d.h. die Angehörigen der Generation der Misstrauischen Patriarchen Mühe gaben, den ersten Kindern der DDR als „Inkarnation des Neuen Menschen“17 an nichts fehlen zu lassen.18 Sie sollten die „Hausherren von Morgen“19 werden. Den Generationszusammenhang der Integrierten prägte eine bemerkenswerte und folgenreiche Koinzidenz zwischen den individuellen lebensalterspezifischen Entwicklungsphasen und den Stadien der DDR-Entwicklung: Als die Integrierten Ende der sechziger und in der ersten Hälfte der siebziger Jahre die jugendtypische Formierung moralischer und politischer Grundüberzeugungen durchliefen, befand sich die DDR auf dem Höhepunkt ihrer wirtschaftlichen, politischen und moralischen Reputation. Dies führte zur Annahme einiger Grundelemente der sozialistischen Ideologie durch größere Teile dieses Generationszusammenhangs und zu einem hohen Maß an politischer Loyalität in dieser Altersgruppe.20

Die Integrierten nehmen zwar das Angebot des Staates an und ordnen sich in die Strukturen ein, die Machthaber scheinen ihnen aber auch Freiräume zu schaffen, die den älteren Kohorten versagt blieben. Nicht zuletzt durch den Zugang zu Medien gewinnen sie gewisse Freiheiten. Auf diesem Wege wird der westliche Stil zur Komponente ihres Habitus. Dem Interesse an der westlichen Kultur schreiben die Integrierten jedoch nicht die Bedeutung eines politischen Manifestes zu, geschweige denn einer Abwendung von der DDR. „Vermittelt über die sich entwickelnde Medienkultur“ – erklären Ahbe und Gries – „importierten die Integrierten westliche Stile, Diskurse und alltagskulturelle Codes der internationalen Kultur – ohne daß die Mehrzahl von ihnen solche Transfers als politische oder auch nur als politisch relevante Handlungen verstand.“21 „Individualismus, Selbstreflexivität und Hedonismus“22 der Integrierten erkennen Ahbe und Gries als Eigenschaften, die einen mentalen Bruch zu den Vorgängern markieren. Auch wenn sich ihre Haltungen aber im Wesentlichen von denen der Vorgänger unterschieden, wirkt dieser Generationszusammenhang stabilisierend für die Strukturen der DDR-Gesellschaft. Die Integrierte Generation erlebte eine problemlose Kindheit.23 Der Schrecken des Krieges wird ihr erspart. Eingeschult werden ihre Angehörigen von der zweiten Hälfte 17 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 534. 18 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 533. 19 Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 45. 20 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 532–533. 21 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 533. 22 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 533. 23 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 535.

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 7 Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Integrierte Generation (1949–1959)

der 1950er Jahre an. Das DDR-Schulwesen dieser Zeit bezeichnen Ahbe und Gries als „konsolidiert[…] und leistungsfähig[…]“.24 Fast alle Integrierten gehören den Kinder- und Jugendorganisationen an. Im Jahre 1958, also noch zur Zeit ihrer Kindheit, wird die Lebensmittelrationierung abgeschafft. Von nun an geht die DDR von der Phase der „Bedarfsdeckungsgesellschaft“ in die Phase einer „nachholenden Bedürfnisbefriedigung“25 über, die bis in die 1970er Jahre hinein dauert. Was für die älteren Generationen Luxus ist oder auch nicht mal im Bereich der Träume liegt, gehört für die Integrierten zur Normalität. Nach der Machtübernahme von Erich Honecker wächst auch die Hoffnung der jungen Erwachsenen auf eine eigene Wohnung, die im Angesicht der Familienplanung sehr gefragt ist. Damit steigt auch ihre Identifikation mit dem Staat, in dem es ihnen gut geht, den sie auch nicht mit dem ‚vorsozialistischen‘ Zustand zu vergleichen vermögen.26 Bis Mitte der 1970er Jahre bleibt die Identifikation hoch, was zwar unmittelbar auf die materiellen Lebensbedingungen zurückzuführen ist,27 aber auch von anderen Faktoren beeinflusst wird. So haben die Integrierten das Gefühl, mit den Gleichaltrigen im Westen Schritt halten zu können. Symbolisch nehmen sie an den Weltkonflikten teil. So engagieren sie sich in Aktionen wie ,Millionen Rosen für Angela‘.28 Mit ihren innenpolitischen Kampagnen zu internationalen Ereignissen oder Konflikten – zum Vietnam-Krieg, zur Rassendiskriminierung in den USA und in Südafrika, zum rechtsgerichteten Militärputsch in Chile 1973, zur linksgerichteten Nelken-Revolution 1974 in Portugal, schließlich zum „siegreichen Ende“ des Vietnam-Krieges 1975 – bewegte sich die DDR im Mainstream eines Zeitgeistes, der durch die Losungen von Frieden, Befreiung, Selbstbestimmung, Solidarität und Antiimperialismus geprägt war. Diese Konstellation bot den etwa Zwanzigjährigen ein Gefühl der Gleichgestimmtheit zwischen dem Ich und dem offiziösen Weltbild. Sie ermöglichte überdies die Imagination eines Mitschwingens mit den Gleichaltrigen in der westlichen Hemisphäre, deren prägnanten Jugendhabitus man aus medial vermittelten Bildern und Liedern kannte und im eigenen Land eifrig kopierte.29

Anlässlich der 1973 organisierten Weltfestspiele, die wie „Urlaub von der Diktatur“30 erscheinen mögen, kommen in der DDR Jugendliche aus aller Welt an, so dass das Land als nicht mehr isoliert erscheint. Das fördert noch zusätzlich den Bruch der Integrierten mit dem alltagskulturellen Stil der älteren Generationen. Lange Haare und West-Jeans werden in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre auch nicht mehr sanktioniert.31

24 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 535. 25 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 536. 26 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 536. 27 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 536–537. 28 Angela Davis war eine afroamerikanische Bürgerrechtlerin und Gegnerin des Vietnamkrieges. Sie blieb bis 1972 in Haft. Mit der Aktion wurde ihre Freilassung gefordert. (Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 537). 29 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 537–538. 30 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 538 (Fußnote 174). 31 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 540–541.

7 Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Hineingeborenen 

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Ende der 1970er Jahre geht jedoch die Phase der friedlichen Koexistenz zwischen dem Staat und den Integrierten endgültig zu Ende. Die jungen Erwachsenen erleben endlich etwas, „was man im Sprachgebrauch dieser Zeit den ,Praxisschock‘ nannte: Sie mussten aus den Sphären der Theorie und Utopie, in der sie während der Ausbildung weilten, den Wechsel in die graue und ernüchternde Praxis vollziehen.“32 Die Lage erweist sich als schwierig, vom Ideal weit entfernt. Viele von den jüngeren Integrierten sehen für sich keine Zukunft in der DDR und entscheiden sich in den 1980er Jahren auszureisen.33 Nach der Wiedervereinigung verfügen die Angehörigen der integrierten Generation über Kompetenzen, die keine andere Gruppe hat. Sie sind zwischen dreißig und vierzig. Immer noch berufstätig stehen sie „in der ersten Hälfte ihres Berufslebens, sie können und müssen sich den Chancen und Herausforderungen eines geänderten wirtschaftlichen und geistigen Umfelds mit aller Kraft stellen.“34 Das gelingt auch den meisten von ihnen. Sie integrieren sich in das für sie neue System zum zweiten Mal in ihrem Leben.35 So haben wir es auch hier mit dem einzigen Generationszusammenhang zu tun, der Thomas Ahbe und Rainer Gries zufolge dank dieser „duale[n] Systemerfahrung“36 als „die deutsch-deutsche Generation schlechthin“37 angesehen werden darf. Der Integrierten Generation wurde im DDR-Generationengefüge die Position der Enkelkinder zugewiesen, dessen Erziehung den Patriarchen am Herzen lag.38 Auffallend ist in den bereits herbeizitierten Narrativen die Familienmetapher, die nur auf den ersten Blick positiv konnotiert ist. Es ist „kein zufälliges agitatorisches Stilelement“,39 konstatieren Ahbe und Gries. Die Familienmetapher kommunizierte ganz bewußt die vormundschaftliche Haltung der Patriarchen im Umgang mit allen nachfolgenden Generationen […]. Die Familienallegorie bekräftigte eine hierarchische Sozialstruktur, in der sich Fürsorglichkeit mit Bevormundung mischte. Die politische Ansprache der Jugend machte deutlich, daß hier nicht Erwachsene mit Erwachsenen gleichberechtigt umgingen, sondern daß sorgende ‚Groß-Eltern‘ ihre unmündigen ‚Kinder‘ mit erhobenem Zeigefinger durchs Leben begleiteten […]. In der patriarchalen DDR waren alle gesellschaftlichen Bereiche von einem solchen pseudofamiliären Verständnis und seinen Metaphern durchdrungen.40 32 Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 46. 33 Vgl. Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 46. 34 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 544. 35 Andreas Molitor scheint die Lage der Integrierten anders zu beurteilen. Statt die besonderen Kompetenzen dieses Generationszusammenhangs zu vermerken, vergleicht er sie mit den Gleichaltrigen im Westen. Er zeigt sie eher als Verlierer: „Mit 40 sind sie 10 Jahre zu alt, um ganz neu anfangen zu können, und 10 Jahre zu jung für den Vorruhestand.“ (Molitor: Die Gruppe 49) Den Beweis liefert das Fehlen des Jahrgangs 1949 unter der Politprominenz; das Höchste, was der Jahrgang hervorbringe, sei Wilfried Poßner, Chef der Thälmann-Pioniere. 36 Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 80. 37 Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 38. 38 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 533. 39 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 534. 40 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 534.

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 7 Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Integrierte Generation (1949–1959)

Die Familienmetapher wird euphemistisch zur Klärung der Herrschaftsverhältnisse verwendet. Die tatsächliche Verknüpfung der Fürsorge mit Zwang und Kontrolle bringt den Historiker Konrad Jarausch dazu, das Gesellschaftssystem der DDR als „Fürsorgediktatur“41 zu bezeichnen. Die scheinbar privilegierte Stellung der Integrierten hat auch ihren Preis. Die Stimme der Integrierten Generation ist auf dem literarischen Markt nicht so stark wie die der Aufbau-Generation oder auch der Patriarchen. Ähnlich wie die Funktionierenden scheinen auch sie in der zweiten Reihe zu stehen, zumindest was die Quantität autobiographischer Aussagen angeht. Die wenigen Texte, die jedoch auf dem literarischen Markt erscheinen, bleiben nicht unbemerkt. Kurt Drawert, Peter Wawerzinek, Christoph Dieckmann oder Daniela Dahn sind Namen, die der breiten Öffentlichkeit bekannt sind, und denen es auch gelungen ist, ostdeutschen Biographien Gehör zu verschaffen. Drawerts Spiegelland und Wawerzineks Mein Babylon und Das Kind, das ich war, die in diesem Kapitel behandelt werden, scheinen im gewissen Sinne auch einen ästhetischen Kurswechsel zu markieren. Wir haben es nicht mehr mit linear erzählten Viten zu tun, hinter denen ein apologetischer Anspruch steckt. Sie scheinen den westlichen Mustern näher zu stehen als ihren sozialistischen (Groß)Vätern. Gleichzeitig behandeln sie aber Lebensläufe – auch wenn bruchstückartig (re)konstruiert –, die von der DDR-Realität nicht allzu weit entfernt sind.

7.1 Kurt Drawerts Spiegelland (1992) oder Generation der ‚Hineingeborenen‘ rechnet mit der Welt der Väter ab Als fremder Brief mit sieben Siegeln ist mir im Herzen fern das Land. Doch hinter allen starken Riegeln ist mir sein Name eingebrannt. (Kurt Drawert: Mit Heine)

Der Lebenslauf Kurt Drawerts weist zwar Stationen auf, die vielen Angehörigen der Integrierten Generation nicht fremd waren, dennoch wurde er von ganz besonderen Umständen geprägt. Drawert kommt 1956 in Brandenburg zur Welt, was es gestattet, ihn als einen der ‚Hineingeborenen‘ zu betrachten; geboren laut Jürgen Serke „im Jahr der Enthüllungen stalinistischer Verbrechen auf dem XX. Parteitag der KPdSU und des Ungarn-Aufstandes, der Zwangsemeritierung Ernst Blochs und des Todes von Bertolt Brecht […]“.42 1967 zieht die Familie nach

41 Zit. nach: Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 535. 42 Jürgen Serke: Kurt Drawert. Wohnen in westlichen Worten. In: ders.: Zuhause im Exil. Dichter, die

7.1 Kurt Drawerts Spiegelland (1992) 

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Dresden, wo Drawert aufwächst und seine Ausbildung zum Facharbeiter für Elektronik macht.43 Sein Vater ist Kriminalist, zählt „als leitender Kripobeamter zur Nomenklatura des Systems“44 und eben diese Tatsache beeinflusst im besonderen die Haltung des Heranwachsenden, der sich als „nonkonformer Sohn eines ‚hoch beamteten‘ Vaters“45 entpuppt. Serke verweist auf Drawerts Jugendjahre in Dresden, wo er „sich in Kellern mit anderen Funktionärskindern traf, die sich von ihren Vätern abgewandt hatten, wo die Literatur zum ‚einzig lebensfähigen Raum‘ wurde. Hermann Hesses Steppenwolf als Einstieg in den Ausstieg aus dem SEDSystems [sic!].“46 Die Unangepassten sind im sozialistischen Land unerwünscht. Anzunehmen ist, dass das Konfliktpotential im Falle eines Außenseiters, der gleichzeitig der Sohn eines Funktionärs ist, im Vergleich zu anderen Rebellierenden eindeutig steigt. Die Familienverhältnisse finden auch ihren Widerhall in dem autobiographisch geprägten essayistischen Roman Spiegelland, worauf noch näher eingegangen wird. Im Jahre 1975 heiratet Drawert und zieht mit seiner Frau nach Pirna, wo sie als Laborantin in einem Krankenhaus arbeitet.47 Bereits als Achtzehnjähriger nimmt er sich als Künstler wahr. Er schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch.48 All die Jobs sind für ihn nichts anderes als Brotarbeiten. „Die Arbeitswelt war ein Geldverdienenmüssen.“ – bekennt er rückblickend – „Ich fühlte mich als Künstler. Ich wußte die ganze Zeit, daß ich nichts anderes will und nichts anderes kann.“49 Ein Jahr darauf kommt sein Sohn Lars zur Welt. Sowohl beim ersten Sohn als auch bei dem 1989 geborenen Tilman – aus der Ehe mit der Fotografin Ute Döring – entscheidet er sich, „den Vornamen seines Großvaters und seines Vaters, den auch er trägt, nicht weiterzugeben.“50 Eine bedeutende Station in seinem Leben ist die Anstellung als Hilfsbibliothekar in der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden im Jahre 1978, wo er auch den Zugang zu Büchern, die in der DDR nicht jeder lesen durfte, gewann. „Ich hab‘ nur gelesen“ – erinnert sich Drawert an die Jahre als Bibliothekar – „Das waren die intensivsten Lesejahre meines Lebens. Ich habe die westdeutsche Literatur wahrgenommen und überhaupt keine DDR-Literatur gelesen.“51 Bald holt Drawert

eigenmächtig blieben in der DDR. München/Zürich 1998, S. 382. 43 Elsbeth Pulver: Kurt Drawert. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1978ff., S. 1; Michael Opitz: Kurt Drawert. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur, hg. von Michael Opitz/Michael Hofmann. Stuttgart/Weimar 2009, S. 81. 44 Serke: Zuhause im Exil, S. 382. 45 Pulver: Drawert, S. 1. 46 Serke: Zuhause im Exil, S. 387. 47 Vgl. Serke: Zuhause im Exil, S. 388. 48 Vgl. Kurt Drawert – Biographie, URL: www.kurtdrawert.de/_data/pdf/kurt-drawert-vita-2015-01. pdf (letzter Zugriff: 5.04.2018). 49 Zit. nach: Serke: Zuhause im Exil, S. 388. 50 Serke: Zuhause im Exil, S. 398. 51 Zit. nach: Serke: Zuhause im Exil, S. 388.

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 7 Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Integrierte Generation (1949–1959)

auch sein Abitur nach.52 Er versucht seine ersten Gedichte zu veröffentlichen, was allerdings erst Jahre später – dank der Hilfe von Adolf Endler – gelingt.53 Sein Gedichtband Die zweite Inventur erscheint erst im Jahre 1987. Der Band wird in der DDR aber – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht positiv aufgenommen.54 Sein Versuch, die eigenen Gedichte zu veröffentlichen, führt Drawert doch zu der Auseinandersetzung mit der DDR-Literatur, deren Großteil von ihm abgelehnt wird. Es gibt aber auch Ausnahmen. Geschätzt werden von ihm Sarah Kirsch und vor allem Günter Kunert, in dem er einen „Blut- und Seelenverwandt[en]“55 gefunden zu haben glaubt. Drawert gelingt es endlich 1982 einen Studienplatz am Institut für Literatur in Leipzig zu bekommen, das er rückblickend als „eine sehr widersprüchliche Einrichtung“56 bezeichnet. Es handelt sich um eine vom Staat abhängige und auch entsprechend überwachte Institution, die dem Dichter zufolge aber auch intellektuelle Freiräume eröffnete: „Einerseits war sie eine vom Zentralkomitee der SED gesteuerte und überwachte, von Stasi durchwucherte Hochschule für angehende Staatsdichter, andererseits auch ein Ort von Toleranz und Liberalität, wie sie an keiner anderen Hochschule der DDR zu finden war.“57 So scheint auch Kurt Drawert seine Nische gefunden zu haben. Die Leipziger Jahre deutet Jürgen Serke als eine Zäsur, als die „Geburtsstunde des Wohnens in den westlichen Worten“.58 Literatur wird für Drawert zu einer rettenden Instanz, worauf auch Elsbeth Pulver verweist, indem sie Drawert wie folgt positioniert: In seiner DDR-Zeit stand Drawert von Anfang an im Abseits, ja auf verlorenem Posten. Das ist nicht selbstverständlich. Als Sohn eines „hoch beamteten Vaters“ hätte er es leichter haben können, wäre er nur zur Anpassung willens und fähig gewesen. Er war es nicht, er war – so beschreibt er es in Spiegelland (1992), seinem äußerlich am meisten autobiografisch geprägten Werk – ein Dissident und Verweigerer von Anfang an. Ein Studium war ihm verwehrt; in Hilfsjobs beschäftigt, erlebte er, daß er fremd blieb auch unter denen, die eigentlich sein Los teilten, aber mit ihren Frustrationen anders, weniger intellektuell umgingen als er. Das Lesen und später das Schreiben waren seine Rettung, auch indem es ihm den Zugang zum Leipziger Institut für Literatur ermöglichte.59

52 Vgl. Serke: Zuhause im Exil, S. 388. 53 Vgl. Serke: Zuhause im Exil, S. 392. 54 Vgl. Serke: Zuhause im Exil, S. 393. 55 Zit. nach: Serke: Zuhause im Exil, S. 389. 56 Zit. nach: Serke: Zuhause im Exil, S. 390. 57 Zit. nach: Serke: Zuhause im Exil, S. 390. 58 Serke: Zuhause im Exil, S. 388. 59  Pulver: Drawert, S. 3.

7.1 Kurt Drawerts Spiegelland (1992) 

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Statt mit einem ‚Integrierten‘ haben wir es hier mit einem Unangepassten zu tun, der allerdings im sozialistischen Land kein Einzelfall ist. Auf diese kaum sichtbare Randgruppe kommt Drawert explizit zu sprechen: Wenn heute die Geschichte aus der Perspektive der Angepaßten erzählt wird […], ist es Verrat an jenen vielen, die eine andere Geschichte zu erzählen hätten und die nur keine Stimme besitzen. Erstens können sie nicht, weil sie kaputt sind, und dann haben sie kein Forum. Das ist ja das Ungerechte, daß die Ungerechtigkeit der DDR die Ungerechtigkeit über die Wende hinaus bis in die Gegenwart weitergeschleift hat.60

Mit seinen literarischen Aussagen scheint Drawert denjenigen eine Stimme zu verleihen, die in dem Strom der Erinnerungen und Bekenntnisse kaum bemerkt werden. Darin sieht er auch die Aufgabe von Literatur, nämlich im Engagement, in der Wirkung, in der offen artikulierten Kritik. „[E]in Text, der keine Kritik übt,“ – führt Drawert in einem Interview aus – „ist höchst langweilig und interessiert mich überhaupt nicht. Literatur ist im Grunde ihres Wesens immer ein Reservoir von Kritik.“61 [E]in Autor beziehungsweise sein Text kann keine Verantwortung haben, da es keine Verfügungsinstanz gibt, die den Schreibprozeß regelt. Andererseits haben der Autor wie sein Text eine Wirkung, sie haben keine Funktion, aber sie wirken. Und dafür ist man dann schon verantwortlich, wie ein Vater für seine Kinder, die noch nicht achtzehn sind, vielleicht. Literatur hat dort, wo sie sich in den Dienst stellte, längerfristig immer versagt. Es gibt keine Literatur, die ihren Auftrag überlebt hätte.62

Seine Aufgabe als engagierter Dichter sieht Drawert nicht darin, sich in den Dienst einer Ideologie zu stellen, sondern im Hinterfragen der Umstände, in einer kritischen Auseinandersetzung mit der Realität, was letztlich nicht wirkungslos bleibt. Für die höchste Form der literarischen Aussage hält er das Gedicht, das er als „die höchste Form von literarischer Bewältigung, vielleicht sogar von Wahrheit“63 deutet: „Es ist die Summe der Erkenntnisse und zugleich deren Überschreitung auf eine höhere, komplex gewordene und durch eine adäquate Form beglaubigte Aussage.“64 Bekannt ist Kurt Drawert der breiten Öffentlichkeit vor allem als Autor von Lyrik, was nur zum Teil auf die Bedeutung dieses Genres in seinem Gesamtwerk zurückzuführen ist. Zu berücksichtigen wären darüber hinaus auch die Mechanismen des 60 Zit. nach: Serke: Zuhause im Exil, S. 391. 61 Der lyrische Text ist ein Generator. Interview mit Alexa Helbig. Dresden 2011, S. 9. In: Offizielle Homepage von Kurt Drawert, URL: http://www.kurtdrawert.de/_data/pdf/gespraech-mit-axel-helbig. pdf (letzter Zugriff: 5.04.2018). 62 Der lyrische Text ist ein Generator, S. 8–9. 63 Die Ortlosigkeit. Rodica Draghinescu: Fragen an Kurt Drawert, Paris 2004, S. 4. In: Offizielle Homepage von Kurt Drawert, URL: http://www.kurtdrawert.de/_data/pdf/gespraech-mit-rodicadraghincescu.pdf (letzter Zugriff: 5.04.2018). 64 Die Ortlosigkeit. Fragen an Kurt Drawert.

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 7 Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Integrierte Generation (1949–1959)

literarischen Marktes bzw. die Rahmenbedingungen der literarischen Rezeption. Als gebundene Ausgabe sind Drawerts Gedichte erschienen. Andere Texte wurden nur als Taschenbücher herausgegeben, was Elsbeth Pulver zufolge in Redaktionen zu wenig beachtet wird.65 Drawert schreibt aber auch Essays, Erzählungen und Dramen. Der ‚Wende‘ begegnet er mit dem essayistischen Roman Spiegelland. Ein deutscher Monolog (1992), wie mit dem Essay-Band Haus ohne Menschen. Zeitmitschriften (1993) oder auch Fraktur (1994) mit Lyrik, Prosa und Essays. Nach der ,Wende‘ zieht er symbolisch „einen Schlußstrich unter die DDR“,66 und zwar nicht nur in literarischen Texten, sondern auch im wirklichen Leben – er verlässt nämlich Leipzig, wo er sich nicht mehr „arbeitsfähig“ fühle, und zieht in den Westen. Er bleibt aber der Unangepasste, einer der DDR-Autoren, die sich weder im sozialistischen Osten noch im kapitalistischen Westen beheimatet fühlen,67 was in den oft zitierten Zeilen seines Gedichtes Ortswechsel deutlich zum Vorschein kommt: „Nirgendwo bin ich angekommen. Nirgendwo war ich zu Haus“.68 Das Fremdsein erscheint als eine der Grunderfahrungen Kurt Drawerts. Im Jahre 1992 erscheint Kurt Drawerts Prosadebüt Spiegelland. Ein deutscher Monolog, ein schmaler Band, der als „essayistischer Roman“69 präsentiert wird. Im Gegensatz zum Großteil der Texte seiner älteren Kollegen wird Drawerts Buch nicht in einem ostdeutschen bzw. ehemaligen DDR-Verlag herausgegeben, sondern in einem renommierten westdeutschen Verlagshaus mit einer langen Tradition, nämlich Suhrkamp, was die Position des Autors auf dem literarischen Markt eindeutig zu stärken vermag. Er wird dadurch symbolisch in den Literaturbetrieb der ‚alten Bundesländer‘ aufgenommen. Umgekehrt kann gesagt werden, dass sich der Autor damit von der Tradition der DDR-Literatur absetzt. Im verlegerischen Peritext wird auf den Erfolg des Autors verwiesen, „der sich als Lyriker mit dem Gedichtband Privateigentum einen Namen machte.“ (KDS 2) Der Text wird nicht explizit als Autobiographie ausgewiesen. Auch der Untertitel „ein deutscher Monolog“ betont eher den universellen Charakter der Aussage, denn das Leben Kurt Drawerts. Spiegelland „gründet“ – heißt es im Klappentext – „auf den Erfahrungen eines Lebens in der untergegangenen DDR.“ (KDS 2) Und doch werden autobiographische Elemente hervorgehoben, die dem Erzählten zugrunde liegen. In diesen Monologen der Selbstvergewisserung, geschrieben im Zeitraum von fünfzehn Monaten zwischen 1990 und 1991 in Schleswig-Holstein, setzt sich Kurt Drawert in kunstvoll gefügten

65 Vgl. Pulver: Drawert, S. 9. 66 Zit. nach: Serke: Zuhause im Exil, S. 399. 67 Vgl. Pulver: Drawert, S. 2. 68 Kurt Drawert: Ortswechsel. In: ndl 41 (1993), S. 24. 69 Kurt Drawert: Spiegelland. Ein deutscher Monolog. Frankfurt a.M. 1992, S. 2. Im Folgenden werden Zitate als Sigle KDS mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen.

7.1 Kurt Drawerts Spiegelland (1992) 

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Sprachbewegungen der Erinnerung und der ‚Wiederholung‘, erzählend und reflektierend, mit der eigenen Biographie und der Geschichte des Herkunftslandes auseinander – um das eigene biographische „Niemandsland“ besser zu verstehen. (KDS 2)

Im Peritext werden autobiographische Reflexe vermerkt, ohne dass zum autobiographischen Pakt eingeladen wird. Versprochen wird nicht ein den Tatsachen getreues Dokument, sondern ein Einblick in ein exemplarisches Schicksal. Ergänzend zu den ‚Gebrauchsanweisungen‘ im verlegerischen Peritext verweist auch Kurt Drawert in einem Interview darauf, dass der Ich-Erzähler von Spiegelland nicht mit dem Autor gleichzusetzen ist, wohl aber aus dessen Erfahrungen schöpft. Ausschlaggebend sei jedoch nicht die Frage nach der ,Wahrheit‘ der Tatsachen, sondern die Frage der Atmosphäre, die dadurch (re)konstruiert werden soll: Selbst wenn man streng mit biographischen Fakten arbeitet, unterliegt man ästhetischen Gesetzen, die der Text fordert, entwickelt sich eine Eigendynamik an Erinnern und Erzählen, daß nur noch ein Idiot davon ausgehen würde, so habe sich das alles einmal abgespielt. Aber darum geht es nicht, sondern um die Wiederherstellung von Gefühlen, davon, was mit dem Körper passiert war, nicht, was er tat. Das ist literarische Wahrheit, die mit der Wirklichkeit nur noch bedingt zu tun hat und doch ihr erster Sinn ist.70

Drawert scheint zwischen einer ,höheren‘ Wahrheit und der Wirklichkeit, zwischen dem Atmosphärischen und dem rein Faktualen zu unterscheiden. Letztendlich kommt es darauf an, wie die eigene Lebensversion konstruiert wird, um dem Leser den hinter ihr stehenden Sinn zu vermitteln. Und so werden auch Prägeerfahrungen ausgewählt, die das Subjekt des Spiegellandes dazu gemacht haben, was es zum Erzählzeitpunkt auch ist, oder aber – wie Wolfgang Emmerich in der Kleinen Literaturgeschichte der DDR diagnostiziert – im Zentrum steht „die altvertraute Frage nach den eigenen Kindheitsmustern: Wie bin ich so geworden, wie ich heute bin?“71 Im Klappentext wird eine Stelle aus dem Text zitiert, die dem Leser einen Einblick in den Inhalt geben soll: Denn der Gegenstand des Denkens ist die Welt der Väter gewesen, von ihr sollte berichtet werden, und wie verloren sie machte und wie verloren sie war – als herrschende Ordnung, als Sprache, als beschädigtes Leben. (KDS 2)

Die Verarbeitung der Vergangenheit ist bei Drawert jedoch nicht ins Äußere gewendet. Der Erzähler erscheint als Teil dieser Welt – nicht zuletzt, weil er selber ein Vater ist –, geprägt vom Land seiner Herkunft. Und auch wenn die DDR – von der hier die Rede ist – nicht mehr existiert, scheint das Subjekt von ihr nicht befreit zu sein. Diese Position wird auf der Rückseite des Umschlags mit den Worten Kurt Drawerts hervor-

70 „…Und ich begehre, meinem Körper eine Geschichte zu geben …“. Andreas Herzog im Gespräch mit Kurt Drawert. Leipzig, 8.01.1994. In: Kurt Drawert: Fraktur. Leipzig 1994, S. 243. 71 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 490.

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 7 Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Integrierte Generation (1949–1959)

gehoben. Zitiert wird eine Passage aus dem Drawertschen ,Monolog‘, die die Charakteristik aus dem Klappentext ergänzt und präzisiert: … doch mit dem Land sterben die Begriffe noch nicht, die es hervorgebracht hat, wir haben, sagte ich zu W., den ich zufällig, nach fast zehn Jahren, wiedertraf, mit Begriffen gelebt und mit einer Sprache gelebt, die über Existenzen entschied und über Biografien, ritualisierte Verständigungssätze, magische Verkürzungen, Formeln der Anpassung oder der Verneinung, auswendig gelernt, dahingesagt, die Verformung der Innenwelt durch die Beschaffenheit der Wörter … (KDS Rückseite des Covers)

Die Rede in der ersten Person Singular mag zu einer autobiographischen Lesart verführen,72 sofern der potentielle Leser mit der Gestalt Kurt Drawerts vertraut ist. Dies vorausgesetzt, vermag er mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erkennen, dass es sich dabei um die DDR handelt. Falls das Buch aber einen auf diesem Literaturgebiet unbewanderten Leser erreichen soll, liefert auch der verlegerische Peritext die nötigen Informationen und stellt Drawert vor: „1956 in der DDR geboren, lebt in Leipzig.“ (KDS 2) Darauf beschränkt sich praktisch auch die biographische Notiz. Die Berührungspunkte zwischen den Lebensstationen aus dem Buch und den Episoden im Leben des Autors werden nicht zusätzlich hervorgehoben, so dass kein Ansporn gegeben wird, das Dargestellte mit dem Tatsächlichen zusammenzustellen, um den ,Wahrheitsgehalt‘ zu erforschen. Da das Buch nicht als Hardcover herausgegeben wird, sondern als Taschenbuch in der Reihe edition suhrkamp, liefert auch der Umschlag kein Interpretationsangebot. Statt eines Bildes oder eines Fotos, das zur Deutung bewegen könnte, gibt es hier nur eine neutrale Farbe. Das Schwarz-weiß-Foto, auf dem eine ernsthaft blickende Gestalt des Autors abgebildet ist, steht im Inneren des Bandes, aber nicht an der exponierten Stelle auf dem Cover. Die dem eigentlichen Text vorangestellte Widmung provoziert abermals zu einer autobiographischen Lektüre, weil Drawert das Buch seinen „Söhnen Lars und Tilman

72 Spiegelland wird oft als autobiographischer Text gelesen. So scheint auch der hier mehrmals zitierte Jürgen Serke in seinem Porträt Drawerts Stellen aus dem Buch zu zitieren, die als Beweismaterial betrachtet werden, ohne die Entstellung um der Ästhetik willen zu erwähnen. Auf die „stark autobiografische[n] Züge“ von Spiegelland – wie etwa die Dresdener Vergangenheit, Familienverhältnisse – verweist auch Stephen Brockmann (Stephen Brockmann: Kurt Drawert und die untergegangene DDR. In: Text + Kritik 213 (2017), S. 25). Dass der Text „sehr stark autobiografisch grundiert ist (der Vater im Text ist wie Drawerts Vater Kriminalbeamter, darüber hinaus ist Dresden, ein Ort des Handlungsgeschehen [sic!], die Stadt, in die Drawerts Familie umzog, als er zwölf Jahre alt war)“, betont ebenfalls Michael Opitz in demselben Drawert-Band von Text + Kritik (Michael Opitz: Selbst(er)findung mit Vater und Land. Kurt Drawerts Spiegelland. In: Text + Kritik 213 (2017), S. 17). Marcus Hipp bezeichnet den Band als einen „autobiographischessayistische[n] Erinnerungsalbum“ und den Erzähler als „das autobiographische Ich“ (Markus Hipp: Über den Umgang mit Schuld in Kurt Drawerts deutschem Monolog Spiegelland. In: Brünner Beiträge zur Germanistik und Nordistik 45 (1996), S. 70, 69). Autobiographisch scheint den Text auch die Jury des UweJohnson-Preises zu lesen, der Kurt Drawert 1994 verliehen wurde. In der Begründung lesen wir nämlich: „In seinem ersten Prosawerk [Spiegelland – K.N.] erkundet der Autor durch eine kunstvolle Mischung von Erzählung und Reflexion seine eigene Geschichte und die der untergegangenen DDR.“ (http://www. kurtdrawert.de/auszeichnungen/uwe-johnson-preis/, letzter Zugriff: 19.04.2018).

7.1 Kurt Drawerts Spiegelland (1992) 

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im Sinne einer Erklärung“ (KDS 7) überreicht. Das Possessivpronomen verweist auf den Autor Kurt Drawert, dessen Name auf dem Umschlag steht. Die Personalien seiner Söhne begründen die Referenzialität des Geschriebenen. Die Intention des Textes, die hier als Erklärung kurz gefasst wird, erläutert das anstelle eines Mottos platzierte Gedicht Drawerts, das wie alle übrigen Monologe des Bandes mit Auslassungspunkten beginnt, als wäre die Aussage herausgerissen aus einer größeren Einheit. … doch es muß auch eine Hinterlassenschaft geben, die die Geschichte, auf die ich selbst einmal, denn das Vergessen wird über die Erinnerung herrschen, zurückgreifen kann wie auf eine Sammlung fotografierten Empfindens, und die die Geschichte, denn das innere Land wird eine verfallene Burg sein und keinen Namen mehr haben und betreten sein vor dir als einem Fremden mit anderer Sprache, erklärt. (KDS 8)

Die Zeilen dürfen als Erklärung der Erzählmotivation gedeutet werden. So ist das Buch als eine Sammlung von Erinnerungen konzipiert, die sich dem Vergessen widersetzen soll. Es handelt sich jedoch nicht um eine geordnete Geschichte, den Gesetzen der Kausalität untergeordnet, sondern um Einblicke in einzelne Episoden, die mit Fotografien nicht der Ereignisse, sondern der geistigen Zustände verglichen werden. So wird auch nicht chronologisch erzählt. Der namenlose Ich-Erzähler des Spiegellandes gibt Monologe von sich, die sich um eine Achse Familie – Sprache – Beschädigungsapparat drehen. Im Gegensatz zu den bisher besprochenen autobiographischen Texten werden hier nicht Großereignisse rekonstruiert, die sich für das erzählte Ich als prägend erwiesen, sondern eher die vorherrschenden seelischen Zustände. Den Text charakterisiert Elsbeth Pulver als „keine[n] unmittelbare[n], sondern eine[n] artistische[n], bewusst gesetzte[n]“.73 Er kann zwar als Kindheits- oder auch Familienroman gelesen werden, Drawert entwickelt aber in dem Band seinen eigenen Stil, der allerdings – was manche Rezensenten nicht unbedingt zum Vorteil des Autors hervorheben – an Thomas Bernhard erinnert. Auch dies steht einer strikt autobiographischen Lesart im Wege: […] Drawert erzählt nicht nur, er reflektiert gleichzeitig die zentralen Elemente der Geschichte, indem er sie um- und umwendet und damit der Selbstverständlichkeit des Erzählens entzieht. Die überaus genau wiedergegebenen Einzelheiten, Sätze, Wörter, Bilder stellen – andersherum gesehen – die Fixpunkte dar, welche die Analyse im Konkreten verwurzeln. Drawert, der in seiner frühen Lyrik zum Lakonismus neigte, überlässt sich hier einem gewaltigen Sprachstrom, der an Thomas Bernhard erinnert – was in Rezensionen allgemein, teilweise kritisch vermerkt wurde

73 Pulver: Drawert, S. 4.

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und vom Autor auch nicht verborgen oder geleugnet wird. Denn nicht Abhängigkeit bezeugen die Bernhard-Anklänge, sie sind vielmehr Elemente der Verfremdung, die den autobiografischen Charakter brechen und verhindern, dass das erzählende Ich mit dem Autor gleichgesetzt wird.74

Wie im Paratext angedeutet, steht im Zentrum der Auseinandersetzung die „Welt der Väter“, in die das erzählte Ich hineingeboren wird und von dessen Mechanismen es als Mensch (den Vorstellungen der ,Väter‘ entsprechend) geformt wird. So werden dessen Vater und Großvater näher charakterisiert, die eher als Typen einer Haltung bzw. als Exempel fungieren. Der einmal geliebte und verehrte Großvater, Vertreter der DDRGründergeneration, der als überzeugter, beinahe fanatischer Kommunist galt, erweist sich als ein Opportunist, der das braune Hemd der Nazizeit mit einem roten Gewand überdeckte, ohne dass es jemand merkte bzw. registrieren wollte, um schließlich nach der ‚Wende‘ eine reiche Unternehmerwitwe zu heiraten, die noch bis vor kurzem den imperialistischen Feinden zugerechnet werden musste. Der Vater, treuergebener Beamter des sozialistischen Systems, scheint nur über eine „berufsbedingte Meinung“ (KDS 83) zu verfügen. Er unterstützt auch die Lebenslüge des Großvaters durch seine Passivität, verschweigt seine Vergehen, vernichtet das Beweismaterial, wodurch er im gewissen Sinne eine doppelte Schuld auf sich nimmt. Dazwischen steht der IchErzähler, der seine Kindheit und Jugend – auf die auch die Prägephase zurückfällt – als „trostlos[…]“ (KDS 39) bezeichnet. Sehr früh wird er zum Opfer der Versklavung. Beeinflusst wird er von jenen scheinbar harmlosen Formeln, die jedem Kind bereits während des Spracherwerbs beigebracht werden. So sind auch Schreibübungen im Grunde eine der sozialistischen Ideologie entsprechende Erziehung. Hinter den Zeichen stehen Inhalte, die einem zum Widerspruch und zur selbständigen Meinungsbildung unfähigen Kind eingeimpft werden, was im Falle des erzählten Ich jedoch von Anfang an scheitert. „[…] Mutter hockte nieder vor mir und lehrte mich ,Arbeiter- und Bauernstaat‘ zu schreiben […], ich war aber auch ein zu blödes Kind“ (KDS 10), heißt es im ersten Kapitel des Monologs.75 Es kommt Drawert aber nicht nur auf die Darstellung des Familiären alleine an, sondern darüber hinaus auf die des totalitären Systems. „Die Mechanismen der Familie decken sich punktgenau mit denen der Gesellschaft.“ – verweist Elsbeth Pulver – „Dass väterliche und staatliche Macht deckungsgleich zusammenfallen, das erst macht die Situation des Kindes ausweglos (und unterscheidet sie von der eines im Westen aufwachsenden Jugendlichen).“76 Das Kind von damals wurde zum Objekt der Herrschaft von Vater und Großvater, die es als ihr Ebenbild sehen wollten. Noch bevor es beim Jugendlichen zu einem bewussten Widerspruch, zur Rebellion kommt, scheint sich das erzählte Ich (noch nicht ganz bewusst) von der herrschenden Ideologie zu distanzieren. Und so ver74 Pulver: Drawert, S. 4–5. 75 Die einzelnen Kapitel werden im fortlaufenden Text Drawerts lediglich nummeriert, so dass sich der Leser im Voraus auf die Aussage der einzelnen Teile nicht vorbereiten kann. Im Inhaltsverzeichnis werden die einzelnen Kapitel jedoch mit einem Titel versehen. 76 Pulver: Drawert, S. 5.

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stummt das Kind, das die Sprache schon so gut beherrscht hatte, dass es in dem Aufsagewettbewerb bei der Großmutter (vgl. KDS 31) für seine Sprachgewandtheit sogar gepriesen wurde, weil es so „ordentlich“ (KDS 31) rezitierte, d.h. das Vorgegebene reproduzierte statt mit der eigenen Sprache zu sprechen. Verzweifelt sucht der Vater nach einem Rat beim Arzt und hört eine unbequeme Diagnose: Dieses Kind ist ein in den Sätzen und Formulierungen verlorengegangenes Kind, das verwirrt worden ist von einer Sprache, die nur die Ordnung des Vaters repräsentierte und von ihm verlangte, daß es würde wie er. Das Kind fühlt sich durch die Sprache beherrscht, soll er [Arzt – K.N.] gesagt haben. Es spürt, daß in ihr ein Herrschaftsanspruch eingelöst werden soll, durch den es sich und seinen Körper aufzugeben hat. (KDS 34–35)

Auch wenn der Vater eine Reihe von Maßnahmen unternimmt – vom Arztbesuch bis hin zu Strafen (so wird das Kind etwa „in die Dunkelheit des Kellers gesperrt“ (KDS 30) –, bleibt es weiter stumm. Damit stürzt das erzählte Ich den Vater „in Sorgen, in eine von mir bezweckte Kränkung: der Sohn, ein Ebenbild seiner selbst ohne Sprache, ein blinder Spiegel“ (KDS 25). „Situation eines beschädigten Sprechens“ (KDS 27) nennt es der Ich-Erzähler und reflektiert über die Gründe der Stummheit: Das Sprechen wie auch das Hören wurde mir zum Erlebnis der Angst, denn hatte Vater gesprochen, so schien es zunächst ein vertrautes, verbindliches und bekanntes Sprechen gewesen zu sein, denn es war ein aus vertrauten, verbindlichen und bekannten Wörtern zusammengesetztes Sprechen, das vorgab, identische Inhalte zu vermitteln, um schließlich nichts als Täuschung und Leere zu hinterlassen und zu zeigen, daß das Sprechen keinen gesicherten Sinn gibt. So war es schlimmer und verunsichernder noch, wenn Vater (oder auch Großvater, beispielsweise) gesprochen hatte, als wenn jemand in fremder Sprache […] gesprochen haben würde. (KDS 27)

Die im Alltag verwendeten Floskeln, die im Widerspruch zur Realität stehen, werden durch eine Situation aus der frühen Kindheit des erzählten Ich veranschaulicht. Als das erzählte Ich und seine Mutter im Wald unterwegs waren und Pilze sammelten, bemerkten sie russische Soldaten. Der Erzähler verweist auf die Angst der Mutter, die – ohne die zu Boden heruntergefallenen Pilze wieder in den Korb einzusammeln – sich von dem Ort möglichst schnell entfernen will, als wäre sie in Lebensgefahr. Die beschriebene Situation der Bedrohung wird der Verlogenheit der Sprache entgegengesetzt. Die Russen galten im offiziellen Sprachgebrauch als Freunde, als das Brüdervolk schlechthin, was im Widerspruch zu der Überreaktion der Mutter steht. […] neben uns im Gebüsch hockten friedliche Russen, Mutter war voller Angst und schwitzte, der Korb mit frischen Pilzen rutschte vom Lenkrad, kippte um und verschüttete den Inhalt, den sie nicht auflesen wollte in ihrer Eile und Furcht, sie wollte nur diese einst so vertraute und plötzlich gefährliche Stelle verlassen so schnell es ging, der Sand war aufgerissen von Panzerfahrzeugen […], am Abend kam der Vater nicht nach Hause, was geschehen war, hieß Grenze. Diese Schwierigkeit mit den Worten. Ich war aber auch ein zu blödes Kind. (KDS 10)

Die Formel „ein zu blödes Kind“ klingt in dem oben angeführten Zitat wie eine ihm aufgezwungene Identitätszuschreibung. Wer nicht mitmachen will, wer die sozialisti-

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schen Zauberformeln – die die Wirklichkeit entstellen, das Unbequeme verschweigen – nicht einverleibt, wird ausgeschlossen. Mit dem offiziellen Weltbild werden die Angehörigen dieser Generation auch in der Schule konfrontiert. Dort herrschen „Anpassungsrituale[…]“ (KDS 15), die jede Individualität vernichten sollen. Einen besonderen Hass äußert der Ich-Erzähler einer „technischen Schule“ (KDS 17) gegenüber, die er besuchen muss, weil ihm „aufgrund eines nichterfolgten Bekenntnisses der sogenannte höhere Bildungsweg, der in Wahrheit ein höherer Verblödungsweg war, versagt gewesen ist“ (KDS 16). In jeder Lehranstalt – sei es eine Berufsschule, sei es eine Universität – erkennt er „eine Verhinderungsinstanz des Denkens“ (KDS 15), die die nächste Generation „vollständig verblödet und vernichtet“, damit sie „jene hochbeamteten Stellungen [übernimmt] […], die vor zwanzig Jahren noch unseren Vätern gehörten.“ (KDS 16) In diesen Lehranstalten wurde auch die „Spreu“ vom „Weizen“ (KDS 14) getrennt – wodurch dem Ich-Erzähler zufolge „eine gespaltene Generation“ entsteht, „deren oft bessere Hälfte ins Abseits und in die Chancenlosigkeit und in die Randexistenz“ (KDS 14) gerät. So gibt es unter seinen Alters- und Schicksalsgenossen neben den Angepassten auch die „gebrochene[n] Existenzen“ (KDS 24), denen der Erzähler das erzählte Ich eindeutig zurechnet. Das erzählte Ich wird mit seinen „damals langen Haare[n]“ aus der Schulgemeinschaft ausgestoßen, weil es sich von dem System entfernt hatte, weil er „eine Sprache verlassen hatte, in deren Gefängnis sie [seine Kommilitonen – K.N.] starben.“ (KDS 17) Die Ausweglosigkeit seiner Lage wird wie folgt geschildert: Aber auch ich hätte so ins tatsächliche Verkommen geraten können, ziellos und heimatlos und  verzweifelt, wie ich mich fühlte, wenn ich morgens um sechs in die Lehranstalt lief und neben mir die technikbegeisterten Jünglinge sah, wie sie innerlich ausgelöscht über Schaltkreise sprachen […]. Ich muß der allereinsamste Mensch gewesen sein unter den Kommilitonen des Schwachsinns und dem nazierzogenen Lehrer, der nur noch ins Verkommen und ins Nichtstun geraten wollte, daß das Gegenteil von Nichtstun und Verkommen eben diese unerträgliche, geisttötende und sterbenslangweilige Ausbildung war mit ihren Zwängen und Verlogenheiten und Anpassungsritualen. Immer wieder nahm ich mir vor, abzubrechen und umzukehren, wenn ich an der rotbeleuchteten Aufschrift „Der Sozialismus siegt“ vorbei über die Straße in die Lehranstalt lief […]. (KDS 15)

In dem vorgeplanten Leben gibt es beinahe keinen Platz für persönliche Freiheit, für kleine Freiräume, die die Existenz erträglicher machten. Dem erzählten Ich helfen dabei Selbstmordphantasien, die ihm das tröstende Gefühl geben, zumindest über seinen Abschied von dieser Welt alleine entscheiden zu dürfen: „Wenn es zu unerträglich wird und es nichts gibt, worauf zu warten oder zu hoffen bliebe, bringst du dich um, sagte ich mir fast jeden Tag und an manchen Tagen fast stündlich […]“ (KDS 54). Er kann die Gedanken, die bald zu konkreten Plänen werden, von seinem Vater, dem erfahrenen Ermittler, verheimlichen, was auf ihn auch wohltuend wirkt, weil er sich seinem Vater überlegen fühlt (vgl. KDS 57). Zu seinem siebzehnten Geburtstag beschließt er, noch drei Jahre zu leben (vgl. KDS 58).

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Weiteren Freiraum bietet dem Jugendlichen von damals die Jugendkultur, weit entfernt von der offiziellen Propaganda. Dazu gehören verbotene Bücher, Alkohol und Musik, die die verhassten Väter zumindest im Imaginären sterben lassen (vgl. KDS 13). So behauptet der Ich-Erzähler von der DDR-Kultur nur ex negativo geprägt worden zu sein. Unter seinen Vorbildern werden weder Christa Wolf noch Stephan Hermlin genannt, geschweige denn parteitreue Schriftsteller wie etwa Hermann Kant. Ich war fünfzehn, als mir der etwas ältere Jugendfreund Bücher zu lesen gab, die mein Leben entscheidend prägen sollten, Freud, Sartre, Dostojewski, Nietzsche, Als Zarathustra dreißig war…, Hermann Hesses Steppenwolf, wir saßen in einem provisorisch hergerichteten Keller als die verkommenen Söhne hochbeamteter Väter […]. (KDS 12)

Dem Ich-Erzähler zufolge entkommt ein Teil der besagten Generation, die in die DDR hineingeboren und zu Nachfolgern erzogen wurde, dem vorgeschriebenen Weg, beschränkt sich nicht auf die Reproduktion der sozialistischen Muster, sondern sucht nach ihren eigenen Ausdrucksformen – im Falle des erzählten Ich sind es die langen Haare, aber auch Gedichte, die es später verfasst. Die Individualität wird in der Schule wie in der Familie unterdrückt, was ein anhaltendes Trauma auslöst. Vonseiten des Vaters erfährt das erzählte Ich keine Liebe, geschweige denn Unterstützung und Verständnis. Vom Vater wird es auch sehr schnell jener im ganzen Land herrschenden „Illusionsgeborgenheit“ (KDS 88) beraubt, als es die von dem Kriminalbeamten untersuchten Fälle – meist Morde, die der herrschenden Ideologie zuliebe zu Selbstmorden stilisiert werden – auf den im Arbeitszimmer des Vaters herumliegenden Bildern sieht oder auch von denen er zu hören bekommt, während es „wie allabendlich zur Sandmannzeit vor dem Fernseher“ (KDS 84) sitzt. [I]ch wußte nicht, wohin ich eigentlich gehörte, die Welt der Schule und der Wandzeitungen und der Bücher und der Sendungen und der Lieder und der Gelöbnisse und der gewaschenen Kleidung und der geputzten Schuhe und der gereinigten Sprache usw. ließ eine Geborgenheit zu, von der die Welt der Verbrechen und Kriege und Verfallenheiten unwirklich wurde, eine Krankheit schien immer eine zu heilende Krankheit und ein Krieg immer ein durch einen Sieg der gerechten Partei beendbarer Krieg und ein Verbrechen immer ein aufklärbares Verbrechen zu sein. Aber es war nicht nur ein Privileg der Kinder, mußte ich später erkennen, in eine Geborgenheit hineingezogen worden zu sein, alle Menschen waren durch Sendungen und Bücher und sanfte Versprechen in eine Realität hineingezogen worden, vor der die Realität der Verbrechen und Kriege und Verfallenheiten unwirklich wurde […]. (KDS 88)

Gezeigt wird zwar die Naivität des Kindes von damals. Da der Ich-Erzähler über einen eindeutigen Wissensvorsprung verfügt, nähert er sich (psycho-)analytisch dem Bewusstseinszustand des erzählten Ich und verweist auf die in ihm schon früh entfachte Ahnung, dass „die Realität jenseits des Zimmers [des] Vaters eine Illusionsrealität […] war“ (KDS 89). Darin glaubt der Erzähler den entscheidenden Grund zu erkennen, warum das Kind auf Kinderbücher und Kindersendungen verzichtet, als ob es die Lüge der ,heilen‘ Welt durchschaut hätte.

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Der Vater zerstört nicht nur das Gefühl der Geborgenheit und das Vertrauen gegenüber der Welt, sondern auch das Selbstwertgefühl des Kindes und des Jugendlichen von damals. Seine Vorlieben werden nicht akzeptiert. Statt bedingungsloser Liebe behauptet der Ich-Erzähler vom enttäuschten Vater nur Kritik und Ablehnung bekommen zu haben. Alles […] hat er [der Vater – K.N.] dir zerstört, was du gerade zu lieben begonnen hattest, ich bekam Fotos geschenkt, aber es waren feindliche Fotos, und er hat sie zerrissen, ich las Bücher, die feindliche Bücher waren und die er verbrannte, ich trug die Haare zu lang und den Schal zu lässig und die Mütze zu weit in die Stirn gezogen, die Haare hatten immer in der Länge eines Streichholzes zu sein […] und die Mütze mußte mit ihrem Rand die Augenbrauen bedecken, ich hatte eine kranke Haltung, eine fehlerhafte Aussprache und einen schlechten Charakter […]. (KDS 110)

Der Vater, der sich mit dem sozialistischen System identifiziert, versucht sich um jeden Preis anzupassen und nicht aufzufallen, während der Sohn gerade nach seiner Identität sucht und seine Individualität hervorheben will, was im Elternhaus wie in der Schule unterdrückt wird. Das System sieht auch keine Möglichkeit der Diskussion vor. So zählt die Meinung der jungen Generation weder in den Lehranstalten noch zu Hause. Im Elternhaus des erzählten Ich werden ebenfalls keine Gespräche geführt, sondern nur „Aussprachen“, in denen nur der Standpunkt des Vaters zählt, die im Grunde nur „rhetorisch umschriebene Verfügungsinstrumente“ (KDS 114) sind. So entdeckt das einmal stumme Kind in seinem Vater einen Mann, der im gewissen Sinne ebenfalls sprachbeschädigt war, weil er nicht über eine eigene Sprache verfügte. Er hatte nur die ideologietreuen Formeln dermaßen verinnerlicht, als wären sie das Resultat seiner Erwägungen. Die unreflektierte Anpassung des Vaters steht hier exemplarisch für die Passivität eines Großteils der DDR-Gesellschaft, behauptet der Ich-Erzähler: [A]ber was das Traurigste war, daß er [der Vater – K.N.] zwar ein aufgeklärter, an die Kraft der Vernunft glaubender Mensch gewesen ist, aber nicht über ein Wort eigene Sprache verfügte, durch die er ein aufgeklärter, an die Kraft der Vernunft glaubender Mensch hatte sein können, er ist derart sprachlos gewesen und hat die ganze Sprachlosigkeit der Gesellschaft wiederholt, daß er tatsächlich immer nur auf Überführungen hinauslaufende Aussprachen führen konnte, er konnte nie ein Gespräch führen, er konnte immer nur Aussprachen führen […], und diese Sprachlosigkeit, die eine angeeignete und wiederholte Sprachlosigkeit der Gesellschaft gewesen ist, in der er ein besonders Beauftragter war […]. (KDS 120)

Der Vater war zwar ein ,Beauftragter‘, ein Vollstrecker, nicht aber der Entscheidungsträger. Er hat das System weder entworfen noch aufgebaut, sondern die bestehende Ordnung unterstützt. Die Entscheidungen wurden von Angehörigen einer älteren Generation getroffen, der der Großvater angehörte. So kommt auch im Drawertschen Monolog die intergenerationelle Dynamik zum Vorschein. An der Spitze der Hierarchie stehen die antifaschistischen Widerstandskämpfer, die den jüngeren Kohorten das Leben vorplanen. Ihren Machtanspruch legitimiert ihre Haltung im Hitlerdeutschland und ihr Engagement im Namen der kommunistischen Ideale – so weit

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der Mythos. Der Realität kommt der Ich-Erzähler als erwachsener Mann, der inzwischen selber Vater geworden ist, rein zufällig auf die Spur, als er auf ein auf das Jahr 1941 zurückdatiertes Foto stößt, auf dem der Großvater in einer Uniform zu sehen ist, ohne dass auf seinem Gesicht Spur des Unbehagens, geschweige denn der Empörung vernommen werden kann. Auf diese Episode kommt der Ich-Erzähler in drei Kapiteln zu sprechen, so dass es in den Erinnerungen an eine exponierte Stelle gesetzt wird. „Die wiederholte Beschreibung einer Fotografie“ rechnet nicht nur mit der Position des Großvaters ab, sondern darüber hinaus mit dem Gründungsmythos einer ganzen Generation, die den Misstrauischen Patriarchen sehr wohl entspricht. Ein scheinbar unbedeutender Gegenstand wie das zufällig entdeckte Foto entblößt das auf verschwiegenen Verfehlungen fußende sozialistische System. …nun aber, es war purer Zufall, ich suchte im Geräteschuppen der Laube nach Werkzeug, um das Fahrrad meines Sohnes zu reparieren, nun entdeckte ich diese durch Nässe halb verschimmelte Pappschachtel […], und das erste, was mir entgegenfiel, war jene Fotografie: Großvater in der Mitte seiner jungen, blonden Familie unter dem Christbaum, stolze Geste, Modebart, in Uniform, herausgeputzte, zum siegreichen Vater emporschauende Söhne, und auf der Rückseite die Notiz: „Für Führer, Volk und Vaterland – Weihnachten 1941“. Alles, aber auch alles Lüge, dachte ich, nicht nur die zur Familienchronik gewordene Geschichte der Ehe war bloße Erfindung, sondern auch die gesamte Biografie war eine zur Wahrheit ernannte Wunschbiografie und bloße Erfindung, deren trauriger Schatten auf sieben mal zehn Zentimetern zu sehen war. Wie habe ich ihn mir, angespannt seinen Erzählungen lauschend, vorgestellt, als ich Kind war, welche Bilder von einem Widerstandskämpfer hatte ich, und warum er im Krieg war, nun, man mußte, man hatte Familie und mußte, um sie zu schützen, auch dies war verständlich, dann Desertion und frühzeitige Kriegsgefangenschaft als Form der Verweigerung, dann Heimkehr und Wiederaufbau, Parteiarbeit, ein ungebrochener Marxist. Aber jetzt dieses Foto […]. (KDS 59–60)

Die vorbildhafte Biographie war eine Erfindung des Großvaters wie auch der „ganze[n] Generation“ (KDS 61). Aber nicht die Fehler alleine, die das einstmalige Vorbild gemacht hatte, empörten das erzählte Ich, sondern vielmehr der Umgang mit den eigenen Sünden, die verschwiegen wurden, so dass eine mustergültige Biographie entworfen wurde, die die Macht der Patriarchen legitimierte. Um die eigenen Vergehen zu vertuschen, wurde alles vernichtet, was sie gefährden konnte, nämlich jede Spur der Individualität, des selbständigen Denkens, des kritischen Hinterfragens: […] zu diesem Umgang gehörte schließlich nicht nur das Vergessen und Verleugnen von Tatsachen und das Erfinden von anderen Tatsachen, sondern zu diesem Umgang gehörte vor allem die bedingungslose und entschiedene Zerstörung all dessen und all derer, die die erfundenen Tatsachen nicht übernahmen und das paranoische Bewußtsein aufzubrechen begannen. (KDS 61)

Das Misstrauen der DDR-Gründergeneration wird im Text explizit angesprochen. Hinter dem Kontrollbedürfnis erblickt der Ich-Erzähler die Angst, entlarvt zu werden. Deshalb „beschatteten und belauerten und mißtrauten [sie] sich selbst, sie hatten einen Apparat entwickelt“ (KDS 66). War aber die Generation des Vaters noch dazu bereit, die Lebenslüge der Gründerväter der Republik zu schützen, und die unbeque-

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men Episoden zu verschweigen bzw. das Belastungsmaterial zu vernichten, ist der Ich-Erzähler mit der „Verabredung zum Schweigen“ (KDS 157) nicht einverstanden und beschließt die unbequemen Tatsachen zur Sprache zu bringen. Das passiert aber erst nach dem Umbruch von 1989/90. Die Generation des Großvaters erlebt auch den Zusammenbruch der DDR als eine schmerzhafte Zäsur, wenn nicht eine unverdiente Niederlage. Die Frage nach der eigenen Schuld wird weder vom Großvater noch vom Vater des erzählten Ich gestellt. Beide stilisieren sich zu Opfern, ohne zu bemerken, was sie ihren Söhnen angetan haben: [S]ie haben aus unzähligen Existenzen gebrochene Existenzen gemacht, und ich habe es mitangesehen, wie begabte und aufrichtige junge Menschen zu gebrochenen Existenzen geworden sind durch sie, die heute auf verwerflichste Weise die Schultern zucken und sich betrogen fühlen von einer angeblich im Imaginären liegenden Instanz […], die sich heute verraten fühlen, weil ihr eigener, kleiner, schäbiger Lügenapparat mit dem System der Lüge, dem sie für einen noch so lächerlichen Vorteil dienten so gut es ging, zusammenbrach. Sie haben sich engagiert für eine Macht jahrzehntelang, nicht, weil sie eine bestimmte Ideologie vertrat, sondern Autorität bedeutete, und sie haben für diese Macht noch im Oktober [1989 – K.N.] von jenen verächtlich gesprochen, die als erste in einem tatsächlichen Sinn auf die Straße gegangen waren, und sie hätten auch geschossen […], und es ist heute eine Schamlosigkeit und Verdorbenheit, wenn eben diese Menschen von Verrat, Betrug und Lüge reden, wenn sie die Schultern sinken lassen und ihren Lebensbruch registrieren und lauthals Vergeltung einfordern […]. (KDS 24)

Die Auseinandersetzung mit einem verhassten System, dem man unterworfen wird, verläuft an sich nicht emotionslos. Da sich die älteren Generationen aber auch nach der ,Wende‘ zu Opfern stilisieren, obwohl ihre Entscheidungen hinter der Tragödie der Protestierenden stehen, potenziert die Empörung des Ich-Erzählers noch zusätzlich. Die sogenannte friedliche Revolution ist das erste und einzige historische Großereignis, dem im Buch ein identitätsstiftendes Potential zugeschrieben wird. Und gerade in dem Moment, als sich die jüngere Generation gegen das System erhebt, ergreifen die Älteren das Wort, als wären sie nach wie vor berechtigt, im Namen der DDR-Gesellschaft schlechthin zu sprechen. Die ,Wende‘ scheint aber gerade für das erzählte Ich und seinesgleichen von besonderer Bedeutung zu sein, weil in Tausenden von Unterdrückten ein Glauben an eine „Utopie“ (KDS 18) entfacht wird, und zwar gerade in dem Moment, als sie sich in ihrer Illusionslosigkeit eingerichtet zu haben scheinen. Auch der Ich-Erzähler gibt zu, für eine kurze Zeit an die Revolution zu glauben, bevor sie „eine Sonderbriefmarke [wurde], dreißig plus fünf Pfennige wert“ (KDS 36). Die Ereignisse des Jahres 1989 werden als eine „Illusion“ (KDS 20) gedeutet. Die Hoffnung, dass „dieses abgestandene und heruntergekommene, kleine deutsche Land im Osten würde etwas hervorbringen können“ (KDS 20), schwand schneller, als sie geweckt wurde. Die nächste Generation erwies sich anscheinend unfähig, eine neue Qualität hervorzubringen. Auch wenn sie sich von dem alten System absetzt, bleibt es als Vergleichsgröße immer noch präsent. Wie Michael Opitz bemerkt, ist sich Drawert bewusst, „dass die Lösung aus den Sprach- und Herkunftsstrukturen nur

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bedingt gelingen kann.“77 Es kann keine endgültige Wende geben, weil man zu sehr von den Sozialisationsbedingungen geprägt wurde. Deshalb trägt Kapitel 19 auch den Titel „Kein Ende. Kein Anfang“ (KDS 158). Es wurde keine neue Sprache hervorgebracht. Statt dessen wurden nur die alten Floskeln umgekehrt: So ist diese Revolution eine von Anfang an zum Scheitern verurteilte Revolution gewesen, da sie die Sprache des Systems nicht verließ und lediglich versuchte, sie umzukehren, so daß das System kein gestürztes System, sondern ein lediglich umgekehrtes System geworden ist. Der gute Politiker war nunmehr der schlechte Politiker, der Revolutionär der Oppositionelle, der Scheinwerfer wechselte die Bühne, auf der die Unbekannten bekannt und die Unbegabten begabt und die Bestraften belohnt wurden, die Vergessenen wurden gefeiert und die Gefeierten wurden vergessen […], der Entnazifizierung folgte die Entstalinisierung, die Begriffe lösten einander ab nach einer Mechanik, die gleichblieb […]. (KDS 23)

Alles wird spiegelbildlich erlebt. Das Gegenteil des sozialistischen Systems ist nämlich nicht ein Bruch mit der alten Ordnung, sondern nur seine Umkehrung wie in einem Spiegelbild. So kommt Drawert in seinem Spiegelland letztendlich auf die Frage, ob es überhaupt möglich ist, sich von der Welt der Väter abzusetzen, „die sich reproduzierende Welt der Väter wirklich zu verlassen“.78 Diese Frage bleibt offen. Wie paradox die Lage ist, zeigt auch der oft vollzogene Versuch, Schriftsteller wie Kurt Drawert als Repräsentanten der DDR-Gesellschaft bzw. der ostdeutschen Literatur wahrzunehmen, während sie sich von ihrem Herkunftsland vehement distanzieren. Auch wenn der sozialistische Staat nicht mehr existiert, stehen seine ehemaligen Sklaven immer noch in seinem Bann. Die alten Klassifizierungen scheinen nämlich ihren Geltungsanspruch nicht verloren zu haben. Und so verweist auch der Ich-Erzähler auf dieses Verhängnis: Der einem wie Stallgeruch anhaftende Status DDR geht weiter und die belästigenden Fragen gehen weiter, nirgendwo kann man der Gesellschaft, in die man zufällig hineingeworfen war und die man vielleicht aus Faulheit und mangelndem Leidensdruck nicht verließ, da man lange schon fertig war mit ihr nach außen und innen und nichts mehr erwartete und nichts mehr bekam, entkommen, verurteilt, in der Fremde deren Repräsentant zu sein. Die erbarmungslose Unterstellung einer Identität mit seiner Herkunft. (KDS 37)

So weit sich Drawert aber von dem System entfernt, so sehr repräsentiert er doch den unangepassten, rebellierenden Teil des Generationszusammenhangs, der nach Ahbe und Gries die Integrierten genannt wird. Er scheint das Gegenteil des Zufriedenen und Angepassten zu verkörpern, das genaue Spiegelbild des von Ahbe und Gries skizzierten Porträts. Nichtsdestotrotz war er denselben Einflüssen ausgesetzt. Und gerade deswegen wird Drawert auch in dem vorliegenden Kapitel zum Repräsentanten ernannt.

