Paulus: Leben - Umwelt - Werk - Briefe
 3825256545, 9783825256548

Table of contents :
Frontmatter
Cover
Impressum
Inhalt
Vorwort zur dritten, neu erweiterten Auflage
ODA WISCHMEYER/EVE-MARIE BECKER | Einführung
Die Absicht des Lehrbuchs
Die Konzeption des Lehrbuchs
Die Benutzung des Lehrbuchs
Teil I: Umwelt. Leben. Werk. Person
ODA WISCHMEYER | Einleitung in Teil I
ANDREAS MEHL | Der politische Raum des Paulus: das Römische Reich von Augustus bis Nero
1‍ ‍Konstanz oder Entwicklung?
2‍ ‍Das Reich von der Stadt Rom bis in die Provinzen und darüber hinaus
3‍ ‍Die Regierung in Rom: Kaiser, Senat und ‚Ministerien‘
4‍ ‍Literatur
4.1‍ ‍Werke antiker Autoren
4.2‍ ‍Sammlungen von Quellen, insbesondere von Dokumenten
4.3‍ ‍Monographien
Anhang: Römische Kaiser von Augustus bis Nero
JÖRG FREY | Das Judentum des Paulus
Hermeneutische Vorbemerkung
1‍ ‍Das Judentum des Paulus nach seinen Selbstzeugnissen und der Apostelgeschichte
1.1‍ ‍Die Zeugnisse über seine Herkunft
1.2‍ ‍Die religiöse Dimension seiner Herkunft
2‍ ‍Die Stellung des Paulus im Rahmen des zeitgenössischen Judentums
2.1‍ ‍Die jüdische Diaspora
2.2‍ ‍Die jüdischen Religionsparteien in Palästina und der Pharisäismus
2.2.1‍ ‍Die jüdischen Religionsparteien nach Josephus
2.2.2‍ ‍Gab es ein ‚allgemeines Judentum‘ (‚common Judaism‘)?
2.2.3‍ ‍Der Pharisäismus und seine Bedeutung
2.2.4‍ ‍Zum Problem des ‚Diasporapharisäismus‘
3‍ ‍Die jüdische Prägung des Paulus und seine Auseinandersetzung mit den Merkmalen jüdischer Identität
3.1‍ ‍Die Beschneidung
3.2‍ ‍Das Gesetz und die Frage nach dem Grund der paulinischen Gesetzeskritik
4‍ ‍Zur „neuen Paulusperspektive“ und weiteren Trends der neueren Forschung
5‍ ‍Literatur
5.1‍ ‍Monographien
5.2‍ ‍Aufsätze
BERNHARD HEININGER | Die religiöse Umwelt des Paulus
1‍ ‍Der öffentliche Kult
1.1‍ ‍Gottheiten, Tempel und Altäre
1.2‍ ‍Das Opfer
1.3‍ ‍Religiöse Vereine
2‍ ‍Die Mysterienkulte
2.1‍ ‍Begriff
2.2‍ ‍Die Mysterien von Eleusis
2.3‍ ‍Weitere Mysterienkulte
2.4‍ ‍Mysterienkulte und paulinische Gemeinden
3‍ ‍Mantik, Wunder, Zauberei
3.1‍ ‍Das Orakelwesen
3.2‍ ‍Wunderbare Heilungen
3.2.1‍ ‍Die Asklepiosheiligtümer
3.2.2‍ ‍„Göttliche Menschen“
3.3‍ ‍Magie
4‍ ‍Der Kaiserkult
4.1‍ ‍Geschichte und Verbreitung
4.2‍ ‍Formen der Verehrung
4.3‍ ‍Paulinische und deuteropaulinische Rezeption
5‍ ‍Paulus und die kaiserzeitliche Philosophie
5.1‍ ‍Epikur und seine Schule
5.1.1‍ ‍Lehre
5.1.2‍ ‍Die epikureische Schule
5.2‍ ‍Stoa
5.2.1‍ ‍Geschichte und wichtigste Vertreter
5.2.2‍ ‍Telosformel und Freiheitsbegriff
5.2.3‍ ‍Freitod und Eschatologie
6‍ ‍Die Gnosis
6.1‍ ‍Gnosis im Neuen Testament?
6.2‍ ‍Umrisse des Systems
6.2.1‍ ‍Der gnostische Mythos
6.2.2‍ ‍Soteriologie: Befreiung durch Erkenntnis
6.3‍ ‍Ursprungsfrage
7‍ ‍Literatur
7.1‍ ‍Textsammlungen (allgemein)
7.2‍ ‍Öffentlicher Kult (mit Gesamtdarstellungen)
7.3‍ ‍Mysterienkulte
7.4‍ ‍Mantik, Wunder, Magie
Textausgaben
Aufsätze, Monographien und Lexikonartikel
7.5‍ ‍Kaiserkult
7.6‍ ‍Philosophie
Textsammlung
Beiträge in Sammelbänden und Monographien
7.7‍ ‍Gnosis
Textausgaben (in Übersetzung)
Einführungen, Monographien und Lexikonartikel
EVA EBEL | Das Leben des Paulus
1‍ ‍Chronologie
2‍ ‍Herkunft, sozialer und rechtlicher Status des Paulus
3‍ ‍Der Jude Paulus. Pharisäer und Christenverfolger
4‍ ‍Der Christ Paulus. Die Berufung
5‍ ‍Das Ende des Paulus
6‍ ‍Literatur
6.1‍ ‍Monographien
6.2‍ ‍Aufsätze und Lexikonartikel
EVA EBEL | Das Missionswerk des Paulus
1‍ ‍Reisen in der frühen Kaiserzeit
2‍ ‍Reisen des Paulus
3‍ ‍Die Reisebegleiter und Mitarbeiter des Paulus
4‍ ‍Die Reiseleistung des Paulus
5‍ ‍Literatur
EVE-MARIE BECKER | Die Person des Paulus
1‍ ‍Paulus als Person: Physiognomisches
2‍ ‍Paulus als Person: Eigenschaften
3‍ ‍Paulus als Autor und Autobiograph: Die Person über sich selbst
4‍ ‍Paulus als Apostel: Die Person des Paulus und die anderen Personen
4.1‍ ‍Paulus und Christus
4.2‍ ‍Paulus und die Apostel
4.3‍ ‍Paulus und die Gemeinden
5‍ ‍Paulus als Jude und Christ: Der ‚Bruch‘ in der Person
6‍ ‍Paulus und sein Körper: Grenzen und Entgrenzung der Person I
7‍ ‍Paulus und das Eschaton: Grenzen und Entgrenzung der Person II
8‍ ‍Die Person und das Selbst: Verhältnisbestimmungen
9‍ ‍Literatur
DIETRICH-ALEX KOCH | Die Städte des Paulus
1‍ ‍Einleitung
2‍ ‍Tarsus (Ταρσός)
3‍ ‍Jerusalem (Ἰερουσαλήμ / Ἱεροσόλυμα)
4‍ ‍Damaskus (Δαμασκός)
5‍ ‍Antiochia (Ἀντιόχεια) am Orontes
6‍ ‍Das Pisidische Antiochia (Αντιόχεια ἡ Πισιδία), Ikonion (Ἰκόνιον), Lystra (Λύστρα), Derbe (Δέρβη), Perge (Πέργη) ‒ die sog. 1. Missionsreise
7‍ ‍Philippi (Φίλιπποι)
8‍ ‍Thessaloniki (Θεσσαλονίκη)
9‍ ‍Beröa (Βέροια)
10‍ ‍Korinth (Κόρινθος) mit Kenchreai (Κεγχρεαί)
11‍ ‍Ephesos und die Provinz Asia
11.1‍ ‍Ephesos (Ἔφεσος)
11.2‍ ‍Die Gemeinden im Lykostal: Kolossä (Κολοσσαί), Laodicea (Λαοδίκεια) und Hierapolis (Ἱεράπολις)
11.3‍ ‍Alexandria Troas (Ἀλεξάνδρεια Τρῳάς)
12‍ ‍Rom (‘Ρώμη / Roma)
13‍ ‍Literatur
13.1‍ ‍Allgemein
13.2‍ ‍Tarsos
13.3‍ ‍Jerusalem
13.4‍ ‍Damaskus
13.5‍ ‍Antiochia am Orontes
13.6‍ ‍Das Pisidische Antiochia, Ikonion, Lystra, Derbe, Perge
Das Pisidische Antiochia
Ikonion
Lystra
Derbe
Perge
13.7‍ ‍Philippi
13.8‍ ‍Thessaloniki
13.9‍ ‍Beröa
13.10‍ ‍Korinth
13.11‍ ‍Ephesos und die Provinz Asia
Ephesus
Kolossä, Laodicea und Hierapolis
Alexandria Troas
13.12‍ ‍Rom
CHRISTINA HOEGEN-ROHLS | Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes
1‍ ‍Paulus und die antike Briefpraxis
1.1‍ ‍Realienkunde des Paulusbriefes
1.1.1‍ ‍Produktionsbedingungen des antiken Briefes und des Paulusbriefes
1.1.2‍ ‍Brieflogistik: Übermittlung der Paulusbriefe
1.1.3‍ ‍Lesen, Aufbewahren, Sammeln: Rezeptionsprozesse des Paulusbriefes
1.2‍ ‍Die Form des Paulusbriefes
1.2.1‍ ‍Das Briefformular des antiken Briefes
1.2.2‍ ‍ Das Briefformular des Paulusbriefes
2‍ ‍Paulus und die antike Brieftheorie
2.1‍ ‍Die antike Idee vom Wesen des Briefes
2.1.1‍ ‍Der Brief als Gespräch
2.1.2‍ ‍Die Idee der Anwesenheit
2.1.3‍ ‍Der Brief als Spiegel der Seele und als Freundschaftsgeschenk
2.2‍ ‍Brieftypen, Musterbriefe, Klassifikation von Briefen
2.3‍ ‍Epistolographie und Rhetorik
3‍ ‍Funktion und Idee des Paulusbriefes
3.1‍ ‍Der Paulusbrief als echter und als literarisch stilisierter Brief
3.2‍ ‍Gemeindebrief, Apostelbrief, Werbebrief und mehr: Der Paulusbrief als multiple Mischform antiker Brieftypen und Brieffunktionen
3.3‍ ‍Der Paulusbrief als kerygmatischer Brief
3.3.1‍ ‍Das Briefformular des kerygmatischen Briefes
3.3.2‍ ‍Der kerygmatische Brief als Gespräch
3.3.3‍ ‍Die Idee der Anwesenheit im kerygmatischen Brief
4‍ ‍Literatur
4.1‍ ‍Monographien
4.2‍ ‍Aufsätze und Lexikonartikel
Teil II: Briefe. Theologische Themen
ODA WISCHMEYER | Einleitung in Teil II
EVA EBEL | 1. Thessalonicherbrief
1‍ ‍Texterschließung
1.1‍ ‍Textbestand und Textüberlieferung
1.2‍ ‍Textanalyse
1.3‍ ‍Gliederung
2‍ ‍Textentstehung
3‍ ‍Textexegese
4‍ ‍Würdigung
5‍ ‍Literatur
5.1‍ ‍Kommentare
5.2‍ ‍Monographien
5.3‍ ‍Aufsätze und Lexikonartikel
ODA WISCHMEYER | 1. Korintherbrief
1‍ ‍Texterschließung
1.1‍ ‍Textbestand und Textüberlieferung
1.2‍ ‍Textanalyse
1.3‍ ‍Gliederung
1.4‍ ‍Thematik
1.5‍ ‍Wortfelder
1.6‍ ‍Kommunikation und Rhetorik
1.6.1‍ ‍Kommunikation
1.6.2 Rhetorik
2‍ ‍Textentstehung
2.1‍ ‍Verfasser, Adressaten und historische Situation
2.2‍ ‍Zeit und Ort der Abfassung
2.3‍ ‍Einheitlichkeit und Redaktionsprozesse
3‍ ‍Textexegese
3.1‍ ‍Durchgang durch den Text
3.2‍ ‍Exegetische Probleme
4‍ ‍Probleme der Interpretation
5‍ ‍Würdigung
6‍ ‍Literatur
6.1‍ ‍Kommentare
6.2‍ ‍Monographien
6.3‍ ‍Aufsätze und Lexikonartikel
EVE-MARIE BECKER | 2. Korintherbrief
1‍ ‍Texterschließung
1.1‍ ‍Textbestand und Textüberlieferung
1.2‍ ‍Textanalyse
1.3‍ ‍Gliederung
1.4‍ ‍Thematik
1.5‍ ‍Wortfelder
1.6‍ ‍Kommunikation und Rhetorik
1.6.1 Kommunikation und Meta-Kommunikation
1.6.2 Rhetorik
2‍ ‍Textentstehung
2.1‍ ‍Vorgeschichte
2.2‍ ‍Verfasser, Adressaten und historische Situation
2.3‍ ‍Zeit und Ort der Abfassung
2.4‍ ‍Einheitlichkeit und Redaktionsprozesse
2.5‍ ‍Ergebnis und Perspektive der historischen Rekonstruktion
3‍ ‍Textexegese
3.1‍ ‍Durchgang durch den Text
3.2‍ ‍Exegetische Probleme
4‍ ‍Probleme der Interpretation
5‍ ‍Würdigung
6‍ ‍Literatur
6.1‍ ‍Kommentare
6.2‍ ‍Monographien und wichtige Sammelbände
6.3‍ ‍Aufsätze und Lexikonartikel
JÖRG FREY | Galaterbrief
1‍ ‍Texterschließung
1.1‍ ‍Textbestand und Textüberlieferung
1.2‍ ‍Gliederung
1.3‍ ‍Wortfelder, Kernbegriffe und leitende Gegensätze
1.4‍ ‍Zur ‚rhetorischen‘ Analyse des Galaterbriefs
2‍ ‍Textentstehung
2.1‍ ‍Authentizität und literarische Integrität
2.2‍ ‍Die Adressatenfrage: Landschaft oder (Südteil der) Provinz ‚Galatien‘?
2.3‍ ‍Zeit und Ort der Abfassung
2.4‍ ‍Die Situation der Adressatengemeinden
3‍ ‍Probleme der Interpretation
3.1‍ ‍Linien der Argumentation
3.2‍ ‍Exegetische Einzelprobleme
4‍ ‍Würdigung
5‍ ‍Literatur
5.1‍ ‍Kommentare
5.2‍ ‍Monographien
LUKAS BORMANN | Philipperbrief
1‍ ‍Texterschließung
1.1‍ ‍Textbestand und Textüberlieferung
1.2‍ ‍Textanalyse
1.3‍ ‍Gliederung
1.4‍ ‍Thematik
1.5‍ ‍Wortfelder
1.6‍ ‍Kommunikation und Rhetorik
1.6.1 Kommunikation
1.6.2 Rhetorik
2‍ ‍Textentstehung
2.1‍ ‍Verfasser, Adressaten und historische Situation
2.2‍ ‍Zeit und Ort der Abfassung
2.3‍ ‍Einheitlichkeit und Redaktionsprozess
3‍ ‍Textexegese
3.1‍ ‍Durchgang durch den Text
3.2‍ ‍Exegetische Probleme
4‍ ‍Würdigung
5‍ ‍Literatur
5.1‍ ‍Kommentare
5.2‍ ‍Monographien
5.3‍ ‍Aufsätze und Lexikonartikel
LUKAS BORMANN | Philemonbrief
1‍ ‍Texterschließung
1.1‍ ‍Textbestand und Textüberlieferung
1.2‍ ‍Textanalyse
1.3‍ ‍Gliederung
1.4‍ ‍Thematik
1.5‍ ‍Wortfelder
2‍ ‍Textentstehung
3‍ ‍Textexegese
3.1‍ ‍Durchgang durch den Text
3.2‍ ‍Exegetische Probleme
4‍ ‍Probleme der Interpretation
5‍ ‍Würdigung
6‍ ‍Literatur
6.1‍ ‍Kommentare
6.2‍ ‍Monographien
6.3‍ ‍Aufsätze und Lexikonartikel
ODA WISCHMEYER | Römerbrief
1‍ ‍Texterschließung
1.1‍ ‍Textbestand und Textüberlieferung
1.2‍ ‍Textanalyse
1.3‍ ‍Gliederung
1.4‍ ‍Thematik
1.5‍ ‍Wortfelder
1.6‍ ‍Kommunikation, Gattung und Rhetorik
1.6.1 Kommunikation
1.6.2 Gattungsfragen
1.6.3 Rhetorik
2‍ ‍Textentstehung
2.1‍ ‍Verfasser, Adressaten und historische Situation
2.2‍ ‍Zeit und Ort der Abfassung
2.3‍ ‍Einheitlichkeit und Redaktionsprozesse
2.4‍ ‍Traditionen
3‍ ‍Textexegese
3.1‍ ‍Durchgang durch den Text
Teil I: Röm 1–11
Röm 1–3:
Röm 4:
Röm 5–8:
Röm 9–11:
Teil II: Röm 12,1–15,13
Teil III: Röm 15,14–33
3.2‍ ‍Exegetische Probleme
4‍ ‍Probleme der Interpretation
5‍ ‍Würdigung
6‍ ‍Literatur
6.1‍ ‍Kommentare
6.2‍ ‍Monographien
6.3‍ ‍Aufsätze und Lexikonartikel
ODA WISCHMEYER | Themen paulinischer Theologie
1‍ ‍Theologie des Paulus
1.1‍ ‍Theologie des Paulus und Theologie des Neuen Testaments
1.2‍ ‍Rudolf Bultmanns „Theologie des Paulus“
2‍ ‍Das paulinische theologische Denken
2.1‍ ‍Theologisches Denken als Metakommunikation
2.2‍ ‍Situativität paulinischen theologischen Denkens
3‍ ‍Weitere Bestimmtheiten des paulinischen theologischen Denkens
3.1‍ ‍Wandlungen paulinischer Theologie
3.2‍ ‍Vorgaben paulinischer Theologie
3.3‍ ‍Die theologische Bedeutung der Rhetorik und Epistolographie bei Paulus
4‍ ‍Themen des theologischen Denkens in den paulinischen Briefen
4.1‍ ‍1. Thessalonicherbrief
4.2‍ ‍1. Korintherbrief
4.3‍ ‍2. Korintherbrief
4.4‍ ‍Galaterbrief
4.5‍ ‍Philipperbrief
4.6‍ ‍Römerbrief
5‍ ‍Rückblick
6‍ ‍Literatur
6.1‍ ‍Theologien des Neuen Testaments
6.2‍ ‍Monographien zu Paulus
6.3‍ ‍Aufsätze
Teil III: Rezeption
ODA WISCHMEYER | Einleitung in Teil III
BERNHARD HEININGER | Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert
1‍ ‍Kolosserbrief
1.1‍ ‍Texterschließung
1.2‍ ‍Textentstehung
1.2.1 Verfasserfrage
1.2.2 Adressaten
1.3‍ ‍Theologisches Profil
2‍ ‍Epheserbrief
2.1‍ ‍Texterschließung
2.2‍ ‍Textentstehung
2.3‍ ‍Theologisches Profil
3‍ ‍2. Thessalonicherbrief
3.1‍ ‍Texterschließung
3.2‍ ‍Textentstehung und theologisches Profil
4‍ ‍Pastoralbriefe
4.1‍ ‍Texterschließung
4.2‍ ‍Textentstehung
4.3‍ ‍Theologisches Profil
4.4‍ ‍Das Paulusbild
5‍ ‍Das Paulusbild der Apostelgeschichte
5.1‍ ‍Überblick
5.2‍ ‍Traditionen
5.3‍ ‍Das lukanische Paulusbild
6‍ ‍Literatur
6.1‍ ‍Literatur zum Kolosserbrief (s. auch zu Eph)
Forschungsüberblick/Lexikonartikel:
Kommentare:
Monographien und Aufsätze:
6.2‍ ‍Literatur zum Epheserbrief (s. auch zu Kol)
Erste Annäherung:
Lexikonartikel:
Kommentare:
Monographien und Aufsätze:
6.3‍ ‍Literatur zum 2. Thessalonicherbrief
Forschungsüberblick:
Kommentare:
Monographien und Aufsätze:
6.4‍ ‍Literatur zu den Pastoralbriefen
Forschungsüberblick:
Lexikonartikel:
Kommentare:
Monographien und Aufsätze:
6.5‍ ‍Literatur zur Apostelgeschichte und ihrem Paulusbild
Forschungsüberblick/Lexikonartikel:
Kommentare:
Monographien und Aufsätze:
6.6‍ ‍Literatur zur Pseudepigraphie
Lexikonartikel:
Monographien und Aufsätze:
ANDREAS LINDEMANN | Die Rezeption des Paulus im 2. Jahrhundert
1‍ ‍1. Clemensbrief
2‍ ‍Ignatiusbriefe
3‍ ‍Polykarp von Smyrna
4‍ ‍Weitere Schriften
5‍ ‍Zusammenfassung
6‍ ‍Literatur
WOLFGANG WISCHMEYER | Die Rezeption des Paulus in der Geschichte der Kirche
1‍ ‍Grundsätze der Entwicklungslinien in der Alten Kirchengeschichte
2‍ ‍Das 3. und 4. Jahrhundert und die östliche Entwicklung
3‍ ‍Augustin
4‍ ‍Das westliche Mittelalter bis zum Humanismus
5‍ ‍Reformation und Orthodoxie
6‍ ‍Von der Aufklärung zur heutigen historisch-kritischen Forschung
7‍ ‍Literatur
JACOB P.B. MORTENSEN | Die Auseinandersetzung mit Paulus in der gegenwärtigen Philosophie
1.‍ ‍Hauptbeteiligte und wichtige Positionen
2.‍ ‍Reaktionen von Vertretern der Neutestamentlichen Wissenschaft
3.‍ ‍Der politische Paulus
4.‍ ‍Agambens Paulus
5.‍ ‍Paulus und Agamben über Selbst, Selbstheit und Identität
6.‍ ‍Konsequenzen für die Paulusforschung
Bibliographie
Primärquellen
Sekundärliteratur
Backmatter
Register
Antike Personen
Antike Orte
Personenregister
Ortsregister
Autorenverzeichnis
Autorenverzeichnis

Citation preview

Paulus

Paulus ist die einzige historisch, biographisch und literarisch deutlich fassbare Person, die wir aus dem Urchristentum kennen. Zugleich ist er der urchristliche Apostel, der die größte missionarische und theologische Wirkung entfaltet hat. Die vertiefte Beschäftigung mit Paulus gehört daher zu den zentralen Themen des Theologiestudiums. Das vorliegende Lehrbuch führt interkonfessionell und multiperspektivisch in die Paulus­forschung ein. Tabellen, Literaturangaben sowie ausführliche Glossare zu antiken Personen und Orten erschließen die Thematik für Lehre und Prüfungsvorbereitung. Die dritte Auflage wurde komplett überarbeitet und aktualisiert sowie um zwei zusätzliche Kapitel zu Paulus als Briefschreiber und zur gegenwärtigen philosophischen Auseinandersetzung mit Paulus erweitert.

3. A.

Theologie | Religionswissenschaft

Oda Wischmeyer Eve-Marie Becker (Hrsg.)

Paulus

Leben – Umwelt – Werk – Briefe

Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag Narr Francke Attempto. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.

ISBN 978-3-8252-5654-8

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Wischmeyer | Becker

3. Auflage

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Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh – Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen – Böhlau Verlag · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag – expert verlag · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main

Prof. Dr. Oda Wischmeyer ist emeritierte Professorin für Neues Testament an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Prof. Dr. Eve-Marie Becker ist Professorin für Neues Testament an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Oda Wischmeyer und Eve-Marie Becker (Herausgeberinnen)

Paulus Leben – Umwelt – Werk – Briefe 3., aktualisierte und erweiterte Auflage

Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen

Umschlagabbildung: D-DAI-ROM-35.135 Rom, Basilica S. Pietro, Grotten, Bassussarkophag; Photograph: Faraglia. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

3., aktualisierte und erweiterte Auflage 2021 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2012 1. Auflage 2006 © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: [email protected] Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 2767 ISBN 978-3-8252-5654-8 (Print) ISBN 978-3-8385-5654-3 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5654-8 (ePub)

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Inhalt O DA W ISCHMEYER /E VE -M ARIE B ECKER Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Teil I: Umwelt. Leben. Werk. Person

O DA W ISCHMEYER Einleitung in Teil I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 A NDREAS M EHL Der politische Raum des Paulus: das Römische Reich von Augustus bis Nero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 J ÖRG F REY Das Judentum des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 B ERNHARD H EININGER Die religiöse Umwelt des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 E VA E BEL Das Leben des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 E VA E BEL Das Missionswerk des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 E VE -M ARIE B ECKER Die Person des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 D IETRICH -A LEX K OCH Die Städte des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 C HRISTINA H OEGEN -R OHLS Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes . . . . . . . . . . . . . . 247 Teil II: Briefe. Theologische Themen

O DA W ISCHMEYER Einleitung in Teil II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

6

Inhalt

E VA E BEL 1. Thessalonicherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 O DA W ISCHMEYER 1. Korintherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 E VE -M ARIE B ECKER 2. Korintherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 J ÖRG F REY Galaterbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 L UKAS B ORMANN Philipperbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 L UKAS B ORMANN Philemonbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 O DA W ISCHMEYER Römerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 O DA W ISCHMEYER Themen paulinischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Teil III: Rezeption

O DA W ISCHMEYER Einleitung in Teil III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 B ERNHARD H EININGER Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert: Deutero- und Tritopaulinen sowie das Paulusbild der Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 A NDREAS L INDEMANN Die Rezeption des Paulus im 2. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 W OLFGANG W ISCHMEYER Die Rezeption des Paulus in der Geschichte der Kirche . . . . . . . . . . . . . . 579 J ACOB P.B. M ORTENSEN Die Auseinandersetzung mit Paulus in der gegenwärtigen Philosophie 593

Inhalt

Register Antike Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Antike Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625

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Vorwort zur dritten, neu erweiterten Auflage „Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe“ erscheint nun in dritter verbes‐ serter und aktualisierter Auflage. Neu hinzugekommen sind die Beiträge zur Briefform von Christina Hoegen-Rohls und zu Paulus im Lichte der aktuellen philosophischen Lektüre von Jacob P.B. Mortensen. Die Beiträge von Jörg Frey und Dietrich-Alex Koch sind erheblich ausgeweitet. Die Herausgeberinnen des Bandes freuen sich, damit den fachlichen Rahmen, in dem Paulus gegenwärtig studiert wird, wieder zu erweitern und an den gegenwärtigen Forschungsdiskurs anpassen zu können. Wir danken allen Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre überaus kolle‐ giale Mitarbeit an der Vorbereitung dieser dritten Auflage. In ganz beson‐ derer Weise danken wir Frau cand. theol. et phil. Leonie Best (Münster) und Frau stud. theol. et phil. Rebecca Meerheimb (Münster), die die Druck‐ vorbereitung in zuverlässiger und umsichtiger Arbeit auf den Weg gebracht und bis zum letzten Registereintrag abgeschlossen haben. Frau Corina Popp (Francke Verlag) danken wir – in Nachfolge von Frau Dr. Valeska Lembke – sehr herzlich für ihre verlässliche Betreuung des Projektes von Verlagsseite. Wir hoffen, dass auch diese dritte Auflage studentischen Leserinnen und Lesern wie einer interessierten Leserschaft Paulus – sein Leben, seine Umwelt, sein Werk und seine Briefe – als Kernbereich neutestamentlicher Wissenschaft und des Studiums der frühchristlichen Welt erschließt. Erlangen und Münster im März 2021

Die Herausgeberinnen

Vorwort zur zweiten, erweiterten Auflage

Wir sind gern der Aufforderung des Francke Verlages nachgekommen, eine zweite, verbesserte und erweiterte Auflage unseres Paulusbuches vorzulegen. Besonders erfreulich ist die Erweiterung des ersten Teils um zwei Beiträge. Andreas Mehl gibt eine Einführung in die politischen Rah‐ menbedingungen, unter denen Paulus lebte und wirkte, Dietrich-Alex Koch führt durch die wichtigsten Städte, in denen Paulus tätig war. Wir hoffen, dass unser Buch einer neuen Studierendengeneration die Gestalt und das Werk des Paulus von möglichst vielen Seiten her erschließt. Im Zentrum

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Vorwort zur dritten, neu erweiterten Auflage

steht nach wie vor die detaillierte Einführung in die Briefe des Paulus, die die Studierenden an die Texte heranführt. Gleichzeitig erscheint eine englische Ausgabe, die die angelsächsische Literatur stärker einbezieht, bei T&T Clark Continuum: Paul. Life, Setting, Work, Letters. London/New York 2012. Wir danken herzlich dem Francke Verlag, vor allem Frau Lektorin Su‐ sanne Fischer, für die vertrauensvolle Zusammenarbeit. Erlangen im Oktober 2011

Die Herausgeberin

Vorwort

Der Plan, ein Paulus-Lehrbuch gemeinsam mit jüngeren Kolleginnen und Kollegen zu schreiben, entstand bei den neutestamentlichen Examensrepe‐ titorien im Theologischen Seminar der Universität Erlangen-Nürnberg. Die Umsetzung nahm mehr Zeit in Anspruch, als wir zunächst gedacht hatten. Umso mehr freuen wir uns, nach mehreren Treffen in Erlangen jetzt das fertige Buch vorlegen zu können. Mein erster Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen, die durch ihre Bei‐ träge und durch ihre äußerst großzügige und kollegiale Mitarbeit das Buch ermöglicht haben. Bei der Planung und der konzeptionellen Entwicklung leisteten meine Assistenten, Privatdozentin Dr. Eve-Marie Becker und Dr. des. Stefan Scholz, unverzichtbare Hilfe. In der Hand von Stefan Scholz lag die Erstellung des Gesamtmanuskripts. Bei der aufwendigen Vereinheit‐ lichung und Korrektur halfen die Hilfskräfte am Lehrstuhl – ich nenne stellvertretend: cand. theol. Helga Nießen und Florian Herrmann sowie besonders cand. theol. et phil. Susanne Luther, die sich um die Korrekturen verdient gemacht haben. Schließlich gilt mein Dank dem Francke Verlag, besonders der Lektorin Frau Angelika Pfaller M. A., für die stets angenehme Zusammenarbeit. Erlangen im Januar 2006

Die Herausgeberin

Einführung

O DA W ISCHMEYER /E VE -M ARIE B ECKER

Die Absicht des Lehrbuchs

Das vorliegende Lehrbuch will den gegenwärtigen Forschungsstand zur Person des Paulus, zu seinem Werk und zu den Briefen und ihren theologi‐ schen Themen zusammenstellen, auf Examensniveau formulieren und in Lehrbuchform präsentieren. Unser Paulus-Buch ist keine Paulus-Monographie und kein Paulus-Hand‐ buch.1 Das Buch stammt nicht „aus einer Feder“ und vertritt nicht eine oder gar die Paulusinterpretation. Diese setzt sich ohnehin aus vielen Interpretationsbeiträgen zusammen. Sie ist an eine Vielzahl von Exegeten und Exegetinnen gebunden und geschieht international, interkonfessionell, multiperspektivisch und jüngst auch verstärkt interreligiös.2 Diese Breite muss in einem Lehrbuch für deutschsprachige Studierende nicht vollständig abgebildet werden. Wohl aber arbeiten die hier beteiligten Autorinnen und Autoren aus thematisch unterschiedlichen Schwerpunkten und aus theologisch und konfessionell unterschiedlichen Blickrichtungen an einer Paulusdarstellung, die in sein Leben, seine Person, sein Werk und seine Briefe und ihre theologische Thematik einführt, um dann die Wirkungen des Paulus im 1. und 2. Jh. sowie in der weiteren Geschichte des Christen‐ tums aufzuzeigen. Damit soll deutlich werden, dass Paulus nicht nur von seiner Biographie, seinen Briefen oder seinem theologischen Denken her zu

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Vgl. die umfangreichen Monographien von J.D.G. Dunn, The Theology of Paul the Apos‐ tle, Grand Rapids/Cambridge 1998; U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 22014; M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, sowie das Paulus Handbuch, hg. von F.W. Horn, Tübingen 2013. Vgl. die Paulusforschung von jüdischer Seite (dazu der Beitrag von J. Frey im vorlie‐ genden Band, Teil I).

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erfassen ist, sondern multiperspektivisch, kontextuell und in seiner bis in die Gegenwart reichenden Wirkung dargestellt werden muss. Die Konzeption des Lehrbuchs

Paulus ist die einzige historisch und biographisch deutlich fassbare und selbst literarisch tätige und sich autobiographisch auslegende Person, die wir aus dem Urchristentum kennen. Zugleich ist Paulus der urchristliche Apostel, der die größte Wirkung entfaltet hat. Die vertiefte Beschäftigung mit Paulus gehört daher ins Zentrum des Studiums des Neuen Testaments und stellt darüber hinaus eines der zentralen Themen des Theologiestudi‐ ums dar. Die Konzeption des vorliegenden Buches trägt diesem Sachverhalt Rech‐ nung. Sie lässt sich in drei Leitsätzen entfalten: 1. Die historische Gestalt und das literarische Werk des Paulus stehen am Anfang der Geschichte des Urchristentums. Die Briefe des Paulus bilden den historischen Kern des neutestamentlichen Kanons, seine theologischen Ausführungen stellen den Beginn christlicher Theologie dar. Sein missionarisches Werk, wie es sich aus seinen Briefen und aus der Apostelgeschichte rekonstruieren lässt, galt den Nichtjuden – und das heißt der großen Mehrheit der Menschen – im griechischsprachigen Osten des römischen Reiches „von Jerusalem bis Illyrien“3, vor allem in Kleinasien und Griechenland. Paulus greift aber auch in den lateinisch sprechenden Westen aus. Den geplanten Weg nach Spanien4 scheint er nicht mehr angetreten zu haben. Immerhin berichtet Lukas, Paulus habe während seiner zweijährigen Haft in Rom, die wohl mit der Hinrichtung endete5, eine blühende Predigt- und Lehrtätigkeit ausgeübt: „Paulus aber blieb zwei volle Jahre in seiner eigenen Wohnung und nahm alle auf, die zu ihm kamen, predigte das Reich Gottes und lehrte von dem Herrn Jesus Christus mit allem Freimut ungehindert.“ (Apg 28,30f.)

Die Mission des Paulus war universal und partikular zugleich angelegt. Sie galt dem Imperium Romanum und damit der gesamten Paulus bekannten 3 4 5

Röm 15,19. Röm 15,24.28. Vgl. die Voraussagen in Apg 20,22–24; 21,4.7–14.

Einführung

Welt. Und doch zielte sie letztlich, wie der Röm aufdeckt, auf die Juden als das Volk Gottes, dem er selbst angehörte.6 Damit erweist sich Paulus als eine universal denkende, planende und handelnde Persönlichkeit im bleibenden theologischen Horizont des Judentums. Seine Verkündigungskonzeption hat einen imperialen Zug und lässt sich mit den geographischen Dimensionen vergleichen, in denen die römischen Kaiser dachten und handelten. Seine nachhaltigen und bleibenden Erfolge als erster christlicher Theologe und als Heidenmissionar reichen allerdings weit über den Wirkungs- und Bedeu‐ tungsradius der römischen Kaiser, deren Zeitgenosse er war, hinaus. 2. Die Wirkungen, die Paulus hervorrief, lassen sich in ihrer Vielfalt und Lebendigkeit nur unzureichend überblicken. Sie sind uns am ehesten in ihrer literarisch-theologischen Gestalt unter dem Stichwort der Rezeption fassbar. Die Paulus-Rezeption beginnt im neutestamentlichen Schriftencorpus selbst – innerhalb der korinthischen Korrespondenz7, weiter mit dem ‚Paulinis‐ mus‘ der Deutero- und Tritopaulinen und der Apostelgeschichte8 – und reicht durch die Auslegungsgeschichte der Kirche von Origenes 9 über die großen Theologen aller Epochen bis in die Gegenwart. Die Ergebnisse der Exegese und Interpretation der Paulusbriefe und der Rekonstruktion und Konstruktion der Theologie der Briefe haben im Verlauf der Theologie‐ geschichte mehrfach im Zentrum bedeutender theologischer Innovationen gestanden. Hier nur die wichtigsten Stationen: Luther und Calvin haben im Zusammenhang ihrer exegetischen Vorlesungen und Kommentare zu den Paulusbriefen die Grundlagen reformatorischer Theologie formuliert. Karl Barths Römerbriefkommentar war ein Fanal der dialektischen Theo‐ logie. Die Konstruktion der paulinischen Theologie als Soteriologie bei Melanchthon und als Anthropologie bei Rudolf Bultmann war grundlegender Bestandteil der reformatorischen Theologie und der existentialen Interpre‐ tation vor allem der deutschsprachigen Theologie im 20. Jh. 3. Zugleich gehören die Paulusexegese und die Rekonstruktion der Theo‐ logie des Paulus seit dem 19. Jh. zu den zentralen Themen und Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft, die sich im Prozess der Diversi‐ 6 7 8 9

Röm 11. Vgl. dazu den Beitrag zum 2. Korintherbrief von E.-M. Becker im vorliegenden Band. Vgl. dazu den Beitrag von B. Heininger im vorliegenden Band (Teil III). Vgl. dazu den Beitrag von W. Wischmeyer im vorliegenden Band.

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fizierung der Theologie in ‚Fächer‘ im Verlauf des 19. Jahrhunderts herausbildete. Einen entscheidenden Impuls für die hier entstehende neuere Paulusfor‐ schung im engeren Sinne setzte Ferdinand Christian Baur mit seinen Studien: „Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde, der Gegensatz des petrinischen und paulinischen Christentums in der alten Kirche, der Apostel Petrus in Rom“ (1831)10 und „Über Zweck und Veranlassung des Römerbriefs und die damit zusammenhängenden Verhältnisse der römischen Gemeinde“ (1836)11. Seit Ferdinand Christian Baur ist die theologische Paulusforschung historische Forschung. Zugleich ist sie stets exegetische Forschung geblie‐ ben. In Gestalt der historisch-kritischen Exegese haben die Römerbriefkom‐ mentare von Ernst Käsemann, Heinrich Schlier und Ulrich Wilckens die theologische Szene in Deutschland in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhun‐ derts mit geprägt. Die den Kommentaren zugrunde liegenden theologischen Überzeugungen waren meist Ausdruck der Zugehörigkeit der Exegeten zu bestimmten theologischen Schulen und konfessionellen Grundbindungen. Das haben besonders die angelsächsischen Exegeten wahrgenommen, die die starke Rückbeziehung der deutschen Paulusinterpretation auf die her‐ meneutischen und dogmatischen Vorgaben der reformatorischen Theologie kritisierten und neue Verstehenskoordinaten entwarfen, die zu der sog. ‚New Perspective on Paul‘ führten, wie James D.G. Dunn sie genannt hat.12 Gerade in den allerletzten Jahren hat die Auseinandersetzung mit der New Perspective einen ungemein lebhaften wissenschaftlichen Diskurs über das angemessene Paulusverständnis hervorgebracht (,Radical New Perspective‘

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Zuerst erschienen in: Tübinger Zeitschrift für Theologie 1831, 61–206. Zuerst erschienen in: Tübinger Zeitschrift für Theologie 1836, 59–178. Vgl. die Wür‐ digung von K. Scholder im Vorwort der Baur-Ausgabe (Ferdinand Christian Baur. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben herausgegeben von Klaus Scholder. 1. Band. Historisch-kritische Untersuchungen zum Neuen Testament mit einer Einführung von Ernst Käsemann, Stuttgart/Bad Cannstatt 1963), S. VI: „Mit Ferdinand Christian Baur bricht auch in der Theologie das Zeitalter des historischen Denkens an. Er ist der Erste, der die historisch-kritische Methode konsequent und umfassend zur Grundlage eines theologischen Systems gemacht hat“. Vgl. auch ebd. S. VIII die Einschätzung von E. Käsemann in seiner Einführung, die Exegeten stünden alle auf dem Grunde, den Baur mit seiner Vorstellung von historischen Prozessen in der Entstehung des Urchristentums gelegt habe. Vgl. dazu den Beitrag von J. Frey im vorliegenden Band (Teil I).

Einführung

bzw. ,Paul within Judaism‘)13, den ein neues deutschsprachiges Lehrbuch über Paulus in seiner aktuellen Form darstellen muss. Daneben stehen Neuansätze mit biographisch-autobiographischen Schwerpunkten14 sowie sozialgeschichtliche Fragestellungen.15 Die Benutzung des Lehrbuchs

Das Lehrbuch gliedert sich in drei große Teile. – TEIL I bildet den Zugang und ist den Fragen der Religion des Paulus, seiner religiösen, philosophischen, geographischen und politischen Umwelt, seinem Leben und Wirken sowie seiner Person und seinem Briefeschreiben gewidmet. – TEIL II stellt das Zentrum des Lehrbuchs dar. Er bietet textbezogene Darstellungen der Paulusbriefe und eine Einführung in die Themen des paulinischen Denkens. Die Beiträge haben das Ziel, die Studierenden zu selbständiger Texterschließung zu führen. – TEIL III weitet den Horizont aus. Die Beiträge führen in die Wirkungsund Rezeptionsgeschichte des Paulus im Neuen Testament und im 2. Jh. ein. Das Lehrbuch schließt mit einem Überblick über die weitere theologische und philosophische Wirkungsgeschichte des Paulus bis zur Gegenwart. Insgesamt erschließt sich Paulus von der Exegese seiner Briefe her. Hier liegt auch der Schwerpunkt der neutestamentlichen Forschung an Paulus, die ebenfalls in den Examensanforderungen abgebildet ist. Die Autorinnen und Autoren haben sich daher in Teil II um eine ebenso detaillierte und aktuelle wie besonders übersichtliche Darstellungsweise bemüht. Die Beiträge in Teil I und Teil III sind weniger stark binnengegliedert und formalisiert, da sie eher zum Lesen als zum Lernen gedacht sind. Alle Beiträge haben

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Zuletzt J.D.G. Dunn (Ed.), The New Perspective on Paul. Collected Essays (WUNT 185), Tübingen 2005 und M. Bachmann (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive (WUNT 182), Tübingen 2005. Vgl. auch M. Zetterholm, Approaches to Paul. A student’s guide to recent scholarship, Minneapolis 2009. Vgl. den Band: Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), hg. v. E.-M. Becker/P. Pilhofer, Tübingen 2005, sowie den Beitrag von E.-M. Becker: „Die Person des Paulus“ im vorliegenden Band. T.D. Still/D.G. Horrell (Ed.), After the First Urban Christians: The social-scientific study of Pauline Christianity twenty-five years later, Edinburgh 2009.

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ihr selbständiges Autorenprofil und ihren eigenen Stil. Sie lassen sich unabhängig voneinander benutzen, sind aber sachlich aufeinander abge‐ stimmt und formal aneinander angeglichen. Alle Beiträge lassen sich für die Vorbereitung von Examensthemen verwenden. Folgende Bereiche der Paulusforschung verdienen gegenwärtig besondere Aufmerksamkeit und werden im vorliegenden Band dementsprechend aus‐ führlich behandelt16: –

die eigene religiöse Welt des Paulus, nämlich das Judentum des 1. Jh.s n.Chr.17, – die ihn umgebende Welt des Imperium Romanum und der griechisch-rö‐ mischen Religion und Philosophie, in die hinein er missionierte18, – die angelsächsischen Perspectives on Paul, die erstens das ältere, be‐ sonders in der deutschsprachigen Paulusforschung dominierende Inter‐ pretationsmodell von der Rechtfertigungslehre als dem Zentrum der paulinischen Theologie radikal infrage stellen19, zweitens die Frage aufwerfen, ob Paulus – wie in der deutschsprachigen Exegese besonders durch Bultmann und seine Schule vertreten – als erster christlicher Theologe angesehen werden kann oder aber ganz im Bereich jüdischer Religionsreflexion zu verorten ist20, – die rhetorische, argumentative und literaturgeschichtliche Analyse der Briefe21. Die Literaturempfehlungen am Ende der einzelnen Beiträge verbinden Stan‐ dardbeiträge und aktuelle Titel. Sie sind dort kommentiert, wo es den Ver‐ fassern sinnvoll und nützlich erscheint. Auf ein Gesamtliteraturverzeichnis wurde verzichtet, da es zu einer Fülle von Dubletten geführt hätte. 16 17 18

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Vgl. die Beiträge von A. Mehl und D.-A. Koch im vorliegenden Band. Vgl. den Beitrag von J. Frey im vorliegenden Band (Teil I). Vgl. den Beitrag von B. Heininger im vorliegenden Band (Teil I). Zu Paulus und der Stoa vgl. bes. T. Engberg-Pedersen, Cosmology and Self in the Apostle Paul, Oxford 2010. Zu Paulus und dem Imperium Romanum vgl. R.A. Horsley (Ed.), Paul and Empire: Religion and Power in Roman Imperial Society, Harrisburg 1997; N. Elliott, The Arrogance of Nations: Reading Romans in the Shadow of Empire, Minneapolis 2008; C. Heilig, Hidden Criticism?: The Methodology and Plausibility of the Search for a Counter-Imperial Subtext in Paul, Minneapolis 2017. Allgemein: A. Winn (Ed.), An Introduction to Empire in the New Testament (Resources for Biblical Study 84), Atlanta 2016. Vgl. die Beiträge von J. Frey zum Judentum des Paulus und zum Galaterbrief im vorliegenden Band. So P. Fredriksen, Paul, the Pagans Apostle, New Haven 2017. Vgl. bes. den Beitrag von Ch. Hoegen-Rohls im vorliegenden Band.

Teil I: Umwelt. Leben. Werk. Person

Einleitung in Teil I

O DA W ISCHMEYER

– Paulus ist der erste und einzige literarisch tätige Apostel der entstehenden christlichen Gemeinden. 1 In dieser Funktion, als schreibender Apostel, hat er seine Wirkung auf das gesamte Christentum bis in die Gegenwart hinein ausgeübt, und aus dieser Perspektive will ihn das vorliegende Buch darstellen. Die großen Verstehens- und Deutemuster, die an Paulus herangetragen werden – Paulus der Apostel, Paulus der Missionar, Paulus der Schöpfer des Christentums, Paulus der Erfinder der hohen Christologie, Paulus der Theologe, Paulus der religiöse Heros, Paulus der deviante Jude – sie alle sind Aspekte der „multifaktoralen Paulusinterpretation“, die Udo Schnelle fordert2. Die hier gewählte Perspektive des Paulus als des einzigen schreibenden Apostels des Urchristentums umfasst die genannten Aspekte. Zugleich wird sie dem Umstand gerecht, dass der Weg zu Paulus über seine Briefe führt, in denen er sich selbst vorstellt und als Apostel interpretiert3. –

Paulus tritt uns in seinen Briefen als Verkündiger des Evangeliums, als kirchlicher Organisator und Kommunikator – in seiner eigenen Sprache eben als „Apostel Jesu Christi“ – entgegen, daneben als Person, die sich selbst im Schreiben artikuliert, entwickelt und reflektiert. Wir rekonstru‐

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O. Wischmeyer, Paulus als Autor, in: dies., Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments (WUNT 173), hg. v. E.-M. Becker, Tübingen 2004, 289–307. U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003, 24. Im Gegensatz zu Lukas, der seinen Helden Paulus in der Apostelgeschichte gerade nicht als Apostel bezeichnet. Vgl. dazu J. Frey, Paulus und die Apostel. Zur Entwicklung des paulinischen Apostelbegriffs und zum Verhältnis des Heidenapostels zu seinen „Kollegen“, in: E.-M. Becker/P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005, 192–227.

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ieren seine Person, sein Leben und sein Wirken aber auch aus anderen Quellen. Folgende sekundäre Quellen und frühe Zeugnisse seiner Wirkung treten hinzu: – – –

die Apostelgeschichte die deutero- und tritopaulinischen Briefe Nachrichten und Darstellungen aus der altkirchlichen Literatur, be‐ ginnend mit dem 1. Clemensbrief und mündend in die apokryphen Apostelakten.

Die Apostelgeschichte stellt Paulus in den Zusammenhang des Laufes des Evangeliums durch die Ökumene und spannt das Leben des Paulus in drei große Missionsreisen ein. Die Deutero- und Tritopaulinen knüpfen an seine theologischen und kirchenleitenden Tätigkeiten an und nutzen seine Autorität für die Ordnung ihrer Gemeinden. Die Apostelakten erzählen ihn neu in den Kategorien ihrer Zeit als Wundertäter und Heiligen. –

Das vorliegende Buch behandelt die genannten Aspekte im Rahmen einer historischen Darstellung, die die Rekonstruktion des Lebens und Wirkens des Paulus mit der Interpretation seiner Briefe verbindet.

Die historische Nachfrage ist am breitesten ausgelegt und wird der allge‐ meinen Bedeutung der Person und des Wirkens des Paulus und seiner nun fast zwei Jahrtausende dauernden Wirkungsgeschichte am ehesten gerecht. Der erste Teil des vorliegenden Buches stellt daher die Person und das Werk des Paulus in seine Zeit (historische Kontextualisierung), zuerst in den politischen Rahmen des Imperium Romanum, das sein Wirkungsfeld darstellte, dann in das zeitgenössische Judentum, aus dem Paulus stammte, weiter in die religiöse und philosophische Welt der frühen Kaiserzeit, die sein politisches und kulturelles Umfeld bildete. Hier konzentrieren wir uns vor allem auf die Welt der Religionen, mit denen Paulus es in seiner Missionstätigkeit zu tun hatte. Ein eigenes Thema stellen die Städte dar, in denen Paulus gewirkt hat. Die Briefe des Paulus und seine öffentliche Verkündigungstätigkeit stehen im Zusammenhang der frühkaiserzeitlichen Rhetorik und Epistolographie. Vor diesem Hintergrund entwickeln wir das Bild des Paulus aus den Quellen mit besonderer Berücksichtigung seines missionarischen Wirkens und Reisens sowie seiner Person.

Der politische Raum des Paulus: das Römische Reich von Augustus bis Nero

A NDREAS M EHL

Dieser Beitrag soll den historischen Rahmen beschreiben, innerhalb dessen Paulus seine Tätigkeit für das sich entfaltende Christentum ausgeübt hat. Dieser Rahmen war das Römische Reich, nicht nur Rom. Also wird das Gewicht auf ersterem und nicht, wie in der antiken römischen Geschichts‐ schreibung üblich, auf letzterem liegen. Weiter läuft die Aufgabe auf eine Situationsbeschreibung für eine bestimmte Zeit hinaus, nämlich die von Augustus bis Nero (44/27 v.–68/69 n. Chr.). Allerdings tun sich Historiker mit Beschreibungen von Situationen insofern schwer, als ihr überwiegendes ‚Geschäft‘ nicht darin besteht, Gleichbleibendes, die „lange Dauer“ (longue durée) der französischen Annales-Schule, sondern Ereignisse, Veränderun‐ gen im Sinne von Fluktuationen und Entwicklungen in kürzerer oder längerer Zeit, im Idealfall auf ein zumindest nachträglich erkennbares Ziel hinführende historische Prozesse zu beschreiben, zu erklären und zu begründen. 1 Konstanz oder Entwicklung?

Der hier zu behandelnde Gegenstand macht es sogar unmöglich, Zustand pur darzustellen. Das mag verwundern; denn das Römische Reich hat doch – bereits aus antiker sowohl nichtchristlicher als auch christlicher Sicht – unter und durch Augustus zumindest in seiner inneren Gestaltung eine neue Form oder Verfassung erhalten, die es dann Jahrhunderte hindurch beibehalten sollte. Der Althistoriker ist zwar durchaus bereit, die in dieser Sicht enthaltene Realität anzuerkennen, er wird jedoch zugleich darauf verweisen, dass gerade die von Augustus durchgesetzten Verfassungsände‐ rungen in ihrer Kompromisshaftigkeit zwischen Republik à la Rom und

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A NDREAS M EHL

Monarchie à la Hellenismus zu weiterer verändernder Gestaltung geradezu herausforderten. Dies konnte zumindest für einige Zeit auf ein Hin und Her, auf eine Fluktuation zwischen Republik und Monarchie hinauslaufen. Man kann es auch so sagen: Die übliche Rede vom römischen „Kaisertum“, das man einem antiken Muster folgend zumeist mit Augustus beginnen lässt, beschreibt einen Zustand, in dem entgegen der Bezeichnung vieles noch nicht ‚Kaisertum‘ ist. Wenn hier, einem modernen Usus folgend, vom ‚Kaiser‘ gesprochen wird, so muss doch darauf hingewiesen werden, dass nur die Bezeichnungen ‚Prinzeps‘ und ‚Prinzipat‘ – der Mann bzw. die Position des Mannes auf dem ersten Rang – korrekt sind: Indem diese Position zwischen Augustus und Nero (gest. 68 n. Chr.) Veränderungen ausgesetzt ist, die schließlich in Richtung Monarchie – wenn auch nicht in die ausdrückliche Erb-Monarchie – führen, sind zwangsläufig auch die weiteren römischen Entscheidungs- und Exekutivinstitutionen, der Senat und die senatorischen Ämter (Magistrate), sowie der nachgeordnete Verwal‐ tungsapparat Veränderungen ausgesetzt: erstere gegenläufig zur Position des Prinzeps, letzterer im Sinne des Ausbaus, ja erst des Entstehens. In der Tat werden Entstehung und Ausbau einer Staatsverwaltung ermöglicht und darüber hinaus vielleicht sogar notwendig gemacht durch die Entwicklung des Prinzipats hin zu einer Monarchie. Von Augustus’ Regierungszeit an, und zwar nach der Annexion Ägyp‐ tens 30 v. Chr., mag auch der territoriale Bestand des Reiches Konstanz suggerieren. Doch das beruht nicht auf Fakten: Zum einen täuscht die beliebte und zugleich längst als unzutreffend erkannte Rede von Augustus’ Umstellung der Außenpolitik von Expansion auf Bestandswahrung. Zwi‐ schen Augustus und dem Regierungsantritt Traians im Jahr 98 wurde zwar nicht mehr im großen Stil erobert und provinzialisiert, aber getan wurde beides eben doch. Zum anderen ist das Verständnis von der Struktur des Römischen Reiches einerseits bei den damaligen Akteuren, andererseits bei Althistorikern der Moderne in bezeichnender Weise unterschiedlich: Augustus richtet in seinem Tatenbericht (Res Gestae) gerade keine klare Grenze des Reiches auf. Insbesondere Länder, die von eigenen Fürsten regiert werden, erscheinen als seiner Entscheidung unterworfen, sofern er dort Regierende einsetzt bzw. Angehörige des dortigen Herrscherhauses sich bei ihm als Gäste oder, richtiger, als Geiseln befinden. In dieser Sicht ist sogar das Partherreich, der einzige auf längere Sicht hin ebenbürtige Gegner Roms, der Befehlsgewalt, also dem imperium Roms unterworfen. Die Unschärfe dieses Begriffes, den man, gegossen in die Worte Imperium

Der politische Raum des Paulus: das Römische Reich von Augustus bis Nero

Romanum, allzu schnell ausschließlich als unmittelbare Herrschaft über ein klar definiertes Territorium misszuverstehen geneigt ist, erlaubt es, ja provoziert dazu, vieles als Bestandteil des Römischen Reiches anzusehen, was nach moderner Staatsdefinition ein eigenes Land gewesen sein muss. Er kommt damit dem römischen Anspruch auf Weltherrschaft entgegen, der gerade in Augustus’ Zeit offiziell und offiziös verkündet wurde und Bestand‐ teil von Augustus’ Herrschaftslegitimation war. Die römische Auffassung vom ‚Reich‘ bedeutet auch, dass aus moderner Sicht die Grenze zwischen Reichsterritorium und Außenwelt vielfach nicht als Linie gezogen werden kann, sondern sich über Flächen abnehmender Herrschaftsausübung bis hin zur bloßen gelegentlichen Einflussnahme erstreckt. Modern möchte man nur diejenigen sogenannten römischen Klientelstaaten als Teile des Römi‐ schen Reiches akzeptieren, deren Klientel-Status ein früher Abschnitt ihres Verhältnisses zu Rom war, der früher oder später durch die Umwandlung in eine Provinz abgelöst wurde. Damit ist nun in der Tat eine Entwicklung angesprochen, die dahin geführt hat, von Rom abhängige Gebiete außerhalb Italiens zu Provinzen zu machen. Obwohl Rom in der hier zu betrachtenden Zeitspanne über eine Vielzahl von Provinzen gebot, war man von einem vereinheitlichten Zustand provinzialer Herrschaft weit entfernt, und längst nicht alle Regierungsmaßnahmen der Zeit waren auf diesen Zustand hin ausgerichtet. 2 Das Reich von der Stadt Rom bis in die Provinzen und darüber hinaus

Rom stellt den in der Weltgeschichte wohl singulären Fall der Entstehung ei‐ ner Großmacht und eines Weltreichs aus einer Stadt heraus dar. Parallel zum Wachstum von Roms Macht und Herrschaftsgebiet strömten Menschen aus immer mehr Teilen der damaligen Welt in die Stadt; von ihnen wurden dort die verschiedensten Religionen und Kulte gepflegt und von Roms Obrigkeit teils geduldet, teils verboten, in jedem Fall aber aus Sorge um die öffentliche Ordnung observiert. Zur intellektuellen Hauptstadt des Römischen Reiches wurde Rom indes nie. Geradezu typisch für die Stadt als Keimzelle eines Reiches war die Art des Regierens: Volk, Senat und Konsuln waren für die Stadt Rom und alles andere zugleich zuständig. Die Erkenntnis, dass das nicht funktional war, führte bereits in der Republik zur Abstellung einzelner Magistrate zur Verwaltung von Rom annektierter und beherrschter Gebiete außerhalb der Halbinsel Italien, von Provinzen in spezieller, territorialer

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Bedeutung dieses lateinischen Wortes. Ab Augustus wurden auf Dauer besondere Ämter für die Stadt Rom geschaffen; sie waren administrativ und technisch ausgerichtet, etwa auf die Wasser- oder Getreideversorgung der Stadt. Die Zuständigkeit für das Wohl der stadtrömischen Bevölkerung lag indes weiterhin nicht bei einer gesonderten Instanz, sondern beim Prinzeps, in dem sich die Regierung des ganzen Reiches bündelte. Seine besondere Verantwortung für die Stadt Rom zeigte sich darin, dass der Kaiser Lebensmittel und auch Geld an römische Bürger, die in der Stadt wohnten, auf eigene Kosten verteilen ließ, ja selbst verteilte und dass nicht nur Magistrate, sondern vor allem er selbst für die stadtrömische Bevölkerung Spiele in Zirkus und Amphitheater finanzierte und veranstaltete sowie zur besseren Versorgung Roms Häfen zu beiden Seiten der Tibermündung, Ostia und Portus, ausbauen ließ (ab Claudius). Erst im frühen ersten Jh. v. Chr. und auch erst nach blutigen Auseinan‐ dersetzungen mit großen Teilen der Bevölkerung Halbinsel-Italiens wurde zwischen die Provinzen und die Stadt Rom eine weitere rechtlich festgelegte Ebene eingezogen: die Halbinsel Italien und im späteren ersten Jh. v. Chr. dann ein bis in die Alpen und nach Istrien deutlich vergrößertes Italien wurde römisches Bürgergebiet. Aus ihm stammten beispielsweise der au‐ gusteische Dichter Vergil und der ebenfalls augusteische Geschichtsschrei‐ ber Livius. Augustus teilte dieses große Italien administrativ in elf Regionen ein. Die ‚Einbürgerung‘ Italiens vermehrte die Zahl der römischen Bürger beträchtlich. Das war ein Vorteil für die Rekrutierung der Legionen, in denen nur römische Bürger dienten. Und nach den vielen Verlusten unter den römi‐ schen Senatoren, ja dem Wegfall ganzer Familien der Führungsschicht in den Bürgerkriegen im Übergang von der Republik zum Prinzipat wurde Italien über die wohlhabenden Familien seiner Städte auch unentbehrlich durch die Stellung von Senatoren: Einer solchen nicht stadtrömischen, sondern italischen, überdies mit Augustus nicht verwandten Familie entstammte als erster Kaiser Vespasian (ab 69 n. Chr.). Wirtschaftlich war Italien für Rom als Lieferant derjenigen Dinge unverzichtbar, die man nicht von Übersee herholen konnte, etwa Früchte oder Fleisch. Bereits ein flüchtiger Blick auf eine Karte zeigt, dass das Römische Reich ein mittelmeerisches Gebilde ist: Die italische Halbinsel ragt in das Mittel‐ meer hinein, und die Stadt Rom liegt – ähnlich wie in Griechenland z. B. Athen – nahe dem Meer und ist – hinwiederum anders als Athen – an dieses über einen schiffbaren Fluss, den Tiber, angeschlossen. Hatte das republi‐ kanische Rom zunächst auf Inseln, Sizilien, Sardinien und Korsika, seine

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direkte Herrschaft eingerichtet und dabei das provinziale System entwickelt, so griff es bald auf Länder über, die Anrainer des Mittelmeeres waren: im Westen Spanien und Südfrankreich, im Süden Nordafrika („Africa“: im Bereich des zerstörten Karthagos), östlich davon die Kyrenaika, verwaltet zusammen über das Meer hinweg mit Kreta, im Ägäisraum Makedonien mit Griechenland, jenseits der Ägäis unter dem Namen „Asia“ das vom römischen Volk geerbte Königreich von Pergamon, später auch Bithynien und im Balkan sehr spät Illyricum, im Osten schließlich Kilikien mit der Insel Zypern und Syrien. Diese Übersicht zeigt nicht nur das weite Ausgreifen Roms, sondern auch die verbliebenen Lücken. Direkter Herrschaft Roms unterworfen war in der republikanischen Zeit keineswegs der vollständige Kranz der Mittelmeerländer, und er war es auch unter Augustus trotz weiteren Zugewinns noch immer nicht. In einem Krieg, in dem die letzte Rivalität der Bürgerkriegszeit zwischen zwei römischen Politikern und Machthabern, Marcus Antonius und Octavian (Augustus), ausgefochten wurde, wurde 30 v. Chr. das letzte der ehedem großen hellenistischen Reiche, das Ptolemäerreich unter seiner Königin Kleopatra VII., erworben, das Kern‐ land Ägypten jedoch nicht zu einer Provinz des römischen Volkes gemacht, sondern zum persönlichen Besitz des Siegers. An zwei entgegengesetzten Enden des Mittelmeers wurden etliche Jahrzehnte später unter Caligula und Claudius neue Situationen geschaffen: Im von Rom abhängigen nordafrika‐ nischen Fürstentum Mauretanien hatte Augustus Kolonien gegründet; sie boten die reale Grundlage für die Umwandlung des Territoriums zu einer Provinz im Jahr 40 n. Chr., die dann nur zwei Jahre später geteilt wurde. Aus dem Klientelfürstentum Thrakien wurde im Jahr 46 ebenfalls eine Provinz gemacht. Der östlichen Mittelmeerküste entlang erstreckte sich die Provinz Syrien; auf der anderen Seite reichte sie bis in Steppe und Wüste. Sie wurde von einem kaiserlichen Statthalter (legatus Augusti pro praetore) verwaltet. Im syrischen Raum gab es indes Gebiete mit unterschiedlichem Status, in den letzten Jahren der römischen Republik und in den ersten Jahrzehnten des Augustus vor allem das in der Nachfolge der Hasmonäer-Monarchie stehende und von Rom abhängige Königreich Herodes’ I.‚ des Großen, mit dem Kernland Judäa. Nach Herodes’ Tod 4 v. Chr. machten die Territorien seines Reiches eine wechselvolle Geschichte durch, indem sie mehrfach un‐ ter seinen Nachkommen aufgeteilt wurden. Judäa allerdings wurde als Teil der Provinz Syria von einem praefectus ritterlichen Ranges verwaltet; dies war auch die Position des Pontius Pilatus. Später war Judäa prokuratorische

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Provinz. Der Anteil der Verwaltung, der üblicherweise den Provinzialen überlassen war, wurde in Judäa nicht von einem Provinziallandtag, in dem die Städte oder auch Stämme der Provinz repräsentiert waren, sondern vom priesterlichen Sanhedrin (von griech. ‚Synhedrion‘: Versammlung) unter dem Vorsitz des Hohepriesters in Jerusalem wahrgenommen. Der im Osten in der Nachfolge des hellenistischen Herrscherkultes selbstverständliche Kult des Kaisers musste von Juden generell und somit auch in Judäa nicht ausgeübt werden; lokale Priester und provinziale Oberpriester für den Kaiserkult gab es daher in Judäa nicht. Angesichts der römischen Zurückhal‐ tung musste Caligulas Ansinnen, im Jerusalemer Tempel verehrt zu werden, Empörung und Unruhe hervorrufen. Benötigt wurden für Judäa Statthalter mit Fingerspitzengefühl, die Tabubrüche vermieden, dies gerade auch in Ausübung ihrer Rechtsaufsicht über den Sanhedrin samt Hohepriester. Doch nicht alle Präfekten und Prokuratoren wurden dieser Bedingung gerecht; das trug wesentlich zum jüdischen Aufstand der Jahre 66 bis 70 bei. Dass die Prokuratoren Judäas sich überwiegend nicht in Jerusalem, sondern in Herodes’ hellenistischer Gründung Caesarea am Meer aufhielten, vermied gewiss Spannungen. Besonders schwierig wurde die römische Verwaltung Judäas dadurch, dass es unter den Juden in einer politisch-religiösen Mi‐ schung gor: Zum einen wandte man sich gegen die Fremdherrschaft, zum anderen gegeneinander. Indes zeigt gerade der Prozess Jesu, so sehr man ihn als Unrecht empfindet, eine im Rahmen der römischen Reichsverwaltung normale und funktionierende Zusammenarbeit zwischen dem priesterlichen jüdischen ‚Establishment’ und Rom, vertreten durch seinen Statthalter. Noch ehe die Römer den Mittelmeerraum vollständig provinzialisiert hatten, griffen sie über ihn hinaus: in das innere Kleinasien, östlich der Adria und in Gallien jenseits der am Mittelmeer gelegenen Gallia Transal‐ pina. Im östlichsten Kleinasien und jenseits davon wurde Armenien zum Zankapfel zwischen Römern und Parthern; innerhalb der hier behandelten Zeit kulminierte der Streit in der Zeit Neros. Als man in Illyricum und weiter östlich in Mösien bis zur Donau vorstieß, zog man sich Auseinan‐ dersetzungen mit den Dakern zu, die immer wieder zu heftigen Kriegen führten. Die Eroberung Galliens schließlich führte bereits unter Caesar zu Konfrontationen mit Germanen und unter Augustus dann dazu, dass die Römer sich rechts des Rheins zu etablieren begannen. Man darf wohl von einer Provinz Germania sprechen. Mehrere Niederlagen, unter denen die des Varus im „Teutoburger Wald“ 9 n. Chr. nur eine, wenn auch besonders blutige war, und auch sonst verlustreiche Kämpfe bei hohen Aufwendungen

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veranlassten Tiberius dazu, nach dem Feldzug des Jahres 16 alle weiteren militärischen Aktionen in rechtsrheinisches Gebiet abzublasen, den dortigen Kommandeur, seinen Neffen und Adoptivsohn Germanicus, abzuberufen und sich mit lockeren Klientelverhältnissen zu begnügen, die sporadische Eingriffe Roms in die Herrschaftsverhältnisse in germanischen Stämmen ermöglichten. Eine eher ferne Wirkung der Provinzialisierung Galliens war die Eroberung Englands und dessen Provinzialisierung als Britannia, die am Beginn der Regierungszeit des Claudius eingeleitet wurde. Die Römer waren bei der Eroberung Galliens an den Alpen vorbeimarschiert. Diese waren also nicht römisch. Andererseits lagen sie in Süd-Nord-Richtung zwischen Italien und Germanien und in West-Ost-Richtung zwischen Gallien und Illyricum. So war ihre unmittelbare Einbeziehung in das Römische Reich ein Muss: Angesichts der zahlreichen kleinen Hochgebirgs-Siedlungsräume waren viele, sich über mehrere Jahrzehnte hinziehende militärische Aktionen nötig, um die Völker der West- und Zentralalpen zu besiegen. Bis hier und im nördlichen Voralpenland beständige Provinzen eingerichtet waren, sollten allerdings nochmals mehrere Jahrzehnte vergehen; so wurde die Provinz Raetia (et Vindelicia) erst in der Zeit zwischen Tiberius und Claudius eingerichtet. Weit über die mitgeteilten Fälle hinaus waren die hier thematisierten Jahr‐ zehnte voll von Maßnahmen provinzialer Organisation und Reorganisation. Diese hatten sehr unterschiedliche Ursachen: Zum einen gehörte zur neuen Machtverteilung in Rom eine Aufteilung der Provinzen teils auf Augustus, teils auf den Senat; Augustus erhielt die unruhigen oder von außen her gefährdeten Provinzen und dazu den Befehl über das in ihnen stationierte Militär, der Senat die befriedeten Provinzen (27 v. Chr.). Dieses Prinzip führte in der Folgezeit je nach Entwicklung zu Veränderungen in der Zuordnung von Provinzen. Hinzu trat in den kaiserlichen Provinzen – mit Ausnahme Ägyptens – eine Zweiteilung in solche, in denen mindestens eine Legion stand, und solche, in denen nur Hilfstruppen stationiert waren; ersterer Typ wurde von einem legatus Augusti pro praetore, letzterer von einem procurator verwaltet, ersterer gehörte dem Senatorenstand, letzterer dem seit Augustus für den Reichsdienst nutzbar gemachten und geförderten Ritterstand an. So entließ Augustus Zypern bereits 22 v. Chr. aus seiner Obhut in die des Senates; fortan wurde die Insel von einem proconsul verwaltet. Umgekehrt wurde die Insel Korsika nach Aufständen spätestens im Jahr 69 n. Chr. von Sardinien administrativ getrennt; Sardinien blieb senatorische, Korsika wurde kaiserliche Provinz und erhielt einen Prokurator. Wie man hier sieht,

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wurden Provinzen auch geteilt oder zusammengelegt und territorial neu zugeschnitten. Dass dort, wo erobert und annektiert wurde oder werden sollte, nicht sofort ein endgültiger Zuschnitt einer Provinz erreicht wurde, wird kaum verwundern; als Beispiel sei die Situation am Rhein genannt: Aus den dort eingerichteten Militärbezirken wurden erst nach dem hier zu behandelnden Zeitraum die beiden Provinzen Germania Superior und Germania Inferior. Erhalt, eventuell gar Förderung eines Klientelkönigtums oder umgekehrt dessen Umwandlung in eine Provinz konnte von politischen und vor allem strategischen Überlegungen hervorgerufen sein; nicht unterschätzt werden darf allerdings der persönliche Kontakt eines Klientelfürsten zu Rom und sein Ansehen beim Kaiser und in dessen Umgebung. So erhielt der in Rom aufgewachsene Herodes Iulius Agrippa I. von Caligula erst einen und dann zwei Teile (Tetrarchien) aus dem ehemaligen Reich Herodes‘ I., und Claudius, bei dessen Regierungsantritt in turbulenter Situation er mitgewirkt hatte, gab ihm die Provinz Judäa dazu, so dass sich das gesamte ehemalige Herodesreich in seiner Hand befand. Allerdings wurde weiterer Ehrgeiz des Agrippa durch den Statthalter Syriens gestoppt; dahinter muss man die kaiserliche Regierung annehmen. Agrippas baldiger Tod (44) hatte die Einziehung seines Reiches zur Folge; Judäa wurde prokuratorische Provinz. Der Sohn Agrippas I., Marcus Iulius Agrippa II., auch er in Rom aufgezogen, erhielt im Jahr 50 Teile des Herodesreiches. Zu diesen Teilen gehörte Judäa zwar nicht, doch übte Agrippa II. wie schon sein Vater die Aufsicht über den Jerusalemer Tempel aus und hatte das Recht, den Hohepriester einzusetzen. Prokonsuln, legati Augusti pro praetore und Provinz-Prokuratoren waren für die allgemeine Verwaltung und die Rechtsaufsicht zuständig, und sie bestätigten oder verwarfen Todesurteile, die von provinzialen Institutionen über Freie, die nicht das römische Bürgerrecht besaßen, gefällt wurden. Sie waren aber nicht für die Finanzen zuständig. Nicht-städtische Steuern und Zölle wurden von Privatleuten bzw. deren Zusammenschlüssen zu Gesell‐ schaften (publicani) vom römischen Staat gepachtet und vor Ort auf eigene Rechnung eingetrieben, oder sie wurden von besonderen Prokuratoren für die kaiserliche Kasse (fiscus Caesaris) verwaltet. Da ersteres ein sehr proble‐ matisches Verfahren war, das im Übrigen samt denen, die dafür tätig waren, bei der Provinzbevölkerung in Misskredit stand, wurde letzteres allmählich zur Norm. Steuer- und Zollbezirke und damit die Amtssprengel der procu‐ ratores fisci stimmten zumeist nicht mit den Statthaltersprengeln überein, sondern waren eher größer. Der Kaiser als Oberbefehlshaber hatte Anteil am

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Kriegsgewinn, insbesondere am Territorium des besiegten Gegners. Daher gab es in so gut wie allen Provinzen ausgedehnte kaiserliche Domänen. Insbesondere hatte Octavian (Augustus) Ägypten in seinen persönlichen Besitz genommen; es stellte demnach nicht eine Provinz des römischen Volkes dar. Schließlich ging das Regal für den Abbau von Edelmetallen vom römischen Bürgervolk auf den Kaiser als dessen obersten Repräsentanten über. Alle diese Besitzungen und deren Nutzung hatten zur Folge, dass reichsweit weitere Prokuratoren für die kaiserlichen Besitzungen tätig waren. Dort, wo Militär für längere Zeit stationiert war, bildeten sich vor den Toren der Kastelle Zivilsiedlungen; sie unterstanden dem jeweiligen Lagerkommandanten. Der Bewohner einer Provinz stand also mindestens zwei, wenn nicht mehreren Repräsentanten Roms und deren Angestellten gegenüber. Trotzdem wurde über die Provinzen nicht nur von oben verfügt. Lokale und regionale Einheiten innerhalb einer Provinz verwalteten sich vielmehr selbst. Für die Provinz insgesamt war eine Versammlung aus Repräsentanten ihrer Untereinheiten, der Provinziallandtag, tätig. Sicher war er Weisungs‐ empfänger, der ihm Aufgetragenes umzusetzen hatte, und er hatte über den Kaiserkult seine Loyalität immer wieder zu beweisen; zum anderen aber verhandelte er mit dem Statthalter und regelte in dem ihm verbleibenden Bereich Belange der Provinz. Dem nicht demokratisch-egalitären, sondern aristokratisch-oligarchischen und plutokratischen Prinzip der römischen Republik folgte auch die Zusammensetzung der Provinziallandtage: In ihnen vertraten Männer wohlhabender und angesehener Familien die lokalen Einheiten. Judäa war insofern ein Sonderfall, als die Funktion des Provinzi‐ allandtags vom Jerusalemer Priesterrat, dem bereits erwähnten Sanhedrin, wahrgenommen wurde. Allerdings gehörten dessen Mitglieder einer Schicht an, die sich abgesehen von der priesterlichen Stellung durchaus mit den Notabeln einer anderen Provinz vergleichen ließ. Die eigentliche Basis des Reiches stellten nach dem Willen seiner Herrscher seine Städte als sich selbst verwaltende Personenverbände dar. Sie entbanden die Regierung in Rom von der Verwaltung auch der lokalen Einheiten durch römische Funktionäre. Einzelnen Städten kam als Amtssitzen des Provinzstatthalters besondere Bedeutung zu. In einer sehr auf Rang und Ehre bedachten Welt waren Titel wichtig: Städte konnten zu „Metropoleis“ erhöht werden. Allerdings war man im frühen 1. Jh. im Westen noch weit von jenem Netz von Städten entfernt, das in vielen Gegenden des Ostens spätestens in der hellenistischen Zeit geknüpft worden war. Wo Städte fehlten, etwa in

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Gallien, wurden von den Römern einerseits vorhandene Stammesorganisa‐ tionen genutzt oder Vergleichbares geschaffen, um so etwas wie ‚Landkreise‘ (civitates) mit einem Zentralort als Stadtäquivalente einzurichten, oder es wurden Städte gegründet. In Gallien begann mit letzterem Caesar, und seine dortigen Nachfolger und die Kaiser setzten diese Gründungen fort. So entstanden innerhalb von rund hundert Jahren Städte wie – in zeitlicher Reihenfolge – Colonia Iulia Equestris (Nyon am Genfer See), Lug‐ dunum (Lyon), Augusta Rauracorum (Augst bei Basel), Augusta Treverorum (Trier) und Colonia Claudia Ara Agrippinensis (Köln). Zum einen konnten Städte von Grund auf gegründet werden; das waren, sofern nicht nur ein Titel vergeben wurde, Veteranenkolonien, in denen sich die Versorgung altgedienter Legionssoldaten mit deren potentieller militärischer Nutzung über den Eintritt in den Ruhestand hinaus verband. Durch das römische Bürgerrecht der Bewohner war eine solche Kolonie als colonia civium Romanorum ein Stück Rom in der Fremde. Zum anderen konnte eine bestehende Siedlung Einheimischer bzw. einer gemischten Bevölkerung (oppidum) in den Rang einer Stadt römischen Rechts (municipium) erhoben werden. Letztere Maßnahme lief auf die allmähliche Romanisierung, eher noch Selbstromanisation der jeweiligen Stadtbevölkerung, hinaus. Das Land – im Gegensatz zur Stadt gesehen – gehörte territorial und administrativ zu einer Stadt, einer civitas, einem kaiserlichen Gutsbezirk (saltus) oder im Osten auch einem Tempel. Die dort lebenden und arbeitenden Bauern – sofern sie nicht Sklaven waren – konnten Bürger der betreffenden Stadt oder deren Hintersassen, Pächter (coloni) oder Hörige des Tempels sein. Die Größe und Beschaffenheit eines Bauernhofes variierte im Reich beträchtlich. An vielen Stellen hatten – neben dem Kaiser – insbesondere römische Senatoren große Güter, Latifundien; bekannt hierfür ist etwa Nordafrika. Im Römischen Reich gab es kulturelles Gefälle und kulturelle Differenzen: zwischen Ost und West, zwischen Randgebieten und den mittelmeerischen Regionen, zwischen benachbarten Provinzen und kleinräumig zwischen Stadt und Land, ja bei gemischter Bevölkerung wie in Rom, Alexandreia an der Nilmündung oder Antiocheia am Orontes sogar innerhalb einer Stadt. Rom bemühte sich nicht um Aufhebung aller dieser Unterschiede, es akzeptierte diese sogar rechtlich, aber es war doch daran interessiert, dass möglichst viele Menschen neben ihrer Kultur auch römische Verhal‐ tensweisen praktizierten und einige römische Werte, in erster Linie die durch römische Rechtsvorstellungen und -normen gegebenen, kennenlern‐ ten und verinnerlichten. Ein Vehikel hierzu war die Vergabe des römischen

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Bürgerrechts (civitas Romana). In den Bürgerkriegen war es von römischen Amtsinhabern oft zur Belohnung der jeweils eigenen Parteigänger vergeben worden. Wohl daher hielt sich Augustus zurück; Claudius aber sah die Ausbreitung des Bürgerrechts als eine Grundlage des Römischen Reiches an und handelte entsprechend. Aus der Führungsschicht der Munizipien stiegen wohlhabende Familien über mehrere Generationen hinweg in das römische Bürgerrecht und über dieses in die Reichselite der Ritter und Senatoren auf. So bewahrheitete sich die Maxime des Claudius. Ein anderer Weg zum Erhalt des römischen Bürgerrechts war lang und mühsam, der Dienst in Hilfseinheiten der römischen Armee und in der Kriegsflotte. Allerdings blieb die Zahl der römischen Bürger im Reich vorerst gering, und unter den Freien blieb noch lange der rechtliche Unterschied zwischen römischen Bürgern (cives Romani) und Nichtbürgern (peregrini) erhalten. Die Frage nach gesellschaftlicher Mobilität stellt sich auch jenseits des Bürgerrechtserwerbs. Man konnte – etwa im frühkaiserzeitlichen Zypern – einer lokalen, ja provinzialen Elite angehören, ohne römischer Bürger zu sein. Man mag sich generell vorstellen, dass sich im Osten, wo längst vor den Römern und ohne sie städtische Kultur verbreitet war, die städtische Gesell‐ schaft weitaus weniger auf Rom ausrichtete als in den Städten des Westens, die überhaupt erst durch Rom entstanden bzw. zu Städten geworden waren. Aufstieg war auch aus dem Sklavenstand heraus möglich. Das erklärt sich unter anderem dadurch, dass neben Herkunft Vermögen eine entscheidende Rolle spielte. Vermögen konnte auch ein Freigelassener, in eingeschränkter Weise sogar ein Sklave erwerben, und nicht wenige aus diesem Gewerbe treibenden Stand waren geschäftstüchtig und konnten sich nicht nur frei‐ kaufen, sondern auch Wohlstand erwerben. Der ‚Millionär‘ Trimalchio aus dem in der Zeit Neros von Petronius verfassten „Satyricon“ ist nicht frei erfunden, sondern die satirische Überhöhung dieses realen Typs. Dass die große Masse der Sklaven im unfreien Zustand verblieb, steht für die hier behandelte Zeitspanne aber auch fest. Neben der sozialen Mobilität stand die geographische, teils mit ihr ursächlich verknüpft. Von ihrem Beruf her waren wohl die Soldaten, und mit ihnen eventuell vorhandene Angehörige, am mobilsten, allerdings nicht freiwillig: In der frühen Kaiserzeit weiterhin betriebene Expansion des Reiches und Reorganisationen der Provinzen führten zu Truppenverlegungen, die sich samt ihren Folgen für weitere Personen an Weih- und Grabinschriften römischer Soldaten und Veteranen ablesen und nachempfinden lassen. Als örtlich beweglich erwiesen sich auch Reisende zu Wasser und zu Land, mit Fahrzeugen, auf Reittieren, in

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Sänften und zu Fuß. Reisen konnten zu einem Heiligtum, aber auch zu einem Bade- und Kurort führen; und antiken schriftlichen Reiseführern zufolge wurden auch historisch, kunsthistorisch und auf nichtintellektuelle Vergnügen ausgerichtete Reisen unternommen. Geographische Mobilität führte vor allem dazu, dass sich an vielen Orten Menschen unterschiedli‐ cher Herkunft mischten und dass Kulte ihre Ursprungsregion verließen und an vielen Stellen des Römischen Reiches betrieben wurden; in einer auffällig einseitigen Bewegung verbreiteten sich östliche Kulte in den Westen. Allerdings dürften derartige Entwicklungen in der frühen Kaiserzeit außerhalb der Stadt Rom quantitativ noch unerheblich gewesen sein. In Rom jedoch trafen sich alle und alles, so dass die Stadt ethnisch und religiös so etwas wie die Summe der Provinzen verkörperte. Kultgemeinschaften konnten hier mit kollektivem öffentlichem Auftreten Aufsehen erregen. Die jüdische Gemeinde Roms geriet in das Visier der kaiserlichen Regierung, als in der Zeit des Claudius innerjüdische Auseinandersetzungen so heftig geführt wurden, dass sie oder ihre Folgen öffentlich sichtbar wurden. Durch Mobilität war auch der Handel gekennzeichnet: Massengüter waren zwar ohne politisch motivierten Eingriff in ihrer Handelsentfernung deutlich beschränkt; andere Güter scheinen jedoch in ihrer Verbreitung auch durch die Zölle zwischen den Zollsprengeln des Reiches nicht behindert worden zu sein. Über den Chancen der Provinzialen im Römischen Reich darf nicht vergessen werden, dass sie ihren römischen Bezwingern unterworfen wa‐ ren und ihnen Leib und Leben verdankten. Dafür hatten sie Leistungen (tributum) zu erbringen. Diese kamen – wie etwa Getreide aus Nordafrika und Ägypten – Rom und den Römern, dem Heer und den Beamten, über propagandistisch eingesetzte Umverteilung durch den Kaiser aber auch Not leidenden Provinzen und Städten etwa nach Naturkatastrophen zugute. Insgesamt freilich konnte ein Provinzialer spüren oder wissen, dass er mit seiner Arbeitskraft für Rom und das Reich und damit für die Herrschaft von Römern über andere, ja über sich selbst existierte und für diesen Zweck von Rom auch einkalkuliert war. Eintreibungen von Abgaben, aber auch die Herrschaft Roms an sich konnte zu Unzufriedenheit und Aufstand führen. Hier seien Aufstände in Nordafrika und Gallien in der Zeit des Tiberius genannt. Die von dem Cherusker Arminius initiierte und angeführte Wider‐ standsbewegung war aus römischer Sicht nichts anderes als Aufruhr, aus der Sicht des Arminius und seiner Mitstreiter jedoch legitimer Freiheitskampf; beides setzt indes eine von den Römern bereits ausgeübte Herrschaft voraus.

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Konnte man gegen römische Herrschaft an sich rebellieren, so konnte auch eine von Rom nicht gewollte Ausübung dieser Herrschaft, ihr Missbrauch durch Einzelne oder kleine Gruppen, Anlass zu Unruhe und Empörung geben. Schließlich konnten in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander le‐ bende ethnische oder weltanschauliche Gruppen so in Konflikt miteinander geraten, dass davon Ruhe und Ordnung beeinträchtigt waren. Derartiges geschah mit gut dokumentierten Höhepunkten in der Zeit Caligulas und Claudius’ immer wieder zwischen Griechen und Juden in Alexandreia an der Nilmündung. Im jüdischen Aufstand ab 66 mischten sich mehrere genannte Ursachen. Der Kaiserfrieden (pax Augusta, pax Romana), der von dem Dichter Vergil besungen und als Formel kaiserlicher Selbstdarstellung benutzt wurde, war gewiss ein Ideal, aber nicht ungetrübte Realität. Unruhen und Aufstände in Grenzgebieten hatten immer auch einen As‐ pekt, der über die Grenze hinauswies. Allerdings ist, wie bereits ausgeführt, ‚Grenze‘ in Anwendung auf Rom, zumal auf das der Zeit des Augustus und seiner ersten Nachfolger, ein problematisches Wort. Es verträgt sich nicht mit dem römischen und speziell augusteischen Weltreichsanspruch des „Reiches ohne Grenze“ (imperium sine fine). Solange Rom auf Expan‐ sion nicht ausdrücklich oder tatsächlich vollständig verzichtete, mochte es Grenzen des de facto beherrschten, insbesondere militärisch besetzten und gesicherten Gebietes geben, doch weichte bereits die Existenz von Kli‐ entelstaaten in peripherer Lage die Vorstellung einer eindeutig definierten Grenze auf. Siedlungs-, Handels- und Militärvorposten in Gebieten, die – noch – nicht Provinzen waren, taten ein Übriges. Schließlich ergaben sich in Gegenden, in denen wie in Nordafrika oder Syrien Steppe in Wüste überging, Grenzen in Form einer Linie nicht von allein, sondern erst durch eine willkürliche Ziehung. Mochte auch ‚Grenze‘ ein weicher Begriff sein, so gab es doch ein Außen, auf das Rom einen nur sehr eingeschränkten oder gar keinen Zugriff hatte: vor allem die Inseln jenseits des Ärmelkanals bzw. nach dem Beginn der Annexion Britanniens dort nicht erobertes Territorium wie Schottland und Irland und die ganze weitere Inselwelt nach Norden bis hin zur ultima Thule, weiter das freie Germanien, das sich für die Römer innerhalb weniger Jahrzehnte von einem klein erscheinenden und daher beherrschbaren Gebiet zu einer nicht kontrollierbaren Wildnis von unermesslicher Weite auswuchs, und im Osten ein großes Gebiet, das sich als einziges außerrömisches Territorium durch den Namen einer einzelnen Macht benennen ließ, das Partherreich.

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Das Reich der Parther war der einzige den Römern ebenbürtige Feind. Zwar erweckte Augustus in seinem Tatenbericht den Eindruck, das Parther‐ reich durch seine Verfügungsgewalt über Mitglieder des parthischen Kö‐ nigshauses, ja jenseits davon sogar die Inder im Griff zu haben, doch waren alle seine Nachfolger in der hier behandelten Zeit und über diese hinaus mit diesem Reich und dessen Herrschern befasst und dabei keineswegs immer in der Offensive. Neuralgische Grenzregionen waren das bereits genannte Armenien und Syrien. Letztere Region konnte auf mehrerlei Weise gefährdet sein: Südlich des Euphratknies bei der Stadt Zeugma beträgt die Entfernung zwischen der hier eindeutig festgelegten Grenze zum Partherreich und dem Mittelmeer in der Bucht von Issos nur rund 150 Kilometer, zwischen Syrien und Mesopotamien gab es ethnische Übergänge, die Nomaden der Syrischen Wüste konnten für beide Seiten optieren, und schließlich gab es Juden nicht nur in Judäa und überhaupt im Römischen Reich, sondern in namhafter Zahl auch in Babylonien, das zum Partherreich gehörte, und in der hellenistischen Stadt Seleukeia am Tigris und damit in unmittelbarer Nachbarschaft der parthischen Hauptstadt Ktesiphon. Grenzen des Römischen Reiches konn‐ ten für Rom und seine Herrscher schmerzhaft erfahrbar sein. Diejenigen, die diese Erfahrung jeweils zuerst machten, waren freilich die Bewohner einer von außen angegriffenen Grenzprovinz. Der im Gegenschlag zwar erfolgreiche, aber zur Verteidigung unmittelbar an oder gar vor der Grenze nicht fähige schwerfällige römische Militärapparat schützte sie immer erst im Nachhinein. 3 Die Regierung in Rom: Kaiser, Senat und ‚Ministerien‘

Seit Augustus stand an der Spitze Roms und des Reiches ein Mann. Er tat dies nicht nur für ein Jahr, sondern auf Dauer und, da Abdankung nicht vorgesehen war, bis zu seinem Tod. Princeps – so die damalige Bezeichnung für diesen Mann – wurde man durch das Ineinandergreifen bestimmter Voraussetzungen. Sie sind die Folge davon, dass die Hauptakteure der Bürgerkriege die Republik handlungsunfähig gemacht, ja zerstört hatten, dass aber bei Senatoren und im Bürgervolk noch so viel an republikanischer Mentalität vorhanden war, dass die – unverhüllte – Einrichtung einer Monarchie nicht opportun erschien. Dieser nicht eindeutigen Situation entsprechend waren die Voraussetzungen höchst unterschiedlich, ja gegen‐ sätzlich: Nirgendwo war festgehalten, dass man Mitglied einer bestimmten Familie sein musste, um Prinzeps werden zu können, doch de facto war es so:

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Augustus’ Nachfolger gehörten dessen julisch-claudischer Familie an, d. h. einem ihrer beiden teils auf Augustus selbst, teils auf seine Frau bzw. dann Witwe Livia zurückgehenden Zweige. Das wurde so sehr als Bedingung empfunden, dass Galba, der erste Kaiser, der auf Nero als den letzten Julio-Claudier folgte, die Römer als „Erbschaft einer Familie“ bezeichnet haben soll bzw. dass der etwas spätere Geschichtsschreiber Tacitus dies so ausdrücken konnte. Dennoch erbte der jeweils neue Prinzeps aus der julisch-claudischen Familie seine Position nicht, und einen festgelegten Erb‐ gang gab es schon gar nicht. Eines erbte der Nachfolger von seinem mit ihm natürlich oder durch Adoption verwandten Vorgänger indes doch: dessen Vermögen, jedenfalls dessen größten Teil. Als Sieger der Bürgerkriege war Augustus zum reichsten Mann in Rom geworden, und weitere Annexionen Roms hatten seinen Besitz noch vermehrt. Dementsprechend waren auch seine Nachfolger die reichsten Männer Roms; und sie vermehrten das kaiserliche Vermögen weiter, dies auch durch Konfiskation des Vermögens führender Männer, die zu Recht oder Unrecht wegen politischer Vergehen zum Tod verurteilt worden waren. Längst vor Augustus, in der römischen Republik und ganz besonders dann in der Zeit ihrer Zerstörung, hatten Roms Politiker, vor allem Mitglieder des Senats, ihr Vermögen für das eigene politische Vorankommen im Wettbewerb mit anderen eingesetzt. Nun aber intervenierte ein konkurrenzlos reicher Mann in konkurrenzloser Stellung mit Hilfe seines Vermögens dort, wo ihm dies sinnvoll und opportun erschien, aber auch dort, wo das Herkommen, etwa die Gewöhnung der Be‐ völkerung der Stadt Rom an Spiele unterschiedlicher Art, dies angeraten sein ließ, und schließlich dort, wo mit einer der ihm übertragenen Funktionen wie der Sorge um den ärmeren Teil des Bürgervolks (cura plebis) materielle Hilfe verbunden war. Das alles bedeutet, dass andere als der Prinzeps, vor allem außerhalb seiner Familie stehende Personen, zum einen mit dem Prinzeps an materieller Großzügigkeit nur bei einzelnen Gelegenheiten mithalten konnten, zum anderen mit ihm nicht in Konkurrenz an materieller Großzügigkeit treten durften. Entscheidende Akte, um Prinzeps zu werden, waren zunächst die Ernen‐ nung durch den Senat, d. h. die Ausstattung mit Rechten und Kompetenzen, wie sie insbesondere Augustus übertragen worden waren, und alsbald auch die Ausrufung durch jenen Verband des Heeres, der sich beim Prinzeps befand, die Prätorianer. Wer von beiden zuerst handelte, hatte den neuen princeps bzw. unter militärischem Aspekt den neuen imperator tatsächlich bestimmt. Der Senat verkörperte – nach antiker Ansicht – das aristokrati‐

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sche Moment in der römischen Republik, das sich bis zur Bürgerkriegszeit die Führung Roms gesichert und vorbehalten, davon jedoch nur noch Reste in den Prinzipat hinein gerettet hatte – wenn auch Senatoren der früheren Gestaltungskompetenz des Senats nachtrauern mochten. Die Prätorianer als römische Bürger unter Waffen konnten als Repräsentanten des römischen Bürgervolkes gelten, wurden aber von den Senatoren als Teil der bewaffne‐ ten Macht angesehen, die sich politische Entscheidungsgewalt angemaßt hatte. Denn das Bündel von Befugnissen republikanischer Ämter, das die Position des Augustus und seiner Nachfolger ausmachte, konnte, wenn man denn irgendwie in der Verfassungstradition der Republik bleiben wollte, die ihn und sie de iure nicht über die Inhaber der weiterhin existierenden republikanischen Ämter hinaushob, nur vom Senat – unter Zustimmung des Bürgervolkes – verliehen werden. Im weiteren Sinn gehörte dazu auch die Würde des Oberpriesters (pontifex maximus) des römischen Staatskultes, die die Aufsicht über alle in der Stadt Rom ausgeübten Kulte einschloss, also auch über das Treiben der sich in der Hauptstadt etablierenden Chris‐ ten. 27 v. Chr. und wiederholt in späteren Jahren hatte der Senat Amtsvoll‐ machten und Ehren auf Augustus übertragen. Dessen erster Nachfolger Tiberius erhielt seine Kompetenzen ebenfalls vom Senat; Tiberius bestand in einem sehr schleppend verlaufenden Verfahren auch darauf. Die Initiative zur Ernennung des neuen Prinzeps verschob sich jedoch alsbald vom Senat auf das Militär: Claudius wurde nach der Ermordung Caligulas in turbulenter Bürgerkriegssituation, in der auch die Wiedereinführung der Konsulatsverfassung ohne Prinzeps zumindest diskutiert wurde, zuerst von einzelnen Soldaten und sodann, nachdem das in Rom an vielen Stellen versammelte Volk nach einem Mann an der Spitze des Staates verlangt und dabei Claudius’ Namen genannt hatte, von den Prätorianern insgesamt in ihrem Lager zum neuen Kaiser ausgerufen. Dafür zahlte Claudius ihnen Geld. Ausrufung durch die Prätorianer und Geldzahlung dafür durch den zum Kaiser Ausgerufenen wurden nun üblich. Die Ermordung des Claudius im Auftrag seiner Frau Agrippina, um deren Sohn Nero an die Macht zu bringen, wurde so ins Werk gesetzt, dass die Bekanntgabe von Claudius’ Tod und die Ausrufung Neros als des neuen Kaisers durch die Prätorianer in eins fielen. Letztere war wieder mit einer Geldzahlung verbunden. Dennoch wurden, auch nachdem die Initiative an die Soldaten übergegangen war, die Befugnisse des neuen Kaisers – nach seiner Ausrufung durch das Militär – in einem Senatsbeschluss festgelegt. Dieser folgte entsprechend römischer

Der politische Raum des Paulus: das Römische Reich von Augustus bis Nero

Rechtsauffassung weitestgehend den Senatsbeschlüssen für frühere Kaiser als Präzedenzfällen. Die Bestimmung des neuen Kaisers wurde dadurch komplizierter, dass nicht nur der jeweilige Prinzeps, zuerst Augustus, Maßnahmen traf und durch den Senat treffen ließ, die ein Familienmitglied zum Nachfolger vor aller Augen aufbauten, sondern dass auch Frauen der julisch-claudischen Familie dies taten oder versuchten. Augustus’ Gattin Livia soll hierin die erste gewesen sein. Schließlich traten besondere Situationen im Übergang der Prinzipatsposition vom einen auf den anderen Inhaber ein; sie ergaben sich daraus, dass der Prinzeps seine Stellung bis zum Tod behielt, diese folglich erst durch sein Ableben verfügbar wurde. Wenn man mit dem derzeitigen Prinzeps, wie etwa mit Caligula, unzufrieden war bzw. wenn man ihn durch einen anderen ersetzen wollte, dann konnte eine Nachfolge‐ situation nur herbeigeführt werden, indem jemand den derzeitigen Prinzeps ums Leben brachte oder dieser sich selbst. Ersteres geschah in der hier behandelten nicht langen Zeitspanne zwei oder sogar drei Mal (37 Tiberius durch Caligula(?), 41 Caligula infolge einer Verschwörung, 54 Claudius durch seine Frau Agrippina), letzteres einmal (68 Nero nach Abfall der Prätorianer und nach Erklärung zum Staatsfeind durch den Senat). So betrachtet, erwies sich der Prinzipat, indem er durch die Bedingungen seiner Vergabe Kontinuität gerade nicht garantierte, keineswegs als stabile Institution; dennoch etablierte er sich mit jedem neuen Kaiser mehr im römischen Staatswesen, und der Versuch, nach Caligulas Ermordung auf ihn zu verzichten, blieb Episode. Der Prinzeps war Zentrum aller politischen und administrativen Ent‐ scheidungen. Einerseits regierte er zusammen mit dem Senat, andererseits mit seinem kleinen Ratgeberkreis (consilium principis), der keineswegs nur aus Senatoren bestand, und bald auch mit seinem Kabinett. Vieles ließ der Kaiser auf eigenen Vortrag oder auf Vortrag durch einen Beauftragten hin vom Senat beschließen. Darin lag der Keim dafür, dass der Senat zu einem Gremium des Abnickens absank. Versuche der Kaiser Tiberius und Claudius, das zu verhindern, waren zum Scheitern verurteilt. Nicht der Senat, nur der Kaiser verfügte über die zur Vorbereitung und Entscheidung reichspolitischer Angelegenheiten notwendigen Informationen. Nicht der Senat mit seinen jeweils einberaumten Sitzungen, nur der Kaiser war als Regierungsorgan ständig tätig und erreichbar. Der Kaiser hatte auch für Senatoren die meisten Ämter zu vergeben; also zeigte man sich ihm gegen‐ über willfährig. Tiberius war von solchem Verhalten tief betroffen; ändern

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hätte er es nur können, indem er auf seine Stellung verzichtet und dafür gesorgt hätte, die Einrichtung ‚Prinzipat‘ zu begraben. Gerade unter seiner Regierung vernichteten sich Senatoren gegenseitig durch Anschwärzen; beliebtes Mittel hierbei war der Vorwurf der Verletzung der kaiserlichen Majestät (crimen laesae maiestatis). Doch drückte vor allem der Ausbau der kaiserlichen Regierung den Senat, der von seiner republikanischen Vergangenheit her über keine wirkliche Exekutive verfügte, immer mehr an den Rand des politischen Geschehens. So hätte sich die Abschaffung des Senats angeboten; sie wurde indes zu keinem Zeitpunkt auch nur erwogen. Der Prinzeps bedurfte des Senats als politischer Bühne und der einzelnen Senatsmitglieder als Funktionäre in der Reichsverwaltung. Der einzelne Senator fuhr wiederum nicht schlecht mit dem Prinzeps, sofern er durch ihn ehrenvolle und einträgliche Verwaltungsposten erhielt und möglichst auch seine Söhne in eine vom Kaiser geförderte Karriere eintraten. Eine solche Karriere gipfelte nach wie vor im Konsulat. Dieser war allerdings nur noch eine Ehre ohne politische oder militärische Entscheidungsbefugnis; ihm folgte indes eine herausgehobene Verwaltungsstelle in Rom (z. B. Aufsicht über die Wasserversorgung) oder eine Statthalterschaft in einer wichtigen Provinz, eventuell mehrere derartige Positionen nacheinander. Das Fehlen einer staatlichen Exekutive in Rom war einer der Struktur‐ fehler der römischen Republik gewesen, sobald sie sich zu einem Reich mit Außenbesitzungen entwickelt hatte. Die für das Reich entscheidende Errungenschaft der beginnenden Kaiserzeit ist der Aufbau von Regierungsund Verwaltungseinrichtungen, die im weiteren Verlauf des römischen Kaiserreiches ausgebaut und vervollständigt werden sollten. Dazu wurden einerseits neue Institutionen neben alte gesetzt, die an Fülle der Aufgaben bald die alten und weiterhin existierenden übertrafen, wie in der Finanzver‐ waltung der neu geschaffene fiscus Caesaris das überkommene aerarium Saturni des Senats. Und kaiserliches Geld – mit dem Kaiser oder einem engen Familienmitglied des Kaisers auf zumindest einer Seite der Münzen – kam immer mehr in Umlauf und wurde bald zum Geld schlechthin. Andererseits wurden völlig neue Institutionen geschaffen. In den dazu getroffenen Maß‐ nahmen mischten sich administrative mit gesellschaftlichen Momenten der Veränderung: Hatten schon die Mächtigen der untergehenden Republik ihre persönlichen Administrationsbüros eingerichtet, in denen sie Leute ihres Vertrauen unabhängig von deren Rang in der römisch-republikanischen Gesellschaft einsetzten, so nahm dieser Vorgang ab Augustus offiziellen Charakter an. In mehreren Ämtern, gipfelnd in der Statthalterschaft Ägyp‐

Der politische Raum des Paulus: das Römische Reich von Augustus bis Nero

tens und im Kommando über die Prätorianer, setzte Augustus gerade nicht Senatoren, sondern Männer aus dem zweiten, in der Republik gerade nicht über politische Tätigkeit definierten Stand, dem der Ritter, ein, ja er machte diese bis dahin diffuse Gruppe römischer Bürger erst wirklich zu einem Stand (ordo equester). Anders als bei den Senatoren mit dem Senat stand hin‐ ter diesen Männern keine Gruppenvertretung; sie traten dem Kaiser einzeln gegenüber und waren schon von daher leichter verfügbar. Es verwundert nicht, dass alle Kaiser nach Augustus Ritter ausgiebig einsetzten. Dabei war der Aufstieg in den Senatorenstand durchaus eine erstrebte Belohnung eines Ritters – und für den Kaiser ein Mittel der erhofften allmählichen gesellschaftlichen und mentalen Umformung des Senates. Freilich waren nicht nur die Senatoren, sondern auch die Ritter einem Konkurrenzdruck von unten ausgesetzt: In den entstehenden kaiserlichen Büros, die in ihrer Summe das kaiserliche Kabinett bildeten, wurden viele ehemalige Sklaven, Freigelassene (liberti), eingesetzt. Sie kamen in diese Stellungen durch das persönliche Vertrauen, das sie sich durch Dienste in der engsten Umgebung des jeweiligen Kaisers erworben hatten. Ohne jeglichen Rückhalt in der Gesellschaft waren sie so sehr von ihrem Kaiser abhängig, dass sie bei einem Wechsel im Prinzipat Gefahr liefen, ihre Stelle zu verlieren oder gar mit fatalem Ausgang für sie selbst für irgendwelche Dinge zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die kaiserlichen Freigelassenen waren keineswegs auf untere Büropositionen beschränkt. Als sich unter Claudius ‚Ministerien‘ herausformten, stiegen Freigelassene zu deren Leitern und damit zu ‚Ministern‘ auf. Das waren der für den fiscus Caesaris zuständige a rationibus, der für Eingaben aus der Bevölkerung zuständige a libellis und der für die Regierungskorrespondenz mit allen römischen Amtsinhabern im gesamten Reich, insbesondere mit den Statthaltern, zuständige ab epis‐ tulis. Letztere Funktion wurde bald auf zwei ‚Minister‘ aufgeteilt, den ab epistulis Latinis und den ab epistulis Graecis. Diese verglichen mit heutigen Regierungskabinetten sonderbaren Zuständigkeiten weisen auf Eigenheiten des Römischen Reiches und seiner Regierung und Verwaltung hin: Mit dem Amt für die griechische Korrespondenz fand sich der östliche, zumindest in der frühen Kaiserzeit deutlich bevölkerungsreichere Teil des Reiches in Rom repräsentiert. Rom erkannte neben Latein Griechisch als zweite offizielle Sprache an. Indem das Reich über die Ämter für Eingaben und für Korrespondenz regiert und verwaltet wurde, geschah dies nicht über Sachgebiete, die von einzelnen Ressorts vertreten wurden, sondern je nach eingegangener Meldung oder Eingabe. Der Kaiser reagierte mit schriftlichen

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Antworten auf den konkreten Fall. Römisches Rechtsverständnis mit seiner Entwicklung des Allgemeinen aus dem Konkreten und Einzelnen ließ diesen Antworten jedoch allgemeine Aussagekraft zukommen, und so waren die kaiserlichen Einzelfallentscheidungen zugleich allgemeine Vorschriften, Gesetze. Das Regieren mit Hilfe von Eingaben aus dem Volk bedarf eigener Erklärung. Es steht, wie auf Papyrus erhaltene Eingaben an ptolemäische Könige zeigen, in hellenistischer und damit östlicher Tradition, nämlich den König, wenn er gegenwärtig ist, direkt anzugehen und zu bitten. Der König, als „Wohltäter“, vielleicht gar als „Retter“ angesprochen, muss reagieren. Die Unmöglichkeit, den König, wenn er denn gebraucht wurde, stets auch in Person anzutreffen, führte zur schriftlichen Abfassung und Einreichung von Eingaben durch die Bittsteller bei ihrer lokalen Verwaltungsbehörde. Durch diese wurde der Vorgang nach oben weitergereicht, und bei ihr traf er nach Erledigung im Ptolemäerreich als königliche bzw. in Rom als kaiserliche Entscheidung wieder ein. So wurde der Vorgang des Bittstellens bürokratisiert; beim römischen Kaiser führte das zur Bildung eines eigenen ‚Ministeriums‘. Die Arbeit gerade des a libellis konnte zu Entscheidungen führen, in denen der Kaiser in hellenistischer Tradition Herrscherqualitäten demonstrierte. Bitten mündlich zu äußern war indes auch im Römischen Reich möglich: Zwar nicht der einzelne Reichsbewohner, aber Gemein‐ schaften wie Städte oder Stämme konnten unter Einwilligung des für sie zuständigen Statthalters Gesandtschaften nach Rom schicken, die dort das gemeinsame Anliegen vortrugen. Der Senat bot sich dabei und bei der kai‐ serlichen Reaktion als Bühne für den Erweis kaiserlicher Wohltat an, und so wurden Vorgänge dieser Art gern in Zusammenarbeit zwischen kaiserlicher Regierung und Senat in Sitzungen des letzteren nicht ohne Elemente einer Schau betrieben und abgeschlossen – auch wenn die Entscheidung zuvor im kaiserlichen Ratgeberkreis oder Kabinett bereits getroffen worden war. Eine weitere Möglichkeit, sich an den Kaiser zu wenden, existierte nur für römische Bürger: Das Recht, von einem Gericht gefällte Todesurteile zu bestätigen oder aufzuheben, war vom römischen Bürgervolk auf den Kaiser übergegangen. Als zum Tode verurteilter römischer Bürger konnte man an den Kaiser appellieren. Das tat nach der Apostelgeschichte auch Paulus. Allerdings bezweifeln einige Forscher sein römisches Bürgerrecht und in Konsequenz daraus auch seine Appellation als historische Fakten. Die Institutionalisierung des kaiserlichen Regierens und Verwaltens mit Beratungsgremium und Kabinett mag die Frage aufwerfen, was die ersten

Der politische Raum des Paulus: das Römische Reich von Augustus bis Nero

Kaiser selbst zur Leitung des römischen Staates beigetragen haben. Der herrscherliche Wille und Einsatz des Augustus steht außer Frage. Tiberius verfügte, als er in vorgerücktem Alter Kaiser wurde, über außerordentlich viel Erfahrung; allerdings verbrachte er etliche Jahre seiner Regierungszeit außerhalb Roms, in denen er das politische und administrative Tagesge‐ schäft nicht betreiben wollte und konnte. Über einen gewollten Sinn von Caligulas Bizarrerien als Provokationen mag man diskutieren; als einen zuverlässigen Lenker des römischen Reiches kann man ihn jedenfalls nicht bezeichnen. Die antike Geschichtsschreibung und Biographie hat Claudius unter das Verdikt des Trottels und des von Frauen und Freigelassenen Abhängigen gestellt, doch gibt es Äußerungen von ihm, die ihn als seiner Verantwortung bewussten und über Probleme vernünftig nachdenkenden Herrscher kennzeichnen. Nero war bei seinem Regierungsantritt jung und bei aller vorherigen Heranziehung zu öffentlich wirksamen Auftritten vor dem Senat nicht im Regieren erfahren. Er bedurfte der Anleitung durch kompetente Männer, entledigte sich dieser aber teilweise selbst durch deren Ermordung (bes. Seneca); im Übrigen befasste er sich in einer als skandalös empfundenen intensiven Weise mit Dichtung und Musik und verfolgte wahnwitzig große Baupläne in Rom, zu deren Realisierung er offensichtlich sogar die Stadt anzünden ließ (64). Trotz eingeschränkter kaiserlicher Eignung zur Regierung brachen der Staat und seine Verwaltung weder unter Tiberius’ Abwesenheit, noch unter Unfähigkeit und Absonderlichkeit weiterer Kaiser zusammen. Die kaiserliche Regierung in den ‚Ministerien‘ und die Funktionäre auf ihren einzelnen Posten in Rom und im Reich müssen wie auch immer sehr schnell zu einer Verwaltungsmaschinerie zusammengeschweißt worden sein, die von allein lief, auch unter einem ‚schlechten‘ Kaiser. Und dennoch gab es den Kaiser, und man war überzeugt, ihn zu benötigen. Für den an Monarchie in ihrer hellenistischen Form gewohnten Osten war er ohnehin nicht nur als menschlicher Herrscher, sondern auch als Gott eine Selbstverständlichkeit, die sich bereits unter Augustus im provinziellen und städtischen Kaiserkult manifestierte. Die hierin enthaltene Brisanz für das sich herausbildende Christentum ist bekannt.

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4 Literatur 4.1 Werke antiker Autoren

Augustus: Res Gestae Divi Augusti. Meine Taten. Nach dem Monumentum Ancyra‐ num, Apolloniense und Antiochenum. Lateinisch – Griechisch – Deutsch. Übers. und hrsg. von E. Weber, Berlin u. a. 72015. Cassius Dio (Lucius Claudius Cassius Dio Cocceianus): Dio’s Roman History. With an English translation by E. Cary. In nine volumes, London/Cambridge Mass. 1914–1927 (spätere Nachdrucke). Flavius Josephus (Iosephus Flavius): Josephus. With an English translation by H.St.J. Thackeray/R. Marcus/L.H. Feldman. In nine volumes (I The Life. Against Apion, II–III The Jewish War, III–IX Jewish Antiquities), London/Cambridge Mass. 1926– 1965 (spätere Nachdrucke). Sueton (Gaius Suetonius Tranquillus): Sueton, Die Kaiserviten. De vita Caesarum. Berühmte Männer. De viris illustribus. Lateinisch Deutsch. Hrsg. und übers. von H. Martinet, Berlin u. a. 42014. Tacitus (Publius Cornelius Tacitus): Tacitus, Annalen. Lateinisch-deutsch. Hrsg. von E. Heller. Mit einer Einführung von M. Fuhrmann, Berlin u. a. 62014. Tacitus (Publius Cornelius Tacitus): Tacitus, Historiae. Lateinisch-deutsch. Hrsg. von J. Borst unter Mitarb. von H. Hross und H. Borst, Berlin u. a. 72014. 4.2 Sammlungen von Quellen, insbesondere von Dokumenten

K. Bringmann/Th. Schäfer, Augustus und die Begründung des römischen Kaiser‐ tums, Berlin 2002 (ca. 1/3 Darstellung und 2/3 Quellen in deutscher Übersetzung). V. Ehrenberg/A. H. M. Jones, Documents Illustrating the Reigns of Augustus & Tiberius, Oxford 21955. B. Levick, The Government of the Roman Empire. A Sourcebook, London/Sydney 2 2000. E.M. Smallwood, Documents Illustrating the Reigns of Gaius, Claudius and Nero, Cambridge 1967. 4.3 Monographien

F.M. Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches. Von der Herrschaft des Augustus bis zum Niedergang des Weströmischen Reiches, Darmstadt 1998. H. Bellen, Grundzüge der Römischen Geschichte. Band I. Von der Königszeit bis zum Übergang der Republik in den Prinzipat, Darmstadt 32016. Band II. Die Kaiserzeit von Augustus bis Diocletian, Darmstadt 22011.

Der politische Raum des Paulus: das Römische Reich von Augustus bis Nero

A.K. Bowman/E. Champlin/A. Lintott, The Augustan Empire, 43 B.C.–A.D. 69 (The Cambridge Ancient History, Second Edition, Volume X), Cambridge 1996 (Online-Ausg. 22008). J. Carcopino, Rom. Leben und Kultur in der Kaiserzeit. Mit einem Vorwort von R. Bloch neu herausgegeben von E. Pack, Stuttgart 41992. K. Christ, Geschichte der römischen Kaiserzeit. Von Augustus bis zu Konstantin, München 62009. R. Étienne, Pompeji. Das Leben in einer antiken Stadt. Aus dem Französischen übersetzt von I. Raute-Welsch, Stuttgart 51998. A. Heuss, Römische Geschichte. 6. Auflage, herausgegeben, eingeleitet und mit einem neuen Forschungsteil versehen von J. Bleicken, W. Dahlheim und H.-J. Gehrke, Paderborn u. a. 1998. D. Kienast, Augustus. Prinzeps und Monarch, Darmstadt 52014. D. Potter, A Companion to the Roman Empire, Oxford 2008. Rom und das Reich in der hohen Kaiserzeit 44 v. Chr.–260 n. Chr. Band 1. F. Jacques/J. Scheid, Die Struktur des Reiches, übersetzt von P. Riedlberger, Stuttgart/Leipzig 1998. Band 2. C. Lepelley, Die Regionen des Reiches, übersetzt von P. Riedlberger, Stuttgart 2001. F. Vittinghoff (Hrsg.), Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der römi‐ schen Kaiserzeit (Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 1), Stuttgart 1990. A. Winterling, Aula Caesaris. Studien zur Institutionalisierung des römischen Kaiserhofes in der Zeit von Augustus bis Commodus (31 v. Chr.–192 n. Chr.), Berlin 1998. Anhang: Römische Kaiser von Augustus bis Nero

(für weitere Daten vgl. D. Kienast, Römische Kaisertabelle. Grundzüge einer römischen Kaiserchronologie. Hrsg. von W. Eck/M. Heil, Darmstadt 62017) Augustus (*63 v. Chr.): 44 Eintritt in die Politik, 43 zum ersten Mal Konsul, Prinzeps 27 v.–14 n. Chr. Tiberius (*42 v. Chr.): Mitherrscher mit Augustus 4 n. Chr., Prinzeps 14–37 Caligula (*12 n. Chr.): 37–41 Claudius (*10 v. Chr.): 41–54 Nero (*37 n. Chr.): 54–68

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Das Judentum des Paulus

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Hermeneutische Vorbemerkung

Für das Verständnis des Paulus ist die Bestimmung seines Verhältnisses zum Judentum seiner Zeit bzw. zur jüdischen Lebenspraxis wesentlich. Der Diskurs bewegt sich in verschiedenen Kontexten: * Religionsgeschichtlich wurde lange eine Alternative zwischen jüdischen und pagan-hellenistischen Zügen gesehen, die aber in der neueren For‐ schung zunehmend als unangemessen erkannt wurde. Vieles, das früher als ‚unjüdisch‘ galt, lässt sich inzwischen im Rahmen eines pluralen Judentums einordnen. * Theologisch wurde Paulus durch die Jahrhunderte als christlicher Theo‐ loge und zur Begründung bestimmter theologischer Positionen (v. a. der Reformation) wahrgenommen. Die paulinische Kritik am jüdischen ‚Gesetz‘ wurde in der reformatorischen Kritik an der römischen Kirche aufgenom‐ men und zur Begründung protestantischer Identität instrumentalisiert, was umgekehrt der ‚Gesetzeskritik‘ und dem Bild von Pharisäern und ‚Juden‘ eine polemisch-emotionale Verstärkung verlieh.1 Historisch und theologisch ist es hingegen geboten, Paulus in seiner Zeit zu verstehen und anachronis‐ tische Kategorien zu meiden. * Ethisch führt die Wahrnehmung und Aufarbeitung christlicher Juden‐ feindschaft in die Verantwortung, in Exegese und Theologie antijüdische Klischees und Denkformen zu erkennen und zu vermeiden.2 Wie dies 1 2

Dazu s. J. Frey, Hat Luther Paulus missverstanden?, in: P. Opitz (Hg.), 500 Jahre Reformation. Rückblicke und Ausblicke, Berlin – Boston 2018, 49-78 (64-71); ausführlich V. Stolle, Luther und Paulus (ABG 10), Leipzig 2002. Was unter Antijudaismus zu verstehen ist, und wann ein solcher vorliegt, ist strittig. Unterschieden wird häufig terminologisch zwischen dem (modernen, rassisch begrün‐ deten) Antisemitismus und dem schon in der Antike belegten (P. Schäfer, Judenhass

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angemessen geschehen kann, ist strittig. Im exegetischen Diskurs stehen heute theologische und historische, diverse christliche und auch jüdische Geltungsansprüche gegeneinander. Problematisch ist es jedoch auch, wenn Apologetik oder moralische Imperative ihrerseits die textliche und histori‐ sche Wahrnehmung bestimmen. Die Diskussion bedarf daher der hermeneutischen Reflexion, im Blick auf die eigene Positionalität wie auch auf die jeweils berührte Sinnebene. Historisch-kritische Auslegung ermöglicht es, Textaussagen historisch zu relativieren und zwischen problematischen Textaussagen und dem sachlich Wesentlichen und Gültigen zu differenzieren. 1 Das Judentum des Paulus nach seinen Selbstzeugnissen und der Apostelgeschichte

Paulus war Jude, zeit seines Lebens, auch als Apostel Jesu Christi. Nichts erlaubt die Annahme, dass er irgendwann seine durch Geburt begründete Zugehörigkeit zum erwählten Gottesvolk „Israel“ (Röm 11,1), zu den „Ju‐ den“ (Gal 2,15: Ἰουδαῖοι), und die Verbindung mit seinen „Brüdern“ und „Stammverwandten“ (Röm 9,3) infrage gestellt hätte. Mochten andere seine Toratreue in Zweifel ziehen (vgl. Röm 3,31; Apg 21,21.28), so hat er sich doch selbst keineswegs als Gesetzesbrecher oder gar als ‚Apostaten‘ gesehen. Das verbreitete, durch die lukanische Darstellung seiner Lebenswende (Apg 9) inspirierte Bild der ‚Bekehrung‘ des Juden Saulus zum Christen Paulus ist daher sachlich unzutreffend. Es widerspricht nicht nur den paulinischen Selbstaussagen, sondern auch dem lukanischen Paulusbild (Apg 26,6ff.). Das Judentum des Šā’ûl/Παῦλος ist deshalb auch alles andere als eine „dunkle Folie“3, von der sich sein christliches Selbstverständnis leuchtend abheben

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und Judenfurcht, Berlin 2010), dann in christlichen Texten mit neuen Argumenten verstärkten) Antijudaismus. Im Rahmen des NT ist zu diskutieren, ob bzw. wo ein solcher vorliegt (s. B. Schaller, Antisemitismus/Antijudaismus III Neues Testament (Urund Frühchristentum), RGG4 I, 558 f.): Ist die Kritik an einer (bestimmten) jüdischen Torapraxis eine noch innerjüdische Abgrenzung oder eine ‚von außen‘ formulierte De‐ legitimierung? Aussagen wie z. B., dass Christus ‚Erfüllung‘ oder ‚Ende‘ des ‚Gesetzes‘ ist (Röm 10,4), dass der ‚neue Bund‘ dem ‚alten‘ soteriologisch überlegen ist (2 Kor 3-4) oder dass „die Juden“ Jesus getötet hätten und „allen Menschen feind“ seien (1 Thess 2,14f.) sind in diesem Horizont zu reflektieren, historisch zu erklären und ggf. theologisch zu kritisieren So J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker (UTB 2014), Tübingen 31998, 34. G. Strecker, Theologie des Neuen Testaments (hg. v. F.W. Horn), Berlin/New York 1995, 24, will gar

Das Judentum des Paulus

könnte. Wenn das Judesein des Paulus sein ‚Bildungsprofil‘ grundlegend be‐ stimmt, wenn die Tora – von früher Jugend an eingeübt – seine Lebenspraxis vor seiner Lebenswende bestimmt hat, dann ist seine jüdische Existenz der Grund, auf den auch das Denken des Apostels bleibend bezogen ist. Deshalb ist „die Kenntnis des Juden Saulus“ unabdingbare „Voraussetzung zum Verständnis des Christen Paulus“4 und seiner Theologie. Damit stellen sich eine Reihe komplexer Fragen: Wie ist die jüdische Identität des ‚vorchristlichen‘ Paulus (im Rahmen der Strömungen des zeitgenössischen Judentums) zu bestimmen? Welche Anliegen und Themen prägten ihn? – Wie ist seine Stellung im zeitgenössischen Judentum zu bestimmen? – Wie lassen sich in diesem Rahmen seine Aussagen zu Beschneidung und Gesetz, zum Geschick Israels und – im Zentrum seines Denkens – seine Christologie verstehen? –

Grundlage für das paulinische Selbstverständnis sind die Texte, in de‐ nen Paulus über sein Judesein spricht (besonders Gal 1,13f.; Phil 3,5f.; 2 Kor 11,22f.; Röm 11,1; weiter Gal 2,15; Röm 9,1–5), sowie die lukanischen Angaben (Apg 22,3; 23,6; 26,4f.), die in ein historisches Gesamtverständnis kritisch einzubeziehen sind5.

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Gal 1,13ff. und Phil 3,7 entnehmen, dass Paulus „nach eigenem Verständnis sich fun‐ damental vom Judentum geschieden wußte“. Das Kontrastschema in den paulinischen Selbstzeugnissen hat hier zu fatalen Fehleinschätzungen verleitet und implizit einem christlichen Antijudaismus Vorschub geleistet. M. Hengel/R. Deines, Der vorchristliche Paulus, 69. – Zu den Namen des Paulus s. den Beitrag zum Leben des Paulus von E. Ebel im vorliegenden Band. Zur Methode: Seit der ‚Tübinger Schule‘ des 19. Jh.s (F.Chr. Baur) und ihrer ‚Tendenz‐ kritik‘ ist strittig, wie die lukanischen Angaben neben den authentisch paulinischen historisch auszuwerten sind. Im Anschluss an Baur wollten viele Interpreten (z. B. aus der Bultmann-Schule) nur die paulinischen Selbstzeugnisse als Quellen, die Apg hingegen als ‚Sekundärliteratur‘ werten. Doch so sehr das lukanische Paulusbild in seiner ‚Tendenz‘ zu erkennen ist, sind auch die Briefe des Paulus (etwa seine autobiographische Darstellung in Gal 1–2) keineswegs ‚tendenzfrei‘. Eine ‚reine‘ Quelle gibt es nicht. Es kann daher nur darum gehen, alle möglichen Quellen (auch die Apg!) kritisch, d. h. unter Beachtung ihres historischen Ortes, ihrer literarischen Form und ihrer Intention in eine historische Rekonstruktion einzubeziehen. Wo Paulus und Lukas differieren, gebührt i. d. R. Paulus die Priorität, aber nicht alles, was in den Paulusbriefen nicht belegbar ist, muss als lukanische Fiktion gelten.

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1.1 Die Zeugnisse über seine Herkunft

Beginnen wir mit dem am weitesten ausgreifenden Text, dem Anfang der Verteidigungsrede, die Lukas in Apg 22,3 dem Apostel bei seiner Verhaftung in Jerusalem in den Mund legt und die Paulus auf Aramäisch (Apg 21,40: τῇ Ἑβραΐδι διαλέκτῳ) gehalten haben soll. „Ich bin ein jüdischer Mann, geboren in Tarsus in Kilikien, aufgewachsen aber in dieser Stadt, zu Füßen Gamaliels erzogen nach der genauen Vorschrift (ἀκρίβεια) des väterlichen Gesetzes, ein Eiferer für Gott (ζηλωτὴς … τοῦ θεοῦ, wie ihr es heute alle seid.“

In Apg 23,6 präzisiert der lukanische Paulus in der Szene vor dem jüdischen Synhedrium: „Ich bin ein Pharisäer, Sohn von Pharisäern. Wegen der Hoffnung und der Auferstehung der Toten stehe ich vor Gericht.“

In seiner letzten Verteidigungsrede Apg 26,4f. lässt Lukas Paulus ergänzend sagen: „Meine Lebensführung von Jugend an, die von Anfang an in meinem Volk und in Jerusalem geschah, ist allen Juden bekannt, da sie mich von früher kennen. … Denn nach der strengsten Richtung (αἵρεσις) unserer Religion habe ich als Pharisäer gelebt.“

Diese Texte bieten eine Reihe von Hinweisen auf die religiöse Herkunft des Paulus, die durch dessen Selbstzeugnisse (s. 1.2) bestätigt werden: Paulus erscheint als Jude, genauer als Angehöriger der Partei der Pharisäer, deren Toraobservanz als besonders streng gilt, und als Eiferer für die Satzungen der Väter. Nach lukanischem Verständnis ist Paulus als frommer Jude eng mit der Heiligen Stadt verbunden. Er wird dort angeklagt, „weil er immer noch ein Pharisäer und rechtgläubiger Jude ist“6. Daher ist der Vorwurf der eifernden Jerusalemer, er sei ein Gesetzesbrecher und Volksverführer (Apg 21,27f.; 24,5f.), für Lukas gegenstandslos. Weitere Angaben bietet allein Lukas: Nur von ihm erfahren wir, dass Paulus aus Tarsus in Kilikien stammt (Apg 9,11; 21,39; 22,3; vgl. 9,30; 11,25). Paulus selbst erwähnt nur einmal seine längere Wirksamkeit in der Doppelprovinz Syrien-Kilikien (Gal 1,21), ohne Tarsus zu nennen. Über seine Geburt und Erziehung dort schreibt er nichts. Allein Lukas erwähnt 6

So J. Jervell, Die Apostelgeschichte (KEK 3), Göttingen 1998, 591.

Das Judentum des Paulus

den jüdischen Namen Šā’ûl, den alten benjaminitischen Königsnamen (Apg 9,4.11.17; 22,7.13; 26,14), während Paulus selbst stets die Namensform (vermutlich das cognomen) Παῦλος verwendet. Auch über sein Studium der Tora in Jerusalem, die Ausbildung zum pharisäischen Schriftgelehrten im Lehrhaus von R. Gamaliel I., dem seinerzeit führenden pharisäischen Lehrer (vgl. Apg 5,34), erfahren wir nur aus der Apg. Doch darf man nicht alles, was Paulus in seinen erhaltenen Briefen nicht erwähnt, als lukanische Erfindung werten. In seinen Schreiben hatte Paulus kaum Anlass, diese Sachverhalte zu erwähnen. Implizit werden jedoch alle drei durch das paulinische Selbstzeugnis gestützt7. Problematischer ist es, wenn Paulus nach Lukas „von Jugend an“ in Jerusalem aufgewachsen sein soll, so dass „alle Juden“ seinen Werdegang kennen (Apg 26,4)8, während Paulus selbst in Gal 1,22f. betont, dass er den judenchristlichen Gemeinden in Judäa persönlich unbekannt war. Strittig ist deshalb, wann Paulus in Jerusalem war und wo er seine prägende jüdische (und griechische) Bildung erworben hat: in Tarsus oder in Jerusalem. Während einzelne Interpreten mit Apg 22,3 und 26,4 bereits die Kindheit des Paulus in Jerusalem lokalisieren9, bestreiten andere unter Verweis auf Gal 1,22f. überhaupt einen Aufenthalt in Jerusalem vor seiner Lebenswende10. Doch geht es in Gal 1 nur um die Frage, ob die judäischen Gemeinden Paulus als Verkündiger gekannt oder sein Evangelium autorisiert haben. Demgegenüber stellt Paulus fest, dass ihnen nur das Gerücht über die Wende 7

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Die Herkunft aus Tarsus wurde auch von radikalen Kritikern des lukanischen Werks selten bestritten – ganz im Gegensatz zum Aufenthalt in Jerusalem und dem Studium bei Gamaliel. Dahinter steht methodisch, dass die Tarsusnotiz der Tendenz der lukanischen Darstellung entgegenläuft, während die Gamalielnotiz ihr entspricht. Zugleich zeigt sich in der unterschiedlichen Bewertung der beiden Notizen in der Forschung eine exegetische Tradition, die Paulus im schroffen Gegensatz zum Judentum oder auch zum ‚Judenchristentum‘ sehen wollte. Das ist sicher eine rhetorische Übertreibung; vgl. C.K. Barrett, Acts II (ICC), Edinburgh 1998, 1151. W.C. van Unnik, Tarsus or Jerusalem, in: ders., Sparsa Collecta I (NT.S 29), Leiden 1973, 259–320 vermutet, dass die Eltern mit dem noch kleinen Paulus nach Jerusalem zurückzogen; vgl. auch P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 1992, 229; Jervell, Apostelgeschichte (Anm. 6), 542. Nach einer bei Hieronymus bezeugten Tradition (vir. ill 5 [PL 23, 646]; in Philem 23 [PL 26, 633 f.]) ist Paulus sogar Palästiner, geboren in Gischala in Galiläa. R. Bultmann, Art. Paulus, RGG2 4 (1930), 1019–1045 (1020 f.); E. Haenchen, Die Apostel‐ geschichte (KEK 3), Göttingen 151977, 596 f.; G. Strecker, Der vorchristliche Paulus, in: T. Fornberg/D. Hellholm (Ed.), Texts and Contexts, FS L. Hartman, Oslo 1995, 713–741 (729 f.); E.P. Sanders, Paulus. Eine Einführung, Stuttgart 1995, 14.

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des Verfolgers bekannt war. Gal 1,23 legt eher nahe, dass Paulus gerade in Judäa (und nicht anderswo) als Verfolger aufgetreten war11. Die enge Beziehung zu Jerusalem, die Paulus in Gal 1 im Interesse, seine Unabhängigkeit von den Jerusalemern zu behaupten, eher zurückdrängt, zeigt sich deutlicher in Röm 15,19b, wo Paulus seine Mission geographisch als Kreisbewegung „von Jerusalem ausgehend bis Illyrien“ beschreibt. Auch die Kollekte „für die Armen unter den Heiligen“ in der Jerusalemer Gemeinde (Röm 15,26) und die trotz Lebensgefahr unternommene Reise dorthin (Röm 15,25) belegen seine bleibende Bindung an die Heilige Stadt. Diese spielt in seinen Briefen eine weit größere Rolle als Damaskus oder Antiochien, geschweige denn Tarsus12. Ein Studium pharisäischer Schrift‐ gelehrsamkeit konnte kaum anderswo als in Jerusalem erfolgen13. Nicht sicher zu entscheiden ist, wann Paulus nach Jerusalem kam und ob seine jüdische Grundausbildung bereits dort oder noch in Tarsus erfolgte. Obwohl es auch in Jerusalem griechische Bildungsmöglichkeiten gab14, sprechen doch die gute Sprachbeherrschung und der souveräne Umgang mit der griechischen Bibel dafür, dass er in der Diaspora aufgewachsen ist. Er wäre dann als Heranwachsender zur weiteren Ausbildung nach Jerusalem gekommen, wo zumindest später (Apg 23,16ff.) auch eine Schwester von ihm lebte. 1.2 Die religiöse Dimension seiner Herkunft

Inwiefern werden diese Angaben durch die paulinischen Selbstzeugnisse gestützt? Texte aus seiner vorchristlichen Lebensphase besitzen wir nicht, und der Apostel äußert sich nur selten und dann z.T. stark kontrastierend zu seiner früheren Lebensphase. Dieses Kontrastschema ist in Gal 1,13f. und Phil 3,3ff. durch konkrete Konflikte veranlasst. Es ist daher geboten, das paulinische Selbstverständnis zunächst aus Texten zu erheben, die weniger 11 12 13 14

Eine Beteiligung bei der Verfolgung der Jerusalemer ‚Hellenisten‘ (Apg 8,1) ist wahr‐ scheinlicher als eine Verfolgertätigkeit in Damaskus oder Tarsus; vgl. Hengel/Deines, Der vorchristliche Paulus, 167–176. Vgl. Hengel/Deines, Der vorchristliche Paulus, 110f. Vgl. dazu Hengel/Deines, Der vorchristliche Paulus, 131 f. Zum Problem des ‚Diaspora‐ pharisäismus‘ s. 2.2.4. Vgl. M. Hengel/Chr. Markschies, Das Problem der ‚Hellenisierung‘ Judäas im 1. Jahrhun‐ dert nach Christus, in: M. Hengel, Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I (WUNT 90), Tübingen 1996, 1–90 (34–51); ders., Jerusalem als jüdische und hellenistische Stadt, in: ders., Judaica, Hellenistica et Christiana. Kleine Schriften II (WUNT 109), Tübingen 1999, 115–156 (140 ff.).

Das Judentum des Paulus

antithetisch formuliert sind. So formuliert Paulus in der sog. ‚Narrenrede‘, einem für ihn selbst im Grunde törichten ‚Wettstreit‘ mit anderen juden‐ christlichen Missionaren (2 Kor 11,22): „Sie sind Israeliten – ich auch! Sie sind Abrahams Kinder – ich auch!“

Noch deutlicher – und völlig unpolemisch – bringt der Apostel seine Zugehörigkeit zu Israel in Röm 9–11 im Zusammenhang der Aussagen zur bleibenden Erwählung Israels zur Sprache: „Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Keinesfalls! Denn auch ich bin ein Israelit, aus dem Geschlecht Abrahams, dem Stamm Benjamin …“ (Röm 11,1).

In dieser Argumentation mit dem ‚Rest‘-Gedanken (Röm 11,2ff.; vgl. 1 Kön 19,18)15 verbürgt die Erwählung einiger aus Israel (für die Paulus selbst ein Exempel ist) die bleibende Erwählung ganz Israels 16. Hier bekennt sich Paulus uneingeschränkt positiv dazu, dass er Israelit, Nachkomme Abrahams und – was Lukas übergeht – aus dem alten Königsstamm Benjamin ist17. Ähnlich positiv spricht er in Röm 9,3–5 von den „Israeliten“ als seinen „Brüdern“18, seinen „Stammverwandten nach dem Fleisch“, denen gemäß biblischer Tradition eine Reihe von Heilsgütern gehört: die Gotteskindschaft (vgl. Ex 4,22; Hos 11,1; Jes 43,6 u. ö.), die Zuwendung der Herrlichkeit Gottes (vgl. Ex 14,4; 15,7; 16,7.10; 24,16; 40,34f. u. ö.), die Bundesstiftungen, die Gesetzesgabe, der (hier als Heilsgabe positiv verstandene) Tempelkult, die Verheißungen sowie – hervorgehoben – die Väter (vgl. Röm 4; 9,6–13) und die leibliche Abstammung des Messias (vgl. Röm 1,3; auch Lk 2,29–32; Joh 4,22). Diese Heilsgüter gehören ganz Israel, und zwar nach Röm 11,29 bleibend und unwiderruflich. Dies ist für Paulus auch angesichts der gegen‐ wärtigen Heilsverschlossenheit der Mehrheit der Israeliten nicht fraglich. So bleibt er auch als Christ und Heidenapostel unaufkündbar mit ganz Israel verbunden19, in Leiden (Röm 9,2), Fürbitte (Röm 10,1), exemplarischer 15 16 17 18 19

Vgl. dazu K.-W. Niebuhr, Heidenapostel, 153f. „Dabei ist vorausgesetzt, daß der Glaube an Jesus … der jüdischen Identität eines Menschen keinen Abbruch tut und an der Zugehörigkeit zum Volk Gottes nichts ändert“, K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer (ThHK 6), Leipzig 1999, 220. In Verbindung damit weist der benjaminitische Name Šā’ûl auf eine traditionsbewusste jüdische Familie. Hier wird die familienmetaphorische Bezeichnung nicht innerchristlich, sondern in‐ nerisraelitisch gebraucht. Das κατὰ σάρκα ist eine Näherbestimmung zu συγγενεῖς, aber nicht einschränkend auf ἀδελφοί bezogen. Vgl. Niebuhr, Heidenapostel, 160ff.

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Glaubensexistenz (Röm 11,1) und eschatologischer Hoffnung (Röm 11,25– 32). Im Rahmen dieses bis zum Ende seiner Wirksamkeit durchgehaltenen Verständnisses sind die anderen Aussagen über Israel und sein früheres Leben im Ἰουδαϊσμός zu lesen, in denen die Auseinandersetzung mit juden‐ christlichen Gegnern zu schroff abwertenden Aussagen führt: So stimmt er in Phil 3,3–6 (ähnlich wie in 2 Kor 11,22) in das Rühmen der Vorzüge ‚im Fleisch‘, d. h. hinsichtlich der Abstammung und Lebensführung, ein, um danach die in seiner eigenen Existenz erfahrene radikale Umwertung dieser Werte zu betonen: „Wenn ein anderer meint, er könne auf das Fleisch vertrauen – ich (könnte es) noch mehr: Beschnitten am achten Tag, aus dem Volk Israel, dem Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, gemäß der Gesetzespraxis ein Pharisäer, gemäß dem Eifer ein Verfolger der Gemeinde, gemäß der Gerechtigkeit, die in der Gesetzeserfüllung besteht, untadelig gewesen.“

Ergänzend zu den schon erwähnten Aspekten präsentiert sich Paulus hier als Hebräer von Hebräern, d.h. er ist kein Proselyt und auch kein ‚gewöhnlicher‘ Diasporajude, sondern Spross einer palästinischen Familie, die auch in der Diaspora an Traditionen ihrer Heimat festgehalten hat20. Dies schließt die Kenntnis und den Gebrauch der hebräischen bzw. aramäischen Sprache ein und verbindet sich bei Paulus mit der Zustimmung zur pharisäischen Gesetzesauslegung und -observanz und dem „Eifer“ für die Tora und gegen ihre Feinde. In einer ähnlichen Auseinandersetzung formuliert Paulus im ‚autobiogra‐ phischen‘ Abschnitt in Gal 1,13f. die ‚Vorgeschichte‘ seiner Lebenswende: „Ihr habt ja von meinem früheren Wandel in der jüdischen Lebensweise (ἐν τῷ Ἰουδαϊσμῷ) gehört, dass ich übermäßig die Gemeinde Gottes verfolgte und sie zu zerstören suchte und in der jüdischen Lebensweise mehr als alle Altersgenossen in meinem Volk voranschritt, indem ich übermäßig zum Eiferer wurde für die Überlieferungen der Väter.“

Auch hier kommt die in seiner Jugend gepflegte mustergültige jüdische Identität, der Einsatz für die Tora zur Sprache, freilich zugespitzt auf die Wirksamkeit im Kampf gegen die „Gemeinde Gottes“, die Anhänger 20

Vgl. Niebuhr, Heidenapostel, 106 f; vgl. auch K.-W. Niebuhr, Name, Herkunft, Familie, in: F.W. Horn (Hg.), Paulus-Handbuch, Tübingen 2013, 49-55.

Das Judentum des Paulus

Jesu. Der Begriff Ἰουδαϊσμός bezeichnet hier nicht das ‚Judentum‘ als Glaubensgemeinschaft (etwa im Gegensatz zum Christentum)21, sondern den im Gegenüber zum ‚Hellenismus‘ entstandenen, seit den Makkabäer‐ kämpfen gepflegten, kämpferischen Einsatz für die Tora, den Tempel und die religiösen Bräuche. Die einstige Verfolgertätigkeit erscheint als Teil einer „innerjüdische(n) Auseinandersetzung um die Frage der Geltung der Tora“22. Wenn Paulus vom „früheren“ Wandel in diesem kämpferischen Einsatz für das Jüdische spricht, heißt das also nicht, dass er inzwischen sein ‚Judesein‘, d. h. seine Zugehörigkeit zum Gottesvolk und zum Glauben der Väter aufgegeben oder diesem gar abgeschworen hätte, sondern allein dass er in diesem – nun als falsch erkannten – „Eifer“ durch das Eingreifen Gottes gebremst und durch die Offenbarung Christi überwunden wurde. Es kann also auch nach Gal 1,13f. und Phil 3,7f. keine Rede davon sein, dass Paulus sich „vom Judentum fundamental geschieden“ wisse23. Dem widersprechen klar Röm 9,3ff. und 11,1. 2 Die Stellung des Paulus im Rahmen des zeitgenössischen Judentums 2.1 Die jüdische Diaspora24

Dass Paulus dem Diasporajudentum entstammt, darf nicht als Indiz für eine ‚unjüdische‘ Prägung gewertet werden, wie dies in der religionsge‐ schichtlichen Schule (unter Verweis auf seine Heimat Tarsus)25 und auch 21 22 23 24

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So wird der Begriff erst bei Ignatius (Magn 10,3; Phld 6,1) dem Begriff Χριστιανισμός gegenübergestellt. Niebuhr, Heidenapostel, 24. Gegen Strecker, Theologie (Anm. 3), 24. Literatur zum Diasporajudentum: E. Schürer/G. Vermes/F. Millar, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ, 3/1, Edinburgh 1986, 1–176; J.M.G. Barclay, The Jews in the Mediterranean Diaspora from Alexander to Trajan, Edinburgh 1996; E. Gruen, Diaspora. Jews amidst Greeks and Romans, Cambridge 2002; zu Kleinasien siehe Schürer u. a., History, 17–36; P. Trebilco, Jewish Communities in Asia Minor, Cambridge 1991; Barclay, a. a. O., 259–281; ders., Die Diaspora in Kleinasien und an der Schwarzmeerküste, in: K. Erlemann u. a. (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur I: Prolegomena. Quellen. Geschichte, Neukirchen-Vluyn 2004, 208–211. Grundlegend H. Böhlig, Die Geisteskultur von Tarsos im augusteischen Zeitalter mit Berücksichtigung der paulinischen Schriften (FRLANT 19), Göttingen 1913, der meinte, Paulus hätte „das Judentum, wie es von den Rabbinen vertreten wurde, außerordentlich verkannt oder wenigstens recht einseitig beurteilt“ (164), und der die paulinische Theologie vom hellenistischen Synkretismus der Stadt Tarsus her erklären wollte.

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bei manchen älteren jüdischen Interpreten geschehen ist26. Dies wäre nur möglich, wenn das Bild einer judäischen ‚Orthodoxie‘ im Gegensatz zum ‚Assimilationsjudentum‘ der Diaspora zuträfe. Die Verhältnisse sind jedoch komplexer: Einerseits ist der Einfluss des Hellenismus im palästinischen Judentum seit Alexander d. Gr. außerordentlich stark27, und die Auseinandersetzung mit dieser kulturellen Macht (und mit ihren Befürwortern im eigenen Volk) prägte die geistige Situation spätestens seit der makkabäischen Krise so sehr, dass der Einfluss selbst dort wirksam wurde, wo man der hellenisti‐ schen Kultur ablehnend gegenübertrat. Andererseits hat das selbstbewusste Judentum in der Diaspora der Assimilation an die pagane Welt weithin widerstanden und Formen einer eigenständigen jüdischen Identität in Unter‐ scheidung von ihrer Umgebung entwickelt. Zahlenmäßig war die jüdische Diaspora größer als die jüdische Bevölke‐ rung Palästinas. Man kann schon aus diesem Grund nicht allein das paläs‐ tinische Judentum als das ‚eigentliche‘ ansehen28. Geographisch erstreckte sich die Diaspora vom Zweistromland bis nach Italien und Rom mit Schwer‐ punkten in Syrien, in Ägypten und der Cyrenaika sowie in Kleinasien. Ihre Anfänge in Mesopotamien und Ägypten reichen bis in die Exilszeit zurück29. Die kleinasiatische Diaspora, aus der auch Paulus stammte und die eben‐ falls bereits in vorhellenistischer Zeit existiert haben muss30, war unter den 26

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H.-J. Schoeps, Paulus. Die Theologie des Apostels im Lichte der jüdischen Religionsge‐ schichte, Tübingen 1959, sah Paulus als einen „den väterlichen Glaubensvorstellungen weithin entfremdeten Assimilationsjuden der hellenistischen Diaspora“ (166) und erklärt das „Zerrbild vom jüdischen Gesetz“ (ebd.) daher. Dieser Einfluss reicht von dem Eindringen griechischer Sprache und Bildung über die Adaption griechischer Wirtschafts- und Verwaltungsformen wie des ptolemäischen Steuerpachtsystems bis hin zur Architektur in hasmonäischer oder herodianischer Zeit. S. grundlegend M. Hengel, Judentum und Hellenismus (WUNT 10), Tübingen 31988; ders./Markschies, Problem (Anm. 14); ders., Jerusalem (Anm. 14). Vgl. Barclay, Jews (Anm. 24), 4 Anm. 1: „Probably several million by the first century CE.“ Von einer Million Juden in Ägypten spricht – freilich kaum verlässlich – Philo, Flacc 43; vgl. noch die Zahlen bei Jos. Bell. II,561 und VII,368. Für Palästina schätzt M. Avi-Yonah, The Jews of Palestine, Oxford 1976, für die Zeit nach 135 die Zahl auf ca. 1,3 Millionen Juden. Freilich sind auch grobe Zahlen kaum abzusichern. Ggf. ist hier von einer ‚judäischen‘ Diaspora zu reden. Neben der auf die Deportationen zurückgehende Diaspora im Zweistromland ist hier v. a. an die judäische Militärkolonie auf der Nilinsel Elephantine in Oberägypten zu denken, wo im 5. Jh. v. Chr. zeitweise ein eigener Jahu-Tempel existierte. Aristoteles soll in Kleinasien Mitte des 4. Jh.s einem sehr gebildeten ‚griechischen‘ Juden begegnet sein, so Klearchus, nach Jos. c. Ap. I,176–182.

Das Judentum des Paulus

Seleukiden stark angewachsen31, so dass sich in römischer Zeit bereits eine alte und selbstbewusste jüdische Gemeinschaft in fast allen Städten der Provinz Asia und der Gebiete an der kleinasiatischen Südküste befand, auch im kilikischen Tarsus, in dem Paulus aufgewachsen war32. Juden lebten in den Städten in der Regel als eigenständige Volksgruppe (ἔθνος, πολίτευμα)33 mit eigenen Rechten34, teilweise hatten sie auch städtische Bürgerrechte35. Unter den Ptolemäern und Seleukiden genossen Juden weithin Toleranz36. Seit der Römerherrschaft wurden ihre Privilegien durch den Senat bzw. die Kaiser wiederholt bekräftigt, wie eine Reihe senatorischer und kaiserlicher Edikte zeigt, die Josephus anführt37: Für die Diaspora werden folgende Privilegien genannt: generell

Leben nach dem „Gesetz ihrer Väter“ und den jüdischen Sitten

religiös

Praxis religiöser Bräuche, Sabbatobservanz, Versammlungsrecht

rechtlich

interne Selbstverwaltung eigene interne Gerichtsbarkeit (Schiedsgerichte, Synagogenstrafe) Recht zum Bau von religiösen und profanen Gebäuden

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Antiochus d. Gr. soll 2000 jüdische Familien aus dem Osten in Phrygien und Lydien angesiedelt haben (Jos. Ant. XII,147–153), andere kamen als Händler, Handwerker, Sklaven oder Freigelassene nach. Zur Gemeinde in Tarsus s. M. Hengel/A.M. Schwemer, Paulus, 246–250. Zu Juden in Kilikien vgl. Philo, Leg 281; Apg 6,9. Zu den (meist späteren) epigraphischen Zeugnissen s. jetzt das Kompendium von W. Ameling (Hg.), Inscriptiones Judaicae Orientis II: Kleinasien (TSAJ 99), Tübingen 2004. Andere Begriffe, die begegnen, sind οἱ Ἰουδαῖοι, κατοικία, λαός, σύνοδος und später συναγωγή (s. Schürer u.a., History, 3/1 [Anm. 24], 87–91; C. Claußen, Versammlung, Gemeinde, Synagoge. Das hellenistisch-jüdische Umfeld der frühchristlichen Gemein‐ den [StUNT 27], Göttingen 2002, 146–150). Nach Jos. Bell. VII,110 (vgl. Ant. XII,119–124; c. Ap. II,39) waren die Rechte der antiochenischen Juden in Antiochien auf Bronzetafeln niedergelegt. Nach Jos. Ant. XII,119 soll Seleukos I Nicator (bis 280 v. Chr.) Juden in den von ihm gegründeten Städten in Kleinasien und Syrien das Bürgerrecht verliehen haben. Ob dies historisch zutrifft, ist jedoch fraglich. Der Versuch der Unterdrückung der jüdischen Religion durch Antiochus IV. ist insofern eine Ausnahme. S. die Texte mit Kommentar bei M. Pucci Ben Zeev, Jewish Rights in the Roman World (TSAJ 74), Tübingen 1998, bes. die Zusammenstellung 374–377.

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finanziell

Erhebung von Abgaben und Transfer ‚heiliger Gelder‘ (= Tempel‐ steuer) nach Jerusalem

militärisch

Befreiung vom römischen Militärdienst (der mit Götterbildern und Feldzeichen und somit mit fremdem Kult in Berührung brachte)

Eine Befreiung von der Herrscherverehrung, von der oft zu lesen ist, findet sich in diesen Edikten nicht, weil es in der frühen Kaiserzeit keine von Rom erlassene Verpflichtung zum Kaiserkult gab (also auch keine ‚Befreiung‘ möglich war). Generell war in der Toleranz jüdischer Sitten auch die Absti‐ nenz vom Kaiserkult eingeschlossen. Juden konnten immerhin sagen, dass die täglichen Opfer und Gebete im Tempel pro salute Caesaris erfolgten38. Die wiederholte Bekräftigung dieser Privilegien durch Rom zeigt freilich, dass der Status der jüdischen Gemeinschaft in den Städten keineswegs gesichert, sondern immer wieder in Frage gestellt war. Ihre Nichtteilnahme an Teilen des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens wie auch der Trans‐ fer von Geldern nach Jerusalem konnten Misstrauen und Ressentiments schüren, wie die Pogrome in Alexandria im Jahr 38 n. Chr. zeigen, von denen Philo berichtet39. Die jüdische Gemeinschaft in der Diaspora war zwar primär durch ‚ethnische‘ Zugehörigkeit definiert, doch konnten auch Nichtjuden sich entschließen, nach jüdischen Sitten zu leben (Jos. c. Ap. II,210) und sich in unterschiedlichen Graden der Gemeinschaft anschließen. Nicht immer erfolgte ein formeller Übertritt40, durch den die sogenannten ‚Proselyten‘

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Jos. c. Ap. II,77f.; Philo, Leg 356 u. ö. Auch andere Gruppen in Griechenland und Ägypten opferten „für“ den Kaiser (vgl. Belege bei Pucci Ben Zeev, Jewish Rights [Anm. 37], 475 f.; zum Problem eines jüdischen ‚Privilegs‘ in dieser Hinsicht ebd., 471–481). Die Auseinandersetzungen unter Caligula (vgl. Philo, Leg 132–154. 353–357) zeigen jedoch, dass es eine Rechtssicherheit in dieser Frage letztlich nicht geben konnte. Philo, In Flaccum. Dazu s. Barclay, Jews (Anm. 24), 48 ff. Zum antiken Antijudaismus s. Schäfer, Judenhass; s. die Quellen bei M. Stern (Ed.), Greek and Latin Authors on Jews and Judaism I–III, Jerusalem 1974–84. ‚Paradebeispiel‘ ist der Übertritt des Königshauses von Adiabene, vgl. Jos. Ant. XX,17– 96. Für Männer war der Übertritt mit der Beschneidung verbunden. Für Frauen existierte kein entsprechender Akt – entscheidend war eher die Befolgung jüdischer Sitten (s. D.R. Schwartz, Doing Like Jews or Becoming a Jew? Josephus on Women Converts to Judaism, in: J. Frey/D.R. Schwartz/St. Gripentrog (Ed.), Jewish Identity in the Greco-Roman World (AGAJU 71), Leiden 2007, 93–109). Die sog. ‚Proselytentaufe‘ (deren ursprünglicher Ausgangspunkt wohl das für die notwendige Opferdarbringung im Tempel erforderliche Tauchbad war, die sich aber dann als Brauch verselbständigte) ist erst nach 70 belegt.

Das Judentum des Paulus

uneingeschränkt Glieder der jüdischen Gemeinschaft wurden. Doch der Glaube an den einen Gott und die Übernahme ethischer Kernforderungen ließen sich auch ohne diesen formellen Akt (mit seinen durch Reinheits- und Speisegebote verursachten gesellschaftlichen Einschränkungen) praktizie‐ ren, so dass wohl eine größere Zahl von Interessenten als ‚Gottesfürchtige‘ (θεοσεβεῖς oder σεβόμενοι τὸν θεόν), d. h. als ‚Sympathisanten‘, Gasthörer und nicht zuletzt als Wohltäter mit der Synagoge verbunden blieb, ohne die mit der Beschneidung verbundenen persönlichen, sozialen und politischen Restriktionen auf sich nehmen zu müssen41. Diese Kreise waren später eines der wichtigsten Felder der frühchristlichen (auch der paulinischen) Mission. Umgekehrt zeigten die Gemeinden der Diaspora keineswegs eine völlige Assimilation an ihre Umwelt, vielmehr eine deutliche Abgrenzung, inso‐ fern Speise- und Reinheitsgebote die Mahlgemeinschaft (und damit viele gesellschaftliche Verbindungen) mit Nichtjuden äußerst einschränkten und Mischehen i. d. R. nicht akzeptiert wurden bzw. die Einheirat meist nur unter der Bedingung der ganzen Hinwendung zum Judentum erfolgen konnte42. Die Organisation der Gemeinden konnte unterschiedlich sein, vom locke‐ ren Verbund Einzelner bis zu wohlorganisierten Gemeinden mit geordneten Ämtern (ἀρχισυνάγωγος, πρεσβύτερος, ἄρχων)43, eigenen Gebäuden, Ar‐ chiven, Gerichten und Begräbnisstätten und ‚offiziellen‘ Beziehungen zur jeweiligen Polis. Treffpunkt waren oft Privathäuser, in größeren Gemeinden eigene ‚Gebetshäuser‘ (προσευχή, συναγωγή)44. Meist existierte zugleich ein soziales und ökonomisches Netzwerk, das angesichts der Speise- und Reinheitsgebote zum Leben (etwa zur Versorgung mit Öl, Fleisch und anderen Nahrungsmitteln) in der Diaspora erforderlich war. Das Institut der Synagoge mit regelmäßigen Gebeten und dem Studium der Schriften hat die Identität der Diasporagemeinden entscheidend geprägt. Hier entwi‐ ckelte sich der vom Tempelkult unabhängige, opferlose Wortgottesdienst mit

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S. zu den ‚Gottesfürchtigen‘ F. Siegert, Gottesfürchtige und Sympathisanten, JSJ 4 (1973), 109–164; Louis H. Feldman,. „Sympathizers“ with Judaism, in: H.W. Attridge/H.W. Gata (Ed.) Eusebius, Christianity, and Judaism, Detroit 1992, 389–395; Hengel/Schwemer, Paulus, 101–119. Vgl. Barclay, Jews (Anm. 24), 410–412. Jos. Ant. XX,139.145f. zeigt, dass vor der Einheirat in die Familie der Herodianer die Beschneidung gefordert wurde. S. dazu Claußen, Versammlung (Anm. 33), 256–293. Zum Ursprung der Synagoge in der ägyptischen Diaspora des 3. Jh.s s. M. Hengel, Proseuche und Synagoge, in: ders., Judaica et Hellenistica (Anm. 14), 171–195; Claußen, Versammlung (Anm. 33), 151–165.

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Schriftlesung und -auslegung, Gebeten und Psalmengesang45, die wöchent‐ liche Sabbatfeier und die Feier anderer religiöser Feste, die von größter sozialer Bedeutung waren46. Die Erhebung der Tempelsteuer von einem Halbschekel (vgl. Ex 30,11–16)47 und der Transfer dieser Gelder sowie anderer Gaben an das Jerusalemer Heiligtum – häufig in Verbindung mit Pilgerfahrten zu den Wallfahrtsfesten nach Jerusalem (vgl. Apg 2,5–11) – zeigt die hohe Bedeutung, welche die Verbindung zum ‚Mutterland‘ auch für die Juden in der Diaspora hatte48. Die religiöse Prägung des Diasporaju‐ dentums war durch die Schriften (primär das mosaische ‚Gesetz‘) bestimmt, die in griechischer Version, in der ‚Septuaginta‘ (LXX), gelesen wurden. Für diese wurde eine dem hebräischen Text gleiche, nicht nur ‚abgeleitete‘ Autorität und Offenbarungsqualität49 beansprucht. Im Haus und in den sabbatlichen Versammlungen wurde das ‚Gesetz‘ studiert, und Mose war die zentrale Autorität und Identifikationsfigur, die den jüdischen Glauben und seine Ethik an Alter und Würde über die philosophischen Traditionen der Griechen erhob. In breiter Einmütigkeit lehnte das Diasporajudentum

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Dieser Wortgottesdienst „war ein wirkliches Novum in der Antike“ (Hengel/Schwemer, Paulus, 101 Anm. 415), weiter J.C. Salzmann, Lehren und Ermahnen (WUNT II/59), Tübingen 1994, 450–459. Zu den zahlreichen Notizen bei Philo s. J. Leonhardt, Jewish Worship in Philo (TSAJ 84), Tübingen 2001. Zur Bedeutung dieser Abgabe s. Barclay, Jews (Anm. 24), 417 f. und v. a. Philo, SpecLeg I,77–78. Die Umwandlung der Tempelsteuer in den fiscus Iudaicus, eine an den Tempel des Jupiter Capitolinus in Rom zu entrichtende Strafsteuer, ab dem Jahr 71 n. Chr. machte es schließlich erforderlich, dass alle Juden, Männer, Frauen und Kinder, öffent‐ lich durch ‚Personenstandslisten‘ als solche ausgewiesen waren – was Juden desto mehr ihrer Sonderstellung in der römischen Gesellschaft bewusst machen musste. Vgl. M.D. Goodman, The Fiscus Iudaicus and Gentile Attitudes to Judaism in Flavian Rome, in: J. Edmondson/S. Mason /J. Rives (Ed.), Flavius Josephus and Flavian Rome, Oxford 2005, 167-177. Barclay, Jews (Anm. 24), 418 f. Zu den Festreisen S. Safrai, Die Wallfahrt im Zeitalter des Zweiten Tempels, Neukirchen-Vluyn 1981. Vgl. EpArist 310 f. und v. a. Philo, VitMos II,33–34; S. dazu M. Hengel/R. Deines, Die Septuaginta als ‚christliche Schriftensammlung‘, ihre Vorgeschichte und das Problem ihres Kanons, in: M. Hengel/A.M. Schwemer (Hg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum (WUNT 72), Tübingen 1994, 182–284 (236 ff.); zur Einführung in die LXX s. weiter F. Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament. Eine Einführung in die Septuaginta (Münsteraner Judaistische Studien 9), Münster 2001; ders., Die Septuaginta (LXX) als Übersetzungscorpus, in: Erlemann u.a. (Hg.), Neues Testament und antike Kultur I (Anm. 24), 71–76; M. Tilly, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005; ausführlich M. Karrer/W. Kraus/S. Kreuzer, Einleitung in die Septuaginta, Gütersloh 2015.

Das Judentum des Paulus

die bildhaften und polytheistischen Kulte ab. Die durch die Reinheits- und Speisegebote begründete Separation von paganen Mählern, die Praxis der Beschneidung aller männlichen Neugeborenen (und die damit symbolisch markierte Einschränkung der sexuellen Beziehungen) und die Einhaltung des Sabbat waren wirksame Kennzeichen der jüdischen Identität in der Diaspora. Die Bedeutung dieser diasporajüdischen Identität für Paulus lässt sich kaum überschätzen.50 Die griechische Sprache seiner Zeit, die Koine, gebraucht er syntaktisch korrekt und ohne auffällige Übersetzungssemitis‐ men, gelegentlich sogar mit poetischer Gestaltungskraft (z. B. in 1 Kor 13), seine Briefe folgen zwar keiner Schulrhetorik, aber kommunizieren doch rhetorisch geschickt, oft im Argumentationsstil der Diatribe (vgl. Röm 1,18– 2,11; 2,17–24; 7,1–5 u. ö.), wie er wohl auch in der synagogalen Predigt Ver‐ wendung fand51. Die Schriften zitiert er griechisch, nach der LXX oder nach abweichenden Textrezensionen52, in souveräner Kombination von Stellen und Adaption des Wortlauts, so dass dahinter nicht nur die eigene mündliche Lehrtätigkeit, sondern auch eine in früher Jugend gründende Vertrautheit anzunehmen ist53. Ganz selbstverständlich gebraucht er daneben Metaphern und Bilder aus der hellenistischen Welt, z. B. die griechische Metapher vom „inneren Menschen“ (2 Kor 4,16; Röm 7,22) oder das Bild vom Wettkampf in einem Gymnasium (1 Kor 9,24–27)54. Die Weiterführung von Motiven der hellenistisch-jüdischen Predigt zeigt sich in Formulierungen wie 1 Thess 1,9 (die Hinwendung von den Götzen zum wahren Gott) oder auch 1 Kor 8,4–6. Nur als Diasporajude war Paulus später zu seiner Grenzen und Kulturkreise überschreitenden Wirksamkeit als Heidenapostel in der Lage.

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S. dazu zuletzt E. Kobel, Paulus als interkultureller Vermittler, Leiden 2019. Zu den wenigen erhaltenen Beispielen von Synagogenpredigten s. F. Siegert, Drei hellenistisch-jüdische Predigten II (WUNT 61), Tübingen 1992. Für Zitate aus Jesaja, Hiob und 1 Könige sind teilweise nach dem hebräischen Text revidierte Versionen vorauszusetzen. Vgl. dazu D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums (BHTh 69), Tübingen 1986, 57–81; F. Wilk, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus (FRLANT 179), Göttingen 1998, 19–42. Denkbar ist, dass die rezensierten Texte auch „auf seine eigene schriftgelehrte Arbeit zurückgehen“ (Hengel/Deines, Der vorchristliche Paulus, 126). So Hengel/Deines, Der vorchristliche Paulus, 126f. Vgl. Th.K. Heckel, Der innere Mensch (WUNT II/53), Tübingen 1993; Chr. Markschies, Art. Innerer Mensch, RAC 18 (1998), 266–312 (279–282); U. Poplutz, Athlet des Evange‐ liums. Eine motivgeschichtliche Studie zur Wettkampfmetaphorik bei Paulus (HBS 43), Freiburg 2004.

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2.2 Die jüdischen Religionsparteien in Palästina und der Pharisäismus

In seinen Selbstzeugnissen und in der Apg erscheint Paulus als Pharisäer (Phil 3,5: κατὰ νόμον Φαρισαῖος, vgl. Apg 23,6). Die in Apg 22,3 erwähnte Ausbildung bei R. Gamaliel I., dem führenden pharisäischen Lehrer seiner Zeit, konkretisiert dies noch. Was kennzeichnet den Pharisäismus? Und wie lässt sich die Zuordnung zum Pharisäismus mit der Identität als Diaspora‐ jude verbinden? 2.2.1 Die jüdischen Religionsparteien nach Josephus

Über die religiösen Strömungen in Palästina um die Zeitenwende informiert vor allem Flavius Josephus. In seinen Jüdischen Altertümern (Ant.) und im Jüdischen Krieg (Bell.) spricht er von drei ‚Religionsparteien‘ (αἱρέσεις)55, die analog den griechischen Philosophenschulen im Judentum nebeneinander stehen: Pharisäer, Sadduzäer und Essener 56. Als weitere Gruppe nennt er die sog. ‚vierte Philosophie‘ der Zeloten, die die Entwicklung zum jüdischen Krieg maßgeblich bestimmt hat. Sie stimmt nach Josephus in allen wesent‐ lichen Punkten außer in ihrem gewaltsamen Streben nach (politischer) Freiheit mit den Pharisäern überein57. Im Licht der eingetretenen Katastro‐ phe distanziert sich Josephus, der selbst als einstiger Freischärler zu den Römern übergelaufen war, von den Zeloten, während er die Essener als ideale, friedliche Philosophengemeinschaft und die Pharisäer als eine stärker politisch aktive Partei zeichnet. Pharisäer, Sadduzäer und Essener beschreibt

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Der Begriff ist hier nicht mit ‚Sekte‘ zu übersetzen. Es handelte sich um drei einfluss‐ reiche Strömungen. Diese Notizen sind wohl schematisch, aber nicht schon deshalb historisch unbrauchbar. Vgl. neben dem besonders problematischen autobiographischen Bericht Josephus, Vita 10 f. die Drei-Schulen-Berichte Bell. II,119–166; Ant. XIII,171–173.288.298; XVIII,11–22. Dabei werden – wohl aus Gründen der Quellenverarbeitung – in Bell. II,119–161 die Essener besonders breit behandelt. Vgl. zur Quellenfrage R. Bergmeier, Die Essener-Be‐ richte des Flavius Josephus, Kampen 1993; kritisch dazu J. Frey, Zur historischen Auswertung der antiken Essenerberichte, in: J. Frey/H. Stegemann (Hg.), Qumran kontrovers, Paderborn 2003, 23–56. Zu den drei Gruppen s. auch G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener (SBS 144), Stuttgart 1991. Jos. Ant. XVIII,23. Zu dieser Gruppe s. grundlegend M. Hengel, Die Zeloten (AGJU 1), Leiden/Köln 21976, s. auch I. Wandrey, Art. Zeloten, RGG4 8 (2005), 1832–1834.

Das Judentum des Paulus

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er in griechischen Begriffen und charakterisiert sie nach ihrer Stellung zum Schicksal und ihrem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele.58 Pharisäer

Sadduzäer

Essener

Schicksal bzw. Willensfrei‐ Schicksal kein Schicksal, alles geschieht heit (εἱμαρμένη) und eigenes Tun nur eigenes Tun gemäß Schick‐ sal und göttli‐ cher Bestim‐ mung59 Unsterblichkeit der Seele (in griech. Begriffen) – in palästinisch-jüd. Be‐ griffen ist die Auferste‐ hung der Toten und das Gericht gemeint

Unsterblichkeit keine Unsterb‐ der Seele, lichkeit, kein Lohn und Strafe Lohn, keine Strafe

Unsterblichkeit der Seele

parallelisiert mit

Stoiker

Pythagoreer

Epikuräer

2.2.2 Gab es ein ‚allgemeines Judentum‘ (‚common Judaism‘)?

Angesichts der Diskrepanzen, nicht nur zwischen dem Judentum in Paläs‐ tina und dem der Diaspora, sondern auch innerhalb des palästinischen Judentums, ist es durchaus fraglich, ob und inwiefern man von einer Einheit ‚des‘ Judentums (bzw. einem mehr oder weniger von allen geteilten ‚mainstream‘-Judentum) reden kann oder nicht. Während E.P. Sanders die These aufgestellt hat, dass ein durch Bund und Tora bestimmtes ‚allgemeines Judentum‘ (‚common Judaism‘), diese Einheit bilde60, sprechen J. Neusner 58

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Hier spiegelt sich in griechischen Begriffen, was im palästinischen Judentum als „Auferweckung der Toten“ gefasst wurde. Vgl. Dan 12,2 und die nachfolgende Traditi‐ onsgeschichte. Ob und inwiefern die Qumrangemeinde die Auferstehung der Toten lehrte, ist unsicher. Argumente dafür sind die Verbreitung des Danielbuches sowie einige andere (allerdings nicht gruppenspezifische) Texte in der Bibliothek von Qumran (4Q521 2 ii 12; 4Q 385 2 8 f.) sowie evtl. die Bestattungspraxis. Vgl. É. Puech, La croyance des Esséniens en la vie future: immortalité, résurrection, vie éternelle? I–II (ÉtB 21/22), Paris 1993; A.L.A. Hogeterp, Belief in Resurrection and its Religious Settings in Qumran and the New Testament, in F. García Martínez (Ed.), Echos from the Caves (StTDJ 85), Leiden 2009, 299-320. Hier spiegelt sich in griechischen Begriffen der von der Qumrangemeinde vertretene Prädestinationsglaube (s. programmatisch in der Zweigeisterlehre 1QS III 13 – IV 26). E.P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism (dt.: ders., Paulus und das palästinische Judentum); ders., Judaism. Practice and Belief 63 BCE–66 CE, London/Philadelphia 1992; s. die kritische Besprechung Hengel/Deines, E.P. Sanders’ „Common Judaism“; sowie den Sammelband von D. Carson/P.T. O’Brien/M. Seifrid (Ed.), Justification and Variegated Nomism I: The Complexities of Second Temple Judaism (WUNT II/140), Tübingen 2001.

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u. a. im Plural von ‚Judentümern‘ (‚Judaisms‘)61. In der Tat ist die Pluralität, ja Divergenz innerhalb des antiken Judentums nicht zu marginalisieren. Sie betrifft nicht nur das Verhältnis zwischen Palästina und der Diaspora, sondern auch das palästinische Judentum vor dem Jahr 70: – Spätestens seit den Makkabäerkämpfen existiert das Problem der ‚Ab‐ trünnigen‘ im eigenen Volk, die mit den Unterdrückern kollaborierten und die Religionsnot des Volkes mit verursachten62. Dagegen erhob sich nach dem Vorbild des Pinchas (Num 25) der ‚Eifer‘ des Mattathias und seiner Söhne, der Makkabäer (1 Makk 2,24ff.). Ihr Vorbild des Eifers für Gesetz und Heiligtum blieb lebendig und beeinflusste die Bewegung der Zeloten63 und vielleicht auch den ‚Eifer‘ (ζῆλος/ζηλοῦν) des Verfolgers Paulus64. – Pharisäer und Sadduzäer(-Aristokratie) lieferten sich in der Hasmonäer‐ zeit blutige Machtkämpfe. Ihre Beteiligung am ‚Synhedrion‘ (unter Füh‐ rung der Sadduzäer) kann nicht über die tiefe Distanz hinwegtäuschen: Die Propheten und Schriften, die die Pharisäer lasen, akzeptierten die Sadduzäer nicht, die messianische Hoffnung, den Glauben an die Auferstehung und ein letztes Gericht und vieles mehr verwarfen sie. – Die Mitglieder der Qumrangemeinde (‚Essener‘)65, die keineswegs nur am Toten Meer lebten, sahen den Tempel in Jerusalem als verunreinigt und die dortige Priesterschaft als illegitim an und verweigerten sich dem Opferkult. Den ‚Bund‘ Gottes sahen sie nur in ihrer Gemeinschaft

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Sanders konstruiert nicht mehr als ein „Judentum kleinsten gemeinsamen Nenners“ (so bei Sanders, Paulus und das palästinische Judentum, XI). J. Neusner, From Judaism to Judaisms. My Approach to the History of Judaism, in: ders., Ancient Judaism. Debates and Disputes, Atlanta (Ga.) 1990, 181–221. Dazu grundlegend Hengel, Judentum und Hellenismus (Anm. 27), der die These von Elias Bi(c)kerman(n) aufnimmt, dass die Religionsverfolgung unter Antiochus IV. nicht nur durch die Politik dieses Herrschers, sondern auch durch die Agitation der hellenistischen Reformer in Jerusalem zustande kam. Hengel, Zeloten (Anm. 57), 151ff. Haacker, Paulus, 78–97. T. Seland, Saul of Tarsus and Early Zelotism. Reading Gal 1,13–14 in light of Philo’s writings, Biblica 83 (2002), 449–471; O. Wischmeyer, Die Religion des Paulus. Eine Problemanzeige, in: dies., Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments (WUNT 173), Tübingen 2004, 311–328. Zur Verbindung (wenngleich nicht Identifikation) der Trägerkreise der Qumran-Biblio‐ thek mit den bei Philo, Plinius und Josephus erwähnten Essenern, s. J. Frey, Zur historischen Auswertung der antiken Essenerberichte. in: J. Frey/H. Stegemann (Hg.), Qumran kontrovers, Paderborn 2003, 23-56.

Das Judentum des Paulus

verwirklicht, andere Israeliten galten nicht als zu diesem ‚Bund‘ ge‐ hörig und wurden bei regelmäßigen Bundesritualen rituell verflucht (1QS II,1–18) Zumindest hier führte die mit speziellem Offenbarungsan‐ spruch vorgetragene Toradeutung und die radikalisierte (Reinheits-)Ha‐ lakha zu einer Aufsprengung der Größen ‚Israel‘ und ‚Bund‘. Gewiss sind gemeinsame jüdische Überzeugungen im Gegenüber zur paga‐ nen Welt nicht zu leugnen: Der Monotheismus und die (je unterschiedlich gedeutete) Tora können in dieser Perspektive als grundlegende Merkmale gelten. Doch von der Einheit eines auf Tempel und Tora konzentrierten ‚Durchschnittsjudentums‘ (‚Common Judaim‘) kann in Anbetracht von Qumran, der Rivalität von Pharisäern und Sadduzäern und der Differenzen zwischen dem palästinischen Judentum und den zahlenmäßig größeren Gruppen der Diaspora keine Rede sein.66 2.2.3 Der Pharisäismus und seine Bedeutung

Welchen Charakter und welche Bedeutung hatte der Pharisäismus vor der Tempelzerstörung im Jahr 70? Immerhin spricht Josephus von einem großen Einfluss der Pharisäer auf das Volk (Ant. XVIII,15). Sowohl bei Josephus (44mal) als auch im Neuen Testament (99mal) sind die Pharisäer die am meisten genannte Religionspartei. Die Forschungslage ist kontrovers:67 –

Die ältere jüdische und christliche Forschung nahm ein ‚normatives Judentum‘ (pharisäisch-)rabbinischer Prägung schon vor dem Jahr 70 an. Dies lässt sich heute nicht mehr aufrecht erhalten, denn dieses Bild basiert auf einer unkritischen Verwendung der erst lange nach 70 redigierten rabbinischen Texte, d. h. der partiellen Rückprojektion späterer Verhältnisse in die Zeit vor der Tempelzerstörung. Vor dem

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Sanders muss zur Begründung sowohl die Essener als auch die Pharisäer als Randphä‐ nomene marginalisieren. Literatur zum Pharisäismus: R. Deines, Art. Pharisäer, TBLNT2 2 (2000), 1455–1468; ders., Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz (WUNT 101), Tübingen 1997; ders., The Pharisees Between ‚Judaisms‘ and ‚Common Judaism‘, in: Carson/O’Brien/Seifrid, Justification (Anm. 60), 443–504; zur Traditionsanalyse J. Neusner, The Rabbinic Traditions about the Pharisees before 70, 3 Bde., Leiden 1971; ders., Die Verwendung des späteren rabbinischen Materials für die Erforschung des Pharisäismus im 1. Jahrhundert n. Chr., ZThK 76 (1979), 292–309. Kritisch dagegen P. Schäfer, Der vorrabbinische Pharisäismus, in: M. Hengel/U. Heckel (Hg.), Paulus und das antike Judentum (WUNT 58), Tübingen 1991, 125–172 (126–132).

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Jahr 70 gab es in Palästina kein normatives Judentum, sondern, wie v. a. die Qumran-Funde gezeigt haben, eine Pluralität von Positionen, die im Detail noch weit über die drei „Schulen“ des Josephus hinausging. – Im Rahmen seiner These eines von Tempel und Tora geprägten ‚Com‐ mon Judaism‘ (s. o.) will E.P. Sanders den Einfluss der Pharisäer sehr gering veranschlagen, so dass letztlich das Tempelpriestertum als die führende Gruppe innerhalb des Judentums vor 70 erscheint. Diese Position resultiert z.T. aus dem Fehlen sicherer pharisäischer Primär‐ quellen und hat daher einigen Anklang gefunden. Ihr steht die klare Notiz des Josephus über den Einfluss der Pharisäer beim Volk entgegen (Ant. XVIII,15) sowie die Häufigkeit ihrer Erwähnung nicht nur im NT, sondern auch bei Josephus. – Eine Position zwischen diesen ‚Extremen‘ nahm Jacob Neusner wahr, der eine Entwicklung des Pharisäismus von einer primär politischen ‚Partei‘ hin zu der nach 70 religiös prägenden Bewegung („from politics to piety“) beschreiben wollte68. Doch sind religiöse Anliegen schon in den Zeugnissen über die Frühzeit der Pharisäer erkennbar (Josephus, Ant. XIII,289.297), andererseits begegnen sie noch in herodianischer Zeit in politischen Kontexten, so dass die Entwicklung fraglich wird. Ein Rückzug auf ‚bloße‘ Frömmigkeit ist nicht zu erweisen69. Grundlegende Quellen für den Pharisäismus vor 70 sind die Notizen im Werk des Josephus70. Sie lassen sich ergänzen durch Hinweise aus der Qumran-Lite‐ ratur71 und dem Neuen Testament, wobei in beiden Fällen mit polemischen

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J. Neusner, From Politics to Piety, The Emergence of Pharisaic Judaism, New York 21979. S. auch Stemberger, Pharisäer (Anm. 56), 113f. Ob Josephus selbst wirklich Pharisäer war, wie er Vita 10–12 behauptet, ist fraglich. Dennoch ist er Zeit- und Augenzeuge. Freilich sind spezifische Tendenzen in seinem Pharisäerbild zu berücksichtigen, außerdem sind die Aussagen in Bell. und Ant. nicht einheitlich: In Bell. ist Josephus stärker apologetisch als in den jüngeren Ant. Vgl. S. Mason, Josephus on the Pharisees, Leiden 1991; Schäfer, Pharisäismus (Anm. 67). Die wichtigsten Texte sind erläutert bei Stemberger, Pharisäer (Anm. 56), 10–24. J.C. VanderKam, The Pharisees and the Dead Sea Scrolls, in: J. Neusner/B.D. Chilton, In Quest of the Historical Pharisees, Waco 2007, 225-236. In Texten aus Qumran werden Pharisäer wohl unter dem polemischen Decknamen ‚diejenigen, die glatte Dinge suchen‘ (CD I 18 f.; 1QH II 15.32; IV 7–10 sowie besonders häufig im Nahum-Pesher 4QpNah) als Vertreter einer (aus Sicht der Qumrangemeinschaft) v. a. in Reinheitsfragen zu laxen, an der Praktikabilität interessierten Torapraxis sowie einer Anpassung an die politischen und kultischen Verhältnisse beschrieben.

Das Judentum des Paulus

Verzerrungen zu rechnen ist72, aus der rabbinischen Literatur, deren historische Auswertbarkeit weithin fraglich ist73, und aus archäologischen Daten74. Oft werden die Psalmen Salomos und die aram. Fastenrolle dem Pharisäismus zugeschrieben. Andere Texte wie z. B. 4 Esra zeigen zwar Gemeinsamkeiten mit pharisäischen Auffassungen, stammen aber kaum aus diesen Kreisen. Der Name Φαρισαῖοι (hebr. ‫פּרושׁים‬, aram. ‫ ;פּרישׁיּא‬von hebr. ‫„ פּרשׁ‬trennen, unterscheiden“) bezeichnet zunächst wohl als Fremdbezeichnung ‚Abge‐ sonderte‘, die sich von der (nicht observant lebenden) Masse des Volkes un‐ terscheiden75. Ihre Geschichte ist nur teilweise zu klären. Vermutlich kom‐ men sie aus den Ausläufern der Frömmigkeitsbewegung der Chasidim (1 Makk 2,42; 7,12; 2 Makk 14,6). Josephus erwähnt sie als Gruppe erstmals unter dem Hasmonäer Jonathan (Ant. XIII,171ff.), also Mitte des 2. Jh.s v. Chr. Unter Johannes Hyrkan (135–104 v. Chr.) erscheinen sie in einer ‚Schul‐ anekdote‘, die den Bruch mit den Hasmonäern erzählt, als politische Partei (Ant. XIII,288–298).76 Dabei wird ihr Interesse am religiösen Leben des Vol‐ 72

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In den Evangelien werden die Pharisäer immer stärker zu Gegnern Jesu stilisiert, am deutlichsten bei Matthäus (Mt 23,13 u.ö.: das stereotype „Weh euch, Schriftgelehrten und Pharisäern, ihr Heuchler …!“), was auf verschärfte Auseinandersetzungen der frühen Christenheit mit dieser Strömung (vor und nach 70) und zugleich auf ihre Bedeutung als Repräsentanten wesentlicher jüdischer Positionen dieser Epoche schließen lässt. Vgl. die Diskussion bei Stemberger, Pharisäer (Anm. 56), 40–64. Fraglich ist, welche Tradi‐ tionen aus älterer Zeit wirklich auf die Pharisäer zu beziehen sind, denn der Name ‫פּרושׁים‬ wird von den Rabbinen selten und wenig positiv verwendet. Sie reden eher von den ‚Wei‐ sen‘ (‫)חכמים‬. Dies zeigt das Maß der Transformation zwischen dem ‚vorrabbinischen‘ Pha‐ risäismus und der späteren rabbinischen Elite. J.F. Strange, Archaeology and the Pharisees, in Neusner/Chilton, In Quest of the Historical Pharisees, 237-251. R. Deines, Jüdische Steingefäße und pharisäische Frömmigkeit (WUNT II/52), Tübingen 1993, schließt aus den Funden von Steingefäßen (vgl. Joh 2,6), die nach pharisäischer Halakha (anders als Tongefäße) durch Kontakt mit Unreinem nicht unrein (d. h. unbrauchbar) wurden, auf die Verbreitung pharisäischer Frömmigkeit in Galiläa. Vgl. Schürer/Vermes/Millar, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ, 3/2, Edinburgh 1979, 396 f. Eine andere Erklärung wäre, dass die Pharisäer Unterschei‐ dungen vornahmen, z. B. zwischen rein und unrein etc. – Die Wendung „wir haben uns abgesondert (‫ )פרשנו‬von der Menge des Volkes“ begegnet parallel in dem wohl aus der Frühzeit der Qumrangemeinschaft stammenden halakhischen Text 4QMMT C 7, wo die rigide Position dieser Gemeinschaft gegenüber dem Adressaten (wohl dem amtierenden Hohenpriester) dargelegt wird. Der Konflikt entstand wohl, als Hyrkan die Vereinigung des Hohenpriesteramtes mit der politisch-militärischen Führung dauerhaft zu institutionalisieren versuchte (vgl. Deines, Art. Pharisäer [Anm. 67], 1458). Der Widerspruch dagegen hat religiöse Gründe. Der gleiche Sachverhalt dürfte schon früher (vermutlich 152 v. Chr. bei der Usurpation des Hohenpriesteramtes durch Jonathan) zur Separation der Qumrangemeinde geführt haben.

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kes erkennbar, wenn berichtet wird, sie überlieferten dem Volk ungeschrie‐ bene, mündliche gesetzliche Bestimmungen aufgrund der Überlieferungen der Väter (XIII,297), welche die Sadduzäer ablehnten. Trotz der Auseinan‐ dersetzung mit den Hasmonäern (Bürgerkrieg unter Alexander Jannai) ar‐ rangierten sie sich nach Möglichkeit mit den politischen Gegebenheiten, unter Salome Alexandra kamen sie zeitweise zu politischem Einfluss. Wohl 6 n. Chr. spaltete sich eine radikal theokratische Richtung ab, die sich später ‚Zeloten‘ nannte (XVIII,3ff.). In ntl. Zeit waren Pharisäer als Minderheit ne‐ ben den Sadduzäern im ‚Synhedrium‘ vertreten (vgl. Apg 23,6–9; auch Apg 5,38; Joh 7,50). Strukturell bildete die pharisäische Bewegung eine eher lo‐ ckere Gemeinschaft ohne feste Aufnahmeregelungen etc., innerhalb derer es allerdings auch engere Zusammenschüsse gab. Ihr Gewicht ist nicht allein an der Zahl der Mitglieder zu messen, sondern an dem Einfluss, den diese ‚Elite‘ auf das Volk nahm. Wie Josephus erwähnt (Ant. XVIII,15.17), war dieser aufgrund ihrer ‚Volksnähe‘ größer als jener der aristokratischen Zirkel der Sadduzäer und der auf strikte Reinheit und Abgrenzung von Außenste‐ henden bedachten Essener. Im Unterschied zu diesen kann man den Phari‐ säismus vor 70 n. Chr. vielleicht nicht als ‚Volksbewegung‘, aber doch als eine auf das Volk (und die rituelle Heiligung des täglichen Lebens in Eretz Israel) hin orientierte, einflussreiche religiöse Erneuerungsbewegung bezeichnen77. Danach ging der Pharisäismus in der rabbinischen Neukonstitution des pa‐ lästinischen Judentums auf. Charakteristika der pharisäischen Lehre und Praxis78 mündliche Tora

Neben der schriftlichen Tora werden aus „Überlieferungen der Ältesten“ gesetzli‐ che Bestimmungen überliefert. Als Auslegung und ‚Verlängerung‘ der schriftlichen Tora sind sie dieser gleich‐ wertig. –

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Jos. Ant. XIII,296f.408; s. grundlegend mAvot I,1 vgl. Mk 7,3.5.8f.13

Gegensatz zu Sadduzäern

Hengel/Deines, Der vorchristliche Paulus, 117, spricht von einer „palästinische[n] Heiligungsbewegung“. Zur Auseinandersetzung mit Sanders’ Marginalisierung der Pharisäer s. Hengel/Deines, E.P. Sanders’ „Common Judaism“, 411–438. Vgl. dazu Deines, Art. Pharisäer (Anm. 67), 1460–1462; ders., Art. Pharisäer, LThK3 7 (1998), 204–206.

Das Judentum des Paulus

→ Flexibilität der Gesetzesauslegung (Augenmerk auf Praktikabilität für das breite Volk) –

Gegensatz zu Sadduzäern/Essenern

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polemisch in Qumran: „die glatte Dinge su‐ chen …“ CD I,18f.; 1QH 2,15.32; 4,7–10; 4QpNah

→ Milde in der Rechtsprechung Jos. Ant. XIII,294; (d. h. kein Rigorismus, eher Streben nach (vgl. Apg 5,38f.) Praktikabilität) Kanon der Schriften

Neben dem Pentateuch werden Propheten Jos. Ant. XIII,297f. und weitere Schriften anerkannt (sie gelten als Teil der ‚mündlichen Tora‘ und haben daher Teil an der mosaischen Autorität) – Differenz zu Sadduzäern

Eschatologie Glaube an eine Auferstehung der To‐ ten und an ein eschatologisches Gericht (diese Topoi finden sich nicht im Penta‐ teuch) – Differenz zu Sadduzäern

Jos. Bell. II,163; Ant. XVIII,14 mSanh X,1 (vgl. Dan 12,2f.; PsSal 3,11f.); Mk 12,18ff.; Apg 23,6.8; 26,5

Engelglaube

Apg 23,8 (vgl. Dan)

messianische Erwartung (aber keine ein‐ Jos. Ant. XVII,43–45; heitliche Konzeptualisierung) PsSal 17–18 Geschick + Freiheit

Schicksalsglaube und Freiheit zum Tun des Guten bzw. ethische Verantwortung, d. h. kein völliger Determinismus – Mittelposition zwischen Sadduzäern und Essenern

Jos. Bell. II,162f.; Ant. XIII,171; vgl. PsSal 9,3– 5; mAvot III,15; vgl. auch Phil 2,12f.

Frömmig‐ keitspraxis

Streben nach Gerechtigkeit, Gottes Wohlgefallen und Frömmigkeit (dies sind allgemeinere, nicht nur phari‐ säische Ideale)

Jos. Ant. XIII,289–291; XIV,176; Bell. II,163; vgl. Mt 5,20; Lk 16,15

Toraobser‐ vanz

Genauigkeit (ἀκρίβεια) der Auslegung, vor allem bezüglich

Jos. Bell. I,110; II,162; Ant. XVII,41; Vita 191.198; vgl. Phil 3,5; Apg 22,3; 26,5; zur Reinheit Mk 7,1ff., zum Zehnten Mt 23,23.

– – –

Reinheitshalakha, Zehnt-Abgabe (für Speisen) Sabbatobservanz



Praxis des Fastens und Betens

Fastenrolle (Megillat Taanit), PsSal 3,7f.; vgl. Lk 18,12

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Reinheitsha‐ Ausweitung der priesterlichen Reinheit mKel 1,6–9 etc. lakha auf das alltägliche Leben im Haus, inten‐ tional auf das Leben ganz Israels Bezug auf Eretz Israel

Mit dem Ziel der priesterlichen Reinheit mSota IX,15 etc. Israels war die enge Verbindung mit Eretz Israel gegeben, da nur dort diese Reinheit gelebt werden konnte79

Torastudium Interessen an der Instruktion des Volkes: mAvot I,1.4.6.12f.16; II,4ff. Pflege von Schrift- und Gesetzeskunde, vgl. Gal 1,13; Phil 4,6 Förderung des Torastudiums 2.2.4 Zum Problem des ‚Diasporapharisäismus‘

Die Orientierung der Pharisäer an der Heiligkeit von Eretz Israel lässt den in der Forschung gelegentlich verwendeten Begriff des ‚Diasporapharisäismus‘ als problematisch erscheinen. Dieser wird gelegentlich von Forschern ein‐ geführt, die Paulus als ‚Assimilationsjuden‘ werten80 oder sein Torastudium in Jerusalem für eine lukanische Fiktion halten81, und er dient dazu, diese Thesen mit dem Selbstzeugnis des Paulus als Pharisäer zu verbinden. Faktisch gibt es jedoch weder einen sicheren Beleg für in der Diaspora ansässige Pharisäer noch gar „für die Existenz pharisäischer Schulen außerhalb Palästinas“ vor dem Jahr 70 82. Die oft angeführten Hinweise auf Reisen von palästinischen Schriftge‐ lehrten in die Diaspora (z. B. Mt 23,15) zeigen, dass diese dort nicht dauerhaft ansässig waren, und die Pharisäer, die vor Alexander Jannai außer Landes geflohen waren (Jos. Bell. I,98), kehrten schnellstmöglich ins Mutterland zurück, denn in der Fremde drohte ihnen stets rituelle Unreinheit. Lehrhäu‐ ser außerhalb Palästinas entstanden erst in Folge der Katastrophen der Jahre 70 und 132–135. Für die frühere Zeit ist signifikant, dass der zum

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So Hengel/Deines, Der vorchristliche Paulus, 120–122; vgl. G. Stemberger, Die Bedeutung des ‚Landes Israel‘ in der rabbinischen Tradition, in: ders., Studien zum rabbinischen Judentum (SBAB 10), Stuttgart 1990, 321–356 (324 ff.). So u. a. Schoeps, Paulus (Anm. 26), 166. Vgl. Becker, Paulus (Anm. 3), 42 ff.; K. Berger, Jesus als Pharisäer und frühe Christen als Pharisäer, NT 30 (1988), 231–262 (254–261). Ohne den Aufenthalt in Jerusalem abzulehnen, spricht auch U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003, 49 ff., vom „Diasporapharisäer“. Dagegen Niebuhr, Heidenapostel, 55; Hengel/Deines, Der vorchristliche Paulus, 116–123. Hengel/Deines, Der vorchristliche Paulus, 122 f., auch Stemberger, Pharisäer (Anm. 56), 112.

Das Judentum des Paulus

jüdischen Glauben bekehrte König Izates von Adiabene fünf seiner Söhne nach Jerusalem sandte, um sie im Hebräischen und in der Tora erziehen zu lassen (Jos. Ant. XX,71). Dies bestätigt die für Paulus anzunehmende Situation. Eine Ausbildung zum pharisäischen Schriftgelehrten konnte er nur im Mutterland erhalten. 3 Die jüdische Prägung des Paulus und seine Auseinandersetzung mit den Merkmalen jüdischer Identität

Als Pharisäer stand Paulus nicht am Rand des Judentums seiner Zeit, sondern in einer Bewegung, die jüdisches Leben und jüdische Identität zu fördern und darin der göttlichen Erwählung zu entsprechen versuchte. Die jüdische Identität des Paulus und speziell seine pharisäische Prägung haben im Wirken und der Theologie des Apostels bleibende Spuren hinterlassen. Dem Pharisäer war das Studium des „Gesetzes“ sowie das Eintreten für seine praktische Umsetzung (Phil 3,5) ein Kernanliegen. So ist es nur verständlich, dass er die Probleme von Gesetz und Gerechtigkeit grundsätz‐ licher reflektierte als alle anderen frühchristlichen Autoren. Diese Reflexion gründet nicht erst in den Konflikten seiner Spätzeit, vielmehr muss sie, auch wenn die sprachliche Ausgestaltung seiner Sicht erst später greifbar ist, sein Denken und Wirken seit seiner Berufung bzw. seit den frühen Missionserfah‐ rungen bestimmt haben. Zum pharisäischen Erbe des Paulus gehört auch die spezifische Form des Glaubens an die Auferweckung der Toten 83. Diese apokalyptische Hoffnung wurde in Palästina durch die makkabäische Krise (Dan 12,2f.; 2 Makk 7) und die pharisäische Bewegung popularisiert, hingegen traten in der Diaspora kosmische Erwartungen gegenüber einem individuellen Jenseitsglauben eher zurück84. Die formelhafte Rede vom „Gott, der die Toten lebendig macht“ (Röm 4,17), klingt an die 2. Benediktion des 18-Bitten-Gebets an, und das Bekenntnis zu Gott, „der Jesus von den Toten auferweckt hat“ (Röm 4,24; 8,11) konkretisiert diese Aussage im Blick auf Jesus85. Wenn Paulus Christi Auferweckung als Anfang der allgemeinen Auferweckung versteht (1 Kor 15,20), setzt dies die apokalyptisch-kollektive Vorstellung voraus. Gegen 83 84 85

Haacker, Brief (Anm. 16), 108. Eine Ausnahme bildet 2 Makk. Die Rede von der Auferstehung wird gemieden in 4 Makk, sie tritt ebenfalls zurück in Sap, bei Philo und in JosAs. S. dazu Hengel, Das Begräbnis Jesu bei Paulus, 150–172. Haacker, Paulus, 69.

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die aus griechischem Denken zu begreifende Leugnung der Auferstehung (1 Kor 15,12) will Paulus in 1 Kor 15,35–49 die andersartige Leiblichkeit des Lebens der Auferstehung verständlich machen. Eine Trennung von Seele und Leib bzw. von geistigem und materiellem Teil des Menschen wäre für ihn kaum denkbar gewesen86. Dies spricht auch dafür, dass er die Auferweckung des ‚begrabenen‘ Jesus (vgl. die Formel in 1 Kor 15,3) nicht anders als leiblich verstehen konnte. Die darin erkennbare ganzheitliche Anthropologie, derzufolge der Mensch nicht nur einen Leib hat, sondern Leib ist,87 verdankt sich nicht nur allgemein biblischem, sondern wohl konkreter palästinisch-jüdischem Erbe. Insbesondere die paulinische Rede vom „Fleisch“, das als eine Macht dem „Geist“ entgegensteht und mit Sünde verbunden ist, lässt sich nicht aus dem hellenistischen Judentum (Philo, Weisheit), sondern nur aus Texten des palästinischen Judentums (1Q/4QInstruction, 1Q/4QMysteries, Hodajot, 1QS XI 9-14) verstehen.88 Spuren der jüdischen Identität des Apostels zeigen sich an vielen weiteren Aspekten seiner Frömmigkeit, Missionsstrategie, Argumentation und Theolo‐ gie. Diese können hier nur ganz eklektisch und stichwortartig erwähnt werden:89 das Selbstverständnis als Heidenapostel und die jüdische Einteilung der Welt in Juden und Heiden bzw. Juden und Griechen sowie die Praxis, „zuerst den Juden, dann den Griechen“ (Röm 1,16) zu verkündigen, – die grundlegende Berufung auf die Schrift Israels für den Inhalt des Christusevangeliums und insbesondere dafür, dass dieses Evangelium auch den Heiden gilt (Röm 15,14–21 u. ö.), – die Schilderung seiner Berufung in Anlehnung an Prophetenberufungen (Gal 1,15f.) und sein Selbstverständnis als des eschatologischen Freuden‐



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Vgl. Hengel, Das Begräbnis Jesu bei Paulus, 149. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (UTB 630), Tübingen 91984, 195; zu den anthropologischen Begriffen im AT H.W. Wolff, Anthropologie des Alten Testa‐ ments (KT 91), München 61984, 21 ff.; B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2003, bes. 44; u. Paulus s. U. Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie (BThS 18), Neukirchen-Vluyn 1991, 44 ff.; ders., Paulus, 565ff. Dazu J. Frey, Die paulinische Antithese von „Fleisch“ und „Geist“ und die palästi‐ nisch-jüdische Weisheitstradition, ZNW 90 (1999), 45–77. Dazu ausführlicher J. Frey, Die religiöse Prägung. Weisheit, Apokalyptik, Schriftausle‐ gung, in: F.W. Horn (Hg.), Paulus-Handbuch, Tübingen 2013, 59-66.

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boten (Jes 52,7), der das verheißene universale Heil unter den Völkern proklamiert, die Übernahme von Formen und Termini der jüdischen Religionspropa‐ ganda für die Heidenmission (Abkehr von den Götzen, Hinkehr zum lebendigen Gott; vgl. 1 Thess 1,9f.) sowie die schroff negative Bewertung der paganen Kulte, die Rezeption eschatologisch-geographischer Konzeptionen, nach denen der Zion nicht nur Ausgangspunkt der Heilsbotschaft (Röm 15,19), sondern auch eschatologischer Zielpunkt ist (Röm 11,26f.) und die auf der (palästinisch-)frühjüdischen Rezeption der Völkertafel (Gen 10) basieren90, die Aufnahme der im zeitgenössischen Judentum belegten Praxis ge‐ meindeleitender Briefe (u. a.)91 sowie einzelne Elemente des Briefformu‐ lars, vor allem das „orientalische“ Präskript und die salutatio mit der vom jüdischen Friedensgruß inspirierten Wendung χάρις καὶ εἰρήνη (vgl. 2 Bar 78,2), die Rezeption vielfältiger Voraussetzungen und Methoden der jüdischen Schriftauslegung der Zeit, (Qal wa-chomer in Röm 5,9f. u. ö.; Gezera schawa in Röm 4,1–12 u. ö.; Midrasch-Exegese in Gal 3,6–14 und Röm 4; Typologie in 1 Kor 10,1–13; Allegorie in Gal 4,21–31),92 die eigenständige Rezeption vielfältiger apokalyptischer Traditionen und Denkformen (Parusie; Tag des Herrn; zwei Äonen; Zuordnung von Christusreich und Gottesreich in 1 Kor 15,23–28; Auferstehung und Gericht; neue Schöpfung) sowie ein Zeitverständnis, das die Parusie zu Lebzeiten erwartete (1 Thess 4,17; 1 Kor 15,52f.), die Aufnahme palästinisch-jüdischer Diskurse, die sich in signifikanten sprachlichen Parallelen aus der Bibliothek von Qumran (z. B. zu „Gerech‐ tigkeit Gottes“ in 1QS X 25; XI 12; 1QM IV 6; zu ἔργα νόμου in 4QMMT C 2793, oder zur Verbindung von „Fleisch“ und Sünde in 1QS

Vgl. dazu J.M. Scott, Paul and the Nations (WUNT 84), Tübingen 1995, 136ff. 2 Makk 1,1–9; 2 Makk 1,10–21,18 etc.; s. dazu I. Taatz, Frühjüdische Briefe. Die paulinischen Briefe im Rahmen der offiziellen religiösen Briefe des Frühjudentums (NTOA 16), Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1991. Dazu Frey, Die religiöse Prägung: (Anm. 89), 63-65. S. dazu u. Abschnitt 4, sowie J. Frey, Contextualizing Paul’s “Works of the Law”: MMT in New Testament Scholarship, in: ders., Qumran, Early Judaism, and New Testament Interpretation. Kleine Schriften 3, ed. J.N. Cerone, WUNT 484, Tübingen 2019, 743–762.

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XI 9–14, den Hodajot und den palästinisch-jüdischen Weisheitstexten 1Q/4QInstruction und 1Q/4QMysteries) erkennen lässt.94 Die jüdische Identität des Paulus zeigt sich auch in der spezifischen Weise seiner Auseinandersetzung mit den herausragenden Merkmalen jüdischer Identität, der Beschneidung und der Tora95. Auch in seiner sog. ‚Torakritik‘ greift Paulus nicht zu ‚paganen‘ oder aufklärerischen Argumenten, sondern appliziert Motive der innerjüdischen Diskussion um die Tora auf die Situa‐ tion der christlichen Gemeinden und die dort aufgebrochenen Fragen. 3.1 Die Beschneidung

Die Beschneidung 96 war seit dem Exil und verstärkt seit der Krise unter An‐ tiochus IV. Epiphanes für Männer das physische und bleibende Kennzeichen jüdischer Identität. Griechen und Römern erschien sie als Makel. So wurde sie im Römischen Reich „zur exklusiven nota Iudaica“97, auf die man auch in der Diaspora nicht verzichtete.98 Männliche Konvertiten wurden durch die‐ sen Akt zu Juden, und damit willigte ein Proselyt zugleich in die Übernahme der ganzen Tora ein, während unbeschnittene ‚Gottesfürchtige‘ diese nur partiell (Meidung von Götzendienst, ethisches Verhalten), soweit möglich, zu beachten hatten, aber den sozialen Einschränkungen (Mahlgemeinschaft, Geschäfts- und Heiratsbeziehungen) nicht unterlagen. Wenn die urchristliche Verkündigung, als sie geborene Heiden erreichte, die Beschneidung an diesen unterließ99 (vgl. Apg 10,1–11,18) und wohl erst später reflektiert eine beschneidungsfreie Heidenmission praktizierte, bot dies 94

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S. weiter J. Frey, Paul in Light of the Dead Sea Scrolls, in: F. Abel (Ed.), The Message of Paul the Apostle within Second Temple Judaism, Lanham 2020, 89-108; ders., Paul’s View of the Spirit in Light of Qumran, in: ders., Qumran, Early Judaism, and New Testament Interpretation, 677-700. Weitere Merkmale jüdischer Identität waren der Sabbat und (in der Diaspora) die Tempelsteuer. S. ausführlich A. Blaschke, Beschneidung (TANZ 28), Tübingen/Basel 1998; dort zu Paulus: 361–425. Blaschke, Beschneidung (Anm. 96), 360. Auch Philo besteht auf ihrer Durchführung bei Juden (Migr 89–94) und Proselyten (QuaestEx 2,2). Nachlässigkeit gegenüber der Beschneidung gibt es nur in der Makka‐ bäerzeit und dann bei radikalen Allegoristen in Alexandrien, gegen die Philo in Migr 89–94 argumentiert (Blaschke, Beschneidung [Anm. 96], 210–214). Vgl. F.W. Horn, Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum, NTS 42 (1996), 479–505. Vermutlich kam die Praxis relativ früh auf; man konnte Glaubende aus den Heiden wie Gottesfürchtige ansehen. Die Praxis bedurfte jedoch spätestens dann weiterer Reflexion, als die Zahl der Heidenchristen wuchs.

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ein großes Konfliktpotential: Diese Praxis bescherte der christlichen Mission große Erfolge und rief den (verständlichen) Neid der örtlichen Synagogen hervor. Sie bot auch Sprengstoff für die Gemeinschaft beschnittener und unbeschnittener Jesusnachfolger, sofern sich die Beschnittenen weiter an Reinheits- und Speisegebote der Tora gebunden sahen und Unbeschnittene die damit gestellten Anforderungen nicht oder nur partiell erfüllten. Vor allem die Jerusalemer Urgemeinde kam durch die Kontakte mit Unbeschnit‐ tenen unter enormen Loyalitätsdruck, der durch die angespannte politische Lage in Judäa in der Zeit unter den Prokuratoren der 50er Jahre noch verschärft wurde. Die Agitation der ‚judaistischen‘ Gegner der von der antiochenischen Gemeinde vertretenen und von Paulus weitergeführten Praxis (Apg 15,1.5; Gal 2,3; 5,2.11f.; 6,12–15) zielte auf die Übernahme der Beschneidung, weil mit ihr auch eine Verpflichtung auf die übrigen Toragebote gegeben wäre. Im Gal setzt Paulus dieser Agitation konsequenterweise eine Argumentation hinsichtlich der Bedeutung und Funktion des Gesetzes entgegen.100 Vorauszusetzen ist, dass Paulus, der sich selbst als Jude ansah (Gal 2,15), gemäß der Tradition beschnitten war (Phil 3,5) und die Beschneidungspraxis bei Juden akzeptierte (Apg 16,3)101, ebenso die Verkündigung der Christus‐ botschaft an Juden (Gal 2,7) in einer Form, in der die Praxis der Beschneidung und die Toraobservanz beibehalten wurden. Heilsgeschichtlich erkennt Paulus an, dass die Beschneidung für Juden ein Zeichen der Zuwendung Gottes ist (Röm 3,2; 9,4f.). Das geschichtliche Prae ist aber kein soteriologisches Plus: In Bezug auf das Heil (bzw. das Gericht) nützt die Beschneidung nur bei Befolgung der Tora (Röm 2,25), die alleiniges Kriterium der endgerichtlichen Beurteilung ist.102 Aber angesichts des faktischen Sünderseins aller nützt die Beschneidung nichts (Röm 3,9ff.). Sie ist kein quasi-sakramentales Zeichen der Heilsteilhabe, kein Grund einer

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Vgl. Blaschke, Beschneidung (Anm. 96), 364. Zur Historizität der Beschneidung des Timotheus s. Blaschke, Beschneidung (Anm. 96), 460–463. Der Akt entspricht der Maxime von 1 Kor 9,20 „den Juden ein Jude“. Dass Paulus Judenchristen von der Beschneidung ihrer Kinder abgeraten hätte (so das Gerücht Apg 21,21; vgl. Barn 9,4), ist unwahrscheinlich (ebd., 420 f.). Umgekehrt wird der Unbeschnittene im Falle der Gesetzeserfüllung zum (übertragen) Beschnittenen (2,26f.).

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Erwählungs-‚Sicherheit‘, kein Anlass zum ‚Rühmen‘ (Röm 2,17). Sie hat kei‐ nen soteriologischen Eigenwert mehr, sondern ist entscheidend relativiert.103 Aufgrund des neuschaffenden Handelns Gottes in Christus ist Un-/ Beschnittensein nicht mehr soteriologisch relevant (Gal 5,6; 6,15). Eine Veränderung des damit gegebenen ‚Standes‘ durch Beschneidung oder Wiederherstellung der Vorhaut (‚Epispasmos‘) nach dem Christwerden ist überflüssig (1 Kor 7,17–19). Eine nachträgliche Beschneidung wäre zugleich eine Leugnung der Suffizienz des Glaubens bzw. des Heilswerks Christi (Gal 5,2), die den Heilsverlust zur Folge hätte (Gal 5,4). Den Vertretern der Forderung einer ergänzenden Beschneidung der Heidenchristen tritt Paulus daher in sarkastischer Polemik entgegen: Er bezeichnet sie als „Hunde“, „böse Arbeiter“ und „Zerschneidung“ (κατατομή), sie sollen sich besser gleich ‚zerschneiden‘ (d. h. kastrieren) lassen (Gal 5,12).104 Für die soteriologische Wertlosigkeit der Beschneidung führt Paulus autobiographisch sein eigenes Beispiel an (Phil 3,4ff.). Hingegen behauptet er für Juden- und Heidenchristen ein Beschnittensein im übertragenen Sinne (Röm 2,28–30; Phil 3,3). Dieses ist – – – –

nicht äußerlich sichtbar (ἐν τῷ φανερῷ), sondern im Verborgenen (ἐν τῷ κρυπτῷ), nicht am Fleisch (ἐν σαρκί), sondern eine Beschneidung des Herzens (περιτομὴ καρδίας), nicht im Buchstaben (ἐν γράμματι), sondern im Geist (ἐν πνεύματι), nicht zum Lob von Menschen, sondern (zum Lob) von Gott.

Diese Rede von der Beschneidung des Herzens (Röm 2,29) greift auf zahlreiche biblische und frühjüdische Parallelen zurück.105 Durch sie wird neu definiert, wer wirklich „Jude“ (Röm 2,28) bzw. „Israel Gottes“ (Gal 6,16) ist. Die äußerliche Beschneidung trägt dazu nichts bei. Die soteriologische Wertlosigkeit der Beschneidung wird zudem schrift‐ theologisch begründet am Beispiel Abrahams (Röm 4). Dessen Beschneidung (Gen 17) ist erst nach der Zusage der Gerechtigkeit an den Glaubenden (Gen 15,6) erfolgt. Sie ist nachträglich „Siegel der Glaubensgerechtigkeit“

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Im Horizont des Sünderseins aller (Röm 2–3) ist der soteriologische Nutzen der Beschneidung faktisch negiert (s. Blaschke, Beschneidung [Anm. 96], 414). Im Röm fehlt dieser polemische Tonfall, weil in Rom offenbar niemand die Beschnei‐ dung der Heiden forderte. Vgl. Ez 44,7.9; Jer 9,24f.; weiter Philo, Quaest Ex 2,2; Quaest Gen 3,46 u.ö.

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(Röm 4,11), die dem Unbeschnittenen zuteilwurde (Röm 4,10). So bestätigt die Schrift letztlich die Rechtfertigung ohne Werke (konkret: Beschneidung). Die für zeitgenössische Juden gewiss anstößige Relativierung des Iden‐ titätsmerkmals Beschneidung erfolgt argumentativ im Rahmen jüdischer Fragestellungen und Traditionen: Paulus setzt im Konsens des Judentums seiner Zeit106 die enge Verbin‐ dung von Tora und Beschneidung voraus: Die Beschneidung ist nicht nur eine ‚Ergänzung‘, sondern verpflichtet Juden wie Proselyten prinzipiell auf die Einhaltung der ganzen Tora (Gal 5,3).107 – Ein Element jüdischer Argumentation ist auch die halakhische Unter‐ scheidung zwischen Juden und Heiden: Das Gesetz gilt nicht allen gleich: Nur Juden (und Proselyten) sind verpflichtet, die Tora zu halten; Unbeschnittene nicht. Diese Unterscheidung setzt Paulus in Gal 5,1f. voraus.108 – Die Frage der Heilsteilhabe der Heiden(christen) nimmt implizit Dis‐ kurse auf, die auch das Diasporajudentum zu lösen hatte: Auch dort stellte sich die Frage, wie Heiden zum Gottesvolk gehören konnten. Inakzep‐ tabel ist für Paulus das ‚Gottesfürchtigen-Modell‘ einer ‚Mitgliedschaft zweiter Ordnung‘. Vielmehr sollen Heidenchristen (wie in der Synagoge die Proselyten) uneingeschränkt an der Gemeinde teilhaben. Wenn dies aber ohne Beschneidung und Verpflichtung auf die Tora möglich sein soll, dann liegt eine Neubestimmung der ‚Zugangsbedingungen‘ vor109. Diese ist bei Paulus soteriologisch (stellvertretender Tod Jesu), pneumatologisch (Manifestation des Geistes an Unbeschnittenen) und exegetisch (die Verheißung kam vor dem Gesetz; Abrahamskindschaft der Glaubenden) begründet.110 –

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Vgl. Jos. Ant. XIII,257f.318f.; XX,139. Dies hatten die ‚judaistischen‘ Agitatoren wohl im Blick, wenn sie, um die Probleme der ‚gemischten‘ Gemeinden zu lösen, heidenchristliche Konvertiten durch Beschneidung zu Proselyten machen und auf die Tora verpflichten wollten (Apg 15,5). Paulus führt im Gal die Konsequenzen dieses Schrittes radikal vor Augen. Vgl. P.J. Tomson, Paul and the Jewish Law, 261. Vgl. T.L. Donaldson, Paul and the Gentiles, Minneapolis 1997, 215–248. S. dazu Blaschke, Beschneidung (Anm. 96), 395.

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3.2 Das Gesetz und die Frage nach dem Grund der paulinischen Gesetzeskritik

Mit der Beschneidungsproblematik sind zentrale Fragen des Toraverständ‐ nisses verbunden: Die Tora (‫ = תורה‬Weisung), griech. meist νόμος (Gesetz),111 war für alle jüdischen Gruppen (nicht nur für die Pharisäer!) von zentraler Bedeutung. Dies gilt für Palästina verstärkt seit der makkabäischen Krise, aber auch in der Diaspora war ‚Mose‘ die Autorität. Die Tora konstituierte insofern jüdische Identität, obwohl ihre Auslegung und Praxis (und damit die ‚richtige‘ Interpretation des jüdischen Lebens) zwischen einzelnen Grup‐ pen heftig umstritten war (s. 2.2.2). Ihre werbend-lehrhafte Vermittlung an das Volk und ihre Verteidigung gegen ihre Gegner waren zentrale pharisäi‐ sche Anliegen, für die der ‚vorchristliche‘ Paulus eingetreten war.112 Aber auch mit der Frage, wie die Tora richtig zu interpretieren sei, mit dem Ringen um ihr Verständnis und ihren Stellenwert angesichts des Christusgesche‐ hens bewegt er sich im Rahmen der jüdischen Diskussionen seiner Zeit.113 a)

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Einige Aspekte des zeitgenössischen jüdischen Toraverständnisses sind hervorzuheben:114 – Für zeitgenössisch-jüdisches, zumal pharisäisches Denken ist die Tora natürlich von Gott. Sie ist Kundgabe seines heiligen Willens und zugleich Gottes Gabe an Israel, durch die dieses Volk vor allen Völkern ausgezeichnet ist. Sie zeugt von Gottes erwählender Liebe zu Israel. – Die am Sinai geoffenbarte Tora ist zugleich die mit der präexistenten Weisheit identische, vor der Erschaffung der Welt von Gott geschaf‐

Literatur zur Tora im antiken Judentum: Schürer u. a., History 2 (Anm. 75), 464 ff.; M. Limbeck, Die Ordnung des Heils, Düsseldorf 1971; E.P. Sanders, Jewish Law from Jesus to the Mishnah, London/Philadelphia 1990; ders., Judaism (Anm. 60); F. Avemarie, Tora und Leben. Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur (TSAJ 55), Tübingen 1996; H. Lichtenberger, Das Tora-Verständnis im Juden‐ tum zur Zeit des Paulus. Eine Skizze, in: J.D.G. Dunn (Ed.), Paul and the Mosaic Law (WUNT 89), Tübingen 1996, 7–24. Damit gehörte Paulus zu der wohl einflussreichsten Gruppe des (palästinischen) Judentums seiner Zeit (s. Deines, Pharisees [Anm. 67], 503 f.). Die Annahme, dass er das Judentum grob missverstanden hätte, ist daher eine abwegige Unterstellung. Nicht zuletzt die eigene frühere Praxis musste Paulus lebhaft vor Augen stehen. Dies betont mit Recht der jüdische Religionshistoriker A.F. Segal, Paul’s Jewish Presup‐ positions, 161. S. die Zusammenfassung bei Stuhlmacher, Biblische Theologie 1 (Anm. 9), 257–261.

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fene Weltordnung, der präexistente ‚Bauplan‘ der Schöpfung.115 Aufgrund ihrer Präexistenz konnten bereits die Erzväter die Gebote der Mosetora halten116, und schon Gottes erstes Wort an den Menschen (Gen 2,15–17) wurde mit der Tora identifiziert.117 – Die Tora ist Israel zum Leben gegeben. Sie soll sein Leben vor Gott erhalten und regeln.118 – Die Tora ist der Maßstab des Endgerichts für Israel und die Völker119. Ihre Einhaltung ist gerichtsrelevant. Insofern hat die Tora auch Bestand bis zum Ende der Welt. Umgekehrt bleibt die Gerechtigkeit im Frühjudentum „durchgehend auf die Tora bezogen“.120 – Die Tora mit ihren Einzelgeboten gilt grundsätzlich als praktikabel und erfüllbar.121 Trotz der menschlichen Schwachheit und Sünde (um deretwillen die ‚Umkehr‘ und der Sühnekult von Gott als Heilsgaben gegeben sind), ist das Judentum (mit Ausnahme der Essener bzw. der Qumrangemeinde) davon überzeugt, dass jeder Mensch das Gute erwählen und die Gebote halten kann. Paulus bezieht sich an vielen Punkten auf dieses Verständnis der Tora und setzt es für sich selbst bzw. seine Gesprächspartner voraus122 – freilich erfolgen signifikante Modifikationen: – Auch für Paulus ist die Tora der geoffenbarte Wille Gottes (Röm 2,17f.), Gottes Wort (vgl. Röm 3,2) und seine Gabe (Röm 9,4), die Israel vor allen Völkern auszeichnet. Sie ist „heilig …, gerecht Zu dieser ‚Toraontologie‘ s. Hengel, Judentum und Hellenismus (Anm. 27), 311 ff.; zur Präexistenz der Tora G. Schimanowski, Weisheit und Messias (WUNT II/17), Tübingen 1985, 69ff.216ff. Vgl. Sir 44,19–21; Jub 6,11–14; 21,1–25; 2 Bar 57,2. Vgl. die Targumim (Neofiti I und Jerushalmi I) zu Gen 2,15; auch Jos. Ant. I,41–47; Philo, LegAll I,90ff.; 4 Esra 3,7; 7,11 u. a. S. zum Paradiesgebot an Adam ausführlich H. Lichtenberger, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit (WUNT 164), Tübingen 2004, 203–241. Sir 17,11 nennt sie νόμος ζωῆς. PsSal 14,2 spricht vom Gesetz, „das Gott uns zum Leben geboten hat“, vgl. noch 2 Bar 38,2. Vgl. 4 Esra 7,37.70–73; 2 Bar 48,27.38–40.46f. Nach 4QMMT C 31 sollen diese Werke der Tora „zur Gerechtigkeit angerechnet werden“. So K.-W. Niebuhr, Die paulinische Rechtfertigungslehre in der gegenwärtigen exegeti‐ schen Diskussion, in: T. Söding (Hg.), Worum geht es in der Rechtfertigungslehre? (QD 180), Freiburg 1999, 106–130, 123. Vgl. Sir 15,15; PsSal 9,4–7; 4 Esra 8,56–61; mAvot III,15. Vgl. auch die vorchristliche Selbstsicht des Paulus in Phil 3,6f., weiter Röm 2,17–20. Der Apostel denkt hier allerdings anders, s. Röm 7,15ff. S. dazu Stuhlmacher, Biblische Theologie 1 (Anm. 9), 257–261.

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und gut“ (Röm 7,12). Paulus kann sie – in einer analogielosen Wendung123 – sogar „geistlich“ (πνευματικός) nennen (Röm 7,14). Auch Paulus kann die Tora mit der Weltordnung verbinden, die in der Schöpfung (Röm 1,20) und im Gewissen der Heiden (Röm 2,14f.) ihren Niederschlag gefunden hat, er kennt und benutzt auch die Tradition, dass Adam im Paradies dem Toragebot begegnet ist (Röm 7,7–11). Auch für Paulus ist die Tora Maßstab des Endgerichts (Röm 2,6ff.12f.; Gal 5,19–23). Die Frage nach ihrer richtigen Interpretation und Erfüllung stellt sich für ihn in forensischem und apokalypti‐ schem Horizont.124 Auch Paulus setzt die Auffassung voraus, dass die Tora zum Leben gegeben war (Röm 7,10). Doch kann er diese Aussage im Horizont des Christusgeschehens nicht ungeteilt übernehmen. Der positiven Intention – die er nicht bestreitet – steht eine andere Wirkung entgegen: Faktisch hat das Gesetz den Tod gebracht (Röm 7,10). Ein zum Leben wirksames Gesetz gibt es nicht (Gal 3,21). Diesbezüglich ist das Gesetz „unfähig“ (Röm 8,2f.). Auch die restlose Erfüllbarkeit der Tora hatte Paulus vor seiner Lebenswende vorausgesetzt. Doch sind solche Vorzüge angesichts seiner Christuserkenntnis wertlos (Phil 3,7ff.). Mehr noch: Faktisch erfüllt keiner das Gesetz wirklich, alle Menschen – Juden wie Heiden – sind Sünder (Röm 3,9ff.23), und selbst der Wille zum Guten führt unter der Macht der Sünde zum Gegenteil (Röm 7,14ff.).

Mit dieser ‚pessimistischen‘ Anthropologie unterscheidet sich Paulus von den meisten zeitgenössisch-jüdischen Positionen. Das heißt freilich nicht, dass diese Position ‚unjüdisch‘ sei: Einige Aussagen aus Qumran125 kommen Paulus im Wissen um die grundlegende Verkehrtheit des Menschen sehr nahe. Sie stehen dort neben dem Bekenntnis zur göttlichen Gnade, die dem Beter u. a. in dem richtigen Verständnis der Tora zuteil wurde. Hier zeigen sich im Detail Analogien und signifikante Differenzen zu Paulus. 123 124 125

So Lichtenberger, Ich Adams (Anm. 117), 139–142. Dies betont mit Recht Stuhlmacher, Biblische Theologie 1 (Anm. 9), 262f. 1QS XI 9 f; 1QM IV 4; XII 12; 1QHa V 30 f. (= XIII 13 f. alte Zählung); vgl. J. Frey, Die paulinische Antithese von „Fleisch“ und „Geist“ und die palästinisch-jüdische Weisheitstradition, ZNW 90 (1999), 45–77; J. Becker, Das Heil Gottes (StUNT 3), Göttingen 1964, 111f.248.

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Die paulinischen Aussagen lassen sich nur auf dem Hintergrund seiner pharisäischen Prägung verstehen.126 Hinzu kommt das Grunddatum der Erfahrung seiner Lebenswende und damit seine neu in der Begegnung mit Christus gewonnene Erkenntnis.127 Zwar stellten sich einzelne Fragen (wie die der Beschneidung von heidnischen Konvertiten) erst im Zuge der Mission, und Konflikte (Apostelkonvent, antiochenischer Zwischenfall, Galatien-Krise) veranlassten Paulus zur Zuspitzung einzelner Argumente, doch ist anzunehmen, dass der gewendete Pharisäer, der sehr bald als eigenständiger Verkündiger der Heilsbotschaft wirkte, seine Sicht des Verhältnisses der Tora zu Christus und damit der Tragweite der Tora schon früh nach ‚Damaskus‘ grundsätzlich bedacht hat. Eine historisch und sachlich angemessene Deutung muss die Situationsbezogenheit der Aussagen beachten und die Grundsätzlichkeit der Reflexion auf dem Hintergrund der Christuserfahrung in Rechnung stellen. c)

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Freilich bestehen z.T. unaufgelöste Spannungen in den paulinischen Gesetzesaussagen:128 – Herkunft: Natürlich setzt Paulus voraus, dass die Tora von Gott kommt (Röm 7,22; 8,7). Dennoch spricht er in Gal 3,19f. davon, die Ordnung sei von Engeln durch einen Mittler (Mose) gegeben. Auch diese Aussage nimmt jüdische Traditionen auf (Dtn 33,2 LXX; Jub 1,27–29; Philo, Somn I,140–144; vgl. Apg 7,53), die freilich ursprünglich nicht pejorativ gemeint sind. – Funktion: Röm 7,10 hält Paulus fest, dass das Gebot dem Menschen „zum Leben gegeben war“. In Gal 3,19 stellt er dagegen fest, das Ge‐ setz sei „wegen der Übertretungen“ (zur Verheißung) hinzugegeben worden, zur Erkenntnis (Röm 3,20), ja zur ‚Vermehrung‘ der Sünde (Röm 5,20; vgl. Röm 7,7ff.; 1 Kor 15,56). Darin kommt eine negative

In Gal 1,14 nennt Paulus explizit die „väterlichen Überlieferungen“, d. h. die mündliche Auslegungstradition, die nach pharisäischem und später rabbinischem Verständnis ebenfalls zur Tora gehörte. Vgl. M. Hengel, Die Stellung des Paulus zum Gesetz in den unbekannten Jahren zwischen Damaskus und Antiochien, in: ders., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III (WUNT 141), Tübingen 2002, 213–239; s. auch Stuhlmacher, Biblische Theologie 1 (Anm. 9), 257–261. Ebd. 267: Es ist klar, dass „Paulus vom Gesetz anders spricht und denkt, als er es als Pharisäer getan hat“. Grundlegend ist die Christuserkenntnis, aus der sich auch Konsequenzen für die Sicht der Tora nahe legten. Auf diese hat insbesondere H. Räisänen, Paul and the Law (WUNT 29), Tübingen 21987, hingewiesen.

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Wirkung, in Gal 3,19 sogar eine negative Intention des Gesetzes zur Sprache. Gültigkeitsbereich: Paulus unterscheidet zwischen Juden „unter dem Gesetz“ und Heiden, die „nicht unter dem Gesetz“ (Röm 2,12ff.; 9,20f.) sind: Das Gesetz ist insofern ein Vorzug Israels (Röm 2,14.18; 9,4). Andererseits rechnet er damit, dass auch Heiden das Gesetz erfüllen (Röm 3,27) und dass im Endgericht alle – Juden und Heiden – nach dem Maßstab des Gesetzes beurteilt werden (1 Kor 7,19; vgl. Röm 2,6–10).129 Gültigkeitsdauer: Mehrfach stellt Paulus die zeitliche Begrenztheit des Gesetzes heraus: Es kam erst 430 Jahre nach der Verheißung hinzu (Gal 3,17), und nach Gal 3,25 endet seine ‚aufbewahrende‘ Funktion mit dem Kommen des Glaubens. Gal 4,5 spricht von der Erlösung derer unter dem Gesetz (vgl. Röm 7,1–6; 8,1), die vom Geist Regierten sind „nicht unter dem Gesetz“ (Gal 5,18), und Röm 10,4 meint wohl: „Christus ist des Gesetzes Ende“ (nicht: Ziel). Andererseits bestreitet Paulus explizit, dass er das Gesetz aufheben wolle (Röm 3,31). Zumindest als Maßstab im Endgericht ist es auch für ihn – wie nach jüdischer Überzeugung – bleibend gültig. Erfüllbarkeit: Die Aussagen über die Universalität der Sünde (Röm 1,18–3,20) und Röm 7 behaupten zwar keine Unerfüllbarkeit, aber doch eine faktische Nichterfüllung des Gesetzes. Andererseits rech‐ net Röm 2,14f. mit einer (teilweisen oder nur hypothetischen?) Erfüllung durch Heiden. V.a. aber sprechen einzelne Stellen davon, dass an Christus Glaubende nun in neuer Weise im Geist die Rechtsforderung der Tora erfüllen (Gal 5,14ff.; Röm 8,4; Röm 13,8– 10). Qualität: Den extrem torakritischen Aussagen (v. a. im Gal), die das Gesetz mit Knechtschaft verbinden, seinen Zweck hinsichtlich der Sünden(-vermehrung) formulieren oder es unter die ‚Weltelemente‘ (Gal 4,3) rechnen, steht die analogielose Spitzenaussage entgegen, dass das Gesetz nicht nur „heilig, … gerecht und gut“ (Röm 7,12), sondern sogar „geistlich“ (Röm 7,14) ist.

Die Frage, inwiefern das Gesetz für Heiden gilt oder Heiden nach dem Gesetz als Gerechte gelten können, stellte sich auch im Judentum. Heiden werden auch durch die Tora gerecht, haben aber nur wenige Gebote zu halten; s. Segal, Paul’s Jewish Presuppositions, 166.

Das Judentum des Paulus

Eine befriedigende Lösung bietet hier weder die Annahme einer bleibenden Inkohärenz der paulinischen Aussagen130 noch die Auflösung der Spannun‐ gen in einer postulierten sachlichen ‚Entwicklung‘ vom Gal zum Röm131. Auch der Verweis auf die rhetorische Intention einzelner Aussagen kann nur einige Spannungen beseitigen (z. B. im Blick auf Gal 3,15–20)132. d)

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Die Kernfrage ist, inwiefern die Tora in Anbetracht des Christusgesche‐ hens noch gültig ist bzw. wie ihre Stellung im Verhältnis zu dem gekreuzigten und auferstandenen Christus zu bestimmen ist. Aufgrund seiner Berufung musste Paulus erkennen, dass der Kreis derer, die Gott als ‚gerecht‘ ansieht, durch Gottes eschatologisches Handeln in Christus neu definiert ist: Beschneidung und Toraobservanz können nicht mehr das Kriterium sein. Er selbst, der gewendete Verfol‐ ger, wurde an der Tora vorbei, d. h. „ohne Gesetz“ von Christus berufen. Dies hat Konsequenzen: – Freilich kommt es nicht zu einer abrogatio legis, etwa in dem Sinne, dass die Tora nicht mehr als Orientierung dienen könne und nur noch das Liebesgebot in Kraft wäre (Röm 13,10).133 Eine Abschaf‐ fung der Tora hat Paulus nie intendiert. Sie wäre ‚paulinischer als Paulus‘, tendenziell marcionitisch. Ihr steht entgegen, dass die Tora nach wie vor getan werden will (Röm 2,13) und als Maßstab im Endgericht Gültigkeit hat. – Noch weniger angemessen erscheint die Gegenthese (die v. a. im Horizont des christlich-jüdischen Dialogs entstand), dass Paulus das jüdische Toraverständnis kaum gebrochen weiterführe, die

So Räisänen, Paul (Anm. 128); dagegen jedoch die gründliche Kritik bei T.E. van Spanje, Inconsistency in Paul (WUNT II/110), Tübingen 1999. Vgl. H. Hübner, Das Gesetz bei Paulus, Göttingen 21982. Zwar ist der polemische Akzent im Gal stärker, aber die Aussagen im Röm sind nicht weniger torakritisch als die im Gal. Zu anderen Entwicklungsthesen (die meist mit einer Spätdatierung des Gal einhergehen) s. den Beitrag zum Gal im vorliegenden Band. Zur rhetorischen Erklärung einiger Spannungen s. L. Thurén, Derhetorizing Paul (WUNT 124), Tübingen 2000, 80–84 u. ö.; s. auch van Spanje, Inconsistency (Anm. 130), 251f. Zu dieser These, die in der protestantischen Forschung gerade in der Bultmann-Schule (G. Bornkamm/G. Klein) vertreten wurde, s. F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments I, Tübingen 2002, 233f.

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Tora also durch den Glauben aufgerichtet werde (Röm 3,31).134 Ihr stehen die torakritischen Aussagen des Paulus deutlich entgegen. – Interessant ist, dass Paulus auch keine Differenzierung innerhalb der Tora vornimmt, etwa zwischen kultischer und ethischer Tora oder zwischen wörtlich zu befolgenden und allegorisch zu verste‐ henden Geboten. Die Tora kommt für ihn letztlich als Ganzheit zur Sprache. Die soteriologischen und anthropologischen Aspekte der paulinischen Ge‐ setzesauffassung können in diesem Zusammenhang nicht mehr zur Darstel‐ lung kommen. Im Blick auf die konkrete Missionspraxis ist die Beobachtung wesentlich, dass Paulus offenbar die Toraobservanz bei Judenchristen ohne weiteres akzeptiert (auch wenn er in seiner eigenen Missionspraxis nach 1 Kor 9,21 für sich selbst von ihr absehen kann); sein Widerspruch setzt erst dort ein, wo die judenchristliche Observanz das volle Heimatrecht der Heidenchristen in der Gemeinde einschränken will. Wie Paulus im Gal (und im ‚antiochenischen Zwischenfall‘ Gal 2,11ff.) das volle Recht der Heidenchristen zur Teilhabe an der Gemeinde (auch ohne die Erfüllung gesetzlicher ‚Minimalforderungen‘) verteidigt, so verteidigt er umgekehrt in Röm 14 f. auch das Recht jüdisch geprägter Christen, durch Fleischverzicht und die Einhaltung des Sabbat ihren angestammten jüdischen Lebensstil auch als Christen beizubehalten. Paulus argumentiert so im Interesse der Liebe und der Einheit der Gemeinde, obwohl er selbst zur Überzeugung gelangt ist, dass dem Reinen alle Speisen rein und alle Tage gleich sind. Die spezifischen Identitätsmerkmale Israels haben somit für Paulus ihre soteriologische und ihre (in einer gemischten Gemeinde trennende) ekklesio‐ logische Bedeutung verloren. Aus jüdischer Sicht bedeutet dies allerdings eine fundamentale Relativierung von Elementen, die der überwiegenden Mehr‐ heit seiner jüdischen Zeitgenossen unaufgebbar erschienen. Der Apostel konnte mit dieser Position Juden und Judenchristen als Apostat erscheinen. Obwohl er sich selbst als „Hebräer von Hebräern“ ansah und obwohl er selbst rastlos für die Einheit von Juden- und Heidenchristen kämpfte, hat er

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Vgl. das Referat der Position von P. von der Osten-Sacken bei Hahn, Theologie I (Anm. 133), 233: „Christus ist ‚Ziel‘ der Tora, der Geist die Kraft der Verwirklichung, der Glaube die Aufrichtung der Tora und die Liebe deren Erfüllung.“

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vielleicht am meisten dazu beigetragen, dass es zur Trennung zwischen der immer mehr heidenchristlichen Kirche und dem Judentum kam.135 4 Zur „neuen Paulusperspektive“136 und weiteren Trends der neueren Forschung

Die Diskussion um Gesetz und Rechtfertigung hat sich in den letzten 30 Jahren in eine Richtung bewegt, die (zuerst durch J.D.G. Dunn 137) als „New Perspective on Paul“ apostrophiert wurde. Dieser von manchen als ‚revolutionär‘ und als ‚Paradigmenwechsel‘ gefeierten ‚neuen‘ Sichtweise (und der schroffen Polemik gegen die ‚alte‘, v. a. deutsche und lutherische Deutung) haben sich zunächst viele angelsächsische Exegeten angeschlos‐ sen,138 so dass im englischsprachigen Raum ein vielstimmiger Chor von ‚neuen‘ und ‚neueren‘ Perspektiven existiert, die sich wesentlich nur in der Ablehnung der ‚alten‘ Sichtweise einig sind. Im deutschsprachigen Raum war die Rezeption eher kritisch und zögerlich.139 Mittlerweile formierte

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W.D. Davies, Paul: From the Jewish Point of View, 730; vgl. J.M.G. Barclay, Paul among Diaspora Jews: Anomaly or Apostate?, JSNT 60 (1995), 89–120. S. dazu die Referate bei Ch. Strecker, Paulus aus einer ‚neuen Perspektive‘. Der Paradigmenwechsel in der jüngeren Paulusforschung, KuI 11 (1996), 3–18; Niebuhr, Rechtfertigungslehre (Anm. 120); K. Haacker, Verdienste und Grenzen der ‚neuen Perspektive‘ der Paulus-Auslegung, in: M. Bachmann (Hg.), Lutherische und neue Paulusperspektive (WUNT 182), Tübingen 2005, 1–16; ausführlich S. Westerholm, Perspectives Old and New on Paul. The ‚Lutheran‘ Paul and His Critics, Grand Rapids/ Cambridge 2004; ders., The ‚New Perspective‘ at Twenty-Five, in: Carson/Seifrid/ O’Brien, Justification (Anm. 60), 1–38. J.D.G. Dunn, The New Perspective on Paul, BJRL 65 (1983), 95–122; auch in: ders., The New Perspective on Paul (WUNT 185), Tübingen 2005, 89–110. Zu nennen sind hier insbesondere noch Nicholas T. Wright, Stanley Stowers, Lloyd Gaston; s. die Aufstellung in Westerholm, ‚New Perspective‘ at Twenty-Five (Anm. 136). S. etwa H. Hübner, Was heißt bei Paulus Werke des Gesetzes?, in: E. Grässer/O. Merk (Hg.), Glaube und Eschatologie, FS W.G. Kümmel, Tübingen 1985, 121–133; E. Lohse, Theologie der Rechtfertigung im kritischen Disput – zu einigen neueren Perspektiven in der Interpretation der Theologie des Apostels Paulus, GGA 249 (1997), 67–81; Hengel/Deines, E.P. Sanders’ ‚Common Judaism‘, 392–479; P. Stuhlmacher, „Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt“, in: F. Avemarie/H. Lichtenberger (Hg.), Auferstehung – Resurrection (WUNT 135), Tübingen 2001, 351–361; ders., Paul’s Doctrine of Justifica‐ tion. A Challenge to the New Perspective. With an Essay by Donald Hagner, Downer’s Grove 2001.

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sich auch im angelsächsischen Raum die Kritik140, und noch ‚neuere‘ For‐ schungstrends haben sich etabliert, so dass die Einsichten und Defizite der ‚New Perspective‘ mit größerer Offenheit diskutiert werden. Auch eine deutsche Paulusauslegung kann heute nicht mehr an diesen Diskursen vorbeigehen. 1. Als (nicht immer fair gezeichnete) „Negativfolie“ dient das klassische, durch Augustin und Luther (oder auch Calvin und Wesley)141 geprägte und im 20. Jh. durch Bultmann 142 vertretene Bild des „lutherischen“ Paulus. 143 Dieses ist geprägt durch ein negatives Bild des Judentums als Gesetzes- und Werk-Religion144, eine negative Anthropologie, nach der der Mensch völlig unfähig ist, nach Werken vor Gott zu bestehen. Rettung kommt daher allein aus Gnade, aus Glauben an Christus, ohne Werke. Im Zentrum steht also die Frage nach dem individuellen Heil. Da in lutherischer Theologie die Rechtfertigungslehre als articulus stantis et cadentis ecclesiae gilt, wurde Paulus zum Kronzeugen dieses Zentral‐ stücks.145 Dies impliziert die Gefahr einer dogmatisch überfrachteten Pauluslektüre, die anachronistisch Fragen späterer Epochen auf den Apostel projiziert. Rudolf Bultmann setzte in seiner lutherisch-existentialen Paulusdeutung anthropologisch bei den Begriffen ein, die die ‚vorgläubige‘ Existenz be‐ schreiben (Leib, Seele, Geist, Herz, Fleisch, Sünde, Tod, Gesetz), um dann die ‚gläubige‘ Existenz unter den Begriffen „Gerechtigkeit“, „Gnade“, „Glaube“ und „Freiheit“ zu entfalten. Glaube ist hier verstanden als ein Wandel im Existenzverständnis von einer sich selbst sichernden und 140

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S. die Diskussion bei Westerholm, Perspectives (Anm. 136); weiter insbesondere S. J. Gathercole, Where is Boasting? Early Jewish Soteriology and Paul’s Response in Romans 1–5, Grand Rapids/Cambridge 2002; sowie die beiden Sammelbände D. Carson/P.T. O’Brien/M. Seifrid (Ed.), Justification and Variegated Nomism I/II (WUNT II/140.181), Tübingen 2001/2004. Im angelsächsischen Raum ist die reformatorische Auslegungstradition weniger durch Luther selbst als durch Calvin sowie dann noch einmal durch den Vater des Methodis‐ mus, John Wesley, verbreitet. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (UTB 630), Tübingen 91984, 187–353. Vgl. Westerholm, Perspectives (Anm. 136), 88–97. Dieses Bild geht auf F. Weber, System der altsynagogalen Theologie, Leipzig 1880 zurück und wurde über Gelehrte wie Wilhelm Bousset, Emil Schürer und Paul Billerbeck an Bultmann und die Späteren vermittelt. Zum Vergleich Luther – Paulus s. Stolle, Luther und Paulus (Anm. 1); ders., Nomos zwischen Tora und Lex, in: Bachmann, Lutherische und Neue Paulusperspektive (Anm. 136), 41–68.

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darin verfehlten hin zu einer geschenkten und verdankten Existenz. Die Sachgemäßheit dieses anthropologischen Paulusverständnisses wurde auch von anderen lutherischen Exegeten (z. B. E. Käsemann) heftig bestritten. Problematisch ist dabei, dass das konkrete Judentum der Zeit des Paulus generalisiert wird: Das Judentum wird zur Chiffre für den (in jeder Religion möglichen) Zug des Menschen, sich durch eigene Aktivität („Werke“) seine Existenz zu sichern. Damit wird es zum Prototyp einer Religion des natürlichen Menschen. 2. Die Kritik der ‚New Perspective on Paul‘ an der reformatorischen und v. a. deutschen, lutherischen Paulusauslegung setzt an verschiedenen Punkten an, v. a. am Heilsindividualismus und am Bild des Judentums, das – schon bei Luther – stark von den Kontroversen des 16. Jh.s überformt ist. – Krister Stendahl: Den ersten Schritt zur Kritik am ‚lutherischen‘ Paulus bildete ein Aufsatz des späteren lutherischen Bischofs von Stockholm, Krister Stendahl.146 Er wies darauf hin, dass „Rechtfer‐ tigung“ bei Paulus nicht auf die Frage der individuellen Heilsan‐ eignung („wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“) enggeführt werden darf. Anders als der junge Luther war der ‚vorchristliche‘ Paulus nicht von Gewissensqualen geplagt.147 Er hatte ein ‚robustes‘ Gewissen und sah sich in seinem Einsatz für Tora und jüdische Tradition als untadelig an. Durch die Eintragung der „westlichen“, von Augustin geprägten Tradition der ‚Gewissenserforschung‘ kam es zu Missdeutungen. Nach Stendahl geht es im paulinischen Recht‐ fertigungs- und Gesetzesverständnis um eine Frage der Mission: Welcher Platz kommt angesichts des Christusereignisses den Hei‐ den im Heilsplan Gottes zu? Die Rechtfertigungslehre ist demnach erst angesichts praktischer Fragen der Mission entstanden.

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K. Stendahl, The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West, HThR 56 (1963), 199–215; auch in: ders., Jews and Gentiles and Other Essays, London 1977, 78–96; dt. Übers. (von W. Stegemann): Der Apostel Paulus und das ‚introspektive‘ Gewissen des Westens, KuI 11 (1996), 19–33. Auch Röm 7 kann dies nicht belegen, da das dort sprechende „Ich“ nicht das individuelle Ich des Paulus ist, sondern exemplarisch das die Menschheit repräsentierende ‚Ich Adams‘. Vgl. W.G. Kümmel, Römer 7 und die Bekehrung des Paulus (1929), in: ders., Römer 7 und das Bild des Menschen im Neuen Testament (ThB 53), München 1974; Lichtenberger, Ich Adams (Anm. 117).

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– Ed P. Sanders: Als ‚Wasserscheide‘ zwischen der ‚alten‘ und der ‚neuen‘ Perspektive gilt das einflussreiche Werk von Sanders „Paul and Palestinian Judaism“148. Polemisch wirkungsvoll hat Sanders das in der älteren, v. a. deutschen Forschung vorliegende negative Bild des Judentums als einer Religion der „Werkgerechtigkeit“ ange‐ griffen. Methodisch praktiziert Sanders einen Vergleich von Religi‐ onsstrukturen, die je durch die Frage nach dem ‚Hineinkommen‘ („getting in“) und dem Darinbleiben („staying in“) zu charakterisie‐ ren sind. Für das Judentum postuliert Sanders (aufgrund der Durchsicht von Texten von ca. 200 v. Chr. bis 200 n. Chr.) eine für alle relevanten jüdischen Gruppen gültige allgemeine Grundstruktur („Common Judaism“), die er als Bundesnomismus („Covenantal Nomism“) be‐ schreibt: In ihr basiere das Hineinkommen auf der Erwählung bzw. dem ‚Bund‘ (und damit auf Gottes Gnade), das Darinbleiben fordere die Beachtung der Tora. Entscheidend ist jedoch, dass die Erwählung der Tora vorgeordnet ist. Nicht das Tun, sondern die Erwählung ist konstitutiv für das Heil. Sanders bestreitet, dass das Gesetz je ‚Heilsweg‘ gewesen sei. So erscheint das antike Judentum zwischen Ben Sira und der Mischna als eine ‚Religion der Gnade‘. Dieses ‚neue‘ Bild hat viel Anklang gefunden, weil es der Exegese eine Möglichkeit bot, sich von traditionellen antijüdischen Klischees abzusetzen. Die von Paulus vertretene Sichtweise ist nach Sanders strukturell dem jüdischen Bundesnomismus analog: Der Eintritt ins Heil erfolge durch Gnade, während das Gericht nach Werken ergehe, die Werke seien also nicht zum Heilserwerb erforderlich, sondern nur zum ‚Darinbleiben‘. Was Paulus am Judentum kritisiere, sei also nicht eine ‚Werkgerechtigkeit‘ (die es nicht gab). Am Judentum ist letztlich nur verkehrt, dass es kein Christentum ist. Von Christus her musste Paulus das Gesetz problematisch werden: Er kam also von der Lösung zum Problem („from solution to plight“), nicht umgekehrt. Denn aufgrund der Überzeugung, dass Heil allein durch den Glau‐ ben an Christus möglich sei, bestreitet Paulus die Heilsmächtigkeit 148

E.P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism; ders., Paul, the Law and the Jewish People, London 1983; ders., Paul, Oxford 1991 (dt.: Paulus. Eine Einführung [RUB 9365], Stuttgart 1995).

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von Israels Erwählung, Bund und Gesetz. Was ihn vom Judentum trennt, ist also seine christozentrische Soteriologie. Diese charakte‐ risiert Sanders als partizipatorische Soteriologie. Ihr Kerngedanke sei nicht die juridische Rechtfertigung, sondern das Sein in Christus, die Partizipation. – James D.G. Dunn, der den Terminus „New Perspcective on Paul“ 149 geprägt hat, nimmt Sanders‘ Einsichten zum jüdischen Bundesno‐ mismus auf, präzisiert aber die paulinische Position: Er versteht das Gesetz (und konkret Beschneidung, Reinheits- bzw. Speisehalakha und Sabbat) in soziologischen Begriffen nicht nur als identity mar‐ kers, sondern auch als boundary markers, als soziale bzw. ethnische Abgrenzungsbestimmungen. Sie dienten dazu, die Sonderstellung Israels unter den Völkern aufrechtzuerhalten. In dem Terminus „Werke des Gesetzes“ (Gal 2,16 etc.) sieht Dunn daher primär die zur Abgrenzung dienenden Bestimmungen, konkret die Reinheits- und Speisegebote. Trifft dies zu, dann kritisiert Paulus an der jüdischen Position also nicht eine ‚Werkgerechtigkeit‘, sondern das Streben nach ethnisch-sozialer Abgrenzung, nicht das ‚selbstgerechte‘ Ver‐ weisen auf ‚Werke‘, sondern den Ruhm der Erwählung Israels in Abgrenzung von den Völkern. Es geht Paulus also um die Univer‐ salität der Heilsbotschaft, um die Überwindung der ethnischen Schranken, konkret um die Frage, wie Heiden zum Gottesvolk gehören können, ohne Juden werden zu müssen. – Eine noch stärker soziologisch orientierte Variante der ‚New Per‐ spective‘ hat Francis B. Watson entwickelt.150 Stärker noch als Dunn weist er darauf hin, dass Paulus zu oft und zu stark im (systematisch-)theologischen Interesse gelesen wurde, wodurch die konkrete soziale Wirklichkeit hinter seinen Briefen verdeckt wurde. Nach Watsons Rekonstruktion hat Paulus die Heidenmis‐ sion begonnen, nachdem die Mission unter Juden misslungen war. Um einem erneuten Misserfolg vorzubeugen, habe Paulus dann 149

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Dunn, New Perspective (Anm. 137). S. jetzt den aktuellen Rückblick: ders., The New Perspective on Paul: whence, what, whither?, in: ders., New Perspective (Anm. 137), 1 ff., sowie die gesammelten Aufsätze ebd.; ders., The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids/Cambridge 1998. F.B. Watson, Paul, Judaism and the Gentiles. A Sociological Approach (MSSNTS 56), Cambridge 1986; jetzt die stark revidierte Neuausgabe: Paul, Judaism and the Gentiles. Beyond the New Perspective, Grand Rapids 2008.

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die Anforderungen für heidnische Konvertiten erleichtert. Gal und Röm seien daher zur Verteidigung der Lebens- und Missionspraxis dieser heidenchristlichen Gemeinden verfasst. Die Rede von den ‚Werken des Gesetzes‘ bezeichne dabei den spezifisch jüdischen Lebensstil im Ganzen, nicht einzelne ‚boundary markers‘. Paulus ziele letztlich auf eine Abtrennung ‚seiner‘ heidenchristlichen Ge‐ meinden vom Judentum, nicht auf eine Integration von Judenund Heidenchristen. Theologisch führt diese Position zu einer Aufwertung der Ethik: Wenn die Entgegensetzung von ‚Glauben‘ und ‚Werken‘ v. a. die Gegenüberstellung von Heiden und Juden im Blick hat, dann kann sie den Sachverhalt nicht aufheben, dass die Orientierung der christlichen Lebensführung in Verantwortung vor dem Evangelium soteriologische Relevanz besitzt.151 – Einer der ersten Vertreter der ‚New Perspective‘ neben J.D.G. Dunn war N.T. Wright,152 der nach zahlreichen Aufsätzen153 eine umfangreiche Summe zu Paulus vorgelegt hat154 und v. a. im an‐ gelsächsischen Evangelikalismus einflussreich ist. Wright setzt anthropologisch voraus, dass Menschen die Welt in ‚Geschichten‘ erfassen, und postuliert ein allen zeitgenössischen Juden gemein‐ sames Grundnarrativ („world view“), das weithin der biblischen Heils- und Bundesgeschichte entspricht.155 Dabei setzt er (wohl zu generalisierend) voraus, Israel habe sich auch im 1. Jh. noch im Exil gesehen und auf dessen Ende durch Gottes Bundestreue gehofft. Dieses sei nach Auffassung des Paulus in Jesu Auferweckung eingetreten. Für den Apostel sei daher das jüdische Grundnarrativ bleibend gültig, wenngleich durch das messianische Christusge‐ 151 152 153 154 155

Watson, Paul (rev. Neuausgabe 2008), 353f. Schon vor Dunn’s programmatischer Vorlesung zur ‚New Perspective‘ hatte Wright die Bedeutung von Sanders herausgestellt: N.T. Wright, The Paul of History and the Apostle of Faith, TynBull 29 (1978), 61-88. N.T. Wright, Pauline Perspectives. Essays on Paul 1978-2013, London 2013. N.T. Wright, Paul and the Faithfulness of God, 2 Bde., London 2013. S. die kritischen Reflexionen in C. Heilig/J.Th. Hewitt/M. Bird (Ed.), God and the Faithfulness of Paul (WUNT II/413), Tübingen 2016. Wright sieht (wie R. Hays, The Faith of Jesus Christ, 2. Aufl. Grand Rapids 2002) hinter den paulinischen Briefen ein implizites Grundnarrativ, doch während dies bei Hays die Jesus-Christus-Geschichte ist, ist es für Wright letztlich die biblische Heils- und Bundesgeschichte. Zur Kritik an diesen impliziten Narrativen s. Ch. Heilig, Paulus als Erzähler? Eine narratologische Perspektive auf die Paulusbriefe (BZNW 237), Berlin/New York 2020, 857-990.

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schehen entscheidend transformiert. Wright betont mithin die heilsgeschichtliche Kontinuität zwischen Sinaibund und Christus‐ geschehen und zugleich das Präsens des Heils in der Partizipation der Glaubenden an Christus.156 Die paulinischen Aussagen über Christi Parusie werden symbolisch, präsentisch und v. a. antiimpe‐ rial (um-)gedeutet.157 Die klassischen Anliegen der New Perspective (von Sanders und Dunn) treten in Wrights Monographie auffällig zurück.158 Deren Kernanliegen will er nun (kaum zu Recht) in dem von ihm (und Hays) entwickelten narrativen Deutungsansatz se‐ hen.159 Hier zeigt sich auch ein Ringen um die Interpretationshoheit im Rahmen der New Perspective. 3. Die vielstimmige Kritik an der New Perspective lässt sich auf verschie‐ dene Punkte konzentrieren: – ‚Common Judaism‘ (s. 2.2.2): So berechtigt und notwendig die Kritik am ‚alten‘ Zerrbild des Judentums ist, basiert Sanders’ Argumenta‐ tion auf einer z.T. einseitigen Auswahl der Quellen und polemischer Rhetorik160. Methodisch führt die Abstraktion auf Grundstrukturen zu einer Einebnung der je spezifischen Differenzen, zu einem vermeintlich einheitlichen Judentum hinter den Texten, das mit der historischen Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmt161. Präzisere Untersuchungen zeigen, dass das Judentum jener Zeit in seiner Zuordnung von Tora und Heil vielfältiger und weniger schematisch war, als Sanders zugesteht.162 156

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Dabei unterstreicht er die Antithese gegen die ‚apokalyptische‘ Paulus-Auslegung (bei J. Louis Martyn und Martinus de Boer), die im Anschluss an Ernst Käsemann (und Karl Barth) v. a. die ‚Bruchlinie‘ zwischen Gott und Welt und das transzendente Einbrechen des Heils betont. Wrights Paulus ist jüdisch, aber nicht apokalyptisch. Zur Kritik an Wrights unzureichendem Verständnis der jüdischen Apokalyptik s. J. Frey, Demythologizing Apocalyptic. On N.T. Wright’s Paul, Apocalyptic Interpretation, and the Constraints of Construction, in: Heilig/Hewitt/Bird (Ed.), God and the Faithfulness of Paul, 489-531. S. die sehr kritische Antwort von J.D.G. Dunn, An Insider’s Perspective on Wright’s Version of the New Perspective in Paul, in: Heilig/Hewitt/Bird et al. (Ed.), God and the Faithfulness of Paul, 347–358. N.T. Wright, Paul and His Recent Interpreters, London 2015; s. dazu Heilig, Paulus als Erzähler?, 896 f. Darauf weisen Hengel/Deines, E.P. Sanders’ ‚Common Judaism‘, 477–479. So die methodologische Kritik bei H.-M. Rieger, Eine Religion der Gnade. Zur „Bundes‐ nomismus“-Theorie von E.P. Sanders, in: F. Avemarie/H. Lichtenberger (Hg.), Bund und Tora (WUNT 92), Tübingen 1996, 129–161 (140–146). S. ausführlich Carson/Seifrid/O’Brien, Justification (Anm. 60).