77 Opitz: Selbst(er)findung mit Vater und Land, S. 19. 78 Hipp: Über den Umgang mit Schuld, S. 83.

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7.2 Poetisch verdichtete Geschichte eines Lebens in Peter Wawerzineks Erzählungen Das Kind das ich war (1994) und Mein Babylon (1995) Wurde Kurt Drawert im vorausgegangenen Kapitel als Außenseiter dargestellt, so darf Peter Wawerzinek, dessen Name der breiten Öffentlichkeit nicht zuletzt durch den ihm 2010 zuerkannten Ingeborg-Bachmann-Preis ein Begriff sein mag, nicht anders als ein Quergeist klassifiziert werden, der sein Einzelgängertum noch radikaler umzusetzen scheint. Sein Werdegang unterscheidet sich vom Schicksal Drawerts. Und doch scheinen die beiden Autoren vergleichbaren Einflüssen ausgesetzt gewesen zu sein. Geboren wurde Peter Wawerzinek im Jahre 1954 in Rostock. Als Kleinkind wurde er aber von seiner Mutter, die in den Westen ging, verlassen und wuchs zehn Jahre lang in Heimen auf, bis er – nach einer Reihe misslungener Adoptionsversuche – endlich bei einer Familie unterkommt.79 Die frühen Erlebnisse (wie auch die Begegnung mit der leiblichen Mutter) verdichtet Wawerzinek im Jahre 2010 zu dem erfolgreichen Roman Rabenliebe. Wie viele seiner Prosatexte weist auch dieser einen autobiographischen Hintergrund auf. Und trotzdem wird eine Geschichte erzählt, die über das Individuelle hinausgeht. Entstanden ist, wie Ulrich Greiner in einer Zeit-Besprechung anmerkt, das zum Himmel schreiende Dokument eines verratenen, verlassenen Kindes, und es würde uns nicht erschüttern, wäre es nicht zugleich ein literarisches Kunstwerk, in dem sich das erlittene Leid zu einer gewaltigen Klage auftürmt. […] Keine ordentliche Chronologie lesen wir, sondern tauchen ein in die Erinnerungsströme, in die Vergangenheitsbilder einer von Grund auf verstörten Seele. Die Sprache wechselt zwischen nüchternem Bericht und träumerischen Fantasien, lyrischem Singen und zorniger Anklage.80

Greiner kommt nicht nur auf die Inhaltsebene zu sprechen, sondern berührt auch das Wesentliche in Wawerzineks Stil. Denn die Substanz liegt im Sprachgewaltigen, im Experimentellen. Sein Kontakt zu der Prenzlauer Berg-Szene und nicht zuletzt die Zusammenarbeit mit dem mittlerweile zu einer Kultfigur avancierenden DDRUndergrounddicher und -performer „Matthias“ BAADER Holst verweisen eindeutig auf die ästhetischen Wurzeln Wawerzineks. Nachdem er die Ostseeküste verlassen hat und nach Ost-Berlin gezogen ist, studiert er anfangs an der Kunsthochschule Weißensee. Das Studium wird abgebrochen. Wawerzinek – nicht anders als Drawert – schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten als

79 Vgl. Janine Ludwig/Iris Thalhammer: „In den Büchern Fadheit, Geschwätz“. Peter Wawerzineks Abrechnung mit dem Prenzlauer Berg der 1980er Jahre. In: Janine Ludwig/ Miriam Meuser (Hg.): Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland. Freiburg 2009, S. 237. 80 Ulrich Greiner: Peter Wawerzinek. Der Schrei nach der Mutter. In: Die Zeit 34 (2010), URL: https:// www.zeit.de/2010/34/L-Wawerzinek (letzter Zugriff: 1.05.2018).

7.2 Poetisch verdichtete Geschichte eines Lebens in Peter Wawerzineks Erzählungen 

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Briefträger, Kellner, Totengräber durch.81 Sein Ziel bleibt aber nach wie vor Kunst, vor allem das Schreiben. Wawerzinek bezeichnet sich jedoch nicht als Schriftsteller, sondern betont immer die Mehrdimensionalität seines Schaffens. In einem Interview vom Frühjahr 1990 fasst er seine Tätigkeit wie folgt zusammen: Ich kann sogar für mich formulieren, daß ich es ablehne, für einen puren Literaten gehalten zu werden, für einen puren Sänger oder puren Clown oder Faxenmacher. Ich würde aber gerne alles sein: Sänger, Schauspieler, Faxenmacher.82

Wawerzinek – ähnlich wie Kurt Drawert – steht zwar den Prenzlauer Berg-Künstlern nahe, bleibt aber auch dort „ein eher geduldeter halber Außenseiter, dessen Mentor kein anderer als Adolf Endler war“.83 Diese Künstlerszene spielt aber in (nicht nur) seinem Werdegang eine wichtige Rolle. Es handelt sich nämlich um eine Freiheitsnische mitten in der DDR, die alternative Künstler sammelt. Der Großteil dieser Untergrundszene machen die ‚Hineingeborenen‘ aus, die – wie Janine Ludwig und Iris Thalhammer bemerken – „in den Staat keine politischen Hoffnungen mehr setzen und ihm eine eigene kulturelle Identität entgegensetzen wollen.“84 Um den Prenzlauer Berg herum entwickelt sich in den 1980er Jahren eine Gegenöffentlichkeit, die Kunstschaffende unterschiedlichster Provenienz versammelt, denen der Staat kein Angebot mehr machen kann. Es wird Ende der 1970er Jahre klar, in was für einer Krise die DDR steckt. Die Verfallssymptome reichen von der Verschlechterung der Versorgungslage bis hin zur Zerstörung der Umwelt. Die Biermann-Affäre 1976 zerschlägt die letzte Hoffnung auf Liberalisierung im kulturellen Bereich. In diesen Konstellationen erkennt Peter Geist die Ursprünge der Prenzlauer Berg-Kulturbewegung. In dieser Situation waren immer mehr „Hineingeborene“ (Uwe Kolbe), die nie etwas anderes kennengelernt hatten als den DDR-Sozialismus, nicht mehr bereit, die stillschweigenden und stillstellenden Agreements zwischen Staat und Bevölkerung weiter ungefragt zu akzeptieren.85

Als Antwort auf diese Enge entwickeln sich die urbanen Jugendkulturen, die – wie die Enthüllungen nach 1989 deutlich zeigen – von informellen Mitarbeitern der Stasi bespitzelt wurden. Peter Geist verweist noch darauf, dass die jungen Autoren keine Möglichkeit mehr hatten, in den offiziellen Zeitschriften zu publizieren, so dass sich die ‚Hineingeborenen‘ ihr eigenes Sprachrohr schaffen mussten. So entstanden Zeitschriften wie etwa Mikado oder der Kaiser ist nackt. Texte wurden auch in selbst

81 Vgl. Ludwig/Thalhammer: Wawerzinek, S. 237. 82 Aus dem Nichts heraus kommen, aus dem Nichts heraus was machen. Gespräch über Rockmusik, Schlager und Lyrik. Fragen an Matthias „Baader“ Holst Peter Wawerzinek von Asteris Kutulas, Frühjahr 1990, URL: http://asteris-kutulas.de/matthias-baader-holst/ (letzter Zugriff: 9.05.2018). 83 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 497. 84 Ludwig/Thalhammer: Wawerzinek, S. 238. 85 Peter Geist: Die Lyrik der nichtoffiziellen Literaturszene in der DDR (1976–1989). URL: petergeist. homepage.t-online.de/prenzlauerberg.htm (letzter Zugriff 20.04.2018).

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 7 Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Integrierte Generation (1949–1959)

verfertigten Editionen herausgegeben, jenseits des offiziellen Umlaufs. Der Druck von außen soll auf die informelle Gruppe stabilisierend gewirkt haben. Dieser Ausschluss einer halben Generation junger Schreibender aus dem Literaturbetrieb der DDR erreichte das Gegenteil des Bezweckten – das Gruppenverständnis der Ausgeschlossenen wurde bestärkt und installierte eine zirkuläre Gegenöffentlichkeit.86

In den 1990er Jahren wird der Prenzlauer Berg zu einem Mythos.87 Der Querdenker Wawerzinek entdeckt 1988 in „Matthias“ BAADER Holst, der in Halle bereits als „ein stadtbekanntes Originalgenie“88 gilt, einen Gleichgesinnten, mit dem er etwas habe anfangen können. Der heute als Vorreiter der Slam Poetry anerkannte Künstler89 stößt im Prenzlauer Berg jedoch auf Desinteresse.90 Das problematische Verhältnis dem Prenzlauer Berg gegenüber betont Wawerzinek auch nach Jahren. Im Prenzlauer Berg, das war uns [Wawerzinek und Holst – K.N.] damals schon bewusst, hatte keiner eine Ahnung davon, was wir wirklich machten. Ich galt, weil die so wenig von uns wussten, als Kiez-Autor, obwohl ich mich mit dem Prenzlauer Berg am wenigsten befasst, sondern echt mehr Nonsens-Texte gemacht hatte.91

Wawerzinek alias s.c.Happy und „Matthias“ BAADER Holst ziehen durch die DDR, treten vor Punk-Konzerten „laut, schräg, verrückt“92 auf und werden zu Störenfrieden, die dem sozialistischen Land wie auch dem Prenzlauer Berg den Rücken kehren. Es folgten zwei Jahre produktiven Ärgers:– bemerkt Dirk Teschner 2010 in Freitag – Lesungen, Ausstellungseröffnungen und Konzerte der „Subkultur“ wurden besucht, gestört und gekapert. Sie mochten weder die Lederstiefel von Sascha Anderson, noch die Wichtigtuerei der KlemmMappen-Lesungen, auch keine Nichtrauchergalerien oder Konzerte von Bands mit Einstufung. Die beiden entwickelten ihre subversive Kraft, als die Prenzlauer-Berg-Szene schon verweste, sie tranken Bier lieber in Proletenkneipen und bei den Anarchisten der „Kirche von unten“ als in den neu entstehenden Bars und Künstlercafés.93

86 Geist: Die Lyrik der nichtoffiziellen Literaturszene. 87 Vgl. Ludwig/Thalhammer: Wawerzinek, S. 238. 88 Martin Brinkmann: Matthias BAADER Holst. Zwischen Beowulf und Brechreiz. In: Die Zeit (16.11.2010), URL: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2010-11/matthias-baader-holst (letzter Zugriff: 19.11.2019). 89 Vgl. Brinkmann: Matthias BAADER Holst; Ludwig/ Thalhammer: Wawerzinek, S. 239. 90 Das Desinteresse lautet auch der Titel einer von Wawerzinek anlässlich des zwanzigsten Todestages von „Matthias“ BAADER Holst verfassten Festschrift für einen Freund (Halle 2010). 91 Wawerzinek: Ich habe im Prenzlauer Berg gelebt, aber war nicht eingemeindet. In: Barbara Felsmann/Annett Gröschner (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialgeschichte der 1970er und 1980er Jahre in Selbstauskünften. Berlin 22012, S. 380. 92 Grit Warnat: Von der Freundschaft zweier unangepasster Schreiber. In: Volksstimme.de (10.08.2010), URL: https://www.volksstimme.de/kultur/kultur_regional/591473_Von-der-Freundschaftzweier-unangepasster-Schreiber.html (letzter Zugriff: 10.05.2018). 93 Dirk Teschner: Der Szenegegenkönig. In: Der Freitag (26.06.2010), URL: http://www.freitag.de/ autoren/der-freitag/der-szenegegenkonig (letzter Zugriff: 10.05.2018).

7.2 Poetisch verdichtete Geschichte eines Lebens in Peter Wawerzineks Erzählungen 

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Die Zusammenarbeit der beiden Performancekünstler dauert bis zum Tod von Holst im Jahre 1990. Obwohl Wawerzinek sich Ende der 1980er Jahre vom Prenzlauer Berg distanziert, scheint er sich rein ästhetisch gesehen nicht weit entfernt von der Untergrundszene zu bewegen. Was all den Künstlern nämlich gemeinsam zu sein scheint – auch wenn dies zu unterschiedlichen Lösungen führt –, ist die kritische Annäherung an das Problem der Sprache. Im Gegensatz zu der „sächsischen Dichterschule“ mit ihrer „vorwiegend auf der Aussage-Ebene operierenden Gesellschaftskritik“ überwiegt in diesem Kreis jünger Künstler „ein[…] sprachbezogene[r] poetologische[r] Ansatz“, was Peter Geist auf die „Erfahrung agonaler Entleerung von Sinnversprechen durch die depravierte Ideologie“94 zurückführt. Sich vom sozialistischen Sprachgebrauch alleine zu entfernen, war nicht das Ziel an sich. Auch die Sprache der westlichen ,Propaganda‘ rief eine Abwehrreaktion hervor, so dass es den jüngeren Künstlern als notwendig erschien, „die Strukturen der Herrschaftssprache Ost und West zu unterlaufen.“95 Dieser Versuch, wenn auch ästhetisch anders verarbeitet, liegt im gewissen Sinne den Texten von Kurt Drawert wie auch Peter Wawerzinek zugrunde. Nach der ,Wende‘ und nach dem tödlichen Unfall von Holst scheint Wawerzinek doch im Begriff gewesen zu sein, vom Performativen zugunsten des Schreibens abzusehen.96 Es folgt eine Reihe von Büchern. Bereits 1990 erscheint ein Band Es war einmal… Parodien zur DDR-Literatur, in dem er das Rotkäppchen-Märchen im Stil von 61 DDR-AutorInnen umschreibt,97 sowie der Roman Nix. Ein Jahr darauf wird sein zweiter Roman Moppel Schappiks Tätowierungen veröffentlicht, in dem auch Episoden aus der eigenen Biographie thematisiert werden, ohne die Identität zwischen dem Erzähler und dem Protagonisten explizit zu bekräftigen. Er scheint mit dem Leser eher ein Verwirrungsspiel zu führen. „Der Roman arbeitet“ – bemerkt Andreas Erb im Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – „einem festen Bild von Moppel Schappik entgegen, zerstört jede Vorstellung einer bestimmbaren Identität des Protagonisten. Vielmehr ist das Ich auch hier […] ein Viel-Ich“.98 Themen der ersten Romane werden ebenfalls in zwei Texten variiert, die im folgenden näher besprochen werden sollen, Das Kind das ich war (1994) und Mein 94 Geist: Die Lyrik der nichtoffiziellen Literaturszene. 95 Geist: Die Lyrik der nichtoffiziellen Literaturszene. 96 Das Performative scheint Wawerzinek aber nicht ganz aufgegeben zu haben. Auf seiner Homepage suchen wir vergeblich nach Ausschnitten von Texten, Rezensionen, Interviews oder auch biographischen Angaben. Stattdessen wird kommentarlos ein nicht einmal drei Minuten langer Film mit Wawerzinek gezeigt, der auf eine poetische Weise Einblicke in das Leben wie Werk Wawerzineks gibt. (Homepage von Peter Wawerzinek, URL: http://wawerzinek.de/, letzter Zugriff: 10.05.2018). Siehe dazu auch: http:// www.artdisc.org/index.php?status=5&medium=Text&mid=alle&id=35 (letzter Zugriff: 10.05.2018). 97 Vgl. Andreas Erb: Peter Wawerzinek. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1978ff., S. 2; Mirko F. Schmidt: Peter Wawerzinek. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur, hg. von Michael Opitz/Michael Hofmann. Stuttgart/Weimar 2009, S. 360. 98 Erb: Wawerzinek, S. 4.

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 7 Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Integrierte Generation (1949–1959)

Babylon (1995). Und wiederum handelt es sich um Grenzfälle des Autobiographischen, eher um poetische denn dokumentarische Lebenskonstruktionen. Nicht zuletzt markiert aber der Stil der Auseinandersetzung mit der DDR wie der eigenen Biographie einen generationsspezifischen Standpunkt. Statt einer autobiographischen Rekonstruktion haben wir es hier mit einem Text zu tun, der – wie auch bei Drawert – mit Verfremdungsmitteln arbeitet und den Leser verunsichert, ob es sich um das Leben des Autors handelt, aber sicher stellt, dass es um ein modellhaftes Leben eines ,Hineingeborenen‘ geht. Im Jahre 1994 erscheint im Transit Verlag Berlin ein schmaler Prosaband Peter Wawerzineks, der bereits mit seinem das Personalpronomen enthaltenden Titel Das Kind das ich war eine autobiographische Lektüre provoziert. Ähnlich ist der ein Jahr später in demselben Verlag herausgegebene Text Mein Babylon konnotiert, in dem wiederum das Possessivpronomen (zusammengestellt mit dem Namen des Autors auf dem Umschlag) die Aufmerksamkeit des potentiellen Lesers in dieselbe Richtung lenkt. Beide Texte werden 1997 vom Fischer Taschenbuch Verlag in einem Band herausgegeben, der nun im vorliegenden Kapitel behandelt wird. Mein Babylon, in dem die Geschichte des erwachsenen Protagonisten vorgeführt wird, scheint die in der ersten Erzählung dargestellte Kindheitsgeschichte fortzusetzen, so dass aus den beiden wie aus Puzzlesteinen ein komplexes Porträt entsteht. Auf dem Umschlag wird ein Bild abgedruckt, auf dem eine Straßenkreuzung mit im Hintergrund stehenden Wohnblocks abgebildet ist. Auffallend sind zwei nur von hinten sichtbare Verkehrsschilder, über deren Bedeutung nur gemutmaßt werden kann. Während auf der einen Straßenseite höchstwahrscheinlich ein „Vorfahrt gewähren“-Schild steht, wird der Zugang zum anderen Ende derselben Straße möglicherweise verhindert, worauf ein Verbotsschild – sei es Einfahrtsverbot, sei es Halteverbot – hindeutet. Das Bild selbst – ohne seinen Paratext – hätte im Kontext des Buches eine geringfügige Bedeutung, freilich legt dessen Titel Signifikanz nahe. Es handelt sich nämlich – wie der Verlagstext auch angibt – um das Werk von Hans-Otto Schmidt An der Bernauer Straße aus dem Jahre 1990, was das Dargestellte im Kontext der deutschen Teilung und der Berliner Mauer situieren lässt. So kann auch der potentielle Leser zum Schluss kommen, dass ihm eine autobiographische Geschichte mit der DDR im Hintergrund dargeboten wird. Da Wawerzinek kein unbekannter Autor ist, sich sein Ruhm im Westen in den 1990er Jahren aber in Grenzen hält, erscheint eine entsprechende Vorstellung des Autors im verlegerischen Peritext beinahe unentbehrlich. Und nun erweisen sich seine Kontakte mit der Prenzlauer Berg-Szene, auf die bereits im ersten Satz auf dem Cover verwiesen wird, beinahe wie eine Eintrittskarte in den (west-/gesamtdeutschen) Literaturmarkt.

7.2 Poetisch verdichtete Geschichte eines Lebens in Peter Wawerzineks Erzählungen 

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Peter Wawerzinek, einst enfant terrible am Prenzlauer Berg, erzählt zum einen die Geschichte einer Kindheit in Mecklenburg – umgeben von glubschäugigen Schollen und den eigensinnigen Bewohnern der Ostseeküste. Andererseits erkundet er das Leben in den Künstlerkreisen „unter der riesigen Käseglocke namens Prenzlauer Berg“. Voller Selbstironie und mit einer atmosphärisch dichten, sehr poetischen Sprache blickt Wawerzinek zurück auf zwei der vieldiskutierten Nischen im DDR-Alltag.99

Zwischen den Zeilen wird die Nischenexistenz Wawerzineks hervorgehoben, als wären sich die Herausgeber der Anziehungskraft des Sachverhalts sicher. Präsentiert wird aber nicht das Dokument eines Zeitzeugen, sondern vielmehr ein poetischer Text, dessen Stil gepriesen wird. Die literarische Qualität soll ein auf dem Cover zitierter Ausschnitt aus einer Buchbesprechung aus die tageszeitung bezeugen, die Wawerzineks „Vorrat an schönen Sätzen“, der „unerschöpflich“ (PWK Rückseite des Covers) zu sein scheine, lobt. Allerdings scheint hinter der angeführten Meinung kein namhafter Literaturkritiker zu stehen, sonst wäre es doch denkbar oder zumindest wünschenswert, dessen Namen unter dem Abgedruckten zu stellen. Wird durch das Cover eine autobiographische Lesart provoziert, wohl aber nicht ausdrücklich besiegelt, scheint der Waschzettel einen eindeutigen Hinweis zu geben, wie der Text klassifiziert und auch rezipiert werden soll. Bereits der erste Satz wird mit einer Gattungsattribution versehen: „Zwei autobiographische Erzählungen von dem Lyriker, Romancier und enfant terrible Peter Wawerzinek, der früher zu den Autoren am Prenzlauer Berg gehörte.“ (PWK 2) Das Label „entfant terrible“ wird in der Ausgabe wiederholt, genauso wie die Kontakte des Störenfrieds zum Prenzlauer Berg. Die Vita des Autors – der später die skizzenhaft dargestellte Handlung der beiden Erzählungen folgt – wird zwar nicht ausführlich dargestellt, die Informationen verdeutlichen aber, dass es sich um einen autobiographischen Text handelt. Dies reicht aus, um das Angeführte mit dem Schicksal Wawerzineks gleichzusetzen. Bis hierhin scheint der autobiographische Pakt einwandfrei zu funktionieren. Mit Das Kind das ich war wird ein Einblick in die frühe Lebensphase des 1954 in Rostock geborenen Wawerzinek versprochen, der die 1950er und 1960er Jahre umfasst und bis zu seinem Umzug nach Ost-Berlin hinreicht. Das Kind das ich war erzählt von einer Kindheit in Mecklenburg in den fünfziger und sechziger Jahren. Merkwürdig unberührt von den politischen Umständen wächst der Erzähler zunächst im Kinderheim und dann bei Adoptiveltern auf. Das Meer ist nah, die Hauptstadt fern und Mecklenburg eine Welt für sich. Schlitzohrig und wortkarg pflegen die Bewohner der Dörfer und kleinen Städte ihren Eigensinn. Das Kind liebt die Möwen, die glubschäugigen Schollen und will nach „Mortadella“ auswandern. Als ihm der Bart sprießt, zieht der junge Mann nach Ost-Berlin. (PWK 2)

99 Peter Wawerzinek: Das Kind das ich war. Mein Babylon. Frankfurt a.M. 1997 (Rückseite des Covers). Im Folgenden werden Zitate aus Das Kind das ich war als Sigle PWK mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen.

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Das im folgenden erzählte ‚heile‘ Leben mitten in der DDR und doch abseits der Diktatur wird mit dem Werdegang des Erzählers gleichgesetzt, als gäbe es keinen Unterschied zwischen dem Gemütszustand des erzählten und des erzählenden Ich. Die Mecklenburger werden – wie der Beschreibung zu entnehmen ist – mit liebevoller Ironie beschrieben. Das idyllische Bild hat aber anscheinend auch seine Risse. Es handelt sich nämlich nicht um eine ganz so trostlose Kindheit, wie die beschriebene Ostseelandschaft in suggestiver Weise andeutet. Erfahrungen des Kinderheims und der Adoption muten nicht optimistisch an, auch wenn sie im Strom der positiven Bilder anfangs untergetaucht sein mögen. Die der Erzählung vorangestellte Zueignung „Für meine Tochter Augusta“ (PWK 8) wie auch die durchgängige Erzählung in der ersten Person Singular, die mit dem Satz beginnt: „Meine Heimat ist Mecklenburg.“ (PWK 9), bekräftigen den autobiographischen Pakt, auch wenn der Leser im Text selbst Anhaltspunkte wie Namen, Daten, Ortsangaben möglicherweise vermisst. Kleine Signale verweisen aber auf den realen Ort wie die Deutsche Demokratische Republik. So wird etwa von einem Mitschüler berichtet, der den Pionieren nicht angehört hatte (vgl. PWK 11). Erwähnt wird auch die „Jugendweihe“ (PWK 14), zu der die Ostseetouristen eingeladen wurden. Da die Kinder im Heim den Reden Walter Ulbrichts zuhören mussten, die sie gar nicht verstanden (vgl. PWK 36), muss es sich um die späten 1950er oder die frühen 1960er Jahre handeln, weil das erzählte Ich später adoptiert wird. Dass sich das Land im kalten Krieg befunden habe (vgl. PWK 57), wird zwischen den Zeilen erwähnt, nicht aber zum Hauptthema erhoben. Erntefest wie Parteigeburtstag (vgl. PWK 68) werden zwar als Bestandteile der Erfahrungswelt dargestellt, nicht aber zur Hauptachse der Handlung gemacht. Werden in Memoiren historische Ereignisse in den Vordergrund gerückt, handelt es sich hier eher um eine poetisch rekonstruierte Stimmungslage, der zwar gewisse äußere Umstände zugrunde liegen, denen aber keine zentrale Bedeutung im Erinnerungsstrom zugewiesen wird. Der Ich-Erzähler beruft sich nicht auf die Geschichte seiner Ahnen, die er auch nicht kennt, sondern führt sein Zugehörigkeitsgefühl eher auf das Topographische zurück. Er scheint sich mehr als den Menschen, denen er entstammt, der Landschaft verbunden zu fühlen. Darin liegt wohl ein gravierender Unterschied zu den bis dahin besprochenen autobiographischen Erzählungen. Beinahe refrainartig werden Sätze wie „Da woher ich komme […]“, „Da woher ich bin […]“ (PWK 9) angeführt, die auf die ,Sitten‘ der Mecklenburger verweisen. In seinem Blut rausche nicht das Blut eines Vaters oder einer Mutter, sondern die Ostsee. Seine Gesichtszüge werden nicht mit denen seiner Familie verglichen, sondern eher als Werk der Mecklenburger Landschaft dargestellt. Meine Haut war vom Sand blankgerieben. In meinen Knochen rauschte das Meer. Meine Hände waren auf dem Rücken gerifft. Hinter den Ohren wuchs mir türkises Moos. Meine Lippen schmeckten nach Salz. Meine Füße gingen im Schaum. (PWK 11)

7.2 Poetisch verdichtete Geschichte eines Lebens in Peter Wawerzineks Erzählungen 

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Während die Ostseelandschaft positiv konnotiert ist und in den Erinnerungen des erzählenden Ich einen bedeutenden Platz zugewiesen bekommt, erweist sich das Kinderheim als die Prägeerfahrung schlechthin. Es drückt ihm eine Kennmarke auf und scheint das spätere Leben zu beeinflussen. Im Gegensatz zum Ton der Abrechnung Kurt Drawerts mit der Welt der Väter klagt der Erzähler bei Wawerzinek aber nicht über sein Schicksal, sucht nicht nach Gründen des Verlassenseins, sondern liefert nur Einblicke in Geisteszustände, Fetzen der ihm eingepflanzten Vorstellung von Leben und Welt. Gestillt wurden nicht einmal die Grundbedürfnisse eines Kindes von damals. Das Heimkind das ich war, wuchs hinter festen Mauern in einer rotbeleuchteten Kükengemeinschaft. […] Ich trug das halbe Jahr Holzpantoffeln und wohnte in einem Zwölf-Mann-Schlafsaal. Wenn die Pantinen beim Schuster waren, konnte ich nicht auf die Straße gehen. (PWK 13)

Es handelt sich um ein fremdbestimmtes Leben, mit einem vorgeplanten Alltag. Die Freiheit eines Individuums scheint in dieser Welt kaum eine Rolle zu spielen. Selbst Spiele, denen sich Kinder selbstvergessen hingeben könnten, werden geregelt. So erinnert sich der Erzähler etwa an die Strandbesuche mit der Gruppe der Heimkinder, die immer als ein Kollektiv behandelt werden, ohne dass die Wünsche eines Einzelnen je bemerkt, geschweige denn berücksichtigt werden. Wir hatten am Strand eine eigene Badestelle. Wir durften nur mit Heimern und nur vornean im Seichten baden. Wir mußten selbst im Wasser nach der Heimordnung zusammenhalten. Machte einer etwas Verbotenes, war das Planschen für jedermann vorbei. Wurde einer gerufen, schrien alle laut ‚Hier‘. Wir mußten übersichtlich zu viert oder sechst auf unseren Decken liegenbleiben. Wir mußten fragen, wenn wir den Ball werfen wollten. (PWK 35)

Sie dürfen sich ebenfalls nicht unter die Leute mischen. Sie werden separiert, als seien sie eine andere Spezies, von der auch nicht viel erwartet wird. Denn alle Heimkinder – lautet das Urteil einer hier angeführten „Forscherin aus der Kreisstadt“ – seien „herrenlose Kinder“, „Verlierer auf Lebenszeit“ (PWK 15). Das Heim scheint ihnen sogar ins Gesicht geschrieben zu sein: „Man sagt, alle Heimkinder sehen sich gleich. Unsere Gesichter unterschieden sich in den Nuancen der Aussichtslosigkeit.“ (PWK 33), bemerkt das erzählende Ich im Zusammenhang mit seiner Einschulung. Die Heimkinder sind keine guten Schüler, lernen aber mit der Zeit „mit einer Stoppuhr im Kopf“ (PWK 36) zu leben, eignen sich die Regeln einer Diktatur an: Wir wurden angebrüllt und dankten. Wir stellten keine Fragen. Wir funktionierten, während die Sonne zwischen den Zweigen stand und im Aquarium die Fische schwammen. Neugierde hatten wir zu verbergen. Wir waren kleine vergitterte Halunken, die sich aufs Schachern und Klauen verstanden. Wir schliefen in einem bilderlosen kahlen Saal. Man hatte eine Nummer am Regal für die Stiefel. […] Man schämte sich nicht, wenn der Magen beim Gehen hörbar knurrte. (PWK 37–38)

Die ‚Heimer‘ werden zu blindem Gehorsam erzogen. Das Kind von damals scheint die Regeln stark verinnerlicht zu haben und als es endlich seine Adoptiveltern findet, die

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es diesmal nicht wegschicken, passt es sich wiederum dem Wunsch der Ziehmutter an, die in ihm einen Mustersohn sehen will, mit dem sie nach außen hin prahlen kann, als wäre er eine „Kleiderpuppe“. Er wird entsprechend gekleidet und fotografiert. Es ging auf unserem Hühnerhof zu, wie es wohl nur noch bei den Beatles zugehen sollte. Ich drehte mich im Blitzlicht, stand in Sepplhose, lächelte wie Karel Gott, ließ mich hin- und herdirigieren. (PWK 43)

Er habe sich ausgemalt, welches Kind sich seine Mutter gewünscht hätte und versucht, den Vorstellungen zu entsprechen (vgl. PWK 90). Auch bei der Familie lebt das Kind nicht in idyllischen Zuständen, wo es ihm an nichts mangelt. Dass die DDR wirtschaftliche Probleme hat, bekommt auch das erzählte Ich zu spüren. Die Mangelwirtschaft zwingt nämlich alle dazu, ihre Kräfte zu bündeln. Als Brausemangel herrscht, wird Apfelsaft getrunken. Werden Stoffe knapp, werden Kaninchen gezüchtet, um Mützen und Mäntel anzufertigen. Schulkinder engagieren sich wiederum in der Arbeitsgemeinschaft „Junge Schweinezüchter“ (vgl. PWK 55). Die Erfahrung der Mangelwirtschaft macht erfinderisch. Signale der steigenden Gereiztheit werden zwar verzeichnet, sie dürfen jedoch nicht offen ausgetragen werden. Dann sagten die Klugscheißer, zu Ostern würde es keine Schokoladenosterhasen geben. Die Frauen erregten sich über den Ersatzkaffee, eine Mischung aus Muckefuck und Billigbohnen. Hinterm Dorf, hieß es, soll schon bald eine Hochstraße gebaut werden. Der künftige Lärm versetzte die Menschen in Schrecken. Doch sprach man von seinen Ängsten nur hinter der Vorhaltehand. (PWK 66)

Diese Verhaltensmuster werden auch den Kindern regelrecht eingeimpft. In der Familie und vor allem in der Schule werden sie zu Bürgern des sozialistischen Landes erzogen, die sich einem ritualisierten Alltag unterzuordnen haben. Sie werden nicht wie Kinder ihrer Eltern behandelt, sondern als „Kinder des Staates“ (PWK 64), für die auch gesorgt wird. Von klein auf werden sie mit sozialistischen Idealen gefüttert und  – da sie keinen Vergleich zu einer anderen Realität haben – übernehmen sie diese als gegeben hin. Kinder des Staates, wie wir es waren, ernährten sich von Worten wie Massen, Kund und Gebung und wußten, was eine Schlüsselübergabe, eine Wanderfahne, Komplex, Bau, Ställe waren. Es lockten Ehren und Medaillen, und wer zur Woche der Waffenbrüderschaft delegiert wurde, bekam einen Eintrag ins Klassenbuch. Jedes Kind konnte sagen, was ein Mach-mit-Wettbewerb ist, was man beim Manöver ,Schneeflocke‘ zu tun hatte, was die Armee bezwecke […]. […] Wir waren umstellt von Sonderschichten und Brennstoffkontingenten, von Solibasaren und hervorragenden Volkskunstkollektiven. Wir schrieben Angela Davis. Schrieben Mikis Theodorakis rettende Blumengrußkarten. (PWK 64)

Das erzählende Ich klagt nicht über sein Schicksal. Auch wenn eine ironische Distanz spürbar ist, werden die Rituale weder verurteilt noch nostalgisch verherrlicht. Sie scheinen auch nicht über das Glück oder Unglück der Kinder zu entscheiden. Gezeigt wird eher eine ganz normale Kindheit, die nur unter anderen Rahmenbedingungen

7.2 Poetisch verdichtete Geschichte eines Lebens in Peter Wawerzineks Erzählungen 

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verlief, als die etwa dem westdeutschen Leser oder auch der in der Zueignung erwähnten Tochter des Autors bekannt sein mögen. Seine Kindheit und Jugend assoziiert das erzählende Ich jedoch nicht mit der Diktatur, mit einem Zwangssystem, sondern eher mit angenehmen Episoden, die wohl allen Erinnerungen an die frühen Jahre gemein sein können. Der Wald sei zwar „Volkseigentum“ gewesen, das hinderte den sozialistischen Nachwuchs aber nicht daran, auch dort „Verstecken“ (PWK 104) zu spielen. Es wird explizit darauf hingewiesen, das sich das erzählende Ich „weniger [an] d[ie] sozialistischen Aufmärsche“ (PWK 72) als an „Samen von Heckenrosen“ (PWK 73) erinnere, die er mit einem angenehmen, unbekümmerten Spiel assoziiert. Denke ich an die Ära zurück, in der ich Kind war, kratzt der Samen von Heckenrosen, den wir Juckpulver nannten, in meinen Handflächen. Samen, den wir den Mädchen zwischen Wolle und Haut stecken. Ich höre die Pappeln rauschen und nicht die krachende Stimme des Politlehrers. Ich höre die Großmutter von Marco Polo lesen und sehe sie die Glocke von Schiller rezitieren […]. Die Texte unserer Siegeshymnen behielt ich nicht. (PWK 73)

Sozialistische Parolen, auf die in der DDR so viel Wert gelegt wurde, wurden vergessen bzw. verdrängt, weil sie wie ein aufgezwungener Fremdkörper waren. Das erzählte Ich scheint sie zwar äußerlich aufgenommen, jedoch nicht stark genug verinnerlicht zu haben, um sie für seine eigene Lebensphilosophie halten zu können. Den Generationsobjekten werden auch nicht Fahnenappell oder auch Pionierlieder zugerechnet, sondern eher Schallplatten, „Jeans für Halbjahresersparnisse“ (PWK 123) sowie „schwedische[…] Pornoheftchen“ (PWK 122), die aus Polen eingeschmuggelt wurden. In seinen Wünschen und Bedürfnissen scheint sich das erzählte Ich von seinen Gleichaltrigen kaum zu unterscheiden. Dass es die begehrten Gegenstände gemeinsam mit seinen Freunden besorgte, wird explizit angesprochen. Die Symbiose dauert aber nur bis zu der späten Phase der Adoleszenz, als er zu merken beginnt, dass er – im Gegensatz zu seinen Kommilitonen, die sich mit der sozialistischen Dorfroutine zufrieden stellten – immer noch „lebhaft“ (PWK 129) und neugierig ist. Er schreibt Gedichte (vgl. PWK 91), skizziert und malt (vgl. PWK 118), so dass ihm seine Großmutter den Rat gibt, nach dem Schulabschluss dem Dorf den Rücken zu kehren und in die weite Welt zu ziehen (vgl. PWK 129). Meine Freunde wurden zusehends Halbgesichtige, die sich der Welt gegenüber zumachten, sich hinter ihren krummen Rücken verschanzten, um alle Belange des Lebens von sich zu schieben. Ich sah sie am Nebentisch altern. Sah sie hinterm Fenster stehen. Sah sie ihre Gardinen zurückziehen, wenn Ungewohntes vorm Haus widerfuhr. Meine ausgetrudelten Brüder soffen sich lebensmüde. Stumm feierten sie die fälligen Feste der Geburt, des Todes, der Liebe. Stumm glitten Eheringe an ihre Finger. Stumm empfingen sie ihre Kinder. Keiner von ihnen hielt nach Menschen Ausschau. (PWK 129)

Das nun angeführte psychologische Porträt dieses Generationszusammenhangs, in den die Altkommunisten so viel Hoffnung legten, erscheint wenig optimistisch. Das vorgeplante Leben bedeutet nämlich außer der versprochenen Sicherheit und Gebor-

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genheit auch eine bedrückende Monotonie, die die jungen Leute allzu schnell träge macht und sie zu Greisen werden lässt. Unter den verzweifelten ‚Hineingeborenen‘ erscheint das erzählte Ich wie ein Außenseiter, der als einer der wenigen den vernichtenden Maßnahmen des sozialistischen Zwangssystems gegenüber immun blieb. Die Geschichte – wie dem verlegerischen Peritext zu entnehmen ist – wird in der Erzählung Mein Babylon fortgesetzt. Erzählt werden die 1980er Jahre. Diesmal steht die Ost-Berliner Künstlerszene im Mittelpunkt: Mein Babylon blendet über die Ost-Berliner Künstlerszene am Prenzlauer Berg, in der sich Wawerzinek von den achtziger Jahren bis zum Fall der Mauer tummelte. Der Erzähler will Schriftsteller werden, hält sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser und liebt die Wodkagelage in den riesigen Altbauwohnungen. Bald aber durchschaut er die Selbstinszenierung und Wichtigtuerei seiner Dichterfreunde. Er wird Vater und beginnt, erfolgreich seine Wege zu gehen.100

Der in beiden Geschichten dargestellte Lebensweg erinnert an einen Bildung- oder Entwicklungsroman. Gezeigt wird anscheinend nicht das Leben im sozialistischen Zwangssystem, sondern der Werdegang eines Künstlers, der von einem Heimkind, Dorfjungen zu einem Schriftsteller avanciert, der im Kontakt zu der wohl wichtigsten alternativen Künstlerszene steht, um endlich seinen eigenen Weg zu finden. Im Waschzettel wird allerdings nicht von der Geschichte eines Protagonisten gesprochen, sondern es wird explizit auf die wichtige Lebensstation Peter Wawerzineks verwiesen. Auch wenn im nächsten Satz wieder der Erzähler erwähnt wird, wird der potentielle Leser mit genügend Hinweisen ausgestattet, die ihm sagen sollen, wie er die beschriebenen Episoden zu interpretieren hat. Eine derartige Gebrauchsanweisung ist nicht ganz unbedeutend in einem Text, in dem kein Ich-Erzähler anzutreffen ist. Auf die Identität des Erzählers, des Protagonisten und des Autos deutet nicht einmal der Name hin. „A.“, der nicht nach Ost-Berlin, sondern nach „Babylon“ (PWB 133) zieht, darf nicht ohne Vorbehalte mit Wawerzinek gleichgesetzt werden. Nichtsdestotrotz scheint der Peritext eine Art Identität ins Spiel gesetzt zu haben. In der ersten Ausgabe wird die Geschichte bereits im Vorfeld der Lektüre mit realen Sachverhalten gleichgesetzt. Dabei werden auch die Schwächen der Autoren um den Prenzlauer Berg entblößt. Wird im verlegerischen Peritext der Fischer-Ausgabe ihre „Wichtigtuerei“ angeprangert, wird in der früheren Ausgabe zu eindeutig negativ konnotierten Epitheta gegriffen. Mein Babylon ist die Erzählung über eine riesige Käseglocke namens Prenzlauer Berg, also über Größenwahn, lächerliches Heldentum und artistische Doppelbödigkeit. Es ist die Geschichte von Stillstand, Lähmung und ohnmächtigem Opponieren im Ost-Berlin der achtziger Jahre.101

100 Peter Wawerzinek: Das Kind das ich war. Mein Babylon. Frankfurt a.M. 1997, S. 2. Im Folgenden werden Zitate aus Mein Babylon als Sigle PWB mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen. 101 Zit. nach: Ludwig/Thalhammer: Peter Wawerzineks Abrechnung, S. 244 (Fußnote 31).

7.2 Poetisch verdichtete Geschichte eines Lebens in Peter Wawerzineks Erzählungen 

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So scheint der Text im Jahre 1997 auf dem literarischen Markt nicht so stark als ein Angriff auf die Prenzlauer-Berg-Szene konzipiert zu sein, wie es noch einige Jahre zuvor der Fall war. Nach einer Erklärung soll und kann an dieser Stelle nicht gesucht werden. Der recht emotionale Ton des ursprünglichen Peritextes mag mit den Enthüllungen über die Zusammenarbeit mancher Prenzlauer Berg-Künstler mit der Staatssicherheit zusammenhängen, die für viele Autoren einen schmerzhaften Verrat bedeuteten, weil es sich um Vertrauenspersonen handelte. 1991 entblößen Jürgen Fuchs und Wolf Biermann etwa Sascha Anderson als inoffiziellen Mitarbeiter. Die Anschuldigungen werden zwei Jahre später mit einem Dokument bewiesen, das Anderson als „Spitzel vor allem als Stratege[n] im Dienste der Stasi“102 zeigt, so dass es keine Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Worte von Biermann und Fuchs mehr geben kann. Damit wird nicht nur ein ehemaliger Star der Prenzlauer Berg-Szene vom Piedestal gestürzt, sondern es wird auch die Prenzlauer Berg-Legende schlechthin vernichtet. Anderson war auch kein Einzelfall.103 Es darf angenommen werden, dass die Wunden Anfang der 1990er Jahre noch sehr frisch waren, was den Wortlaut des Klappentextes beeinflusst haben mag. Waren für die älteren Generationen die stilisierten Lebensläufe der antifaschistischen Widerstandskämpfer, die sich als Wehrmachtsoldaten erwiesen, eine Erschütterung, werden die Integrierten doppelt getroffen. Einerseits werden die Gründerväter der Republik – meist ihre Großeltern – entblößt, andererseits entpuppen sich die Angehörigen des eigenen Generationszusammenhangs als Verräter. Das Konstrukt namens die Deutsche Demokratische Republik bzw. die Vorstellung von der bereits abgeschlossenen Epoche gerät ins Wanken. Vom namenlosen Protagonisten, der hinter dem Buchstaben A. steckt, wird in Mein Babylon in der dritten Person Singular berichtet. Die heterodiegetische Erzählung mit der konsequent transportierten Figurenrede, in der statt der Dialoge die Worte der einzelnen Figuren in der indirekten Rede angeführt werden, erzeugen eine kritische Distanz, wodurch es Wawerzinek auch gelingt, einen nostalgischen Ton zu vermeiden. Auch in diesem Werk ist er weit von dem emotionsgeladenen Anklagegestus Kurt Drawerts entfernt. Vieles wird ausgespart. Ähnlich wie in der Erzählung Das Kind das

102 Verrat. Stratege Sascha Anderson: Er plante für die Stasi. In: Focus Magazine 3 (1993), URL: https://www.focus.de/panorama/boulevard/verrat-stratege-sascha-anderson-er-plante-fuer-die-stasi_aid_229615.html (letzter Zugriff: 23.05.2018). Die Kontroverse beginnt mit der Büchner-Preis-Rede Biermanns aus dem Jahre 1991, wo „der unbegabte Schwätzer Sascha Arschloch“ unter den StasiSpitzeln genannt wird. (Siehe dazu: Biermann contra Anderson. Beitrag in der Senderreihe Kennzeichen D von Holger Kulick, URL: http://www.bpb.de/mediathek/227906/biermann-contra-anderson, letzter Zugriff: 23.05.2018). Von den Enthüllungen berichten beinahe alle Medien. Bereits am nächsten Tag wird in einer Spiegel-Notiz erklärt, dass es sich um Sascha Anderson handelt. 103 Die zweite Zentralgestalt der Prenzlauer Berg-Szene neben Sascha Anderson war Rainer Schedlinski, mit dem wiederum Kurt Drawert befreundet war. Als es bekannt wurde, dass auch er StasiSpitzel war, reagierte Drawert – der lange Zeit den Dichterfreund verteidigte – mit einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung. Für ihn gebe es keine Entschuldigung. (Vgl. Serke: Drawert, S. 393).

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 7 Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Integrierte Generation (1949–1959)

ich war werden auch hier Orte, Daten und Namen verschwiegen, als ob es nicht um die Rekonstruktion der Ereignisse, sondern um die der Zustände ginge. Der Rahmen, den Wawerzinek für seine „Kiez-Geschichte“ aufspannt, – bemerken Janine Ludwig und Iris Thalhammer – ist […] weit. Um den (ironisch gebrochenen) Legenden-Tonfall immer wieder aufnehmen zu können, lokalisiert er seine Schilderung weder zeitlich noch örtlich exakt. Der erzählte Zeitraum wird lediglich über den Wechsel der Jahreszeiten nachvollziehbar; am Ende des vorletzten Kapitels genügt der lapidare Schlusssatz: „Dann kam der Herbst“, um die berühmte ,Wende‘ zu markieren. Dennoch stellen kleine Hinweise immer wieder klar, wo man sich befindet […].104

Diese Maßnahme – könnte hinzugefügt werden – erinnert stark an den Erzählvorgang im Falle der poetisch verdichteten Kindheitsgeschichte Wawerzineks, so dass die beiden Texte als Bestandteile einer kohärenten Geschichte behandelt werden können. Es handelt sich in den frühen Texten Wawerzineks tatsächlich um „Variationen eines Großthemas“.105 Gleichzeitig variiert auch seine Erzählweise. Wiedergegeben wird die Geschichte chronologisch und fängt mit A.s Ankunft in Babylon an, als Babylon noch „im Werden“ begriffen ist und „Musenträger“ (PWB 133) aus ganzem Land anzieht. Diese Stelle deutet darauf hin, dass Babylon nicht mit Ost-Berlin assoziiert werden soll, weil die Stadt ja seit Jahren besteht, sondern mit dem Prenzlauer Berg,106 wo sich eben in den 1980er Jahren eine alternative Künstlerszene herausbildet. Der Name Babylon eröffnet einen weiten Bogen und es wird auch nicht präzisiert, woher die Inspiration stammt. Denkbar ist die Anspielung an das babylonische Exil der Juden, das im Alten Testament beschrieben wird. Die Juden werden – worauf etwa Janine Ludwig und Iris Thalhammer verweisen – als Sklaven behandelt und unterdrückt, was ihre Identität als „verschworene Gemeinschaft“ geprägt haben soll.107 Denkbar ist aber auch der Kontext des alttestamentarischen Turmbaus zu Babel und der babylonischen Sprachverwirrung. Ludwig und Thalhammer eröffnen aber noch eine weitere Deutungsmöglichkeit, indem sie auf einen realen Ost-Berliner Ort verweisen, nämlich das für die Prenzlauer Berg-Szene wichtige Kino „Babylon“. Keine der Erklärungen ist befriedigend. Die intertextuellen Verweise zitieren aber einen zusätzlichen Kontext herbei. Die Bevölkerung der Stadt, der nur leicht verdaulicher Stoff angeboten wird, wird als verzweifelt beschrieben: „Wer genau hinsah, spürte, die Menschen hatten sich gewöhnt. Waren verrückt nach Seelenfrieden.“ (PWB 133) Im Gegensatz dazu wird A. als „jung“ und „naiv“ (PWB 135) vorgestellt. Er hat auch keine Angst vor Babylon, obwohl er neu in der Stadt ist. Er kommt mit dem Ziel an, Künstler zu werden. Während er aber an der Kunsthochschule Vorlesungen besuchen soll, findet

104 Ludwig/Thalhammer: Peter Wawerzineks Abrechnung, S. 246. 105 Andreas Erb: Peter Wawerzinek. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1978ff., S. 6. 106 Vgl. Ludwig/Thalhammer: Peter Wawerzineks Abrechnung, S. 245. 107 Vgl. Ludwig/Thalhammer: Peter Wawerzineks Abrechnung, S. 245–246.