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‚Bundesnomismus‘ und die Frage nach einer ‚soteriologischen‘ Bedeu‐ tung der Toraerfüllung: Völlig unstrittig erfolgt nach frühjüdischen Texten das Gericht nach Werken. Aus zahlreichen Texten geht hervor, dass die ‚soteriologische‘ Bedeutung der Tora und ihrer Erfüllung höher eingeschätzt wird163: Dass es dabei nicht um das ‚getting in‘, sondern um das ‚staying in‘ geht, ist zweitrangig, wenn es um die endgerichtliche Entscheidung geht. Die jüdischen Texte sind nicht so leicht auf eine Linie zu bringen, wie Sanders dies will, und oft bleibt die Frage nach dem Heil doch auch mit menschlicher Aktivität verbunden. Für die frührabbinischen Texte formuliert Friedrich Avemarie bündig: „Das Vergeltungsprinzip gilt ungebro‐ chen; nirgends wird in Zweifel gezogen, dass die Gebotserfüllung belohnt und die Übertretung bestraft wird“ – auch wenn immer wieder gesagt wird, „dass der bessere Gehorsam nicht durch Lohn motiviert ist, sondern um Gottes willen oder um der Gebote selbst willen geschieht“164. – „Werke des Gesetzes“ als bloße ‚boundary markers‘? Zahlreiche Kriti‐ ker fand Dunns Eingrenzung der Rede von „Werken des Gesetzes“ auf die konkreten „boundary markers“ wie Beschneidung und Speise‐ gebote, d. h. jene Vorschriften der Tora, die zur Abgrenzung der Juden- von den Heidenchristen führten. Dies mag für den Kontext von Gal 2,16f. historisch zutreffen, aber zumindest Röm 3,20 setzt eine grundsätzlichere Reflexion voraus. Diese ist auch in Gal 2,21 erkennbar. Dunn hat inzwischen seine Position abgemildert: der Ausdruck kann alle vom Gesetz geforderten Werke bezeichnen, wobei sicher einzelne in besonderem Maße zum ‚Testfall‘ werden.165 Zur Semantik von ἔργα νόμου s.u. – Der Gegenstand des Rühmens: Vor allem Simon Gathercole hat in Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Dunn herausgestellt,

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S. dazu Gathercole, Where is Boasting (Anm. 140), 37–169; zu den tannaitischen Texten Avemarie, Tora und Leben (Anm. 111), 38–44.291–294.582f.; P.S. Alexander, Torah and Salvation in Tannaitic Literature, in: Carson/Seifrid/O’Brien, Justification I (Anm. 60), 261–301. Avemarie, Tora und Leben (Anm. 111), 578. Vgl. auch ders., Erwählung und Vergeltung. Zur optionalen Struktur rabbinischer Soteriologie, NTS 45 (1999), 108–126. Dunn, The New Perspective: whence, what and whither? (Anm. 137), 1–88 (25 f.). Nach Stuhlmacher, Christus Jesus (Anm. 127), 357 f., handelt es sich bei Gal 2,16 und Röm 3,20 um „Gerichtsregeln“.

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dass das ‚Rühmen‘, das Paulus verwirft, nicht auf den ‚nationalen‘ Aspekt der Erwählung Israels einzugrenzen ist, sondern auch den mit der Erwählung verbundenen tätigen Gehorsam einbegreift.166 Angesichts der verbreiteten Erwartung des Gerichts ‚nach Werken‘ (die Paulus teilt), ist ein solches Vertrauen auf Israels Erwählung und Gehorsam keineswegs abwegig. Damit wird die für die ‚luthe‐ rische‘ Paulusdeutung zentrale Frage nach dem individuellen Heil wieder rehabilitiert: Es geht Paulus grundsätzlicher um die Stellung des Menschen vor Gott – nicht nur um die Einbeziehung der Heiden in das Gottesvolk167. – Die eschatologische Dimension: Die Konzentration der ‚New Per‐ spective‘ auf soziologische Kategorien (Identität, Abgrenzung, Ent‐ schränkung etc.) hat nach Auffassung vieler den Blick dafür getrübt, dass es nach Überzeugung des Paulus (und seiner Gesprächspart‐ ner) um eschatologisch relevante Sachverhalte geht. Paulus sieht den Menschen vor dem Forum des Gerichts, in dem nach jüdischer Tradition die Werke entscheiden, und in dieser Sicht hat auch die forensische Terminologie (‚Gerechtigkeit‘/‚Rechtfertigung‘) ihren Ort.168 Diese gründet in vorpaulinischen Traditionen (Röm 4,25; 8,34) und weist auf biblische Modelle (Jes 53) zurück.169 – Differenzen in der Anthropologie: Eine wesentliche Differenz zwi‐ schen Paulus und dem zeitgenössischen Judentum lokalisiert Timo Laato in der Anthropologie.170 Die New Perspective berücksich‐ tige die Frage der menschlichen Fähigkeit zum Guten zu wenig: Während das Judentum zumeist (Ausnahme: Essener/Qumrange‐ meinde) die Freiheit des Menschen voraussetzt, das Gute zu wählen und dem ‚bösen Trieb‘ zu widerstehen, findet sich für Paulus der adamitische Mensch in der Situation vor, dass er das Gute, das er will, nicht tut. Wenn anthropologische Voraussetzungen der ‚Religionssysteme‘ differieren, kommt es auch zu Differenzen in

166 167 168 169 170

Gathercole, Where is Boasting (Anm. 140), 194. Vgl. auch S. Grindheim, The Crux of Election. Paul’s Critique of the Jewish Confidence in the Election of Israel (WUNT II/202), Tübingen 2005. Vgl. auch Westerholm, Perspectives (Anm. 136), 440ff. Vgl. Stuhlmacher, Christus Jesus (Anm. 139), 353 f; s.a. N.T. Wright, What Saint Paul Really Said, Grand Rapids 1997, 17f. Stuhlmacher, Christus Jesus (Anm. 139), 355f. T. Laato, Paul and Judaism. An Anthropological Approach, Atlanta 1995.

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der Soteriologie. Während im jüdischen Denken ‚Kooperation‘ eingeschlossen ist, ist diese für Paulus im Blick auf den Glauben ausgeschlossen. 4. Ein Schwerpunkt der Diskussion ist das Syntagma „Werke des Gesetzes“ (ἔργα νόμου Gal 2,16; 3,2.5.10; Röm 3,20.28; Phil 3,9): – Bultmann hatte den Terminus auf das menschliche Bemühen bezo‐ gen, „durch Erfüllung des Gesetzes sein Heil zu gewinnen“171. Schon das Streben nach Toraerfüllung ist demnach verfehlt und sündig. Diese Position kann nicht die des Paulus sein. Von ihr grenzen sich heute fast alle Exegeten ab. – Dunn interpretierte das Syntagma von Gal 2,16 her auf die konkre‐ ten „boundary markers“ wie Beschneidung und Speisegebote, d. h. jene Vorschriften der Tora, die Juden von Heiden unterscheiden und die z. B. im antiochenischen Zwischenfall oder auch in Galatien zur Abgrenzung der Juden- von den Heidenchristen führten. – Michael Bachmann hat in mehreren Anläufen172 den semantischen Nachweis versucht, dass ἔργα νόμου ausschließlich Halakhot, kon‐ krete Vorschriften der Tora, keinesfalls aber menschliche Handlungen bezeichnen, wobei Paulus freilich voraussetzt, dass Regelungen auf Handlungen, d. h. auf Erfüllung angelegt sind.173 – Friedrich Avemarie und A. Andrew Das 174 verstehen den Ausdruck im Sinne gesetzeskonformer Taten. – Klaus Haacker 175 will den Ausdruck schließlich auf gesetzeskon‐ forme kultische Handlungen – in Abgrenzung zu ‚guten Werken‘ der Ethik spezifizieren. Eine besondere Rolle spielt in der Argumentation die Qumran-Parallele in dem halakhischen Brief 4QMMT C 27–31, in dem der Sprecher – oft wurde

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Bultmann, Theologie (Anm. 142), 264f. M. Bachmann, Rechtfertigung und Gesetzeswerke bei Paulus (1993), in: ders., Antiju‐ daismus im Galaterbrief? (NTOA 40), Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1999, 1–32; ders., 4QMMT und Galaterbrief, ‫ מעשי התורה‬und ERGA NOMOU, ebd., 33–56; ders., Keil oder Mikroskop? Zur jüngeren Diskussion um den Ausdruck „,Werke‘ des Gesetzes“, in: ders., Lutherische und neue Paulusperspektive (Anm. 136), 69–134. Bachmann, Keil oder Mikroskop? (Anm. 172), 73. F. Avemarie, Art. ἔργον, ThBLNT2 1 (1996), 57–59; ders., Die Werke des Gesetzes im Spiegel des Jakobusbriefs. A Very Old Perspective on Paul, ZThK 98 (2001), 282–309; A.A. Das, Paul and the Jews, Peabody 2003, 40–42. Haacker, Brief (Anm. 16), 83 f.; ders., Verdienste (Anm. 136), 13f.

ng der Juden- von den Heidenchristen führten. reren Anläufen 172 den semantischen Nachweis versucht, h Halakhot, konkrete Vorschriften der Tora, keinesfalls n bezeichnen, wobei Paulus freilich voraussetzt, dass .h. auf Erfüllung angelegt sind. 173 Andrew Das 174 verstehen den Ausdruck im Sinne Das Judentum des Paulus

Ausdruck schließlich auf gesetzeskonforme kultische zu ‚guten Werken‘ der Ethik spezifizieren. vermutet, der ‚Lehrer der Gerechtigkeit‘ – an die Gegenseite, vielleicht gumentation die Qumran-Parallele in dem einzelne, halakhischen den Hohenpriester, sehr spezifische Halakhot übermittelt, die die er Sprecher – oft wurde vermutet, der ‚Lehrer der Abspaltung seiner eigenen Gruppierung begründen: vielleicht den Hohenpriester, einzelne, sehr spezifische ng seiner eigenen Gruppierung begründen: „Wir haben dir einige ‚Werke‘ (= ‚Vorschriften‘/‚Praktiken‘) der Tora miqṣatmaʿªśê maʿªśê hat-tora) geschrieben, die wir als gut befunden riften‘/‚Praktiken‘) der Tora (‫קמקצת מעשׂה התורה‬/ / miqṣat

nden haben für dich und deinhaben Volk. Denn wir und habendein gesehen, für dich Volk.dass Denn wir haben gesehen, dass bei dir Klugheit und vorhanden ist. Betrachte dies alles und bitte von seinem Angesicht, Wissen um die Tora vorhanden ist. Betrachte dies alles und bitte von seinem Ange‐ rne böse Absichten und den Plan Belials, damit du Freude erfährst sicht, dass ist. er deinen lenke und von dir entferne böse Absichten und den Plan ass etwas von unseren Worten richtig Und esRat wird dir zur u tust, was aufrecht und gut inBelials, seinen Augen Wohl für dicham Ende der Zeit, wenn du feststellst, dass etwas damit ist, du zum Freude erfährst

von unseren Worten richtig ist. Und es wird dir zur Gerechtigkeit angerechnet wer‐

Syntagma, das im Griechischen sonst nicht belegt ist, den, wenn du tust, was aufrecht und gut in seinen Augen ist, zum Wohl für dich und uf eine palästinisch-jüdische 176halakhische Diskussion Israel“. en: halakhisch: Es geht um Einzelbestimmungen, die hier Diese einzige exakte Parallele für das Syntagma, das im Griechischen sonst den Ausdruck auf kultische Aspekte (im Gegensatz zu terminologisch auf eine palästinisch-jü‐ nicht belegt ist, zeigt, dass Paulus edoch fraglich. dische halakhische Diskussion rekurriert.177 Daraus lässt sich erkennen: egung von Einzelbestimmungen, die eine Abgrenzung also um (hier innerjüdische) ‚boundary markers‘. – Der Kontext in 4QMMT ist halakhisch: Es geht um Einzelbestimmungen, n) für Gal 2,16 vermuten. die hier kultischer Art sind. Ob dies den Ausdruck auf kultische Aspekte ch am ehesten mit ‚Vorschriften‘ übersetzen aber eine festlegen muss, ist jedoch fraglich. (im Gegensatz zu –ethischen) ktiken‘ erscheint unangebracht, da klar ist, dass – Es handelt sich um diediese Darlegung von Einzelbestimmungen, die eine gelegt sind: die ‚Werke‘ werden von den einen getan; von begründen, also um (hier innerjüdische) Abgrenzung zweier Gruppen erden. ‚boundary markers‘. Ähnliches lässt sich (nach Dunn) für Gal 2,16 vermuten. swerke bei Paulus (1993), in: ders., Antijudaismus im Galaterbrief? – Galaterbrief, Das Syntagma sich sich am ehesten mit ‚Vorschriften‘ übersetzen undlässt ERGA 999, 1–32; ders., 4QMMT und ‫ התורה‬an ‫מעשי‬ roskop? Zur jüngeren Diskussion deneine Ausdruck „,Werke‘ des – um aber scharfe Abgrenzung von ‚Praktiken‘ erscheint unange‐ ulusperspektive (Anm. 129), 69–134. bracht, da klar ist, dass diese Vorschriften auf Befolgung angelegt sind: 57), 73. die des ‚Werke‘ werden von den 1996), 57–59; ders., Die Werke Gesetzes im Spiegel des einen getan; von den anderen sollen sie l, ZThK 98 (2001), 282–309; A. A. Das, werden. Paul and the Jews, Peabody getan

dienste (Anm. 129), 13f. ran Cave 4.V, by E. Qimron/J. Strugnell, Oxford 1994, 62f. uck nicht exakt: In 4QFlor (4Q174) I 7 (= 4QMidrEschata III 7) ist Qumran, Darmstadt 176 soDiscoveries in the Judaeanvorliegt. Desert X. Qumran Cave 4.V, by E. Qimron/J. Strugnell, Oxford ke von Dankbarkeit“) zu lesen, dass hier keine Parallele VI 18) bieten noch den Ausdruck1994, ‫בתורה‬62f. ‫( מעשי‬d.h. „seine Werke im 177 Andere Parallelen entsprechen dem Ausdruck nicht exakt: In 4QFlor (4Q174) I 7 (= 4QMidrEschata III 7) ist (anders als z. B. noch E. Lohse, Die Texte aus Qumran, Darm‐ stadt 1981, transkribierte) korrekt ‫„( מעשי תודה‬Werke von Dankbarkeit“) zu lesen, so dass hier keine Parallele vorliegt. Zwei andere Qumran-Stellen (1QS V 21 und VI 18) bieten noch den Ausdruck ‫( מעשי בתורה‬d. h. „seine Werke im Gesetz“), d. h. auch keine exakte Parallele.

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Das entsprechende Handeln, die Erfüllung dieser Bestimmungen (aber nicht nur dieser, sondern dessen „was aufrecht und gut in seinen Augen ist“), soll am Ende von Gott „zur Gerechtigkeit angerechnet werden“.

Fazit: Vorschriften und ihre Befolgung lassen sich nicht voneinander tren‐ nen. Zur Gerechtigkeit angerechnet wird das entsprechende Tun. Daher ist auch in dem soteriologischen Grundsatz bei Paulus „aus Werken des Geset‐ zes wird kein Fleisch gerecht“ (Gal 2,16; Röm 3,20) das gesetzeskonforme Handeln im Blick. Dieses lässt sich auch nicht auf einige Abgrenzungsbe‐ stimmungen eingrenzen, sondern betrifft das Leben mit der Tora als Ganzer. 5. Mittlerweile wird nicht nur die ‚New Perspective‘ auch in der angel‐ sächsischen Welt von zahlreichen Autoren kritisch beleuchtet und entweder modifiziert (Gathercole, Watson) oder mit den Einsichten der ‚älteren‘, reformatorisch orientierten Interpretation vermittelt.178 Nicht zuletzt halten auch einige Interpreten im angelsächsischen Raum dezidiert an Einsichten der ‚Old Perspective‘ fest,179 so dass sich die Situation nicht mehr als Kontinentaldrift zwischen angelsächsischer und deutschsprachiger Exegese darstellt. Die profundeste Kritik der New Perspective mit dem Schwerpunkt auf dem Aspekt der Gnade und gegründet in einer differenzierten Sicht des Judentums und der antiken Welt hat J.M.G. Barclay vorgelegt.180 Sein Werk ist neben Dunn181 und Wright die dritte große Paulus-Theologie aus dem angelsächsischen Raum. 6. Daneben haben sich schon Ende des 20. Jh.s im angelsächsischen Raum andere Positionen der Paulusauslegung etabliert, welche die ‚neue‘ 178 179

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Westerholm (Ed.), Perspectives Old and New (Anm. 136); im deutschen Kontext J.-Ch. Maschmeier, Rechtfertigung bei Paulus. Eine Kritik alter und neuer Paulusperspektiven (BWANT 189), Stuttgart 2010. Dabei geht es z.T. um die bei Sanders und Dunn zu beobachtende Verdrängung der Soteriologie aus dem Zentrum der paulinischen Theologie oder die theologische Gefahr eines Synergismus, aber auch um die Differenziertheit des antiken Judentums. S. etwa R.H. Gundry, The Old is Better. New Testament Essays in Support of Traditional Interpretations (WUNT 178), Tübingen 2005; D.A. Carson/P. O’Brien/M. Seifrid (Ed.), Justification and Variegated Nomism, I: The Complexities of Second Temple Judaism (WUNT II/140), Tübingen 2001; II: The Paradoxes of Paul (WUNT II/181), Tübingen 2004; weiter M. Seifrid, Christ, Our Righteousness. Paul’s Theology of Justification, Downers Grove 2000. J.M.G. Barclay, Paul and the Gift, Grand Rapids 2015. J.D.G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids 1998; N.T. Wright, Paul and the Faithfulness of God, London 2013.

Das Judentum des Paulus

durch eine noch ‚neuere‘ Perspektive überholen wollten, z. T. mit dem Anspruch, Paulus dezidiert nicht mehr theologisch, sondern ‚rein‘ historisch und religionswissenschaftlich zu verstehen. Gelegentlich werden diese als „the new view of Paul“ oder als „radical perspective on Paul“ zusammengefasst.182 Dazu zählen u. a. die Entwürfe von John Gager, Lloyd Gaston und Stanley Stowers.183 Gager vertritt in seinem Buch mit dem signifikanten Titel ‚Reinventing Paul‘ die These, dass sich die Kritik des Paulus am jüdischen Gesetz nicht auf dieses als Gesetz Israels beziehe, sondern nur auf seine Gültigkeit für die Heiden‐ christen. Während Heidenchristen ohne Verpflichtung auf das Gesetz am Gottesbund teilhaben können, sei die Gültigkeit des Gesetzes für jüdische Jesusnachfolger in keiner Weise eingeschränkt. Demzufolge gebe es, wie bereits zuvor Gaston und Stowers formuliert hatten, für Paulus zwei Bünde, einen durch die Tora für die Juden und einen durch den Glauben an Christus für die Heiden. Die Konsequenz ist, dass nach dieser Sicht Paulus Jesus nicht als den Messias Israels bzw. Messias für die Juden angesehen habe. Mit einer solchen Position lässt sich zwar der jüdisch-christliche Dialog entschärfen, doch fällt es schwer, die ‚Zwei-Bünde-Theorie‘ mit den eingangs erwähnten Selbstzeugnissen des Paulus wie Röm 9,1–5 oder 11,1 zu vereinbaren.184 Für Gager bleibt letztlich offen, ob Paulus sich noch als Jude gesehen hat und inwiefern er selbst die Tora befolgte.185 7. Aus dieser „radical perspective“ hat sich seit ca. 2010 die neueste „Schule“ der internationalen Paulusforschung konstituiert, die unter dem Titel „Paul Within Judaism“ firmiert.186 Dabei geht es nicht mehr allein um das Anliegen, den Apostel und sein Denken als Juden inner‐

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Dazu A.J.M. Wedderburn, Eine neuere Paulusperspektive, in: E.-M. Becker/P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005, 46–64; P. Eisenbaum, Paul, Polemics, and the Problem of Essentialism, BibInt 13 (2005): 224–238. S. auch P. Mortensen, Paul Among the Gentiles. A ‚Radical‘ Reading of Romans, NET 28, Tübingen/Basel 2018. Das Attribut ‚neu‘ hat mit der Zeit seine Aussagekraft eingebüßt. L. Gaston, Paul and the Torah, Vancouver 1987; S.K. Stowers, A Rereading of Romans. Justice, Jews and Gentiles, New Haven/London 1994; J.G. Gager, Reinventing Paul, Oxford 2000. S. die kritische Diskussion bei Wedderburn, Paulusperspektive, 53–64. Gager, Reinventing Paul, 147. Zuerst M.D. Nanos/M. Zetterholm (Ed.), Paul within Judaism: Restoring the First Century Context of the Apostle, Minneapolis 2015. Vgl. M. Novenson, Whither the Paul within Judaism Schule?, JJMJS 5 (2018), 79-88.

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halb des pluriformen zeitgenössischen Judentums zu verstehen und zu verorten,187 um dann im Blick auf apokalyptische oder messianische Erwartungen oder Toradiskurse in Palästina und der Diaspora zu erwä‐ gen, ob Paulus ein ‚normaler‘, ‚unnormaler‘188 oder gar ‚radikaler‘189 Jude war. Vielmehr wird von jüdischen Forschern wie Mark Nanos190 oder der Konvertitin Paula Fredriksen191 und einigen christlichen Exegeten192 programmatisch versucht, die Relevanz der paulinischen Aussagen für das Judentum zu bestreiten (und eine ‚christliche‘ Kritik am Judentum) zu verunmöglichen. Der Kampf gilt, mit einem hohen moralischem Anspruch, den (bei Theologen und Predigern auch im angelsächsischen Raum oft undifferenzierten) aus einer traditionellen Pauluslektüre ge‐ speisten Zerrbildern des Judentums. Obwohl diese Schule auf die „New Perspective“ (v. a. Sanders) aufbaut, gilt ihre schärfste Kritik deren Vertretern (Dunn und Wright) sowie Barclay, die als Verteidiger eines überkommenen christlich-theologischen Paulusbildes gelten. Grundlegend wird betont, dass Paulus historisch und d. h. ohne ana‐ chronistische Kategorien und Termini zu lesen ist.193 Hermeneutisch entscheidend ist weiter, dass alle Vertreter einer „Within“-Perspektive für die pln. Briefe nur Nichtjuden als (implizite) Leser annehmen. Als entscheidend gilt für Fredriksen und Nanos die eschatologische Grundvorstellung, dass für Paulus Christusgläubige die Erfüllung der jüdischen Erwartung eines endzeitlichen Zustroms der Völker zur 187 188 189 190

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So auch der vorliegende Beitrag. Vgl. die Diskurse des ‘Enoch Seminars’ von 2014 in: G. Boccaccini/C.A. Segovia (Ed.), Paul the Jew, Minneapolis 2016. M.E. Bird, An Anomalous Jew. Paul among Jews, Greeks, and Romans, Grand Rapids 2016. So schon der jüdische Historiker und jüdisch-christliche Brückenbauer D. Boyarin, A Radical Jew, Berkeley 1994. M. Nanos, Reading Paul Within Judaism. Collected Essays 1, Eugene, Or 2017; ders., Reading Romans Within Judaism, Collected Essays 2, Eugene, Or. 2018; S. die autobio‐ graphische Skizze in M. Nanos, Paul – why bother? A Jewish Perspective, Svensk Teologisk Kvartalskrift 95 (2019), 271-287. P. Fredriksen, Paul. The Pagans’ Apostle, New Haven/London 2017. So im skandinavischen Kontext die ‚Lund‘-Schule mit Magnus Zetterholm und Anders Runesson (jetzt Oslo) in kritischer Auseinandersetzung mit der lutherischen Tradition. S. dazu M. Nanos, Paul – why bother? (Anm. 190). Dies betrifft Termini wie „christlich“/„Christentum“, „Kirche“, „Bekehrung“ etc. und die essentialistische Rede von Christentum und Judentum als distinkten Religionen. s. A. Runesson, The Question of Terminology: The Architecture of Contemporary Discussi‐ ons on Paul, in: Nanos/Zetterholm (Ed.), Paul within Judaism, 53-78; P. Eisenbaum, Paul was not a Christian. The Original Message of a Misunderstood Apostle, New York 2009.

Das Judentum des Paulus

Verehrung des Gottes Israels waren. Dabei sei aber für den Juden Paulus die ethnische Differenz zwischen Israel und den Völkern auch eschato‐ logisch beibehalten, so dass Paulus aus diesem Grund christusgläubigen Nichtjuden (in Fredriksens Terminologie „ex-Pagan Pagans“194) die Beschneidung und damit den Zutritt zum Judentum verbietet.195 Die Gültigkeit der Tora sei nach Paulus für Juden, auch wenn sie Jesus folgen, uneingeschränkt. Von christusgläubigen Nichtjuden erwarte Paulus ein an der Tora orientiertes, in gewisser Weise ‚judaisierendes‘ Verhalten, insofern sie nun exklusiv den Gott Israels verehren und „hei‐ lig“ nach „im Gesetz“ beschriebenen ethischen Normen leben sollen.196 Mark Nanos hat in zahlreichen Arbeiten die These aufgestellt, dass sich die Botschaft des Paulus ausschließlich an Nichtjuden richtete, die sich – ohne sich mit jüdischen Jesusnachfolgern zu einer Gemeinde zu verbinden – im Umfeld der Synagogen (und nicht z. B. in Häusern) tra‐ fen.197 Die paulinische ‚Gesetzeskritik‘ betrifft dann allein die Gültigkeit der Tora für Nichtjuden, aber impliziert (und erlaubt!) keine Kritik am Judentum und seiner Toraobservanz, denn nach Nanos und Fredriksen (anders als etwa nach Gager) lebte Paulus als Jude selbst konsequent toraobservant. Die neuere und neueste Diskussion zeigt, dass der Streit um Paulus, sein Gesetzesverständnis und seine Sicht des Gottesvolkes auch über die soge‐ nannte ‚New Perspective‘ hinaus weiter geht, wobei nicht selten aktuelle re‐ ligions- und wissenschaftspolitische Interessen die jeweilige Pauluslektüre beeinflussen. Die historische und sachliche Angemessenheit der Entwürfe bleibt jeweils an den Texten selbst zu messen. Es ist zweifellos ein Verdienst der ‚New Perspective‘, dass sie das über‐ kommene Zerrbild vom Judentum als einer Religion der ‚Werkgerechtigkeit‘ 194

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Die Wortschöpfung will den prekären Sonderstatus nichtjüdischer Christusnachfolger markieren: Diese werden nicht Juden, sind aber zugleich nicht mehr „Heiden“. Fredrik‐ sen setzt hier einen unauflöslichen Konnex zwischen Ethnizität und Religiosität voraus: Heiden, die ihre „Religion“ wechseln, ändern damit ihre Ethnizität. P. Fredriksen, God Is Jewish, but Gentiles Don’t Have to Be: Ethnicity and Eschatology in Paul’s Gospel, in: F. Abel (Ed.), The Message of Paul the Apostle within Second Temple Judaism, Lanham 2019, 3-20. Vgl. Gal 5,14; 1 Kor 7,19; Röm 2,13.25-27; 13,8-10; s. P. Fredriksen, “Judaizing the Nations: The Ritual Demands of Paul’s Gospel,” NTS 56 (2010): 232–252; dies., Paul. The Pagans’ Apostle (Anm. 191), 117 – 130. M. Nanos, The Jewish Context of the Gentile Audience Addressed in Paul’s Letter to the Romans, in: ders., Reading Romans Within Judaism (Anm. 190), 40-64.

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wirksam beseitigt und die unreflektierte Rede vom ‚Gesetz als Heilsweg‘ nachhaltig problematisiert hat. Gegen die Wirkungsgeschichte paulinischer Theologie ist aus den jüdischen Quellen zu erkennen, dass die Tora für Juden Freude, nicht Last, Berufung, nicht Sklaverei bedeutet. Aufgrund neuerer Forschungen sollte es definitiv unmöglich sein, das Judentum der Zeit Jesu als „Religion völligster Selbsterlösung“198 zu bezeichnen und ihm „Werkgerechtigkeit“ und Ritualismus vorzuwerfen. Solche Urteile wider‐ sprechen der jüdischen Selbstwahrnehmung und sind im Übrigen auch eher neuprotestantisch als lutherisch. Wesentlich ist auch, dass nun die Gefahr der Eintragung späterer theolo‐ gischer Fragen in die Paulusinterpretation bewusster wahrgenommen wird. Der religiöse Individualismus, die ‚introspektive‘ Gewissenserforschung und auch die ‚Frage nach dem gnädigen Gott‘ waren nicht die Fragen des Paulus. Vor jeder Verallgemeinerung paulinischer Aussagen für eine überzeitliche Lehre muss der historische Ort und der rhetorische Kontext der Texte ernst genommen werden. Die soziologischen Kategorien dürfen freilich, wie auch Dunn zugesteht, nicht an die Stelle der theologischen Reflexion treten. Der Theologe Paulus lässt sich nicht auf missionsprag‐ matische oder ‚kirchenpolitische‘ Intentionen reduzieren. Sein Denken ist auf dem Hintergrund seiner Biographie und Christuserkenntnis sowohl anthropologisch als auch hamartiologisch tiefergehend, als dies die Vertreter der ‚New Perspective‘ zugestehen wollten. Wertvoll ist auch die Rückbindung der paulinischen Aussagen an die Ver‐ heißungs- und Bundesgeschichte Israels. Doch ist zu fragen, ob der „Bund“ so einheitlich Grundlage jüdischer Existenz war und warum zumindest der Terminus διαθήκη bei Paulus (mit Ausnahme von 2 Kor 3 und Gal 3-4) so wenig gebraucht ist. Viele Eckpunkte des eindrücklichen Gesamtbildes von Wright verdienen kritische Reflexion: das harmonisierende Bild eines allgemein-jüdischen ‚world view‘, die These, alle Juden hätten sich noch im Exil gesehen, die Umdeutung der apokalyptischen Aussagen des Paulus199 und die These eines subtil antiimperialen Subtextes.200 Im ‚System‘ Wrights zeigt sich letztlich wieder ein (bundes-)theologisch und heilsgeschichtlich konstruierter Paulus.

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So noch P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch 4/1, München 1928, 6. Frey, Demythologizing Apocalyptic? (Anm. 157). Zur Kritik s. C. Heilig, Hidden Criticism? (WUNT II/392), Tübingen 2015.

Das Judentum des Paulus

Auch die ‚neueren‘ Perspektiven vertreten wichtige Anliegen, wenn sie die Gefahr christlichen Antijudaismus an ihrer Wurzel, d. h. in den paulinischen Texten, neutralisieren wollen. Doch wenn, wie nach der Zwei-Bünde-Theorie, Jesus nicht der Messias Israels wäre, wäre auch die Rückbindung des Christusglaubens an das Gottesvolk Israel in fataler Weise aufgelöst, der ‚Christuskult‘ wäre eine von der jüdischen Tradition unabhängige Religion, was angesichts des intensiven Schriftbezugs in den paulinischen Briefen abwegig ist. Wenn Paulus den Bund Gottes mit Israel nach wie vor unberührt in Kraft sähe, wäre sein intensives Gebet um die Rettung seiner jüdischen Brüder und Schwestern in Röm 9,1-5 unverständlich.201 Die Aussage, dass Paulus nur Heiden verkündigte, nicht Juden, ist von den Selbstaussagen des Paulus (Röm 1,16; 1 Kor 1,22f) wie auch der Darstellung der Apostelgeschichte nicht gedeckt. Wie ist zu erklären, dass er mehrfach die Synagogenstrafe erlitten hat (2 Kor 11,24)? Was ist der Grund dafür, dass Paulus von den Verfolgungen der Gemeinden in Judäa durch „Juden“ reden kann (1 Thess 2,14)? Die „Paul-Within-Judaism“-Perspektive betont zurecht die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden für den Juden Paulus. Eine allgemeine ‚Universalität‘ ist wohl eine zu moderne. Kritisch zu beleuchten ist jedoch, ob und wie die ethnische Unterscheidung auch in antik-jüdischen Konzepten eschatologisch transformiert wird.202 Auch ist die Gleichsetzung von Ethnizität und Religion im weiteren hellenistischen Umfeld kaum aufrechtzuerhalten. Im Blick auf zentrale Passagen und Aussagen ist v. a. kritisch zu erörtern, ob diese das nicht-christusgläubige Judentum wirklich völlig unberührt lassen: Ist der Gesprächspartner in Röm 2 nur ein rhetorisches Phantom? Ist das „uns“ in Gal 3,13 nur eine rhetorische Prosopopoiie, mit der Paulus sich in die Heidenchristen hineinversetzt, oder schließt er sich selbst in die vom Gesetz Befreiten ein? Spiegeln die Aussagen in 1 Kor 9,19-23 nicht eine erstaunliche Freiheit von der Tora, die über eine rein rhetorische Adaptibi‐

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Wedderburn, Paulusperspektive (Anm. 182), 62. Dazu s. T. Donaldson, Judaism and the Gentiles: Jewish Patterns of Universalism (to 135 CE), Waco, Tx. 2007; auch ders., Paul Within Judaism. A Critical Evaluation from a “New Perspective” Perspective, in: Nanos/Zetterholm (Ed.), Paul Within Judaism (Anm. 186), 277-301 (284-293).

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lität203 hinausgeht, so dass Paulus ‚allen alles‘, ja sogar ‚den Juden ein Jude‘ werden kann? Und gilt dies nur für ihn allein oder nicht auch für seine jüdischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Forderte sein Einsatz für die Tischgemeinschaft von Juden und Heiden nicht jüdischen Jesusnachfolgern in der täglichen Praxis eine erhebliche Toleranz in Fragen der Reinheits- und Speisehalacha ab, ein partielles Zurückstellen der Toraobservanz? Oder ist – mit Nanos – vorauszusetzen, dass Nichtjuden sich im synagogalen Kontext den rituellen Praktiken der Juden weithin anpassten?204 Oder wie wäre die tägliche Praxis ‚gemischter‘ Gemeinden – wenn es solche gab – konkret vorzustellen? Angesichts der quellenmäßig gut belegten Pluriformität jüdischer Le‐ bensweisen und Formen der Torapraxis in Palästina und der (zahlenmäßig größeren) Diaspora und angesichts des Fehlens einer Institution, die über die Zugehörigkeit zum „Judentum“ hätte befinden können, muss man fragen, ob die Diskussion um eine Stellung „innerhalb“ oder „außerhalb“ „des“ Judentums nicht ihrerseits anachronistisch ist. Auch hier besteht die Gefahr, dass anachronistische Problemstellungen und die Vorstellung einer orthodoxen Norm des Judentums eingetragen werden. Die Diskussion um diese Fragen wird die Paulusexegese weiter beschäfti‐ gen. Es ist deutlich, wie inzwischen der Schwerpunkt der Diskussion gewan‐ dert ist, von der reformatorischen und theologischen Tradition hin zu einem breiten internationalen und interreligiösen Diskurs mit neuen ethischen und religionspolitischen Implikationen. Dabei spielt sein Verhältnis zum Judentum seiner Zeit und seine Bedeutung für die christliche Positionierung gegenüber dem Judentum in der Geschichte eine entscheidende Rolle. 5 Literatur 5.1 Monographien

F. Abel (Ed.), The Message of Paul the Apostle within Second Temple Judaism, Lanham 2020.

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So wird 1 Kor 9,19ff. bei Nanos, Fredriksen, Zetterholm u. a. interpretiert. S. auch D.J. Rudolph, A Jew to the Jews. Jewish Contours of Pauline Flexibility in 1 Corinthians 9:19-23 (WUNT II/304), Tübingen 2011. Eine solche Lösung in der Linie des ‚Aposteldekrets‘ Apg 15,29 steht allerdings in Spannung zu den Selbstaussagen des Paulus in Gal 2,1-10.

Das Judentum des Paulus

M. Bachmann (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion (WUNT 182), Tübingen 2005. G. Boccaccini/C.A. Segovia (Ed.), Paul the Jew. Rereading the Apostle as a Figure of Second Temple Judaism, Minneapolis 216. D. Boyarin, A Radical Jew. Paul and the Politics of Identity, Berkeley 1994. K. Haacker, Paulus. Der Werdegang eines Apostels (SBS 171), Stuttgart 1997. M. Hengel/A.M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbe‐ kannten Jahre des Apostels (WUNT 108), Tübingen 1998. M. Nanos/M. Zetterholm (Ed.), Paul within Judaism. Restoring the First-Century Context to the Apostle, Minneapolis 2015. K.-W. Niebuhr, Heidenapostel aus Israel (WUNT 62), Tübingen 1992. R. Riesner, Die Frühzeit des Paulus (WUNT 71), Tübingen 1994. E.P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, London 1977 (dt.: Paulus und das palästinische Judentum [StUNT 17], Göttingen 1985) (klassische Darstellung am Beginn der New Perspective). U. Schnelle, Über Judentum und Hellenismus hinaus? Die paulinische Theologie als neues Wissenssystem, ZNW 111 (2020), 124-155 A.F. Segal, Paul the Convert. The Apostolate and Apostasy of Saul the Pharisee, New Haven 1988. M. Tiwald, Hebräer von Hebräern. Paulus auf dem Hintergrund frühjüdischer Argumentation und biblischer Interpretation (HBS 52), Freiburg etc. 2008. P.J. Tomson, Paul and the Jewish Law. Halakha in the Letters of the Apostle to the Gentiles (CRINT 3/1), Assen/Minneapolis 1990. 5.2 Aufsätze

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J ÖRG F REY

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Die religiöse Umwelt des Paulus

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Paulus war und blieb zeit seines Lebens Jude. Aber er wirkte als Apostel der Heiden, d. h. der Nicht-Juden. Und die Grundlage seiner Heidenmission bildete der Verzicht darauf, die Heiden zum ᾽Ιουδαϊσμός zu „bekehren“: So hatte er es mit Heiden zu tun, die aus jüdischer Perspektive einfach Heiden blieben. Das macht die Frage so wichtig, wie das „Heidentum“ aussah, mit dem es Paulus zu tun hatte, seit er „den Gehorsam des Glaubens unter den Heiden aufrichtete“ (Röm 1,5) und „Gottes Sohn unter den Heiden verkündigte“ (Gal 1,16). „Denn wenn es wirklich sogenannte Götter, sei es im Himmel oder auf Erden, gibt – wie es denn viele Götter und viele Herren gibt –, so gibt es doch für uns nur einen Gott, den Vater, von dem alles ist und wir auf ihn hin, und einen Herrn Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn“ (1 Kor 8,5f.). Der Satz, der im Kontext der Debatte um das Götzenopferfleisch fällt, zeigt in seltener Deutlichkeit, dass sich die Mission des Paulus und die Entwicklung seiner Gemeinden keineswegs in einem luftleeren Raum vollziehen und „Heiden“ alles andere als areligiöse Menschen waren. Die kleinasiatischen und griechischen Städte, in denen Paulus missioniert und Gemeinden gründet, sind – wenn wir seinem Biographen Lukas folgen – voll von Altären und Tempeln (vgl. Apg 17,16) und Opferhandlungen, und nicht selten resultieren Konflikte aus dem Kontakt mit heidnischer Religiosität. Noch eher skurril mutet an, was Paulus und Barnabas in Lystra infolge eines Heilungswunders widerfährt (vgl. Apg 14,8-18): Sie werden für Götter in Menschengestalt gehalten, genauer für Zeus (Barnabas) und Hermes (Paulus), man will ihnen opfern, was beide nur mit Mühe verhindern können. Richtig gefährlich wird es dann in Philippi: Nach Apg 16,16-24 bringt Paulus die Auseinandersetzung mit einer Frau, „die einen Wahrsagegeist hat“, also der antiken Mantik zuzuordnen ist, ins Gefängnis. Und in Ephesus sehen die Silberschmiede ihr Geschäft mit den von ihnen

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hergestellten Nachbildungen des Artemistempels ernsthaft bedroht, wenn sich Paulus mit seiner neuen Lehre durchsetzen sollte (Apg 19,23-40).1 Damit sind nur einige der Punkte berührt, die uns im Folgenden interes‐ sieren sollen. Ergänzend wird der Blick auf die Mysterienkulte hinzutreten, die regelmäßig als Bezugsgrößen genannt werden, wenn es um Taufe oder Herrenmahl geht; auch der Kaiserkult in seinen verschiedenen Ausprägun‐ gen, die Philosophie der Kaiserzeit in ihren diversen Strömungen und schließlich die Gnosis, die Anfang des 2. Jh.s (nicht nur) für die paulinischen Gemeinden zu einem Problem wird und vor allem in den Pastoralbriefen ihre Spuren hinterlassen haben dürfte (vgl. 1 Tim 6,20), werden ein Thema sein. Beginnen wollen wir aber mit dem religiösen Alltag, dem Paulus bei seinen Missionsreisen zu den Heiden durch die antike Welt auf Schritt und Tritt begegnete. Insgesamt spielt sich die Mission des Paulus im östlichen Teil des Imperium Romanum ab. Dort dominiert die griechische Religion der hellenistischen Epoche. In den Städten tritt die römische Staatsreligion hinzu. Die größeren Städte haben ihre besonderen Kulte. Überall werden neben den griechischen Gottheiten ältere regionale Gottheiten verehrt – oft mit gräzisierten Namen und in synkretistischer Gestalt. Die Judenschaft bildet in den Städten eigene institutionelle Körperschaften, deren Religion als fremd und eigenartig verstanden, aber toleriert wird (religio licita). 1 Der öffentliche Kult 1.1 Gottheiten, Tempel und Altäre

Im Gegensatz zu Paulus, der zwar mehrere Himmel kennt (vgl. 2 Kor 12,2-4), aber nur einen Gott (Monotheismus), weiß heidnisches Denken in der Regel nur von einem Himmel, der aber von vielen Gottheiten bevölkert ist (Polytheismus). Diese Gottheiten, vom Menschen durch ihr grenzenloses Wissen, ihre überlegene Macht und schließlich durch ihre Unsterblichkeit unterschieden, sind hochgradig spezialisiert: Apollon etwa, der zusammen mit Athene über die größte Zahl von Hauptheiligtümern in den griechischen Städten verfügt, ist der Gott der Seher und der „Eigentümer“ des Orakels von Delphi, seine Schwester Artemis die Göttin der Jagd, Demeter die Göttin des 1

Vgl. dazu O. Wischmeyer, Gottesglaube. Religionen und Monotheismus in der Apos‐ telgeschichte, in: dies., Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments (WUNT 173), Tübingen 2004, 329-351.

Die religiöse Umwelt des Paulus

Korns, Dionysos der Gott des Weins, usw. Die Zahl der bekannten Gotthei‐ ten, die sich allgemeiner Verehrung erfreuen, bleibt dennoch überschaubar; schon in der Antike werden sie in Zwölferlisten zusammengefasst, unter denen die Liste der zwölf olympischen Götter vermutlich die bekannteste ist (s. die Tabelle auf S. 108). Diese Liste ist aber keineswegs kanonisch und erfährt auch Änderungen; statt Ares und Dionysos werden z. B. häufig Hestia und Hades unter die Zwölf gezählt.2 Neben den Göttern kennen die Griechen auch noch andere Arten von geheimnisvollen göttlichen Mächten, die entweder in wohltätiger oder in schädlicher Weise in die menschlichen Angelegenheiten eingreifen: die Dämonen. Sie stellen eine Art Mittelwesen dar zwischen Menschen und Göttern. Das gilt in gewisser Weise auch für die Heroen, deren kultische Bedeutung freilich um ein Vielfaches größer ist als die der Dämonen (die im Kult praktisch nicht vorkommen). Ein Heros ist ein namentlich bekannter Toter, der einst der Gemeinschaft gedient hat (oft Gründer der Polis) und dessen Leben und ruhmreicher Tod einer vergangenen Zeit angehört (z. B. Theseus). Die zu ihren Ehren veranstalteten Rituale und Feste stehen den den Göttern entgegengebrachten religiösen Vollzügen in nichts nach, und vielfach erwartet man von den Heroen dasselbe, was man auch von den Göttern erwartet: Sie erteilen Orakelsprüche, heilen, beschützen und bestrafen. Häufig verfügen sie über eigenes Kultpersonal, blühende Heiligtümer und natürlich über eine eigene Mythologie. Verehrt werden die Göttinnen und Götter in Tempeln, die allerdings keine einheitliche Form haben. Nimmt man den eingangs erwähnten Artemistem‐ pel von Ephesus zum Maßstab, eines der sieben Weltwunder, das nach Auskunft des Reiseschriftstellers Pausanias mit seinen riesigen Ausmaßen „alles übertrifft, was Menschen gebaut haben“3, von dem aber kein Stein mehr auf dem anderen geblieben ist und den wir nur noch aufgrund antiker Quellen rekonstruieren können4, dann ergibt sich folgendes Bild: In der Mitte eines langgestreckten Rechtecks, zu dem Stufen hinaufführen, befindet sich ein geschlossener Raum (cella), der sein Licht von einer Öffnung in der Decke oder durch die hohe, nach Osten gehende Tür bezieht. An der Stirnwand der cella steht die Statue der Gottheit – in diesem Fall 2 3 4

Vgl. L. Bruit Zaidman/P. Schmitt Pantel, Religion, 179-214; die Liste der Gottheiten nach H.-J. Klauck, Umwelt, 1 39. Pausanias, Descriptio Graecae 4,31,8. Vgl. fürs Erste K. Brodersen, Die sieben Weltwunder. Legendäre Kunst- und Bauwerke der Antike (BsR 2029), München 1996, 70-77.

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also Artemis –, der der Tempel gewidmet ist. Weitere Einrichtungsgegen‐ stände sind ein Tisch für die Götterbewirtung im Tempel (Theoxenie), ein kleiner Weihrauchaltar und Weihegeschenke. Dieses Tempelinnere ist als Wohnhaus für die Gottheit gedacht, die durch ihr Kultbild5 vertreten ist und zu der sich weitere Götterstatuen als Weihegeschenke gesellen konnten; es ist jedoch kein Versammlungsraum für die Gläubigen, sondern in der Regel nur den Priestern zugänglich. Hinter der cella sind weitere Räume möglich (z. B. für priesterliche Requisiten oder den Tempelschatz), umgeben ist das Ganze von einer oder mehreren Säulenreihen. Die olympischen Götter mit ihren griechischen bzw. römischen Namen: 1. Zeus (Jupiter)

Der Vater der Götter und der Menschen

2. Hera (Juno)

seine Gattin

3. Poseidon (Neptun)

Bruder des Zeus und Herr der Meere

4. Athene (Minerva)

Schutzgöttin der Stadt Athen, nach dem Mythos aus dem Haupt des Zeus entsprungen, eine bewaffnete Jungfrau und Kämpferin, aber auch fürsorgliche Helferin der Frauen

5. Apollon (Apollo)

Sohn des Zeus, u. a. als Orakelgott in Delphi zu Hause, meist als blühender Jüngling dargestellt

6. Artemis (Diana)

seine Zwillingsschwester, Herrin der Tiere und Göttin der Jagd

7. Aphrodite (Venus)

die Göttin der Liebe

8. Hermes (Mercurius)

der Götterbote, Patron der Kaufleute und der Diebe; er geleitet auch die Seelen der Toten zur Unterwelt

9. Hephaistos (Vulcanus) der Schmied, ein Gott des Feuers und des Handwerks 10. Ares (Mars)

der grimmige Gott des Krieges

11. Demeter (Ceres)

die Göttin des Korns – schon etwas davon abgesetzt, weil bei Homer selten erwähnt, aber für die Mysterienkulte z. B. außerordentlich wichtig

12. Dionysos (Bacchus)

der Gott des Weins

5

Die Darstellung der Artemis von Ephesus ist wegen ihrer vielen „Brüste“ berühmt; vermutlich handelte es sich dabei ursprünglich um Stierhoden eines Fetischs, die besondere Fruchtbarkeit symbolisieren sollten.

Die religiöse Umwelt des Paulus

1.2 Das Opfer

Das eigentliche religiöse Leben spielte sich aber draußen im Freien ab. Hier stand der Opferaltar, auf dem das Opferfeuer brannte und auf dem man den Götteranteil beim Opfer verbrannte. Die bevorzugte Weise, mit der Gottheit zu kommunizieren, ist in der Antike nämlich das Opfer. Oder anders ausgedrückt: Opfer sind in der Antike eine soziale und religiöse Realität ersten Ranges, sie begleiten den Menschen praktisch auf Schritt und Tritt. Geopfert wurden vor allem Tiere (hauptsächlich Schafe und Ziegen; die Apg 14,13 zufolge geplante Opferung mehrerer Stiere gehört zu den größeren Opfern); es finden sich aber auch Gabenopfer mit Honig, Öl, Wein, Brot, Kuchen, Backwerk oder den Erstlingsfrüchten in reicher Zahl. Gerade Trankopfer (Libationen) gehören zu den frühesten Elementen der griechi‐ schen Religion; man unterscheidet σπονδαί und χοαί. Während die Spondē vornehmlich zum Wohlgefallen der Götter oder zur Abwehr von Seuchen dargebracht wurde oder im Kontext von Symposien und vor Reisen ihren Platz hatte, wurden χοαί besonders im Zusammenhang mit Reinigungen und im Totenkult eingesetzt. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass die σπονδή aus einem Krug erfolgte und etwas Wein für die Olympischen Götter auf den Altar (alternativ auch auf den Boden) ausgegossen, der verbleibende Rest jedoch konsumiert wurde, während man bei der χοή ein Gefäß für die chthonischen Götter und die Toten vollständig auf den Boden leerte. Welche Tiere für ein Opfer in Frage kamen, richtete sich nach dem Anlass und nach der zu verehrenden Gottheit: Die meisten Götter erhielten Rinder, Schafe und Ziegen, Demeter dagegen traditionell Schweine und Ferkel, Ares Hunde, Aphrodite Vögel und Priapos6 z. B. Fische. Entscheidend ist die Qualität des Tieres: Es muss fehlerfrei sein und sollte nicht gezwungen werden, sondern freiwillig mitgehen, wenn man es in der Prozession zur Opferstätte geleitete. An der Spitze ging ein Mädchen mit einem Korb auf dem Kopf, in dem sich, unter Gerstenschrot und Bändern verborgen, das Opfermesser befand. Männliche Heranwachsende führten das Opfertier, und ein Flötenspieler gab der Prozession den Rhythmus vor. An der Opferstätte reinigten sich alle Opferteilnehmer mit Wasser die Hände, der Priester sprach die üblichen Gebete und besprengte das Haupt des Opfertieres, um es zum Senken des Hauptes zu veranlassen; dieses Nicken wurde als Einwilligung in die nachfolgende Tötung verstanden. Dann streute man Gerstenkörner, bei den Römern auch gesalzenes Schrotmehl (die sog. mola 6

Kleinasiatischer Fruchtbarkeitsgott.

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salsa), zusammen mit einigen Stirnhaaren des Opfertieres, die der Priester zuvor abgeschnitten hatte, in das Feuer des Altars (= Voropfer) und markierte damit den Beginn der eigentlichen Tötung. Größere Tiere betäubte einer der Mitwirkenden durch einen kräftigen Schlag mit der Opferaxt oder einem Hammer, die Opferteilnehmer hoben das Tier mit dem Kopf nach oben, und der Priester oder ein anderer Kultfunktionär schnitten ihm mit dem Opfermesser die Kehle durch, begleitet von dem hohen ὀλολυγή-Schrei der Frauen.7 Kleinere Opfertiere ließ man direkt über dem Altar ausbluten, bei größeren Tieren fing man das Blut mit einer Schüssel (σφαγεῖον) auf und benetzte dann den Altar. Anschließend wird das Opfertier durch den μάγειρος (Schlachter/Koch) zerlegt und zerteilt; die Schenkelknochen werden ausgelöst und mit Fett bedeckt auf dem Altar verbrannt (Götteranteil). Gehilfen des Priesters ziehen die Eingeweide (σπλάγχνα) auf Spieße auf und verteilen sie unter die Opfernden. Danach wird der Rest des Fleisches zu gleichen Teilen zerlegt; ein Teil bleibt den Göttern vorbehalten, die anderen Stücke werden nach Gewicht verteilt. Vor dem Verzehr werden sie in großen Kesseln gekocht und z. B. in tempeleigenen Restaurants wie im Asklepieion von Korinth serviert8, in anderen Fällen erlaubt das Ritual, dass diese Stücke mitgenommen und außerhalb des Opferplatzes verzehrt bzw. auf dem Fleischmarkt weiterver‐ kauft werden. 1 Kor 10,25 („Alles, was auf dem Fleischmarkt verkauft wird, esst, ohne um des Gewissens willen etwas zu untersuchen“) setzt eine solche Praxis eindeutig voraus. 1.3 Religiöse Vereine

Viele Vereine, die seit dem Zusammenbruch der Polis bzw. der ihr eigenen, ordnenden Gesellschaftsstrukturen die soziale und religiöse Realität bestim‐ men, bilden sich um solche Opferhandlungen und die daran anschließenden Gemeinschaftsmähler. Die altertümliche griechische Bezeichnung für die Mitglieder eines Vereins, ὀργεῶνες, fängt diesen Zusammenhang noch gut ein: Sie bezeichnet die „Opfergenossen“, die sich zusammenschließen, um ein Opfermahl zu feiern.9 Solche Opfermähler finden in regelmäßigen 7 8 9

Vgl. Aischylos, Sept 269; LSAM 12,26 (2. Jh. v. Chr.; Pergamon). Vgl. 1 Kor 8,10; zur Sache mit den entsprechenden archäologischen Details vgl. J. Fotopoulos, Food Offered to Idols in Roman Corinth. A Socio-Rhetorical Reconsideration of 1 Corinthians 8:1–11:1 (WUNT II/151), Tübingen 2003. Andere gebräuchliche Bezeichnungen für Vereine sind θίασος, d. i. der Festverein, der zu Ehren einer Gottheit Opfer, Umzüge und andere Festlichkeiten veranstaltet, oder

Die religiöse Umwelt des Paulus

Abständen statt, jährlich etwa zum Fest des Gottes, nach dem man sich benannt hatte – bekannte Vereinsnamen sind z. B. die „Dionysiasten“ nach dem griechischen Gott des Weins, Dionysos, oder die „Sarapiasten“ nach dem ägyptischen Gott Sarapis – oder zum Stiftungsfest, monatlich oder noch öfter. Es liegt auf der Hand, dass die frühchristlichen Gemeinden, die sich ja ebenfalls um ein gemeinschaftliches Mahl versammelten, von einem außenstehenden Beobachter leicht mit einem solchen Kultverein verwechselt werden konnten, obwohl sie sich ihrem Selbstverständnis nach eher mit der Versammlung der freien Bürger einer Polis, der ἐκκλησία, ver‐ glichen und sich auch so nannten, während diese Selbstbezeichnung für die griechischen Vereine in den antiken Quellen praktisch nicht vorkommt. Rein pragmatisch betrachtet unterschieden sich die christlichen Gemeinden aus der Außenperspektive von den griechischen und römischen Kultvereinen höchstens dadurch, dass man bei ihnen ein wenig häufiger zu Tisch gebeten wurde (nämlich wöchentlich zur Herrenmahlfeier). Wie die (häufig inschriftlich) überlieferten Vereinssatzungen noch zeigen, waren diese Vereine gut organisiert bzw. klar strukturiert, wobei man in der Mehrzahl der Fälle die Ämter des öffentlichen Lebens zu kopieren suchte. An der Spitze des Vereins stand ein entweder zeitlich befristet oder auf Lebenszeit gewählter Vorsitzender (προστάτης), in den religiösen Vereinen auch als ἱερεύς bezeichnet, der für die Durchführung des Kults, die Vollver‐ sammlungen und die Festmähler und die Umsetzung der Vereinsbeschlüsse verantwortlich zeichnete. Ihm gingen verschiedene weitere Funktionäre zur Hand. Nach der Satzung der Athener Iobakchen, eines Vereins von Dionysosverehrern, sind das der stellvertretende Priester (ἀνθιερεύς), der Archibakchos, der dem Priester beim Opfer assistiert bzw. ihn vertreten kann, der für jeden Verein obligatorische Schatzmeister sowie wohl ein Vor‐ tänzer; außerdem gibt es Ordnungskräfte.10 Auch das Amt von Schreibern

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ἔρανος, der „Speiseclub“ (eigentlich das Mahl unter Freunden, zu dem jeder etwas beisteuert). In Ägypten lautet die bevorzugte Bezeichnung für einen Verein σύνοδος; Philo verwendet ihn u. a. für die Zusammenkünfte der Therapeuten (Vit Cont 40). Die lateinische Bezeichnung für den Verein ist collegium. SIG3 1109. Eingehende Besprechung der Satzung bei G. Scheuermann, Gemeinde im Umbruch. Eine sozialgeschichtliche Studie zum Matthäusevangelium (FzB 77), Würz‐ burg 1996, 17-20.29-43. Die Inschrift datiert gegen Ende der 60er Jahre des 2. Jh.s n. Chr. Der Text auch bei Th. Schmeller, Hierarchie und Egalität. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung paulinischer Gemeinden und griechisch-römischer Vereine (SBS 162), Stuttgart 1995, 110-115; danach J. Schröter/J.K. Zangenberg, Texte 423-426. Zu den Details der Iobakchen vgl. E. Ebel, Die Attraktivität frühchristlicher Gemeinden. Die

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(γραμματεύς/scriba) ist für Vereine belegt. Die Athener Iobakcheninschrift regelt darüber hinaus die Aufnahmemodalitäten aufs Genaueste und kennt auch einen Verhaltenskodex für die Versammlungen; eine aus Ägypten stammende und gegen Ende der Ptolemäerzeit datierende Vereinssatzung verbietet sogar explizit die Bildung von Fraktionen (σχίσματα), ein Phäno‐ men, das wir aus Korinth nur allzu gut kennen (vgl. 1 Kor 11,18).11 Ihre Existenz verdanken viele der uns bekannten antiken Vereine der Stiftung eines reichen Patrons oder einer Patronin (patronus/patrona; die griechischen Pendants sind προστάτης bzw. προστάτις), die häufig den Versammlungs- und Kultort, aber auch ein Grundstück für die Bestattung der verstorbenen Mitglieder zur Verfügung stellten. Damit verbunden war in der Regel auch die Überlassung eines Stiftungskapitals, aus dessen Zinsen die Festmähler bestritten und Geldgeschenke verteilt werden konnten (s. die abgedruckte Stifterinschrift). Das trug ihnen gar nicht so selten den Ehrennamen pater bzw. mater collegii, „Vater“ oder „Mutter des Vereins“ ein. Ganz im Rahmen dieser Familienmetaphorik liegt es, wenn die Mitglieder eines solchen Vereins als Bruder, ἀδελφός, oder Schwester, ἀδελφή (soweit Frauen zugelassen waren), bezeichnet werden. Wieder drängt sich der Vergleich mit den frühchristlichen Gemeinden förmlich auf, zumal diese mit Phöbe, der διάκονος und προστάτις der Gemeinde von Kenchreä (vgl. Röm 16,1f.!), offenbar eine Patronin in ihren Reihen verzeichnet.12 Eine Vereinssatzung. Das Statut des Vereins des Aesculap und der Hygia: Salvia Marcellina, die Tochter des Caius, schenkte zum Gedächtnis an Fl. Apollonius, einen Prokurator des Augustus, der Leiter der staatlichen Gemäldesammlung war, und an seinen Assistenten Capito, einen Freige‐ lassenen des Augustus, ihren allerbesten und herzensguten Gemahl, dem Verein des Aesculap und der Hygia ein Häuschen mit Anbau, ein Aescu‐ lapbild aus Marmor und eine bedeckte Terrasse, damit die Mitglieder des

11 12

Gemeinde von Korinth im Spiegel griechisch-römischer Vereine (WUNT II/178), Tübin‐ gen 2004, 76-150; weiter M. Oehler, Antikes Vereinswesen, in: K. Scherberich (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur, II: Familie. Gesellschaft. Wirtschaft, Neukirchen-Vluyn 2005, 79-86. PLondon 2710 = SGUÄ 7835; eine deutsche Übersetzung bei Klauck, Umwelt I, 54. Der Sachverhalt ist allerdings nicht unumstritten; ich schließe mich diesbezüglich der Meinung von H.-J. Klauck, Junia Theodora und die Gemeinde von Korinth, in: ders., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum. Neutestamentliche Studien (WUNT 152), Tübingen 2003, 232-247 (245 f.), an.

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genannten Vereins an diesem Ort speisen können. … Ebenso schenkte dieselbe Marcellina dem genannten Verein 50.000 Sesterzen für 60 Perso‐ nen unter der Bedingung, dass nicht mehr aufgenommen werden als die genannte Zahl und dass die Plätze der Verstorbenen verkauft werden und Freie aufgenommen werden, oder, wenn einer seinen Platz seinem Sohn vermachen möchte, dass der die Hälfte des Begräbnisgelds in die Kasse zahlt; außerdem dürfen sie das genannte Geld nicht zu anderen Zwecken umwidmen, sondern mit den Zinsen dieser Summen sollen sie an den unten genannten Tagen an dem Ort feiern; wenn sie aus den (Zins-)Einkünften dieser Summe Geschenke gekauft haben für die 60 Personen, aufgrund des gemeinsamen Beschlusses …, dann sollen sie am 19. September, dem höchst segensreichen Geburtstag unseres Augustus Antoninus Pius, des Vaters des Vaterlandes, Geschenke verteilen: … dem C. Ofilius Hermes, dem Quinqennalis auf Lebenszeit, oder wer es dann sein wird, 3 Denare, dem Aelius Zeno, dem Vater des Vereins, 3 Denare, der Salvia Marcellina, der Mutter des Vereins, 3 Denare, den beitragsfreien Mitgliedern je 2 Denare, den Kuratoren je 2 Denare, dem Volk je 1 Denar. Ebenso wurde beschlossen, dass sie am 4. November, dem Geburtstag des Vereins, aus den oben genannten Einkünften an die beim Marsbild (oder: Marstempel) in unserem Vereinshaus Versammelten folgende Summen verteilen: dem Quinquennalis 6 Denare, dem Vater des Vereins 6 Denare, den beitragsfreien Mitgliedern je 4 Denare, den Kuratoren je 4 Denare, Brot für 3 (Asse); an Wein dem Quinquennalis 9 Schoppen, dem Vater des Vereins 9 Schoppen, den beitragsfreien Mitgliedern je 6 Schoppen, den Kuratoren je 6 Schoppen, dem Volk je drei Schoppen.13 2 Die Mysterienkulte 2.1 Begriff

Eine besondere Spielart der religiösen Vereine stellen die Mysterienvereine dar, die auf ein für das Verständnis des frühen Christentums fundamentales religiöses Phänomen hinweisen: die Mysterienkulte. Der Name „Mysterien“ (von griech. μυστήρια) bezeichnet eine Form von kultischen Feiern, deren Kern – in des Wortes ureigenster Bedeutung – „geheim“ bleibt. Sie finden im Verborgenen statt, oft in der Nacht. In Ergänzung zur offiziellen Religion

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ILS II/2, 7213 (153 n. Chr.); Text und Übersetzung nach Schmeller, Hierarchie (Anm. 10).

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existierten derartige Kulte vom 7. Jh. v. Chr. an bis zum 4. Jh. n. Chr., bis ihnen das inzwischen zur Staatsreligion aufgestiegene Christentum ein Ende bereitete. Neben Eleusis, dem antiken Mysterienkult „par excellence“, erfreuten sich besonders die Dionysos-, Attis-, Isis- und Mithrasmysterien, die allesamt im Gegensatz zu den eleusinischen Mysterien nicht auf einen bestimmten Ort festgelegt waren, weiter Verbreitung. Weil der Zugang zu den Mysterien nicht allen offenstand, sondern für eine besondere Gruppe von Eingeweihten reserviert war, stellt die Einwei‐ hung oder Initiation ein konstitutives Merkmal dieser Kulte dar. Walter Burkert bestimmt deshalb die Mysterienkulte als „Initiationsrituale; dies heißt, dass die Zulassung von einer persönlichen Zeremonie abhängt, der sich jeder einzelne zu unterziehen hat“.14 Dabei gründet die Einweihung in die Mysterien jedoch auf der freien Entscheidung des Einzelnen, der sich davon eine Form persönlicher Sicherung gegenüber Bedrängnissen, insbesondere Krankheits- und Todesfurcht, versprach. Wie eine solche Einweihung vonstattenging, sei am Beispiel der eleusinischen Mysterien paradigmatisch vorgeführt. Eleusis stand nicht nur Modell für die übrigen Mysterien, es ist auch derjenige Kult, über den die antiken Quellen am Ausführlichsten berichten. 2.2 Die Mysterien von Eleusis

Charakteristisch für das eleusinische Weiheritual ist der Dreischritt von Myesis („Einweihung“), Telete („Vollendung“) und Epoptie („Schau“). Über den Ablauf der ersten Stufe, also der Myesis, die als der eigentliche Wei‐ hevorgang gelten kann, informieren zwei kaiserzeitliche Relieffriese, die sog. Lovatelli-Urne und der Sarkophag von Torre Nova.15 Sie zeigen den Initianden – nach vorausgegangenem Ferkelopfer und ritueller Reinigung – auf einem mit einem Widderfell bedeckten Schemel, den Kopf unter einem Tuch verhüllt. Eine Priesterin hält eine Getreideschwinge darüber (Lovatelli-Urne) bzw. führt (eine) brennende Fackel(n) nahe an seine Hand heran. Beides zielt auf die Reinigung des Initianden durch Luft und Feuer und 14 15

W. Burkert, Mysterienkulte, 15; ähnlich D. Zeller, Mysterien, 504: die Mysterien sind von den Initiationsriten her zu erhellen und weisen die Struktur eines rite de passage auf. Eine schöne Abbildung der Lovatelli-Urne bei Burkert, Mysterien, Abb. 2-4; der Sarko‐ phag von Torre Nova findet sich u. a. bei J. Leipoldt/W. Grundmann (Hg.), Umwelt des Urchristentums, Bd. 3: Bilder zum neutestamentlichen Zeitalter, Berlin 61987, Abb. 34; dort (Abb. 32) auch die Wiedergabe eines Marmorreliefs aus Neapel, welches mit der Darstellung des Sarkophags weitgehend übereinstimmt.

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weist zugleich auf die Gründungslegende der eleusinischen Mysterien, den Raub der Demetertochter Persephone durch den Herrscher der Unterwelt, Hades, der im homerischen Demeterhymnus festgehalten ist. Als Demeter auf der Suche nach ihrer geraubten Tochter das Haus des Königs Keleos betritt, da „wollte [sie] nicht sitzen im glänzenden Lehnstuhl, harrte in Schweigen, senkte die Augen, bis endlich Jambe, die trefflich Erfahrene ihr einen festen Sitz hinschob und darüber ein Vließ warf, glänzend, als wär es von Silber. Darauf ließ jene sich nieder, hielt mit den Händen das Kopftuch sich vor die Augen und saß so voller Betrübnis lang auf dem Sitz und ließ nichts verlauten.“16

Das aber heißt: Indem der Initiand im Ritual die heilige Tradition nachvoll‐ zieht, gewinnt er gleichsam Anteil am Schicksal der Göttin und erhofft für sein eigenes Geschick einen ähnlich glücklichen Ausgang, wie er im Mythos der Göttin zuteil wird. Entsprechungen zwischen Mythos und Ritus, wie sie hier im Rahmen der Myesis sichtbar werden, gibt es auch beim eleusinischen Hauptfest im Monat Boedromion (September/Oktober), den sog. „großen Mysterien“.17 Schon die feierliche Prozession von Athen in das ca. 20 km entfernte Eleusis konnte als rituelle Wiederholung der Suche Demeters nach ihrer Tochter verstanden werden.18 Assoziationen zum Mythos weisen darüber hinaus das im eleusinischen Synthema erwähnte Fasten und das Trinken des Kykeons auf19: „Keinen begrüßte sie (= die Göttin), weder mit Worten noch Gebärden; ohne zu lächeln, ohne zu essen, ohne zu trinken“, bis sie sich schließlich von Jambe umstimmen lässt und den Mischtrank „des 16 17

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Homerische Hymnen, Dem 192-198; die Übersetzung nach A. Weiher, Homerische Hymnen. Griechisch – Deutsch (TuscBü), München/Zürich 51986. Im Unterschied zu den „kleinen Mysterien“ von Agrai, die im Frühjahr gefeiert wurden und während derer die Einweihung in den ersten Weihegrad (Myesis) stattfand. Scholien Aristophanes, Plutos 848 Turchi, betrachtet die kleinen Mysterien als „eine Vorreinigung (προκαθάρσις) und Vorheiligung (προάγνευσις) der großen Mysterien“. Vgl. Lactanz, Inst Epit 18: „Mit angezündeten Fackeln wird in der Nacht Proserpina gesucht; wenn sie gefunden ist, wird die ganze Feier mit Jubeln und Fackelschwingen beendet“; weitere Belege bei W.D. Berner, Initiationsriten, 20. Überliefert bei Clemens Alex., Protr 21,2: „Ich fastete, ich trank den Mischtrank (Kykeon), ich nahm aus der Kiste, ich ,werkelte‘ und legte dann in den Korb und aus dem Korb wieder in die Kiste.“ Solche Kenn- oder Passwörter, die rückwirkend einen Ausschnitt aus dem Mysteriengeschehen einfangen, gibt es in allen Mysterienkulten; sie dienten dem Mysten als eine Art Ausweis, entweder bei der Zulassung zur nächsten Weihestufe oder im täglichen Leben.

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heiligen Brauches wegen“ trinkt (Hom. Hym., Dem 199f.211). Erwogen wird außerdem die Aufführung des Kultdramas (der Raub der Persephone) durch das eleusinische Kultpersonal. Den Höhepunkt der nächtlichen Feier erlebten die Initianden im Tele‐ sterion, einer großen überdachten Versammlungshalle, die für ca. 3000 Personen Platz bot und in ihrer Mitte (nicht ganz im Zentrum) eine kleine Kapelle, das Anaktoron (etwa: „Herrenhaus“), beherbergte. Einer bei Hippo‐ lyt festgehaltenen Überlieferung zufolge öffnete sich das Anaktoron zu einem bestimmten Zeitpunkt, Flammen loderten empor20 und in ihrem Schein zeigte der Hierophant einen heiligen Gegenstand vor, dabei mit lauter Stimme das Mysteriengeheimnis verkündend: „Einen heiligen Knaben gebar die Herrin, Brimo den Brimos, d. h. die Starke den Starken.“21

Mit der Herrin Brimo ist entweder Demeter oder Persephone, mit dem Knaben Brimos entweder Plutos, der personifizierte Reichtum, oder der Myste, der durch Zuruf und Schau zum Kind der Gottheit wird, gemeint. Zentraler Gegenstand der Schau ist, wenn wir weiter Hippolyt folgen, eine geschnittene Ähre. Alternativ kommen für den „heiligen Gegenstand“ auch altehrwürdige Götterstatuen in Betracht, die dann die Epiphanie der Demeter oder das Heraufsteigen der Kore („Mädchen“), wie Persephone ebenfalls häufig genannt wurde, aus der Unterwelt symbolisieren würden. Ein Vorschlag von Marion Giebel geht indessen dahin, Schau der Ähre (sowie der Gegenstände in der „Kiste“, auf die das eleusinische Synthema anspielt, s. o.) und Epiphanie der Kore (wie auch immer realisiert) voneinan‐ der zu trennen: Erstere weist sie der Telete zu, letztere der Epoptie.22 Sinnvoll ist dieser Vorschlag allemal, da nach Ausweis der antiken Quellen zwischen Telete und Epoptie ein Zeitraum von mindestens einem Jahr liegen musste. Wie man dies dann allerdings organisatorisch bewältigt hat, wissen wir nicht; Zugang zum Telesterion hatten alle Mysten. Möglicherweise wurden die Teleten vor den der Epoptie zugeordneten Akten hinausgeschickt, oder es wurde ihnen der Kopf verhüllt. 20 21 22

Bestätigt durch Plutarch, Prof Virt 11 (Mor 81E): „wer ins Innere gelangt und den großen Schein sieht, wie z. B., wenn das Anaktoron sich öffnet …“. Hippolyt, Refut V 8,39f. M. Giebel, Geheimnis, 44-46. Möglich bleibt auch die bei Zeller, Mysterien, 505 f., vorgeschlagene Zuordnung, wonach die Telete in den Umkreis des Synthemas gehört, die Schau der Ähre in den Bereich der Epoptie.

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2.3 Weitere Mysterienkulte

Für die eingangs erwähnten übrigen antiken Mysterienkulte lassen sich ganz ähnliche Beobachtungen anstellen, was natürlich damit zu tun hat, dass die eleusinischen Mysterien als ältester und über Jahrhunderte hinweg bestehender Kult prägend gewirkt haben. So gehen der eigentlichen Initia‐ tion fast immer wie in Eleusis vorbereitende Riten voraus, die häufig die Unterweisung des Initianden, Fasten (mit sexueller Enthaltsamkeit) und ein Reinigungsbad beinhalten. Natürlich gibt es auch Spezifika. Berühmt-berüchtigt waren schon in der Antike die Galloi, Priester des Attis- und Kybelekults, die den Gründungsmythos ihres Kults wörtlich neh‐ men, sich bei orgiastischen Feiern mit schriller Musik in Ekstase tanzen und sich auf dem Höhepunkt ihrer Ekstase selbst entmannten.23 Möglicherweise steht im Zentrum der Einweihung in die Mysterien die rituelle Hochzeit zwischen der Gottheit und dem Mysten.24 Die Mithrasmysterien, in der älteren Forschung verschiedentlich als ernsthafte Konkurrenz zum Chris‐ tentum interpretiert, haben ihr Charakteristikum darin, dass es insgesamt sieben Weihestufen gibt, die den Aufstieg der Seele durch die verschiedenen Himmelssphären abbilden: corax (Rabe), nymphius („männliche Braut“), miles (Soldat), leo (Löwe), perses (Perser), heliodromus („Sonnenläufer“) und pater (Vater). Der fast ausnahmslos auf Männer beschränkte Kult war unter Soldaten und Kaufleuten besonders populär (darauf lässt die hohe Anzahl von Mithräen, d. h. von Kulthöhlen, entlang der römischen Grenze schließen); in Rom und Ostia (hier hat man 18 Mithräen gefunden) dürfte die Zahl der Mithräen in die Hunderte gegangen sein. Dabei handelt es sich stets um lang gestreckte, vom Tageslicht abgeschottete Räume mit einem Gang in der Mitte und halbhohen, leicht geneigten Steinbänken an beiden Seiten, die für 40-50, maximal 100 Teilnehmer ausgelegt sind. An der Stirnseite finden sich das Kultbild (Mithras, der dem Stier den Dolch in die Flanke bohrt;

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24

Der Mythos ist bei Ovid, Fasti 223-244; Catull, Carmina 63,1-26.91-93 festgehalten: Aus Rache (weil er ihr untreu geworden war) trieb Kybele, eine kleinasiatische Muttergottheit, ihren jugendlichen Geliebten Attis in den Wahnsinn, so dass dieser sich selbst entmannte und daran starb. Auf Bitten Kybeles, die ihre Untat im Nachhinein bereut, lässt Zeus den Leichnam des Attis unverwest. Seine Haare wachsen und der kleine Finger bewegt sich. Attis wurde damit zum „lebenden Leichnam“. Vgl. Clemens Alex., Protr 15,3: „Aus dem Tympanon aß ich, aus der Zymbel trank ich, ich trug den Kernos umher; ich ging in die innere Kammer ein.“ Für die „innere Kammer“ steht im Griechischen παστός, was auch mit „Brautgemach“ übersetzt werden kann.

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aus dem Schwanz des Stiers sprießen Kornähren hervor) und ein kleiner, niedriger Altar. Über die Einweihung in die Mysterien der aus Ägypten stammenden, aber im 1. Jh. n. Chr. bereits zur mediterranen Allgottheit gewachsenen Isis sind wir durch den vermutlich mit autobiographischen Elementen durchsetzten Bericht des Apuleius (ca. 125-180 n. Chr.) im 11. Buch seiner Metamorphosen relativ gut informiert.25 Nach den üblichen vorbereitenden Riten (mit Instruktionen in der alten ägyptischen Schrift, Reinigungsbad und zehntägigem Fasten mit Verzicht auf Fleisch und Wein) kommt es schließ‐ lich zum Weiheritual, das der Held des Romans, Lucius, folgendermaßen beschreibt: „Ich nahte dem Grenzbereich des Todes, stieg über Proserpinas Schwelle und fuhr durch alle Ebenen zurück; um Mitternacht sah ich die Sonne in weißem Licht flimmern, trat zu den Totengöttern und Himmelsgöttern von Angesicht zu Angesicht und betete sie ganz aus der Nähe an“ (Apuleius, Met XI 23,7).

Das wird man wohl so deuten dürfen: Die Mysten machen eine Hadesfahrt mit, eine Reise bis zum Eingang in die Unterwelt, wo Proserpina (= Perse‐ phone) residiert. Dadurch sterben sie symbolisch und gelangen wieder zu neuem Leben. Die Fahrt „durch die Elemente“ (Feuer, Wasser, Luft und Erde, eventuell auch noch der Äther) soll vielleicht andeuten, dass der Initiand mit den Bausteinen des Universums in Kontakt tritt und nun versteht, was die Welt zusammenhält.26 Archäologisch wird diese Interpretation dadurch gestützt, dass es in den Isistempeln unterirdische Räume, Gänge und Kryp‐ ten gab (für das Iseum in Pompeji nachgewiesen), an deren Wänden Szenen aus der Unterwelt und dem Mythos, in dem die Tötung und das Weiterleben des Gatten der Isis, Osiris, in der Unterwelt im Mittelpunkt steht, bildlich dargestellt waren.27

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Dazu ausführlich J. Gwyn Griffiths, Apuleius of Madauros: The Isis-Book (Metamor‐ phoses, Book XI) (EPRO 39), Leiden 1975. Im Blick auf den Kolosserbrief und die dort von der „Philosophie“ vertretene Verehrung der Elemente könnte man auch überlegen, ob die Initiation in die Isismysterien nicht zu einem angstfreien Umgang mit den Elementen führen will. Der Mythos ist bei Plutarch, Is et Os 12-19, in seinen wesentlichen Zügen festgehalten; vgl. dazu J. Gwyn Griffiths, Plutarch’s De Iside et Osiride, Cardiff 1970. Zu den archäologischen Befunden vgl. K. Kleibl, Iseion. Raumgestaltung und Kultpraxis in den Heiligtümern gräco-ägyptischer Götter im Mittelmeerraum, Worms 2009.

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Wenden wir uns am Ende unseres Durchgangs durch die antiken Myste‐ rienkulte schließlich noch den Dionysosmysterien zu, die es an Alter fast mit den eleusinischen Mysterien aufnehmen können, im Unterschied zu diesen aber nicht an einen festen Ort gebunden und deshalb schon früh weit verbreitet waren.28 In Rom waren sie wegen des sog. Bacchanaliens‐ kandals (186 v. Chr.) zeitweise verboten; die in dessen Folge verhängten Restriktionen wurden aber unter Cäsar wieder gelockert und führten zu einer Vielzahl von Mysterienvereinen, wobei sich vor allem die Oberschicht des Kultes annahm. Eine Inschrift aus Torre Nova (ca. 150 n. Chr.) listet über 500 Mitglieder eines solchen Vereins auf; sie setzen sich zusammen aus einer Senatorenfamilie, ihren Sklaven und ihrer Klientel und sind nach Rang und Grad innerhalb des Kultes verzeichnet. Oberpriesterin ist die Herrin des Hauses, Agrippinilla.29 Weitere Hinweise geben vielleicht die sog. Mysterienvillen, mit der Villa Item in Pompeji als ihrem bekanntesten Beispiel. Die Einweihung in die Mysterien fand in der Nacht statt, bevorzugt in ei‐ ner Höhle oder Grotte im Freien; vorausgegangen waren eine Unterweisung des Initianden und ein zehntägiges Fasten mit sexueller Enthaltsamkeit. Inwieweit dabei die bei Euripides überlieferte Omophagie (= Rohfleisches‐ sen) in der Kaiserzeit noch praktiziert wird, entzieht sich unserer Kenntnis. Den euripideischen Bakchen zufolge übt Dionysos selbst Sparagmos (das Zerreißen lebender Tiere mit bloßen Händen oder unter Zuhilfenahme von diversen Instrumenten) und Omophagie, was ihm seine Anhängerinnen nachtun.30 Das lässt auf ein Ritual schließen, bei dem die Verehrerinnen und Verehrer des Gottes ein Opfertier zerstückeln und die Bissen roh verschlingen.31 Clemens von Alexandrien zufolge tun sie dies „zum Zeichen 28

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Die Existenz von Dionysosmysterien darf für das 5. Jh. v. Chr. als sicher vorausgesetzt werden, da Euripides in seiner 405 v. Chr. uraufgeführten Tragödie Die Bakchen auf die Mysterien des Dionysos anspielt; vermutlich sind sie aber noch älter. Besondere Förderung erfuhr der Kult in Ägypten, wo die Ptolemäer den Dionysoskult zeitweise zum Staatskult machen wollten und die Juden zur Teilnahme an den Mysterien zu zwingen versuchten (vgl. 3 Makk 2,27-30). Der Text bei L. Moretti, Inscriptions Graecae Urbis Romae I (= IGUR I), Nr. 160. Euripides, Bakchen 135-140.735-747. Diesen Rückschluss lässt auch ein Fragment aus dem Euripidesdrama „Die Kreter“ zu (frg. 472,9-15 Nauck), wenngleich hier verschiedene Kulte zusammengeflossen sein dürften: „Ein heiliges Leben führe ich, seit ich ein Myste des Zeus vom Berge Ida geworden bin und Hirte des nächtlich schwärmenden Zagreus (= Dionysos). Ich vollzog das Festmahl des rohen Fleisches (ὠμοφάγους). Ich schwang im Gebirge die Fackel der großen Mutter. Heilig geworden nenne ich mich nun ein Bakche.“

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für die Zerreißung, die Dionysos von den Mänaden erlitt“ (Protr. 119,1), d. h. es findet beim Rohfleischessen eine Vereinigung mit der Gottheit statt, deren Lebenskraft man sich auf diese Weise einzuverleiben sucht. Nach der Einweihung finden in periodischen Abständen nächtliche Feiern statt mit Elementen wie Verkleidung, Darstellung von Teilen des Mythos, Umzüge mit Tanz und Musik, Weintrinken und festlichen Mahlzeiten. Wenn man die aus dem 5/4. Jh. v. Chr. stammenden orphisch-bakchi‐ schen Goldplättchen, wahrscheinlich Totenpässe, die dem Bakchen den Weg durch das Jenseits weisen sollten, den Dionysosmysterien zuordnen darf, verbinden sich mit den Dionysosmysterien schon früh besondere Jenseitshoffnungen.32 Für die Kaiserzeit bestätigt das Plutarch, der in seiner Trostschrift für seine Frau anlässlich des Todes ihrer Tochter auf ihrer beider Einweihung in die Mysterien des Dionysos verweist.33 Konkret erwartete man eine Fortsetzung der Mysterienfeier im Jenseits. 2.4 Mysterienkulte und paulinische Gemeinden

Gerade von den Dionysosmysterien her – der Gott ist im Wein; beim Roh‐ fleischessen verleiben sich die Initianden die Gottheit ein – versteht man gut, warum die ältere religionsgeschichtliche Schule die frühchristlichen Sakra‐ mente (Taufe und Herrenmahl) aus den Mysterienkulten abgeleitet und Tod und Auferstehung Jesu vor dem Hintergrund des Sterbens und Wiederauf‐ lebens der Mysteriengottheiten erklärt hat.34 Derart einseitige Herleitungen werden aber weder dem religionsgeschichtlichen Befund (das „Weiterleben“ des Attis oder des Osiris ist etwas anderes als die Auferweckung Jesu) noch dem Textbefund gerecht. Andererseits scheint es aber nicht weniger überzogen, wenn man gerade im Bereich der paulinischen Gemeinden jeglichen Einfluss der Mysterienreligionen in Abrede zu stellen versucht.35 Dass die Korinther das Herrenmahl im Sinne einer Mysterienmahlzeit ver‐ standen haben – das Essen und Trinken der eucharistischen Gaben Brot und 32 33 34

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Vgl. C. Riedweg, Initiation – Tod – Unterwelt. Beobachtungen zur Kommunikationssi‐ tuation und narrativen Technik der orphisch-bakchischen Goldblättchen, in: F. Graf (Hg.), Ansichten griechischer Rituale, FS W. Burkert, Berlin 1998, 359-398. Plutarch, Consolatio ad uxorem 10 (Mor 611D). Noch Rudolf Bultmann hat in seiner 1953 erstmals erschienenen und vielfach nachge‐ druckten Theologie des Neuen Testaments die Sakramente ganz von den Mysterienkul‐ ten her erklärt, vgl. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (UTB 630), Tübingen 8 1983, 135-155. So aber Zeller, Mysterien, 522: „Im Bereich des Neuen Testaments lassen sich kaum Entlehnungen aus den Mysterienkulten nachweisen“.

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Wein schafft communio mit dem nach einer Mysteriengottheit verstandenen Kultheros Christus – und Paulus ein solches Verständnis ekklesiologisch korrigiert, ist m. E. jedenfalls immer noch die beste Erklärung für 1 Kor 10,16f. bzw. den gesamten Abschnitt zum Herrenmahl (1 Kor 11,17-34), und ähnlich dürfte sich der Sachverhalt auch für Röm 6,3f. darstellen, wo Paulus einem Taufverständnis entgegentritt, das wiederum nach Art der Mysterienkulte mit der Taufe die Partizipation am Geschick der Gottheit, d. h. hier konkret an Tod und Auferweckung Jesu, verbindet (vgl. dagegen Kol 2,12f.!). Während Paulus dem Gedanken, dass mit der Taufe auf den Tod Christi auch der alte Mensch gestorben ist, durchaus zustimmen kann, setzt er einer aus der Taufaussage abgeleiteten präsentischen Eschatologie Grenzen.36 Bei ihm erwächst aus dem Indikativ der Imperativ. 3 Mantik, Wunder, Zauberei 3.1 Das Orakelwesen

Mysterienreligionen sind, um noch einmal Walter Burkert zu zitieren, eine „persönliche Option“, von der man sich (sicher nicht nur) ein besseres Leben im Jenseits versprach. Bis dahin war aber in der Regel noch Zeit, und der All‐ tag mit seinen banalen und weniger banalen Sorgen musste stets aufs Neue gelebt und bewältigt werden. Hier traten die antiken Orakel auf den Plan, indem sie für praktisch alle Wechselfälle des Lebens (Entscheidungs-)Hilfe anboten. Orakel sind Weissagungen, die an bestimmten Orten nach einem festgelegten Ritus und zu festgelegten Zeiten, an denen die Gottheit als anwesend gedacht war, erteilt wurden; zugleich bezeichnet der Begriff „Orakel“ den Ort der Weissagung. Insgesamt lassen sich in der griechischen Welt über 60 Orakelstätten von unterschiedlicher Bedeutung nachweisen. Das berühmteste Orakel war zweifellos Delphi in Griechenland, aber auch das Ammonorakel der Oase Siwa in Libyen (das u. a. von Alexander d.Gr. aufgesucht worden war) oder das Apollonorakel in Didyma bei Milet mit seinem gewaltigen Tempel waren weit über ihre Landesgrenzen hinaus bekannt und berühmt.

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Vgl. dagegen ein bei Firmicus Maternus, De errore profanorum 22,1, erhaltenes Text‐ stück, das mit den Osirismysterien in Verbindung gebracht und regelmäßig zu Röm 6,3f. zitiert wird: „Seid getrost, ihr Mysten, da der Gott gerettet ist; denn es wird euch aus Mühen Rettung zuteil.“

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Die Gründe, ein Orakel aufzusuchen, waren dementsprechend vielfältig: Oft ging es um die hohe Politik wie zur Zeit der Perserkriege (490-479 v. Chr.), als das delphische Orakel geradezu Hochkonjunktur hatte, weitaus häufiger aber darum, ob man eine Reise antreten solle oder nicht, ob man einen Acker kaufen solle, ob man heiraten solle, usw.37 Erst recht liegt die Befragung eines Orakels nahe, wenn Unglück und Krankheiten die Familie heimsuchen. So fragt eine Frau namens Nikokrateia beim Zeusorakel in Dodona in Nordgriechenland an, „welchem von den Göttern sie wohl günstiger und besser opfere und so von ihrer Krankheit loskomme“.38 Ein weiteres Beispiel: Der vermutlich bekannteste Hypochonder des 2. Jh.s n. Chr., der Sophist und Redner Aelius Aristides (117-180 n. Chr.), berichtet in seinen Hieroi Logoi, den „Heiligen Berichten“, von einer Befragung des Apollonorakels in Klaros an der ägäischen Küste, als sich seine Leiden wieder einmal verschlimmerten. Vom Propheten des klarischen Apoll erhält er in der „heiligen Nacht“ – das steht so wörtlich im Text – zur Antwort: „Gesund wird machen dich und heil Asklepios / zu Ehr und Ruhm der hehren Stadt des Telephos / von des Kaikos Wasserlauf nicht weit entfernt.“39

Das ist bereits eine recht komplexe Antwort, und man mag hier über die Art und Weise des Orakelempfangs und die metrische Formulierung des Orakelspruchs ebenso rätseln wie im Fall der delphischen Pythia, deren Orakelsprüche seit der Antike Gegenstand gelehrter und weniger gelehrter 37

38 39

Vgl. die Auswahl und die ergänzende Liste von Orakelanfragen dieser Art bei M. Totti, Ausgewählte Texte der Isis- und Sarapisreligion (SubEpi 12), Hildesheim 1985, 130-139; für das Orakel von Dodona in Epirus belegen die in mehreren Tausend Exemplaren gefundenen und zum größten Teil noch gar nicht publizierten Bleitäfelchen die große Spannweite der Orakelanfragen (vgl. J. Rickenbach, Dodona – eine der ältesten Orakelstätten der Antike, in: A. Langer/A. Lutz [Hg.], Orakel. Der Blick in die Zukunft [Ausstellungskatalog Museum Rietberg], Zürich 1999, 44-49). Erhalten auf einem Bleitäfelchen aus Dodona (4./3. Jh. v. Chr.); Text und Übersetzung als Nr. 126 bei G. Pfohl, Griechische Inschriften als Zeugnisse des privaten und öffentlichen Lebens. Griechisch-deutsch (TuscBü). München 21980, 141f. Aelius Aristides, Hieroi Logoi III 12; die Übers. nach H.O. Schröder, Publius Aelius Aristides: Heilige Berichte. Einleitung, deutsche Übersetzung und Kommentar (Wiss. Kommentare zu griech. u. lat. Schriftstellern), Heidelberg 1986. Über den Vorgang der Orakelerteilung berichten Tacitus, Ann II 54, und Jamblich, Myst III 11, übereinstim‐ mend, der (stets aus der Stadt Milet stammende) Orakelpriester (προφήτης) steige in eine Höhle hinab, trinke vom Wasser einer geheimen Quelle und erteile Sprüche über die Anfragen, die die Ratsuchenden lediglich zu Gedanken formulieren, aber nicht aussprechen mussten. Jamblich zufolge fand die Veranstaltung nur zu bestimmten Terminen statt.

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Diskussionen sind. Befand sich die Pythia, das Medium zwischen dem delphischen Orakelgott Apollon und den Menschen, in einer Art Trancezu‐ stand, wenn sie die Orakel erteilte? Schon in der Antike hat man das Kauen von Lorbeer und eine toxische Wirkung desselben vermutet, aber das geben weder Blatt noch Frucht des Lorbeers her. Plutarch, der am Heiligtum zu Delphi Priester war, erwähnt eine Felsspalte im Innern des Tempels, über die sich die Pythia setzte. Aus dieser seien Dämpfe ausgetreten und hätten die Pythia in Trance versetzt. Aber auch das ist durch archäologische und geologische Untersuchungen widerlegt. Die Felsspalte, von der Plutarch spricht, hat es nie gegeben. Es gibt deshalb keinen Grund, die Pythia als eine in Ekstase geratene Seherin zu verstehen. Überhaupt zeigt ein Blick auf die antiken Quellen, dass man in der Regel auf sehr einfache und wenig geheimnisvolle Formen der Orakelerteilung zurückgriff. Häufig hat man, wie etwa beim Apollonorakel von Korope, die Orakelfragen in Form der Entscheidungsfrage auf ein Blei- oder Wachstäfelchen geritzt – Soll ich, oder soll ich nicht? – und eine Entscheidung mittels Los herbeigeführt. Geradezu kurios ist ein Orakel in Phratrai im Norden der Peloponnes, von dem Pausanias erzählt.40 Mitten auf dem Marktplatz stand das Marmorbild eines bärtigen Hermes, davor ein marmorner Altar mit bronzenen Lampen. Wer nun den Gott befragen wollte, kam am Abend und zündete Weihrauch auf dem Altar an, füllte die Lampen mit Öl und zündete sie an, legte auf den Altar zur Rechten des Bildes eine einheimische Münze und fragte den Gott ins Ohr, was er fragen wollte. Dann ging er vom Marktplatz weg, wobei er sich die Ohren zuhielt; war er außerhalb des Marktplatzes angelangt, nahm er die Hände von den Ohren, und welche Stimme er zuerst hörte, hielt er für das Orakel. Solche Zufallstechniken bieten wenig Raum für moderne Spekulationen. Selbst wenn man einem direkten Eingreifen der Götter oder einer schicksalhaften Macht eher skeptisch gegenüberstand, waren diese Praktiken doch offensichtlich nachvollziehbar und leisteten Entscheidungshilfe in Situationen, die auf rationale Art und Weise offenbar nicht völlig zu bewältigen waren.

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Pausanias VII 22.

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3.2 Wunderbare Heilungen 3.2.1 Die Asklepiosheiligtümer

Mit den Orakeln verwandt bzw. eine spezielle Ausprägung derselben sind die Asklepiosheiligtümer. Asklepios, Sohn des Gottes Apollon und der menschlichen Mutter Koronis, einer Königstochter41, ist im griechischen Götterpantheon für das Heilen zuständig. Seine Kult- und Heilstätten waren über das ganze römische Reich verstreut – unter anderem gab es auch ein Asklepieion in Korinth42 –, ihre Zahl ging in die Hunderte. In Epidauros, dem Zentrum des antiken Asklepioskults, wurden vorwiegend Augenleiden bis hin zur Sehunfähigkeit und Lähmungserscheinungen geheilt; aus Kos, das aufs engste mit der dort ansässigen Ärzteschule der Asklepiaden verbunden war, ist ein pflanzliches Rezept gegen giftige Tiere bekannt (Plinius, Hist Nat 20,264). Und für Pergamon – eine Filialgründung von Epidauros, deren Blütezeit ins 2. Jh. n. Chr. datiert, als „ganz Asien“ dorthin strömte (Philost‐ rat, Vit Ap 4,45) – bezeugt Aelius Aristides in seinen „Heiligen Berichten“ u. a. die Therapie von Verdauungsstörungen. Daneben findet sich aber auch Kurioses: So bittet einer um Haarwuchs, ein anderer um Befreiung von Läusen, ein dritter schließlich um die Heilung von Kopfschmerzen, die sich aus Sorge um den Sieg in einem bevorstehenden Wettkampf eingestellt haben! Der Charakter dieser Kurzentren43, die zugleich Stätten religiöser Vereh‐ rung waren, erschließt sich am besten mittels eines (fiktiven) Rundgangs. Als Beispiel mag uns das an der ägäischen Küste der heutigen Türkei gelegene Asklepiosheiligtum von Pergamon dienen. Man erreicht es, von der Stadt herkommend, über die Heilige Straße und gelangt durch einen Torhof in den eigentlichen Tempelbezirk hinein, der von umlaufenden Säulenhallen umgeben ist. Zur Rechten liegt die Bibliothek, zur Linken ein dem Zeus Asklepios Soter, einer Art universellem Allgott, geweihter Rundtempel. Zu diesem gesellt sich noch ein älterer, im westlichen Bereich des Heiligtums befindlicher Asklepiostempel. Des weiteren gibt es diverse Brunnen- und Badeanlagen für Reinigungen und Kuren sowie ein Theater, das etwa 3500 Besuchern Platz bot.

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Pindar, Pythische Oden 3,55-58; Platon, Staat 408b-c. Vgl. Fotopoulos, Food (Anm. 8). Vgl. dazu einführend Antike Stätten am Mittelmeer (Metzler Lexikon), hg. v. K. Brodersen, Darmstadt 1999, 305-308.

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Kennzeichen eines jeden Asklepiosheiligtums sind indessen die Inkuba‐ tionsbauten, in Pergamon gegenüber dem älteren Asklepiostempel angesie‐ delt. Hierbei handelt es sich um Liegeräume, in welche sich die Kranken allabendlich unter Führung der Priester begaben. Sie hofften auf ein Traum‐ gesicht während der Nacht, in dem der Gott entweder Anweisungen für eine Erfolg versprechende Therapie gab oder, noch besser, die Heilung unmittel‐ bar im Traum vollbrachte. Beispiele dafür finden sich auf Inschriftentafeln, die in Epidauros ausgegraben wurden (Ende 4. Jh. v. Chr.). Sie enthalten ca. 70 Heilungsberichte, von denen einige zur Illustration und mit Blick auf das Neue Testament näher vorgestellt seien: „Hermodikos aus Lampsakos, am Körper gelähmt. Diesen heilte Asklepios, als er im Heilraum schlief, und er befahl ihm, wenn er herauskomme, einen Stein in das Heiligtum zu bringen, den größten, den er könne. Da brachte er den, der jetzt vor dem Heiligtum liegt. … Alketas von Halieis. Dieser war blind und sah einen Traum. Es schien ihm, der Gott komme zu ihm und öffne mit den Fingern seine Augen. Da habe er zuerst die Bäume im Heiligtum gesehen. Als es Tag geworden war, kam er gesund heraus. … Einer aus Argos, epileptisch. Dieser sah beim Schlaf im Heiligtum ein Gesicht. Es träumte ihm, der Gott trete vor ihn hin und drücke ihm seinen Fingerring auf Mund, Nasenlöcher und Ohren. Und er wurde gesund.“44

Auf welche Weise die Heilungen letztlich zustande kamen, ist kaum mehr genau zu sagen. Grundsätzlich wird man bei den „Wundergeschichten“ aus Epidauros auch mit Übertreibungen der Priesterschaft zu rechnen haben, welche die ursprünglich auf Holz (ähnlich den Votivtafeln an Mari‐ enwallfahrtsorten) festgehaltenen Dankadressen der einzelnen Gläubigen später zu Propagandazwecken auf Stein übertragen ließ. Dennoch bleiben Heilungen in Epidauros und anderen Asklepiosheiligtümern ein nicht zu leugnendes Faktum. Für ihre Erklärung bemüht man meist Suggestion bzw. Autosuggestion, wo psychogene Krankheitsursachen vorliegen, auch das Aufheben von psychischen Blockaden. Nicht ausgeschlossen sind weiter Manipulationen an den Kranken während des Schlafs. 44

Zitiert aus R. Herzog, Wunderheilungen Nr. 15.18.62. Umfassend informiert H. Solin, Wunderberichte.

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3.2.2 „Göttliche Menschen“45

Die Tempelmedizin beschränkt, mindestens ihrem Ursprung nach, die hei‐ lende Nähe des Gottes auf bestimmte Zeiten und Orte. Anders die „gött‐ lichen Menschen“, eine Art antiken Schamanentums: Das entscheidende Charakteristikum dieser Heiler ist gerade ihre Ungebundenheit. Mit den Asklepiosheiligtümern verbindet sie jedoch die Herkunft ihrer Therapien aus der Volksmedizin, wobei die magische Komponente noch stärker in den Vordergrund tritt. Empedokles, sagenumwobener Vertreter dieser Spezies aus dem 5. Jh. v. Chr., gilt der Überlieferung deshalb nicht nur als Arzt, sondern auch als Wahrsager und „Zauberer“, der mit göttlichem Anspruch auftritt: „Als ein unsterblicher Gott reise ich umher, nicht mehr sterblich … Weissagungen verlangen die einen von mir, die anderen erbitten Auskunft bei Krankheiten aller Art, um ein heilbringendes Wort zu erfahren.“46

Wie später auch Jesus (vgl. Mk 4,35-41!) werden Empedokles Fähigkeiten zur Beherrschung der Naturgewalten nachgesagt, selbst Tote soll er erweckt haben. So berichtet Herakleides Pontikos (4. Jh. v. Chr.) in seiner Schrift „Über die Scheintode oder über die Krankheiten“ von der Wiederbelebung einer Frau durch Empedokles, die weder mehr Puls noch Atem zu haben schien, sich nur durch den Rest an Körperwärme von einer Verstorbenen unterschied und von den Ärzten für tot erklärt worden war.47 In unserem Zusammenhang wichtiger ist indessen Apollonius von Tyana, der wie Paulus im 1. Jh. n. Chr. lebte. Seine allerdings erst Anfang des 3. Jh.s n. Chr. von Philostrat verfasste Biographie rühmt ihn als einen Menschen, der über Fertigkeiten auf den Gebieten der Philosophie, Astronomie, Ma‐ gie, Weissagekunst und Medizin verfügte. Apollonius werden eine Reihe von „Wundertaten“ zugeschrieben: Er heilt einen Wassersüchtigen durch diätetische Maßnahmen48 oder einen manischen Jüngling durch massive 45

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Der Begriff „göttlicher Mensch“ ist in der religionsgeschichtlichen Terminologie zunehmend in die Kritik geraten (vgl. D. du Toit, Theios Anthropos. Zur Verwendung von ,Theios Anthropos‘ und sinnverwandten Ausdrücken in der Literatur der Kaiserzeit [WUNT 11/91], Tübingen 1997); ich verwende ihn hier lediglich für die Charakterisierung eines bestimmten Typus von Wundertäter. Diogenes Laertius, Vit Phil 8,62. Herakleides Pontikos, frg. 76-89; die Fragmente sind abgedruckt bei F. Wehrli, Die Schule des Aristoteles. Text und Kommentar, Heft VII: Herakleides Pontikos, Basel/Stuttgart 2 1969, 27-32. Philostrat, Vit Ap 1,9; vgl. Lk 14,1-6!

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Bedrohung des Krankheitsdämons.49 Und wie Empedokles, Jesus oder Paulus nach der Apostelgeschichte erweckt Apollonius auch Tote; allerdings steht die Wiederbelebung einer jungen Frau aus Rom, auf deren Leichenzug Apol‐ lonius zufällig trifft, der Erweckung des Jünglings von Nain in Lk 7,11-17 näher als Apg 20,7-12: „Stellt die Bahre nieder, sagte er, ich werde euch die Tränen, die ihr des Mädchens wegen vergießt, trocknen … Er aber berührte sie nur, sprach geheimnisvoll etwas und weckte so das Mädchen vom vermeintlichen Tod auf. Das Kind redete laut und wurde in das Haus ihres Vater zurückgebracht… Als die Verwandten des Mädchens Apollonius mit 150.000 Denaren beschenkten, sagte er, dass er sie dem Mädchen als Mitgift gebe“ (Vit Ap 4,45).

Schließlich wirkt Apollonius auch Rettungswunder: Ephesus bewahrt er vor der Pest, einzelne Städte am Hellespont vor Erdbeben (Vit Ap 4,10.41; 8,7.9). 3.3 Magie

Das Wunderwirken des Apollonius wurde in der Antike nicht nur positiv rezipiert. Wie anders wäre sonst zu erklären, dass sein Anfang des 3. Jh.s n. Chr. schreibender Biograph Philostrat sich genötigt sieht, Apollonius gegen den Vorwurf der Magie in Schutz zu nehmen.50 Verantwortlich für den Magievorwurf zeichnet in diesem Fall letztlich die hippokratische wissenschaftliche Medizin, die den rituellen Heiler schon früh in den Bereich der Magie abdrängt, da er, wie im Fall der Epilepsie, die Krankheit dämonologisch erklärt (als Besessenheit) und auf Gebet und Beschwörung als Therapieformen setzt. Legt man diese Perspektive an, müsste man auch Paulus (Jesus sowieso) einen Magier nennen, da er in Apg 16,16-19 einen Dämon aus der wahrsagenden Sklavin in Philippi austreibt. Und in der Tat: Auch Paulus wird der Magievorwurf gemacht, aber erst spät, nämlich in den apokryphen Paulus- und Theklaakten, und aus einem anderen Grund: er bringe Frauen mittels Zauberei in seine Gewalt, so dass diese plötzlich

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Philostrat, Vit Ap 4,20. Vgl. Philostrat, Vit Ap 1,2: „Einige halten ihn sogar für einen Zauberer (μάγον), weil er mit den babylonischen Magiern, mit den indischen Brahmanen und den ägyptischen Gymnosophisten Umgang hatte, und verleumden ihn mit ihrer völlig falschen Auffas‐ sung, er sei der gewalttätigen Wissenschaften kundig.“ Vgl. auch Dio Cassius 77,18,4, wo Apollonius als γόης καὶ μάγος ἀκριβής bezichtigt wird.

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keinen Gefallen an der Ehe mehr fänden.51 Damit ist eine Spielart der antiken Magie genannt, der Liebeszauber, der in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle von Männern in Bezug auf Frauen ausgeübt wird und bei dem es darum geht, das sich widerstrebende „Objekt der Begierde“ gefügig zu machen. Andere Felder des Schadenzaubers sind Gerichtsverhandlungen, Agone oder Handelsgeschäfte, also stets Situationen, die konfrontativ ablaufen und deren Ausgang unsicher ist. So versucht man z. B. den Prozessgegner an seiner Aussage durch Sprach‐ verlust und Lähmung zu hindern oder wünscht dem Gegner beim Pferde‐ rennen ein hinkendes Pferd, ein gebrochenes Rad, usw. Wie die in großer Zahl auf uns gekommenen magischen Papyri, Fluchtäfelchen, Gemmen und Figurinen belegen, rief man vor allem die traditionellen Unterweltsgotthei‐ ten, aber auch ägyptische und vorderasiatische Gottheiten (häufig auch Jao = Jahwe oder Christus) und vor allem Dämonen an. Mag von daher der Eindruck entstehen, die antike Magie sei nicht mehr als ein Stück Volksreligiosität, so weist andererseits die Existenz von Zauberbüchern (Apg 19,19!) die Magie als eine in Büchern tradierte Fachwissenschaft mit eigener Fachsprache aus. Im griechisch-römischen Bereich hatten Spezialisten diese Literatur zur Verfügung, tradierten sie weiter und stellten ihr Wissen Klienten – sicher auch zu kommerziellen Zwecken – zur Verfügung. 4 Der Kaiserkult 4.1 Geschichte und Verbreitung

Wir kehren noch einmal zu 1 Kor 8,5f. zurück. Die paulinische Rede von den vielen sog. Göttern „im Himmel oder auf der Erde“ lässt sich so inter‐ pretieren, dass es nicht nur im Himmel, sondern auch auf der Erde „Götter“ gibt. Das könnte auf den Herrscher- und Kaiserkult zielen, d. h. auf die etwa seit dem 4. Jh. v. Chr. belegte Sitte, herausragende politische Führer wie z. B. siegreiche Feldherren „wie Götter“ kultisch zu verehren. Zur Zeit des Neuen Testaments sind es die römischen Kaiser, denen vor allem im Osten des Reiches dieselben Ehren entgegengebracht werden wie den Olympischen Göttern: Man errichtet Altäre und Tempel für sie, stellt Priester, bringt Opfer 51

ActPlTh 20; ActPl 7: „Er ist ein Zauberer (μάγος), weg mit ihm!“ Zur Sache, auch zum Vergleich mit Apollonius, vgl. B. Heininger, Im Dunstkreis der Magie: Paulus als Wundertäter nach der Apostelgeschichte, in: E.-M. Becker/P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005, 271-291.

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dar und feiert Feste zu ihren Ehren und unter ihrem Namen. An sich war die Vergöttlichung von Regierenden, solange sie noch lebten, römischem Empfinden fremd (im Unterschied etwa zu Ägypten, wo der Pharao von jeher als Sohn Gottes verehrt worden war und die Ptolemäer diese Tradition bereitwillig fortführten), aber spätestens mit Cäsar verwischten sich die Grenzen: Eine Inschrift aus Ephesus feiert ihn als „den von Ares und Aphrodite stammenden, sichtbar erschienenen Gott (θεὸν ἐπιφανήν) und allgemeinen Retter (σωτῆρα) des menschlichen Lebens“52; in Rom werden ihm nach seinen Siegen über Pompeius in Nordafrika und Spanien Ehrungen zuteil, „die das menschliche Maß überstiegen“, wie sein Biograph Sueton kritisch anmerkt.53 Im Quirinus-Tempel sollte eine Statue Cäsars aufgestellt werden mit der Inschrift „Dem unbesiegten Gott“54; bei den Zirkusspielen sollte Cäsars Götterbild unter denjenigen der übrigen Götter mitgeführt werden. Außerdem beschloss der Senat noch zu Lebzeiten Cäsars, „er solle ein Götterpolster, ein Götterstandbild, ein Haus mit einem Tempelgiebel und einen eigenen Priester erhalten“55, wozu es aufgrund seiner Ermordung aber nicht mehr kam. Sein Adoptivsohn und Nachfolger Octavian, der Cäsar bald nach seinem Tod durch Senatsbeschluss unter die Staatsgötter erheben ließ und sich da‐ her fortan divi filius, „Sohn eines Vergöttlichten“ (im Griechischen υἱὸς τοῦ θεοῦ) nennen konnte, ließ sich als späterer Kaiser Augustus vergleichbare Ehrungen zwar nicht in Rom, wohl aber im Osten des Reiches gefallen, also gleichsam im Zentrum der paulinischen Missionstätigkeit. Bereits 29 v. Chr. erlaubte Augustus der Stadt Pergamon die Errichtung eines Tempels für die Dea Roma (die Personifizierung der römischen Staats‐ macht) und sich selbst; in Ephesus, wo er im selben Jahr den Bau eines Tempels für die Dea Roma und den Divus Julius genehmigt hatte, wurden ihm zwei weitere Tempel errichtet: einer im Tempelbezirk der Artemis (vgl. Apg 19,23-40!) und ein anderer in der Stadt an zentraler Stelle. In Milet findet sich neben einem Augustustempel auch eine ara Augusti mitten im Hof des Bouleuterions; der Tempel im Zentrum von Eresos auf Lesbos ist „für Augustus Gott Cäsar“ gebaut. Vor allem aber sind es eine Reihe klein‐ asiatischer Inschriften, die Augustus in den höchsten Tönen preisen und 52 53 54 55

SIG3 760 (48 v. Chr.). Noch lapidarer formuliert eine zeitgleiche Inschrift aus Demetrias in Thessalien: „Gaius Julius Caesar Imperator, Gott“ (SEG XIV 474). Sueton, Divus Julius 76. Dio Cassius 43,45,3. Cicero, Phil 2,110.

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ihn u. a. als „den Zeus unserer väterlichen Religion und Retter des gesamten Menschengeschlechts“ apostrophieren bzw. anlässlich des Umstands, dass der Beginn des Jahres auf den Geburtstag des Kaisers (23. September) gelegt werden soll, vom „Geburtstag des Gottes“ sprechen (im sog. Kalendererlass von Priene).56 Augustus’ Nachfolger Tiberius (14-37 n. Chr.) besorgte dann die posthume Divinisierung seines Vorgängers in Rom, indem er einen Ritus, die sog. consecratio, einführte, der fortan allen Kaisern zuteil wurde, so sie nicht der damnatio memoriae (wie z. B. Caligula oder Nero) anheim fielen: Bei der Verbrennung der Leiche auf dem Marsfeld ließ man einen Adler aufsteigen, und ein Zeuge beschwor, er habe den Augustus wie Proculus einst den Romulus in den Himmel auffahren sehen.57 Tiberius kümmerte sich auch um die Ausbreitung und Durchführung des Augustuskultes; für ihn selbst sind Tempel mit Priesterschaft und Kult in wenigstens elf Städten Kleinasiens nachweisbar (z. B. in Smyrna). Einer Ehreninschrift aus Myra zufolge gilt er den dortigen Bewohnern als „erhabener Gott, erhabener Götter Sohn, Herr des Himmels und der Erde, Wohltäter und Retter der gesamten Welt.“58 Die beiden Kaiser, in deren Regierungszeit die weltweite Heidenmission des Pau‐ lus im Wesentlichen fällt, Claudius (41-54 n. Chr.) und Nero (54-68 n. Chr.), hielten sich in Sachen Kaiserkult merklich zurück (das gilt zumindest für den jungen Nero). Nach den Exzessen Caligulas (37-41 n. Chr.), der bald nach seinem Herrschaftsantritt im Stil hellenistischer Gottkaiser auftrat und sich u. a. als „Jupiter von Latium“ anreden sowie einen eigenen Tempel mit Priesterschaft und Opfer erbauen ließ59, war offenbar wieder Zurückhaltung

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Die Texte in deutscher Übersetzung allesamt bei J. Leipoldt/W. Grundmann, Umwelt II, 105-113. Dio Cassius 56,42,3; 46,2: „Und die Flammen verzehrten es (sc. das Holzwerk), ein Adler aber, den man freiließ, stieg von dort empor, als trüge er die Seele des Augustus himmelwärts. … Ihrerseits schenkte sie (sc. Livia) eine Million Sesterzen einem gewissen Numericus Atticus, einem Senator und ehemaligen Praetor, der unter Eid aussagte, er habe den Augustus, so wie man es sich auch von Proculus und Romulus erzählte, in den Himmel auffahren sehen.“ IGR (= Inscriptions Graecae ad res Romanas pertinentes) III 721. Vgl. Sueton, Gaius Caligula 22,2-3; massive Zweifel an der Darstellung Suetons mel‐ det aber A. Winterling, Caligula. Eine Biographie, München 22003, 139-152, an, der abschließend schreibt: „Caligula war weit davon entfernt, sich für einen Gott zu halten oder einen offiziellen Kaiserkult in Rom einzuführen. Er nutzte vielmehr gelegentliche Inszenierungen seiner Göttlichkeit, um die angstvolle und zugleich heuchlerische Unterwürfigkeit der senatorischen Gesellschaft dem Kaiser gegenüber in aller Öffent‐

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angebracht. Jedenfalls wies Claudius mehrfach Tempel und Priester für sich zurück, obwohl natürlich auch er wie der ihm auf dem Thron folgende Nero schon zu Lebzeiten als „Gott“ angeredet wurde.60 Vielleicht liegt in der Zurückhaltung dieser beiden Herrscher auch der tiefere Grund, warum Paulus – im Unterschied etwa zu den Spätschriften des Neuen Testaments wie der Johannesapokalypse61 – mit dem Kaiserkult offenbar noch keine Probleme hat. Ein Text wie Röm 13,1-7, der zur Loyalität gegenüber der Staatsgewalt aufruft, wäre sonst schwerlich möglich! 4.2 Formen der Verehrung

Andererseits ist der Kaiserkult für Paulus und die Adressaten seiner Mis‐ sionspredigt eine soziale Realität (1 Kor 8,5: „sogenannte Götter“!), der sie gleichsam auf Schritt und Tritt ansichtig wurden. Simon Price hat in diesem Zusammenhang von der Prägung des öffentlichen Raums durch den Kaiserkult gesprochen: Tempel, Altäre und Standbilder des Kaisers waren, wie bereits verschiedentlich angeklungen, vornehmlich im Zentrum der Stadt oder, wie der Trajanstempel auf der Akropolis von Pergamon, an herausragender Stelle situiert, sodass sie auch beim besten Willen nicht zu übersehen waren. Eine Stadt wie Ephesus z. B. verfügte im 2. Jh. n. Chr. bereits über vier Kaisertempel, einen monumentalen Altar für Antoninus und diverse, den Kaisern gewidmete Torbögen („Hadriansbogen“); vier Gymnasien hatten in irgendeiner Form mit dem Kaiserkult zu tun. Hinzu kam noch, wie in jeder Stadt, eine große Anzahl von Statuen des Kaisers, die in öffentlichen Gebäuden wie der Bibliothek, dem Theater oder dem Versammlungsort der Stadt platziert waren bzw. einfach die Straße säumten. Und wo man dem Kaiser keinen eigenen Tempel errichtete, integrierte man ihn in die traditionellen Kulte. Im Asklepiosheiligtum zu Pergamon gab es z. B. eine Kultnische, in der eine Statue des Kaisers Hadrian mit der Aufschrift „den Gott Hadrian (verehren wir)“ aufgestellt war. Eine andere Praxis, die wir heute vielleicht als „Tempelsharing“ bezeichnen würden, bestand darin, dass man (im Normalfall) dem traditionellen Götterbild in der cella des Tempels ein (kleineres) Kaiserstandbild an weniger bedeutender Stelle beigesellte oder, im Extremfall, den Tempel aufteilte: Eine Hälfte blieb

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lichkeit in ihrer Absurdität vorzuführen – vor einem Publikum von einfachen Leuten aus dem Volk, das sich das Lachen über die hohen Herrschaften nicht verbeißen konnte.“ Vgl. PLond 1912; Scribonius Largus, Praef 60 für Claudius. Einschlägig: H.-J. Klauck, Das Sendschreiben nach Pergamon und der Kaiserkult in der Johannesoffenbarung, Bib. 73 (1992), 153-182.

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für die traditionelle Gottheit reserviert, die andere Hälfte gehörte von nun an dem Kaiser bzw. seinem Standbild. Damit ist zugleich ein wichtiges Stichwort genannt: Die zentrale Bezugs‐ größe für den Kaiserkult ist das Bild des Kaisers (vgl. Offb 13,14f!), zumeist in Form einer Statue. Vor dem Bild finden die Opfer und Feiern statt, das Bildnis wurde bekränzt und in Festzügen mitgeführt.62 Auch im „Opfertest“, den der jüngere Plinius zur Überführung von bei ihm denunzierten Christen durchführen lässt, spielt das Kaiserbild eine zentrale Rolle. Den Test beste‐ hen nur diejenigen, die „nach meinem Vorbild (sc. des Plinius) die Götter anriefen und Deinem Bild, das ich zu diesem Zweck zusammen mit den Götterbildern heranholen hatte lassen, Weihrauch und Wein dargebracht hatten, außerdem Christus verflucht hatten“ (Plinius, Ep X 96,5).

Zur Durchführung der Opfer wie überhaupt zur Organisation des Rituals werden Priester gebraucht, die den korrekten Ablauf der Riten überwachen. Diese rekrutieren sich in den Provinzen aus den vornehmen einheimischen Familien, denen das Priesteramt im Kaiserkult die Möglichkeit bot, sich weiter zu profilieren und das eigene öffentliche Ansehen noch zu steigern. Umgekehrt wurden diese begüterten Provinzialen dadurch noch enger an das Kaiserhaus und die Reichsidee angebunden. Ein erstrebenswertes Ziel war es, Oberpriester im Kaiserkult zu werden. Der schon mehrfach erwähnte Apuleius von Madaura z. B., ein hochgebildeter Mann mit einem reichen literarischen Oeuvre, das von einer Abhandlung über den Genius des Sokrates bis hin zum Schelmenroman reicht63, wurde im 2. Jh. n. Chr. sacerdos provinciae, d. h. Oberpriester im Kaiserkult seiner Heimatstadt in Nordafrika. Auch Frauen stand das Amt der Oberpriesterin offen, als frühester inschriftlicher Beleg gilt gemeinhin eine Inschrift aus Magnesia in Kleinasien, die zwischen 40 und 59 n. Chr. zu datieren ist, also genau in die Hauptphase des paulinischen Wirkens fällt:

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Auch in Palästina standen Kaiserstatuen wie z. B. in der von Herodes ausgebauten Hafenstadt Cäsarea Maritima; dort stiftete er auch einen Kaisertempel, der mit Statuen des Augustus und der Dea Roma ausgestattet war (Jos. Bell. 1,414). Alles Wesentliche zu Leben und Werk des Apuleius findet sich bei J. Hammerstaedt u. a., Apuleius, De magia/Über die Magie (SAPERE 5), Darmstadt 2002, 9-22.

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„Der Rat [und das Volk ehren] | Juliane, Tochter des [Eus]tra[tos, des Sohnes des Pha] | nostratos, die Frau [des Al] | kiphronos, der für die A[sia Hoherprie] | ster war, die Oberpriesterin [wurde] | der Asia als erste der [Frauen,] .. ,“64

Die Inschrift belegt nicht nur den Zugang einer Frau zu den höchsten Ämtern im Kult, sondern auch eine Ämterhäufung, wie sie für bedeutende Familien durchaus üblich ist. Wahrscheinlich ist aber noch früher, vielleicht sogar einige Jahrzehnte früher, mit weiblichen Oberpriesterinnen im Pro‐ vinzialkult zu rechnen.65 Religion gewinnt ihre Attraktivität häufig dadurch, dass sie Augen und Ohren und nicht zuletzt dem Magen etwas bietet. Diesbezüglich macht der Kaiserkult keine Ausnahme. Das alljährlich stattfindende Hauptfest am Geburtstag des Kaisers – alternativ kommen auch die Wiederkehr des Tages seiner Thronbesteigung oder das Datum der Stiftung des Kaiserkults in der jeweiligen Stadt als Termin in Frage – mit Opfern, Umzügen, öffentlichen Mahlzeiten sowie Wettkämpfen sportlicher und musischer Art erfüllte derartige Bedürfnisse voll und ganz. Tertullians sarkastische Schilderung eines solchen Kaiserfestes macht eindrücklich klar, dass derartige „Natio‐ nalfeiertage“ heutigen Volksfesten nicht unähnlich waren, vor allem dann, wenn sie religiös verbrämt sind: „Die Christen gelten also deshalb als Feinde des Staates, weil sie den Kaisern keine sinnlosen, lügenhaften und vermessenen Ehrenbezeigungen zollen, weil sie als Anhänger der wahren Religion auch die Festlichkeiten der Kaiser mehr im Herzen als durch Ausgelassenheit feiern. Fürwahr, ein großer Ehrendienst ist es, Räucherpfannen und gepolsterte Stühle auf die Straßen herauszutragen, gassenweise zu schmausen, die ganze Stadt in eine Garküche zu verwandeln, den Straßendreck nach Wein duften zu lassen, in hellen Haufen herumzulaufen zu Schabernack, Schamlosigkeit und schändlicher Unzucht … Warum behängen wir auch an dem Freudentage unsere Türpfosten nicht mit Lorbeerkränzen und

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IMagnesia 158; nachzulesen bei O. Kern, Die Inschriften von Magnesia am Maeander, Berlin 1900. Darauf deuten eine Inschrift aus Laodicea am Lykos, die eine Oberpriesterin namens Antonia erwähnt (I.Laodicea 53), und eine Inschrift aus Sebaste in Phrygien, die eine Memmia Ariste Teuthratis als Oberpriesterin der Asia nennt (IGR IV 687). Zumindest die zweite Inschrift gehört noch in augusteische Zeit (4/5 n. Chr.). Vgl. zum gesamten Sachverhalt B. Edelmann-Singer, Die Kaiserpriesterinnen in den östlichen Provinzen des Reiches – Reflexionen über Titel, Funktion und Rolle, in: Kolb/Vitale, Kaiserkult 387-405, hier 393-395.

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trüben nicht das Tageslicht durch Lampen? Seinem Hause, wenn eine öffentliche Festfreude es verlangt, den Aufputz eines neueröffneten Hurenhauses zu geben, das gilt als anständig“ (Tertullian, Apologeticum 35).

Stand der Besuch des Kaisers an (was für Kleinasien allerdings erst für das 2. Jh. n. Chr. belegt ist), sein adventus bzw. seine παρουσία, schmückten die Bürger die Stadt, und eine Prozession mit den Honoratioren der Stadt an der Spitze ging dem Kaiser entgegen, um ihn feierlich in die Stadt zu geleiten. Die Teilnehmer der Prozession trugen Oliven und Palmzweige, Lichter und Weihrauch.66 4.3 Paulinische und deuteropaulinische Rezeption

Die Relevanz des Kaiserkults für das Corpus Paulinum liegt sicher nicht darin, dass man bestimmte christologische Konzepte – Jesus als „Sohn Gottes“ oder als σωτήρ67 – oder ekklesiologische Vorstellungen wie die Kirche als Leib mit Christus als ihrem Haupt (Kol 1,18) aus dem Kaiserkult herleiten könnte oder sogar herleiten müsste, sondern vielmehr in seiner Bedeutung als Rezeptionsfolie für die paulinische und nachpaulinische Verkündigung. Wenn etwa Paulus in 1 Thess 4,15-17 von der παρουσία τοῦ κυρίου spricht, bei der der auferweckte κύριος vom Himmel herabkommt und die Lebenden zusammen mit den Auferweckten dem Herrn entgegen entrückt werden, mögen die angesprochenen Thessalonicher durchaus an den oben geschilderten kaiserlichen adventus gedacht haben – zumal ja auch ihr Kultheros den Titel κύριος trägt, der im Kaiserkult gang und gäbe ist (natürlich nicht nur dort)!68 Ähnlich mag es sich in 2 Tim 1,10 verhalten, wo von der ἐπιφάνεια τοῦ σωτῆρος ἡμῶν Χριστοῦ Ἰησοῦ die Rede ist, dem Erscheinen unseres Retters Christus Jesus. Assoziationen zum Kaiserkult stellen sich bei einem Bewohner des römischen Reichs beinahe zwangsläufig ein. Und manchmal lohnt es sich, ganz genau hinzusehen. Wenn Paulus in 1 Kor 11,20 die Mahlfeier der Korinther als κυριακὸν δεῖπνον bezeichnet, als „Herrenmahl“, so dürften sich bei den Korinthern durchaus Assoziationen zum Kaiser(kult) eingestellt haben. Das seltene Adjektiv κυριακός, das im 66 67 68

Näheres diesbezüglich bei B. Heininger, Die Parusie des Kyrios, in: F.W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 299-305. Vgl. 2 Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13; 3,6. Vgl. für Nero SIG3 814,31: „Der Herr (κύριος) des ganzen Kosmos, Nero“; allgemeiner Epiktet, Diss IV 1,12: „der Herr von allem, der Kaiser (ὁ πάντων κύριος Καῖσαρ)“.