7.2 Poetisch verdichtete Geschichte eines Lebens in Peter Wawerzineks Erzählungen 

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er Zuflucht und Geborgenheit in einer Bücherei (vgl. PWB 136). Der Abschied von der Schule lässt nicht lange auf sich warten (vgl. PWB 139). Und so findet A. einen weiteren Zufluchtsort, unter „einfache[n] Leute[n]“ (PWB 139), wo er sich frei fühle (vgl. PWB 145). Der Weg führt ihn zu einem Friedhof, auf dem er als Totengräber arbeitet, weil er herausfinden wolle, „ob die Handlanger des Todes mehr vom Leben wußten.“ (PWB 141) Die neu entdeckte Freiheit erweist sich auch für seine Kreativität förderlich. Zu diesem Zeitpunkt entstehen nämlich auch seine ersten Totengräbergeschichten (vgl. PWB 146). Obwohl die genauen Angaben zum Alter des Protagonisten fehlen, lässt seine Suche nach dem Sinn des Lebens wie auch das Ausprobieren verschiedener gesellschaftlicher Rollen – vom Studenten, über den Totengräber bis zum Dichter – vermuten, dass er sich in der späten Phase der Adoleszenz (bzw. in der Umbruchsphase zum Erwachsenenleben) befindet. Er ist jung genug, um sich weiter zu entwickeln und verschiedene Rollen auszuprobieren, aber alt genug, um selbständig in einer Großstadt zu leben und schließlich auch eine Familie zu gründen. Seine Jugendlichkeit wird auch von seinem Habitus widergespiegelt, der eher an die amerikanische Hippie-Bewegung, als an den mustergültigen sozialistischen Pionier oder aber Parteigenossen erinnert: „Seine Jeans waren viel zu lang. Die ausgewaschenen T-Shirts hingen lapprig an seinem Oberkörper. Die unansehnliche Joppe machte ihn zur schmuddligen Vogelscheuche. Er wirkte wie kein Schreibender.“ (PWB 149) Obwohl er nicht wie ein Schriftsteller ausgesehen haben soll, fühlt er sich als einer. Er findet „seinen Schreibton in der Hoffnungslosigkeit seiner Umgebung“ (PWB 147). Von Anfang an schreibt A. „über sein Babylon“ (PWB 147). Er wird als Teil des vom Leben bebenden Babylon beschrieben, das auch nachts als lebendig gezeigt wird. Er wird umgeben von „Lebenskünstler[n]“ (PWB 154), die ihre Nächte gesellig in Kneipen bei hochprozentigen Getränken verbringen. A. scheint einer von ihnen gewesen zu sein. Aber was waren die Kneipen an den Abenden gerasselt voll! Fernfahrer saß mit Kunststudent. Der heisere Liedermacher plauderte mit einem alten Muttchen am Tische. Hinz sprach mit Kunz. Und manchmal wurde getanzt. (PWB 153)

Der Lebensstil A.s wird als „zügellos“ (PWB 163) charakterisiert, dessen Lebensinhalt Gelegenheitsarbeiten, Schreiben und Partys sind. Es sei die Zeit der neuen Musik gewesen, die die „ständig[en] Fetten“ (PWB 163) füllt. Mitten in einer Diktatur (auch wenn der Begriff nicht verwendet wird, kennt der Leser vom verlegerischen Peritext den historischen Rahmen) wird ein ungebundenes Leben gezeigt, dem anscheinend weder das sozialistische System – von dem hier kaum die Rede ist! – noch die gesellschaftlichen Normen und Zwänge im Wege stehen. A. „trank eher zuviel. Er sang eher zu laut. Und tanzte ohne Hemmung“ (PWB 163), heißt es im Text. Auch mit seiner Lebensgefährtin, die als Tänzerin (vgl. PWB 150) ausgegeben wird, genießt er das Babylonische Nachtleben: „Der Alkohol ging nur selten aus. Wer mit der kriegerischen Welt in Konflikt war, konnte sich friedlich besaufen.“ (PWB 169) Alkohol und Beisammensein machen die Welt erträglicher. Probleme scheinen im Alkoholrausch zu verschwinden, so dass in der ,Stabilisierungsphase‘ Babylons alles an seinem

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Platz zu sein scheint. Die Welt sei durchschaubar gewesen (vgl. PWB 167), fasst der Erzähler lapidar zusammen: „Ein junger Lyriker sah wie ein junger Lyriker aus. Die Dissidentin hatte etwas unglaublich Dissidentisches im Gesicht.“ (PWB 167) Auch die „babylonischen Greifer, denen schon die morgendlichen Vogelchöre mehr als verdächtig sangen“ (PWB 165), scheinen die Harmonie wenig zu stören. „Spezialisierte[…] Aufpasser“ (PWB 165) werden als gegeben hingenommen. Hinter der scheinbar nüchternen Beschreibung des Überwachungsapparates verbirgt sich jedoch das wahre Antlitz des Landes, in dessen Grenzen A. lebt. Und es gab Tage, da genügte es, nach Käse sich anzustellen, um verdächtig zu werden. Man mußte sich nicht anketten, nicht urplötzlich mit einem Pappdeckel im babylonischen Zentrum auftauchen. Es reichte vollauf, mit einem Pinsel in der Hand neben einer seit Tagen getrockneten Wandparole angetroffen zu werden, um einer Einkerkerung sicher zu sein und Babylon über stille Gräben verlassen zu dürfen. (PWB 165)

Trotz der Einschränkungen und des drohenden Freiheitsentzugs wird dieser Zeitraum als „die besten Jahre“ (PWB 165) beschrieben, was vermutlich weniger auf die äußeren Umstände, unter denen A. lebte, als auf die Lebensphase zurückzuführen ist. Als glücklich wird nämlich eine Periode voll neuer Erfahrungen gezeigt, in der noch alle Wege offen zu stehen scheinen. In diesem Sinne unterscheidet sich die Lage des ostdeutschen Protagonisten kaum von seinen westdeutschen Pendants, auch wenn die Rahmenbedingungen ihres Daseins von Grund auf unterschiedlich sind. Im Gegensatz zu dem gängigen Bild der DDR-Künstler, die sich gegen Einschränkungen lauthals erheben, werden in Mein Babylon nur Aktionen (vgl. PWB 165) erwähnt, nicht aber ein offen ausgetragener Kampf gegen die Machthaber, gegen die misstrauischen Entscheidungsträger. Obwohl man in Babylon Kunst liebe (vgl. PWB 174), bleibt diese Kunst den realen Problemen dieser Welt fern. Die Schriftsteller neigen zur Vorsicht. Die Welt, wie sie war, fehlte in der Kunst von Babylon. Niemand wollte durch Beschreibung der Wirklichkeit auffallen. Berühmt-berüchtigt werden. Den meisten reichte es, auf der Hutkrempe des großen Gönners zu hocken. (PWB 185)

Kritisiert werden von dem Erzähler die Schreibenden nicht nur wegen ihres Opportunismus bzw. ihrer feigen Passivität. In einem ungünstigen Lichte werden auch Verhältnisse in jenem Dichterkreis gezeigt, dem der Protagonist nahe zu stehen scheint. Der Erzähler verweist auf Parallelen mit einer „Kadettenschule“: Die Verschworenen wähnten sich als wichtige Kader. Man hielt sich fit für den großen Augenblick. Man hatte im Hirn schon eine Rede, die man ans Volk richten wolle, wenn es denn soweit sei. Noch aber redeten die Kapazitäten an Stehpulten von Strategie und Taktik. […] Der Meister stieß simple Reime aus, und die Jünger applaudierten wild. Der Umstand, daß Rezipienten bereit waren, für den Sänger einzusitzen, schreckte A. dann sehr. Wie ihn bestürzte, welche Hundearbeit Vereinzelte auf sich luden, um für einige Stunden gekerkert zu werden. Wegen der allgemeinen Aufmerksamkeit. Der schönen Emaille. Der Eintragung ins Ehrenbuch des Widerstandes. (PWB 177)

7.2 Poetisch verdichtete Geschichte eines Lebens in Peter Wawerzineks Erzählungen 

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A. scheint die Selbstinszenierungsstrategien durchschaut zu haben und Distanz der Dichterszene gegenüber zu gewinnen. Von Veranstaltungen kehrt er immer häufiger „höchst verärgert“ (PWB 179) zurück. Die Unbekümmertheit und Zügellosigkeit der frühen Babylonischen Phase gilt als abgeschlossen. Nun wird A. zum ersten Mal Vater, arbeitet als Tischlergehilfe und Kraftfahrer (vgl. PWB 180). Die bis dahin ungestörte Lebensfreude wird immer häufiger durch Krisen zunichte gemacht. Die Endphase Babylons deckt sich mit Krisen im Leben des Protagonisten – von der Beziehungskrise (und der endgültigen Trennung von der Tänzerin) bis zu „einer dunklen Krankheit“, die ihm „düstere Gedanken“ (PWB 182) zuflüstert. Die depressive Gemütslage versucht er in Babylonischen Kneipen mit Alkohol zu betäuben: „Er saß in der Kneipe. Regungslos. Und soff.“ (PWB 182) Im Gegensatz zu vielen seiner Freunde und Bekannten bleibt er aber in Babylon, das von nun an „aus Wunden“ besteht, obwohl es kein Blut geflossen ist (vgl. PWB 202). So wird die Ausreisewelle beschrieben, die dazu führt, dass Babylon „löchrig wird“: „Die Hausflure knirschten greller. Briefkästen gähnten. […] Man nahm auf Koffern sitzend Abschied.“ (PWB 202) Obwohl auch A. mit seiner Tänzerin den Antrag stellt, entscheidet er sich doch nicht auszureisen, denn für ihn behält „Babylon dennoch Anziehungskraft“ (PWB 205), auch wenn es „museumsreif“ (PWB 212) wird. Als die Mauer fällt, was – wie bereits erwähnt wurde – im vorletzten Kapitel der Erzählung nur mit einem Satz „Dann kam der Herbst“ (PWB 221) markiert wird, trauert der Erzähler der untergegangenen Welt jedoch nicht nach. A. schafft die nächste Hürde in seinem Leben: „Denn A. hatte gelernt, ohne Babylon zu existieren. Lebte recht gut in einer anderen Welt.“ (PWB 224) Die Stimmung im deutschen Herbst 1989 wird vom Erzähler mit einer großen Dosis Ironie rekonstruiert, so dass der Mythos der heldenhaften DDR-Bürger, insbesondere aber der mutigen Schriftsteller brüchig wird. A. wird an keiner Stelle als Oppositioneller gezeigt. Er war aber auch kein parteitreuer Autor. Seine Weder-Noch-Haltung kommt besonders deutlich zum Vorschein. Während aber Themen wie Staat, Partei, ideologisch untermauerte literarische Texte in den Ausführungen des Erzählers kaum Platz finden, wird mit den Dichterfreunden abgerechnet, die sich gegen das System zu erheben scheinen, im Grunde aber nur „[i]ntegrierte Aufrührer“ (PWB 193) sind. „Einzig darauf bedacht, im Gespräch zu sein, im Gespräch zu bleiben. Als ein Stück Widerstand. Die Beine untereinander geschlagen. Erfreut. Beschäftigt.“ (PWB 193) In der Haltung der Schriftsteller erblickt er nichts Heroisches und scheut keine Worte, um die Selbststilisierungsstrategien der Autoren bloß zu stellen: „Sein Babylon war angefüllt mit lyrischen Hinterhofhelden. Geistige Kammerjäger wandelten. Schleimige Mundräuber debattierten. Schriftdiebe verteilten Selbstverfaßtes.“ (PWB 193) Weder die moralische Haltung noch die Rolle des Dichters werden verherrlicht. Im Gegensatz zu autobiographischen Texten von Schriftstellerkollegen der älteren Generationen wird bei Wawerzinek die Bedeutung des literarischen Wortes relativiert. Denn „[w]as ist ein Wort gegen die Tilgung eines Schreis?“ (PWB 200), lautet die rhetorische Frage des Erzählers aus Mein Babylon. Die haufenweise auftauchenden Liedermacher (vgl. PWB 211) finden bei A. wenig Bewunderung. Diejenigen, die er

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 7 Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Integrierte Generation (1949–1959)

zu schätzen wusste, „versanken im Meer der Angeber“ (PWB 215), kaum bemerkt in dem Chor jener sich als unterdrückt und oppositionell ausgebenden Künstler. Das öffentlich inszenierte Engagement der Babylonischen Schreibenden wird als Zeichen der Wichtigtuerei dargestellt, nicht als sinnvolle Maßnahmen, die etwas zu verändern vorhatten, geschweige denn vermochten. Am strengsten mied A. Leute, denen es genügte, hin und wieder mit der Macht zu kankeln, die davon lebten, daß man von den babylonischen Diensten auf Trab gehalten wurden. Geknechtete, die schon aufschrien, wenn in der Kaufhalle zwei Ledermäntel auftauchten. Sie unterließen nichts, um auffällig zu werden. Denn nichts war interessanter als ein vom Staate attackierter Bürger. (PWB 215)

Die Überwachung, obwohl nicht akzeptiert, wird von A. doch erduldet, ohne allzu große Empörung über das So-Sein der Verhältnisse zu äußern, geschweige denn zu manifestieren. In diesem Sinne erscheint der Protagonist doch als integriert. Die vorgefundene Weltordnung wird als Rahmen behandelt, in dem man sich arrangieren, seine eigene Nische finden soll. Die Grundstruktur des Staates und der Gesellschaft wird nicht hinterfragt, sondern als gegeben hingenommen. Als Endprodukt der in Mein Babylon konstruierten Emanzipationsgeschichte erscheint ein Protagonist, dem keine heldenhaften Taten vorschweben, der im Gegensatz zu Babylon nicht untergeht, sondern die nächste Lebenskurve 1989 schafft, weil er ein anpassungsfähiger Einzelgänger bleibt.

7.3 ‚Hineingeboren‘ und doch nicht integriert? Der Generationszusammenhang der zwischen 1949 und 1959 geborenen Autoren lässt sich mit Kriterien Karl Mannheims tatsächlich nicht so leicht erfassen wie im Falle der Misstrauischen Patriarchen oder der Aufbau-Generation. Die Integrierten berufen sich in ihren autobiographisch untermauerten Geschichten nämlich auf kein historisches Großereignis, das ihrem Selbstbewusstsein zu Grunde läge. Was sie zu prägen scheint, ist eher eine Lage, in die sie ,hineingeboren‘ wurden und mit der sie umzugehen hatten. Weder Kurt Drawert noch Peter Wawerzinek stellen einen Vergleich zur Welt ,vor‘ der DDR an, weil sie keine andere Realität kannten. Das sozialistische Land wurde als gegeben hingenommen, was auch nicht bedeutet, dass sie sich mit dem Staat oder seiner Ideologie identifizierten. Auch wenn die beiden Autoren in ihren literarischen Texten die Emanzipationsversuche ihrer Protagonisten zeigen, handelt es sich nicht um politische Manifeste oder aber Reformversuche des bestehenden Systems. Beschrieben wird eher das Bestreben, geistige Freiräume zu schaffen. Beide entdecken einen Zufluchtsort in der Literatur – sei es in der Lektüre, sei es in der literarischen Produktion –, und zwar in einer alternativen Künstlerszene. Vom offiziellen Literaturdiskurs werden sie kaum angezogen. Weder Stephan Hermlin noch Christa Wolf werden als ihre Bezugspersonen, geschweige denn Vorbilder genannt. Beide

7.3 ‚Hineingeboren‘ und doch nicht integriert? 

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verweisen auch auf die Bedeutung der Musik wie auch des Alkohols in ihrem jugendlichen Fluchtversuch. Auffallend ist der von den Erzählern sowohl in Spiegelland als auch in Mein Babylon erwähnte Habitus der Protagonisten, der eher vom westlichen Stil als vom Ideal des sozialistischen Musterbürgers beeinflusst wurde. Lange Haare und Jeanshose erscheinen beinahe wie Generationsobjekte oder aber Manifeste der Identität von ,Hineingeborenen‘. Beide Autoren wie auch Protagonisten ihrer autobiographisch fundierten Bücher, die Beispiele keiner dokumentarischen, sondern künstlerischer Prosa darstellen, erscheinen als Außenseiter bzw. Querdenker, die sich vom System absetzen. Während Kurt Drawerts Emanzipationsgeschichte von Spiegelland eine Abrechnung mit der leiblichen Familie ist, zieht Wawerzinek seine geistige ‚Familie‘ – die Künstlerszene im Prenzlauer Berg – zur Rechenschaft. In ihrem Einzelgängertum scheinen sie aber nicht alleine zu sein. Erwähnenswert ist der Habitus eines Querdenkers – nicht aber im Sinne eines politischen Rebellen –, der zumindest einem Teil des Generationszusammenhangs gemein sein könnte. Wir stoßen hier auf kein artikuliertes Wir-Bewusstsein. Jeder scheint nur in seinem Namen zu sprechen. Und gerade in dieser Haltung, die das Kollektive zu umgehen scheint, lässt sich ein gemeinsamer Nenner erkennen. „Individualität“ heißt das Schlagwort der ,Hineingeborenen‘, die sich im Gegensatz zu der Generation ihrer Eltern nicht anzupassen versuchen. Sie streben weder nach Erfolg im sozialistischen Sinne, noch kämpfen sie gegen das System. Obwohl diese Jahrgänge für eine deutsch-deutsche Generation gehalten werden, weil sie die Erfahrungen mit den beiden Systemen sammelten und auch Elemente des westlichen wie auch des sozialistischen Stils einverleibten, scheint ihre innere Überzeugung das Gegenteil widerzuspiegeln. So wäre es – den literarisch verdichteten Vita entsprechend – angebracht, von einer Weder-Noch-Haltung zu sprechen. Die Protagonisten scheinen sich weder mit dem sozialistischen noch mit dem kapitalistischen System zu identifizieren. Sie setzen ihre vollen Kräfte weder für den Aufbau der DDR noch in den Aufstieg im vereinten Deutschland ein. Sie finden sich aber sowohl vor 1989 als auch nach der ,Wende‘ gut zurecht, indem sie für sich Wirkungsbereiche erschaffen. Auch in der DDR nutzten die Integrierten die ihnen vom politischen Apparat überlassenen Freiräume, in denen sie sich dem System widersetzen, ohne jedoch seinen Rahmen zu sprengen. Wie jene von DDR-Machthabern geduldeten Nischen in das System eingeplant wurden, zeigen auch die Enthüllungen nach der ,Wende‘. Die führenden Autoren dieser alternativen Künstlerszene – Rainer Schedlinski und Sascha Anderson – wurden als inoffizielle Mitarbeiter der Stasi enttarnt, was das Gruppenverständnis der sich als unabhängig deutenden jungen Autoren in Frage stellte. Der Mythos vom Prenzlauer Berg wurde – wenn nicht zerstört, so doch – erschüttert. Die mit der Untergrundszene geschaffene Gegenöffentlichkeit mag ihren Teilnehmern beinahe als eine vom System streng überwachte und potentiell auch gesteuerte Scheinwelt vorgekommen sein. Die Grundlage des künstlerischen Vorhabens darf dadurch manchem Künstler fraglich erschienen sein. Das subkulturelle Band wird somit zerrissen.

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 7 Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Integrierte Generation (1949–1959)

Der Künstlerszene am Prenzlauer Berg lag ein generationsstiftendes Potential zugrunde, das nicht entfaltet wurde und auch nicht entfaltet werden konnte. Ein erstes Hindernis ist die bereits erwähnte Stasi-Affäre nach der ,Wende‘, die der uneingeschränkten Identifikation mit der Künstlergruppe im Wege stand. Bemerkenswert erscheint die Tatsache, dass Anderson (Jahrgang 1953) wie Schedlinski (Jahrgang 1956) und mit ihnen viele der jungen Autoren der subversiven Literaturszene der Integrierten Generation zugerechnet werden dürfen. Ohne die Vernichtung des Prenzlauer Berg-Mythos hätten die Integrierten möglicherweise eine eigene Erfolgserzählung parat, auf die sie sich nach 1989 besinnen könnten, was nicht nur für die aktiv wirkenden Künstler, sondern auch für die gleichaltrigen ostdeutschen Bürger identitätsstiftend wirken könnte. Diese scheinbar unabhängige Nische erwies sich aber als von dem Überwachungsapparat durchdrungen, als wäre sie ein Teil des Systems. Andererseits brauchte die Untergrundliteratur ein Gegenüber in Form des sozialistischen Systems, von dem sie sich absetzen konnte. Ohne die DDR hätte sie wahrscheinlich ihre Kraft und Legitimation eingebüßt. Thomas Ahbe und Rainer Gries plädieren für die Bezeichnung dieses Generationszusammenhangs als die Integrierte Generation, was im Falle der besprochenen literarischen Zeugnisse etwas irreführend erscheint. Die Protagonisten werden nämlich als die Nicht-Integrierten gezeigt bzw. als Einzelgänger, die zwar in die sozialistische Welt ,hineingeboren‘ und in ihrem Rahmen großgezogen wurden, ohne jedoch ihre Werte verinnerlicht zu haben. In den autobiographisch fundierten Erzählungen wird auch die Tatsache des ‚Hineingeborenwerdens‘ deutlicher akzentuiert, als Zeichen der Integration mit der DDR-Gesellschaft. So scheint es zumindest in diesem Fall nicht ganz verkehrt zu sein, auf dem von Uwe Kolbe vorgeschlagenen Begriff ‚Hineingeborene‘ zu bestehen.

8 Generation Trabant, Generation ‘89, Zonenkinder? Die Adoleszenz im Zeichen eines politischen Umbruchs Am 9. November 2002 veröffentlicht die online-Ausgabe der Welt ein Interview mit einem zum Nachdenken bewegenden Titel „Generation Trabant. Angekommen im neuen Deutschland? ,Zonenkinder‘ im Gespräch“.1 Mit dem Label „Generation Trabant“ wird die legendäre DDR-Automarke herbeizitiert, was die Leser sofort an die westdeutsche Marke Golf denken lässt, der sich kurz zuvor Florian Illies bediente, um (s)einer westdeutschen Generation einen Namen zu geben. Die Bezeichnung „Zonenkinder“ ist dagegen von Jana Hensel entlehnt, die in dem gleichnamigen Buch der Generation Golf die Erfahrungen der ostdeutschen Jugend gegenüberstellt. Nun subsumieren die Autoren des Interviews – die allerdings eine relativ häufig sichtbare Tendenz in der öffentlichen Klassifizierung veranschaulichen2 – darunter die in den 1970er Jahren geborenen Schriftsteller. Zu ihren Gesprächspartnern werden André Kubiczek (Jahrgang 1969), Jakob Hein (Jahrgang 1971), Julia Schoch (Jahrgang 1974) sowie Jana Hensel (Jahrgang 1976). Der scheinbar geringe Altersunterschied, den Die Welt zu Beginn des Gesprächs kaum bemerkt zu haben scheint, erweist sich für die Befragten als letztlich entscheidend. Für die Jüngste in dem besagten Kreis war die DDR eine „Kindheitswelt“.3 Hensel war zu jung, um sich eine eigenständige Meinung zu bilden, um die Realität zu beurteilen, geschweige denn zu hinterfragen. Ich war 13, als die Mauer fiel. Ich habe mich zu keiner Zeit dem DDR-System gegenüber positioniert, habe mir allenfalls danach eine Meinung gebildet. Inwieweit die Authentizität verbürgt, kann ich gar nicht sagen, denn ich habe keinen realen DDR-Erfahrungshorizont. Ich kenne das höchstens aus Erzählungen und Filmen. Wenn ich jetzt gefragt werde, wie ich die DDR sehe, dann scheue ich immer vor der Antwort zurück; denn dieselbe Meinung kann auch ein 26-jähriger aus Marburg haben.4

Hensel tritt im Jahre 1989 in die frühe Phase der Adoleszenz, verliert mit dem Untergang der DDR nicht nur symbolisch ihre Welt der Kindheit, die nun von der Land1 Generation Trabant. Angekommen im neuen Deutschland? „Zonenkinder“ im Gespräch. In: Die Welt (9.11.2002), URL: http://www.welt.de/print-welt/article420510/Generation_Trabant.html (letzter Zugriff: 01.05.2010). 2 Nicht nur im Feuilleton werden die ,jungen’ Autoren als „Zonenkinder” einer Kategorie zugerechnet. Auch in literaturwissenschaftlichen Texten wird die Klassifizierung wiederholt. So zählt etwa Hannes Krauss zu den „Zonenkindern“ neben Rusch, Kubiczek, Brussig, J. Hein, auch Jana Hensel sowie Kurt Drawert. (Vgl. Hannes Krauss: Zonenkindheiten. (Literarische) Rückblicke. In: Holger Helbig (Hg.): Weiterschreiben. Zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR. Berlin 2007, S. 89–101). 3 Generation Trabant. Angekommen im neuen Deutschland? 4 Generation Trabant. Angekommen im neuen Deutschland? https://doi.org/10.1515/9783110710793-008

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 8 Generation Trabant, Generation `89, Zonenkinder?

karte verschwindet. Die anderen Gesprächspartner sind aber zu damaligem Zeitpunkt einige Jahre älter und, obwohl der Altersunterschied auf den ersten Blick unbedeutend erscheinen mag, ist eben dieser Umstand für die Wahrnehmung der sogenannten ,Wende‘ entscheidend. Die Prägephase der Adoleszenz, in der sie sich um 1989 befinden, bringt den Heranwachsenden einen kritischen Blick bei. Sie werden zu bewussten Beobachtern, nicht selten sogar zu Protagonisten der friedlichen Revolution. Nicht zuletzt muss jedoch darauf verwiesen werden, dass sie ihre Ausbildung bereits abgeschlossen hatten, so dass sie die neuen Möglichkeiten anders wahrnehmen, weil ihnen dadurch die Tür zu einer erwachsenen und auch einer freien Welt eröffnet wurde. Auf den „Unterschied von wenigen Jahren“ verweisen sowohl Hein als auch Schoch und Kubiczek. „Ich hab schon mitbekommen, was die Jüngeren nicht mitbekommen haben.“ – betont Kubiczek – „Da musste man sich entscheiden, ob man aktiv dagegen vorgeht, oder ob man sein eigenes Ding macht.“5 Was den etwa Zwölfjährigen „völlig Wurst“ sein mag, spiele für einen Achtzehnjährigen die entscheidende Rolle, bemerkt Jakob Hein: „Ich war 18 als die Mauer fiel und mir war völlig klar, dass ich in der DDR sehr leiden werde unter diesem ganzen Mist.“6 Nicht in jedem Jahrzehnt sei der Altersunterschied von wenigen Jahren wahrscheinlich so bedeutend wie in diesem, fügt Julia Schoch ergänzend hinzu. Der politische Umbruch passiert im Falle der älteren Gesprächspartner gerade in dem Moment, als sie als Adoleszente kurz vor dem persönlichen Aufbruch stehen. Die Ablösung von der Welt der Erwachsenen, mit dem Ziel, eine neue Qualität zu schaffen,7 deckt sich punktgenau mit dem Systemwechsel. Auf diese Koinzidenz, die sich als Prägeerfahrung erweist, kommt explizit Jakob Hein zu sprechen. Als bei mir eine klare Ablehnung des politischen Systems der DDR entstand, fiel die DDR wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Und – das ist ein Witz –, ich musste weder zur Armee noch eine blöde Lehre machen. Insofern habe ich das so erlebt wie in Thomas Brussigs Helden wie wir. Nach dem Motto: Ich komm in die Pubertät, ich find das nicht gut, und ‚wumm‘ ist alles kaputt.8

Die von den Autoren formulierten Thesen werden von Wissenschaftlern bestätigt. So verweist auch Lutz Niethammer auf die recht unterschiedlichen Erfahrungen der um 1970 geborenen Protagonisten. Nicht auf das Geburtsjahr allein kommt es letztendlich an, sondern auf die sich daraus ergebenden Entwicklungsphasen, die den politischen Umbruch recht unterschiedlich wahrnehmen lassen.

5 Generation Trabant. Angekommen im neuen Deutschland? 6 Generation Trabant. Angekommen im neuen Deutschland? 7 Vgl. Vera King: Adoleszenz und Ablösung im Generationenverhältnis. Theoretische Perspektiven und zeitdiagnostische Anmerkungen. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 1 (2010), S. 9–10. 8 Generation Trabant. Angekommen im neuen Deutschland?

8.1 Von den Nicht-Mehr-Eingestiegenen. Die Entgrenzte Generation (1960–1972) 

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Man muss unterscheiden. Jene, die noch in ihrer Pubertät alle Repressionen und Mängel der DDR erlebt haben und beim Mauerfall mindestens 15 Jahre alt waren, haben in aller Regel ja die Wende genossen und die neuen Möglichkeiten genutzt. […] die Jüngeren, die keinen reifen Systemvergleich anstellen können [,] […] haben eine geschützte Kindheitswelt verloren und sind in eine Welt von lauter Zumutungen hineingeworfen worden. Ihre Eltern konnten nicht mehr richtig Eltern sein, weil sie selbst überlastet waren mit Verlustprozessen in der neuen Freiheit.9

Die in dem Interview befragten Autoren gehören hiermit nicht alle zu einem und demselben Generationszusammenhang. Außer Lutz Niethammer verweisen auch Bernd Lindner sowie Thomas Ahbe und Rainer Gries auf die recht unterschiedliche Lage der sozialen Akteure in der frühen und in der späten Phase der Adoleszenz.10 So darf ‚die junge Generation‘ – ungeachtet des Labels, mit dem sie versehen wird – nicht als eine ernstzunehmende Kategorie betrachtet werden. Es kommt letztendlich nicht auf das Alter allein, sondern auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen an. Untersucht werden deswegen Sozialisationsbedingungen sowie die jeweilige Lebensphase, die mit dem politischen Umbruch zusammenfällt. Bereits Karl Mannheim unterscheidet die Prägephase von der frühen Jugendzeit, „in de[r] den Jugendlichen noch keine reflexive Verarbeitung der kognitiven Eindrücke möglich gewesen sei.“11 Den Mannheimschen Ansatz greifen erneut Ulrike Boldt und Rüdiger Stutz auf, um den Zusammenhang zwischen der Jugendzeit und der Herausbildung eines neuartigen Generationsstils zu veranschaulichen. In diesem Kontext wird darauf verwiesen, dass die „erste bewußte Partizipation von Jugendlichen an den lebensweltlichen und politischen Auseinandersetzungen ‚ihrer‘ Zeit“12 in die Prägephase der Adoleszenz und das frühe Erwachsenenalter falle. So könne man Boldt und Stutz zufolge in dieser Lebensphase von einer besonderen Aufgeschlossenheit für neue Erfahrungen sprechen, die eine Art Grundmuster herausbilden, „Filter für alle weiteren Ereigniswahrnehmungen im Lebenszyklus“.13 So mag auch die ,Wende‘ für die Adoleszenten eine besondere Dimension haben. Die veränderten kulturhistorischen Bedingungen bleiben nicht ohne Einfluss auf den Verlauf der Adoleszenz im Falle der noch in der DDR geborenen und um 1989 ins Jugendalter heranwachsenden Ostdeutschen. „[D]ie ‚Neuprogrammierung‘ der physiologischen, psychologischen und psychosozialen 9 Michael Bartsch: „Im Osten entsteht vielleicht eine radikale Jugendbewegung“. Interview mit Lutz Niethammer. In: TAZ (10.01.2004), URL: http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2004/01/10/a0167 (letzter Zugriff: 30.04.2010). 10 Wolfgang Engler unterscheidet dagegen die in den 1960er, 1970er Jahren Geborenen, womit er sich von Lindner sowie Ahbe und Gries deutlich zu entfernen scheint. (Vgl. Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, S. 53). 11 Ulrike Boldt/Rüdiger Stutz: Nutzen und Grenzen des historischen Generationenkonzepts für die Erforschung von Umbruchserfahrungen im späten Jugendalter. In: Schüle/Ahbe/Gries (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive, S. 69. 12 Boldt/Stutz: Nutzen und Grenzen des historischen Generationenkonzepts, S. 69. 13 Boldt/Stutz: Nutzen und Grenzen des historischen Generationenkonzepts, S. 70.

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 8 Generation Trabant, Generation `89, Zonenkinder?

Systeme“14 in der Adoleszenz deckt sich um 1989 nämlich mit der ,Neuprogrammierung‘ des sozialen Umfelds.15

8.1 Von den Nicht-Mehr-Eingestiegenen. Die Entgrenzte Generation (1960–1972) In einer neuen Jugendgeneration – zwischen 1961 und 1975 in der DDR geboren – erkennt Bernd Lindner einen Generationszusammenhang, der als erster dazu fähig war, sich „innerlich aus alten Zwängen zu befreien“,16 sich von der DDR zu distanzieren. Aus dieser inneren Haltung leitet Lindner auch den Namen dieser Formation ab und bezeichnet die bis zum Ende der DDR ins Jugendalter Hineingewachsenen als die „distanzierte Generation“.17 Es handelt sich um „Nachgeborene“, die das System nicht mitgebaut haben, sondern „etwas Vorgefundenes“ in Anspruch genommen haben, ohne es als „eine historische Errungenschaft“ wahrzunehmen.18 Lindner bezeichnet sie als „Generation der Nicht-Mehr-Eingestiegenen“,19 die eher zur Verweigerung als zur Offensive tendieren.20 Mit diesen Jahrgängen vollzieht sich ein Paradigmenwechsel. Die dominante Position scheinen nämlich nicht mehr diejenigen zu erlangen, die sich systemkonform verhalten, sondern diejenigen, die der DDR „kritisch-distanziert bis ablehnend“21 gegenüberstehen. Walter Friedrich verweist auf einen damit verbundenen „Mentalitätsumbruch“22 in der DDR. Diese „Generation ohne Alternative“23 schuf für sich eine Basis, die weit von der sozialistischen Norm entfernt ist.

14 Carsten Gansel: Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. In: Zeitschrift für Germanistik 1 (2004), S. 132. 15 Vgl. Katarzyna Norkowska: Adoleszenz im Zeichen eines politischen Umbruchs. Der Einfluss der ,Wende‘ auf die Identitätsbildung junger ostdeutscher AutorInnen. In: Carsten Gansel/Paweł Zimniak (Hg.): Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur. Heidelberg 2011, S. 461. 16 Lindner: „Bau auf, Freie Deutsche Jugend”, S. 209. 17 Vgl. Lindner: „Bau auf, Freie Deutsche Jugend”, S. 209–211. 18 Lindner: „Bau auf, Freie Deutsche Jugend”, S. 209. 19 Lindner: „Bau auf, Freie Deutsche Jugend”, S. 209. 20 Vgl. Lindner: „Bau auf, Freie Deutsche Jugend”. Bernd Lindner bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf Worte Kurt Drawerts, als ob es sich um einen Vertreter der besagten Generation handelte. „Diese Generation trat den ,Rückzug statt (der) Offensive‘ an, wie es der Dichter Kurt Drawert (geb. 1956) für sich und seine Altersgleichen treffend auf den Punkt brachte […].“ Auch wenn sich Drawerts Worte auf die Haltung der Distanzierten beziehen lassen, gehört der Dichter – auch der Klassifizierung Lindners zufolge – einer älteren Generation an, die der Wissenschaftler in demselben Text als die Integrierte Generation bezeichnet (vgl. S. 200). Dieses Beispiel zeigt aber deutlich, wie fließend die Grenzen solch einer Klassifizierung sein können. 21 Lindner: „Bau auf, Freie Deutsche Jugend”, S. 210. 22 Zit. nach: Lindner: „Bau auf, Freie Deutsche Jugend”, S. 210. 23 Bettina Völter: Generation ohne Alternative, zit. nach: Lindner: „Bau auf, Freie Deutsche Jugend”, S. 211.

8.1 Von den Nicht-Mehr-Eingestiegenen. Die Entgrenzte Generation (1960–1972) 

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Das Streben der Jugendlichen nach Selbstgestaltung und sozialer Anerkennung nahm seit 1975 stark zu. Sprunghaft stieg das Erlebnisstreben, die Orientierung auf Mode, Luxus und Geselligkeit: alles Reaktionen auf Defizite des DDR-Alltags, aber auch Wunschprojektionen eines Gesellschaftsbildes, das sich ganz selbstverständlich der (medienvermittelten) Vorteile des Westens bediente.24

Trotz des sichtbaren Einflusses der westdeutschen Medien, die die Trends in Kunst, Kultur sowie in Lebensstil wie in Mode vermittelten, kann von einer „Verwestlichung des Ostens“25 nicht die Rede sein. Die Jugend von damals schöpft zwar aus den Einflüssen, ohne ihre eigene Kreativität jedoch aufzugeben. Bernd Lindner erkennt darin „eine schöpferische Anverwandlung westlicher Kulturmuster auf die eigenen Lebensverhältnisse“.26 Die Klassifizierung Bernd Lindners gibt Thomas Ahbe und Rainer Gries einen Anstoß, diese Kohorten näher zu untersuchen. Obwohl das Team mit den Erkenntnissen Lindners größtenteils einverstanden war, wurde es von den Ergebnissen seiner eigenen Interviews und Beobachtungen dazu verführt, die Zeitgrenzen zu präzisieren und das von Lindner vorgeschlagene Label zu verabschieden, um die Eigenart des Generationszusammenhangs zu verdeutlichen. So kommen Ahbe und Gries zufolge nur die zwischen 1960 und 1972 Geborenen in Frage, weil sie als die Letzten ihre Ausbildung vollständig noch in der DDR absolviert hätten,27 und zwar im Gegensatz zu den jüngeren Kohorten, deren Schullaufbahn durch die Vereinigung unterbrochen und von einem Jahr auf das andere vom sozialistischen auf das demokratische System umgestellt wurde. Diesen Unterschied scheinen auch die in dem bereits angeführten Interview befragten AutorInnen zu bestätigen. Die wenigen Jahre verändern ihre Ausgangslage im Jahr der Vereinigung. Allerdings lässt sich an dieser Stelle bemängeln, dass der Zusammenhang zwischen der Form sowie dem Tempo des (gesellschaftlichen) Reifeprozesses und dem Geschlecht kaum reflektiert wird. Obwohl psychologische Studien auf verschiedenartige männliche und weibliche Bewältigungsstrategien der Adoleszenz verweisen und auch zeitliche Differenzen vermerken,28 werden in den genannten Studien nur die Eckdaten genannt, als handelte es sich um einen starren, festgelegten Rahmen. In der Tat orientieren sich die Wissenschaftler an den sozialen Kriterien wie etwa dem Zeitpunkt des Schulabschlusses, ohne eine zumindest denkbare Abweichung vorzusehen, die auf die recht unterschiedliche geschlechtsbedingte Entwicklung zurückzuführen wäre. Wir haben es daher hier mit einem Forschungsde-

24 Lindner: „Bau auf, Freie Deutsche Jugend”, S. 210. 25 Lindner: Sozialisation und politische Kultur, S. 33. 26 Lindner: Sozialisation und politische Kultur, S. 33–34. 27 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 545. 28 Vgl. Horst Scarbath: Abschied von der Kindheit. Jugend und Geschlecht in psychoanalytischer Sicht. In: Klaus-Jürgen Tillmann (Hg.): Jugend weiblich – Jugend männlich. Sozialisation, Geschlecht, Identität. Opladen 1992, S. 111–123.

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 8 Generation Trabant, Generation `89, Zonenkinder?

siderat zu tun. Die Frage, ob sich die Narrative der Frauen von denen ihrer männlichen Pendants unterscheiden, wird kaum mitreflektiert. Ahbe und Gries verweisen darüber hinaus darauf, dass sich die Angehörigen dieses Generationszusammenhangs gar nicht als distanziert wahrgenommen haben, was Lindners Etikett nahelegt. Der Verweis auf Distanz beinhaltet eine engagierte oder zumindest interessierte Haltung dem System gegenüber, was diesen Jahrgängen eher fremd gewesen sein soll. Ahbe und Gries charakterisieren sie eher als unpolitisch: [Dieser Generationszusammenhang – K.N.] verstand und empfand sich […] selbst wohl nicht als „distanziert“, sondern als eigentlich unpolitisch, konsumfreudig und modern – und das heißt hier: kulturell westlich orientiert. Mit ihrer eher hedonistischen, unpolitischen und konformen Ausrichtung ähnelten sie ihren Altersgenossen in Westdeutschland.29

Statt die Distanz dem sozialistischen System gegenüber zu betonen, heben Ahbe und Gries den Umstand hervor, dass „diese Generation in einer bisher nicht dagewesenen Breite und Intensität in ihren Wertehorizonten und Sinnvorstellungen über die DDR hinausgriff.“30 Eine hervorragende Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den Medien hinzu, die Partizipation an der westlichen Kultur möglich machten, auch wenn die Grenzen immer noch geschlossen blieben.31 Nicht den DDR-Printmedien oder auch dem DDR-Fernsehen32 kommt im Falle dieses Generationszusammenhangs eine identitätsstiftende Funktion zu, sondern ihren westdeutschen Pendants und den dadurch vermittelten Werten und Normen. Diesen Erfahrungshorizont hebt etwa Jana Simon33 hervor. Obwohl sie von ihrer persönlichen Geschichte berichtet, ist in ihren Worten der Habitus des Generationszusammenhangs erkennbar, dem Ahbe und Gries zufolge auch die 1972 geborene Simon zuzuordnen wäre. Ich bin also im Westen groß geworden. Jeden Tag um 18 Uhr schaltete ich in die Sesamstraße ein und später abwechselnd die gerade angesagten Vorabendserien … Ostmusik existierte für mich nicht. Ich kannte niemanden, der die Puhdys gut fand oder Pankow. Meine Welt bestand aus Madonna, Michael Jackson, später auch The Cure … […] Ich bewegte mich in einer Art virtuellen Welt. Meinen Geschmack, meine Kleidung und Musik definierte ich über den Westen, meinen Alltag verbrachte ich im Osten. Ein höchst schizophrener Zustand. […] Was war ich? Ostlerin? Westlerin? Nichts von beiden.34

29 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 546. 30 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 546–547. 31 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 546–547. 32 Vgl. dazu: Michael Meyen: Alltägliche Mediennutzung in der DDR. Rezeption und Wertschätzung der Ost- und West-Medien in unterschiedlichen Kohorten. In: Schüle/Ahbe/Gries: Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive, S. 247–270. 33 Jana Simon, geb. 1972, ist Journalistin, Enkelin von Christa und Gerhard Wolf. (Vgl. etwa Jana Simon: Sei dennoch unverzagt. Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf. Berlin 2013). 34 Jana Simon: Madame Ceauşescus Schuhe. Über das Scheitern einer Ost-West-Beziehung. In: Jana Simon/Frank Rothe/Wiete Andrasch (Hg.): Das Buch der Unterschiede. Warum die Einheit keine ist. Berlin 2000, S. 14.

8.1 Von den Nicht-Mehr-Eingestiegenen. Die Entgrenzte Generation (1960–1972) 

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Da es sich um eine Generation handelt, die in ihrer Orientierungsphase über die Grenze hinaus greift, wird von Ahbe und Gries das Label die Entgrenzte Generation35 vorgeschlagen. Die im Osten lebenden Jugendlichen nähren sich von der westlichen Kultur, definieren sich weder als DDR-Bürger noch als Gleichgesinnte der Bundesbürger. Sie hätten in der DDR zwar gewohnt, nicht aber gelebt.36 Die kulturelle Identität der Jugend von damals identifiziert Bernd Lindner als eine Mischidentität, die aus Ost- und Westkomponenten zusammengesetzt ist, so dass „ein Unikat mit vielen Anleihen“37 entsteht. Dieser Umstand scheint auch darüber entschieden zu haben, dass die Jugendlichen bzw. die jungen Erwachsenen nach der Wiedervereinigung kaum unter Berührungsangst leiden.38 Die Bundesrepublik ist für sie kein unbekanntes Feld, das sie erst entdecken müssen. Viele von den Angehörigen dieses Generationszusammenhangs wollen anscheinend auch in der Bundesrepublik ihre Mischidentität nicht aufgeben und entdecken ihren ostdeutschen Habitus bzw. ihre ostdeutsche kulturelle Identität wieder.39 Solche Projektionen müssen nicht zwangsläufig nostalgische Züge aufweisen. Die Haltung der Entgrenzten Generation vergleichen Ahbe und Gries mit der Lebensphilosophie ihrer der Funktionierenden Generation entstammenden Eltern. Sie seien tendenziell unideologisch, visionslos und pragmatisch.40 Der „asketische Pragmatismus“41 der Elterngeneration soll jedoch der konsumfreudigen Einstellung der Entgrenzten kaum entsprochen haben. Die entgrenzte Generation wuchs bei arbeitsamen Eltern in einem relativen Wohlstand auf. Vermittelt über Medien war sie stark an kulturellen Stilen und Konsumtrends des Westens, hedonistisch und eher unpolitisch eingestellt. Trotz dieser Orientierung über die Grenzen der DDR hinaus blieb sie stark mit ihrer unmittelbaren sozialen Umwelt, mit familiären oder selbst konstruierten Netzwerken identifiziert.42

Sowohl in der DDR als auch in dem wiedervereinten Land scheinen die Entgrenzten in einer Art Doppelwelt zu leben. In der DDR ordnen sie sich etwa in der Schule den sozialistischen Ritualen unter, während sie zu Hause eher die westliche Alltagskultur pflegen. Einerseits huldigen sie dem westlichen Konsum, andererseits pflegen sie ihren Familien- und Freundeskreis in der DDR. Schließlich entdecken sie in dem wieder vereinten Land ihre ostdeutsche Identität, obwohl sie in der bundesrepublikanischen Gesellschaft recht gut funktionieren. Diese Ost-West-Orientierung muss allerdings

35 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 545. 36 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 551. 37 Lindner: Sozialisation und politische Kultur, S. 34. 38 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 548. 39 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 549. 40 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 547. 41 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 547. 42 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 548.

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 8 Generation Trabant, Generation `89, Zonenkinder?

nicht unbedingt als schizophren gedeutet werden, was Jana Simon suggerierte. Von den bereits zitierten Wissenschaftlern wird dieser Sachverhalt nicht als ein Krankheitssymptom gedeutet, sondern als eine neue Qualität, die hinter dem Erfolg der Entgrenzten zu stehen scheint. In der DDR wurde die Entgrenzte Generation kaum beachtet. Die Machthaber schenkten ihr kein Zutrauen, überließen ihr keine Verantwortung, was ihre unpolitische, desinteressierte Position noch zusätzlich stärkte.43 Die Jugend von damals rebellierte nicht, sondern lebte auf Distanz ihren eigenen Lebensstil. Paradoxerweise führte aber eben diese unpolitische Haltung zu einem politisch relevanten Umbruch. Nicht zuletzt waren es die ersten Jahrgänge der Entgrenzten Generation, die zusammen mit der Integrierten Generation den größten Teil der Ausreisewelle im Jahre 1989 bildeten.44 Die für die Lebensphase typische Aufbruchsstimmung führte die Entgrenzten Richtung Westen. Die Öffnung der Mauer, die Einführung der D-Mark und die Vereinigung mit der Bundesrepublik waren für die entgrenzte Generation zwar prägende Ereignisse, in gewisser Weise aber auch der Höhepunkt einer schon seit langem anhaltenden Konvergenzbewegung.45

Obwohl die ,Wende‘ für die Entgrenzten zweifelsohne ein wichtiges Ereignis war, haben sie keine identitätsstiftende Erfolgserzählung hervorgebracht, die auch generationsbildend wirken könnte. So stellen Ahbe und Gries fest, dass eine Generationseinheit im Sinne Mannheims kaum auszumachen sei.46 Die Angehörigen der Entgrenzten Generation melden sich nach der ,Wende‘ – zumeist in ihren Debütwerken – in einem zu den Vorgängergenerationen (von der  AufbauGeneration mal abgesehen) kaum vergleichbaren Ausmaß. Veröffentlicht werden die langersehnten ‚Wenderomane‘, in denen auch endlich mit Witz und Humor erzählt wird, wie auch eine ganze Reihe autobiographischer Zeugnisse. Bestseller entscheiden auch über die mediale Präsenz des Generationszusammenhangs, der im Gegensatz zu den älteren BerufskollegInnen die DDR-Geschichte nicht aus der Perspektive der Verantwortlichen im analytischen bzw. selbstbekennenden Modus zur Sprache bringt. Thomas Brussigs Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) – wie auch die erfolgreiche Filmfassung – oder auch Helden wie wir (1995) weisen narrative Strukturen auf, die den amerikanischen Vorbildern näher stehen als den literarischen Traditionen der DDR. Nicht anders ist es im Falle von Ingo Schulzes Simple Storys (1998), die ostdeutsche Schicksale nach der ,Wende‘ mit Rückblicken auf die DDR in Form von short stories, kunstvoll zu einem Flickenteppich zusammenmontiert, präsentieren. Auch die Auswahl an autobiographischen Texten lässt keine Wünsche offen. Von Jakob Heins Mein erstes T-Shirt (2001), Formen menschlichen Zusammenlebens (2003), Vielleicht ist es sogar schön (2004), über Claudia Ruschs Meine freie deutsche 43 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 553. 44 Vgl. Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 59. 45 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 554. 46 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 556.

8.2 Der Arzt und Schriftsteller(sohn) Jakob Hein 

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Jugend (2003), Aufbau Ost (2009), Andreas Gläsers Der BFC war schuld am Mauerbau (2002), Jens Biskys Geboren am 13. August. Der Sozialismus und Ich (2004), bis zu dem autobiographischen Roman André Kubiczeks Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn (2012) und den jüngsten Werken, nämlich Ines Geipels Generation Mauer. Ein Porträt (2014) und Durs Grünbeins Die Jahre im Zoo (2015). Ihre literarische Auseinandersetzung mit dem politischen Umbruch wie auch mit der DDR unterscheidet sich im Wesentlichen von den zumeist in einem Bekenntniston verfassten Memoiren der älteren Generationen, wobei eine Art Paradigmenwechsel bereits bei den Hineingeborenen anzusetzen ist. Der distanzierte, gelassene Blick auf die DDR mag zwar mit einer zeitlichen Distanz erklärt werden. Anzumerken wäre aber an dieser Stelle, dass manche Texte der Entgrenzten im gleichen Zeitraum wie etwa die Texte der AufbauGeneration erschienen sind,47 so dass der Verdacht entstehen mag, die Erzählweise wie auch die Haltung des Autobiographen seien generationsspezifisch.

8.2 Der Arzt und Schriftsteller(sohn) Jakob Hein Jakob Hein ist Schriftsteller und Psychiater, der lange Jahre in der Berliner Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters tätig war.48 In beiden Lebensbereichen feiert Hein seine Erfolge, was den Rezensenten nicht entgeht. Er wird in manchen Interviews und Vorstellungen in die Reihe der schreibenden Mediziner wie Büchner, Benn oder Döblin gestellt.49 Auf sein „Doppelleben“ verweist etwa Henryk M. Broder, der 2003 Heins Alltag wie folgt zusammenfasst: „Von Montag bis Freitag arbeitet er in der Kinderpsychiatrie, am Wochenende legt er Kittel und Krawatte ab und schreibt Texte, die er auf Berliner Lesebühnen vorträgt, wie dem inzwischen legendären ‚Kaffee

47 Autobiographische Texte von de Bruyn (Zwischenbilanz 1992, Vierzig Jahre 1996), Kant ( Abspann 1991), Heiner Müller (Krieg ohne Schlacht 1992) erscheinen zwar einige Jahre früher als Romane von Brussig und Schulze oder auch autobiographische Texte von Hein und Rusch. Bemerkenswert ist allerdings, dass im Jahre 1992 Texte von de Bruyn oder Müller, aber auch Kurt Drawerts Spiegelland veröffentlicht werden. 1995 erscheinen etwa de Bruyns Das erzählte Ich, Christoph Dieckmanns Time is on my side. Ein deutsches Heimatbuch und Erwin Strittmatters Vor der Verwandlung, gleich neben Thomas Brussigs Helden wie wir. Christa Wolf veröffentlicht ihre Tagesprotokolle im Jahre 2003. Im selben Jahr erscheint auch Ruschs Meine freie deutsche Jugend. Christa Wolfs Stadt der Engel wird 2010 herausgegeben, d.h. ein Jahr nach Ruschs Aufbau Ost. All die genannten Beispiele sollen nur auf divergierende Literaturtendenzen verweisen, die im vergleichbaren Zeitraum zum Vorschein kommen, was der pauschalen These, der Blick auf die DDR sowie der Schreibstil der ostdeutschen AutorInnen seien zeitabhängig, den Boden entziehen soll. 48 1998–2011 war er Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Berliner Universitätskrankenhaus Charité. Seit 2011 arbeitet er als niedergelassener Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. (Vgl. https://www.goethe.de/ins/pl/de/kul/mag/21167610.html, letzter Zugriff: 1.07.2018). 49 Vgl. Schachzug mit Chuzpe. In: büchermenschen 2 (2018), URL: https://buechermenschen.de/ interview/bm_2018-2/exklusiv-interview-mit-jakob-hein/ (letzter Zugriff: 4.07.2018).

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 8 Generation Trabant, Generation `89, Zonenkinder?

Burger‘, dem wohl letzten intakten DDR-Kultur-Biotop.“50 Hein ist Mitglied der anfangs im Kaffee Burger angesiedelten „Reformbühne Hein & Welt“,51 1995 gegründet, die – wie auf der Facebookseite der ‚Reformbühne‘ zu lesen ist – „zu den traditionsreichsten Lesebühnen Berlins (und damit Deutschlands)“ zählt. Der Sinn des Vorhabens wird dem Publikum vorgestellt: „Mit ihrem ursprünglichen Anspruch einer ,sprechenden Zeitung‘ waren die Lesebühnen, auf denen Autorinnen und Autoren selbstgeschriebene Texte vor Publikum vorlasen, so etwas wie die Vorläufer der Poetry Slam Bewegung in Deutschland.“52 Der 1971 geborene Jakob Hein, Sohn des Schriftstellers Christoph Hein, sorgt bereits als Dreißigjähriger mit seinem Debüt Mein erstes T-Shirt für Aufsehen, das wohl nicht (allein) auf seine Abstammung zurückzuführen ist. In der Presse wird er zwar oft als Sohn Christoph Heins dargestellt, wovon sich der Schriftsteller selbst kaum zu distanzieren versucht. Im Gegenteil, es gibt auch Interviews mit dem Vater-Sohn-Duo. In den Besprechungen wird aber in erster Linie die literarische Qualität seiner Texte und nicht seine Familienverhältnisse hervorgehoben.53 Das Milieu, in dem Jakob Hein aufgewachsen ist, ist aber nicht ganz unbedeutend. Er stammt nicht von einer Arbeiterfamilie ab, sondern wächst in einem intellektuellen Milieu auf, in dem er früh in Kontakt zu vielen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens kam und damit auch Einblick hinter die Kulissen des Kulturbetriebs gewinnen konnte. Der Vater war bereits zu DDR-Zeiten ein bekannter Schriftsteller, und zwar nicht nur im sozialistischen Lager. Die Mutter, Christiane Hein, studierte (wie ihr Ehemann) Philosophie, promovierte, war später Dramaturgin und Regisseurin im DEFA-Studio für Dokumentarfilme in Babelsberg und arbeitete für den Rundfunk.54 So konnte Jakob Hein bereits als Kind eine reflektierte Sicht der DDR-Verhältnisse präsentiert bekommen, die sich von dem Lebenshorizont eines in der Provinz aufwachsenden Arbeiterkindes deutlich unterscheiden mag. Im Gegensatz zu Autoren etwa der Gründergeneration oder auch der AufbauGeneration schreibt Jakob Hein seinen literarischen Texten keine pädagogische Funktion zu. Obwohl manche Rezensenten das Schreiben als Therapie interpretieren wollen, was sie mit Heins eigenen Worten untermauern, erblickt er selbst in seinem

50 Henryk M. Broder: Triumph der Erinnerung. In: Der Spiegel 12 (2003), S. 174, URL: https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/26609842 (letzter Zugriff: 19.11.2019). 51 Vgl. die offizielle Homepage der „Reformbühne Hein & Welt, URL: http://reformbuehne.de/pages/ mitglieder.php (letzter Zugriff: 1.07.2018) und die Facebookseite: https://www.facebook.com/reformbuehne (letzter Zugriff: 5.07.2018). Die „Reformbühne Hein & Welt“ tritt nicht mehr im Kaffee Burger auf. Die aktuelle Auftrittsadresse (Stand 5.07.2018) ist Jägerklause in Friedrichshain (Vgl. https://www. facebook.com/reformbuehne/photos/a.441770249171909.119949.200558099959793/19186129048209 62/?type=1&theater, letzter Zugriff: 5.07.2018). Die Auftritte finden sonntags statt. (Vgl. http://www. jaegerklause-berlin.de/, letzter Zugriff: 5.07.2018). 52 Facebookseite der Reformbühne Hein & Welt, URL: https://www.facebook.com/reformbuehne (letzter Zugriff: 4.07.2018). 53 Vgl. etwa Broder: Triumph der Erinnerung, S. 174. 54 Vgl. Dieter Jost: mehr wissen wollen. Nachruf auf Christiane Hein. In: Der Freitag (1.02.02), URL: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/mehr-wissen-wollen (letzter Zugriff: 5.07.2018).

8.2 Der Arzt und Schriftsteller(sohn) Jakob Hein 

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Schriftstellerberuf weder einen pädagogischen noch einen therapeutischen Auftrag. So bemerkt Hein tatsächlich, dass er etwas aufschreibe, wenn er über etwas nachdenken möchte.55 Seine Tätigkeit als Schriftsteller zielt aber nicht auf dunkle Momente der menschlichen Psyche, die verarbeitungsbedürftig im Sinne einer Trauerarbeit wären, sondern scheint eher ihn selbst und seine Leser unterhalten zu wollen. Denn in Deutschland lache man nur, wenn man im Kabarett sitze, bemerkt Hein in einem Zeit-Interview, in dem er auch die Bedeutung des Lachens (aus der Perspektive des Schriftstellers Jakob Hein) erklärt: „Dabei sollte man mindestens dreimal täglich laut lachen, weil Lachen heilsam ist. Schon deswegen brauchen wir mehr komische Literatur.“56 Darin scheint auch Hein seine Aufgabe als Schriftsteller zu erblicken: „Ich versuche, alles mit Spaß zu machen, mich selbst zu überraschen. Und wenn ich Glück habe, kommt etwas von dieser Freude an der Sache auch bei meinen Lesern an.“57 Informationen zu Heins Vita werden im Epitext eher sparsam geliefert, was einerseits auf die Strategie des Autors selbst zurückzuführen wäre, andererseits aber handelt es sich nicht um eine Generation, die es bereits geschafft hat, in alle Lexika der deutschsprachigen Literatur Eingang zu finden, so dass von Autoren, die ihr Privates nicht zur Schau stellen und ihr literarisches Werk nicht gerne mit Kommentaren oder Ergänzungen versehen, nicht viele Quellen vorliegen. Sichtbar ist auch der Wechsel der Kommunikationskanäle, vor allem wird der Gebrauch der elektronischen Medien immer populärer. So hat auch Jakob Hein wie auch die „Reformbühne Hein & Welt“ eine Internetseite. Allerdings verrät Hein weder hier noch da viel von seinem Privatleben.58 Auch wenn sich Hein selbst nicht als ostdeutscher Schriftsteller definiert, wird er als Repräsentant einer jungen Generation der in der DDR geborenen Autoren klassifiziert. So gehöre Hein Matthias Matussek zufolge „zu jener Ost-Generation, die 55 Vgl. Henryk M. Broder: In Mutters ewig kalter Küche. In: Der Spiegel 44 (2001), S. 194, URL: https:// magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/20462219 (letzter Zugriff: 19.11.2019). 56 Maximilian Probst: „Wir brauchen mehr komische Literatur“. Interview mit Jakob Hein. In: Die Zeit 20 (2018), 9.05.2018, URL https://www.zeit.de/2018/20/jakob-hein-autor-kinderpsychiater-literaturlernen/komplettansicht (letzter Zugriff: 5.07.2018). 57 Schachzug mit Chuzpe. 58 Die biographischen Angaben auf seiner offiziellen Homepage beschränken sich auf zwei Sätze: „Jakob Hein wurde 1971 in Leipzig geboren. Er lebt seit 1972 mit seiner Familie in Berlin.“ (Homepage von Jakob Hein, URL: http://www.jakobhein.de/ich.php, letzter Zugriff: 5.07.2018); Hervorgehoben werden weder seine DDR-Sozialisation, seine Familienverhältnisse noch seine Tätigkeit als Arzt und Schriftsteller. Angeboten werden nur drei Fotos Heins, die zusammenmontiert eine Gestalt präsentieren, die vielleicht als Hein interpretiert werden kann, das Gesicht ist allerdings kaum erkennbar. (Vgl. http://www.jakobhein. de/ich_fotos.php, letzter Zugriff: 5.07.2018). Hein positioniert sich hier weder als ein ostdeutscher Autor noch als Angehöriger einer bestimmten Generation. Die Internetseite der „Reformbühne Hein & Welt“ bietet dieselbe Fotomontage bzw. Fotokollage. Die biographischen Angaben sind etwas ausführlicher und wirken wie ein Gegenteil einer Werbung: „Jakob Hein, geboren 1971 in Leipzig, zog 1972 mit seinen Eltern nach Berlin. Medizinstudium in Berlin, Wien, Stockholm und Boston. Seit 1998 Mitglied der ‚Reformbühne Heim und Welt‘. Lebt mit seiner Familie in Berlin. Keine Preise, keine Stipendien, keine Wettbewerbe.“ (http://reformbuehne.de/pages/mitglieder/jakob-hein.php, letzter Zugriff: 5.07.2018).

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sich Honeckers Losung ,Überholen, ohne einzuholen‘ zu Herzen genommen hat. Ein Durchstarter“59 soll Hein sein. Hervorgehoben wird sein erfolgreicher Berufsweg als Arzt sowie sein früher Aufbruch in die weite Welt nur ein Jahr nach der Wiedervereinigung. Hein erscheint als ein Erfolgsmensch, als Weltbürger und nicht als ehemaliger DDR-Bürger. Nichtsdestotrotz sieht Matussek in Hein einen Ostdeutschen, auch wenn dieser selbst sich gegen eine derartige Klassifizierung zu wehren scheint. Zitiert wird eine Aussage Heins, die als Beweismaterial für seine Identität dienen soll: Ob sie [Mitglieder der „Reformbühne Hein & Welt“ – K.N.] die Spaltung in Ost und West noch wahrnehmen? Jakob sagt: „Ich möchte ganz sicher nicht als ostdeutscher Schriftsteller in die Urne gehen.“ Das allerdings ist dann doch wiederum sehr Osten: den Osten als Stigma loswerden zu wollen.60

Ob die Diagnose nicht voreilig ist, erscheint überlegenswert. Jakob Hein bleibt doch einer der Autoren, die auf ihre Wurzeln zurückgreifen, ohne in einen nostalgischen Ton zu verfallen. 8.2.1 Mein erstes T-Shirt (2001) made in DDR oder Jakob Heins witzige Pubertätsgeschichten Der schmale Debütband mit Jakob Heins Prosageschichten wird 2001 in dem Münchener Piper Verlag herausgegeben. Die Taschenbuchausgabe erscheint in mehreren Auflagen (die hier zitierte 7. Auflage im Jahre 2009), was zumindest auf den Verkaufserfolg des Buches verweisen mag. Die grellen Farben des Umschlags deuten nicht auf den DDRKontext hin. Vor einem blauen Hintergrund wird ein rotes T-Shirt abgedruckt, auf dem die weißen Buchstaben des Titels hervorstechen. Mein erstes T-Shirt – so der Titel – mag beim Leser den Verdacht wachrufen, es handele sich um einen autobiographischen Text, worauf das Possessivpronomen wie auch die über dem Titel in der gleichen Farbe abgedruckten Personalangaben des Autors hindeuten. Die (diesmal – wie das T-Shirt – rote) Rückseite des Umschlags scheint die Hypothese zu stärken. „Damals war ich noch jünger“ – lautet der erste, durch die schwarze Farbe hervorgehobene Satz, dem der erste Einblick in den Inhalt des Bandes, d.h. der weiß abgedruckte verlegerische Peritext folgt: Fernsehuhren mit und ohne Striche, die erste Liebe, das erste T-Shirt – hintersinnig und witzig erzählt Jakob Hein von Jakob Hein, einem Jugendlichen im ganz normalen Wahnsinn der letzten DDR-Jahre: ein Alltag unter verschärften Bedingungen und voll der Sehnsucht nach Cola, Netzhemd, Westfernsehen und stilvollen Besäufnissen mit Kuba-Rum in sturmfreien Partybuden. Hier hat sich einer gekonnt den verordneten Grenzen entzogen und seine Freiheit gewahrt.61

59 Matthias Matussek: Nach dem Taumel. In: Der Spiegel 48 (2009), S. 149, URL: https://www.spiegel.de/geschichte/mauerfall-nach-dem-taumel-a-949987.html (letzter Zugriff: 19.11.2019). 60 Matussek: Nach dem Taumel, S. 149. 61 Jakob Hein: Mein erstes T-Shirt. Mit einem Nachwort von Wladimir Kaminer. München/Zürich 7 2009 (Rückseite des Covers). Im Folgenden werden Zitate als Sigle JHT mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen.

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Jakob Hein soll über das Leben eines Protagonisten erzählen, der zwar den gleichen Namen trägt, aber mit dem Autor nicht identisch sein muss. Der Peritext widerruft zwar nicht den autobiographischen Pakt, mag aber einem aufmerksamen Leser den Hinweis geben, dass es sich nicht unbedingt um ein historisches Dokument handelt. Wiederholt wird nicht das pauschale Bild des Lebens in einer Diktatur, sondern Sehnsüchte eines Jugendlichen, die sich um eine ganze Reihe von Produkten drehen. Der angedeutete Emanzipationsversuch weist keine Spur eines politischen Mainfests auf. Nun darf von einer ganz ‚normalen‘ Adoleszenz gesprochen werden, auch wenn die Rahmenbedingungen als „verschärft“ charakterisiert werden. Auch der auf dem Cover angeführte Ausschnitt aus einer Buchbesprechung (Süddeutsche Zeitung) hebt die humorvoll erzählte Alltagsgeschichte hervor: „Er hat als versierter Stolperer einen Sinn für Situationskomik und versteht es, im Alltäglichen die schrägen Momente zu entdecken.“ (JHT Rückseite des Covers) Im Waschzettel wird der autobiographische Charakter des Textes ausdrücklich betont. Es handele sich um ein „autobiografisches Buch“, in dem von der „ostdeutschen Kindheit und Jugend [Heins] die Rede ist.“ (JHT 2) Der Leser erfährt darüber hinaus, dass der Autor 1971 geboren wurde und „als Arzt mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin“ (JHT 2) lebt. Weder Vater noch Mutter werden in dem knappen Familienporträt erwähnt. Versprochen wird ein Einblick in die Abenteuer eines Pubertierenden: „Das Leben steckt voller Geheimnisse, und unser jugendlicher Held Jakob Hein macht sich daran, sie zu lüften.“ (JHT 2) Erwähnt wird sein Traum von einer E-Gitarre, die er gar nicht spielen kann, ein Poesiealbum, Getränk namens „Grüne Wiese“, „Selbstverkaufsstelle“ sowie sein erstes T-Shirt, das „eigentlich ein Nicki war.“ (JHT 2) Die Liste der Generationsobjekte, die in dem Buch auftauchen, erweist sich jedoch als viel länger. Ob es sich um einen autobiographischen oder einen romanesken Pakt handelt, wird nicht eindeutig geklärt. Unruhe stiftet in dieser Hinsicht auch das als „Mein erster Jakob Hein“ überschriebene Vorwort von Wladimir Kaminer (Jahrgang 1967), das mit einer provokanten Frage jongliert, ob es nun der wahre Jakob sei, dessen Leben im Buch erzählt wird. Auch wenn man sich den beschriebenen Jakob Hein gut vorstellen kann: „Zigarren rauchend, mit Ironie im Gesicht, Westgeld in der linken Hosentasche und Ostgeld in der rechten. Also: ein Weltmensch made in DDR“ (JHT 6), muss es sich nicht alleine um seine eigenen Erlebnisse handeln, wohl aber um authentische Gegebenheiten. Jakob Hein ist ein Staubsauger. – fasst Kaminer den Schreibstil Heins zusammen – Konsequent und unermüdlich saugt er alles auf, was er um sich herum sieht, und verarbeitet die eigene und fremde Realität in akkurate, zweieinhalb Seiten lange Geschichten, die in einer angenehmen, leicht verständlichen Sprache verfaßt sind. (JHT 7)

Im Grunde spielt es aber keine Rolle, ob es sich um das Leben Jakob Heins handelt, ob sich die Geschichte an Tatsachen oder an mögliche Vorfälle hält. Gezeigt wird der Modellfall einer Jugend, die sich unter Bedingungen des Sozialismus nicht allzu stark von einer westdeutschen Pubertät zu unterscheiden scheint. So wird auch episoden-

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haft Geschichte einer glücklichen Zeit erzählt, mit allen Merkmalen eines subjektiven Blicks, den eine hohe Dosis an Witz und Humor etwas mildern bzw. korrigieren soll. Jakob Heins Erzählstil steht der sogenannten westdeutschen Pop-Literatur näher als den ästhetischen Einflüssen der (älteren) DDR-Autoren. Elke Brüns klassifiziert Mein erstes T-Shirt als „Kindheitspop“.62 Kunstgriffe wie etwa die Aufzählung von Markennamen, Songtiteln, Fernsehsendungen oder auch Namen von Jugendidolen wie auch Liebesbeziehungen von Pubertierenden – denen eine identitätsstiftende Funktion zugeschrieben werden darf – ähneln tatsächlich dem Stil der Pop-Literaten. Elke Brüns beruft sich bei ihrer Argumentation auf die von Moritz Baßler gelieferte Charakteristik der Popliteratur, der sich Jakob Hein unmissverständlich zuordnen lasse: Wenn Musik und Mädchen Moritz Baßler zufolge das Generalthema der Popliteratur sind, wird diese Zugehörigkeit von Hein schon fast programmatisch eingelöst: Der erste Satz des Buches lautet: „Es begann bei mir wie bei den meisten, es begann mit einer Gitarre“. Die zweite Episode beginnt mit der Erklärung: „Ich habe nicht soviel Erfolg bei den Frauen“. Nimmt man das Aufzählen von Markennamen als ein weiteres Charakteristikum der Pop-Literatur, so erweist sich Hein nicht nur ein genuiner Vertreter derselben, er ist eigentlich immer schon im Westen aufgewachsen: Mit Stratocaster, Aerosmith, den Zeitschriften New Musical, Express und Bravo, mit Matchbox und Haribo zitiert er die vertraute (West-)Warenwelt.63

Der Ich-Erzähler malt eine Kindheit und Jugend voll von sozialistischen Ritualen und westdeutschen Produkten aus. So füllen die private Welt des erzählten Ich die Hits von Wham oder Triplets (Wake me up before you gogo, You don’t have to go home tonight) (vgl. JHT 17), später auch Punkmusik mit illegalen Postillen, Punkfestivals und Zubehör wie höhere, dreckige Stiefel oder längere, bunte Haare (vgl. JHT 127). Er wird aber gleichzeitig zum fremdbestimmten Objekt der sozialistischen Erziehung, die allerdings bei ihm wie bei seinen Altersgenossen wenig Erfolg zu haben scheint. Die DDR wird nicht als eine schreckenserregende Gefängniszelle dargestellt, sondern als ein Ort, mit dem man sich arrangieren konnte. Der sozialistische Überwachungsapparat wird nicht mehr gefürchtet, wie aus den Erinnerungen der älteren Generationen hervorgeht. Die Jüngeren scheinen gegen die Maßnahmen immun geblieben zu sein, zumal die Mechanismen allgemein bekannt sind. Die ständigen Überprüfungen ohne jede konkrete Konsequenz ließen uns nach und nach den Respekt verlieren. Wer fürchtet sich schon vor einem riesengroßen Hund, der seine Zähne auf dem Nachttisch vergessen hat. (JHT 131)

Die DDR wird nicht als eine Angsterfahrung64 wahrgenommen. Durchschaut werden die Absurditäten des Systems, die Dichotomie zwischen Ideologie und Praxis, der mit

62 Elke Brüns: Generation DDR? Kindheit und Jugend bei Thomas Brussig, Jakob Hein und Jana Hensel. In: Geier/Süselbeck (Hg.): Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten, S. 91. 63 Brüns: Generation DDR?, S. 91. 64 Als Motto des Kapitels „Die schlimmen Jahre“ – in dem übrigens eine Anspielung auf Kunzes Die

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entblößender Ironie begegnet wird. So sei etwa bei den Übungen der Kampfgruppe mehr trinken als schießen geübt worden. „So sicher waren sich die Machthaber ihrer Sache“ (JHT 137), konstatiert der Ich-Erzähler. Beschrieben wird eine „hartnäckige Realitätsverweigerung. Offiziell guckte hier zum Beispiel keiner Westfernsehen, was in Wirklichkeit alle guckten.“ (JHT 133) Um der Wahrheit auf die Schliche zu kommen, fragen linientreue Lehrer, ob die Uhr im Fernseher zu Hause Punkte (wie im Ostfernsehen) oder Striche (wie im Westfernsehen) habe. In manchen Familien ging es so weit, daß die Uhr Striche hatte, bis die Eltern nach Hause kamen und die Kinder schnell umschalteten. Wenn die Kinder dann im Bett waren, bekam die Fernsehuhr wieder Striche. (JHT 133)

Die Altersgenossen des erzählten Ich werden in Muster der sozialistischen Erziehung gedrängt, die sie als „Gleichförmigkeit“ wahrnehmen, während die offizielle Propaganda den „Fortschritt“ verkündet: Andauernd: „Heute beginnt für euch ein neuer Lebensabschnitt.“ Erste Klasse, Jungpioniere, dritte Klasse, Thälmannpioniere, fünfte Klasse, Jugendweihe, Freie Deutsche Jugend. Es hörte gar nicht auf. (JHT 129)

Vom Mittagsschlaf im Kindergarten (vgl. JHT 33) über die Aktionen im Namen des Weltfriedens – wie die Briefe an den amerikanischen Präsidenten, in denen sich die Jugendlichen für die Befreiung von Angela Davis oder für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzten (vgl. JHT 50) – das Leben der jüngeren Generation schien vorgeplant zu sein, als ob die Machthaber sie hätten beschützen wollen. Zu Maßnahmen dieser Art gehörte auch der Mauerbau. Im Gegensatz zu unseren Eltern hatten wir nie die Kinos in Westberlin kennengelernt, wußten von keinem ,Vorher‘ und ,Nachher‘. Fünfzehn Kilometer von euch entfernt, könnte doch auch ein fremdes Land liegen, zum Beispiel Birkenwerder. Was würde es euch interessieren, wenn ihr sowieso nie dorthin könntet? Die Fahrt nach Potsdam dauerte zwei Stunden, wir dachten nicht darüber nach, daß es eine Abkürzung gab. Die Fahrpläne galten. Wir hatten keine Probleme damit. Aber das Problem war, daß die Generation davor vom ,Vorher‘ wußte, und deshalb wurde Prophylaxe betrieben, wo keine Symptome waren. (JHT 110–111)

Weder dem Mauerbau noch dem Mauerfall kommt in der hier (re)konstruierten Jugendgeschichte die gleiche Bedeutung wie in den Erinnerungen der älteren Generationen zu. Die Vorher-/Nachher-Perspektive wird von dem erzählenden Ich dem Erfahrungshorizont der Großväter- und Vätergeneration zugeschrieben, von denen die Entgrenzten sie vererbt bekommen. So werden auch die Ereignisse des Jahres 1989 im Buch

wunderbaren Jahre kaum zu übersehen ist – wählt Hein Worte Jochen Schmidts „Die DDR war für Jochen Schmidt keine Angsterfahrung“ (JHT 45) und beschreibt in dem Kapitel gegen die durch den Titel wachgerufenen Erwartungen keine ernstzunehmenden Gefahren, sondern eher Monotonie des DDR-Alltags eines Jugendlichen.

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in zwei Kapiteln dargestellt, die eher einen (un)möglichen Verlauf der Geschehnisse skizzieren statt den Tag wahrheitsgetreu zu rekonstruieren bzw. für die Wahrhaftigkeit der Darstellung zu sorgen. Die erste Darstellung heißt „Wie es damals wirklich war“, was auch einen authentischen Bericht erwarten lässt, während das nächste Kapitel mit „Wie es damals wirklich gewesen sein könnte“ eine alternative Geschichtsdarstellung anzubieten scheint. Beide Geschichten werden mit einer hohen Dosis Humor und Ironie erzählt, so dass die Frage nach den Tatsachen als zweitrangig erscheint. Im ersten dieser beiden Kapitel wird eine Geschichte des Mauerfalls erzählt, die beinahe so absurd klingt wie Thomas Brussigs Version des Mauerfalls in Helden wie wir. So habe sich das erzählte Ich als Günther Schabowski verkleidet und auf einer Pressekonferenz die Grenze öffnen lassen. Mit diesem Vorschlag soll zu ihm Gerhard Schröder gekommen sein. Da die Vorfälle in einem Kapitel präsentiert werden, das einen Bericht zu versprechen schien, mag der Leser sich an die Lektüre des darauf folgenden Kapitels ohne jegliche Erwartungen machen, folglich fragt er in dem nächsten Kapitel nicht mehr nach dem Wahrheitsgehalt des Dargestellten, auch wenn manches recht plausibel klingen mag. Mitten in einem Konzert wird der Strom abgestellt und das erzählte Ich, nachdem es die Konzerthalle verlassen und „schon ewig“ (JHT 142) auf die Straßenbahn gewartet hat, schließt sich einer Menschenmasse an, die vorbeizieht. Sie machen „ganz schön Krach“ und rufen Losungen wie „Bürger, laßt das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein.“ (JHT 143) Das erzählte Ich schließt sich der Masse nicht aus politischer Überzeugung an, sondern eher durch ein unvorhergesehenes Zusammentreffen von Vorgängen. Er scheint sich aber an der Atmosphäre zu amüsieren. Die Beschreibung der Beweggründe und die Pose der verblüffenden Ehrlichkeit relativieren das gängige Bild des heldenhaften Aufstandes von empörten DDR-Bürgern. Der Ich-Erzähler gibt zu: „Mir gefiel es, denn alle waren sehr solidarisch-verschwörerisch miteinander, und einige der anwesenden Damen fanden mein Gefallen.“ (JHT 144) Die Protestierenden werden verhaftet, aber auch dieser Umstand wird nicht dazu ausgenutzt, einen Heldenmythos aufzubauen. Im Gefängnis sei es „überraschend angenehm“ (JHT 146) gewesen. Und die Atmosphäre in der Schule nach der Rückkehr wird als „recht amüsant“ (JHT 148) dargestellt. Die inzwischen durch den Systemumbruch zu einer Korrektur der eigenen Haltung gezwungenen Lehrer behandeln das erzählte Ich wie ein „Talisman“ (JHT 148), obwohl sie sich sechs Wochen zuvor für seine Inhaftierung einsetzten. Die Dynamik der Wendezeit wird skizziert, was an die gängigen Bilder der ,Wende‘ erinnert, allerdings wird das Bild mit einem für Heins Erzähler typischen Kommentar versehen, so dass ein nostalgischer Ton vermieden wird: Als ich aus dem Gefängnis kam, hatte sich alles verändert. Die Leute redeten aufgeregt miteinander über neue Politik. Die alten Politiker waren verschwunden. Jeden Tag war eine neue Demonstration mit großer Beteiligung, und alles schien in Bewegung. Die Leute schauten sogar Ostfernsehen. Nun bedaure ich, daß ich damals keine neue Religion gegründet habe. Es wäre sicherlich der ideale Zeitpunkt gewesen. Alle waren so aufnahmebereit, und die Periode wird bis heute als eine Art heilige Zeit behandelt. (JHT 147)

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Auch das erzählte Ich macht Gebrauch von dem Begrüßungsgeld (vgl. JHT 149). Obwohl auf einmal nachgeholt werden kann, was früher unzugänglich war – wie etwa Konzerte oder Kinobesuche in Westberlin –, schildert Hein den Prozess der Transformation nicht als eine Revolution im Leben Jakob Heins, sondern eher als eine Zäsur. Neue Wege werden zwar eröffnet und eine neue Lebensphase wird angetreten, die nach wie vor nicht nur von dem politischen Umbruch eingeleitet wird. Der Erzähler verweist bereits im Kontext des Gefängnisaufenthaltes auf die Zukunftspläne des Protagonisten, der vorhatte, zu studieren, und der durch seine Inhaftierung sein weiteres Leben neu planen musste (vgl. JHT 145). Der Umbruch deckt sich folglich mit dem Übergang zur nächsten Lebensphase. Und so schließt das erzählende Ich seine Geschichte mit einem Aufbruch ins Unbekannte: „Ich merkte, daß Geld, sogar echtes Westgeld, nie im Mittelpunkt meines Interesses stehen würde, und ging auf die Suche nach neuen Lebenszielen in der Wunderwelt des Kapitalismus.“ (JHT 150) 8.2.2 Rekonstruierte Familiengeschichte oder die Frage der jüdischen Identität – Vielleicht ist es sogar schön (2004) Erzählte Mein erstes T-Shirt auf eine humorvolle Art und Weise die Abenteuer eines pubertierenden ostdeutschen Jugendlichen, greift der vier Jahre später herausgegebene Band Vielleicht ist es sogar schön zu einem ernsten, reflektierten Ton, auch wenn er auch diesmal nicht nostalgisch wird. Jakob Hein verfasst den Text in Reaktion auf den Tod seiner Mutter, der ihn zur Rekonstruktion der Familiengeschichte (vorwiegend mütterlicherseits) bewegt. So scheint der Autor nicht nur seiner Mutter ein Denkmal zu setzen und bei dieser Gelegenheit Einblicke in das familiäre Leben zu  geben, sondern auch in die DDR-Realität, respektive die intergenerationellen Beziehungen. Es handelt sich aber um ein privates, beinahe intimes Buch und nicht um Memoiren, in denen der Schriftstellersohn Jakob Hein vom Leben in einer Intellektuellenfamilie von Christoph und Christiane Hein berichtet. Mit dem Tod der Mutter scheint ein Stein des Mosaiks zu verschwinden zu drohen. So rettet der Erzähler in gewisser Hinsicht die Bruchstücke der Vergangenheit vor dem Vergessen, indem er sie in der Erinnerung festhält. Schließlich ist die Geschichte der Mutter auch ein Bestandteil der eigenen Identität. Im Gegensatz zu Mein erstes T-Shirt wird das Buch nicht als eine lustige Abenteuergeschichte im popliterarischen Stil verfasst, sondern – wie auf der Rückseite des Covers zu lesen ist – als eine Geschichte, die „klug, wütend und tröstlich zugleich“65 ist. Der Erinnerungsvorgang wird im Waschzettel umrissen. Nach dem Abschied von seiner Mutter „beginnt er [der Erzähler = Jakob Hein – K.N.] sich zu erinnern an das Leben mit

65 Jakob Hein: Vielleicht ist es sogar schön. München/Zürich 2009 (Rückseite des Covers). Im Folgenden werden Zitate als Sigle JHV mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen.

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ihr: an die gemeinsamen Schreibtischnachmittage der ganzen Familie, an die jüdische Gemeinde in Ostberlin und an den kommunistischen Stiefgroßvater, den letzten Stalinisten der untergegangenen DDR.“ (JHV 2) Der Gestalt des Vaters und dessen Familie wird weniger Aufmerksamkeit geschenkt, auch wenn ihnen Platz im Erfahrungshorizont des Erzählers zugewiesen wird, was nicht etwa auf die Frage der Hierarchie sondern der Selektion zurückzuführen ist. Allen Erzählsträngen ist die im Zentrum stehende bzw. als Ausgangspunkt der Erzählung dienende Gestalt der Mutter gemein, sei es ihre Erkrankung, sei es ihr Dasein als Mutter eines DDR-Kindes bzw. eines Adoleszenten, sei es als „Vierteljüdin“, die ihren leiblichen Vater nie kennengelernt hatte. Dass es sich um ein autobiographisches Buch handelt, erfährt der Leser aus dem verlegerischen Peritext. Auf der Rückseite des Umschlags wird ausdrücklich betont, dass es sich um die Geschichte Jakob Heins und seiner Familie handelt. Die Klassifizierung wird im Waschzettel wiederholt, auch wenn das Buch selbst nicht ausdrücklich als eine Autobiographie ausgegeben wird. (JHV 2) Im eigentlichen Text wird der autobiographische Pakt jedoch indirekt geschlossen, worauf auch Katrin Löffler zurecht verweist.66 Jakob Heins Name wird nicht genannt. Statt dessen werden Personalien seiner Verwandten mehrmals erwähnt, so dass die Referentialität des Geschriebenen ausreichend gesichert ist. Konkrete Angaben beschränken sich allerdings wieder auf Gestalten, die mit der Geschichte der Mutter zusammenhängen wie etwa ihre jüdischen Vorfahren, während bei anderen Personen auf Details verzichtet wird. Allerdings lässt der Erzähler kaum Zweifel daran, dass es sich um eine authentische Geschichte handelt. Im Gegensatz zu Mein erstes T-Shirt wird der Leser diesmal weniger irritiert. „Irritationen bezüglich des faktualen Lektüremodus“ – fügt Löffler hinzu – „lässt die narrative Gestaltung des Textes nicht aufkommen; es gibt keinerlei Erzähltechniken oder Erzählelemente, die als Fiktivitätsfaktoren fungieren und den Regeln der ‚sozialen Praxis Fiktion‘ entsprechen würden.“67 Der Großteil der Erzählung ist der Erinnerung an die Kindheit und Jugend des Erzählers in der sozialistischen Welt gewidmet. Hier bedurfte es großer Kreativität, um den Gefahren zu entkommen, aber auch um sich den Einschränkungen der Mangelwirtschaft zu widersetzen. So werden auf eine humorvolle Weise Vorbereitungen auf Weihnachten skizziert, an denen das Lebkuchengebäck auch in der DDR nicht fehlen durfte. Das Kapitel „Essen machen“ beschreibt aus der Perspektive eines Fünfjährigen das Ritual der Zubereitung, dem die Suche nach allen Zutaten zuvorkommt. An der Suche beteiligte sich die ganze Familie: „Nach einigen Stunden trafen wir uns in der Küche wieder und schüttelten den Inhalt unserer Netze, Beutel und Taschen auf den Küchentisch. Wir hatten im Prinzip alle Zutaten bekommen, aber einige Kompromisse waren gemacht worden.“ (JHV 36) Statt Butter wurde Margarine mitgebracht. Honig musste durch Kunsthonig ersetzt werden. Statt der benötigten Mandeln musste die Mutter „aus

66 Vgl. Löffler: Systembruch und Lebensgeschichte, S. 172. 67 Löffler: Systembruch und Lebensgeschichte, S. 172.

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weißen Bohnen durch Rösten und Mahlen eine Substanz“ herstellen, die angeblich „mindestens so gut wie gebrannte Mandeln schmeckte.“ (JHV 36) Die Zubereitung nach altem Rezept dauerte zwei Tage lang. „Die Wohnung roch nach Weihnachten.“ (JHV 37) Am Tag der Degustation kam aber die Enttäuschung, was der in der DDR-Realität bewanderte Leser allerdings vorausahnen konnte. Hein spielt mit der Stimmung, indem er das Vorgehen aus der Perspektive des naiven Kindes erzählen lässt, während der Leser mit seinem Wissensvorsprung und seinem Erfahrungshorizont den Ausgang bereits zu antizipieren vermag. Der Beschreibung der Sinneseidrücke wird viel Platz eingeräumt: Dann war endlich der erste Advent. Meine Mutter zündete die Kerze an und jeder bekam einen liebevoll verzierten Lebkuchenmann zu seinem Kakao. Das Gebäck war steinhart und es war praktisch unmöglich, es mit den Zähnen zu zerteilen. Auch die anderen schienen Mühe zu haben und drehten verlegen ihre ungenießbaren Lebkuchen in den Händen. Wir schauten uns betreten an und ich versuchte, wenigstens an dem Gebäck zu lutschen, um es aufzuweichen. Schließlich wollte ich um nichts in der Welt das köstliche Aroma der edlen Inhaltsstoffe verpassen. Aber auch der Geschmack meines Lebkuchenmanns war eine schlimme Enttäuschung. Die Masse in meinem Mund war klebrig und schmeckte widerlich süß, aber war gleichzeitig salzig und bitter. Mühevoll schluckte ich den Brei hinunter, den Rest des Lebkuchens warf ich unauffällig weg. Wir beendeten stillschweigend das Kaffeetrinken. (JHV 37)

Niemand beklagt die Lage. Die Familie hält zusammen. Die Aussage ist allerdings weit von einer nostalgischen Idealisierung entfernt, was durch eine hohe Dosis Humor und Selbstironie vermieden wird. Gezeigt wird wieder ein ganz normales Familienleben unter etwas außergewöhnlichen Lebensumständen, wo es Fleisch beim Fleischer in der Streustraße nur donnerstags (vgl. JHV 25) und Papiertaschentücher nur montags in der großen Drogerie in der Allee gab, denn „Papiertaschentücher gehörten zu den Waren, die nie in einem Laden vorrätig waren und von denen trotzdem jeder genug zu Hause hatte.“ (JHV 23) Die oft beklagte sozialistische Mangelwirtschaft wird hier weder beklagt noch verherrlicht, sondern einfach hingenommen. Wie stark die angeblich kleinen Kompromisse das Leben ungenießbar machen können, zeigt aber exemplarisch die von Hein angeführte Episode. Als der Staat untergeht, weinen ihm weder der Sohn noch die Mutter – auch wenn sie schnell arbeitslos wird – auch nur eine Träne nach (vgl. JHV 110). Beide stellen sich neuen Möglichkeiten und Herausforderungen (vgl. JHV 111). So verbringt der Erzähler etwa drei Jahre in Amerika,68 wo „man selbstverständlich und ohne Nachfrage davon aus[ging]“ (JHV 122–123), dass er ein Jude sei, während er – wie seine Mutter auch – in der Heimat immer Probleme damit hatte, als Jude anerkannt zu werden. Die Frage der jüdischen Identität – gemeint als Fremd- und Selbstwahrnehmung – geht mit der Rekonstruktion der Familiengeschichte einher und scheint in dem Erfahrungshorizont des gedenkenden Sohnes einen höheren Stellenwert zu besitzen, als der politische Umbruch 1989 und seine Folgen.

68 Dem Aufenthalt in Amerika widmet Hein wiederum das Buch Formen menschlichen Zusammenlebens (2003).

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Die Familiengeschichte beginnt mit dem leiblichen Großvater mütterlicherseits, Johannes Figulla, der nach Nürnberger Gesetzen als Halbjude galt (vgl. JHV 39). Die Mutter des Erzählers wurde 1944 geboren und weil ihre Mutter nicht jüdisch war, galt das Kind als ,Vierteljüdin‘ (vgl. JHV 40). Da der Vater zur Flucht gezwungen wurde, blieb die Frau alleine mit dem Kind, das sie zwar liebte, gleichzeitig konnte sie aber der Tochter nicht verzeihen, dass sie ihretwegen ihren geliebten Johannes auf der Flucht nicht begleiten konnte (vgl. JHV 73). „Nach der Abreise ihres Johannes war Oma ganz auf sich gestellt und in einem Bettchen lag das angeblich so gefährliche vierteljüdische Mädchen“ (JHV 57), fasst der Erzähler die Lage der Familie zusammen, die – wie auch später rekonstruiert wird – Einfluss auf die Identitätsfragen der nächsten Generationen hatte. Denn auch wenn die Mutter Christiane als „gefährlich“ bezeichnet wird, weil sie einer Familie mit jüdischen Wurzeln entstammt, wird sie von den Juden selbst nicht als Jüdin angenommen. Nach ihrem Tod gelingt es dem Sohn nicht, die Mutter auf einem jüdischen Friedhof zu bestatten, obwohl sie der jüdischen Gemeinde in Ostberlin nahe stand. Dem jüdischen Recht nach war sie nämlich keine Jüdin. Dem Erzähler und seiner Mutter fehlt – wie Katrin Löffler in ihrer Analyse der jüdischen Identität in dem besagten Text feststellt – „die Selbstverständlichkeit des Judenseins qua Geburt.“69 Die Nuancen des jüdischen Rechts werden wie folgt erklärt: „Da Johannes Figulla, der Großvater, Sohn einer jüdischen Mutter war, galt er nach der Halacha, dem jüdischen Recht, als Jude. Das trifft jedoch nicht auf seine Tochter zu, Christiane Hein, da sie von einer Nichtjüdin geboren wurde.“70 Die Bindung zu der jüdischen Gemeinde scheint im Falle des Erzählers nicht besonders tiefgründig zu sein – und ergibt sich eher aus seiner Suche nach Familienwurzeln als aus einer tiefen religiösen Überzeugung –, weil er nach dem gescheiterten Versuch, seine Mutter auf dem jüdischen Friedhof zu bestatten, dieses Kapitel seiner Erzählung endgültig abschließt. Durch die Erforschung der Familiengeschichte kommt der Erzähler zwangsläufig auf die Struktur der DDR-Gesellschaft zu sprechen, denn die Familienverhältnisse spiegeln die Grundlagen des sozialistischen Staates wieder. Und so hat der Erzähler „ein Paar gewöhnlicher Großeltern“ (JHV 62) von Seiten seines Vaters – bei denen er immer sehr herzlich und aufgeschlossen aufgenommen wurde und bei jedem Besuch „lange Plastikschlangen gefüllt mit bunten Kaugummikugeln oder eine Schokoladentafel mit einem Mohr auf jedem zweiten Stück“ (JHV 62) erhielt – und die Eltern seiner Mutter, bei denen es an jeglichen Gefühlsausbrüchen fehlte. „[…] Opa Zauleck, der Mann, den Oma schließlich nach dem Krieg geheiratet hatte […], reichte [ihm] zur Begrüßung mit ausgestecktem Arm die Hand und sagte förmlich: ,Guten Tag‘.“ (JHV 63) Hinter der Kälte der Großeltern mütterlicherseits steckt nicht nur die Geschichte des verschwundenen Juden Johannes, sondern auch des Ehemannes der Großmutter, der durch die Ehe mit einer Verfolgten seine eigene Schuld an nationalsozialistischen Verbrechen vertuschen

69 Löffler: Systemumbruch und Lebensgeschichte, S. 177. 70 Löffler: Systemumbruch und Lebensgeschichte, S. 173.

8.3 Von der „alltägliche[n] Schizophrenie“. Claudia Ruschs Meine freie deutsche Jugend (2003) 

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wollte. Opa Zauleck war nämlich ein Nazi, der kurz vor dem Kriegsende beschloss, diesmal alles richtig zu machen (vgl. JHV 67). So schloss er sich den Kommunisten an, „wurde ein glühender Anhänger Stalins“ und heiratete „[z]u seiner eigenen Sicherheit und Selbsterziehung […] eine einfache Sekretärin mit einem unehelichen Kind, eine anerkannte Verfolgte des Naziregimes.“ (JHV 69) Der überall als Stalinist bekannte Opa hatte also eine dunkle Geschichte zu verheimlichen, die auch eine bestimmte Lebenshaltung zur Folge hatte, nämlich strenge Zurückhaltung und Misstrauen den anderen wie auch sich selbst gegenüber. „Opa Zauleck misstraute sich selbst viel zu sehr, um Gefühle oder Unordnung in seinem Leben zuzulassen.“ (JHV 70) Von dieser Atmosphäre wird nicht nur das Enkelkind geprägt, sondern vor allem dessen Mutter, die mit dieser Gefühlskälte ihr ganzes Leben lang umzugehen hatte und trotzdem – wie dem ihr gewidmeten Buch zu entnehmen ist – ihre eigene glückliche Welt aufbaute, in der es ihren eigenen Kindern an Unterstützung und Wärme nie gefehlt hatte. In den episodenhaft erzählten Geschichten gibt Jakob Hein einen Einblick in die Strukturen der DDR-Gesellschaft, von der ältesten Generation ausgehend, die von den Zwängen des Nationalsozialismus in die kommunistische Diktatur wechselte, über die Funktionierende Generation (der auch die Eltern des Erzählers angehörten), die vom Krieg und dessen Folgen noch geprägt wurde und sich in dem neuen System von Beginn an anzupassen hatte, bis hin zu der Entgrenzten Generation mit Jakob Hein als Repräsentanten, die von den beschriebenen Ereignissen zwar unberührt blieb, dessen Folgen jedoch zu spüren bekam, nicht zuletzt durch die Erziehung und die vererbten Verhaltensmuster, zu denen sie allerdings eine größere Distanz gewinnen konnten. Im Gegensatz zu den älteren Generationen stützt sich der Erzähler nicht nur auf seine eigenen Erlebnisse, sondern ist an vielen Stellen auf Berichte anderer Menschen angewiesen. Sein DDR-Bild erscheint als ein Mosaik aus eigenen und fremden Reflexen. Da die vererbten Geschichten zum festen Bestandteil der Erfahrungswelt des Erzählers werden, versucht er sie nicht zu überprüfen. Es handelt sich nämlich nicht um eine Rekonstruktion der historischen Wahrheit, sondern einer Atmosphäre, die sein Leben prägte.

8.3 Von der „alltägliche[n] Schizophrenie“ und der „Gnade der späten Geburt“. Claudia Ruschs Meine freie deutsche Jugend (2003) Claudia Rusch war der deutschen Leserschaft bis zum Jahr 2003 kein Begriff. Die 1971 in Stralsund geborene Autorin gelang an die Öffentlichkeit erst mit ihrem literarischen Debüt Meine freie deutsche Jugend71, das sowohl von der Literaturkritik

71 Die in der Überschrift stehenden Zitate stammen von: Claudia Rusch: Meine freie deutsche Jugend. Frankfurt a.M. 32009, S. 50, 134. Im Folgenden werden Zitate als Sigle CRJ mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen.

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als auch von den Lesern positiv aufgenommen wurde, wovon einerseits die Buchbesprechungen zeugen, andererseits auch die Tatsache, dass das Buch auf der SpiegelBestsellerliste stand und 2004 für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde.72 Im Gegensatz zu den älteren Berufskollegen werden Informationen über Rusch und ihr Schaffen nur spärlich geliefert. So taucht sie – ähnlich wie die meisten Angehörigen des Generationszusammenhangs (von Durs Grünbein, Ingo Schulze oder Thomas Brussig mal abgesehen) – kaum in den Lexika oder auch Literaturgeschichten auf. Da es sich in ihrem Fall um eine erst nach dem politischen Umbruch debütierende Autorin handelt, wird sie ähnlich wie Jakob Hein in dem Metzler Lexikon DDR-Literatur nicht berücksichtigt. Sie wurde zwar in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik geboren, ihre literarische Tätigkeit ist jedoch an den literarischen Markt des vereinigten Landes geknüpft. Eine derartige Klassifizierung wäre demensprechend nicht ohne Vorbehalte hinzunehmen, auch wenn Ruschs Aktivität zumindest thematisch sehr stark mit dem besagten Literaturfeld zusammenhängt. Die wenigen Informationsquellen, die dem Recherchierenden zur Verfügung stehen, beschränken sich auf Internetseiten, darunter die des Fischer-Verlages, der Stiftungen, die die Autorin förderten73 bzw. Institutionen, wo sie zu Gast war.74 Hinzu kommen auch Buchbesprechungen, die im Falle von Meine freie deutsche Jugend in vielen Zeitschriften erschienen. Die Autorin selbst verfügt über keine Homepage, so dass ihre mediale Selbstverortung nicht näher untersucht werden kann. Rusch verbrachte ihre Kindheit und Jugend auf der Insel Rügen und in Berlin. Ähnlich wie Jakob Hein gehört auch sie einem Jahrgang an, der im Jahr der ,Wiedervereinigung‘ die Abiturprüfung ablegte. Anschließend studierte sie Germanistik und Romanistik. Bevor sie sich 2001 entschied, als freie Schriftstellerin zu leben, war sie sechs Jahre lang als Fernsehredakteurin tätig. Von einem nichts wissenden Gesellschaftsdurchschnitt kann im Falle der Familie von Claudia Rusch nicht die Rede sein. Ihre Mutter gehörte zum Freundeskreis des Dissidenten Robert Havemann und seiner Frau Katja, so dass Rusch im Umfeld der Bürgerrechtsbewegung aufwuchs. Sie wird auch zur Zeugin bzw. zum Objekt der Überwachung. Von den verbrecherischen Maßnahmen des Systems mag sie sehr früh erfahren haben, zumal die Familie von der Geschichte des Großvaters tief geprägt wurde, der in Stasi-Untersuchungshaft starb.75 Dass ihre Erinnerungen Meine

72 Vgl. Fischer-Verlag https://www.fischerverlage.de/autor/Claudia_Rusch/14886 (letzter Zugriff: 24.09.2018). 73 Vgl. Roger Willemsen Stiftung: https://rwstiftung.de/stipendien/claudia-rusch/ (letzter Zugriff: 25.09.2018). 74 Vgl. Goethe-Institut Niederlande: https://www.goethe.de/ins/nl/de/ver.cfm?fuseaction=events. detail&event_id=21321202 (letzter Zugriff: 25.09.2018). 75 Claudia Rusch. In: Zeitzeugenbüro (Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur), URL: https:// www.zeitzeugenbuero.de/index.php?id=detail&tx_zrwzeitzeugen_zeitzeugen%5Buid%5D=42&tx_zrwzeitzeugen_zeitzeugen%5Bcontroller%5D=Zeitzeugen (letzter Zugriff: 25.09.2018).

8.3 Von der „alltägliche[n] Schizophrenie“. Claudia Ruschs Meine freie deutsche Jugend (2003) 

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freie deutsche Jugend aus diesem Grunde nicht als Identitätsangebot wahrgenommen werden müssen, konstatiert etwa Hannes Krauss in seinen recht kritischen Anmerkungen: Das Identifikationspotential für Altersgenossen ist eher geringer, weil eine Kindheit im Umfeld von Robert Havemann ein Ausnahmefall war. Mich irritieren Ruschs Bilder aus dem Poesie-Album einer Dissidententochter zudem durch eine ungeschützte Privatheit, deren aufgezwungene Intimität selten durch repräsentative Blicke auf Strukturen gemildert wird.76

In ihrem Debüt Meine freie deutsche Jugend scheint Claudia Rusch aber im Gegensatz zu Jana Hensel, mit der sie in Buchbesprechungen verglichen wird,77 nicht die Rolle einer Repräsentantin – sei es der Ostdeutschen, sei es einer (bestehenden oder auch konstruierten) Generation – zu übernehmen, sondern ist einzig darauf bedacht, ihre private Erinnerung in Worte zu fassen. Die Sammlung privater Geschichten wird jedoch absichtlich nicht im Geiste der Ostalgiewelle verfasst, worauf die Autorin selbst in einem Interview explizit zu sprechen kommt. Jeder habe Recht auf eine private Erinnerung und solange diese nicht den menschenfeindlichen Charakter des Systems ausblende, habe sie nichts mit Ostalgie zu tun.78 Dass Meine freie deutsche Jugend überhaupt ein Buch über die DDR ist, streitet die Autorin in einem Radio-Interview ab. Es ist kein Buch über die DDR, weil wenn es eins über die DDR wäre, dann wäre es viel weniger lustig und fröhlich ausgefallen […], aber es ist ein Buch mit Geschichten aus meiner Kindheit und die zeigen sehr schön die Dualität, in der ich aufwuchs, und die Absurdität […].79

Rusch nimmt die DDR nicht als ihr Lebensthema wahr, wohl aber ist sie sich dessen bewusst, dass sie von den frühen Erlebnissen geprägt wurde. Ausschlaggebend sind alleine die Prägeerfahrungen, die mit der DDR zwangsläufig zusammenfallen.

76 Krauss: Zonenkindheiten, S. 92–93. 77 Vgl. Krauss: Zonenkindheiten, S. 91–92. Christel Wester klassifiziert im Deutschlandfunk Ruschs Meine freie deutsche Jugend als „eine Art Gegenbiographie zu Zonenkinder.“ (Vgl. Christel Wester: Harmlose Kindersprache. Claudia Rusch und ihre freie deutsche Jugend. In: Deutschlandfunk, URL: https://www.deutschlandfunk.de/harmlose-kindersprache.700.de.html?dram:article_id=81463, letzter Zugriff: 16.10.2018).    Lutz Rathenow rechnet Rusch den „Zonenkindern“ zu. Der Rezensent verweist aber darauf, dass Meine freie deutsche Jugend „keine Katalogisierung der DDR-Vergangenheit“ vollführt. „Die Rusch erklärt nicht die DDR, sondern erzählt sie und liefert so Hintergründe für mögliche Interpretationen.“ (Lutz Rathenow: Claudia Rusch Meine freie deutsche Jugend, Das politische Buch vom 25.7.2003. In: Deutschland Radio Berlin, URL: http://www.deutschlandradio.de/archiv/dlr/sendungen/politischesbuch/167376/index.html, letzter Zugriff: 16.10.2018). 78 Vgl. „Jeder hat ja Recht auf private Erinnerung“. Mitteldeutsche Zeitung im Gespräch mit Claudia Rusch, URL: https://www.mz-web.de/kultur/mz-im-gespraech-mit-claudia-rusch--jeder-hat-ja-einrecht-auf-private-erinnerung--9699330 (letzter Zugriff: 25.09.2018). 79 Claudia Rusch – eine Geschichtenerzählerin, Sendung FROzine vom 26. September 2010. In: Radio FRO, URL: https://cba.fro.at/18731 (letzter Zugriff: 25.09.2018)

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Ich werde ein Leben lang über die Dinge schreiben, die ich aus dem Osten mitgenommen habe, aber das wird nicht immer den Namen DDR tragen. Die Situation, in der ich aufgewachsen bin, hat mich geprägt: das permanente Geheimnis, die Gefahr, das Wissen, das [sic!] die Dinge zwei Seiten haben. Es gibt nicht nur eine Wahrheit.80

Dem Wohlbefinden ihrer Landsleute nach der ‚Wende‘ nähert sich Rusch in ihrem zweiten Buch Aufbau Ost. Unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau aus dem Jahre 2009, das das aus dem ersten Band hervorgehende Bild ergänzt, diesmal allerdings mehr in einem journalistischen Stil, ohne jedoch den persönlichen Charakter preiszugeben. Ihren Debütband versieht Claudia Rusch mit einem doppeldeutigen Titel Meine freie deutsche Jugend, was der Aufmerksamkeit eines Lesers, der mit den DDR-Verhältnissen vertraut ist und auf den Namen der Jugendorganisation FDJ (Freie Deutsche Jugend) gestoßen ist, nicht entgehen kann. Die Doppeldeutigkeit wird durch den Schnitt der Buchstaben auf dem Cover zusätzlich hervorgehoben, ohne einen eindeutigen Interpretationsweg vorzugeben. Die verwendete Blockschrift provoziert eine Gegenüberstellung von zwei entgegengesetzten Bildern, einerseits einer uneingeschränkten Freiheit, einer ungehemmten Entfaltung eines Jugendlichen, was wiederum Einblicke in eine persönliche (höchst wahrscheinlich auch glückliche) Lebensgeschichte erwarten lässt (Meine freie deutsche Jugend), andererseits die sozialistische Jugendorganisation, die in ihrem Namen zwar die Freiheit heraufbeschwor, durch ihre starren Strukturen und den genau vorgeplanten Lebensweg der DDR-Jugendlichen nicht gerade als Sinnbild für freie Entfaltung fungieren kann (Meine Freie Deutsche Jugend). Im zweiten Fall mag der Leser einen persönlichen Bericht vom Dasein eines ehemaligen FDJlers erwarten. Dass der Titel oftmals auf den einen Interpretationsweg reduziert und dadurch auch entstellt sein mag, erörtert Claudia Rusch in ihrem zweiten Band Aufbau Ost, in dem sie Erwartungen der Leser und die daraus resultierenden Missverständnisse thematisiert. Das durchdachte Konzept des Debütbandes scheint nicht in allen Kreisen angekommen zu sein.81 So sei Cottbus ein Beispiel einer Fehldeutung. Während einer Lesereise kommt auf Rusch eine enttäuschte Frau zu, die sich von der Veranstaltung nicht die Geschichte einer Jugend, sondern die der FDJ versprach.

80 „Jeder hat ja ein Recht auf private Erinnerung“. 81 Gemeint ist aber nicht nur das Lesepublikum. So behauptet Anne Hector in einer der wenigen Analysen von Ruschs Erzählungen etwa: „Der Titel ihrer Sammlung bezieht sich auf die Jugendorganisation der DDR, die FDJ (Freie deutsche Jugend), der man im Alter von 14 Jahren beitrat.“ (Anne Hector: Vom Stiften und Hinterfragen einer Gedächtnisgemeinschaft in Ostdeutschland. Claudia Rusch und Jana Hensel – Ankunft im Westen. In: Ilse Nagelschmidt/Lea Müller-Dannhausen/Sandy Feldbacher (Hg.): Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts. Berlin 2006, S. 116).

8.3 Von der „alltägliche[n] Schizophrenie“. Claudia Ruschs Meine freie deutsche Jugend (2003) 

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Am Ende dieses Abends in Cottbus stand eine junge Frau vor mir, die sich offenbar vom Titel meines Buches hatte irreführen lassen. Bevor sich der Verlag mit mir gemeinsam im Herbst 2002 auf Meine freie deutsche Jugend festlegte, war ich etwas verunsichert gewesen, ob die ironische Brechung auch deutlich genug hervortrete. Mein Freund Robert […] zerstreute meine Zweifel damals mit dem Argument, dass nicht mal Egon Krenz die Frechheit besäße, ein Buch in vollem Ernst so zu nennen. Sonst hat er immer recht behalten. Aber an diesem Tag in Cottbus war es wie verhext. Ich war zu meinem Entsetzen schon am Nachmittag von der Direktorin der Berufsschule, wo ich im Rahmen eines Landesbildungsprogramms ein paar Geschichten las, mit den Worten: „Claudia Rusch und ihr Buch Meine FDJ“ vorgestellt worden. Als ich nun den verärgerten Ausdruck auf dem Gesicht der jungen Frau sah, war mir sofort klar, dass es erneut schiefgegangen war. Sie war unzufrieden, dass, wo „freie deutsche Jugend“ drauf stand, nicht FDJ drin war.82

Bereits das Coverbild weckt aber Assoziationen mit der FDJ. Vor dem grellen Hintergrund des Umschlags – orangene Farben des Covers zusammengestellt mit den gelben Buchstaben des Titels – sticht ein altes schwarz-weiß Foto hervor, auf dem eine Reihe von jungen Trompetern zu sehen ist, die mit vollen Backen in ihre Trompeten blasen. Alle sind gleich gekleidet, ihre Körperstellung weist kaum Unterschiede auf, selbst ihr Haarschnitt sieht ähnlich aus. Die Gleichheit scheint bildlich auf den Punkt gebracht zu sein. Dass es sich um eine DDR-Jugendorganisation handelt, kann nicht zuletzt am Zeichen der Jungpioniere erkannt werden, das an die Instrumente geheftet wird. Die Trompeter haben darüber hinaus ein Hemd an, das – obwohl die Farbe nicht genau zu erkennen ist – an die FDJ denken lässt. Im Gegensatz zu den Jungpionieren (1.–3. Klasse) und den Thälmannpionieren (4.–7. Klasse), deren Zeichen ein weißes Hemd jeweils mit einem blauen oder einem roten Tuch war, trugen die FDJ-Mitglieder (d.h. Schüler ab der 8. Klasse) ein Blauhemd mit einem FDJ-Aufnäher am linken Oberarm, das auf dem Foto mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erkennen ist. Auch die Trompete scheint in dieser Hinsicht kein zufällig gewähltes Instrument zu sein, sondern beinahe ein Sinnbild der Erziehung im Geiste des Sozialismus. Das Lied vom Kleinen Trompeter, in dem die Gestalt des heldenhaft gefallenen kommunistischen Kameraden gepriesen wird, kannte jedes DDR-Kind auswendig. Eine Strophe, die der modifizierten DDR-Fassung hinzugefügt wurde, klingt wie ein Treueschwur der sozialistischen Kinder, die die Opfer zu schätzen und das Vermächtnis zu pflegen wissen. Du bist nicht vergeblich gefallen, dein Werk haben wir nun vollbracht. Wir bauten den Staat, der uns allen Die Freiheit und den Frieden gebracht. Laßt stolz unsern Ruf drum erschallen: Es lebe die Arbeitermacht!83 82 Claudia Rusch: Aufbau Ost. Unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau. Frankfurt a.M. 2009, S. 90–91. 83 „Der kleine Trompeter“. In: DDR-Center, URL: www.ddr.center/lied/der_kleine_trompeter-pid.11.

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Vor dem standardisierten Kollektiv sticht die Gestalt eines kleinen Mädchens hervor, das durch sein blumengemustertes Kleid nicht in die Reihe passt. Da das Kind mit dem Rücken zum Orchester gewendet steht, lässt sich seine Haltung als distanziert interpretieren. Da es sich zusätzlich noch mit den Fingern die Ohren verschließt und sein Gesichtsausdruck eindeutig von Unzufriedenheit zeugt, lässt den Betrachter zu dem Schluss kommen, dass das sozialistische Spektakel dem Geschmack des Kindes nicht entspricht. Der verlegerische Peritext informiert auch darüber, dass das Foto „Claudia Rusch im Alter von sieben Jahren“ (CRJ Rückseite des Covers) darstellt, was einen direkten Zusammenhang zwischen Text, Bild und Realität herstellt und einer autobiographischen Lesart den Boden bereitet. Da im Titel explizit das Possessivpronomen verwendet wird und auf dem Umschlag auch der Name der Autorin steht, lässt schnell auf einen autobiographischen Text schließen. Der verlegerische Peritext sorgt für eine eindeutige Klassifizierung, indem die Ich-Erzählerin explizit mit der Autorin des Bandes zusammengestellt wird, wobei es kaum Zweifel an der Identität der Beiden gibt. „Claudia Rusch erzählt Geschichten aus ihrem Leben in der DDR, und sie tut das ganz wunderbar: heiter, liebevoll, unsentimental, lebensfroh und selbstironisch“ (CRJ Rückseite des Covers), lautet der auf dem Cover abgedruckte Ausschnitt aus einer Buchbesprechung. „Mit Herz und Humor berichtet Claudia Rusch von einer fast normalen Kindheit in der html (letzter Zugriff: 2.10.2018). Das Lied behandelt das Schicksal von Fritz Weineck, der während der Unruhen 1925 von einem Polizisten erschossen wurde. Dieser Mythos passt gut zu der Philosophie des antifaschistischen Staates, zum Gründungsmythos der Deutschen Demokratischen Republik. Hinzu kommt noch das Jugendidol in Gestalt Ernst Thälmanns als Vorbild für die Pioniere. Claudia Rusch verweist in ihrem Band Meine freie deutsche Jugend ebenfalls auf die Bedeutung der Thälmann-Figur. Die Erzählerin erklärt, dass „Ernst Thälmann für DDR-Kinder so etwas […] wie Robin Hood und Superman in Personalunion [war]. Der unantastbare Heiland.“ (CRJ 38) Die Symbolfiguren wurden auch in Literatur und Film tradiert und hochgehalten – vgl. etwa den DEFA-Film Das Lied vom Trompeter von Konrad Petzold oder das Kinderbuch Der kleine Trompeter und sein Freund von Inge und Gerhard Holtz-Baumert (der erste Band in der Reihe Die kleinen Trompeterbücher). Zu den Symbolen einer DDR-Kindheit und -Jugend äußert sich auch 2016 Thomas Brussig in einer ZDFinfo-Sendung. Jungpioniere wurden auch zu seiner Erfahrungswelt und Ernst Thälmann war eine „Märchenfigur des kindlichen Kosmos“. Andere Interviewten geben zu, wie stark sich ihnen die DDR-Lieder (darunter Pionierlieder) eingeprägt haben. (Vgl. Immer bereit! Junge Pioniere in der DDR. Ein Film von Lutz Pehnert. Eine Produktion von Moers Media GmbH im Auftrag von zdfinfo, URL: https://www.youtube. com/watch?v=iuhSLcTV4I8, letzter Zugriff: 15.10.2018). Auf den Sachverhalt verweist ebenfalls die Ich-Erzählerin in Meine freie deutsche Jugend. Hier gibt eine dem oppositionellen Milieu entstammende Jugendliche zu, sie sei als Kind gerne zum Pionierchor gegangen (vgl. CRJ 23). „Das mit Abstand strophenreichste Lied, das ich kannte, war eines, das ich zu Hause nicht singen durfte, weil es das Militär verherrlichte. Es ging so: Soldaten sind vorbeimarschiert, im gleichen Schritt und Tritt, wir Pioniere kennen sie und laufen fröhlich mit. Gute Freunde bei der Volksarmee, sie schützen unsere Heimat. […] Meine Mutter erklärte mir immer mit freundlicher Stimme und diesem leichten 70er-JahreFriedensbewegungs-Näseln, dass Soldaten im normalen Leben zwar Bäcker oder Lehrer, in Uniform aber Mörder seien.“ (CRJ 22–23) Die Erklärung stört das Kind von damals jedoch kaum, wenn es darum geht, Pionierlieder zu lieben und sich im Pionierchor wohl zu fühlen.

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DDR, die glücklich war, auch wenn sie von bitteren Erfahrungen nicht ganz unbehelligt blieb.“ (CRJ Rückseite des Covers) Angeboten wird dementsprechend nicht eine nostalgische, eindimensionale Geschichte eines DDR-Kindes, sondern ein Porträt, in dem das Glück trotz bitterer Erfahrungen zustande kommt. Dadurch wird suggeriert, dass auch eine DDR-Kindheit „fast normal“ sein kann. Die Formulierungen erscheinen dezent. Positiv bewertet wird der narrative Ton, während sich der verlegerische Peritext weit davon entfernt zu halten scheint, gewagte Wertungen der beschriebenen Sachverhalte auszusprechen. Die DDR-Zeit wird weder verherrlicht noch verurteilt. Während auf dem Cover eine Kindheit in der DDR erwähnt wird, präzisiert der Waschzettel die Positionierung der Autorin und ihrer Geschichte und zwar nicht als die einer Repräsentantin der Mehrheit, sondern eher einer dünnen Schicht von Eingeweihten. Mag Claudia Rusch nur ein DDR-Kind gewesen sein, wuchs sie doch „im Umfeld der DDR-Bürgerrechtsbewegung“ (CRJ 2) auf, so dass sie – wie im Peritext explizit angesprochen wird – eine kritische Sicht der Verhältnisse beinahe eingeimpft bekam. Das Buch soll aber nicht von einer Diktatur handeln, sondern vom Leben der Protagonistin, davon, „wie sie unter kaum glücklich zu nennenden Umständen eine glückliche Kindheit verlebte […].“ (CRJ 2) Erzählt wird „mit Herz und Humor“ (CRJ 2), d.h. nicht aus der Perspektive einer Beobachterin, sondern einer Eingeweihten, die eine entsprechende Distanz dem Beschriebenen gegenüber entwickelte. Der Schreibstil Ruschs charakterisiert die im Peritext84 angeführte Erika Dreiss in der Frankfurter Rundschau wie folgt: Tragisch und grotesk, infam und hanebüchen sind die exemplarischen Geschichten, die in bester Journalistentradition dieses ungemein wahrhaftige und anrührende Buch zu einer Quelle ersten Ranges machen! (CRJ 2)

Rusch wird weder in die Tradition der DDR-Literatur noch der BRD-Literatur gestellt. Im Gegensatz zu Jakob Heins Mein erstes T-Shirt fehlt es hier an Klassifizierungsversuchen. Das Buch wird von Dreiss als journalistischer Text gelesen, wodurch auch die Frage nach der literarischen Qualität umgangen wird. Claudia Rusch irritiert ihre Leser kaum. Auch wenn die Protagonistin nur ein einziges Mal, und zwar nur mit dem Vornamen Claudia genannt wird (vgl. CRJ 38), darf die Referentialität des Textes kaum bezweifelt werden, wofür reale Orte, Daten, historische Ereignisse, die angeführten Persönlichkeiten öffentlichen Lebens sorgen. Erzählt werden die Kindheit und Jugend in der DDR allein aus der Perspektive der Erzählerin. Die rekonstruierte Geschichte bzw. Einblicke in die Lebensepisoden werden als ihre eigenen Erinnerungen inszeniert. In Meine freie deutsche Jugend85 reflektiert die Erzählerin kaum über das Gedächtnis und den Erinnerungsvorgang. In Aufbau Ost wird 84 Verwendet wird hier nicht die Erstausgabe, sondern die Fischer-Taschenbuchausgabe (3. Auflage 2009). 85 Bereits in ihrem zweiten Buch Aufbau Ost wird auf die Verwendung der Blockschrift im Titel verzichtet. Verwendet wird statt dessen konsequent die Schreibweise Meine freie deutsche Jugend. (Vgl. Claudia Rusch: Aufbau Ost. Unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau. Frankfurt a.M. 2009, S. 9).

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aber auf dieses Thema zurückgegriffen, weil der Autorin Fehler unterlaufen sind. Die Erkenntnis, wie stark das Gedächtnis täuschen kann, wird im Kontext der Jugendweihe zur Sprache gebracht. Die Autorin wird in Eberbach am Neckar von einer Frau, deren Sohn ein Jahr älter als Rusch war und 1985 Konfirmation hatte, „was ja im selben Alter wie die Jugendweihe stattfand“,86 darauf verwiesen, dass sie ihre Jugendweihe im Jahre 1986 gehabt haben muss und nicht ein Jahr zuvor, wie im Buch angegeben. Nicht das ostdeutsche Publikum erkennt den Fehler, sondern eine aufmerksame westdeutsche Leserin. Anscheinend überprüfte bis dahin niemand die Wahrhaftigkeit der rekonstruierten Lebensstationen. Bezeichnend ist auch die positive Deutung des Vorfalls. Ich war verunsichert. Mütter täuschen sich in solchen Dingen selten. Eigentlich bin ich peinlich genau, was Fakten angeht. Ich hatte jedes Datum in meinem Buch geprüft und abgeglichen. War mir ein Fehler unterlaufen? Warum hatte mich vorher noch nie jemand darauf aufmerksam gemacht, wenn es so offensichtlich war? […] Die Dame hatte recht. Meine Jugendweihe fand gar nicht 1985 statt, wie in den ersten vier Auflagen meines Buches zu lesen ist, sondern es war tatsächlich 1986. Das musste ich mir ausgerechnet in Baden-Württemberg vorrechnen lassen! Ich war begeistert.87

Der Aussagewert des Bandes als historische Quelle wird somit relativiert. Die Anmerkung der neugierigen Leserin wird jedoch nicht negativ gedeutet und stellt das Konzept des Buches kaum in Frage, weil es als eine subjektive Geschichte konzipiert wird, in der die Daten zwar nicht unbedeutend sind; im Falle des Beschriebenen geht es nicht um die Tatsachen allein, sondern um das Befinden der Akteure. Claudia Rusch fragt nach den Rahmenbedingungen ihrer Sozialisation, die zwar in den starren Strukturen der DDR-Gesellschaft verlaufen, doch durch den Einfluss ihrer Familie und des Freundeskreises der Bürgerrechtler vom sozialistischen Ideal wohl abweichen mussten. Obwohl sie als Außenseiterin wahrgenommen werden konnte, gibt die Ich-Erzählerin zu, sie habe immer davon geträumt, nicht aufzufallen und wie andere DDR-Kinder nicht aus der Reihe zu tanzen, was ihr nur selten gelang. „Ich fiel einfach in jeder Hinsicht aus dem Rahmen. Und ich hatte das Gefühl, es sei etwas Schlechtes.“ (CRJ 40) Nicht die Individualität, geschweige denn Originalität, wurde zum Ideal der sozialistischen Gesellschaft, sondern das gehorsame Kollektiv, was die Protagonistin bereits als Kleinkind bemerkt haben will. Noch als Jugendliche wollte sie so „sein wie die anderen.“ (CRJ 48) Ihre Lage in der DDR bringt das im Kontext der Jugendweihe beschriebene Bild zum Vorschein. So erscheint unter den in dezente Farben gekleideten Jugendlichen die Protagonistin in ihrem „leuchtend grün[en]“ (CRJ 49) Kleid. Und auch wenn die Adoleszente bereits auf dem Weg war, ihre Außenseiterstellung hinzunehmen und sogar zu ihrem Vorteil umzuinterpretieren, wurde sie an diesem Tag – durch die Anwesenheit ihres leiblichen Vaters, eines Marineoffiziers, der zu diesem Anlass „weiße[…] Parade-Uniform“ (CRJ 49) 86 Rusch: Aufbau Ost, S. 129. 87 Rusch: Aufbau Ost, S. 129.