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NT nur noch in Offb 1,10 vorkommt („Herrentag“), bedeutet wörtlich „was zum Herrn gehört“, ist aber im Profangriechischen praktisch nur in der Bedeutung „was zum Kaiser gehört“ nachgewiesen.69 Das heißt wiederum nicht zwangsläufig, dass Paulus diesen Begriff dem Kaiserkult entlehnt hat (so eine alte These Deißmanns), unmöglich ist es aber auch nicht. 5 Paulus und die kaiserzeitliche Philosophie

Stellt der Kaiserkult demnach eine Rezeptionsfolie für bestimmte christolo‐ gische Konzepte, ekklesiologische Modelle und eschatologische „Tastversu‐ che“ dar, so gilt dies – nicht nur, aber vor allem – auf dem Gebiet der Ethik erst recht für die kaiserzeitliche Philosophie. Hier ist darüber hinaus damit zu rechnen, dass Paulus oder seine Schüler, vermittelt durch den Filter des hellenistischen Judentums, Anleihen vornehmen. Aber auch unabhängig von der Frage, ob Paulus nun einen Gedanken aus der zeitgenössischen Philosophie übernommen hat oder nicht, bleibt das Faktum festzuhalten, dass er in seinen Briefen häufig Themen anschneidet, die unter den philo‐ sophischen Kollegen seiner Zeit Gegenstand ausführlicher Diskussionen, ja ganzer Diatriben („Abhandlungen“) waren. Ein Beispiel: Der von Paulus zitierte korinthische Eheslogan „Gut ist es für einen Mann, eine Frau nicht zu berühren!“ (1 Kor 7,1) und die vom Apostel darauf formulierte Antwort (1 Kor 7,2-5) führen mitten hinein in den griechisch-römischen Ehediskurs, der – je nach philosophischer Schulrichtung – durchaus unterschiedliche Antworten findet. Während z. B. der Kyniker nach der Darstellung Epiktets (Diss III 22,67-82) die Ehelosig‐ keit zum Ideal erhebt, empfiehlt Musonius, ein im 1. Jh. n. Chr. lebender römischer Stoiker, die Eheschließung zum Zweck der „Gemeinschaft des Lebens und der Erzeugung von Kindern“; das bedinge, so Musonius weiter, „dass sie miteinander leben und zusammen Kinder erzeugen und dass keiner etwas allein hat, auch seinen Körper nicht“ (Muson. XIIIa), eine Auffassung, die der paulinischen Argumentation in 1 Kor 7,4 ziemlich nahe kommt. Plutarch, ein ebenfalls in das 1. und an den Beginn des 2. Jh.s n. Chr. zu datierender Mittelplatoniker (um nur noch eine dritte Schulrichtung zu nennen), hat sogar einen ganzen Traktat zu Ehefragen verfasst, die sog. Praecepta Coniugalia („Eheratschläge“).

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Belege bei C. Spicq, Theological Lexicon of the New Testament II, Peabody 1994, 336-338.

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Der erste Biograph des Paulus, Lukas, trifft daher die Sache gut, wenn er den Völkerapostel während seines Rundgangs durch Athen mit Vertre‐ tern der beiden führenden philosophischen Richtungen seiner Zeit, den Epikureern und den Stoikern, ins Gespräch kommen (Apg 17,18) und ihn in der nachfolgenden Areopagrede einige stoische Theologoumena zitieren lässt (Apg 17,22-31). Diesen beiden philosophischen Schulen gilt daher im Folgenden auch unser vornehmliches Interesse. 5.1 Epikur und seine Schule 5.1.1 Lehre

Wie findet der Mensch sein Glück, seine εὐδαιμονία? Epikur, 342/1 v. Chr. auf Samos geboren und seit 307/6 v. Chr. in Athen ansässig, wo er ein Haus mit einem Garten (κῆπος) erwirbt, würde wohl antworten: Indem er seine Ängste zu überwinden sucht, stets nach Lustgewinn strebt – denn die Lust (ἡδονή) ist „Ursprung und Ziel des glückseligen Lebens“ (Men 128) – und, wo immer es möglich ist, Schmerzen vermeidet. Das hat Epikur schon in der Antike den Vorwurf beschert, er rede einem blanken Hedonismus das Wort, ein Vorwurf, dem Epikur im Brief an Menoikeus, in dem er seine als Lebenskunst verstandene Lehre für ein gutes Leben werbend vorstellt, den Boden entzogen hat: „Wenn wir also sagen, die Lust sei das Ziel, meinen wir damit nicht die Lüste der Hemmungslosen und jene, die im Genuss bestehen, wie einige, die dies nicht kennen und nicht eingestehen oder böswillig auffassen, annehmen, sondern: weder Schmerz im Körper noch Erschütterung in der Seele empfinden. Denn nicht Trinkgelage und aneinander gereihte Umzüge, auch nicht das Genießen von Knaben und Frauen, von Fischen und allem übrigen, was eine aufwendige Tafel bietet, erzeugen das lustvolle Leben, sondern ein nüchterner Verstand, der die Gründe für jedes Wählen und Meiden aufspürt und die bloßen Vermutungen vertreibt, von denen aus die häufigste Erschütterung auf die Seelen übergreift“ (Brief an Menoikeus 131 f.)

Naturerklärung70, erkenntnistheoretische Überlegungen und ethische Grundprinzipien helfen dem Verstand, beunruhigende Faktoren auszuschal‐ ten, indem sie Unbekanntes als verständlich, Unerreichbares als irrelevant 70

Das Hauptwerk Epikurs trug den Titel „Über die Natur“ (περὶ φύσεως) und umfasste insgesamt 37 Bücher; zahlreiche Fragmente sind erhalten (s. H.W. Krautz, Epikur: Briefe – Sprüche – Werkfragmente [Reclam 9984], Stuttgart 21985).

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und Unvermeidliches als akzeptabel erweisen.71 Dass wir sterben müssen, ist ein Faktum; aber die Angst vor dem Tod können wir besiegen, wenn wir uns mit Epikur vor Augen halten, dass der Tod „nichts ist, was uns betrifft“ (Men 124). Denn: „Wenn ,wir‘ sind, ist der Tod nicht da; wenn der Tod da ist, sind ,wir‘ nicht. Er betrifft also weder die Lebenden noch die Gestorbenen, da er ja für die einen nicht da ist, die anderen aber nicht mehr für ihn da sind“ (Men 125). Ähnlich steht es mit der Furcht vor den Göttern bzw. ihren Strafen: Auch die Götter sind im System Epikurs etwas, was uns nicht wirklich betrifft. Zwar gibt es Götter, aber sie leben als glückselige, der Zeit enthobene Wesen in Zwischenwelten und kümmern sich nicht um die Menschen. Gebete und Opfer erreichen sie nicht, obwohl die Epikureer die Teilnahme am Kult empfohlen haben. Das soll vermutlich aber dazu dienen, die Zielvorstellung vom glückseligen Leben, das die Götter ja verkörpern, nicht aus den Augen zu verlieren. „Der Religionsausübung wird so eine psychohygienische und eventuell auch sozialhygienische Funktion zugewiesen.“72 Auf jeden Fall kann man mit solchen Göttern nicht mehr drohen und dem Menschen Angst einflößen, d. h. Epikur leistet dort, wo die Religion den Menschen unterdrückt, einen unverzichtbaren Beitrag zur notwendigen Religionskritik. 5.1.2 Die epikureische Schule

Von Anfang an sammelte Epikur einen Kreis von Schülern um sich, darunter auch Frauen und Sklaven, die sich dem Ideal gegenseitiger Freundschaft und gemeinsamen Forschens verpflichtet wussten. Askesis und Therapeia, d. h. die Einübung in die philosophisch begründete Lebensweise und die helfende Seelenführung (durch Einzelgespräche mit Rechenschaftsablage und intensiver Beratung), prägen das gemeinschaftliche Leben und machen die besondere Attraktivität der epikureischen Schule aus. Ableger gibt es zunächst auch auf den griechischen Inseln und in Kleinasien; mit diesen hielt Epikur über Briefe und gelegentliche Besuche Kontakt (Paulus!). Ansonsten führte er ein – dies ganz im Gegensatz zu Paulus – zurückgezogenes und stilles Leben, das den von ihm vertretenen Grundsatz des λάθε βιώσας, „Lebe 71

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Vgl. Kyriai Doxai („Hauptlehren“) 12: „Es ist nicht möglich, die Angst bezüglich der entscheidendsten Gesetzmäßigkeiten zu lösen, wenn man nicht verstanden hat, welches die Gesetzlichkeit des Alls ist, sondern von sich aus irgendetwas aufgrund der Mythen argwöhnt. Es ist also nicht möglich, ohne Naturforschung unbeeinträchtigte Lustempfindungen zu erlangen.“ H.-J. Klauck, Umwelt II, 118.

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im Verborgenen“ (frg. 551 Usener)73, beherzigte und auf größere politische Aktivitäten verzichtete. Nach seinem Tod erfuhr Epikur in der Schule beinahe göttliche Vereh‐ rung. Sein Geburtstag wurde als Gedenktag gefeiert, und für den 20. jeden Monats verfügte Epikur eine festliche Zusammenkunft „zu meinem und des Metrodoros Gedächtnis“ (vgl. 1 Kor 11,24f.!).74 Das Bild Epikurs, das in sich Züge des Vaters, des Philosophen, des Kultheros und des Retters, ja des Gottes vereint, wurde häufig reproduziert und sollte bei den Außenstehen‐ den den Wunsch wecken, mehr über diesen Mann zu erfahren. Das ist in den folgenden Jahrhunderten offenbar immer wieder gelungen, denn die Schule Epikurs bestand bis in die Mitte des 1. Jh. n. Chr.75 Bereits im 1. Jh. v. Chr. war der Epikureismus in Gestalt Philodems von Gadara (ca. 110-40 v. Chr.), der in Herculaneum eine neue Schule eröffnet hatte, nach Italien gekommen. Richtig populär wurde Epikurs Philosophie in Rom aber durch Lukrez, der in seiner Lehrdichtung De rerum natura die epikureische Physik darstellt. Stärker als bei Epikur verbindet sich dies bei Lukrez mit einer scharfen Kritik an aller traditionellen Religion. Diese aufklärerische Haltung fand vielfachen Widerhall in der römischen Gesellschaft der späten Republik: Im Œuvre Ciceros kommen wiederholt epikureische Positionen zu Wort, Dichter wie Horaz und Vergil entwickeln Sympathien für Epikurs Lehren, und auch im Werk Senecas, der vom Gesamtprofil her sicher als Stoiker anzusprechen ist, finden sich deutliche Anleihen beim Epikureismus. In der Zeit der augusteischen Restauration mit ihrer Neubelebung traditioneller Werte und Kulte verlor dann der Epikureismus an Bedeutung; er blieb dennoch gerade in der Oberschicht präsent und wusste immer wieder einflussreiche Kreise für sich zu gewinnen. Ein Beispiel ist Plotina, die Gattin des Kaisers Trajan. Erinnert sei zudem an die monumentale Inschrift – Erler gibt ihre Länge mit 80 m und ihre Höhe mit 3,5 m an; erst 30 % der gesamten Inschrift sind gefunden –, die Diogenes von Oenoanda vermutlich noch in

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Plutarch hat sich in einer frühen Schrift mit diesem epikureischen Lebensmotto polemisch auseinander-gesetzt, vgl. Plutarch, Ist „Lebe im Verborgenen“ eine gute Lebensregel? Eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von U. Berner/R. Feldmeier/B. Heininger/R. Hirsch-Luipold (SAPERE 1), Darmstadt 22001. Diogenes Laertius, Vit Phil 10,18. Noch im Jahr 51 n. Chr. ist ein gewisser Patron Schulleiter; gegen Ende der 50er Jahre v. Chr. stand der Garten aber vor dem Ruin (Cicero, Fam 13,1,3; Att 5,11,6). Vgl. T. Dorandi, Art. Epikureische Schule, in: DNP 3 (1997), 1126-1139, sowie M. Erler, Epicureanism in the Roman Empire, in: Warden (Ed.), Companion 46-64.

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der ersten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. in seiner lykischen Heimatstadt nahe dem Fluss Xanthos hatte errichten lassen. Sie bezeugt die Relevanz epikureischer Positionen noch im 2. Jh. im Osten des Reiches. 5.2 Stoa 5.2.1 Geschichte und wichtigste Vertreter

Die vorherrschende Philosophie der frühen Kaiserzeit war aber die Stoa. Ihren Namen verdankt sie der στοὰ ποικίλη, der mit Fresken verzierten „bunten Halle“ in Athen, in welcher der Begründer dieser philosophischen Richtung, Zenon von Kition, seit ca. 300 v. Chr. dozierte. Seine Dreiteilung des stoischen Systems in Logik, Physik und Ethik hatte auch in der Kai‐ serzeit noch Bestand, wenngleich die herausragenden Vertreter stoischer Philosophie jener Epoche, der am Kaiserhof als Erzieher Neros tätige und zeitweise die Regierungsgeschäfte führende Seneca (ca. 0-65 n. Chr.) sowie der frühere Sklave und nach seiner Vertreibung aus Rom in Nikopolis an der westgriechischen Küste lehrende Epiktet (ca. 50-120 n. Chr.), de facto reine Ethiker sind. Seneca und Epiktet dominieren zusammen mit dem allerdings späten Philosophenkaiser Marc Aurel gewöhnlich die Wahrnehmung der kaiser‐ zeitlichen Stoa, weil sie ein umfangreiches Œuvre hinterlassen haben. Sie sind aber sozusagen nur die Spitze eines „stoischen Eisberges“. Zu den griechisch schreibenden Stoikern in augusteischer Zeit gehören z. B. so bekannte Personen wie der Philosophiehistoriker Areius Didymos, der Geograph Strabon oder, vermutlich weniger bekannt, der Grammatiker Heraklit, dem wir eine noch erhaltene allegorisierende Umdeutung der homerischen Göttergeschichten verdanken. Cornutus hat einen Abriss der stoischen, aus Mythendeutungen gewonnenen Theologie verfasst; die leider nur fragmentarisch erhaltenen Lehrvorträge des römischen Ritters Musonius (25/30-100 n. Chr.) stehen in eklatanter Nähe zu Paulus.76 Ebenfalls nur fragmentarisch erhalten ist die im 2. Jh. n. Chr. verfasste stoische Ethik

76

Ausführlich zu Leben und Werk des Musonius informiert R. Laurenti, Musonio, maestro di Epitetto, in: ANRW II/36.3 (1989), 2105-2146.

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des Hierokles.77 Für die Lateiner wäre neben Seneca vor allem auf Manilius mit seiner stoischen Astrologie sowie auf Persius zu verweisen. 5.2.2 Telosformel und Freiheitsbegriff

Wie dem Epikureismus geht es auch der Stoa um die εὐδαιμονία, das gelin‐ gende Leben, angesichts einer zunehmend unübersichtlicher gewordenen Welt. So verwirrend diese auch sein mag, die sprichwörtliche stoische Gelassenheit – die Stoiker sprechen in diesem Zusammenhang von der „Unerschütterlichkeit der Seele“ – ist dennoch zu erreichen, wenn man nur die stoische Telosformel beherzigt, die da lautet: ὁμολογουμένως (τῇ φύσει) ζῆν, „in Übereinstimmung (mit der Natur) leben“! Dahinter verbirgt sich kein ökologisches Programm, sondern die Aufforderung an den Menschen, dem göttlichen Logos, d. h. dem stoischen Weltprinzip, zu folgen. Als λόγος σπερματικός, der auch als Pneuma nach Art einer feinstofflichen Substanz wie dem Feuer vorgestellt werden kann, durchdringt er alles, was ist. Wahrgenommen wird er in Gestalt der (fürsorgenden) göttlichen Vorsehung (providentia) und des Geschicks (fatum), denen sich der stoische Weise vertrauensvoll hingeben und von denen er sich leiten lassen soll – auch wenn das Schicksal die sprichwörtlichen Schläge bereithält und selbst wenn es den Tod kostet. Denn die Welt ist für die Stoiker eine große Bühne, auf der jeder die ihm zugewiesene Rolle möglichst gut zu spielen hat.78 Nur so gewinnt der Weise seine Identität und seine Freiheit. Stellt er sich jedoch dem Logos entgegen bzw. haben die Affekte ihn im Griff – unter diese rechnet die Stoa neben Begierde und Lust auch die Angst und die Trauer –, dann ist er unfrei und verfehlt seine Bestimmung. Das Zenon und Chrysipp zugeschriebene Bild vom Hund, der an einen Wagen angebunden 77

78

Die alte Ausgabe von H. von Arnim, Hierokles, Ethische Elementarlehre (Papyrus 9780) nebst den bei Stobäus erhaltenen ethischen Exzerpten (Berliner Klassikertexte 4), Berlin 1906, mittlerweile abgelöst durch I. Ramelli/D. Konstan, Hierocles the Stoic: „Elements of Ethics“, Fragments and Excerpts (Writings from the Greco-Roman World 28), Leiden 2009. Epiktet, Ench 17: „Bedenke: Du bist Darsteller eines Stücks, dessen Charakter der Autor bestimmt, und zwar eines kurzen, wenn er es kurz, eines langen, wenn er es lang wünscht. Will er, dass du einen Bettler darstellst, so spiele auch diesen einfühlend; ein gleiches gilt für den Krüppel, einen Herrscher oder einen gewöhnlichen Menschen. Deine Aufgabe ist es nur, die dir zugeteilte Rolle gut zu spielen; sie auszuwählen steht einem anderen zu.“ In diesem Sinn argumentiert auch das Gleichnis vom Landgang (Ench 7); vgl. dazu und zur gesamten Thematik H.-J. Klauck, Dankbar leben, dankbar sterben, εὐχαριστεῖν bei Epiktet, in: ders., Gemeinde, Amt, Sakrament. Neutestament‐ liche Perspektiven, Würzburg 1989, 373-390.

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ist, beschreibt die stoische Auffassung vom Menschen treffend: Entweder läuft er freiwillig mit, oder er wird gezogen, die Richtung bestimmt aber immer der Wagen bzw. sein Lenker!79 Oder um mit Seneca zu sprechen: „Den Willigen führen die Geschicke, den Widerwilligen reißen sie mit“ (Ep Mor 107,11). Dass ein derart drastisches Bild zwangsläufig Fragen nach dem stoischen Freiheitsverständnis aufwirft, liegt auf der Hand. Grenzt die Rede vom stoischen Weisen, der die ihm von der Vorsehung aufgeladenen Schicksals‐ schläge nicht nur „a-pathisch“, d. h. leidenschaftslos (also ohne Schmerz, Wut, Trauer), erträgt, sondern auch noch dankbar annimmt und auf diese Weise seine Identität (weil er in Übereinstimmung mit dem Logos und damit letztlich mit sich selbst lebt) und Freiheit gewinnen soll, nicht an Zynismus? Das ist vermutlich zu modern gedacht und verkennt das Bemühen der Stoa, die Freiheit des Menschen gerade in einer zeitgeschichtlichen Situation zu retten, da der Bürger der Polis seiner politischen Handlungsmöglichkeiten weitgehend beraubt ist. Für die Stoa ist Freiheit daher vor allem eine „Kopfsache“, insofern wir unterscheiden lernen müssen zwischen dem, was in unserer Macht steht (τὰ ἐφ’ ἡμῖν), und dem, was nicht in unserer Macht steht (τὰ οὐκ ἐφ’ ἡμῖν). Was nicht in unserer Macht steht, sind alle „Außendinge“: Frau, Kinder, Geschwister, Freunde, Landbesitz, Kleider, Haus, unser Leib. Das alles, so Epiktet in seiner großen Freiheitsdiatribe (Diss IV 1,62-75), kann uns genommen werden, und zwar oft viel schneller, als uns lieb ist.80 Wirklich in der Hand haben wir eigentlich nur unsere Haltung und innere Einstellung zu den Dingen, d. h. wie wir sie einschätzen und welchen Stellenwert wir ihnen einräumen. Ob ich arm oder reich bin, ob ich Sklave oder Freier bin, besagt nach stoischer Auffassung für meine εὐδαιμονία per se noch nichts; es ist die Einstellung zu den Dingen (also ob ich am Vorhandensein von Besitz mein Glück oder meinen Selbstwert

79 80

Überliefert bei Hippolyt, Ref Omn Haer I 21 (= SVF II 975). Eine ausführliche Besprechung der epiktetschen Freiheitsdiatribe findet sich bei S. Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt (FRLANT 147), Göttingen 1989, 23-104. Darüber hinaus liegt inzwischen eine in jederlei Hinsicht erschöpfende Kommentierung vor: L. Wilms, Epiktets Diatribe über die Freiheit (4,1). Einleitung, Übersetzung, Kommentar. Bd. 1: Einleitung und Kommentar (§§ 1–102); Bd. 2: Kommentar (§§ 103-177), Übersetzung, Register, Literaturverzeichnis (Wissenschaftliche Kommentare zu griech. und lat. Schriftstellern), Heidelberg 2011; 2012.

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festmache), die den Ausschlag gibt. Freiheit wird damit ganz in das Innere des Menschen verlegt. 5.2.3 Freitod und Eschatologie

Zur stoischen Freiheit gehört auch, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, wenn die Situation es erforderlich macht. Anders als Paulus, der in Phil 1,21-24 „Sterben als Gewinn“ betrachtet und den Wunsch äußert, „abzu‐ scheiden und bei Christus zu sein“, aber nie selbst Hand an sich legen würde, bekennen sich Seneca und Epiktet klar zur Möglichkeit des Freitodes: „Wohin immer du blickst, dort ist deines Unglücks Ende. Siehst du jenen steil abstürzenden Ort? Dort schreitet man zur Freiheit hinab … Allzu mühsame Auswege zeige ich und viel Mut und Kraft fordernde? Du fragst, was ist zur Freiheit der Weg? Jede beliebige Ader an deinem Körper!“81

Obwohl Seneca sich in jungen Jahren häufig mit Selbstmordgedanken trug und seinem Leben auf Befehl Neros selbst ein Ende setzte, reden weder er noch Epiktet einer Todessehnsucht aus diffusem Lebensüberdruss das Wort. Kriterium für den Freitod ist stets die Vernunftgemäßheit (Übereinstimmung mit dem Logos), d. h. es müssen kräftige Signale des Schicksals (tödliche Krankheit, grausame Behandlung durch die Ärzte, Räuberei und Piraterie, Tyrannei mit Folter und Hinrichtung) zu spüren sein, die nicht anders als als Aufforderung zur Beendigung des Lebens verstanden werden können. Erste Pflicht ist immer das Ausharren auf dem Platz, auf den man gestellt ist. Diese Haltung ist umso erstaunlicher, als die Stoa ganz im Gegensatz zur platonischen Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und auch im Gegensatz zur jüdisch-christlichen Auferstehungshoffnung kein Weiterleben der Seele nach dem Tod annimmt. Zwar ist Seneca in diesem Punkt nicht ganz so radikal wie Epiktet, für den sich Seele und Körper nach dem Tod in die Elemente auflösen (sie werden wieder Bestandteil des Urstoffes, aus dem die Welt geschaffen ist), und kann sich ein begrenztes Weiterexistieren der Seele nach dem Tod vorstellen. Aber auch für ihn hat dieses Weiterleben spätestens bei der nächsten Ekpyrosis, d. h. dem periodisch wiederkehrenden Weltenbrand, bei dem die Welt in einem gewaltigen Feuer untergeht, um hernach wieder neu geschaffen zu werden, ein Ende.

81

Seneca, De ira III 15,4; vgl. auch Epiktet, Diss I 24,20.

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6 Die Gnosis 6.1 Gnosis im Neuen Testament?

Inwieweit die Behandlung der Gnosis überhaupt noch in den Rahmen eines Paulusbuches gehört, kann man durchaus fragen. Ab der Mitte des 2. Jh.s n. Chr. werden gnostische Lehrsysteme überhaupt erst in Umrissen greifbar; die Blüte dessen, was wir heute unter Gnosis subsumieren, liegt aber noch wesentlich später, nämlich im 3./4. Jh., und hat ihren Höhepunkt (und ihr Ende) im Manichäismus. Andererseits fällt der Begriff γνῶσις gerade im 1. Korintherbrief mehrfach82, und die alte These von einer „Gnosis in Korinth“83 findet auch unter den heutigen Auslegern gelegentlich noch Anhänger. Aber weder das Pochen auf γνῶσις in der Götzenopferfleischdebatte (vgl. 1 Kor 8,1-3.7.10f.) noch die für Korinth zu konstatierende Hochschätzung geistig-intellektueller Charismen wie der γνῶσις (vgl. 1 Kor 1,5; 12,8; 13,2; 14,6) oder die Leugnung der Auferstehung (vgl. 1 Kor 15) darf „im Sinne gnostischer γνῶσις spekulativ-mythologisch ausgeweitet werden“.84 Etwas anders sieht es im Wirkungsbereich der Deutero- und Tritopauli‐ nen aus. Am Ende des 1. Timotheusbriefs legt der Verfasser „Timotheus“ ans Herz, „den heillosen, nichtigen Geschwätzen und Streitsätzen der fälschlich sog. Erkenntnis (τῆς ψευδονύμου γνώσεως) aus dem Weg“ zu gehen, „durch deren willige Anerkennung gewisse Leute vom Glauben abgeirrt sind“ (1 Tim 6,20f.). Hier steht der Begriff γνῶσις bereits für eine klar umgrenzte Lehre, deren Konturen anhand weiterer Belege aus den Pastoralbriefen noch in groben Umrissen bestimmt werden können (wenn auch durch die Brille des Verfassers)85: Unverkennbar ist ein stark jüdischer, eventuell 82

83 84 85

Die Wortstatistik weist für den 1 Kor allein 10 Belege aus; dem stehen in den unbestrittenen Paulusbriefen noch 3 Belege aus Röm, 6 Belege aus 2 Kor und ein Beleg aus Phil gegenüber. Für das Verb γινώσκειν fällt der Befund nicht ganz so deutlich aus, aber auch hier versammelt die Korintherkorrespondenz die meisten Belege auf sich: Röm: 9; 1 Kor: 16; 2 Kor: 8; Gal: 4; Phil: 5. So seinerzeit W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth. Eine Untersuchung zu den Korin‐ therbriefen (FRLANT 66), Göttingen 31969; vgl. auch ders., Neues Testament und Gnosis (EdF 208), Darmstadt 1984. W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther, Bd. 2: 1 Kor 6,12-11,16 (EKK 7/2), Zürich – Neukirchen-Vluyn 1995, 227. Vgl. J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus (EKK 15), Zürich – Neukirchen-Vluyn 1988, 228-239 (Exkurs zu den Gegnern), demzufolge sich die Gegnerschilderung der Pastoralbriefe „nahezu als Fallstudie dafür lesen [lässt], wie sich der Aufbruch der gnostischen Strömung innerhalb der heidenchristlichen Gemeinden des 1. Jh. vollzogen hat“ (ebd. 236). Wenn die sich auf dem Vormarsch befindliche Spätdatierung der

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auch judenchristlicher Einschlag (Tit 1,10) mit einem verhängnisvollen Interesse an „jüdischen Mythen“ und Genealogien (Tit 1,14; 1 Tim 1,3f.); darüber hinaus eignet den Gegnern ein streng asketischer Zug. Sie lehnen die Ehe ab und fordern die Enthaltung von Speisen (1 Tim 4,3). Das alles gipfelt sozusagen in einer präsentischen Eschatologie, „indem sie sagen, die Auferstehung sei schon geschehen“ (2 Tim 2,18). Wenn wir im Folgenden den Versuch machen, diese spärlichen Angaben anhand gnostischer Originaltexte wie der Schriften aus Nag Hammadi86, des neu gefundenen bzw. edierten Codex Tchacos (mit dem bislang unbekannten Judasevangelium), aber auch anhand der Väterliteratur und apokrypher Apostelakten ein wenig aufzuhellen und zu ergänzen, gilt es stets im Auge zu behalten, dass wir in diesem speziellen Fall ältere Texte mit jüngeren zu erklären suchen, also ein hermeneutisches Verfahren anwenden, das an sich nicht statthaft oder doch zumindest zweifelhaft ist. Genau darin liegt die Problematik jeglicher neutestamentlichen Beschäftigung mit der Gnosis, und hier, d. h. im Alter der Quellen, liegt auch der Grund, warum die Bestimmung des Ursprungs der Gnosis nach wie vor nicht zufriedenstellend gelöst ist. 6.2 Umrisse des Systems

Das griechische Wort γνῶσις bedeutet „Wissen, Erkenntnis“, und um nichts anderes geht es in der Gnosis. Man könnte die Gnostiker als eine Art antike Wissens- oder Informationsgesellschaft bezeichnen, die im Unterschied zu uns Heutigen freilich nicht wahllos Informationen sammeln und Wissen anhäufen, sondern ganz gezielt Antworten auf fundamentale menschliche Fragen suchen. Ihre Bezeichnung als „Gnostiker“ (= Erkennende) scheint deren Selbstbe‐ zeichnung zu entsprechen, wenn man den Kirchenväterzeugnissen trauen darf. Jedenfalls behauptet nach Origenes der Mittelplatoniker Celsius, dass

86

Pastoralbriefe (ca. 120-140 n. Chr.; vgl. meinen Beitrag „Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert“ in diesem Band) zutrifft, gewinnt dieses Argument noch an Relevanz, weil die Pastoralbriefe dann noch näher an die ersten gnostischen Originaltexte heranrücken. Nag Hammadi ist der Name eines kleinen Ortes am Oberlauf des Nil zwischen Siut und Luxor. Dort wurden 1945/46 insgesamt 13 Kodizes mit Schriften in koptischer Sprache und meistenteils gnostischen Inhalts entdeckt, u. a. das Thomasevangelium und eine bis dahin nicht bekannte Apostelgeschichte mit dem Titel „Die Taten des Petrus und der zwölf Apostel“. Insgesamt handelt es sich um 52 Einzelschriften auf etwa 1200 Seiten.

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es unter den Christen Leute gebe, „die beanspruchen Erkennende, zu sein“, eine Optik, die sich auch Clemens von Alexandrien zu eigen macht, wenn er davon spricht, dass „einige es wagen, sich vollkommen und Erkennende zu nennen“ (Paedag. I 52,2; vgl auch Stromat. 30,1). Irenäus von Lyon weiß um 180 n. Chr. von einer αἵρεσις γνωστικής, deren Prinzipien Valentinus für seine eigene Schule übernommen habe (Adv Haer I 11,1), und stellt einige Kapitel später lapidar fest: Gnosticos se autem vocant, „sie nennen sich übrigens Gnostiker“ (Adv Haer I 25,6). Der soeben erwähnte alexandrinische Theologe Clemens hat in seinen Excerpta ex Theodoto, einer gegen 200 n. Chr. entstandenen Sammlung gnos‐ tischer Zitate und Texte, sieben solcher fundamentalen Fragen festgehalten: „Wer waren wir? Was sind wir geworden? Wo waren wir? Wohin sind wir geworfen? Wohin eilen wir? Wovon sind wir befreit? Was ist Geburt, was ist Wiedergeburt?“ (Excerpta ex Theodoto 78,2). 6.2.1 Der gnostische Mythos

Der gnostische Mythos87 gibt darauf – stark vergröbert – folgende Antwort: Entstanden sind Welt und Mensch in Folge eines Irrtums oder Programm‐ fehlers; an sich waren beide im gnostischen Programm, das nach Art einer Endlosschleife immer neue Emanationen („Ausflüsse“) des Göttlichen hervorbringt, nicht vorgesehen. In der gnostischen Literatur werden diese Emanationen Äonen genannt, und einer dieser Äonen, die himmlische Sophia (im Hintergrund steht natürlich die personifizierte atl. Weisheit), ist letztlich für das ganze Unheil verantwortlich. Ohne Zustimmung des „Geistes“, hier Chiffre für den höchsten Gott, der an sich nur negativ beschrieben werden kann („un-begrenzbar“, „un-erforschlich“, „un-ermess‐ liche“, „un-sichtbar“, „un-aussprechlich“, etc.), und auch ohne Zustimmung ihres Paargenossen, des „männlich-jungfräulichen Geistes“, lässt die Sophia aus sich heraus einen Gedanken in Erscheinung treten, d. h. es findet eine 87

Den gnostischen Mythos gibt es eigentlich gar nicht, sondern eine Vielzahl von gnos‐ tischen Mythen. Das rührt daher, dass die Gnosis kein einheitliches Gebilde darstellt, sondern in verschiedene „Schulen“ oder, besser, Systeme zerfällt. Weit verbreitet ist die von H.-M. Schenke angestoßene Unterscheidung in valentianische (nach dem römischen Theologen Valentinus) und sethianische Gnosis (nach der Erlöserfigur Seth), vgl. B. Layton (Ed.), The Rediscovery of Gnosticism: Proceedings of the International Conference at Yale, New Haven, Connecticut March 28-31, 1978. Vol. 1: The School of Valentinus; Vol. 2: Sethian Gnosticism (SHR 41), Leiden 1980/81. Vorsichtiger, letztlich aber zustimmend B. Aland, Gnosis 214-221; kritisch bleibt Chr. Markschies, Gnosis 100f.

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Art Materialisierung des Geistes statt, die aber – vergleichbar einer Mutation bei einer genetischen Reduplikation – fehlschlägt: „Ihr Denken konnte nicht untätig werden, und ihr Werk trat hervor, unvollkom‐ men und hässlich, weil sie es ohne ihren Paargenossen gemacht hatte … Sie stieß es von sich weg, weg aus jenen Orten, damit keiner der Unsterblichen es sähe, weil sie es in Unwissenheit geboren hatte. Sie verband ihn mit einer Lichtwolke und stellte mitten in die Wolke einen Thron …, und sie nannte es Jaldabaoth“ (AJ BG 8502/2 37,12-38,14)88.

Dieser Jaldabaoth, sozusagen die gnostische Variante des atl. Schöpfergottes und des platonischen Demiurgen, geht unverzüglich daran, sich eine Gegen‐ welt zur himmlischen Welt zu schaffen, und zeichnet letztlich auch für die Erschaffung des Menschen verantwortlich, allerdings unter tätiger Mithilfe des höchsten Gottes. Weil der Fehler der Sophia wieder ausgebügelt werden muss, lässt der höchste Gott sein Spiegelbild „in Gestalt eines Menschen im Wasser“ erscheinen – gedacht ist vermutlich an die Wasserbestandteile des untersten Himmels (Wolken) –, das Jaldabaoth und die von ihm ge‐ schaffenen sieben Archonten mächtig beeindruckt und zur Erschaffung des Menschen inspiriert: „Sie sahen im Wasser das Aussehen des Bildes und sagten zueinander: Lasst uns einen Menschen schaffen nach dem Bild und dem Aussehen Gottes“ (AJ BG 8502/2 48,8-14; vgl. Gen 1,26!).

Das Resultat ist ein seelisches Wesen, das aber zunächst noch nicht lebens‐ fähig ist; erst durch eine List wird Jaldabaoth dazu gebracht, diesem Wesen „etwas von dem Geist, der in ihm ist“ einzuhauchen, was dieser dann auch tut: „Und so blies er ihm von seinem Geist – das ist die Kraft von der Mutter –

88

Hier und im Folgenden orientiere ich mich an der Variante des gnostischen Mythos, wie ihn das Apokryphon des Johannes (= AJ) erzählt, eine der sethianischen Gnosis zuzurechnende Schrift, die in insgesamt vier Handschriften überliefert ist. Drei wurden in Nag Hammadi gefunden, eine weitere war schon früher aus einem Berliner kopti‐ schen Papyrus bekannt (BG 8502/2). Die vorhandenen Handschriften bezeugen eine längere (NHC II/l; IV/1) und eine kürzere Version (NHC III/l; BG 8502/2), die ihrerseits wieder eine Übersetzung eines griechischen Originals darstellt. Von der Datierung her gehört das AJ zu den ältesten koptischen Originaltexten und dürfte in der zweiten Hälfte des 2. Jh. entstanden sein (noch vor 180 n. Chr.), vgl. Hartenstein, Lehre 73. Die hier gebotene Übersetzung und Zählung orientiert sich am Berliner Papyrus nach der Ausgabe von W. Till/H.-M. Schenke, Die gnostischen Schriften des Koptischen Papyrus Berolinensis. Herausgegeben, übersetzt und bearbeitet (TU 60), Berlin 21972.

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in den Leib, und der bewegte sich in jener Stunde“ (AJ BG 8502/2 51,16-52,1). Die Anklänge an Gen 2,7 sind mit Händen zu greifen, und doch besteht zum zweiten biblischen Schöpfungsbericht ein signifikanter Unterschied: Bislang ist der gnostische Adam ein seelisch-geistiges Wesen, das seinen Schöpfern aufgrund des ihm innewohnenden göttlichen Funkens sogar überlegen ist.89 Jaldabaoth und seine Archonten, mittlerweile eifersüchtig auf ihre Schöpfung geworden, verpflanzen daher den seelisch-geistigen Adam in die „Gegenden am Grund der ganzen Materie“ und geben ihm einen zweiten, materiellen Leib: „Sie machten noch einmal ein weiteres Gebilde, und zwar aus der Erde, dem Wasser, dem Feuer und dem Wind (πνεῦμα), das heißt aus der Materie, der Finsternis, der Begierde und dem Widersacher-Geist (πνεῦμα). Das ist die Fessel, das ist das Grab des Gebildes des Leibes, das dem Menschen angezogen wurde aus Materie“ (AJ BG 8502/2 55,3-13). 6.2.2 Soteriologie: Befreiung durch Erkenntnis

Erlösungsfähig, das dürfte aus den Ausführungen zum Mythos schon deut‐ lich geworden sein, ist nur der Geist des Menschen, sein transzendenter Kern oder – mythisch ausgedrückt – sein göttlicher Lichtfunke, während der materielle Leib und, ganz im Gegensatz zur platonischen Tradition, auch die Seele als Sitz der Triebe und Leidenschaften beim Seelenaufstieg nach dem Tod zurückbleiben.90 Damit es dazu überhaupt kommt, bedarf der Mensch der Erkenntnis, genauer der Selbsterkenntnis, zu der er aber von Hause aus gar nicht fähig ist (damit rückt die Gnosis deutlich von der sok‐ ratisch-platonischen Philosophie ab). Seine Verstrickung in Leidenschaften und Begierden, seine Unfähigkeit, aus dem Alltagstrott herauszukommen, und die immerwährende Gefahr, vom Getriebe der Welt aufgesogen zu werden, verhindern die Selbsterkenntnis schon im Ansatz. Die Gnosis kennt für diesen unheilvollen Zustand eine Reihe von Bildern: das Bild vom Gefängnis, aus dem der Mensch sich nicht selbst befreien kann, das Bild von der Trunkenheit und, ganz prominent, das Bild vom Schlaf, aus dem der Mensch mittels eines Weckrufs, d. h. eines Impulses von außen, einer 89 90

„Und der Mensch erstrahlte wegen des Schattens des Lichtes, das in ihm ist, und sein Denken erhob sich höher als das derer, die ihn erschaffen hatten“ (AJ BG 8502/2 54,5-8). Befragt man den Mythos, so gibt es für die mangelnde Erlösungsfähigkeit der Seele einen weiteren einsichtigen Grund: Die Seele oder besser die einzelnen Seelenteile stammen von den sieben Archonten, vgl. BG 8502/2 49 2- 50,4!

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„Offenbarung“, die von außerhalb des Kosmos stammt, geweckt werden muss. Ausgesprochen wird dieser Ruf von Offenbarer- oder Erlöserfiguren, bei denen es sich sowohl um historische (Simon Magus) als auch um mythische Gestalten handeln kann; Abstraktbildungen wie die Sophia oder die Protennoia („erste Idee“) können diese Funktion ebenfalls ausfüllen. Wo die Gnosis christlich eingefärbt ist, fungiert natürlich (der himmlische) Christus als Erlöserfigur. Das kann z. B. so geschehen, dass man Christus mit einer der höchsten Emanationen Gottes gleichsetzt, z. B. dem „Sohn des Urvaters“, der dann aus himmlischen Höhen auf die Erde hinabsteigt. Der bei Hippolyt erhaltene sog. „Naasenerpsalm“ vermittelt einen guten Einblick in derartige Vorstellungen: „Da sprach Jesus: ,Blicke, Vater, auf dieses von Bösen verfolgte Wesen, das auf der Erde umherirrt, fern von deinem Hauch. Es sucht dem bitteren Chaos zu entfliehen und weiß nicht, wie es hindurch kommen soll. Um dessentwillen sende mich, Vater! Ich will, die Siegel besitzend, hinabsteigen, alle Äonen will ich durchschreiten, alle Geheimnisse will ich enthüllen … und die Verborgenheiten des heiligen Pfades, den ich Erkenntnis (γνῶσις) genannt habe, will ich enthüllen‘.“91

Die auf solche Weise, d. h. mit Hilfe eines von außen kommenden Weckrufs ermöglichte Erkenntnis lässt den Gnostiker zwar zu sich selbst finden, ist aber noch nicht mit der Rückkehr ins himmlische Lichtreich gleichzusetzen. Diese geschieht erst im Moment des Todes mittels des schon erwähnten Seelenaufstiegs, der allerdings nicht ohne Gefahren ist. Die Seele, die den Leib auf der Erde zurücklässt, muss auf dem Weg nach oben mehrere Himmel passieren (und lässt in jedem Himmel einen Teil ihrer selbst zurück, bis am Ende nur noch der reine göttliche Geist übrig ist); die in den unteren Himmeln angesiedelten Dämonen, Archonten und nicht zuletzt Jaldabaoth versuchen aber den Weg der Seele zu blockieren. Die postmortale Himmelsreise gelingt nur unter Benutzung bestimmter Hilfsmittel wie Beschwörungsformeln, magischer Zeichen, Amulette oder Passwörter, die beim Weiterschreiten von einem Himmel zum nächsten vorzuzeigen bzw. aufzusagen sind. Das Ende der Welt ist dann erreicht, wenn alle Gnostiker zur Erkenntnis gekommen sind, will sagen alle Geistpartikel wieder ins himmlische Lichtreich zurückgekehrt sind. Die übrige Welt bricht dann in

91

Hippolyt, Ref V 10,2.

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sich zusammen und verschwindet, ein Vorgang, der hin und wieder nach dem Muster der stoischen Ekpyrosislehre beschrieben wird.92 6.3 Ursprungsfrage

Lässt man die auch auf den zweiten oder dritten Blick immer noch schwer verdaulichen gnostischen Originaltexte noch einmal Revue passieren, so zeichnet sich ein System ab, das mit einem fernen Gott rechnet (negative Theologie), eine Unzahl weiterer göttlicher Figuren einführt, darunter auch einen Schöpfergott (Jaldabaoth), der z.T. als unwissend, z.T. als böse beschrieben wird, Welt und Materie grundsätzlich negativ einschätzt und die unheilvolle Situation des Menschen bzw. einer besonderen Klasse von Menschen als ein mythisches Drama schildert, aus dem freilich Befreiung möglich ist. Das Zauberwort dafür lautet γνῶσις, „Erkenntnis“, die aber nur durch eine jenseitige Erlösergestalt gewonnen werden kann („Weckruf“) und die dem Gnostiker den Weg zurück nach oben weist. Wann und wo ist dieses System entstanden? Der massive Rückgriff auf atl. Traditionen, ins‐ besondere auf die Schöpfungsgeschichte, die prominente Rolle der Weisheit, aber auch eine beachtliche Übereinstimmung mit der pessimistisch-dualis‐ tischen Weitsicht der jüdischen Apokalyptik – in der vorfindlichen Welt gibt es kein Heil – weist auf jeden Fall in jüdisches oder doch stark vom Judentum geprägtes Milieu. Dafür spricht auch die Nähe zu dem jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien, der wie die Gnosis Platon als Ideengeber und hermeneutische Brille im Umgang mit den biblischen Texten benutzt. Und dafür spricht nicht zuletzt auch der Befund in den Pastoralbriefen, deren „Gnosis“ genannte Irrlehre ja eindeutig jüdisch koloriert ist (s. o.). Eine zeitliche Vorordnung der Gnosis vor das Christentum lässt sich mit diesen Argumenten aber nicht begründen, nicht einmal das zeitgleiche Entstehen von Christentum und Gnosis. Das entscheidende Handicap einer Frühdatierung liegt nach wie vor in dem Umstand, dass Texte eindeutig gnostischer Provenienz aus dem 1. Jh. n. Chr. oder gar noch früher bislang nicht vorliegen, sondern erst ab Mitte des 2. Jh.s n. Chr. Diesem Umstand verdankt sich auch die wieder zunehmende Popularität der auf Adolf von Harnack zurückgehenden „kirchengeschichtlichen Lösung“, die die Gnosis als „akute Hellenisierung“ des christlichen Glaubens im „Laboratorium“ christlicher Theologie der ersten Jahrhunderte (Markschies) versteht.

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Irenaus, Adv Haer I 7,1.

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7 Literatur 7.1 Textsammlungen (allgemein)

J. Leipoldt/W. Grundmann (Hg.), Umwelt des Urchristentums. Bd. II: Texte zum neutestamentlichen Zeitalter, Berlin 71985 (obwohl veraltet, immer noch nützlich). C. Markschies/J. Schröter, Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. Bd. I: Evangelien und Verwandtes,Tübingen 2012 (enthält im 2. Teilband eine Reihe gnostischer Originaltexte). J. Schröter/J.K. Zangenberg (Hg.), Texte zur Umwelt des Neuen Testaments, Tübin‐ gen 32013. 7.2 Öffentlicher Kult (mit Gesamtdarstellungen)

J.N. Bremmer, Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland, Darmstadt 1996. W. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche (RdM 15), Stuttgart 22011 (klassische Darstellung). L. Bruit Zaidman/P. Schmitt Pantel, Die Religion der Griechen. Kult und Mythos, München 1994. E. Eidinow/J. Kindt (Ed.), The Oxford Handbook of Ancient Greek Religion, Oxford 2015. H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums I: Stadt- und Hausreligion, Mysterienkulte, Volksglaube; II: Herrscher- und Kaiserkult, Philosophie, Gnosis (KStTh 9/1.2), Stuttgart 1995/96. D. Ogden (Ed.), A Companion to Greek Religion (Blackwells Companions to the Ancient World), Oxford 2010. R. Parker, On Greek Religion (Cornell Studies in Classical Philology 60), Ithaca– London 2011. J. Rüpke, Die Religion der Römer. Eine Einführung, München 32019. J. Rüpke, Urban Religion. A Historical Approach to Urban Growth and Religious Change, Berlin 2020. 7.3 Mysterienkulte

Chr. Auffarth, Die antiken Mysterienkulte als Vorläufer, Gegenmodell oder kathol‐ lisches Gegengift, Archiv für Religionsgeschichte 8 (2006) 206-226. W.D. Berner, Initiationsriten in Mysterienreligionen, im Gnostizismus und im antiken Judentum, Diss. Göttingen 1972. W. Burkert, Antike Mysterienkulte. Funktionen und Gehalt, München 1990.

Die religiöse Umwelt des Paulus

D. Engster, Konkurrenz oder Nebeneinander? (Quellen und Forschungen zur antiken Welt 36), München 1999. M. Giebel, Das Geheimnis der Mysterien. Antike Kulte in Rom, Griechenland und Ägypten, Zürich/München 21993. H. Kloft, Mysterienkulte der Antike. Götter – Menschen – Rituale (BsR2106), München 42010. J. Rüpke (Hg.), Gruppenreligionen im römischen Reich. Sozialformen, Grenzziehun‐ gen und Leistungen, Tübingen 2012. D. Zeller, Art. Mysterien/Mysterienreligionen, TRE 23 (1994), 504-526. 7.4 Mantik, Wunder, Magie Textausgaben

L.R. DiDonnici, The Epidaurian Miracle Inscriptions. Text, Translations, and Com‐ mentary (Text and Translations 36. Graeco-Roman Religion Series 11), Atlanta 1995. R. Herzog, Die Wunderheilungen von Epidauros. Ein Beitrag zur Geschichte der Medizin und der Religion (Ph.S 22/3), Leipzig 1931 (immer noch unverzichtbar). K. Preisendanz/A. Henrichs (Hg.), Papyri Graecae Magicae – Die griechischen Zauberpapyri (SWC), Bd. 1-2, Stuttgart 21973/74, Nachdr. 2001. Aufsätze, Monographien und Lexikonartikel

R.C. Edmonds III, Drawing Down the Moon. Magic in the Ancient Greco-Roman World, Princeton–Oxford 2019. D. Frankfurter, Guide to the Study of Ancient Magic (Religions in the Graeco Roman World 189), Leiden 2019. M. Frenschkowski, Art. Magie, in: RAC 23 (2010) 857-957. F. Graf, Gottesnähe und Schadenzauber. Die Magie in der griechisch-römischen Antike, München 1996. Ders./S. Iles Johnston, Art. Magie, Magier, DNP 7 (1999), 662-672. B. Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum (FRLANT 170), Göttingen 1996. J.W. Riethmüller, Asklepios: Heiligtümer und Kulte. Bd. 1-2 (Studien zu antiken Heiligtümern 2), Heidelberg 2005. V. Rosenberger, Griechische Orakel. Eine Kulturgeschichte, Darmstadt 2001. H. Solin, Inschriftliche Wunderheilungsberichte aus Epidauros, ZAC 17 (2013), 7-50. R. Zimmermann, Kompendium der christlichen Wundererzählungen. Bd. 2: Die Wunder der Apostel, Gütersloh 2017.

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7.5 Kaiserkult

H. Canzik/K. Hitzl, Die Praxis der Herrscherverehrung in Rom und seinen Provin‐ zen, Tübingen 2003. M. Clauss, Kaiser und Gott. Herrscherkult im römischen Reich, München/Leipzig 2001. A. Kolb/M. Vitale (Hg.), Kaiserkult in den Provinzen des römischen Reichs. Organi‐ sation, Kommunikation, Repräsentation, Berlin 2016. S.R.F. Price, Between Man and God: Sacrifice in the Roman Imperial Cult, JRS 70 (1980), 28-43. Ders., Rituals and Power. The Roman Imperial Cult in Asia Minor, Cambridge 1984, Ndr. 1987. Th. Witulski, Kaiserkult in Kleinasien. Die Entwicklung der kultisch-religiösen Kaiserverehrung in der Provinz Asia von Augustus bis Antoninus Pius (NTOA 63), Göttingen 22010. A. Wlosok (Hg.), Römischer Kaiserkult (WdF 372), Darmstadt 1978. P. Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, München 21990. 7.6 Philosophie Textsammlung

A.A. Long/D.N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, Stuttgart 2000, 29-522 (maßgebliche Textsammlung zum Thema). Beiträge in Sammelbänden und Monographien

M. Erler, Epikur. Die epikureische Schule. Lukrez, in: H. Flashar (Hg.), Die hellenis‐ tische Philosophie. Erster Halbband (Die Philosophie der Antike 4/1), Basel 1994, 29-490. M. Forschner, Die Philosophie der Stoa. Logik, Physik und Ethik, Darmstadt 2018. Ders., Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Darmstadt 21995. B. Inwood (Ed.), The Cambridge Companion to the Stoics, Cambridge 2003, Repr. 2009. A.A. Long, Epictetus. A Stoic and Socratic Guide to Life, Oxford 2002, Repr. 2013. G. Reydams-Schils, Stoa, in: Chr. Riedweg/Chr. Horn/D. Wywra (Hg.), Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (Die Philosophie der Antike 5/1), Basel 2018, 140-181. J. Sellars, Stoicism (Ancient Philosophies), Berkeley–Los Angeles 2006.

Die religiöse Umwelt des Paulus

P. Steinmetz, Die Stoa, in: H. Flashar (Hg.), Die hellenistische Philosophie. Zweiter Halbband (Die Philosophie der Antike 4/2), Basel 1994, 491-716. J. Wildberger, Seneca und die Stoa: Der Platz des Menschen in der Welt: Bd. 1: Text; Bd. 2: Anhänge, Literatur, Anmerkungen und Register (Untersuchungen zur antiken Literaur und Geschichte 84/1-2), Berlin 2006. J. Warden (Ed.), The Cambridge Companion to Epicureanism, Cambridge 2009, Repr. 2013. Religiöse Philosophie und philosophische Religion der frühen Kaiserzeit. Litera‐ turgeschichtliche Perspektiven. (Ratio Religionis Studien I), hrsg. v. Rainer Hirsch-Luipold, Herwig Görgemanns, Michael von Albrecht unter Mitarb. v. Tobias Thum (Studien und Texte zu Antike und Christentum / Studies and Texts in Antiquity and Christianity 51), Tübingen 2009. 7.7 Gnosis Textausgaben (in Übersetzung)

J. Brankaer/H.-G. Bethge, Codex Tchacos. Texte und Analysen (TU 161), Berlin–New York 2007. W. Foerster (Hg.), Die Gnosis. Bd. 1: Zeugnisse der Kirchenväter; Bd. 2: Koptische und manichäische Quellen; Bd. 3: Der Manichäismus, Zürich 1995. U.U. Kaiser/H.-G. Bethge (Hg.), Nag Hammadi Deutsch. NHC I – XIII, Codex Berolensis 1 und 4. Studienausgabe. Eingeleitet und übersetzt von Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises für Koptisch-Gnostische Studien, Berlin 32013. Einführungen, Monographien und Lexikonartikel

B. Aland, Die Gnosis (Reclam-UB 19210), Stuttgart 2014. J. Brankaer, Die Gnosis. Texte und Kommentar, Wiesbaden 2010. J. Hartenstein, Die zweite Lehre. Erscheinungen des Auferstandenen als Rahmener‐ zählungen frühchristlicher Dialoge (TU 146), Berlin 2000. K.L. King, The Secret Revelation of John, Cambridge, Ma.–London 2006. Dies., What is Gnosticism, Cambridge, Ma. 2003. Chr. Markschies, Art. Gnosis/Gnostizismus. II. Christentum, RGG4 3 (2000), 1045-1053. Ders., Die Gnosis (BsR 2173), München 42018 (knappe Einführung in den aktuellen Stand der Diskussion). Ders., Gnosis und Christentum, Berlin 2009. B.A. Pearson, Ancient Gnosticism. Traditions and Literature, Minneapolis 2007.

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K. Rudolph, Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion (UTB 1577), Göttingen 31990 (Klassiker).

Das Leben des Paulus

E VA E BEL

Für das Leben des Paulus stehen zwei Quellen zur Verfügung, zum einen die sieben echten paulinischen Briefe (Röm, 1 Kor, 2 Kor, Gal, Phil, 1 Thess, Phlm) als Selbstzeugnisse, zum anderen die Apostelgeschichte des Lukas als Fremdbericht, dessen Verfasser den Apostel wohl nicht persönlich gekannt und sein Werk erst einige Jahrzehnte nach dem Tod des Paulus abgefasst hat. Den Aussagen in den Briefen kommt dabei zeitliche und inhaltliche Priorität zu, jedoch sind auch sie keine neutrale und auf Vollständigkeit bedachte Darstellung des paulinischen Lebens und Wirkens. Paulus berichtet nur dann biographische Details, wenn er sie für seine Argumentation nutzen will, und färbt sie dementsprechend ein. Die Aussagen des Paulus zu seiner eigenen Person sind sehr lückenhaft und deshalb sind die lukanischen Angaben für eine Biographie des Paulus unverzichtbar. Darüber hinaus ermöglicht es ausschließlich die Apostelgeschichte, das Leben des Apostels chronologisch zu verankern. Lukas verarbeitet in seinem Werk zahlreiche lokale Traditionen, allerdings nicht ohne sie in seinem Sinne auszuwählen und zu bearbeiten. Die Angaben der Apostelgeschichte sind folglich vor dem Hintergrund der Primärquellen kritisch zu befragen. 1 Chronologie

Weder das Geburts- noch das Sterbedatum des Paulus werden in den neutestamentlichen Schriften genannt, kein Brief wird datiert. Für die absolute Chronologie des paulinischen Lebens müssen somit Erwähnungen solcher Personen und Ereignisse herangezogen werden, die sich mit Hilfe außerbiblischer Quellen datieren lassen.

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1. Ausgangspunkt ist dabei die sog. Gallio-Inschrift. Lucius Iunius Gallio Annaeanus tritt als Proconsul von Achaia (ἀνθύπατος τῆς Ἀχαΐας) in Apg 18,12 auf. Achaia war eine senatorische Provinz, d. h. im Normalfall bestimmte der Senat alljährlich einen neuen Statthalter, der seinen Dienst vermutlich jeweils zum 1. Juli antrat.1 Die Amtszeit des Gallio, des älteren Bruders des Philosophen Seneca, lässt sich durch eine in Delphi gefundene, bedauerlicherweise nur fragmentarisch erhaltene Inschrift2 relativ sicher bestimmen: Sie dauerte vermutlich vom Früh‐ sommer 51 bis zum Frühsommer 52. Der inschriftlich dokumentierte Brief des Kaisers Claudius behandelt eine die Stadt Delphi betreffende Angelegenheit und ist entweder an die Stadt während des Proconsulats des Gallio oder an dessen Nachfolger im Amt gerichtet. Datiert ist das Schreiben auf die 26. Akklamation des Claudius als imperator und – textkritisch unsicher – auf die 12. Verleihung der tribunizischen Gewalt an ihn. Die tribunicia potestas wird einem neuen Kaiser gleich bei seinem Amtsantritt verliehen, ihre Anzahl ist somit identisch mit dem laufenden Amtsjahr. Das 12. Amtsjahr des Claudius begann am 25. Januar 52 und endete am 24. Januar 53. Da die 27. Akklamation als imperator vor dem 1. August 52 stattfand, muss der Brief zuvor, also im Sommer des Jahres 52, verfasst worden sein. Als Abfassungszeitraum ergibt sich somit die Zeit zwischen dem 25. Januar und dem Frühsommer 52. Wegen der Länge des im Brief behandelten Berufungsverfahrens ist es wahrscheinlicher, dass 1 2

Nach Cassius Dio 57,14,5 verfügte dies Tiberius. Von Claudius berichtet er, dass dieser den Abreisetermin aus Rom zunächst auf Anfang April (60,11,6), dann auf Mitte April festlegte (60,17,3). Die maßgebliche Edition der sog. Gallio-Inschrift stammt von A. Plassart, Lettre de l’empereur Claude au gouverneur d’Achaïe (en 52), in: Les inscriptions du temple du IVe siècle (Fouilles de Delphes III/4), hg. v. École française d’Athenes, Paris 1970, 26–32 (Nr. 286). Den griechischen Text und eine Übersetzung bieten H.-M. Schenke/ K.M. Fischer, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments, Band I: Die Briefe des Paulus und die Schriften des Paulinismus, Berlin 1978, 50 f. Grundlegend für den deutschsprachigen Bereich sind die Überlegungen von A. Deissmann, Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Skizze, Tübingen 21925, 203–225 (Beilage 1) mit Photographien der Fragmente als Frontispiz des Buches. Von den neueren Arbeiten zur paulinischen Chronologie sind heranzuziehen G. Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel, Band I: Studien zur Chronologie (FRLANT 123), Göttingen 1980, 181–183; R. Jewett, Paulus – Chronologie. Ein Versuch, München 1982, 72–75; R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie (WUNT 71), Tübingen 1994, 180–185; H. Omerzu, Prozeß, 247–252.

Das Leben des Paulus

Gallios Amtszeit als Proconsul nicht erst im Frühsommer 52 begann, sondern vom Frühsommer 51 bis zum Frühsommer 52 dauerte und das Reskript des Claudius erst nach dessen Ausscheiden aus dem Amt verfasst wurde.3 Nach Apg 18,11 verbringt Paulus bei seinem ersten Besuch insgesamt 18 Monate in Korinth. Wenn er sich gleichzeitig mit dem amtierenden Proconsul Gallio dort aufhält, kann er frühestens vom Herbst 49 bis zum Sommer 51 und spätestens vom Frühjahr 52 bis zum Winter 53/54 dort verweilen. Dieser Zeitraum lässt sich durch zwei Überlegungen weiter eingrenzen: Die lukanische Darstellung erweckt erstens den Eindruck, die Juden hätten auf die Unerfahrenheit des neu eingetroffe‐ nen Statthalters spekuliert, und legt zweitens nahe, Paulus habe sich nach diesen Ereignissen nicht mehr allzu lange in der Stadt aufgehalten (vgl. Apg 18,18: ἔτι προσμείνας ἡμέρας ἱκανὰς). Die Szene gehört somit vermutlich in die erste Phase der Statthalterschaft Gallios und an das Ende des ersten paulinischen Wirkens in Korinth, das somit in den Sommer des Jahres 51 zu datieren ist. 2. Dieses wird bestätigt durch eine weitere Angabe für den Aufenthalt des Paulus in Korinth, die in Apg 18,2 zu lesen ist: Paulus trifft dort auf Aquila und Priska, die „vor kurzem“ (προσφάτως) aus Italien gekom‐ men seien, da aufgrund eines Edikts des Claudius (διὰ τὸ διατεταχέναι) alle Juden Rom haben verlassen müssen.4 Der nach der Apostelgeschichte früheste literarische Beleg für eine Ausweisung von Juden aus Rom unter Kaiser Claudius findet sich erst im 2. Jh. bei Sueton: Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultantis Roma expulit (Claudius 25,4).5 Im 5. Jh. zitiert Orosius zunächst die angeführte 3

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5

Eine mehr als einjährige Amtszeit ist möglich, im Falle des Gallio aber sehr unwahr‐ scheinlich, da er nach einer Notiz seines Bruders Seneca in Achaia an Fieber erkrankte (Epistulae 104,6). Es ist eher zu erwägen, ob Gallio Achaia vorzeitig verlassen hat, so z. B. Riesner, Frühzeit (Anm. 2), 185. Vgl. zu den vielfältigen Problemen des sog. Claudius-Edikts Riesner, Frühzeit (Anm. 2), 139–180; H. Botermann, Das Judenedikt des Kaisers Claudius. Römischer Staat und Christiani im 1. Jahrhundert (Hermes.E 71), Stuttgart 1996, und D. Alvarez Cineira, Religionspolitik, 194–216. Zu übersetzen ist entweder kausal „Die Juden vertrieb er aus Rom, weil sie beständig, angetrieben durch Chrestus, Unruhe stifteten“ oder mit einem einschränkenden Rela‐ tivsatz „Die Juden vertrieb er aus Rom, die beständig, angetrieben durch Chrestus, Unruhe stifteten.“ Chrestus ist höchstwahrscheinlich ein Schreib- oder Hörfehler für Christus und auf Jesus Christus zu beziehen. Es ist zu bedenken, dass Chrestus ein in Rom geläufiger Sklavenname ist, jedoch gibt es keinen Beleg für einen jüdischen

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Stelle Suetons – allerdings in der interpretatio Christiana mit der Lesart Christo – und gibt dann die Datierung „im neunten Jahr“ des Claudius, also die Zeit zwischen dem 25. Januar 49 und dem 24. Januar 50 (Historia adversum paganos 7,6,15). Basierend auf den Zeugnissen des Sueton und des Orosius wird mehr‐ heitlich das sog. Claudius-Edikt auf das Jahr 49 n. Chr. datiert.6 Für die Ankunft des Ehepaares Aquila und Priska in Korinth lässt sich dann entweder noch dasselbe oder der Beginn des folgenden Jahres vermuten. „Nicht lange danach“ erreicht Paulus die Stadt, mit großer Wahrscheinlichkeit also im Jahr 50 n. Chr., und verweilt dort 18 Monate bis zum Spätsommer des Jahres 51 n. Chr. 3. Quintus Sergius Paul[l]us war von 46–48 n. Chr. Proconsul von Zypern.7 In Apg 13,7 lässt Lukas Paulus erfolgreich vor dem Statthalter predigen. Sein Zypernaufenthalt müsste also in diesen Zeitraum gefallen sein. 4. Für die Datierung der Ereignisse, die Lukas im letzten Viertel seiner Apostelgeschichte berichtet und die Paulus als Gefangenen von Jeru‐ salem über Cäsarea nach Rom führen, ist der Wechsel im Amt des römischen Procurators von Felix zu Festus (Apg 24,27) grundlegend. Die Quellen geben keine definitive Auskunft über den Zeitpunkt, viel spricht für das Jahr 59 n. Chr.8

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Träger dieses Namens, vgl. dazu ausführlich Botermann, Judenedikt (Anm. 4), 87–95 und Alvarez Cineira, Religionspolitik, 201–206. Eine abweichende Frühdatierung stützt sich auf Cassius Dio, der ein Versammlungs‐ verbot der römischen Juden vermutlich im ersten Regierungsjahr des Claudius, also 41 n. Chr., tradiert (60,6,6). Überaus fraglich ist, ob die „Vertreibung“ (Apostelgeschichte und Sueton) und das „Versammlungsverbot“ (Cassius Dio) miteinander identisch sind. Lüdemann, Paulus I (Anm. 2), 183–195, legt dieses Datum jedoch für den ersten Korinth-Aufenthalt des Paulus zugrunde, der von einem zweiten während der Amtszeit des Gallio zu unterscheiden sei. Vgl. H. Halfmann, Die Senatoren aus den kleinasiatischen Provinzen, in: Atti del Colloquio Internazionale AIEGL su Epigrafia e Ordine Senatorio (EOS) 2, Roma 1982, 101 f. D.A. Campbell, Possible inscriptional attestation to Sergius Paul[l]us (Acts 13:6–12), and the implications for Pauline Chronology, JThS 56 (2005), 1–29. Campbell setzt allerdings (mit Vorsicht) den Aufenthalt des Sergius Paullus während oder vor 37 n. Chr. an. Zur Frage der Historizität s. u. S. 176 mit Anm. 10. Vgl. zu diesem Problem E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C. – A.D. 135). A New English Version rev. and ed. by G. Vermes/F. Millar, Vol. I, Edinburgh 1973, 465–468; Jewett, Paulus (Anm. 2), 76–80 und Omerzu, Prozeß, 405 f. Für eine Frühdatierung in das Jahr 54 n. Chr. plädiert Lüdemann, Paulus I (Anm. 2), 197 f. Anm. 101.

Das Leben des Paulus

Um den vergleichsweise sicher datierbaren ersten Korinth-Aufenthalt des Paulus und den Procuratorenwechsel lassen sich die relativen Angaben der Briefe und der Apostelgeschichte so anordnen, dass sich der auf Seite 160 dargestellte Ablauf des paulinischen Lebens ergibt.9 2 Herkunft, sozialer und rechtlicher Status des Paulus

So ausführlich die Informationen aus den paulinischen Briefen und der Apostelgeschichte über das Wirken des Paulus zunächst als Verfolger der christlichen Gemeinden und dann als christlicher Missionar sind, so fragmentarisch sind die Angaben zu seiner Herkunft: Weder das Geburtsjahr noch der soziale und rechtliche Status oder der Bildungsstand und der Beruf des Apostels sind gesichert. Höchst kompliziert ist die Bewertung der letzten Lebensphase des Paulus, in der er nach Lukas als Gefangener von Jerusalem über Cäsarea maritima nach Rom gelangt (Apg 21–28). Das Geburtsjahr des Paulus lässt sich aus seinen Briefen nicht erschließen, auch Lukas schweigt in diesem Punkt. Die Angabe in Phlm 9, nun ein alter Mann (πρεσβύτης) zu sein, erlaubt keine exakten Berechnungen.10 Über seine Familie gibt Paulus keine konkreten Informationen, nicht einmal die Namen der Eltern oder möglicher Geschwister sind aus seinen Briefen zu ermitteln.11 Weist die lukanische Notiz über einen Neffen in Apg 23,16 einen historischen Kern auf, hat Paulus zumindest eine Schwester, die in Jerusalem lebt. Er selbst ist nach eigener Aussage unverheiratet (1 Kor 7,1.8; 9,5).

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Es handelt sich um eine Art Konsensmodell. Es ist nicht möglich, die Vielzahl der vorgelegten Entwürfe im Rahmen dieses Buches zu diskutieren. Ausgewählte Aspekte werden in dem Kapitel zu den Missionsreisen behandelt. Vgl. den Beitrag im vorliegenden Band. Die Bezeichnung πρεσβύτης, „Greis“, wird nach Philo, De opificio mundi 3, ab dem 49. Lebensjahr verwendet. Je nach Lokalisierung und Datierung des Philemonbriefes wäre Paulus danach wenige Jahre nach der Zeitenwende geboren worden. Der Name Παῦλος ist ein lateinisches cognomen und praenomen, hier gräzisiert. Aus dem 1. Jh. n. Chr. sind aus Palästina zwei weitere Träger dieses Namens bekannt (T. Ilan, Lexicon of Jewish Names in Late Antiquity I. Palestine 330 BCE–200 CE [TSAJ 91], Tübingen 2002, 336). Es handelt sich um Namen von Herodianern. Paulus trug also einen hellenistischen Zweitnamen, der sich am ehesten der Klangähnlichkeit mit Ša’ûl verdankte. Weiteres bei: R. Bauckham, Paul and Other Jews with Latin Names in the New Testament, in: Paul, Luke and the Graeco-Roman World. Essays in Honour of Alexander J.M. Wedderburn, ed. by A. Christophersen/C. Claussen/J. Frey/B. Longenecker (JSNT.S 217), Sheffield 2002, 202–220.

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Das Leben des Paulus

Zu seinem Geburtsort macht Paulus ebenfalls keine Angaben, anders aber die Apostelgeschichte. Zweimal wird dort die Stadt Tarsus in Kilikien als Heimat des Paulus genannt (Apg 21,39; 22,3; vgl. 9,11), wobei er bei der ersten Erwähnung ausdrücklich als „Bürger“ (πολίτης) der Stadt bezeichnet wird. Für einen gläubigen Juden ist es aus religiösen Gründen nicht möglich, alle mit dem Bürgerrecht einer griechischen Stadt verknüpften Rechte wahrzunehmen, da öffentliche Ereignisse (Theater, Feste, Wettkämpfe u. ä.) ebenso wie politische Ämter immer auch eine religiöse Komponente haben. Die jüdischen Bewohner einer Stadt können also kein Bürgerrecht im vollen Rechtssinn haben.12 Ein uneingeschränktes tarsisches Bürgerrecht des Paulus ist deshalb als äußerst unwahrscheinlich abzulehnen.13 Will man hier nicht eine lukanische Konstruktion vermuten, ist als alternative Deutung ein untechnischer Gebrauch von πολίτης als schlichte Herkunftsbezeichnung zu erwägen.14 Nichts spricht gegen die Historizität einer Beheimatung des Apostels in dieser kilikischen Stadt.15 Als Hinweis auf die enge Bindung an Tarsus lassen sich die wiederholten Aufenthalte des Apostels in Kilikien deuten.16 Entscheidend für die Einschätzung der sozialen Herkunft und der recht‐ lichen Situation des Paulus ist die Frage, ob er das römische Bürgerrecht besitzt oder nicht. Er selbst äußert sich zu diesem Thema nicht, was nicht

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K.L. Noethlichs, Der Jude Paulus, 64–67; deshalb spricht er in Bezug auf das tarsische Bürgerrecht des Paulus von einem „Scheinproblem“ (67). Ablehnend sprechen sich aus H.W. Tajra, The Trial of St. Paul. A Juridical Exegesis of the Second Half of the Acts of the Apostles (WUNT II/35), Tübingen 1989, 78–80; Omerzu, Prozeß, 34–36; verhalten positiv votiert M. Hengel, Der vorchristliche Paulus, 188–193. Dies entspricht weitgehend dem Gebrauch von πολίτης in der LXX, im Neuen Testa‐ ment und bei Josephus. Vgl. Hengel, Der vorchristliche Paulus, 191; Omerzu, Prozeß, 35 f. und dies., Tarsisches und römisches Bürgerrecht, in: Paulus Handbuch, hg. v. F.W. Horn, Tübingen 2013, 55–58; hier 65: „… Apg 21,39 ist aber wohl so zu interpretieren, dass Paulus ein Mitglied der Judengemeinde (politeuma) von Tarsus war, welche über eingeschränkte Bürgerrechte verfügte, er selbst jedoch keinen individuellen Rechtsstatus als Bürger hatte.“ Hieronymus überliefert die sog. Gischala-Tradition, nach der Paulus nicht in Tarsus geboren, sondern erst in jungen Jahren dorthin gekommen sei: Die Eltern des Paulus seien nach der Einnahme des judäischen Gischala durch die Römer nach Tarsus ausgewandert (commigrare; De viris illustribus 5,1) bzw. dorthin verschleppt worden (transferri; Commentarius in epistulam ad Philemonem). Es ist kaum möglich, diese Schilderung mit belegbaren Kriegsereignissen um die Zeit der Geburt des Paulus zu verknüpfen, vgl. dazu K. Haacker, Werdegang, 828–830; Omerzu, Prozeß, 37–39; Noethlichs, Der Jude Paulus, 56 mit Anm. 8. Paulus selbst berichtet davon in Gal 1,21; Lukas in Apg 9,30; 11,25; 15,41.

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verwundert, da es für die Korrespondenz zwischen dem Apostel und seinen Gemeinden keine Relevanz besitzt.17 Allein Lukas bezeichnet Paulus als civis Romanus (Apg 16,37f.; 22,25–29; 23,27). Um die Wahrscheinlichkeit dieser Angabe zu erhärten oder in Frage zu stellen, wird eine Vielzahl von Angaben aus den paulinischen Briefen und der Apostelgeschichte oder aber gerade das Fehlen bestimmter Aussagen als Argument herangezogen.18 Das Ziel ist dabei entweder ein direkter Beleg für bzw. gegen das römische Bürgerrecht oder zumindest der Erweis einer Zugehörigkeit zu einer höheren bzw. niederen gesellschaftlichen Schicht. Die insbesondere mit dem Prozess verknüpften juristischen Fragen lassen sich dabei nicht mit letzter Sicherheit beantworten, da sich das römische Recht im 1. Jh. n. Chr. durch den Übergang von der Republik zum Prinzipat im Umbruch befindet und die Quellenbasis sehr schmal ist.19 Unmittelbar mit den Kennzeichen, Rechten und Pflichten eines civis Romanus verbunden und damit ausschlaggebend für die Beurteilung der Frage des römischen Bürgerrechts des Paulus sind folgende Aspekte: –

Der Name: Ein römischer Bürger ist erkennbar an einem dreiteiligen Namen, bestehend aus praenomen, nomen gentile und cognomen. An keiner Stelle wird ein dreifacher Name des Paulus genannt. – Pro: Diese Fehlanzeige ist nur der Art der Korrespondenz des Paulus und dem

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Möglicherweise „eine – dezente – Anspielung“ auf die civitas Romana des Apostels erkennt allerdings Haacker, Werdegang, 843 in der 2. Person Plural τελεῖτε in Röm 13,6a, da Paulus als römischer Bürger nicht verpflichtet sei, tributum (φόρος) zu zahlen, seine Adressaten, die damit als Nicht-Bürger erkennbar seien, aber schon. Die Arbeiten zum römischen Bürgerrecht des Paulus und den damit verbundenen Einzelfragen sind zahllos, exemplarisch seien aus neuerer Zeit genannt Hengel, Der vorchristliche Paulus, 193–239 (zustimmend); W. Stegemann, Apostel, 200–229 (ableh‐ nend); Haacker, Werdegang, 831–847 (zustimmend); Omerzu, Prozeß, 17–52 (zustim‐ mend); U. Schnelle, Paulus, 42–44 (zustimmend); Omerzu, Bürgerrecht (Anm. 14), 56–58 (zustimmend); P. Pilhofer, Einer, 66–75 (ablehnend). Zur Relevanz der Argumente aus althistorischer Sicht vgl. einerseits Noethlichs, Der Jude Paulus, 67–84, der nach Sichtung der Apg und der paulinischen Briefe abwägend ablehnend votiert, und andererseits W. Nippel, Apostel, 359–371, der kaum Zweifel an den Aussagen der Apg hegt. Zu den Fragen der provocatio und appellatio im 1. Jh. n. Chr. vgl. Omerzu, Prozeß, 53– 109; Noethlichs, Der Jude Paulus, 70–73. Forschungsgeschichtlich grundlegend ist der Aufsatz von Th. Mommsen, Die Rechtsverhältnisse des Apostels Paulus, ZNW 2 (1901), 81–96. Einen Neuansatz in den rechtlichen Fragen bot erst J. Bleicken, Senatsgericht und Kaisergericht. Eine Studie zur Entwicklung des Prozeßrechtes im frühen Prinzipat (AAWG.PH III 53), Göttingen 1962.

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Stil des Schriftstellers Lukas zuzuschreiben.20 Contra: Paulus hat keinen dreiteiligen Namen und damit kein römisches Bürgerrecht. – Die Misshandlungen durch jüdische und römische Behörden: Paulus selbst berichtet, er habe fünfmal die Synagogenstrafe in Form von 39 Schlägen erlitten und sei dreimal gegeißelt worden (2 Kor 11,24f.). Letzteres muss sich auf das Vorgehen römischer Behörden beziehen. Ein Zeugnis dafür gibt Lukas in Apg 16,22. – Pro: Bei den synagogalen Maßnahmen handelt es sich um innerjüdische Konflikte, eine Berufung auf den bürgerlichen Status wäre dabei eine Provokation. Die Geiße‐ lungen durch römische Amtsträger sind unrechtmäßige Übergriffe, die im römischen Reich keinen Einzelfall darstellen. Der Nachweis des römischen Bürgerrechts ist schwierig, ein entsprechendes Schriftstück kann besonders auf Reisen leicht verloren gehen. Paulus sieht sich in der Leidensnachfolge Jesu (Gal 6,17) und nimmt deshalb diese Qualen hin. Contra: Die Geißelung eines römischen Bürgers ist gesetzlich untersagt. Es ist schwer vorstellbar, dass ein und dieselbe Person gleich dreimal Opfer eines behördlichen Fehlverhaltens dieser Art wird. – Der Verlauf des Prozesses: Lukas schreibt Paulus zwar das römische Bürgerrecht zu, verknüpft aber nicht einen juristischen Schritt inner‐ halb des Prozesses direkt mit diesem Status. Wenn der äußere Verlauf, wie ihn Lukas berichtet, historisch ist, ist zu klären, ob das römische Bürgerrecht dafür notwendige Voraussetzung ist oder nicht. – Pro: Eine Appellation an den Kaiser ist ein ausschließliches Privileg römischer Bürger. Contra: Die besondere Brisanz des Falles ist Grund genug, Paulus nach Rom zu überstellen. – Die Vereinbarkeit von strengem Judentum und römischem Bürgerrecht: Juden sind von gewissen Verpflichtungen, die römischen Bürgern an sich obliegen, befreit (Kaiserkult, Militärdienst). – Pro: Diese Zugeständ‐ nisse an die jüdische Religion ermöglichen es auch einem strengen Pharisäer, das römische Bürgerrecht innezuhaben. Contra: Trotz der Erleichterungen für Juden ist es einem Pharisäer nicht möglich, die 20

D.B. Saddington, The sorts of names used by auxiliaries in the early principate, in: Kaiser, Heer und Gesellschaft in der Römischen Kaiserzeit (Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien 31), hg. v. G. Alföldy/B. Dobson/W. Eck, Stuttgart 2000, 163–178, weist darauf hin, dass nicht nur Paulus, sondern auch Josephus, dessen römisches Bürgerrecht unumstritten ist, sich selbst niemals mit den tria nomina vorstellt (166). Das heißt: Das tria nomina-Argument lässt sich nicht gegen das römische Bürgerrecht des Paulus anführen.

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Vorschriften seines Glaubens und die Ansprüche an einen römischen Bürger miteinander zu vereinbaren. Wenig aussagekräftig sind dagegen folgende immer wieder herangezogene Gesichtspunkte: –

Die Lateinkenntnisse: Ein römischer Bürger soll die lateinische Sprache beherrschen. Es ist fraglich, ob Paulus mehr als nur gewisse Bruch‐ stücke der lateinischen Sprache beherrscht, die er auf seinen Reisen unweigerlich erwirbt. – Pro: Im Osten des Imperium Romanum ist Griechisch auch in offiziellen Angelegenheiten die übliche Sprache. Contra: Gerade unter Claudius wird die Unkenntnis der lateinischen Sprache mit Sanktionen belegt. – Die Wahl der Reiserouten: Paulus reist bevorzugt auf römischen Straßen und wählt als Orte seiner Missionstätigkeit römische Kolonien wie das pisidische Antiochia, Philippi und Korinth. – Pro: In römisch geprägten Städten kennt Paulus sich als römischer Bürger besonders gut aus. Contra: Paulus wählt diese Wege, weil sie schnelles Fortkommen er‐ möglichen, und diese Ziele, weil sie durch die bestehende Infrastruktur am besten zu erreichen sind.

Zur Einordnung des Paulus in eine bestimmte gesellschaftliche Schicht werden zusätzlich folgende Gesichtspunkte angeführt: –

Der Beruf: Nach Apg 18,3 ist Paulus σκηνοποιός von Beruf. Unklar ist, wann Paulus diesen Beruf erlernt hat, vor seiner Berufung oder während seiner missionarischen Tätigkeit. – Pro: σκηνοποιός bezeichnet einen Hersteller edler Lederprodukte, der Zugang zu hohen gesellschaftlichen Schichten hat. Die Berufstätigkeit des Paulus entspricht den Grund‐ sätzen seiner theologischen Ausbildung. Contra: Es ist ein einfacher Zeltmacher gemeint, der unteren Gesellschaftsschichten angehört.21 Zeugnisse für diese Verknüpfung von schriftgelehrter und handwerkli‐ cher Ausbildung finden sich erst in späterer Zeit. – Die Bildung: Paulus zitiert in seinen Briefen die LXX. Nach Apg 22,3 wird er in Jerusalem bei Rabbi Gamaliel ausgebildet. – Pro: Der Schriftgebrauch des Paulus lässt auf eine gute Ausbildung und damit auf eine gehobene gesellschaftliche Stellung schließen. Eine mögliche

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Vgl. z. B. P. Lampe, Paulus – Zeltmacher, 256–261.

Das Leben des Paulus

Ausbildung in Jerusalem erfordert für einen Diasporajuden einigen finanziellen Einsatz. Nach Apg 22,28 besitzt Paulus das römische Bürgerrecht von Geburt an, d. h. sein Vater ist schon römischer Bürger gewesen. Die civitas Romana kann durch Geburt und Adoption erlangt, bei Freilassung (manumissio) aus Kriegsgefangenschaft oder dem Sklavenstand sowie nach dem Ende des Militärdienstes (missio honesta) verliehen werden. Seit der Regierungszeit des Claudius nimmt der Handel mit dem römischen Bürgerrecht beständig zu (vgl. Apg 22,28). Wird der lukanischen Angabe Historizität zugeschrie‐ ben, wird zumeist eine Freilassung aus der Kriegsgefangenschaft für den wahrscheinlichen Weg des Vaters des Paulus zum römischen Bürgerrecht gehalten.22 Betrachtet man die gesamte Diskussion, so ergibt sich kein zwingendes Argument für ein römisches Bürgerrecht des Paulus. Innerhalb der Kon‐ zeption des lukanischen Doppelwerkes und speziell der Apostelgeschichte erscheint es dagegen durchaus möglich, dass Lukas Paulus die civitas Romana zuschreibt, um den christlichen Missionar als Paradebeispiel für die Vereinbarkeit von Christentum und römischen Bürgerrecht in Szene zu setzen. Obwohl er vielfach wie etwa in Philippi in schwere Konflikte mit den römischen Behörden gerät und nicht nur positiven Staatsvertretern wie Gallio, sondern auch negativ gezeichneten Beamten wie Felix begegnet, hält der Apostel am römischen Rechtssystem fest und beharrt auf einem Prozess vor dem Kaiser (Apg 25,9–12; vgl. Apg 25,20f.25.32). Die Apostelgeschichte erhält somit apologetischen Charakter: Christinnen und Christen sollten ohne staatliche Repressionen im Imperium Romanum leben können, gerade sie erweisen sich ganz wie der Apostel Paulus als vorbildliche Staatsbürger.23

22

23

Hengel, Der vorchristliche Paulus, 206–208, mit Verweis auf die Gischala-Tradition, die eine solche Vermutung schon für die Alte Kirche belege, sowie Riesner, Frühzeit (Anm. 2), 134–136. Allerdings ist es dann nicht erklärbar, wie Paulus schon als römischer Bürger geboren worden sein soll, wenn er nach dem Zeugnis des Hieronymus im Philemonkommentar erst als Kind (adulescentulus) mit seinen Eltern verschleppt worden ist. Mehrfach wird betont, dass aus römischer Sicht Paulus kein strafwürdiges Verbrechen nachgewiesen werden kann, vgl. im Rahmen des Prozesses Apg 23,29; 25,25; 26,31 und zuvor schon Apg 18,14–17.

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3 Der Jude Paulus. Pharisäer und Christenverfolger

Nach eigenen Angaben stammt Paulus aus dem Volk Israel, genauer aus dem Stamm Benjamin (Phil 3,5; Röm 11,1). Als strenger Pharisäer und Eiferer für das Gesetz (Gal 1,14; Phil 3,5f.; vgl. Apg 22,3; 23,6) verfolgt er die neu entstehenden christlichen Gemeinden – darin stimmen die paulinischen Selbstzeugnisse und die Apostelgeschichte überein. Differenzen allerdings liegen in den Ortsangaben zu dieser Verfolgungstätigkeit vor. Wenn Paulus auf sein Vorgehen gegen die Christinnen und Christen zurückblickt, nennt er keinen Ort (Gal 1,13.23; Phil 3,6; 1 Kor 15,9). Formel‐ haft verwendet er dabei das Verb διώκειν, „verfolgen“, das in Gal 1,13.23 noch durch πορθεῖν, „vernichten“, verstärkt wird, und nennt als Objekt die ἐκκλησία (τοῦ θεοῦ), die „Gemeinde (Gottes)“. Lukas berichtet von der Anwesenheit des jungen (νεανίας) Paulus in Jerusalem bei der Steinigung des Stephanus (Apg 7,58) und von seinem „Ein‐ verständnis“ (συνευδοκεῖν) mit dessen Tötung (Apg 8,1; vgl. 22,20). In der Folgezeit erscheint Paulus als aktiver Verfolger: Er geht von Haus zu Haus und bringt Männer und Frauen der Jerusalemer Gemeinde ins Gefängnis; dieses Tun wird als Versuch der „Vernichtung“ (λυμαίνεσθαι im Imperfekt de conatu) charakterisiert (Apg 8,3; vgl. 9,1; 22,4.19; 26,10). Das Bemühen des Lukas, den späteren christlichen Missionar als höchst entschlossenen und grausamen Verfolger der ersten Christinnen und Christen zu zeichnen, ist unverkennbar. Diese Lokalisierung nach Jerusalem verwundert im Blick auf Gal 1,22: Dort schreibt Paulus, er sei vor dem Apostelkonvent den Gemeinden in Judäa nicht von Angesicht bekannt gewesen (ἀγνοούμενος τῷ προσώπῳ). Wäre Paulus tatsächlich eine führende Kraft bei der Verfolgung der Jerusa‐ lemer Gemeinde gewesen, sollte er eine in Judäa bekannte und geradezu berüchtigte Person sein.24 Angesichts dieses Befundes ist die lukanische Darstellung, die in typischer Weise auf Jerusalem zentriert ist, in Zweifel zu ziehen: Es liegt vielmehr nahe, die antichristlichen Aktivitäten des Paulus in Damaskus anzusiedeln.25 24

25

Hengel, Der vorchristliche Paulus, 281, will dieses Argument entkräften, indem er die Verfolgung als interne Auseinandersetzungen innerhalb der griechischsprachigen Syn‐ agogen Jerusalems interpretiert, von denen die „‚Hebräer‘ in Jerusalem und erst recht im jüdischen Palästina“ relativ unberührt geblieben seien; vgl. auch M. Hengel/A.M. Schwemer, Paulus, 60–63. So auch u. a. J. Becker, Paulus, 63; Schnelle, Paulus, 74 f.; an der Historizität der lukanischen Darstellung hält jedoch Hengel, Der vorchristliche Paulus, 265–291, fest.

Das Leben des Paulus

In Apg 9,2 ist von einer Bevollmächtigung des Hohen Rates für Paulus zu einem Vorgehen gegen Christinnen und Christen in Damaskus die Rede. Auch wenn dieses nach Lukas durch die Bekehrung des Paulus verhindert wird, liegt in dieser Notiz dennoch ein Hinweis auf eine Verfolgungstätigkeit des Paulus in jener Stadt. Das legt vor allem Paulus selbst in Gal 1,17 nahe: Nach seiner Bekehrung sei er in die Arabia gegangen und anschließend nach Damaskus zurückgekehrt (πάλιν ὑπέστρεψα). 4 Der Christ Paulus. Die Berufung

Das Damaskus-Erlebnis des Paulus ist sprichwörtlich. Was genau aber lassen die biblischen Quellen über das Geschehen erkennen? Paulus berichtet zwar mehrfach von seiner Berufung (1 Kor 9,1; 15,8; Gal 1,12–16), verrät dabei aber lediglich, dass es sich um eine Erscheinung Christi gehandelt habe26, und verzichtet auf die Angabe von Zeit und Ort. Sein Interesse ist ausschließlich argumentativer Art, es liegt im Erweis seiner Unabhängigkeit von menschlichen, speziell Jerusalemer Autoritäten (vgl. Gal 1,16b–17a), nicht aber in einer möglichst eindrucksvollen Schilderung um ihrer selbst willen. Paulus verknüpft unmittelbar mit dem Erscheinungs‐ erlebnis seinen Verkündigungsauftrag an die Heiden (Gal 1,16). Demgegenüber äußerst detailliert ist der dreimalige Bericht des Lukas über die Lebenswende des Paulus (Apg 9,3–19; 22,6–21; 26,12–18). Die Ereignisse werden zunächst in der 3. Person in die Erzählung der Apostel‐ geschichte eingebunden, die Wiederholungen finden sich als Erzählungen in der 1. Person in den Reden des Paulus vor dem Volk im Jerusalemer Tempel bzw. vor dem römischen Procurator Festus, König Agrippa II. und seiner Schwester Berenike. Alle drei Fassungen lokalisieren das Geschehen auf dem Weg nach Damaskus und nennen Lichterscheinungen. Übereinstimmend wird von der Frage einer Himmelsstimme „Saul, Saul27, was verfolgst du mich?“, der Gegenfrage „Wer bist du, Herr?“ und der erneuten Himmels‐

26 27

Zur Interpretation dieser Texte vgl. B. Heininger, Paulus als Visionär. Ausschließlich in den Berufungsszenen verwendet Lukas die Form Σαούλ (Apg 9,4; 22,7; 26,14), ansonsten erscheint die gräzisierte Form Σαῦλος (Apg 7,58; 8,1.3; 9,1.8.11.22.24; 11,25.30; 12,25; 13,1.2.7.9). An der letztgenannten Stelle heißt es: „Saulus, der auch Paulus (heißt)“ (Σαῦλος δέ, ὁ καὶ Παῦλος), im weiteren Verlauf wird dann nur noch die Form Παῦλος verwendet. Es handelt sich also keineswegs um einen – im Deutschen dennoch sprichwörtlichen – Wechsel „vom Saulus zum Paulus“ anlässlich der Berufung. Zum Namen „Paulus“ s. o. Anm. 11.

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stimme „Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ berichtet. Nach Apg 9,7 sehen die Begleiter nichts, hören aber die Stimme; nach Apg 22,9 und 26,14 sehen sie das Licht, hören aber nichts. Charakteristisch ist die Einordnung der Ereignisse durch Paulus und Lukas: Für den Apostel steht, wie 1 Kor 15,3–11 belegt, die ihm zuteil gewordene Erscheinung des Gottessohnes in der Folge der österlichen Erscheinungen des Auferstandenen vor den Aposteln. Lukas hingegen sieht einen deutlichen Einschnitt zwischen den Erscheinungen des Auferstande‐ nen, die der Himmelfahrt vorangehen, und der Erscheinung vor Paulus. Bezeichnenderweise berichtet er von der darauf folgenden Taufe des Paulus (Apg 9,18; vgl. 22,16), während Paulus selbst keinen Hinweis auf eine mögliche Taufe gibt. 5 Das Ende des Paulus

Das letzte Viertel der Apostelgeschichte ist der Verhaftung des Paulus in Jerusalem, seiner Haft in Jerusalem und Cäsarea maritima, dem Prozess vor den römischen Procuratoren Felix und Festus sowie der Überführung des Apostels nach Rom gewidmet. Die Darstellung endet mit der ungehinderten Verkündigungstätigkeit des Paulus (Apg 28,31: μετὰ πάσης παρρησίας ἀκωλύτως) in Rom, die nach der Angabe des Lukas zwei Jahre andauert. Der apologetischen Absicht des Lukas entspricht es, den Tod des Paulus, den er in der Abschiedsrede in Milet voraussetzt (Apg 20,25.38), seinen Leserinnen und Lesern zu verschweigen. Die nächsten Nachrichten über das weitere Schicksal des Apostels finden sich im 1. Clemensbrief, einem Schreiben der römischen Gemeinde an die Gemeinde in Korinth, das zu den Apostolischen Vätern gerechnet wird. In 1 Clem 5,5–7 ist zu lesen: „Wegen Eifersucht und Streit hat Paulus den Kampfpreis der Geduld aufgewiesen: Siebenmal Ketten tragend, vertrieben, gesteinigt, Herold im Osten wie im Westen, hat er den edlen Ruhm für seinen Glauben empfangen. Gerechtigkeit hat er die ganze Welt gelehrt, und er ist bis an die Grenze des Westens gelangt und hat Zeugnis abgelegt vor den Führenden; so ist er aus der Welt geschieden und ist an den heiligen Ort gelangt – das größte Vorbild der Geduld.“28

28

Übersetzung nach A. Lindemann/H. Paulsen (Hg.), Die Apostolischen Väter. Grie‐ chisch-deutsche Parallelausgabe, Tübingen 1992, 87.

Das Leben des Paulus

Die genaueren Umstände des Todes sind aus diesen Zeilen nicht zu er‐ schließen, die vorausgehenden und folgenden Aussagen legen jedoch den Gedanken an ein Martyrium nahe.29 Unabhängig davon, ob man der gesam‐ ten lukanischen Darstellung des Prozesses Historizität zugesteht oder etwa eine Überstellung aus politischen Gründen, die kein römisches Bürgerrecht des Paulus voraussetzt, erwägt30, wird Rom übereinstimmend als letzte Station des Paulus angesehen, zumal es keine konkurrierende Tradition gibt. Ob sein Tod einen juristischen Akt im Rahmen seines Prozesses darstellt31 oder im Zusammenhang mit einer Maßnahme gegen Christinnen und Christen steht, ist nicht definitiv zu beantworten. Dieses gilt insbesondere für eine mögliche Verknüpfung mit dem Vorgehen gegen die Christinnen und Christen unter Nero im Jahr 64 n. Chr. nach dem Brand Roms (vgl. Tacitus, Annales 15,44,2–5; Sueton, Nero 16,2; 38,1–3), denn zumindest der 1. Clemensbrief legt eine solche nicht nahe.32 6 Literatur 6.1 Monographien

D. Alvarez Cineira, Die Religionspolitik des Kaisers Claudius und die paulinische Mission (HBS 19), Freiburg 1999 (geschichtliche und religionspolitische Hinter‐ gründe). J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker (UTB 2014), Tübingen 1989 (eigenständiger Entwurf des Lebens und der Theologie des Paulus).

29

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Zur Einleitung der Aussagen über Petrus und Paulus heißt es: „Wegen Eifersucht und Neid sind die größten und gerechtesten Säulen verfolgt worden und haben bis zum Tode gekämpft“ (1 Clem 5,2; Übersetzung nach Lindemann/Paulsen, Die Apostolischen Väter [Anm. 28], 87). An die beiden herausragenden Gestalten werden weitere Beispiele mit folgendem Satz angefügt: „Diesen gottgefällig wandelnden Männern wurde hinzu‐ gesellt eine große Menge von Auserwählten, die viele Martern und Qualen wegen Eifersucht gelitten haben und zum vorzüglichen Beispiel bei uns geworden sind“ (1 Clem 6,1; Übersetzung nach Lindemann/Paulsen, Die Apostolischen Väter [Anm. 28], 87). Zu dieser Textpassage vgl. H. Löhr, Zur Paulus-Notiz in 1 Clem 5,5–7, in: Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte (BZNW 106), hg. v. F.W. Horn, Berlin/New York 2001, 197–213. So etwa Stegemann, Apostel, 212 f.; Noethlichs, Der Jude Paulus, 79. Omerzu, Prozeß, 508. Für den Tod vor den Ereignissen des Jahres 64 n. Chr. plädiert Becker, Paulus, 506; Schnelle, Paulus, 416 vermutet den Tod des Paulus „als Märtyrer im Rahmen einer Christenverfolgung zwischen 62–64 n. Chr. zur Zeit Neros“.

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B. Heininger, Paulus als Visionär (HBS 9), Freiburg 1996 (umfassende Untersuchung der Berufungstexte). M. Hengel/A.M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbe‐ kannten Jahre des Apostels (WUNT 108), Tübingen 1998 (äußerst umfangreiche Füllung der „Lücke“ innerhalb der paulinischen Biographie). H. Omerzu, Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Unter‐ suchung der Apostelgeschichte (BZNW 115), Berlin/New York 2002 (ausführliche Darstellung des Prozesses des Paulus und seiner juristischen Grundlagen). R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstra‐ tegie und Theologie (WUNT 71), Tübingen 1994 (Untersuchung der paulinischen Chronologie, Biographie und Theologie bis zum 1. Thessalonicherbrief). U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/Boston 22014 (umfassende Gesamt‐ darstellung). H.W. Tajra, The Trial of St. Paul. A Juridical Exegesis of the Second Half of the Acts of the Apostles (WUNT II/35), Tübingen 1989 (Untersuchung des Prozesses des Paulus). 6.2 Aufsätze und Lexikonartikel

K. Haacker, Zum Werdegang des Apostels Paulus: Biographische Daten und ihre theologische Relevanz, ANRW II 26.2 (1995), 815–938.1924–1933 (Untersuchung des Lebens des Paulus bis zu seiner Berufung). M. Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: Paulus und das antike Judentum. Tübin‐ gen-Durham-Symposium im Gedenken an den 50. Todestag Adolf Schlatters († 19. Mai 1938) (WUNT 58), hg. v. M. Hengel/U. Heckel, Tübingen 1991, 177–291 (Vorarbeit zur o. g. Monographie). F.W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturge‐ schichtliche Aspekte (BZNW 106), Berlin/New York 2001 (Aufsatzsammlung zu historischen, theologischen und literaturgeschichtlichen Fragen zum Tod des Paulus). P. Lampe, Paulus – Zeltmacher, BZ 31 (1987), 256–261 (Untersuchung des Berufes und sozialen Standes des Paulus). W. Nippel, Der Apostel Paulus – ein Jude als römischer Bürger, in: Sinn (in) der Antike. Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertekonzepte im Altertum, hg. v. K.J. Hölkeskamp/J. Rüsen/E. Stein-Hölkeskamp/H.Th. Grütter, Mainz 2002, 357–374 (unkritisches Plädoyer für das römische Bürgerrecht des Paulus auf der Grundlage der Apg). K.L. Noethlichs, Der Jude Paulus – ein Tarser und ein Römer?, in: Rom und das himmlische Jerusalem. Die frühen Christen zwischen Anpassung und Ablehnung,

Das Leben des Paulus

hg. v. R. von Haehling, Darmstadt 2000, 53–84 (kritische Sichtung der Diskussion über das tarsische und römische Bürgerrecht des Paulus). P. Pilhofer, Einer von 5984072? Zum römischen Bürgerrecht des Paulus, in: ders., Neues aus der Welt der frühen Christen. Unter Mitarbeit von J. Börstinghaus und J. Fischer (BWANT 195), Stuttgart 2011, 63–75 (Sichtung der tarsischen Herkunft und Lesung des Phil im Blick auf das mögliche römische Bürgerrecht des Paulus). W. Stegemann, War der Apostel Paulus ein römischer Bürger?, ZNW 78 (1987), 200–229 (Plädoyer gegen ein römisches Bürgerrecht des Paulus). S. Vollenweider, Art. Paulus, RGG4 6 (2003), 1036–1065 (kurzgefasste Gesamtdarstel‐ lung).

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Das Missionswerk des Paulus

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Der Erfolg und die weite geographische Erstreckung des missionarischen Wirkens des Paulus gründen nicht zuletzt auf den unermüdlichen Reisen des Apostels, die ihn zu Lande und zu Wasser durch den östlichen Mittelmeer‐ raum führen. Die äußeren Umstände dieser Reisen, die für uns erkennbaren Reiserouten und seine Reisebegleiter werden im Folgenden dargestellt. 1 Reisen in der frühen Kaiserzeit

Für die Gründung neuer Gemeinden und deren erneute Besuche reist der Apostel auf dem Landweg und auf dem Seeweg rund um das östliche Mittelmeer. Wenn er nicht selbst eine Gemeinde aufsuchen kann, fungieren Mitarbeiter des Paulus und Gemeindeglieder als Boten und machen sich im Auftrag des Apostels bzw. der Gemeinde eigens auf den Weg, um Briefe, Anfragen, Weisungen und Geld zu überbringen, da die römische Post nur staatliche Schreiben transportiert.1 Unverzichtbar für die Kommunikation sind zudem Menschen, die aus beruflichen Gründen beständig unterwegs sind und dabei für den Austausch von Neuigkeiten zwischen den einzelnen Gemeinden sorgen.2 Sie alle profitieren davon, dass die militärischen und wirtschaftlichen Be‐ dürfnisse des Imperium Romanum den Ausbau der bestehenden Straßen zu einem dichten Straßennetz erfordern, auf dem man zu Fuß, auf einem Reittier

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1 Thess 3,1f.6: Timotheus eilt von Athen nach Thessaloniki und trifft mit Paulus wieder in Korinth zusammen. Phil 2,25; 4,18: Epaphroditus sorgt für den Austausch von Nachrichten und materieller Unterstützung zwischen Paulus und der Gemeinde von Philippi. Exemplarisch seien aus dem 1. Korintherbrief „die Leute der Chloe“ (1 Kor 1,11) genannt.

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oder per Wagen reist.3 Ein Wanderer legt auf diesen Straßen im Durchschnitt vermutlich 20 bis 30 km pro Tag zurück, kann jedoch durch Schnee in den Gebirgen und über die Ufer tretende Flüsse aufgehalten oder ganz am Fortkommen gehindert werden.4 Paulus scheint auf dem Landweg stets zu Fuß gegangen zu sein5, die Nutzung eines Reittieres oder eines Wagens ist weder in seinen eigenen Briefen noch in der Apostelgeschichte belegt. Die Schifffahrt auf dem Mittelmeer ruht während der Wintermonate (vgl. Vegetius, De re militari 4,39: maria clauduntur)6, ist aber auch während der übrigen Zeit des Jahres nicht gefahrlos. Den wechselnden Wetterlagen entsprechend ist die für eine Seereise erforderliche Zeit schwer vorauszusehen.7 Aber nicht nur Witterungseinflüsse stellen zu Lande und zu Wasser eine Gefahr für das Leben der Reisenden dar, wie Paulus selbst innerhalb eines Peristasenkatalogs berichtet (2 Kor 11,25–27): „… dreimal habe ich Schiffbruch erlitten (ναυαγεῖν), einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem Meer. Ich bin oft zu Fuß gereist (ὁδοιπορίαι), ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, in Gefahr unter Räubern (λῃσταί) …, in Gefahr in Städten, in Gefahr in Wüsten, in Gefahr auf dem Meer …, in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Nacktheit …“

Das mitgeführte Eigentum, aber auch die Reisenden selbst sind begehrte Beute von Räuberbanden und Piraten, denen auch die römischen Truppen kaum Einhalt gebieten können. 2 Reisen des Paulus

Fragt man nach den genauen Routen der paulinischen Reisen, so ist es nicht möglich, die Angaben des Apostels in seinen Briefen und die von Lukas

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Als Einführung in das Thema „Reisen im Römischen Reich“ vgl. M. Giebel, Reisen, 129–214. Zu den literarisch belegten Rekordleistungen einerseits und der durchschnittlichen Reise‐ geschwindigkeit antiker Reisender andererseits vgl. R. Riesner, Frühzeit, 275–280. Neben der im Folgenden zitierten Stelle 1 Kor 11,26 ist auf Apg 20,13 zu verweisen: Paulus zieht den Fußmarsch (πεζεύειν) der Schiffsreise vor. Das Überwintern (παραχειμάζειν) der Schiffe in einem geeigneten Hafen wird in Apg 27,12 und 28,11 erwähnt. Riesner, Frühzeit, 280–282, listet für ausgewählte Routen die in antiken Quellen belegte Reisezeit unter optimalen Umständen auf und betrachtet genauer die im Blick auf Paulus relevanten Strecken von Troas nach Neapolis (Apg 16,11 und 20,6), von Griechenland nach Palästina (Apg 20 und 21) und von Korinth nach Rom (Informationen über die Verhältnisse in Rom, Transport des Römerbriefes).

Das Missionswerk des Paulus

in der Apostelgeschichte geschilderten Reisen, die sog. „Missionsreisen“, miteinander in Deckung zu bringen. Es finden sich bei einem Vergleich dieser beiden Quellen sowohl nicht harmonisierbare Widersprüche als auch Angaben, die ausschließlich in den Briefen des Paulus oder in der Apostelgeschichte belegt und insofern kritisch zu hinterfragen sind. Während etwa Paulus in seinem Selbstzeugnis betont, er sei nach seiner Bekehrung gerade nicht nach Jerusalem, sondern in die Arabia und nach Damaskus gegangen und habe erst nach drei Jahren Jerusalem aufgesucht (Gal 1,17f.), führt der Weg des Paulus laut Lukas bereits wenige Tage nach seiner Bekehrung und der Flucht aus Damaskus nach Jerusalem, wo er von Barnabas zu den Jüngern gebracht wird (Apg 9,26f.). Die Intentionen der beiden Autoren könnten nicht gegensätzlicher sein: Während Paulus selbst seine Unabhängigkeit von Jerusalem und der dortigen Gemeinde dokumentieren will, ist Lukas daran gelegen, auch im Blick auf Paulus Jeru‐ salem und den Zwölferkreis als Ausgangspunkt und Garant der christlichen Botschaft darzustellen. Zwar ist in Zweifelsfällen dem Selbstzeugnis des Paulus Priorität einzuräumen, jedoch zeigt schon dieses Beispiel aus der Frühphase des Christen Paulus, dass auch die biographischen Abschnitte seiner Briefe keinen objektiven Lebenslauf darstellen, sondern von der jeweiligen Aussageabsicht geprägt sind. Im Blick auf die Historizität der Apostelgeschichte scheint es ratsam zu sein, die einzelnen Abschnitte individuell zu prüfen und nicht die gesamte Schrift mit einem Pauschalurteil auf- oder abzuwerten. An vielen Stellen lassen sich Traditionen von hohem historischen Wert erkennen, die Lukas für sein Werk gesammelt und bearbeitet hat. Die Nennungen von Orten und die Beschreibung von Reiserouten sind in der Apostelgeschichte weitaus umfangreicher als die diesbezüglichen Angaben in den paulinischen Briefen. Dies gilt insbesondere für den Abschnitt Apg 16,10–17, in dem Orte wie in einem Stationenverzeichnis für Reisende (Itinerar) aufgelistet werden, was den Anlass für die sog. Itinerarhypothese zur Erklärung der Wir-Abschnitte in der Apostelgeschichte gab.8

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Zur Itinerarhypothese vgl. J. Wehnert, Die Wir-Passagen der Apostelgeschichte (GTA 40), Göttingen 1999; D.-A. Koch, Kollektenbericht, „Wir“-Bericht und Itinerar. Neue Überlegungen zu einem alten Problem, NTS 45 (1999), 367–390; wieder abgedruckt in: ders., Hellenistisches Christentum. Schriftverständnis – Ekklesiologie – Geschichte, hg. v. F.W. Horn (NTOA/StUNT 65), Göttingen 2008, 318–339; U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 92017, 341–345.

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Im Blick auf ihren historischen Gehalt in Zweifel zu ziehen sind zum einen Abweichungen der Apostelgeschichte von den paulinischen Briefen, die eine Verbindung des Apostels mit Jerusalem herstellen. Neben dem bereits erwähnten Beispiel in Apg 9,26f. zählt dazu auch der Jerusalembesuch des Paulus, den Lukas mit Hilfe eines irritierenden Reiseverlaufs beiläufig in Apg 18,22 berichtet: Obwohl das eigentliche Ziel der in Ephesus begonnenen Schiffsreise des Paulus nach Apg 18,18 Syrien ist, kommt der Apostel in Cäsarea maritima, also in Palästina, an. Darauf bricht Paulus keineswegs in Richtung Norden auf, sondern er „geht hinauf und grüßt die Gemeinde“ (ἀναβὰς καὶ ἀσπασάμενος τὴν ἐκκλησίαν), bevor er nach Antiochia am Orontes hinuntergeht. Lukas benennt „die Gemeinde“ nicht näher, „Hinauf‐ steigen“ ist jedoch der terminus technicus für das Aufsuchen Jerusalems – Lukas integriert hier also möglicherweise einen Kurzbesuch in Jerusalem in seine Darstellung.9 Zum anderen ist es ein Proprium des Lukas, in besonderer Weise den Kontakt des Paulus mit hochrangigen Persönlichkeiten oder gar deren positive Einstellung gegenüber der neuen christlichen Lehre in seine Dar‐ stellung aufzunehmen. Diesem Bemühen entspricht etwa der in Apg 13,4–12 geschilderte Aufenthalt der Missionare Paulus und Barnabas auf Zypern und die Bekehrung des römischen Statthalters Sergius Paullus, für die sich in den Briefen des Apostels keine Belege finden.10 Ungeachtet dieser Vorbehalte ergeben sich die folgenden Routen der drei sog. Missionsreisen des Paulus aus den Angaben der Apostelgeschichte: – Die erste Missionsreise (Apg 13,1–14,28) unternimmt Paulus als Beglei‐ ter des Barnabas, wobei sich zunächst (bis Apg 13,13) auch Johannes Markus bei ihnen befindet: Der Weg führt von Antiochia am Orontes (Apg 13,1–3) und dessen Hafen Seleukia (Apg 13,4) zuerst per Schiff

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Zu unterscheiden sind die Interpretation des „Hinaufsteigens“ als Besuch des Paulus in Jerusalem anstelle eines einfachen Hinaufsteigens von einem Hafen in die dazuge‐ hörige Stadt einerseits und die einem Jerusalembesuch zugeschriebene historische Wahrscheinlichkeit andererseits. Für die Deutung als Jerusalembesuch, jedoch gegen dessen Historizität zu diesem Zeitpunkt votiert E. Haenchen, Die Apostelgeschichte (KEK 3), Göttingen 71977, 525f. Nach G. Lüdemann, Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelge‐ schichte. Ein Kommentar, Göttingen 1987, 155–158, ist die Zypernmission des Paulus ein lukanisches Konstrukt, das auf der Grundlage der zypriotischen Herkunft des Barnabas (Apg 4,36), dessen Mission auf Zypern in Kooperation mit Markus und der Zusammenarbeit des Barnabas mit Paulus geschaffen worden ist.

Das Missionswerk des Paulus

nach Zypern (Apg 13,4–12) mit den Städten Salamis (Apg 13,5) und Paphos (Apg 13,6–12). Nach der Landung in Pamphylien bereisen die Missionare die Stationen Perge (Apg 13,13f.), Antiochia in Pisidien (Apg 13,14–50), Iconium (Apg 13,51–14,6), Lystra (Apg 14,6–20) und Derbe (Apg 14,6f.). Von dort geht es wieder zurück über Lystra, Iconium und Antiochia in Pisidien (Apg 14,21–24), Perge und Attalia (Apg 14,25), wo Paulus und Barnabas wieder ein Schiff nach Antiochia am Orontes besteigen (Apg 14,26–28). – Die zweite Missionsreise (Apg 15,36–18,22), auf der Paulus von Silas und später (ab Apg 16,3) auch von Timotheus begleitet wird, geht wiederum von Antiochia am Orontes aus (Apg 15,36–40). Die Missionare reisen durch Syrien und Kilikien (Apg 15,41) nach Derbe und Lystra (Apg 16,1– 3) und gelangen dann auf Umwegen durch die Landschaften Phrygien, Galatien (Apg 16,6) und Mysien (Apg 16,7f.) nach Alexandria Troas (Apg 16,8–11). Auf dem Seeweg geht es dann vorbei an Samothrake (Apg 16,11) nach Neapolis (Apg 16,11) und von dort auf der Via Egnatia nach Philippi (Apg 16,12–40), über Amphipolis und Apollonia (Apg 17,1) weiter nach Thessaloniki (Apg 17,1–9), Beröa (Apg 17,10–13), Athen (Apg 17,15–34) und Korinth (Apg 18,1–18). Von dessen Hafen Kenchreä (Apg 18,18) aus geht die Reise per Schiff weiter nach Ephesus (Apg 18,19–21) und Cäsarea maritima (Apg 18,22), obwohl an sich Syrien das Ziel war (Apg 18,18). Anschließend geht der Apostel zunächst zu Fuß nach Jerusalem (Apg 18,22) und schließlich zum Ausgangspunkt Antiochia am Orontes zurück (Apg 18,22). – Auf der dritten Missionsreise (Apg 18,23–19,40), die nicht eindeutig abgrenzbar ist, reist Paulus von Antiochia am Orontes (Apg 18,23) aus nach Galatien und Phrygien (Apg 18,23) und dann weiter nach Ephesus (Apg 19,1–40), wo er zwei Jahre verbringt (Apg 19,10), was als Ende der dritten Reise angesehen werden kann.11 Alternativ kann auch der anschließende Weg nach Jerusalem noch hinzu‐ gezählt werden12: Von Ephesus aus wendet sich Paulus erneut nach Make‐

11

12

So gliedert etwa G. Schille, Die Apostelgeschichte des Lukas (ThHK 5), Berlin 31989, 372. Schnelle, Einleitung (Anm. 8), 336, nimmt schon vor dem Aufstand des Demetrius einen Einschnitt vor und betitelt Apg 19,21–21,17 mit „Paulus auf dem Weg nach Jerusalem (und Rom)“. So etwa W. Marxsen, Einleitung in das Neue Testament. Eine Einführung in ihre Probleme, Gütersloh 41978, 168.

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donien (Apg 20,1f.) und Griechenland (Apg 20,2f.), geht über Makedonien (Apg 20,3), speziell Philippi (Apg 20,6), wieder zurück und reist dann mit dem Schiff nach Alexandria Troas (Apg 20,6–12). Auf dem Landweg geht der Apostel nach Assos (Apg 20,13f.), darauf reist er wieder mit dem Schiff nach Mitylene (Apg 20,14), vorbei an Chios auf die Insel Samos (Apg 20,15) und nach Milet (Apg 20,15–38). Stationen der folgenden Seereise sind die Inseln Kos und Rhodos sowie die Stadt Patara (Apg 21,1), bevor Paulus in Tyrus (Apg 21,3–6) an Land geht. Der Weg führt dann über Ptolemais (Apg 21,7) und Cäsarea maritima (Apg 21,8–14) zum Zielort Jerusalem (Apg 21,17). Die folgende Tabelle fasst die Missionsreisen nach der Apostelgeschichte zusammen. In der Routendarstellung erscheinen die Städte kursiv, die wichtigsten Städte sind hervorgehoben. 1. Reise (Apg 13,1–14,28)

2. Reise (Apg 15,36–18,22)

3. Reise (Apg 18,23–19,40)

Begleiter:

Barnabas (Johannes Markus)

Silas Timotheus

Ausgangs‐ punkt:

Antiochia/Orontes

Antiochia/Orontes

Antiochia/Orontes

Route:

Zypern Salamis Paphos Pamphylien Perge Antiochia (Pisidien) Iconium Lystra Derbe Lystra Iconium Antiochia (Pisidien) Perge Attalia Antiochia/Orontes

Syrien Kilikien Derbe Lystra Phrygien Galatien Mysien Alexandria Troas Samothrake Neapolis Philippi Amphipolis Apollonia Thessaloniki Beröa Athen Korinth/Kenchreä Ephesus Cäsarea maritima Jerusalem Antiochia/Orontes

Galatien Phrygien Ephesus

Diese sog. Missionsreisen umfassen den Zeitraum, in dem Paulus die im Neuen Testament überlieferten Briefe schreibt, bzw. die Zeit seines Lebens,

Das Missionswerk des Paulus

auf die er in seinen Briefen (insbesondere in Gal 1 f.) zurückblickt – hier ist also ein kritischer Vergleich beider Quellen möglich. Anders verhält es sich in Bezug auf die „Reise“ des Paulus als römischer Gefangener von Jerusalem nach Cäsarea maritima (Apg 23,25–35) und von dort nach Rom (Apg 27 f.). Für diese Phase des paulinischen Lebens, die juristischen Abläufe des Prozesses und die Einzelheiten der Schiffsreise ist die Apostelgeschichte die einzige neutestamentliche Quelle. Der autobiographische Bericht endet – wenn man den Römerbrief als jüngsten erhaltenen Brief des Paulus auffasst – mit dem Hinweis, dass der Apostel vorhabe, nach der Übergabe der Kollekte in Jerusalem über Rom nach Spanien zu reisen (Röm 15,23f.28). Nach Lukas stellt sich der Ablauf der Überstellung des Paulus nach Rom folgendermaßen dar: Von Cäsarea maritima aus (Apg 27,1) geht die Fahrt über Sidon (Apg 27,3) entlang der Insel Zypern (Apg 27,4) und der Küste Kilikiens und Pamphyliens (Apg 27,5) nach Myra in Lykien (27,6). Dort steigt die Gruppe um auf ein von Alexandria kommendes und Italien ansteuerndes Schiff (Apg 27,6), dessen Fahrt sich bis auf die Höhe von Knidos sehr mühsam gestaltet (Apg 27,7). Dann geht der Kurs südlich an der Insel Kreta entlang, bis in „Guthafen“ (Καλοὶ λιμένες) bei der Stadt Lasäa (Apg 27,8–13) zwar angelegt, aber nicht überwintert wird. Auf der Weiterfahrt zu einem geeigneten Winterquartier dreht der Südwind (Apg 27,13), bei Nordostwind (Apg 27,14) wird die Insel Kauda passiert (Apg 27,16). 14 Tage treibt das Schiff in der Adria, bis es an der Insel Malta13 landet (Apg 27,27–28,11). Nach drei Monaten besteigt die Gruppe ein Schiff aus Alexandria, das vor Malta überwintert hat (Apg 28,11). Nach einem Halt in Syrakus (Apg 28,12) geht der Kurs an der Küste Italiens entlang über Rhegion und Puteoli (Apg 28,13f.). Der Weg an Land führt schließlich über Forum Appii und Tres Tabernae (Apg 28,15) nach Rom (Apg 28,16). Zweifelt man den historischen Gehalt des lukanischen Berichts über die Verhaftung, die Haft und die Überführung des Paulus nach Rom nicht nur in einigen Details, sondern grundsätzlich an, erhebt sich angesichts der außerbiblischen Zeugnisse für den Tod des Apostels in der Hauptstadt

13

Die griechische Bezeichnung der Insel Μελίτη deutet H. Warnecke, Die tatsächliche Romfahrt des Paulus (SBS 127), Stuttgart 1987, nicht auf Malta, sondern auf die westgriechische Insel Kephallenia, genauer auf die phönizische Niederlassung Μελίτη auf deren Halbinsel Argostoli. Zur Kritik vgl. J. Wehnert, Gestrandet. Zu einer neuen These über den Schiffbruch des Apostels Paulus auf dem Weg nach Rom (Apg 27–28), ZThK 87 (1990), 67–99.

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des Imperium Romanum (vor allem 1 Clem 5,5–714) die Frage, wie Paulus stattdessen nach Rom gelangt sein könnte. Andere Reiseberichte fehlen. 3 Die Reisebegleiter und Mitarbeiter des Paulus

In keiner Phase seines missionarischen Wirkens ist Paulus als Einzelgänger unterwegs. Ohne die Mitwirkung und Unterstützung anderer Männer und Frauen wäre seinen Bemühungen nicht ein solch dauerhafter Erfolg beschie‐ den gewesen, hätte der Kontakt zu den Gemeinden nicht aufrechterhalten werden können. Etwa 50 Personen, die namentlich in den paulinischen Briefen und der Apostelgeschichte genannt werden, werden direkt als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (συνεργοί) des Paulus bezeichnet oder können als solche eingestuft werden.15 Zu Beginn ist Paulus im Auftrag der Gemeinde von Antiochia am Oron‐ tes als Missionar tätig. Gemeinsam werden Barnabas, Simeon, der Niger genannt wird, Lucius von Kyrene, Manaen, ein Mitzögling des Herodes Antipas, und Paulus in Apg 13,1 als Propheten und Lehrer (προφῆται καὶ διδάσκαλοι) der Gemeinde bezeichnet. Die Gemeinde schickt Barnabas und Paulus zusammen auf die oben beschriebene erste Missionsreise und zum Apostelkonvent nach Jerusalem, wobei Barnabas16 zunächst die Füh‐ rungsperson ist, wie sich aus seiner Nennung jeweils vor Paulus in Apg 11,30; 12,25 und 13,1.2.7 erschließen lässt. Beiden ist der Grundsatz gemein, sich nicht von den Gemeinden unterhalten zu lassen, sondern den eigenen Lebensunterhalt selbst zu verdienen (1 Kor 9,6). Die Form der Teamarbeit bewährt sich offenbar, denn Paulus setzt sie auch nach seiner Trennung von Barnabas (Apg 15,36–39; vgl. Gal 2,13) fort. Umgehend macht er Silas/

14 15 16

Vgl. dazu den Beitrag „Das Leben des Paulus“ im vorliegenden Band. W.-H. Ollrog, Paulus, 1 mit Anm. 2 und 3; M. Öhler, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Paulus, in: Paulus Handbuch, hg. v. F.W. Horn, Tübingen 2013, 243–256. Zur Bezeichnung als συνεργός vgl. Ollrog, Paulus, 63–72; Öhler, Mitarbeiter, 244. Zu Barnabas vgl. Ollrog, Paulus, 14–17; M. Öhler, Barnabas. Die historische Person und ihre Rezeption in der Apostelgeschichte (WUNT 156), Tübingen 2003; ders., Barnabas. Der Mann in der Mitte (Biblische Gestalten 12), Leipzig 2005.

Das Missionswerk des Paulus

Silvanus17 zu seinem Begleiter (Apg 15,40) und gewinnt später in Derbe noch Timotheus18 dazu (Apg 16,1–3). Diese zwei Männer bilden den engsten Kreis der Mitarbeiter des Apostels, nachdem dieser sich von der antiochenischen Gemeinde gelöst hat, und erscheinen auch als Mitabsender der Briefe an die Gemeinden, bei deren Gründung sie tatkräftig mitgewirkt haben: Beide werden im Präskript des 1. Thessalonicherbriefes genannt, Timotheus ist alleiniger Mitabsender des 2. Korintherbriefes, des Philipperbriefes und des Philemonbriefes.19 Wie unverzichtbar sie für die paulinische Mission sind und wie tief das Vertrauen des Apostels in sie ist, zeigt exemplarisch die Empfehlung des Timotheus an die Christinnen und Christen in Philippi (Phil 2,19–22): „Denn ich habe keinen, der so ganz meines Sinnes (ἰσόψυχος) ist, der so herzlich für euch sorgen wird. Denn sie suchen alle das Ihre, nicht das, was Jesu Christi ist. Ihr aber wisst, dass er sich bewährt hat; denn wie ein Kind dem Vater hat er mit mir dem Evangelium gedient.“

Diese Charakterisierung verdeutlicht, warum Timotheus wie niemand sonst geeignet ist, im Sinne des Paulus tätig zu sein und als dessen Vertreter auch heikle Angelegenheiten in den Gemeinden allein zu ordnen (Korinth: 1 Kor 4,17; 16,10f.; Thessaloniki: 1 Thess 3,2f.; Philippi: Phil 2,20–22). Eine herausragende Stellung unter den stärker selbständig tätigen Mit‐ arbeiterinnen und Mitarbeitern des Paulus nimmt das Ehepaar Priska/Pris‐ killa20 und Aquila ein, das trotz seiner wenigen Erwähnungen in den neutestamentlichen Schriften über Paulus hinausgehende Einblicke in das Spektrum der Formen frühchristlicher Mission erlaubt: Es handelt sich um ein Missionarsehepaar, also um ein Konzept missionarischen Lebens, das Paulus zwar für sich selbst ablehnt, aber Petrus und anderen Aposteln

17 18 19

20

Zu den Namensformen Silas (so in der Apostelgeschichte) bzw. Silvanus (so Paulus in seinen Briefen) vgl. die Anm. 6 in dem Kapitel zum 1. Thessalonicherbrief im vorliegenden Band. Zu Silvanus vgl. Ollrog, Paulus, 17–20. Zu Timotheus vgl. Ollrog, Paulus, 20–23; H. von Lips, Timotheus und Titus. Unterwegs mit Paulus (Biblische Gestalten 19), Leipzig 2008, 33–91.123–127. Neben Timotheus und Silvanus erscheint nur noch Sosthenes als Mitabsender eines paulinischen Briefes. Dessen Nennung im 1. Korintherbrief ist jedoch nach Ollrog, Paulus, 22 Anm. 77 nicht „funktionsbedingt“, sondern „situationsbedingt“, da Sosthenes als korinthisches Gemeindeglied nachdrücklich hinter den Worten des Paulus stehe. Paulus verwendet in seinen Briefen die Form Πρῖσκα (Röm 16,3; 1 Kor 16,19), in der Apostelgeschichte erscheint dagegen die Diminutivform Πρίσκιλλα (Apg 18,2.18.26). Zu Priska und Aquila vgl. Ollrog, Paulus, 24–27.

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einräumt (1 Kor 9,5). Auffällig ist, dass Priska mit einer Ausnahme (1 Kor 16,19) stets vor ihrem Mann genannt und somit vermutlich als treibende Kraft hervorgehoben wird. Am Beispiel der Priska wird sichtbar, dass Frauen eine tragende Rolle bei der Ausbreitung des Evangeliums, der Gründung christlicher Gemeinden und nicht zuletzt auch der Unterstützung des Paulus spielen.21 Dieses Ehepaar bleibt jeweils längere Zeit an einem Ort, um dort eine Hausgemeinde aufzubauen: Nachdem sie Rom haben verlassen müssen, siedeln sie sich zunächst in Korinth an (Apg 18,3) und ziehen dann nach Ephesus um (1 Kor 16,19).22 Ihren Lebensunterhalt verdienen sie während‐ dessen ebenso wie Paulus als „Zeltmacher“ (Apg 18,3: σκηνοποιός).23 Namen

Stellen

Barnabas

Apg 11,30; 12,25; 13,1.2.7; 15,36–39 1 Kor 9,6

Silas (Silvanus)

Apg 15,40 1 Thess 1,1

Timotheus

Apg 16,1–3 1 Thess 1,1; 3,2f. 1 Kor 4,14; 16,10f. 2 Kor 1,1 Phil 1,1; 2,19–22 Phlm 1

21

22

23

In ähnlicher Weise, wie Priska gemeinsam mit ihrem Mann Aquila von Paulus für den Einsatz für ihn persönlich gelobt wird (Röm 16,3–5), hebt Paulus auch bei Phoebe hervor, dass sie ihm persönlich beigestanden habe (Röm 16,1f.). Zu der Diakonin (ἡ διάκονος) Phoebe und der Rolle der Frauen in den frühchristlichen Gemeinden vgl. St. Schreiber, Arbeit mit der Gemeinde (Röm 16.6,12). Zur versunkenen Möglichkeit der Gemeindeleitung durch Frauen, NTS 46 (2000), 204–226. Abhängig davon, ob man Röm 16 für den Schluss des nach Rom gerichteten Briefes oder für das Anschreiben oder den Anhang einer nach Ephesus gesandten Abschrift hält, ist Röm 16,3–5 entweder ein Beleg dafür, dass das Ehepaar nach einigen Jahren wieder nach Rom zurückkehrt und dort eine Gemeinde gründet, oder eine erneute Bestätigung für deren Hausgemeinde in Ephesus. Vgl. dazu den Beitrag von O. Wischmeyer zum Römerbrief im vorliegenden Band. Zu dieser Berufsangabe vgl. D. Rohde, Von Stadt zu Stadt. Paulus als wandernder Handwerker und die ökonomisch motivierte Mobilität in der frühen Kaiserzeit, in: Paulus – Das Kapital eines Reisenden. Die Apostelgeschichte als sozialhistorische Quelle (SBS 241), hg. v. St. Alkier/M. Rydryck, Stuttgart 2017, 85–117, hier 94 f.; U. Huttner, Unterwegs im Mäandertal. Überlegungen zur Mobilität des Paulus, in: Paulus – Das Kapital eines Reisenden. Die Apostelgeschichte als sozialhistorische Quelle (SBS 241), hg. v. St. Alkier/M. Rydryck, Stuttgart 2017, 118–148, hier 132–136.