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anhatte, und des Stiefvaters, der der Bürgerrechtsbewegung näher stand und seine Außenseiterrolle bereits mit seinem Äußeren manifestierte – an ihre schizophrene Lage erinnert: Während der Zeremonie saß ich zwischen meinen beiden Vätern. Uniform links, Jeans rechts. Dem einen sah ich ähnlich, dem anderen war ich ähnlich. Einer hatte mich gezeugt, einer hatte mich geformt. Der glattrasierte Krieger und der langhaarige Verweigerer. Die ganze Bandbreite der DDR in diesen beiden Männern. Meinen Vätern. Und ich grün in der Mitte. Es war mein Karma. Als wir dran waren, erhob ich mich und tat das, was ich immer tat: Ich ging los und stand es durch. In meinem bedeutungsvollen Westkleid stieg ich auf die Bühne, schwor mit gekreuzten Fingern auf den Staat und wurde erwachsen. (CRJ 50)

Es wird kein Mythos einer heldenhaften Bürgerrechtler-Tochter konstruiert, sondern eher das Porträt eines Geschichtsobjektes, das seine Rolle zugewiesen bekam, weil es noch nicht dazu fähig war, selbst über sein Schicksal zu entscheiden. Ihre Position – obwohl aus der damaligen Perspektive eines Kindes recht schwierig – deutet die Erzählerin aus Distanz als eine glückliche Fügung, nicht jedoch als ihr Verdienst. Dass sie einen Einblick hinter die Kulissen der Machtherrschaft gewann, hat sie den Entscheidungen ihrer Eltern zu verdanken. Ihre eigenen Wünsche zielten eher auf Ruhe und Anpassung denn auf Verweigerung. Ich habe die Entscheidung meiner Eltern, in der Opposition zu leben, nicht mitgetroffen. Ich war ihr ausgeliefert. Heute bin ich ihnen dankbar. Sie haben mich damit privilegiert. Ich weiß genau, in welchem Land ich groß geworden bin. Niemand kann mir unterstellen, ich wüsste nicht, wovon ich rede. Das erleichtert das Miteinander seit der Wende erheblich. Als Mädchen war ich dagegen zerrissen zwischen dem Wunsch nach Unauffälligkeit und der Würde einer Eingeweihten. Ich gehörte zu einem exklusiven Club, aber manchmal wäre ich gern angepasster DDR-Durchschnitt gewesen. Mit Eltern in der Partei, FDGB-Urlaub in Kühlungsborn und einer Dreizimmerwohnung in Marzahn. Ohne Geheimnisse. Einfach in der Menge verschwinden. (CRJ 35)

Ihren Lebensweg deutet die Erzählerin als eine Kette glücklicher Vorfälle. Obwohl sie im oppositionellen Umfeld großwurde, blieben ihr viele Unannehmlichkeiten erspart. Einerseits werden die Mechanismen des Diktatursystems erkannt – was im Falle eines Kindes ohne einen intellektuell-oppositionellen Background schwer vorstellbar wäre –, andererseits scheint die Gefahr heruntergespielt zu werden, indem drohendes Unheil in humorvolle Miniaturszenen thematisiert wird. So war der Protagonistin etwa nicht bewusst, dass Kakerlaken ein Synonym für Küchenschaben sind, weil sie in der Überzeugung aufwuchs, das Wort bedeute Stasileute. So wurden sie schließlich im Umfeld von Robert Havemann bezeichnet. Ihre Fehldeutung musste die Protagonistin erst Jahre später erfahren, was auf witzige Weise skizziert wird.88

88 Vgl. das Kapitel „Die Stasi hinter der Küchenspüle“, S. 16–19. Ein vergleichbarer Unterton wird in einer Reihe von Episoden erkennbar, etwa in der Geschichte über die Zugreise nach Berlin, als

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Zusammengestellt wird die Naivität eines unschuldigen und ahnungslosen Kindes mit den Gefahren der Außenwelt, auf die es von den Erwachsenen vorbereitet wird. Was der Protagonistin eingeimpft wurde, war Wachsamkeit. Ihre Kindheit charakterisierte „das diffuse Gefühl von Bedrohung […]. Big brother is watching you.“ (CRJ 27) Trotzdem erscheint diese Lebensphase auch hier als glücklich und unbeschwert. Die Rahmenbedingungen dieser Existenz werden vom Kind von damals unreflektiert als gegeben hingenommen und erst im Laufe der Adoleszenz immer häufiger erkannt und hinterfragt. Die DDR wird immer enger, die Einschränkungen immer bedrückender, so dass die Gedanken an Ausreise Ende der 1980er Jahre klare Konturen gewinnen (vgl. CRJ 129). Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Öffnung der Grenze als glückliche Fügung, weil sie der Protagonistin schwierige Entscheidungen wie den endgültigen Abschied von den Eltern erspart. Claudia Rusch bringt die Bedeutung der ,Wende‘ nicht nur für sich allein, sondern für die ganze Kohorte der DDR-Jugendlichen auf den Punkt: Die wahrscheinlich glücklichste Fügung meines Lebens bestand in der Gleichzeitigkeit meines Schulabschlusses und dem Ende der DDR. Das vereinte Deutschland war die größte Chance, die sich nach dem Abitur überhaupt bieten konnte. Die Welt öffnete sich mit all ihren Möglichkeiten in dem Moment, als ich amtlich erwachsen wurde. Was für ein Timing. Hollywoodreif. (CRJ 58)

Ihre erste Reaktion auf die Öffnung der Grenze wird aber nicht als ein euphorisches Erlebnis geschildert, sondern als eine Überraschung, die man – nach einem kurzen „Blackout“ (CRJ 74) – in seinen Erfahrungshorizont erst einordnen muss. Ein Aufbruch in die Ferne war zwar ihr Traum, der an mehreren Stellen des Buches angesprochen wird,89 eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten lag aber nicht einmal im Bereich der Spekulation. 1990 verschwindet nicht nur der verhasste Unterdrückungsapparat, sondern das Land, an das die Protagonistin geglaubt hat. Das Bekenntnis der Bürgerrechtler-Tochter, die sich immer gegen die Einschränkung der Freiheit zu empören hatte und sich trotzdem dem Land zugehörig fühlte, zeigt ihre Identität tatsächlich als eine Mischidentität, in der scheinbar widersprüchliche Elemente im Einklang zueinander finden.

sie – auf dem Schoß eines Polizisten sitzend – ihm Honecker-Witze erzählt und ihn anschließend mit kindlicher Naivität als einen netten Bullen bezeichnet (vgl. CRJ 26). 89 Das Buch wird bereits mit dem Kapitel „Die Schwedenfähre“ eröffnet, in dem die an der Ostsee aufgewachsene Protagonistin vom Traum ihrer Großmutter, ihrer Mutter und ihrem eigenen erzählt, einmal mit der Fähre nach Schweden zu gelangen, was ihnen lange Jahre versagt bleibt. Die Ostsee wird zu ihrem Eisernen Vorhang (vgl. CRJ 14), Schwedenfähre zum Sinnbild der unerreichbaren „Freiheit am Horizont“ (CRJ 15). Aus dieser Sehnsucht heraus ergibt sich auch der Wunsch, in den DDR-Ausweis einen Stempel zu bekommen, der die erste Reise nach Frankreich – schon nach der Wende – bestätigen könnte, als wäre sie ohne dieses amtliche Zeichen nie passiert (vgl. CRJ 81).

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Der Gedanke an ein Deutschland war mir fremd. Ich hatte zu Hause gelernt, dass die DDR, trotz Stalinismus und Volksverdummung, von den Grundlagen her der bessere deutsche Staat sei. Es wäre unsere Aufgabe, ihn zu reformieren und auf den richtigen Weg zu bringen. Darum blieben wir hier, das war der Grund, warum wir nicht in den Westen gingen. Ich habe jeden meiner Staatsbürgerkundelehrer für blöd erklärt, aber tief im Herzen war ich vermutlich genauso überzeugt wie sie. (CRJ 75)

Die Angehörige eines Generationszusammenhangs, der selbst im Buch als „die letzten echten Ossis“ und „die ersten neuen Wessis“ (CRJ 101) bezeichnet wird, erklärt sich ausdrücklich als (ehemalige) DDR-Bürgerin (vgl. CRJ 100), die trotz ihres Alters und trotz ihrer Sozialisation im oppositionellen Milieu nach der Vereinigung ihre (nationale) Identität neu zu bestimmen sucht. So machen auch Identitätsfragen der frisch gebackenen Bundesbürgerin Rusch den Großteil des Bandes Aufbau Ost aus. Es wird explizit darauf verwiesen, wie stark der antifaschistische Gründungsmythos auch die jüngeren Generationen mitgeprägt hat, die nach der ,Wende‘ einer (kapitalistischen) Gesellschaft angehören sollen, die in ihrem Erfahrungshorizont noch bis vor kurzem als alleinige Erbin der Nationalsozialisten galt. Als DDR-Kind, ein Nachkomme der ebenfalls in der DDR sozialisierten Eltern, verfügt sie – was sie in ihrem zweiten Band zugibt – über ein klischeehaftes Bild der Bundesrepublik. Als DDR-Kind war ich der gängigen Doktrin BRD gleich Faschismus und DDR gleich Antifaschismus widerstandslos ausgeliefert gewesen. Auch meine Eltern hatten dem wenig entgegenzusetzen – beide in den fünfziger Jahren geboren, hatten sie selbst nie etwas anderes kennengelernt. Wie ich waren sie in der Schule auf die Definition Georgi Dimitroffs eingeschworen worden, nach der Faschismus die „offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ ist. Kapitalismus und Faschismus gehörten nach dieser Theorie nicht nur historisch, sondern auch wesensimmanent zusammen. […] In diesem, vielleicht einzigen, Punkt war das Propagandakonzept der DDR bei mir vollkommen aufgegangen. Mein geistiger Horizont ging über die vorgegebene Linie tatsächlich nicht hinaus.90

Sie war Teil der DDR-Gesellschaft, Teil der sozialistischen Struktur. So wird sie auch nicht als Unikat dargestellt, sondern als „kein typisches DDR-Kind“, gleichzeitig aber auch „ein hundertprozentiges Produkt reformkommunistischer Ideen.“ (CRJ 132) Sie erscheint doch als eine Repräsentantin einer ganzen Generation von Jugendlichen, die auf den Staat schworen, obwohl sie ihm nur noch als Kinder leidenschaftlich ergeben waren,91 die als die ersten neuen BRD-Bürger gelten und trotzdem die DDR in sich tragen, weil die DDR in ihnen nicht einfach verschwunden sei, nur weil das Land nicht mehr existiere (vgl. CRJ 135). Einerseits können die jungen Ostdeutschen das

90 Rusch: Aufbau Ost, S. 27–28. 91 Die Erzählerin gibt etwa zu, dass sie zu den Pionieren noch freiwillig gegangen sei. Der FDJ habe sie sich angeschlossen, um den Platz an der EOS zu bekommen. Den Posten der FDJ-Sekretärin übernahm sie ebenfalls nicht aus Überzeugung, sondern aus Opportunismus (vgl. CRJ 61).

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 8 Generation Trabant, Generation `89, Zonenkinder?

DDR-Stigma nicht loswerden, andererseits brauchen sie dies auch gar nicht zu tun, denn die DDR bestand letztendlich nicht nur aus Stasi-Spitzeln. Drei Monate bevor sich alles für immer auflöste, nahmen wir doch noch die Identität an, die wir so sehr von uns gewiesen hatten. Wir waren auch DDR. Nicht nur Spitzel und Karrieristen, auch unsere Familien und Freunde lebten hier. Nicht nur diejenigen, die uns in ihr Schema pressen wollten, waren ein Teil dieses Landes, sondern auch die, die aus uns wache Köpfe gemacht hatten. Kurz vor Toresschluss wurden Robert und ich Staatsbürger der DDR. (CRJ 100)

Plädiert wird für ein differenziertes Bild der DDR. Auch wenn Ruschs narrative Strategie Bereiche des Diktaturgedächtnisses im Sinne Martin Sabrows nicht ausspart,92 scheint sie sich mit ihrer Privatgeschichte einer DDR-Kindheit und -Jugend dem Arrangementgedächtnis anzunähern. Während die Narrative des Diktaturgedächtnisses im öffentlichen Diskurs einen prominenten Platz einnehmen, scheint das Arrangementgedächtnis an einem wenig exponierten Ort, nämlich in der Stille der privaten Erinnerung gepflegt zu werden. Lange Zeit bleiben diese Narrative unter der Wasseroberfläche versteckt – wenn wir auf die Eisberg-Metapher Thomas Ahbes zurückgreifen93 –, um schließlich auch „die Arenen des literarischen Erzählens“94 zu beherrschen und damit an die Öffentlichkeit zu gelangen. In diesem Sinne erscheinen literarische Texte auch als Medien kollektiver Identität.95 Öffentliches Erzählen verschafft nämlich dem Gegenstand Resonanz, trägt zur Kristallisierung einer gefühlten Gemeinschaft bei. Da – worauf Katrin Löffler zu Recht verweist – in dem angeführten Bekenntnis von

92 Die Zerstörung von Familien deutet die Ich-Erzählerin als einen Faktor, der ihre Abneigung dem System gegenüber am stärksten prägte. Auch ihre Familie blieb nicht erspart. So lebten sie einige Zeit lang mit dem Verdacht, die Großmutter sei diejenige, die in den Stasi-Akten als IM Buche verzeichnet wird, die ihren eigenen Mann bespitzelt habe. Auch als sich herausstellt, dass unter dem Decknamen eine Freundin der Mutter steckt, fühlen die beiden keine Erleichterung. Das System hat sie letztendlich dazu gebracht, an den eigenen Familienmitgliedern zu zweifeln. Das legt sich wie ein Schatten auf ihr Selbstvertrauen (vgl. CRJ 113). 93 Thomas Ahbe greift zu der Eisberg-Metapher, um die Verhältnisse zwischen dem staatlich privilegierten Diktaturgedächtnis und dem Arrangementgedächtnis zu veranschaulichen: „Die EisbergMetapher soll die Sichtbarkeit-Unsichtbarkeits-Relation in den ostdeutschen Erinnerungsdiskursen abbilden. Gut sichtbar, über der Wasseroberfläche, bieten sich dem Blick des Betrachters die Narrative des staatlich privilegierten Diktaturgedächtnisses. Der größte Teil der ostdeutschen Erinnerung aber befindet sich im Dunkel, unter der Wasseroberfläche. Er wird nicht wahrgenommen, weil seine Narrative ambivalent sind und weil sie die Narrative des Diktaturgedächtnisses nicht nur ergänzen und differenzieren, sondern auch dementieren.“ (Thomas Ahbe: Die ostdeutsche Erinnerung als Eisberg. Soziologische und diskursanalytische Befunde nach 20 Jahren staatlicher Einheit. In: Elisa Goudin-Steinmann/Carola Hähnel-Mesnars (Hg.): Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989. Narrative kultureller Identität. Berlin 2013, S. 49–50. 94 Sabrow: Die DDR erinnern, S. 20. 95 Vgl. Roswitha Skare: Identitätskonstrukte in Texten junger ostdeutscher Autoren nach 1989/90. Zu Kerstin Hensels Tanz am Kanal (1994). In: Nordlit 16 (2004), S. 102.

8.3 Von der „alltägliche[n] Schizophrenie“. Claudia Ruschs Meine freie deutsche Jugend (2003) 

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Claudia Rusch „das Insistieren auf der individuellen Lebensgeschichte“96 erkannt werden darf, darf sie auch unter dieser Hinsicht als Repräsentantin eines ostdeutschen Narrativs wahrgenommen werden. Dass dabei ein widerspruchsvoller Identitätsentwurf zustande kommt, ist nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen, dass im Text eine Lebensphase thematisiert wird, die an sich verworren und widerspruchsvoll ist. Andererseits erscheint aber die (ostdeutsche) Identität an sich nicht als ein stabiles und kohärentes Selbstbild, sondern als ein dynamischer Prozess, „ein selbstreflexives Scharnier zwischen der inneren und äußeren Welt.“97 Das Individuum verhandelt in gewissem Sinne mit seiner Umwelt. Da sich das Außen mit der ,Wende‘ verändert, muss auch der Verhandlungsprozess fortgesetzt oder aber neu aufgerollt werden. Die Ich-Erzählerin (re)konstruiert ihre (ostdeutsche) Identität weniger in Bezug auf historische Ereignisse als vielmehr auf Elemente des Alltags. Daraus entsteht beinahe ein Katalog von Generationsobjekten, auf die bereits Thomas Ahbe und Rainer Gries aufmerksam gemacht haben – von den Kinder- und Jugendorganisationen mit ihren Appellen, Agitationen, Ferienlagern,98 über die Auswirkungen der Mangelwirtschaft – „Nicht nur die Stasi allein, auch die Mangelwirtschaft hatte meine Kindheit geprägt.“ (CRJ 78) –, bis hin zum kindlichen Paradies des Intershops – „Der Intershop war das Mekka meiner Kindheit. Das gelobte Land der Süßigkeiten. Der Garten Eden des Überflusses.“ (CRJ 86) –, bis zur Literatur, Musik – „[a]kustische[m] Kokain fürs Volk“ (CRJ 124) –, Bravo-Postern (vgl. CRJ 124) und der Sehnsucht nach einem Aufbruch in die Ferne. Auch die Bürgerrechtlertochter stand unter dem Einfluss der Erziehung im Geiste des Sozialismus und sehnte nicht nur Freiheit herbei, sondern auch Lakritzschnecken (vgl. CRJ 51) und Bananen (vgl. CRJ 64). Nicht der Ausbürgerung Wolf Biermanns99 wird die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Sie war aus der Perspektive eines Kindes nicht grundlegend. Viel wichtiger schien in dieser Lebensphase etwa ein „Keksriegel mit Karamell“ (CRJ 87), der als Sinnbild für die unerreichbaren Luxusgüter aus dem Westen fungiert. Während manch ein historisches Ereignis mit einem Satz abgehackt wird, widmet die Ich-Erzählerin den schein-

96 Löffler: Systemumbruch und Lebensgeschichte, S. 165. 97 Heiner Keupp: Identität. In: Lexikon der Psychologie. Heidelberg 2000, URL: https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/identitaet/6968 (letzter Zugriff: 13.10.2018). 98 Die Protagonistin wird dank ihrer Begabung alljährlich in ein Mathelager geschickt, in dem sie sich nicht mehr als Sonderling fühlt. Diese Zeit wird als „Urlaub vom Realsozialismus“ (CRJ 44) bezeichnet: „Drei Wochen im Jahr verlor die DDR für mich jede Bedrohlichkeit.“ (CRJ 45) Das Paradoxe der Lage besteht aber darin, dass sie sich innerhalb der Staatsstruktur vom Staat distanzieren will. Die Jugendlager wurden vom Staat organisiert. Angestrebt wurde dadurch eine noch tiefere Bindung an den Staat und seine Strukturen. 99 Bedeutend scheint die Folge gewesen zu sein, nämlich ein Hausarrest für Havemann und die Überwachung, die auch die Protagonistin betroffen hat. Die Episode wird nur erwähnt, ohne ausführlich kommentiert zu werden (vgl. CRJ 16). „Aber ich gewöhnte mich schnell daran. Ich weiß noch, dass ich die Präsenz der Stasi damals nicht wirklich bedrohlich fand. Für mich waren die ewig wartenden Männer beruhigend. Sie passten auf mich auf. Ganz im Sinne der Stasi-Ballade: Leibwächter.“ (CRJ 16–17).

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 8 Generation Trabant, Generation `89, Zonenkinder?

bar belanglosen Objekten ausführliche Beschreibungen, manchmal sogar – wie im Falle der Raider-Schokoriegel – ganze Kapitel.100 So wie Paris, für das sie ihre ganze DDR-Jugend schwärmt, nicht als eine reale Stadt, sondern als Projektionsfläche für Sehnsüchte und unerfüllte Träume begriffen wird, steht der Schokoriegel stellvertretend für den bunten, unerreichbaren Westen. Zweimal im Jahr schaffte meine Mutter irgendwie, eine D-Mark oder einen Forumscheck zu organisieren und für mich im Intershop ein Raider zu kaufen. Raider. Ich liebte nichts so sehr wie diese Keksriegel mit Karamell. Er zog und zerrte, klebte zwischen den Zähnen und bröckelte auf die Erde. Einfach unwiderstehlich. Vor Gier stopfte ich immer beide Riegel sofort hintereinander in den Mund. Mein Herz schlug ganz schnell. Als würde sie mir jemand wieder entreißen, wenn ich nicht alles auf der Stelle verschlang. Die Enttäuschung war jedes Mal die gleiche: Es gab nie einen zweiten. Ich hätte so gerne mehr davon gegessen. Wenigstens einmal. Wochenlang hob ich das goldene Papier auf. Ich presste es zwischen Buchseiten und nahm es ab und zu in die Hand. Es knisterte verheißungsvoll und roch genauso, wie es schmeckte. Nach Westen. (CRJ 87)

Dass die ersehnten Produkte nur als Projektionsfläche konstruiert wurden, beweist etwa die Reaktion der Protagonistin in der Nacht des Mauerfalls. Ähnlich wie ihre gleichaltrigen Freunde überschreitet sie die Grenze und beschließt „ein Defizit aufzuholen.“ (CRJ 78) So feiert sie den Mauerfall nicht mit einem Glas Sekt, sondern mit (in der DDR unerreichbarem) Bananensaft, der ihr nie wieder so gut geschmeckt habe (vgl. CRJ 78). Das Ziel wurde erreicht, der Geschmack des Westens, der sinnbildlich in dem besagten Bananensaft zum Vorschein kommt, erscheint nicht mehr unerreichbar. Und so entscheidet sich die Protagonistin wieder in die DDR zurückzukehren: „Mit einer Mischung aus Stolz, Angst und Häme zeigte ich dem Grenzer meinen DDRAusweis und kehrte dahin zurück, wo ich hingehörte. In den bananenfreien Osten.“ (CRJ 79) Diese Äußerung darf beinahe wie ein Bekenntnis zum Land ihrer Herkunft gelesen werden. Das Zugehörigkeitsgefühl wird stark akzentuiert. Es handelt sich allerdings nicht um eine Liebeserklärung an die DDR als Staat, sondern eher an die Gemeinschaft, der sie entstammt, an Werte, die sie einverleibt, was – obwohl der Begriff von der Ich-Erzählerin nicht verwendet wird – vielleicht am treffendsten als Ostdeutschland bezeichnet werden darf. Dem Text von Rusch wird ein Nachwort angehängt,101 das im Gegensatz zu dem witzigen Ton des Vorwortes von Wladimir Kaminer in Mein erstes T-Shirt als eine ernst gemeinte Reflexion zu betrachten ist. Während Kaminer derselben Generation wie Jakob Hein angehört, handelt es sich in diesem Fall um eine Stellungnahme eines Angehörigen der Funktionierenden Generation, so dass eine intergenerationelle Perspektive entfaltet wird. Der Text stammt darüber hinaus von einem bereits im Westen anerkannten Schriftsteller, einem Büchner-Preis-Träger, einem ehemaligen DDR100 Vgl. „Ein Zimmer voller Raider“ (CRJ 86–89). 101  Der Text von Wolfgang Hilbig ist nicht als Vorwort abgedruckt und dadurch auch dem Text nicht als eine Art Gebrauchsanweisung vorangestellt, sondern scheint eher die Funktion eines Kommentars zu übernehmen, indem er über den Text hinausführt.

8.3 Von der „alltägliche[n] Schizophrenie“. Claudia Ruschs Meine freie deutsche Jugend (2003) 

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Bürger, der seit 1985 in der Bundesrepublik lebt, so dass er beinahe wie ein Empfehlungsbrief gelesen werden darf, der für die Qualität wie auch den Wahrheitsgehalt des Geschriebenen bürgt. Wolfgang Hilbig, der gemeint ist, stand auch der Familie Rusch nahe,102 was weder im Nachwort noch in dem verlegerischen Peritext angesprochen wird. Nicht die persönliche Dimension steht jedoch im Vordergrund, sondern eine Reflexion über den Standort der DDR-Literatur. Den Schreibstil von Claudia Rusch setzt Hilbig, der sich als Fachmann zu Wort meldet, den DDR-Texten entgegen. Obwohl er den Band Meine freie deutsche Jugend vorzustellen scheint, rechnet er als ehemaliger DDR-Bürger und -Autor im Grunde auch mit der DDR-Literatur ab, die statt gegen das System zu kämpfen, nur leise und ‚zwischen den Zeilen‘ ihre Empörung äußerte, wodurch sie das Regime nicht zu Fall brachte, sondern eher für den Erhalt des status quo sorgte: Es sind Texte, die ganz und gar auf Methoden verzichten, die den Leser zum so genannten Lesen zwischen den Zeilen zwingen wollen, was mir die Lektüre von DDR-Literatur lange vergällt hat: Schreibweisen, die den Leser in Unklarheiten zu verstricken suchten, und die damit am Ende staatstragend waren, weil das DDR-System Unklarheiten über seinen wahren Zustand brauchte.103

Claudia Rusch schreibt Hilbig zufolge anders. Er scheint an dieser Stelle allerdings kaum bemerkt zu haben, dass sich auch die Rahmenbedingungen der literarischen Produktion verändert haben und auch kein Schweigegebot mehr zu umgehen ist. Ruschs Geschichten werden als wahrhaftige, „historische[…] Miniaturen auf scheinbar privater Ebene“104 gelobt. Dort wird nichts erfunden, denn „das Leben der DDRBürger war zu reich, als dass es nötig gewesen wäre, Figuren zu erfinden.“105 Daraus entsteht aber keine nostalgische Geschichte. Diese Miniaturen führen laut Hilbig „aus dem vielbeklagten Jammertal der Ostdeutschen“106 heraus, auch wenn in ihnen eine DDR-Identität wiederentdeckt bzw. konstruiert wird. Hilbig führt in diesem Zusammenhang eine These an, die er als „gewagt“ bezeichnet, die jedoch auch von Soziologen und Geschichtswissenschaftlern gestellt wird: Ich habe einmal […] die mir gewagt vorkommende Behauptung aufgestellt, die Leute in der DDR seien erst nach der so genannten Wende zu wirklichen DDR-Bürgern geworden: das vorliegende Buch scheint mir dies plötzlich zu bestätigen…107

102 Vgl. Angaben der Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft, URL: https://www.wolfgang-hilbig.de/wolfganghilbig/biografie (letzter Zugriff: 14.10.2018). 103 Wolfgang Hilbig: Nachwort. In: Rusch: Meine freie deutsche Jugend, S. 154–155. 104 Hilbig: Nachwort, S. 155. 105 Hilbig: Nachwort, S. 156. 106 Hilbig: Nachwort, S. 157. 107 Hilbig: Nachwort, S. 156–157.

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 8 Generation Trabant, Generation `89, Zonenkinder?

Auch wenn im Jahr der deutschen Einheit – worauf etwa Thomas Ahbe verweist – die „Sonderidentität ,Ex-DDR‘ oder ,ostdeutsch‘“ zu verschwinden schien, gingen breite Bevölkerungsschichten doch als Ostdeutsche aus der DDR hervor.108 Die DDR wird neu entdeckt, allerdings in einem anderen Kontext. Die stärkste emotionale Bindung gilt einem Ort, der auf keiner Landkarte zu verzeichnen ist und eher als ein Projektionsort denn als ein real existierender Raum fungiert. Die ostdeutsche Identität sei Wolfgang Engler zufolge jedoch nicht erst nach der ,Wende‘ erfunden: „[S]ie wurde […] zugleich erfunden und entdeckt, d.h. geschöpft. Als Material diente eine kollektive Denk- und Verhaltensart, die, solange die DDR bestand, nicht weiter auffiel, wohl eher als willkommene Beigabe des ,Systems‘ betrachtet wurde.“109 Hilbigs Behauptung erscheint demzufolge nicht so kontrovers und gewagt, wie der Autor behauptet. Kontroversen mag eine andere Stelle des Nachwortes hervorrufen. Hilbig fühlt sich nämlich berufen, seine Landsleute zu verteidigen, als hätte man sie angegriffen. „Wir waren ganz normale Menschen, die sich ihrer Tränen, ihrer Lust, ihrer Irrtümer und Wahrheiten nicht zu schämen brauchten… wenn wir rätselhaft waren, so waren wir es wie jeder Mensch.“110 Hilbig scheint die Ost-West-Ressentiments herbeizuzitieren, indem er annimmt, dass das ostdeutsche Wesen jemandem unbegreiflich erscheinen mag, dass die ostdeutsche Eigenart für minderwertig gehalten wird und dadurch Schamgefühle hervorgerufen werden könnten. Diese Argumente stoßen auf eine scharfe Reaktion eines anderen Repräsentanten der Entgrenzten Generation, der 2004 selbst die Geschichte seiner Kindheit und Jugend in der DDR (Geboren am 13. August. Der Sozialismus und Ich) auf den Markt bringt, nämlich Jens Bisky, der Claudia Ruschs Geschichten gegenüber positiv gesinnt ist, an dem Nachwort Wolfgang Hilbigs jedoch einiges auszusetzen hat. „Geradezu peinlich“ – schreibt er in einer Besprechung – „wirkt das Pathos im Nachwort Wolfgang Hilbigs: ,Wir waren ganz normale Menschen, die sich ihrer Tränen, ihrer Lust, ihrer Irrtümer und Wahrheiten nicht zu schämen brauchten…‘ Als ob das ernsthaft einer bestreiten würde.“111 Das vernichtende Urteil eines Repräsentanten einer jüngeren Generation markiert deutlich die auseinanderklaffende Selbstwahrnehmung ostdeutscher AutorInnen. Die Entgrenzten kommen auf ihre DDR-Erfahrung zurück und konstruieren ihre Identität neu, ohne sich dabei in der defensiven Position zu situieren, während Hilbig sich einerseits von den DDR-Autoren distanziert, andererseits die vertraute These vom ‚richtigen Leben im falschen‘ zu verteidigen versucht.

108 Vgl. Ahbe: Die ostdeutsche Erinnerung als Eisberg, S. 27. Siehe dazu auch: Norkowska: Von den DDR-Bürgern zu den Ostdeutschen. 109 Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, S. 22. 110 Hilbig: Nachwort, S. 157. 111 Jens Bisky: Peggy, Petzke, Polizisten. Lauter Fluchtgeschichten: Claudia Rusch erzählt von ihrer Jugend in der DDR. In: Süddeutsche Zeitung (24.07.2003).

8.4 Ohne Vaterland und Muttersprache. Ines Geipels Generation Mauer (2014) 

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8.4 Ohne Vaterland und Muttersprache. Ines Geipels Generation Mauer. Ein Porträt (2014) Die 1960 geborene Ines Geipel stellt eine Ausnahme unter den bislang angeführten Gestalten dar. Sie ist nicht nur einige Jahre älter als Jakob Hein und Claudia Rusch, was ihre Version des DDR-Lebens potentiell hätte beeinflussen können. Sie verlässt die DDR im Jahre 1989, kurz vor dem Umbruch. Geipel ist der breiten Öffentlichkeit  nicht nur bzw. nicht in erster Linie als Schriftstellerin bekannt – obwohl sie auch Romane veröffentlicht hat –, sondern als Fachfrau in ostdeutschen Angelegenheiten112 (darunter auch in der Literatur) und als Sprecherin der Unterdrückten ostdeutscher Provenienz, sei es der Dopingopfer, sei es der vergessenen DDR-AutorInnen. Die ehemalige Weltklasse-Sprinterin, die für die DDR Rekorde lief, wurde 2000 zur Nebenklägerin im Prozess gegen die Verantwortlichen des DDRZwangsdopings. Fünf Jahre später gab sie ihren Weltrekord ab. Bis Dezember 2018 blieb sie auch Vorsitzende des Vereins Doping-Opfer-Hilfe.113 Engagement scheint zu ihrem Markenzeichen geworden zu sein. Geipel positioniert sich im öffentlichen Diskurs als eine Stellvertreterin, die den Schweigenden und auch Verschwiegenen eine Stimme verleiht. So gründet sie zusammen mit Joachim Walther ein durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördertes „Archiv unterdrückter Literatur in der DDR“,114 im Rahmen dessen „in der DDR bzw. SBZ entstandene und unterdrückte literarische Texte gehoben“ und daraufhin „der interessierten Öffentlichkeit sowie der literaturwissenschaftlichen und zeithistorischen Forschung zugänglich gemacht“115 werden. Die Begründer des Archivs setzen sich zum Ziel das literarische Material zu retten. Da es sich aber um Texte handelt, die der breiten Öffentlichkeit unbekannt blieben, wird durch ihre Aufbewahrung bzw. Veröffentlichung das gängige Bild der DDR-Literatur ergänzt und korrigiert. Die Literatur in der DDR war vielfältiger und ambivalenter als es die publizierten Texte aus dieser Zeit vermitteln. Angesichts der bekannt gewordenen Zensurpraktiken und politischen Restriktionen in der DDR wird diese Tatsache kaum erstaunen. Doch gelangten die nicht veröffentlichten literarischen Entwürfe, die ein anderes Bild von Staat und Gesellschaft als das offiziell

112 Fragen über die ostdeutsche Gesellschaft begleiten Geipel ebenfalls in ihrem neuesten, 2019 erschienenen Band Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass (Klett-Cotta), in dem sie sich der Radikalisierung im Osten anzunähern versucht. Private Reflexe sind auch in dieser Geschichte sichtbar. 113 Vgl. Ines Geipel. In: Verein Doping-Opfer-Hilfe, URL: https://no-doping.org/ines-geipel/ (letzter Zugriff: 8.02.2019). 114 Vgl. Archiv unterdrückter Literatur in der DDR. In: Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur, URL: https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/unterdrueckte-literatur-3867.html (letzter Zugriff: 8.02.2019). 115 Archiv unterdrückter Literatur in der DDR.

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 8 Generation Trabant, Generation `89, Zonenkinder?

propagierte wiedergaben, auch nach 1989 kaum an die Öffentlichkeit. Die Einrichtung und notwendige Dokumentation eines „Archives unterdrückter Literatur in der DDR“ soll einen breiteren und fundierteren Blick auf den Literaturraum DDR ermöglichen. Mit den gesammelten und archivalisch aufbereiteten Texten wird das Archiv bislang völlig unbekanntes Material anbieten, das eine Ergänzung und notwendige Korrektur des von der offiziellen DDR-Literaturwissenschaft vorgegebenen und auch im Westen oftmals unkritisch übernommenen Literaturkanons erlaubt. Ein weiteres wichtiges Motiv für das Vorhaben ist, die in der DDR abgewiesenen Autoren moralisch zu rehabilitieren und ihren Texten, die zur Zeit ihres Entstehens keine Chance auf Publikation hatten, heute eine Öffentlichkeit zu geben.116

Einige dieser „unterdrückten“ Texte gelangten dank der von Geipel und Walther herausgegebenen Buchreihe „Die Verschwiegene Bibliothek“ (Büchergilde Gutenberg)117 ins Licht der Öffentlichkeit. Geipel versuchte ebenfalls das Werk Inge Müllers vor dem Vergessen zu retten, indem sie 1996 Texte von und über die 1966 verstorbene Müller im Band Irgendwo; noch einmal möchte ich sehn sammelte118 und damit für Kontroversen sorgte.119 Im Jahre 2002 veröffentlichte sie die Biographie Inge Müllers „Dann fiel auf einmal der Himmel um“. Inge Müller. Die Biografie,120 in der ein Versuch unternommen wird, die Dichterin nicht als die im Schatten ihres berühmten Mannes stehende Ehefrau darzustellen, sondern als eigenständige Autorin.121 Aufgewertet werden auch andere Frauengestalten der literarischen Bühne DDR, denen Geipel den Band Zensiert, verschwiegen, vergessen. Autorinnen in Ostdeutschland 1945-1989 im Jahre 2009 widmet. Geipel ist nicht nur eine Mitbetroffene, die vom System aus eigener Erfahrung zu berichten vermag, sondern auch eine promovierte Akademikerin, Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, die mit dem wissenschaftlichen Diskurs vertraut ist. So rekurriert sie in ihrem (auto)biographischen Porträt der Entgrenzten Generation, das sie mit dem Label „Generation Mauer“ bzw. „Mauerkinder“ versieht, auf Arbeiten von Soziologen und Geschichtswissenschaftlern – von Karl Mannheim, über Martin Sabrow bis zu Thomas Ahbe und 116 Archiv unterdrückter Literatur in der DDR. 117 Die Verschwiegene Bibliothek. In: Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, URL: https:// www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/archiv-unterdrueckter-literatur-in-der-ddr-die-verschwiegenebibliothek-4004.html (letzter Zugriff: 8.02.2019). 118 Vgl. Inge Müller: Irgendwo; noch einmal möchte ich sehn. Lyrik, Prosa, Tagebücher. Mit Beiträgen zu ihrem Werk, hg. von Ines Geipel. Berlin 1996. 119 Damit sorgt Geipel auch für Kontroversen (die dem Vorhaben allerdings größere Resonanz verschaffen), weil darin ein kritisches Gedicht Wolf Biermanns „Legende vom Selbstmord der Inge Müller im Jahre 66“ zum ersten Mal abgedruckt wird, der der Witwe des 1995 verstorbenen Heiner Müller nicht gefällt. (Vgl. Das Veto der Witwe. In: Der Spiegel 24 (1996), URL: http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-8933790.html, letzter Zugriff: 8.02.2019). 120 Ines Geipel: „Dann fiel auf einmal der Himmel um“. Inge Müller. Die Biografie. Berlin 2002. 121 Vgl. Gernot Wolfram: Dann fiel auf einmal der Himmel um. In: Die Welt (7.05.2002), URL: https:// www.welt.de/print-welt/article387884/Dann-fiel-auf-einmal-der-Himmel-um.html (letzter Zugriff: 8.02.2019).

8.4 Ohne Vaterland und Muttersprache. Ines Geipels Generation Mauer (2014) 

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Rainer Gries. Angeboten wird ein singulärer Einblick in die Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis. Ines Geipel gehört einer Kohorte an, aus deren Kreisen sich viele der Flüchtlingswelle anschließen, darunter auch Geipel selbst. Im Gegensatz zu Claudia Rusch oder Jakob Hein wächst sie weder im Umfeld von Dissidenten noch von kritischen Intellektuellen auf. Das Diktatursystem erlebt sie nicht nur in der Schule oder – etwas bewusster – an der Jenaer Universität, sondern auch im Alltag im Kreis der Familie. Ihre Eltern seien „beinharte Kommunisten“ gewesen,122 der Vater ein StasiMitarbeiter, was die Tochter allerdings erst nach dem Umbruch den Akten entnimmt. Als ihre Heimat nennt sie Dresden, „das Tal der Ahnungslosen“.123 Ihr Weg zu einer politisch wachen Protagonistin ist diesbezüglich nicht selbstverständlich. Im Jahre 2014 erscheint im Verlag Klett-Cotta – wie der Verheißung des Covers zu entnehmen ist – die „bisher unerzählte Geschichte der mittleren DDR-Generation“124 unter dem Titel Generation Mauer. Ein Porträt. Die These, dass es sich um einen Generationszusammenhang handele, der bis dato im öffentlichen Diskurs nicht repräsentiert worden sei, scheint eine Reihe literarischer Texte übersehen zu haben, die vom Leben der behandelten Kohorten berichten. Tatsächlich waren die bisher veröffentlichten Bücher keine Manifeste. Statt im Namen einer Generation zu sprechen – wie es einige Jahre zuvor etwa Jana Hensel mit ihrem Generationsbuch Zonenkinder für die Mitte der 1970er und in den 1980er Jahren Geborenen getan hatte –, werden hier individuelle Schicksale erzählt. Während für die jüngsten Protagonisten des DDRGenerationsgefüges im Feuilleton ein Label gefunden wurde – sei es Zonenkinder, Wende-Kinder oder auch Einheitskinder –, bleiben die älteren Kohorten unbenannt, was aber nicht bedeutet, dass sie im öffentlichen Diskurs nicht verortet werden. Aus diesen Reihen stammen schließlich ostdeutsche Erfolgsautoren wie Thomas Brussig, Ingo Schulze, Durs Grünbein oder auch Uwe Tellkamp, deren Texte das DDR-Erbe literarisch verarbeiten und dadurch für Aufsehen sorgen. Ines Geipel setzt mit ihrem Buch ein Präsenzzeichen, dessen Kraft nicht auf den Rang der Autorin im literarischen Feld der Bundesrepublik zurückzuführen ist – in dieser Hinsicht sind ihr die preisgekrönten Shooting-Stars wie Grünbein weit überlegen –, sondern auf ihren offen artikulierten Anspruch, im Namen einer ganzen Generation sprechen zu dürfen. Geipel geht zwar von der individuellen Geschichte aus, die sie jedoch um Erlebnisse einiger weniger Gleichaltriger ergänzt, um pars pro toto für eine informelle Gruppe zu sprechen. Bereits der Titel des Bandes Generation Mauer verspricht ein

122 Vgl. Jennifer Wilton: Sie kennt das Leben der Anderen. Berliner Spaziergang mit Ines Geipel. In: Die Welt (24.08.2008), URL: https://www.welt.de/wams_print/article2344686/Sie-kennt-das-Lebender-Anderen.html (letzter Zugriff: 8.02.2019). 123 Wilton: Sie kennt das Leben der Anderen. 124 Ines Geipel: Generation Mauer. Ein Porträt. Stuttgart 2014 (Rückseite des Covers). Im Folgenden werden Zitate als Sigle IGM mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen.

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 8 Generation Trabant, Generation `89, Zonenkinder?

Generationsporträt, inklusive einem Selbstporträt als „Mauerkind“. Im Gegensatz zu dem Generationsmodell von Thomas Ahbe und Rainer Gries wird in der Beschreibung auf dem Cover den „Mauerkindern“ aber nur die 1960er Kohorte zugerechnet. Die in den 60er-Jahren im Osten Deutschlands geborenen „Mauerkinder“ waren jung genug, um sich ab 1989 die Welt zu erobern – eine glückliche Generation? Ines Geipel sucht im Dialog zwischen persönlichem Schicksal und aktueller Forschung der Biographie ihrer Generation auf die Spur zu kommen. (IGM Rückseite des Covers)

Ines Geipel fungiert als Zeugin und Beobachterin, als Objekt der Untersuchung und als Untersuchende zugleich. Angeboten wird aber nicht nur eine Selbstbefragung, die wohl jeder autobiographischen Erzählung zuvorkommt, sondern auch Einblicke in Erlebnisse von Protagonisten aus dem Umkreis der Autorin, die sie mit wissenschaftlichen Erkenntnissen abgleicht. Entstanden ist daraus ein Werk an der Schnittstelle zwischen Literatur und Dokument, „ein psychologisch-literarisches Puzzle, beklemmend und dicht“ (IGM Rückseite des Covers), wie eine der auf dem Cover abgedruckten Buchbesprechungen urteilt, „die Einbettung tief sitzender Verletzungen in einen historischen Zusammenhang“ (IGM Rückseite des Covers). Der Klappentext konkretisiert die Geburtsjahrgänge der den Mauerkindern zugerechneten Protagonisten, so dass sich die erklärte Generation nur zum Teil mit der Entgrenzten Generation im Sinne von Ahbe und Gries deckt. In Frage kämen laut dem verlegerischen Peritext die zwischen 1959 und 1969 Geborenen, so dass Autoren wie Claudia Rusch und Jakob Hein nicht mehr den Mauerkindern angehörten. Im System Honecker herangewachsenen gelten die heute [im Jahre 2014 – K.N.] 45- bis 55-Jährigen als die Distanzierten, Staatsfernen, für die das Jahr 1989 dann zum Sprungbrett ins größere Deutschland und in die Welt wurde. Sind sie wirklich auf der Gewinnerseite gelandet? Oder hat die zähe Prägekraft der späten DDR mit ihren politischen Tabus, dem Bespitzeln und Verhindern von Individualität à la longue doch ihren Tribut gefordert? Ines Geipel erforscht das Lebensgefühl ihrer Generation in Tiefeninterviews mit Mauerkindern und in aktuellen psychologisch-soziologischen Untersuchungen. Sie findet den Zugang zu einer Generationenerzählung, die von großen Hypotheken, aber auch von großen Chancen handelt. (IGM vordere Klappe)

Es scheint, als ob Ines Geipel nicht eine Generationserzählung kreieren würde, sondern ein Phänomen anspricht, das bereits vorhanden wäre und nur entdeckt zu werden bräuchte. Im verlegerischen Peritext wird Generation nicht als Konstrukt ausgewiesen, sondern als etwas Essentielles, beinahe Natürliches präsentiert. In dem 2014 geschriebenen Vorwort stellt Ines Geipel vor, was ihrem Vorhaben zu Grunde lag. Ihre Leitfrage lautet: „Wer sind die in den sechziger Jahren im Osten Geborenen?“ (IGM 7) Schnell geht sie von der dritten zu der ersten Person Plural über. Gesprochen wird von einer informellen Gruppe von Individuen, denen auch das erzählte und erzählende Ich angehört, die bereits im Vorwort als Generation klassifiziert wird. Angeführt werden bereits am Anfang Worte anderer „Mauerkinder“, die auch im eigentlichen Text zu Wort kommen sollen, die aber ebenfalls kein kohärentes Selbstbild vorführen.

8.4 Ohne Vaterland und Muttersprache. Ines Geipels Generation Mauer (2014) 

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„Wir sind die letzte Generation, die eine echte, ich meine rationale und tief emotionale, Verbindung zum geteilten Deutschland und zum vergangenen Jahrhundert besitzt“, sagt die Filmemacherin Carla Hicks über die Generation Mauer. Der Schauspieler Tobias Langhoff formuliert es so: „Wir haben im Grunde zwei Leben, eins vor und eins danach. Wir sind so reich.“ – „Wir sind die privilegierteste Generation“, sagt der Maler Moritz Götze, „wir kommen aus einer absurden, interessanten Erlebniswelt […].“ […] „Ich sehe nichts besonderes an dieser Generation. Ich fühle mich auch nicht zugehörig“, betont der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. (IGM 7)

Auch die skeptische Stimme Kowalczuks, die von der Begeisterung anderer Befragten weit entfernt zu sein scheint, stellt das Generationskonzept an sich nicht in Frage. Eine Generation sei da. Sie sucht nach ihrem „Generationsnarrativ“ (IGM 8). Sie sei „formlos[..]“, „1961 ins System ,eingenäht‘“, eine „Stotterergeneration“ (IGM 8), die nun eine Art Sprachübung zu durchlaufen scheint. Das Konzept des Bandes wird wie folgt auf den Punkt gebracht. Also, wer sind wir? Eine volle Biografie vor 1989, eine volle Biografie nach 1989 und dazu das Jahr 1989 selbst, als Zentrum, als Zeitschnitt, als Dreh- und Angelpunkt. Macht das ein Generationsnarrativ aus? Entstanden ist ein Werkstattbericht, in dem es vor allem um ein Sprechen miteinander geht, weniger übereinander. Das Buch sucht nicht nach einem Generationslabel, sondern nach der konkreten Erfahrung, den inneren Zeichnungen, um im einzelnen Leben die eigene Zeit zu begreifen. (IGM 8)

Die Mauerkinder hätten nicht nur im „Aufbruchssommer 1989“ (IGM 8) ihren Beitrag geleistet, sondern auch nach dem Umbruch, als sie für die Aufklärung der Diktatur gesorgt hätten. „Die Generation Mauer ist eine Generation der Rückkehrer, Rekonstruierer, Vergewisserer, Rechercheure, Entschweiger, der pickelharten Herausschäler,“ (IGM 8) lautet die eröffnende Charakteristik. Obwohl die Verfasserin behauptet, nach keinem Label zu suchen, liefert sie eine ganze Reihe davon. Den Ansporn zu einer literarischen Auseinandersetzung mit dem Generationenproblem scheinen Ines Geipel zwei Aspekte gegeben zu haben. Erstens diagnostiziert sie allerlei Generationen, die im öffentlichen Diskurs repräsentiert werden, dessen Interessen dadurch auch artikuliert werden können, bis auf eine, die nirgendwo vorkommt, der auch sie angehört (vgl. IGM 15). Zweitens wird im Fachdiskurs eine Generation berücksichtigt, der sie und ihre Altersgenossen aus der ehemaligen DDR zugerechnet werden dürfen. Die Beschreibung, die hier geliefert wird, stellt das erzählende Ich nicht zufrieden. Polemisiert wird gegen Forschungsergebnisse von Ahbe und Gries. Soziologen wie Thomas Ahbe und Rainer Gries haben herausgefunden, dass wir in dem großen deutschen Generationenwald als die Glücklichen angesehen werden. Das, weil wir zum einen die DDR pragmatisch und hedonistisch über uns ergehen lassen konnten, da wir mit dem System nichts mehr am Hut hatten. Weil wir zum zweiten die Revolution 1989 zum biografisch besten Zeitpunkt erlebten. Und weil wir zum dritten nach 1989 einen zweiten Studien- oder Lehrabschluss nach westlichen Standards absolviert haben und uns deshalb mühelos ins neue Deutschland integrieren konnten. Drei Gründe, um glücklich zu sein. (IGM 15)

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Sollen die Lebensbedingungen dafür gesorgt haben, dass das erzählte Ich und seine ostdeutschen Altergenossen ihre DDR-Jahre als glücklich verlebten, zeugen Schicksale der von Geipel angeführten Protagonisten vom Gegenteil. Als Beispiel kann etwa ihr Freund Robby dienen, der sich kurz nach dem Mauerfall aus dem Fenster stürzt. Zum Abschied hinterlässt er einen Zettel mit der Adresse seines Vaters, des DDRStaatsanwalts, der ihn finden soll (vgl. IGM 20). Die Lebensumstände werden nicht als eine Paradieswelt jenseits des Systems dargestellt, sondern als ein Zustand der permanenten Angst, der junge Menschen wie Robby und das erzählte Ich nur auf extreme Art – sei es durch Selbstmord, sei es durch die Flucht in den Westen – entkommen konnten. „Das Angstsystem DDR“ (IGM 30) wird als der Rahmen ihrer Existenz bezeichnet (vgl. IGM 30). Und obwohl die Deutsche Demokratische Republik nicht mehr existiert, greift das dumpfe Gefühl der Unsicherheit über den Mauerfall hinaus, denn sie war eine Konstituente ihrer Identität. „Dabei war diese Angst ja keine Katz-und-Maus-Spiel-Angst, keine Angst von Fall zu Fall. Sie war in der Lage, ein ganzes Land zu durchsetzen. Es war eine Angst, die eingriff, Regie führte, ins Mark schoss“ (IGM 30), konstatiert das erzählende Ich. Die skizzierten Schicksale scheinen den Thesen der Soziologen zu widersprechen. Verwiesen wird etwa auf die Kommilitonen der Erzählerin aus der Zeit ihres Germanistikstudiums in Jena, von denen viele den psychischen Druck vonseiten des Systems mit gesundheitlichen Problemen bezahlt haben. Wenn es von Seiten der Soziologen heißt, dass wir als Generation die Glücklichen seien, weil wir die DDR pragmatisch und hedonistisch über uns ergehen lassen konnten und mit dem System nichts mehr am Hut hatten, müssen wir in einer anderen Realität gelebt haben. Auch unser kleines Institut […] war nach 1989 immer wieder als „letzter Hort des bürgerlichen Humanismus“ beschrieben worden. War es so? Ich erinnere mich an die politischen Exmatrikulationen von Martin und Anna, von Katrin und Steffen. Ich weiß von Hanna, Gabi und Peter, die aufgrund des enormen Drucks Morbus Crohn bekamen, und von Steffi, Heike, Hans, die mit starker Neurodermitis zu kämpfen hatten. Ich habe allein fünf von uns im Kopf, die in der Psychiatrie landeten. (IGM 139)

Selbst das erzählte Ich wird als Opfer des Systems dargestellt. Einmal eine Weltklassensprinterin, die durch ihre ‚labile‘ politische Einstellung (vgl. IGM 239), nicht nur vom Club entfernt, sondern durch einen misslungenen medizinischen Eingriff – in dem eine spätere Operation eine absichtliche Maßnahme vermuten lässt – bestraft und unschädlich gemacht wird (vgl. IGM 230–239). Geipel unternimmt nicht den Versuch, eine glückliche Kindheit und Jugend vor dem Vergessen zu retten, sondern die Rahmenbedingungen ihres Schicksals – mit „Brutalität“ und „Dumpfheit“ (IGM 20–21) an der Spitze – zu erörtern, um dadurch quasi ein Desiderat auszugleichen. So ist auch eine Akzentverschiebung im Vergleich zu Hein und Rusch, vor allem aber zu Jana Hensel erkennbar. Hensels Erfolgsbuch Zonenkinder – das sich nicht nur gut verkaufte, sondern auch im öffentlichen Diskurs für Aufsehen sorgte, indem es der von Florian Illies in Umlauf gebrachten westdeutschen „Generation Golf“ ihre ostdeutschen Pendants gegenüberstellte, um auf einen übersehenen Teil der Gesellschaft im vereinten Land zu verweisen – scheint

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Geipel einen Ansporn gegeben zu haben, zum Sprachrohr ihrer Generation zu werden und sich dem „Imaginationsraum Retro-DDR“ (IGM 253), dem Konstrukt der WendeKinder, zu widersetzen. Der Gegensatz Generation Mauer versus Einheitskinder wird von Geipel explizit angesprochen. Verwiesen wird auf den „Argwohn der Einheitskinder gegen die Generation Mauer“ (IGM 245), der auf Hensels Zonenkinder zurückdatiert werden darf, der aber auch in den letzten Jahren wieder erkennbar wird. Die Einheitskinder melden sich wieder zu Wort, und zwar als eine Gruppe. 2009, sieben Jahre nach den Zonenkindern und 20 Jahre nach dem Mauerfall, kam das Thema zurück, auf noch vehementere Art. Die Einheitskinder meldeten sich nun als Gruppe. Sie fühlten sich ungesehen im Klima der großen Freiheitsfeste. Auf den Podien säßen immer dieselben alten Männer, die immer in dieselbe Freude einstimmten, sagten sie. (IGM 246)

Eine Generation erzähle über sich selbst (vgl. IGM 246), fasst das erzählende Ich die Initiativen der Wende-Kinder zusammen, „Die Generation Niemandsland in einem händeringenden Suchmodus“ (IGM 248). Genannt wird in diesem Kontext die Initiative „Dritte Generation Ost“ (vgl. IGM 247). Auf dieser Welle erscheinen programmatische Beiträge wie etwa Johannes Staemmlers „Wir, die stumme Generation Ost“ (2012) oder auch Generationsbücher wie Sabine Rennefanz‘ Eisenkinder. Die Stille Wut der Wendekinder (2013). Die DDR sei für die jüngeren Protagonisten weniger eine reale Erfahrung als „Disney-Land Ost“ (IGM 250). Das DDR-Narrativ der Einheitskinder erscheint Geipel als „Identitätskern“ (IGM 250), entstanden „unter ahistorischem Weichzeichner“ (IGM 252). Im Gegensatz dazu soll Geipels Generationsbuch historisch eigebettete Erfahrungen zeigen, die der „DDR-Box“ (IGM 253) der Einheitskinder – „gestylt, […] sehnsuchtsbeladen, […] sagenhaft“ (IGM 253) – gegenüber gestellt wird. Damit versucht sie auch auf Vorwürfe der Jüngeren zu reagieren und das gestörte Gespräch zwischen Generationen auf diese Weise wieder aufzunehmen. Staemmler wird ausführlich zitiert. Das Gespräch zwischen den Generationen scheint anhaltend gestört. Johannes Staemmler, 1982 in Dresden geboren und einer der Initiatoren der mittlerweile „Dritte Generation Ost“ benannten, forcierten Identitätssuche schreibt in seinem 2011 erschienenen Beitrag „Wir, die stumme Generation Ost“: „Uns verbindet am meisten, dass wir keine Ahnung haben, was die eine Hälfte unserer Herkunft, nämlich die DDR, mit uns zu tun hat… Unsere Eltern verkriechen sich heute in schablonenhaften Erinnerungen. Sie berichten wenig und meist nur das, was ihnen heute kein Unbehagen bereitet. Sie wollen ihre gerade neu errungene Identität nicht gefährden. So erzählen sie auch ihr Leben, lückenhaft und verträglich. […] Wir vermissen, dass sie mit uns einen differenzierten Blick auf eine Zeit werfen, die nicht widerspruchsfrei zu interpretieren ist – weder heute noch damals.“ (IGM 247–248)

Die herbeizitierten Eltern stammen aus den Reihen der Integrierten Generation und aus den ältesten Jahrgängen der Entgrenzten, so dass sich auch Ines Geipel angesprochen zu fühlen scheint. Die These, dass die Elterngeneration schweigt, kann erstmal überraschen, weil es auf dem Markt immer wieder neue Lebensgeschichten erscheinen (vgl. IGM 26–27). Nun scheinen aber gewisse Fragen verschwiegen zu

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werden. Viel Text sei nicht zwangsläufig viel historische Wahrheit (vgl. IGM 49), konstatiert die Erzählerin. Der Grund des Schweigens wird auch erklärt. Die älteren Kohorten erzählen weniger, weil sie noch nicht im Stande sind, ihr Schicksal in Worte zu fassen: „Man erinnert sich nicht, weil es zu schmerzhaft ist. Man erinnert sich nicht, weil man zu verstrickt oder belastet ist. Man erinnert sich nicht, weil man sich um die Jüngeren sorgt.“ (IGM 21) Andererseits scheint für die Generation Mauer bis dato noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein, eine Bilanz zu ziehen. Geipel scheint aber mit ihrem Generationsbuch den ersten Schritt zu wagen: Wir sind noch nicht dran mit der großen Bilanz, es ist noch ein bisschen Zeit bis zum harten Lebensresümee. Unsere Generation ist grad richtig mittendrin, sie ist da. Neo Rauch malt zu Höchstpreisen. Maybrit Illner talkt sich durch die Jahre. Rammstein feiert auf den Bühnen der Welt und vor Hunderttausenden lautstark verlängerten Kindergeburtstag. Aber wozu warten, auf wen? Wann ist eine Zeit richtig, wann richtiger als jetzt? (IGM 23)

So wird auch von Ines Geipel in ihrem als Generationsbuch konzipierten Band die Lebensgeschichte von Mauerkindern inklusive Prägeerfahrungen rekonstruiert, die ohne das DDR-Generationsgefüge auch kaum möglich erscheint. Das Leben der Jüngeren wurde nämlich vorgeplant. Die Rolle der „Kinder hinter der Mauer in diesem historischen Großprojekt“ (IGM 35) wurde im Rahmen der herrschenden Ideologie bestimmt, damit wenig Raum für Missverständnisse bleibe (vgl. IGM 35). Sie hätten ein Ziel (vgl. IGM 35). Sie seien Helden, denen von klein auf die Vorstellung eingeprägt wird, „Wir würden es zu was bringen, wir würden ziemlich weit rumkommen.“ (IGM 37) Geipel rekurriert auf ein Bild, das bereits Brussigs Erfolgsroman – hier allerdings in einem ironischen Modus – Helden wie wir in Umlauf bringt. Propagiert wird – von staatlichen Erziehungsinstanzen, über das Elternhaus, bis zu den Kinderzeitschriften und -liedern – das Selbstbild sozialistischer Kinder, das sie sich unbewusst und dadurch widerstandslos einverleiben. Die Erzählerin erinnert sich an ihre Lektüren, die das Weltbild des Kindes von damals prägten. „Mein Name ist Morgen. Meine Mutter ist der Plan, mein Vater die Arbeit.“ Das ist der Schlusssatz der 77. Folge der Serie Mäxchen Pfiffigs Geschichten aus dem Pionierheft Fröhlich sein und singen von 1961. Ich habe sie damals alle gelesen, auch die alten Nummern […]. (IGM 44)

Was den Jüngeren beigebracht werden soll, bestimmten wohl nicht die Eltern alleine, sondern auch der Staat, dem sich Mütter und Väter unterzuordnen hatten (vgl. IGM 46). Das erzählte Ich wächst – das kommt noch hinzu – in einem Elternhaus auf, in dem das Einverständnis mit den Maßnahmen der Staatsorgane wohl größer war als in manch anderem Haus. Die Vatergestalt bleibt ihr lange Jahre ein Rätsel, bis sie nach dem Umbruch den Einblick in die Stasi-Akte gewinnt und die einzelnen ,Vaterversionen‘ vor Augen hat. Die Familienbasis entpuppt sich als eine Lüge, in der sie von der zurückgezogenen Mutter mit ihrem „System des Verbergens, der Kontrolle und Selbstkontrolle“ (IGM 210) und dem abwesenden Vater gehalten wird.

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Zwischenzeitlich ist der Vater oft auf Lehrgang, sagt die Mutter. Dreißig Jahre später liegt eine 600 Seiten dicke Akte auf dem Tisch, die darüber etwas genauer Auskunft gibt. Am 13.12.1973 – am offiziellen DDR-Tag der Pioniere – unterschreibt Vater seine Mitarbeit für die Hauptabteilung IV der Staatssicherheit. Männer, die dieser Abteilung angehören, werden im Fachjargon Terroragenten genannt. Sie fahren mit Sonderauftrag ins vermeintliche Feindesland, in die Bundesrepublik, um „operative Aufträge“ auszuführen. (IGM 46)

Acht verschiedene Identitäten stehen in den Akten, acht verschiedene Lügengeschichten des Doppelgängers, der ihr Vater war (vgl. IGM 47). Das erzählte Ich wird im Elternhaus vor ideologischer Vereinnahmung kaum geschont. Im Gegenteil, es wird in eine Internatsschule geschickt, „eine der ‚Kaderschmieden des Sozialismus‘, mit Patenschaftsvertrag zur Staatssicherheit“ (IGM 91). Das geschieht in einer Lebensphase, die entwicklungspsychologisch als „Kernzeit“ (IGM 91) – worauf die Erzählerin verweist – angesehen werden darf. Über sie und ihresgleichen wird verfügt. Die Kindheit und Jugend ihrer Generation bezeichnet sie als „verbissenes Warten, auf das, was man für uns als Leben vorgesehen hatte.“ (IGM 19) Tatsächlich werden sie und ihre Altersgenossen nicht als Rebellen gezeigt, sondern als diejenigen, die nach einer Nische für sich suchen, um sich in dem System der „organisierten Verlogenheit“ (IGM 145) zu arrangieren. Diese Anpassungsfähigkeit wird sogar als die Kennmarke der Mauerkinder gedeutet. Man kann diese Auswegsuche einen elastischen Reflex unserer Generation auf den Zwang nennen, dem sie ausgesetzt war. Enge Grenzen und Möglichkeiten auszuloten, gehörte zu ihrem suchenden Dazwischen. Sie wusste um die Sackgassen, kannte die Brüche der Eltern und war von Beginn an als Kosmonauten-Hoffnung ins System eingenäht worden. […] Insofern kann man den Möglichkeitssinn unserer Generation im Hinblick auf das System bestimmt pragmatisch nennen. (IGM 144)

Der Pragmatismus der Entgrenzten wird von Geipel nicht als eine bewusste Distanz gegenüber dem System gedeutet, sondern als eine Art Abwehrmechanismus, als Reaktion auf die bedrückende, permanente Angst, auf den Zwang vonseiten des Staates und seiner Institutionen (inklusive der Familie). So scheinen zu Generationsobjekten in der Auslegung Ines Geipels nicht nur historische Ereignisse – obwohl diese auch vorkommen – und materielle Gegenstände zu gehören, sondern auch psychische Zustände, vor allem die Deprivation. Der Bericht Geipels scheint im Kontrast zu den Kindheits- und Jugendgeschichten von Jakob Hein und Claudia Rusch zu stehen. Diesem Eindruck ist allerdings nur bedingt zuzustimmen. Geipel konzentriert sich nämlich auf ihre Eindrücke als Jugendliche bzw. junge Erwachsene und beurteilt das System vorwiegend aus der Perspektive einer Erwachsenen mit ihrem Wissensvorsprung. Das erzählende Ich versetzt sich kaum in die Naivität des Kindes von damals. Insofern scheint diese Version der DDR-Biographie die früheren Bände eher fortzusetzen und zu ergänzen, als sie in Frage zu stellen. Das Leben in einem Unrechtsstaat schließt nicht private Momente des Glücks aus. Nur handelt das Generationsbuch Geipels nicht von Sachverhalten, die bereits erzählt worden sind, sondern

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von verschwiegenen Krisen eines dergestalt angepassten Generationszusammenhangs, der dadurch beinahe unsichtbar geworden ist. Als Deprivation lässt sich ebenfalls der permanente Zustand des Abschieds ansehen, dem die Mauerkinder ausgesetzt waren. Da so viele Freunde das Land verließen, fehlte dem erzählten Ich eine das Wohlwollen unterstützende Stabilität. So wird auch im „Abschied“ für immer eine Art Signatur der Generation (vgl. IGM 128) erkannt. Auch der eigene Emanzipationsakt, d.h. die Flucht in den Westen, muss mit Abschied bezahlt werden (vgl. IGM 128). Mit diesem Geständnis nähert sich Geipel dem Narrativ von Hein und Rusch, die dem System nicht verzeihen konnten, dass es die Beziehungen geschädigt und manche Familienbande sogar zerrissen hatte. Man lebte im permanenten Abschied, in einem riesigen Wartezimmer und richtete sich in ihm ein. Vermutlich hat nichts so sehr die innere Erosion des Landes beschleunigt wie dieser nicht abreißende Schmerz. Gerade noch war er da, der Nächste, hat man das ganze Leben mit ihm geteilt. Nun wird keiner einem sagen können, ob man ihn je wiedersehen kann. (IGM 95)

Gerade die jungen Protagonisten der Novemberereignisse bekennen eine starke psychische Erschütterung, die der permanente Abschied mit sich brachte. Sie werden mit einer Lage konfrontiert, die sie kaum zu bewältigen vermögen. So erweisen sich die Abschiede als traumatische Erlebnisse. Das Leben der Mauerkinder besteht laut Geipel allerdings nicht nur aus einem hoffnungslosen Zwang und Verlust. Sie erleben zwar „Jahre tiefster DDR-Agonie“ (IGM 24) mit, finden aber auch Zuflucht in Kunst, sei es in der Musik – in den Songs von David Bowie oder The Doors (vgl. IGM 24), in den Punkkonzerten (vgl. IGM 190) –, sei es in Literatur oder Kino. Durch Kinobesuche fühlt sich das erzählte Ich „angeschlossen an die Welt“ (IGM 39), es sei ein Schlüsselloch gewesen (vgl. IGM 39). In der alternativen Szene der Punkbewegung erblickt die Erzählerin übrigens ein generationsstiftendes Potential, das nie entfaltet wurde: In den wachen, wütenden, rüden Punks hätte sich eine ganze Generation gefunden, wäre sie als Formation nicht zerrieben worden. Es ist der Kern der Generation Mauer, die in einer freien Gesellschaft mit freier Kommunikation ein Gesicht und eine unverwechselbare Erzählung erhalten hätte. (IGM 193)

Die Mannheimsche Generationsformel scheint hier erfüllt worden zu sein. Die PunkBewegung zeichnet sich durch einen bestimmten Lebensstil und Habitus sowie einen spezifischen Diskurs aus (vgl. IGM 192). Verunsicherten die einige Jahre älteren „Beatniks“ vorher das System, waren die Punks im Stande, es zu erschüttern (vgl. IGM 192). Die Chance wurde jedoch begraben. Aus den Reihen der Mauerkinder geht keine Generationseinheit hervor. Da es der Generation Mauer an natürlichen Orientierungshilfen fehlt, wird nach Ersatz gesucht. Und so findet auch das erzählte Ich Mutter- und Vaterersatz. Gemeint sind Dichter und Dozenten als Autoritäten, die einen alternativen Weg gehen. So fungiert in Geipels autobiographischer Erzählung Heiner Müller – neben Christoph Hein und

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Volker Braun (vgl. IGM 71) – als geistiger Vater (vgl. IGM 69). Bücher der genannten Autoren waren zu DDR-Zeiten „[s]eltsam aufgeladene Katechismen“, „Schutzräume, für manche gar Verstecke. Referenzsysteme für das, was wir verteidigen wollten […].“ (IGM 71) Es handelt sich um Kultgestalten, die nach dem Umbruch vom Piedestal gestürzt, von den Mauerkindern aber zum Teil auch gerettet werden. Als Beispiel führt die Erzählerin die Verleihung des Büchner-Preises an eines der Mauerkinder an, nämlich Durs Grünbein, der sich ausdrücklich Heiner Müller – nach der Bekanntgabe der Stasi-Akten beinahe eine persona non grata der gesamtdeutschen Literaturbühne – als Laudator wünscht (vgl. IGM 159). Zustande kommt dadurch ein seltenes Generationsgespräch. Müller fasst die Lage der Entgrenzten Generation in Worte: In Grünbeins Gedichten ist eine Generationserfahrung Form geworden […]. Es ist die Generation der Untoten des Kalten Krieges, die Geschichte nicht mehr als Sinngebung des Sinnlosen durch Ideologie, sondern nur noch als sinnlos begreifen kann. Die Generation hat kein Vaterland und keine Muttersprache. (IGM 160)

Angesprochen werden quasi Desiderate des öffentlichen Diskurses. Getrauert wird um die Toten, nicht um die Überlebenden, die beschädigt worden sind. Die jungen Leute, die mit dem Untergang der DDR das Land ihrer Herkunft verloren haben, die auch nicht über eine eigene Sprache verfügen, um die Inhalte auszudrücken, bleiben unsichtbar und auf sich gestellt. Außer Heiner Müller als den „gesuchte[n] Generationsvater“, „Projektionsfigur“ (IGM 161) werden auch weibliche Stimmen genannt, die zum Sound der Generation werden. Neben Inge Müller – die in die Zeit nach dem Mauerbau hineingestorben sei, in die die Mauerkinder hineingeboren worden seien (vgl. IGM 162) – werden Irmtraud Morgner, Maxi Wander, Brigitte Reimann und Christa Wolf erwähnt, die neben ihren Dozentinnen die jungen Frauen der Mauergeneration geistig prägen. So werden auch in der DDR Texte von Virginia Woolf gelesen, Fragen des westdeutschen Feminismus diskutiert, Seminare zu Luce Irigaray und Hélène Cixous veranstaltet (vgl. IGM 151). Die Ersatzmütter stehen im Kontrast zu den „realen Kriegskinder-Müttern“, die pragmatisch, zurückhaltend, „lebenshungrig und stark, schwach und zerstörerisch zugleich“ (IGM 150) sind. Für das erzählte Ich fungieren sie als Wegweiser. Ines Geipel rekonstruiert in ihrem Generationsbuch aber nicht nur die Generation Mauer, sondern situiert sie auch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verhältnisse in der ehemaligen DDR. Auch hier wird das DDR-Generationsgefüge herbeizitiert. Die Hierarchie des auf dem antifaschistischen Heldenmythos aufgebauten Landes, in dem die Gründergeneration den Ton angibt und das Leben der Jüngeren ideologiegetreu vorplant, scheint dem erzählten Ich bewusst gewesen zu sein. Die Gesellschaft wird hierarchisch aufgebaut und die Entscheidungen gehören den Architekten der neuen Ordnung, nämlich einigen wenigen antifaschistischen Widerstandskämpfern, den „wenigen deutschen Sowjetunion-Überlebenden […], mit Kriegsende d[er] politische[n] Kerngruppe des neuen Staates im Osten“ (IGM 176). Es herrscht Konsens mit dem permanenten Schweigen. „Das erste Kernschweigen […] handelt von deutschen Kommu-

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nisten, Stalins Terror und dem sowjetischen Gulag.“ (IGM 176) Alle Nachfolgegenerationen scheinen mitzumachen, bis das Land an seinem „Nationalnarrativ“ (IGM 177) erstickt. „Das Schweigen […] perpetuierte. Umdeuten, nivellieren, ausblenden, vergessen. Es waren Angebote. Sie wurden angenommen.“ (IGM 178) Nun erweist es sich in den Augen der Erzählerin als zerstörerisch nicht nur für das gesamte DDR-System, sondern auch für die Enkelgeneration. So stellt sie auch eine rhetorische Frage: „Aber stehen diese Tiefenablagen, dieses Schweigen in Schichten, nicht synonym für die Identitätsschwäche der DDR-Biographien unserer Generation?“ (IGM 179) Obwohl Geipel in ihrem Buch den Mannheimschen Generationenbegriff und die  Anwendung der soziologischen Formel mitreflektiert, scheint ihr die Tatsache entgangen zu sein, dass sie in ihrem als Generationsstimme konzipierten Band tatsächlich nur ein bestimmtes Milieu zu Wort kommen lässt.125 Es handelt sich um Akademiker, Künstler, Intellektuelle, die hier von ihren DDR-Erfahrungen berichten, die ihr Selbstbewusstsein als Mauerkinder artikulieren. Im Gegensatz zu der Zeit vor dem Umbruch, als den Schriftstellern und Künstlern eine exponierte Rolle als Stimme der Unterdrückten zukam, scheint keinem der genannten Protagonisten des Bandes, Ines Geipel nicht ausgenommen, eine vergleichbare Funktion in der deutschen Gesellschaft zuzukommen. Nichtsdestotrotz wird das Buch in den Besprechungen gelobt, nicht nur wegen der „literarische[n] Begabung“126 der Autorin, sondern auch wegen ihres Versuchs, vergessene ostdeutsche Angelegenheiten salonfähig zu machen. Die Methode der literarischen Sachbuchautorin: persönlich zu werden, ohne sich in private Anekdoten zu versteigen; das Gedächtnis der vielen aktivieren, also konkrete, individuelle Lebensgeschichten als Prisma nutzen, um die festgeschriebene soziale, politische und mentale Geschichte wieder neu erzählbar, erfahrbar, befragbar zu machen.127

125 Dieser Sachverhalt entgeht nicht den (einigen wenigen) Rezensenten. So verweist Insa Wilke in Die Zeit darauf, dass sich das im Buch konzipierte „wir“ im Grunde auf ein bestimmtes Milieu bezieht. Ihren Vorwurf mildert sie allerdings im nächsten Satz, in dem sie behauptet: „Auf die Haltbarkeit des Generationenbegriffs kommt es bei diesem Buch aber gar nicht so sehr an, zumal Geipel ihn selbst problematisiert.“ (Insa Wilke: Grabungen im deutschen Innenleben. In: Die Zeit (7.05.2014), URL: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2014-05/ines-geipel-generation-mauer, letzter Zugriff: 28.02.2019). Geipel reflektiert tatsächlich die Verwendung des Begriffs. Angeführt wird im Buch etwa eine Szene, in der ihr Lebenspartner – im Westen großgezogen, Soziologe von Beruf – auf den Konstruktcharakter der Generationen verweist, während Geipel ihre innere Überzeugung ausdrückt, dass „das mit der Generation richtig ist, ja mehr noch, dass sie schon allein wegen des historischen Zuschnitts nur noch erzählt zu werden braucht.“ (IGM 27)    Dass das Buch etwas verspreche, das es nicht einlöse, bemerkt auch Cornelia Geissler in der Frankfurter Rundschau. Auch sie scheint es der Autorin verziehen zu haben: „Aber das ist nicht schlimm.“ (Cornelia Geissler: Der Dreh- und Angelpunkt. In: Frankfurter Rundschau (12.05.2014), URL: https://www.fr.de/kultur/literatur/dreh-angelpunkt-11220835.html, letzter Zugriff: 28.02.2019). 126 Wilke: Grabungen im deutschen Innenleben. 127 Wilke: Grabungen im deutschen Innenleben.

8.5 Generation – Zeit – öffentlicher Diskurs oder die Frage der Perspektive 

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Ines Geipels Generationsbuch wurde auf dem deutschen Literaturmarkt zwar bemerkt, es machte aber keine mit Jana Hensels Zonenkinder zu vergleichende Karriere. Die Besprechungen erscheinen in einigen wichtigen Zeitungen und Zeitschriften, ohne eine Debatte auszulösen. Nichtsdestotrotz wird dem Projekt eine gebührende Wertschätzung zugesprochen. So bemerkt etwa Cornelia Geissler in der Frankfurter Rundschau: Es ist gut, dass sie [Geipel – K.N.] dieses Buch geschrieben hat. Zwar hat der Generation der in den sechziger Jahren in der DDR Geborenen kein Label gefehlt, aber vielleicht doch ein bisschen Aufmerksamkeit.128

Vor dem Hintergrund der öffentlichen Debatte um die Wende-Kinder scheint diese These begründet.

8.5 Generation – Zeit – öffentlicher Diskurs oder die Frage der Perspektive Standen dem interessierten Leser im Falle der Generation der Misstrauischen Patriarchen oder auch der Aufbau-Generation zahlreiche Lebensgeschichten zur Verfügung, stößt er im Falle der Entgrenzten Generation zwar auf nicht wenige autobiographische Texte, die sich tatsächlich mit der DDR-Vergangenheit befassen, ohne jedoch dabei auf Lebensbilanzen zu stoßen. So bieten etwa Jakob Hein und Claudia Rusch Einblicke in ihre frühen Erlebnisse. Ines Geipel behauptet in ihrem autobiographischen Manifest zwar, dass es an der Zeit sei, mit einer Lebensbilanz anzufangen, aber auch sie rekonstruiert eher das Grundgefühl ihrer Altersgenossen als alle Lebensstationen. So kann auch ein Katalog der Generationsobjekte nur annäherungsweise aufgestellt werden. Aus den autobiographischen Aussagen geht keine einheitliche identitätsstiftende Erfolgserzählung hervor. Verwiesen wird aber auf Komponenten der Identität – eine eigenartige Mischung aus Ost- und Westanleihen –, die sie von den Angehörigen der älteren DDR-Generationen wie auch von den Westdeutschen unterscheiden. Einerseits wachsen die Entgrenzten in typischen DDR-Strukturen auf, werden vom Kindergarten bis zu der Schule den sozialistischen Ritualen unterzogen, andererseits schöpfen sie aus der westlichen Kultur, finden in Literatur, Kino und Musik eine Art Schlüsselloch, durch das sie in die freie Welt gucken. Sie wissen sich in den vorgegebenen Strukturen zu arrangieren, allerdings nur bis zu dem Punkt, wenn sie selber in die Spätphase der Adoleszenz kommen und die Einschränkungen bewusst wahrzunehmen anfangen. Sie stehen dem Westen nahe, fühlen sich andererseits ihrem Familien- oder auch Freundeskreis verbunden. Auch wenn sich die Mauerkinder dem westlichen Lebensstil

128 Geissler: Der Dreh- und Angelpunkt.

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 8 Generation Trabant, Generation `89, Zonenkinder?

immer mehr annähern und ihnen das sozialistische Land enger wird, teilen sie aus der Perspektive der Jahre ihr Leben nicht – wie im öffentlichen Diskurs behauptet wird – in die Zeitspanne vor 1989 und nach 1989 auf. Dem Mauerfall kommt nicht die Bedeutung eines historischen Umbruchs zu, auch wenn er eine Zäsur markiert, die zur rechten Zeit kommt. Sie können zwar die Chancen nutzen, polemisiert wird aber gegen das gängige Bild einer Generation mit guten Startbedingungen, dessen Leben lauter Glücksmomente ausmachen. All den Lebensgeschichten liegt der Versuch zu Grunde, die Vielschichtigkeit des Lebens zu zeigen, das in ihrem Fall zum Teil in einem Diktatursystem verlief. Den behandelten Texten liegt ein recht unterschiedliches Konzept zu Grunde, woraus sich auch Konsequenzen für das autobiographische Porträt und somit auch für das Bild eines potentiellen Angehörigen der Entgrenzten Generation ergeben. Während Hein und Rusch ernsthafte Themen mit Sinn für Humor erzählen, und zwar aus der Perspektive eines Kindes von damals, greift Geipel zur ernsthaften Argumentation. Während Hein und Rusch ihre individuelle, von Natur aus subjektive Fassung der Geschichte liefern, scheint Geipel darum bemüht zu sein, ihre subjektiven Eindrücke um die Stimmen aus ihrem Umkreis zu ergänzen und sie somit gewissermaßen zu objektivieren. Auch wenn sie aber soziologische Erkenntnisse miteinbezieht und kritisch hinterfragt, liefert sie keinen Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs, sondern immer noch eine individuelle Stimme, ergänzt um andere individuelle Stimmen, die zwar im Chor überzeugender klingen können, aber immer noch nichts über den Gesellschaftsdurschnitt aussagen. Die jeweils unterschiedlichen Erzählstrategien mögen auch die Aufnahme beim Publikum beeinflusst haben. So liefern Hein und Rusch private Erinnerung ohne Repräsentationsanspruch. Während Rusch ihre Erzählung um Kommentare bereichert, die auch die Sicht des Kindes von damals zu korrigieren oder aber zu erklären vermögen, scheint Hein etwa in Mein erstes T-Shirt konsequent eine Froschperspektive einzunehmen. Der naiv wirkende Ich-Erzähler verzichtet auf wertende Urteile, Erklärungen und Korrekturen. Die Schlussfolgerungen werden dem Leser überlassen. Geipel nimmt dagegen eine polemische Haltung an. Als Repräsentantin setzt sie sich mit dem im öffentlichen Diskurs herrschenden Bild ihrer Generation auseinander. Einerseits polemisiert sie gegen Thesen der Soziologen, andererseits hinterfragt sie die dominante Position der Wende-Kinder, deren Geltungsanspruch aus ihrer Sicht auch den Mauerkindern den Boden entzieht. In Folge dieser (scheinbar ästhetischen) Entscheidungen schreiben sich die Texte – zumindest auf den ersten Blick – in andere Erinnerungslandschaften ein, so dass auch Zweifel gehegt werden darf, ob es sich tatsächlich um den Sound einer Generation handelt. Geipel betont in ihrem 2014 herausgegebenen Buch erneut den Unterdrückungscharakter des DDR-Systems und folgt somit dem lange Jahre den öffentlichen Diskurs dominierenden Diktaturgedächtnis, während Hein und Rusch in ihren jeweils 2001 und 2003 veröffentlichten Bänden Einblicke in ein ‚normales‘ Leben unter außergewöhnlichen Lebensbedingungen geben und sich somit  dem  Arrangementgedächtnis anzuschließen scheinen (allerding mit einer kritischen Korrektur, sie

8.5 Generation – Zeit – öffentlicher Diskurs oder die Frage der Perspektive 

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verfallen nämlich nicht in einen nostalgischen Ton, sondern kontextualisieren die Privatgeschichte – sei es durch Kommentare wie bei Rusch, sei es durch Humor und Selbstironie wie bei Hein – und basteln auch keine ahistorische ‚DDR-Box‘ – wie es Ines Geipel bei den Wende-Kindern aussetzte – zusammen). Um diese recht unterschiedlichen Perspektiven begreifen zu können, scheint es angebracht zu sein, auf den öffentlichen Diskurs in den Jahren 2001–2003 und 2014 zu verweisen. Die Texte von Hein und Rusch erscheinen auf einer Welle von Privatgeschichten. Obwohl um das Jahr 2000 literarische Texte der Entgrenzten Generation zahlenmäßig überwiegen und auch aus diesen Kreisen die jungen Erfolgsautoren stammen, führen sie im Gegensatz zu dem Band Jana Hensels Zonenkinder (2002) nicht zu einer Debatte um die Lage dieser Generation. Werden Mauerkinder in den darauf folgenden Jahren immer schweigsamer, scheinen Einheitskinder in der öffentlichen Debatte – etwa im Jubiläumsjahr 2009 – an Bedeutung zu gewinnen. Durch ihre Wortmeldungen manifestieren sie ihre Position. Durch ihre Texte scheinen sie auf eine Korrektur der Erinnerungslandschaft zu zielen. Wieder tauchen individuelle Geschichten eines verlorenen Paradieses auf, ohne den historischen Kontext des Diktatursystems mitzuberücksichtigen. Daraus mag sich auch Geipels Reaktion ergeben haben, die sich in ihrer Contra-Position zu den Wende-Kindern von den Erzählungen Jakob Heins und Claudia Ruschs deutlich unterscheidet. Nun verweist dieser Fall auf einen einschränkenden Aussagewert von Begriffen, wenn sie isoliert verwendet werden. Allein die Frage nach einer generationsspezifischen Sicht liefert ein unvollständiges oder gar entstelltes Bild, solange sie nicht kontextualisiert wird. Die Zeit der literarischen Stellungnahme wie auch die Dominanten des öffentlichen Diskurses zum Zeitpunkt der Veröffentlichung scheinen in diesem Kontext Fragen zu beleuchten, die der Generationenbegriff allein nicht deckt. Differenzen ergeben sich nämlich nicht (allein) aus einer unterschiedlichen Zusammensetzung der sozialen Akteure – was auch ihrer Klassifizierung als Angehörige der Entgrenzten Generation im Wege stehen könnte –, sondern meines Erachtens aus der zeitbedingten Konstitution des öffentlichen Diskurses, dem gegenüber sie sich positionieren. So erscheint auch der Sound einer Generation nicht als Konstante, sondern als dynamische, zeitbedingte Kategorie.

9 Phantomschmerz der Wende-Kinder (1973–1984) Die ab Mitte der 1970er Jahre geborenen DDR-Kinder klassifiziert Bernd Lindner als Angehörige eines Generationszusammenhangs,1 der von dem Soziologen mit dem Epitheton „unberaten“ versehen wird. Es handelt sich um soziale Akteure, die in der DDR geboren und sozialisiert wurden, deren Kindheit und frühe Jugend – inklusive  der frühen Adoleszenzphase – mit dem Ende der DDR zusammenfallen.2 Als Schlüsselerlebnis erscheint die Nachwendezeit, die von allen Bürgern eine rasche Umstellung von sozialistischen Normen auf die Realität der freien Marktwirtschaft verlangte. Ich spreche bei dieser Generation von der Generation der Unberatenen, weil sie bei ihrer Gestaltfindung in dieser an gesellschaftlichen Umbrüchen reichen Zeit von allen Erziehungsträgern – privaten wie staatlichen – weitgehend allein gelassen worden ist.3

In der Nachwendezeit können sich die Angehörigen dieses Generationszusammenhangs auf ihre potentiellen erwachsenen Berater – sei es ihre eigenen Eltern, sei es Lehrer – nicht verlassen, weil sich diese in der neuen Realität selbst zurechtfinden müssen. Lindner verweist in diesem Kontext auf „eine soziologisch und sozialpsychologisch einmalige Situation: Nahezu alle Bürger […] fanden sich plötzlich in einer vergleichbaren Lage – auf der Stufe von ‚Grundschülern‘ – wieder.“4 Da die erwachsenen Bürger der ehemaligen DDR mit ihrem eigenen Leben beschäftigt waren, konnten sie schwer als Beratungsinstanzen fungieren. Die ratlosen Eltern konnten ihren ebenso ratlosen Kindern wenig helfen. So fehlte den jungen Ostdeutschen laut Lindner „die Möglichkeit solidarischer Rückversicherung.“5 Da der gesellschaftliche Umbruch und mit ihm der Umbau aller bisher bekannten Gesellschaftsstrukturen mit der Prägephase der Unberatenen zusammenfallen, kommt diesen Erfahrungen eine hervorragende Bedeutung zu, was neben Lindner auch Wolfgang Engler hervorhebt. 1 Den Geburtsjahrgang 1975 definiert Lutz Niethammer ebenfalls als eine Trennlinie. So entscheidet er sich im Falle von Kindern und Jugendlichen von damals nicht von einer Generation zu sprechen, sondern verweist auf ihre recht unterschiedlichen Grunderfahrungen: „Es gibt nicht die Generation der ‚Mauerfallkinder‘, sondern zwei in ihren Grunderfahrungen und Perspektiven deutlich geschiedene Kohorten, die grob durch den Jahrgang 1975 geschieden werden: Die davor Geborenen sehen die ‚Wende‘ aufgrund einer bereits differenzierten Wahrnehmung der Gesellschaft der DDR überwiegend als Öffnung und Chancen, […]. Bei den danach Geborenen dominiert der Verlust einer geborgenen Kindheit und eine verzögerte Latenz, die von zunehmender Ablehnung der neuen (Un-)Ordnung und einer anhaltenden Sinnsuche geprägt ist.“ (Lutz Niethammer: Die letzte Gemeinschaft. Über die Konstruierbarkeit von Generationen und ihre Grenzen. In: Weisbrod (Hg.): Historische Beiträge zur Generationsforschung, S. 34). 2 Vgl. Bernd Lindner: Die Generation der Unberatenen, S. 95. 3 Bernd Lindner: Die Generation der Unberatenen, S. 93–94. 4 Bernd Lindner: Die Generation der Unberatenen, S. 101–102. 5 Bernd Lindner: Die Generation der Unberatenen, S. 103. https://doi.org/10.1515/9783110710793-009

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Wiederholt gewinnt man den Eindruck, daß die Heranwachsenden in weit höherem Grade als zu DDR-Zeiten sich selbst überlassen sind und dies in einem für ihre Entwicklung außerordentlich kritischen Moment.6

Der psychologische Ablösungsprozess, der in der Adoleszenzphase verläuft, scheint im Falle dieses Generationszusammenhangs gestört worden zu sein. Vera King charakterisiert den Verlauf der Verselbständigung, die nicht auf eine bloße Trennung von den Eltern zielt, sondern als Balanceakt zwischen Autonomie und Bindung fungiert und dementsprechend als Dreischritt von „Trennung, Umgestaltung und Neuschöpfung“7 aufgefasst werden kann. In diesem Prozess erscheinen Erwachsene als Orientierungshilfen unentbehrlich. Adoleszente sind noch im Werden begriffen, sie sind auch in ihrem Trennungs- und Verselbstständigungsprozess noch auf Erwachsene angewiesen, auch wenn sie dies oft nicht wahrhaben wollen. Sie sind in ihrer Subjektwerdung noch leicht störbar und verletzlich. Gleichwohl müssen sie, um selbstständig werden zu können, im psychischen und teilweise auch im sozialen Sinne insbesondere die Eltern von ihren angestammten Plätzen drängen.8

Der Verlauf der Ablösung, deren Mechanismen King aus psychologischer Sicht beschreibt, scheint im Falle der noch in der DDR geborenen Kinder aber gestört worden zu sein, weil ihre Eltern in dem vereinten Deutschland von ihren Rollen als ‚Koordinatenachse‘ quasi entlassen wurden, noch bevor sie von den eigenen Kindern abgelöst werden konnten. Die in diesem Sinne „relevanten Erwachsenen“9 scheinen in der Nachwendezeit nicht mehr im Stande zu sein, die Grundbedingungen einer ungestört verlaufenden Adoleszenz zu sichern, d.h. – um sich auf die Auslegung von Vera King nochmals zu berufen – „einen sicheren Hafen zu bieten, der Vertrauen und Kraft verleiht, den Gang hinaus in die Welt zu wagen.“10 So empören sich die Unberatenen kaum über ihre Eltern. Statt gegen die Eltern zu rebellieren, zeigen diese jungen Ostdeutschen eine solidarische Haltung der älteren Generation gegenüber.11 Die Sorge um die von der Arbeitslosigkeit bedrohten oder aber um die bereits arbeitslosen Eltern12 und der Außendruck scheinen die Familien zusammenzuschweißen.13 Die Elterngeneration wird allerdings in den letzten Jahren immer häufiger aufgefordert, die eigene Vergangenheit zur Sprache zu bringen, worauf – wie im vorausgegangenen Kapitel geschildert wurde – bereits Ines Geipel in Generation Mauer 6 Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, S. 63. 7 King: Adoleszenz und Ablösung im Generationenverhältnis, S. 14. 8 King: Adoleszenz und Ablösung, S. 14. 9 King: Adoleszenz und Ablösung, S. 15. 10 King: Adoleszenz und Ablösung, S. 15. 11 Vgl. Lindner: Die Generation der Unberatenen, S. 105. 12 Vgl. Lindner: Die Generation der Unberatenen, S. 104. (Vgl. auch Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, Kapitel „Herausforderung und Antwort. Warum es nach 1989 nicht zum Streit der Generationen kam und wie die Jüngeren den Umbruch verarbeiteten“, S. 41–70). 13 Vgl. Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, S. 69.

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verwies. Der von ihr herbeizitierte Johannes Staemmler ist nicht das einzige empörte Kind der ehemaligen DDR-Bürger, der auf ein Generationengespräch pocht. Um das Jahr 2005 erscheinen auch andere appellartige Texte, die nicht mit der Elterngeneration als Täter oder Verbrecher – wie es etwa in der Bundesrepublik der 1960er Jahre passierte – abrechnen, sondern die ‚Verlierer‘ zur Sprache bringen wollen.14 Beinahe programmatisch klingt der Titel des in Freitag abgedruckten Artikels „Wir, die Unberatenen. Brief an meinen Vater und seinesgleichen im Osten. Hebt die Köpfe und schaut uns in die Augen“ (2005)15 von Max Maihorn, der seinen Text in der Überzeugung verfasst, im Namen vieler zu sprechen. Alles, was ich hier aufschreibe, könnte ich meinen Eltern auch einfach sagen. Ich weiß, dass sie mir zuhören und jede Frage beantworten, jede Bitte erfüllen würden. Aber erstens kann man viele Dinge nicht so sagen wie schreiben, und zweitens bin ich nicht allein mit diesen Gedanken. Viele in meinem Umfeld, irgendwann zwischen `75 und `85 in der DDR geboren, fühlen die gleiche Unruhe. So ist das, was ich zu sagen habe, vielleicht auch interessant für viele andere der Elterngeneration.16

Als Angehöriger der Generation der Unberatenen, was Maihorn ausdrücklich betont,17 beschreibt er die Folgen der Transformation, nämlich die orientierungslosen Kinder, die ihre verzweifelten Eltern beobachten. Es wird aber keine Anklage formuliert. Im Gegenteil, die Eltern werden ermuntert, ihre Köpfe zu heben und mit Stolz ihre Kinder zu betrachten: Hebt die Köpfe und schaut uns in die Augen. Alles Gute, was ihr dann seht, ist durch euch. Das Wissen, die guten Grund- und Vorsätze und das Gespür für Recht und Unrecht, Lüge und Wahrheit. Darauf seid stolz. Nur den festen Glauben an die Möglichkeit einer Veränderung suchen wir in euren Augen zu oft vergeblich. Ihr habt viel getan für eure Träume, und sie wurden euch zertrampelt. Wir erwarten von euch keinen jugendlichen Kampfeseifer. Aber helft uns. Erzählt von euren Illusionen, davon, war ihr dafür getan habt, und bitte auch davon, was ihr bereut, nicht getan zu haben. Erzählt uns von den wenigen Siegen und den vielen Enttäuschungen.18

Derartige Aufmunterung wird allerdings nicht in der Nachwendezeit formuliert. Damals waren die Unberatenen noch zu jung, um sich einen Überblick zu verschaffen. Damals wie heute blieben sie ihren von der Transformation überlasteten Eltern 14 Vgl. Ahbe/ Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 566. 15 Max Maihorn: Wir, die Unberatenen. Brief an meinen Vater und seinesgleichen im Osten. In: Der Freitag (21.01.2005), URL: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/wir-die-unberatenen (letzter Zugriff: 30.03.2019). 16 Maihorn: Wir, die Unberatenen. 17 Der Autor artikuliert allerdings nicht ein Generationsbewusstsein, sondern bezieht sich auf eine gängige Formel. Die Beschreibung wie der Begriff lassen an die Studien von Bernd Lindner denken: „Man nennt uns die ‚Generation der Unberatenen‘, weil wir in der Lebensphase, in der man sich mit Hilfe der Eltern von eben diesen lösen sollte, in eine Welt hineingestoßen wurden, in der sich die Alten genauso wenig auskannten und zurechtfanden wie wir Jungen.“ (Maihorn: Wir, die Unberatenen). 18 Maihorn: Wir, die Unberatenen.

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ergeben und selbst derartige Appelle im Jahr 2005 werden nicht als Forderungen, sondern als Bitten formuliert. Sie scheinen nicht auf eine Abrechnung – wie etwa im Falle der westdeutschen 68er – zu zielen, sondern auf eine Rekonstruktion der Vergangenheit, und zwar der eigenen und der ihrer Eltern. Es wird nicht abgerechnet, sondern aufgewertet. Diesen fehlenden Puzzlesteinen kommt nämlich eine identitätsstiftende Funktion zu. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern darf mit dem Generationenvertrag verglichen werden, der in den Einwandererfamilien gelte. Da das Leben in der Fremde an sich nicht leicht ist, kann sich die Familie keine weiteren Konflikte leisten. Zu diesem Schluss kommt Der Spiegel bereits im Jahre 1997. Statt die vorhandenen Ressourcen für Konflikte zu verschwenden, „organisieren die Eltern durch Zuspruch und finanziellen Rückhalt möglichst gute Aufstiegsbedingungen für ihre Kinder, die schaffen sollen, was ihnen noch verwehrt bleibt: Wohlstand und Erfolg.“19 Wird die Bedeutung der Familienbande mitberücksichtigt, erscheint die von Lindner gestellte Diagnose zwar nicht ganz unberechtigt, scheint allerdings die Komplexität der Lage alleine auf den Beratungsdefizit zurückzuführen und dabei auch die familiäre Unterstützung – auch wenn nicht immer zufriedenstellend – übersehen zu haben. Vielmehr spricht einiges dafür, daß die Auswirkungen der schlechten Lage in Ostdeutschland gerade durch innerfamiliäre Unterstützung und Beratung kompensiert worden sind. Die ostdeutschen Wende-Kinder schreiben ihren Eltern bisweilen sogar mehr Beratungskompetenz als die westdeutschen Gleichaltrigen zu […].20

Aus diesem Grunde entscheiden sich die hier zitierten Thomas Ahbe und Rainer Gries das von Lindner vorgeschlagene Label aufzugeben und mit dem Begriff Wende-Kinder einer erweiterten Perspektive Ausdruck zu verleihen. Es geht in der Diskussion um die Namensgebung allerdings nicht um das Label alleine, sondern um eine mit ihm gestellte Diagnose, die eine Orientierung ermöglichen soll, worauf auch Lindner selbst verweist. Zugleich aber geben diese Wortmarken den Generationen eine „Hausnummer“ und damit für die Sichtung des historischen wie empirischen Materials eine Lesart vor, die für die Strukturierung des Ganzen – bei aller Unvollkommenheit im Detail – von zentraler Bedeutung ist.21

So entscheiden sich Ahbe und Gries von Wende-Kindern zu sprechen, weil der rasche Umgestaltungsprozess in allen Lebensbereichen einen tiefen Einschnitt in der Biographie der Kinder von damals hinterließ und zu einer Schlüsselerfahrung wurde.22 Ihre Konstruktion dieses Generationszusammenhangs wird auf Ergebnisse 19 Jugend Ost. Zwischen Chaos und Karriere. In: Der Spiegel 48 (1997), S. 76, URL: https://magazin. spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/9075186. (letzter Zugriff: 19.11.2019). 20 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 560. 21 Lindner: Die Generation der Unberatenen, S. 98. 22 Vgl. Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 66.

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gesamtdeutscher Jugendstudien zurückgeführt.23 So werden auch die Geburtsjahrgänge präzisiert. Als Wende-Kinder gelten die zwischen 1973 und 1984 in der DDR Geborenen. Für die Wende-Kinder bedeutete die Revolution nicht nur Abschied von einer vertrauten Welt, sondern auch von „einer behüteten Kindheit“.24 Die1990er Jahre hatten für die Wende-Kinder eine andere Erlebnisdichte als für ihre Gleichaltrigen aus den alten Bundesländern, d.h. die gleiche Zeitspanne sei in unterschiedlicher Geschwindigkeit wahrgenommen worden.25 Ihre Lage war aber recht ambivalent, so dass Ahbe und Gries kein homogenes Bild der Wende-Kinder zu zeichnen vermögen. Diejenigen, die 1990 noch Kinder waren, „erlebten die Welt des real existierenden Sozialismus bis zur Pubertät noch als vollkommen geordnet.“26 So verloren sie mit dem Umbruch einen geordneten, friedlichen Lebensrahmen, wurden ihrer behüteten Welt beraubt. Sie besinnen sich auf ihr Leben in der DDR als eine problemlose Zeit zurück. Der Alltag ihres kindlichen Lebens war durchgeplant und erfüllt. Diese Erfahrungen werden sie Jahre nach der Wende positiv in den Sinnhorizont ihres Lebens integrieren: Ihre Kindheit und Schulzeit in der DDR wird von ihnen in der Erinnerung gerne als eine schöne und problemlose Zeit der Ordnung und der Sicherheit, der Geborgenheit und der Gemeinschaft beschrieben.27

Schwieriger war die Lage der älteren Wende-Kinder, die in vielen Entscheidungen allein gelassen wurden. Für sie begann mit der ,Wende‘ eine recht turbulente Zeit.28 Wieder entscheiden die wenigen Jahre Altersunterschied über Herausforderungen und Chancen, worauf Lutz Niethammer im Zusammenhang mit den „Zonenkindern“ – so wird dieser Generationszusammenhang in einem FAZ-Artikel unter dem Einfluss des Bandes von Jana Hensel genannt – explizit zu sprechen kommt.29 Die ältesten Wende-Kinder nutzen zwar die sich mit dem Umbruch bietenden Möglichkeiten, das Bild ist jedoch widersprüchlich. Die Studien belegen etwa Mitte der 1990er Jahre, dass bis zu 70 Prozent der Jugendlichen in Ostdeutschland „selbständig, leistungsorientiert, diszipliniert, flexibel“30 seien. Nicht alle haben die neuen Chancen mühelos genutzt, wie es den Statistiken zu entnehmen ist. Nun zeichnet Der Spiegel 1997 ein zwiespältiges Porträt der ostdeutschen Jugend.

23 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 556. 24 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 557. 25 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 559 (Fußnote 221). 26 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 558. 27 Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 558. 28 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 558. 29 Vgl. Lutz Niethammer: Im Osten entsteht vielleicht eine radikale Jugendbewegung. Interview. In: TAZ (10.01.2004), URL: http://www.taz.de/1/archiv/?dig=2004/01/10/a0167 (letzter Zugriff: 30.04.2010). 30 Jugend Ost, S. 71.

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Widersprüchlicher kann das Bild nicht sein: Hier der deutsche Osten als Reservat tumber Horden, die besoffen, grölend und prügelnd durch noch immer nicht erblühte Landschaften ziehen – dort die Kinder der DDR, die den Wandel von der Einheitsjugend zum marktwirtschaftskompatiblen Hochgeschwindigkeitsnachwuchs scheinbar mühelos geschafft haben.31

Das „Gewinn- und Verlust-Erleben“ sehen Ahbe und Gries im Falle der Wende-Kinder auch ambivalenter als bei anderen DDR-Generationen.32 Auf die Bilanz der ,Wende‘ hatten nicht nur persönliche Dispositionen, sondern auch Milieuzugehörigkeit und Familienverhältnisse Einfluss.33 Dieser von der Unsicherheit gezeichnete Generationszusammenhang wirft mit seinen schriftlich verfassten Lebensgeschichten neues Licht auf seine ,Erfolgsgeschichte‘. Aus nachvollziehbaren Gründen versuchen sie seit nunmehr über 15 Jahren, Ordnung und Stabilität in ihr Leben zu bringen, aber auch im Rückblick einen Überblick über das umwälzende Gesamtgeschehen zu gewinnen und einen Sinn darin zu finden. Daher kommt es wohl auch, dass sich Vertreter gerade dieser Generation in auffällig großer Zahl mit publizistischen und literarischen Texten der eigenen Geschichte stellen und der ‚Sturzgeburt‘ ihres Erwachsenenwerdens widmen.34

Auf dem Buchmarkt erscheinen tatsächlich einige autobiographische Bände, die die Kindheit und Jugend in der DDR zu rekonstruieren versuchen. Es handelt sich nicht um eine große Lebensbilanz, sondern eher um Archivierung von Erlebnissen und Sozialisationsbedingungen, die die Protagonisten mitgeprägt haben, im öffentlichen Diskurs des vereinten Landes jedoch nicht zum Tagesthema werden. Die wohl prominenteste Vertreterin der WendeKinder ist Jana Hensel, die durch ihr Sachbuch Zonenkinder zum Sprachrohr ihrer Generation ernannt wurde. Die als Expertin für ostdeutsche Angelegenheiten geltende Autorin und Journalistin meldet sich immer wieder zu Wort in ihren Artikeln, Interviews und Büchern. Ihr folgt – neben zahlreichen publizistischen Texten oder auch Podiumsdiskussionen – eine Reihe autobiographischer Reflexionen von weniger bekannten Gestalten wie etwa Daniel Wiechmanns Immer bereit! (2004), Michael Tetzlaffs Ostblöckchen. Neues aus der Zone (2004), Andrea Hanna Hünnigers Das Paradies. Meine Jugend nach der Mauer (2011) oder auch Sabine Rennefanz‘ Eisenkinder. Die stille Wut der Wendegeneration (2013). Die Lage der Generation bringt Bernd Lindner wie folgt auf den Punkt: Die „Zonenkinder“ sind halt nicht uneingeschränkt die „ersten Wessis aus dem Osten“, wie Jana Hensel sich und ihre Generation immer wieder in Interviews nennt. Ihr eigenes Buch ist da vielschichtiger, beschreibt es doch eindrucksvoll neben den angestrengten Versuchen dieser Generation, ihre östliche Herkunft abzustreifen, um im Westen anzukommen, den Phantomschmerz, den die entschwundene Gesellschaft ihrer Kindheit ihnen hinterlassen hat […].35

31 Jugend Ost, S. 71. 32 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 559. 33 Vgl. Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte, S. 559. 34 Ahbe/Gries: Geschichte der Generationen der DDR, S. 67. 35 Lindner: Die Generation der Unberatenen, S. 112.

9.1 ‚Heimatmuseum‘ der Zonenkinder (2002) 

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9.1 ‚Heimatmuseum‘ der Zonenkinder (2002). Jana Hensels Antwort auf die westdeutsche „Generation Golf“ Bis zu ihrem Erfolgsbuch Zonenkinder aus dem Jahre 2002 war Jana Hensel der breiten Öffentlichkeit eher wenig bekannt. Die 1976 in Leipzig Geborene hatte sich zwar als Journalistin schon einen Namen gemacht, der Durchbruch kam aber erst mit ihrem autobiographischen Band Zonenkinder, der rasch zum Bestseller wurde und für mediale Debatten sorgte, die kaum mit anderen Auseinandersetzungen um die jüngste (ost)deutsche Literatur zu vergleichen sind.36 Damit scheint auch Hensels Karriere als Fachfrau für ostdeutsche Angelegenheiten begonnen zu haben.37 Dem Debütband folgen nämlich weitere Bücher, 2009 erscheint u.a. Achtung Zone. Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten, 2018 (zusammen mit Wolfgang Engler) Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein. Inzwischen kommentiert Hensel regelmäßig die (ost)deutsche Realität in zahlreichen Beiträgen. Sie wird als Kommentatorin zu Radio- und Fernsehinterviews eingeladen. So avanciert sie in kurzer Zeit von einer jungen ostdeutschen Debütantin zum Sprachrohr nicht nur ihrer Altersgenossen im Osten, sondern der schweigenden und verschwiegenen Minderheit der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die einen Teil ihres Lebens in der DDR verbracht hatte. Dass sich Jana Hensel in der Öffentlichkeit nicht profiliert, erscheint vor dem Hintergrund ihres als Generationsbuch konzipierten Bandes ausschlaggebend. Sie 36 Den Einblick in die beeindruckende Fülle der Rezensionen gibt der Band Die Zonenkinder und Wir. Der Herausgeber Tom Kraushaar sammelt einige Buchbesprechungen, Kommentare und Leserbriefe, die kurz nach dem Erscheinen des Buches – sei es in Zeitungen und Zeitschriften, sei es im Internet – veröffentlicht werden. Sie zeigen auch, wie widersprüchlich das Buch wahrgenommen wurde. (Vgl. Tom Kraushaar (Hg.): Die Zonenkinder und Wir. Die Geschichte eines Phänomens. Mit einem Nachwort von Moritz Baßler. Reinbek bei Hamburg 2004). Der Band – wie im Klappentext erläutert wird – „beschreibt die ungewöhnliche Geschichte der Wirkung und Rezeption eines Buches. Wie kaum ein anderes Buch in den letzten Jahren hat Jana Hensels Zonenkinder zur Entstehung und Ausbreitung einer öffentlichen Debatte beigetragen.“ (S. 2) Auf die Rezeption von Zonenkinder kommt auch Katrin Löffler explizit zu sprechen, die ihr Zonenkinder-Kapitel mit dem Hinweis auf die Verbreitung des Bandes eröffnet: „Kaum ein Buch, das sich mit dem Erleben und Verarbeiten der Wende beschäftigt, hat so viel Aufmerksamkeit geweckt wie Jana Hensels 2002 erschienene Zonenkinder.“ (Löffler: Systemumbruch und Lebensgeschichte, S. 126). Jerker Spits dagegen liefert in seiner Dissertation einen Überblick über die Rezeption der Zonenkinder. Zonenkinder sei im Vergleich zu Generation Golf auch schärfer kritisiert worden und die Kritik sei häufiger gegen die Autorin persönlich gerichtet worden. (Vgl. Jerker Spits: Fakt und Fiktion. Die Autobiographie im Spannungsfeld zwischen Theorie und Rezeption. Dissertation. Leiden 2008, URL: https://openaccess.leidenuniv.nl/bitstream/handle/1887/12931/Thesis.pdf?sequence=1, letzter Zugriff: 28.05.2019). 37 Hensels Buch wurde im öffentlichen Diskurs von Anfang an als ein Generationenporträt wahrgenommen. Der Text wurde als Sachbuch klassifiziert, was auch Hensel entsprechend positionierte. (Vgl. Scarlet M.S. Christiansen: Jana Hensels Zonenkinder. In: Text & Kontext 37 (2015), S. 103).

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bleibt eine Art jedermann, was sie desto mehr dazu zu berechtigen scheint, im Namen ihrer Alters- und Schicksalsgenossen zu sprechen. Sie beabsichtigt weder den Werdegang eines im Namen des Sozialismus engagierten DDR-Bürgers noch eines Dissidenten darzustellen. Als eine aus der Masse kommende (im Jahre 2002 noch relativ unbekannte) Gestalt artikuliert sie das – um sich erneut auf die Eisberg-Metapher Thomas Ahbes zu berufen – unter der Wasseroberfläche versteckte Narrativ junger Ostdeutscher und stellt es dem erfolgreich vermarkteten Generationsporträt der westdeutschen „Generation Golf“ gegenüber. Zonenkinder ist nämlich als ein identitätsstiftendes Werk konzipiert, das mit Absicht an den zwei Jahre zuvor veröffentlichten Bestseller von Florian Illies Generation Golf. Eine Inspektion anknüpft.38 Darauf kommt Hensel in einem Interview explizit zu sprechen: In der Nachfolge von Generation Golf wurde im Feuilleton unglaublich viel über die Probleme und Nöte, Zwänge und Prägungen dieser Generation geschrieben, dabei fiel niemandem auf, dass da das halbe Land nicht vorkam. Und in diese Lücke hinein habe ich mein Buch geschrieben.39

Selbst der Aufbau des Buches erinnert sehr stark an den Text von Illies. Beide Texte bestehen aus jeweils acht Kapiteln – die mit einer eher metaphorischen Überschrift und einer darunter stehenden Konkretisierung versehen werden –, in denen ein „Wir“-Gefühl der gemeinten Generation manifestiert und ihre Grunderfahrungen rekonstruiert werden.40 Wie unterschiedlich die Ausgangslage der beiden Generationen auch ist – was durch die gewählte Parallelstruktur noch deutlicher hervorgehoben wird –, zeigt bereits der verlegerische Peritext. So bringt der Klappentext von Generation Golf die Selbstpositionierung der gemeinten Generation auf den Punkt und gibt einen umfassenden Einblick in die Struktur der hiermit (re)konstruierten Identität. Die achtziger Jahre waren das langweiligste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Nicole sang von ein bißchen Frieden, Helmut Kohl nahm ein bißchen ab und wieder ein bißchen zu, Kaffee hieß plötzlich Cappuccino und Raider Twix. Aber sonst änderte sich nix. Noch ahnte man nicht, daß man einer Generation angehörte, für die sich leider das ganze Leben, selbst an Montagen, anfühlte wie die träge Bewegungslosigkeit eines Sonntagnachmittags. Ja, noch ahnte man nicht einmal, daß man einer Generation angehörte.

38 Vgl. Norkowska: Adoleszenz im Zeichen eines politischen Umbruchs, S. 477. 39 Hensel im Interview mit Tom Kraushaar. In: Zonenkinder und Wir. Die Geschichte eines Phänomens, hg. von Tom Kraushaar. Reinbek bei Hamburg 2004, S. 94. 40 Während Jakob Hein in Mein erstes T-Shirt eine ostdeutsche Jugend schilderte, die von Erlebnissen westdeutscher Altersgenossen nicht weit entfernt war, (re)konstruiert Hensel einen „Kindheitsraum als kulturell differenten“. (Elke Brüns: Generation DDR? Kindheit und Jugend bei Thomas Brussig, Jakob Hein und Jana Hensel. In: Andrea Geier/Jan Süselbeck (Hg.): Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generationenfragen in der Literatur seit 1990. Göttingen 2009, S. 95).

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Irgendwann fuhr dann plötzlich auch über die Straßen unserer Provinz ein erstes dunkelblaues Golf Cabrio. In diesem Auto saß schon damals eine junge blonde Frau mit Sonnenbrille und Barbour-Jacke. Dieses dunkelblaue Cabrio wies uns den Weg, heraus aus der Ödnis der achtziger Jahre, hin zum „Weil ich es mir wert bin“ der neunziger. Dem Jahrzehnt, in dem wir, die zwischen den Baujahren 1965 und 1975 Geborenen, dann endlich selbst hinters Steuer durften. So wurden wir ganz automatisch zur „Generation Golf“. Was eigentlich als Definition eines automobilen Lebensgefühls gedacht war, wurde zum passenden Polsterüberzug für eine ganze Generation.41

Die 1990er Jahre erscheinen im Erfahrungshorizont junger Ostdeutscher im Gegensatz zu ihren westdeutschen Pendants unstabil, voll von einer historischen Dynamik, die ihr eigenes Leben unmittelbar beeinflusste. Veränderungen unterlagen nicht nur ein paar Markennamen, sondern eine ganze Reihe der Bezugsgrößen wurde einer neuen Semantik unterworfen. Selbst der Montag hat für die Ostdeutschen eine andere Konnotation. Nicht zufällig eröffnet Hensel ihr Buch mit der Erinnerung an eine der Montagsdemonstrationen.42 Auf diesen Unterschied verweist ebenfalls Melanie Fröhlich in ihrem Beitrag zum „Erzählen aus dem Bruch – neue Stimmen deutscher Gegenwartsliteratur“: „Während Illies ein mediales Szenario der Geborgenheit aufbaut, beginnt Hensel ihre Geschichte unmittelbar mit dem Bruch in ihrer Biographie, der das Ende ihrer Kindheit und desjenigen der DDR bedeutet und ihr Erzählprogramm bestimmt.“43 In dem Narrativ der „Generation Golf“ – das durch seinen Verkaufserfolg droht, sich in der Öffentlichkeit als einzig gültige Fassung der Geschichte durchzusetzen – fehlen die DDR, der politische Umbruch, die Wiedervereinigung, als hätte es sie nie gegeben – was insofern stimmt, dass sie nicht zum Erfahrungshorizont der gezeichneten Generation gehörten. Stößt der Leser bei Illies auf ein harmonisches und sorgloses Porträt der zwischen 1965 und 1975 geborenen Bundesbürger, entdeckt er bei Hensel ein Bild junger ostdeutscher Bundesbürger, dessen Prägeerfahrungen in unstabilen Rahmenbedingungen situiert werden sollen. Hensels Debüt Zonenkinder erscheint im Rowohlt Verlag und wird auch schnell als Taschenbuch herausgegeben. Der Band steht als „Sachbuch“ lange auf der Spiegel-Bestsellerliste,44 was bedeuten kann, dass eine ostdeutsche Geschichte auf dem gesamtdeutschen Literaturmarkt angekommen ist. Von Anfang an wird das Buch jedoch recht unterschiedlich im Osten und im Westen wahrgenommen, worauf Der Spiegel gelegentlich der Leipziger Buchmesse 2003 verweist.

41 Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion. Frankfurt a.M. 122009 (vordere Klappe). 42 Vgl. Jana Hensel: Zonenkinder. Reinbek bei Hamburg 2004, S. 11. Im Folgenden werden Zitate als Sigle JHZ mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen. 43 Melanie Fröhlich: Erzählen aus dem Bruch – neue Stimmen deutscher Gegenwartsliteratur. In: Elize Brisanz (Hg.): Diskursive Kulturwissenschaft. Analytische Zugänge zu symbolischen Formationen der pOst-Westlichen Identität in Deutschland. Münster 2005, S. 29. 44 Vgl. Spiegel-Bestsellerliste, 1. Halbjahr 2003, URL: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/28731605 (letzter Zugriff: 6.04.2019).

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Im Westen umschwärmt, im Osten beschimpft: Die 1976 in Leipzig geborene Jana Hensel hat mit ihren Kindheitserinnerungen Zonenkinder, die im September vergangenen Jahres bei Rowohlt erschienen, einen Riesenerfolg – und überraschende Schwierigkeiten: Von westdeutschen Kritikern wird ihr zwischen Sachbuch und Roman angesiedeltes Debüt bestaunt und als notwendige Ergänzung zu Florian Illies‘ westdeutscher Generation Golf gelobt. Rezensenten aus dem Osten werfen ihr dagegen vor, ihr Buch sei unpolitisch und stehe einer ernst gemeinten Aufarbeitung der DDR-Geschichte im Weg.45

Nicht ohne Grund werden also auf dem Umschlag der Taschenbuchausgabe nicht ostdeutsche Buchbesprechungen zitiert, sondern lobende Worte von westdeutschen Kritikern. So bemerkt Der Spiegel, dass Hensel „der ersten gesamtdeutschen Generation“ ein Denkmal gesetzt habe. Ihr Schreibstil wird als lakonisch, leicht und transparent gepriesen (vgl. JHZ Rückseite des Covers). Angeboten wird „[e]in Bericht aus einem Land, fremder als der Mond“ (JHZ Rückseite des Covers) – lautet die Charakteristik von Elke Heidenreich –, was jedoch nur auf westdeutsche Leser zutreffend erscheinen mag. Wenn auch im Titel keine Gattungsattribution angeboten wird, bereitet der verlegerische Peritext auf dem Cover dem autobiographischen Pakt den Weg. Die Autorin erzähle von ihrem Leben, d.h. das erzählende wie das erzählte Ich dürfen mit dem auf dem Titelblatt abgedruckten Namen Jana Hensel gleichgesetzt werden, auch wenn im fortlaufenden Text die Personalangaben fehlen. Die Lage des erzählten Ich wird ebenfalls skizziert. Jana Hensel war dreizehn, als die Mauer fiel. Von einem Tag auf den anderen war ihre Kindheit zu Ende. Die vertrauten Dinge des DDR-Alltags verschwanden gleichsam über Nacht – plötzlich war überall Westen, die Grenze offen, die Geschichte auch. Eine ganze Generation machte sich daran, das veränderte Land neu zu erkunden. Jana Hensel erzählt von ihrem Leben in der Schwebe zwischen Ost und West. (JHZ Rückseite des Covers)

Bereits im Paratext wird eine Generationsperspektive eröffnet. Im Zentrum sollen dementsprechend junge Ostdeutsche stehen, deren Ende der Kindheit mit dem Ende der DDR zusammenfällt. Ihr Leben wird weder im Osten noch im Westen situiert, sondern in einem ‚Zwischenraum‘, der im Titel als „Zone“ konkretisiert wird. Es handelt sich nicht um den pejorativ konnotierten Zonen-Begriff als Synonym für die Sowjetische Besatzungszone, später die DDR, sondern als einen „kontaminierten Raum“ (JHZ 155) – wie das erzählende Ich fast gegen Ende des Buches erklärt –, in dem Hensel und ihre Generation aufgewachsen sind und in dem sie sich – nach langem Ringen – auch wohlzufühlen scheinen.

45 Vgl. Bushkrieger und Zonenkinder. Der Spiegel auf der Leipziger Buchmesse. In: Der Spiegel (17.03.2003), URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/der-spiegel-auf-der-leipziger-buchmessebushkrieger-und-zonenkinder-a-240666.html (letzter Zugriff: 6.04.2019).

9.1 ‚Heimatmuseum‘ der Zonenkinder (2002) 

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Die Deutsche Demokratische Republik war einfach noch nicht verschwunden. Sie hatte mit dem Fall der Mauer nicht, wie viele glaubten, ihren Hut genommen, sie war nicht weggegangen und hatte die Menschen an den nächsten, schon vor der Tür Wartenden abgegeben. Sie hatte sich nur verwandelt und war von einer Idee zu einem Raum geworden, einem kontaminierten Raum […]. Wir aber sind hier erwachsen geworden. Wir nennen diesen Raum, fast liebevoll, die Zone. Wir wissen, dass unsere Zone von einem Versuch übrig geblieben ist, den wir, ihre Kinder, fast nur aus Erzählungen kennen und der gescheitert sein soll. Es gibt hier heute nur noch sehr wenig, was so aussieht, wie es einst ausgesehen hat. Es gibt nichts, was so ist, wie es sein soll. Doch langsam fühlen wir uns darin wie zu Hause. (JHZ 155)

Nun liefert der Band die Rekonstruktion der Identitätssuche junger Ostdeutscher. Das Buch scheint auch den Versuch zu unternehmen, „[e]ine Kindheit vor dem Verschwinden zu retten – wie die im Klappentext zitierte Besprechung in Emma konstatiert – und somit das kollektive Gedächtnis der ‚Wendekinder‘ zu archivieren […]“ (JHZ 2). So schlägt die Ich-Perspektive bereits im verlegerischen Peritext in eine WirStimme über, die eine Art Bestandsaufnahme akribisch zu erstellen versucht. Nun stützt sich die Erzählerin im Gegensatz zu den Sozialwissenschaftlern nicht auf empirische Studien, sondern präsentiert ein subjektives Wir-Gefühl, ohne die gemeinten Akteure präzise zu definieren. Der Klappentext liefert aber außer den bereits genannten lobenden Worten noch eine weitere Empfehlung einer prominenten Gestalt des öffentlichen Lebens, der ostdeutschen Erfolgsfrau schlechthin, nämlich Angela Merkel, die das Potential des Buches darin erkennt, dass er „zum Überwinden eines großen Missverständnisses der deutschen Einheit beitragen könnte.” (JHZ 2) Der vermeintliche Trugschluss wird nicht näher präzisiert. Viel wichtiger ist aber die Anerkennung der Bundeskanzlerin, einer erfolgreichen Frau mit ostdeutscher Sozialisation, die für den Wahrheitsgehalt des Buches zu bürgen scheint. Es klingt beinahe wie ein Empfehlungsbrief. Die Frauenperspektive fällt im Paratext übrigens auf. Neben den zitierten Merkel und Heidenreich wird der Standpunkt der feministischen Zeitschrift Emma angeführt. Die Geschichte ist letztendlich nicht nur von einer Frau geschrieben, sondern auch zwei Frauen gewidmet: „meiner Mutter, meiner Schwester“ (JHZ 5) lautet die lakonische Zueignung. Der Geltungsanspruch der autobiographischen Erzählung beschränkt sich jedoch nicht auf weibliches Schicksal, sondern handelt von einer ganzen Generation, ungeachtet des Geschlechts. Zum Motto wählt die Autorin zwei Zeilen aus dem Lied Trrrmmer der Hamburger Band Die Sterne:46 „Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten. / Wir fanden uns ganz schön bedeutend“ (JHZ 7). Im Zitat wird einer zerstörten Außenwelt das intakte Innenleben – höchstwahrscheinlich – junger Menschen gegenübergestellt. Bereits im  Motto wird die Wir-Perspektive entwickelt und so wird auch im Rückblick auf

46 Oskar Piegsa: Die Sterne. Interpretationen aus der Hölle. In: Zeit Hamburg 7 (2017), URL: https:// www.zeit.de/2017/07/die-sterne-jubilaeum-cover (letzter Zugriff: 9.04.2019).