Das Missionswerk des Paulus

Priska und Aquila

Apg 18,2.18.26 1 Kor 16,19 Röm 16,3

Phoebe

Röm 16,1f.

Iunia(s)

Röm 16,7

4 Die Reiseleistung des Paulus

Kaum messbar sind die im Dienste der Verkündigung des Evangeliums zurückgelegten Reisekilometer des Paulus, kaum zählbar die dabei von ihm ertragenen Gefahren und Entbehrungen. Neben der theologischen Leistung des Paulus verdienen auch seine logistischen und körperlichen Anstrengungen, die er ungeachtet einer Krankheit (Gal 4,13f.; 2 Kor 12,7) für sein Missionswerk erbringt, höchsten Respekt. Neben den Gefahren des Reisens an sich erschweren zusätzlich persönliche Eigenheiten das Leben des wandernden Missionars: Seinen Lebensunterhalt bestreitet der Apostel, wie er immer wieder betont, von dem, was er durch seiner Hände Arbeit verdient (1 Thess 2,9; vgl. 1 Kor 4,12): „Ihr erinnert euch doch, Brüder, an unsere Arbeit (κόπος) und unsere Mühe (μόχθος); Tag und Nacht arbeiteten (ἐργάζεσθαι) wir, um niemandem unter euch zur Last zu fallen, und predigten unter euch das Evangelium Gottes.“

Eine finanzielle Abhängigkeit von seinen Gemeinden hätte die apostolische Freiheit und Autorität des Paulus in Frage gestellt und ihn in die Nähe anderer Wanderprediger seiner Zeit, die ökonomischen Interessen folgen und unlauter agieren, gerückt (1 Thess 2,1–12; 1 Kor 9,3–18). Eine Ausnahme bildet einzig die Gemeinde von Philippi, deren materielle Gaben Paulus be‐ reitwillig annimmt (2 Kor 11,7–9; Phil 4,10.15f.). Neben der Unabhängigkeit bietet diese Form des Lebens als Wandermissionar einen weiteren Vorteil: Durch die handwerkliche Tätigkeit kann der Apostel als Neuankömmling in einer Stadt Kontakte knüpfen und so erste Adressatinnen und Adressaten für seine Verkündigung finden (Apg 18,2f.).24 Paulus orientiert sich bei seinen missionarischen Anstrengungen an den Dimensionen und Reisewegen des Imperium Romanum: Zum einen ist es 24

Zu Paulus als wanderndem Handwerker, der eine aussergewöhnliche überregionale Mobilität zeigt, vgl. D. Rohde, Stadt (Anm. 23), 96–103.110f.

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sein Anliegen, an zentralen Orten Gemeinden zu gründen – und das sind oftmals die Hauptstädte der jeweiligen römischen Provinz wie Thessaloniki (vgl. 1 Thess; Apg 16) und Korinth (vgl. 1 Kor; Apg 18). Nachdem dieses geschehen ist, zieht er weiter und überlässt die weitere Entwicklung der Gemeinde sowie die Gründung weiterer Gemeinden in der Umgebung den ortsansässigen Christinnen und Christen oder anderen Missionaren (1 Kor 3,6). Zum anderen ergeben sich die Reiseroute und damit auch die Auswahl der Orte der Verkündigung aus dem römischen Straßensystem, so liegen etwa Philippi, Thessaloniki und Beröa (Apg 16 f.) an der Via Egnatia. Auf den Reisen im Ostteil des römischen Reiches kann sich Paulus, selbst wenn er zunehmend auch römisch geprägte Städte wie Antiochia ad Pisidiam und Philippi aufsucht25, mit Hilfe der griechischen Sprache überall verständigen und trifft vielerorts auf Jüdinnen und Juden oder Sympathisan‐ tinnen und Sympathisanten des Judentums, die mit einer monotheistischen Religion vertraut sind und den christlichen Vorstellungen, die auf das Judentum zurückgehen, offen gegenüberstehen. Nach dem Abschluss der Mission im Ostteil des römischen Reiches (Röm 15,19.23) geht der Blick des Paulus jedoch über die Hauptstadt Rom (Röm 15,23) nach Spanien, an die Westgrenze des Imperium Romanum und zugleich der bekannten Welt (Röm 15,24.28). Die auf Spanien ausgerichteten Pläne erfordern eine Modi‐ fizierung des missionarischen Konzepts des Apostels: Weder wäre es Paulus dort möglich gewesen, auf Griechisch seine Botschaft zu verkündigen, noch hätten Synagogen der Ausgangspunkt seiner missionarischen Bemühungen sein können.26 Nicht das Weitergehen auf erprobten Wegen, sondern die universale Verkündigung ist, wie hier überaus deutlich wird, die Idee, die der paulinischen Missionsstrategie zugrunde liegt.

25

26

Zu einem Vergleich dieser beiden coloniae und der möglichen Vorbereitung des Paulus auf Rom und Spanien vgl. P. Pilhofer, Antiochien und Philippi. Zwei römische Kolonien auf dem Weg des Paulus nach Spanien, in: ders., Die frühen Christen und ihre Welt, Greifswalder Aufsätze 1996–2001 (WUNT 145), Tübingen 2002, 154–165. Vgl. dazu A. Reichert, Der Römerbrief als Gratwanderung. Eine Untersuchung zur Abfassungsproblematik (FRLANT 194), Göttingen 2001, 83–91.

Das Missionswerk des Paulus

5 Literatur M. Giebel, Reisen in der Antike, Düsseldorf/Zürich 1999. A. v. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 41924 (klassisches Standardwerk aus kirchengeschichtlicher Sicht). M.R. Niehoff (Ed.), Journeys in the Roman East: Imagined and Real (CRPG 1), Tübingen 2017. W.-H. Ollrog, Paulus und seine Mitarbeiter. Untersuchungen zu Theorie und Praxis der paulinischen Mission (WMANT 50), Neukirchen-Vluyn 1979. R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstra‐ tegie und Theologie (WUNT 71), Tübingen 1994. Ch. Strecker, Die Logistik der paulinischen Mission, in: Paulus Handbuch, hg. v. F.W. Horn, Tübingen 2013, 266–273.

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Die Person des Paulus

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Die Frage nach der Person des Paulus ist eine grundlegende Frage der Paulus-Forschung, die in jüngster Zeit an Bedeutung gewonnen hat1 und in ein Verhältnis zum Konzept des ‚Selbst’ (selfhood) gebracht werden muss (s. u. 8.). Die Frage nach der Person steht zwischen der Rekonstruktion der paulinischen Biographie und der antiken Charakter-Forschung. Die ‚Biographie‘ erhebt die Lebens- und Ereignisdaten eines Menschen. Die antike ‚Charakter‘-Forschung betätigt sich im Sinne einer anthropolo‐ gischen Typologisierung. Eine Darstellung der ‚Person‘ versucht, einerseits Wesensmerkmale, d. h. bleibende Charakteristika2, einer individuellen his‐ torischen Gestalt zu beschreiben und andererseits die Wechselwirkungen zwischen den einmaligen biographischen Ereignissen und den bleibenden Wesenszügen der historischen Gestalt zu erarbeiten. Adolf Deissmann unternahm Ähnliches, wenn er in seinem 1911 erschie‐ nenen Paulus-Buch3 dem ‚Menschen‘ Paulus ein ganzes Kapitel widmete4 und darin das z.T. mangelhafte Interesse, das die Paulus-Forschung des 19. Jh.s dem Menschen, d. h. der Person des Paulus entgegenbrachte, be‐

1

2 3

4

Vgl. aber die Beiträge in: E.-M. Becker/P. Pilhofer, Biographie. B.J. Malina/J.H. Neyrey, Portraits, sind hingegen als Beitrag zur sozial- und kulturgeschichtlichen Personen-For‐ schung zu verstehen. Vgl. auch C.K. Rothschild/T.W. Thompson (Ed.), Christian Body, Christian Self. Concepts of Early Christian Personhood (WUNT 284), Tübingen 2011. So bezeichnet Friedrich Schiller etwa ‚Person‘ als „das Bestehende in der Veränderung“, F. Schiller, Ästhetische Erziehung/13. Brief, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. W. Riedel, Bd. V, München 2004, 608. A. Deissmann, Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Skizze, Tübingen 1911. Vgl. grundsätzlich ähnliche Überlegungen auch bei W. Wrede, Paulus, Halle 1904/21907, Vorwort, in dem Wrede deutlich macht, dass es ihm u. a. um die Darstellung der „Persönlichkeit“ des Paulus geht. Deissmann, Paulus (Anm. 3), 39–58.

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klagte. Bei der Suche nach „dieses Menschen Umrissen“ kam Deissmann zu folgender Beschreibung: „Ein anatolischer und ein antiker Paulus, ein homo novus, der aus der Masse der Vielen und Kleinen herauswächst und, von keinem Literaten der heidnischen Umwelt beachtet, zur welthistorischen Führerpersönlichkeit bestimmt ist, ein homo religiosus, der ein Klassiker der Mystik ist und der nüchternste Praktiker zugleich, ein Prophet und Grübler, der, in Christus der Welt gekreuzigt, als Weltbürger und Weltwanderer unsterblich ist und als Weltbildner wirkt bis auf den heutigen Tag…“5.

Bei dieser vom Sozialpathos Deissmanns getragenen Beschreibung der Person des Paulus scheinen schon wesentliche Aspekte seiner Wirkungs‐ geschichte durch. Deissmann verstand Paulus als religions- und kulturge‐ schichtlich bedeutsame und höchst nachhaltig wirkende ‚Persönlichkeit‘. Er bewegte sich damit forschungsgeschichtlich im Kontext der religionsge‐ schichtlichen Schule.6 Inzwischen muss aber zwischen der Beschreibung des Paulus als ‚Persönlichkeit‘, die eine kulturgeschichtliche Würdigung und Wertung impliziert, und der Beschreibung als ‚Person‘ terminologisch und konzeptionell unterschieden werden.7 1 Paulus als Person: Physiognomisches

Die Frage nach der Person des Paulus beginnt mit Spekulationen über sein Äußeres8. Denn weder zeitgenössische Abbildungen noch Beschreibungen sind – vielleicht auch aus theologisch-eschatologischen9, jedenfalls aber

5 6 7 8 9

Deissmann, Paulus (Anm. 3), V. Vgl. dazu O. Merk, Die Persönlichkeit des Paulus in der Religionsgeschichtlichen Schule, in: Becker/Pilhofer, Biographie, 29–45. Vgl. dazu W. Sparn, Einführung in die Thematik „Biographie und Persönlichkeit des Paulus“, in: Becker/Pilhofer, Biographie, 9–28. So auch Deissmann, Paulus (Anm. 3), 39. Vgl. auch A.J. Malherbe, A Physical Description of Paul, HTR 79 (1986) 170–175; E.C. Evans, Physiognomics in the Ancient World. Transactions of the American Philosophical Society, N.S. 59/5 (1969), 1–17. So mutmaßt Deissmann, Paulus (Anm. 3), 39: „Wer hätte in seiner Zeit daran denken sollen, seine Züge für die Nachwelt festzuhalten, da man doch nicht einmal das Antlitz des Meisters selbst verewigt hatte?… die ganze Stimmung des urchristlichen Zeitalters war viel zu sehr von dem kommenden neuen Äon beherrscht, als daß man an das Interesse zukünftiger irdischer Generationen für die äußeren Züge des Heilands und seiner Apostel hätte denken können“.

Die Person des Paulus

aus kulturellen Gründen10 – nicht erhalten. Wir wissen also nichts über sein Äußeres. Erstmals die Acta Pauli vom Ende des 2. Jh.s n. Chr. bieten eine in der Folgezeit berühmt gewordene literarische Beschreibung des paulinischen Aussehens: „Und ein Mann namens Onesiphorus, der gehört hatte, daß Paulus nach Iconium käme, ging mit seinen Kindern Simmias und Zeno und seinem Weibe Lektra dem Paulus entgegen, um ihn bei sich aufzunehmen. Titus hatte ihm nämlich erzählt, welches Aussehen Paulus hätte. Denn er hatte ihn (bisher) nicht im Fleisch gesehen, sondern nur im Geist. Und er ging an die königliche Straße, die nach Lystra führt, stellte sich dort auf, um ihn zu erwarten, und sah sich (alle), die vorbeikamen, auf die Beschreibung des Titus hin an. Er sah aber Paulus kommen, einen Mann klein von Gestalt, mit kahlem Kopf und krummen Beinen, in edler Haltung mit zusammengewachsenen Augenbrauen und ein klein wenig hervortretender Nase, voller Freundlichkeit; denn bald erschien er wie ein Mensch, bald hatte er eines Engels Angesicht“ (Acta Pl 3,2–3)11.

Die Apostelakten dienen insbesondere der Unterhaltung ihrer christlichen Leser und spiegeln daher wider, wofür in der christlichen Leserschaft ihrer Zeit Interesse bestand. Das Erscheinungsbild des Paulus gehört offenbar am Ende des 2. Jh.s elementar dazu. Die Ikonographie wiederum vermittelt einen lebhaften Eindruck davon, welche Paulus-‚Bilder‘ die bildende Kunst geprägt und gestaltet haben.12 Die Gesichtszüge des Paulus sind bereits um 400 n. Chr. ausgeprägt, und zwar wohl in Anknüpfung an das eben zitierte Bild der Apostelakten: „Während alte u(nd) frühe Darst(ellungen) P(aulus) klein m(it) Glatze u(nd) langem Bart, stark hervortretender Stirne u(nd) gebogener Nase tradieren, bringen d(ie) Darst(ellungen) d(er) Neuzeit e(inen) kräftigen, hochgewachsenen

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11

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Zum Aufkommen der christlichen Porträtkunst vgl. H.P. L’Orange, Apotheosis in ancient portraiture, New Rochelle (N.Y.) 1982 (Nachdr. d. Ausgabe Oslo 1947); E. Dinkler, Die ersten Petrusdarstellungen. Ein archäologischer Beitrag zur Geschichte des Petrusprimats, Marburg 1938. Übersetzung nach W. Schneemelcher, Paulusakten, in: ders. (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen II. Apostolisches. Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 61997, 193–241, hier: 216. Vgl. auch R.M. Grant, The Description of Paul in the Acts of Paul and Thecla, Vigiliae Christianae 36 (1982), 1–4; H. Omerzu, The Portrayal of Paul’s Outer Appearance in the Acts of Paul and Thecla. Re-Considering the Correspondence between Body and Personality in: Ancient Literature, Religion & Theology 15 (2008), 252–279. Vgl. hierzu M. Lechner, Art. Paulus, LCI 8 (1976), 128–147.

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Mann i(m) Ausdruck stärkster Körperkraft… Dieses P(aulus)-Bild besitzt dann e(ine) Christus nicht unähnl(iche) Kopfform, gescheiteltes o(der) gerolltes Haar, längeren Bart m(it) 2 Strähnen u(nd) betagtere Geschichtszüge… Der längere, spitz zulaufende Bart leitet sich her v(om) Bart d(er) Philosophen“13.

Zum zuletzt genannten ikonographischen Element findet sich auch in der literarischen Paulus-Rezeption eine Analogie: Der pseudepigraphe Brief‐ wechsel des Paulus mit dem stoischen Philosophen Seneca, der vielleicht aus dem 4. Jh. n. Chr. stammt14, soll die philosophische Gelehrsamkeit und Bedeutung des Heidenapostels im Austausch mit seinem zeitgenössischen Denker herausstellen.15 Wir können die historische Person des Paulus also nicht ikonographisch, sondern ausschließlich literarisch erfassen. Dabei erweisen sich die im Neuen Testament versammelten Schriften, die mit Paulus in Zusammenhang stehen (authentische Paulus-Briefe) oder gebracht werden (Apg; sog. Deu‐ tero- und Tritopaulinen), als wichtigste Quellen. 2 Paulus als Person: Eigenschaften

Die Apg stellt uns Paulus narrativ vor Augen. Lukas wählt für seine Proso‐ pographie einen historiographischen Rahmen. In seinen Briefen ist Paulus selbst in Argumentation, Ermahnung und auch in Selbstaussagen präsent. Er tritt seinen Lesern und Leserinnen als auktoriale Person entgegen. Wie lässt Paulus sich als Person, d. h. in seinen personalen Grundzügen, erfassen und definieren?

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15

Lechner, Paulus (Anm. 12), 131. Einleitung und Übersetzung bei: C. Römer, Der Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus, in: Schneemelcher, Apokryphen (Anm. 11), 44–50. Vgl. auch A. Fürst, Der apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus. Zusammen mit dem Brief des Mordechai an Alexander und dem Brief des Annaeus Seneca über Hochmut und Götterbilder, eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von A. Fürst et al. (SAPERE XI), Tübingen 2006. Der Bezug des Paulus zur philosophischen Tradition wird auch in der jüngeren Forschung gesucht – erstens im Blick auf die Rhetorik, vgl. dazu etwa: H.D. Betz, Der Apostel Paulus und die sokratische Tradition. Eine exegetische Untersuchung zu seiner ‚Apologie‘ 2 Korinther 10–13 (BHTh 45), Tübingen 1972. Zweitens wird Paulus in die Nähe stoischer Ethik und Kosmologie gerückt, so z. B. T. Engberg-Pedersen, Paul and the Stoics, Edinburgh 2000. Drittens erfährt Paulus von Seiten moderner Philosophen neue Aufmerksamkeit – vgl. dazu den Beitrag von J.P.B. Mortensen zur Auseinandersetzung mit Paulus in der gegenwärtigen Philosophie im vorliegenden Band.

Die Person des Paulus

Die philosophische Anthropologie16 nennt bestimmte menschliche Eigen‐ schaften, die einen Menschen als ‚Person‘ konstituieren. Es geht dabei um die Abgrenzung der Person von der Außenwelt und um ein irgend‐ wie geartetes Bewusstsein dieser Selbständigkeit. Die ‚Person‘ konstituiert sich also im Gegenüber zu anderen Personen und zur Welt. Wesentliche Kategorien, in denen sich Personalität fassen lässt, sind: ‚Bewusstsein‘, ‚Leidensfähigkeit‘ bzw. Krankheit, ‚Perspektivenannahme‘, ‚Gedächtnis‘ und ‚Willensfreiheit‘ bzw. Verantwortung sowie Ich-Bewusstsein. Zu diesen Konstituenten von paulinischer ‚Personalität‘ gebe ich einige Beispiele aus seinen Briefen. Bewusstsein: Paulus betätigt sich als Briefeschreiber, d. h. er agiert mit Bewusstsein. Er lässt seine Adressaten an seinen Erkenntnisprozessen teilhaben (vgl. z. B. die Verwendung von γινώσκειν: z. B. 1 Kor 13,12; 2 Kor 2,9; 5,16) und reflektiert diese eigens (2 Kor 1,12–14). – Leidensfähigkeit/Krankheit: Paulus thematisiert im Gal und 2 Kor seine Krankheit, vielleicht schwere Migräne:17 In Gal 6,17 bezeichnet er sie als ‚Malzeichen Jesu‘ (τὰ στίγματα τοῦ Ἰησοῦ), in 2 Kor 12 als ‚Pfahl im Fleisch‘ (σκόλοψ τῇ σαρκί, V.7), als Engel des Satans, der ihn mit Fäusten schlägt. Paulus gesteht sein Leiden und seine Leidensfähigkeit ein und problematisiert seine Körperlichkeit (1 Kor 15,8). Er weist darauf z. B. auch in den sog. Peristasenkatalogen (s. u.) hin. Seine Leiden interpre‐ tiert Paulus als Möglichkeit zur Erlangung einer Christus-Konformität (Phil 3,10f.21). Darüber hinaus thematisiert der Apostel die Krankheit seiner Mitarbeiter (Phil 2,25ff.). – Perspektivenannahme: Paulus nimmt in seinen Briefen oftmals die Perspektiven seiner Gemeinden (z. B. 1 Kor 7,1; 15,12ff.; 2 Kor 7,5ff.) und dabei z.T. mehrerer Gemeinden gleichzeitig (z. B. 2 Kor 9,2) aktiv an. Er nimmt Parteiungen wahr (z. B. 1 Kor 1) und sucht angesichts unterschiedlicher Status- und Gruppeninteressen (z. B. 1 Kor 7 und 8) nach Möglichkeiten von gegenseitiger Perspektivenannahme, Aus‐ –

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Vgl. hierzu: M. Fuhrmann et al., Art. Person; H.-P. Schütt, Art. Person II. Philoso‐ phisch-anthropologisch, RGG4 6 (2003), 1121–1123; G. Figal, Art. Mensch III. Philoso‐ phisch, RGG4 5 (2002), 1054–1057. Vgl. zur antiken Philosophie P. Remes u. a. (Ed.), Ancient Philosophy of the Self, Dordrecht 2008/2010. Vgl. O. Wischmeyer, 2. Korinther 12,1–10. Ein autobiographisch-theologischer Text des Paulus, in: dies., Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments (WUNT 173), hg. v. E.-M. Becker, Tübingen 2004, 277–288 (Lit.).

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gleich oder gemeinsamer Orientierung an höheren Prinzipien (z. B. 1 Kor 13). – Gedächtnis: Indem Paulus z. B. von seinen Missionsreisen berichtet (2 Kor 1,8ff.) oder seine Adressaten an sein früheres Wirken in der Ge‐ meinde erinnert (1 Thess 1,5ff., 1 Kor 2,1ff.), beweist Paulus ‚Gedächtnis‘. Er schafft dabei ‚autobiographische memoria‘und macht die kollektive Erinnerung zugleich zu einem festen Bestandteil der Geschichte von Gemeindegründung und -leitung. In Gal 1 und 2 gibt er eine Retrospek‐ tive in seine Berufung und die darauf folgenden Ereignisse. – Willensfreiheit/Verantwortung: Paulus betont seine prinzipielle mensch‐ liche Freiheit (z. B. 1 Kor 9,1.19). Dies gilt grundsätzlich auch für seine Adressaten (1 Kor 7,37). Diese Freiheit ist aber relational begründet: Sie ist gleichermaßen eine Freiheit von etwas und eine Freiheit zu etwas. Die ‚Freiheit von‘ stellt Paulus z. B. in Relation zum Gesetz (Röm 6,7: ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας; 7,6: ἀπὸ τοῦ νόμου). Die ‚Freiheit zu‘ ist in Relation zu den verschiedenen Aspekten christlicher Existenz, besonders zu Christus selbst (1 Kor 7,22; 9,1), gestellt. Vor allem im Apostel-Sein (1 Kor 9,1) äußert sich die ‚Freiheit zu‘ wiederum als Verantwortung gegenüber jemandem (Christus) und für etwas (z. B. den Aufbau der Gemeinden). – Ich-Bewusstsein: Paulus beweist in seiner brieflichen Argumentation ein ausgeprägtes Ich-Bewusstsein und Reflexionsvermögen seiner Ich-Identität (s. u. 8.). Dies wird an der häufigen Verwendung der 1. Per‐ son Singular und besonders des Personalpronomens ἐγώ – besonders in 1 Kor 7; 2 Kor 11 f.; Röm 7 – deutlich18. Den vermutlich letzten, äußerst scharf geschriebenen Brief der korinthischen Korrespondenz – 2 Kor 10–1319 – leitet Paulus dementsprechend betont emphatisch mit Αὐτὸς δὲ ἐγὼ Παῦλος παρακαλῶ ὑμᾶς ein (2 Kor 10,1). Hier wird die persönlich verantwortete Verteidigung des Paulus vor der korinthischen Gemeinde bereits sprachlich greifbar. Zu diesem Ich-Bewusstsein und der persönlichen Verantwortung des Paulus für die Evangeliumsverkündigung und die Leitung der Gemeinden tritt zugleich das Phänomen der Begrenzung der Ich-Identität (s. u. 7.). In Gal 2,20 hebt Paulus seine Ich-Identität zugunsten Christi nahezu auf: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“. Dem geht in V.19 die 18 19

Das Personalpronomen ἐγώ begegnet 2-mal im 1 Thess, 20-mal im Röm, 32-mal im 1 Kor, 19-mal im 2 Kor, 10-mal im Gal, 6-mal im Phil und 4-mal im Phlm. Vgl. dazu den Beitrag von E.-M. Becker zum 2. Korintherbrief im vorliegenden Band.

Die Person des Paulus

Einsicht voraus: „Denn ich bin durch’s Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt“. Die von Paulus angestrebte christusförmige Existenz fordert also geradezu die Auflösung der vom ‚Fleisch‘ (σάρξ) bestimmten personalen Identität: „Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt“ (Röm 7,18) – das vorchristliche ‚Ich‘ beschreibt Paulus als sarkisches, d. h. als ein vom Bösen (τὸ κακόν, Röm 7,21) bestimmtes ‚Ich‘. 3 Paulus als Autor und Autobiograph: Die Person über sich selbst

Paulus tritt uns als Schreiber von insgesamt sieben erhaltenen Briefen entgegen. Damit ist Paulus der früheste christliche Autor.20 Der literarische Charakter der paulinischen Briefe zeigt sich u. a. in ihrem autobiographi‐ schen Gehalt21: Paulus macht in unterschiedlicher Weise Aussagen über seinen Werdegang (Gal 1,10ff.), seine religiösen Erlebnisse, so z. B. über seine Entrückungs-Erfahrung (2 Kor 12), seine Leidenserfahrungen in den sog. Peristasenkatalogen (z. B. 1 Kor 4,10–13; 2 Kor 4,7–10; 11,23–25), seine apos‐ tolische Lebensweise (1 Kor 9) oder seine Erfahrungen mit der korinthischen Gemeinde und der Gemeinde-Korrespondenz überhaupt (2 Kor 2.7). Nun hat das autobiographische Schreiben nicht nur literarische Aspekte, sondern hängt eng mit der Ausbildung der ‚Personalität‘ zusammen. Auto‐ biographisches Schreiben setzt nämlich ‚Individuierung‘, d. h. die Erfahrung der eigenen Individualität in Abgrenzung von der umgebenden Welt, vor‐ aus und führt gleichzeitig zu Individuierung und der Wahrnehmung des eigenen ‚Selbst‘. Die Confessiones des Augustinus sind dafür ein klassisch gewordenes Beispiel: Ein sich als individuelle Person erfahrender Mensch gestaltet sich autobiographisch und tritt zugleich durch sein autobiogra‐ phisches Schreiben als individuelle Person hervor.22 Individuierung und Autobiographie bedingen sich gegenseitig und konstituieren wesentliche

20 21 22

Vgl. dazu O. Wischmeyer, Paulus als Autor, in: dies., Ben Sira (Anm. 17), 289–307. Vgl. dazu: L. Bormann, Autobiographische Fiktionalität bei Paulus, in: Becker/Pilhofer, Biographie, 106–124; O. Wischmeyer, Paulus als Ich-Erzähler. Ein Beitrag zu seiner Person, seiner Biographie und seiner Theologie, in: Becker/Pilhofer, Biographie, 88–105. Vgl. dazu E.-M. Becker, Autobiographisches bei Paulus. Aspekte und Aufgaben, in: dies., Der Philipperbrief des Paulus. Vorarbeiten zu einem Kommentar (NET 29), Tübingen/Basel 2020, 99–123. B. Malina, The First-Century Personality, in: ders., The New Testament World. Insights from Cultural Anthropology, Louisville 32001, 58–80 unterstreicht hingegen die antike Personalität in ihren kollektiven Dimensionen.

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Momente der ‚Person‘ auch in Abgrenzung von anderen.23 Hiermit ist zunächst ein allgemein-anthropologischer Aspekt des autobiographischen Schreibens benannt, der auch erzähltheoretisch reflektiert wird: So lässt sich in autobiographischen bzw. autodiegetischen Texten eine Identität der Größen ‚Autor‘, ‚Erzähler‘ und ‚Person‘ feststellen24. Ein historischer bzw. literaturgeschichtlicher Aspekt kommt hinzu: Da‐ durch, dass sich der Mensch Paulus als Individuum erlebt, literarisch gestaltet und dabei self-fashioning betreibt, prägt er sich in besonderer Weise in seinem Kontext als antike Person aus. Denn das autobiographische Schreiben ist – mit einigen Ausnahmen (z. B. Cäsar, Augustus, Nikolaos von Damaskus, Flavius Josephus, später Augustinus) – in der Antike nicht grund‐ sätzlich verbreitet.25 Dies gilt in besonderer Weise für jüdische Autoren, die in der Regel sogar Orthonymität vermeiden – die einzigen Ausnahmen sind Ben Sira, Philo und einige andere jüdisch-alexandrinische Autoren, Josephus, Paulus, ggf. der Apokalyptiker Johannes – und bevorzugt anonym, pseudepigraph oder pseudonym schreiben. 4 Paulus als Apostel: Die Person des Paulus und die anderen Personen

Die Apostolizität des Paulus ist das entscheidende Wesensmerkmal paulinischer Personalität. Die ἀπόστολος-Bezeichnung (z. B. Röm 1,1; 1 Kor 1,1 u. ö.) ist bei Paulus selbst kaum als Titel, sondern als ‚Berufsbezeichnung‘ zu verstehen.26 Sie geht mit einer Berufung einher (vgl. 4.1.), hat sich gegenüber Mit-Aposteln oder gegnerischen bzw. falschen Aposteln zu bewähren (vgl. 4.2.) und steht im Dienst des Gemeindeaufbaus und der Gemeindeleitung (vgl. 4.3.).

23

24 25 26

Vgl. dazu etwa die erzähltheoretischen Überlegungen bei G. Genette, Fiktion und Diktion, München 1992, bes. 79 ff. Vgl. E.-M. Becker, Polemik und Autobiographie. Ein Vorschlag zur Deutung von Phil 3,2–4a, in: Polemik in der frühchristlichen Literatur. Texte und Kontexte, hg. v. O. Wischmeyer/L. Scornaienchi (BZNW 170), Berlin/New York 2011, 233–254. Vgl. Genette, Fiktion (Anm. 23), 80–83 mit Verweis auf P. Lejeune, Der autobiographische Pakt, Frankfurt 1994 (frz.: Le Pacte autobiographique, Paris 1980). Vgl. K. Jansen-Winkeln/H. Görgemanns/W. Berschin, Art. Autobiographie, DNP 2 (1997), 348–353. Vgl. E.-M. Becker, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief (NET 4), Tübingen/Basel 2002, 144ff.

Die Person des Paulus

4.1 Paulus und Christus

Die Apostolizität des Paulus geht auf eine Berufung (z. B. κλητός: Röm 1,1; 1 Kor 1,1; ἀφωρισμένος: Röm 1,1; vgl. Gal 1,15) bzw. auf eine göttliche Offenbarung (ἀποκάλυψις) des Gottes-Sohnes Jesus Christus (Gal 1,12.15; vgl. 2 Kor 12,1) ad personam zurück. Fortan sieht sich Paulus in unmittelbarer Abhängigkeit von Jesus Christus – die Apostolos-Bezeichnung wird durch einen genitivus qualitatis (Ἰησοῦ Χριστοῦ) näher qualifiziert (1 Kor 1,1; 2 Kor 1,1). Diese ‚berufliche Qualifizierung‘, die Paulus von gegnerischen Missionaren und Aposteln unterscheidet (s. u.), ist mit der gesamten Person und Existenz des Paulus verknüpft: So bezeichnet sich Paulus geradezu als ‚Sklave Christi Jesu‘ (δοῦλος, Röm 1,1; Phil 1,1; Gal 1,10). Diese Unterord‐ nung unter Christus geht bei Paulus aber zugleich mit einer Beiordnung zu Christus einher: Paulus stellt das mit seinem Apostolat verbundene Leiden (z. B. 2 Kor 4,7ff.) und seine persönliche Krankheit (Gal 6,17) in Analogie zum Leiden und Auferstehen Jesu Christi. Auch im Phil stellt Paulus sich selbst so wie Christus der Gemeinde als Paradigma vor Augen. Paulus versteht sich also im Hinblick auf die Person Jesu Christi in einem extremen Spannungsverhältnis. Auf der einen Seite lebt er in Abhängigkeit von Christus, in Unfreiheit, Niedrigkeit und Leiden vielfältiger Art (z. B. Gal 2,19; 2 Kor 1,5), auf der anderen Seite als Erwählter, in großer Freiheit und personaler Nähe zu Christus (2 Kor 5,20; 11,10; Gal 2,4; Phil 1,23).27 4.2 Paulus und die Apostel

Die Apostolizität des Paulus geht zwar auf eine Berufung ad personam (vgl. auch 1 Kor 15,8f.) zurück, sie ist aber von Anfang an keine singuläre und konkurrenzlose Beauftragung28: Der auferstandene Christus ist vor Paulus von den anderen ‚Aposteln‘ gesehen worden (1 Kor 15,7). So geschieht die Missionstätigkeit des Paulus in Korinth zunächst in Auseinandersetzung mit dem Wirken anderer Apostel (z. B. Apollos, 1 Kor 1,12ff.) und später im ernsten Konflikt mit gegnerischen bzw. konkurrierenden Missionaren, die Paulus als ‚Über-Apostel‘ (2 Kor 11,5; 12,11) oder sogar als ‚falsche Apostel‘

27 28

Die psychologische Spannung, unter der Paulus steht, nehmen besonders M. Göttel-Ley‐ pold/J.H. Demling, Die Persönlichkeitsstruktur des Paulus nach seinen Selbstzeugnis‐ sen, in: Becker/Pilhofer, Biographie, 125–148, in den Blick. Vgl. hierzu insgesamt: J. Frey, Paulus und die Apostel. Zur Entwicklung des paulini‐ schen Apostelbegriffs und zum Verhältnis des Heidenapostels zu seinen ‚Kollegen‘, in: Becker/Pilhofer, Biographie, 192–227.

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(ψευδαπόστολοι, 2 Kor 11,13), die sich als Apostel Christi ‚verstellen‘ (2 Kor 11,13), zu enttarnen bemüht ist. Im Kampf mit den gegnerischen Aposteln in Korinth und gegen sie argumentiert Paulus einzigartig mit seiner ganzen ‚Person‘: Er verweist auf seine Leiden und Leidensfähigkeit (2 Kor 11,23ff.), auf einen intimen Gebetsdialog mit Christus (2 Kor 12,8f.) und auf seine apostolischen Zei‐ chenhandlungen in Korinth (2 Kor 12,12). Er macht seine von den Korinthern scharf kritisierte (2 Kor 10,10) persönliche ‚Schwäche‘ (ἀσθένεια) zur Basis und zum Charakteristikum seines Apostolats (z. B. 2 Kor 11,30). Denn nur in persönlicher Schwäche kann die ‚Kraft Christi‘ (δύναμις τοῦ Χριστοῦ, z. B. 2 Kor 12,9) in der apostolischen Existenz erscheinen. 4.3 Paulus und die Gemeinden

Die apostolische Existenz des Paulus bewegt sich in der Spannung von ‚ich‘ und ‚wir‘. Paulus ist individuell beauftragt (s. o.) und trägt persönlich Verantwortung für die Auferbauung und Leitung seiner Gemeinden (z. B. 2 Kor 10–13; Phil 1,12ff.). So versteht sich Paulus als ‚geistlicher Vater‘ und ‚Erzieher‘ (παιδαγωγός) der korinthischen Gemeinde (1 Kor 4,15) und schreibt die Gemeinde als ‚liebe Kinder‘ (1 Kor 4,14; 2 Kor 6,13) an. Paulus will aber nicht ‚Herr‘ über den Glauben der Korinther sein, sondern ihr ‚Gehilfe‘ (συνεργός, 2 Kor 1,24). Zugleich bezeichnet Paulus auch einzelne seiner Mitarbeiter als ‚Sohn‘ (z. B. Timotheus, 1 Kor 4,17; Onesimus, Phlm 10). Darin, dass Paulus in seinen Briefen häufig auch in der 1. Person Plural schreibt, zeigt sich aber, dass er zum einen seine nächsten Mitarbeiter unmittelbar in sein Denken und Handeln miteinbezieht (z. B. 2 Kor 1,1; 1,8ff.; 6,1ff.; Phil 1,1). Zum anderen beschreibt Paulus mit ‚wir‘ seine unmittelbare Zusammengehörigkeit mit seinen Adressaten (z. B. 2 Kor 1,3ff.; Röm 6,1ff.) – komplementär dazu, wie Paulus an Gemeinden als Adressatenkollektiv schreibt, nennt er in den meisten Briefen sich selbst und einige co-sender als Kollektiv von Adressanten. Darüber hinaus können ‚ich‘ und ‚wir‘ aber auch allgemein-christlich verstanden werden (z. B. Röm 7,7ff.). Die Übergänge zwischen einem kon‐ kreten und einem allgemeinen Gebrauch der Personalpronomina in den paulinischen Briefen sind fließend. Dies macht deutlich, dass der paulinische Apostolat nicht nur in der Spannung von individueller Erfahrung bzw. persönlicher Verantwortung und über-individueller Gemeinschaft, sondern zugleich in der Spannung von exemplarischer bzw. konkreter Lebenserfah‐

Die Person des Paulus

rung und allgemeiner christlicher Lebensdeutung und Lebensbewältigung steht. 5 Paulus als Jude und Christ: Der ‚Bruch‘ in der Person

Wir kennen den ‚Christen‘, also den an Christus glaubenden Paulus. Zu‐ gleich berichtet Paulus mehrfach von seiner Herkunft aus dem Judentum. Paulus gehört von Geburt der Minderheit des ἔθνος τῶν Ἰουδαίων im Rahmen des Imperium Romanum, näherhin dem Diaspora-Judentum, an.29 Paulus stammt aus dem pharisäischen Judentum (Phil 3,5; Apg 22,3) und bezeichnet sich nachträglich als eifernder ‚Verfolger‘ und ‚Zerstörer‘ der ἐκκλησία τοῦ θεοῦ (Gal 1,13.23; Phil 3,6; vgl. auch Apg 22,4ff.). So erzählt Lukas vom ‚Gefallen‘, den Paulus am Tod des frühesten christlichen Märty‐ rers Stephanus hatte (Apg 8,1). Durch die Berufung wird Paulus Anhänger und später führende Per‐ sönlichkeit einer neuen jüdischen αἵρεσις: der kleinen Gruppierung der Χριστιανοί (Apg 11,26 und 28,22). Damit ist er Angehöriger einer noch diffusen neuen religiösen Gruppierung, deren Dienst er sich vollständig widmet und an deren Ausbreitung er entscheidend mitwirkt. Er befindet sich – ethnisch weiterhin der Minderheit der Juden angehörend – zusätzlich in dem unsicheren und durch Juden wie römische Behörden gefährdeten Randstatus des Christen. Die Person des Paulus ist daher in besonderer Weise dadurch gekenn‐ zeichnet, dass sie in der Spannung von ‚Judentum‘ und ‚Christentum‘ steht. Die als göttliche Beauftragung (Gal 1,15), wörtlich: ‚Berufung‘ (καλέω, κλητός: z. B. Röm 1,1; Gal 1,15) geschilderte ‚Bekehrung‘ des Paulus (vgl. Apg 9; 22; 26) führt zu einem ‚Bruch‘ in der paulinischen Biographie.30 Aus

29 30

Vgl. dazu den Beitrag von J. Frey zum Judentum des Paulus im vorliegenden Band. Vgl. dazu O. Wischmeyer, Die Religion des Paulus. Eine Problemanzeige, in: dies., Ben Sira (Anm. 17), 311–328. Im Blick auf diesen biographischen Bruch lässt sich – im Kontext des antiken Judentums – eine interessante Parallelentwicklung bei dem früh‐ jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus feststellen: Der Weggang des Josephus aus Palästina und die Hinwendung zum flavischen Kaiserhaus sind mit dem Umstand in Verbindung zu bringen, dass Josephus der Verfasser der einzigen antiken jüdischen Autobiographie ist. Vgl. dazu: F. Siegert u.a., Flavius Josephus. Aus meinem Leben (Vita). Kritische Ausgabe, Übersetzung und Kommentar, Tübingen 2001. ‚Gebrochene Biographie‘ und autobiographisches Schaffen mit dem Ziel der Apologie stehen also bei Josephus – in Ansätzen auch bei Paulus – offenbar in engem Zusammenhang. Hier kommt es in besonderer Weise zum Wechselspiel von Flexion und Reflexion. Außerhalb

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jüdischer Sicht ist der christliche Paulus ein abgefallener Jude, ein sog. Re‐ negat. Das zieht für ihn selbstverständlich Ablehnung und unter Umständen Hass seitens der Juden nach sich und führt letztlich zu seiner Verhaftung in Jerusalem (Apg 21,27ff.). Aus heidnischer bzw. nicht-jüdischer Sicht dagegen stellt Paulus zunächst so etwas wie einen schismatischen Juden dar. Seine religiöse Zugehörigkeit ist unklar und zwingt ihn dazu, sie ständig deutlich zu machen und sprachlich und argumentativ zu artikulieren. Paulus selbst deutet diesen biographischen Bruch mit ἀφωρίζω als ‚Aus‐ sonderung‘ (Röm 1,1; Gal 1,15) und verlegt ihn bereits in seine pränatale Existenz (ἐκ κοιλίας μητρός μου, Gal 1,15) vor. Modern gesprochen hat er also einen ‚Bruch‘ in seiner Persönlichkeit durch einen Religionswechsel er‐ litten. Nach Lukas geht mit der Beauftragung des Paulus ein Namenswechsel einher (Apg 13,9). Die eigene Wahrnehmung des Paulus dagegen ist eher die einer Neugeburt oder sogar einer vorgeburtlichen Vorherbestimmung, auch wenn er in Phil 3,7f. und in Gal 1,13f. die Offenbarung Jesu Christi durchaus in der Sprache schroffer Diskontinuität ausdrücken kann. So stellt auch der zum Apostel beauftragte Paulus seine jüdische Herkunft und seine Zugehörigkeit zum Judentum grundsätzlich nicht in Frage, auch wenn er sich – im Unterschied zu Petrus – zur Evangeliumsverkündigung unter den ‚Heiden‘ berufen sieht (Gal 2,7–10). Paulus nennt sich selbst: ‚Hebräer, Israelit, Abrahams Kind‘ (2 Kor 11,22; vgl. auch Röm 4,1), ein ‚am achten Tag Beschnittener, aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern‘ (Phil 3,5) oder ein ‚Bruder der Israeliten nach dem Fleisch‘ (Röm 9,3f.). Die Beschneidung erweist sich für Paulus dabei als konstitutiv. Sie ist sein bleibendes körperliches Merkmal und zugleich ein zentrales Thema besonders im Röm und Gal (vgl. Röm 2–4; Gal 2.5). Doch während sich Paulus ‚fleischlich‘ dem Volk Israel bleibend zugehörig weiß (Phil 3,3ff.) und sagen kann: „Wir sind von Geburt (… φύσει) Juden und nicht Sünder aus den Heiden“ (Gal 2,15), definiert er die christliche Existenz als ‚geistliche‘ Beschneidung, nämlich als Dienst Gottes und als Ruhm Jesu Christi (Phil 3,3ff.). Daher bleibt die Beschneidung im paulinischen Denken einerseits ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Ju‐ denchristentum und Heidenchristentum. Und die ‚Heiden‘ werden verkürzt

des antiken Judentums zeigt sich dieser Zusammenhang von biographischem ‚Bruch‘ und autobiographischem Schreiben besonders deutlich in den Confessiones Augustins. Vgl. dazu: Augustinus, Confessiones, ed. L. Verheijen (CCSL 27), Turnholt 1990, bes. conf 8,8ff.

Die Person des Paulus

als ‚Unbeschnittene‘ und die Juden als ‚Beschnittene‘ bezeichnet (Gal 2,7: ἀκροβυστία – περιτομή). Andererseits zeigt Paulus die theologische Frag‐ würdigkeit der Differenzierung in ‚beschnitten‘ und ‚unbeschnitten‘ auf: „Wenn nun der Unbeschnittene hält, was nach dem Gesetz recht ist, meinst du nicht, dass dann der Unbeschnittene vor Gott als Beschnittener gilt?“ (Röm 2,26). Nach paulinischer Auffassung definiert sich daher schon das Judesein eigentlich als „Beschneidung des Herzens, die im Geist und nicht im Buchstaben geschieht“ (περιτομὴ καρδίας ἐν πνεύματι οὐ γράμματι, Röm 2,29). Außerdem hebt Christusgemeinschaft die Geschlechtergrenzen auf (Gal 3,28). So bewegt sich Paulus existentiell und persönlich zwischen Judentum und seinem früheren und seinem späteren Judenchristentum einerseits und dem Heidenchristentum andererseits und sprengt zugleich theologisch diese Definitionen, wenn er eine theologische Differenzierung zwischen der Zugehörigkeit zum Judentum und dem Bekenntnis zu Jesus Christus ausarbeitet (Röm 9–11). In Röm 7,7–25 treibt Paulus diese Differenzierung soweit voran, dass er schließlich einen Basistext christlicher Anthropologie jenseits der Alternative „Jude – Nichtjude“ formuliert (vgl. auch 1 Kor 9,19–23). 6 Paulus und sein Körper: Grenzen und Entgrenzung der Person I

Das paulinische Denken befasst sich thematisch und metaphorisch gehäuft mit Begriffen aus dem Bereich von ‚Leib‘ und ‚Leiblichkeit‘ (σάρξ, σῶμα)31. Paulus kennt und nennt die Grenzen seiner persönlichen Leiblichkeit sowie der menschlichen Leiblichkeit insgesamt und entgrenzt sie gleichermaßen, indem er sie von Christus her neu definiert. Paulus sieht seine Leiblichkeit durch seine Krankheit (s. o., besonders: 2 Kor 12,1–10) und die in den Peristasen erlebten Leiden (2 Kor 11,23ff.) begrenzt. Er deutet diese Erfahrung körperlicher Leiden und Schwäche in

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Vgl. dazu – schon klassisch geworden – den Ansatz der Paulus-Darstellung bei R. Bultmann, Theologie, bes. §17ff.; vgl. außerdem die Darstellung bei U. Schnelle, Neutes‐ tamentliche Anthropologie. Jesus – Paulus – Johannes (BThSt 18), Neukirchen-Vluyn 1991, bes. 66 ff.; O. Wischmeyer, Menschsein. Neues Testament, in: C. Frevel/dies., Menschsein (NEB Themen 11), Würzburg 2003, 61–117, bes. 89 ff.; L. Scornaienchi, Sarx und Soma bei Paulus. Der Mensch zwischen Dekonstruktivität und Konstruktivität (NTOA 67), Göttingen 2008. – Zu Anthropologie und Personalität vgl. zuletzt auch S.G. Eastman, Paul and the Person. Reframing Paul’s Anthropology, Grand Rapids 2017.

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dreifacher Weise: Erstens rühmt er sich bewusst und programmatisch seiner Schwachheit (ἀσθένεια, 2 Kor 11,30) und autorisiert diese Deutung von Christus her (2 Kor 12,9f.). Die in Korinth erhobenen Vorwürfe gegen sein persönlich schwaches Auftreten (2 Kor 10,10) jedoch weist Paulus unter Hinweis auf seine apostolische Vollmacht entschieden zurück (2 Kor 10,11). Die erfahrenen (körperlichen) Leiden stellt Paulus zweitens in Analogie zu Christus und versteht sie so als Teil der christusförmigen Existenz (2 Kor 1,5f.; Phil 3,10f.). Paulus geht sicherlich auch von seinen persönlichen Leidenserfahrungen aus, wenn er drittens die Begrenztheit aller physischen Existenz – der Schöpfung (Röm 8,18ff.) und der menschlichen Existenz insgesamt (2 Kor 5,1ff.) – reflektiert. Die mangelnde persönliche, d. h. leibhaftige Anwesenheit in Korinth sieht Paulus als Voraussetzung seines Briefeschreibens (2 Kor 10,1; 13,10): Der leiblichen Abwesenheit stellt er die briefliche Nähe, nämlich eine Anwesenheit im Geist, gegenüber (1 Kor 5,3: ἐγὼ… ἀπὼν τῷ σώματι παρὼν δὲ τῷ πνεύματι). Paulus teilt daher besonders im 2 Kor den Korinthern seine emotionale Befindlichkeit mit, d. h. er lässt sie an seiner physischen Existenz brieflich teilhaben: Er schreibt unter ‚vielen Tränen‘ (2 Kor 2,4) und zeigt den Korinthern sein ‚geweitetes Herz‘ (2 Kor 6,11). Paulus macht die Leiblichkeit schließlich zu einem theologischen Thema, indem er die ‚Leibes‘-Terminologie mit der Soteriologie und Ethik verknüpft und sie auf die Ekklesiologie überträgt. Für die vor-christliche und für die christliche Existenz gilt, dass eine fleischliche Gesinnung (κατὰ σάρκα) den Tod mit sich bringt, Feindschaft gegen Gott ist und einer Existenz κατὰ πνεῦμα zuwiderläuft (Röm 8,1ff.). Zwar verdammte die Sendung des Gottessohnes die Sünde im Fleisch und ermöglichte ein Leben im Geist Christi. So können auch die sterblichen Leiber durch den Geist dessen, „der Jesus von den Toten auferweckt hat“, lebendig gemacht werden (Röm 8,11). Doch bleibt auch für die christliche Existenz die Gefahr, den ‚Begierden‘ und ‚Werken‘ des Fleisches anheimzufallen (Gal 5,13ff.). Begrenzung und Entgrenzung der menschlichen Leibhaftigkeit sind daher ein zentrales Thema paulinischer Soteriologie und Ethik. In 1 Kor 12,12ff. überträgt Paulus die Metaphorik der Leiblichkeit auf die Ekklesiologie: Er bezeichnet die Gemeinde als σῶμα Χριστοῦ. Diese Metaphorik hat eine doppelte Funktion: Paulus macht Christus in der ἐκκλησία gleichsam ‚leibhaftig‘ präsent und verbindet die einzelnen Glieder der Gemeinde zu einer ‚somatischen‘ Einheit. Damit ist deutlich, dass die verschiedenen Gnadengaben der einzelnen Gemeindeglieder (χαρίσματα)

Die Person des Paulus

gemeinsam auf die Gnade Christi zurückgeführt werden müssen (Röm 12,6: ἔχοντες δὲ χαρίσματα κατὰ τὴν χάριν…). 7 Paulus und das Eschaton: Grenzen und Entgrenzung der Person II

Die Erwartung der endzeitlichen Ereignisse hat für Paulus über-individuelle und individuelle bzw. persönliche Aspekte. Im Blick auf die eschatologischen Vorstellungen zeigt sich zudem eine gewisse ‚Entwicklung‘ im paulinischen Denken. Zunächst zu den über-individuellen Aspekten: In 1 Thess 4,13ff. äußert Paulus die Erwartung einer nahen Parusie des Herrn, die zu Lebzeiten des Paulus und seiner Adressaten geschieht und sich als ‚Entrückung‘ ereignen wird (ἁρπάζω, 1 Thess 4,17). Die Auferstehung der Toten und die Entrückung der noch Lebenden zielt auf das dauerhafte Zusammensein mit dem Kyrios. In 1 Kor 15,51ff. dagegen spricht Paulus von einer ‚Verwandlung‘ (ἀλλάσσω, 1 Kor 15,51) der menschlichen Existenz, die nicht in direkten Zusammenhang mit der Parusie gebracht wird. Es geht hier vielmehr um die Überwindung des Todes. Denn das ‚Sterbliche‘ wird die ‚Unsterblichkeit‘ anziehen (1 Kor 15,54ff.). Der Gefangene Paulus (Phil 1,7.13f.) formuliert im Phil zwar auch einzelne eschatologische Erwartungen (Phil 3,20f.), bringt aber vor allem seine persönliche Todessehnsucht zum Ausdruck: Die Sehnsucht zu sterben, zielt darauf, schon jetzt bei Christus sein zu können (Phil 1,21ff.). Die ausbleibende Parusie steht hier wohl in Zusammenhang mit dem indivi‐ duellen Wunsch zu sterben. Zugleich findet dadurch der Übergang von den über-individuellen eschatologischen Vorstellungen zur Erwartung der Begrenzung und Entgrenzung der individuellen Person statt. Die Begrenzung und Entgrenzung seiner Person erfährt und beschreibt Paulus in vier Aspekten: 1. Krankheit und Leiden (s. o.) führen zur Infragestellung der Person und der personalen Stärke. Das an Paulus ergangene Wort des Kyrios: „Dir genügt meine Gnade; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2 Kor 12,9), versteht Paulus als grundlegende, durch Christus selbst autorisierte Deutung und Konstituierung seiner persönlichen körperlichen Existenz. 2. Paulus sieht die christliche Existenz in einer dauerhaften Spannung von Leben und Sterben. Diese Spannung, d. h. die prinzipielle Begrenzung

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der christlichen Existenz steht mit der Sterblichkeit des Menschen in Zusammenhang und dient der Offenbarung Jesu Christi: „Denn wir, die wir leben, werden immerdar in den Tod gegeben um Jesu willen, damit auch das Leben Jesu offenbar werde an unserem sterblichen Fleisch“ (2 Kor 4,11). Diese Grundeinsicht in das Verhältnis von Sterblichkeit und Offenbarung kann Paulus aber auch umkehren: Kennzeichen der Dienerschaft Gottes ist es, als Sterbender dennoch zu leben (2 Kor 6,9). Denn der Sünde, deren ‚Sold‘ der Tod ist (Röm 6,23), zu sterben, heißt, Gott in Christus zu leben (Röm 6,11). 3. Die Christusförmigkeit der paulinischen Existenz führt zu einer Auflö‐ sung der von der Sarx bestimmten personalen Struktur (s. o.). Paulus bringt dies mit der Formel: ‚Christus in mir‘ (ἐν ἐμοὶ Χριστός, Gal 2,20) pointiert zum Ausdruck. 4. In 1 Kor 13 formuliert Paulus eschatologische Aussagen zur Begrenzung und Entgrenzung der Person. Diese Aussagen sind zunächst zwar allgemein-anthropologischer Art. Dahinter sind aber auch biographi‐ sche Erfahrungen und Erwartungen erkennbar. Die eschatologischen Aussagen (1 Kor 13,8ff.) münden hier in Überlegungen zur Begrenzung und Entgrenzung der Person und ihres Erkenntnisvermögens: „Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“ (1 Kor 13,12). So bleibt für Paulus das Erkennen überhaupt (2 Kor 1,13) so wie auch die endgültige Erkenntnis der Person ein eschatolo‐ gisches Gut. 8 Die Person und das Selbst: Verhältnisbestimmungen

In seinen Briefen äußert sich Paulus über seine Person. Als epistolarer Autor berichtet Paulus über seine Erfahrungen als Apostel, gestaltet auto‐ biographisches Schreiben und reflektiert sein Selbstverständnis. Aus diesem Umstand leiten sich folgende Verhältnisbestimmungen ab32: 1. In einem für die antike – griechisch-römische wie frühjüdische – Welt eher ungewöhnlichen Ausmaß betreibt Paulus Individuierung und treibt die Individualisierung der Person33, die bei Augustinus in der An‐ 32 33

Vgl. zu weiteren Überlegungen auch den Beitrag von Mortensen zur Auseinanderset‐ zung mit Paulus in der gegenwärtigen Philosophie im vorliegenden Band. Vgl. dazu die Beiträge in: M. Niehoff/J. Levinson (Ed.), Self, Self-Fashioning, and Individuality in Late Antiquity: New Perspectives (CRPG 4), Tübingen 2019. Vgl. auch:

Die Person des Paulus

tike ihren Höhepunkt erreichen wird, entscheidend voran. Allein Cicero und Josephus geben im 1. Jh. v. und n. Chr. vergleichbar ausführlich Auskunft über ihren Lebenslauf – im Blick auf die Selbstoffenbarung der Person in der Form des Briefeschreibens kommt nur Cicero Paulus nahe. 2. Paulus gibt sich verschiedene Selbstbezeichnungen (z. B. als δοῦλος in Röm 1,1; Phil 1,1).34 Zugleich reflektiert der Apostel sein Selbstverständ‐ nis und baut so ein Verhältnis zu seiner Person, d. h. zu sich selbst auf35. Damit entwickelt Paulus – wiederum in einem für die zeitgenössische antike Welt unvergleichlich hohen Maße – sein ‚Selbst‘ (selfhood)36. 3. Die Selbsterforschung des Paulus kommt einer Erkundung seines ‚in‐ neren Menschen‘ (ἔσω ἄνθρωπος, 2 Kor 4,16; Röm 7,22) gleich37. Sie bringt einen introspektiven Denk- und Sprechmodus mit sich. Es geht Paulus bei der introspektiven Erforschung der inneren Person nicht primär – wie später bei Augustinus oder Luther der Fall – um eine gewissenhaft geprüfte Sündenerkenntnis38. Vielmehr dient der nach innen gerichtete Denkmodus der Konfrontation des ‚denkenden Ich‘ mit sich selbst angesichts seiner existenziellen Auseinandersetzung mit der Todesfurcht (v. a. Röm 7; Phil 1-3) – Paulus nimmt hierbei nicht nur an einem intellektuellen Diskurs seiner Zeit teil (vgl. auch metus mortis bei z. B. Seneca), sondern trägt zum Umgang mit diesem Themenfeld eigenständig maßgeblich bei39. Paulus treibt damit auch den antiken Diskurs über die – modern gesprochen (M. Foucault) – Kultivierung des

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A. Arweiler/M. Möller (Hg.), Vom Selbst-Verständnis in Antike und Neuzeit/Notions of the Self in Antiquity and Beyond (Transformationen der Antike 8), Berlin/New York 2008. Vgl. E.-M. Becker, Paulus als doulos in Röm 1,1 und Phil 1,1: Die epistolare Selbstbezeich‐ nung als Argument, in: dies./J. Rüpke (Hg.), Autoren in religiösen literarischen Texten der späthellenistischen und der frühkaiserzeitlichen Welt. Zwölf Fallstudien (CRPG 3), Tübingen 2018, 105–120. Vgl. E.-M. Becker, Paul’s Epistolary Self. Vgl. noch einmal die Beiträge in Niehoff/Levinson, Self (Anm. 33); Arweiler/Möller, Selbst-Verständnis (Anm. 33). Vgl. dazu inzwischen klassisch: H.D. Betz, The Concept of the ‘Inner Human Being’ (ὁ ἔσω ἄνθρωπος) in the Anthropology of Paul“, in: NTS 46 (2000), 315–341. So die Position von K. Stendahl, The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West, in: HTR 56 (1963), 199–215, die für die Paulusforschung im 20. Jh. folgenreich war, weil sie u. a. Wegbereiterin der sog. New Perspective on Paul wurde – vgl. dazu den Beitrag von J. Frey zum Judentum des Paulus im vorliegenden Band. Vgl. dazu ausführlich E.-M. Becker, Das introspektive Ich.

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‚Selbst‘ entscheidend voran. Diese intellektuelle Qualität paulinischer ‚Selbst‘-Erforschung und -Erkenntnis wird in der gegenwärtigen Pau‐ lusforschung allerdings gemeinhin unterschätzt. 4. Die genannte intellektuelle Qualität im Umgang mit sich selbst bezieht sich vor allem auf folgende Punkte: Bei Paulus gehören die autobiogra‐ phische Gestaltung der Lebensbeschreibung, die terminologische Wahl der Selbstbezeichnungen und der introspektive Modus der Selbsterfor‐ schung eng zusammen. Daraus erwächst ein an die reale Biographie des Paulus gebundene Form des self-fashioning 40, die die Möglichkeiten der antiken Epistolarkultur zur Vergegenwärtigung der persona bei der Leserschaft nicht nur voll umfänglich nutzt und ausschöpft. Im Ergebnis schafft Paulus darüber hinaus ein spezifisches Briefformat, in dem die individuelle Person des Briefeschreibers zum entscheidenden Schlüssel der Textinterpretation wird. 9 Literatur E.-M. Becker/P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005/2009 (verschiedene Beiträge zur Biographie, Autobiographie und Person des Paulus). E.-M. Becker, Art. Person des Paulus, in: Paulus Handbuch, hg. v. F.W. Horn, Tübingen 2013, 128–134. E.-M. Becker, Das introspektive Ich des Paulus nach Phil 1–3: Ein Entwurf, NTS 65 (2019), 310–331 (Übersicht über die neuere Diskussion zum ‚Selbst‘ in der Antike). E.-M. Becker, Paul’s Epistolary Self in and around Philippians, in: M. Niehoff/J. Levinson (Ed.), Self, Self-Fashioning, and Individuality in Late Antiquity: New Perspectives (CRPG 4), Tübingen 2019, 253–271. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (UTB 630), Tübingen 91984. M. Fuhrmann et al., Art. Person, HWPh 7 (1989), 269-338. B.J. Malina/J.H. Neyrey, Portraits of Paul. An Archaeology of Ancient Personality, Louisville 1996.

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Vgl. E.-M. Becker/J. Mortensen (Ed.), Paul as Homo Novus: Authorial Strategies of Self-Fashioning in Light of a Ciceronian Term (SANt 6), Göttingen 2018.

Die Städte des Paulus

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1 Einleitung

Der Apostel Paulus stammte aus einer hellenistischen Stadt, aus Tarsus in der Provinz Kilikien. Als junger Mann ging er nach Jerusalem, dem religiösen Zentrum des damaligen Judentums. Als Missionar wirkte er später vor allem in den Städten des östlichen Mittelmeerraums. Dass die Städte sein bevorzugter Wirkungsraum waren, ist nicht als Zufall zu bewerten. Die Städte bildeten die innovativen Zentren der hellenistisch-römischen Wirtschaft und Kultur. Hier gab es – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – eine beachtliche gesellschaftliche Dynamik. Das betraf auch den religiösen Bereich; die urbanen Strukturen waren die Voraussetzung dafür, dass man sich individuell, d. h. auch unabhängig von familiärer oder sozialer Zugehörigkeit, religiös neu orientieren konnte. Im Rahmen des Römischen Reiches besaßen die Städte ein – unter‐ schiedlich ausgestaltetes − Maß an innerer Autonomie, wobei sich an der Selbstverwaltung nur diejenigen Einwohner beteiligen konnten, die das Bürgerrecht der betreffenden Stadt besaßen. Die übrigen Einwohner hatten faktisch ein (mehr oder minder sicheres) Bleiberecht, waren den „Bürgern“ aber rechtlich und sozial nachgeordnet. Zeitweilig anwesende Personen hatten den geringsten Rechtsstatus; sie galten als lediglich geduldet und konnten im Konfliktfall jederzeit ausgewiesen werden, was Paulus mehr als einmal erlebte (so in Philippi, Thessaloniki und Beröa). Auch wenn es gemeinsame soziale und institutionelle Grundstrukturen der Städte des östlichen Mittelmeerraums gab und überdies Griechisch als gemeinsame Verkehrssprache die Kommunikation ungemein erleichterte, so unterschie‐ den sich die einzelnen Städte doch z.T. erheblich in ihrer historischen, sozialen und religiösen Prägung. Daher lohnt es sich, das spezifische Profil der einzelnen Städte bewusst wahrzunehmen, um so das Wirken des Paulus

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und seine Briefe an die verschiedenen Gemeinden in ihrem soziokulturellen Kontext besser verstehen zu können. Die folgende Darstellung betrifft alle Städte, in die, soweit wir das wissen, Paulus in seinem Leben gekommen ist und in denen er sich länger als nur für wenige Tage aufgehalten hat.1 Relativ ausführlich werden diejenigen Orte behandelt, die für seine Biographie und das Verständnis seiner Briefe besonders relevant sind. Die Abfolge entspricht dem Gang der paulinischen Biographie. Hat Paulus eine Stadt mehrfach besucht (Jerusalem, Philippi, Korinth), richtet sich deren Einordnung nach dem ersten Besuch dieses Ortes. 2 Tarsus (Ταρσός)

Tarsus, nach Apg 22,3 der Geburtsort des Paulus,2 war der wichtigste Ort in der fruchtbaren Kilikischen Ebene (Κιλικία Πεδιάς). Die Stadt besaß am Fluss Kydnos einen Hafen und hatte damit Zugang zum nur 3 km entfernten Mittelmeer. Zugleich war Tarsus südlicher Ausgangspunkt der via Tauri, die über den wichtigsten Pass des Hinteren Taurus, die sog. Kilikische Pforte (Πύλαι Κιλικίαι) nach Kappadokien im Inneren Kleinasiens führte. Damit lag Tarsus an der wichtigen Fernhandelsroute von Syrien nach Anatolien und von dort zum Schwarzen Meer. Schon im 15. Jh. v. Chr. ist Tarsus als hethitische Residenz belegt und hat auch in den folgenden Jahrhunderten seine Rolle als Handelsknoten‐ punkt bewahrt. Seit 66 v. Chr. unter römischer Herrschaft war Tarsus der

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Daher werden die Stationen der beiden großen Seereisen des Paulus, der Kollektenreise von Alexandria Troas nach Jerusalem (Apg 20,13‒21,14) und der Reise (als Gefangener) von Caesarea Maritima nach Rom (Apg 27,1‒28,16), nicht behandelt. Dies gilt auch für Athen und Milet. An beiden Orten lokalisiert Lk zwar programmatische Reden des Paulus (Apg 17,22‒31; 22,1‒21), doch sind dies Zeugnisse der lukanischen Theologie. Für die Lokalisierung nutzt Lk allerdings Stationen, die ihm aus der Überlieferung vorgegeben sind. Zum Aufenthalt in Athen s. u., Milet ist eine der Stationen der Kollektenreise (Apg 20,15) Die Angabe ist nicht völlig konkurrenzlos. Hieronymus, de viris illustribus 5 (PL 23, 611) schreibt: Paulus apostolus … de tribu Benjamin et oppido Judaeae Giscalis fuit, quo a Romanis capto, cum parentibus suis Tarsum Ciliciae commigravit (Der Apostel Paulus … stammte aus dem Stamm Benjamin und der judäischen Stadt Giscala, von wo er, von den Römern gefangengenommen, mit seinen Eltern nach Tarsus übersiedelte). Doch ist das Alter dieser Nachricht, in der eine palästinisch-jüdische und eine hellenistische Herkunft des Paulus miteinander verbunden werden, unklar. Erwähnung von Tarsus im NT: nur in der Apg, neben 22,3 auch in 9,30; 11,25; Tarseus: 9,11; 21,39. Paulus selbst erwähnt Tarsus nicht, nennt aber auch keinen anderen Geburtsort.

Die Städte des Paulus

wichtigste Ort der Region, auch wenn es z.Zt. des Paulus keine einheitli‐ che Provinz Kilikien gab. Vielmehr war Kilikien in mehrere Teilbereiche aufgeteilt, die von römischen Klientelkönigen regiert wurden, wobei Tarsus selbst wahrscheinlich direkt unter römischer Verwaltung verblieb. Erst ab 72 n. Chr. gab es eine eigenständige Provinz Kilikien. Als regional und überregional wichtiges Handelszentrum war Tarsus ein Musterbeispiel für die im Zuge der Hellenisierung einsetzende Entgrenzung der wirtschaftlichen und kulturellen Räume im östlichen Mittelmeerbereich. Dies galt vor allem, nachdem auch hier die Pax Romana, insbesondere gegen die berüchtigten Kilikischen Seeräuber (durch Pompeius 67 v. Chr.), durchgesetzt worden war. Hier gab es einen regen Austausch von Gütern, Menschen und Ideen. Auch die Bildungseinrichtungen entsprachen hellenis‐ tisch-römischem Standard. Der Geograph Strabo schreibt den Einwohnern von Tarsos sogar einen höheren Bildungsgrad als den Bewohnern von Athen oder Alexandria zu,3 was doch etwas hochgegriffen sein dürfte ‒ ganz abgesehen von der Frage, wie man so etwas messen kann. Von dem sicher prächtigen Erscheinungsbild der Stadt in der hohen Kaiserzeit ist durch Überschwemmungen, Zerstörungen und moderne Überbauung faktisch nichts erhalten geblieben. Interessante Aspekte zeigt das ungewöhnliche Götterpantheon von Tarsus. In vorhellenistischer Zeit war ein „Baal Tars“ (Baal von Tarsos) Hauptgottheit der Stadt, dessen Ikonographie jedoch von vornherein eine deutlich Beeinflussung durch griechische Zeusdarstellungen aufweist. Im 1. Jh. n. Chr. galten Herakles und Perseus als ‚Gründer‘ der Stadt, die sich somit als rein griechische Gründung verstand.4 Hauptgottheit war Apollon. Parallel dazu gab es aber seit dem 2. Jh. v. Chr. bis in die späte Kaiserzeit Münzen mit dem Bild von Sandan und sicher auch eine Kultstätte für diese indigene Gottheit hethitisch-luwischer Herkunft. Deren Ikonographie hat einen völlig ungriechischen Charakter: eine (meist mit Doppelaxt) bewaff‐ nete Figur, die aufrecht auf einem löwenartigen gehörnten Mischwesen steht. Dies stand offenbar nicht im Widerspruch zur Überzeugung von der eigenen griechischen Herkunft.5 3 4

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Strabo, XIV 5,13; zu Tarsos insgesamt: XIV 5,12‒15. Dazu vgl. Dion Chrysostomos, or. XXXIII. Auch in Bezug auf den Ursprung der Bewohner wurde eine griechische Herkunft, nämlich von den Argivern, der Bewohner der Landschaft Argolis auf der Halbinsel Peloponnes, in Anspruch genommen; so neben Dion auch Strabo, XIV 5,12. Zu den Kulten von Tarsus vgl. D. Pohl, in: Ehling u. a., Kulturbegegnung, 29‒92.

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In seiner Aufzählung von Gebieten, in denen Juden wohnen, nennt Philo, Legatio ad Gaium 281, auch Kilikien, und Apg 6,9 erwähnt, dass es in Jerusalem ein synagoge (Versammlung/Versammlungsort) von Juden gab, die aus Kilikien zurückgewandert waren. Diese Nachrichten dürften sich in erster Linie auf den wichtigsten Ort Kilikiens, Tarsus, beziehen. Seit wann und unter welchen Umständen die jüdische Diaspora in Tarsus entstand, ist unbekannt. Anzunehmen ist, dass die jüdische Gemeinde, wie die übrigen Diasporagemeinden in Kleinasien, in einer Art ‚mittlerer Distanz‘, d. h. zwischen totaler Assimilation an ihre heidnische Umwelt und totaler Abgrenzung von ihr lebte.6 Für die Entwicklung des jungen Paulus und für sein späteres Wirken war entscheidend, dass er in einem lebhaften urbanen Zentrum des öst‐ lichen Mittelmeerraums aufgewachsen ist. In diesem Bereich war er zu Hause, hierher kehrte er nach seinem erfolglosen Aufenthalt im weiter südöstlich gelegenen Nabatäerreich zurück (Gal 1,21). Hier, im östlichen Mittelmeerraum, und vor allem in den städtischen Zentren, war er dann als Apostel auch erfolgreich. Zugleich kannte er auch die Situation der jüdischen Minorität im Kontext einer paganen, in sich aber keineswegs uni‐ formen Mehrheitsgesellschaft. Aufgrund dieser umfassenden Vertrautheit mit Kultur und Zivilisation der hellenistischen Welt konnte Paulus seinen Auftrag auch sehr umfassend formulieren: Er sei, schreibt er an die Christen in Rom, „Schuldner von Griechen und Barbaren“ (Röm 1,14). Zur Herkunft aus einer hellenistischen Metropole mit ihren entsprechen‐ den Bildungsangeboten passt auch, dass Paulus später literarisch durchaus erfolgreich tätig werden konnte (vgl. 2 Kor 10,10a), obwohl angesichts der weiten Verbreitung der hellenistischen Kultur ein spezifisch ‚tarsisches‘ Profil der Bildung des Paulus gar nicht zu erwarten ist. 3 Jerusalem (Ἰερουσαλήμ / Ἱεροσόλυμα)

In ägyptischen Quellen ist ab ca. 1800 v. Chr. ein (von Ägypten abhängiger) kanaanäischer Stadtstadt uruschalim belegt.7 Diese Stadt, bis heute ununter‐ 6 7

Zur Frage von Nähe und Abgrenzung des Diasporajudentums vgl. J.M.G. Barclay, Jews, 399‒442. Zur Namensform uruschalim (ägyptisch) und jrschlm (althebräisch und biblisch: „Jeru‐ salem“) vgl. M. Küchler, Jerusalem, 9 f. Dabei ist Ἰερουσαλήμ direkte Transkription des hebr. jrschlm; die hellenisierte Namensform Ἱεροσόλυμα (mit volksetymologischer Deutung des Namensbeginns als ἱερός / heilig und Verständnis des Rests als Volksna‐

Die Städte des Paulus

brochen besiedelt, hatte schon z.Zt. des Paulus eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Sie wurde um 990 v. Chr. unter David israelitische Königsstadt, war dann Hauptstadt des sog. Südreichs Juda. Nach dessen Zerschlagung durch die Babylonier (586 v. Chr.) und der Deportation wichtiger Teile der Bevölkerung wurde Jerusalem erst unter persischer Oberhoheit ab 538 v. Chr. wieder ein ‒ jedenfalls regional ‒ wichtiger Ort und Zentrum der kleinen persischen Provinz Jehud. Ab 333 v.Chr. war Palästina insgesamt Teil des Reichs Alexanders d.Gr.; nach dessen Tod (323 v. Chr.) wurde es zum Zankapfel zwischen dem Ptolemäerreich (d. h. Ägypten), und dem (198 v. Chr. dann siegreichen) Seleukidenreich (Syrien). In der Phase zwi‐ schen dem Niedergang des Seleukidenreichs und dem Vordringen Roms in den östlichen Mittelmeerraum konnte sich in Jerusalem ab 142 v. Chr. ein selbständiges Königsreich unter den Priester-Königen der Hasmonäer etablieren und den gesamten Bereich Palästina erobern. Unmittelbarer Nachfolger der Hasmonäer war ‒ jetzt schon als römischer Klientelkönig ‒ Herodes d.Gr. (37‒4 v. Chr.). Auch im 1. Jh. n. Chr. hatte Jerusalem ein wechselhaftes Schicksal. Nach der Regierungszeit des unerträglichen Hero‐ dessohns Archelaos (4 v.‒6 n. Chr.), der auf Bitten der Juden (!) abgesetzt wurde, war Judäa mit Jerusalem Teil der römischen Provinz Syrien, verwal‐ tet von einem Präfekten (Sitz in Caesarea Maritima), der dem Statthalter der Provinz Syrien in Antiochia verantwortlich war. Dies galt bis zum Ausbruch des sog. 1. Jüdischen Kriegs 66 n. Chr., abgesehen von der kurzen Unterbrechung 41‒44 n. Chr., als Agrippa I., Enkelsohn von Herodes d.Gr., als Klientelkönig Palästina regierte. Seine weltgeschichtlich einzigartige Rolle verdankt Jerusalem dem Tem‐ pel, errichtet auf dem nordöstlich an das (damalige) Stadtgebiet angrenzen‐ den Berg. Hier hatte schon Davids Nachfolger Salomo ‒ offenbar an der Stelle eines älteren kanaanäischen Kultplatzes ‒ den ersten JHWH-Tempel errichtet. Auf diesen 586 v. Chr. von den Babyloniern zerstörten Tempel folgte in persischer Zeit ein Neubau, der 520 v. Chr. eingeweiht werden konnte (sog. „zweiter Tempel“). Diesen Bau ließ Herodes abgetragen und völlig neu errichten (faktisch der zweite „zweite Tempel“). Dabei wurde die Tempelplattform verdoppelt (141.500 m2), so dass auf gleicher Höhe mit

men ‚Solymer‘) ist ab dem 3. Jh. v. Chr. belegt; vgl. BDR § 56.1. Paulus verwendet überwiegend (siebenmal) Ἰερουσαλήμ (Röm 15,19.25.26.31; 1 Kor 16,3; Gal 54,25.26), nur dreimal Ἱεροσόλυμα (Gal, 1,17.18; 2,1). Zur Verwendung im NT insgesamt vgl. auch J.K. Elliott, Art. Jerusalem II. Neues Testament, TRE 16 (1987), 610f.

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dem Tempel eine große Plaza mit Ringhallen und Verwaltungsgebäuden entstand ‒ eine städtebaulich im hellenistisch-römischen Bereich höchst aktuelle Konzeption! Nach den Hasmonäern baute vor allem Herodes Jerusalem als Residenz‐ stadt prächtig aus. Am Westrand der Stadt errichtete er seinen Palast und in unmittelbarer Nähe als Fluchtmöglichkeit drei Festungstürme (heute: sog. Zitadelle). Der Sicherheit diente auch die Festung „Antonia“, direkt an der Nordseite des Tempelareals. Gleichzeitig wurde für die Wasserversor‐ gung der ständig steigenden Bevölkerung ein großes Wasserleitungssystem errichtet.8 Für den Jerusalemer Tempelkult z.Zt. des „zweiten Tempels“ war eine doppelte Exklusivität charakteristisch: Zum einen gab es für den JHWH-Kult nur diesen einen legitimen Tempel, sowohl für Palästina selbst als auch für die gesamte Diaspora.9 Er war daher schon immer Ziel von Wallfahrten aus dem Umland, aber sehr bald auch aus der sich dann entwickelnden Diaspora. Zum anderen war Jerusalem als Tempelstadt organisiert (mit dem Synhedrion, dem „Hohenrat“ als zentralem Leitungsorgan), in der kein weiterer Kult (für eine andere Gottheit) zugelassen war. Entsprechend dieser kultischen Sondersituation war auch die Bevölkerung Jerusalems in religiöser Hinsicht außergewöhnlich homogen. Außer einigen Durchrei‐ senden und den hier stationierten römischen Soldaten waren alle Einwohner Juden ‒ entweder als ansässige Wohnbevölkerung oder als Rückwanderer aus der Diaspora, die für begrenzte Zeit oder auf Dauer in der ‚heiligen Stadt‘ wohnen wollten (vgl. die sog. „Hellenisten“ von Apg 6,1). Zu den zeitweiligen Rückwanderern gehörte auch Saulus/Paulus. Für einen eifrigen jungen Diasporajuden, der seine jüdische Identität bewusst annimmt, war dies durchaus folgerichtig. Hier hat sich Paulus offenbar zum jüdischen Aktivisten entwickelt, der (sicher nicht allein) die gerade im Entstehen begriffenen christlichen Gemeinden in Judäa aktiv bekämpfte.

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Vgl. O. Keel/M. Küchler, Orte und Landschaften der Bibel. Ein Handbuch und Studien‐ reiseführer zum Heiligen Land, Bd. 2: Der Süden, Zürich /Göttingen 1982, Bd. 2, 729‒732. Um 160 v. Chr. hatte Onias (IV.), ein Jerusalemer Priester, der aufgrund der inneren Auseinandersetzungen in Jerusalem nach Ägypten geflohen war, in Leontopolis in Unterägypten (nordöstlich des heutigen Kairo) mit Genehmigung des Ptolemäerkönigs einen Tempel errichtet. Doch hatte er nur für die dort angesiedelte jüdische Garnison Bedeutung und wurde selbst von den Juden Alexandrias ignoriert; vgl. Barclay, Jews, 35‒41.

Die Städte des Paulus

Fraglich ist, ob Paulus auch direkt in Jerusalem gegen die christliche Gemeinde vorgegangen ist. Einerseits schreibt er rückblickend, dass er den Gemeinden von Judäa (was ja Jerusalem einschließt) „von Angesicht“ unbekannt war (Gal 1,22), was gegen eine Tätigkeit in Jerusalem spricht.10 Andererseits referiert er deren Aussagen: „der, der uns (!) verfolgt hat, verkündigt jetzt den Glauben“ (Gal 1,22). Auch wenn beide Aussagen nicht eindeutig sind,11 so ist doch bemerkenswert, dass Paulus drei Jahre nach seiner Lebenswende sich nur heimlich in Jerusalem aufhalten konnte (Gal 1,18f) und dass er nach Röm 15,31 bei seinem Besuch anlässlich der Kollek‐ tenaktion Anschläge seitens der „Ungläubigen“ in Jerusalem befürchtete – und zwar mit Recht. Das zeigt: Paulus ist jedenfalls den militanten jüdischen Kreisen in Jerusalem nicht unbekannt, und das bedeutet: Er hat diesen Kreisen selbst angehört – und ist für sie jetzt ein gehasster Renegat. Das macht eine Verfolgertätigkeit in Jerusalem doch wahrscheinlich.12 Die folgenden drei Besuche des Paulus hatten einen jeweils sehr unter‐ schiedlichen Anlass und nahmen auch jeweils einen anderen Verlauf:13 a. Im Jahre 35 n. Chr., drei Jahre nach seiner Berufung, musste Paulus nicht nur die ‚Arabia‘ verlassen, sondern auch aus Damaskus fliehen (2 Kor 11,32f; Apg 9,24f).14 In dieser schwierigen Situation ging Paulus nach Jerusalem und blieb dort zwei Wochen als Gast bei Petrus – ohne, außer Jakobus, jemanden von der christlichen Gemeinde zu sehen (Gal 1,18f).

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So D.-A. Koch, Geschichte, 205‒208 und im vorliegenden Band E. Ebel, Das Leben des Paulus. In Gal 1,21f will Paulus gar keine Aussage über den Ort der Verfolgung machen, sondern seine jetzige (!) Unabhängigkeit von den judäischen Gemeinden betonen: Er hat ihnen nie angehört (vgl. H.D. Betz, Der Galaterbrief, München 1988, 157 f). Auf der anderen Seite kann die Formulierung von Gal 1,23 auch unscharf sein: ‚Sie‘ (die judäischen Gemeinden) hatten von anderen (etwa den Christen von Damaskus) gehört, dass deren (!) Verfolger jetzt zum Verkündiger geworden sei. Dabei ist natürlich auch die Frage, was man sich unter ‚Verfolgung‘ vorzustellen hat: persönliche Konfrontation mit einzelnen Gemeindegliedern (bis hin zu tätlichen Angriffen ‒ wie im Fall des Stephanus, Apg 87,54‒60) oder ‚nur‘ Druck auf das soziale Umfeld von Christen, um sie zu isolieren und so sozial zu ‚vernichten‘. Basis der folgenden Liste ist Gal 1,15‒2,1. Die beiden Besuche von Apg 9,26‒30 und 11,30 verdanken sich der literarischen Konstruktion des Lk, vgl. Koch, Geschichte, 214 f. 201f. Einen weiteren Besuch in Jerusalem deutet Lk (ziemlich halbherzig) anlässlich einer Reise des Paulus nach Caesarea Maritima an (Apg 18,22); vgl. im vorliegenden Band E. Ebel, Das Missionswerk des Paulus; dabei ist die Reise selbst durchaus historisch, vgl. D.-A. Koch, Geschichte, 577f. Dazu s. u. unter „Damaskus“.

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Ganz offensichtlich konnte er sich in Jerusalem nicht mehr öffentlich bewegen.15 b. Im Jahre 48 n. Chr. kam Paulus als Teil einer von Barnabas geleiteten Delegation der Antiochenischen Gemeinde nach Jerusalem, die mit der dortigen Gemeinde einen Konsens über die gesetzesfreie Heidenmission erzielen wollte (sog. Apostelkonzil), und nach einigen Mühen konnte eine solche Übereinkunft ‒ jedenfalls mit der Leitung der Jerusalemer Gemeinde ‒ auch erreicht werden (Gal 2,1‒10).16 c. Im Jahre 56 n. Chr. kam Paulus mit einer Delegation von 9 Personen nach Jerusalem. Diese Delegation vertrat insgesamt vier Gemeinden aus Makedonien und der Provinz ‚Asia‘ (Apg 20,3‒6) und war angereist, um der der Jerusalemer Gemeinde eine Kollekte zu überbringen. Nach großen Mühen wurde die Delegation in Jerusalem von der dortigen Gemeinde unter Jakobus auch empfangen (Apg 21,10‒25).17 Bei der (mit Jakobus vereinbarten) Auslösung christlicher Nasiräer provozierten jüdische Aktivisten einen Zwischenfall, so dass die römische Wach‐ mannschaft Paulus verhaftete (Apg 21,27‒36). Gut zwei Jahre später wurde Paulus als Gefangener nach Rom transportiert (Apg 21,1‒28,16). 4 Damaskus (Δαμασκός)

Damaskus18 (heute Hauptstadt Syriens) liegt im südlichen Teil Syriens, östlich des Antilibanon und am Rand der im Osten bis zum Euphrat reichenden syrischen Wüstensteppe. Lebensgrundlage der Stadt waren von Beginn an die beiden von Westen, aus dem Antilibanon bzw. vom Hermon kommenden Flüsse Barada und El-Awadsch.19 Sie ermöglichen hier die Bildung einer Flussoase, bevor sie etwa 30 km östlich versickern. Am Rande des Kulturlandes gelegen, bildete Damaskus einen Knotenpunkt weitrei‐ chender Handelsverbindungen, was die Stadtentwicklung begünstigte. Ab 15 16 17 18 19

Zu diesem Besuch vgl. D.-A. Koch, Paulus als Gast des Petrus in Jerusalem ‒ Petrus als Gastgeber des Paulus; in: H. Omerzu/E.D. Schmidt (Hg.), Paulus und Petrus. Geschichte – Theologie – Rezeption. Festschrift für F.W. Horn (ABIG 48), Leipzig 2016, 43–57. Zum sog Apostelkonzil vgl. Koch, Geschichte, 225‒243; U. Schnelle, 100 Jahre, 226‒235; M. Öhler, Geschichte, 195‒202 Zur Kollekte vgl. Koch, Geschichte, 331‒343. In ägyptischen Quellen: tamasqu / damasqu; hebräisch: dmäschäk; hellenistisch zeitwei‐ lig in „Arsinoia“ umbenannt. Erwähnung im NT: Apg 9,2.3.8.10.19.22.27; 22,5.6.10.11; 26,12.20; 2 Kor 11,23; Gal 1,17. Im AT: Abana und Parpar (2 Kön 5,12).

Die Städte des Paulus

ca. 1450 v. Chr. in ägyptischen Quellen belegt, bildete Damaskus im 9./8. Jh. v. Chr. einen selbständig agierenden Kleinstaat, der ab 732 v. Chr. unter assyrische Herrschaft geriet und nie wieder Eigenstaatlichkeit erlangte. Da‐ nach gehörte Damaskus zum neubabylonischen (604‒562 v. Chr.), dann zum persischen Reich. Mit Alexander d. Gr. wurde 332 v. Chr. Damaskus Teil der hellenistischen Welt. Zunächst stand es unter ptolemäischer Vorherrschaft, gehörte aber ab Mitte des 3. Jh. v. Chr. zum Seleukidenreich, aus dessen Trümmern Pompeius 64 v. Chr. die römische Provinz Syria bildete. Wichtig war für Damaskus die unmittelbare Nachbarschaft zum Nabatäerreich, das die südlichen Handelsrouten bis zum Roten Meer beherrschte, doch ist die Annahme einer zeitweiligen direkten Zugehörigkeit zum Nabatäerreich un‐ ter dem Nabatäerkönig Aretas IV. (9 v.‒40 n. Chr.) nicht zu belegen. Immerhin bestand z.Zt. des Paulus in Damaskus eine nabatäische Handelskolonie, deren Anführer („Ethnarch“) durchaus Einfluss in der Stadt besaß.20 Nach Plinius d.Ä. und Strabo zählte Damaskus zur Dekapolis,21 einem lockeren Verbund griechischer Städte im Inneren von Südsyrien. Die hellenistisch-römische Stadt bildete im Prinzip ein in Ost-West-Rich‐ tung gelegenes Rechteck und hatte ein hippodamisches Straßenraster, dessen rechteckige Gitterstruktur auch heute noch unter der islamischen Sackgassenüberbauung erkennbar ist. Das gilt vor allem für die große 1,5 km lange und ursprünglich 22 m breite West-Ost-Achse (zwischen West- und Osttor), die mit der in Apg 9,11 erwähnten „Geraden Straße“ zu identifizieren ist. Im nordwestlichen Teil der Stadt lag in einem großen Temenos der Hadad-Tempel, der in römischer Zeit in einen Zeus/Jupiter-Tempel umge‐ wandelt wurde. An dessen Stelle trat in christlicher Zeit die Johannes-Ba‐ silika als Hauptkirche von Damaskus. Sie wurde in frühislamischer Zeit abgerissen, so dass eine große freie Hoffläche entstand, an deren Südseite die Omayyaden-Moschee errichtet wurde. Josephus setzt für die Zeit des jüdischen Krieges (ab 66 n. Chr.) eine große jüdische Gemeinde in Damaskus voraus,22 dies gilt selbstverständlich auch für Apg 9, wo von mehreren Synagogen die Rede ist (9,2). Wie groß der jüdische Bevölkerungsanteil an der Einwohnerschaft insgesamt war, muss 20 21 22

Dazu vgl. E.A. Knauf, Die Arabienreise des Apostels Paulus, in: M. Hengel/A.M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels (WUNT 108), Tübingen 1998, 465‒471. Ptolemaios, V 14‒22; Plinius d.Ä., nat. V 47. Josephus, bell. II 559‒561; VII 368. Josephus berichtet von Ausschreitungen gegen die jüdische Minderheit bei Ausbruch des Jüdischen Kriegs 66 v.Chr.

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jedoch offen bleiben. Nach Josephus gab es auch zahlreiche Sympathisanten des Judentums, besonders unter den Frauen. In diesem offenbar keineswegs monolithischen Judentum hat auch die christliche Verkündigung früh Fuß gefasst. Mit Damaskus23 ist die Lebenswende des Paulus verbunden.24 Von hier aus hat sich Paulus dann nach eigenen Angaben in das Gebiet ‚Arabien‘, also in das Nabatäerreich begeben ‒ mit dem ‚Erfolg‘, dass er dies Gebiet wieder verlassen und auch aus Damaskus flüchten musste, um nicht an den Nabatäerkönig Aretas IV. ausgeliefert zu werden (2Kor 11,32f). Als ‚paulinischer‘ Erinnerungsort wird in Damaskus das im (heutigen) Christenviertel gelegene „Haus des Hananias“ gezeigt. Die Bausubstanz dieses Hauses, das im 5./6. Jh. in eine Kapelle umgewandelt wurde, kann durchaus auf das 1. Jh. n. Chr. zurückgehen. Wie weit allerdings die Identi‐ fizierung als Wohnstelle des Hananias zurückreicht, ist nicht feststellbar. Für das Alter der Erinnerung könnte sprechen, dass dies Haus in Apg 9 überhaupt keine Rolle spielt. Umgekehrt gibt es keine Lokaltradition über das Haus des Judas in der „Geraden Straße“, obwohl dies als Ort der Taufe des Paulus durch Hananias in Apg 9,11 ausdrücklich erwähnt wird. Erst im 20. Jh. wurde die Paulus-Kapelle im südöstlichen Stadttor (Bab Kaysan) errichtet. Das im Oberteil der Toranlage angebrachte Fenster, durch das Paulus entkommen sein soll, ist nicht Teil des ursprünglichen römischen (und später weitgehend zerstörten) Stadttores, sondern Teil des mittelalterlichen Neubaus. Zudem wird weder in Apg 9,25 noch 2Kor 11,33 behauptet, dass Paulus durch ein Stadttor (ausgerechnet!) geflohen sein soll, sondern es heißt wesentlich allgemeiner: Er floh „durch die Mauer“. Für den Ort, an dem Paulus von einer Lichterscheinung geblendet wurde (Apg 9,3‒8), gibt es drei Möglichkeiten zur Auswahl: eine Stelle südlich des Bab Kaysan am christlichen Friedhof, weiter südlich bei einem Kloster am

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Bei der von Paulus in Damaskus geplanten Verfolgung wird es sich nicht um eine Polizeiaktion im Sinne von Apg 9,1f gehandelt haben (das ist im Amtsbereich des rö‐ mischen Statthalters auszuschließen), sondern um den Versuch, mit sozialem Druck die christliche Gemeinde zu marginalisieren und auszulöschen; vgl. dazu Koch, Geschichte, 202‒204. Dazu s. in diesem Band E. Ebel, Leben des Paulus; die Verknüpfung der Lebenswende mit Damaskus ist nicht nur in Apg 9,1‒19; 22,3‒16; 26,9‒18 enthalten, sie ist auch in Gal 1,17 indirekt vorausgesetzt, wenn Paulus dort sagt, dass er nach seinem Aufenthalt in Arabien nach Damaskus „zurückgekehrt“ sei (ὑπέστρεψα εἰς Δαμασκόν).

Die Städte des Paulus

„zweiten Meilenstein“25 und schließlich den Ort Kaukab 15 km südwestlich von Damaskus.26 5 Antiochia (Ἀντιόχεια) am Orontes27

Antiochia (h.: Antakya, Türkei), 300 v. Chr. durch Seleukos I. gegründet28, liegt am Unterlauf des aus der Senke zwischen Libanon und Antilibanon kommenden Orontes (h.: Nahr al Asi), und zwar in einer fruchtbaren Schwemmlandebene, rund 25 km von der Küste entfernt. Gleichzeitig wurde Seleukia Pieria als Hafenort für Antiochia gegründet. Dadurch war Antiochia mit dem Seehandel des gesamten östlichen Mittelmeerraums verbunden. Zugleich führten wichtige Handelsrouten nach Süden und nach Osten, dort insbesondere zum rund 200 km östlich gelegenen Euphratgebiet und d. h. nach Mesopotamien. Die Geschichte Antiochias ist eng mit der des Seleukidenreichs verbun‐ den. Nachdem um 200 v. Chr. die Ptolemäer nach Süden zurückgedrängt worden waren, gab es günstige Bedingungen für die wirtschaftliche Ent‐ wicklung der Stadt, zumal Antiochia Hauptresidenz der Seleukidenherr‐ scher wurde. In seleukidischer und dann auch in römischer Zeit war hier eine wichtige überregionale Münzstätte angesiedelt, und auf lokalen Münzprägungen nannte sich Antiochia μετρόπολις. Nach dem Zerfall des Seleukidenreichs und der Errichtung der Provinz Syria durch Pompeius 64 v. Chr. wurde Antiochia selbstverständlich Sitz des römischen Statthalters. Durch Überschwemmungen und spätere Überbau‐ ung ist vom Antiochia der Kaiserzeit kaum etwas erhalten. Immerhin zeigen die glänzenden, vor allem im Villenvorort Daphne gefundenen Mosaiken

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So der Bericht des Pilgers von Piacenza (um 570), 46, vgl. H. Donner, Pilgerfahrten ins Heilige Land. Die ältesten Berichte christlicher Palästinapilger, Stuttgart 22002, 292f. Vgl. P. Hofrichter, Paulus und die Anfänge der Kirche in Syrien, in: Syrien. Von den Aposteln zu den Kalifen, Linzer Archäologische Forschungen 21, Linz 1993, 13‒31, dort 20. Für das am Orontes gelegene Antiochia gibt es keinen festen Beinamen, obwohl es in PRE I/2 unter dem Stichwort „Antiochia“ insgesamt 23 Ortseinträge gibt, von denen sich drei sogar auf Orte in der Provinz Syrien beziehen. Es war eben „das“ Antiochia. Lediglich in der geographischen Fachliteratur, bei Strabo, XVI 719 und Plinius d.Ä., nat. V 79, wird als Spezifizierung „bei Daphne“ hinzugefügt, nach dem seinerzeit bekannten, 7 km südlich gelegenen Villenvorort (h.: Harbiye). Zur Unterscheidung vom „Pisidischen“ Antochia wird hier die Bezeichnung „Antiochia am Orontes“ verwendet. Erwähnung im NT: Apg 11,19.20.22.26.27; 13,1; 14,26; 15, 22.23.30.35; 18,22; Gal 2,11.

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aus dem 2. bis 5. Jh. n. Chr. den Wohlstand der Stadt, was durchaus auch Rückschlüsse auf das 1. Jh. n. Chr. zulässt. In dieser Handels- und Verwaltungsmetropole gab es auch eine bedeu‐ tende jüdische Diaspora. Dies geht aus Josephus, bell. II 43‒46 hervor, der betont, dass es zahlreiche Sympathisanten unter der nichtjüdischen Bevölkerung gab. Dennoch war, aufs Ganze gesehen, das Verhältnis zur Mehrheitsbevölkerung nicht ohne Spannungen. Jedenfalls ist es zu Beginn des Jüdischen Krieges 66 n. Chr. zu erheblichen Übergriffen gegen die Juden gekommen (bell. VII 47‒62).29 Antiochia entwickelte sich in den ersten Jahrzehnten des Urchristentums zum zweiten Zentrum neben Jerusalem. Nach Apg 11,19‒21 wurde die christliche Gemeinde durch Mitglieder des Stephanuskreises gegründet, die aus Jerusalem vertrieben worden waren (die sog. „Hellenisten“ von Apg 6,1), und zwar insbesondere von christlichen Diasporajuden, die ursprünglich aus Zypern und der Cyrenaika stammten. Diese vollzogen einen epochalen Schritt: Sie tauften auch Nichtjuden, ohne dass diese anschließend (durch den Vollzug der Beschneidung) zum Judentum übertreten mussten. Leiter dieser sich sehr dynamisch entwickelnden Gemeinde wurde bald Barnabas, ein aus Zypern stammender Diasporajude, der – offenbar zur Verstärkung der Öffnung zu den Nichtjuden ‒ Paulus nach Antiochia holte. Dieser hatte sich inzwischen, nachdem er aus Damaskus fliehen musste, in Kilikien aufgehalten. In Antiochia war Paulus für längere Zeit tätig und gehörte mit Barnabas und zwei weiteren, ebenfalls nicht aus Antiochia stammenden jüdischen Christen zur Gruppe der leitenden Propheten und Lehrer der Gemeinde (Apg 13,1).30 Mit Barnabas wurde Paulus von der Gemeinde zur Mission nach Zypern ausgesandt (Apg 13,3), die sie faktisch dann bis ins Innere Kleinasiens, nach Pisidien und Lykaonien führte (Apg 13‒14). Ebenfalls mit Barnabas vertrat er danach die Gemeinde bei der Verhandlung mit der Jerusalemer Gemeinde über die Frage der beschneidungsfreien Heidenmission. Dieses sog. Apostelkonzil (Apg 15; Gal 2,1‒10) zeigt, dass der Schritt zur Heidenmission in Antiochia nicht zufällig erfolgt ist, sondern 29 30

Dagegen sagt Josephus, bell. II 479, dass Antiochia zu den wenigen Städten Syriens gehört habe, in denen es keine Massaker an Juden gegeben habe. Doch ist die Aussage in VII 47‒62 wesentlich konkreter. Nach Apg 11,26 wirkte Paulus für „ein ganzes Jahr“ in Antiochia, bevor er mit Barnabas zur Mission nach Zypern aufbrach. Lk will damit einen aus seiner Sicht relativ langen Zeitraum andeuten, doch ist eher damit zu rechnen, dass Paulus dort deutlich länger wirkte, bis er ‒ nach Barnabas ‒ zur Nr. 2 in der Gemeindeleitung aufrückte.

Die Städte des Paulus

eine grundsätzliche Wende darstellte, und es unterstreicht darüber hinaus die bedeutende Rolle der Gemeinde Antiochias in der Geschichte des Urchristentums. Bei einer Frage, die bei dieser Besprechung in Jerusalem nicht geklärt wurde, der Frage nach der Tischgemeinschaft von Christen jüdischer und nichtjüdischer Herkunft, kam es bei einem Besuch einer Gruppe aus der Jerusalemer Gemeinde in Antiochia zu einem Streit, bei dem sich Paulus mit seiner kompromisslosen Haltung gegen Petrus und Barnabas und deren vermittelnde Position nicht durchsetzen konnte (Gal 2,11‒14). Infolge dieser Auseinandersetzung verließ Paulus die Gemeinde von Antiochia und begann seine eigenständige Missionstätigkeit in Makedonien, Griechenland und Kleinasien. Trotz dieses offenbar nicht wieder überwundenen Bruchs mit Antiochia hat Paulus in dieser Gemeinde seine theologischen Grundla‐ gen erhalten, von denen aus er dann sein eigenes theologisches Nachdenken vorantreiben konnte. 6 Das Pisidische Antiochia (Αντιόχεια ἡ Πισιδία), Ikonion (Ἰκόνιον), Lystra (Λύστρα), Derbe (Δέρβη), Perge (Πέργη) ‒ die sog. 1. Missionsreise

Nach Apg 13‒14 hat es eine gemeinsame Missionsaktion von Barnabas und Paulus gegeben, die sog. 1. Missionsreise, die die beiden Apostel (vgl. Apg 14,4.14) im Auftrag der Gemeinde von Antiochia am Orontes durchführten und bei der sie in fünf Städten des südlichen Kleinasiens Gemeinden gründeten,31 die in drei verschiedenen Gebieten lagen. Es handelt sich um das in Pisidien32 gelegene Antiochia (Apg 13,14‒52), um die zu Lykao‐ 31

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Die Reise galt ursprünglich nur der Insel Zypern (Apg 13,4‒12), von der auch Barnabas stammte. Erst in Zypern ergaben sich offenbar Kontaktmöglichkeiten in das Innere Kleinasiens (vgl. Koch, Geschichte, 222 f). Ob bereits bei diesem Besuch in Zypern eine Gemeinde gegründet werden konnte, ist fraglich. Eher ist anzunehmen, dass dies erst bei einem späteren Besuch, den Barnabas allein durchführte (Apg 15, 38‒41), der Fall war, d. h. mit der Gemeindegründung auf Zypern hat Paulus sehr wahrscheinlich nichts zu tun. Die Zuordnung von Antiochia ist strittig, was sich auch in der Unsicherheit der Bezeichnung niederschlägt: Αντιόχεια ἡ Πισιδία („Pisidisches Antiochia“) ist nur Apg 13,14 belegt; immerhin entspricht dem das lateinische Aniochia Pisidiae; daneben ist Αντιόχεια πρὸς Πισιδίᾳ bzw. Antiochia ad Pisidiam (Antiochia „bei Pisidien“) bezeugt; dazu vgl. die Beschreibung bei G. Hirschfeld, Art. Antiocheia 15, 2446: „Stadt an der Grenze von Phrygien (Phrygia paroreia) und Pisidien gelegen und daher bald zu dem ersteren (Strab. XII 569. 577. Ptolem. V 5), bald zu dem letzteren gerechnet

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nien gehörenden Städte Ikonion (Apg 14,1‒6), Lystra (Apg 14,7‒20a) und Derbe (Apg 14,20b.21), sowie um Perge in Pamphylien (Apg 14,24f). Dabei liegen Pisidien und Lykaonien im Landesinneren, Pamphylien dagegen an der Südküste Kleinasiens. Pisidien, Lykaonien und Pamphylien gehörten im 3. Jh. v. Chr. zum Seleukidenreich, wobei Pamphylien z.T. auch unter ptolemäische Kontrolle geriet. Ab 188 v. Chr. gehörten alle Gebiete zum Königreich Pergamon. Nach dem Tod des letzten pergamenischen Königs wurde dessen gesamtes Territorium römisch und bildete ab 129 v. Chr. die Provinz Asia (Hauptstadt Ephesus). Lykaonien war dann zeitweise Teil des Klientelkönigreiches Galatien; ab 25 v. Chr. waren Pisidien und Lykanonien Teil des Amtsbezirks des Statthalters in Ancyra (Galatien). Pamphylien wurde in der ersten Hälfte des 1. Jh. v. Chr. vom Statthalter der Provinz Cilicia verwaltet, nach 25 n. Chr. dagegen vom Statthalter von Galatien. Erst 43 n. Chr. wurde mit der Errichtung der Doppelprovinz Lykien und Pamphylien für die nächsten gut 250 Jahre eine stabile Lösung gefunden.33 Das Pisidische Antiochia (Apg 13,14: Αμτιόχεια ἡ Πισιδία)34 ist eine seleukidische Gründung aus der Mitte des 3. Jh. v. Chr., vermutlich durch Antiochos II. Theos (261‒246 v. Chr.). Es war ein wichtiger Handelsort und wurde im 1. Jh. n. Chr. stark ausgebaut. Bemerkenswert ist das große, au‐ ßerhalb der Stadt gelegene Heiligtum für den Μὴν Ἀσκηνός. Die Verehrung des Mondgottes Men war besonders in Kleinasien weit verbreitet. Nach Apg 13,14f gab es in Antiochia eine beachtliche jüdische Gemeinde, was historisch durchaus plausibel ist. Die Entstehungsgeschichte von Ikonion (Ἰκόνιον) und Lystra (Λύστρα)35 ist wenig erforscht. Dabei war Lystra vermutlich der deutlich kleinere der beiden Orte und wird in Apg 14,8‒20 als besonders rückständig geschildert:

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(Apostelgesch. XIII 14. Plin. n. h. V 94. Ptolem. V 4. Aelian. hist. anim. XVI 10).“ Sieht man in den Gebirgszug der Sultan Dağları die Nordgrenze von Pisidien (mit H. Brandt, Art. Pisidia, 1043), dann ist Anitiochia eindeutig Teil dieser Landschaft. Die Unsicherheit geht offenbar darauf zurück, dass 43 n. Chr. Pisidien der neuen Provinz Lykien zugeschlagen wurde, wobei allerdings der nördliche Streifen (mit Antiochia) beim Amtsbezirk des Statthalters von Galatien verblieb. Wenn Lk Αντιόχεια ἡ Πισιδία schreibt, dann orientiert er sich an der gewachsenen Landschaftsbezeichnung. Diskutiert wird auch die Möglichkeit, dass Pamphylien noch bis 70 n. Chr. vom Statt‐ halter Galatiens verwaltet wurde, vgl. Brandt/Kolb, Lycia et Pamphylia, 23f. Das beeindruckende Ruinengelände liegt direkt beim Ort Yalvaç (Provinz Isparta, Türkei). Ikonion: heute Konya (Provinzhauptstadt in der Türkei); Lystra: Siedlungshügel (nicht ausgegraben) bei dem Dorf Hatunsaray, 30 km südwestlich von Ikonion / Konya.

Die Städte des Paulus

Die Bewohner sprechen Lykaonisch und halten aufgrund einer Wundertat Barnabas und Paulus für Menschen gewordene Götter. Immerhin ist deut‐ lich, dass die Stadt einen Zeustempel außerhalb der Stadtmauern besaß (Apg 14,13). Das weit im Osten gelegene Derbe (Δέρβη)36 spielte eine Sonderrolle: Es war im 1. Jh. v. Chr. zeitweise Sitz eines lokalen Dynasten und wurde (wie Laranda) von 38 bis 72 n. Chr. von dem römischen Klientelkönig von Kommagene, Antiochos IV. verwaltet.37 Alle vier Städte lagen an der Via Sebaste, einer unter Augustus angelegten Militärstraße. Antiochia, Ikonion und Lystra waren außerdem ab 25. v. Chr. römische Kolonien. Die dadurch einsetzende starke urbanistische Entwick‐ lung und der Bau der Straßenverbindung dienten der Sicherung der neu errichteten direkten römischen Herrschaft über dieses Gebiet, das vorher (im Auftrag Roms) vom Galaterkönig Deiotarus verwaltet worden war. Erforderlich war die starke römische Präsenz, um das Gebiet gegen die notorisch rebellischen Bergstämme zu sichern. Es ist bemerkenswert, wie früh hier die urchristliche Mission mit römisch geprägten urbanen Zentren in Kontakt kam. Perge (Πέργη),38 in der fruchtbaren Küstenebene südlich des Taurus gelegen, in der Antike durch den bis Perge schiffbaren Kestros mit dem Meer verbunden, führte seine Gründung auf Kalchas und Mopsos, zwei Helden aus dem Trojanischen Krieg, zurück; es wurde in hellenistischer Zeit stark ausgebaut und befestigt und weist heute noch eindrucksvolle Ruinen (Doppeltororanlage) aus dieser Zeit auf. Nachdem sich die politischen Verhältnisse stabilisiert hatten, befand es sich im 1. Jh. n. Chr. wieder im Aufschwung. Stadtgöttin war die auf Münzen und durch Statuen gut belegte Artemis Pergaia, die überregionale Bedeutung hatte, deren Heiligtum jedoch bislang nicht lokalisiert werden konnte. Für die Biographie des Paulus war diese offensichtlich erfolgreiche Stadt‐ mission in Pisidien, Lykaonien und Pamphylien von erheblicher Bedeutung: 1. Diese Mission setzte in der jüdischen Synagoge bzw. ihrem Umfeld an, richtete sich aber ‒ der Struktur der Muttergemeinde Antiochia

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Siedlungshügel Kerti Hüyük (nicht ausgegraben) 3 km nördlich des Dorfes Ekinözü, 22 km nordöstlich von Laranda (heute: Karaman) Vgl. Ch. Marek, Geschichte, 412. Das ausgedehnte Ruinengelände befindet sich am Nordrand der Gemeinde Aksu, 15 km Luftlinie nordöstlich von Antalya; zu Perge vgl. H. Brandt/F. Kolb, Lycia et Pamphylia, 65‒67.

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am Orontes entsprechend ‒ auch von vornherein an nichtjüdische Adressaten. 2. Barnabas und Paulus entwickelten hier eine durchaus erfolgreiche Missionsstrategie, die Kollegiatmission. Als Tandem konnten Barnabas und Paulus eine wesentlich größere Wirkung entfalten als Paulus selbst bei seinen bisherigen, offenbar im Alleingang unternommen missionarischen Bemühungen. Dabei ist deutlich, dass in dem Tandem Barnabas/Paulus – entsprechend der Rollenverteilung in der Mutter‐ gemeinde ‒ die führende Rolle Barnabas zukam. Insofern sind auch die in Pisidien, Lykaonien und Pamphylien gegründeten Gemeinden keine ‚paulinischen‘, sondern ‚antiochenische‘ Gemeinden. Aber Paulus konnte auf den hier gewonnenen Erfahrungen aufbauen und hat seine selbständige Mission von vornherein im Team mit Mitarbeitern betrie‐ ben. Heftig umstritten ist in der Exegese die Frage, ob in den Gemeinden von Pisidien und Lykaonien die Adressaten des von Paulus an die „Galater“ gerichteten Briefes zu sehen sind. Dafür spricht, dass auch diese Gebiete zum Amtsbereich des Statthalters von Galatien (mit Sitz in Ancyra) gehör‐ ten – und sonstige Nachrichten über eine Mission des Paulus aus dem eigentlichen, weiter nördlich gelegenen Gebiet der Galater (mit den Orten Ancyra, Tavium und Pessinus) in der Apg fehlen.39 Allerdings wird in dieser Diskussion zumeist ungeprüft vorausgesetzt, dass sich im Amtsbereich des Statthalters von Ancyra auch ein dessen gesamtes Gebiet umfassendes ‚galatisches‘ Identitätsbewusstsein entwickelt hat. Das war aber nicht der Fall. Noch Ende des 1. Jh. n. Chr. werden in den Laufbahninschriften der römischen Statthalter die einzelnen Teilbereiche (Eparchien) ihres Amtsbereichs nebeneinander genannt,40 also Galatien neben (!) Pisidien,

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Apg 16,6‒10 kommt als Beleg nicht infrage, insofern Lukas hier eine Reise des Paulus schildert, in der gerade keinerlei missionarische Aktivität stattfindet; insofern Philippi als der Beginn der eigenständigen Mission des Paulus zu gelten hat, wird man das auch ernst nehmen müssen. Ob die durch „galatische Gebiet“ führende Reise von Apg 18,23 auf eigenständiger Überlieferung beruht, ist fraglich, vgl. Koch, Geschichte, 578f. Vgl. dazu Marek, Geschichte, 517 f, der zwischen provincia (als Befehlsbereich des Statthalters) und (griechisch) ‚eparchia‘ (Marek: „Provinzgebiet“) unterscheidet und die sog. Großprovinzen, also Statthalterbezirke mit mehreren, häufig wechselnden Eparchien, ausdrücklich als „Konglomerat“ bezeichnet (517).

Die Städte des Paulus

Lykaonien usw.41 Stabil waren diese Eparchien, während die Zuordnung der Eparchien zu den Amtsbezirken der Statthalter häufig abgeändert wurden. Die Stabilität der Eparchien beruhte zunächst darauf, dass sie viel stärker den gewachsenen historischen Strukturen entsprachen. Dies verlängerte sich in die Gegenwart insofern, als auf dieser Basis auch der jeweilige Kaiserkult organisierte wurde. Der ‚Koinon‘ (Bund) als Träger des Kaiserkults war nicht auf dem gesamten Statthalterbereich (oder: ‚Großprovinz‘) bezogen, sondern umfasste die einzelne Eparchie und wirkte in diesem Bereich ‒ und nur für diesen Bereich ‒ dann auch identitätsstiftend. Das gilt insbesondere für die Eparchie Galatien, die darauf stolz war, aufgrund der traditionellen Romtreue der Galater dem Titel des Koinon das Beiwort „kaiserlich" hin‐ zufügen zu dürfen: κοινὸν τῶν Σεβαστηνῶν (!) Γαλατῶν, d. h. „Bund der ‚kaiserlichen‘ Galater“ ‒ und zu diesem Koinon gehörten gerade nicht die Städte Pisidiens und Lykaoniens.42 Auch die Tatsache, dass die Gemeinden in Pisidien und Lykaonien keineswegs als ‚paulinisch‘ gelten konnten, spricht gegen diese Gemeinden als Adressaten des Galaterbriefs, beansprucht Pau‐ lus doch in diesem Brief eine Autorität, die er nur mit Aussicht auf Erfolg geltend machen konnte, wenn er diese Gemeinden allein gegründet hatte. Die Schwierigkeit für die alternative Annahme, der Galaterbrief sei an 41

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Vgl. zum Gesamtproblem Koch, Geschichte, 583‒589. Der Befund bei den Laufbahnin‐ schriften ist eindeutig. Auch bei Plinius d.Ä., nat. V 25 (§ 95) ergibt sich grundsätzlich das gleiche Bild: Er unterscheidet zwar eine ‚Tetrarchie‘ Lykaonien von einem ‚eigent‐ lichen‘ Lykaonien, aber beide sind als angrenzend an Galatien (Lycaonia … Galatiae contermina est) und nicht als Teil davon gedacht. Widersprüchlich ist der Befund in Plinius d.Ä., nat. V 42 (§146‒147), wobei hier Plinius zunächst vom Siedlungsgebiet der „Gallier“ (=Galater) und dann – ohne erkennbare Differenzierung ‒ von Galatia spricht. Einerseits unterscheidet er klar zwischen dem Gebiet der „Gallier“ (mit Ancyra, Tavium und Pessinus als den zentralen Orten) und den Bewohner von weiteren Städten. Diese Städte decken sich z.T. mit den in nat. V 25 genannten Städten Lykaoniens, wobei hier jedoch diese Gebietsbezeichnung nicht erscheint. Andererseits ist über nat. V 25 hinaus u. a. auch Lystra genannt, während umgekehrt Ikonion fehlt, obwohl dies in nat. V 25 als „sehr berühmte Stadt“ (urbs celeberrima) bezeichnet wird. Und obwohl am Schluss von nat. V 42 gesagt wird, dass Galatia an Pymphylien angrenzt, wird in der Städteliste Attaleia genannt, das eindeutig innerhalb von Pamphylien liegt. Es ist deutlich, wie sinnvoll es ist, zwischen dem Statthalterbezirk und der einzelnen ‚Eparchie‘ zu unterscheiden (Pamphylien wurde von 25 v. ‒ 43 n. Chr. vom Statthalter in Ancyra regiert, galt aber nie als „Galatien“); vor allem zeigt sich aber, wie vorsichtig die antiken Geographen auszuwerten sind, die auf weite Strecken Material unterschiedlichster Herkunft verarbeiten. Zur Geschichte des ‚Provinz-Komplexes‘ Galatia vgl. K. Strobel, Art. Galatia, Galatien, Art. DNP 4 (1998), 744f. Das wird auch von F. John, Der Galaterbrief im Kontext historischer Lebenswelten im antiken Kleinasien (FRLANT 264), Göttingen 2016, nicht berücksichtigt.

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Gemeinden in der Eparchie Galatien (Ancyra usw.) gerichtet, besteht darin, dass die Apg von Gemeindegründungen in diesem Bereich nichts berichtet.43 Allerdings handelt es sich dabei um ein argumentum e silentio, hat also nur begrenztes Gewicht.44 7 Philippi (Φίλιπποι)

Die heutige Ruinenstadt Philippi45 liegt im östlichen Teil Makedoniens, 15 km von der Küste des Ägäischen Meeres entfernt, und zwar am Südost‐ rand einer wasserreichen, aber sumpfigen Ebene, die auf allen vier Seiten von Gebirgszügen bzw. Hügelketten umgeben ist. Am bekanntesten ist das westlich gelegene Pangaion-Gebirge (bis 1956 m). Philippi wurde um 355 v. Chr. von Philipp II. (356−336 v. Chr.) gegründet, der dieser Stadt auch seinen Namen gab. Die Kontrolle über dieses traditio‐ nell thrakische Siedlungsgebiet weit im Osten seines Herrschaftsgebiets war für ihn von großem Interesse, da es in den umgebenden Gebirgszügen be‐ trächtliche Gold- und Silbervorkommen gab, die schon seit langem abgebaut wurden. Philippi gehörte bis 168 v. Chr. zum makedonischen Königreich. Als 148 v.Chr. endgültig die römische Provinz Macedonia eingerichtet wurde, lag es im vierten (östlichsten) Verwaltungsbezirk, dessen Hauptort jedoch nicht Philippi, sondern das weiter westlich gelegene Amphipolis wurde. Nach dem 42 v. Chr. von Marcus Antonius und Octavian (dem späteren Augustus) bei Philippi erfochtenen Sieg über die Cäsarmörder Cassius und Brutus wurde Philippi in eine römische Kolonie umgewandelt, in der Marcus Antonius römische Veteranen ansiedelte. Nach seinem Sieg über Kleopatra VII. und Marcus Antonius 31 v.Chr. bei Actium siedelte Octavian ebenfalls Veteranen sowie Siedler aus Italien an. Philippi war immer eine recht kleine Stadt, zumal die Goldbergwerke schon in vorrömischer Zeit erschöpft waren. Immerhin hatte es eine gewisse

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Die Adressierung des Gal an die Gemeinden von Apg 13 f vertreten u. a. R. Riesner, Frühzeit 243. 250‒259; C. Breytenbach, Paulus; s. auch in diesem Band J. Frey, Der Galaterbrief; eine Lokalisierung im Bereich der ‚Eparchie‘ (traditionelle Bezeichnung: Landschaftshypothese) vertreten u. a. U. Schnelle, Einleitung, 119‒122; Koch, Geschichte, 296‒300. Immerhin setzt Lk in Apg 18,23 im „galatischen Gebiet“ und in Phrygien „Jünger“ voraus. Erwähnung im NT: Apg 16,12; 20,6; Phil 1,1; 1 Thess 2,2.

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überregionale Bedeutung durch seine Lage an der bald nach 148 v. Chr. angelegten Via Egnatia, die die Propontis (das heutige Marmarameer) mit der Adria verband. Aus hellenistischer Zeit sind vor allem die Stadtmauer auf der Akropolis, das Theater und am Fuße des Stadtberges ein Kammergrab erhalten. Die römische Stadt dehnte sich dann stärker in die Ebene aus. Zur Zeit des Paulus bestand die Bevölkerung aus drei Gruppen: a) den römischen Kolonisten; nur sie hatten das Bürgerrecht der Colonia Iulia Augusta Philippensis, also Mitwirkungsrechte in der politischen Selbstver‐ waltung, und nur aus ihren Reihen kamen die Magistratsbeamten. Daneben gab es b) die griechisch-makedonischen und c) die thrakischen Einwohner. Obwohl die Stadt nie besonders groß war, verfügte sie über ein ausgedehntes Territorium mit vielen (meist thrakisch besiedelten) Dörfern, in denen intensiv Landwirtschaft betrieben wurde. Auch der Hafen Neapolis (heute: Kavalla) gehörte zum Territorium Philippis (vgl. Apg 16,11). Aus der Frühphase der römischen Kolonie ist, abgesehen vom Straßenras‐ ter der Unterstadt, nur wenig erhalten, da die Stadt im 2. Jh. n. Chr. gründlich umgestaltet wurde. Bemerkenswert ist, dass in der Zeit des Claudius (41–54 n. Chr.) das Forum an seiner jetzigen Stelle angelegt wurde.46 In diese Zeit fällt auch der Aufenthalt des Paulus (50 n. Chr.)! Auf dem Forum präsentierte sich das römische Philippi nicht nur mit seinen religiösen und profanen Bauten, sondern auch mit zahlreichen Ehrenmonumenten und Inschriften, die durchweg in lateinischer Sprache gehalten waren. Das Forum war das Verwaltungszentrum der Stadt, die wie jede römische Kolonie von einem Zweimännerkollegium (duumviri) geleitet wurde (was der Leitung Roms durch die beiden Konsuln entsprach). Die dazugehörigen Bauten waren eine dem römischen Senatsgebäude entsprechende curia und das Stadtarchiv (tabularium). Zum Forum gehörte auch ein Kaisertempel.47 Inschriftlich nachgewiesen sind Priester des Divus Augustus und Priesterinnen der Diva Augusta, d. h. Augustus und seine Gemahlin Livia wurden jeweils nach ihrem Tod und ihrer anschließenden Konsekration (14 bzw. 42 n. Chr.) in Philippi kultisch verehrt. Später sind auch Priester des Divus Claudius, des Divus Vespasianus (69−79 n. Chr.) und des Divus Antoninus Pius (138–161 n. Chr.) bezeugt.

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Vgl. G.G. Gounaris/E.G. Gounari, Philippi, 47. Ein Tempel für die Kapitolinische Trias Minerva, Jupiter und Juno ist mit Sicherheit anzunehmen; er kann unter der um 500 n. Chr. errichteten Basilika A vermutet werden; so W. Zahrnt, Römer, 84.

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Die Situation, am Rande des römischen Imperiums zu leben (die direkt angrenzende Provinz Thrakien war erst 45 n. Chr. errichtet worden), führte nicht nur bei den Angehörigen der Stadtelite, sondern den römischen Ein‐ wohnern insgesamt zu einem verstärkten Bewusstsein römischer Identität. Bezeichnend hierfür ist die Verehrung des typisch römischen Wald- und Feldgottes Silvanus, dessen Kult im gesamten griechisch-makedonischen Raum nur in Philippi nachweisbar ist. Der Kult des Silvanus gehörte nicht zu den sacra publica, d. h. den von einer Stadt offiziell unterhaltenen Kulten. Die cultores Silvani („Verehrer des Silvanus“) bildeten vielmehr einen Verein, der für den Kult verantwortlich war. In den erhaltenen Mitgliederlisten (ein epigraphischer Glücksfall), die natürlich in Latein gehalten sind, be‐ gegnen ganz überwiegend lateinische, nur einige wenige griechische, aber überhaupt keine thrakischen Namen. Mitglieder waren übrigens durchweg Personen mit niedrigem Einkommen; unter den 69 Mitgliedern der längsten Mitgliederliste sind allein 7 Sklaven. Neben den römischen Kulten gab es als griechischen Kult die weit verbreitete Verehrung des Dionysos, sodann den Kult der Diana/Artemis. In ihrer Verehrung trafen sich alle ethnischen Gruppen, insofern die latei‐ nisch-griechische Diana/Artemis mit der thrakischen Jagdgöttin Bendis gleichgesetzt werden konnte. Als genuin thrakische Gottheit ist vor allem der sog. „Thrakische Reiter“ zu nennen, der in Philippi unter dem Namen des „Heros Aulonites“ verehrt wurde. Für ihn gab es sogar offizielle Ehrungen seitens der (römischen!) Stadtverwaltung, und zwar durch die Stiftung eines Altars und eine Münzprägung. Zu erwähnen ist darüber hinaus die starke Isis-Verehrung in Philippi, während das Judentum hier überhaupt nicht vertreten war: Mehr als einige mit dem Judentum sympathisierende Frauen und deren Gebetsstätte außerhalb der Stadtmauer (Apg 16,13f) sind nicht nachweisbar. Trotz der ethnischen und religiösen Vielfalt war keine Stadt in Makedo‐ nien und Achaia so römisch wie Philippi. Mit diesem römischen Identitätsbe‐ wusstsein geriet Paulus offenbar sehr bald in Konflikt. Er wurde als jüdischer Missionar wahrgenommen, der „Sitten (verkündigt), die zu übernehmen oder zu praktizieren uns, die wir römische Bürger sind, nicht gestattet ist“ (Apg 16,21). Mit Gefängnisaufenthalt und Ausweisung endete dann auch vorzeitig der Aufenthalt des Paulus in Philippi. Vor dem Hintergrund der spezifischen Bedeutung des (römischen) Bürgerrechts in der Kolonie Phi‐ lippi ist es auch interessant zu lesen, wie Paulus in Phil 3,20 das Thema Bür‐ gerrecht und Bürgerschaft (πολίτευμα) aufgreift − und modifiziert („unser

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πολίτευμα ist im Himmel …“). Die Distanz der Angehörigen der christlichen Gemeinde vom offiziellen, lateinisch sprechenden Philippi zeigt sich auch darin, dass Paulus an die Gemeinde selbstverständlich griechisch schreibt. Griechisch war Primärsprache für den größten Teil der nichtrömischen Einwohner Philippis – und Kommunikationsmittel für die verschiedenen ethnischen Gruppen insgesamt. 8 Thessaloniki (Θεσσαλονίκη)

Thessaloniki, heute die zweitgrößte Stadt Griechenlands48, liegt im nord‐ westlichen Winkel des Ägäischen Meeres, am Thermaischen Golf. 20 km westlich mündet der Axios, der von Norden kommend gute Verbindungs‐ möglichkeiten in den südlichen Balkanraum eröffnet. Die Stadt wurde 315 v. Chr. von Kassander, einem der Generäle Alexanders d.Gr., die nach dessen Tod 323 v.Chr. um Macht und Herrschaftsgebiete kämpften, gegrün‐ det und nach dessen Ehefrau Thessalonike, einer Halbschwester Alexanders, benannt. Die Neugründung war erfolgreich, da Thessaloniki faktisch den einzigen zentral gelegenen Seehafen des Königreichs Makedonien an der Ägäis besaß. Hauptstadt blieb jedoch Pella. Das änderte sich 148 v. Chr. mit Errichtung der römischen Provinz Macedonia. Jetzt wurde Thessaloniki Sitz des Statthalters. Eine wirtschaftliche Förderung bedeutete auch der Bau der via Egnatia, mit dem bald nach 148 v. Chr. unter dem Statthalter Gnaius Egnatius begonnen wurde. Die Straße, die in unmittelbarer Nähe im Nordwesten an der Stadt vorbeiführte,49 hatte zunächst einen rein militärischen Zweck: Sie ermög‐ lichte schnelle Truppenverschiebungen innerhalb der Provinz, verband sie doch die Westküste an der Adria mit deren Zentrum und dieses wiederum mit dem östlichen Bereich bis zur Propontis (heute: Marmarameer). Außer‐ dem wurden dadurch Truppenverlegungen von Italien bis nach Kleinasien wesentlich erleichtert. Aber diese überregionale Straßenverbindung för‐ derte natürlich zugleich den Austausch ziviler Handelsgüter. Thessaloniki blühte daher unter römischer Herrschaft auf, was auch mit starkem Zuzug

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Erwähnung im NT: Apg 17,1.11.13; Phil 4,16; 2Tim 4,10. Thessalonikeus: Apg 20,4: 27,2; 1 Thess 1,1; 2Thess 1,1. Zur Lage der Via Egnatia vgl. Ch. vom Brocke, Thessaloniki, 188–199. Die heute als „Egnatia“ bezeichnete Ost-West-Achse in der Innenstadt Thessalonikis entspricht nicht dem Verlauf der antiken Via Egnatia.