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 9 Phantomschmerz der Wende-Kinder (1973–1984)

das bisherige Leben eine Art Bilanz gezogen.47 Das erzählte Ich zeichnet die Lebensgeschichte der Zonenkinder ebenfalls vor dem Hintergrund einer Trümmerlandschaft, in der sie sich einzurichten hatten: „Wir fühlten uns wie Könige. Auf den Trümmern begründeten wir unseren Staat.“ (JHZ 165) Skizziert wird die Aufstiegs- und Anpassungsgeschichte einer Generation, die den Systemwechsel erfolgreich durchmachte und in dem vereinten Land angekommen ist. Den gegenwärtigen Standpunkt bringt das erzählende Ich auf den Punkt: Wir sind die ersten Wessis aus Ostdeutschland, und an Sprache, Verhalten und Aussehen ist unsere Herkunft nicht mehr zu erkennen. Unsere Anpassung verlief erfolgreich, und wir wünschten, wir könnten dies ebenfalls von unseren Eltern und Familien behaupten. (JHZ 166)

In der Aufstiegsgeschichte der Zonenkinder, wenn auch erfolgreich, sind jedoch Verluste zu verbuchen. Mit der ,Wende‘ hätten sie nämlich die Welt ihrer Kindheit verloren. Ihre Pubertät hätten sie „in jenem geographischen Raum, der danach kam“, erlebt, d.h. weder in der DDR noch in der Bundesrepublik. „Wir sind die Kinder der Zone, in der alles neu aufgebaut werden musste […]. Die Wende traf uns wie ins Mark. Wir waren gerade zwölf, dreizehn, vierzehn oder fünfzehn Jahre alt.“ (JHZ 159–160)48 Auf den Trümmern der alten Welt erlebten die Zonenkinder, in dessen Namen das erzählende Ich sich zum Wort meldet, ihre Prägejahre, so dass der politische Umbruch mit seinen Konsequenzen als Prägeerfahrung einer ganzen Generation wahrgenommen werden darf. Diese Generation wird im Text sogar eindeutig als ein Konstrukt 47 Die zitierte Doppelzeile ist das Refrain des Liedes, das einen Verlustprozess zu verzeichnen scheint (oder aber einen Weg, in den Verlust wie auch Wechsel eingeschrieben zu sein scheinen). „So hübsch war’s auf dem Land“ lautet der erste Vers. Die heile Welt sei jedoch verschwunden, ohne dass das lyrische Ich ahnt, „warum es dann verschwand“. Die zweite Strophe eröffnet eine andere Perspektive. Hier wechselt das Klima. Die ländliche Idylle scheint durch eine Art Konsumlandschaft ersetzt worden zu sein. Genannt werden Produkte, Geldgeschäfte. Immer noch scheint das Gefühl der Zufriedenheit zu herrschen, denn „hier gab/ es gar nichts zu bemängeln. Produkte in den / Regalen. Auch in Töpfen oder Schalen./ Perfekter Service. Korrekte Preise. Nur die/ Lüftung summte leise.“ Die dritte und letzte Strophe verweist auf die Suche nach dem Sinn, nach der Richtung. „Es gab Gespräche über den Sinn. Und wir fragten/ uns andauernd wo das hinführt. Waren wir / Helden? Oder waren wir krank, bekloppt? Oder beides?.“ (Die Sterne. Die Liedtexte des Albums „Posen“, URL: http://molily. de/sterne/liedtexte-posen, letzter Zugriff: 23.04.2010). Den Text begleitet eine recht optimistisch und lebensfreudig klingende tanzartige Melodie und ein in Marseille gedrehtes Video, das junge Männer auf dem Weg zeigt, die schließlich in einer Villa landen, wo elegant gekleidete, wohlhabende Gesellschaft eine Party feiert, zu der sie anscheinend nicht eingeladen wurden. Zusammengestellt werden zwei kontrastierende Welten. („Trrrmmer“ – Video, URL: https://vimeo.com/12908887, letzter Zugriff: 9.04.2019). 48 Es handelt sich also um die Jahrgänge 1974–1977. Hensel begründet ihre These nicht. Es scheint sich mehr um Orientierungswerte als einen festen Zeitrahmen zu handeln. Gemeint sind aber – nicht anders als bei Ahbe und Gries – diejenigen, die ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen hatten, die noch Kinder bzw. Pubertierende waren. Dass es sich nicht um eine Parallelgeneration zu der Generation Golf handelt, liegt auf der Hand, wird aber weder im Buch noch in den Buchbesprechungen problematisiert.

9.1 ‚Heimatmuseum‘ der Zonenkinder (2002) 

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definiert, das stabilisierend wirken soll: „[d]as einzige Kontinuum unseres Lebens aber mussten wir selbst erschaffen:“ – heißt es im Buch – „Das ist unsere Generation. Nur die Erfahrung der letzten zehn Jahre und alle Freunde, die sie teilen, bilden unsere Familie.“ (JHZ 160–161) Vieles ist aus ihrem Leben verschwunden oder wurde vergessen, so dass ein Vakuum entstanden wäre, wenn nicht neue identitätsstiftende Ersatzobjekte gesucht worden wären. Der Text wird beinahe zu einer Entdeckungsreise stilisiert, die einer heimatlosen Generation – deren Anpassung an die neuen Spielregeln soweit erfolgreich verlief, dass ihre DDR-Wurzeln kaum zu erkennen sind – die fehlenden Puzzlesteine ihrer heraufbeschworenen ostdeutschen Identität herausgraben hilft. Ihre bisherige Lebensstrategie, die ihnen bereits zu DDR-Zeiten von den Eltern eingeimpft wurde, hieß: „schon vorher zu wissen, was man von mir verlangte“ (JHZ 91), d.h. die Spielregeln zu erkennen, sie sich einzuverleiben und sich zu fügen. So lernten sie auch in einem Crashkurs den westdeutschen Lebensstil, „Gesten, Begrüßungsfloskeln, Redewendungen, Sprüche, Frisuren und Klamotten“ (JHZ 61) nachahmen, um nicht aufzufallen. Den Lehrstoff beherrschten sie so erfolgreich, dass sie von ihren westdeutschen Altersgenossen kaum zu unterscheiden sind, dadurch aber auch beinahe gestaltlos geworden sind. Der Verlust scheint ihnen erst jetzt im Erwachsenenleben bewusst geworden zu sein. Wofür man mich hielt? In den letzten Jahren immer häufiger für einen Westler. Ich hatte meine Lektionen gelernt und war nicht mehr zu enttarnen. […] Meinen sächsischen Dialekt hatte ich mir abgewöhnt. Niemand konnte ihn mehr erkennen. Aber seltsamerweise machte es mich jedes Mal traurig, wenn jemand glaubte, ich sei aus Nürnberg oder Schleswig-Holstein. (JHZ 63–64)

Die vergessene bzw. verdrängte Vergangenheit in den eigenen Erfahrungshorizont zu integrieren, ist nicht leicht, weil auch keine Orientierungshilfen mehr da sind. Die DDR wurde nicht nur im Stadtbild wegsaniert. Nicht nur die alten Gebäude wurden übermalt und modernisiert, so dass eine sentimentale Entdeckungsreise in die Welt der Kindheit nicht mehr möglich erscheint. Verschwunden sind auch Jugendorganisationen und Zeitschriften, Fernsehsendungen und Schulsamstage (vgl. JHZ 15). Von einem Tag auf den anderen seien auch viele Termine abgeschafft worden, aus denen das Leben der DDR-Kinder bestand (vgl. JHZ 16). Die Überreste des alten Lebens wurden letztendlich aus der Sprache getilgt, indem sie an den westlichen Sprachgebrauch angepasst wurde: „Die Kaufhalle hieß jetzt [nach der ,Wende‘ – K.N.] Supermarkt, Jugendherbergen wurden zu Schullandheimen, Nickis zu T-Shirts und Lehrlinge zu Azubis.“ (JHZ 21) Der Auflösungsprozess war dem erzählten Ich wie seinen Altersgenossen damals nicht bewusst, so dass das erzählende Ich ihm erst im Rückblick auf die Schliche kommt und einen für seine Generation typischen Phantomschmerz äußert – der ‚entfernte‘ Teil der Identität stiftet innere Unruhe, die nur stillgelegt werden kann, indem das Vergessene in das Gedächtnis wieder integriert wird.

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Heute, mehr als zehn Jahre später und nach unserem zweiten halben Leben, ist unser erstes lange her, und wir erinnern uns, selbst wenn wir uns anstrengen, nur noch an wenig. […] Mich ängstigt, den Boden unter meinen Füßen nur wenig zu kennen, selten nach hinten und stets nur noch nach vorn geschaut zu haben. Ich möchte wieder wissen, wo wir herkommen, und so werde ich mich auf die Suche nach den verlorenen Erinnerungen und unerkannten Erfahrungen machen, auch wenn ich fürchte, den Weg zurück nicht mehr zu finden. (JHZ 14)

So besteht der Erzählvorgang in großem Maße aus einer langatmigen Aufzählung der neu entdeckten – dem eigenen Gedächtnis entnommen oder aber anhand von Fremderzählungen, Dokumenten und Fotos rekonstruierten – Generationsobjekte der Zonenkinder: Von den Montagsdemonstrationen (vgl. JHZ 13), über AG Popgymnastik, Junge Historiker, Künstlerisches Gestalten (vgl. JHZ 15), bis zu Pioniernachmittagen, zu denen sie mit „Halstuch und Käppi“ (JHZ 15–16) gingen. Genannt werden Fernsehserien wie Medizin ohne Noten, Jockey Monika, Das Krankenhaus am Rande der Stadt (vgl. JHZ 18), die Olsenbande49 als Kultfilm der Kinder im Osten (vgl. JHZ 23) sowie Helden der Kindheit, die die neuen Freunde des erzählten Ich aus der Bundesrepublik, aus Frankreich, Spanien, Italien nicht kennen, so dass das „schöne warme Wir-Gefühl“50 zwischen ihnen nicht entstehen kann, auch wenn sie sich ansonsten gut verstehen. Helden der Zonenkinder sind weder Donald Duck noch Lucky Luke, sondern Alfons Zitterbacke,51

49 Der Spiegel bezeichnet den Film, der im Westen wenig Erfolg hatte, als „Teil der ostdeutschen Identität“. – Björn Menzel: Mächtig gewaltig, Egon. DDR-Kultfilme „Olsenbande“. In: Der Spiegel (21.09.2018), URL: https://www.spiegel.de/einestages/kult-krimis-aus-daenemark-olsenbande-inder-ddr-ein-riesenerfolg-a-1226986.html (letzter Zugriff: 12.04.2019). 50 Der Titel des ersten Kapitels im Buch lautet „Das schöne warme Wir-Gefühl. Über unsere Kindheit“ (JHZ 11–26). Gezeigt wird aber nicht eine Gemeinschaft ehemaliger DDR-Bürger. Der Titel rekurriert auf eine im Kapitel beschriebene Episode aus dem Leben der Protagonistin, als sie in der neuen Realität bereits angekommen ist und während eines Austausches in Marseille einen netten Abend mit ihren neuen Freunden verbringt. Alle tauschen Namen ihrer Kindheitshelden, die Titel ihrer Lieblingsbücher oder Lieblingsfilme aus, die jedem – ob er aus Frankreich oder Italien stammt – bekannt vorkommen, bis auf das erzählte Ich, das in dem Moment begreift, dass es seine Erfahrungen kaum zu teilen vermag, weil niemand sie versteht. „Wir werden es nie schaffen, Teil einer Jugendbewegung zu sein […]“ (JHZ 25), lautet die resignierte Schlussfolgerung, der gleich der Wunsch folgt: „Ich wollte meine Geschichten genauso einfach erzählen wie die Italiener, Franzosen oder Österreicher, ohne Erklärungen zu suchen und meine Erinnerungen in Worte übersetzen zu müssen, in denen ich sie nicht erlebt hatte […].“ (JHZ 26). 51 Die DEFA-Produktion aus dem Jahre 1965 Alfons Zitterbacke wurde 2019 erneut verfilmt (Alfons Zitterbacke – das Chaos ist zurück). (Vgl. Michael Pilz: „Nach 30 Jahren muss man den Osten im Westen immer noch erklären“. In: Die Welt (11.04.2019), URL: https://www.welt.de/kultur/kino/article191701841/Alfons-Zitterbacke-Wie-man-einen-Ostklassiker-neu-verfilmt-Filmstart-und-Trailer.html, letzter Zugriff: 12.04.2019).

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der brave Schüler Ottokar,52 der Zauberer der Schmaragdenstadt,53 Timur und sein Trupp,54 Ede und Unku,55 Antennenaugust sowie Frank und Irene, Lütt Matten, die weiße Muschel, der kleine Trompeter, der Bootsmann auf der Schale (vgl. JHZ 26).56 Die den Freunden aus dem Westen unbekannten Helden werden kommentarlos aufgezählt. Jedes DDR-Kind träumte von „rosafarbenen Radiergummis“ und „PelikanTintenpatronen, deren kleinen Verschlusskügelchen im Inneren so schön klapperten“, die sie „nie im Leben gegen einen LKW mit Heiko-Patronen eingetauscht“ (JHZ 51) hätten. Jedes sei im Stande gewesen, „Käfer- und Boxerjeans von solchen aus dem Westen“ (JHZ 51) zu unterscheiden. Der unerreichbare, bunte Westen schien für sie besser zu schmecken und zu riechen. So tranken sie in den 1980er Jahren statt „Leninschweiß“ lieber Maracuja-Limonade (vgl. JHZ 51). Im Gegensatz zu den älteren

52 Der Kinderbuch-Klassiker aus der DDR Der brave Schüler Ottokar von Otto Häuser wurde 2007 neu aufgelegt. Vgl. Akzente, URL: https://www.akzente-buch.de/Buecher/Kinderbuecher/Der-braveSchueler-Ottokar (letzter Zugriff: 12.04.2019); Anlässlich des Todes von Häuser schildert Der Spiegel die Bedeutung seiner Bücher wie folgt: „Häusers Geschichten über den naiven Schelm Ottokar mit den Original-Zeichnungen von Karl Schrader waren im Osten ähnlich beliebt wie Pippi Langstrumpf im Westen.“ (Kinderbuchautor Häuser gestorben. In: Der Spiegel (16.07.2007), URL: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/braver-schueler-ottokar-kinderbuchautor-haeuser-gestorben-a-494692.html, letzter Zugriff: 12.04.2019). 53 Der Zauberer der Schmaragdenstadt – Kinderbuch des russischen Schriftstellers Alexander Wolkow. Das Buch wurde in der BRD auch in den letzten Jahren wieder aufgelegt. (Vgl. etwa das Angebot der Buchhandlung Thalia https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/ID21439089.html, letzter Zugriff: 12.04.2019). 2015 wurde es sogar als Bühnenstück im Schauspielhaus Leipzig uraufgeführt. Das Theater verweist auf die Geschichte des Stoffes und dessen Bedeutung für die ostdeutschen Leser: „Alexander Wolkows bekannteste Erzählung, erster Teil der „Zauberland-Reihe“ und basierend auf dem „Zauberer von Oz“, erschien 1939 zum ersten Mal in der damaligen Sowjetunion. 1959 wurde die Geschichte neu illustriert und erfreute seither mit all ihren Folgebänden und dem charakteristischen türkisfarbenen Einband vornehmlich die in der ehemaligen DDR aufgewachsenen LeserInnen.“ (URL: https://www.schauspiel-leipzig.de/spielplan/archiv/d/der-zauberer-der-smaragdenstadt-ua/, letzter Zugriff: 12.04.2019). 54 Timur und sein Trupp (1947) des sowjetischen Autors Arkadi Gaidar war ein Bestseller in sozialistischen Ländern. Karsten Laske in einem Artikel in Der Freitag schildert die Bedeutung des Buches für DDR-Jugend: „Wir DDR-Kinder verschlangen das Buch. […] Wir waren verliebt. Verliebt in Kolja Kolokoltschikow, in Geika, Wassili Ladygin, Sima Simakow und die anderen Jungs. Aber vor allem in Timur, ihren Anführer. […] Alle wollten Timurs Trupp spielen.“ (Karsten Laske: Die Timur-Bewegung. In: Der Freitag (15.10.2009), URL: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-timur-bewegung, letzter Zugriff: 12.04.2019). 55 Der Roman Ede und Uku war in der DDR Schullektüre, gehörte zum Lehrplan der fünften Klasse. (Vgl. Juliane von Wedemeyer: Kinderbuch-Klassiker „Ede und Unku“. Was aus Unku wurde. In: Der Spiegel (2.01.2019), URL: https://www.spiegel.de/einestages/ddr-kinderbuch-was-wurde-aus-edeund-unku-a-1243180.html, letzter Zugriff: 12.04.2019). 56 Genannt werden Gestalten, die in der DDR jedem Kind bekannt waren, so dass sie im ostdeutschen Raum eine Art Signalwirkung zu erzeugen vermögen. Inhalte, die bis vor kurzem noch als selbstverständlicher Bestandteil eines Kulturcodes verstanden wurden, verloren jedoch ihren Wert in der Kommunikation mit den Gleichaltrigen, die nicht in der DDR sozialisiert wurden.

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Jugendlichen hörten sie keine Punk-Musik mehr, sondern Pop-Songs von a-ha, C.C. Catch oder Modern Talking (vgl. JHZ 51). Das erzählende Ich verzichtet bei der Aufzählung auf allerlei Erklärungen, als ob es sich nicht um Aufklärung des Publikums handelte, sondern um eine Art Selbsterkennung, deren wichtigster Bestandteil die Frage nach den Wurzeln ist. Die eigene Vergangenheit wird mit einem Museum verglichen, zu dem das erzählende Ich erst durch den Erzählvorgang einen Weg finden muss: „weil unsere Kindheit ein Museum ohne Namen ist, fehlen mir die Worte dafür; weil das Haus keine Adresse hat, weiß ich nicht, welchen Weg ich einschlagen soll […].“ (JHZ 25) So werden ,Exponate‘ ausgegraben und akribisch aufgezählt, als wäre dadurch das ‚Haus‘ wieder erkundbar und die geistige Heimatlosigkeit überwunden.57 Denn „Heimat, das war ein Ort, an dem wir nur kurz sein durften“ (JHZ 38), konstatiert das erzählende Ich. So wird im Laufe des Erzählvorgangs ein ‚Heimatmuseum‘ konstruiert.58 Die Erzählerin fungiert aber in diesem Prozess nicht als eine Fachfrau, sondern verweist immer wieder auf ihre Gedächtnislücken und darf dadurch als unzuverlässig angesehen werden. Unsere Erinnerungen an die DDR haben spürbar nachgelassen. Es ist alles zu lange her. Wir waren einfach zu jung. Und oft schon vermischen sich in unseren Anekdoten über das Land, aus dem wir angeblich stammen, eigene Erlebnisse mit Gelesenem und Gehörtem. (JHZ 132)

Die unzuverlässige Erzählerin montiert in ihren Erinnerungsvorgang auch Fotos und Dokumente ein, die in einem manchmal nicht offensichtlichen Zusammenhang mit dem Text stehen59 und auch nicht immer ihr eigenes Schicksal illustrieren. Der Inhalt

57 Wie ausgewählte AutorInnen – darunter auch Hensel – mit dem Umbruch von 1989 umgehen und wie sie in diesem Kontext den Heimatbegriff reflektieren, versucht Ilse Nagelschmidt zu erörtern. Sie bezieht sich explizit auf VertreterInnen von unterschiedlichen Generationen, ohne jedoch ihr Generationenkonzept ausgelegt zu haben. (Vgl. Ilse Nagelschmidt: Vom Stiften und Hinterfragen einer Gedächtnisgemeinschaft in Ostdeutschland nach 1989. In: Wolfgang Bergem/Reinhard Wesel (Hg.): Deutschland fiktiv. Die deutsche Einheit, Teilung und Vereinigung im Spiegel von Literatur und Film. Berlin 2009, S. 171–187; vgl. dazu auch Ilse Nagelschmidt: Ostdeutsche Literatur. Brüche und Kontinuitäten. In: Ilse Nagelschmidt/Lea Müller-Dannhausen/Sandy Feldbecker (Hg.): Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts. Berlin 2006, S. 125–137; Anne Hector: Vom Stiften und Hinterfragen einer Gedächtnisgemeinschaft in Ostdeutschland. Claudia Rusch und Jana Hensel – Ankunft im Westen. In: Nagelschmidt/MüllerDannhausen/Feldbecker (Hg.): Zwischen Inszenierung und Botschaft, S. 107–123). 58 Elisabeth Herrmann verweist ebenfalls auf den Rekonstruktionsprozess, der zur Folge hat, dass „die erinnerte Kindheit selbst in weite Ferne gerückt“, „in der galerieartigen Betrachtung stehender Bilder zu einer Art Erinnerungsalbum und ,Museum‘ erstarrt […].“ (Elisabeth Herrmann: Individuelle Erinnerung als kollektive Identitätsstiftung nach dem Ende des Real-Sozialismus in Daniela Dahns Westwärts und nicht vergessen und Jana Hensels Zonenkinder. In: Carsten Gansel (Hg.): Rhetorik der Erinnerung – Literatur und Gedächtnis in den geschlossenen Gesellschaften des Real-Sozialismus. Göttingen 2009, S. 376). 59 Vgl. etwa das Glossar, das gegen alle Erwartungen nicht immer sachliche Informationen liefert und auch wenig erklärt. Katrin Löffler formuliert die These, das Glossar – ähnlich wie die Fotos – ironisiere die Erwartung von Genauigkeit und Vollständigkeit und setzt ihnen „die Willkürlichkeit,

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der abgedruckten Urkunden ist nicht immer lesbar. Bis auf das Schwimmabzeichen der DDR (vgl. JHZ 151) darf der Leser sie kaum auf Jana Hensel beziehen. In manchen Fällen steht es sogar fest, dass sie nicht von Hensel stammen dürfen. So wird etwa eine Seite aus einem Schülerheft abgebildet, wo neben Leninfotos auch eine mit Kinderhand gezeichnete Notiz steht: „Am 22. April feiern wir Lenins 107. Geburtstag. Er kämpfte für ein besseres Leben der russischen Arbeiter und Bauern.“ (JHZ 105) Das erzählende Ich gibt keine Hinweise auf den Autor der Notiz, so dass er missverständlicherweise mit dem erzählten Ich identifiziert werden könnte. Die Eintragung wird aber auf den 22. April 1977 datiert, als Hensel nicht einmal ein Jahr alt war, so dass ihre Autorschaft ausgeschlossen werden kann. Der Kommentar, mit dem dieses Foto versehen wird, verweist ähnlich wie alle anderen Anmerkungen im Buch nicht auf ein Einzelschicksal, sondern auf eine kollektive Biographie: „Wir sind nicht bei Oma aufgewachsen, sondern beim Staat.“ (JHZ 104) Den Fotos und Dokumenten kommt nicht wie gewohnt bzw. nicht in erster Linie eine dokumentarische, sondern eine mimetische Funktion zu. Die Unschärfe des scheinbar dokumentarischen Materials, das der Leser manchmal entziffern muss, scheint den Betrachter in die Lage der orientierungslosen Zonenkinder zu versetzen, die die Puzzlesteine ihrer Herkunft aussortieren und auswerten mussten, bevor sie als identitätsrelevant ihren Platz im Archiv zugewiesen bekamen. Archiviert werden im Buch jedoch nicht nur Generationsobjekte, die einmal eine Rolle im Erfahrungshorizont eines Kindes von damals spielten. Zusammengestellt werden auch die Gebote der Jungen Pioniere bzw. der FDJler mit den Regeln ihres ‚zweiten‘ Lebens im vereinten Land. In der DDR wurde der jungen Generation eine Mission anvertraut. Sie hätten den Sozialismus weiterbringen sollen (vgl. JHZ 85). Die Hierarchie des DDR-Generationsgefüges scheint auch der jüngsten Generation bewusst geworden zu sein. Als Erben der antifaschistischen Widerstandskämpfer (vgl. JHZ 86) – das Bewusstsein, dass auch sie Enkel des Dritten Reiches seien, kommt erst nach der ,Wende‘, und zwar als eine überraschende Erkenntnis (vgl. JHZ 112) – wurden sie doch in der Überzeugung großgezogen, dass sie als zuverlässige DDR-Bürger für den Weltfrieden sorgen müssen. Alle sollten sich auf mich verlassen können. […] Es war unser großes Glück, dass wir in Frieden und Sozialismus geboren und aufgewachsen sein durften, Krieg und Bomben, Not und Hunger nicht am eigenen Leib verspüren mussten. Aber noch immer waren die drohenden Wolken der Kriegsgefahr nicht verschwunden, der Kampf unseres Volkes um den Frieden nicht zu Ende gefochten. (JHZ 85)

Die ,braven‘ DDR-Kinder sahen ihr Vorbild in Timur und seinem Trupp und fühlten sich dazu verpflichtet genauso hilfsbereit zu sein. So hätten sie etwa den alten Damen die Kohle aus dem Keller geholt und ihnen ihre Sitzplätze in der Straßenbahn angeboten (vgl. JHZ 83). Auch sie sammelten Spenden für die Kinder in Vietnam (vgl. JHZ 84),

Unvollständigkeit und Subjektivität des Erinnerns“ entgegen. (Katrin Löffler: Systembruch und Lebensgeschichte, S. 131).

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wurden in die Rituale des sozialistischen Staates wie die Umzüge am 1. Mai oder auch die Jugendweihe integriert, ohne dass sie je eine Chance hatten, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ausschlaggebend erschienen damals fünf Fragen, nach denen sie sich hätten richten sollen: „Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich? Wem nütze ich? Wer braucht mich?“ (JHZ 94) Individuelle Talente und individuelles Glück wurden dem Wohl des Kollektivs untergeordnet. Nun müssen sich die Zonenkinder nach der ,Wende‘ die neuen Spielregeln einverleiben, die in Opposition zu sozialistischen Geboten stehen. Ausschlaggebend ist das Wohlergehen des Individuums und so lauten die neuen Fragen: „Wer bin ich? Was will ich? Wer nützt mir? Wen brauche ich?“ (JHZ 107) Wann sich die Zonenkinder die neuen Werte angeeignet hatten, lässt sich nicht mehr genau bestimmen. Ihr Wandel verlief in der Anfangsphase nämlich mühsam. Die Fotos von damals entblößen die Ungeschicktheit der Jugendlichen in den neuen Bundesländern und werden von dem erzählenden Ich als „Beweisfotos der Lehrjahre“ (JHZ 60) herbeizitiert. Statt die alten Bilder mit Rührung zu betrachten, werden die Zonenkinder vom Schamgefühl ergriffen. Denke ich an diese Zeit und betrachte Bilder unserer Jugend, wird mir schlecht. Unsicher, etwas verschreckt und immer unpassend gekleidet schauen wir in die Kamera. Unser Blick verrät, dass wir doch eigentlich nur alles richtig machen wollten. Aber es gelang nicht. Vielleicht werde ich später, wenn ich meinen Kindern von unserer Jugend erzähle, einfach so tun, als habe sie erst mit zweiundzwanzig begonnen, vielleicht werde ich diese ersten, unsicheren und hässlichen Jahre kurzerhand aus unserem Leben streichen. Die Beweisfotos der Lehrjahre würde ich jedenfalls schon jetzt gern vernichten. (JHZ 60)

Die ‚Lehrjahre‘ werden im Band als die eigentliche Prägephase der besagten Generation dargestellt. Als Hauptproblem erscheint der Charakter der ,Wende‘, die Geschwindigkeit des Umgestaltungsprozesses, was die Thesen von Ahbe und Gries zu bestätigen scheint. Die Kinder von damals werden bei Hensel als selbständig gezeigt. Sie waren zwar auf sich gestellt, was im Buch allerdings nicht beklagt wird. Geistige Unterstützung von Seiten der Eltern wird im Buch ebenfalls verzeichnet (vgl. JHZ 96). Mehr sind die DDR-Eltern ihren Kindern der Transformation nicht im Stande zu geben, denn ihre Erfahrungen seien nutzlos geworden (vgl. JHZ 77). Wir waren nahezu die Einzigen, die nichts gegen unsere Eltern taten, so zumindest kam es uns manchmal vor. Sie lagen ja schon am Boden, inmitten der Depression einer ganzen Generation, und wir, die mit viel Glück und nur dank unserer späten Geburt um ein DDR-Schicksal herumgekommen waren, wollten die am Boden Liegenden nicht noch mit Füßen treten. (JHZ 75–76)

So kommt auch keine Rebellion zu Stande. Statt dessen wird ein symbolischer „Nichtangriffspakt“ (JHZ 76) geschlossen. Die „Söhne und Töchter der Verlierer“ (JHZ 73), der „Sitzenbleiber einer anderen Epoche“ (JHZ 80) werden zu „Aufstiegskindern“ (JHZ 72), weil sie keine andere Möglichkeit gesehen hätten, als erfolgreich zu werden (vgl. JHZ 80). Überkompensation erscheint als Antwort auf den Misserfolg der eigenen Eltern. Dem Selbstwertgefühl kommen Ersatzvorbilder zu Hilfe – Stars ihrer Generation,

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nämlich die noch in der DDR geborenen Sportler, die ihnen beigebracht hätten, wie man siege (vgl. JHZ 150). Neben Michael Ballack, Jan „Ulle“ Ullrich, Sven Hannawald wird vor allem die Bedeutung von Franziska van Almsick hervorgehoben (vgl. JHZ 147). Ihre Vorbilder stammen weder aus der Generation der Eltern noch aus den Kreisen der Entgrenzten Generation, mit der die Zonenkinder „nicht viel mehr als die geographische Herkunft“ (JHZ 158) verbindet. Aber auch wenn sie sich mit ihren westdeutschen Altersgenossen gut verstehen, zielt das im Band präsentierte Narrativ der Zonenkinder darauf, ihre Eigenart zu definieren und öffentlich zu manifestieren, deren Wurzeln in dem imaginären Raum zwischen der DDR und der BRD, in Ostdeutschland liegen. Das erzählte Ich setzt dem im medialen Diskurs vorherrschenden Diktaturgedächtnis, dem sich auch die Narrative der Zonenkinder lange angepasst hatten, eine Privatgeschichte entgegen. Hinter den „authentischen Geschichten“ (JHZ 31) über die Stasi, Mangelwirtschaft, Montagsdemonstrationen, die als begehrt galten, versteckt sich das Leben der Kinder von damals, dessen Inhalt nicht die verbreiteten Anekdoten ausmachten (vgl. JHZ 31). Die DDR des erzählten Ich war keine Diktatur, sondern ein Ort der kindlichen Geborgenheit jenseits der Politik. Ich hasste es, mich dort nun wie ein Tourist im eigenen Leben zu bewegen […], meine Biografie auf jene Hand voll Anekdoten zu reduzieren, die meine westlichen Besucher hören wollten. […] Unsere Kindheit hatte weder in einer Boomtown noch in einer Mondlandschaft stattgefunden, sie kannte weder einen Raubbau noch eine verantwortungslose Wohnungsbaupolitik. Wir waren auf Wäscheplätzen, in Hinterhöfen, unter Kastanienbäumen und Pergolas oder auf Rollschuhbahnen zu Hause gewesen […]. (JHZ 32–33)

Einerseits wird die Privatgeschichte dem öffentlichen Diskurs gegenüber gestellt. Das vorherrschende Narrativ wird um eine individuelle Stimme ergänzt und dadurch korrigiert. Andererseits kommt an dieser Stelle auch die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen zum Ausdruck. Wie die Elterngeneration leben die Zonenkinder in Struktur eines Diktatursystems, das sie sich jedoch in ihr Erfahrungshorizont nicht einzuverleiben vermögen, weil ihre kindliche Optik dazu nicht fähig ist. Daraus mag sich auch der am Anfang des Kapitels herbeigeführte Vorwurf ergeben haben, das Buch sei unpolitisch und stehe einer Aufarbeitung des Diktatursystems im Wege.

9.2 „Schluss mit traurig!“ Daniel Wiechmanns Version einer DDRKindheit in Immer bereit! (2004) Während Jana Hensels Werke auf den Bestellerlisten standen, handelt es sich im Falle von Daniel Wiechmann60 um einen Autor, der nie so populär wie Hensel oder die Vorgänger 60 Das Zitat in der Überschrift stammt aus einem Artikel der Online-Ausgabe von Cicero. Magazin für politische Kultur, in dem Tendenzen in der neuesten ostdeutschen Literatur skizziert werden. Unter den erwähnten Autoren taucht auch der Name Daniel Wiechmanns auf. (Blühende Leselandschaften.

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wurde. Nichtsdestotrotz zeigt aber gerade sein Buch – neben einer Reihe von Autoren, die der Öffentlichkeit zwar als Namen weniger bekannt sind, deren Texte aber auf dem literarischen Markt als ostdeutsche Präsenzzeichen nicht unbemerkt bleiben – einen Ton der jüngsten Generation, in dem die Kindheit und Jugend in der DDR rekonstruiert und archiviert wird, allerdings mit Sinn für Humor und einer hohen Dosis Selbstdistanz. Daniel Wiechmann wurde 1974 geboren. Aufgewachsen in Berlin, zieht er nach dem Abitur nach München und besucht dort die Deutsche Journalistenschule. Bis heute – was den Internetquellen zu entnehmen ist – lebt er als freier Journalist und Autor in München. Auffallend ist, dass so gut wie keine anderen Angaben zu seiner Vergangenheit zu finden sind. Dass Wiechmann in Ostberlin aufgewachsen ist, wird der Öffentlichkeit nicht preisgegeben.61 Wir haben es mit einem Autor zu tun, dessen Texte der Kategorie „nicht immer ganz sachliche Sachbücher“62 zuzuordnen sind – von den Ratgebern für werdende Väter wie Hilfe, wir sind schwanger! Das Kopfkissenbuch für werdende Väter (2008), über bayerische Entdeckungsreisen Schleich di! … oder Wie ich lernte, die Bayern zu lieben (2013), bis zu den Kochbüchern63 –, der sich auf dem literarischen Markt nicht als ein ostdeutscher Autor positioniert, sondern allem Anschein nach beinahe universell erscheinen will. Allgemeingültig scheint auch der Einblick in die Konstitution eines Kindes zu sein, den Wiechmann in seinem autobiographischen Band Immer bereit! liefert. Auch wenn die Rahmenbedingungen seiner Kindheit und Jugend von denen seiner westdeutschen Pendants abweichen, scheint das humorvoll dargestellte psychologische Selbstporträt eines DDR-Kindes allgemein verständlich zu sein. Die Phase der Orientierung in der Welt der Erwachsenen, der Einverleibung der geltenden Gesellschaftsnormen, schließlich die Selbstentfaltung respektive das Bedürfnis nach Sicherheit, Akzeptanz und Glück scheinen dem Lebenszyklus eines Menschen ungeachtet des politischen Systems gemein zu sein. Das Buch erscheint im Verlag Droemer, der nicht zu den größten und einflussreichsten Verlagshäusern der Bundesrepublik gehört, was den Text eher am Rande des feuilletonistischen Diskurses situiert. Der Text schließt sich aber mit anderen literarischen Randerscheinungen dem narrativen Strom des Generationszusammenhangs an und stärkt somit seinen Geltungsanspruch, der sich diesmal nicht aus einer unangetasteten Position der Vertreter (wie etwa im Falle der von populären und anerkannten Schriftstellern repräsentierten Aufbau-Generation) Kleine Führung durch die Botanik der neuesten Literatur aus der ehemaligen DDR. In: Cicero. Magazin für politische Kultur, URL: https://www.cicero.de/kultur/bluehende-leselandschaften/45777, letzter Zugriff: 26.10.2018). 61 https://www.droemer-knaur.de/autoren/Daniel+Wiechmann.82036.html; https://www.m-vg.de/ autor/7292-daniel-wiechmann/ (Hier Wiechmann als Autor von Kochbüchern); https://www.randomhouse.de/Autor/Daniel-Wiechmann/p485787.rhd (letzter Zugriff: 21.11.2018). 62 Daniel Wiechmann. In: Verlagsgruppe Random House, URL: https://www.m-vg.de/autor/7292daniel-wiechmann/ (letzter Zugriff: 21.11.2018). 63 Vgl. Daniel Wiechmann. In: Die Münchener Verlagsgruppe, URL: https://www.m-vg.de/autor/7292daniel-wiechmann/ (letzter Zugriff: 21.11.2018).

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ergibt, sondern aus einem Chor der jungen Autoren, von denen nur einige wenige eine stabile Position im literarischen Feld erlangen. Dass es sich im Falle von Immer bereit! Von einem jungen Pionier, der auszog, das Glück zu suchen (2004) um eine in der ehemaligen DDR situierte Geschichte handelt, bemerkt jeder mit der DDR-Realität vertraute Leser, sobald er das Buch in die Hand nimmt. Die Vorderseite des Umschlags zeigt drei Kinder, die mit einem weißen Hemd und einem blauen Tuch bekleidet sind und eine Fahne tragen. Die Zeichnung lässt sich schnell als Rückseite der Jungpioniermitgliedskarte64 identifizieren, während die Rückseite des Buchumschlags (mit dem Jungpionierzeichen und der blauen Farbe im Hintergrund) der Vorderseite der Jungpioniermitgliedskarte ähnelt. In der Mitte des Ausweises stand noch ein Blatt mit den „Geboten der Jungpioniere“, die zwar auf dem Umschlag selbst nicht angeführt werden, die Eingeweihte jedoch automatisch mitdenken. Dass die Seite nicht abgedruckt wird, bedeutet nicht, dass ihr Inhalt verschwiegen wird. Vom ‚Werden des sozialistischen Menschen‘, d.h. von den Geboten und dem Umgang mit ihnen handelt auch das ganze Buch. Der Titel verweist ebenfalls unmissverständlich auf die sozialistische Kinderorganisation. Während die Lehrer die Jungpioniere mit dem Spruch „Seid bereit!“ begrüßten, erwiderten diese mit der Erklärung „Immer bereit!“. Der Pioniergruß im Titel evoziert ein Bild aus der Vergangenheit – der Umschlag wird auch nicht wie im Original blau gehalten, sondern etwas vergilbt, als ob es sich tatsächlich um Zeugnisse aus einer fernen Zeit handelte. Im Untertitel wird die Geschichte „von einem jungen Pionier, der auszog, das Glück zu suchen“ angekündigt, was beinahe märchenhaftromantisch klingt. Diesen Ton schlägt auch der verlegerische Peritext auf der Rückseite des Umschlags an: „Ein junger Pionier. Mit allen Kräften versucht er, eine allseits gebildete sozialistische Persönlichkeit zu werden. Er will sich würdig erweisen, im Gelobten Land der besseren Menschen zu leben: in der DDR.“65 Der besagte Pionier darf noch nicht mit dem Autor Daniel Wiechmann gleichgesetzt werden. Weder eine Gattungsattribution noch ein Possessivpronomen oder auch eine etwaige Anspielung

64 Vgl. Lebendiges Museum Online, URL: https://www.hdg.de/lemo/lernen/hdg/objekt-mitgliedskarte-fuer-jungpioniere.html (letzter Zugriff: 22.11.2018); dazu auch das Buch einer der Wende-KinderGeneration angehörenden Verfasserin, die ihre eigene Geschichte präsentiert, indem sie auch die materiellen Spuren ihrer Identität rekonstruiert, darunter ist auch die Mitgliedskarte der Jungpioniere enthalten. (Vgl. Susanne Fritsche: Die Mauer ist gefallen. Eine kleine Geschichte der DDR. München 2010, S. 41–42). Derartige Zeugnisse werden ebenfalls im Internet aufbewahrt. Ihre Jungpionierausweise veröffentlichen nicht wenige Ostdeutsche (vgl. etwa https://www.fotocommunity.de/photo/ jungpionier-mitgliedskarte-flynn/9813850, letzter Zugriff: 22.11.2018) oder Karsten Schmehl: Wie viele Gebote der Jungpioniere kennst du noch?. In: https://www.buzzfeed.com/de/karstenschmehl/wieviele-gebote-der-jungpioniere-kennst-du-heute-noch (letzter Zugriff: 22.11.2018), https://www.flickr. com/photos/inesvm/3965898176 (letzter Zugriff: 22.11.2018). 65 Daniel Wiechmann: Immer bereit! Von einem jungen Pionier, der auszog, das Glück zu suchen. München 2004 (Rückseite des Covers). Im Folgenden werden Zitate als Sigle DWI mit Angabe der Seitenzahl unmittelbar hinter der jeweiligen Textstelle nachgewiesen.

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im Paratext lassen auf einen autobiographischen Pakt schließen. Erst im Klappentext wird der autobiographischen Lektüre explizit der Boden bereitet. Die durchgängige Erzählung in der ersten Person Singular, deren Ausschnitt als Leseprobe angeboten wird, ermöglicht es, den Jungpionier mit dem Autor zu identifizieren. Mehr und mehr hatte ich das Gefühl, dass mit unserer Gesellschaft der besseren Menschen etwas nicht stimmte. Ich wusste nur nicht, was. Es fühlte sich ein bisschen an wie in einer alten Liebesbeziehung, in der man aufgehört hatte, sich füreinander schön zu machen. (DWI vordere Klappe)

Nun wird klar, dass der junge Pionier das sozialistische System bei weitem nicht so unkritisch wahrnahm, wie der verlegerische Peritext bis dahin suggerierte. Wachgerufen wird ein Verdacht. Was sich daraus ergibt, soll der Leser von dem autobiographischen Text erfahren. Dass es sich um die Geschichte von Wiechmanns eigenem Leben handelt, wird unmissverständlich formuliert: Daniel Wiechmann schreibt die Geschichte seines Lebens, von der Kinderkrippe bis zur Wende: sechszehn Jahre Auseinandersetzung mit den Erziehungsinstanzen der Republik. Der Konflikt ist vorprogrammiert, denn Daniel hat die Haltung der Jungpioniere verinnerlicht: Er nimmt die Botschaften ernst, mit denen er allerorten traktiert wird, und versucht mit ganzer Kraft, eine allseits gebildete sozialistische Persönlichkeit zu werden. (DWI vordere Klappe)

Von der kindlichen Naivität wird das erzählte Ich durch sein Liebesobjekt selbst geheilt. Das sozialistische Land ist seinen Idealen nicht gewachsen. Die Wirklichkeit ist weit von jenem dem Nachwuchs überlieferten Bild der DDR entfernt, was dem Kind von damals nach und nach bewusst werden wird. Auf diesen heiligen Ernst des jungen Pioniers ist das System schlecht vorbereitet: Es entlarvt sich selbst, wenn Anspruch und Wirklichkeit wieder mal so weit auseinanderklaffen, dass der Riss sich auch mit der besten Parole nicht mehr überdecken lässt. (DWI vordere Klappe)

Im Klappentext wird dementsprechend nicht mehr eine märchenhaft-romantische Geschichte versprochen, sondern eher Einblick in den Ernüchterungsprozess eines Heranwachsenden, dem erst im Laufe der Zeit – entwicklungspsychologisch gesehen im Laufe der Adoleszenz – die „Absurditäten des sozialistischen Alltags“ (DWI vordere Klappe) bewusst werden. Im Band sind „Geschichten mit einer verborgenen Komik“ enthalten, in denen aber auch immer „ein wenig Trauer mitschwingt“, die im Klappentext allerdings eindeutig nicht als Verlusterfahrung im Bezug auf die DDR – im Sinne der Ostalgie – definiert werden, sondern als „Trauer darüber, dass die Realität der DDR nie dem moralischen Anspruch genügt hat, mit dem junge Pioniere wie er aufgewachsen sind.“ (DWI hintere Klappe) Der verlegerische Peritext wird mit einer kurzen – unter einer Schwarz-weiß-Porträtaufnahme stehenden – biographischen Notiz abgeschlossen: „Daniel Wiechmann, geboren 1974, wuchs im Osten Berlins auf. Zwanzig Jahre später zog er nach München und besuchte dort die Deutsche Journalistenschule. Seitdem arbeitet er als freier Journalist und Autor.“ (DWI hintere Klappe) Die autobiographische Lektüre wird damit endgültig bekräftigt.

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Den eigentlichen Text versieht Daniel Wiechmann mit einem Vorwort, in dem er versucht, die Leseerwartungen zu lenken. Zum Ausgangspunkt seiner Erzählung wird nicht das medial vermittelte klischeehafte Bild des Unrechtsstaates DDR und seiner ,provinziellen‘ Bürger, sondern die Geschichten ganz normaler Menschen. Bevor der Ich-Erzähler seine eigene Geschichte liefert, versucht er sowohl in seinen westdeutschen als auch in seinen ostdeutschen Lesern eine bestimmte Haltung wachzurufen, und zwar jenseits aller Ressentiments, Vorurteile, aber auch jenseits aller Sehnsüchte nach alten Zeiten. Vergessen Sie die ostalgische Erinnerung an Knusperflocken, Spreewaldgurken und Schlagersüßtafel. Vergessen Sie den Menschenzoo, in dem statt Tieren putzige Ossis mit buntgemusterten Nylonbeutelchen durchs Gehege stapfen. „Guck mal, da ist noch so einer. Ach, wie süß!“ Stellen Sie sich statt dessen einen Menschen vor. Einen ganz normalen Menschen. Einsachtzig groß, ein wenig zurückhaltend und schüchtern, mit einem Gesicht, das sich in vollkommener Unauffälligkeit verliert, etwa dreißig Jahre alt, im Osten Deutschlands geboren. Ein solcher Mensch hat eine Hälfte seines Lebens in der Zone verbracht, die andere Hälfte im Westen. Und jetzt, fünfzehn Jahre nach der ,Wende‘, ist er zu einem Geschöpf mutiert, das im Westen zu Hause ist, dem aber der Osten noch immer tief in den Knochen steckt. Das ist seine Geschichte. (DWI 9)

Obwohl Daniel Wiechmann im Vorwort auf das Schicksal eines Individuums verweist, sind die von ihm markierten Umstände jedoch nicht nur für das erzählte Ich allein gültig, sondern auch für eine ganze Kohorte der in der DDR-geborenen Bundesbürger. Zu tun haben wir es mit einer Mischidentität, die aus Ost-West-Komponenten besteht. Scheinbar widersprüchliche Lebenskonzepte – die sozialistische Erziehung zum Wohl des Kollektivs gegenüber der die Individualität fördernden Philosophie des Kapitalismus – bringen eine neue Qualität hervor, eine – nicht ohne innere Konflikte verlaufende – Ost-West-Verschmelzung. Das erzählte Ich – Daniel (vgl. DWI 58)66 – wird als ein Idealist gezeigt, „ein hoffnungsloser Fall“ (DWI 12), „Idiot“, „[e]in Ossi eben.“ (DWI 12) Selbstkritisch skizziert das erzählende Ich den kindlichen Eifer, ohne die angestrebten Ideale an sich in Frage zu stellen: Ich glaubte also fest an die Ideale einer besseren Gesellschaft, in der die Menschen sich umeinander kümmern, sich gegenseitig respektieren und in der niemand einen anderen von oben herab behandelt. Ich glaubte daran, dass Menschen dazu in der Lage sind, so miteinander umzugehen, dass niemand sich allein, einsam oder unnütz fühlen muss. (DWI 12)

66 Der Vorname des Protagonisten wird nur einmal genannt. Das reicht aber, um den autobiographischen Pakt zu stärken. Dass die Personalangaben nicht so aufdringlich verwendet werden, scheint auch Konsequenzen für die Wirkung des Textes zu haben. Gezeigt wird zwar ein individuelles Schicksal, das aber über die Geschichte Daniel Wiechmanns hinausgeht, und auf diese Weise mehr auf die Rahmenbedingungen des Daseins als auf eine Sonderstellung des Individuums Wiechmann verweist. Zu ähnlichen Mitteln greifen auch Hein und Rusch, die durch das Prisma ihrer individuellen Geschichten auf die Lage einer ganzen Kohorte aufmerksam machen.

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Der kindliche Glaube an den Sozialismus wird zur Lebensbasis, gewissermaßen zu einer Ersatz-Religion (vgl. DWI 94), die den Gläubigen mit ihren Geboten Wegweiser liefert und damit die Orientierung erleichtert. Rekonstruiert wird der Bildungsweg eines sozialistischen Kindes – über die Kinderkrippe, in der den Kleinen Panzerlieder beigebracht werden, aus denen sie erfahren, dass es in der Welt auch „böse Menschen. Die Wessis eben“ (DWI 15) gibt, vor denen man sich verteidigen soll, über den Kindergarten bis zu der Schule. So lernten die Kindergartenkinder etwa Namen von Obst und Gemüse, die sie nur als Bilder gesehen haben, nie aber schmecken konnten, was das erzählte Ich damals angeblich nicht gestört hat. Ironisch quittiert der Erzähler das Paradoxe der Lage: „Das war wie mit den Dinosauriern. Die hatte auch noch niemand leibhaftig gesehen.“ (DWI 18) Von klein auf werden den ‚Ossis‘ „fundamentale[…] Erkenntnisse[…] über die Beschaffenheit der Welt“ (DWI 17) eingeimpft. Und so erfahren auch die kleinen „Schweinchen“ in der DDR, dass sie „zusammenhalten mussten gegen das Böse“ (DWI 21), d.h. gegen den bösen Wolf im Westen. Auch wenn die angeführte Argumentation den Wahrnehmungsmöglichkeiten eines Kindes angepasst zu sein scheint, was die Wahrhaftigkeit der rekonstruierten Lebensgeschichte stärken mag, sind einige Widersprüche bzw. Unzulänglichkeiten kaum zu übersehen. Wenn der Protagonist als ein dreijähriges Kindergartenkind ein anderes Kind, das bemüht ist, aus Steinen ein Haus zu bauen, auf die „versetzte Fuge“ (DWI 21) hinweist, kann der Leser wohl nur mit Verwunderung reagieren. Abgesehen von dem überraschend reifen Ton der Ausführung, erscheint die beschriebene Situation an sich etwas unglaubwürdig. Die Kindheitsamnesie – der Begriff, mit dem in der Psychologie das Phänomen beschrieben wird, dass sich die meisten Erwachsenen an die Zeit vor dem dritten Lebensjahr kaum erinnern können,– scheint in dieser Geschichte außer Kraft gesetzt zu werden. Statt dessen rekonstruiert das erzählende Ich nicht nur punktuelle Ereignisse oder auch Fetzen jener Lieder und Gedichte, die auswendig gelernt wurden, sondern auch Gespräche: „Ich benutzte bei meiner kurzen Ansprache vielleicht nicht exakt die Wörter […]. Aber es war genau das, was ich meinte, als ich mich an ihn wandte.“ (DWI 20) Da der Erzählvorgang von den ersten Seiten an mit Elementen der Komik ausgestattet wird, wird sicher dem Erzähler die auf humorvolle Effekte zielende Unzuverlässigkeit schnell verziehen. Im vorgeplanten Leben eines sozialistischen Kindes kommt der Schulzeit und mit ihr der feierlichen Aufnahme in die Jungpioniere eine hervorragende Bedeutung zu. Enthusiastisch reagiert auch das erzählte Ich auf den feierlichen Tag, an dem es das Pionierversprechen abgibt. Es identifiziert sich mit dem sozialistischen Spektakel. Als Jungpioniere durften wir endlich das blaue Halstuch und die weiße Pionierbluse mit dem Emblem der Pionierorganisation tragen: ein J und ein P, eng aneinandergeschmiegt, so dass sie eine Fackel ergaben, auf der drei rotgelbe Flammen loderten. Von nun an gehörte ich dazu. Ich war nicht mehr nur einfach irgendein Junge. Ich war ein Junger Pionier. Und als solcher stand ich in der Verantwortung mich entsprechend zu benehmen und mich würdig zu erweisen. So wie es in den Geboten der Jungpioniere stand, die einzuhalten ich mit dem Pionierversprechen gelobt hatte. Es waren genau zehn. (DWI 38)

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Die sozialistische Kinderorganisation wird als Orientierungshilfe gedeutet. Sie soll dem Leben des Einzelnen einen Sinn verliehen haben, indem sie ihm ein Identitätsangebot machte und damit auch sein Dasein aufwertete. Die zehn Gebote der Jungpioniere, die ihrer Funktion wie auch der Zahl nach den biblischen Geboten ähneln, werden vom Erzähler nicht nur erwähnt oder kommentiert, sondern vollständig zitiert. Der fehlende Teil der auf dem Umschlag abgedruckten Jungpioniermitgliedskarte wird mitten im Buch angeführt: Wir Jungpioniere … lieben unsere Deutsche Demokratische Republik. … lieben unsere Eltern. … lieben den Frieden. … halten Freundschaft mit den Kindern der Sowjetunion und allen Ländern. … lernen fleißig, sind ordentlich und diszipliniert. … achten alle arbeitenden Menschen und helfen tüchtig mit. … sind gute Freunde und helfen einander. … singen und tanzen, spielen und basteln gern. … treiben Sport und halten unsere Körper sauber und gesund. … tragen mit Stolz unser blaues Halstuch. Wir bereiten uns darauf vor, gute Thälmannpioniere zu werden. (DWI 38–39)

Die Prioritäten werden von Anfang an klar gesetzt. An erster Stelle, noch vor der eigenen Familie, steht die Deutsche Demokratische Republik, der die Jungpioniere feierlich ihre Liebe erklären. Aus den Grundregeln ergibt sich das Bild einer fröhlichen Gemeinschaft, hilfsbereit, freundlich und tüchtig. Über den Sinn des Gelöbnisses macht sich das erzählte Ich allerdings keine Gedanken. Sein einziges Problem ist, dass er nicht tanzen kann, woraus sich seine Sorge ergibt, dass er nicht allen Vorschriften gerecht werden könnte. Die Naivität eines unschuldigen Kindes, das sich unkritisch an alle sozialistischen Grundsätze anpassen will, wird humorvoll dargestellt, was die am Rande registrierten Episoden, die im Widerspruch zu dem idealisierten Bild stehen, noch deutlicher hervorhebt. Ab und zu spürt auch das Kind von damals ein Unbehagen, stößt auf Situationen, die sich in sein verklärtes Bild nicht einfügen lassen. Irgend etwas stimmte hier nicht, aber ich wusste nicht, was es war. Vorerst waren diese Gedanken wie Mückenstiche. Sie juckten zwar eine Weile, aber dann, ohne dass man hätte sagen können, hörte das Verlangen, sich zu kratzen auf, und alles war wie zuvor. (DWI 27)

Im durchstrukturierten Alltag eines DDR-Kindes – mit Fahnenappell (vgl. DWI 37), Solidaritätsgala (vgl. DWI 47),67 Wandzeitungen, mit der Tätigkeit im Gruppenrat oder Freundschaftsrat (vgl. DWI 55) oder aber mit Pioniernachmittagen (vgl. DWI  87) – bleibt wenig Raum für Zweifel oder kritische Auseinandersetzung mit den Vorbildern

67 Das Geld von den Eintrittskarten soll etwa für arme Länder in Afrika gesammelt werden.

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übrig, zumal auch die junge Generation im Bewusstsein großgezogen wurde, dass sie ihr unbekümmertes und friedliches Leben dem heldenhaften Opfer der antifaschistischen Widerstandskämpfer zu verdanken habe. Als Erben fühlten sie sich verpflichtet, das Werk der Gründergeneration zu pflegen. Nie werde ich das letzte Bild von Ernst Thälmann vergessen, das heimlich im Gefängnis aufgenommen wurde. Den Kopf gesenkt, sitzt er über einem Buch und strahlt eine unglaubliche Kraft und Ruhe aus. Sein Mörder, lernte ich, lebte heute noch unbehelligt in Westdeutschland. (DWI 89)

Das verklärte Bild der antifaschistischen Widerstandskämpfer wird in der sozialistischen Propaganda um das Bild eines Feindes ergänzt, den die jungen Leute zu hassen hatten. Während den Kleinen in ihren Geboten Liebe und Frieden eingeimpft wurden, wurde den Thälmannpionieren auch Hass gegenüber dem kapitalistischen Westen, vor allem der Bundesrepublik, der alleinigen Erbin des Faschismus, eingeimpft. Der Ton sei schärfer geworden, bemerkt der Ich-Erzähler, der wieder die Gebote des Thälmannpioniere ausführlich zitiert. Wir Thälmannpioniere … lieber unser sozialistisches Vaterland, die Deutsche Demokratische Republik. … tragen mit Stolz unser rotes Halstuch und halten es in Ehren. … lieben und achten unsere Eltern. … lieben und schützen den Frieden und hassen die Kriegstreiber. … sind Freunde der Sowjetunion und aller sozialistischen Brudervölker und halten Freundschaft mit allen Kindern der Welt. … lernen fleißig, sind ordentlich und diszipliniert. … lieben die Arbeit, achten jede Arbeit und alle arbeitenden Menschen. … lieben die Wahrheit, sind zuverlässig und einander freund. … machen uns mit der Technik vertraut, erforschen die Naturgesetze und lernen die Schätze der Kultur kennen. … halten unseren Körper sauber und gesund, treiben regelmäßig Sport und sind fröhlich. … bereiten uns darauf vor, gute Mitglieder der Freien Deutschen Jugend zu werden. (DWI 77–78)

Dass die Gebote der Thälmannpioniere wie der Jungpioniere ausführlich zitiert werden, darf nicht allein mit dem Argument erklärt werden, es gehe um die Rekonstruktion des Vergangenen. Dazu reichte eine bloße Beschreibung des Sachverhalts. Wiechmann geht aber einen Schritt weiter. Die angeführten Stellen lassen sich mit den in Jana Hensels oder auch Susanne Fritsches Buch – wie unterschiedlich die beiden auch immer sind – abgedruckten Bildern vergleichen, die die Vergangenheit nicht nur rekonstruieren, sondern auch archivieren. Auch wenn Wiechmann in seinem Band auf Fotos verzichtet, scheint er doch zu einer Schreibtechnik zu greifen, die der ,dokumentarischen‘ Methode Hensels oder auch Fritsches ähnelt. Kommentare des Ich-Erzählers bezüglich der angeführten Episoden erscheinen aber im Vergleich zu anderen Angehörigen der Wende-Kinder distanzierter und auch (selbst) kritischer. Sein Sinn für Humor und eine hohe Dosis Ironie scheinen dem Schreibstil

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der Entgrenzten Generation näher zu stehen als etwa Jana Hensels ‚Generationsbuch‘. Im Gegensatz zu seinen jüngeren Berufskollegen bezieht sich Wiechmann auf Sachverhalte, die er selbst noch erlebt hat, die in seinem eigenen Gedächtnis immer noch wach zu sein scheinen, so dass er nicht den Eindruck erweckt, er sei auf Hilfe anderer älterer Zeitzeugen angewiesen. Die Unterschiede lassen den Autor und sein Werk zwischen den beiden Generationszusammenhängen situieren, was nur verdeutlicht, wie fließend die festgelegten Zeitgrenzen sind. Da Daniel Wiechmann beinahe alle Lebensstationen eines sozialistischen Kindes rekonstruiert, darf bei ihm (ähnlich wie bei Jakob Hein oder auch Claudia Rusch) nicht die Beschreibung der Jugendweihe fehlen. Die feierliche Aufnahme „in den Kreis der Erwachsenen“ (DWI 157) wird allerdings ohne den bis dahin geäußerten Eifer skizziert. Das erzählte Ich wird skeptisch: „Die Jugendweihe war ein in zweierlei Hinsicht schreckliches Ereignis“ (DWI 155), heißt es in Immer bereit! Für das Urteil sind jedoch keine ideologischen Motive verantwortlich, sondern ganz alltägliche Sorgen. Erstens mussten die Jugendlichen in Begleitung ihrer Mütter „etwas Vernünftiges zum Anziehen kaufen“, zweitens kamen die Verwandten zu Besuch (vgl. DWI 155). Trotz des stolzen Bildes einer jungen sozialistischen Generation wird eine Gruppe sich am Hals kratzender Jungen, „weil ihr Hemd sie fast erwürgte“ und der „Mädchen in den schrecklichen Blusen ihrer Mütter“ (DWI 156) skizziert. Auch wenn es ideologisch gesehen darum ging, Pioniere „symbolisch in den Kreis der Erwachsenen aufzunehmen“ (DWI 157), bestand die Initiation aus der Perspektive des erzählenden Ich in der Atmosphäre eines alkoholischen Rausches: „Inoffiziell schienen viele Erwachsene den Sinn der Jugendweihe darin zu sehen, einen zum ersten Mal richtig betrunken zu machen.“ (DWI 157) Die Heranwachsenden reagierten weder auf die Jugendweihe noch auf die Rituale der FDJ mit der den Kindern einst eigenen Begeisterung. Während die Jungpioniere oder auch Thälmannpioniere während der Fahnenappelle ihre Lehrer enthusiastisch begrüßten, schienen die FDJler weniger überschwänglich zu reagieren. Ihr sozialistischer Gruß „Freundschaft!“ klang dem Erzähler zufolge „immer so, als würde jemand eine aufgerauchte Zigarette austreten.“ (DWI 79) Seine eigenen Erfahrungen als FDJ-Mitglied spart der Erzähler aber eher aus. Dazu hätte es auch nicht viel zu sagen, weil das System zugrunde geht, noch bevor er sich in der neuen Organisation einrichtet. Gezeigt wird statt dessen das Selbstbewusstsein des erzählten Ich, das im Begriff war, sich zu konstituieren. Der Jugendliche von damals kommt aber nicht dazu, sich von dem Staat und seinen Institutionen abzugrenzen. Bevor er diese Phase erreicht, verschwindet das Land seiner Herkunft von der Landkarte. Obwohl der Erzähler erklärt, dass er mit keiner Träne dem Osten hinterher getrauert habe (vgl. DWI 170), kommt der ,Wende‘ eine hervorragende Bedeutung zu. Einerseits wird auf die Atmosphäre einer besonderen Zeit verwiesen, als das Leben sich großartig angefühlt habe (vgl. DWI 163). „Es war durchdrungen von einem mächtigen Gefühl der Freiheit, alles schien plötzlich möglich.“ (DWI 163) Andererseits verlieren die Protagonisten des Umbruchs den vertrauten Boden unter den Füßen, werden

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zum Teil einer größeren Bewegung, was zwar positiv beurteilt wird, sie aber zum Teil auch mit der eigenen Geschichte konfrontiert, die nicht mehr ihnen alleine gehört, sondern zum Bestandteil des untergegangenen Staates wird. Das Jahr 1989 bedeutet auch einen Einschnitt im Leben des Protagonisten. Es geht allerdings weniger um die Lebensumstände selbst als um die Wahrnehmung des eigenen Lebens, um die Neudefinition von Identität. Bis in den Sommer 1989 hatte ich ein ganz normales Leben geführt. Ich hatte gelacht, ich hatte geweint, ich war glücklich gewesen und wütend, ich hatte viel gelernt und oft darüber nachgedacht, wieviel an dem, was ich gelernt hatte, ich wieder vergessen hatte, ich hatte gespielt, ich hatte gewonnen und verloren, ich hatte Angst gehabt, ich war mutig gewesen, ich war fleißig und manches Mal faul. Ich war ein ganz normaler Mensch. Im Sommer 1989 wurde mein Leben plötzlich zur Geschichte. Es war, als gehörte es nicht mehr nur mir. (DWI 163)

Im Jahre 1989 wird das bisherige Leben der Ostdeutschen etwa im medialen Diskurs auf den Prüfstand gestellt. Der äußere Druck scheint auch die jüngeren Leute dazu zu bewegen, ihr Dasein zu überdenken, folglich auch mit dem Argument zu verteidigen, sie seien ganz normale Menschen und hätten ein ganz normales Leben geführt, auch wenn sie in einem anderen deutschen Land aufgewachsen sind. Wiechmann stellt den Rahmen seiner Existenz im Sozialismus dar, ein ganz ,normales‘ Leben unter Umständen, die vom westdeutschen Lebensstil abweichen. Es gibt hier keine Westmusik, keine Waren aus dem Westen, die – wie im Falle der Entgrenzten – zu Generationsobjekten stilisiert werden. Auch wenn das Westfernsehen erwähnt wird, kommt ihm in der rekonstruierten Lebensgeschichte Daniel Wiechmanns keine Schlüsselbedeutung zu. Im Gegensatz zu den Entgrenzten lebt der Protagonist sein Leben in der DDR, sehnt sich nach keinem Land ‚drüben‘. Er scheint keine andere Welt zu kennen, keine andere zu ersehnen. Als naives Kind glaubt er an das ihm überlieferte idealisierte Bild der DDR, das erst nach der ,Wende‘ dekonstruiert wird, weil „[d]ie Wahrheiten über die DDR“ auftauchen, wodurch auch er einen „Blick hinter die Fassade dieses Potemkinschen Dorfes“ bekommt und seiner „Illusionen“ (DWI 167) beraubt wird. Trotzdem ist das erzählte Ich lange Zeit nicht imstande, sich von dem Land seiner Herkunft abzuwenden. Die Suche nach der Antwort auf die Frage, warum es ihm nicht gelingt, einen Schlussstrich zu ziehen, sich „der pauschalen Verurteilung des Unrechts, das in der DDR vielen geschehen war, einfach anzuschließen,“ (DWI 168) ein neues, unbelastetes Leben anzufangen, führt ihn zu der Erkenntnis, dass er nur durch Zufall bzw. dank der ,Gnade der späten Geburt‘ nicht zum Täter wurde. Ich fragte mich oft, […] [w]arum ich mich nicht abwenden konnte von meiner Vergangenheit. Warum ich diese Vergangenheit nicht hinter mir lassen konnte. Bis ich eines Tages begriff, warum es mir weh tat, wenn an der ehemaligen Grenze in Berlin die Gedenktafeln für die getöteten ostdeutschen Grenzsoldaten entfernt wurden. Weil nicht viel gefehlt hatte, damit ich einer von ihnen gewesen wäre. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn sich die Entwicklungen in der DDR um ein paar Jahre verschoben hätten. Aber vielleicht wäre ich wie viele andere ein Grenzsoldat geworden und hätte eines Nachts vor der Entscheidung gestanden, auf einen Flüchtenden zu schießen. (DWI 168–169)

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Auch er war die DDR. Dass er nicht an der Seite der Täter stand, hat er alleine einer glücklichen Fügung zu verdanken. Der junge Pionier findet letztendlich sein Glück, was dem in der dritten Person Singular angehängten „Epilog“ zu entnehmen ist. Im kapitalistischen Westen – nach einer langen Phase der Neuorientierung – entdeckt er, dass „die Menschen im Grunde ihres Herzens gut waren“ (DWI 174). Auch das erzählte Ich scheint in der neuen Realität angekommen zu sein, obwohl es sich sein ganzes Leben lang auf ein anderes – denn sozialistisches – Ziel vorbereitet hatte.

9.3 Von den Zonenkindern zur Dritten Generation Ostdeutschland. Mediales Phänomen der Wende-Kinder Jana Hensel und Daniel Wiechmann beziehen sich auf die gleiche Kindheit in der DDR. Nichtdestotrotz sind in ihren veröffentlichten Erinnerungen nicht nur andere Aspekte, sondern darüber hinaus auch andere Akzente erkennbar, was nicht zuletzt auf die wenigen Jahre Altersunterschied zurückgeführt sein kann. Der Henselschen Rekonstruktion wird eine distanzierte, oft ironische Schilderung der kindlichen Optik bei Wiechmann gegenübergestellt. Als ein gemeinsames Element – allerdings nicht nur bei Hensel und Wiechmann, sondern auch bei anderen Autorinnen und Autoren dieses Generationszusammenhangs, die in diesem Kapitel nur erwähnt, nicht aber besprochen wurden – darf das Archivierungsverfahren angesehen werden, so dass eine Art Katalog der Generationsobjekte zusammengestellt wird, als ob dieses Sicherheit zu garantieren vermag. Dem könnte eine identitätsstiftende Bedeutung zukommen. Im Gegensatz zu den älteren Kohorten spielen in diesem Fall nicht mehr die sogenannten historischen Ereignisse die entscheidende Rolle, sondern Elemente des Alltags, die mit der ‚Wende‘ abhandengekommen sind. Die Wende-Kinder lassen sich im öffentlichen Diskurs als eine Einheit erkennen, die zwar vielfältige Erfahrungen verkörpert und auch nicht immer ein gemeinsames Ziel verfolgt, aber ihre Position in einem vergleichbaren Ton präsentiert, der auch vernommen wird. Es handelt sich auch um einen der ganz wenigen Generationszusammenhänge, die den Weg der Kommunikation einschlagen und dadurch auch eine mediale Debatte auslösen. Welche Rolle in diesem Kommunikationsprozess die Literatur spielt, darauf verweist in diesem Zusammenhang etwa Katrin Löffler: Literatur […] stellt nicht nur Erinnerungsprozesse dar, sondern entfaltet darüber hinaus als Medium und Teil des kommunikativen Gedächtnisses in der Erinnerungskultur Wirkung. Für die Zonenkinder ist dies aufgrund der intensiven Debatte über das Buch gut dokumentiert […].68

68 Löffler: Systemumbruch und Lebensgeschichte, S. 139.

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Die erste Debattenwelle wurde tatsächlich von Jana Hensels Zonenkinder ausgelöst. Dies dokumentiert der von Tom Kraushaar 2004 herausgegebene Band Zonenkinder und wir. Auch wenn Hensels Buch anfangs begeistert aufgenommen wurde – vor allem im Osten feiert es Verkaufserfolge69 –, sorgt es schnell für Auseinandersetzungen. In dieser Hinsicht war dieses Buch, Kraushaar zufolge, auch wirksamer als alle anderen Medienereignisse, indem es Begriffe schuf, mit denen bis heute hitzig gestritten wird, und indem es Fragen aufwarf, Fragen nach der Erinnerung an die DDR und welche Rolle diese Erinnerung in einem vereinten Deutschland spielen soll oder darf.70

Das eigentliche Verdienst des Buches sieht Kraushaar jedoch nicht darin, dass es Gemeinsamkeiten hervorhebe und dadurch integriere, sondern dass es differenziert, also Unterschiede erzeugt: Der Text entfaltet sich in dem Streit, der sich um ihn herum aufbaut, er wächst in dem, was er an Widersprüchen und Gegensätzen im vereinigten Deutschland sichtbar und bewusst gemacht hat.71

Zonenkinder entfaltet dementsprechend eine gesamtdeutsche Debatte, in der es eine explizit gewählte ostdeutsche Position annimmt. Hensels Stellungnahme steht stellvertretend für jene Ostdeutschen, denen sie mit ihrem Buch eine Stimme zu verleihen scheint. So deutet etwa Angela Merkel in ihrem in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung abgedruckten Text, von dem ein Ausschnitt auf dem Cover der Zonenkinder angeführt wurde, Zonenkinder als einen „Beitrag für ein gewachsenes Selbstbewusstsein aller, die aus der früheren DDR kommen.“72 Die Popularität der Zonenkinder bezeugen allerdings nicht nur rege Diskussionen in öffentlichen Medien, die von Fachleuten geführt werden, sondern auch zahlreiche Leserstimmen, die in Leserbriefen wie auch in Kundenrezensionen auf Amazon artikuliert werden.73 Die begeisterten Leserstimmen können zwar vom Erfolg des Buches zeugen, allerdings ist hier Vorsicht geboten, will man daraus generalisierende Schlussfolgerungen ziehen. Nicht ohne Bedeutung scheint nämlich der Umstand zu sein, dass sich vor allem diejenigen bemühen, ihre Meinung schriftlich niederzulegen, die ihre Zustimmung aussprechen wollen. Kraushaar verweist aber in diesem Kontext darauf, dass in den affirmativen Stellungnahmen auch das Idenitätsangebot des Textes angenommen worden sei.74 Die Kundenrezensionen bei Amazon scheinen dagegen ähnlich wie im Falle der professionellen Kritiker

69 Vgl. Tom Kraushaar: Vorwort. In: ders. (Hg.): Zonenkinder und wir. Die Geschichte eines Phänomens. Reinbek bei Hamburg 2004, S. 8. 70  Kraushaar: Vorwort, S. 7. 71 Kraushaar: Vorwort, S. 9. 72 Angela Merkel: Unser Selbstbewusstsein. In: Kraushaar: Zonenkinder, S. 76. 73 Vgl. Kraushaar: Wir Zonenkinder. Leserkommentare. In: ders: Zonenkinder, S. 74. 74 Vgl. Kraushaar: Wir Zonenkinder. Leserkommentare, S. 74.

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widersprüchlicher zu sein – „widerspruchslose Zustimmung und verbissene Kritik [prallen] aufeinander“.75 Der polemische Gestus zeugt jedoch genauso wie eine affirmative Haltung von der Resonanz des Buches und damit von der öffentlichen Präsenz der Themen, die es in den medialen Umlauf setzt. Die Wende-Kinder scheinen damit ihren medialen Durchbruch gefeiert zu haben. In den darauffolgenden Jahren melden sich die Angehörigen des Generationszusammenhangs mehrmals zu Wort. Ins Rampenlicht tritt nicht nur Jana Hensel, sondern auch die 2010 gegründete Initiative 3te Generation Ostdeutschland.76 Die Umstände werden auf der Homepage des Netzwerkes wie folgt erklärt: Im Herbst 2009 jährten sich die friedliche Revolution und der Fall der Mauer zum 20. Mal. Die Printmedien und das Fernsehen waren voll davon, wobei es fast nur Westdeutsche oder ältere Zeitzeugen waren, die über die „Wende“ und die DDR diskutierten. Adriana Lettrari, geboren 1979 und aufgewachsen in Mecklenburg-Vorpommern, fragte sich, warum der Osten, seine Geschichte und seine Zukunft fast ausschließlich von Männern im fortgeschrittenen Alter wie Wolfgang Thierse oder Gregor Gysi vertreten werden. Ihre Frage „Wo findet eigentlich meine Generation statt?“ wurde zum Kern eines Planes: Die zwischen 1975 und 1985 in der DDR geborenen Menschen zusammenzubringen und sichtbar zu machen. Die Idee, ein Netzwerk „3te Generation Ostdeutschland“ zu gründen, war geboren. Schon wenig später fand eine Gruppe engagierter Menschen zusammen und gründete am 1. Juni 2010 in den Räumen der Hertie Stiftung in Berlin die Initiative 3te Generation Ostdeutschland: Judith Enders, Katarina Günther, Michael Hacker, Adriana Lettrari, Stephanie Maiwald, Hagen Pietzcker, Henrik Schober, Mandy Schulze und Johannes Staemmler.77

Ihr Programm wird als Generationsstimme artikuliert, was vom Feuilleton auch schnell übernommen wird. Den Begriff erklärt der 1982 in Dresden geborene Johannes Staemmler, einer der spiritus movens der Initiative.78 In einer Veranstaltungsankündigung aus dem Jahre 2011 – einer Einladung zur ersten Konferenz der Dritten Generation Ost – verweist er auf den Begriff der dritten Generation, der ursprünglich in der Migrationsdebatte Verwendung fand. Mit diesem Terminus wird im öffentlichen Diskurs auf Enkel der Einwanderer und Gastarbeiter verwiesen, die eine doppelte Prägung erfahren haben. Ihre Wurzeln liegen einerseits im Herkunftsland ihrer Großeltern, andererseits im Land, in dem sie selbst aufgewachsen sind.79 Auch wenn die Lage in den neuen Bundesländern nicht identisch mit der Situation der

75 Kraushaar: Wir Zonenkinder. Leserkommentare, S. 74. 76 Vgl. Geschichte des Netzwerks Dritte Generation Ost, URL: http://netzwerk.dritte-generation-ost. de/widget-styles/netzwerk/ (letzter Zugriff: 10.07.2019). 77 Geschichte des Netzwerks Dritte Generation Ost. 78 Vgl. Michael Hacker/Stephanie Maiwald/Johannes Staemmler/Judith Enders/Andriana Lettrari/ Hagen Pietzcker/Henrik Schober/Mandy Schulze (Hg.): Dritte Generation Ost. Wer wir sind, was wir wollen. Berlin 2012, S. 260. 79 Vgl. Johannes Staemmler: Gibt es eine Dritte Generation Ostdeutschland? (veröffentlicht 28.06.2011, aktualisiert 30.10.2012). In: Soziologieblog, URL: https://soziologieblog.hypotheses. org/1148 (letzter Zugriff: 10.07.2019).

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Einwandererfamilien sei, erkennt Staemmler Berührungspunkte, was auch der Name der Initiative zum Ausdruck bringen soll. „Die Hypothese des Projektes ,Dritte Generation Ostdeutschland‘ ist, dass der Wandel einen Einfluss auf die Kinder der letzten ‚richtigen‘ DDR-Bürger hatte.“80 Gemeint sind Jahrgänge 1975–1985, ohne dass die Wahl der Eckdaten begründet wird. Es handelt sich laut Staemmler um 2,4 Millionen Menschen, die „den größeren Teil ihres Lebens nach der Wiedervereinigung verlebt und da den übergroßen Teil ihrer Erfahrungen gesammelt“81 haben. In der Ankündigung scheinen noch ganz vorsichtig Fragen formuliert worden zu sein. Bezüglich der ersten Phase fallen die Erklärungen der Initiatoren des Projektes ganz nüchtern aus. Verwiesen wird hier auf die labile Lage der jungen Generation, die von der Unsicherheit der Transformationsphase geprägt worden sei. Eine gemeinsame Erfahrung der Dritten Generation könnte sein, dass diese Menschen in ihren eigenen Familien nicht ausreichend Orientierung zur Bewältigung des eigenen Ausbildungswegs gefunden haben. Durch ökonomische und soziale Verunsicherung geprägt, konnten diese kaum Anhaltspunkte zur Berufs- oder Studienwahl geben. Vielmehr könnte es den jungen Ostdeutschen gemein sein, dass sie einen großen Teil der Übersetzungsleistung für ihre Eltern geleistet haben, damit diese sich im demokratischen und marktwirtschaftlichen System orientieren konnten. […] Ein zweiter Punkt würde sich mit der Frage der Identität beschäftigen. Spielt die Herkunft für die Dritte Generation eine Rolle? Wenn ja, wäre das ein Indiz für einen gerechtfertigten Generationenbegriff.82

Staemmler skizziert darüber hinaus die Vorgehensweise des von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten Projektes. So wird etwa im Jahre 2011 eine Veranstaltung für ca. 120 Personen organisiert, die zwischen 1975 und 1985 in der ehemaligen DDR geboren wurden. „Mittels explorativer Ansätze wollen wir versuchen, den individuellen Erfahrungen dieser jungen Ostdeutschen nachzugehen“,83 heißt es in der Erklärung. Gefragt wird nach der (gemeinsamen) Vergangenheit, aber auch nach der Zukunft.84 Der politische Umbruch samt des Transformationsprozesses wird in den Aussagen der Initiatoren immer wieder als generationsspezifische Prägeerfahrung gedeutet.85 Daraus werden auch „potentielle[…] Transformationskompetenzen“86 80 Staemmler: Gibt es eine Dritte Generation Ostdeutschland? 81 Staemmler: Gibt es eine Dritte Generation Ostdeutschland? 82 Staemmler: Gibt es eine Dritte Generation Ostdeutschland? 83 Staemmler: Gibt es eine Dritte Generation Ostdeutschland? 84 Vgl. Staemmler: Gibt es eine Dritte Generation Ostdeutschland? 85 Darauf verweist auch Juliane Dietrich, die nächste aktive Vertreterin der Dritten Generation Ost. (Vgl. Björn Meine: „Wir waren viel auf uns selbst gestellt“. Die „Dritte Generation Ost“ mit besonderen Kompetenzen. Interview mit Juliane Dietrich. In: Leipziger Volkszeitung (14.10.2015), URL: http:// mein-leben-entdecken.de/wp-content/Wir-waren-viel-auf-uns-selbst-gestellt.pdf, letzter Zugriff: 10.07.2019). 86 Adriana Lettrari: Das Wissen der Wendekinder. In: Der Tagesspiegel (30.11.2013), URL: https://

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der Dritten Generation Ostdeutschland abgeleitet. So bemerkt etwa Adriana Lettrari – Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin, die sich selbst explizit als ein Wende-Kind ausgibt – in der besonderen Sozialisation ihrer Altersgenossen, die in zwei politischen Systemen aufgewachsen sind und bereits in jungen Jahren „die Werte, Anforderungen und Regeln des neuen Lebensraumes bewältigen“87 mussten, ohne dass ihnen Ratschläge der Eltern zur Verfügung gestanden hätten, die Quelle des Erfolges von Angehörigen der Dritten Generation Ost. Daraus folgt auch die Frage, ob Transformationskompetenzen dieser Generation für die zukünftige Gestaltung von Politik, Ökonomie und Zivilgesellschaft in beschleunigten Zeiten relevant sein könnten. Denn das kognitive und emotionale Wissen, dass es im Leben auch ganz anders und manchmal sehr überraschend kommen kann und dann doch weitergeht, ist bei der Dritten Generation Ostdeutschland tief verankert.88

Das Netzwerk schafft eine Kommunikationsplattform, ermöglicht den Austausch von Erfahrungen und fördert damit eine öffentlich vernehmbare Generationserzählung. Mehrere Initiativen zielen darauf, den Wende-Kindern im öffentlichen Diskurs eine Stimme zu verleihen. Auf den „großen Redebedarf“ der jüngsten Generation verweist etwa Juliane Dietrich, die unter dem Dach der Dritten Generation Ost Biographie-Workshops organisiert, in deren Rahmen die Wende-Kinder „miteinander ins Gespräch kommen, über ihre Vergangenheit zwischen den Systemen sprechen, die Fragen stellen, die sie vielleicht nie jemandem stellen konnten. Emotionale Arbeit heißt es in der Fachsprache […].“89 Das Selbstbewusstsein der Wende-Kinder, das Juliane Dietrich durch ihre Workshops stärken will, scheint allerdings in den nächsten Jahren eindeutig gestiegen zu sein, nicht zuletzt dadurch, dass sie bemerkt wurden. Dritte Generation Ost wurde etwa von dem Bundespräsidenten Joachim Gauck zu einem Gespräch eingeladen, woraus Dietrich den Schluss zieht: „Das hat uns schon gezeigt, dass wir tatsächlich eine Stimme sind beziehungsweise eine Stimme geben. Und das ist es ja, was wir wollen.“90 Im Jahre 2012 wird von der Initiative sogar ein Band herausgegeben, der beinahe wie eine Art Programmschrift gelesen werden kann. Dritte Generation Ost. Wer wir sind, was wir wollen lautet der Titel des Eröffnungsartikels von Michael Hacker, Stephanie Maiwald und Johannes Staemmler, der zugleich auch der Titel des Bandes  ist. www.tagesspiegel.de/berlin/dritte-generation-ost-das-wissen-der-wendekinder/9149954.html (letzter Zugriff: 10.07.2019). 87 Lettrari: Das Wissen der Wendekinder. 88 Lettrari: Das Wissen der Wendekinder. 89 Carina Brestrich: Die Stimme der Wendekinder. In: Pirnaer Zeitung. Sächsische Zeitung (5./6.12.2015, URL: http://mein-leben-entdecken.de/wp-content/Stimme_Wendekinder-Pirna-Dez15. pdf (letzter Zugriff: 10.07.2019). 90 Zit. nach: Sarah Kugler: Stimme der dritten Generation. In: Potsdamer Neueste Nachrichten (24.10.2014), URL: https://www.pnn.de/potsdam/stimme-der-dritten-generation/21559164.html (letzter Zugriff: 10.07.2019).

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Diese Generation versucht nicht nur sich selbst zu artikulieren, sondern darüber hinaus einen gesellschaftlichen Dialog einzuleiten: „Dieses Buch ist der Versuch, die abgedroschenen Worthülsen abzuschütteln und einen Dialog zwischen Jung und Alt, zwischen Ost und West auf eine andere Weise als bisher zu führen.“91 Die Wende-Kinder grenzen sich von dem im öffentlichen Diskurs herrschenden Diktaturgedächtnis sowie von dem in familiären Kreisen dominanten Arrangementgedächtnis ab und zielen auf einen dritten Weg, der von der alten Begrifflichkeit endgültig Abschied nehmen soll. Sie leisten ihren Beitrag „zu Erinnerungen an eine Zeit, die in der Öffentlichkeit häufig entweder als Unrechtsstaat oder als die wunderbare Welt von früher eingeordnet wird. Dazwischen gibt es meist nichts. Das wollen wir ändern.“92 Die junge Generation blicke dementsprechend nicht nur zurück, sondern auch in die Zukunft.93 Gestellt werden auch Forderungen, und zwar an die Eltern, die „sich mit ihren Erinnerungen […] befassen und ihre Kinder dabei“94 einbeziehen sollen, an die Westdeutschen, die nun erkennen sollen, dass mit dem Mauerfall auch die alte Bonner Republik untergegangen sei,95 so dass die neuen Trennlinien nicht mehr zwischen Ost und West, sondern eher zwischen Alt und Jung verlaufen,96 und last but not least an „alle jungen Deutschen“, die endlich die „Grenzziehung zwischen Ost und West“ als „Relikt, das endlich in den Ruhestand geschickt werden muss“,97 aufgeben sollen. „Die Dritte Generation Ostdeutschland und ihre Altersgenossen im Westen dürfen es sich nicht auf der Ost-West-Couch bequem machen, die ihnen ihre Eltern eingerichtet haben. Werft die Wortkrücken der letzten 20 Jahre in die Ecke!“98 Auch wenn die Forderungen selbstbewusst zu Sprache gebracht werden und die generationelle Selbstverortung recht überzeugend wirken kann, so dass eine Generationseinheit vermutet werden darf, scheint die Initiative die Probe der Zeit nicht überstanden zu haben. Bereits im Jahre 2012 wirft Andrea Hanna Hünniger – dem Geburtsjahrgang nach selbst eine Angehörige der Dritten Generation Ost – der Initiative vor, sie habe zwar ein Label, aber kein Ziel. Ironisch fasst sie die Lage zusammen: „Diese Dritte Generation Ost erhebt sich nun und will erst einmal: reden. Darin ähnelt sie den anonymen Alkoholikern oder dem, was man über die weiß. 20 Jahre aufholen, sich vom Schweigen wie von einer Sucht erholen, sich über die eigene Nichtexistenz hinwegsetzen. Aber: Eine Bewegung, die nichts will, ist ein Sportverein, um gleich noch einen Vergleich zu machen.“99 91 Michael Hacker/Stephanie Maiwald/Johannes Staemmler: Dritte Generation Ost. Wer wird sind, was wir wollen. In: dies. u.a. (Hg.): Dritte Generation Ost, S. 9. 92 Hacker/Maiwald/Staemmler: Dritte Generation Ost, S. 10. 93 Vgl. Hacker/Maiwald/Staemmler: Dritte Generation Ost, S. 12. 94 Hacker/Maiwald/Staemmler: Dritte Generation Ost, S. 13. 95 Vgl. Hacker/Maiwald/Staemmler: Dritte Generation Ost, S. 13. 96 Vgl. Hacker/Maiwald/Staemmler: Dritte Generation Ost, S. 13. 97 Hacker/Maiwald/Staemmler: Dritte Generation Ost, S. 14. 98 Hacker/Maiwald/Staemmler: Dritte Generation Ost, S. 14. 99 Andrea Hanna Hünniger: Die wollen nur reden. In: Der Freitag (16.08.2012), URL: https://www.

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Die Ratlosigkeit der Dritten Generation Ost diagnostiziert ebenfalls Martin Machowecz in Die Zeit, der auf den Zerfall der Bewegung verweist. Auch wenn es der Initiative gelungen sei, die Debatte über Ostdeutschland neu zu beleben, habe sie keine Revolution ausgelöst, obwohl viele es ihr zugetraut hätten.100 Im Jahre 2014 sei die vermeintliche Dritte Generation Ost stumm geworden, „vom Radar der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend verschwunden.“101 Die Initiative wurde gespalten. Einige der Initiatoren gründeten einen neuen Verein, nämlich „Perspektive hoch 3“.102 All den Initiativen fehlten laut Machowecz weitreichende Zukunftsideen. „Deshalb ist der große Rausch der Wendekinder nun erst einmal vorbei. Es war schön“,103 lautet die Diagnose des Zeit-Redakteurs. Allerdings sei an dieser Stelle ausdrücklich betont, dass die jungen Ostdeutschen im Gegensatz zu älteren Generationen tatsächlich eine Debatte in Gang gebracht haben. Auch wenn wir es mit einer heterogenen Gruppe zu tun haben, die keinen Verein gründete und im institutionellen Sinne gespalten bzw. zersplittert war, darf sie als potentielle Generationseinheit nicht ausgeschlossen werden. Von Jana Hensel bis zu der Dritten Generation Ost wird auf den Transformationsprozess als Prägeerfahrung verwiesen, woraus auch ihre Potentiale abgeleitet werden. Medial scheinen die Wende-Kinder ein Präsenzzeichen gesetzt zu haben, kaum vergleichbar mit der Elterngeneration.

freitag.de/autoren/der-freitag/die-wollen-nur-reden (letzter Zugriff: 17.07.2019). 100 Vgl. Martin Machowecz: Ratlose Revoluzzer. In: Die Zeit 21 (2014), URL: https://www.zeit. de/2014/21/dritte-generation-ostdeutschland (letzter Zugriff: 17.07.2019). Als der Höhepunkt darf die Einladung von dem Bundespräsidenten Joachim Gauck angesehen werden. Gauck kommt in einer Rede explizit auf die Wende-Kinder zu sprechen. (Vgl. Joachim Gauck: Wendekinder. Fragt bitte laut. In: Die Zeit 3 (2013), URL: https://www.zeit.de/2013/03/Wendekinder-Joachim-Gauck, letzter Zugriff: 17.07.2019). 101 Machowecz: Ratlose Revoluzzer. 102 Vgl. Machowecz: Ratlose Revoluzzer. Im Jahre 2015 meldet sich die Dritte Generation Ost nochmals zu Wort, indem sie sich an einem Manifest der Generation Deutsche Einheit beteiligt, d.h. an einem „Memorandum […] einer Gruppe von engagierten, jungen Menschen, die um die 30 bis 40 Jahre alt sind und pluralistischen Sozialisationen und Biographien in Deutschland leben.“ Gemeint sind „Wendekinder“, „Westkinder“ und „Kinder mit sogenanntem Migrationshintergrund“, die „hiermit den Paradigmenwechsel“ einläuten wollen. Die neue Vermarktungsstrategie scheint sich nicht durchgesetzt zu haben. Im Gegensatz zu der Initiative Dritte Generation Ost gewinnt die Generation Deutsche Einheit anscheinend wenig Resonanz. (Generation Deutsche Einheit. Wir mischen uns ein. In: Der Tagesspiegel (1.10.2015), URL: https://www.tagesspiegel.de/politik/3-oktober-generationdeutsche-einheit-wir-mischen-uns-ein/12394394.html, letzter Zugriff: 17.07.2019). 103 Generation Deutsche Einheit.

10 Zum Wert eines Idealtypus oder die Frage der Periodisierung. Ausblick Die ,Wende‘ und die Aufarbeitung des DDR-Erbes gehören zu Themen, die in der Forschungsliteratur sehr häufig und zwar unter verschiedenen Gesichtspunkten bearbeitet und präsentiert werden. Nun wurde hier ein erneuter Versuch unternommen, das behandelte Gebiet aus einer anderen Perspektive zu beleuchten. Ähnlich wie im Falle der Literaturgeschichtsschreibung, deren Grundlage die Periodisierung ausmacht, wird auch hier ein Überblick angestrebt, ein komplexitätsreduzierendes Konstrukt zu Hilfe gerufen. Zielt die gängige Vorstellung des Geschichtsverlaufs auf eine linear gefasste zeitliche Ordnung, scheint der Generationenbegriff den zeitlichen Ordnungsrahmen zu durchbrechen und die Polyphonie der – sei es literarischen, sei es gesellschaftlichen – Tendenzen mitzuberücksichtigen. Nun werden Generationen im öffentlichen Diskurs gerne als pure Metaphorik – nicht selten als Selbstvermarktungsformel – entlarvt, während das gängige Bild des Geschichtsverlaufs – sei es in der Literatur-, sei es in der Geschichtsschreibung – immer noch als eine beinahe zielgerichtete Abfolge von Ereignissen und Tendenzen dargestellt wird, ohne die sich überschneidenden, der Chronologie widerstrebenden Tendenzen in den Vordergrund zu rücken. Das Publikum hegt allzu selten den Verdacht, dass es sich hier ebenfalls um ein Gedankenkonstrukt handele, das den Prozess des Verstehens befördern soll. Die chronologische Ordnung beherrscht die Denkweise so stark, dass selbst die Literaturgeschichten, in denen etwa alternative Gruppierungen unterschieden werden, die zu gleicher Zeit tätig sind, als Geschichte aufeinander folgender Akteure wahrgenommen werden, als hätten sie die Bühne nacheinander betreten und ihre Vorgänger abgelöst. Divergierende Tendenzen im gleichen Zeitraum können mit diesem Gedankengebilde also schwerlich erfasst und veranschaulicht werden. Dass sich die Zeit als die vorherrschende Ordnungskategorie unseres Denkens etabliert hat, wird nicht nur auf dem Gebiet der Literaturgeschichtsschreibung sichtbar, sondern beinahe in allen Lebensbereichen, öffentlicher wie privater Art. Wird im öffentlichen Diskurs etwa der Begriff „junge Generation“ verwendet, wird gleichzeitig die Ablösung der Älteren von ihren Nachfolgern mitgedacht, als wären die Vorfahren damit verschwunden, als hätten sie ein Denk- und Schreibverbot erhalten. Die beinahe metaphorische Natur dieses Denkschemas wurde bereits im Vorfeld der vorliegenden Untersuchung ausgemacht. Die Zeit als Ordnungskategorie mit Alleinherrschaftsanspruch scheint hinsichtlich mancher Fragestellungen mehr zu verdecken als zu beleuchten. Nicht anders präsentiert sich die Lage im Falle der ostdeutschen Literatur nach 1989 bzw. der Wahrnehmung des Umbruchs im ‚Wendejahr‘. So tauchen im Jahre 1989 divergierende Diagnosen auf. Das DDR-Bild erscheint widerspruchsvoll. Die Vergangenheit wird recht unterschiedlich thematisiert und beurteilt, so dass die ,Wende‘ https://doi.org/10.1515/9783110710793-010

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(und die Nachwendezeit) eher als ein polyphoner Raum erscheinen. Darüber dass sich der Blick auf die DDR im Laufe der Jahre verändert hat, sind sich heutzutage wahrscheinlich alle einig. Voreilig werden jedoch mit dieser Annahme gesellschaftliche Diagnosen gestellt. Das war auch der Ansporn zu der vorliegenden Studie. Der im ersten Kapitel angeführten These Wulf Kirstens, dass in der unmittelbaren Nachwendezeit die historische Zäsur erst in Texten dokumentarischen Charakters greifbar werde, während die Verarbeitung in Wenderomanen, -dramen und -gedichten auf sich warten ließ, ist insofern zuzustimmen, als die Problematisierung der historischen Erfahrung in fiktionalen Texten tatsächlich eines distanzierten Blicks bedarf, der erst ex post zu gewinnen ist. Folgten wir diesem Gedankengang, hätten wir mit hoher Wahrscheinlichkeit zu dem Schluss kommen müssen, dass Tagebücher, Protokolle, Autobiographien Zeugnisse der ersten Phase des gesellschaftlichen Umbruchs seien, die in den darauffolgenden Jahren zwangsläufig an Bedeutung hätten verlieren müssen. Der Trend zum Autobiographischen bleibt jedoch aufrechterhalten. Wird hier nach einer Entwicklungstendenz gesucht, sind in der ersten Phase Autobiographien von namhaften Schriftstellern wie Günter de Bruyn oder Hermann Kant unübersehbar. Ihnen darf man Beispiele aus den späteren Jahren gegenüberstellen, die auf eine humorvolle, distanzierte Weise das eigene Leben in der ehemaligen DDR rekonstruieren, wobei sie nicht selten – wie etwa bei Jakob Hein – auf angloamerikanische/ popliterarische Muster rekurrieren (was auch im Falle anderer Genres erkennbar ist wie etwa in Thomas Brussigs Schelmenroman Helden wie wir oder auch Ingo Schulzes Short Storys). Derartige Erkenntnisse verleiten zu einem (voreiligen) Schluss, autobiographisches Erzählen ostdeutscher Autoren habe sich von den monumentalen Lebensbilanzen bis hin zu locker rekonstruierten und witzig erzählten Geschichten der Kindheit und Jugend entwickelt. Der Blick zurück auf die DDR hat sich aber nicht deshalb verändert, weil alle Schriftsteller sie anders betrachten, sondern weil sich jeweils andere Akteure mit der Vergangenheit befassen. Die ältesten Generationen verlassen nach und nach die Bühne – manche leben nicht mehr, manche haben ihren Teil der Geschichte schon schriftlich verfasst und veröffentlicht –, das Sagen haben nun die Nachfolgergenerationen, die mit ihrem Erfahrungshorizont zwangsläufig anders erzählen, weil sie u.a. Bruchstücke der Vergangenheit zunehmend anhand von fremden Quellen rekonstruieren müssen. Ob diejenigen, die die Chance hatten, ihre Texte sowohl um 1989 als auch zwanzig oder dreißig Jahre später zu schreiben und zu publizieren, ihren Schreibstil und ihre DDR-Sicht grundsätzlich veränderten, erscheint fraglich. Christa Wolf verfasst weder 1990 noch 2010 die vom Publikum lange erwartete Beichte einer Staatsdichterin. Sowohl nach dem Umbruch als auch zwei Jahrzehnte später werden ihre autobiographischen Geschichten fiktionalisiert. Wolfs autobiographischer Roman Stadt der Engel weist jedoch weder Berührungspunkte mit dem Narrativ der Wende-Kinder wie Hünniger, Rennefanz oder auch der Initiative Dritte Generation Ost noch der Entgrenzten Generation auf, die ihre autobiographischen Erzählungen, Romane und Sachbücher ebenfalls um das Jahr 2010 auf den Markt

10 Zum Wert eines Idealtypus oder die Frage der Periodisierung. Ausblick 

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bringen. Und auch die schon längst verstorbenen Gründerväter der Republik leisten ihren Beitrag im öffentlichen Diskurs. So wird Strittmatters Selbststilisierung auch im Jahre 2008 zum Tagesthema. Seine Aufzeichnungen Der Zustand meiner Welt werden im Jahre 2014 posthum herausgegeben. All diese Stimmen verschmelzen nicht zu einem Narrativ um das Jahr 2010, sondern scheinen vielmehr ungeachtet der geschichtlichen Zeit im Zeitalter ihrer selbst zu ruhen, woraus sich die besagte Polyphonie ergibt. Im Jahre 1992 – um ein anderes Beispiel anzuführen – werden Kurt Drawerts Spiegelland, Günter de Bruyns Zwischenbilanz und Erwin Strittmatters Der Laden III veröffentlicht. So zeitnah die Texte auch erscheinen, so unterschiedlich sind sie in ihrer inhaltlichen, stilistischen und ideologischen Ausprägung, so dass der Betrachter schnell zum Schluss kommt, sie verbinde nichts außer dem Erscheinungsdatum. Eine Abrechnung mit den Lügen der Vätergeneration bei Drawert steht neben einer in ‚Plauderton Fontanes‘ geschriebenen Zwischenbilanz des damals sechzigjährigen de Bruyn und Strittmatters Dorfgeschichten als literarischem Miniaturmodell der DDR. Eine Tendenz lässt sich im Falle der genannten Texte kaum erkennen. Im Jahre 2002 erscheinen Jana Hensels Zonenkinder – Gründungstext einer neuen Generation – wie Helga Königsdorfs Landschaft in wechselndem Licht und Fritz Rudolf Fries‘ Diogenes auf der Parkbank. Jung und alt treffen auf dem literarischen Markt aufeinander, ohne dass ihren Narrativen ein verwandtes Konzept zu Grunde läge. Die im Anhang nach Jahren zusammengestellten hauptsächlich autobiographischen Texte, die in den vorausgegangenen Kapiteln angeführt und thematisiert wurden, zeigen den mehrstimmigen Chor bereits auf der Farbebene. Da jede Farbe hier eine andere Generation markiert, erscheinen die einzelnen Jahre nicht mehr wie eine harmonische Einheit, sondern als buntes, beinahe chaotisches Durcheinander. Nicht die Zeitachse versinnbildlicht in diesem Falle aber die Tendenzentwicklung, sondern – darauf bezieht sich die zu Beginn des Buches aufgestellte Hypothese – innerhalb des Zeitraumes die subjektive Zeit der einzelnen Generationen. So scheint es doch bedenkenswert, ob die ‚objektive‘ Zeit unseres Geschichtsdenkens nicht grundsätzlich um die subjektive Zeit der behandelten Akteure – in diesem Fall der Generationen – ergänzt werden müsse, wenn nach gesellschaftlichen und ästhetischen Tendenzen gesucht wird. Dieser Forschungsansatz vermag nämlich der Vielfalt in der Einheit Rechnung zu tragen.

Polyphonie ostdeutscher Erinnerung an die DDR. Zeittafel

1990

Erwin Strittmatter: Die Lage in den Lüften Misstrauische Patriarchen

1991

Hermann Kant: Abspann Aufbau-Generation

1992

Erwin Strittmatter: Der Laden III Misstrauische Patriarchen

1994

Peter Wawerzinek: Das Kind das ich war Integrierte Generation

Christa Wolf: Was bleibt Aufbau-Generation

Thomas Rosenlöcher: Die verkauften Pflastersteine Funktionierende Generation

Günter de Bruyn: Zwischenbilanz Aufbau-Generation

Kurt Drawert: Spiegelland Integrierte Generation

Erwin Strittmatter: Vor der Verwandlung Misstrauische Patriarchen

Peter Wawerzinek: Mein Babylon Integrierte Generation

Christoph Dieckmann: Time is on my side Integrierte Generation

Thomas Brussig: Helden wie wir Entgrenzte Generation

1996

Corinos Enthüllungen zu Hermlin Misstrauische Patriarchen

Günter de Bruyn: Vierzig Jahre Aufbau-Generation

1998

Ingo Schulze: Simple Storys Entgrenzte Generation

1999

Rita Kuczynski: Mauerblume Funktionierende Generation

2001

Jakob Hein: Mein erstes T-Shirt Entgrenzte Generation

1995

https://doi.org/10.1515/9783110710793-011

Thomas Brussig: Am kürzeren Ende der Sonnenallee Entgrenzte Generation

Daniela Dahn: Westwärts und nicht vergessen Integrierte Generation

392 

 Polyphonie ostdeutscher Erinnerung an die DDR. Zeittafel

Fritz Rudolf Fries: Diogenes auf der Parkbank Aufbau-Generation

Helga Königsdorf: Landschaft in wechselndem Licht Funktionierende Generation

Andreas Gläser: Der BFC war schuld am Mauerbau Entgrenzte Generation

Jana Hensel: Zonenkinder Wende-Kinder

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr Aufbau-Generation

Claudia Rusch: Meine freie deutsche Jugend Entgrenzte Generation

Jakob Hein: Vielleicht ist es sogar schön Entgrenzte Generation

Jens Bisky: Geboren am 13. August Entgrenzte Generation

Daniel Wiechmann: Immer bereit! Wende-Kinder

Michael Tetzlaff: Ostblöckchen Wende-Kinder

2005

Werner Heiduczek: Die Schatten meiner Toten Aufbau-Generation

Max Maihorn: Wir, die Unberatenen Wende-Kinder

2006

Heinz Czechowski: Die Pole der Erinnerung Aufbau-Generation

2008

Mediendebatte um Erwin Strittmatter Misstrauische Patriarchen

2009

Claudia Rusch: Aufbau Ost Entgrenzte Generation

2010

Christa Wolf: Stadt der Engel Aufbau-Generation

2011

Andrea Hanna Hünniger: Das Paradies Wende-Kinder

2012

Erwin Strittmatter: Nachrichten aus meinem Leben Misstrauische Patriarchen

2002

2003

2004

Jakob Hein: Formen menschlichen Zusammenlebens Entgrenzte Generation

Uwe Tellkamp: Der Turm Entgrenzte Generation

Dritte Generation Ost (Initiative) Wende-Kinder

Susanne Fritsche: Die Mauer ist gefallen Wende-Kinder

André Kubiczek: Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn Entgrenzte Generation

Hacker/Maiwald/ Staemmler (Hg.): Dritte Generation Ost Wende-Kinder

Polyphonie ostdeutscher Erinnerung an die DDR. Zeittafel 

2013

Sabine Rennefanz: Eisenkinder Wende-Kinder

2014

Erwin Strittmatter: Der Zustand meiner Welt (post hum) Misstrauische Patriarchen

2015

Durs Grünbein: Die Jahre im Zoo Entgrenzte Generation

2018

Wolfgang Engler/Jana Hensel: Wer wir sind Integrierte Generation / Wende-Kinder

2019

Christoph Hein: Gegenlauschangriff Funktionierende Generation

Ines Geipel: Generation Mauer Entgrenzte Generation

 393

Siglenverzeichnis CRJ Claudia Rusch: Meine freie deutsche Jugend CWS Christa Wolf: Stadt der Engel CWT Christa Wolf: Ein Tag im Jahr 1960–2000 DWI Daniel Wiechmann: Immer bereit! ESL Erwin Strittmatter: Der Laden ESV Erwin Strittmatter: Vor der Verwandlung ESZ Erwin Strittmatter: Der Zustand meiner Welt GBI Günter de Bruyn: Das erzählte Ich GBV Günter de Bruyn: Vierzig Jahre GBZ Günter de Bruyn: Zwischenbilanz HKA Hermann Kant: Abspann HKL Helga Königsdorf: Landschaft in wechselndem Licht IGM Ines Geipel: Generation Mauer JHT Jakob Hein: Mein erstes T-Shirt JHV Jakob Hein: Vielleicht ist es sogar schön JHZ Jana Hensel: Zonenkinder KDS Kurt Drawert: Spiegelland PWB Peter Wawerzinek: Mein Babylon PWK Peter Wawerzinek: Das Kind das ich war RKM Rita Kuczynski: Mauerblume SHA Stephan Hermlin: Abendlicht SHN Stefan Heym: Nachruf

https://doi.org/10.1515/9783110710793-012

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https://doi.org/10.1515/9783110710793-013

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Personenregister Ahbe, Thomas 21, 22, 27–29, 31, 65–68, 81, 104, 109, 114, 124, 129–134, 136, 181, 225, 227–231, 255–257, 259–263, 279, 298, 301, 303–306, 330, 331, 334, 336, 338, 339, 353–356, 358, 368 Ahrends, Martin 88 Aicher, Otl 203 Aichinger, Ingrid 38, 75 Almsick, Franziska von 369 Anderson, Sascha 291, 297, 298 Anz, Thomas 15 Arnold, Heinz Ludwig 161, 162 Assmann, Aleida 30 Austin, John L. 46, 49 Ballack, Michael 369 Bartsch, Michaek 301 Baßler, Motitz 312 Bathrick, David 110, 214 Benjamin, Walter 207, 210, 211, 215 Benn, Gottfried 115, 151 Berbig, Roland 135, 162 Berendse, Gerrit-Jan 135 Bergheim, Brigitte 103 Bernhard, Thomas 271 Biermann, Wolf 69, 83, 86, 103, 135, 146, 155, 182, 187, 188, 201, 202, 207, 226, 241, 291, 331 Bircken, Margrid 212 Birthler, Marianne 10 Bisky, Jens 307, 334 Bloch, Ernst 81, 264 Bobrowski, Johannes 153 Bohn, Cornelia 33 Boldt, Ulrike 301 Bollas, Christopher 25 Böll, Heinrich 178, 182 Bomski, Franziska 223 Bourdieu, Pierre 13, 32, 33 Brandt, Sabine 98 Braun, Matthias 106 Braun, Volker 84, 135, 345 Brecht, Bertolt 80, 81, 86, 264 Bredel, Willi 81 Brestrich, Carina 383 Brinkmann, Martin 282 Broder, Henryk M. 122, 123, 307–309 https://doi.org/10.1515/9783110710793-014

Brüns, Elke 312, 358 Bruss, Elisabeth 40, 46, 47, 48, 58, 60 Brussig, Thomas 12, 299, 306, 307, 314, 320, 324, 337, 342, 388 Bude, Heinz 30, 230 Cammann, Alexander 10 Christiansen, Scarlet M.S. 357 Cixous, Hélène 345 Corbin-Schuffels, Anne-Marie 9 Corino, Karl 74, 116–121, 123, 140, 206 Czechowski, Heinz 137, 388 Dahn, Daniela 264 Dahn, Felix 151 Davis, Angela 262 de Bruyn, Günter 135, 137, 141, 156–179, 181, 182, 184, 185, 187, 188, 190–192, 223–226, 241, 243, 307, 388, 389 Derrida, Jacques 43 Dieckmann, Christoph 10, 264, 307 Dieckmann, Friedrich 121 Dietrich, Juliane 383 Dietrich, Kerstin 136 Dilthey, Wilhelm 20, 35, 36 Drawert, Kurt 264–267, 269–272, 276, 278–280, 287, 291, 296, 297, 302, 307, 389 Dreiss, Erika 325 Drommer, Günter 107 Dwinger, Edwin Erich 151 Eisler, Hanns 80 Eisler, Lou 80 Emmerich, Wolfgang 12, 13, 82, 92, 93, 109, 269, 281 Enders, Judith 381 Endler, Adolf 281 Engler, Wolfgang 15, 28, 65, 134, 227, 230, 259, 260, 301, 352, 357 Ensikat, Peter 121 Erb, Andreas 283, 292 Erll, Astrid 61, 62 Evans, Owen 183 Fest, Joachim 7 Finck, Almut 36

416 

 Personenregister

Flegel, Silke 98, 107, 108 Flieg, Helmut 70, 74, 76–78 Förster, Peter 28 Frank, Anne 122 Fries, Fritz Rudolf 135, 137, 388, 389 Fritsche, Susanne 376 Froese, Michael J. 4 Fröhlich, Gerhard 32 Fröhlich, Melanie 359 Fuchs, Jürgen 291 Fühmann, Franz 84, 153 Fulbrook, Mary 20, 65, 68, 129, 227 Gabler, Wolfgang 138 Gaidar, Arkadi 365 Gansel, Carsten 94, 106, 209, 217, 302 Garbe, Joachim 168 Gauck, Joachim 383, 385 Gaus, Günter 245 Geier, Andrea 18 Geipel, Ines 10, 307, 335–339, 341–343, 345, 346, 348, 349, 352 Geissler, Cornelia 346, 347 Geist, Peter 281–283 Geller, Ernest 67 Genette, Gérard  43 Geulen, Dieter 259 Gide, André  45 Giesecke, Almut 91, 99, 100 Giesen, Bernhard 25, 26 Gläser, Andreas 307 Goethe, Johann Wolfgang 17, 166 Gorbatschow, Michail 85, 158 Göschel, Albert 27 Götze, Moritz 339 Grass, Günter 106, 107, 136, 146 Greiner, Ulrich 280 Grenzmann, Wilhelm 38 Grice, Paul 49 Gries, Rainer 21, 22, 27–29, 31, 65–68, 81, 104, 109, 114, 124, 129–134, 136, 181, 225, 227–231, 255–257, 259–263, 279, 298, 301, 303–306, 331, 337–339, 353–356, 368 Grub, Frank Thomas 9, 143 Grünbein, Durs 9, 307, 320, 337, 345 Günther, Katarina 381 Gutschke, Irmtraud 144

Gymnich, Marion 61, 62 Gysi, Gregor 381 Haase, Michael 209, 213 Hacker, Michael 381, 383 Hager, Kurt 103 Hage, Volker 88 Hahn, Alois 33 Hahn, Ulla 111 Hampel, Leon 33 Hannawald, Sven 369 Harich, Wolfgang 65 Häuser, Otto 365 Havemann, Robert 69, 85, 86, 327 Hector, Anne 322 Heidenreich, Elke 360, 361 Heiduczek, Werner 137, 388 Hein, Christiane 308, 315 Hein, Christoph 232, 256, 308, 315, 344 Heine, Heinrich 138, 144 Hein, Jakob 299, 300, 306–312, 315, 317, 319, 320, 332, 335, 337, 338, 340, 347–349, 358, 377, 388 Heinze, Carsten 43 Hellmich, Günter 232 Hensel, Jana 299, 337, 341, 347, 349, 355, 357, 359, 360, 365, 369, 376, 379, 380, 385, 389 Herder, Johann Gottfried 35, 36 Hermann, Ulrich 14 Hermlin, Stephan 68, 69, 81, 86, 109, 111, 112, 116–126, 135, 153, 155, 157, 206, 240, 255, 275, 296 Herrmann, Elisabeth 366 Herrmann, Ulrich 14, 15, 28 Hesse, Hermann 265, 275 Heym, Stefan 68–70, 72, 73, 75, 76, 78–87, 102–104, 121, 124, 126, 127, 135, 188, 190 Hicks, Carla 339 Hilbig, Wolfgang 332, 333, 334 Hildebrandt, Dieter 106 Hilzinger, Sonja 192 Hinck, Walter 160, 168 Hipp, Markus 270 Hitler, Adolf 77, 79, 86, 87, 114, 118, 127, 130, 149, 150, 171, 183 Hoffmann, Frank 98, 107, 108 Hoffmann, Martin 196, 201

Personenregister 

Hohenstein-Hintermüller, Laura J. 14 Holdenried, Michaela 36 Holst, Matthias BAADER 280, 282 Holtz-Baumert, Gerhard 324 Honecker, Erich 69, 153, 262, 338 Höpcke, Klaus 182 Hörnigk, Therese 194 Hünniger, Andrea Hanna 9, 356, 384 Hutchinson, Peter 72 Illies, Florian 299, 340, 358–360 Irigaray, Luce 345 Jäger, Manfred 138, 142 Janka, Walter 65 Jarausch, Konrad 264 Jaśtal, Katarzyna 176, 183, 191 Jens, Walter 106 Jessen, Jens 138, 139 Jones, Sara 85 Jost, Dieter 308 Jungen, Oliver 107 Jung, Werner 233 Jureit, Ulrike 14, 18–22, 24, 26, 30, 31, 60 Kaminer, Wladimir 311, 332 Kämmerlings, Richard 208 Kant, Hermann 137–141, 144, 146, 149, 150, 153, 155–159, 168, 182, 191, 223–225, 243, 255, 275, 307, 388 Kantorowicz, Alfred 120, 146 Karasek, Hellmuth 140 Karlson, Holger Jens 135 Kästner, Erich 77, 86 Kaufmann, Eva 245 Keim, Wolfgang 131 Kertész, Imre 122 Ketcham, Gregory L. 76 Keupp, Heiner 331 King, Vera 300, 352 Kirsch, Sarah 84, 135, 266 Kirsten, Wulf 8, 388 Klüssendorf, Angelika 10 Klussmann, Gerhand 155 Kohl, Helmut 358 Kolbe, Uwe 281, 298 Königsdorf, Helga 232, 243–246, 250, 252, 255, 256, 389

 417

Kormann, Julia 9 Kováŕ, Jaroslav 110 Kowalczuk, Ilko-Sascha 339 Kraft, Andreas 19, 21, 26 Krämer, Herbert 82 Krause, Christian 107 Kraushaar, Tom 358, 380 Krauss, Hannes 194, 222, 223, 299, 321 Kreutzer, Anja 160 Kubiczek, André  299, 300, 307 Kuczynski, Jürgen 232, 234, 240 Kuczynski, Rita 232–236, 239–242, 244, 256, 257 Kuczynski, Thomas 233, 239 Kugler, Sarah 383 Kuhn, Anna K. 197 Kulick, Holger 291 Kunert, Günter 68, 69, 71, 84, 122, 123, 135, 153, 266 Kunze, Reiner 312 Langhoff, Tobias 339 Laske, Karsten 365 Lauer, Gerhard 18 Lehmann, Jürgen 48, 50, 51, 60 Lejeune, Philippe 38, 41–43, 45, 46, 48, 60 Lenin, Wladimir Iljitsch 367 Leo, Annette 108, 109 Lersch-Schumacher, Barbara 247 Lettrari, Adriana 381, 383 Lewin, Waltraut 142 Liersch, Werner 95, 105, 106, 108 Lindner, Bernd 28, 129, 134, 227, 230, 259, 301–305, 351, 353, 354, 356 Loest, Erich 146 Löffler, Katrin 161, 191, 316, 330, 357, 366, 379 Löffler, Sigrid 140 Ludorowska, Halina 185 Ludwig, Janine 280, 292 Luhmann, Niklas 15, 16 Lukàcs, Georg 10, 219 Maaz, Hans-Joachim 3 Machowecz, Martin 385 Magenau, Jörg 106, 207 Mahrholz, Werner 29, 51, 55 Maihorn, Max 353 Maiwald, Stephanie 381, 383

418 

 Personenregister

Mann, Erika 130 Mannheim, Karl 13, 17, 19, 20–24, 26, 31, 126, 127, 129, 131, 228, 260, 296, 301, 336, 344, 346 Mann, Heinrich 81 Matt, Peter von 141 Matussek, Matthias 309 Mauriac, François  45 May, Karl 122 McCarthy, Joseph 79 Meine, Björn 382 Menzel, Björn 364 Merkel, Angela 361, 380 Meyen, Michael 304 Meyer, Ernie 158 Meyer-Gosau, Frauke 92, 120, 193, 194 Miłosz, Czesław 185 Misch, Georg 35, 36, 37, 40, 46, 47, 52, 58 Mittenzwei, Werner 125 Mohr, Peter 160 Molitor, Andreas 227, 259, 263 Morgner, Irmtraud 243, 345 Mosler, Peter 8 Müller, Heiner 84, 135, 137, 307, 336, 344, 345 Müller, Inge 336, 345 Münkler, Herfried 67 Nagelschmidt, Ilse 366 Neumann, Bernd 29, 51, 52, 53, 54, 55 Neun, Oliver 19 Nießeler, Andreas 29 Niethammer, Lutz 22, 23, 300, 301, 351, 355 Norkowska, Katarzyna 43, 191, 302, 358 Nünning, Ansgar 61, 62 Opitz, Michael 134, 270, 278 Pascal, Roy 39 Peitsch, Helmut 109 Pieck, Wilhelm 65 Piegsa, Oskar 361 Piehler, Hannelore 222 Pietzcker, Hagen 381 Pilz, Michael 364 Pinder, Wilhelm 11, 16, 23, 126 Pormeister, Eva 208 Probst, Maximilian 309 Pulver, Elsbeth 266, 271, 272

Raddatz, Fritz 122, 146 Rathenow, Lutz 321 Rechtien, Renate 172 Reich-Ranicki, Marcel 138, 141, 192 Reimann, Brigitte 134, 243, 345 Reimann, Kerstin E. 2, 8, 9 Reinhold, Ursula 172, 178, 180 Reitzig, Hans 151 Rennefanz, Sabine 341, 356 Renn, Ludwig 81, 153 Rey, William H. 193 Ricœur, Paul 62 Rosenlöcher, Thomas 256 Rusch, Claudia 299, 306, 307, 319, 321, 322, 324–326, 328, 331, 333–335, 337, 340, 347–349, 377 Sabrow, Martin 5–7, 191, 330, 336 Sakova-Merivee, Aija 216 Satjukow, Silke 129, 131 Scarbath, Horst 303 Schäfer, Hans Dieter 9 Schedlinski, Rainer 291, 297, 298 Schiller, Friedrich 77, 86 Schlenstedt, Dieter 92, 121 Schlenstedt, Silvia 121 Schmehl, Karsten 371 Schmidt, Hans-Otto 284 Schneider, Rolf 7 Schober, Henrik 381 Schoch, Julia 299, 300 Schopenhauer, Arthur 90 Schröder, Gerhard 314 Schulze, Ingo 12, 306, 307, 320, 337, 388 Schulze, Mandy 381 Schwab, Sylwia 10 Schwingler, Markus 33 Searle, John R. 49 Seghers, Anna 81, 153, 199, 200, 202 Seibt, Gustav 110, 121 Serke, Jürgen 264, 268 Silies, Eva-Maria 25 Simon, Jana 304, 306 Skare, Roswitha 223, 330 Sloterdijk, Peter 3, 29, 55, 56, 57, 58, 60, 123 Spits, Jerker 357 Staemmler, Johannes 341, 353, 381–383 Stalin, Josef 86, 88, 127, 199, 252, 319

Personenregister 

Steinig, Valeska 191 Störerfahrung 1, 3 Strittmatter, Erwin 69, 88–99, 102, 104, 105, 108, 124–127, 153, 307, 389 Strittmatter, Eva 107 Stutz, Rüdiger 301 Süselbeck, Jan 18 Tate, Dennis 75, 161 Tellkamp, Uwe 12 Teschner, Dirk 282 Tetzlaff, Michael 356 Thalhammer, Iris 280, 292 Thälmann, Ernst 67, 324 Thierse, Wolfgang 381 Töteberg, Michael 76, 162, 168, 191 Tuczek, Stefan 121 Ulbricht, Walter 65 Ullrich, Jan 369 Völter, Bettina 302 Wagner-Egelhaaf, Martina 41, 42, 52 Walser, Martin 136 Walther, Joachim 104, 160, 335 Wander, Maxi 243, 345 Wapnewski, Peter 10 Warnat, Grit 282 Wawerzinek, Peter 264, 280–285, 292, 296 Weber, Max 16, 28

 419

Wedemeyer, Juliane von 365 Weigel, Sigrid 17 Weineck, Fritz 324 Weisbrod, Bernd 18, 24 Weißhaupt, Mark 19, 21, 26 Wester, Christel 321 Wiechmann, Daniel 356, 369, 372, 373, 376–379 Wierling, Dorothee 28, 230, 259 Wildt, Michael 19, 20 Wilke, Insa 346 Wilton, Jennifer 337 Wirsing, Sibylle 168, 182 Witte, Bernd 121 Wolf, Christa 9, 84, 104, 134–137, 153, 163, 182, 183, 187, 188, 190, 192, 193, 195–199, 201, 203, 206, 207, 209, 211, 212, 214, 216, 217, 222–225, 243, 253, 255, 275, 296, 307, 345, 388 Wolff-Powęska, Anna 2 Wolfram, Gernot 336 Wolfschütz, Hans 82 Wolkow, Alexander 365 Woolf, Virginia 345 Wrage, Henning 33 Zinnecker, Jürgen 20 Zwahr, Hartmut 228 Zweig, Arnold 81 Zweig, Stefan 153