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aus anderen Teilen des östlichen Mittelmeerraums verbunden war, ohne dass die Stadt dadurch ihren griechischen Charakter verlor. Im Bürgerkrieg nach der Ermordung Cäsars 44 v. Chr. stand Thessaloniki auf der Seite des Marcus Antonius und des Octavian (des späteren Augustus) und damit auf der Seite der späteren Sieger. Hierfür wurde es mit dem Status einer civitas libera, einer ‚freien Stadt‘ belohnt, erhielt also ein besonders hohes Maß an innerer Autonomie und besaß Steuerfreiheit. Charakteristisch für Thessaloniki ist die Kontinuität seiner Entwicklung. In seiner Geschichte gab es keine Brüche durch eine Neugründung als römische Kolonie (so Philippi) oder gar durch Zerstörung und 100-jährige Verwüstung (so Korinth). So konnte es sich seine griechische Identität in der Sprache und auch in den politischen Institutionen bewahren. Geleitet wurde die Stadt von einem Kollegium von „Politarchen“, was in Apg 17,6 zutreffend vorausgesetzt wird. Die Einwohner mit städtischem Bürgerrecht waren, wie in griechischen Städten weithin üblich, in „Phylen“ (wörtlich: „Stämme, Volksgruppen“) eingeteilt.50 Politisches Zentrum der Stadt war in römischer Zeit die sog. „Römische Agora“ (eine hellenistische Agora ist anzunehmen, aber nicht mehr lokalisierbar). Das religiöse Leben spiegelt die Identität Thessalonikis deutlich wider. Einerseits sind die für eine griechische Stadt zu erwartenden Kulte vertreten, insbesondere der des Dionysos, dessen Tempel allerdings bislang nicht lo‐ kalisiert werden konnte. Andererseits gab es mit der Verehrung des letztlich rätselhaft bleibenden Kabirus einen für Thessaloniki sehr spezifischen Kult. Der Kult der Kabiren, die sonst nur zu zweit in Erscheinung treten, ist im Ägäisraum durchaus verbreitet (bekannt ist vor allem ihre Rolle in den Mysterien von Samothrake), doch ist ihre jeweilige lokale Ausprägung (und Identifikation mit anderen Gottheiten) sehr unterschiedlich. Im 1. Jh. n. Chr. erscheint der Kabirus (allein!) auf lokalen Münzen Thessalonikis, für das 3. Jh. n. Chr. ist ein Heiligtum des Kabirus zu erschließen, der sogar als ἁγιώτατος πάτριος θεός („allerheiligster heimatlicher Gott“) bezeichnet wird.51

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In 1 Thess 2,14 spricht Paulus von der Bedrückung der Gemeinde durch die „eigenen συμφυλέται (Mitbürger)“; v. Brocke, Thessaloniki, 152−166 folgert daraus: „ebenso wie ihre Verfolger gehörten auch die Verfolgten zu den Vollbürgern der Stadt“ (166). Das würde allerdings voraussetzen, dass Paulus diesen äußerst seltenen Begriff politisch exakt verwendete, was keineswegs sicher ist. IG X 2,1 nr. 199, vgl. v. Brocke, Thessaloniki, 119f.

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Wesentlich besser zu fassen ist der Sarapis- und Isiskult. Seit dem 3. Jh. v. Chr. gab es einen Tempelbezirk, in dem Sarapis, Isis, Anubis und Harpokrates (sowie weitere Gottheiten) verehrt wurden. Dieses Serapeion existierte bis ins 3. Jh. n. Chr. Angesichts der engen Bindung an Rom überrascht es nicht, dass auch der Kaiserkult früh in Thessaloniki nachweisbar ist: Aus einer Inschrift, verfasst in der Zeit des Augsutus (27 v. ‒ 14 n. Chr.), geht hervor, dass es einen Tempel des Divus Iulius, des vergöttlichten Cäsar, gab, und auch mit der kultischen Verehrung der Dea Roma und des Augustus ist zu rechnen. Die Rolle als Verwaltungssitz und Handelsplatz führte zum Zuzug zahlrei‐ cher auswärtiger Personen, die ein dauerhaftes Bleiberecht erhielten, jedoch nicht das städtische Bürgerrecht besaßen. Dazu gehörten u. a. eine Vereini‐ gung römischer Händler und die jüdische Minorität. Jüdische Präsenz ist inschriftlich zwar erst für das 3. Jh. n. Chr. nachweisbar, aber bereits für das 1. Jh. n. Chr. vorauszusetzen. Mit der jüdischen Gemeinde geriet Paulus in Konflikt, und das bedeutet: Er ist in der jüdischen Gemeinschaft selbst oder in deren unmittelbarem Umfeld missionarisch tätig geworden, was aus jüdischer Sicht als abträgliche Konkurrenz wahrgenommen wurde. Dass Paulus sein missionarisches Wirken in einer neuen Stadt häufig in einer Synagoge beginnt, wie Lukas es darstellt, wirkt oft schematisch und gilt daher z.T. als historisch fragwürdig, zumal deutlich ist, warum Lukas darauf so großen Wert legt (vgl. Apg 2,39; 13,46). Doch sind die Verläufe der Konflikte des Paulus mit den jüdischen Gemeinden in Thessaloniki, Beröa und Korinth jeweils unterschiedlich, so dass anzunehmen ist, dass hier tatsächliche Erinnerungen der betreffenden Gemeinden an ihre Grün‐ dungsphase verarbeitet worden sind. Im Übrigen bestätigt 2 Kor 11,24, dass Paulus innerhalb jüdischer Gemeinden aktiv geworden ist (und dabei in Konflikte geriet). Die jüdische Gemeinde verklagte Paulus bei der politischen Leitung der Stadt, und hatte damit insofern Erfolg, als Paulus ungeplant frühzeitig die Stadt verlassen musste. Der genaue Vorgang ist nicht mehr sicher rekonstruierbar: Eine von ‚den Juden‘ aufgestachelte Menge – so Lukas – wollte Paulus und Silas im Hause des Jason, ihres Gastgebers, ergreifen und vor das „Volk“ bringen (Apg 17,5–9). Da die Gesuchten nicht anwesend waren, wurde Jason zu den Politarchen gebracht, die ihn gegen Hinterlegung einer Kaution freiließen. Der Zweck der Kaution wird allerdings nicht genannt. Sollte Jason dafür

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sorgen, dass sich Paulus den Politarchen stellte,52 oder sollte er sicherstellen, dass Paulus umgehend die Stadt verließ? Die Ausweisung war sicher die gegebene Möglichkeit für die Stadtverwaltung, einen fremden Unruhestifter loszuwerden. Die jüdische Gemeinde in Thessaloniki war also stark genug, um Paulus aus der Stadt zu verdrängen – was z. B. der jüdischen Gemeinde von Korinth nicht gelang. Bald danach versuchte Paulus, wieder nach Thessaloniki zurückzukehren, doch erwies sich dies als unmöglich (1 Thess 2,18), so dass er ersatzweise Timotheus schicken musste (1 Thess 3,1−8). Die Mitglieder der neu gegründeten christlichen Gemeinde, die in Thessaloniki ansässig waren, konnten dagegen in der Stadt wohnen bleiben, auch wenn sie seitens ihrer ‚Mitbürger‘ (συμφυλέται) offenbar unter erheblichem Druck standen (1 Thess 2,14). Offensichtlich war es aber für Paulus nicht ausreichend, nur über Timotheus den Kontakt mit der gerade gegründeten Gemeinde aufrechtzuerhalten. Nachdem er auch Beröa verlassen musste, verfasste er einen Brief an die Gemeinde in Thessaloniki, um sie zu stärken und Fragen und Probleme der Gemeinde zu beantworten ‒ es ist der heutige 1. Thessalonicherbrief.53 Damit war der erste Schritt getan, der zu einer reichen brieflichen Kommunikation des Paulus mit seinen Gemeinden führte. 9 Beröa (Βέροια)

Beröa54 steht in der Reihe der paulinischen Gemeindegründungen in Make‐ donien im Schatten von Philippi und Thessaloniki, allerdings nur deshalb, weil es keinen Brief des Paulus in die dortige Gemeinde gibt. Das allein besagt jedoch noch nichts über deren Bedeutung. Beröa war z.Zt. des Paulus keineswegs eine unbedeutende Stadt. Sie liegt rund 60 km Luftlinie westsüdwestlich von Thessaloniki, 35 km Luftlinie

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So v. Brocke, Thessaloniki, 265−267. Als Abfassungsort kommt am ehesten Korinth in Betracht; in 1Thess 3,1f erwähnt Paulus seinen Aufenthalt in Athen, und dass er von dort Timotheus nach Thessaloniki gesandt hat. Wenn die in Apg 18,5 erwähnte Rückkehr von Timotheus und Silas aus Makedonien sich auf diese Reise bezieht, dann ist 1Thess die Reaktion des Paulus auf den Bericht des Timotheus – und damit in Korinth verfasst; als Abfassungszeit ergibt sich damit sehr wahrscheinlich 51 n. Chr. Heute eine Kleinstadt im Verwaltungsbezirk Imathia, meist als Véria transkribiert. Erwähnung im NT: Apg 17,10.13; Beroiaios: 20,4.

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vom Ägäischen Meer entfernt, und war der wichtigste Ort des südlichen, traditionell bis zum Olymp reichenden Teils Makedoniens. Beröa wird bereits im 4. Jh. v. Chr. erwähnt, wurde in hellenistischer Zeit von den makedonischen Königen gefördert und war ab 148 v. Chr. Teil der römischen Provinz Macedonia. Es erlebte in dieser Zeit einen bemerkenswerten Auf‐ schwung, und im 1. Jh. n. Chr. wurde es sogar Sitz des Landtags der Provinz, des makedonischen ‚Koinon‘ (Bund).55 Das antike Beröa ist nahezu völlig unter der modernen Bebauung verschwunden, so dass die innere Struktur der Stadt fast ausschließlich aus den (insbesondere für das 1. Jh. n. Chr.) recht begrenzten Inschriften erhoben werden kann. Die politischen Strukturen entsprachen denen anderer griechischer Städte: Beröa hatte wie diese eine Volksversammlung (démos), die alle Einwohner mit städtischem Bürgerrecht umfasste, eine Ratsversammlung (boulé) und einen Magistrat aus mehreren Politarchen. Das religiöse Leben wird dem vergleichbarer Städte annähernd entsprochen haben. Wie in Thesssaloniki hatten sich in Beröa u. a. römische Händler niedergelassen. Außerdem gab es eine jüdische Gemeinde. Paulus kam nicht freiwillig nach Beröa, sondern machte in der Stadt Station, um von hier aus die Rückkehr nach Thessaloniki vorzubereiten, was aber misslang (1 Thess 2,17f). Gleichzeitig wurde Paulus auch hier missionarisch aktiv, offenbar wiederum (auch) in der jüdischen Gemeinde und deren Umfeld. In diesem Falle stieß sein Wirken (folgt man der Dar‐ stellung von Apg 17,11−15) auf positive Resonanz, doch schaltete sich die jüdische Gemeinde von Thessaloniki ein, die hier eine Art Oberaufsicht praktizierte, und Paulus war gezwungen, die Stadt zu verlassen. Dabei sind die Einzelheiten noch undeutlicher als im Falle Thessalonikis. Dass die Stadtbehörden nicht erwähnt werden, bedeutet nicht, dass sie nicht involviert waren. Paulus konnte in dieser offenbar recht kurzen Frist doch eine (wenn auch zahlenmäßig vermutlich recht begrenzte) christliche Gemeinde begründen. Immerhin war auch die Gemeinde von Beröa einige Jahre später an der Kollekte der paulinischen Gemeinden für die Gemeinde in Jerusalem betei‐ ligt: Laut Apg 20,4 gehörte zu der Delegation, die die Kollekte überbringen sollte, neben zwei Vertretern aus Thessaloniki auch ein Delegierter aus

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F. Papazoglou, Villes, 143 rechnet damit, dass dies bereits unter Augustus (27 v.– 14 n. Chr.) erfolgte. Belege gibt es aber erst aus der 2. Hälfte des 1. Jh. n. Chr.

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Beröa, Sopatros, der Sohn des Pyrrhos.56 Wenn Paulus in seinen Briefen nach Korinth von der Beteiligung ‚Makedoniens‘ an der Kollekte spricht (2Kor 8,1‒5; 9,1‒5), ist dabei also nicht nur an Philippi und Thessaloniki, sondern auch an Beröa zu denken. 10 Korinth (Κόρινθος) mit Kenchreai (Κεγχρεαί)

Wenn man vom antiken Korinth spricht,57 muss man eigentlich von zwei Städten sprechen, der griechischen Stadt, die im Zuge der endgültigen Eroberung Griechenlands durch Rom 146 v. Chr. zerstört wurde, und der 44 v.Chr. mit gleichem Namen an gleicher Stelle gegründeten römischen Kolonie. Entscheidend für die Entstehung und Entwicklung beider Städte war deren geographische Lage südwestlich des „Isthmos“ (Landenge) von Korinth, der die einzige Landbrücke zwischen der Halbinsel Peloponnes und dem griechischen Festland bildet und an der schmalsten Stelle nur 6,3 km breit ist. Korinth konnte nicht nur den Isthmos militärisch kon‐ trollieren, es lag zudem am Fuße des 575 m hohen Felsens Akrokorinth, der hervorragende Verteidigungsmöglichkeiten bot. Hinzu kommt, dass Korinth mit zwei Häfen ausgestattet war, Lechaion im Norden (3 km vom Stadtzentrum entfernt), das am Korinthischen Golf liegt, und Kenchreai im Osten (10 km Luftlinie entfernt) am Saronischen Golf. Damit hatte Korinth eine Seeverbindung nach Westen in die Adria − und dadurch mit dem

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Nachdem Paulus auch Beröa unfreiwillig verlassen musste, war Athen die nächste Station. Nach 1Thess 3,1f schickte er von dort Timotheus nach Thessaloniki, um mit der dortigen Gemeidne in Kontakt zu bleiben. Es ist plausibel anzunehmen, dass Timotheus bei dieser Reise auch bei der Gemeinde in Beröa Station machte, die auf dem Wege nach Thessaloniki lag. Lk lokalisiert in Athen, dem Traditionsort der griechischen Philosophie, die programmatische Rede des Paulus auf dem Areopag (Apg 17,22‒31), doch ist diese literarisch und theologisch ein Werk des Lk. Zu einer Gemeindegründung ist es in Athen offenbar nicht gekommen, und es ist umstritten, wie belastbar die Angaben von Apg 17,31 über ein einzelnes bekehrtes Ehepaar tatsächlich sind. Vgl. J. Roloff, Die Apostelgeschichte (NTD 5), Göttingen 2(18)1988, 254: „Rein historisch gesehen, war der Aufenthalt des Paulus in Athen kaum mehr als eine beiläufige Episode ohne erkennbare Nachwirkungen. Paulus strebte … in das Zentrum der Provinz Achaia, nach Korinth.“ Vom antiken Korinth zu unterscheiden ist (Nea) Korinth, das 1858 gegründet wurde, als nach einem schweren Erdbeben die Stelle der antiken Stadt aufgegeben wurde. Die neue Ortslage befindet sich 6 km nordöstlich, direkt am Golf von Korinth, 3 km südwestlich des Westendes des 1893 fertiggestellten Kanals von Korinth. Erwähnung im NT: Apg 18,1; 19,1; 1Kor 1,2; 2Kor 1,1.23; 2Tim 4,20. Korinthioi: Apg 18,8; 2Kor 6,11.

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gesamten westlichen Mittelmeer − und zugleich Zugang zur Ägäis und somit zum gesamten östlichen Mittelmeerraum. Schon im 6. Jh. v. Chr. wurde auf dem Isthmos ein Schiffskarrenweg (díol‐ kos) angelegt, um Waren und (kleinere) Schiffe über Land zu transportieren und so den oft gefährlichen und mühsamen Weg rund um die Südspitze der Peloponnes zu vermeiden. Kanalbauten wurden mehrfach geplant und unter Nero (54−68 n. Chr.) auch tatsächlich begonnen. Mit seinem Tode wurde das Projekt jedoch abgebrochen. Im 8. Jh v. Chr., also bereits in archaischer Zeit, gegründet, entwickelte sich Korinth bald zu einer wichtigen Stadt, hatte schon im 7. und 6. Jh. v. Chr. eine erste große Blütezeit und zählte auch in klassischer und hellenistischer Zeit zu den führenden griechischen Städten mit den entsprechenden glänzenden Bauten und Stadtmauern. Von besonderer Bedeutung waren die Isthmischen Spiele im Poseidonheiligtum auf dem Isthmos, die alle zwei Jahre stattfanden und mit den Spielen von Olympia, Delphi und Nemea die vier klassischen panhellenischen Agone (Wettkämpfe) bildeten.58 Im 2. Jh. v. Chr. war Korinth der letzte Hort des griechischen Widerstands gegen das übermächtige Rom, was 146 v. Chr. zur Zerstörung und zum Ende der Stadt führte (gleichzeitig mit der Zerstörung von Roms Erzfeind Karthago). Die Bevölkerung wurde versklavt bzw. vertrieben, das Gebiet zum ager publicus, also zum Eigentum Roms erklärt und der benachbarten Stadt Sikyon zur Verwaltung übertragen. 44 v. Chr. begann die Geschichte des römischen Korinth, dessen Neugrün‐ dung (wiederum parallel zu Karthago) noch von Cäsar beschlossen worden war. In den folgenden Jahren, insbesondere unter Augustus, entwickelte sich eine aufstrebende Stadt mit dem schönen Namen Colonia Laus Iulia Corin‐ thiensis – so diente die Neugründung dem „Lob des julischen Geschlechts“! Die römische Neugründung war als colonia organisiert. Bürgerrecht hatten nur die hier angesiedelten römischen Kolonisten, zu einem erheb‐ lichen Teil Freigelassene und landlose Einwohner aus Rom und Italien. Der Wiederaufbau erfolgte einerseits in partieller Anknüpfung an die Vorgängerstadt, andererseits entstand ein neues, römisch geprägtes urbanes Zentrum, das auch bald den übrigen Städten der Region den Rang ablief. Römisches Gepräge trug das Forum, das an der Stelle einer griechischen Platzanalage errichtet wurde. Einerseits wurde eine großartige Säulenhalle 58

Vgl. 1 Kor 9,24‒27: Paulus erwähnt (metaphorisch) die Disziplinen von Lauf und Faustkampf; der isthmische Agon umfasste Wettlauf, Ring- und Faustkampf und Wagenrennen, vgl. I. Weiler, Sport, 131‒133.

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aus der griechischen Zeit als Südbegrenzung (wieder-)verwendet, anderer‐ seits bekam das Forum mit Podientempeln an der Westseite und einer Basilika an der Ostseite einen typisch römischen Charakter. Am Forum lagen auch die wichtigsten Verwaltungsgebäude, die curia (Versammlungs‐ gebäude des Stadtrats) und das tabularium (Stadtarchiv). Römisch war auch die Rednertribüne (lat.: rostra; griech.: βῆμα/bema „Plattform“), die in der zentralen Ost-West-Achse des Forums errichtet wurde und auf der auch die Apg 18,12−18 geschilderte Gerichtsverhandlung gegen Paulus vor dem Statthalter Gallio stattfand. Hinzu kam auf der gleichen Achse ein Monu‐ ment (kein Tempel!) zur Verehrung des Kaisers. Im Westen, oberhalb des Forums, wurde ein großer Kultbezirk errichtet, vermutlich für die kultische Verehrung der Octavia minor (69‒11/10 v. Chr.), deren Tempel „oberhalb des Forums“ Pausanias, II 3,1, erwähnt. Als römische Kolonie besaß Korinth keinen Tempel für einen lebenden Kaiser ‒ im lateinischen Bereich wurde solche Kultstätten erst nach der Divinisierung des Herrschers errichtet. Aber Korinth hatte einen Tempel für den Jupiter Capitolinus.59 In der Nähe des Forums befand sich auch eine typisch römische Einrichtung, das macellum, eine Fleisch- und Fischmarktanlage für gehobene Ansprüche.60 Zugleich wurde bewusst an die Traditionen der vorrömischen Stadt angeknüpft. So fanden sehr bald die Isthmischen Spiele wieder unter der Leitung Korinths statt, wenn auch u. U. nicht sofort im Poseidonheiligtum auf dem Isthmos. Der römische Respekt vor den kultischen Traditionen Griechenlands führte auch dazu, dass mehrere griechische Kultstätten wie‐ der reaktiviert wurden, so das Asklepiosheiligtum im Norden der Stadt, das Aphroditeheiligtum auf dem Felsen von Akrokorinth, das Demeterheiligtum an dessen Fuß und insbesondere der Apollontempel im Stadtzentrum. Das offizielle Korinth war lateinischsprachig und römisch orientiert, aber die Römer hatten sich längst die griechische Kultur angeeignet. Wirtschaft‐ lich war Korinth ein Magnet; gerade in der Mitte des 1. Jh. n. Chr., also zur Zeit des Paulus, befand es sich im Aufschwung. Dies zog viele Zuwanderer aus dem gesamten östlichen Mittelmeerraum an, wodurch Griechisch als Handelssprache, aber auch in weiten Teilen der Bevölkerung als primäre 59 60

Pausanias, II 4,5. Der Tempel lag nicht am Forum, sondern „oberhalb des Theaters“. Es wurde nach dem Erdbeben von 77 n. Chr. in einen Kultbezirk für Apollon umgewan‐ delt (sog. Peribolos des Apollon), vgl. D.-A. Koch, Hellenistisches Christentum (NTOA 65), Göttingen 2008, 195. Zum macellum, in dem durchaus auch Opferfleisch aus dem nahegelegenen Apollontempel zum Verkauf gelangen konnte, vgl. die Bemerkung des Paulus in 1 Kor 10,25f.

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Umgangssprache vorherrschend war. Die Handwerks- und Wirtschaftsme‐ tropole Korinth wurde 44 n. Chr., als Achaia von Makedonien abgetrennt und zur selbständigen Provinz erhoben wurde, Sitz des Statthalters und damit Verwaltungszentrum der Provinz. Zu den zahlreichen zugewanderten Gruppen gehörte auch die jüdische Gemeinde, in der die Tätigkeit des Paulus offenbar recht polarisierend wirkte: Einerseits konnte er den Synagogenvorsteher Krispos für den christlichen Glauben gewinnen (Apg 18,8, vgl. 1 Kor 1,14), andererseits wurde er von den nichtchristlich bleibenden Juden beim Statthalter Gallio verklagt. Dass sie damit keinen Erfolg hatten, liegt sicher nicht an einer vermeintlich christenfreundlichen Haltung des Gallio, sondern zeigt eher, dass die jüdische Gemeinde in Korinth nicht den gleichen Einfluss hatte, den ihre Glaubensbrüder in Thessaloniki besaßen. Der Charakter der rasch aufstrebenden, aber in sich heterogenen Han‐ delsstadt Korinth spiegelt sich auch in der jungen christlichen Gemeinde wider. In keinem anderen Brief des Paulus erfährt der Leser von so vielen unterschiedlichen Problemen und Entwicklungen wie im 1. Korintherbrief: Gruppenbildungen und ekstatische Gemeindeversammlungen, ethische Konflikte und rasch wechselnde persönliche Loyalitäten kennzeichnen die korinthische Gemeinde. Eine besondere Bedeutung hatte der östliche Hafen, Kenchreai (Κεγχρεαί).61 In einer natürlichen Bucht gelegen, besaß der Hafenort (laut Pausanias II 2,3) einen Aphroditetempel und gegenüber am anderen Ende des Hafens ein Asklepios- und ein Isisheiligtum. Das Aphroditeheiligtum ist bislang nicht lokalisiert, das Isisheiligtum kann mit dem Befund auf der Südmole in Verbindung gebracht werden, wo u. a. ein Brunnenhaus nachgewiesen ist. Außerdem sind Gebäudereste vorhanden, die durchaus als Versammlungsraum mit Kultstatue und als Tempel gedient haben können. Dass hier im 5. Jh. n. Chr. eine Kirche errichtet wurde, spricht keineswegs gegen die Annahme eines Isisheiligtums. Allerdings fehlt Fundmaterial, das die Nutzung der Anlage endgültig sichern könnte. Kenchreai wurde in den 50er Jahren des 1. Jh. n. Chr. stark ausgebaut, was auch für das Isisheiligtum gelten dürfte. Diese Tempelanlage ist Schauplatz der einzigen antiken Schil‐ derung eines Isisfestes mit anschließender Mysterieneinweihung (Apuleius, Metamorphosen XI).

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Erwähnung im NT: Apg 18,18; Röm 16,1.

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Kenchreai war der Hafen, den Paulus passieren musste, wenn er zu Schiff nach Korinth kam oder die Stadt verließ. Das gilt nicht nur für die in Apg 18,18 erwähnte Abreise des Paulus nach dem Gründungsaufenthalt in Korinth, sondern auch für den in 2 Kor 2,1 vorausgesetzten Besuch „in Trauer“. In Kenchreai entwickelte sich auch eine christliche Gemeinde, in der, wie aus Röm 16,1−2 hervorgeht, eine Frau namens Phöbe eine bedeutende Rolle spielte. 11 Ephesos und die Provinz Asia 11.1 Ephesos (Ἔφεσος)

Nach griechischer Überlieferung geht die Geschichte der Stadt Ephesos62 auf ionische Siedler zurück, die sich im 11. Jh. v. Chr. nordöstlich der Insel Samos an einer Meeresbucht des kleinasiatischen Festlandes niederließen. Gute Seeverbindung in die Ägäis und eine ebenso gute Landverbindung ins Innere zeichneten diesen Siedlungsplatz aus. Allerdings trugen der Fluss Kaistros, der in die Bucht mündete, und einige weitere kleine Wasserläufe derart viel Sediment mit sich, dass der Hafen von Ephesos schon Mitte des 2. Jh. n. Chr. von Sinkstoffen gereinigt werden musste und im Mittelalter endgültig verlandete. Heute liegt die Küstenlinie 6 km (Luftlinie) weiter westlich. Identitätsstiftend war die Übernahme einer vorgriechischen anatolischen Muttergottheit, die von den griechischen Siedlern als Artemis verehrt wurde. Das Kultbild der Artemis Ephesia weist deutlich auf den anatolischen Ursprung der Gottheit hin:63 Sie steht frontal vor dem Betrachter, Sphingen und Greifen bevölkern das Gewand des blockartig gestalteten Unterkörpers; neben ihr stehen zwei Rehe, auf den Oberarmen tummeln sich zwei junge Löwen. Der Hals‐ schmuck kann variieren: Häufig ist der Zodiakos, die 12 Tierkreiszeichen, abgebildet; hinter dem Kopf erscheint eine Mondsichel. All das zeigt die Göttin als Herrin der Tiere und der Gestirne. Auch der Kopfschmuck kann wechseln. Am häufigsten ist die dreistöckige Ausführung mit (von 62 63

Erwähnung im NT: Apg 18,19.21.24; 19,1.17.26; 20,16.17; 1 Kor 15,32; 16,8; Eph 1,1; 1 Tim 1,3; 2 Tim 1,18; 4,12; Off 1,11; 2,1. Ephesios/Ephesioi: Apg 19,35; 21,29. Artemis Ephesiōn: Apg 19,28.34. Abbildung von fünf verschiedenen Ausführungen bei D.-A. Koch, Bilder, 23 (Abb. 10 und 11). 208−210 (Abb. 330–335).

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unten nach oben) Greifen, Sphingen und drei Tempelfronten, was auf den Artemistempel, das Hauptheiligtum von Ephesos, verweist. Besonders charakteristisch ist der Oberkörperbehang, der am ehesten als Behang mit den (Abbildungen von) Hoden geopferter Stiere zu deuten ist. Der Tempel der Artemis, nach kleineren Vorgängerbauten aus dem 8. bzw. 7. Jh. v. Chr. ab 560 v. Chr. errichtet und nach dem Brand von 356 v. Chr. erneuert, war einer der größten griechischen Tempel überhaupt. Mit sei‐ ner doppelten Ringhalle und seinen (nach Plinius d.Ä., nat. XXXVI 95 f.) insgesamt 117 Säulen galt er als eines der sieben Weltwunder (Anthologia Palatina IX 58). Das Artemision lag außerhalb der hellenistisch-römischen Stadt und war mit dieser durch eine knapp 3 km lange Prozessionsstraße verbunden. Dieser Tempel mit seiner außergewöhnlichen Kultstatue war Ziel eines ausgedehnten religiösen Pilgerwesens, und die Kultstatue wurde auch unzähligen Repliken reproduziert.64 Ephesos gehörte in der Kaiserzeit nach Rom und Alexandria und neben Antiochia am Orontes zu den vier größten Städten des Römischen Reiches. Seine Blüte erreichte es, wie viele andere Städte, im 2. Jh. n. Chr., aber schon im 1. Jh. n. Chr. war es von beeindruckender Größe. Es verfügte sogar über zwei Agoren, beide von beachtlichen Ausmaßen: eine Staatsagora im Stadt‐ zentrum mit einem großen Tempel (u. U. für den Divus Iulius, d. h. Cäsar), an der nördlichen Längsseite flankiert von einer prächtigen dreischiffigen Säulenhalle (der sog. „Königlichen Halle“, basiliké stoá), und die Tetragonos (viereckige) Agora genannte Handelsagora in Hafennähe. Den stadtseitigen Zugang zur Handelsagora bildete ein monumentales Tor, gestiftet von zwei kaiserlichen Freigelassenen. Zum Erscheinungsbild der Stadt schon im 1. Jh. n. Chr. gehörten natürlich auch ein Theater, Ehrenmonumente, ein Stadion, Gymnasien und Badeanlagen, auch wenn viele der heute noch sichtbaren Überreste aus dem 2. Jh. n. Chr. stammen.65 Als großes Handelszentrum zog Ephesos viele Zuwanderer an, sowohl aus dem Hinterland als auch aus Rhodos, Alexandria und Rom, von wo vor allem Kaufleute kamen. Auch mit einer jüdischen Präsenz ist zu rechnen, obwohl sie nicht so stark gewesen sein dürfte wie in manchen Städten im Landesinneren (Akmonia, Sardeis, Aphrodisias).

64 65

So stand, nach Pausanias, II 2,6, auf dem Forum von Korinth das Standbild einer „ephesischen Artemis“. Der schwunghafte Devotionalienhandel am Artemision ist der Hintergrund der Szene von Apg 19,23‒40. Besonders bekannt die Bibliothek des Kelsos (Anfang 2. Jh. n. Chr.).

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Wie groß die Erfolge des Paulus in Ephesos waren, der hier mehr als zwei, u. U. auch drei Jahre blieb (Apg 19,8.10), ist schwer zu beurteilen und dementsprechend umstritten. Immerhin ist bemerkenswert, dass Paulus nach Apg 19,9 öffentlich in der „Schule des Tyrannos“ Lehrvorträge hielt, d. h. die Kommunikationsform antiker Rhetoren für die Verbreitung der christlichen Botschaft nutzte.66 Sicher ist, dass neben Paulus noch Apollos in Ephesos wirkte, möglicherweise auch noch weitere frühchristliche Missio‐ nare. Jedenfalls kann Paulus nicht als einziger Gründer „der“ christlichen Gemeinde von Ephesos gelten. Auch die Konflikte, die es sicher gab, bleiben undeutlich, nicht nur in 1 Kor 15,32 („in Ephesos habe ich mit wilden Tieren gekämpft“), sondern auch in der berühmten Szene im Theater von Ephesos, wo laut Apg 19,23−40 die Silberschmiede, die Devotionalien für die Besucher des Artemistempels herstellten, einen Aufstand inszenierten. Diese Szene enthält zwar viel Lokalkolorit, bleibt aber in vielen Einzelheiten recht undeutlich, so dass sie nur schwer historisch auszuwerten ist. Es gibt außerdem deutliche Hinweise, die die Annahme einer Haft des Paulus in Ephesus nahelegen.67 11.2 Die Gemeinden im Lykostal: Kolossä (Κολοσσαί), Laodicea (Λαοδίκεια) und Hierapolis (Ἱεράπολις)

Der deuteropaulinische Kolosserbrief setzt in Kolossä, Laodicea und Hie‐ rapolis christliche Gemeinden voraus.68 Sie sind offenbar alle von einem oder mehreren Schülern des Paulus gegründet worden, vermutlich von dem zweimal betont erwähnten Epaphras (Kol 1,7; 4,12). Auch Philemon und sein Sklave Onesimos, die beide von Paulus selbst für den christlichen Glauben gewonnen wurden, sind in dieser Region beheimatet. Alle drei Städte liegen in der Landschaft Phrygien, rund 170 km Luftlinie von der Küste entfernt. Sie liegen relativ dicht beieinander (10–20 km voneinander entfernt)69 im fruchtbaren Tal des Lykos, eines Nebenflusses 66

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Bei der σχολὴ τοῦ Τυράννου dürfte es sich um ein Lehrgebäude gehandelt haben, das entweder einem Besitzer namens Tyrannus gehörte oder nach einem bekannten Lehrer benannt worden ist; in welchem zeitlichen Umfang Paulus dieses Gebäude benutzen konnte und ob es ihm unentgeltlich zur Verfügung stand oder nicht, muss offen bleiben. Vgl. Koch, Geschichte, 307f. Erwähnung im NT: Kolossai Kol 1,2; Laodicea Kol 2,1; 4,13.15.16; Off 1,11; 3,14; Hierapolis Kol 4,13. Laodicea (zur Unterscheidung von anderen gleichnamigen Orten: „Laodicea am Lykos“) liegt 6 km Luftlinie nördlich von Denizli, Kolossä 15 km östlich von Denizli und 3 km nördlich von dem Dorf Honaz. Hierapolis liegt 10 km nördlich von Laodicea. Als

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des Mäander. Es waren kleinere, aber im 1. Jh. n. Chr. durchaus blühende Städte, wobei Kolossä bereits im 4. Jh. v. Chr. erwähnt wird, während Laodicea und Hierapolis hellenistische Gründungen sind. Allerdings haben alle drei Städte 60 n. Chr. schwer unter einem heftigen Erdbeben gelitten. Hierapolis und Laodicea wurden wieder aufgebaut, wobei für Hierapolis die Unterstützung durch Nero überliefert ist. Für Kolossä gibt es nur noch sehr vereinzelte Nachrichten aus dem 2. Jh. n. Chr., so dass die Annahme nahe‐ liegt, dass es nach dem Erdbeben wenn nicht endgültig, so doch zumindest zeitweilig verlassen wurde.70 Da der Siedlungshügel von Kolossä, anders als die Ortslagen von Hierapolis und Laodicea, archäologisch überhaupt nicht erforscht ist, lässt sich diese Annahme jedoch nicht überprüfen. Laodicea und Hierapolis haben die für eine hellenistisch-römische Stadt charakteris‐ tischen öffentlichen Bauten: Agora, Tempelanlagen, Theater, Stadion und Thermen. Gleiches ist auch für Kolossä vorauszusetzen.71 Bemerkenswert sind in Hierapolis die ausgedehnten Nekropolen. Allein die Nordnekropole umfasst mehr als 2000 Grabmäler aus der Zeit vom 2. Jh. v. Chr. bis zum 3. Jh. n. Chr. In dieser Nekropole gibt es auch mehrere, z.T. eindrucksvolle jüdische Grabmäler. Dagegen ist für Laodicea die Präsenz einer jüdischen Gemeinde bislang nur literarisch bezeugt (Cicero, Pro Flacco 68). 11.3 Alexandria Troas (Ἀλεξάνδρεια Τρῳάς)

Eine weitere ‚Paulusstadt‘ in der Provinz Asia ist Alexandria Troas.72 Die Stadt wurde 306 v. Chr. von Antigonos I., einem der Diadochen Alexanders

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touristisches Ziel ist Hierapolis unter dem Namen Pamukkale bekannt. Pamuk-kale (türkisch: „pamuk“ = Baumwolle; „kale“ = Burg, Schloss, also „Baumwollschloss“) ist die bildhafte türkische Bezeichnung für die blendend weißen Kalkterrassen unterhalb von Hierapolis. Das hieße, dass die Adressierung des Kolosserbriefes fiktiv ist und faktisch eher an die anderen Gemeinden im Lykostal gerichtet ist. Die Mulde des Theaters zeichnet sich noch deutlich im Gelände ab. Im NT nur abgekürzt Τρῳάς genannt, Erwähnung im NT: Apg 16,8.11; 20,5.6; 2 Kor 2,12; 2 Tim 4,13. Τρῳός (fem.: Τρῳάς) ist eigentlich Adjektiv: „troisch“, und ἡ γῆ Τρῳάς bedeutet „das troische Land“, die Landschaft „Troas“. Die Stadtgründung „Alexandria“ erhielt das Adjektiv Τρῳάς zur Unterscheidung von anderen gleichnamigen Städten. Τρῳάς allein kann daher formal beides bezeichnen, die Stadt und die Landschaft. Im NT ist in der Regel eindeutig die Stadt gemeint, so Apg 16,8; 20,5 (dort jeweils ohne Artikel; vgl. Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 182001, § 261.1). Wenn in Apg 20,6 und 2 Kor 2,12 der Artikel gebraucht wird, muss jedoch nicht automatisch die Landschaft gemeint sein, da der Artikelgebrauch bei Ortsnamen sehr schwankend ist (vgl. Apg 20,13−15; 2,1).

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des Großen, unter dem Namen Antigoneia gegründet und kurz danach von Lysimachos, einem anderen Diadochen, in Alexandreia Troas umbenannt. Die Lage der Stadt war nahezu einmalig: Die Hafenstadt im Nordwesten der Provinz Asia lag nur 27 km Luftlinie südlich des Hellespont (heute: Dar‐ danellen), der wichtigen Durchfahrt von der Ägäis zum Schwarzen Meer.73 Hier begannen die Schiffsrouten nach Nordosten ins Schwarze Meer und nach Süden durch die Ägäis. Gleichzeitig war Alexandreia Troas der Aus‐ gangspukt für die kürzeste Seeverbindung von Kleinasien nach Makedonien (nach Neapolis, dem Hafen von Philippi) und dort zur wichtigen Via Egnatia, die bis zur Adria führte. Die Stadt blühte schnell auf und wurde aufgrund ihrer verkehrstechnisch äußerst günstigen Lage spätestens 12 v. Chr. zur römischen Kolonie. Sie bekam die damit verbundenen Privilegien (z. B. Steuerfreiheit) und nannte sich jetzt Colonia Alexandria Augusta Troas. Es muss sich im 1. und 2. Jh. n. Chr. um eine florierende Großstadt gehandelt haben. So umfasste die rund 8 km lange Stadtmauer ein Gebiet von rund 400 ha.74 Erste Grabungen haben entsprechende Bauten (Stadttore, Tempel, Odeion, Thermenanlage) zu Tage gefördert. Die verkehrstechnisch einmalige Lage der Stadt spiegelt sich auch im Leben des Paulus wider. Am Beginn seiner eigenständigen Missionstätigkeit steht die Überfahrt von Alexandria Troas nach Neapolis/Kavalla (Apg 16,8−10, dort motiviert durch einen Traum des Paulus, in dem ihm ein Mann aus Makedonien erschien und bat: „Komm herab nach Makedonien und hilf uns“). An einem, wenn nicht sogar am äußersten Tiefpunkt seines Weges als Apostel, als es zum völligen Bruch mit der Gemeinde in Korinth zu kommen drohte, befand sich Paulus wiederum in Alexandria Troas. Er war bis dorthin seinem Mitarbeiter Titus entgegengereist, den er (zusammen mit dem „Kampfbrief“ 2 Kor 10−13) als letztes Mittel nach Korinth geschickt hatte, um das Zerwürfnis beizulegen. Da Paulus ihn auch in Alexandria Troas nicht traf, war seine Unruhe so groß, dass er nach Makedonien übersetzte, um Titus dort schneller zu erreichen – und das, obwohl sich in Alexandria Troas erfolgversprechende Missionsmöglichkeiten abzeichneten (2 Kor 2,12f).

73 74

Alexandria Troas liegt 24 km südlich von der Ausgrabungsstätte des archaischen Troja und 45 km südlich der heutigen Stadt Çanakkale. Zum Vergleich: Thessaloniki umfasste im 1. Jh. n. Chr. etwa 200−250 ha, Philippi nur 68 ha! Vgl. v. Brocke, Thessaloniki, 69−71; P. Pilhofer, Philippi I, 74. Zwar ist nicht vorauszusetzen, dass das gesamte Gelände vollständig bebaut war, aber seine Ausdehnung macht dennoch deutlich, in welchem Maßstab die Stadt geplant war.

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Schließlich war Alexandria Troas nach Philippi die nächste Station auf der letzten Reise des Paulus nach Jerusalem: Hier sammelte sich die aus neun Personen bestehende Delegation, die die Kollekte der Gemeinden Ma‐ kedoniens und Kleinasiens nach Jerusalem bringen sollte (Apg 20,4−6; Röm 15,25–32). Hier wurde das Schiff gechartert, das die Delegation auf direktem Wege bis nach Patara, dem Südausgang der Ägäis, brachte (20,13−15; 21,1). Zugleich ist in Alexandria Troas in Apg 20,7–12 eine christliche Gemeinde vorausgesetzt, an deren Entstehung Paulus zumindest auch beteiligt gewe‐ sen dürfte (2 Kor 2,12). 12 Rom (‘Ρώμη / Roma)

Nach einem jahrhundertelangen kontinuierlichen Aufstieg war aus der kleinen Bauern- und Handwerkeransiedlung des 7. Jh. v. Chr. am Unterlauf des Tibers die Metropole eines den ganzen Mittelmeerraum umfassenden Großreiches geworden. Mit Augustus (27 v.–14 n. Chr.) hatte das Imperium Romanum seine endgültige innere Struktur gefunden. Auch für Rom75 selbst bedeutete die Regierungszeit des Augustus einen wichtigen Neubeginn. Lange Zeit war die Stadt recht planlos gewachsen, hatte sich längst über die alten sakralrechtlichen Grenzen, das sog. pomerium, ausgedehnt und hatte im 1. Jh. n. Chr. etwa 1 Million Einwohner. Augustus teilte das gesamte inzwischen bewohnte Gebiet in 14 Regionen und insgesamt 256 vici (eigentlich: Dörfer; hier: Stadtquartiere) ein. Die einzelnen vici wurden von einem Kollegium von vier jährlich wechselnden vici magistri geleitet. Sie waren insbesondere für den Kult der sog. Laren des jeweiligen vicus, aber auch für andere wichtige Aufgaben wie z. B. den Brandschutz verantwortlich. Augustus versuchte so, der aus den Fugen geratenen Stadt wieder eine Struktur zu verleihen, nicht zuletzt dadurch, dass er auf alte, im dörflichen Bereich beheimatete religiöse Vorstellungen zurückgriff. Restaurativ ausgerichtet war auch seine Religionspolitik insgesamt. In seinem „Tatenbericht“ rühmt er sich, 82 Tempel wiederhergestellt zu haben. Hinzu kamen mindestens zehn Tempelneubauten (Augustus, res gestae 19 f). Nimmt man die sonstigen öffentlichen Bauten hinzu (curia, Augustus‐

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Erwähnung im NT: Apg 18,2; 19,21; 23,11; 28,14.16; Röm 1,7.15; 2 Tim 1,17; Romaios/Ro‐ maioi: Joh 11,48; Apg 2,10: 16,21.37.38; 22,25.26.27.29; 23,27; 25,16; 28,17.

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forum, Marcellustheater, Ara pacis, Augustusmausoleum u. a.),76 dann ist nachvollziehbar, dass sich Augustus gerühmt haben soll, „eine Stadt aus Marmor zu hinterlassen, wo er eine aus Ziegeln übernommen hatte“ (Sueton, Augustus 28). Die Millionenstadt erforderte eine außergewöhnliche Infrastruktur. Alle Straßen Italiens liefen auf Rom zu. Die Wasserversorgung wurde um 60 n. Chr. durch neun Fernwasserleitungen (Aquädukte) von zusammen 422 km Länge gewährleistet, und der Warenverkehr aus den Provinzen (ins‐ besondere die Getreidelieferungen aus Nordafrika und Ägypten) erfolgte vor allem durch gut organisierte Schiffstransporte. Hauptseehäfen waren Pu‐ teoli (heute: Pozzuoli) am Golf von Neapel und Ostia an der Tibermündung. Über Puteoli gelangte auch Paulus als Gefangener nach Rom (Apg 28,13). Rom war ein Magnet für die Bevölkerung des gesamten Reiches. Aller‐ dings war ein Teil der Einwohner ursprünglich nicht freiwillig, sondern als Sklaven nach Rom gekommen. Später freigelassen, blieben sie häufig in Rom. Dies gilt insbesondere auch für die jüdischen Einwohner (vgl. Philo, Legatio ad Gaium 155). Wie viele andere Zuwanderer wohnten die Juden in den Randvierteln der Stadt, insbesondere in Trastevere, dem einzigen Stadtviertel jenseits des Tibers,77 d. h. im Westen, sodann im Süden außerhalb der Porta Capena im Bereich der Via Appia und im Nordosten, aber auch dort wohl außerhalb der republikanischen Stadtmauer.78 Es sind durchweg Bereiche mit schlechten Wohnbedingungen, in denen sich vor allem die Unterschichten ansiedelten. In keinem Stadtteil bildeten die Juden jedoch die Mehrheit der Wohnbevölkerung. So sind für Trastevere, den Stadtteil mit besonders ungünstigen Wohnbedingungen (dichte Bebauung, Überschwemmungsgefahr aufgrund der Tibernähe) neben den zahlreichen Juden auch syrische Bewohner in großer Zahl nachgewiesen. Die frühesten christlichen Bewohner Roms, zumeist Zuwanderer aus dem Osten, von denen ein erheblicher Teil judenchristlicher Herkunft war,79 76

77 78 79

Hinzu kamen die Bauten des Agrippa, seines Weggefährten und Schwiegersohns, so u. a. die Agrippathermen, die älteste öffentliche Thermenanlage Roms, und das (ältere) Pantheon, der Vorgängerbau des unter Hadrian errichteten heute noch bestehenden Gebäudes. Trastevere aus lat.: trans Tiberim = „jenseits des Tibers“. Hinzu kommen, zumindest für das 2. Jh. n. Chr., der Bereich des Marsfeldes und der Stadtteil Subura. Vgl. die umfangreiche Grußliste Röm 16, 3‒16, die 26 namentlich genannte Personen und eine weitere Anzahl nicht namentlich Genannter umfasst. Von den 26, die Paulus mit Namen grüßt, sind sechs sicher jüdischer Herkunft, u. U. aber noch mehr; von 4

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wohnten ebenfalls in Trastevere und an der Via Appia, zusätzlich vermutlich auch im Bereich des Aventin.80 Dass die Einwurzelung des Christentums in Rom in den Bereichen mit jüdischer Wohnbevölkerung erfolgte, ist nicht überraschend. Die räumliche Nähe blieb aber auch nach der Ablösung des frühen Christentums vom Judentum bestehen. Dabei war das Christentum – übrigens genauso wie das Judentum – nicht zentral organisiert, sondern bestand in den verschiedenen Stadtvierteln aus einzelnen Gruppen und Hausgemeinden, die allerdings untereinander in Kontakt standen. Deshalb nennt Paulus, anders als in den Briefen nach Thessaloniki oder Korinth, im Römerbrief nicht „die“ ἐκκλησία als Adressaten, sondern er richtete ihn an „alle Geliebten Gottes in Rom“ (Röm 1,7). Dem entspricht die lange Grußliste am Schluss des Briefes, in der Paulus zahlreiche Einzelpersonen und Einzelgruppen aufführt (Röm 16,3–15).81 Rom war die letzte Stadt im Leben des Paulus. Nachdem er seine Arbeit im Osten als beendet ansah (Röm 15,19.23), hatte er die Absicht, im Anschluss an die Überbringung der Kollekte in Jerusalem die Christen in Rom zu besuchen, um dann von dort aus nach Spanien zu gehen (Röm 15,22−32). Er kam tatsächlich von Jerusalem in die Hauptstadt des Imperiums, jedoch als Gefangener. Die Apostelgeschichte endet mit dem Hinweis auf eine zweijährige Haft des Paulus (Apg 28,30), erzählt also nicht seinen Tod in Rom, setzt ihn aber eindeutig voraus (20,22−26.38). Dies gilt auch für 1 Clem 5,5−7. Paulus muss also zwei Jahre nach seiner Ankunft in Rom verurteilt und hingerichtet worden sein.82

80 81 82

Personen ist sicher, dass Paulus sie persönlich gekannt hat und dass sie bereits vor ihm nach Rom gegangen sind: Priska und Aquila V. 3 f; Epainetos (V. 5: „Erstling der Asia“), Urbanus (V. 9: „mein Mitarbeiter“); zu den persönlichen Bekannten des Paulus dürften auch Andronikus und Junia (V. 7: „meine Mitgefangenen“) gehört haben, ebenso drei weitere Personen, zu denen er durch die Bezeichnug „geliebt“ eine persönliche Beziehung andeutet: Ampliatus (V. 8), Stachys (V. 9) und Persis (V. 12); zu Analyse der Liste vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer. Teilband 2: Röm 9‒16 (EKK VI/2), Ostfildern/Göttingen 2019, 463-484. Im Südwesten zwischen Trastevere und der Via Appia gelegen. Dabei redet Paulus nur einmal ausdrücklich von einer ἐκκλησία, nämlich im Falle der Gemeinde im Haus von Priska und Aquila (16,5). Von einer nochmaligen Freilassung oder gar einer Spanienreise weiß die Apg nichts. Die Angaben der Apg führen damit in das Jahr 62 n. Chr.; vgl. zur Chronologie des Paulus insgesamt in diesem Band E. Ebel. Das Leben des Paulus. Die Tradition, dass Paulus gleichzeitig mit Petrus umgekommen sei, was dann auf 64 n. Chr. deuten würde, begegnet erstmals bei Dionysius von Korinth (um 170 n. Chr.), vgl. Euseb, h.e. II 25,8.

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Als Grabstelle gilt seit dem Ende des 2. Jh. n. Chr. die südlich der Stadtgrenze gelegene Nekropole an der Via Ostiensis (vgl. Euseb, h.e. II 25,7), an der in konstantinischer Zeit ein Memorialbau errichtet wurde. Die Grabanlage in der heutigen Basilika San Paolo Fuori Le Mura geht in der Tat auf das 4. Jh. n. Chr. zurück. Geht man davon aus, dass Paulus in einem allein gegen ihn gerichteten Prozess verurteilt wurde und nicht in den Ver‐ folgungsmaßnahmen des Nero umkam, ist die Annahme eines ordentlichen Begräbnisses, dessen Lage auch bekannt geblieben ist, durchaus plausibel.83 13 Literatur 13.1 Allgemein

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83

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Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes

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Der Paulusbrief ist hinsichtlich seiner Produktions- und Rezeptionsbedingun‐ gen, hinsichtlich seiner Beförderungs- und Aufbewahrungsmöglichkeiten sowie seiner Form, Funktion und Idee nach einzuordnen in die kaiserzeitliche Brief‐ literatur. Die römische Kaiserzeit ist bei Griechen und Römern eine Blütezeit des Briefes, zu der auch der Paulusbrief beiträgt. Der Paulusbrief greift gängige Konventionen des kaiserzeitlichen Briefes auf und verändert sie auf markante Weise. Dadurch wird der Paulusbrief zum literarischen Träger der christlichen Heilsbotschaft. 1 Paulus und die antike Briefpraxis

Paulus greift mit der Gattung des Briefes zu einem der hauptsächlichen Mittel antiker Kommunikation. Seit Beginn der hellenistischen Zeit wird das Medium Brief infolge der Erweiterung des griechischen Kulturkreises zunehmend für öffentliche und private Korrespondenz genutzt. Es entwickelt sich ein reger Briefverkehr, in dessen Verlauf sich feste Formen und Gepflogenheiten briefli‐ chen Schreibens ausbilden. 1 Wohl bereits seit dem 4. Jh. v. Chr. ist der Brief bei den Griechen Gegenstand des Grammatik- und Rhetorikunterrichts der höheren Schulbildung. Seit späthellenistischer und frührömischer Zeit wird das Briefeschreiben im schulischen Elementarunterricht erlernt und geübt.2 Auch wenn es keine

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Vgl. Hoegen-Rohls, Epistolographie, 19f. Vgl. Bauer, Epistolographie, 26f.33.

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konkreten Belege für einen Schulbesuch des Paulus gibt,3 kann aufgrund des familiären Milieus (Pharisäismus, römisches Bürgerrecht und Bürger‐ recht der Stadt Tarsus, materielle Voraussetzungen für Schulbildung) sowie angesichts der souveränen Beherrschung der griechischen Sprache davon ausgegangen werden, dass Paulus elementaren, vielleicht auch höheren Schulunterricht bei einem Grammatiklehrer erhielt und somit auch das Briefeschreiben lernte.4 Die Briefform ist in hellenistischer Zeit allgegenwärtig. Im Bereich der staatlichen Bürokratie ergehen königliche bzw. kaiserliche Verlautbarungen und Erlasse in Briefform.5 Auch administrative Akte werden in Briefform vollzogen.6 Urkunden, Anträge von Bürgern an Behörden, Quittungen, Schuldscheine und sonstige rechtliche Erklärungen, ja sogar ein- und zwei‐ zeilige Einladungsbillets weisen die Briefform auf.7 Im privaten Bereich werden in Briefform familiäre Angelegenheiten geregelt sowie verwandt‐ schaftliche Beziehungen und Freundschaften gepflegt.8 Dies setzt sich auch in römischer und in frühchristlicher bzw. neutestamentlicher Zeit fort. Da‐ her kann davon ausgegangen werden, dass Paulus in vielfacher gesellschaft‐ licher Hinsicht mit der griechisch-römischen Briefform und Briefpraxis vertraut war. Ebenso kann angenommen werden, dass Paulus aufgrund seiner Herkunft und im Zusammenhang seiner Ausbildungszeit in Jerusalem (vgl. Apg 22,3; 26,4f.) Kenntnis von der Tradition des frühjüdischen Briefes erhalten hatte.9 3

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Vgl. dazu M. Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: ders., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III (WUNT 141), Tübingen 2002, 68–192: 102; T. Vegge, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus, BZNW 134, Berlin/New York 2006, 284.452.457–486.494; ders., Antike Bildungssysteme im Verhältnis zum frühen Christentum, ZNT 21 (2008), 17–26. Bauer, Epistolographie, 26, hält fest, „dass in hellenistisch-römischer Zeit jeder, der schreiben konnte, zumindest Grundkenntnisse im Briefschreiben besaß. Form und Stil des Briefes müssen folglich bereits im Rahmen des Elementarunterrichts auch von Kindern der niederen sozialen Schichten gelernt und eingeübt worden sein.“ So war auch das in Apg 18,2 erwähnte, vermutlich auf das Jahr 49 n. Chr. zu datie‐ rende Gebot des Kaisers Claudius, dass alle Juden Rom zu verlassen hatten (sog. Claudius-Edikt), eine Inschrift auf Stein in Briefform. Vgl. Bauer, Epistolographie, 24. Vgl. P. Arzt-Grabner, Philemon, PKNT 1, Göttingen 2003, 57, Anm. 4; ders./R.E. Kritzer u.a., 1. Korinther, PKNT 2, Göttingen 2006, 30 f.; ders., 2. Korinther, PKNT 4, Göttingen 2014, 51–54; Bauer, Epistolographie, 15. Vgl. Bauer, Epistolographie, 23 f; Hoegen-Rohls, Epistolographie, 19f. Vgl. Doering, Jewish Letters, der das Material der antiken jüdischen Briefe vom 5. Jh. v. Chr. bis zum 3. Jh. n. Chr. breit aufgearbeitet hat.

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1.1 Realienkunde des Paulusbriefes 1.1.1 Produktionsbedingungen des antiken Briefes und des Paulusbriefes

Die Schreibmaterialien. Beschreibstoffe für private und geschäftliche Briefe sind zur Zeit des Paulus in erster Linie Papyrus10 (der wohl wichtigste Beschreibstoff der Antike überhaupt) und Ostraka (Scherben, meist von zerbrochenen Tongefäßen), in schulischem und militärischem Kontext auch Holz-/Wachstäfelchen.11 An Schreibwerkzeugen werden ein spitzer Griffel (stilus/stylus) oder ein angeschrägtes Schreibrohr aus Schilf verwendet (κάλαμος; calamo).12 Papyrus ist zur Zeit des Paulus nicht in Form von Einzelblättern, sondern im Format der Rolle käuflich zu erwerben. Das Standardmaß einer Papyrusrolle sind 20 horizontal aneinandergeklebte Blätter von ca. 24 cm Höhe, was je nach Blattbreite eine Länge von ca. 2,2–4,8 m ergibt.13 Für kürzere Schreiben werden Stücke von der Papyrus‐ rolle abgeschnitten oder aus der Papyrusrolle ausgeschnitten.14 Ein Brief wie der 2. Korintherbrief hätte auf einer Papyrusrolle von ca. 1,5m Platz gefunden. Für den kürzesten Paulusbrief, den Philemonbrief, hätte ein Dreifach-Holz-/Wachstäfelchen (Triptychon) ausgereicht.15

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Vgl. dazu C.M. Kreinecker, Art. Papyrologie (NT), WiBiLex (2018). Seit dem 2. Jh. n. Chr. wird Papyrus zwar von dem aus Tierhäuten gewonnenen Beschreibstoff Pergament abgelöst, doch sind bis auf einen einzigen Brief keine Briefe auf Pergament bekannt (vgl. Klauck, Briefliteratur, 58). Die Holztäfelchen (als Einzel-, Doppel- oder Mehrfachtafeln) weisen Auslassungen auf, die mit Wachs gefüllt sind, in das hineingeschrieben wird. Das Geschriebene kann gelöscht werden, indem das Wachs wieder geglättet wird. Dann kann es erneut beschrieben werden. Allerdings nur ca. 20,5% der überlieferten griechischen und lateinischen Holz-/Wachstäfelchen enthalten Briefe, wobei sich kein Beispiel für die Endfassung eines längeren Briefes findet. Vgl. dazu P. Arzt-Grabner, Der Kompilations‐ prozess des 2. Korinther: Überlegungen aus Sicht der Dokumentarischen Papyrologie, in: E.-M. Becker/H. Löhr (Hg.), Die Exegese des 2 Kor und Phil im Lichte der Literarkritik (BThSt 185), Göttingen 2020, 53–102: 59–66. – Weitere antike Beschreibstoffe für Texte in Briefform sind Blei- und Bronzetäfelchen, gelegentlich auch Leinen und Leder. Amtliche Erlasse in Briefform werden häufig nachträglich in Stein gemeißelt (vgl. im vorliegenden Beitrag Anm. 5). Vgl. dazu Klauck, Briefliteratur, 55–59. Vgl. Klauck, Briefliteratur, 59 f.; Kreinecker, Papyrologie (Anm. 10). Vgl. Arzt-Grabner, 2. Korinther (Anm.7), 57. Maßangaben von 5–6m für eine Standard‐ rolle finden sich bei Kreinecker, Papyrologie (Anm. 10) und Arzt-Grabner, Kompilati‐ onsprozess (Anm. 11), 79. Vgl. Arzt-Grabner, Kompilationsprozess (Anm. 11), 71–73, 79; Kreinecker, Papyrologie (Anm. 10). Vgl. Arzt-Grabner, 2. Korinther (Anm. 7), 55.

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Der Schreibvorgang. Das Schreiben geht langsam und ist unbequem.16 Es erfolgt im Stehen oder Sitzen, beim Schreiben auf Papyrus meist im Schnei‐ dersitz. Die freie, nicht schreibende Hand dient als Schreibunterlage für den Papyrus, die Tonscherbe oder das Holztäfelchen. Der Text wird in das Wachs oder auf die Scherbe mit dem Griffel eingeritzt. Auf Ton kann auch mit Tusche geschrieben werden. Auf Papyrus wird mit dem Schreibrohr dickflüssige, klebrige Rußtinte in schwarzer Farbe oder rötlich-braune Tinte auf der Basis von Ocker aufgetragen (μέλαν; atramento). Der faserige Papyrus kann von beiden Seiten beschrieben werden (recto: Vorder-/Innen‐ seite mit horizontal verlaufenden Papyrusfasern; verso: Rück-/Außenseite mit vertikal verlaufenden, weniger sorgfältig behandelten Papyrusfasern), wobei auf der Rückseite meist nur die Außenadresse des Briefes steht. Auf der Vorderseite wird zeilenweise, gewöhnlich in schmäleren oder breiteren Kolumnen geschrieben.17 Die schreibenden Personen/Allographie. Für das Schreiben von Briefen wer‐ den in der Antike häufig Schreiber bzw. Sekretäre eingesetzt, und zwar un‐ abhängig davon, ob ein Brief von einer des Schreibens kundigen oder nicht kundigen Person verfasst wird. Dass Paulus eine Schreibkraft beschäftigte, geht eindeutig aus Röm 16,22 hervor, wo sich Tertius gegenüber den Briefad‐ ressaten zu Wort meldet: „Ich, Tertius, der ich diesen Brief geschrieben habe, grüße Euch in dem Herrn.“ Die sog. Eigenhändigkeitsvermerke, die gegen Ende des 1. Korintherbriefes, des Galaterbriefes und des Philemonbriefes auffallen, zeigen an, dass Paulus jetzt selbst zum Schreibrohr greift: „Hier mein, des Paulus, eigenhändiger Gruß“ (1 Kor 16,21); „Seht, mit wie großen Buchstaben ich euch schreibe mit eigener Hand!“ (Gal 6,1); „Ich, Paulus, schreibe es mit eigener Hand (…).“ (Phlm 19). Viele Alltagspapyri aus der Zeit des Paulus zeigen gegen Ende den Wechsel der Handschriften.18 Der Briefabsender „unterschreibt“ gewissermaßen den Brief, den ein anderer (ἄλλος) handwerklich für ihn geschrieben hat (γράφειν).

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Sprechende antike Zeugnisse dazu bei Roller, Formular, 6–14. Vgl. Roller, Formular, 6; Klauck, Briefliteratur, 59. Die Kolumnenbreite lässt sich gut ablesen an den transkribierten Briefbeispielen in den Kommentaren zu Phil, 1 Kor und 2 Kor von Arzt-Grabner (vgl. Anm. 7); vgl. auch Arzt-Grabner, Kompilationsprozess (Anm. 11), 80. Vgl. dazu mit Belegen Bauer, Epistolographie, 24f.

Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes

Funktionen der Schreiber/Schreiberinnen. 19 Die Tatsache, dass andere einen Brief für einen Briefabsender schreiben – seien es öffentliche, berufsmäßige Schreiber/Schreiberinnen oder schreibkundige Verwandte und Freunde20 – wirft die Frage auf, in welchem Maße sie an der sprachlichen und inhaltlichen Gestaltung eines Briefes beteiligt sind. E. Randolph Richards unterscheidet für die antike Briefpraxis vier Rollentypen von Schreibern bzw. Sekretären:21 recorder: Geschrieben wird nach Diktat des Briefautors, entweder syllabatim (Silbe für Silbe), verbatim (Wort für Wort) oder viva voce (in natürlicher Sprechgeschwindigkeit). editor: Für die Fertigstellung eines Briefes werden mündliche Instruktionen des Briefautors oder dessen schriftlicher Rohentwurf verwendet. Bei Vorlie‐ gen eines Rohentwurfs bittet der Briefautor den Schreiber/die Schreiberin um kleinere inhaltliche und/oder formale Korrekturen. Im Falle mündlich vorgetragener Notizen oder eines extemporierten Vortrags korrigiert und redigiert der Briefautor das Niedergeschriebene. co-author: Der/die Schreibende beeinflusst Sprachstil, Methode der Argu‐ mentation und inhaltliche Gedankenführung des Briefes. Der Briefautor überlässt dem/der Schreibenden die endgültige Briefkomposition. composer: Eigenständig, ohne Rückgriff auf Formulierungen des Briefabsen‐ ders, wird ein Auftragsbrief zu einem bestimmten Thema/Anlass verfasst. Dies ist zwar grundsätzlich möglich, da die antike Briefpraxis – insbesondere im Bereich amtlicher und geschäftlicher, aber auch im Bereich privater Kor‐ 19

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Dass in römischer Zeit Frauen die Dienstleistung des Schreibens als amanuenses/nota‐ riae (Sekretärinnen) und librariae (Schreiberinnen) wahrnahmen, ist, wenn auch selten, inschriftlich belegt. Vgl. dazu R. Günther, Frauenarbeit – Frauenbindung. Untersuchun‐ gen zu unfreien und freigelassenen Frauen in den stadtrömischen Inschriften, München 1987; J.K. Evans, War, Women and Children in Ancient Rome, London/New York 1991; J.F. Gardner, Women in Business Life, in: P. Setälä/L. Savunen (Ed.), Female Networks and the Public Sphere in Roman Society (Acta Instituti Romani Finlandiae 22), Rom 1999, 11–27; M.T. Jenny, Frauenberufe – Frauentätigkeiten, in: M.T. Jenny/B. Schaffner (Hg.), Frauen in Augusta Raurica. Dem römischen Alltag auf der Spur (Augster Museumshefte 28), Augst 2001, 87–98. Vgl. dazu Klauck, Briefliteratur, 62–64. Vgl. E.R. Richards, The Secretary in the Letters of Paul (WUNT II/42), Tübingen 1991, 23–53, 97–111, 194–201; Klauck, Briefliteratur, 64 f.; Bauer, Epistolographie, 98. Die Autoren sprechen nur von männlichen Sekretären; vgl. aber Anm. 19 im vorliegenden Beitrag.

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respondenz – ein festes Briefformular vorsieht und für unterschiedlichste Brieftypen stereotype Regeln hinsichtlich Briefvokabular und Briefstil auf‐ stellt, die an Musterbriefen studiert werden können.22 Doch scheint dieser Rollentyp unüblich gewesen zu sein. Weitere Schreibfunktionen sind die des Kopierens 23 und des Kompilierens 24. Das Kopieren erfolgt als wortgetreues Abschreiben eines fertiggestellten Briefes. Beim Kompilieren werden mehrere Briefe oder Briefentwürfe hin‐ tereinander auf eine Papyrusrolle geschrieben. Paulus und seine Schreibkräfte. Die Frage, welche Rollen genau die von Pau‐ lus beschäftigten Schreibkräfte bei der Produktion seiner Briefe wahrnah‐ men, muss zwar, was Einzelheiten betrifft, offenbleiben. Paulus selbst äußert sich nicht dazu und auch die Apostelgeschichte gibt keinerlei Hinweise. Doch wird man die Rolle des composer, zumal sie als selten gilt, ausschließen können: Die Paulusbriefe sind keine Auftragsbriefe, die sich schematisch an einem Musterbrief orientieren, auch wenn sie sich eines fest geprägten Briefformulars bedienen.25 Wenn, neben dem Diktat, als durchaus übliche Rolle für die antiken Schreiber/Schreiberinnen bzw. Sekretäre/Sekretärin‐ nen die des editor ausgemacht werden kann,26 so lässt sich annehmen, dass sie auch bei der Produktion der Paulusbriefe wahrgenommen wurde.27 Für einen Brief wie den Philemonbrief, der mit ca. 328 Wörtern der kürzeste der Paulusbriefe ist,28 erscheint es sowohl vorstellbar, dass Paulus den Brief diktiert, als auch, dass er mündlich skizziert, was zu schreiben sei, dann das Geschriebene redigierend durchsieht und den Schluss des Briefes eigenhändig hinzufügt (vgl. Phlm 19–25). Schon bei einem Brief wie dem 1. Thessalonicherbrief (1472 Wörter29), der theologisch gewichtige Passagen wie 1 Thess 4,13–18; 5,1–11 (Auferstehung und Parusie) enthält, wird man damit rechnen können, dass der Briefautor Paulus ausformuliert vorgibt, wie die Argumentation verlaufen muss, damit seine Paränese pointiert zur 22 23 24 25 26 27 28 29

Vgl. dazu Klauck, Briefliteratur, 157–164; im vorliegenden Beitrag Abschnitt 2.2 Vgl. Richards, Secretary (Anm. 19), 44; E.-M- Becker, Schreiben und Verstehen. Paulini‐ sche Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief (NET 4), Tübingen/Basel 2002, 61f. Vgl. Becker, Schreiben (Anm. 23), 63–78; Arzt-Grabner, Kompilationsprozess (Anm. 11), bes. 74–86. Siehe dazu die Ausführungen im vorliegenden Beitrag unter Abschnitt 1.2.2. Vgl. Richards, Secretary (Anm. 21), 195. Vgl. ebd. Vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag zum Philemonbrief von L. Bormann. Vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag zum 1. Thessalonicherbrief von E. Ebel.

Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes

Geltung kommt. Das Schreiben nach Diktat und das Schreiben gemäß einer mündlichen Skizze, also die Schreibrollen recorder und editor, könnten sich auf diese Weise bei der Produktion des ältesten erhaltenen Paulusbriefes ergänzt haben. Dies legt sich umso mehr bei den Briefen mittleren und grö‐ ßeren Umfangs nahe (Phil: 1624 Wörter; Gal: 2220 Wörter; 2 Kor: 4448; 1 Kor: 6807 Wörter30). Sicher ist hier mit einem zeitaufwendigen, mehrschichtigen Schreib- und Redaktionsprozess zu rechnen, bei dem ausformuliertes Diktat, mündlich oder schriftlich skizzierter Entwurf, möglicherweise auch das Kompilieren von Briefentwürfen sowie verschiedene Überarbeitungsphasen miteinander verschränkt werden. Insbesondere der Römerbrief als der längste Brief des Paulus (7094 Wörter31) mit seiner geradezu strategisch angelegten Argumentation32 wird sich einer komplexen Schreibsituation verdanken, die weder allein mit der Rolle des recorder oder des editor noch mit deren Kombination angemessen erfasst wäre. Als entscheidende briefgenerierende Akte wird man die fortschreitende schriftliche Ausarbei‐ tung von Briefteilen und deren Überarbeitung zu einer oder zu mehreren Rohfassungen annehmen dürfen, aus denen schließlich die Endfassung des Briefes als durchdachte Konzeption entsteht. Als ebenfalls komplex wird die Schreibsituation des 2. Korintherbriefes einzuschätzen sein, bei dem mit der Schreibrolle des Kompilierens zu rechnen ist.33 Bedenkt man, dass Paulus insgesamt in seinem missionarischen Schaffen kein Einzelkämpfer war,34 so erscheint es gut denkbar, dass er auch beim Schreiben seiner Briefe nicht isoliert, sondern im Team agierte. Seine Schrei‐ ber/Schreiberinnen stammten also vielleicht oder sogar wahrscheinlich aus dem Kreis seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Diese Annahme erlaubt schließlich, zu erwägen, ob von den Schreibkräften des Paulus, zumindest partiell, auch die Rolle des co-author übernommen wurde.

30 31 32 33 34

Vgl. dazu die Hinweise zum Textbestand der Briefe in den entsprechenden Kapiteln des vorliegenden Bandes. Vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag zum Römerbrief von O. Wischmeyer. Vgl. dazu P. Bahl, Die Macht der Sünde im Römerbrief. Eine Untersuchung vor dem Hintergrund antiker Argumentationstheorie und -praxis, BHT 189, Tübingen 2019. Vgl. exemplarisch Becker, Schreiben (Anm. 23), 61 f., 77 f.; Arzt-Grabner, Kompilations‐ prozess (Anm. 11), 101f. Vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag zum Missionswerk des Paulus von E. Ebel.

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1.1.2 Brieflogistik: Übermittlung der Paulusbriefe

Vorbereitung der Übermittlung. Briefe auf Papyrus werden zur Zeit des Pau‐ lus vor ihrer Versendung zusammengerollt oder (bei kleineren Formaten) gefaltet, verschnürt und teilweise über dem Knoten gesiegelt.35 Beförderung. Zur Zeit des Paulus existiert der von Kaiser Augustus einge‐ richtete cursus publicus, ein öffentliches Postwesen, das zur Übermittlung von Briefen der Regierung, der Verwaltung und des Militärs dient. Die über‐ mittelnden Boten sind auf den Straßen des Römischen Reiches zu Fuß, zu Pferd oder mit dem Wagen (von Pferden gezogen) unterwegs. Private Briefe konnten nicht über dieses System befördert werden.36 Sie mussten einem teuer zu bezahlenden Briefboten/Kurier (tabellarius) oder einem eigens da‐ für angestellten Sklaven anvertraut werden. Wer keinen Botensklaven hatte und keinen Kurier bezahlte, gab seine Briefe reisenden Familienmitgliedern, Freunden, Bekannten oder auch Fremden mit auf den Weg: Zur Zeit des Paulus ist jeder Reisende potentieller Briefträger.37 Paulus selbst nutzt zur Übermittlung seiner Briefe vermutlich Mitarbeitende als Boten. So nimmt die Paulusforschung etwa an, dass Paulus den in konfliktreicher Situation entstandenen sog. Tränenbrief38 seinem Mitarbeiter Titus zur Übermittlung an die Gemeinde in Korinth übergab, statt selbst zur Gemeinde zu reisen.39 Wie Titus können auch andere Mitarbeiter Briefboten des Paulus gewesen sein. Die Paulusforschung hat, wenn auch nicht einheitlich, erwogen, ob Phoebe, die Mitarbeiterin des Paulus in Korinth (vgl. Röm 16,1f.), den Römerbrief von Korinth aus nach Rom überbracht haben könnte. Dass Mitarbeiterinnen des Paulus Briefe auch über weite Strecken hin befördert haben, ist grundsätzlich denkbar. Das Beispiel Egerias (4. Jh. n. Chr.) belegt jedenfalls für die spätantike Zeit, dass auch Frauen das Straßensystem des Imperium Romanum mit seinen Pferdewechselstationen (mutationes), 35 36 37 38 39

Vgl. Klauck, Briefliteratur, 60; Bauer, Epistolographie, 217. Vgl. exemplarisch M.L. Stirewalt Jr., Paul, the Letter Writer, Grand Rapids, MI 2003, 2: „There was no organized postal system for the common citizen“. Vgl. R. Reck, Kommunikation und Gemeindeaufbau. Eine Studie zu Entstehung, Leben und Wachstum paulinischer Gemeinden in den Kommunikationsstrukturen der Antike (SBB 22), Stuttgart 1991, 109. Auf den Tränenbrief weisen die Aussagen in 2 Kor 2,3f.; 7,8 hin. Er ist möglicherweise in 2 Kor 1,1–7,4 oder in 2 Kor 1–8/1–9 oder in 2 Kor 9–13/10–13 aufbewahrt. Vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag zum 2. Korintherbrief von E.-M. Becker. Aus 2 Kor 1,23; 2,1.12f; 7,5–16; 12,17f. können hypothetisch die historischen Hinter‐ gründe der Briefüberbringung durch Titus rekonstruiert werden; vgl. exemplarisch Stirewalt, Paul (Anm. 36), 11.

Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes

Herbergen (mansiones) und Gasthäusern (tabernae) für lange Reisewege nutzten.40 Beförderungswege und Beförderungsdauer. Entlang der Handelswege des Römischen Reiches werden die Briefe des Paulus zu Land oder zu Wasser befördert. Je nach Jahreszeit, Beförderungsweg und Distanz zwischen Aus‐ gangs- und Zielort dauert das Versenden eines Paulusbriefes wohl zwischen einer Woche und mehreren Monaten. Zu Land erfolgt die Beförderung der Briefe über das ausgebaute Straßennetz des Römischen Reiches,41 das Paulus auch für seine Gemeindegründungen und Gemeindebesuche nutzt. Die Wasserwege stehen – wie für die Missionsreisen – nur im Sommer für die Beförderung der Briefe zur Verfügung: Im Winter drohen Stürme auf See, weshalb Schiffe in Häfen überwintern. In Korinth und Ephesus, wo Paulus sich jeweils längere Zeit42 aufhielt und einen Großteil seiner erhaltenen Briefe schrieb, wird vermutlich der rege Reiseverkehr eine relativ rasche Versendung nach Fertigstellung eines Briefes ermöglicht haben.43 Wenn die Forschung annimmt, dass der 1. Korintherbrief im Frühjahr 55 in Ephesus entstand,44 dann ist gut denkbar, dass er bei günstigen Witterungsbedingun‐ gen bald darauf auf dem Wasserweg nach Korinth versendet werden konnte. Wenn der Philemonbrief ebenfalls im Frühjahr 55 in Ephesus entstand und sein Zielort das 170 km entfernt liegende Kolossä war,45 könnte er auf dem Landweg bei guter Witterung und unter der Voraussetzung, dass Boten zu Fuß Distanzen von etwa 30 km am Tag bewältigen konnten,46 ohne Zwischenfälle nach 6 Tagen angekommen sein. Beide Beförderungswege, 40 41 42

43 44 45 46

Vgl. G. Röwekamp, Egeria – Itinerarium. Der antike Reiseführer durch das Heilige Land, Freiburg i. Br. 2018. Vgl. dazu A.-M. Wittke/E. Olshausen/R. Szydlak, Historischer Atlas der antiken Welt (DNP Sonderausgabe), Stuttgart 2012, 194–199 (Straßen und Wege im Imperium Romanum). Die Angaben der Apostelgeschichte ergeben für Korinth einen Aufenthalt von 18 Monaten (vgl. Apg 18,11) und für Ephesus einen Aufenthalt von 2–3 Jahren (vgl. Apg 19,10; 20,31). Vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag zum Leben des Paulus von E. Ebel. Vgl. Bauer, Epistolographie, 23. Vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag zum 1. Korintherbrief von O. Wischmeyer. Vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag zum Philemonbrief von L. Bormann. 30 km galten in römischer Zeit als Tagesweg, mindestens alle 30 km fanden sich auf den Straßen des Römischen Reiches die Pferdewechselstationen mit Gasthäusern und Herbergen. Vgl. dazu W. Heinz, Reisewege der Antike. Unterwegs im Römischen Reich, Stuttgart 2003; H. v. Lips, Timotheus und Titus. Unterwegs für Paulus (Biblische Gestalten 19), Leipzig 32016, 24.

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zu Land und zu Wasser, wurden möglicherweise für die Übermittlung des Philipperbriefes genutzt: Wenn auch er in Ephesus entstand,47 könnte er entsprechend jener Reiseroute, die Paulus im 2. Korintherbrief andeutet,48 zunächst in nordöstlicher Richtung auf dem Landweg nach Troas und dann weiter in nordöstlicher Richtung per Schiff nach Makedonien in die Hafenstadt Neapolis (heute: Kavalla) gebracht worden sein. Die 15 km, die Philippi von der Hafenstadt Neapolis an der Küste des Ägäischen Meeres entfernt liegt, müssten dann abschließend auf der Via Egnatia zu Fuß absolviert worden sein.49 Für die Beförderung des in Korinth entstandenen Römerbriefes legt es sich wiederum nahe, jene Landroute anzunehmen, auf der Paulus nach Angaben der Apostelgeschichte in umgekehrter Richtung von Thessaloniki über Beröa und Athen nach Korinth reiste (vgl. Apg 17,1–18,1). Der Römerbrief wäre dann von Korinth aus über die Route Athen – Beröa in den Norden und von Beröa aus über die Via Egnatia in westlicher Richtung bis Dyrrhachion an der westadriatischen Küste gelangt.50 Von Dyrrhachion aus setzten Schiffe nach Brundisium (heute: Brindisi) über. In Brundisium fand die Via Egnatia ihre Fortsetzung in der Via Appia, die bis nach Rom führte.51 Sollte der Brief in den Frühjahrsoder Sommermonaten versendet worden sein, so ist auch der Seeweg über die wichtige Seehandelsroute Korinth – Rhegium – Ostia (Rom) denkbar,52 wobei mit verzögernden Nordwestwinden zu rechnen war.53 Zustellung. Zur Zeit des Paulus wird die Adresse auf der Außenseite des zusammengefalteten oder zusammengerollten Briefes notiert. Art und Umfang der Außenadresse hängen davon ab, wer den Brief überbringt. Kennt der Bote den/die Adressaten, reichen grobe Angaben. Für genauere Angaben standen Straßennamen und Hausnummern in der Regel nicht zur Verfügung. Angegeben wurde zum Beispiel das Viertel einer Stadt und eine 47 48 49

50 51 52 53

Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag zum Philipperbrief von L. Bormann. Vgl. 2 Kor 2,12f.; 7,5: Troas – Makedonien. Die Via Egnatia (ΕΓΝΑΤΙΑ ΟΔΟΣ) war eine besonders wichtige Hauptstraße des Römischen Reiches. Sie verband die Adria mit der Ägäis. Sie führte von Dyrrhachion (nördlich) und Apollonia (südlich) über Herakleia, Edessa und Pella nach Thessalonich und weiter bis nach Byzantion. Vgl. Wittke/Olshausen/Szydlak, Historischer Atlas (Anm. 41), 194; A. Kolb (Ed.), Roman Roads. New Evidence – New Perspectives, Berlin 2019. Vgl. Wittke/Olshausen/Szydlak, Historischer Atlas (Anm. 41), 202–203 (Handelswege in der römischen Kaiserzeit [1.–3. Jh. n. Chr.]): 203 (Karte). Vgl. Wittke/Olshausen/Szydlak, Historischer Atlas (Anm. 41), 195. Vgl. Wittke/Olshausen/Szydlak, Historischer Atlas (Anm. 41), 203 Vgl. Wittke/Olshausen/Szydlak, Historischer Atlas (Anm. 41), 202.

Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes

Kontaktperson (ein Geldwechsler etwa, eine Ladenbesitzerin), die vor Ort Auskunft darüber erteilen konnte, wo der Briefempfänger wohnt.54 1.1.3 Lesen, Aufbewahren, Sammeln: Rezeptionsprozesse des Paulusbriefes

Lesen und Hören. Den ersten Schritt der Rezeption des Paulusbriefes stellt sein Verlesenwerden im Gottesdienst durch ein lesekundiges Mitglied der Hausgemeinde dar. Das Verlesen des Briefes bedeutet zugleich ein Gehörtwerden durch die Hausgemeinde als Ganze. Kopieren und Aufbewahren. Für die römische Kaiserzeit und ihre zentrali‐ sierte Verwaltung sind kaiserliche Kanzleien und städtische Archive zur Aufbewahrung etwa von Urkunden, Verträgen und von brieflicher Korre‐ spondenz der Statthalter in den Provinzhauptstädten nachgewiesen. Auch in römischen Privathäusern gibt es zur Zeit des Paulus Familienarchive, in denen Dokumente sowie eingegangene Briefe, Briefentwürfe und Kopien von abgesandten Briefen aufbewahrt werden.55 Soziokulturell ist daher davon auszugehen, dass auch die Paulusgemeinden die Briefe des Apostels aufbewahren und in einem Privat- bzw. Gemeindearchiv sammeln.56 Explizit spricht die Forschung im Blick auf die Gemeinde in Korinth vom „korin‐ thischen Briefarchiv“.57 Dementsprechend lässt sich erwägen, auch für die übrigen frühchristlichen Gemeinden Briefarchive anzunehmen, in denen nicht nur der/die an die Gemeinde gerichtete(n) Originalbrief(e), sondern auch Kopien von Briefen an andere Gemeinden aufbewahrt und gesammelt werden. Paulus selbst lässt möglicherweise von seinen Schreibkräften Ko‐ pien anfertigen, die er entweder auf seinen Reisen in einer Art „Reisearchiv“

54 55

56 57

Vgl. Bauer, Epistolographie, 217, Anm. 187. Vgl. dazu Art. Archiv, RAC 1, Stuttgart 1950, 614–631; Art. Archiv, DNP 1, Stuttgart/Wei‐ mar 1996, 1021–1025. Arzt-Grabner, Kompilationsprozess (Anm. 11), 79–81, bringt das Beispiel eines privaten Archivs von 12 Briefen eines gewissen Heliodoros, die zwischen 90 und 130 n. Chr. vermutlich in Alexandria geschrieben wurden. Ders., 2. Korinther (Anm. 7), bietet das Beispiel für ein Familienarchiv eines gewissen Ammon, das mehrere hundert fragmentarisch erhaltene Papyri umfasst. Vgl. Becker, Schreiben (Anm. 23), 92. Vgl. M.M. Mitchell, Paul’s Letters to Corinth: Literary and Historical Reconstruction, in: D.N. Schowalter/S.J. Friesen (Ed.), Urban Religion in Roman Corinth: Interdisciplinary Approaches, Cambridge, MA 2005, 307–338 (312 et passim: „Corinthian epistolary archive“); dies., The Corinthian Correspondence and the Birth of Pauline Hermeneutics, in: T.J. Burke/J.K. Elliott (Ed.), Paul and the Corinthians: Studies on an Community in Conflict. Essays in honor of M. Thrall, Leiden 2003,17–53 (17 et passim); dazu Arzt-Grabner, Kompilationsprozess (Anm. 11), 82–91.

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mit sich führt oder zur Verwahrung einem Gemeindearchiv übergibt, damit die Briefe nicht während des Reisens beschädigt werden oder verloren gehen.58 Sammeln und Edieren. Briefe zu sammeln ist in der Antike gängige Praxis.59 Als erste Veröffentlichung einer umfangreichen Privatkorrespondenz gelten die von Ciceros Privatsekretär Tiro herausgegebenen Cicero-Briefe. Eine selbstedierte Sammlung von Privatbriefen liegt zur Zeit des Paulus etwa bei Plinius d. J. vor. Hinsichtlich der Paulusbriefe geht die Forschung davon aus, dass sie schon zu Lebzeiten des Apostels abgeschrieben, weitergegeben, zu kleineren und größeren Sammlungen zusammengestellt und im Rahmen dieses Editionsprozesses einer breiteren Gemeindeöffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.60 1.2 Die Form des Paulusbriefes

Der Paulusbrief wandelt das Briefformular des griechisch-römischen Briefes in charakteristischer Weise ab und baut dabei möglicherweise das jüdische Briefformular aus. Die Aufbauelemente des Paulusbriefes lassen sich als genuin epistolare Elemente, teilweise auch als rhetorische Elemente verstehen. 1.2.1 Das Briefformular des antiken Briefes

Der pagane griechisch-römische Brief in der Kaiserzeit. Der antike Brief ist nach einem festen Schema dreigeteilt: Briefeingang, Briefcorpus, Briefschluss. Briefeingang und Briefschuss bilden das eigentliche „Briefformular“.61 Um‐ stritten ist in der Forschung, wie diese Rahmenteile vom Briefcorpus62, in dem das thematische Anliegen des Briefes formuliert wird, abzugrenzen sind.63 Umfasst der Briefeingang das Briefpräskript mit Absenderangabe, Adressatenangabe und Gruß sowie ein sich daran anschließendes Brief‐ proömium mit einem höflichen Wohlergehenswunsch (formula valetudinis initialis), an den sich auch eine Dankes- und/oder Freudenäußerung sowie Äußerungen zur Kontaktpflege zwischen Briefabsender und Briefempfän‐ 58 59 60 61 62 63

Vgl. Arzt-Grabner, Kompilationsprozess (Anm. 11), 101. Vgl. zum Folgenden Becker, Schreiben (Anm. 23), 78–93. Vgl. Becker, Schreiben (Anm. 23), 92 f.; Trobisch, Paulusbriefsammlung. Vgl. dazu grundlegend Schnider/Stenger, Briefformular. Mit „Briefformular“ wird von der Forschung teilweise aber auch die dreiteilige Briefform insgesamt bezeichnet. Der Ausdruck „Briefcorpus“ (in der Literatur auch teilweise „Briefkorpus“ geschrieben) ist ein Neutrum: das Briefcorpus (nicht: der Briefcorpus). Vgl. dazu ausführlich Schnider/Stenger, Briefformular, 42–45.

Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes

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ger anschließen können?64 Oder gehört dieses Briefproömium bereits zur Eröffnung des Briefcorpus?65 Die entsprechende Frage stellt sich im Blick auf den Briefschluss: Ist er strikt auf das Briefpostskript mit seinem Schlussgruß und einer möglichen Datumsangabe zu begrenzen? Oder gehören zum Brief‐ schluss auch die gegen Ende des Briefes wieder aufgenommenen Äußerun‐ gen zur Kontaktpflege sowie der erneut geäußerte Wohlergehenswunsch (formula valetudinis finalis) und weitere abschließende Briefformeln wie etwa die Grüße anderer an die Briefempfänger, die durch den Briefabsender ausgerichtet werden (Grußausrichtung), oder die Bitte des Briefabsenders an die Briefempfänger, Grüße an weitere Personen zu übermitteln (Gruß‐ auftrag), und schließlich, sofern vorhanden, der Eigenhändigkeitsvermerk? In beiden Fällen ergibt sich ein konzentrischer Briefaufbau des grie‐ chisch-römischen Briefes. Im einen Fall (Modell 1) rahmen Briefeingang und Briefschluss das Briefcorpus, im anderen Fall (Modell 2) rahmen Präskript und Postskript das Briefcorpus, das seinerseits von den Wohlergehenswün‐ schen der Corpuseröffnung und des Corpusaschlusses umrahmt ist:66 Konzentrischer Briefaufbau des kaiserzeitlichen Briefes: Beschreibungsmo‐ dell 1 Briefeingang Präskript

Proömium

Absender

superscriptio

Adressat

adscriptio

Gruß

salutatio

Wohlergehenswunsch

formula valetudinis initialis

Äußerungen des Dankes Äußerungen der Kontaktpflege Briefcorpus

64 65 66

Thematisches Anliegen des Briefes

So exemplarisch Klauck, Briefliteratur, 37f.45f.54. So exemplarisch Bauer, Epistolographie, 47f.84.125–127.222–225. Das Schema von Klauck, Briefliteratur, 54 (vgl. 40,52f.), blendet beide Modelle des griechisch-römischen Briefes sowie Elemente des neutestamentlichen Briefes ineinan‐ der und bietet somit ein Gesamtrepertoire brieflicher Aufbauelemente, in dem dann bestimmte Bausteine doppelt vorkommen.

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Briefschluss Epilog

Äußerungen der Kontaktpflege Grußausrichtung/Grußauftrag ggf. Eigenhändigkeitsvermerk

Postskript/

Wohlergehenswunsch /

formula valetudinis finalis

Eschatokoll

Schlussgruß des Absenders

67

Datumsangabe68

Konzentrischer Briefaufbau des kaiserzeitlichen Briefes: Beschreibungsmo‐ dell 2 Briefeingang Briefprä‐ skript

Absender

superscriptio

Adressat

adscriptio

Gruß

salutatio

Briefcorpus Corpuser‐ öffnung

Wohlergehenswunsch

formula valetudinis initialis

Äußerungen des Dankes

69

Corpusmitte Thematisches Anliegen des Briefes Corpusab‐ schluss

Äußerungen der Kontaktpflege Grußausrichtung/Grußauftrag Wohlergehenswunsch

67 68 69

Dieser Schlussgruß fehlt meist in amtlichen Briefen sowie in Urkunden und anderen rechtlichen Dokumenten, die in Briefform abgefasst sind. Vgl. dazu Bauer, Epistologra‐ phie, 50f. Eine Datumsangabe findet sich häufig in amtlichen Briefen und Geschäftsbriefen. In weniger offiziellen Briefen und in Privatbriefen ist sie eher selten. Vgl. dazu Bauer, Epistolographie, 51. Dafür, dass die Äußerungen des Dankens („thanksgiving“) kein festes Element des Briefeingangs seien, sondern das Briefcorpus eröffnen, plädiert eindeutig P. Arzt-Grab‐ ner, Paul’s Letter Thanksgiving, in: S.E. Porter/S.A. Adams (Ed.), Paul and the Ancient Letter Form (Pauline Studies 6), Leiden/Boston 2010, 129–158, 151: „Its epistolary position and function is to open the letter body (so it is not part of the letter opening or prooemium, but of the letter body).“

Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes

Briefschluss Postskript

Schlussgruß des Absenders70 Datumsangabe

Der Brief des Frühjudentums in der Kaiserzeit. Auch der jüdische Alltags‐ brief (oder: „dokumentarische Brief“) der römischen Kaiserzeit folgt der griechisch-römischen Briefkonvention: Sein Briefformular ist dem grie‐ chisch-römischen Brief vergleichbar.71 Das belegen jüdische Briefe aus der Kaiserzeit in aramäischer, hebräischer und griechischer Sprache (bzw. in griechischer Übersetzung).72 Jüdische Briefe spielen nach Ansicht der neueren Forschung eine wichtige Rolle für die Weiterentwicklung des griechisch-römischen Briefformulars durch Paulus.73 1.2.2 Das Briefformular des Paulusbriefes

Auch der Paulusbrief ist dreigeteilt: Er besteht aus Briefeingang, Briefcorpus, Briefschluss. Wie beim griechisch-römischen Brief, so lässt sich auch beim Paulusbrief fragen, wie diese Briefteile voneinander abzugrenzen sind. Der Briefeingang. Im vorliegenden Paulus-Lehrbuch werden zum Briefein‐ gang grundsätzlich Präskript und Proömium gezählt. Zur Diskussion steht jedoch ein weiteres für den Paulusbrief typisches Element: die briefliche Selbstempfehlung.74

70 71 72

73 74

S. Anm. 67. Vgl. Bauer, Epistolographie, 69; Doering, Jewish Letters, 378. Vgl. Bauer, Epistolographie, 65–71. Diese Briefe stellen zahlenmäßig eine wesentlich geringere Gruppe dar als die griechisch-römischen Briefe. Doering, Jewish Letters, 378, warnt jedoch davor, sie aus numerischen Gründen unterzubewerten. Dazu aber kritisch Bauer, Form, 46. – Bauer, Epistolographie, 66, wertet „als sichere Basis für die Erschließung der Briefgewohnheiten der Juden in der Kaiserzeit (…) nur die im Original erhaltenen Briefe aus Masada, Naḥal Hever, Naḥal Ṣe̕elim und Murabba’ât (sowie die jüdischen Papyrusbriefe aus Ägypten).“ Vgl. dazu ausführlich Doering, Jewish Letters, 377–428 (Paul’s Letters in the Context of Jewish Letter Writing). Vgl. dazu grundlegend Schnider/Stenger, Briefformular, 3–68.

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Briefeingang.1: Das Präskript. Ein sprachlicher Vergleich zwischen dem Präskript des (in sehr großer Zahl überlieferten) paganen kaiserzeitlichen Briefes, dem Präskript des (in nur sehr geringer Zahl überlieferten) jüdischen kaiserzeitlichen Briefes und dem Präskript des (ebenfalls nur in geringer Zahl überlieferten) Paulusbriefes ergibt, dass jeweils die Absenderangabe (superscriptio) im Nominativ und die Adressatenangabe (adscriptio) im Dativ stehen: X dem/der Y. Angeschlossen wird im griechisch-römischen und im griechischen jüdischen Brief ein Ein-Wort-Gruß im Infinitiv (χαίρειν: freuen, grüßen). Auch die semitischen (d. h. die aramäischen und hebräischen) Briefe unter den jüdischen Briefen bieten einen Ein-Wort-Gruß, weichen aber in der syntaktischen Gestaltung des Präskripts ab: Sie setzen statt des Infinitivs grüßen das Nomen schalom.75 Der Paulusbrief hingegen ergänzt die Absender- und Adressatenangabe durch eine auffällige Phrase, in der sich das griechische Äquivalent zu schalom mit einem zweiten Nomen und dem auf die Adressaten bezogenen Personalpronomen im Dativ verbindet: „Gnade euch und Friede“ (χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη). Schematisiert zeigen sich folgende Übereinstimmungen und Abweichun‐ gen: Präskript im paganen kaiser‐ zeitlicher Brief:

X dem/der Y

freuen/grüßen76 χαίρειν

Präskript im griechischen jüdi‐ X dem/der Y schen Brief:

freuen/grüßen χαίρειν

Präskript im semitischen jüdi‐ schen Brief:

X zu Y

Friede ‫ שלום‬bzw. ‫ שלם‬77

Präskript des Paulusbriefes (Grundform):

X den/dem YY/Y

Gnade euch und Friede χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη

75 76

77

Vgl. Doering, Jewish Letters, 406; Bauer, Epistolographie, 70. Vgl. dazu Bauer, Form, 34, der erläutert, dass bereits antike Grammatiker „diese zu ihrer Zeit nicht mehr verständliche Formulierung damit [erklärten], dass hier ein unvollständiger Satz vorliege, bei dem ein Verbum dicendi zu ergänzen sei“. Gemeint ist: „X [sagt] dem/der Y, [dass er/sie sich] freuen [= gegrüßt sein] solle.“ Doering, Jewish Letters, 410 f., weist auf die Erweiterung des Ein-Wort-Grußes ‫ שלם‬im 2. Baruchbrief hin, dessen griechisches Äquivalent ἔλεος καὶ εἰρήνη (Barmherzigkeit und Friede) sei. Diese Formulierung kommt dem Segenswunsch des Paulusbriefes sehr nahe. Vgl. dazu auch C. Breytenbach, ‚Charis‘ and ‚Eleos‘ in Paul’s Letter to the Romans, in: U. Schnelle (Ed.), The Letter to the Romans, Leuven 2009, 247–277.

Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes

Das Präskript des Paulusbriefes greift sowohl griechisch-römische als auch jüdische Briefkonvention auf und vollzieht die (vielleicht im semitischen jüdischen Brief schon angelegte) Ausgestaltung des Grußes zu einem Segens‐ wunsch. Mit χάρις (Gnade) ist dabei ein zentrales Stichwort paulinischer Heilsverkündigung in das Präskript integriert, 78 das auch im Briefpostskript wiederaufgenommen wird (s.u.). Briefeingang.2: Das Proömium. Der Paulusbrief formuliert den an das Prä‐ skript sich anschließenden Briefabschnitt als „briefliche Danksagung“, die Dankbarkeit und Freude darüber zum Ausdruck bringt, dass die Gemeinde sich im Glauben, der die Briefpartner eint, bewährt. Damit einher geht ein „briefliches Gebetsgedenken“ bzw. ein „brieflicher Gebetsbericht“, in dem versichert wird, dass der Briefautor ohne Unterlass an die Briefadressaten denkt, dass er Gott für die Verbindung zu ihnen in der Gemeinschaft des Evangeliums dankt und zu Gott betet, dass sich ein Besuch bei der Ge‐ meinde fügen möge (vgl. exemplarisch Röm 1,8-12, Phil 1,3–11). Gegenüber griechisch-römischer Briefkonvention, in der die Bitte an die Götter um Unversehrtheit keineswegs regelmäßig in Verbindung mit dem Wohlerge‐ henswunsch des Proömiums auftritt, baut der Paulusbrief das Briefelement des Dankes an Gott zu einer festen Form aus. Er ist dabei möglicherweise be‐ einflusst von griechisch-jüdischer und semitisch-jüdischer Briefkonvention, für die ein briefliches Lob Gottes (Eulogie) im Rahmen des Briefeingangs belegt ist.79 Briefeingang.3 oder Briefcorpuseröffnung? Die briefliche Selbstempfehlung. Bei diesem brieflichen Element handelt es sich um einen emotional gefärb‐ ten Abschnitt, in dem Paulus die Adressaten seines Briefes zum ersten Mal mit der Anrede Brüder/Geschwister (ἀδελφοί) anspricht80 und ihnen sein Wirken im Dienste des Evangeliums sowie die Beziehung, die ihn mit der Gemeinde verbindet, in Erinnerung ruft. Ziel dieses brieflichen Elements ist es, den Briefabsender mit dem nötigen Ethos auszustatten, das ihn für seine Briefpartner glaubwürdig macht („Ethosbeschaffung“/“Ethos‐

78 79 80

Vgl. dazu Bauer, Form, 36. Beispiele bei Doering, Jewish Letters, 415–421. Im Galaterbrief fehlt dieses kommunikative Merkmal, an dem der Beginn der brieflichen Selbstempfehlung zu erkennen ist. Im Philemonbrief ist der pluralische Vokativ ἀδελφοί abgewandelt in den Singular ἀδελφέ.

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sicherung“).81 Gehört dieses Element zum Briefeingang82 oder markiert es die Eröffnung des Briefcorpus?83 Da etwa der 1. Korintherbrief eine weit ausgreifende briefliche Selbstempfehlung enthält, die bereits ein zentrales Thema des Briefes (die Spannungen und Spaltungen in der Gemeinde) ausführlich reflektiert (1 Kor 1,10–4,21), legt sich eine Einschätzung des Elements als Corpuseröffnung nahe. Wenn sich im 1. Thessalonicherbrief nicht nur eine erste (1 Thess 2,1-12), sondern auch eine zweite briefliche Selbstempfehlung findet, die sich weit in die thematischen Ausführungen des Briefes hinein erstreckt (1 Thess 2,17–3,8), so legt es sich ebenfalls nahe, dieses briefliche Element nicht als feststehendes Element des Briefanfangs zu werten, sondern dem Briefcorpus zuzuordnen. Das gilt auch für die brieflichen Selbstempfehlungen in 2 Kor 1,8-2,17. Umgekehrt tritt dieses briefliche Element im Römerbrief in sehr knappem Umfang und deutlich vor Beginn der thematischen Ausführungen, die mit Röm 1,16f. beginnen, in Erscheinung (Röm 1,13-15). Daher lässt sich hier die Zuordnung der brieflichen Selbstempfehlung zum Briefeingang begründen.84 Auch die nur angedeutete Selbstempfehlung des Philemonbriefes (Phlm 7) gehört zum Briefeingang. Beim Galaterbrief hingegen spricht die Beobachtung, dass die durch die Anrede ἀδελφοί eingeleitete briefliche Selbstempfehlung einen umfangreichen, auf Ethossicherung zielenden autobiographischen Briefabschnitt bildet (Gal 1,11–2,21), der das theologische Plädoyer gegen die Beschneidungsforderung maßgeblich vorbereitet, dafür, den Abschnitt nicht dem Briefeingang, sondern der Briefcorpuseröffnung zuzurechnen. Genauso lässt sich im Blick auf die ebenfalls stark autobiographisch geprägte briefliche Selbstempfehlung des Philipperbriefes argumentieren (Phil 1,12-30). Die briefliche Selbstempfehlung ist also im Römerbrief und im Philemonbrief zum Briefeingang zu zählen, gehört aber in den übrigen Paulusbriefen zur Briefcorpuseröffnung.

81 82 83 84

Vgl. Bauer, Epistolographie, 85; Schnider/Stenger, Briefformular, 51, 56–59. Die briefliche Selbstempfehlung übernimmt eine der Funktionen, die das exordium antiker Reden prägt (Anrede der Zuhörenden, captatio benevolentiae, Ethosbeschaffung des Redners). So exemplarisch Schnider/Stenger, Briefformular, 50–68. So exemplarisch Bauer, Epistolographie, 83. Im vorliegenden Paulus-Lehrbuch wird die briefliche Selbstempfehlung bei der Glie‐ derung des Römerbriefes explizit neben Präskript und Proömium zum Briefeingang gezählt. Bei den Gliederungen der übrigen Briefe wird sie hingegen weder für den Briefeingang noch für das Briefcorpus eigens ausgewiesen. Damit wird sie stillschwei‐ gend in den jeweils ersten Abschnitt des Briefcorpus integriert.

Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes

Die Briefcorpusmitte. Der Paulusbrief nutzt die Briefcorpusmitte intensiv zur thematischen Entfaltung der Heilsbotschaft, zur Erschließung theologischer Begriffe und Themen sowie zur Durchdringung von Fragen, die sich dem religionsgeschichtlich jungen Glauben an Jesus Christus stellen. Dieser Briefteil ist formal weniger fest geprägt als der Briefrahmen.85 Vor allem die angelsächsische Forschung hat jedoch versucht, auch für die Briefmitte epistolare Formeln zu beschreiben, die für den Aufbau der Briefcorpusmitte gliedernde Funktion haben, so etwa die Rekursformel (Bezugnahme auf Instruktionen, die der Briefabsender den Briefadressaten früher erteilt hat), die Kundgabeformel (Ankündigung des Briefautors, die Adressaten zu informieren über einen Sachverhalt),86 die Ersuchensformel (Ermahnung der Adressaten durch den Briefautor)87 und die Schwurformel (Beteuerung des Briefautors, nicht zu lügen, sondern die Wahrheit zu sagen). Der Briefcorpusabschluss. Der Paulusbrief überführt gegen Ende die in der Briefcorpusmitte verhandelten theologischen Einsichten in ethische Refle‐ xionen und Handlungsanweisungen (Paränese). Schnider/Stenger werten diesen Briefteil nicht als Briefcorpusabschluss, sondern als ersten Teil eines breit angelegten Briefschlusses, dessen zweiten Teil das Postskript bildet.88 Im vorliegenden Paulus-Lehrbuch wird der Briefschluss hingegen begrenzt auf das Postskript. Der Briefschluss: Das Postskript. 89 Der Paulusbrief endet, ggf. verbunden mit einem Eigenhändigkeitsvermerk, mit Grüßen (Grußausrichtung/Gruß‐ auftrag) und einem markanten Eschatokoll in Form eines Segenszuspruchs, dessen Leitwort „Gnade“ (χάρις) den Ringschluss herstellt zur salutatio des Präskripts. Im Vergleich mit dem paganen und jüdischen kaiserzeitlichen Brief ergeben sich schematisiert folgende Übereinstimmungen und Abwei‐ chungen:

85 86 87 88 89

Vgl. dazu Schnider/Stenger, Briefformular, 168–181. Die Kundgabeformel tritt nicht nur in der Briefcorpusmitte auf, sondern leitet auch die briefliche Selbstempfehlung der Briefcorpuseröffnung ein. Die Ersuchensformel tritt auch in der Paränese des Briefcorpusabschlusses auf. Vgl. Schnider/Stenger, Briefformular, 71–167. Vgl. dazu ausführlich J.A.D. Weima, Sincerely, Paul: The Significance of the Pauline Letter Closings, in: Porter/Adams, Paul (Anm. 69), 307–345.

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Postkript im paganen kai‐ serzeitlicher Brief:

Lebe/lebt wohl! ἔρρωσο/ἔρρωσθε; διευτύχει90

Postkript im griechischen jüdischen Brief:

Lebe/lebt wohl! ἔρρωσο/ἔρρωσθε91

Postkript im semitischen jüdischen Brief:

(Es sei) Friede ‫ שלום‬bzw. ‫שלם‬

Postkript des Paulusbriefes Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus mit euch. (Grundform): Ἡ χάρις τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ μεθ’ ὑμῶν.

Schematisiert ergibt sich insgesamt folgender konzentrischer Briefaufbau des Paulusbriefes: Briefeingang Präskript

Proömium

Absender

superscriptio

Adressat

adscriptio

Gruß als Segenswunsch

salutatio

Briefliche Danksagung mit Gebetsbericht

Briefcorpus Corpuseröffnung

Briefliche Selbstempfehlung zur Ethossicherung des Briefabsenders

Corpusmitte

Thematische Entfaltung des Evangeliums Erschließung theologischer Begriffe und Themen Durchdringung von Glaubensfragen

Corpusabschluss Ethische Reflexionen, Handlungsanweisun‐ gen, Mahnungen (Paränese)

90 91

Ab dem 1. Jh. n. Chr., also zur Zeit des Paulus, kommt der Lebe-wohl-Gruß διευτύχει in offiziellen Briefen vor, während in Briefen an Freunde und Familienangehörige die älteren ἔρρωσο/ἔρρωσθε-Formeln in Verwendung bleiben. Vgl. dazu Bauer, Epistolographie, 50. Vgl. Doering, Jewish Letters, 425.

Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes

Briefschluss Postskript

ggf. Eigenhändigkeitsvermerk Grußausrichtung/Grußauftrag Eschatokoll: Schlussgruß als Segenszu‐ spruch/Entlass-Segen

2 Paulus und die antike Brieftheorie

Inhalt und Gestaltung des Briefes sind in der Antike nicht nur Gegenstand der schulischen Unterweisung und der brieflichen Praxis, sondern auch der theoretischen Reflexion. Obwohl es keine Belege dafür gibt, dass Paulus an dieser gelehrten Diskussion teilgenommen hat, so spiegeln seine Briefe, dass er mit der antiken Idee vom Wesen des Briefes und mit den gängigen Brieftypen vertraut war. 2.1 Die antike Idee vom Wesen des Briefes 2.1.1 Der Brief als Gespräch

Der antike Brief imitiert, wie Koskenniemi für die hellenistischen Briefe gezeigt hat, die persönliche Gesprächsbegegnung.92 Dabei entspricht das Präskript der Begrüßung der Gesprächspartner, das Postskript ihrer Verab‐ schiedung. Das Briefcorpus selbst stellt das eigentliche Gespräch dar, in dem Gedanken ausgetauscht und Inhalte mitgeteilt werden. Bereits die frühesten Überlegungen zu Wesen und Funktion des Briefes aus der Anfangszeit des Hellenismus, die in einer wohl aus der frühen Kai‐ serzeit stammenden Stillehre überliefert, kommentiert und weiterentwickelt sind93 (Demetrius/Ps.-Demetrius, περὶ ἑρμηνείας/de elocutione/über den Stil, §§ 223–27794), setzen den Brief in Beziehung zum Gespräch.95 Ein entspre‐ chender brieftheoretischer Passus formuliert in Demetrius/Ps.-Demetrius

92 93 94 95

Vgl. Koskenniemi, Idee, 46, 155–200; Hoegen-Rohls, Epistolographie, 26 f. Zur schwierigen Frage der Identifizierung des Autors und der Datierung der Schrift Demetrius/Ps.-Demetrius vgl. ausführlich Koskenniemi, Idee, 21–47; pointiert Bauer, Form, 42. Der Text des Demetrius/Ps.-Demetrius ist leicht zugänglich über Malherbe, Epistolary Theorists, 16–19; Klauck, Brieflehre, 149–152. Vgl. zum Folgenden Koskenniemi, Idee, 155–200; Bauer, Epistolographie, 33–44; Hoe‐ gen-Rohls, Epistolographie, 26–31.

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§ 223–224, dass „der Brief wie die eine von den beiden Rollen des Dialogs“ aufzufassen sei. Mit „Dialog“ ist dabei der verschriftlichte, literarische Dialog gemeint, der sich stilistisch an der Spontaneität des mündlichen Gesprächs orientieren solle. Der Brief, dem mündlichen Gespräch verwandt, müsse jedoch stilistisch sorgfältiger ausgearbeitet werden, um in seiner sprachlichen Form Klarheit und Eindeutigkeit zu erlangen. Allerdings dürfe nicht das Stilniveau einer Festrede erreicht werden (§ 225). Der Briefstil solle vielmehr eine Mischung aus anmutigem (gemeint ist: elegantem) und schlichtem Stil sein (§ 235). Die griechische Auffassung des Briefes als der einen Seite des Gesprächs findet sich auf lateinischer Seite bei Cicero wieder.96 In einer seiner Reden, vor allem aber in seinen Briefen an Atticus und die Freunde reflektiert Cicero den Brief unter dem Kriterium der Gesprächssituation, wobei ihm sowohl der lebhafte Gedankenaustausch in einem rege geführten Briefwechsel als auch der einzelne Brief als Gespräch gilt. Cicero bezeichnet den Brief als „Gespräch voneinander getrennter Freunde“ (amicorum conloquia absen‐ tium) oder als „vertraute Unterhaltung“ (sermo familiaris). Das briefliche Sprechen charakterisiert er durch die Verben colloqui (sich besprechen, sich unterreden), narrare (kundtun, erzählen) und iocari (scherzen, spaßen), wobei colloqui Form und Situation des brieflichen Gesprächs benennt (die spontane Unterredung), während narrare und iocari sich auf Stil und Inhalt beziehen: Im Brief werden Ereignisse/Neuigkeiten erzählt/berichtet, und es wird scherzhaft geplaudert. 2.1.2 Die Idee der Anwesenheit

Sowohl die Überlegungen des Demetrius/Ps.-Demetrius als auch jene Cice‐ ros erwecken den Eindruck, dass der Brief in der Kaiserzeit brieftheoretisch vor allem im Blick auf den Privatbrief reflektiert wird.97 Wesen und Funktion des Briefes liegen für die kaiserzeitliche Brieftheorie („Epistolographie“) darin, zeitliche und räumliche Trennung zu überwinden: Voneinander getrennte Freunde oder Familienmitglieder schreiben einander, um die als schmerzlich erlebte Distanz zu überbrücken, Sehnsucht zu äußern und Trost zu spenden. Dabei erzeugt der Brief eine „Als-ob-Gegenwart“ der

96 97

Vgl. dazu ausführlich mit Textbelegen Thraede, Brieftopik, 27–38, 46f. Demetrius/Ps.-Demetrius § 234 erläutert allerdings auch den Stil des Briefes „an Städte und an Herrschende“: „Solche Briefe sollten im Ton möglichst ein klein wenig gehoben sein.“ Vgl. auch im vorliegenden Beitrag Abschnitt 2.2.

Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes

Briefpartner und eine „Als-ob-Unmittelbarkeit“ des brieflich geführten Gesprächs:98 Der Brief vergegenwärtigt dem Schreibenden den Angeschrie‐ benen und dem Lesenden den Absender in einer Weise, als wären beide beieinander und könnten sich unmittelbar austauschen. Diese „briefliche Anwesenheit“ („briefliche Parusie“), obwohl sie sich rein geistig vollzieht, wird als quasi-real erlebt. So äußert Cicero in einem Brief an C. Cassius: „Du scheinst mir gleichsam gegenüberzusitzen, wenn ich etwas an Dich schreibe, und zwar nicht als Vision“ (fam. 15,16,1).99 2.1.3 Der Brief als Spiegel der Seele und als Freundschaftsgeschenk

Demetrius/Ps.-Demetrius bietet weitere Einblicke in die Idee des antiken Briefes. So hält er in § 227 fest, dass der Brief „das Charakteristische“ (τὸ ἠθικόν) des Schreibenden enthalten sollte: „Gewissermaßen als ein Abbild seiner eigenen Seele nämlich verfasst jeder seinen Brief.“ Nirgendwo werde die charakterliche Disposition einer Person so deutlich wie im Brief. In § 224 wird formuliert, dass der Brief „gewissermaßen als Geschenk übersandt wird.“ In §§ 231 –232 heißt es, dass ein Brief „ein Zeichen freundschaftlicher Gesinnung in geraffter Form“ sei. Zur Schönheit des Briefes gehöre das Bezeugen von Wohlwollen, während Mahnungen unangebracht seien. 2.2 Brieftypen, Musterbriefe, Klassifikation von Briefen

Eine ebenfalls „Ps.-Demetrius“ genannte, mit der Stillehre des Deme‐ trius/Ps.-Demetrius jedoch nicht identische Schrift unter dem Titel τύποι ἐπιστολικοί („briefliche Typen“) stellt das älteste griechische Brief-Hand‐ buch (einen sog. „Briefsteller“) dar, der Anleitung für das berufsmäßige Schreiben amtlicher und offizieller Briefe gibt.100 Aufgelistet werden 21 Brieftypen, zu denen jeweils eine Definition und ein Musterbrief geboten werden. An erster Stelle steht der für die antike Brieftheorie so wichtige Freundschaftsbrief, dessen Definition erkennen lässt, dass dieser Brieftyp nicht auf Privatbriefe beschränkt ist. Über ihn heißt es: „Der Freundschafts‐ brief also ist ein Brief, der den Schein erweckt, von einem Freund an einen Freund geschrieben zu sein. Es schreiben ihn aber nicht nur Leute, die eng befreundet sind. Oftmals nämlich sehen sich hohe Beamte veranlasst,

98 99 100

Vgl. zum Folgenden Thraede, Brieftopik, 39–47. Vgl. den lateinischen Text bei Thraede, Brieftopik, 41. Vgl. zum Folgenden Klauck, Brieflehre, 157–164 (mit Textbelegen); Bauer, Epistologra‐ phie, 40–44.

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mit Untergebenen in freundschaftlichem Ton schriftlich zu verkehren, und ebenso mit Gleichgestellten, mit Gouverneuren, Vizekönigen, Finanzchefs. Manchmal schreiben sie ihnen, obwohl sie sie gar nicht persönlich kennen.“ Die weiteren Ausführungen machen deutlich, dass der freundschaftliche Ton im offiziellen Brief als Mittel zum Zweck dient: Er soll bewirken, dass etwa Anweisungen akzeptiert und umgesetzt werden. Neben Brieftypen wie dem Empfehlungsbrief, dem Trostbrief, dem loben‐ den Brief, dem Gratulationsbrief und dem Dankbrief führt der Briefsteller Ps.-Demetrius – anders als die Stillehre Demetrius/Ps.-Demetrius, die davon abrät, im Brief zu mahnen (§ 232) – ausdrücklich auch solche Brieftypen auf, in denen ein anderer als der freundschaftliche Ton herrscht. Dazu zählen etwa der Brief, der Vorhaltungen macht, der vorwurfsvolle Brief, der Scheltbrief, der Drohbrief und der tadelnde Brief. Alle in dem Briefhandbuch des Ps.-Demetrius aufgeführten Briefe können als „echte Briefe“, „Gebrauchsbriefe“ bzw. „nicht-literarische“ Briefe klassi‐ fiziert werden, denen die Kategorie der „literarischen Briefe“ gegenübersteht (fingierte Briefe, wissenschaftliche Briefessays, Briefgedichte, Briefeinlagen in der antiken Romanliteratur, philosophische Lehrbriefe). Adolf Deissmann hatte zu Beginn des 20. Jh.s den Unterschied zwischen beiden Briefklassen in seiner forschungsgeschichtlich weitreichenden Monographie Licht vom Osten auf die Formel „Brief versus Epistel“ gebracht: „Der Brief ist ein Stück Leben, die Epistel ein Erzeugnis literarischer Kunst.“101 Für den Paulusbrief folgerte er, dass dieser zu den „wirklichen“, nicht-literarischen Briefen zu zählen sei.102 Die neuere Forschung hält diese Einschätzung in ihrer Einseitigkeit nicht mehr aufrecht103 – nicht zuletzt deshalb, weil die antiken Briefhandbücher zeigen, dass auch „wirkliche“ Gebrauchsbriefe in der kaiserzeitlichen Kultur bewusst stilisierte Texte sind, die mit den „unliterarischen“ Kategorien des Natürlichen, Spontanen und Ungestalteten nicht angemessen erfasst sind.

101 102

103

Deissmann, Licht vom Osten, 195. Vgl. dazu ausführlich Hoegen-Rohls, Epistolographie, 13–18, 66–91. Deissmann, Licht vom Osten, 198–206; vgl. ders., Bibelstudien. Beiträge, zumeist aus den Papyri und Inschriften, zur Geschichte der Sprache, des Schrifttums und der Religion des hellenistischen Judentums und des Urchristentums, Marburg 1895 (Nachdruck Hildesheim/New York 1977), 234–242; ders., Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Skizze (1911), Tübingen 21925, 8–11. Vgl. dazu exemplarisch Bauer, Epistolographie; Hoegen-Rohls, Epistolographie.

Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes

2.3 Epistolographie und Rhetorik

Die antike Brieftheorie (Epistolographie) entwickelt sich im Rahmen der antiken Theorie der Redekunst (Rhetorik), die von Gorgias bis Quintilian mit dem praktischen Ziel gelehrt wird, Reden zu konzipieren, auszuarbeiten und vorzutragen. Antike Lehrbücher zur Rhetorik behandeln auch den Brief. Im Schulunterricht ist das Erlernen des Briefeschreibens Teil des Rhe‐ torikunterrichts, und zwar im Kontext des Erlernens von sog. „Ethopoiie“: Schüler lernen, sich in das Leben und den Charakter einer historischen oder literarischen Person hineinzuversetzen, indem sie unter deren Namen und in deren Stil fiktive Briefe verfassen. Das Schreiben solcher Briefe bereitet darauf vor, auch Reden im Stil einer historischen, literarischen oder mythischen Figur zu formulieren.104 Die Paulusbriefe entstehen zu einer Zeit, in der die Epistolographie von der hellenistischen Rhetorik durchdrungen ist. Eine historisch angemessene Analyse der Brieflichkeit der Paulusbriefe muss daher Rhetorik und Episto‐ lographie aufeinander beziehen. Der Gewinn eines solchen Zugangs liegt darin, dem Ineinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit gerecht werden zu können, das den Paulusbrief prägt. Denn für diesen gilt: „Literalität ist nicht vollständig unabhängig von Mündlichkeit zu denken.“105 Oder mit anderen Worten: „Paulus ist auch als Briefschreiber Redner.“106 Der Paulusbrief nutzt bewusst rhetorische Figuren und Argumentationsmuster, um bei seinen Adressaten Wirkung zu erzielen. Er bedient sich dabei auch rhetorischer Formen der sog. „Diatribe“. Dabei handelt es sich um einen volkstümlichen, am Gespräch orientierten Vortragsstil, der seit hellenisti‐ scher Zeit auf dem Marktplatz und in den Philosophenschulen für Vorträge vor einem Laienpublikum gepflegt wird. Kennzeichnend für diesen Stil ist seine pädagogisch-didaktische Ausrichtung, die rhetorisch durch direkte

104 105

106

Vgl. dazu Bauer, Epistolographie, 26–30; Hoegen-Rohls, Epistolographie, 40–48. E.-M. Becker, Literarisierung und Kanonisierung im frühen Christentum: Einführende Überlegungen zur Entstehung und Bedeutung des neutestamentlichen Kanons, in: dies./S. Scholz (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungspro‐ zesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, Berlin/New York 2012, 389–398: 392. J. Weiß; Art. Literaturgeschichte, RGG III, Tübingen 1912, Sp. 2175 –2215: 2203. Dementsprechend sind nach ders., Beiträge zur paulinischen Rhetorik, in: Theologische Studien (FS B. Weiß), Göttingen 1897, 165–247: 166, die Paulusbriefe „mit dem Ohre zu lesen“. Diesem hermeneutischen Postulat entspricht die Forderung eines oral reading der Paulusbriefe. Vgl. dazu J.A. Loubser, Orality and Literacy in the Pauline Epistles. Some New Hermeneutical Implications, Neotest. 29 (1995), 61–74: 67, 73.

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Anreden der Zuhörenden und in den Vortrag eingestreute Appelle, Fragen und Einwände verstärkt wird. Dass der Paulusbrief solche rhetorischen Gesten aufgreift, belegt sowohl die Vertrautheit mit der Idee des Briefes als Gespräch als auch die Vertrautheit mit der praktischen Umsetzung dieser Idee in entsprechende Sprachformen, die aus ihrer ursprünglich mündlichen Verwendungssituation in die Schriftlichkeit des Briefes überführt werden. Die in der Paulusforschung diskutierte Frage, ob Paulus einzelne seiner Briefe (wie etwa den Galaterbrief)107 oder Briefteile (wie etwa 2 Kor 8–9)108 regelrecht als Reden, die einem der antiken Redetypen zugeordnet werden könnten, konstruiere, ist mit dem Hinweis darauf zu beantworten, dass die rhetorische Analyse des Paulusbriefes gegenüber der epistolographischen Analyse nicht verselbständigt, sondern in diese integriert werden sollte. 3 Funktion und Idee des Paulusbriefes

Der Paulusbrief partizipiert an den Grundfunktionen des Briefes. Diese sind: Selbstäußerung des Briefautors, Informieren, Appellieren, Kontakt pflegen. Durch die Umsetzung dieser Grundfunktionen im Rahmen der Kommunikation zwischen Apostel und Gemeinde erhält der Paulusbrief die Funktion des Apos‐ telbriefs und des Gemeindebriefs. Ausgerichtet auf die Sache des Evangeliums hat er die Funktion des Werbebriefs. Der Paulusbrief geht dabei über rein „menschliche“ Funktionen hinaus und bringt Gott als transzendenten Brief‐ partner mit ins Spiel. Dadurch gewinnt er die Funktion des „kerygmatischen Briefs“. 3.1 Der Paulusbrief als echter und als literarisch stilisierter Brief

Ganz sicher handelt es sich bei den Briefen, die Paulus in dem Jahrzehnt zwischen 50 und 60 n. Chr. schreibt, um echte Briefe: Sie werden aus konkretem Anlass geschrieben und richten sich an konkrete Adressaten, an die sie versendet werden. Insofern sind die Paulusbriefe Gebrauchsund Gelegenheitsbriefe, wie Deissmann es herausgestellt hatte (1908/1923). Innerhalb der neutestamentlichen Forschung hatte jedoch schon Paul Wendland (1912) betont, dass damit nicht, wie Deissmann meinte, eine „unliterarische Brieflichkeit“ einhergehe.109 Dem entsprach die Kritik der 107 108 109

Vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag zum Galaterbrief von J. Frey. Vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag zum 2. Korintherbrief von E.-M. Becker. Vgl. P. Wendland, Die urchristlichen Literaturformen, Tübingen 1912.

Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes

Klassischen Philologie an Deissmanns Urteil.110 Inzwischen ist aus Sicht der Papyrologie belegt, dass auch der griechisch-römische Privatbrief, wie ihn unzählige Alltagspapyri dokumentieren, vielfach ein literarisch stilisiertes Niveau aufweist, das den Bildungsstand der Briefeschreibenden spiegelt.111 Die neuere Forschung bescheinigt dem Paulusbrief aufgrund seiner Beherr‐ schung des mündlichen wie schriftlichen Stilniveaus, seines erkennbaren konzeptionellen Gestaltungswillens und seines Interesses an öffentlicher Wirksamkeit literarische Qualität.112 Der Paulusbrief hat im Kontext der kaiserzeitlichen Epistolographie Anteil an der bildungsgeschichtlichen Ent‐ wicklung vom gelegenheitsbezogenen Brieftyp zur literarisierten Form des kunstvollen Briefes. 3.2 Gemeindebrief, Apostelbrief, Werbebrief und mehr: Der Paulusbrief als multiple Mischform antiker Brieftypen und Brieffunktionen

Der Paulusbrief partizipiert im Sinne antiker Epistolographie grundsätzlich am Brieftyp des Freundschaftsbriefs und des Lehrbriefs, enthält typische Elemente des Empfehlungs- und Beratungsbriefs, verwendet Sprachgebär‐ den des Trost- und des Scheltbriefs und integriert dabei immer Formen des Frage- und Antwortbriefs. Er erfüllt die grundlegenden Brieffunktionen: Er informiert (über das Evangelium), er appelliert (an den Glauben und das Ethos der Adressaten), er pflegt den Kontakt (mit seinen Gemeinden) und äußert sich über seine Person und sein Leben113 (als von Gott beru‐ fener Apostel und Diener Christi). Mit diesen grundlegenden Brieffunk‐ tionen erfüllt der Paulusbrief zugleich die konkreten Funktionen eines Gemeindebriefs und eines Apostelbriefs: die Funktion der Gemeindeleitung, die den jüdischen Diasporabriefen vergleichbar ist,114 die Funktion, ein Gemeindenetzwerk aufzubauen,115 sowie die Funktionen der apostolischen Rede/Predigt und der apostolischen Seelsorge zum Zweck der Fortführung, 110 111 112 113 114 115

Vgl. u. a. E. Norden, Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede, Berlin 1913; I. Sykutris, Art. Epistolographie, RE Supplementbd. V (1931 [1962]), 185–220; Koskenniemi, Idee; Thraede, Brieftopik; Bauer, Epistolographie. Vgl. die Arbeiten von Arzt-Grabner und C.M. Kreinecker. Vgl. u. a. D. Dormeyer, Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte. Eine Einführung, Darmstadt 1999; Becker, Briefhermeneutik, 113–117; Hoegen-Rohls, Epistolographie, 66–91. Vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag zur Person des Paulus von E.-M. Becker. Vgl. I. Taatz, Frühjüdische Briefe. Die Paulinischen Biefe im Rahmen der offiziellen religiösen Briefe des Frühjudentums (NTOA 16), Fribourg/Göttingen 1991. Vgl. Doering, Jewish Letters, 508f.

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Ergänzung und Substitution der Verkündigung und Seelsorge vor Ort.116 In allen seinen grundlegenden und konkreten Funktionen ist der Paulusbrief eine Antwort auf die Herausforderungen der Mission unter den geographi‐ schen, kulturellen und religiösen Bedingungen des ausgedehnten antiken Mittelmeerraums: Nicht zuletzt fungiert der Paulusbrief in diesem soziokulturellen Kontext als Werbebrief für das Evangelium vom Heilshandeln Gottes in Jesus Christus.117 3.3 Der Paulusbrief als kerygmatischer Brief

Paulus verwendet für die zentrale Aufgabe der öffentlichen Kommunikation und Verbreitung des Evangeliums, der er nicht nur mündlich, sondern in Form seiner Briefe auch schriftlich nachkommt, die synonymen Ausdrücke τὸ εὐαγγέλιον εὐαγγελίζεσθαι (1 Kor 15,1) und τὸ εὐαγγέλιον κηρύσσειν (Gal 2,2). Quellensprachlich basiert kann daher die Funktion und Idee des Paulusbriefs auch mit dem Label „kerygmatischer Brief“ versehen werden (nach C. Hoegen-Rohls 118). 3.3.1 Das Briefformular des kerygmatischen Briefes

Der kerygmatische Paulusbrief bedient sich des paganen kaiserzeitlichen Briefformulars, bei dem sich Briefeingang und Briefschluss symmetrisch um das Briefcorpus legen. Dabei werden jeweils der Briefeingangsgruß (salutatio) und der konventionelle Schlussgruß (Eschatokoll) in einen Se‐ genswunsch verwandelt. Der Paulusbrief gibt sich auf diese Weise zu Beginn und am Ende als Sprechakt des Segnens zu erkennen. Dass dabei die in 1 Thess 1,2 verwendete Grundform des Eingangssegens („Gnade euch und Friede“/χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη) in allen späteren echten Paulusbriefen durch die Formel „von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus/ἀπὸ θεοῦ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ“ erweitert wird, zeigt, dass der Paulusbrief über sich selbst hinaus auf Gott als den implizit Segnenden

116 117 118

Vgl. K. Berger, Apostelbrief und apostolische Rede. Zum Formular frühchristlicher Briefe, ZNW 65 (1974), 190–231; Bosenius, „Apostelbrief“. Deissmann, Licht vom Osten, 205, spricht von den Paulusbriefen als „Propaganda des Christuskultes“. O. Wischmeyer spricht im vorliegenden Band davon, dass sich Paulus mit seinen Briefen „werbend“ verhält. Vgl. dazu Hoegen-Rohls, Epistolographie, 92–117. Gesprochen werden könnte auf der Basis des Sprachbefunds auch vom „evangelisierenden Brief“, doch schwingt im Ausdruck „kerygmatischer Brief“ das rezeptionsgeschichtliche Faktum mit, dass Paulus in den Pastoralbriefen als „Keryx“ (Herold) bezeichnet wird.

Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes

verweist. In der Logik des Briefformulars übernimmt Gott damit neben dem expliziten Absender Paulus die Rolle des impliziten brieflichen Mitabsen‐ ders. Im Paulusbrief kommuniziert, vermittelt durch den von Gott berufenen Apostel, Gott/Christus selbst mit den Gemeinden. Das bekräftigt auch der briefliche Schluss-Segen „Die Gnade [unseres] Herrn Jesus Christus (sei) mit euch“ (vgl. 1 Thess 5,28; Gal 6,18; Phil 4,23; Phlm 25; Röm 16,20). Das in dieser Weise modifizierte Eschatokoll hält am Ende des Briefes noch einmal fest, dass die briefliche Kommunikation im Zeichen des segnenden Gottes steht. Der Segen wird zum brieflichen Entlass-Segen, der die Angeschriebenen der weiteren segnenden Wirksamkeit Gottes/Christi auch über den Brief hinaus versichert.119 3.3.2 Der kerygmatische Brief als Gespräch

Wie der pagane kaiserzeitliche Brief versteht sich der Paulusbrief als Ge‐ spräch: Er imitiert und ersetzt die persönliche Gesprächsbegegnung. Durch seinen Rahmen gibt der Paulusbrief aber zu verstehen, dass er mehr ist als ein brieflich geführtes zwischenmenschliches Gespräch und mehr als ein kommunikatives Handeln des Apostels an seinen Gemeinden. Das lässt sich außer an den in Prä- und Postskript verwirklichten Segensgesten daran er‐ kennen, dass die Absenderangabe (superscriptio) und die Adressatenangabe (adscriptio) durch sog. Intitulationen oder Titulaturen (Würdebezeichnun‐ gen) ergänzt werden, die signalisieren, dass die Briefpartner ihre Identität und Würde von Gott her erhalten. So stellt sich Paulus seinen Briefpartnern nicht lediglich namentlich als „Paulus“, sondern elaboriert etwa als „Paulus, berufener Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes“ (1 Kor 1,1) oder als „Paulus, Knecht Christi Jesu, berufener Apostel, ausgesondert zum Evangelium Gottes“ (Röm 1,1) vor. Seine brieflichen Gesprächspartner nennt er etwa „Geliebte Gottes“ und „berufene Heilige“ (1 Kor 1,2; Röm 1,7), „Berufene Jesu Christi“ (Röm 1,6) oder „Heilige in Christus Jesus“ (Phil 1,1). Das von Gott/Christus her bestimmte Selbstverständnis verbindet die brieflich Kommunizierenden untereinander, macht sie zu „Freunden im Glauben“ und vergegenwärtigt zugleich den, auf den sich ihr Glaube beruft. Der kerygmatische Brief erzeugt auf diese Weise ein dreidimensionales Gespräch, an dem außer dem Apostel und seiner Gemeinde auch Gott/ Christus als Gesprächspartner teilnimmt.120 119 120

Vgl. zum Vorigen Hoegen-Rohls, Epistolographie, 109–113. Vgl. zum Vorigen Hoegen-Rohls, Epistolographie, 112, 114.

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3.3.3 Die Idee der Anwesenheit im kerygmatischen Brief

Wenn nach brieftheoretischer Auffassung der Kaiserzeit der Absender beim Adressaten gegenwärtig ist und umgekehrt, so gilt das in gleicher und besonderer Weise für den kerygmatischen Brief: Die „briefliche Parusie“ vollzieht sich hier nicht nur zwischen dem explizitem Briefabsender Pau‐ lus und seinen Briefadressaten, sondern zwischen Paulus, der Gemeinde und dem implizitem Briefpartner Gott. Briefliche Anwesenheit schließt im kerygmatischen Brief die Gegenwart Gottes mit ein. Die im Brief erzeugte Als-ob-Gegenwart und Als-ob-Unmittelbarkeit gewinnt somit eine genuin theologische Ausprägung: Gott selbst wird im kerygmatischen Brief epiphan. Für die Idee des Paulusbriefes bedeutet diese Transformation brieflicher Parusie, dass der kerygmatische Brief seinem Wesen und seiner Funktion nach nicht nur anthropologisch auf die Beziehung zwischen menschlichen Freunden zielt, sondern auch theologisch auf die geistliche Freundschaft zwischen Gott und Mensch.121 4 Literatur 4.1 Monographien

T.J. Bauer, Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie. Kontextualisierung und Analyse der Briefe an Philemon und an die Galater (WUNT 276), Tübingen 2011 (neueres, sehr substantielles Standardwerk zur Einordnung von Paulus in die kaiserzeitliche Brieftheorie und Briefpraxis). A. Deissmann, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neu entdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt (1908), 4., völlig neubearb. Aufl. Tübingen 1923 (forschungsgeschichtlich bedeutsame Untersuchung mit dem Ziel, die Paulusbriefe vor dem Hintergrund damals neu entdeckter Papyrusbriefe aus dem Alltag der antiken Welt als „echte Briefe“, nicht als systematisch-theologische Traktate zu lesen). L. Doering, Ancient Jewish Letters and the Beginning of Christian Epistolography (WUNT 298), Tübingen 2012 (neueres, umfassendes Standardwerk zur Erschließung des antiken jüdischen Briefes mit markanten Thesen zum Rückgriff des Paulus auf das jüdische Briefformular). C. Hoegen-Rohls, Zwischen Augenblickskorrespondenz und Ewigkeitstexten. Eine Einführung in die paulinische Epistolographie (BThSt 135), Neukirchen-Vluyn

121

Vgl. zum Vorigen Hoegen-Rohls, Epistolographie, 115f.

Form und Funktion, Realia und Idee des Paulusbriefes

2013 (knappe, informative Einführung mit besonderem Schwerpunkt auf dem Verhältnis von paulinischer Brieflichkeit und Theologie sowie von paulinischer Brieflichkeit und Literatur; Einführung des Beschreibungsbegriffs „kerygmatischer Brief“ für den Paulusbrief). H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament (UTB 2022), Pader‐ born etc. 1998 (grundlegende, didaktisch angelegte Einführung mit zahlreichen übersetzten Quellentexten). H. Koskenniemi, Studien zur Idee und Phraseologie des griechischen Briefes bis 400 n. Chr. (AASF B 102,2), Helsinki 1956 (klassisches Standardwerk aus der Klassischen Philologie zum griechischen Brief). A.J. Malherbe, Ancient Epistolary Theorists (SBL 19), Atlanta, Georgia 1988 (gut zugängliche Quellensammlung griechisch/englisch). O. Roller, Das Formular der paulinischen Briefe. Ein Beitrag zur Lehre vom antiken Brief (BWANT 58), Stuttgart 1933 (klassische, material- und informationsreiche, spannend zu lesende Einführung in die Realienkunde des antiken Briefes). F. Schnider/W. Stenger, Studien zum neutestamentlichen Briefformular (NTTS 11), Leiden 1987 (grundlegende Untersuchung zu Briefeingang und Briefschluss der neutestamentlichen Briefe mit sehr guten tabellarischen Übersichten). K. Thraede, Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik (Zet. 48), München 1970 (inspirierende quellenbasierte Analyse brieftheoretischer und briefpraktischer Topoi [= Motive] im Werk des Ps.-Demetrius, Ciceros, Ovids und im spätantiken Brief; außerdem Analyse der Idee brieflicher Anwesenheit in 1 Thess 2,17; 1 Kor 5,3; Kol 2,5). D. Trobisch, Die Entstehung der Paulusbriefsammlung. Studien zu den Anfängen christlicher Publizistik (NTOA 10), Fribourg/Göttingen 1989. 4.2 Aufsätze und Lexikonartikel

T.J. Bauer, Form und kommunikative Funktionen paulinischer Briefe, Augustiniana 67 (2017), 31–53 (pointierte, substantielle Zusammenfassung der Arbeit von 2012 unter Einbezug neuer Aspekte und Einsichten). E.-M. Becker, Paulus als frühkaiserzeitlicher Briefeschreiber, in: dies., Der Philipper‐ brief des Paulus. Vorarbeiten zu einem Kommentar (NET 29), Tübingen 2020, 155–176 (gerade Paulus als reisender Briefeschreiber kommt anschaulich in den Blick). B. Bosenius, Kann man die neutestamentlichen Briefe der Gattung „Apostelbrief“ zuordnen? NovTest 57 (2015), 227-250 (gut nachvollziehbare Auseinandersetzung mit den epistolographischen Ansätzen von K. Berger, Chr. Hoegen-Rohls, L. Doering). L. Doering, Art. Letter, Letters IV. Judaism, EBR 16 (2018), 222–224.

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C. Hoegen-Rohls, Ist der Paulusbrief Literatur? Literaturtheoretische Anmerkungen zu einer forschungsgeschichtlich umstrittenen Frage, in: D. Sänger (Hg.), Der zweite Korintherbrief. Literarische Gestalt – historische Situation – theologische Argumentation. Festschrift zum 70. Geburtstag von D.-A. Koch (FRLANT 250), Göttingen 2012, 66–83. D. Trobisch, Art. Letter, Letters III., EBR 16 (2018), 217–222.

Teil II: Briefe. Theologische Themen

Einleitung in Teil II

O DA W ISCHMEYER

Paulus kommunizierte seit ca. 50 n. Chr. durch Briefe mit christlichen Ge‐ meinden. –

Diese Briefe, die er an die von ihm gegründeten Gemeinden in Thessaloniki, Korinth, Philippi und Galatien sowie an die ihm persönlich nicht bekann‐ ten Christen in Rom sowie an Philemon schrieb, stellen den Beginn der christlichen Literatur und Theologie dar.

Paulus selbst suchte zunächst die schriftliche Kommunikation mit seinen Gemeinden in der Zeitspanne, die bis zur Wiederkunft des Herrn Jesus Christus oder bis zu seinem vorzeitigen Tod im Verkündigungsdienst blieb. Seine Briefe sind persönliche, situationsbezogene und adressatenbezogene Schreiben, sozusagen Gebrauchsliteratur, stets allerdings unter apostoli‐ schem Vorzeichen, d. h. in der Autorität des Apostels Jesu Christi, als der Paulus sich verstand, geschrieben. Dies gibt seinen Briefen einen offiziellen Ton, auch wenn er so persönlich schreibt wie im 2. Korintherbrief. Dies wird in besonderer Weise im Philemonbrief deutlich, in dem Paulus den christlichen Haus- und Sklavenbesitzer Philemon bittet, seinen entlau‐ fenen Sklaven Onesimus wieder aufzunehmen, ohne ihn zu bestrafen. Trotz des persönlichen Anlasses beginnt Paulus den kurzen Brief hochoffiziell: „Paulus, ein Gefangener Christi Jesu, und Timotheus, der Bruder, an Philemon, den Lieben, unsern Mitarbeiter, und an Aphia, die Schwester, und Archippus, unsern Mitstreiter, und an die Gemeinde in deinem Hause: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!“

Dieser offizielle Ton gilt in weit höherem Maße für seine großen Briefe, besonders für den Römerbrief. Paulus verstand diese Briefe durchaus als öffentliche Schreiben an die jeweilige christliche Volksversammlung

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O DA W ISCHMEYER

(ἐκκλησία) in den Provinzialhauptstädten bzw. der Reichshauptstadt. Die Schreiben sollten an die Gemeinden der Umgebung weitergeleitet werden. Sie wurden in den Gemeindeversammlungen vorgelesen, besprochen, ver‐ standen, missverstanden, nicht verstanden, beargwöhnt oder bekämpft. 2 Kor 10,10 gewährt uns einen Einblick in die Reaktionen auf die Briefe: „Denn seine Briefe, sagen sie, wiegen schwer und sind stark; aber wenn er selbst anwesend ist, ist er schwach und seine Rede kläglich“.

Auf jeden Fall gaben die Briefe zu Rückfragen und weiteren Ausführungen in Folgebriefen Anlass und wurden damit theologiebildend. Die sog. korinthi‐ sche Korrespondenz ist ein Zeugnis für diesen Prozess. Ein letztes Echo der komplexen innerneutestamentlichen Verstehensgeschichte der Paulusbriefe stellt der 2. Petrusbrief dar. In 2 Petr 3,15f. heißt es: „Die Geduld unseres Herrn erachtet für eure Rettung, wie unser lieber Bruder Paulus nach der Weisheit, die ihm gegeben ist, euch geschrieben hat. Davon redet er in allen Briefen, in denen einige Dinge schwer zu verstehen sind (δυσνόητά), welche die Unwissenden und Leichtfertigen verdrehen“.

Die Briefforschung hat in jüngster Zeit die Paulusbriefe sehr erfolgreich und genau in der frühjüdischen, griechisch-römischen und frühchristlichen Briefkultur, -literatur und -theorie der frühen Kaiserzeit verortet.1 Wenn Paulus sich des kürzeren oder umfangreicheren Briefes als eines schriftli‐ chen Kommunikationsmittels2 bedient, verhält er sich wie ein Literat oder Philosoph, unter Umständen auch wie ein Diplomat, ein Politiker oder ein Religionsführer.3 Zugleich verhält er sich literarisch populär, verständlich, kommunikativ und werbend. Jeder seiner erhaltenen Briefe ist anders und eigenständig, der kommunikativen Situation angepasst. Mit dem Brief benutzt Paulus ein vielgestaltiges literarisches Medium, das ihm alle Freiheit lässt und zugleich größten Einfluss bei seinen Adressaten sichert. Seine Briefe waren erfolgreich und wirkten stil- und theologiebildend für die zweite und dritte Generation christlicher Missionare, Gemeindeleiter und

1 2 3

Vgl. den Beitrag von Christina Hoegen-Rohls im vorliegenden Band. E.-M. Becker, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief (NET 4), Tübingen/Basel 2002, 103–140. Vgl. die Briefe, die Paulus im Auftrag des Synhedriums mit sich führt (Apg 9,2). Vgl. weiter die Bar-Kochba-Korrespondenz und die sog. Diasporabriefe, vgl. I. Taatz, Frühjüdische Briefe (NTOA 16), Freiburg/Göttingen 1991.

Einleitung in Teil II

Lehrer. Sie wurden aufbewahrt und gesammelt. Erste Sammlungen von Paulusbriefen bildeten den Kern des späteren Kanons.4 –

Die Paulusbriefe sind literarische Träger von Information, Kommunika‐ tion, Argumentation und Instruktion.

Informationen z. B. über die gemeinsame Jerusalemkollekte geben den jun‐ gen Gemeinden ein Gefühl von gegenseitiger Kenntnis und Zusammenge‐ hörigkeit. Kommunikation ersetzt und überbrückt die Abwesenheit des Apostels und vertieft die Beziehung zwischen dem Apostel und den Ge‐ meinden. Argumentation macht die Gemeinden mit den Grundlagen und Konsequenzen der apostolischen Predigt vertraut und soll sie vor dem, was Paulus als falsche Predigt gegnerischer Missionare versteht, schützen. Die Rhetorikforschung der letzten Generation hat neue, vertiefte Einsichten in die Öffentlichkeits-, Argumentations- und Kommunikationsstruktur und in die Textpragmatik der Briefe gebracht.5 Instruktion schließlich gilt dem Leben der jungen Christen und Christinnen in einer unübersichtlichen religiösen und sozialen Welt, in der Paulus den Gemeinden paränetische Ratschläge zum christlichen Leben innerhalb und außerhalb der Gemeinde gibt. – Die argumentativen Passagen der Paulusbriefe erschließen theologische Themen, Begriffe und Argumentationsstrategien, die paränetischen Pas‐ sagen eröffnen Themen und Felder christlicher Ethik. Damit hat Paulus einen Grund christlicher Theologie und Ethik gelegt. Dementsprechend ist der zweite Teil des Buches gegliedert. Zunächst werden die Briefe in der Reihe ihrer wahrscheinlichen ursprünglichen Abfolge dargestellt. Es folgt eine Einführung in die theologischen und ethischen Themen der Briefe.

4 5

H. v. Lips, Der neutestamentliche Kanon. Seine Bedeutung und Geschichte, Zürich 2004. Vgl. zur Rhetorikforschung den Beitrag von Christina Hoegen-Rohls im vorliegenden Band (auch die Beiträge zum Gal, Röm und 2 Kor).

283

1. Thessalonicherbrief

E VA E BEL

Absender

Paulus (1,1) Mitabsender: Silvanus, Timotheus (1,1)

Adressaten

Gemeinde von Thessaloniki: großer Anteil an Heidenchristen

Entste‐ hungssitua‐ tion

Beginn der missionarischen Tätigkeit des Paulus in Korinth

Anlass

Fragen zur Parusie in Thessaloniki

Abfassungs‐ ort

Korinth (nicht explizit genannt)

Datierung

50 n. Chr.

Gegner‐ schaft



Themen

Gemeindegründung, Parusie, Notwendigkeit der Arbeit

Grobgliede‐ rung

Briefeingang

1,1 1,2–10

briefliches Präskript briefliches Proömium als Danksa‐ gung

Briefcorpus

2,1–3,13 4,1–5,24

1. Hauptteil: Dank 2. Hauptteil: Paränese

Briefschluss

5,25–28

briefliches Postskript

286

E VA E BEL

1 Texterschließung 1.1 Römerbrief Textbestand und Textüberlieferung

Der 1. Thessalonicherbrief umfasst im Nestletext 1472 Wörter, die in der aktuellen Auflage des Nestle-Aland ca. acht Druckseiten füllen.1 Einzelne – Derdes Römerbrief endet mitPapyri der Doxologie. Der Gnadenwunsch fehlt. Die Abschnitte Briefes sind in den 30 (3. Jh.), 65 (3.2Jh.) 𝔓𝔓 46 (ca. 200), lautet: 1,1–14,23; 15,1–16,23;Majuskeln DoxologieSinaiticus 16,25–27 (‫א‬, B, C). (ca. 700) überliefert. Die bedeutenden ( 01, und 61 Textfolge (A 02, 5. Jh.), (B 03, 4. D 06einmal (6. Jh.) vorge‐ 4. Jh.), istund zudem – Alexandrinus Der Römerbrief endet mitVaticanus der Doxologie. SieJh.) bieten den vollständigen Text, lückenhaft die Überlieferung in C 04Die (5. Jh.) zogen (Doppelbezeugung). DeristGnadenwunsch 2 fehlt. Textfolge und I 016 (5. Jh.). lautet: 1,1–14,23; Doxologie 16,25–27; 15,1–16,23; Doxologie 16,25–27 (A,

P, 33).

1.2 – Textanalyse Der Römerbrief endet mit dem Gruß 16,23. Die Doxologie ist vorgezogen.

Das Präskript des 1. Thessalonicherbriefes ist kürzer lautet: als alle1,1–15,33; anderen pau‐ Der Gnadenwunsch 2 fehlt. Die Textfolge Doxologie linischen16,25–27; Briefeingänge. Besonders schlicht ist die Angabe der Absender 16,1–23 (P 46). (superscriptio) gestaltet: Paulus legt weder sich noch seinen beiden Mitab‐ – Der Römerbrief endet mit der Doxologie, der der Gnadenwunsch 2 sendern Silvanus und Timotheus einen Titel wie etwa „Apostel“ bei, alle drei vorangeht. Die Textfolge lautet: 1,1–14,23; 15,1–16,23.24. Doxologie stehen ohne Abstufung nebeneinander. V.25–27 (D 06). Bezeichnend für den weiteren Inhalt des Briefes ist das εὐχαριστοῦμεν, dasDeutlich in 1,2 das ist, Proömium In diesem Briefund ist der des Verfassers dass dieeröffnet. Doxologie (16,25–27) derDank Gnadenwunsch 2 (16,24) an seine Adressaten nicht nur anfänglich – gleichsam als Überleitung zum öfter fehlen bzw. unterschiedlich platziert werden konnten und wohl nicht eigentlichen BriefcorpusBriefschluss – zu finden,darstellten. vielmehr wird in 2,13 durch den ursprünglichen Derdieser Gnadenwunsch 1 (16,20b) ein fehlt zweites εὐχαριστοῦμεν und in 3,9Text. durch 7 εὐχαριστία erneut zur Sprache dagegen nur im westlichen Die subscriptio [προς Ρωμαιους] fehlt gebracht und einem eigentlichen Thema des Briefes. Schwierig in P  46. Siedamit ist einzuspäterer Zusatz. Die Kurzfassung bei Marcion scheint auf ist deshalb die Abgrenzung zwischen Proömium und Corpus des Briefes. Marcion selbst zurückzugehen. Sinnvoll erscheint es, in 2,1 einen deutlichen Einschnitt zu sehen, da hier die Christinnen und Christen in Thessaloniki direkt angesprochen werden und 1.2 Textanalyse eine Reflexion der Verkündigung des Paulus beginnt, die grundsätzlicher Der Brief beginnt mit der Selbstnennung des Verfassers, der sich ausführlich Art ist. vorstellt (1,1–7), schließt imumfasst, Nestletext mit einem ersten Gnadenwunsch Im Proömium, dasund somit 1,2–10 finden die zentralen Themen (16,20b), Grüßen (16,21–23) und – mindestens in einer jüngeren Textform – des Briefes bereits Erwähnung: Zunächst geht es im dankbaren Rückblick 8 mit einer ausführlichen Doxologie (16,25–27). um das Wirken des Paulus in Thessaloniki (1,2–5) und die Reaktion der Der Brieftext deutliche übergeordnete Thessalonicher (1,6).zeigt Dann wird die gegenwärtigeGliederungsmerkmale: Vorbildfunktion der Gemeinde in Makedonien und Achaia sowie „an jedem Ort“ hervorgehoben (1,7f.). Schließlich wird nach einem erneuten Verse Textgliederungsmerk‐ ThemenRückblick auf den „Eingang“ (εἴσοδος) der christlichen Missionare in Thessaloniki (1,9), der durch eine male 1,8

πρῶτον … εὐχαριστῶ

Es folgt die topische Danksagung für die Ge‐

1,18

ἀποκαλύπτεται ὀργὴ θεοῦ

Es folgt eine zweigliedrige Darlegung des Zu‐ standes der Menschheit: erstens der vorliegende Zustand der Mensch‐ heit („Ist-Stand“)

meinde. Wortschatzes, Zürich/Frankfurt Vgl. R. Morgenthaler, Statistik des neutestamentlichen 1958, 168.

1

7 8

Mit J.A. Fitzmyer, Romans, 50: „The best that one can say about the original form of Romans from a textcritical viewpoint is that it most likely contained 1:1–16:23“. 15,33 enthält ebenfalls bereits einen Friedensgruß.

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1. Thessalonicherbrief

praeteritio rhetorisch geschickt eingeleitet wird (1,8c), auf das kommende Gericht angespielt (1,10). In 2,1 nimmt Paulus zwar das Stichwort εἴσοδος wieder auf, wendet sich aber von der Situation in Thessaloniki insofern ab, als er erst auf die der dortigen Gemeindegründung vorangehenden negativen Erfahrungen in Philippi eingeht und dann zu einer generellen Apologie seiner Verkündi‐ gungstätigkeit ausholt (2,1–12). Zur Absicherung seiner Selbstdarstellung, in der er sich mit Hilfe von Antithesen scharf von unlauteren Wanderpre‐ digern abgrenzt2, beruft sich Paulus einerseits wiederholt auf das Wissen der Christinnen und Christen in Thessaloniki (2,1f.5.9–11), andererseits führt er Gott als Zeugen an (2,5.10). Nach einem erneuten Dank für die Annahme des Gotteswortes (2,13) wird als dessen spürbare Folge das Leiden der Christinnen und Christen in Thessaloniki thematisiert (2,14–16). Aus dem engen Verhältnis des Paulus zu dieser Gemeinde und dem Wissen um ihr Leiden folgt der starke Wunsch des Apostels, sie erneut aufzusuchen, jedoch wird er zweimal vom „Satan“ daran gehindert (2,17–20). In seiner Not greift Paulus zu zwei alternativen Formen der Kommunikation: Zunächst schickt er, um endlich zu erfahren, wie es um den Glauben der Christinnen und Christen in Thessaloniki steht, Timotheus dorthin (3,1–6). Dessen Bericht ist zwar Anlass zur Freude, um aber die dennoch bestehenden „Mängel des Glaubens“ (τὰ ὑστερήματα τῆς πίστεως) zu beheben, schreibt Paulus dann den vorliegenden Brief an die Gemeinde (3,7–10). Abgeschlossen wird der dem Dank gewidmete erste Hauptteil des Briefes mit einem Gebetswunsch in 3,11–13, der einerseits nochmals auf den Besuchswunsch des Paulus Bezug nimmt, andererseits aber durch die Stichworte „Heiligkeit“ (ἁγιωσύνη) und „Festigung eurer Herzen“ (στηρίξαι ὑμῶν τὰς καρδίας) zum folgenden zweiten Hauptteil überleitet. Dessen erster Satz mit den Prädikaten ἐρωτῶμεν und παρακαλοῦμεν weist in aller Deutlichkeit auf seinen Inhalt hin: Es geht um die bittende Ermahnung der Christinnen und Christen in Thessaloniki. Der zentrale Begriff des Abschnitts 4,1–8, der auf die Meidung von Unzucht (πορνεία) und Habgier zielt, ist die „Heiligung“ (4,3.4.7: ἁγιασμός). Mittels der zwei‐ ten praeteritio des Briefes wendet sich Paulus dann der „Bruderliebe“ (φιλαδελφία) zu, welche die Thessalonicher weit über den Kreis ihrer 2

Zur Distanzierung von kynischen Wanderpredigern, exemplarisch aufgezeigt an den Schriften des Dio Chrysostomus, vgl. A.J. Malherbe, „Gentle as a Nurse“. The Cynic Background to I Thess ii, NT 12 (1970), 203–217.

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Gemeinde hinaus in ganz Makedonien wirken lassen. Ebenso wie die zwei folgenden Abschnitte beginnt der Apostel seine Ausführungen mit περί, so dass der Eindruck entsteht, er arbeite eine an ihn herangetragene oder selbst gewählte Themenliste ab. Der zweifellos berühmteste Abschnitt des 1. Thessalonicherbriefes ist dem Ergehen der entschlafenen Christinnen und Christen bei der Parusie des Herrn (4,15: παρουσία τοῦ κυρίου) gewidmet (4,13–18). Daran schließen sich Überlegungen über die „Zeiten und Fristen“ des „Tages des Herrn“ an (5,1–11). Beide Abschnitte werden mit einer Ermahnung zur gegenseitigen Tröstung und Ermahnung abgeschlossen (4,18; 5,11). Nach diesen sehr speziellen Ausführungen, deren Konsequenz ein Leben in Wachsamkeit und Nüchternheit ist, gibt Paulus noch einige allgemeine Anweisungen für das Leben des einzelnen Christen und das Leben der Gemeinde (5,12–22), bevor er auch den zweiten Hauptteil des 1. Thessalo‐ nicherbriefes mit einem Gebetswunsch schließt (5,23f.). Auffällig am Postskript dieses Briefes (5,25–28) ist die Bitte um das Gebet für Paulus und seine Mitarbeiter sowie das Fehlen der Grüße anderer Christinnen und Christen. So deutlich die inhaltliche Zweiteilung des Briefes auch ist, gibt es doch auch übergreifende Elemente. Beherrschend im gesamten Brief ist die eschatologische Perspektive: Schon im ersten Hauptteil spielt Paulus auf die Parusie Christi an (1,10; 2,19; 3,13), die im zweiten Hauptteil ausführlich behandelt wird (4,13–18; 5,1–11).3 Darüber hinaus werden alle Anweisungen für das Leben der Gemeindeglieder in Erwartung der nahen Ankunft des Herrn gegeben, so wird besonders die Forderung, „untadelig“ (ἀμέμπτως) zu sein, zweimal direkt mit der Parusie verknüpft (3,13; 5,23).

3

Der Terminus παρουσία findet sich in Bezug auf Jesus Christus neben 1 Thess 2,19; 3,13; 4,15; 5,23 im corpus Paulinum nur noch in 1 Kor 15,23, d. h. in seinen späteren Briefen verzichtet Paulus fast vollkommen auf die Verwendung des Wortes, das im profanen Griechisch gleichermaßen die Epiphanie eines Gottes und den Besuch eines weltlichen Herrschers bezeichnet (vgl. A. Oepke, Art. παρουσία, ThWNT 5 [1959], 856–869; W. Radl, Art. παρουσία, EWNT 3 [21992], 102–105). Th. Holtz, 1 Thess, 120, zieht zur Erklärung die zunehmenden Erfahrungen des Paulus mit der griechisch geprägten Welt heran: „Es will scheinen, daß Paulus gerade auf dem Gebiet geprägter apokalyptischer Vorstellung und Sprache Erfahrungen machte, die ihn zu zurückhaltender Aussageweise in späteren Briefen veranlaßten.“

1. Thessalonicherbrief

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Vielfach findet sich in diesem Brief Familienmetaphorik: In keinem anderen Brief wird so oft die Anrede „Bruder“ (ἀδελφός) verwendet.4 Darüber hinaus beschreibt Paulus sein Verhältnis zu der Gemeinde wie das eines Vaters zu seinen Kindern, der diese tröstet und ermahnt (2,11f.). Folglich ist er durch die Trennung von der Gemeinde „verwaist“ (2,17: ἀπορφανισθέντες).5 1.3 Gliederung

Aus diesen Beobachtungen am Text ergibt sich folgende Gliederung des 1. Thessalonicherbriefes: Brief‐ ein‐ gang

1,1 1,2–10

Brief‐ 2,1– corpus 3,13

briefliches Präskript briefliches Proömium als Danksagung 1. Hauptteil: Dank

2,1–12

Apologie der Verkündi‐ gung des Paulus

2,13–16

Die Annahme des Wortes Gottes und ihre Folgen

2,17–20

Verhinderte Besuche des Paulus

3,1–6

Die Sendung des Timo‐ theus

  3,7–10

4,1– 5,24

4 5

2. Hauptteil: Paränese

Der Bericht des Timotheus

3,11–13

Gebetswunsch

4,1–8

Meidung von Unzucht und Habgier

4,9–12

Die Bruderliebe

4,13–18

Das Ergehen der Entschla‐ fenen bei der Parusie

5,1–11

Der Zeitpunkt der Parusie

ἀδελφός erscheint in 1,4; 2,1.9.14.17; 3,2.7; 4,1.6.10.13; 5,1.4.12.14.25.26.27; dazu kommt φιλαδελφία in 4,9. Zur Familienmetaphorik im 1 Thess vgl. Chr. Gerber, Paulus und seine ‚Kinder‘. Studien zur Beziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe (BZNW 136), Berlin/New York 2005, 270–343.

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Brief- 5,25– schluss 28

5,12–22

Das Leben in der Gemeinde

5,23f.

Gebetswunsch

briefliches Postskript

2 Textentstehung

Im Präskript erscheinen Silvanus und Timotheus gemeinsam mit Paulus als Absender. Dreimal tritt Paulus als Einzelperson hervor (2,18; 3,5; 5,27), an‐ sonsten wird die 3. Person Plural durchgehalten, wobei aber beispielsweise in 3,1 mit dem „wir“ nur Paulus gemeint sein kann. Silvanus und Timotheus sind also in abgestufter Weise für die Form und den Inhalt des Briefes verantwortlich. Beide erscheinen jedoch nicht ohne Grund als Mitabsender dieses Briefes, denn auch sie haben eine besondere Bindung an die Gemeinde in Thessa‐ loniki: Ihre Beteiligung an der Mission in Makedonien ist nicht nur aus dem 1. Thessalonicherbrief, sondern auch aus 2 Kor 1,19 zu erschließen. Eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die genaue Rolle des Timotheus ergibt sich allerdings aus dem Bericht über die zweite Missionsreise in der Apostelgeschichte: Während Silas/Silvanus6 mehrfach als Begleiter des Paulus erscheint, wird Timotheus7 weder in dem Abschnitt über Philippi (Apg 16,11–40) noch in dem über Thessaloniki (Apg 17,1–9) namentlich genannt und in dem Abschnitt über Beröa (Apg 17,10–15) erst erwähnt, als er gemeinsam mit Silas dort zurückbleibt, Paulus aber nach Athen aufbricht (Apg 17,14). Setzt Lukas stillschweigend voraus, dass Timotheus gemeinsam mit Paulus und Silas Gründer dieser Gemeinden ist, oder war Timotheus unabhängig von den beiden Missionaren an anderen Orten tätig? Die Verlässlichkeit des Timotheus und seine Seelenverwandtschaft 6

7

Σιλουανός = Silvanus ist die latinisierte Form des aramäischen Namens Siloni, dessen gräzisierte Form Σιλᾶς ist. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind also der Silas der Apostelgeschichte und der Silvanus der paulinischen Briefe identisch. Zu diesem Mitarbeiter des Paulus vgl. W.-H. Ollrog, Paulus und seine Mitarbeiter. Untersuchungen zur Theorie und Praxis der paulinischen Mission (WMANT 50), Neukirchen-Vluyn 1979, 17–20. Zu diesem Mitarbeiter des Paulus vgl. Ollrog, Paulus (Anm. 6), 20–23; H. von Lips, Timotheus und Titus. Für Paulus unterwegs (Biblische Gestalten 19), Leipzig 2008, 33–91.123–127.

1. Thessalonicherbrief

(ἰσόψυχος) mit dem Apostel wird von Paulus in höchsten Tönen gelobt (Phil 2,20–22), deshalb ist niemand geeigneter als Timotheus, im Auftrag des Paulus Gemeinden aufzusuchen und dort in dessen Sinne, aber doch eigenständig zu agieren (1 Thess 3,1–6; Phil 2,19–23; 1 Kor 4,17). Die Gründung der Gemeinde in der makedonischen Hafenstadt Thessa‐ loniki, die ein breites Spektrum von paganen Kulten aufweist8, beschreibt Paulus als Abkehr von den „Götzen“ (εἴδωλα) und Hinwendung zum lebendigen und wahren Gott (1,9). Da er als geborener Jude niemals in Bezug auf Judenchristinnen und Judenchristen von vorhergehender „Göt‐ zenverehrung“ sprechen könnte, lässt er mit diesem Summarium erkennen, dass sehr viele Gemeindeglieder in Thessaloniki Heidenchristinnen und Heidenchristen sind. Darauf weist auch das Fehlen direkter alttestamentli‐ cher Zitate im gesamten 1. Thessalonicherbrief. In der Apostelgeschichte hingegen wird berichtet, Paulus habe in der Synagoge9 verkündigt (Apg 17,2f.) und besonders bei den gottesfürchtigen Griechen Erfolg gehabt (Apg 17,4), während ihn der Synagogenvorsteher Jason beherbergt habe (Apg 17,7). Nimmt man beide Berichte zusammen, ergibt sich das Bild einer Gemeinde, der überwiegend ehemalige Heidinnen und Heiden angehören, von denen möglicherweise ein nicht geringer Anteil vor seiner Bekehrung zum Christentum mit dem Judentum sympathisiert hat. Bezüglich der Dauer des Aufenthalts des Paulus und seiner Mitarbeiter in der Stadt sind die Zeugnisse des 1. Thessalonicherbriefes und der Apos‐ telgeschichte nicht ohne weiteres miteinander in Einklang zu bringen: Nach Lukas ist das Wirken des Paulus in Thessaloniki auf wenige Wochen begrenzt, da er an drei Sabbaten in der Synagoge predigt (Apg 17,2) und dann fluchtartig die Stadt in Richtung Beröa verlassen muss, nachdem die Juden einen Aufstand des Pöbels angezettelt haben (Apg 17,5.10). Das paulinische Selbstzeugnis hingegen spricht für eine längere Verweildauer, so betont der 8

9

Zu Thessaloniki vgl. Chr. vom Brocke, Thessaloniki; W. Elliger, Mit Paulus unterwegs in Griechenland. Philippi, Thessaloniki, Athen, Korinth, Stuttgart 1998, 41–55; K.P. Donfried, Cults; St. Schreiber, Brief, 20–41. Kurzeinführung bei vom Brocke, Thessaloniki, in: Neues Testament und Antike Kultur II: Familie. Gesellschaft. Wirtschaft, hg. von K. Erlemann u. a., Neukirchen-Vluyn 2005, 171–174 (Lit.) sowie im vorliegenden Band der Beitrag von D.-A. Koch. Der früheste Beleg für eine Synagoge in Thessaloniki ist die Inschrift eines Sarkophags vom Beginn des 3. Jh. n. Chr., in der sogar von συναγωγαί im Plural die Rede ist; vgl. dazu P.M. Nigdelis, Synagoge(n) und Gemeinde der Juden in Thessaloniki: Fragen aufgrund einer neuen jüdischen Grabinschrift der Kaiserzeit, ZPE 102 (1994), 297–306. Zu den Juden in Thessaloniki vgl. vom Brocke, Thessaloniki, 217–233; Schreiber, Brief, 31–33.

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Apostel seine Arbeit für den eigenen Lebensunterhalt (2,1–12) und berichtet an anderer Stelle von zweimaliger finanzieller Unterstützung aus Philippi in dieser Zeit (Phil 4,16). Schon unmittelbar bei ihrer Gründung ist die Gemeinde Bedrängnis (θλῖψις) ausgesetzt (1,6). Diese Erfahrung dauert auch nach dem Weggang der Gemeindegründer an (2,14f.) und erfordert den seelsorgerlichen Zu‐ spruch des Apostels. Zwei Besuchsversuche nicht lange (πρὸς καιρὸν ὥρας) nach dem Verlassen Thessalonikis scheitern jedoch (2,17f.), so dass Paulus von Athen aus seinen Mitarbeiter Timotheus schickt, um die Christinnen und Christen in Thessaloniki zu stärken und Gewissheit über ihren Glau‐ ben zu erlangen (3,1–5). Sein Lob und seinen Dank für das Positive, das Timotheus anschließend zu berichten weiß (3,6), bringt Paulus in dem vorliegenden Brief ausführlich vor. Darüber hinaus gibt er Auskunft über bestehende Unsicherheiten und ermahnt die Gemeinde angesichts des unverändert schwierigen Verhältnisses zu ihrem paganen Umfeld zu einem Leben in Heiligung und interner Einigkeit, das auch nach außen ehrbar wirkt (4,10–12). Der Ort des erneuten Zusammentreffens der drei Absender und damit der Abfassungsort des 1. Thessalonicherbriefes wird nicht explizit genannt. Nach 1 Kor 1,19 sind Paulus, Silvanus und Timotheus in Korinth gemeinsam tätig, deshalb gilt diese Stadt als Abfassungsort des 1. Thessalonicherbriefes. Da in dessen Postskript keine korinthischen Gemeindeglieder Grüße an Christinnen und Christen in Thessaloniki ausrichten lassen, sich also noch keine intensiven Kommunikationsstrukturen ausgebildet haben, ist eine Abfassung zu Beginn des korinthischen Wirkens des Paulus, also im Jahr 50 n. Chr., wahrscheinlich. 3 Textexegese

Eine problematische Passage innerhalb des 1. Thessalonicherbriefes stellt der Abschnitt 2,14–16 dar. Zunächst wird das Leiden der Thessalonicher, das ihnen ihre συμφυλέται, ihre derselben Phyle angehörenden Mitbewohner10, zufügen, mit dem gleichgestellt (2,14), das die Gemeinden in Judäa durch „die Juden“ (οἱ Ἰουδαίοι) erlitten. Darauf folgen fünf Anschuldigungen gegen diese: Sie hätten Jesus und die Propheten getötet, verfolgten „uns“, d. h. Paulus und seine Mitarbeiter, missfielen Gott und seien allen Menschen feind 10

Vom Brocke, Thessaloniki, 152–166.

1. Thessalonicherbrief

(2,15); das Maß ihrer Sünden machten sie voll, indem sie die Verkündigung des Evangeliums an die Heiden behinderten (2,16a.b). Als Konsequenz daraus sei jedoch der Zorn (ὀργή) bereits endgültig (εἰς τέλος) über sie gekommen (2,16). Diese Aussagen im 1. Thessalonicherbrief lassen sich nur schwer mit der im Römerbrief erkennbaren Position des Paulus vereinbaren, denn dort besteht die Möglichkeit des Heils für Israel fort (Röm 11,25–32). Für das aus dieser Differenz entstehende Dilemma werden verschiedene Lösungen vorgeschlagen: Ferdinand Christian Baur erklärt u. a. auf Grund dieser Verse den gesamten 1. Thessalonicherbrief für unpaulinisch.11 Seine These wird verworfen und stattdessen u. a. von Birger A. Pearson12 eine Interpolation erwogen. Folgende Argumente werden dabei angeführt, um eine sekundäre Einfügung in den ursprünglichen Text zu belegen: Der Aorist ἔφθασεν bezeichne ein Ereignis der Vergangenheit, der einzig sinnvolle Bezug für den Zorn sei die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. und 2,16c somit schon aus chronologischen Gründen sekundär. Will man die In‐ terpolation nicht auf 2,16c beschränken, ist es von besonderer Schwierigkeit, deren Umfang zu bestimmen: Eng zusammenhängend und deshalb kaum voneinander zu trennen sind 2,15 und 2,16; die Parallelisierung des Leidens in 2,14 wirkt eher mühsam und lässt sich nicht als auf der Hand liegende spätere Fortschreibung erklären; 2,14 erscheint als notwendige Explikation der in 2,13 angedeuteten Wirksamkeit des Glaubens der Thessalonicher; löst man 2,13–16 aus dem Text heraus, ergibt sich kein schlüssiger Gedan‐ kengang von 2,12 zu 2,17. Literarkritische Überlegungen können also eine Interpolationsthese keineswegs erhärten13, vielmehr legen sie nahe, auch 2,14–16 dem ursprünglichen Brief und damit Paulus zuzuweisen. Die Exegese steht somit vor der Aufgabe, diese judenfeindliche Passage auf der historischen Ebene zu erklären. Paulus scheint für die Bedräng‐

11 12 13

F.Chr. Baur, Paulus. Der Apostel Jesu Christi. Sein Leben und Wirken, seine Briefe und seine Lehre, Band I, Leipzig 1867, 96f. B.A. Pearson, 1 Thessalonians 2:13–16: A Deutero-Pauline Interpolation, HThR 64 (1971), 79–94. Zur Kritik an den Interpolationshypothesen vgl. I. Broer, „Antisemitismus“ und Juden‐ polemik im Neuen Testament. Ein Beitrag zum besseren Verständnis von 1. Thess. 2, 14–16, in: Religion und Verantwortung als Elemente gesellschaftlicher Ordnung. Für Karl Klein zum 70. Geburtstag (Beiheft zu den Siegener Studien), hg. v. B.G. Gemper, Siegen 21983, 734–772; hier 741–746 und ders., „Der ganze Zorn ist schon über sie gekommen“: Bemerkungen zur Interpolationshypothese und zur Interpretation von 1 Thess 2,14–16, in: The Thessalonian Correspondence (BEThL 87), ed. by R.F. Chandler, Leuven 1990, 137–159; hier 137–148 sowie Holtz, 1 Thess, 27.96f.

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nisse seiner ihm sehr nahe stehenden Gemeinde in Thessaloniki letztlich die dort lebenden Juden verantwortlich zu machen. Diese Interpretation der Gemeindesituation und seine eigenen negativen Erfahrungen in der Vergangenheit, die er auch an dieser Stelle einfließen lässt (2,15) und die möglicherweise zur Zeit der Abfassung des Briefes für ihn neue Aktualität gewinnen, können als Hintergrund für einen solchen heftigen Ausfall gegen „die Juden“ vermutet werden. So fanatisch (ζῆλος) Paulus einst dem jüdischen Gesetz anhing und die christlichen Gemeinden verfolgte (Phil 3,6), so heftig reagiert er nun, wenn er durch Juden die Verkündigung des Evangeliums an die Heiden in Gefahr sieht (2,16b). Die hier in 2,14–16 vorgebrachten Anklagen lehnen sich einerseits an verbreitete antijüdische Polemik an, die sowohl innerjüdisch (Tötung der Propheten) als auch von paganer Seite (odium humani generis 14) geäußert wird, andererseits fügt Paulus Eigenes hinzu (Verfolgung seiner Person, keine Gottgefälligkeit, Verhinderung der Verkündigung an die Heiden). Will man den Apostel nicht im prophetischen Aorist sprechen lassen15, ist eine ereignisgeschichtliche Deutung der ὀργή auf die Zerstörung Jerusalems ausgeschlossen; überhaupt hat er mit geringer Wahrscheinlichkeit ein konkretes historisches Ereignis im Blick.16 Die persönliche Betroffenheit und das von Paulus als Gefährdung seines Lebenswerkes gedeutete Einschreiten von jüdischer Seite verleihen stattdessen der Vermutung Plausibilität, dass der Aorist ἔφθασεν in einem prophetischen Wort die Gewissheit des eschatologischen Gerichts über die Juden ausdrücken soll.17 Der eigentliche Anlass für den 1. Thessalonicherbrief ist das Problem, das Paulus in 4,13–18 behandelt und die „Entschlafenen“ betrifft (4,13: περὶ τῶν 14

15 16

17

Vgl. zu diesem später von Tacitus, Annales 15,44,4 gegen die Christen gewendeten Vorwurf die Zusammenstellung der einschlägigen Texte griechischer und römischer Autoren bei M. Dibelius, An die Thessalonicher I.II. An die Philipper (HNT 11), Tübingen 3 1937, 34–36; Schreiber, Brief, 154f. E. von Dobschütz, Die Thessalonicher-Briefe (KEK 10), Göttingen 71909, 116. E. Bammel, Judenverfolgung und Naherwartung. Zur Eschatologie des Ersten Thessa‐ lonicherbriefs, ZThK 56 (1955), 294–315 (wieder abgedruckt in: ders., Judaica und Paulina. Kleine Schriften II. Mit einem Nachwort von P. Pilhofer [WUNT 91], Tübingen 1997, 237–258); hier 295–301, denkt an die Vertreibung der Juden aus Rom unter Kaiser Claudius (vgl. Apg 18,2), Schreiber, Brief, 165 an „ein Gerichtsereignis, das sich kürzlich ereignet hat. Dass es hier nicht explizit bestimmt wird, hält den Spielraum der theologischen Interpretation offen.“ Broer, Antisemitismus (Anm. 13), 763–766; ders., Zorn (Anm. 13), 158; Holtz, 1 Thess, 108 f.; U. Schnelle, Paulus, 183–186; M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 414–417.

1. Thessalonicherbrief

κοιμωμένων). Bei seinem Gründungsaufenthalt hat Paulus die unmittelbar bevorstehende Parusie des Herrn verkündet, ohne überhaupt in Betracht zu ziehen, dass Gemeindeglieder vor der Parusie sterben könnten. Nun aber ist zumindest ein Todesfall eingetreten und die Gemeinde in Sorge über das Schicksal der Verstorbenen bei der Parusie. Als Antwort auf diese Situation verweist Paulus zunächst auf den gemeinsamen Glauben an den Tod und die Auferstehung Jesu, die ein Vergessen der Entschlafenen durch Gott ausgeschlossen sein lässt (4,14). Dann führt er zur Bestätigung ein „Herrenwort“ (λόγος κυρίου) an, dass es kein „Zuvorkommen“ der Lebenden gegenüber den Entschlafenen bei der Parusie gebe (4,15). Die Formulierung „wir, die Lebenden, die Übrig‐ gebliebenen“, die Paulus in 4,15 und in 4,17 erneut wählt, verrät seine starke Naherwartung in dieser Phase seines Wirkens. Zumindest die zweite Bestimmung, „die Lebenden“ als Gegensatz zu den Entschlafenen, hat Paulus in eine Tradition eingefügt, die vermutlich nicht ein tatsächlich auf Jesus zurückgehendes Wort, sondern eine nachösterliche Bildung ist. Den Anbruch der Parusie beschreibt der Apostel mit apokalyptischen Motiven, bevor er fast beiläufig als Voraussetzung der gemeinsamen Entrückung aller (4,17) die Auferstehung der Toten erwähnt (4,16). Diese ist für Paulus als ehemaligen Pharisäer selbstverständlich – das gilt dagegen keineswegs für die heidenchristlichen Gemeindeglieder in Thessaloniki. Paulus kann das in Thessaloniki aufgetretene Problem lösen, indem er sich auf seine jüdischen Wurzeln besinnt, seine ehemals heidnischen Leserinnen und Leser hätten umfangreichere Erklärungen nötig.18 Dieses Thema steht aber für Paulus eben nicht im Mittelpunkt, ihm geht es um eine unterschiedslose Entrückung der Lebenden und der bereits verstorbenen Christinnen und Christen (οἱ νεκροὶ ἐν Χριστῷ), die zu diesem Zweck auferweckt werden müssen. Die Verbindung der Auferstehung mit der Parusie dient dazu, den Gedanken an einen Nachteil der Verstorbenen, an denen die Parusie vorübergehen könnte, zu widerlegen: Alle werden immer mit dem Herrn zusammen sein (4,17: σὺν κυρίῳ ἐσόμεθα). Die Ausführungen des Paulus sind in keiner Weise eine umfassende Darstellung der Geschehnisse bei der Parusie oder gar der Auferstehung. Viele Fragen bleiben offen: Wie wird die Auferstehung geschehen? Was bedeutet „Zusammensein mit dem Herrn“? Wie wird es den Nicht-Christin‐ nen und Nicht-Christen ergehen? Der Apostel geht auf die mit Parusie und 18

W. Marxsen, Auslegung, 27–32 und ders., 1 Thess, 63–68.

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Auferstehung verknüpften Fragen nur insoweit ein, wie sie für das aktuelle Problem in Thessaloniki von Bedeutung sind. Er bricht ab, sobald das Ziel seiner Argumentation erreicht ist, eine dogmatische Grundlegung dieser Themen liegt ihm fern. Nur einen Aspekt behandelt Paulus noch zusätzlich im folgenden Ab‐ schnitt 5,1–11, die „Zeiten und Fristen“ (περὶ δὲ τῶν χρόνων καὶ τῶν καιρῶν): Der „Tag des Herrn“ (ἡμέρα κυρίου) kommt unberechenbar wie ein Dieb in der Nacht (5,2.4), so dass beständige Wachsamkeit und Nüchternheit gefordert sind (5,6). Aber auch in diesem Zusammenhang kommt der Apostel auf den Leitgedanken des vorangegangenen Abschnitts zurück (5,9f.): Die Christinnen und Christen sind zum Heil bestimmt, denn Jesus Christus ist für sie gestorben, damit sie als Wachende wie als Schlafende (εἴτε γρηγορῶμεν εἴτε καθεύδωμεν), also als Lebende oder Verstorbene, mit ihm leben werden (σὺν αὐτῷ ζήσωμεν). Zwei Perspektiven bestimmen den 1. Thessalonicherbrief: der Blick zu‐ rück auf das Wirken des Paulus und seiner Mitarbeiter bei der Gemein‐ degründung und der Blick nach vorn auf die unmittelbar bevorstehende Parusie. Der Apostel betont seinen Einsatz für die Verkündigung und seine Redlichkeit (1,5; 2,1–12), die sich nicht zuletzt in der Arbeit für den eigenen Lebensunterhalt zeigt (2,9). Diesem Engagement entspricht die freudige Aufnahme des Evangeliums durch die Thessalonicher (1,9; 2,1.13). Das daraus resultierende enge Verhältnis von Gemeinde und Gemeindegründer, das sich exemplarisch in dem Bild des Vaters (2,11f.) zeigt, bleibt auch nach der Trennung bestehen. Die Christinnen und Christen in Thessaloniki sind speziell im Leiden „Nachahmer“ (μιμηταί) des Paulus, der wiederum dem Beispiel Christi folgt (1,6; vgl. 1 Kor 4,16). Die Gegenwart der Gemeinde ist, wie von Paulus angekündigt (3,4), von „Bedrängnissen“ geprägt (2,14; 3,3f.) und auf die Zukunft ausgerichtet. Angesichts der nahen Ankunft des Herrn, der die Gläubigen retten wird (1,10), ist ein gottgefälliges Leben (4,1), das tadellos (3,13; 5,23: ἀμέμπτως) und in Heiligkeit (4,3.4.7: ἁγιασμός) gelebt wird, gefordert. 4 Würdigung

Der 1. Thessalonicherbrief ist der älteste erhaltene paulinische Brief. Sowohl formal als auch inhaltlich weist er einige Differenzen gegenüber den späte‐ ren Briefen des Apostels auf.

1. Thessalonicherbrief

Das Präskript dieses Briefes ist schlicht wie kein anderes, weder die Absender noch die Adressaten werden mit Titeln oder anderen näheren Bestimmungen bedacht. Insbesondere gibt es für Paulus noch keine Notwen‐ digkeit, seinen Apostolat herauszustellen. Er weiß zwar um konkurrierende Wanderprediger (2,1–12), aber diese stellen nicht seinen Rang als Apostel und damit seine Autorität gegenüber der Gemeinde in Frage. Wie die Verwendung von ἀπόστολος in 1 Thess 2,7 belegt, ist sich Paulus seiner speziellen Position bewusst und versteht es auch, sie in die Argumentation einzubringen. Auffälligerweise fehlen in diesem Brief einige der theologischen Begriffe, welche die späteren Schreiben des Paulus weitgehend prägen, wie etwa Gesetz (νόμος) und Sünde (ἁμαρτία), Kreuz bzw. kreuzigen (Stamm σταυρ-) und Gerechtigkeit bzw. gerecht machen (Stamm δικ-).19 Trotz dieser termi‐ nologischen Fehlanzeigen ist das Thema Gericht und Rechtfertigung im 1. Thessalonicherbrief durchgängig präsent: Paulus schreibt vom kommen‐ den Zorn (ὀργή) Gottes (1,9; 5,9; vgl. 2,16); diesem gegenüber steht das Heil (σωτηρία) durch Jesus Christus, der für uns (ὑπὲρ ἡμῶν) gestorben ist (5,9). Paulus äußert sich in diesem Brief jedoch in einer solchen Weise zur Gerichtsthematik, dass hier nicht lediglich von einer Vorstufe des im Gala‐ terbrief und Römerbrief entwickelten Verständnisses von Rechtfertigung gesprochen werden kann, sondern ein in sich geschlossener eigenständiger Entwurf zu erkennen ist, in dem das Gesetz nicht zur Sprache kommt. 5 Literatur 5.1 Kommentare

M. Dibelius, An die Thessalonicher I.II. An die Philipper (HNT 11), Tübingen 31937 (grundlegender wissenschaftlicher Kommentar). Th. Holtz, Der erste Brief an die Thessalonicher (EKK 13), Zürich etc. 31998 (umfassender wissenschaftlicher Kommentar). W. Marxsen, Der erste Brief an die Thessalonicher (ZBK.NT 11.1), Zürich 1979 (allgemeinverständlicher Kommentar).

19

Vgl. zu dieser Fehlanzeige und deren Deutung Th. Söding, Der Erste Thessalonischer‐ brief; U. Schnelle, Der erste Thessalonicherbrief.

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E. Reinmuth, Der erste Brief an die Thessalonicher, in: N. Walter/E. Reinmuth/P. Lampe, Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon (NTD 8/2), Göttingen 1998, 103–156 (allgemeinverständlicher Kommentar). St. Schreiber, Der erste Brief an die Thessalonicher (ÖTBK 13/1), Gütersloh 2014 (wissenschaftlicher Kommentar). 5.2 Monographien

Chr. vom Brocke, Thessaloniki – Stadt des Kassander und Gemeinde des Paulus. Eine frühe christliche Gemeinde in ihrer heidnischen Umwelt (WUNT II/125), Tübin‐ gen 2001 (archäologische, epigraphische und numismatische Zeugnisse werden für die Interpretation von 1 Thess und Apg 17,1–9 fruchtbar gemacht). H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch (UTB 2022), Paderborn etc. 1998, 267–292 (detaillierte Textanalyse). D. Luckensmeyer, The Eschatology of First Thessalonians (NTOA 71), Göttingen 2009 (ausführliche Untersuchung der Eschatologie des 1 Thess). U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/Boston 22014, 175–197 (Einordnung des 1 Thess in die paulinische Theologie). 5.3 Aufsätze und Lexikonartikel

K.P. Donfried, The Cults of Thessalonica and the Thessalonian Correspondence, NTS 31 (1985), 336–356 (religiöser und geschichtlicher Hintergrund für die Interpretation des 1 Thess). Th. Holtz, Art. Thessalonicherbriefe, TRE 33 (2002), 412–421 (Bündelung des aktuellen Diskussionsstandes). W. Marxsen, Auslegung von 1 Thess 4,13–18, ZThK 66 (1969), 22–37 (anregende Auslegung dieses Briefabschnittes). U. Schnelle, Der erste Thessalonicherbrief und die Entstehung der paulinischen Anthropologie, NTS 32 (1986), 207–224 (1 Thess als Zeugnis frühpaulinischer Theologie). St. Schreiber, Früher Paulus mit Spätfolgen. Eine Bilanz zur neuesten Thessaloni‐ cher-Forschung, ThRev 103 (2007), 267–284 (Literaturbericht). Th. Söding, Der Erste Thessalonicherbrief und die frühe paulinische Evangeliums‐ verkündigung. Zur Frage einer Entwicklung der paulinischen Theologie, BZ 35 (1991), 180–203.

1. Korintherbrief

O DA W ISCHMEYER

Absender

Paulus (1,1; 16,21) Mitabsender: Sosthenes (1,1)

Adressaten

Gemeinde von Korinth, alle Christusgläubigen (1,2)

Entste‐ hungssitu‐ ation

längerer Aufenthalt des Paulus in Ephesus während dritter Missi‐ onsreise; geplante Reise nach Makedonien (16,5ff.)

Anlass

Anfragen aus der Gemeinde

Abfas‐ sungsort

Ephesus (16,8)

Datierung

Frühjahr 55 n. Chr.

Gegner‐ schaft

keine externen Gegner, Spaltungstendenzen in der Gemeinde

Themen

Leitthema: Einheit der Gemeinde Gemeinde als christliche Gemeinschaft (weiteres siehe Grobgliede‐ rung)

Grobglie‐ derung

Brief‐ ein‐ gang

1,1–3 briefliches Präskript 1,4–9 briefliches Proömium

Brief‐ corpus

1,10– I: 1,10– 16,12 4,21

Ermahnung zur Einheit der Gemeinde

II: 5–6

Verbot von Unzucht in der Gemeinde

III: 7

Belehrung über gender-Fragen in der Gemeinde

IV: 8–10

Belehrung über das Essen von Opfer‐ fleisch

300

O DA W ISCHMEYER

Brief‐ schluss

V: 11

Belehrung über Verhalten im Gottes‐ dienst (Beten der Frauen; Herrenmahl

VI: 12– 14

Belehrung über die Geistesgaben in der Gemeinde

VII: 15

Traktat über die Auferweckung der Toten

VIII: 16,1–12

Kollektenfragen

16,13– 16,13– 24 18 16,19– 20 16,21– 24

Schlussparänese Grüße briefliches Eschatokoll

1 Texterschließung 1.1 Textbestand und Textüberlieferung 425

Der 1. Korintherbrief umfasst im Nestletext 6807 Wörter1 auf ca. 30 Druck‐ seiten. Er ist damit der zweitlängste Paulusbrief und nur wenig kürzer als der ie. Der GnadenwunschRömerbrief. 2 fehlt. DieFolgende wichtige altkirchliche Majuskeln überliefern den Text: 3; Doxologie 16,25–27 (‫א‬,01 B, (4. C).Jh.), A 02 (5. Jh.), B 03 (4. Jh.), C 04 (5. Jh., Lücken), D 06 (6. Jh., eine kleine Lücke). In folgenden Papyri finden sich Teile des 1. Korintherbriefs: ogie. Sie ist zudem einmal vorge‐ (7. Jh.), 14 (5. Jh.), 15 (3./4. Jh.), 34 (7. Jh.), 46 (ältester Zeuge, ca. 200, 𝔓𝔓 11 denwunsch 2 fehlt. Die Textfolge Dublin, Chester Beatty Library, P. Chester Beatty II; Ann Arbor, University 15,1–16,23; Doxologie 16,25–27 (A, of Michigan, Inv. 6238, Text fast vollständig), 68 (7. Jh.?), 123 (4. Jh., P. Oxy. 4844).2 Der 1. Korintherbrief begegnet in den frühen Kanonlisten3 und wurde 6,23. Die Doxologie ist vorgezogen. Origenes kommentiert.4 folge lautet: 1,1–15,33;seit Doxologie

ologie, der der Gnadenwunsch 2 1–14,23; 15,1–16,23.24. Doxologie

und der Gnadenwunsch 2 (16,24) 1 Nach R. Morgenthaler, Statistik des neutestamentlichen Wortschatzes, Zürich/Frankfurt werden konnten und wohla. M. nicht 1958, 164 § 3. en. Der Gnadenwunsch2 1 (16,20b) Nach Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, 28. revidierte Auflage, Stuttgart 2012. 3 Vgl. A. Lindemann, Korintherbrief, 1ff. subscriptio [προς Ρωμαιους] fehlt 4 Vgl. die Lit. bei W. Schrage, Brief, 3ff. rzfassung bei Marcion scheint auf

es Verfassers, der sich ausführlich t mit einem ersten Gnadenwunsch tens in einer jüngeren Textform – 8

1. Korintherbrief

301

1.2 Textanalyse

Der Brief beginnt mit der Selbstnennung des Verfassers und seines Mitab‐ senders Sosthenes (1,1) und endet mit seinem ursprünglich eigenhändig geschriebenen Gruß (16,21–24). Der Brieftext zeigt deutliche übergeordnete verbale Gliederungsmerkmale: 1,4

εὐχαριστῶ

Es folgt die topische Danksagung für die Gemeinde.

1,10

παρακαλῶ

Unter diesem Stichwort der Ermahnung steht der Brief von 1,10 bis 14,40.

15,1

γνωρίζω

Unter diesem Stichwort folgt die Thematik der Auferste‐ hung in Kap. 15.

Der Brief enthält also nach dem Selbstverständnis des Paulus im Anfangs‐ teil Ermahnungen5 und gegen Ende eine ausführliche ‚Information‘6 bzw. Mitteilung zur Auferstehung der Toten. Besonders wichtig für die Textgliederung ist die Wendung περὶ δέ (be‐ treffs): 7,1

περὶ δὲ ὧν ἐγράψατε

Thema: Mann und Frau7

7,25

περὶ δὲ τῶν παρθένων

Thema: unverheiratete junge Frauen

8,1

περὶ δὲ τῶν εἰδωλοθύτων

Thema: Fleisch von heidnischen Opfern

8,4

περὶ τῆς βρώσεως οὖν τῶν εἰδωλοθύτων

Thema: Essen von Opferfleisch

12,1

περὶ δὲ τῶν πνευματικῶν

Thema: Geistesgaben und Gottesdienst

16,1

περὶ δὲ τῆς λογείας

Thema: Sammlung

16,12

περὶ δὲ Ἀπολλῶ τοῦ ἀδελφοῦ Thema: Reise des Apollos nach Korinth

Die περὶ δέ-Wendungen begegnen ab Kapitel 7. Damit ist für den Gesamt‐ brief ein deutlicher Einschnitt gegeben. Die Wendungen markieren die Themen, über die die Korinther entweder aus ihrer eigenen Sicht oder

5 6 7

Vgl. auch die Wiederaufnahme von παρακαλῶ in 16,15: Paulus bestätigt hier indirekt, dass er einen paränetischen Brief geschrieben hat. Γνωρίζω lässt sich mit „öffentlich kundtun, bekanntgeben“ übersetzen. Hier weist Paulus auf einen Brief hin, den ihm die Korinther geschrieben haben.

302

O DA W ISCHMEYER

aus der des Paulus Belehrung brauchen.8 Der Brief hat also neben dem paränetischen Charakter breite lehrhafte Teile.9 Weitere Textgliederungssignale sind die Hinweise auf Zustände in der Gemeinde, von denen Paulus „gehört“ hat (1,11; 5,1; 11,18 in Wiederauf‐ nahme von 1,11). Thematisch sind hier Spaltungen (Kap. 1–4), Unzucht (5,1ff.) und Herrenmahlsbräuche (11,17ff.) angesprochen.10 In 5,9.11 erwähnt Paulus einen Brief, den er schon an die Gemeinde geschrieben hat. 1.3 Gliederung

Der Brief ist nach dem üblichen Schema der Paulusbriefe konzipiert (episto‐ lographischer Aufbau): 1,1–3 1,4–9

briefliches Präskript briefliches Proömium als Danksagung

1,10–15,58 16,1–18 16,19–20 16,21–2

} Briefeingang Briefcorpus

Schlussparänese Grüße briefliches Eschatokoll (subscriptio)11

} Briefschluss

Die innere Disposition der Kapitel 1 bis 15 wurde bereits dargestellt. 1.4 Thematik

Die schon dargestellte starke Gemeindebezogenheit und Situativität des Briefes sowie die Vielfalt der angesprochenen Themen machen es schwierig, eine durchgehende Thematik oder sogar ein Thema als leitendes Thema des Briefes zu benennen. Außerdem setzt ein einheitliches Thema die literarische Einheit des vorliegenden Brieftextes voraus oder macht sie mindestens wahrscheinlich. Die Frage nach der Einheit des Briefes kann aber erst später geklärt werden. An dieser Stelle frage ich zunächst nur nach dem

8 9 10 11

Beachte aber schon vorher die Wendungen οὐκ οἴδατε u. ä. 3,16; 5,6; 6,2.3.9.15.19. Auch die Paränese in 1–6 hat schon starke noetisch-lehrhafte Züge. Vgl. die noetischen Verben εἰδέναι (8,1.4; 11,3; 12,2), οὐ… ἀγνοεῖν (12,1) und γνωρίζειν (12,3; vgl. 15,1). Vgl. auch 15,12: Paulus hat gehört, dass einige in der Gemeinde sagen: Es gibt keine Auferstehung der Toten. Subscriptio datiert später.

1. Korintherbrief

303

Thema bzw. der Thematik des vorliegenden Briefes. Die Exegeten kommen naturgemäß zu unterschiedlichen Urteilen:12 Conzel‐ mann

„Die ‚letzten Dinge‘ bilden das Thema des Briefs, das alle anderen Themen zusammenhält“ (27).

Schrage

„Rechte Kreuzestheologie und Eschatologie“ (S. V), „praxisbezogene … Theologie“, „Agape“ (S. V).

Linde‐ mann

„Ein einziges Thema … die ἐκκλησία selbst und darin οἰκοδομή“ (15).

Wolff

Gemeindeprobleme vor dem Hintergrund der pneumatischen σοφία der Korinther = pneumatischer Enthusiasmus (8 f.).

Betz/ Mitchell

„Verse 1:10 is the prothesis or thesis statement of the argument of the entire letter, which calls on the Corinthians to end their factions and be reconciled with one another“ (1143).

Fitzmyer

„The sketch of Pauline teaching in this letter … has to take as its starting point that message of the cross, ‘we proclaim Christ crucified‘“ (70).

Die Tabelle macht deutlich, dass die Kommentatoren unterschiedliche Text‐ wahrnehmungen haben. Conzelmann und Schrage suchen nach dem theo‐ logischen Basis-Thema, das alle einzelnen Themen und Argumentationen des Paulus sachlich steuert und inhaltlich bestimmt. Das gilt auch für Linde‐ mann, dessen Lösungsvorschlag aber konkreter und weniger theologisch ist: die Gemeinde und ihre Erbauung als Gegenstand des Briefes. Wolff und Betz/ Mitchell stellen die Situation und das Selbstverständnis der korinthischen Gemeinde in den Mittelpunkt und kommen mit unterschiedlichen Nuancen zu dem gleichen Ergebnis: Das Thema liegt gleichsam an der Textoberfläche. Es bezieht sich auf die aktuelle Lage der Gemeinde, die durch Unfrieden, Spaltungstendenzen und pneumatische Selbstüberschätzung der Gemeinde bestimmt ist. Paulus mahnt demgegenüber zu Einheit und Versöhnung als christlichen Verhaltensformen. Damit ist eine wesentliche Einsicht in die Thematik des 1. Korintherbrie‐ fes gewonnen. Der Brief hat eine leitende aktuelle Thematik: die Einheit 12

Vgl. weiter R.A. Horsley, 1 Corinthians, 22: „Paul wrote his letter to address the problem of divisions that had arisen within the recently founded Corinthian assembly“. Ähnlich B. Witherington, Conflict, 73: „Paul is in the midst of trying to create community and dissipate conflict in the Corinthian community“. Und 75: „In order to overcome these sources of discord Paul gives in his letter a lengthy discourse on concord or reconciliation using deliberative rhetoric.“

304

O DA W ISCHMEYER

der Gemeinde (Schnelle u. a.) und – vertieft – die Gemeinde als christliche Gemeinschaft überhaupt (Lindemann). Den verschiedenen paränetischen περὶ δέ-Abschnitten und thematischen Hauptteilen des Briefes unterliegt aber gleichzeitig eine grundsätzliche theologische Urteilsbildung, die sich mit Conzelmann – enger gefasst – als eschatologisch oder mit Schrage – weiter gefasst – als Kreuzestheologie und Eschatologie bestimmen lässt. Der Hinweis auf die „kommende Offenbarung unseres Herrn Jesus Christus“ im Proömium macht deutlich, dass Paulus seine Gegenwart und sein eigenes Wirken ebenso wie das Schicksal der Gemeinden von dem auferstandenen, herrschenden und wiederkehrenden Herrn Jesus Christus her versteht. Die Kreuzestheologie von Kap. 1 und 2 ist ein spezielleres, aber thematisch ebenfalls dominantes Theologumenon im Zusammenhang der angemessenen Erläuterung des Wesens der Predigt von Christus (1,17ff., so richtig Fitzmyer). 1.5 Wortfelder

Der Brief arbeitet entsprechend seiner deutlichen thematischen Gliederung mit sehr unterschiedlichen Wortfeldern, die einander einerseits ablösen, an‐ dererseits ineinander verschränkt sind und sich immer wieder aufeinander beziehen. Diese Wortfelder erschließen die einzelnen Themen des Briefes und ihre Verknüpfung und verdienen daher besondere Aufmerksamkeit. Ich stelle hier nur die wichtigsten Wortfelder dar.13 Die Kapitel 1–4 werden von zwei umfangreichen, antithetisch zueinander stehenden Wortfeldern beherrscht: Gaben der Korinther

Handlungs- und Kommunikationsweisen Gottes

λόγος γνῶσις σοφία/σοφός/σοφία κόσμου



λόγος τοῦ σταυροῦ



δὐναμις



σοφἰα τοῦ θεοῦ = μωρία τοῦ κηρύγματος/τὸ μωρὸν τοῦ θεοῦ δύναμις θεοῦ = τὸ ἀσθενὲς τοῦ θεοῦ

πνεῦμα τοῦ κόσμου



πνεῦμα τοῦ θεοῦ

13

Auf die zahlreichen Metaphern kann ich hier nicht eingehen.

1. Korintherbrief

305

Verhalten der Korinther



Verhalten der Apostel

καύχησις ζῆλος/ἔρις φυσιοῦν satt/reich/klug/geehrt sein βασιλεύειν

↔ ↔

μωροὶ διὰ Χριστοῦ zum Tode Verurteilte

τὰ ὄντα



τὰ μή ὄντα

ἄνθρωπος σαρκινός       ↓ Gemeindegruppierungen



ἄνθρωπος πνευματικός       ↓ Paulus und andere Apostel



Die Kapitel 5 und 6 stellen thematisch folgende Wörter zusammen: Unzucht etc. (πορνεία) – Fleisch (σάρξ) – Laster (5,10f. und 6,9f.) sowie Speise – Nahrung (βρῶμα) – Bauch (κοιλία) – essen – gemeinsam essen (συνεσθίειν). Paulus wertet diesen Wortbereich abschätzig bis eindeutig negativ verur‐ teilend. Dem steht der Leib (σῶμα) gegenüber, der mit höchst positiv besetzten Begriffen und Bildern zusammengebracht wird: Heilige (6,1f.) – eschatologische Richter (6,3) – Reich Gottes (6,9f.) – heiligen – reinwaschen – rechtfertigen (6,11) – Auferstehung (6,14) – die Leiber als Glieder des Leibes Christi (τὰ σώματα ὑμῶν μέλη Χριστοῦ 6,15) und Tempel des heiligen Geistes (6,19). Das Thema πορνεία begegnet noch einmal in Kapitel 7. Leitend ist dort die Thematik der Geschlechter. Die gender-Wortgruppe umfasst: Mann (ἀνήρ, ἄνθρωπος) – Frau – Jungfrau – heiraten – unverhei‐ ratet sein. Die binäre Opposition Mann/Frau wird nochmals in Kapitel 11 thematisiert. Kapitel 8–10 führen 5–6 und 7 fort: Wieder geht es um Nahrung (βρῶσις), jetzt um Mahlzeiten mit Opferfleisch: εἰδωλόθυτον. Im Zusammenhang damit erörtert Paulus die Grenzen der γνῶσις als der Gotteserkenntnis, die ἐξουσία und die ἐλευθερία der Christen. Grenzen dieser Freiheit sind wieder πορνεία, εἰδωλολατρία und andere Laster (vgl. Kapitel 5 und 6) sowie die Dämonen und fremden Götter (8,1–6), die ebenfalls in diesen negativen, gefährlichen Bereich gehören. 8,1b weist auf Kap. 1 zurück und auf Kap. 13 voraus. Kapitel 11 behandelt noch einmal das Essen, diesmal das Abendmahl (vgl. schon Kap. 10). Wieder werden σῶμα Χριστοῦ-Sein und das Gericht zur Klärung der Thematik herangezogen. Die Kapitel 12–14 entfalten das reiche Vokabular der Charismen. Die Leib-Fabel (s. o.) greift die Thematik Leib/Glieder und Leib Christi auf.

306

O DA W ISCHMEYER

Kapitel 13 fügt in einer verbalen Kette Tugend- und emotive Aspekte im Umfeld der ἀγάπη hinzu. Kapitel 15 schließlich enthält das Vokabular der Auferstehung bzw. Auferweckung im Zusammenhang mit dem antithetisch strukturierten kosmologisch-eschatologischen Wortfeld, das sich auf das Schicksal des Leibes (σῶμα) bezieht: irdisch sterblich verweslich erster Mensch Adam

himmlisch unsterblich unverweslich zweiter Mensch Christus (auch schon Vv.20–28)

Hinzu treten apokalyptische Begriffe im Zusammenhang mit der endzeitli‐ chen Auferstehung der Toten: Tod – Ende – Macht – Herrschaft – Gewalt – Reich – Feind – vernichten – unterwerfen (Vv.20–28; vgl. 50–55 letzte Posaune – die Toten). Den ganzen Brief durchziehen trotz der heterogen scheinenden Einzel‐ themen bestimmte Grundgedanken bzw. Grundthemen, die sich am Voka‐ bular ablesen lassen: Einigkeit (κοινωνία, keine σχίσματα), Gemeinde (ἐκκλησία), Brüder (ἀδελφός), Apostel (ἀπόστολος), stark/schwach (δύναμις/ἀσθένεια), Leib (σῶμα bzw. σῶμα Χριστοῦ – μέλη), Endereignisse (Auferstehung Jesu Christi, Auferstehung der Toten, Tag des Herrn, Endgericht), Geist/Geistesgaben/geistlich (πνεῦμα/πνευματικά – χαρίσματα/πνευματικός). 1.6 Kommunikation und Rhetorik 1.6.1 Kommunikation

Der 1. Korintherbrief ist ein in hohem Maße kommunikatives Schreiben. Der Brief enthält mehrere Kommunikationsebenen. Graphisch lassen sich die vier Ebenen folgendermaßen darstellen:

1. Korintherbrief

307

1. Ebene

kommunikative Ebene (leitende Ebene)

2. Ebene

Ebene der Unterstützung der Kommunikation    ↙    

↓       

           ↓



   Bilder etc. 

Kataloge etc.     

Autobiographisches    

 Tradition

3. Ebene

meta-kommunikative Ebene

4. Ebene

trans-kommunikative Ebene

1. Die leitende Ebene ist die der direkten paränetisch-didaktischen Kommu‐ nikation mit der korinthischen Gemeinde oder auch einzelner Gruppie‐ rungen in der Gemeinde. Die Adressaten – „die Gemeinde Gottes in Korinth“ (s. u.) – werden auf dieser Ebene angesprochen und ermahnt bzw. belehrt (z. B. 1,10; 5,1; 7,1; 8,1; 10,1; 10,14; 11,1–3; 12,1; 14,1; 15,1). Paulus erwähnt Nachrichten aus der Gemeinde, Briefe zwischen sich und der Gemeinde, spricht direkte Vorfälle in der Gemeinde an, zitiert Sätze, die in der Gemeinde gefallen sind (s. o.), und ermahnt und belehrt die Gemeinde nachhaltig über die entsprechenden aktuellen und strittigen Themen. 2. Daneben beobachtet der Leser eine zweite Ebene: die Ebene der ebenfalls kommunikativen Kurzpassagen, die der besseren Verstehbarkeit bzw. Veranschaulichung einzelner Argumente oder Ermahnungen dienen. Folgende Passagen tragen diesen meta-argumentativen und zugleich meta-paränetischen Charakter (a): 3,10–15

ausführliches Bild aus dem Bereich des Hausbaus, endzeitlich situiert

5,6–8

Bild aus dem Bereich des Passafestes

7,17–23

thematische Digression, durch das Stichwort „Berufung“ evoziert

9,7f.

rhetorische Frage im Zusammenhang des Themas „Ertrag der Arbeit“; aus dem Bereich Krieg – Weinbau – Viehbesitz

9,9ff.

Toraauslegung aus dem Bereich „Ertrag der Arbeit“

9,24–27

Bild aus dem Bereich des Laufsports

10,1–10

Midraschartiger Rückgriff auf die Tora: Exodusepisoden

308

O DA W ISCHMEYER

12,14–26 Fabel 14 aus dem Bereich des menschlichen Körpers 14,7f.

Bild aus dem Bereich der Musik

14,10f.

Bild aus dem Bereich der Sprache

Zu diesem Bereich gehören auch die Laster-, Peristasen-, Tugend- und Charismenkataloge (b): 1,26–29

antithetischer Katalog Starke – Schwache usw.

5,10–11

Lasterkatalog in substantivischer Form

6,9f.

 "

10,7–10

Lasterkatalog in verbaler Form im Rahmen des Exodusmidrasch (s. o.)

12,8–10

Charismenkatalog

12,28f.

 "

12,29f.

 "

in verbaler Form in rhetorischen Fragen

13,1–3

Charismenkatalog

13,4–7

Tugendkatalog in verbaler Form

[14,1–33

Mehrfache Erwähnung der verschiedenen Charismen]

Diese Passagen bedienen sich gern fester literarischer Kleinformen: Bild, rhetorische Frage, Schriftauslegung, Fabel, Kataloge unterschiedlicher The‐ matik und Tradition. Hierhin gehört noch eine weitere Gruppe von Texten: die ebenfalls kommunikativen autobiographischen Passagen (c). Paulus schreibt immer wieder kürzere oder längere (Kap. 9) autobiographische Abschnitte, um seine Paränesen, Lehren und Gebote lebendiger zu machen, indem er sie mit der eigenen Person verbindet bzw. an seiner eigenen Existenz exempli‐

14

Der Begriff der Fabel bezeichnet eine „selbständige kurze episch-didakt. Gattung vorwiegend der Tierdichtung …, die als Beispielgeschichte eine allg. anerkannte Wahrheit … an Hand e(ines) … Beispiels in uneigentlicher Darstellung veranschaulicht und bes. aus der anthropomorphisierenden Übertragung menschl. Eigenschaften … moral.-belehrende Effekte erzielt“, G. v. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 8 2001, 254. – Paulus wählt nicht das Tierreich, sondern den menschlichen Körper als Demonstrationsbereich, vgl. Livius II 32, 9–12 (Näheres in der Einführung bei Lindemann, Korintherbrief, 275–277).

1. Korintherbrief

309

fiziert.15 Es handelt sich um folgende Texte: 1,14–17; 2,1–5; 3,1–4; 4,1–4; [4,9–13 s. o. Peristasenkatalog]; 4,14–16; 7,7; 9,1–27; 11,1; 15,8f.; 15,30ff. Schließlich bedient sich Paulus bei seiner Kommunikation öfter der Tradition 16 (παράδοσις) oder des Hinweises auf ein Wort des Herrn (d), um seine Ermahnungen oder Lehren einsichtiger oder verbindlicher zu machen. Folgende Passagen sind hier betroffen: 7,10f.

Scheidungsverbot/Herrenwort

9,14

Unterhalt der Apostel

11,2

allgemeine Erinnerung an die Überlieferung, die Paulus der Gemeinde gegeben hat

11,23b–25

Abendmahlsparadosis

15,3b–5

Auferstehungsparadosis

3. Dem hohen Kommunikationsbedürfnis des Paulus in diesem Brief entspricht der Umstand häufiger meta-kommunikativer Passagen, in denen Paulus den Korinthern seine Paränese und Lehre zusätzlich erläutert. Diese dritte Sprachebene der Meta-Kommunikation begegnet in folgenden Texten: 2,6–9

einführende Bemerkung zum Verstehen des Ausdrucks σοφία θεοῦ

3,1f.

Hinweis auf die frühere Kommunikation mit den Korinthern

4,6

Anweisung zum richtigen Verstehen von 3,5–4,5

4,14

Anweisung zum richtigen Verstehen von 4,7–13

5,9–13

Anweisung zum richtigen Verstehen seines früheren Briefes an die Korinther

7,6.10.12.17b. 25f.35.40b

präzise Hinweise auf die jeweilige Autorisierung seiner Gebote und Ratschläge

10,19

Anweisung zum richtigen Verstehen von 10,14–18

12,31b

Anweisung zur richtigen Lektüre von Kap. 13

15 16

Vgl. bes. 4,16 und 11,1: μιμηταί μου γίνεσθε. Er versteht sich selbst als vorbildhafte christliche Existenz nicht im moralischen Sinn, sondern in seiner ganzen Lebensfüh‐ rung. Vgl. auch die Hinweise auf Tauftradition 1,30; 6,11; 12,13.

310

O DA W ISCHMEYER

14,20

Bemerkung zum Verstehen bzw. zur Einsicht

15,51

Bemerkung zum Verstehen der folgenden Passage

4. Eine vierte Sprachebene schließlich ist nicht direkt kommunikationsbe‐ zogen, sondern formuliert meta-kommunikativen Überschuss 17 bzw. die Theologie des Paulus. Ich nenne diese Ebene die trans-kommunikative Ebene, weil Paulus hier nicht mehr um Kommunikation, sondern jen‐ seits der Kommunikation um die Darstellung theologischer Thematik bemüht ist. Es handelt sich um vier Passagen: 1,18–25

theologische Beschreibung der apostolischen Verkündigung als des λόγος τοῦ σταυροῦ

2,6–16

theologische Beschreibung der σοφία

13

theologisch-ethische Beschreibung der ἀγάπη als des höchsten Charismas

15,35–49

theologische Beschreibung des Auferstehungsleibes

In diesen Texten stoßen wir auf die eigentlichen ‚theologischen‘ Aussagen des 1 Kor. 1.6.2 Rhetorik

Die Rhetorik ist ein zentraler Bestandteil der griechisch-römischen Kultur.18 Als „Kunst der Überredung, als Gesamtheit von Regeln und Vorschriften, durch deren Anwendung das Publikum überzeugt wird“, war die Rhetorik die Grundlage aller antiken öffentlichen Rede. Zunächst im politischen und gerichtlichen Bereich angewendet, „entwickelte sich die Rh(etorik) in der hell(enistischen) Zeit und in Rom zu einer ars dicendi (‚Redekunst‘), die in ihrer Fokussierung auf jede Form von sprachlicher Äußerung nichts Geringeres als eine umfängliche Theorie und Praxis der menschlichen

17 18

Zum Terminus ‚metakommunikativer Überschuss‘ vgl. E.-M. Becker, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief (NET 4), Tübin‐ gen/Basel 2002, 135f. C. Walde/M. Weißenberger, Art. Rhetorik, DNP 10 (2001), 958–987; kurze Einführung bei H.-J. Klauck, Briefliteratur, 165–180. Vgl. den Beitrag von Ch. Hoegen-Rohls im vorliegenden Band.

1. Korintherbrief

311

Kommunikation darstellt“.19 Rhetorische Elemente und Strategien finden in die Literatur Eingang. Hans Dieter Betz hat rhetorische Elemente und Strategien in den Paulusbriefen aufgedeckt und damit zugleich die Nähe der Paulusbriefe zur hellenistisch-römischen Literatur deutlich gemacht. Hans Dieter Betz und Margaret M. Mitchell stellen den rhetorischen Aufbau des Briefes folgendermaßen dar:20 [1,1–3

Briefbeginn s. o.]

1,4–9

exordium, die Einführung (endet thematisch mit Aufruf zur κοινωνία/Gemeinschaft)

1,10–17

narratio, das Argument bzw. die Formulierung des Sachverhalts (V.10 ist die prothesis, die These: „ihr sollt einig sein“)

1,18–15,57

argumentatio bzw. probatio, die beweisende Durchführung

15,58

peroratio, der wirkungsvolle Abschluss

[16,1–24

Briefschluss s. o.]

Der rhetorische Charakter des Briefes ist nach Betz/Mitchell deliberativ: „a deliberative letter convincing the Corinthians to be reconciled and end their factionalism“.21 Das genus deliberativum, die symbouleutische (beratende) Rede, „hat ihren Sitz in der Ratsversammlung. Sie berät im Hinblick auf die Entscheidungsfindung“22. Paulus spricht die ἐκκλησία in Korinth also brieflich im Ton der Ratsversammlung an und appelliert an ihre Einsicht und ihr Urteilsvermögen. Dies gibt seinem Brief einen ebenso offiziellen wie rationalen Charakter, der über den Ton eines Freundschaftsbriefes weit hinausreicht. 2 Textentstehung 2.1 Verfasser, Adressaten und historische Situation

Der Verfasser des vorliegenden Briefes ist Paulus (1,1 und 16,21). Im ur‐ sprünglichen Schreiben hat Paulus den Satz 16,21 selbst geschrieben. Im Übrigen hat er den Brief diktiert. Die Authentizität des Briefes bemisst sich 19 20 21 22

Walde/Weißenberger, Rhetorik (Anm. 18), 959f. H.D. Betz/M.M. Mitchell, Corinthians, 1145. Ebd., 1143. Klauck, Briefliteratur, 171 (dort Darstellung der drei rhetorischen Genera mit den wichtigsten antiken Texten zur Rhetorik).

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weniger an Adresse und Gruß als vielmehr an den zahlreichen autobiogra‐ phischen Passagen (s. o.), die den Brief zu einer der wichtigsten Quellen der Vita des Paulus und der Geschichte seiner Mission machen. Die Adressaten sind nach 1,2 in erster Linie die ἐκκλησία Gottes in Korinth23, in zweiter Linie alle anderen „Heiligen“, d. h. Christen.24 Dieser überraschend weite Adressatenkreis macht deutlich, dass der 1. Korinther‐ brief nicht nur situativ und aktuell-adressatenbezogen verstanden werden will, sondern auch allgemeine Bedeutung beansprucht. Und: die Probleme der Korinther sind nicht nur „persönliche“ Probleme einer Gemeinde, die dementsprechend der seelsorgerlichen Diskretion des Paulus unterliegen, sondern gehen alle Christen an und dürfen auch allen Christen bekannt gemacht werden. Paulus hat also auch eine „christliche Öffentlichkeit“ im Blick. Die korinthische Gemeinde bestand vornehmlich aus Nicht-Juden, ohne dass diese ausgeschlossen waren (Apg 18,1-11). „Paulus .. etablierte … keine ethnisch orientierten Gemeinschaften, sondern Vereinigungen, in denen wie in den meisten paganen Gruppen die Herkunft keine Rolle spielte“.25 Män‐ ner und Frauen sowie Sklaven und Freie waren gleichermaßen vertreten. Wesentliche Gemeindeglieder nennt Paulus namentlich sowohl im 1Kor als auch am Ende des Röm. Eine weitere Quelle stellt Apg 18 dar. Genannt werden Aquila und Priska (16,19, Röm 16,3; Apg 18), Chloe (1,11), Phöbe aus Kenchreä (Röm 16,1), Gaius (1,14; Röm 16,23; Apg 19,29; 20.4) und Erastus (Röm 16,23; Apg 16,23)26, Stephanas (1,16; 16,15.17), Fortunatus und Achaikus (16,17), Krispus (1,14, Apg 18,827) und Titius Justus (Apg 18,7). Das soziale Profil der Gemeinde ist gemischt (trotz 1,26): neben einfachen Arbeitern und Sklaven sind bereits „Personen mit höherem Sozialstatus“28 und höherem Bildungsniveau Gemeindeglieder. Paulus geht davon aus, dass seine theologischen Ausführungen zur Weisheit und zur Auferstehung ver‐ standen werden. In der Gemeinde finden theologische Diskussionen statt. 23 24 25 26 27 28

Zu Korinth vgl. den Beitrag von D.-A. Koch im vorliegenden Band. Zu der „etwas überladenen adscriptio“ [sc. Adresse] vgl. Lindemann, Korintherbrief, 26f. M. Öhler, Geschichte des frühen Christentums, Göttingen 2018, 245. Vgl. zum Thema ebd., 243-264 (aktueller Forschungsstand und Lit.). Vertiefend D.-A. Koch, Geschichte des Urchristentums, Göttingen 22014, 256-317 (Lit.). Vgl. zu seinem Status Öhler, Geschichte, 248 (eher Stadtkämmerer als Verwaltungs‐ sklave). Wohl der ehemalige Synagogenvorstand (Apg 18,8). Öhler, Geschichte, 248.

1. Korintherbrief

Apollos, der vielleicht Gedanken der 2. Sophistik nahesteht, findet Anklang (1,12). Gemeinsame Mahlzeiten und Gottesdienste sowie die Kollekte für Jerusalem (16,1–4) hielten die Gemeinde zusammen. Korinth ist ein Ort für durchreisende Apostel (Apollos, Petrus und andere), die die Gemeinde beeinflussen (Kap. 1–4). Das Gemeindeleben ist reich, pneumatisch-charis‐ matisch sehr rege und nicht spannungsfrei. Nach der erfolgreichen Gründung der korinthischen Gemeinde hatte Paulus seine Mission in der Asia fortgesetzt (Apg 18,18ff.; 19). In Ephesus stand er in ständigem Nachrichtenaustausch mit Korinth, so dass er sich ein differenziertes Bild von der Gemeindesituation machen konnte. Wieweit dies Bild die Wirklichkeit wiedergibt, wissen wir allerdings nicht. Paulus geht davon aus, dass sich die korinthische Gemeinde seit seiner Abreise sehr schnell zu einer selbstbewussten und geistlich reichen Gemeinde entwickelt hat (1,4–7 positiv, 4,10–12 negativ bewertet). Er hört in Ephesus Unterschiedliches. Die „Leute der Chloe“ besuchen ihn und berichten von personenbezogenen Gruppierungen in der Gemeinde, die er als Spaltungen wahrnimmt (1,10; vgl. 11,18 anscheinend besonders deutlich bei der Herren‐ mahlsfeier). Er hat von einem speziellen Fall von „Unzucht“ gehört, den er nicht duldet (5,1ff.), sowie von Freiheiten, die sich die Frauen in der Gemeindeversammlung herausnehmen (11,1–16: Beten mit unbedecktem Haar, 14,33b–35: öffentliche Rede in der Gemeindeversammlung)29, die er ebenfalls verbietet, weiter von Uneinigkeit, Gruppenbildung und sozialer Rücksichtslosigkeit beim Herrenmahl (11,18ff.). „Einige“ sagen, es gebe keine Auferstehung der Toten (15,12). Die Gruppe um den einflussreichen und nicht armen Stephanas, den Erstbekehrten in Korinth (1,16), besucht ihn gerade in Ephesus (16,15–18), und er will ihre Autorität stärken (16,16). Außerdem haben sich Gemeindeglieder mit brieflichen Fragen an ihn gewendet, weil Unsicherheit über Ehefragen besteht (7,1). Paulus versucht, diese eher heterogenen Nachrichten als Ausdruck einer aktuellen Situation in Korinth zu verstehen: der Uneinigkeit. Dementspre‐ chend lässt sich der Brief mit Margaret M. Mitchell als „ein überlegtes Plädoyer zugunsten der Eintracht“ verstehen (1,10).30

29 30

Falls dieser Text nicht eine Glosse ist (s. u.). M.M. Mitchell, Art. Korintherbriefe, RGG4 4 (2001), 1688–1694, hier: 1691.

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2.2 Zeit und Ort der Abfassung

Nach 16,8 hat Paulus den Brief in Ephesus diktiert. In 15,32 bezieht er sich auf eine tödliche Gefahr, in der er sich in Ephesus befunden hat. Der Apostelgeschichte zufolge hielt sich Paulus während seiner dritten Missionsreise längere Zeit in Ephesus auf, so dass Ephesus zu einem Zen‐ trum seines Wirkens wurde. In Kap. 16 weist er auf seine Weiterreise nach Makedonien zum Empfang der Kollekte für Jerusalem voraus. Im Rahmen der Paulus-Chronologie legt sich ein Aufenthalt des Paulus in Ephesus vom Sommer 52 bis zum Frühjahr 55 nahe.31 Da er von seiner Weiterreise spricht, ist des Näheren von einem Abfassungstermin im Frühjahr 55 n. Chr. auszugehen.32 2.3 Einheitlichkeit und Redaktionsprozesse

Der 1. Korintherbrief ist Teil der sog. korinthischen Korrespondenz, d. h. des Briefwechsels zwischen Paulus und der Gemeinde in Korinth.33 Der nicht erhaltene erste Brief des Paulus an Korinth wird von verschiedenen Exegeten im jetzigen 1. Korintherbrief vermutet.34 Die Analyse der Wortund Begriffsfelder sowie der Kommunikationsebenen und der Rhetorik machen dagegen eine einheitliche Briefentstehung höchst wahrscheinlich, während die äußerst heterogenen Teilungshypothesen weder sachlich noch technisch-entstehungsbezogen einleuchten.35

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35

Vgl. dazu den Beitrag von E. Ebel zum Leben des Paulus im vorliegenden Band. Der Hinweis auf das Pfingstfest (jüdisches Wochenfest, 50 Tage nach Passa) lässt an das Frühjahr denken. Möglich ist nach 5,7f. eine Abfassungszeit vor dem Passafest. Vgl. die Erwähnung eines Briefes vor dem 1 Kor (in 1 Kor 5,9) und eines Briefes der Gemeinde an Paulus (in 1 Kor 7,1). Vgl. zu den Teilungshypothesen U. Schnelle, Einleitung, 82 f. (J. Weiß, E. Dinkler, W. Schenk, H.-J. Klauck, G. Sellin, W. Schmithals). Zu den Gründen für die Briefteilung vgl. Mitchell, Art. Korintherbriefe (Anm. 26), 1690: (1.) „Wahrgenommene Brüche“, z. B. in den Reiseplänen, (2.) Dubletten, z. B. Kap. 8 und 10, (3.) „formale Gründe, insbes. in Bezug auf die Wendung περὶ δέ [s. o.] …, die nach Meinung einiger Exegeten einen ,Antwortbrief‘ abgrenzt“. Schnelle, Einleitung, 83–85, nennt folgende Argumente: (1.) Unterschied zwischen 1,11 und 16,15–18, (2.) 1,1–4,21 kann ein eigenes kohärentes Schreiben darstellen, (3.) theologische Spannungen in 5–11. Mitchell und Schnelle weisen die Argumente plausibel zurück. Das gilt für die Teilungshypothesen zum 1 Kor seit J. Weiß, Korintherbrief, XL–XLIII. Weiß betont richtig, dass wir nicht die Originale, sondern nur „Exemplare einer kirchli‐ chen Sammlung“ haben. Aber wie sollten so komplizierte Gebilde, wie er und andere sie vorschlagen, zustande gekommen sein? Teilungshypothesen müssen unbedingt auch plausible Vorschläge für das Zustandekommen der Endgestalt anbieten.

1. Korintherbrief

Schwieriger ist die Frage nach Glossen im 1. Korintherbrief. Wenn man Glossen36 annimmt, setzt man auch einen Glossator bzw. Redaktor voraus und muss diesen benennen. Wichtig ist die Frage für die Beurteilung von 14,33b–36. Die Verse 34 und 35 bieten textkritische Probleme,37 vor allem aber lassen sie sich inhaltlich nicht mit 11,2–16 verbinden, wo die Frau selbstverständlich spricht, wenn sie betet oder prophetisch redet. 14,34f. verbietet den Frauen dagegen prophetische Rede in der Gemeindeversamm‐ lung. 14,34 lässt sich als Glosse erklären. Dies Urteil bleibt notwendigerweise hypothetisch. Der Glossator wäre im Umkreis des 1. Timotheusbriefes zu suchen (vgl. 1 Tim 2,10–13).38 3 Textexegese 3.1 Durchgang durch den Text

Paulus stellt sich im Präskript ausdrücklich als Apostel vor und schreibt gemeinsam mit Sosthenes39 an die Ortsgemeinde in Korinth40. Das Proömium ist als Danksagung gestaltet. Paulus dankt für den Reich‐ tum der Korinther an Geistesgaben (χάρισμα, Gnadengabe) und weist auf „das Ende“, d. h. die eschatologische Wiederkehr Jesu Christi, ihres Herrn, hin. In einem ersten Briefteil ermahnt Paulus die korinthische Gemeinde zur Einigkeit und zur Vermeidung von Spaltungen (1,10). Er spricht sich heftig gegen die korinthische Gruppenbildung aus, die sich an einzelnen Aposteln, auch an seiner Person, orientiert.41 Zu seiner Person stellt er Verschiedenes klar. Erstens hat er von Christus (1,1) den ganz bestimmten und begrenzten Auftrag, das Evangelium zu predigen (εὐαγγελίξεσθαι 1,17), zweitens hat er die Gemeinde gegründet

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Schnelle, Einleitung, 85, hält 6,14 für eine Interpolation. Lindemann, Korintherbrief, 147, weist dies mit gutem Grund zurück. Die Zeugen des sog. westlichen Textes (D, F, G) bringen die beiden Verse erst nach V.40. Vgl. die ausführliche Darstellung bei Lindemann, Korintherbrief, 317–321. – Vgl. die These, die Pastoralbriefe seien Teil einer dritten Edition einer schon bestehenden Paulusbriefsammlung, bei der die Glosse in 1 Kor 14 eingetragen sei: G. Theißen, Das Neue Testament (Beck Wissen 2192), München 2002, 86–91. Sosthenes begegnet sonst nicht in den Briefen. Vielleicht ist er mit dem Sosthenes aus Apg 18,17 identisch (vgl. Lindemann, Korintherbrief, 26). Zur Erweiterung des Adressatenkreises vgl. Lindemann, Korintherbrief, 26f. Dazu siehe 3.2.

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(3,5ff.; 4,15ff.) und ist mit den anderen Aposteln zusammen „Diener Christi“ und „Haushalter der Geheimnisse Gottes“ (4,1ff.). Soweit reicht die Grund‐ belehrung.42 Mehrere Punkte vertieft Paulus: zunächst das Wesen seiner Evangeliumspredigt (1,18–2543), die Gestalt der Gemeinde (1,26ff.; 3,1ff.; 3,16ff.; 4,6ff.) und seine eigene Existenz als Apostel Christi (2,1ff.; 4,6ff. Leidenskatalog der apostolischen Existenz). Sowohl die Predigt als auch die Gestalt der Gemeinde und seine eigene Existenz sowie die seiner Mit-Apostel stellt Paulus unter ein theologisches Kriterium: das Kreuz Christi, d. h. den Um‐ stand, dass Jesus am Kreuz hingerichtet wurde. Diesen skandalösen (1,23) juristischen Sachverhalt erfüllt er mit höchster Bedeutung für die christliche Theologie und für die christliche Existenz. Für die christliche Theologie gilt die Umwertung der Weisheit (σοφία) als des schöpfungsgegebenen Organs der Gotteserkenntnis zur Torheit (1,18ff.) und zugleich die Aufwertung der Predigt von Jesus Christus – die Paulus absichtlich verkürzt-pointiert λόγος τοῦ σταυροῦ nennt (1,18) – zur eigentlichen Weisheit, nämlich als Weisheit Gottes. Er weist zusätzlich auf die Sozialgestalt der Gemeinde – viele einfache Gemeindeglieder – und auf seine eigene Verkündigungstä‐ tigkeit in Korinth – einfache Predigt vom gekreuzigten Christus44 – hin: Der Kreuzesweisheit Gottes entspricht die Schwäche der Christen. Die Verkehrung der den Menschen gegebenen Schöpfungsweisheit in Torheit heißt allerdings nicht, dass bei Gott keine Weisheit zu finden sei und Gott nicht weise handle. Paulus betont die Kontinuität der Weisheit Gottes (2,6ff.), deckt aber noch einmal ihre spezielle Verbundenheit mit dem Tod Jesu auf (2,6–9). Die Pragmatik des ersten Briefteils ist deutlich: Er schließt mit einer zusammenfassenden Ermahnung (νουθετῶ[ν] 4,14), sich die Mahnungen dieses Briefteils zu Herzen zu nehmen (4,14–21).45 Die Kapitel 5 und 6 stellen einen zweiten Sachzusammenhang dar und beziehen sich weiterhin auf negative Nachrichten aus der Gemeinde.

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Dies entspricht im Wesentlichen der ersten leitenden Kommunikationsebene (s. o. 1.6.). Das entspricht der trans-kommunikativen Ebene. 1,18–25 ist ein kurzer theologisch-be‐ lehrender Text zum richtigen Verständnis der Predigt in Christus. In 2,2 wieder die bewusste Verkürzung der Christuspredigt auf die Kreuzigung. Die vollständige alte Tradition lesen wir in 15,3–5, dort ohne Hinweise auf die Todesart. Hier ist die ausgeweitete Erziehermetapher leitend: Paulus nicht der Apostel, sondern der παιδαγωγός, ja mehr: der Vater (V.14), Timotheus sein „Sohn“, die Korinther die Kinder und die Schüler (V.21).

1. Korintherbrief

Erstens hat ein Gemeindeglied nach der Auffassung des Paulus gegen jede (!) Form von Ehegesetzgebung verstoßen,46 ohne dass die Gemeinde sich daran gestört hätte. Paulus ordnet den Gemeindeausschluss an. Er erfolgt in einem „sakral-pneumatischen Rechtsakt“,47 es handelt sich nicht um bloßen Ausschluss aus der Kirche, sondern um eine „dynamistische Zeremonie“,48 in der die Heiligkeit der ἐκκλησία geradezu materiell verstanden wird: Die heilige ἐκκλησία muss vor Entheiligung durch Sünde geschützt werden.49 Paulus stellt zugleich klar, dass die Heiligkeit, d. h. Reinheit von groben Sünden (Vv.10.11 Lasterkataloge) bzw. die Distanz zu derartigen Sünden nur innerhalb der Gemeinde gilt. Er fordert also nicht zur Weltflucht auf, statuiert aber unter Hinweis auf das Endgericht (V.13) eine Polarität der Sphären: die Christen „drinnen“ (positiv), die Nichtchristen „draußen“ (negativ Vv.12f.). Zweitens führen die Gemeindeglieder Prozesse vor den örtlichen Rich‐ tern,50 wohl nach bestem Wissen und Gewissen. Paulus verbietet diese Praxis geradezu wütend, indem er wieder das Endgericht (V.3) und die Heiligkeit der Gemeinde (V.11) beschwört, praktisch aber den Korinthern die Wahl zwischen Rechtsverzicht und eigenen Schiedsgerichten offen lässt und damit die juridische Kompetenz der Gemeinde als eigener Institution stärkt. Den Abschluss dieses zweiten Teils bildet eine vertiefte allgemeine Reflexion auf die Heiligkeit des Leibes (σῶμα) und eine Differenzierung zwischen zwei – äußerlich vergleichbaren – somatischen Phänomenen: dem Essen und der sog. Unzucht (6,12–20). Paulus beurteilt das Essen als äußeres Phänomen,51 das für den christlichen Umgang mit dem Leib bedeutungslos ist, die Unzucht dagegen aufgrund von Gen 2,24 als inneres Phänomen (V.18),52 das die geistliche Heiligkeit der Christen zerstört (V.19). Die allgemeine Devise „Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles nützt“ (V.12)

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Zu rechtlichen Fragen s.u. H. Conzelmann, Brief, 124. Ebd., 125. Das Bild vom Sauerteig wird im Zusammenhang zwar ethisch transformiert (V.8), ist aber zunächst materiell angelegt (V.6). Es handelt sich wohl um Prozesse, die vor privaten Richtern, d. h. in Korinth ansässigen Römern oder Griechen, geführt und entschieden werden (vgl. J. Bleicken, Verfassungsund Sozialgeschichte des römischen Kaiserreiches 1 (UTB 838), Paderborn 41995, 186 ff.). Vgl. die Jesustradition Mk 7,14–23. Damit macht Paulus (wie eben auch die Jesustradi‐ tion) eine wesentliche Differenz zum Judentum auf. Vgl. die Jesustradition Mk 7,20–23.

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und der kurze Hinweis auf die Speiseproblematik ist eine Vorwegnahme der im vierten Teil verhandelten Fragen. Textpragmatisch liegt hier eine ganz klare und scharfe Aufforderung vor, sich von allen Formen außerehelicher sexueller Liebe fern zu halten, da sie für Paulus unter dem Verdikt der Unzucht stehen (V.18 φεύγετε τὴν πορνείαν). Mit Kapitel 7 beginnen die περὶ δέ-Belehrungen des Paulus. Das Kapitel stellt einen eigenen dritten Teil dar: eine detaillierte Belehrung über – wie wir heute sagen – „gender“-Fragen. Auffallend ist die Gleichbehandlung von Männern und Frauen. Es geht zunächst um Sexualität in der christlichen Ehe (Vv.1–7). Paulus erlaubt Sexualität, sähe es aber lieber, wenn christliche Eheleute ohne sexuelle Beziehungen lebten. Den Nicht-Verheirateten rät er, nicht zu heiraten, gestattet aber die Heirat (8–9). Für die Verheirateten hat er ein Herrenwort: keine Scheidung bzw. keine Wiederheirat für schon Geschiedene (10–11)! Paulus selbst gibt moderate Regeln für Ehen zwischen Christen und Nichtchristen (12–16).53 Die Verse 17–24 stellen insoweit eine Digression dar, als sie nicht mit der gender-Thematik befasst sind, sondern in Aufnahme des Motivs „Bleiben, wie es ist“ (Vv.12 ff. für die Ehe) zur Aufrechterhaltung des religiösen und sozialen status quo auffordern.54 Die Vv.25–38 beschäftigen sich mit der Heirat der „Jungfrauen“. Es handelt sich offensichtlich „um eine bestimmte Art von Verlöbnissen“.55 Paulus argumentiert noch einmal mit dem status-quo-Argument: Eheversprechen sollen eingehalten werden. Aber seine Pragmatik ist mehrschichtig. Besser (V.38) als der status quo ist nach seiner Meinung (V.25) doch der Verzicht auf die Ehe. Die Begründung dieses Ratschlages ist eschatologisch (Vv.29–35).56 Die Vv.39–40 wenden dasselbe gestufte Wertesystem auf die Witwen an. Die Belehrung schließt mit einer deutlichen Prämierung des nicht verheirateten Status.57

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Bei „Mischehen“ gilt eigenartigerweise das Scheidungsverbot nicht. Vgl. detailliert Lindemann, Korintherbrief, 166f. Die Argumentation ist einmal ethisch (V.19), zum zweiten christologisch (V.22). Lindemann, Korintherbrief, 176. Die Diktion ist apokalyptisch: „Der Kairos ist kurz“ und „Das Wesen dieser Welt vergeht“. V.40 für Witwen, vgl. Vv.27 und 38 für Männer bzw. junge Männer, V.34 für die verlobte Jungfrau und für die unverheiratete Frau. 7,1.7 prämiert Paulus – auch mit Hinweis auf seine persönliche Lebensweise – die Ehelosigkeit, ohne sie aber vorzuschreiben.

1. Korintherbrief

Die Kapitel 8–10 bilden den vierten Teil der brieflichen Ausführungen. Der περὶ δέ-Beginn nennt das εἰδωλόθυτον als Thema dieses Abschnitts. Paulus setzt sich mit dem Problem auseinander, wieweit die γνῶσις der Christen, die Opferfleisch in dem Wissen essen, „dass es keinen Götzen, d. h. keine heidnische Gottheit, gibt“ (8,4),58 ausgelebt werden kann. Frühere Heiden, die Christen geworden sind, scheinen „jetzt gerade“ Opferfleisch zu essen, weil sie ihre Freiheit (V.9) und ihre Erkenntnis (V.10) demonstrieren wollen. Eingangs (8,1–6) formuliert Paulus das theologische Basiswissen (οἴδαμεν) zu diesem Thema. Inhalt dieses Basiswissens ist (1.) die γνῶσις: οὐδὲν εἴδωλον ἐν κόσμῳ καὶ ὅτι οὐδεὶς θεὸς εἰ μὴ εἷς (V.4), (2.) das Bewusstsein der Unterordnung dieser γνῶσις unter die ἀγάπη zu den Mitchristen (Vv.1–3). Zwischen γνῶσις und ἀγάπη bewegt sich die folgende sehr differenzierte Argumentation des Paulus. Gleichzeitig schlägt er damit schon das Thema der Kapitel 12–14 an. Paulus stellt in Kapitel 8 dieser γνῶσις das Gewissen (συνείδησις) der Christen gegenüber. Nicht alle christlichen Heiden sind sich so sicher, dass es keine εἴδωλα in der Welt gibt. Sie leiden, da ihnen die wirkliche Freiheit vom Götzendienst bzw. der Götterverehrung noch fehlt, an verletztem Gewissen, d. h. sie haben Angst beim Essen und essen gegen ihr Gewissen. In diesem schwierigen Fall rät Paulus noch einmal dasselbe wie in Kapitel 7: nämlich beim status quo, diesmal bei der Vermeidung von Opferfleisch, zu bleiben. Denn auch hier gilt: „Speise wird uns nicht vor Gottes Gericht bringen“ (8,8).59 Kapitel 9 ist ein umfangreiches autobiographisches exemplum.60 Das Kapitel ist für die Konstruktion der Person des Paulus von besonderer Bedeutung. Kapitel 10 führt in seinem 3. Teil (Vv.23–33) zum περὶ δέ-Thema, dem Essen von Opferfleisch, zurück. Die Pragmatik ist klar: Paulus differenziert zwischen dem einfachen Einkauf auf dem Markt (V.25) sowie dem Essen bei einer Einladung bei „Heiden“ (V.27) einerseits und dem Verzicht auf Opferfleisch in dem Falle, dass ein Mitchrist offene Bedenken äußert (V.28), andererseits. Diese differenzierte Anweisung orientiert sich nicht an der materiellen Frage, ob ein Christ „Götzenopferfleisch“ essen dürfe oder 58 59 60

8,1–6 ist eine Auseinandersetzung des monotheistischen Christen Paulus mit dem griechisch-römischen Polytheismus aus jüdischer Sicht (8,6b christologisch). Beachte wieder die eschatologische Wendung. Wichtige autobiographische Angaben: V.5 (Paulus ist im Gegensatz zu den Aposteln, den Brüdern Jesu und Petrus nicht verheiratet), Vv.12–18 (Paulus hat sich in Korinth nicht finan‐ ziell unterstützen lassen, Grund: V.17), Vv.19–23 (unterschiedliche religiöse Lebensformen des Paulus aus missionarischen Gründen).

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nicht,61 sondern am Gewissen des Mitchristen. Paulus argumentiert hier also grundsätzlich theologisch, aktuell aber seelsorgerlich. Zuvor stellt Paulus in 10,1–13 und 14–22 zwei theologische Überlegungen im Umfeld der Opferfleischfrage voran. In den Vv.1–13 warnt er vor den Gefahren von Götzendienst, Unzucht, Versuchung und „Murren“ gegen Gott, indem er auf das Schicksal Israels während der Wüstenwanderung hinweist.62 In den Vv.14–22 bringt er direkt das Herrenmahl ins Spiel. Die Pragmatik lautet: Christen, die am Herrenmahl teilnehmen, können nicht an offenkundig religiös gewidmeten Tempelmählern teilnehmen, und zwar nicht, weil die dort verehrten Götter „etwas sind“ (V.19), sondern weil mit solchen Mahlzeiten das körperlich verstandene Gemeinschaftsverhältnis der Christen zum Herrn Jesus Christus zerstört wird.63 Mit 11,1 ist die Thematik des εἰδωλόθυτον im Wesentlichen abgeschlossen. Paulus verweist in 10,32–11,1a nochmals in Aufnahme von Kapitel 9,21–23 auf seine Lebensform, die „allen alles wird“ (9,22) und die er der Gemeinde als vorbildlich vorstellt. In Teil V, 11,2–34, schließt er in einem thematischen Nachtrag zur Frage des Götzenopferfleisches eine Ermahnung über die richtige Art, das κυριακὸν δεῖπνον zu essen (V.20), an. Zuvor regelt er, gleichsam im Vorbeigehen, veranlasst durch einen Stichwortanschluss (μιμηταί μου 11,1a und πάντα μου μέμνησθε 11,2), in einem kürzeren Passus (11,1b–16) einen bestimmten Aspekt der Gemeindesitte (συνήθεια 11,16): Gebet oder prophetisches Reden der Frau soll nicht ohne „Macht auf dem Kopf“ geschehen.64 Paulus sieht in der Haartracht der Frauen in der Gemeinde in Korinth einen Verstoß gegen die „Sitte der Gemeinde“ (V.16). Schwere Verstöße diagnostiziert er dann bei der Feier des Herrenmahls. In diesem Zusammenhang greift er noch weiter zurück: nämlich auf das Thema der Spaltungen (11,18f.), das er im

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Diese Frage ist für Paulus theologisch geklärt: Man darf alles Fleisch essen, denn es gibt keine „Götzen“ bzw. Götter: 8,1–6. Midrasch zu Exodusstellen (vgl. Nestle-Aland). Die Pointe ist: Das Volk Israel hatte schon in geistlicher Gestalt die Taufe (V.2) und das Herrenmahl (V.4), und Gott ließ sie trotzdem umkommen (V.5). Paulus wendet die Exodusgeschichte explizit typologisch: ταῦτα δὲ τύποι ἡμῶν ἐγενήθησαν (V.6), d. h. auch die Christen sind durch Taufe und Herrenmahl nicht gegen Abfall gefeit und dürfen mit der Frage des εἰδωλόθυτον nicht zu sorglos umgehen. In V.11 weist er zusätzlich wieder auf die Endzeit hin. Gedanke der Teilhabe, κοινωνία, V.20. Denselben Gedanken benutzt Paulus in 11,17–34 in anderer Wendung. Der Text ist unklar. Es scheint sich weniger um einen Schleier, sondern um langes Haupthaar und u. U. um eine besonders konservative Haartracht zu handeln. Zu den Einzelheiten der Beweisführung vgl. Lindemann, Korintherbrief, 237–247 (Lit.).

1. Korintherbrief

ersten Teil seines Briefs ausführlich thematisch behandelt hatte. V.33 gibt eine genaue Richtlinie: Die Gemeindeglieder sollen aufeinander warten und dann gemeinsam das κυριακόν δεῖπνον essen. Das ist die textpragmatische Pointe des 11. Kapitels. Die Grundlage für die Anordnung legt Paulus in den Versen 23b–25(26), in der Abendmahlsüberlieferung, die er selbst empfangen65 und den Korinthern weitergegeben hat.66 Das Herrenmahl erfordert eine würdige (V.27) und spezifische (V.29) Weise, die dem Leib und Blut des Herrn (V.27), d. h. seinem Opfertod für die Gemeinde, gerecht wird. Die in Korinth eingerissene Praxis, dass jedes Gemeindeglied im Rahmen der Herrenmahlsfeier sein ἴδιον δεῖπνον einnimmt, statt dass die Gemeindeglieder aufeinander warten,67 verstößt gegen die Intention und Funktion des Opfers Jesu.68 Paulus kommt nun zu Teil VI: περὶ δὲ τῶν πνευματικῶν (über die Geis‐ tesgaben), dem die Kapitel 12 bis 14 gewidmet sind. Paulus schreibt hier – nach Kapitel 7 und 8–11 – eine dritte thematische Belehrung (οὐ θέλω ὑμᾶς ἀγνοεῖν), die sorgfältig aufgebaut und durchgeführt ist. Er beginnt analog zu Kapitel 8 mit einer grundsätzlichen theologischen Orientierung auf Gottes Geist (12,1–3) und einer theologischen Belehrung über die Vielfalt der Gaben und die Einheit des Geistes, der diese Gaben bewirkt (12,4–11). Dieses Verhältnis verdeutlicht Paulus in den Vv.12–26 mit der Fabel vom Leib und den Gliedern, die er sogleich argumentativ auf die Gemeinde bezieht. In den Vv.27–31 wendet er die Argumentation textpragmatisch auf die Gemeindeverhältnisse in Korinth an, indem er die Unterschiedenheit und Funktion der Ämter und Geistesgaben – beide nimmt er in Vv.28f. zusammen – betont. In Kapitel 13 verweist er charismenkritisch auf die Liebe 69 als größte Geistesgabe (vgl. 8,1). Dadurch dass er auch die Tugend der Liebe wie Hoffnung und Glaube als Charisma interpretiert, eröffnet er die Möglich‐ keit, mit den Geistphänomenen ethisch umzugehen. Kapitel 14 bezieht

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Nicht von Jesus selbst, sondern aus der Gemeindetradition, die auf Jesus zurückgeht (Lindemann, Korintherbrief, 253). Zu Wortlaut und Geschichte der Herrenmahlstradition bei Paulus vgl. Lindemann, Korintherbrief, 256ff. Dazu die klaren Ausführungen bei Lindemann, Korintherbrief, 252 f. – Vgl. oben zu Kap. 10,14ff. (κοινωνία τοῦ σώματος τοῦ Χριστοῦ). Beachte auch das eschatologische Argument in Vv.29–32. O. Wischmeyer, Liebe als Agape: das frühchristliche Konzept und der moderne Diskurs, Tübingen 2015.

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diese „ethische Wende“ der Geistesgaben vor allem auf die wichtigsten Redeformen im Gemeindegottesdienst. Die Korinther bevorzugen die direkt geistgewirkte Glossolalie,70 Paulus verweist sie auf die Prophetie als „eine theologisch vollmächtige, inhaltlich überzeugende Rede“,71 die im Gegensatz zur Glossolalie kommunikativ, d. h. verständlich und für die Gemeinde erbauend ist (14,4). Die Glossolalie leidet nach Paulus unter ihrer fehlenden Kommunizierbarkeit und ihrer Ichbezogenheit. Teil VII umfasst Kapitel 15 und lässt sich als thematisch streng geschlos‐ sener Traktat über die Auferstehung der Toten verstehen.72 Den Anlass gibt der Umstand, dass „einige“ Korinther sagen: ἀνάστασις νεκρῶν οὐκ ἔστιν (V.12). Paulus stellt dieser situativen Themenangabe in 15,1–11 eine Basisargumentation wie in den Kapiteln 8 und 12 voran.73 Dabei handelt es sich um Gemeindetradition wie in 11,23ff., diesmal um den Wortlaut der εὐαγγέλιον-Paradosis (15,3–5).74 Aus der Christustradition, d. h. aus dem Tod Jesu und seiner Auferstehung, die in Korinth unumstritten ist, folgert Paulus in 15,12–19 die allgemeine Totenauferweckung. Er versteht die Auferweckung Christi nicht als singuläres Schicksal eines Kultheros Christus, der seine Anhänger in irgendeiner Weise an seinem erhöhten Leben teilhaben lassen wird,75 sondern als das universale Ereignis, das –

70 71 72 73 74 75

Vgl. dazu Lindemann, Korintherbrief, 297ff. Lindemann, Korintherbrief, 299. Vgl. O. Wischmeyer, 1. Korinther 15. S.o. zu den angegebenen Kapiteln. Zur ursprünglichen Bekenntnisformel, die wohl die Vv.3b–5a umfasste, vgl. Lindemann, Korintherbrief, 328–330. Vgl. dazu Wischmeyer, 1. Korinther 15, 262–264. Die Korinther, die die ἀνάστασις νεκρῶν bestritten, „meinten, den Glauben an eine allgemeine zukünftige Totenauferste‐ hung nicht zu brauchen und diese abrogieren zu können, da sie sich ihres kommenden pneumatischen Gruppenheils, in das sie ihre Verstorbenen einbeziehen konnten, sicher waren“ (262). Die Bitte der Taufe für die Verstorbenen (V.29) passt für diese Gruppe ge‐ rade in ihr Gruppenverständnis. – In die Diskussion über die Position der korinthischen Gruppe führt auch Lindemann, Korintherbrief, 338 f., kritisch ein. Er selbst vermutet bei der Gruppe eine Position, „wie sie später in 2 Tim 2,18 zurückgewiesen werden wird: Es gibt keine Auferstehung der Toten, vielmehr ist die eigentliche Auferstehung bereits geschehen, was insbesondere bedeutet, dass der irdisch-physische Tod bedeutungslos ist“ (339). – Lindemanns Interpretation der korinthischen Gruppenposition leidet daran, dass die Korinther ja gerade nicht das sagen, was Hymenäus und Philetus sagen – nämlich: „Die Auferstehung ist schon geschehen“, sondern „Es gibt keine Auferstehung der Toten“. Die Argumentation des Paulus zielt also nicht auf die Vorstellung von der schon geschehenen Auferstehung, sondern auf den Umstand der Auferstehung der (= aller) Toten als solcher.

1. Korintherbrief

analog zur Erschaffung Adams – die Endzeit eröffnet (Vv.20–28). Der erste argumentative Akzent liegt deutlich auf dem „alle“ in 15,22.76 Christus ist nach Paulus kein Gruppenheros, sondern endzeitlicher Weltherrscher, der die ganze Schöpfung wieder ins Leben bringt (5,26 Vernichtung des Todes), bevor er seine Herrschaft Gott zurückgibt. Paulus verbindet hier die apokalyptischen Vorstellungen eines endzeitlichen Herrschers und der allgemeinen endzeitlichen Totenauferstehung miteinander. In 15,29–34 fügt er persönliche Argumente hinzu: die Totentaufe in Korinth und seine eigene ständige Todesgefahr, die nur sinnvoll ist, wenn die Toten auferstehen. Galten die Verse 1–34 der Frage nach dem Dass der Auferstehung, so fragen die Verse 35–49 nach dem Wie der Auferstehung: „Ist körperliche Auferstehung denk- und vorstellbar“?77 Der zweite argumentative Akzent liegt auf der Auferstehung der Leiber. Paulus argumentiert nach dem Analogie-Schluss von der Schöpfung (Vv.36–41) auf die Auferstehung der Toten (Vv.42–49),78 wobei er trotz der prinzipiellen Kontinuität zwischen Schöpfung und Neuschöpfung – die die Identität der σώματα garantiert – eine Diskontinuität zwischen geschöpflichem fleischlich-physisch-irdi‐ schem Leib und geistlich-himmlischem Leib konstituiert, wie es auch für Jesus Christus zutrifft. Paulus schließt den Traktat mit einer apokalyptischen Offenbarungspas‐ sage (Vv.50–55),79 die seine Argumentation noch einmal bündelt, vollmäch‐ tig autorisiert und auf den Adressatenkreis („wir“) zuspitzt: πάντες δὲ ἀλλαγησόμεθα. Für Paulus und die Gemeinde gilt: Vor oder nach ihrem leiblichen Tod werden sie „verwandelt werden“ zu Unverweslichkeit und Unsterblichkeit.80

76 77

78 79 80

Demgegenüber vermutet Lindemann, Korintherbrief, 339, den Akzent auf den Toten. Wischmeyer, 1. Korinther 15, 265. Wieweit Paulus sich hier gegen andersartige Vorstel‐ lungen der korinthischen Gruppe wendet, lässt sich dem Text nicht entnehmen, da Paulus nicht mehr auf die Meinung der τινες zurückkommt. Ob Lindemann, Korinther‐ brief, 372 f., die korinthische Gruppe zutreffend beschreibt, wenn er sie „pneumatische Enthusiasten“ nennt (373), mag offen bleiben. Vgl. Wischmeyer, 1. Korinther 15, 265. Vgl. Wischmeyer, 1. Korinther 15, 266. Zum Inhalt des „Geheimnisses“ vgl. Lindemann, Korintherbrief, 367ff. Lindemann, Korintherbrief, 363, weist zurecht darauf hin, dass Paulus hier „betont von sich und den Adressaten [spricht], ohne die anderen Menschen (positiv oder negativ) überhaupt im Blick zu haben.“

323

324

O DA W ISCHMEYER

Ein kurzer achter Teil gilt dem Kollektenthema (λογεία), mit dem Paulus seit dem Apostelkonvent beschäftigt ist (Apg 15; Gal 2,10), und seinen damit zusammenhängenden Reiseplänen. Das Kollektenthema wird noch einmal mit περὶ δέ eröffnet (16,1). Paulus ruft zu individuellem Sparen auf und will die Gesamtsumme bei seinem nächsten Besuch entweder an die Jerusalemer Urgemeinde schicken lassen oder selbst – wie es dann geschah – begleiten.81 Ein letztes περὶ δέ gilt Apollos (V.12), auf dessen Besuch in Korinth Paulus keinen Einfluss hat. Die Vv.13–18 enthalten topische und aktuelle Ermahnungen. Die Vv.19–20 ent‐ halten Grüße der Christen der Asia, 21 den eigenhändigen Gruß des Paulus, 22 einen topischen Fluch, 23 antithetisch dazu einen Gnadenzuspruch, 24 schließlich beendet Paulus den Brief „mit einem Hinweis auf seine ἀγάπη den Adressaten gegenüber, wofür es im ganzen Corpus Paulinum keine Parallele gibt“.82 3.2 Exegetische Probleme

Der 1. Korintherbrief enthält zahlreiche exegetische Probleme, die zu unter‐ schiedlichen Lösungsversuchen geführt haben. Einige prominente Beispiele benenne ich im Folgenden.83 Ich beginne mit zwei übergreifenden Fragen. 1. Die literarische Einheitlichkeit wird seit J. Weiß bestritten. Grund sind die unterschiedlichen Themen und Neueinsätze sowie der Hinweis auf einen älteren Brief. G. Sellin hat eine vielbeachtete Teilungshypothese vorgelegt, die drei Briefe rekonstruiert: A den Vorbrief, B den Antwort‐ brief, C einen weiteren Brief.84 Gegenwärtig sprechen sich Schnelle, Lindemann, Schrage, Mitchell u. a. aus methodischen, inhaltlichen und rhetorischen Beobachtungen für die Einheit des Briefes aus. Das hier vorgelegte Modell der differenzierten Kommunikationsebenen85 unter‐ stützt die Einheitsthese.

81 82 83 84 85

Zu den historischen Details vgl. Lindemann, Korintherbrief, 374ff. Lindemann, Korintherbrief, 389. Die meisten Probleme sind schon im Lauf der Darstellung genannt worden. Ich stelle sie hier nochmals übersichtlich zusammen und verweise auf weiterführende Literatur. „Vorbrief“ A: 11,2–34; 5,1–8; 6,12–20; 9,24–10,22; 6,1–11; „Antwortbrief“ B: 5,9–13; 7,1– 9,23; 10,23–11,1; Kap. 12–16 ohne 14,33b–36; C: Kap. 1–4; vgl. G. Sellin, Hauptprobleme, 2940–3044. Einführend zu den Teilungshypothesen Lindemann, Korintherbrief, 3–6. Vgl. oben 1.6.1 Kommunikation.

1. Korintherbrief

2. Das religiöse Profil der korinthischen Gemeinde setzt sich aus unter‐ schiedlichen und teilweise widersprüchlichen Aspekten zusammen:86 pneumatischem Enthusiasmus, sexueller Askese, γνῶσις, ekstatischer Glossolalie, freiem Verhalten der Frauen im Gottesdienst. Daneben stehen Aspekte von sexueller Sorglosigkeit (Kap. 5) und sorglos-provo‐ kativem Umgang mit Opfermahlzeiten ebenso wie mit dem Herrenmahl. Hinzu kommt die Ablehnung der Totenauferstehung bei „Einigen“. Daraus entwickeln einige Exegeten ein bestimmtes religionsgeschicht‐ liches Profil. Schmithals spricht von christlichen Gnostikern,87 Sellin von alexandrinisch-jüdischer Weisheitstheologie.88 Schnelle plädiert mit Conzelmann, Wolff und Horn für eine „endogene Entwicklung in Ko‐ rinth“, deren Basis „ein an den Sakramenten [Taufe und Herrenmahl] orientiertes Denken“ bildet,89 das Mysterienvereinen nahe steht. Es folgen ausgewählte Einzelprobleme: 3. die Parteiungen in Korinth (1,12)90 4. die religionsgeschichtliche Verortung der σοφία in den Kapiteln 1,18– 2,16 und 3,18ff.91 5. der Fall einer außergewöhnlichen sexuellen Verfehlung in 5,1–592 6. die Stellung der Sklaven bei Paulus in sozialgeschichtlicher Hinsicht93 7. das Herrenmahl bei den Korinthern und aus der Sicht des Paulus94 8. die Bedeutung der Anweisungen des Paulus für die Haartracht der Frauen in 11,1–1695 (Schleier oder Haartracht) 9. die Ursprünglichkeit des Schweigegebotes an die Frauen in 14,34f.96 10. die Tradition des εὐαγγέλιον in 15,2b–5 (Rekonstruktionsprobleme).97

86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97

Vgl. Sellin, Hauptprobleme, 3016ff. W. Schmithals, Gnosis. Vgl. allg. Schnelle, Einleitung, 86–93. G. Sellin, Streit, 1986. Schnelle, Einleitung, 88 mit Anm. 218. Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 39–41. Ebd., 92 f. Vgl. dazu O. Wischmeyer, Jak 3,13-18 vor dem Hintergrund von 1Kor 1,17–2,16. Frühchristliche Weisheitstheologie und der Jakobusbrief, in: Annali di storia dell’esegesi 34 (2017), 403–430. Lindemann, Korintherbrief, 123f. Ebd., 174f. Ebd., 252 f. und 256–258. Ebd., 238–247 (exegetische Detailanalyse). Ebd., 319–321 (Frage der Glosse). Ebd., 328–330.

325

326

O DA W ISCHMEYER

Die Probleme des Auferstehungskapitels wurden schon in der exegetischen Analyse besprochen. 4 Probleme der Interpretation

Die Paulusbriefe sind keine theologischen Kompendien, die dann hinrei‐ chend interpretiert sind, wenn man ihren Aufbau, ihre Thematik und ihre Aussagen darstellt. Sie sind – darüber besteht Einigkeit – situative und adressatenbezogene Schreiben. Das gilt in besonderem Maße für den 1. Korintherbrief, dessen Inhalt nachhaltig von der Situation der Gemeinde in Korinth bestimmt ist. Diese Situationsbezogenheit ist der Schlüssel zur In‐ terpretation des Schreibens, zugleich stellt sie aber auch das Hauptproblem angemessener Auslegung dar. Denn die Situation in Korinth lässt sich – wenn überhaupt – nur aus dem Brief erschließen, den sie dann erklären soll. Folgende Interpretationsmodelle98 versuchen in unterschiedlicher Weise, mit diesen hermeneutischen Zirkelproblemen umzugehen: 1. die literarkritische Interpretation, die die Unklarheiten in der Rekon‐ struktion des Geschehens zwischen Apostel und Gemeinde dadurch auflöst, dass sie unterschiedliche Briefe rekonstruiert 2. die religionsgeschichtliche Interpretation, die die religiösen Vorstellun‐ gen der korinthischen Gemeinde und ihrer Gruppen (σχίσματα) aus der Welt hellenistisch-römischer Religion und deren Mischung mit der Missionspredigt des Paulus erklären will 3. die sozialgeschichtliche Interpretation,99 die die unterschiedlichen Stand‐ punkte der Korinther und des Paulus aus ihren sozialen Milieus, ihren soziologischen Strukturen (religiöse Vereine) und ihren allgemeinen kulturellen Werten herleitet 4. die kommunikationswissenschaftliche Interpretation, die den Brief des Paulus als Ausdruck der spezifischen Kommunikationssituation des Apostels mit der von ihm gegründeten Gemeinde versteht 5. die rhetorische Interpretation, die den Brief als ein literarisches Instru‐ ment liest, mit dem Paulus die korinthische ἐκκλησία berät.

98 99

In den Kommentaren werden stets mehrere Modelle gleichzeitig herangezogen. Ich gebe hier eine idealtypische, vereinfachte Darstellung. Vgl. G. Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 1979, 201–317. Besonders das Scham-Ehre-Schema: vgl. D.B. Martin, The Corinthian Body.

1. Korintherbrief

Der vorliegende Beitrag beachtet besonders die kommunikativen und rhe‐ torischen Elemente des Briefes und kommt bei seiner Analyse zusätzlich zur Würdigung der theologischen Aussagen und der differenzierten Textprag‐ matik. Ein solch gemischtes Interpretationsverfahren wird am ehesten dem Anspruch dieses großen Gemeindebriefes gerecht. 5 Würdigung

Der 1. Korintherbrief zeigt die kommunikativen, rhetorischen, argumenta‐ tiven, gemeindeleitenden, paränetischen und lehrhaften sowie spezifisch theologischen Fähigkeiten des Paulus in ihrem Zusammenspiel und in Bezug auf eine ihm äußerst vertraute Adressatengruppe. Der Brief ist ein Zeugnis der Verbindung situativer, auch persönlich emotionaler Behandlung von Fragen, die sich aus dem Alltag der korinthischen Missionsgemeinde erga‐ ben, mit grundsätzlichen theologischen Erwägungen, die Paulus als erster begrifflich und literarisch fasste und in deren Entstehungsprozess der Brief einen Einblick gibt. Paulus ermahnt und belehrt die Gemeinde auf der Basis der Gemeindeüberlieferungen über Jesu Tod und Auferstehung und über das Herrenmahl, die er selbst empfangen und der Gemeinde in Korinth weitergegeben hat. Er interpretiert die Taufe und entwickelt seine ethischen Überlegungen auf der Basis von Herrenworten, allgemeiner Gemeindesitte, eigener Erfahrung, Einsicht und Lebensführung. Er korrigiert Überzeugun‐ gen, Verhalten und Sitten der Korinther teils schroff, apodiktisch und restriktiv, teils differenziert und relativ liberal. Die Gemeinde stellt sich aus der Sicht des Paulus als starke, wachsende, aber zu Spaltungen und Verfehlungen neigende Gruppe dar, die durch ihre reichen pneumatischen Gaben ebenso gekennzeichnet und ausgezeichnet wie gefährdet ist. Paulus entwickelt in der Auseinandersetzung mit bestimmten Fehlern (Kap. 1–6) und Fragen der Gemeinde (7–14) sowie der Sondermeinung einer Gruppe zur Auferstehung (15) einige zentrale theologische Einsichten: die Bedeutung des Leibes Christi und ihres eigenen Leibes für Gegenwart und Zukunft der Christen, die Notwendigkeit eines christlichen Ethos, welches gender-Verhalten, soziales Zusammenleben in der Gemeinde, Gottesdienst‐ gestaltung und einen sinnvollen Umgang mit den – zahlenmäßig überwäl‐ tigend vielen – Nichtchristen ermöglicht, ohne die christliche Identität zu beschädigen. Er beschreibt das christliche Ethos im Zusammenhang der Geistesgaben als ἀγάπη. Die ἀγάπη bildet den einen Pol christlicher Exis‐

327

328

O DA W ISCHMEYER

tenz, den anderen Pol sieht Paulus in der eschatologischen Distanz zur Welt, die der Endzeit-Situation der Welt entspricht, die er in Kapitel 7 beschreibt: ὁ καιρὸς συνεσταλμένος ἐστίν (7,29: der Zeitpunkt ist nahegerückt) und: παράγει γὰρ τὸ σχῆμα τοῦ κόσμου τούτου (7,31: denn die Gestalt dieser Welt vergeht). Glaube und Hoffnung der Christen richten sich daher nicht auf dieses Leben (15,19), sondern auf das zukünftige Leben im Modus der Unvergänglichkeit (15,35–49). Mit den Texteinheiten von Kapitel 13 über die Liebe und Kapitel 15 über die Auferstehung enthält der 1. Korintherbrief zwei zentrale paulinische Texte, die grundsätzlich über die korinthische Situation hinausreichen. 6 Literatur 6.1 Kommentare

H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 21981 (Nachfol‐ gekommentar von Chr. Weiß, sehr materialreiche Exegese). J.A. Fitzmyer, 1 Corinthians (The Anchor Yale Bible Commentaries), New Haven 2008 (bester englischsprachiger wissenschaftlicher Kommentar). R.A. Horsley, 1 Corinthians (ANTC 7), Nashville 1998 (Kurzer, allgemeinverständli‐ cher Kommentar mit Interesse an der sozio-kulturellen Umwelt der Korinther). A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief (HNT 9), Tübingen 2001 (Gründlicher wissenschaftlicher Standardkommentar, mit wichtigen Exkursen zu exegetischen Einzelfragen). W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (EKK 7/1–4), Neukirchen-Vluyn 1991.1995.1999.2001 (Sehr umfangreicher wissenschaftlicher Kommentar mit mo‐ nographischen Abschnitten und besonderem Interesse an der Auslegungsgeschichte). J. Weiß, Der Erste Korintherbrief (KEK 5), Göttingen [1910] 1977 (Großer deutsch‐ sprachiger wissenschaftlicher Standardkommentar vom Beginn des 20. Jahrhunderts mit besonderem Interesse an Religionsgeschichte). Chr. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 7), Leipzig 1996 (Allgemeinverständlicher Kommentar, der die Argumentation des Paulus gründlich nachzeichnet). B. Witherington III, Conflict and community in Corinth. A socio-rhetorical commen‐ tary on 1 and 2 Corinthians, Grand Rapids 1995 (Kommentar zur korinthischen Korrespondenz mit dem Hauptinteresse an der rhetorischen Argumentation der Briefe). D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010 (Nachfolgekom‐ mentierung von H. Conzelmann, bes. religionswissenschaftlich interessiert).

1. Korintherbrief

6.2 Monographien

H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament (UTB 2022), Pader‐ born etc. 1998 (Standardeinführung in die neutestamentliche Briefgattung). D.B. Martin, The Corinthian Body, New Haven 1999. M. Öhler, Geschichte des frühen Christentums (UTB 4737), Göttingen 2018. W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth (FRLANT 66), Göttingen 31969 (Klassische Monographie zur religionsgeschichtlichen Einordnung der korinthischen Gemeinde). U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 92017 (Stan‐ dardlehrbuch). Ders., Paulus. Leben und Denken, Berlin/Boston 22014 (Neue umfangreiche Darstel‐ lung mit starkem theologischem Akzent). G. Sellin, Der Streit um die Auferstehung der Toten (FRLANT 138), Göttingen 1986. O. Wischmeyer, Liebe als Agape. Das frühchristliche Konzept und der moderne Diskurs, Tübingen 2015. 6.3 Aufsätze und Lexikonartikel

H.D. Betz/M.M. Mitchell, Art. Corinthians, First Epistle to the, ABD I (1992), 1139– 1148 (Besonders wichtig für die rhetorisch-argumentative Analyse des Briefes). G. Sellin, Hauptprobleme des Ersten Korintherbriefes, ANRW II 25.4 (1987), 2996– 3023. O. Wischmeyer, 1. Korinther 15. Der Traktat des Paulus über die Auferstehung der Toten, in: dies., Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments, hg. von E.-M. Becker (WUNT 173), Tübingen 2004, 243–275.

329

2. Korintherbrief

E VE -M ARIE B ECKER

Absender

Paulus (1,1; 13,10) Mitabsender: Timotheus (1,1)

Adressaten

Gemeinde von Korinth Christen in Achaia

Entste‐ hungssitua‐ tion

Fortführung der brieflichen Kommunikation des Paulus mit der Gemeinde von Korinth während seiner Abwesenheit

Anlass

Störung des Verhältnisses des Paulus zur korinthischen Gemeinde

Abfassungs‐ ort

Makedonien (nicht explizit genannt)

Datierung

terminus post quem: 55 n. Chr. (1. Korintherbrief) terminus ante quem: 56/57 n. Chr. (3. Korinthbesuch des Paulus)

Gegner‐ schaft

vermutlich: christliche Wandermissionare jüdisch-hellenistischer Herkunft

Themen

Vorgeschichte, Apostolat, Verhältnis des Paulus zur korinthischen Gemeinde, Eschatologie, Kollektensammlung, Leben des Paulus als Apostel

Grobgliede‐ rung

Briefein‐ gang

1,1–2 1,3–11

briefliches Präskript Eulogie und Eröffnung

Briefcor‐ pus

1,12– 13,10

1,12–7,4

Apologie und narratio

7,5–16

Trost/Deutung der Verteidigung

8,1–24

Kollektenbrief (1)

9,1–15

Kollektenbrief (2)

10–13,10 Apologie des Amts und der Person

332

E VE -M ARIE B ECKER

Brief‐ schluss

13,11 13,12 13,13

Schlussparänese Grüße briefliches Eschatokoll

1 Texterschließung 1.1 Textbestand und Textüberlieferung

Der ‚kanonische‘1 2. Korintherbrief enthält im Nestletext ca. 4448 Wörter2 und umfasst ca. 20 Nestle-Seiten. Damit stellt er den drittlängsten Brief des Paulus dar. Trotz geringfügiger Abweichungen in den superscriptiones (1 Kor 1,1: Paulus und Sosthenes; 2 Kor 1,1: Paulus und Timotheus) und den adscriptiones (1 Kor 1,2: ‚Gemeinde Gottes in Korinth‘; 2 Kor 1,1: ‚Gemeinde Gottes in Korinth samt allen Heiligen in ganz Achaia‘) sind 1 und 2 Kor an einen weitgehend identischen Adressatenkreis gerichtet und stellen die älteste und umfangreichste uns erhaltene frühchristliche Gemeindekorrespondenz dar. Der 2 Kor ist zuerst umfassend und nur mit kleinen Auslassungen in Papyrus 46 (𝔓𝔓 46, ca. 200 n. Chr.) überliefert3. 𝔓𝔓 46 ist für die früheste Bezeu‐ gung und Textüberlieferung des 2 Kor von erheblicher Bedeutung. Denn neben 𝔓𝔓 46 stellen Marcion bzw. Tertullian und ggf. der Canon Muratori die frühesten Zeugen für die umfassende 425 Wiedergabe des kanonischen 2 Kor 4 dar . Außer in Papyrus 𝔓𝔓 46 finden sich in den zeitlich vor den bedeutenden altkirchlichen Majuskeln zu datierenden Papyri5 keine Hinweise auf den 2 mit der Doxologie. Der Gnadenwunsch 2 fehlt. Die Kor. In der Majuskel-Überlieferung bis ca. zum 5. Jh. ist der Text des 2 Kor ,23; 15,1–16,23; Doxologie 16,25–27 (‫א‬, B, C). im Sinaiticus ( 01, 4. Jh.), im Vaticanus (B 03, 4. Jh.), in D 06 (6. Jh.), mit Auslassung großeneinmal ist zudem vorge‐(2 Kor 4,14–12,6) im Alexandrinus (A 02, 5. Jh.), mit der Doxologie. Sieeiner mit 2Auslassungen in C 04 (5. Jh.), versweise in I 016 (5. Jh.) und in Teilen (2 ng). Der Gnadenwunsch fehlt. Die Textfolge KorDoxologie 4,7–6,8; 8,9–18; 8,21–10,6) ogie 16,25–27; 15,1–16,23; 16,25–27 (A, in 048 (5. Jh.) enthalten.

mit dem Gruß 16,23. Die Doxologie ist vorgezogen. ehlt. Die Textfolge lautet: 1,1–15,33; Doxologie . 1 Zu dieser Bedeutung s.u. mit der Doxologie, der Gnadenwunsch 2 des neutestamentlichen Wortschatzes, Zürich/Frankfurt 1958, 2 der Vgl. R. Morgenthaler, Statistik 164. lge lautet: 1,1–14,23; 15,1–16,23.24. Doxologie 3

Vgl. zur Wiedergabe von 𝔓𝔓 46: K. Junack u. a. (Bearb.), Das Neue Testament auf Papyrus II. Die paulinischen Briefe Teil 1: Röm., 1 Kor., 2 Kor. (ANTF 12), Berlin/New York 1989. Vgl. dazu E.-M. Becker, Letter Hermeneutics, 158ff. ogie (16,25–27) und der45Gnadenwunsch 2 (16,24) Vgl. z. B. 𝔓𝔓 34 (2 Kor 5,18ff.; 10,13f.; 11,2ff.*), sowie 𝔓𝔓 99, 𝔓𝔓 117, 𝔓𝔓 124, die alle in das dlich platziert werden konnten und wohl 4.–7. Jh. zu datieren nicht sind.

hluss darstellten. Der Gnadenwunsch 1 (16,20b) hen Text.7 Die subscriptio [προς Ρωμαιους] fehlt Zusatz. Die Kurzfassung bei Marcion scheint auf hen.

lbstnennung des Verfassers, der sich ausführlich

2. Korintherbrief

333

1.2 Textanalyse

Der 2 Kor beginnt mit der Selbstnennung des Paulus als Verfasser des Briefes und des Timotheus als Mitabsender (2 Kor 1,1). Der Brief endet mit einem für die paulinischen Briefe eher untypischen trinitarischen bzw. triadischen Segenswunsch (2 Kor 13,13)6. Im Brieftext finden sich übergeordnete Gliederungselemente. Sie geben dem Brief – im Unterschied zu den Gliederungselementen im 1 Kor – allerdings weniger inhaltliche als vielmehr formale, d. h. epistolographische Strukturen. 1,3

Εὐλογητὸς

Eulogie im Briefanfang

1,8

Οὐ γὰρ θέλομεν ὑμᾶς ἀγνοεῖν ‚disclosure‘-Formel

8,1

Γνωρίζομεν δὲ ὑμῖν

Eröffnung des 1. Kollektenschreibens

9,1

Περὶ μὲν γὰρ τῆς διακονίας

Eröffnung des 2. Kollektenschreibens

10,1

Αὐτὸς δὲ ἐγὼ Παῦλος παρακαλῶ ὑμᾶς

Eröffnung der Apologie

2 Kor 8.9.10ff. lassen sich durch diese einleitenden Wendungen von ihren unmittelbaren Kontexten abgrenzen und ggf. als selbständige briefliche Einheiten verstehen (s. u.). 2 Kor 1–7 hingegen stellt formal gesehen zunächst eine textlich, d. h. zumindest epistolographisch nicht weiter zu unterglie‐ dernde Texteinheit dar. Diese Texteinheit ist im Unterschied zum 1 Kor nicht durch verschiedene formal gekennzeichnete thematische Neueinsätze (z. B. περί-Wendungen) strukturiert, sondern durchgängig als Auseinander‐ setzung des Paulus mit der korinthischen Gemeinde und als Reflexion des kommunikativen Verhältnisses zu den Korinthern gestaltet. Diese Auseinandersetzung wird jedoch erstens auf der sprachlich-syntaktischen Textebene unterbrochen. Folgende Brüche sind deutlich: 2,13 2,14

… ἐξῆλθον εἰς Μακεδονίαν. Τῷ δὲ θεῷ χάρις…

6,13 6,14

… πλατύνθητε καὶ ὑμεῖς. Μὴ γίνεσθε ἑτεροζυγοῦντες ἀπίστοις…

7,1 7,2

… ἐπιτελοῦντες ἁγιωσύνην ἐν φόβῳ θεοῦ. Χωρήσατε ἡμᾶς…

6

Vgl. zu einem ähnlichen Teilmotiv höchstens z. B. Phil 2,1 (κοινωνία πνεύματος).

334

E VE -M ARIE B ECKER

7,4 7,5

… τῇ χαρᾷ ἐπὶ πάσῃ τῇ θλίψει ἡμῶν. Καὶ γὰρ ἐλθόντων ἡμῶν εἰς Μακεδονίαν…

Zweitens lassen sich innerhalb von 2 Kor 1–7 verschiedene Kommunikati‐ onssituationen vermuten, so z.B.: 2,1ff.

ἔκρινα… καὶ ἔγραψα τοῦτο αὐτό… ἐκ γὰρ πολλῆς θλίψεως καὶ συνοχῆς καρδίας ἔγραψα ὑμῖν…

7,9.13 νῦν χαίρω… διὰ τοῦτο παρακεκλήμεθα.

Die Beobachtungen zu den formalen und sprachlich-syntaktischen Inkohä‐ sionen innerhalb des Gesamtbriefes 2 Kor 1–13 und innerhalb der Kap. 1–7 geben Anlass zum Zweifel an der originären literarischen Einheitlichkeit des kanonischen 2 Kor und zur Vermutung einer Kompilation von ursprünglich mehreren Einzelbriefen (s. u.). 1.3 Gliederung

Die Gliederung des kanonischen 2 Kor als Gesamtbrief lässt sich am sinnvollsten nach dem für die Untergliederung der Paulusbriefe üblichen epistolographischen Schema vornehmen:7 Epistolographische Dreiteilung

Briefanfang

1,1–11

– Präskript (super‐ – scriptio, adscriptio, χάρις-Formel) – –

7 8 9

Eulogie ‚disclosure‘-For‐ mel

– –

1,1–2

Gliederung Schnelle 8

Gliederung Arzt-Grabner 9

1,1–2,17

1,1–2

– 1,1–2

1,3–7 – 1,3–7 Proömium 1,8–11 – 1,8–2,17 briefli‐ che Selbstempfeh‐ lung

Schattiert dargestellt ist die minimale Abgrenzung der epistolographischen Formmerk‐ male. U. Schnelle, Einleitung9, 98 verbindet die Abgrenzung epistolographischer Formelemente mit einer inhaltlichen Untergliederung des Briefes. P. Arzt-Grabner, 2. Korinther, 179 f. schlägt eine Gliederung auf der Basis papyrologi‐ scher Vergleichstexte vor.

2. Korintherbrief

335

Epistolographische Dreiteilung

Gliederung Schnelle 

Gliederung Arzt-Grabner 

Briefcorpus

1,12– 13,10

3,1–12,13

1,3–13,11

Briefschluss

13,11–13

12,14–13,13

13,12–13

– Schlussworte

13,11–12

– triadischer Se‐ genswunsch

13,13

– 12,14–13,10 apostol. Parusie – 13,11 Schlusspa‐ ränese – 13,12 Grüße

– 13,12 Übermittlung von Grüßen – 13,13 Eschatokoll – 13,13 Schlussgruß

Der Versuch einer thematischen Feingliederung des Briefes (s.u. 3.) spiegelt wider, wie der Gesamtbrief von der andauernden Reflexion des Verhältnisses des Paulus zur korinthischen Gemeinde geprägt ist und darüber hinaus – bis auf die Kollektenthematik (Kap. 8 und 9) – kaum eigenständige Sachthemen oder Argumentationsgänge aufweist. Beim Vergleich mit anderen Gliederungsvorschlägen (Thrall, Matera, Schmeller) fallen im Wesentlichen folgende Übereinstimmungen auf: Die epistolographischen Formen von Briefanfang und Briefschluss werden ähn‐ lich abgegrenzt. Kap. 8 und 9 werden als eigenständiger Briefabschnitt verstanden. In 2 Kor 10,1ff. wird eine neue Gliederungseinheit markiert. 2 Kor 7,5–16 werden als eigenständiger Abschnitt im Kontext des in 1,12ff. beginnenden Briefcorpus bewertet. Unterschiede bestehen insbesondere hinsichtlich der Binnengliederung von 1,12–7,4: Die Mehrzahl der Interpre‐ ten (so auch Thrall, Matera, Schmeller) trennen 2 Kor 2,13 und 2,14 und lassen daher in 2,14 einen eigenständigen Briefabschnitt beginnen. Der von mir unterbreitete Vorschlag hingegen fasst 2 Kor 1,12–7,4 als zusammen‐ hängenden Briefabschnitt innerhalb des Briefcorpus 1,12–13,10 auf. Diese Gliederungsvorschläge stehen – wie sich später zeigen wird – eng mit der literarkritischen Beurteilung des 2 Kor in Zusammenhang.

336

E VE -M ARIE B ECKER

1.4 Thematik

Charakter und Thematik des 2 Kor werden insbesondere im Vergleich mit dem 1 Kor deutlich: Der 1 Kor weist nicht ein leitendes Thema, sondern „Gemeindebezogenheit, Situativität und Viel-Thematik“ auf10. Der 1 Kor ist Ausdruck der regen Auseinandersetzung des Paulus mit in der korinthischen Gemeinde entstandenen theologischen und ethischen Sach- und Verhaltens‐ fragen. Im 2 Kor wird der Gemeindebezug besonders durch emphatische Anre‐ deformen (z. B. 6,1111; 7,2) intensiviert und in ein direktes Verhältnis zum Apostel Paulus selbst (z. B. 1,12ff.; 2,1ff.; 7,4ff.), d. h. zum einen zu der Person des Paulus (10,10f.; 12,1ff.) und zum anderen zum apostolischen Dienst (z. B. 3,1ff.; 4,1ff.; 5,11ff.; 6,1ff.), gestellt. Die Situativität des 2 Kor manifestiert sich in der Verschiedenheit der Konflikt- und Kommunikati‐ onssituationen. Anstelle einer theologischen und ethischen Viel-Thematik im 1 Kor begegnen im 2 Kor mehrfache und vielfältige ‚Anläufe‘ zur apologetischen Selbst-Verteidigung des Paulus und zur Reflexion seines Verhältnisses zur korinthischen Gemeinde. Vor dem kommunikativen Hin‐ tergrund des Schreibens betrachtet gehen die (apostolats-)theologischen (z. B. 4,1ff.), christologischen (z. B. 5,20f.), anthropologischen (z. B. 4,7ff.) oder eschatologischen (z. B. 5,1–10) Aussagen aus meta-kommunikativen Argumentationszusammenhängen hervor. Da man den 2 Kor oder die im 2 Kor enthaltenen Einzelbriefe tendenziell zeitlich später als den 1 Kor datiert, geben die thematischen Unterschiede zwischen beiden Briefen Aufschluss über die Geschichte und Entwicklung der korinthischen Korrespondenz und des paulinischen Verhältnisses zur korinthischen Gemeinde. Während der 1 Kor von sachbezogenen theologi‐ schen und ethischen Fragestellungen und Argumentationsgängen bestimmt ist (z. B. Rechtsfragen: 1 Kor 6; Ehe, Scheidung und Ehelosigkeit: 1 Kor 7; Götzenopferfleisch: 1 Kor 8; Auferstehung: 1 Kor 15), wird die Kommu‐ nikation des Paulus mit den Korinthern selbst, die einerseits durch einen betrüblichen Besuch in Korinth (2 Kor 2), andererseits durch das Eindringen und Wirken gegnerischer Missionare und sog. ‚Überapostel‘ (2 Kor 11) gestört und gefährdet ist, zum zentralen Thema des 2 Kor: „The letter we

10 11

So beschrieben im Beitrag von O. Wischmeyer im vorliegenden Band. Es handelt sich bei der Anrede Κορίνθιοι in 2 Kor 6,11 um die einzige emphatische Anrede einer Gemeinde in den authentischen paulinischen Briefen neben der Invektive Ὦ ἀνόητοι Γαλάται (Gal 3,1).

2. Korintherbrief

337

call 2 Corinthians abounds with fascinating insights into the activity and mind of the apostle Paul“12. Auch hinsichtlich der Kommunikation fallen Unterschiede zum 1 Kor auf: In 2 Kor etwa spielen Frauen in der Gemeinde und Gender-Fragen, die in 1 Kor mehrfach thematisiert wurden (1 Kor 7; 11; 14), keine Rolle. Die kommunikative Strategie des Paulus hat sich erkennbar von ‚Überzeugung durch Beratung‘ zu ‚Selbstverteidigung‘ hin verändert.13 Die Sachthematik, die 1 und 2 Kor gemeinsam ist, besteht vor allem in zwei Aspekten: (1.) In der Diskussion über die Funktion des Apostolats und die Lebensweise des Apostels (1 Kor 9; z. B. 2 Kor 11,5ff.) und (2.) in der Ankündigung der Kollektensammlung für die Jerusalemer Urgemeinde (1 Kor 16,1ff.), die durch die administrativen Schreiben zur Aufforderung und Durchführung der Kollektensammlung in 2 Kor 8 und 9 wiederaufgenom‐ men wird. Daneben zeigen 1 und 2 Kor darin sprachlich Verwandtschaft, dass in beiden Briefen für Paulus sonst nicht (häufig) belegte Lexik zum apostolischen Selbstverständnis und zur Kommunikation begegnet (z. B. ἐπιταγή in 2 Kor 8,8; sonst: 1 Kor 7,6.25; εἰλικρίνεια in 2 Kor 1,12; 2,17; sonst: 1 Kor 5,8). 1.5 Wortfelder

Die Wortfelder bzw. das semantische Inventar des 2 Kor stammen im gesamten Brieftext überwiegend aus den Bereichen des ‚Rühmens‘, ‚Lobens‘ und ‚Empfehlens‘. Sie stehen darüber hinaus mit emotionalen Einstellungen, Missions- und Reiseerfahrungen, der Bestimmung des apostolischen und speziell des paulinischen Selbstverständnisses sowie der Reflexion mündli‐ cher und schriftlicher Kommunikation in Zusammenhang. In den Kap. 8–9 schließlich findet sich Spezialvokabular (vgl. auch 1 Kor 16,1ff.; Röm 15,25ff.), das mit der Aufforderung der Kollektengabe verbunden ist. Wortfelder

Lexeme

Belege (z. B.)

Rühmen/Loben/Emp‐ fehlen etc.

-καυχ-

1,14; 5,12; 10,8ff.; 11,10ff.; 12,1ff.

-συνίστημι

3,1; 4,2; 6,4; 7,11; 10,12ff.

12 13

H.D. Betz, Art. Corinthians, 1148. A. Clark Wire, 2 Corinthians, lix–lxi.

338

E VE -M ARIE B ECKER

emotionale Einstellun‐ -λυπ-, θλῖψις, δάκρυον, gen/Erlebnisse μεταμέλομαι negativ

2,1ff.; 6,11ff.; 7,2ff.

Positive

1,3ff.; 7,7ff.; 13,9ff.

-χαίρω, χαρά, ἀγάπη, παρακαλῶ

Missions- und Reiseer‐ fahrungen -ἔρχομαι, Ἀσία Reisen und Wirken Μακεδονία, Ἰουδαία, Τρῳάς

1,8f.; 1,15ff.; 2,12f.; 7,5ff.

Peristasen

6,4ff.; 11,23ff.

-ἐν πληγαῖς, ἐν φυλακαῖς

Reise- und Besuchs‐ pläne apostolischer Dienst

12,14ff. συνεργ-, διακ-, κηρυγ-, πρεσβεύομεν, (ψευδ-)αποστολ-

1,19.24; 3,3ff.; 4,1ff.; 5,11ff.; 6,1ff.; 10,12ff.; 11,4ff.

paulinisches Selbstver‐ ἀσθεν-, σπέρμα Ἀβραάμ, ständnis ἀποκαλ-, σκόλοψ

10,10f.; 11,22; 12,1ff.

Reflexion mündlicher λαλέω, γράφω, ἀνα-/ und schriftlicher Kom‐ ἐπιγινώσκω, munikation14 ἀπών, παρών

1,12–14; 2,3ff.; 3,1–3; 6,11ff.; 7,8ff.; 10,9–11; 13,10

Kollektengabe

Kap. 8–9

πτωχεία, πλοῦτος, περισσ-, διακονία, εὐλογία, δότης, λειτουργία

Die Frage, ob die Häufigkeit der diesen Wortfeldern zugehörigen Lexeme, ihre Semantik und Funktion in den verschiedenen Abschnitten des Briefes konstant bleiben oder sich verändern, ist insofern mit der Beurteilung der originären Einheitlichkeit des 2 Kor verbunden, als zu prüfen ist, ob die Verwendung des Vokabulars auf unterschiedliche Kommunikationssituati‐ onen zurückschließen lässt. Die Analyse der Wortfelder erweist sich also als wesentlicher Kohäsions- bzw. Inkohäsionsfaktor bei der Beurteilung der literarischen Einheitlichkeit des kanonischen 2 Kor. Aus der Reflexion des kommunikativen Verhältnisses mit der korinthi‐ schen Gemeinde gehen eminent theologische Aussagen – unter 1.6 als ‚meta-kommunikativer Überschuss’ bezeichnet – z. B. zum apostolischen Dienst hervor. Sie entwickeln besonders dadurch eine eigene theologische

14

Vgl. zur Untersuchung dieses Wortfeldes ausführlich: E.-M. Becker, Schreiben, 141ff.

2. Korintherbrief

339

Dynamik, dass sie auf markanten semantischen Oppositionen basieren. Ein Beispiel dazu bildet der Text 2 Kor 3,4–18: Anschluss an die Thematik der Empfehlung (2,14ff.; 3,1ff.) und These: Die ἱκανότης des Apostels kommt von Gott διάκονοι καινῆς διαθήκης ↓



‚alter Bund‘

πνεῦμα ↓



γράμμα ↓

ζῳοποιεῖ ↓



ἀποκτέννει ↓

διακονία τοῦ πνεύματος ↓



διακονία τοῦ θανάτου ↓

διακονία τῆς δικαιοσύνης ↓



διακονία τῆς κατακρίσεως ↓

τὸ μένον ἐν δοξῃ ↓



τὸ καταργούμενον διὰ δόξης ↓

ἀνακεκαλυμμένῳ προσώπῳ



κάλυμμα ἐπὶ τὴν καρδίαν

¯↓

Schlussbegründung: ὁ δὲ κύριος τὸ πνεῦμά ἐστιν·οὗ δὲ πνεῦμα κυρίου, ἐλευθερία.

1.6 Kommunikation und Rhetorik 1.6.1 Kommunikation und Meta-Kommunikation

Der 2 Kor ist in noch viel stärkerem Maße als der 1 Kor ein kommunikatives und kommunikationsorientiertes Schreiben. Paulus ist – wie schon mehrfach betont wurde – um die Bestimmung seines Verhältnisses als Apostel und Person zur korinthischen Gemeinde angesichts von betrüblichen Zwischenereignissen in Korinth (Kap. 2) und der Auseinandersetzung mit gegnerischen Aposteln (Kap. 11) bemüht. Im 2 Kor lassen sich drei wesentliche Kommunikationsebenen unterscheiden: (1.) die Ebene schriftlicher Kommunikation, die anstelle eines persönlichen Besuchs stattfindet, (2.) die Ebene der Meta-Kommunikation, auf der Paulus die Beziehung zur korinthischen Gemeinde explizit reflektiert, (3.) die

340

E VE -M ARIE B ECKER

Ebene des ‚meta-kommunikativen Überschusses‘, auf der Paulus theologischen Propositionalgehalt formuliert. 1. Die Ebene der schriftlichen Kommunikation ist im 2 Kor äußerst be‐ grenzt: Paulus berichtet im Wesentlichen von den Erfahrungen seines missionarischen Wirkens und teilt seine gescheiterten oder noch aus‐ stehenden Reisepläne mit. 1,8ff.; 2,12ff.; 7,5ff.

Erfahrungen aus dem missionarischen/gemeindeleitenden Wirken

1,15ff.

gescheiterte/geänderte Reisepläne

12,14; 13,1ff.

ausstehende Reisepläne

2. Die Ebene der Meta-Kommunikation stellt eine umfassende Textebene im 2 Kor dar. Sie hat mindestens drei zentrale Aspekte: Sie enthält Reflexionen zur ‚Beziehungsebene‘ des Paulus zu den Korinthern, Überlegungen zum apostolischen Amt und zur Person des Paulus selbst und briefhermeneu‐ tisch relevante Äußerungen zur Funktion des Briefeschreibens. Beziehungsebene: Paulus – korinthische Gemeinde: 2,1ff. Erkenntnis der Liebe des Paulus zu den Korinthern 6,11ff.; 7,2ff. emotionaler Appell an die korinthische Gemeinde 8,8 Paulus gibt keine ἐπιταγή 2,14ff. 4,1ff. 6,1ff.

apostolisches Amt: εἰλικρίνεια des apostolischen Dienstes Funktion des apostolischen Amtes Diener Gottes

10,9ff. 11,7f. 11,5ff. 11,22 12,1ff.

Person des Paulus: Briefe und persönliches Wirken gewichtet Paulus gleich Paulus hat ohne Unterhaltsempfang in Korinth gewirkt Paulus steht in Konflikt mit sog. ‚Über-Aposteln‘ Paulus als Israelit und Kind Abrahams Offenbarungserlebnis des Paulus

1,12–14 2,1ff.9f. 3,1ff. 7,8f. 10,9ff.

briefhermeneutische Überlegungen: Interdependenz von Schreiben und Verstehen Schreiben zur Vermeidung eines betrüblichen Besuchs und zur Erkenntnis der Bewährung Funktion von Empfehlungsbriefen Briefeschreiben führt zur Reue die Briefe sind dem apostolischen Wirken gleichgeordnet

2. Korintherbrief

341

3. Aus der Meta-Kommunikation geht auf einer dritten Textebene meta-kommunikativer Überschuss hervor15: Im Zuge meta-kommunika‐ tiver Überlegungen formuliert Paulus theologische Sachgehalte, die zum einen der argumentativen Stützung seiner Aussagen dienen und zum anderen zur Formulierung eigenständiger theologischer Sachaus‐ sagen führen. Die nun folgende Darstellung der theologischen Aspekte des meta-kommunikativen Überschusses (kursiv markiert) knüpft ex‐ emplarisch an die oben genannten drei Aspekte der Meta-Kommunika‐ tion an: 6,11ff.; 6,14ff.; 7,1ff. 8,8ff.

4,1–6; 4,7ff.; 5,1ff. 11,5ff.12ff. 12,1–10 1,12–14 2,5–11 3,1ff.4ff. 7,8ff. 10,9ff.12ff.

Beziehungsebene: Paulus – korinthische Gemeinde: emotionaler Appell an die korinthische Gemeinde [im Blick auf eine duale Gegenüberstellung von Gerechtigkeit und Ungerechtig‐ keit] 16 Paulus gibt keinen Befehl; es geht um die Erkenntnis der Gnade Christi apostolisches Amt: Funktion des apostolischen Amtes im Blick auf den Inhalt der Verkündigung, die Bedrängnis der christlichen Existenz und deren eschatologische Perspektive Person des Paulus: Paulus steht in Konflikt mit sog. ‚Über-Aposteln‘, die als Diener Satans bezeichnet werden Offenbarungserlebnis des Paulus mündet in ein Herrenwort briefhermeneutische Überlegungen: Interdependenz von Schreiben und Verstehen mit eschatologi‐ schem Ausblick Schreiben zur Vermeidung eines betrüblichen Besuchs und zur Erkenntnis der Bewährung im Blick auf die Vergebung Christi und das Wirken des Satans Funktion von Empfehlungsbriefen im Blick auf die Unterscheidung von ‚steinern‘ und ‚fleischern‘ und den ‚neuen Bund‘ des Geistes Briefeschreiben führt zur Reue und zu einer Traurigkeit nach Gottes Willen die Briefe sind dem apostolischen Wirken gleichgeordnet, die Empfehlung geht vom κύριος aus

Im 1 Kor dominiert insgesamt die Ebene der an theologischen und ethi‐ schen Sachfragen orientierten Kommunikation mit den Korinthern: Denn ein Großteil theologischer und ethischer Lehraussagen und Ermahnungen

15 16

Zum Begriff vgl. Becker, Schreiben, z. B. 134. Zur Frage einer nachpaulinischen Interpolation von 2 Kor 6,14–7,1 s.u.

342

E VE -M ARIE B ECKER

ereignet sich auf der Ebene der direkten Kommunikation im Brief.17 Zu‐ gleich finden sich auch im 1 Kor Aspekte der Meta-Kommunikation und des meta-kommunikativen Überschusses, der aus meta-kommunikativen Zusammenhängen hervorgeht oder mit diesen einhergeht.18 Der 2 Kor hingegen wird durch den meta-kommunikativen Charakter der Auseinan‐ dersetzung des Paulus mit der korinthischen Gemeinde und den dort wirksamen gegnerischen Missionaren und Aposteln dominiert. Die in beiden Korintherbriefen dokumentierte Geschichte der Kommuni‐ kation des Paulus mit der korinthischen Gemeinde zeigt also tendenziell eine Entwicklung von einer überwiegend sachbezogenen (theologische und ethische Belehrung und Ermahnung) Auseinandersetzung im 1 Kor zu einer apostolischen und persönlichen Verteidigung des Paulus und einer Zunahme der Bestimmung seines Verhältnisses zur korinthischen Gemeinde. 1.6.2 Rhetorik

Die neuere Exegese hat den 2 Kor verstärkt unter rhetorischen Gesichts‐ punkten analysiert.19 Die rhetorischen Textanalysen, die an der Einheitlich‐ keit des 2 Kor festhalten, schlagen entweder ein rhetorisches Gesamtschema für den Gesamtbrief vor20 oder untersuchen die Einzelabschnitte des Briefes auf ihre verschiedenen rhetorischen Elemente hin (so zuletzt T. Schmeller)21. Andere rhetorische Analysen, die den 2 Kor als Sammlung von ursprünglich mehreren Einzelbriefen wahrnehmen, schlagen rhetorische Gesamtbriefa‐ nalysen besonders für 2 Kor 8 und 9, die beiden Kollektenschreiben, die sich der ‚administrativen Korrespondenz‘ des Paulus zuordnen lassen22, vor (H.D. Betz; vgl. ähnlich auch M.E. Thrall)23:

17 18 19 20

21 22 23

O. Wischmeyer spricht hier von einer Ebene der Kommunikation und der Trans-Kom‐ munikation bzw. Theologie. Vgl. dazu den Beitrag von O. Wischmeyer im vorliegenden Band; vgl. zur Analyse von 1 Kor 8 auch Becker, Letter Hermeneutics, 140ff. Vgl. zur Übersicht über die Forschung: Becker, Schreiben, 19ff. So z. B. auch B. Witherington, Conflict & Community in Corinth. A Socio-Rhetorical Commentary on 1 and 2 Corinthians, Grand Rapids (Mi.) 1995, bes. 333; J.D.H. Amador, Revisiting 2 Corinthians. Rhetoric and the Case for Unity, NTS 46 (2000), 92–111; F.M. Young/D.F. Ford, Meaning and Truth in 2 Corinthians, Grand Rapids 1987, bes. 44. So T. Schmeller, Der zweite Brief Bd. 1, z. B. 48ff. Vgl. H.D. Betz, 2 Corinthians 8 and 9, z. B. 139. Vgl. Betz, 2 Corinthians 8 and 9; M.E. Thrall, Second Epistle, 37 und 40.

2. Korintherbrief

343

2 Kor 8

Betz

Thrall

8,1–5 8,6 8,7–8 8,9–15 8,16–23

Exordium Narratio Propositio Probatio

–8,16–22 –8,23 8,24

Exordium/Introduction Narratio/Statement of Facts Propositio/Proposition Probatio/Proofs Legal Section: Commendation and Authorization of the Envoys The Commendations The Authorizations Peroratio

2 Kor 9

Betz

Thrall

9,1–2 9,3–5a 9,5bc 9,6–14 9,15

Exordium/Introduction Narratio/Statement of Facts Propositio/Proposition Probatio/Proofs Peroratio/Peroration

Exordium Narratio Propositio Probatio Peroratio

Commendation of Envoys Their authorisation Peroratio

2 Textentstehung 2.1 Vorgeschichte

Die u. U. komplizierte Entstehung(sgeschichte) des 2 Kor wirft in besonderer Weise die Frage nach der Vorgeschichte des Briefes auf.24 In diesem Zusam‐ menhang muss die Chronologie der paulinischen Kommunikation mit der korinthischen Gemeinde mindestens im Zeitraum von der Abfassung des 1 Kor bis zur Entstehung des 2 Kor dargestellt werden.25 Hierbei werden schon die nachher unter 2.4 zu erörternden Hypothesen zur Rekonstruktion der korinthischen Korrespondenz, die sich bereits auf die Gliederung des kanonischen 2 Kor ausgewirkt haben (s. o.), zu bedenken sein. Ich greife zunächst fünf in der jüngeren Forschung diskutierte Vor‐ schläge zur Rekonstruktion der chronologischen Ereignisse auf (M.E. Thrall;

24 25

Ähnlich, allerdings m. E. überpointiert auch Schnelle, Einleitung9, 96: „Ein Zugang zu diesem Brief eröffnet sich nur, wenn die Ereignisse zwischen der Abfassung des 1 Kor und des 2 Kor berücksichtigt werden“ (Hervorhebung durch Verf.in). Zur Einbettung in die Paulus-Chronologie vgl. den Beitrag von E. Ebel im vorliegenden Band.

344

E VE -M ARIE B ECKER

U. Schnelle; T. Schmeller; G. Bornkamm; D.-A. Koch)26 und schließe daran einen eigenen Rekonstruktionsvorschlag an: Rekonstruktion der Chronologie der Ereignisse seit Abfassung des 1 Kor (nach M.E. Thrall): Jahr/Datum

Ereignisse

Briefe

April 55

1 Kor verschickt

1 Kor

Juni 55

Zwischenbesuch; Paulus kehrt nach Ephesus zurück

Juli/Aug. 55

Abfassung des Tränenbriefes, Paulus geht nach Makedonien

Aug./Sept. 55

Titus kehrt mit guten Nachrichten zurück und trifft Paulus

März 56

Brief und Sendung des Titus

2 Kor 1–8

Juni/Juli 56

Kollektenschreiben

2 Kor 9

Juli/Aug. 56

Neuigkeiten erreichen Paulus in Makedonien

Aug./Sept. 56

Brief

Sept./Okt. 56

Paulus reist nach Korinth und verbringt den Winter 56/57 dort

nicht erhalten

2 Kor 10–13

Rekonstruktion der Chronologie der Ereignisse seit Abfassung des 1 Kor (nach U. Schnelle): Jahr/Datum

26

Ereignisse

Briefe/Beleg‐ stellen

Reise von Ephesus nach Korinth und Zwi‐ schenbesuch

2 Kor 12,14; 13,1

Beleidigung und Rückkehr nach Ephesus

2 Kor 2,3–11; 7,8.12

Abfassung des Tränenbriefes und Überbrin‐ gung durch Titus

2 Kor 7,5ff.

Todesgefahr in Asien

2 Kor 1,8

Vgl. Thrall, Second Epistle, 77; Schnelle, Einleitung9, 97; Schmeller, Der zweite Brief Bd. 1, 38–40; G. Bornkamm, Vorgeschichte, 162 ff.; D.-A. Koch, Geschichte, 310–317.

2. Korintherbrief

Spätherbst 55

345

Reise von Troas nach Makedonien

2 Kor 2,12f.

Paulus trifft in Makedonien den aus Korinth kommenden Titus

2 Kor 7,5ff.

Abfassung des 2 Kor

2 Kor 1–9 und 10–13

Rekonstruktion der Chronologie der Ereignisse (nach T. Schmeller): Jahr/Datum

Ereignisse

Briefe/Beleg‐ stellen

51–54

Abfassung von Brief A

nicht erhalten 1 Kor 5,9

Herbst 54/ Frühjahr 55

Abfassung von Brief B = 1 Kor aus Ephesus und 1 Kor anschließender Besuch des Titus in Korinth 2 Kor 8,6 Zwischenbesuch; Paulus kehrt nach Ephesus zurück

2 Kor 12,14; 13,1; 12,21; 2,5; 7,12

Abfassung des „Tränenbriefes“ aus Ephesus, der von Titus überbracht wurde

nicht erhalten 2,1‒4; 7,8

Paulus reist über Troas nach Makedonien

2,12 und 2,13

Titus kehrt mit guten Nachrichten zurück und 7,6f.; 2,6f. trifft Paulus Abfassung von 2 Kor, den Titus überbringt, und Ankündigung eines dritten Besuchs

2 Kor 1–13 8,16‒24; 13,2

Rekonstruktion der Chronologie des 2 Kor (nach G. Bornkamm): Ereignisse

Briefe/Briefteile

1. Apologie; vor dem Zwischenbesuch in Korinth noch in 2 Kor 2,14–6,13; 7,2–4 Ephesus verfasst Zwischenbesuch und Zwischenfall in Korinth Auszüge aus dem Tränenbrief in Ephesus 2 Kor 10–13 Rückkehr des Titus aus Korinth mit neuen Nachrichten Versöhnungsbrief in Makedonien

2 Kor 1,1–2,13; 7,5– 8,24

Kollektenbrief für Gemeinden Achaias

2 Kor 9

346

E VE -M ARIE B ECKER

Rekonstruktion der Chronologie des 2 Kor (nach D.-A. Koch): Jahr/Datum

Ereignisse

Briefe/Briefteile/Beleg‐ stellen

April 54

Abfassung des 1 Kor aus Ephesus

1 Kor; 1 Kor 16,8

Mai 54

Abfassung des 1. Kollektenbriefes aus Ephesus; Titus reist nach Korinth

2 Kor 8 [Abfassung von Gal]

Juni 54

Abfassung der „Apologie“ aus Ephesus 2 Kor 2,14–7,4; 2 Kor 3,1; 2,16; 3,5f.

August 54

Danach: Zwischenbesuch in Korinth

2 Kor 2,1.5; 7,12

September 54

Abfassung des „Kampfbriefes“ (bzw. „Tränenbriefes“) aus Ephesus; Titus reist nach Korinth

2 Kor 10–13; 2 Kor 2,4

Oktober 54 November/ Haft in Ephesus im Dezember 54 Februar/ März 55

[Abfassung von Phil und Phlm]

Aufenthalt in Makedonien (nach Alex‐ 2 Kor 1,1–2,13; 7,5–16; andria Troas) und Abfassung des „Ver‐ 13,11–13; 2 Kor 2,12f. söhnungsbriefes“

April/Mai 55 Abfassung des 2. Kollektenbriefes aus Makedonien

2 Kor 9

Rekonstruktion der Chronologie der Ereignisse zwischen 1 und 2 Kor (nach E.-M. Becker 27): Jahr/Datum

Ereignisse

Briefe/Belegstellen

54/55

Abfassung des 1 Kor aus Ephesus

1 Kor; 1 Kor 16,8

Zwischenbesuch in Korinth und Betrübnis

2 Kor 2,1ff.

„Tränenbrief“

2 Kor 1,1–7,4; 2 Kor 2,3f.8f.

neue Nachrichten durch Titus

2 Kor 7,6f.

Brief des Paulus

2 Kor 7,5–16; 2 Kor 7,8f.12f.

27

Vgl. dazu Becker, Schreiben, 96; dies., Letter Hermeneutics, 66.

2. Korintherbrief

spätestens Winter 56/57

347

Kollektenbriefe

2 Kor 8–9

Angriffe gegen Paulus in Korinth

2 Kor 10,10; 11,16

letzter Brief des Paulus

2 Kor 10–13

Planung und Durchführung des dritten Besuchs

2 Kor 12,14; 13,1

Die verschiedenen Vorschläge zeigen, dass die Rekonstruktion der Chrono‐ logie der Ereignisse zwischen der Abfassung des 1 Kor und des 2 Kor eng mit der literarkritischen Beurteilung des 2 Kor (s. u. ausführlich unter 2.4) verbunden ist. Vor allem folgende Bewertungen wirken sich entscheidend auf die Rekonstruktion der Chronologie der Ereignisse und der Brief-Kor‐ respondenz aus und prägen dann die literarkritischen Hypothesen: –

die Datierung28 des Zwischenbesuchs mit Zwischenfall in Korinth: Er‐ eignet sich dieser Zwischenbesuch vor Abfassung der Briefteile des 2 Kor (Thrall; Schnelle; Schmeller; E.-M. Becker), oder sind bereits Teile des 2 Kor vor dem Zwischenbesuch des Paulus in Korinth geschrieben worden (Bornkamm; E. Gräßer [s. u.]; Koch)? – die Wahrnehmung der hinter 2 Kor 1–7 stehenden Situation: Spiegeln Kap. 1–7 eine weitgehend homogene Schreibsituation wider (Thrall; H.-J. Klauck [s. u.]; Schnelle; Schmeller), oder sind die Stimmungsän‐ derungen auf notwendigerweise verschiedene Entstehungssituationen zurückzuführen (R. Bultmann [s. u.]; Bornkamm; Gräßer; Koch; E.-M. Becker) und wenn, wo lassen sich diese Änderungen am Brieftext feststellen (zwischen 2,13 und 2,14, 7,4 und 7,5: Bultmann; Bornkamm; zwischen 2,13 und 2,14, 7,4 und 7,5 sowie zwischen 13,10 und 13,11: Gräßer; Koch; M.M. Mitchell (s. u.); nur zwischen 7,4 und 7,5: E.-M. Becker)? – die Bestimmung des sog. Tränenbriefes (2 Kor 2,3f.): Ging der Tränen‐ brief verloren (Thrall; Schnelle; Schmeller), oder stellt er einen Teilab‐ schnitt des kanonischen 2 Kor (2,14–7,4 [ohne 6,14–7,1); 9; 10–13 als

28

Die jeweils um ca. 1 Jahr differierende Chronologisierung der Ereignisse (vgl. die Unterschiede zwischen Schnelle und Thrall), die sich als relative Chronologie versteht, kann ich hier nicht weiter diskutieren – vgl. dazu den Beitrag von E. Ebel im vorliegen‐ den Band.

348

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„Zwischenbrief“: Bultmann; 2 Kor 10–13: Bornkamm; Gräßer; Klauck; Koch; Mitchell; 2 Kor 1,1–7,4: E.-M. Becker) dar?29 – die Zuordnung der Kap. 8–9: Sind die Kollektenschreiben selbständiger Bestandteil der korinthischen Korrespondenz (Koch; Mitchell; E.-M. Becker; z.T. Thrall; insgesamt Betz)30, oder sind sie im Zusammenhang eines Gesamtbriefes (Schnelle; Schmeller) oder im Zusammenhang von Teilbriefen (Bultmann; Bornkamm; Klauck; z.T. Thrall) geschrieben und verschickt worden? In der Tendenz unentschieden bleibt E. Gräßer (s. u.). – Die Rekonstruktionsvorschläge stimmen weitgehend darin überein, dass der von Paulus in 2 Kor 12,14ff. und 13,1ff. angekündigte dritte Besuch in Korinth nicht mehr durch die korinthische Korrespondenz selbst dokumentiert ist (vgl. aber Röm 15,26ff. als Hinweis auf die Entgegennahme der Kollekte aus Mazedonien und Achaia). 2.2 Verfasser, Adressaten und historische Situation

Die paulinische Verfasserschaft des kanonischen 2 Kor (vgl. 1,1; 13,10) insge‐ samt ist gegenwärtig unbestritten. Paulus nennt als Co-Sender Timotheus (1,1). Insofern ist eine Co-Absenderschaft bei der Abfassung des Briefes oder zumindest einzelner Briefteile zu vermuten.31 2 Kor 6,14–7,1 gilt in Teilen der Forschung als nachpaulinische Interpolation, d. h. als redaktioneller Einschub (z. B. H.-J. Klauck; U. Schnelle; E.-M. Becker)32. Nach T. Schmeller stammt 2 Kor 6,14–7,1 zwar von Paulus, folgte aber ursprünglich auf 2 Kor 9,15 und wurde – durch separate Überlieferung – erst später „an der jetzigen Stelle eingefügt“33. Die Präskripte von 1 Kor (1,1–3) und 2 Kor (1,1–2) variieren in Hinsicht auf Umfang sowie die Gestaltung von Absender- (superscriptio) und Adres‐ satenkreis (adscriptio). Die in der adscriptio in 2 Kor 1,1 vorausgesetzte

29

30 31 32 33

B. Bosenius, Die Abwesenheit des Apostels als theologisches Programm. Der zweite Korintherbrief als Beispiel für die Brieflichkeit der paulinischen Theologie (TANZ 11), Tübingen/Basel 1994, 21 f. und 30, identifiziert den Tränenbrief mit dem 1 Kor und schließt daher weitergehende Zwischenereignisse zwischen 1 Kor und 2 Kor aus. Vgl. dazu Betz, Art. Corinthians, 1150; ders., 2. Korinther 8 und 9. Vgl. zur Frage der Co-Sender- bzw. der Co-Autorschaft: Becker, Schreiben, 149 ff.; zuletzt: Schmeller, Der zweite Brief Bd. 1, 59–62. Vgl. H.-J. Klauck, 2. Korintherbrief (NEB 8), Würzburg 31994, 8; Schnelle, Einleitung9, 104; Becker, Schreiben und Verstehen, 97. Schmeller, Der zweite Brief Bd. 1, 37.

2. Korintherbrief

349

Adressatenschaft ist mit der in 1 Kor 1,2 vorausgesetzten weitgehend identisch. Die Unterschiede beider adscriptiones 1 Kor 1,2

2 Kor 1,1

… τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ θεοῦ τῇ οὔσῃ ἐν Κορίνθῳ, ἡγιασμένοις ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ, κλητοῖς ἁγίοις, σὺν πᾶσιν τοῖς ἐπικαλουμένοις τὸ ὄνομα τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ ἐν παντὶ τόπῳ, αὐτῶν καὶ ἡμῶν

… τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ θεοῦ τῇ οὔσῃ ἐν Κορίνθῳ σὺν τοῖς ἁγίοις πᾶσιν τοῖς οὖσιν ἐν ὅλῃ τῇ Ἀχαΐᾳ,

werden jedoch im Einzelnen unterschiedlich bewertet: –

T. Schmeller rät bei der Auswertung der Unterschiede zur Vorsicht, weil er ihre Signifikanz nicht unbedingt für gegeben sieht.34 – H.-J. Klauck bringt die Verkürzung der Titulierung der korinthischen Gemeinde in 2 Kor 1,1 im Vergleich mit 1 Kor 1,2 mit der weniger ekklesiologisch ausgerichteten Gesamtthematik des 2 Kor in Zusam‐ menhang.35 – H. Windisch versteht die Erweiterung der Adressatenschaft in 2 Kor 1,1 über Korinth hinaus auf Achaia als Indiz dafür, dass der 2 Kor – dem Gal vergleichbar – als ‚Rundschreiben‘ konzipiert sei (ähnlich auch U. Schnelle).36 M.E. Thrall hingegen wertet diese Erweiterung als Adressierung des Schreibens an alle Christen im Umfeld Korinths, die mit der korinthischen Gemeinde in Kontakt stehen.37 – H.D. Betz sieht in der doppelten Adressatennennung in 2 Kor 1,1 einen Hinweis darauf, dass 2 Kor 9 ein separates, speziell an Achaia gerichtetes Kollektenschreiben darstelle.38 E.-M. Becker interpretiert die doppelte Adressierung als Analogie zur doppelten Absenderschaft und weist ihr eine „inter-kommunikative Funktion“ zu, die sich auf den „literarischen Charakter“ des Briefes nicht auswirkt.39

34 35 36 37 38 39

Schmeller, Der zweite Brief Bd. 1, 50: „… wir wissen nicht einmal sicher, ob Paulus bei der Abfassung des 2Kor den Text des 1Kor noch schriftlich vor sich hatte“. Vgl. Klauck, Korintherbrief (Anm. 32), 17. Vgl. H. Windisch, Korintherbrief, 35. Schnelle, Einleitung9, 97f. Vgl. Thrall, Second Epistle, 88. Vgl. Betz, 2. Korinther 8 und 9, 248 f. Anders C. Wolff, Brief, 181. Vgl. Becker, Schreiben, bes. 155f.

350

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Zur Struktur und Bedeutung der korinthischen Gemeinde: Paulus hat die korinthische Gemeinde ca. im Jahr 50 n. Chr.40 auf seiner 2. Missionsreise (Apg 15 ff.), die ihn nach Europa (Apg 16,9) – zunächst nach Makedonien (Philippi, Thessaloniki), dann über Athen (Apg 17,15ff.) zur Peloponnes – führt, selbst gegründet (vgl. Apg 18,1ff.). Der Gründungsaufenthalt erstreckt sich über ca. 1 ½ Jahre. Korinth41 – 44 v. Chr. von Caesar als römische Bürgerkolonie neu gegrün‐ det (Colonia Laus Iulia Corinthus) und mit Freigelassenen und Veteranen besiedelt, seit 27 v.Chr. Hauptstadt der Provinz Achaia und Sitz eines Pro‐ konsuls – avanciert in der Kaiserzeit zur größten und reichsten Stadt in der Hellas. Besonders zwei Faktoren lassen Korinth – neben seiner günstigen geographischen und geopolitischen Lage – zu einer wichtigen und prosperierenden Stadt werden: die Gestaltung monumentaler Bauten z.Zt. des Augustus (31 v.–14 n. Chr.) und Tiberius (14–37 n. Chr.) und die Ausrichtung der Isthmischen Spiele. Philo (Legatio ad Gaium, 281) berichtet über eine große und lebendige jüdische Gemeinde in Korinth im 1. Jh. n. Chr. Durch das Wirken judaisierender (2 Kor 11,22) gegnerischer Missionare, die sich in Korinth niederlassen (2 Kor 11,20) und von Paulus als ‚Über-Apostel‘ bezeichnet werden (2 Kor 11,5), gerät die korinthische Christengemeinde, die genuin eher heidenchristlich geprägt ist (vgl. bes. 1 Kor 8), offenbar in das Spannungsfeld jüdisch-christlicher Gemeinden (vgl. auch Apg 20,3). Paulus lehnt im Unterschied zu diesen Missionaren eine Unterhaltszahlung durch die korinthische Gemeinde ab (vgl. auch Apg 18,2f.), um einerseits unabhängig zu sein, andererseits deutlich zu machen, dass er aus der Notwendigkeit der Berufung heraus Apostel Jesu Christi ist. So arbeitet er für seinen Lebensunterhalt, predigt unentgeltlich und wird lediglich mit Gemeindegaben aus Philippi (vgl. Phil 4,10ff.) unterstützt (2 Kor 11,7ff.). Dies

40

41

Die Datierung dieses Aufenthaltes in Korinth lässt sich durch die in Delphi gefundene sog. Gallio-Inschrift – auf die Statthalterschaft Gallios in Achaia wird in Apg 18,12 hingewiesen – relativ genau vornehmen. Vgl. zur „absoluten Chronologie“ des paulini‐ schen Wirkens die Hinweise bei Schnelle, Einleitung9, 32 ff. oder J. Becker, Paulus, 17 ff. Vgl. insgesamt den Beitrag von E. Ebel zum Leben des Paulus im vorliegenden Band. Zu Korinth vgl. den Beitrag von D.-A. Koch im vorliegenden Band; D.I. Pallas, Art. Ko‐ rinth, RBK 4 (1990), 746–811. – Aus dem Bereich der anglo-amerikanischen Forschung: S.J. Friesen/D.N. Schowalter/J.C. Walters (Ed.), Corinth in context.

2. Korintherbrief

sorgt in Korinth für Unmut, da die korinthische Gemeinde ihre Ehrenpflicht der Bewirtung für verletzt ansieht.42 In seiner persönlichen Abwesenheit kommuniziert Paulus mit den Ko‐ rinthern brieflich und in griechischer Sprache, die, obgleich Latein seit 44 v. Chr. die offizielle Sprache der Provinz darstellt, die Sprache des Handels und des sozialen Lebens bleibt. 1 und 2 Kor dokumentieren die Geschichte und Entwicklung einer frühchristlichen paulinischen Gemeinde in der ersten Hälfte der 50er Jahre im europäischen Teil des paulinischen Missionsgebietes. 2.3 Zeit und Ort der Abfassung

Im Unterschied zum 1 Kor (vgl. 16,8: … ἐν Ἐφέσῳ ἕως τῆς πεντηκοστῆς) finden sich im 2 Kor keine direkten Hinweise auf Zeit und Ort der Abfassung des Briefes, obwohl Paulus im 2 Kor – weitaus mehr, als das im 1 Kor der Fall ist – seine persönliche Schreibsituation (z. B. 2 Kor 2,3f.) thematisiert. Gleichwohl kann die Datierung des 2 Kor bzw. der im 2 Kor enthaltenen Einzelbriefe nur implizit, d. h. auf der Basis einer Verknüpfung folgender chronologischer Schemata erfolgen: der absoluten (vgl. Gallio-Inschrift und Apg 18) mit der relativen Paulus-Chronologie, der Rekonstruktion der Chro‐ nologie der korinthischen Korrespondenz und den aus dem 2 Kor speziell zu erhebenden Angaben zu Reiseplänen und Aufenthaltsorten. Als terminus post quem für die Entstehung der Teilbriefe des 2 Kor gilt die Abfassung des 1 Kor (ca. 55 n. Chr.), terminus ad quem ist der dritte und letzte Besuch des Paulus in Korinth (spätestens 56/57 n. Chr.). Paulus kündigt in 1 Kor 16,5 einen Besuch in Korinth nach der Durchreise durch Makedonien an. Aufgrund der Erwähnung von Makedonien in 2 Kor 2,13; 7,5 und den Hinweisen auf Makedonien in 2 Kor 8,1; 9,2 ist die Abfas‐ sung wesentlicher Briefteile vermutlich in Makedonien zu lokalisieren.43 Die Fragen nach der Datierung und der Lokalisierung des 2 Kor (und der darin enthaltenen Einzelbriefe) hängen einmal mehr von der Rekonstruktion der Chronologie der Ereignisse (s. o. unter 2.1) und der Beurteilung der lite‐

42

43

Vgl. dazu insgesamt G. Theißen, Legitimation und Lebensunterhalt. Ein Beitrag zur Soziologie urchristlicher Missionare, NTS 21 (1975), 192–221. Vgl. L. Welborn, Paul’s Caricature of his Chief Rival as a Pompous Parasite in 2 Corinthians 11.20, JSNT 32 (2009), 39–56. So auch Schnelle, Einleitung9, 97; Thrall, Second Epistle, 74 f.; F.J. Matera, II Corinthians, 20.

351

352

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rarischen Integrität bzw. der Rekonstruktion der ursprünglichen Brieffolge (s. u. 2.4) ab. 2.4 Einheitlichkeit und Redaktionsprozesse

Die literarische Einheitlichkeit des 2 Kor ist seit ca. 200 Jahren umstritten44 und hat bis in die gegenwärtige Forschung hinein eine Vielzahl unterschied‐ licher und kontrovers diskutierter Teilungshypothesen hervorgebracht.45 Gegen die Behauptung der Einheitlichkeit des Briefes 46 und für die Annahme einer komplexen Entstehungsgeschichte der möglichen Briefsammlung sprechen folgende Beobachtungen: 1. Der kanonische 2 Kor wird zusammenhängend erst gegen Ende des 2. Jh.s sicher bezeugt (s. o.). Ca. 150 Jahre der Geschichte des Textes und seiner Tradierung liegen damit im Dunkeln (= Frage nach textexternen Indizien). Literarkritik und Redaktionsgeschichte können hier ggf. zur Erhellung dieser Zeitspanne beitragen. 2. Zahlreiche literarische und situative Indizien (= Frage nach textinternen Indizien) weisen auf die Uneinheitlichkeit des 2 Kor hin und legen die Vermutung nahe, dass es sich bei dem kanonischen 2 Kor um eine Sammlung aus ursprünglich mehreren Einzelbriefen handelt: – Sprachliche, semantische, thematische Inkohäsionen in den Kap. 1–7 und 10–13. – Handelt es sich bei 2 Kor 8 und 9 um Dubletten oder um ursprüng‐ lich selbständige Kollektenschreiben? – Es gibt Hinweise auf mehrere Briefe an die korinthische Gemeinde (z. B. 1 Kor 5,9; 2 Kor 10,10). – Verweisen 2 Kor 2,3ff. und 7,8ff. auf dieselbe Schreibsituation, oder handelt es sich um unterschiedliche Situationen, die sich evtl. auf einen sog. Tränenbrief beziehen?

44 45 46

Zur Übersicht über die Forschung vgl. R. Bieringer, Teilungshypothesen zum 2. Korin‐ therbrief. Ein Forschungsüberblick, in: ders./J. Lambrecht (Ed.), Studies on 2 Corinthians (BEThL 62), Leuven 1994, 67–105. Vgl. zum gegenwärtigen Stand der Diskussion E.-M. Becker/H. Löhr (Hg.), Die Exegese des 2 Kor und Phil im Lichte der Literarkritik. Die Einheitlichkeit des Briefes wird z. B. von Schnelle, Einleitung9, bes. 108, angenom‐ men und in jüngster Zeit z. B. von J. Lambrecht, Second Corinthians, 9 verteidigt. Zur Übersicht über die jüngere Forschung vgl. auch Becker, Schreiben, 14ff.

2. Korintherbrief

353



Es werden literarische Brüche zwischen 2 Kor 2,13 und 2,14 und zwischen 2 Kor 7,4 und 7,5 angenommen, die gelegentlich dazu führen, 7,5 als Anschluss an 2,13 zu verstehen (s. u. bei Bultmann). – Gehört 2 Kor 6,14–7,1 (s. o. unter 2.2) originär zum paulinischen Schreiben (Thrall, Schmeller), oder handelt es sich hierbei um eine nachpaulinische Interpolation (Bultmann, Bornkamm, Klauck, Gräßer, Schnelle, E.-M. Becker, Koch, Mitchell)? 3. Diese Beobachtungen führen insgesamt dazu, den 2 Kor als Brief-Kom‐ pilation zu verstehen und nach literarkritischen Modellen zur Rekon‐ struktion der originären Textgestalt der im 2 Kor enthaltenen Briefe zu suchen. Folgende Teilungsmodelle werden gegenwärtig diskutiert47: – Zweiteilung des Briefes: z.B. H.-J. Klauck (NEB)48: 10–13 (Tränenbrief)



1–9 (Versöhnungsbrief)

ähnlich (unter Separierung der Kap. 8–9), aber in Umkehrung der Zuordnung: H. Windisch (KEK); M.E. Thrall (ICC)49:

1–9 [bzw.: 1–8]

[9]

10–13

– Komplexere Verschachtelungsmodelle: z. B. R. Bultmann (KEK Son‐ derbd.)50: 2,14–7,4 (ohne 6,14–7,1); 9; 10–13 Brief C = „Zwischenbrief“/Tränenbrief

47

48 49 50

1,1–2,13; 7,5–16; 8 Brief D = Versöh‐ nungsbrief

Im Folgenden werden Hypothesen aus der neueren/neuesten Literatur angeführt. – Vgl. zur Übersicht auch: A. Lindemann, Zum historischen Kontext der Entstehung von Teilungshypothesen in der neutestamentlichen Forschung am Beispiel des Zweiten Korintherbriefs, in: E.-M. Becker/H. Löhr (Hg.), Die Exegese des 2 Kor und Phil im Lichte der Literarkritik, 1–38. Vgl. Klauck, Korintherbrief (Anm. 32), 9. Vgl. Windisch, Korintherbrief, 11–21; Thrall, Second Epistle, 74ff. Vgl. R. Bultmann, Brief, 23. – Zur Kommentierung des 2 Kor im KEK vgl. auch F.W. Horn, Der zweite Korintherbrief, in: Der „Kritisch-exegetische Kommentar“ in seiner Geschichte. H.A.W. Meyers KEK von seiner Gründung 1829 bis heute, hg. v. E.-M. Becker/D.-A. Koch/F.W. Horn (KEK Sonderbd.), Göttingen 2018, 228–244.

354

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G. Bornkamm leitet – wie oben gesehen – seine Rekonstruktion explizit von einer Rekonstruktion der Chronologie der Ereignisse her und kommt zu folgender Briefaufteilung51:

2,14–6,13; 7,2–4 1. Apologie



10–13,10 Fragment eines Zwi‐ schenbrie‐ fes = Trä‐ nenbrief

2,14–6,13; 7,2–4 Apologie

53 54

1,1–2,13; 7,5–16 (13,11-13?) Versöh‐ nungsbrief

Kap. 8 Fragment eines Ver‐ waltungs‐ schreibens an die Ko‐ rinther

Kap. 9 Fragment eines Ver‐ waltungs‐ schreibens an die Achaier

6,14-7,1 nachpauli‐ nische In‐ terpolation

10–13,10 1,1–2,13; Kampfbrief 7,5–16 Versöh‐ nungsbrief

Kap. 9 = 2. Kollekten‐ brief

6,14–7,1 nachpauli‐ nischer Einschub

Aneinanderreihung der Einzelbriefe im Zuge ihrer Abschrift E.-M. Becker:

1,1–7,4 (ohne 6,14–7,1) Tränenbrief

51 52

Kap. 9

Auch D.-A. Koch (s. o.) entwickelt vom Modell der Chronologie der Ereignisse herkommend folgende Kompilationshypothese53 – ähnlich wie M.M. Mitchell 54:

Kap. 8 = 1. Kollekten‐ brief



1,1–2,13; 7,5–8,24 Versöhnungsbrief

Ähnlich schlägt E. Gräßer (ÖTK) vor52:

2,14–6,13; 7,2–4 Fragment eines apo‐ loget. Brie‐ fes



10–13 Auszüge aus dem Tränenbrief

8–9 7,5–16 Kollektenbriefe Brief aufgrund neuer Nachrichten

10–13 letzter Brief

Vgl. Bornkamm, Vorgeschichte, 162ff. E. Gräßer, Der zweite Brief Bd. 1, 34 f. Gräßer lässt allerdings offen, ob Kap. 8 dem Versöhnungsbrief und Kap. 9 dem Vier-Kapitel-Brief zugeschlagen werden können. Vgl. auch zuletzt D.-A. Koch, Die Bedeutung der Literarkritik für die Auslegung des 2. Korintherbriefs, in: E.-M. Becker/H. Löhr (Hg.), Die Exegese des 2 Kor und Phil im Lichte der Literarkritik, 39–52, bes. 44. Vgl. M.M. Mitchell, Art. Korintherbriefe, 1691–1693; dies., „Can it Work? (How?) Can Exegetical Studies of 2 Corinthians Talk Across the ‘Partition’? “, in: E.-M. Becker/H. Löhr (Hg.), Die Exegese des 2 Kor und Phil im Lichte der Literarkritik, 103–145, 104 Anm. 3.

2. Korintherbrief

355

2.5 Ergebnis und Perspektive der historischen Rekonstruktion

Die historische Rekonstruktion der korinthischen Korrespondenz geschieht aufgrund der Wahrnehmung situativer und literarischer Inkohäsionen im Brieftext und mit dem Ziel, die frühestens Ende des 2. Jh.s fassbare Textgeschichte des 2 Kor seit Abfassung der Teilbriefe zu erhellen. Die historische Rekonstruktion hat daher zwei wesentliche (historische und literarhistorische) Aspekte, die ich abschließend benenne: 1. Paulus-Chronologie und Chronologie der korinthischen Ereignisse Die historische Rekonstruktion der korinthischen Korrespondenz und Ereignisse ist für die Chronologie des paulinischen Wirkens in der ersten Hälfte der 50er Jahre von erheblicher Bedeutung. Das von mir vorgeschlagene Teilungsmodell führt in einer Verbindung mit den Daten der Paulus-Chronologie und den im 1 und 2 Kor enthaltenen Reiseplänen schließlich zu folgender Chronologisierung der Ereignisse55: Jahr (ca.)

Ereignisse

Textbelege

50

Mission des Paulus in Korinth und Gemein‐ degründung Aufenthalt in Korinth für ca. 1 ½ Jahre

1 Kor 2,1; Apg 18,1ff. Apg 18,11

52–55 ▸ Früherer Brief des Paulus (nicht erhalten) ▸ 1 Kor 5,9 ▸ Paulus in Ephesus; in dieser Zeit dreifache ▸ 1 Kor 16,8; vgl. Apg Nachrichten aus Korinth: 18,19ff. – Schreiben der Korinther – 1 Kor 7,1 – Leute der Chloe – 1 Kor 1,11 – korinthische Delegation – 1 Kor 16,17 55

55

Brief des Paulus an die Korinther aus Ephesus 1 Kor 16,8 = 1 Kor ▸ 1 Kor 16,5ff.; vgl. Apg darin geplante Reise: Makedonien-Ko‐ 19,21 rinth-Geleit aus Korinth (nach Judäa?) ▸ 2 Kor 1,15f. später geplante Reise: Korinth-Makedo‐ nien-Korinth-Geleit nach Judäa reale Reise: ▸ Bedrängnis in der Provinz Asien

(Apg 20,1ff.)

▸ Predigt in Troas ▸ von Troas nach Makedonien ▸ nur kurzer Besuch in Korinth

▸ 2 Kor 1,8 ▸ 2 Kor 2,12 ▸ 2 Kor 2,13

Die nun folgende Übersicht ist eine Erweiterung des Modells aus: Becker, Schreiben, 96; dies., Letter Hermeneutics, 65 f.

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▸ (= Zwischenbesuch = 2. Besuch?) ▸ – denn: Beleidigung und Abreise nach Makedonien(?) – vorerst kein weiterer Besuch in Ko‐ rinth vorgesehen Brief des Paulus aus Makedonien = Tränenbrief: 2 Kor 1,1–7,4 (= 2 Kor A)

2 Kor 1,15; 2,1ff. – 2 Kor 2,5ff.; 2 Kor 1,16 – 2 Kor 2,1ff.

2 Kor 2,3f.

neue Nachrichten in Makedonien durch Titus 2 Kor 7,5ff. über die Wirkung des Tränenbriefes daher: Brief des Paulus = 2 Kor 7,5–16 (= 2 Kor B) Kollektenbriefe aus Makedonien = 2 Kor 8.9 (= 2 Kor C und D) neue Angriffe gegen Paulus in Korinth und Einfluss gegnerischer Missionare

2 Kor 8,1; 9,2 2 Kor 10,10; 11,5ff.16

Brief des Paulus aus Makedonien = Apologie: 2 Kor 10,11; 13,10 2 Kor 10–13 (= 2 Kor E) darin: Ankündigung des noch ausstehenden 2 Kor 12,14ff.; 13,1 3. Besuchs in Korinth 55/56 oder 56/57

3. und letzter Besuch und Aufenthalt des Pau‐ Röm (15,26ff.;) 16,1.22f. lus in Korinth

2. Paulinische Gemeindekorrespondenz und ihre Tradierung und Sammlung Die Annahme, der kanonische 2 Kor stelle eine Kompilation von ursprüng‐ lich insgesamt vier oder fünf Einzelbriefen dar, wirft zum einen ein Licht auf den Charakter der korinthischen Korrespondenz und zum anderen auf die Tradierung und Sammlung der Paulusbriefe in Korinth. Paulus hatte offensichtlich eine rege briefliche Korrespondenz, die aus mehreren (2 Kor 10,9f.: … διὰ τῶν ἐπιστολῶν; … αἱ ἐπιστολαὶ), z.T. nicht mehr erhaltenen (1 Kor 5,9) Briefen aus Ephesus und Makedonien sowie aus Antwortbriefen von der korinthischen Gemeinde (1 Kor 7,1) bestand. 1 und 2 Kor dokumentieren einen wesentlichen Bestandteil dieser umfangreichen und lebhaften Korrespondenz mit der korinthischen Gemeinde. Vorstellbar ist, dass in Korinth – vielleicht auch durch Paulus selbst56 – ein Archiv mit 56

Vgl. dazu D. Trobisch, Die Entstehung der Paulusbriefsammlung. Studien zu den Anfängen christlicher Publizistik (NTOA 10), Freiburg 1989; ders., Die Paulusbriefe und die Anfänge der christlichen Publizistik, Gütersloh 1994. Trobisch vermutet, Paulus selbst habe den Impuls zur Sammlung und Edition seiner Briefe gegeben. Vgl. zuletzt

2. Korintherbrief

Briefen und/oder Briefkopien angelegt wurde57. Die Brief-Kompilationen selbst könnten dann im Zuge der Abschrift der Einzelbriefe mit dem Ziel ihrer Konservierung, Tradierung und Sammlung in Korinth bis vielleicht 70 n. Chr.58 stattgefunden haben.59 Hierbei scheint eine aneinanderreihende Abschrift unter Verlust von Präskripten und Briefschlüssen plausibler als komplexe ‚Verschachtelungsmodelle‘60, die eine konzeptionelle redak‐ tionelle Bearbeitung der Briefe voraussetzen61, zumindest aber die Frage aufwerfen, unter welchen sachlichen oder formalen Gesichtspunkten die Kompilation später vorgenommen wurde62. Oder wurden Kompilationen durch die Beschädigung von Einzelbriefen durch Feuchtigkeit oder Mäuse‐ fraß, die sich besonders auf die Briefeingänge und -schlüsse ausgewirkt haben werden, notwendig?63

57 58

59 60

61 62

63

auch die Hinweise bei: P. Arzt-Grabner, Der Kompilationsprozess des 2. Korinther: Überlegungen aus Sicht der Dokumentarischen Papyrologie, in: E.-M. Becker/H. Löhr (Hg.), Die Exegese des 2 Kor und Phil im Lichte der Literarkritik, 53–102, 74 ff., bes. 75 Anm. 55. Vgl. dazu auch den Beitrag von C. Hoegen-Rohls im vorliegenden Band. Spätere Prozesse der Abschrift – vermutlich bis zum Ende des 1. Jh.s – dienten hingegen eher dazu, aus den gemeindlichen ‚Klein-Corpora‘ von Paulusbriefen, in denen etwaige Brief-Kompilationen bereits vorgenommen wurden, übergemeindliche ‚Ur-Corpora‘ herzustellen: vgl. dazu Becker, Schreiben, 93, basierend auf den Überlegungen von K. Aland, Die Entstehung des Corpus Paulinum, in: ders., Neutestamentliche Entwürfe (TB 63), München 1979, 302–350. Koch, Bedeutung der Literarkritik (Anm. 53), 46 geht vom Ende des 1. Jh.s aus. Vgl. dazu Becker, Schreiben, 78ff. Vgl. noch einmal Becker, Schreiben, bes. 99 f. So auch Arzt-Grabner, 2. Korinther, 139. Vgl. zur Diskussion über mögliche antike Analogien zum Phänomen der Briefkompila‐ tionen, die besonders in den Cicero-Briefen gesehen wurden, H.-J. Klauck, Compilation of Letters in Cicero’s Correspondence, in: J.T. Fitzgerald u. a. (Ed.), Early Christianity and Classical Culture. Comparative Studies in Honor of A.J. Malherbe (NT.S 110), Leiden/Boston 2003, 131–155 und: T. Schmeller, Die Cicerobriefe und die Frage nach der Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefs, ZNW 95 (2004), 181–208. So z. B. die Vorstellung bei Bornkamm, Vorgeschichte, 186. Dazu zuletzt Koch, Die Bedeutung der Literarkritik (Anm. 53), 47f.: „Ziel des Kompilators war es, die in der Gemeinde von Korinth vorhandene Paulusüberlieferung möglichst vollständig zu bewahren und der Christenheit insgesamt zugänglich zu machen… An einem Punkt greift der Kompilator inhaltlich ein, durch die Einfügung des unpaulini‐ schen Abschnitts 6,14–7,1“. So als alternative Überlegung vorgeschlagen von Arzt-Grabner, Der Kompilationspro‐ zess des 2. Korinther (Anm. 56), 91ff.

357

358

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3 Textexegese 3.1 Durchgang durch den Text64

Im Unterschied zum Hinweis auf seine Berufung zum Apostelamt in 1 Kor 1,1 (κλητὸς ἀπόστολος) gebraucht Paulus die Apostel-Bezeichnung in 2 Kor 1,1 ohne partizipiale bzw. adjektivische Näherbestimmung im Präskript (2 Kor 1,1–2). Die weitere Verwendung der ἀπόστολος-Bezeichnung im 2 Kor (z. B. 8,23; 11,5; 12,11) zeigt allerdings, dass ἀπόστολος z.Zt. der Abfassung des 2 Kor zwar als ‚Berufsbezeichnung‘, nicht aber als fest definierte Titulierung verstanden und gebraucht wird. Die Beauftragung und Autorisierung des Paulus gehen aus der attributiven Näherbestimmung der ἀπόστολος-Bezeichnung in der superscriptio, nicht aus einem vermeint‐ lichen ‚ἀπόστολος-Titel‘ hervor.65 Ebensowenig kann daher dem 2 Kor auf der Basis des Präskripts ein ‚amtlicher Charakter‘ zugesprochen werden.66 Das Proömium (2 Kor 1,3–7) ist als Eulogie (Εὐλογητὸς) gestaltet und nimmt zentrale Lexeme der emotionalen Gestimmtheit von 2 Kor 1–7 vorweg (z. B. θλῖψις, παρακαλεῖν). Die daran anschließende sog. ‚disclo‐ sure‘-Formel67 (2 Kor 1,8: Οὐ γὰρ θέλομεν ὑμᾶς ἀγνοεῖν …) gibt Hinweise auf die Autorenintention und leitet zum Briefcorpus über: Paulus berichtet über seine erfahrenen Bedrängnisse in der Provinz Asien und fordert die Korinther zur Fürbitte (δέησις, 1,11) auf. 2 Kor 1,12–14 eröffnet das Briefcorpus bzw. fungiert zunächst als Ein‐ leitung in den ersten Einzelbrief68. Aufgrund seiner grundsätzlichen brief‐ hermeneutischen Funktion (s. o.) lässt sich 1,12ff. jedoch auch als ‚General‐ thema‘ des Gesamtbriefes bzw. als ‚Briefthese‘ auffassen.69 In 2 Kor 1,15ff. berichtet Paulus über seine geänderten, ursprünglich z.T. mit 1 Kor 16,5ff. kompatiblen Reisepläne und begründet die Änderungen mit der Vermeidung eines weiteren Besuchs (2 Kor 2,1ff.) angesichts der durch einen Besuch in Korinth erfahrenen Betrübnis und Beleidigung (2 Kor 2,5ff.).

64 65 66 67 68 69

Die folgende Darstellung ist weitgehend um eine Wiedergabe und Strukturierung der Briefinhalte unabhängig von literarkritischen Optionen und historischen Rekonstruktionsvorschlägen bemüht. Vgl. hierzu auch Becker, Schreiben, 143ff. So z. B. die Charakterisierung bei Wolff, Brief, 16. Vgl. zum Begriff auch H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament (UTB 2022), Paderborn etc. 1998, 154. Vgl. Thrall, Second Epistle, 128ff. So Wolff, Brief, 29.

2. Korintherbrief

Die in 2 Kor 2,14ff. beginnende apostolische Selbstverteidigung führt zu eminent theologischen Äußerungen, so etwa: zur Reflexion des apos‐ tolischen Amtes im Rahmen des ‚neuen Bundes‘ (3,4ff., s. o.), wo Paulus nicht nur Ex 34 als Intertext aufruft70 und zugleich eine Allusion zu einer Jesustradition zu schaffen scheint71, sondern auch sein ‚Dienst‘-Verständnis darlegt. Paulus stellt seinen Apostolat erkennbar in Analogie zur διακονία des Mose (2 Kor 3,7f.). Weiterhin bestimmt Paulus sein apostolisches Amt in Relation zum Evangelium (4,1ff.), zu Christus (4,7ff.; 5,11ff.), im Blick auf das Eschaton (5,1ff.) und in Hinsicht auf die apostolische Existenz (6,1ff.). Paulus formuliert in diesem Zusammenhang theologische Aussagen, die – neben 1 Thess 4 f.; 1 Kor 15, Röm 8 und Phil 1.3 – zu den Grundtexten paulinischer Eschatologie zählen (bes. 2 Kor 5)72 und entwickelt teils genuine Theologumena (2 Kor 5,14f.: … ἀγάπη τοῦ Χριστοῦ)73. In 2 Kor 7,5ff. ist ein ‚Stimmungsumschwung‘ erkennbar, der auf die Wirkung des Tränenbriefes in Korinth zurückgeht. In 2 Kor 8–9 fordert Paulus die korinthische Gemeinde bzw. die Gemein‐ den Achaias (2 Kor 9,2) zur Durchführung der Kollektensammlung für die Jerusalemer Urgemeinde (1 Kor 16,1ff.; Röm 15,26) auf, zu der sich Paulus beim Apostelkonzil verpflichtet hat (Gal 2,10)74 und die als ‚Dienst für die Heiligen‘ (2 Kor 9,1: διακονία τῆς εἰς τοὺς ἁγίους) bezeichnet wird. Paulus wirbt um die Gabe der Korinther mit dem Hinweis auf die Bereitwilligkeit der Gemeinden Makedoniens (2 Kor 8,1; Röm 15,26), so wie er andererseits die Bereitwilligkeit der Gemeinden Achaias bei der 70 71

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Vgl. z. B. H. Löhr, Steintafeln. Tora-Traditionen in 2Kor 3, in: D. Sänger (Hg.), Der zweite Korintherbrief, 175–187. Vgl. E.-M. Becker, 2 Corinthians 3:14, 18 as Pauline Allusions to a Narrative Jesus-Tra‐ dition, in: C.A. Evans/H.D. Zacharias (Ed.), “What Does the Scripture Say?”: Studies in the Function of Scripture in Early Judaism and Christianity (LNTS 470), London/New York 2012, 121–133. Vgl. z. B. M. Vogel, Commentatio mortis. 2Kor 5,1–10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi (FRLANT 214), Göttingen 2006. Vgl. O. Wischmeyer, „Die Liebe Christi dringet uns…“ 2Kor 5,14f und die Liebe Christi bei Paulus, in: D. Sänger (Hg.), Der zweite Korintherbrief, 323–336. Zur Geschichte, Funktion und Bedeutung der Kollektensammlung vgl. D. Georgi, Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem (ThF 38), Hamburg 1965; B. Beckheuer, Paulus und Jerusalem. Kollekte und Mission im theologischen Denken des Heidenapostels (EHS.T 611), Frankfurt etc. 1997; D.J. Downs, The Offering of the Gentiles. Paul’s Collection for Jerusalem in Its Chronological, Cultural, and Cultic Contexts (WUNT 2.248), Tübingen 2008; J.M. Ogereau, The Jerusalem collection as Kοινωνία. Paul’s Global Politics of Socio-Economic Equality and Solidarity, in: NTS 58 (2012), 360-378; C. Böttrich, Jerusalemkollekte, in: WiBiLex.

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Werbung für die Kollektengabe in Makedonien hervorheben will (2 Kor 9,2: προθυμία). Paulus fordert also den ζῆλος (2 Kor 9,2) der Gemeinden Achaias und Makedoniens heraus. Zugleich gibt Paulus der Kollektengabe eine theologische Deutung 75: die Gabe wird als χάρις (2 Kor 8,1–7) verstanden und ist freiwillig (2 Kor 8,8–12). Sie verwirklicht Gemeinschaft (2 Kor 8,13–15) und ist ein ‚Liebeserweis‘ (2 Kor 8,24: ἔνδειξις τῆς ἀγάπης). Sie setzt das Vertrauen auf Gott voraus (2 Kor 9,6–10) und zielt auf den Lobpreis Gottes (2 Kor 9,11–15). Der administrative Charakter der Kollektenschreiben, auf den H.D. Betz hinweist76, begegnet besonders in den Hinweisen zur formalen Korrektheit bei der Durchführung der Kollektengabe (2 Kor 8,16ff.). 2 Kor 10–13 lassen sich als paulinische Apologie bezeichnen: Paulus ist um die Legitimierung seines Apostolats77 und die Verteidigung seiner Person bemüht. Der sog. Vier-Kapitel-Brief wird als „das Schärfste, was Paulus überhaupt geschrieben hat“, bezeichnet78. Während Paulus bei der Verteidi‐ gung des apostolischen Amtes innerhalb von 2 Kor 1–7 vielfach in der 1. Person Plural schreibt (vgl. 2 Kor 3,1ff.; 3,4ff.; 4,1ff.; 4,7ff.; 5,1ff. etc.), sind 2 Kor 10–13 von einer persönlich verantworteten und in der 1. Person Singular gestalteten Verteidigung geprägt, die bereits in 10,1 in programmatischer Schärfe eingeleitet wird: Αὐτὸς δὲ ἐγὼ Παῦλος παρακαλῶ ὑμᾶς. Lexeme vom Stamm ἀσθεν- überwiegen im Vier-Kapitel-Brief (insgesamt 14 Belege), fehlen aber in den früheren Briefteilen (2 Kor 1–9). Das vor allem in den Kap. 1–7 leitende Lexem παράκλησις (insgesamt 9mal, in Kap. 8 2mal) hingegen begegnet in 2 Kor 10–13 nicht. Diese Beispiele für semantische und sprachliche Differenzen besonders zwischen 2 Kor 1–7 und 10–13 weisen auf eine veränderte Schreibsituation und eine Zunahme von Konflikten mit Paulus in der korinthischen Gemeinde hin. In 2 Kor 10,1–11 droht Paulus mit der apostolischen Vollmacht (10,8: ἐξουσία), die er bei seiner Anwesenheit in Korinth zu gebrauchen ge‐ denkt. Sie dient u. a. dazu, Ungehorsam zu strafen (10,6: ἐκδικῆσαι πᾶσαν παρακοήν). Diese Androhung ist gegen die in Korinth herrschende Meinung gerichtet, nur die Briefe des Paulus, nicht aber seine persönliche Anwesen‐ heit (10,9f.) seien stark und mächtig (10,11). 75 76 77 78

Vgl. dazu die Untergliederung von 2 Kor 8–9 bei Bultmann, Brief, 255ff. Vgl. Betz, 2 Corinthians. Vgl. dazu immer noch den anregenden Aufsatz E. Käsemanns: Die Legitimität des Apostels. Eine Untersuchung zu II Korinther 10–13, ZNW 41 (1942), 33–71. So H.-M. Schenke/K.M. Fischer, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments. I: Die Schriften des Paulus und die Schriften des Paulinismus, Gütersloh 1978, 109.

2. Korintherbrief

In 2 Kor 10,12ff. beginnt Paulus mit dem Vergleich seines Apostolats mit seinen Gegnern und stellt fest, dass die apostolische καύχησις und Empfeh‐ lung (συνιστ-) von Gott bzw. dem κύριος her begründet sind (10,13.18). 2 Kor 11,1–12,10 oder bis 12,13 werden als sog. Narrenrede bezeichnet79: Diese Rede ist durch Lexeme vom Stamm ἀφρ- geprägt, und am Ende dieser Rede bezeichnet Paulus sich selbst als ‚Narr‘ (12,11: Γέγονα ἄφρων). Die Narrenrede ist von vier wesentlichen Themen bestimmt, die für die Sozialund Religionsgeschichte der korinthischen Gemeinde, besonders aber für die Biographie des Paulus von erheblicher Bedeutung sind: –

Paulus setzt sich mit den in Korinth wirksamen gegnerischen Missiona‐ ren auseinander und gibt Hinweise auf ihr religiöses Profil: Er polemi‐ siert gegen seine Gegner, indem er sie als ‚Über-Apostel‘ (z. B. 11,5: ὑπερλίαν ἀπόστολοι), ψευδαπόστολοι (11,13) bezeichnet, als falsche und listige Arbeiter nämlich, die sich als Apostel Christi verstellen und in Wahrheit Diener des Satans sind (11,15). Ex negativo, d. h. aus der Perspektive der paulinischen Invektive lässt sich vermuten: Die Gegner empfehlen sich selbst (so schon 10,12), sie predigen einen anderen Jesus und ein anderes Evangelium (11,4) und lassen sich von der korinthischen Gemeinde Unterhalt zahlen (vs. 11,7ff.). Sie sind Hebräer und bezeichnen sich als Abrahams Kinder (11,22) und rühmen sich ihrer eigenen Verdienste (vs. 11,30). Ihre nähere Bestimmung wird in der For‐ schung unterschiedlich vorgenommen80: Sie gelten z. B. als Gnostiker (W. Schmithals), Spiritualisten (J.L. Sumney), Delegierte der Jerusalemer Urgemeinde (E. Käsemann) oder judenchristliche Missionare (D. Ge‐ orgi).81 Die Gegner lassen sich tendenziell als rivalisierende christliche „Wandermissionare jüdisch-hellenistischer Herkunft“ bezeichnen.82

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Vgl. zur stilistischen und argumentativen Analyse der Narrenrede ausführlich: J. Zmijewski, Stil. Vgl. zur kurzen Übersicht: Becker, Schreiben, bes. 239 ff. oder Thrall, Second Epistle, 671 ff. Zu einer topischen Deutung vgl. M. Vogel, „Seine Briefe sind gewichtig und gewaltig“ (2 Kor 10,10). Polemik im 2. Korintherbrief, in: Polemik in der frühchristlichen Literatur. Texte und Kontexte, hg. v. O. Wischmeyer/L. Scornaienchi (BZNW 170), Berlin/New York 2011, 183–208. Vgl. W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth. Eine Untersuchung zu den Korintherbriefen, Göttingen 31969, 277 ff.; J.L. Sumney, Identifying Paul’s Opponents. The Question of Method in 2 Corinthians (JSNT.S 40), Sheffield 1990, 183; Käsemann, Legitimität (Anm. 77), 34 ff.; D. Georgi, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief. Studien zu der religiösen Propaganda in der Spätantike (WMANT 11), Neukirchen-Vluyn 1964, 301. So G. Strecker, Legitimität, 572.

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– Vermutlich im programmatischen Unterschied zu seinen Gegnern rechtfertigt Paulus seine eigene Lebensweise, d. h. besonders seinen Verzicht auf Unterhalt durch die korinthische Gemeinde (11,7ff.; so schon 1 Kor 9; vgl. auch Phil 4,11ff.; Apg 18,2f.).83 Seine erlittenen Peristasen (11,23ff.; schon 1,3ff.)84 versteht Paulus als Teil der apostoli‐ schen Existenz und legt sie den Korinthern als Legitimierung seiner Apostolizität im Sinne der ‚Schwachheitstheologie‘ aus (11,30), die Grundmotive der sog. ‚Kreuzestheologie‘ aus 1 Kor 1,18ff. aufnimmt (z. B. 1 Kor 1,25) und nun auf die Deutung der apostolischen Biographie hin appliziert. – Im Zusammenhang der ihm von den Korinthern ‚aufgezwungenen‘ (12,1.11) καύχησις berichtet Paulus in Form einer autobiographischen narratio (O. Wischmeyer) über die ihm zuteil gewordenen Erscheinun‐ gen und seine apostolische Beauftragung (12,1–10).85 Diese narratio unterscheidet sich von der sonst von Paulus bevorzugten knappen Form der Legitimierung seiner Apostolizität als Auferstehungszeuge (1 Kor 15,8ff.; Röm 1,4f.) oder als von Christus Berufenem (Gal 1,12). – Im Kontext dieser autobiographischen narratio erwähnt und deutet Paulus seine ‚Krankheit‘ (sonst: Gal 4,13f.; 6,17; evtl. 2 Kor 10,10)86, die er in 2 Kor 12 als ‚Pfahl im Fleisch‘ (12,7: σκόλοψ τῇ σαρκί) bezeichnet, als ‚Engel des Satans‘, der ihn schlägt, damit Paulus sich nicht überheben kann (ὑπεραίρομαι). Auf ein an den Herrn gerichtetes Gebet erhält Paulus die Antwort, dass er sich fortan an der Gnade Christi genügen lassen soll (12,9).87 So versteht Paulus seine persönliche Schwachheit

83 84 85

86 87

S. dazu bereits mehrfache Hinweise oben. Zu den Peristasen vgl. allgemein: Y. Sook Choi, „Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“. Die paulinischen Peristasenkataloge und ihre Apostolatstheologie (NET 16), Tübingen 2009. Vgl. O. Wischmeyer, 2. Korinther 12,1–10. Ein autobiographisch-theologischer Text des Paulus, in: dies., Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments, hg. v. E.-M. Becker (WUNT 173), Tübingen 2004, 277–288. Vgl. zuletzt allgemein: C. Shantz, Paul in Ecstasy. The Neurobiology of the Apostle’s Life and Thought, Cambridge 2009, sowie: J. Buchanan Wallace, Snatched into Paradise (2 Cor 12:1–10). Paul’s Heavenly Journey in the Context of Early Christian Experience (BZNW 179), Berlin/New York 2011. Vgl. dazu auch den Beitrag von J. Frey im vorliegenden Band. Vgl. dazu O. Wischmeyer, 2 Korinther 12,7–8. Ein Gebet des Paulus, in: R. Egger-Wen‐ zel/J. Corley (Ed.), Prayer from Tobit to Qumran (DCLY 2004), Berlin/New York 2004, 467–479.

2. Korintherbrief

(ἀσθένεια) und die zu erleidenden Peristasen (12,10) als Ort für die Vervollkommnung der χάρις und der δύναμις Christi (12,9: τελεῖται). In 2 Kor 12,14–13,10 befasst sich Paulus überwiegend mit der Ankündigung seines dritten Besuchs in Korinth und erklärt die Gründe und das Ziel seiner Verteidigungsrede (12,19: οἰκοδομή) sowie die Funktion der brieflichen Verteidigung (13,10). In Anbetracht der apologetischen Schärfe von 2 Kor 10,1–13,10 fällt der Briefschluss in 2 Kor 13,11–13 (Grüße und Wünsche) äußerst knapp aus und weist lediglich in der triadischen χάρις-Formel (13,13) eine formal-epistolo‐ graphische wie theologische Besonderheit auf. 3.2 Exegetische Probleme

Die mit der Gliederung, Rekonstruktion und Interpretation des 2 Kor verbundenen exegetischen Probleme habe ich bereits an entsprechender Stelle benannt. Ich fasse sie nun kurz zusammen: – Trotz programmatischer Versuche, die literarische Einheitlichkeit des 2 Kor zu postulieren88, ist – wie mir scheint: zu recht – die Frage nach der originären Gestalt des 2 Kor und der Entstehung einer Briefkompilation literarkritisch, literarhistorisch sowie redaktions- und textgeschichtlich unumgänglich, auch wenn oder gerade weil bei der Beantwortung dieser Frage wahrscheinlich kein Konsens erreicht werden kann89. – Mit der Annahme einer Briefkompilation ist die Rekonstruktion der ursprünglichen Brieffolge und die Frage nach Gründen, Funktion und technischem Zustandekommen der korinthischen Briefsammlung ver‐ bunden. – Die Annahme kompilierter Einzelbriefe steht zudem mit der Rekon‐ struktion unterschiedlicher Schreibsituationen und einer Chronologie der korinthischen Ereignisse in Zusammenhang. – Literar- und redaktionskritisch umstritten bleibt die Ursprünglichkeit von 2 Kor 6,14–7,1.90 – Die Bestimmung der Gegner des Paulus besonders in 2 Kor 10–13 gibt zum einen Aufschluss über die sozial- und religionsgeschichtliche 88 89 90

S.o. Zur Übersicht über die Literatur vgl. Becker, Schreiben, 14ff. Vgl. L. Aejmelaeus, The Making of 2 Corinthians: The Three Classical solutions, their Weaknesses and Strengths, in: E.-M. Becker/H. Löhr (Hg.), Die Exegese des 2 Kor und Phil im Lichte der Literarkritik, 147–175. Vgl. zur Übersicht über die neuere Literatur noch einmal Becker, Schreiben, 10f.

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Struktur der korinthischen Gemeinde und ist zum anderen im Rahmen der sog. Invektivenforschung91 zu bearbeiten. Zu diskutieren bleibt, wie sich das Verhältnis des Paulus zu den Korinthern und den dort agierenden Konkurrenten oder Gegnern seit Abfassung des 1 Kor entwickelt hat. – Die von Paulus in der Mehrzahl seiner Briefe formulierte Verpflichtung zur Kollektengabe für die Jerusalemer Urgemeinde, auf die die Apg keine Hinweise gibt, wird am ausführlichsten im 2 Kor (Kap. 8–9) thematisiert. Die Interpretation des 2 Kor ist daher in besonderer Weise mit der Frage nach Funktion, Bedeutung und Ausgang der Kollektensammlung befasst. – Der 2 Kor enthält die umfassendsten Selbstaussagen des Paulus zu seinem Selbstverständnis als Apostel und Person, so z. B. auch zu den Bedingun‐ gen, unter denen er seine brieflichen Schreiben verfasst92, und zu seiner Krankheit. Die daraus abgeleitete ‚Schwachheitstheologie‘ in Hinsicht auf den paulinischen Apostolat (2 Kor 11,30; 12,9) korrespondiert der in 1 Kor 1,18ff. formulierten ‚Kreuzestheologie‘. Paulus stellt also sein apostolisches Selbstverständnis in expliziten Bezug zur Christologie (vgl. 2 Kor 4,7ff.). Biographie und Theologie bzw. Autobiographie und apostolisches Selbstverständnis einerseits und Christologie andererseits bilden einen gegenseitigen Deutungshorizont.93 4 Probleme der Interpretation

Die Interpretation des 2 Kor beschränkt sich vielfach in ihren Extremen auf eine Bewertung der theologischen Aussagen94 oder auf die Wahrnehmung der Briefsammlung als ‚Steinbruch‘ für die historische Rekonstruktion der korinthischen Korrespondenz.95 Jede Textinterpretation wird zwar von hermeneutischen Voraussetzungen und methodischen (Vor-)Entscheidun‐ 91 92 93 94 95

Vgl. dazu allgemein: W.-L. Liebermann, Art. Invektive, DNP 5 (1998), 1049–1051. Vgl. E.-M. Becker, Paulus als weinender Briefeschreiber. Vgl. dazu auch den Beitrag von E.-M. Becker zur ‚Person des Paulus‘ im vorliegenden Band. Vgl. dazu auch die Beiträge in: E.-M. Becker/P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005/2009. So z. B. J. Schröter, Der versöhnte Versöhner. Paulus als unentbehrlicher Mittler im Heilsvorgang zwischen Gott und Gemeinde nach 2 Kor 2,14–7,4 (TANZ 10), Tübin‐ gen/Basel 1993. Tendenziell bei Bornkamm, Vorgeschichte, erkennbar; ausgeprägt bei W. Schmithals, Die Briefe des Paulus in ihrer ursprünglichen Form, Zürich 1984.

2. Korintherbrief

gen geleitet. Dennoch sollten Interpretation und Exegese des 2 Kor im Bewusstsein und unter Berücksichtigung der durch die Paulus-Forschung hervorgebrachten Vielfalt heuristischer Fragestellungen und methodischer Textzugänge geschehen. Als solche sind zu nennen: 1. die literarkritische und literarhistorische Interpretation, die auf eine Rekonstruktion der brieflichen Korrespondenz und der Entstehung der Briefsammlung (im Kontext einer Paulusschule) zielt, 2. die historisch orientierte Interpretation, die um eine Rekonstruktion der Chronologie der korinthischen Ereignisse bemüht ist, 3. die sozial- und religionsgeschichtliche Interpretation, die das religiöse Profil der korinthischen Gemeinde im Spannungsfeld paulinischer Prägung und Beeinflussung durch gegnerische Missionare zu erheben sucht, 4. die autobiographische Interpretation, die die paulinischen Selbstaussa‐ gen im 2 Kor auf ihre literarische Form96, ihren biographischen Wert oder ihren apostolatstheologischen Aussagegehalt hin untersucht, 5. die rhetorische Interpretation, die Paulus als Briefeschreiber versteht, der seine Briefe zur Durchsetzung apostolischer Autorität z. B. gegen‐ über seinen Gegnern (2 Kor 10–13) oder in Hinsicht auf die Kollekten‐ sammlung (2 Kor 8–9) gestaltet, 6. die kommunikationswissenschaftliche und briefhermeneutische Interpre‐ tation, die auf der Basis der korinthischen Korrespondenz die früh‐ christliche Entwicklung vom mündlich verkündigten Evangelium zur gemeindeethisch ermahnenden und theologischen Briefliteratur nach‐ zeichnet97, 7. die theologische Interpretation, die auf die Auslegung theologischer, christologischer, eschatologischer, anthropologischer o. ä. Aussagen im 2 Kor zielt. Der vorliegende Beitrag berücksichtigt besonders die kommunikativen und briefhermeneutischen Elemente und bemüht sich um eine Verbindung 96 97

Vgl. dazu z. B. Wischmeyer, 2. Korinther 12 (Anm. 85); dies., Paulus als Autor. Vgl. z. B. Becker, Schreiben; dies., Letter Hermeneutics; vom Frageinteresse her ähnlich Bosenius, Abwesenheit (Anm. 29); und neueste Ansätze dazu bei M.M. Mitchell, The Corinthian Correspondence and the Birth of Pauline Hermeneutics, in: T.J. Burke/J.K. Elliott (Ed.), Paul and the Corinthians. Essays in Honour of M. Thrall, Leiden/Boston 2003, 17–53. Zuletzt auch M.M. Mitchell, Paul, the Corinthians and the Birth of Christian Hermeneutics, Cambridge 2010.

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literarkritischer, historischer, literarhistorischer und theologischer Frage‐ stellungen, d. h. um eine Rekonstruktion und Erklärung der historischen und literarischen Geschichte der im 2 Kor enthaltenen Briefsammlung. 5 Würdigung

Der 2 Kor kann – trotz der Komplexität der durch die Paulus-Exegese auf‐ geworfenen Spezialfragen und Hypothesenbildungen – in Hinsicht auf seine Bedeutung für die neutestamentliche Theologie kaum überschätzt werden.98 Diese Bedeutung lässt sich in drei Aspekten fassen, die ich aus historischer Perspektive formuliere: – Der kanonische 2 Kor gibt den umfassendsten uns vorliegenden Einblick in die historische und theologische Geschichte frühchristlicher Gemein‐ den und in die Entstehung frühchristlicher Literatur und Theologie auf der Basis von brieflicher Korrespondenz. – Der 2 Kor gibt – neben dem Phil – den tiefsten Einblick in die Biographie des Paulus, sein literarisch, d. h. auch autobiographisch gestaltetes Selbstverständnis, seine emotionalen Haltungen, seine Verknüpfung von Apostolatstheologie und Christologie, und spiegelt in seiner textge‐ schichtlichen Überlieferung im Corpus Paulinum die übergemeindliche Wirkung und Autorität des Apostels über die 50er Jahre des 1. Jh.s hinaus wider. – Paulus hat 2 Kor in der Mitte seiner briefeschreibenden Aktivität, die etwa von 49–62 n. Chr. reichte, verfasst. 2 Kor ist im Blick auf die Adressatenschaft und die Chronologie eng auf 1 Kor bezogen und zeigt zugleich, in welch unterschiedlicher Form sich Paulus an dieselbe Gemeinde gewendet hat. Im Blick auf das ‚self fashioning‘ 99, d. h. die literarische Konstruktion des ‚Brief-Ich‘, steht 2 Kor dem Phil am nächsten, wo Paulus – nun wohl bereits gegen Ende seines Lebens – abschließend darlegt, was für ihn persönlich als δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ (Phil 1,1) noch zu erwarten und zu hoffen bleibt.

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Vgl. dazu die Überlegungen zur Bedeutung des 2 Kor für die Theologie R. Bultmanns von E. Dinkler, in: Bultmann, Brief, 11. Zur Übersicht über wichtige Fragen der Interpretation vgl. J. Murphy-O’Connor, Keys to Second Corinthians. Revisiting the Major Issues, Oxford 2010. Vgl. dazu E.-M. Becker/J. Mortensen (Ed.), Paul as Homo Novus: Authorial Strategies of Self-Fashioning in Light of a Ciceronian Term (SANt 6), Göttingen/Bristol 2018.

2. Korintherbrief

6 Literatur

Eine systematisch geordnete Übersicht über die Bibliographie bis 2007 geben R. Bieringer u. a. (Ed.), 2 Corinthians. A Bibliography (BiTS 5), Leuven etc. 2008. 6.1 Kommentare

P. Arzt-Grabner, 2. Korinther (PKNT 4), Göttingen/Bristol 2014 (papyrologischer Kommentar). H.D. Betz, 2. Korinther 8 und 9. Ein Kommentar zu zwei Verwaltungsbriefen des Apostels Paulus, Gütersloh 1993; ders., 2 Corinthians 8 and 9. A Commentary on Two Administrative Letters of the Apostle Paul (Hermeneia), Philadelphia 1985. R. Bultmann, Der zweite Brief an die Korinther, hg. v. E. Dinkler (KEK Sonderbd.), Göttingen 21987. A. Clark Wire, 2 Corinthians (Wisdom Commentary 48), Collegeville 2019 (feminis‐ tischer Kommentar). V.P. Furnish, II Corinthians (AncB 32 A), New York etc. 1984. E. Gräßer, Der zweite Brief an die Korinther. Bd. 1: 2 Kor 1–7,16; Bd. 2: 2 Kor 8,1–13,13 (ÖTK 8/1 und 8/2), Gütersloh 2002 und 2005. J. Lambrecht, Second Corinthians (Sacra Pagina 8), Collegeville 1999. R.P. Martin, 2 Corinthians, Revised (WBC 40), Colombia 2012. F.J. Matera, II Corinthians. A Commentary (The New Testament Library), Louis‐ ville/London 2003. T. Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther. Teilband 1 (2 Kor 1,1–7,4)/Teilband 2 (2 Kor 7,5–13,13) (EKK VIII/1 und 2), Neukirchen-Vluyn 2010 und 2015. M.E. Thrall, The Second Epistle to the Corinthians Vol. 1/Vol. 2 (ICC), Edinburgh 1994/2000 (grundlegender englischsprachiger wissenschaftlicher Kommentar). H. Windisch, Der zweite Korintherbrief. Neudruck der 9. Aufl. 1924, hg. v. G. Strecker (KEK 9), Göttingen 1970 (älterer deutschsprachiger wissenschaftlicher Standardkommentar). C. Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 7), Berlin 1989 (allgemeinverständlicher Kommentar). 6.2 Monographien und wichtige Sammelbände

E.-M. Becker, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief (NET 4), Tübingen/Basel 2002; dies., Letter Hermeneutics in Second Corinthians. Studies in Literarkritik and communication theory (JSNT.S 279), London/New York 2004.

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Dies./H. Löhr (Hg.), Die Exegese des 2 Kor und Phil im Lichte der Literarkritik (BThSt 185), Göttingen 2020 (wichtiger Sammelband zum Stand der literarkritischen Diskussion). J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker (UTB 2014), Tübingen 31998. R. Bieringer/J. Lambrecht (Ed.), Studies on 2 Corinthians (BEThL 62), Leuven 1994. S.J. Friesen/D.N. Schowalter/J.C. Walters (Ed.), Corinth in Context: Comparative Studies on Religion and Society (NT.S 134), Leiden/Boston 2010 (wichtiger Sam‐ melband zur Geschichte Korinths). D.-A. Koch, Geschichte des Urchristentums, Göttingen 22014. D. Sänger (Hg.), Der zweite Korintherbrief: Literarische Gestalt, historische Si‐ tuation, theologische Argumentation: Festschrift zum 70. Geburtstag von Diet‐ rich-Alex Koch (FRLANT 250), Göttingen 2012 (wichtiger Sammelband zu über‐ greifenden Fragen der Interpretation des 2 Kor). U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 92017. Ders., Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003. J. Zmijewski, Der Stil der paulinischen ‚Narrenrede‘. Analyse der Sprachgestaltung in 2 Kor 11,1–12,10 als Beitrag zur Methodik von Stiluntersuchungen neutesta‐ mentlicher Texte (BBB 52), Köln/Bonn 1978 (wichtige Spezialmonographie). 6.3 Aufsätze und Lexikonartikel

E.-M. Becker, Stellung und Funktion von 2. Korinther 8–9 im literarischen Endtext: Anmerkungen zum Stand der literarkritischen Diskussion, in: R. Bieringer et al. (Ed.), Theologizing in the Corinthian Conflict: Studies in the Exegesis and Theology of 2 Corinthians (BTS 16), Leuven 2013, 283-304. Dies., Paulus als weinender Briefeschreiber (2 Kor 2,4): Epistolara parousia im Zei‐ chen visualisierter Emotionalität, in: D. Sänger (Hg.), Der zweite Korintherbrief, 11-26. H.D. Betz, Art. Corinthians, Second Epistle to the, ABD 1 (1992), 1148–1154. G. Bornkamm, Die Vorgeschichte des sogenannten Zweiten Korintherbriefes, in: Geschichte und Glaube. Zweiter Teil. Ges. Aufsätze Bd. IV (BEvTh 53), München 1971, 162–194. M.M. Mitchell, Art. Korintherbriefe, RGG4 4 (2001), 1688-1694. G. Strecker, Die Legitimität des paulinischen Apostolates nach 2 Korinther 10–13, NTS 38 (1992), 566–586. O. Wischmeyer, Paulus als Autor, in: dies., Von Ben Sira zu Paulus. Ges. Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments (WUNT 173), hg. v. E.-M. Becker, Tübingen 2004, 289–307.

Galaterbrief

J ÖRG F REY

Absender

Paulus (1,1)

Adressaten

wahrscheinlich die von Paulus gegründeten Gemeinden an der kleinasiatischen Südküste

Entste‐ hungssitua‐ tion

keine expliziten Hinweise im Brief

Anlass

eine judaisierende Gegenmission in den galatischen Gemeinden, Beschneidungsforderung der Gegner

Abfas‐ sungsort

Ephesus oder Makedonien/Achaja (keine expliziten Hinweise im Brief)

Datierung

50–55/56 n. Chr. (keine expliziten Hinweise im Brief)

Gegner‐ schaft

hellenistische Judenchristen (oder beschnittene Heidenchristen), die Beschneidung und Gesetz als notwendig für den Glauben an Jesus betrachten und somit die „apostolische Autorität“ des Paulus bestreiten

Themen

Unabhängigkeit und göttliche Autorität des paulinischen Evange‐ liums Rechtfertigung aus dem Glauben Leben in Freiheit vom Gesetz und im Geist

Grobgliede‐ rung

Brief‐ ein‐ gang

1,1–5 1,6–10

briefliches Präskript briefliches Proömium: kein Dank, sondern Tadel

Brief‐ corpus

1,11– 2,21

Autobiographischer Abschnitt: Die Unabhängigkeit und Göttlichkeit des paulinischen Evangeliums Theologisch-argumentativer Abschnitt: Die Rechtfertigung aus Glauben (oder: Warum die Galater der Beschneidungsforde‐ rung nicht folgen sollen)

3,1–5,12

370

J ÖRG F REY

Brief‐ schluss

5,13– 6,10

Paränetischer Abschnitt: Das Leben im Geist und in der Freiheit vom Gesetz

6,11 6,12–15 6,16f. 6,18

Eigenhändigkeitsvermerk Wiederholung der eigenen Position Schlussparänese abschließender Segenszuspruch

1 Texterschließung 425

1.1 Textbestand und Textüberlieferung

Der Galaterbrief hat mit 2220 Wörten auf ca. 10 Nestle-Seiten nur knapp

der Doxologie. Der Gnadenwunsch 2 fehlt. Die des Römerbriefs. Er ist wie jener in den großen ein Drittel des Umfangs 15,1–16,23; DoxologieMajuskeln 16,25–27 (‫א‬,01, B, C). A 02, B 03, C 04 (lückenhaft), D 06 sowie lückenhaft in den 46 (um vorge‐ 200) und 𝔓𝔓 51 bezeugt. Noch früher findet sich der Text bei zudem𝔓𝔓einmal der Doxologie. Sie ist Papyri (um Textfolge 140), aus dessen dogmatisch ‚gereinigter‘ Paulusbriefausgabe Der Gnadenwunsch Marcion 2 fehlt. Die bei Tertullian 16,25–27; 15,1–16,23; (‚apostolos‘) Doxologie 16,25–27 (A, (adv. Marcionem) Zitate von 1,1 bis 6,17 belegt

sind.1 In Marcions Ausgabe und wohl auch schon in deren Vorlage stand der Galist amvorgezogen. Anfang (auf den 1/2 Kor und Röm folgten)2. In der Liste des em Gruß 16,23. Die Doxologie Muratori (um 200) steht er nach 1/2 Kor, Eph, Phil und Kol und vor 1 . Die Textfolge lautet:Canon 1,1–15,33; Doxologie Thess; in 𝔓𝔓 46 nach Röm, Hebr, 1/2 Kor, Eph. Die heute übliche Abfolge, die sich grob an der Länge der Briefe orientiert, bildete sich erst später heraus. t der Doxologie, der der Gnadenwunsch 2 Textkritisch bietet der Gal keine besonderen Probleme.

lautet: 1,1–14,23; 15,1–16,23.24. Doxologie 1.2 Gliederung

– Ein brieflicher Rahmen umspannt den Text, der somit formal klar als (16,25–27) und der Gnadenwunsch 2 (16,24) Brief kenntlich ist. Auch innerhalb des Gal finden sich Hinweise auf ch platziert werden konnten und wohl nicht die briefliche Situation, die räumliche Trennung des Autors von den s darstellten. Der Gnadenwunsch 1 (16,20b) Adressaten (z. B. der ‚Parusiewunsch‘ 4,20). Auffällig ist im Präskript die 7 n Text. Die subscriptio [προς Ρωμαιους] fehlt Erweiterung der superscriptio zur Betonung der Autorität des Paulus und atz. Die Kurzfassung bei Marcion scheint auf seiner Sendung (1,1) sowie die soteriologisch gewichtige Erweiterung der salutatio, weiter im Proömium eine singuläre Modifikation, nämlich der Einsatz mit einem scharfen Tadel dort, wo sonst üblicherweise der Dank für die Gemeinde formuliert wird (1,6). Im Briefschluss ist der (im

nennung des Verfassers, der sich ausführlich m Nestletext mit einem ersten Gnadenwunsch d – mindestens in einer1 jüngeren Textform – U. Schmid, Marcion und sein Apostolos (ANTF 25), Berlin/New York 1995, I/315–319. gie (16,25–27).8 2 Ebd., 294–296. übergeordnete Gliederungsmerkmale: Themen Es folgt die topische Danksagung für die Ge‐ meinde. Es folgt eine zweigliedrige Darlegung des Zu‐

Galaterbrief

Original am Schriftbild erkennbare) Eigenhändigkeitsvermerk (6,11) zu beachten. – Das Briefcorpus beginnt mit einem autobiographischen Abschnitt (1,11– 2,21), der aber dem Argumentationsziel des Schreibens präzise zugeord‐ net werden kann. Dabei geht es um den Erweis der Unabhängigkeit und göttlichen Autorität des von Paulus verkündigten Evangeliums. Paulus berichtet von seiner ‚vorchristlichen‘ Zeit als Verfolger der Gemeinde (1,13f.), seiner ‚Berufung‘ (1,15f.) und – gerafft, aber in chronologischer Ordnung3 – von Stationen seines Wirkens in den folgenden Jahren, darunter von dem Treffen der Apostel (sog. „Apostelkonzil“ oder „Apos‐ telkonvent“) in Jerusalem (Gal 2,1–10) und von einer Konfrontation mit Petrus in Antiochien (sog. „Antiochenischer Zwischenfall“: Gal 2,11–14). Der letzte Bericht geht in eine grundsätzliche Formulierung des Themas der Rechtfertigung aus Glauben über (2,15–21). – An die Themenformulierung 2,15–21 schließt sich ein theologisch-ar‐ gumentativer Teil an, der dann in einen ethisch-paränetischen Teil übergeht. Inhaltlich geht es in beiden um die „Rechtfertigung aus dem Glauben“ und ihre lebenspraktischen Konsequenzen. In mehreren Anläufen begründet Paulus theologisch, warum sich die Galater der Beschneidungsforderung nicht beugen sollen. Die Abgrenzung der Teilargumente ist dabei nicht immer eindeutig4. ‚Dogmatik‘ und ‚Ethik‘ lassen sich auch hier nicht säuberlich voneinander trennen. Mit dem Appell, der Beschneidungsforderung zu widerstehen (Gal 5,1f.) und einem scharf ironischen Ausfall gegen die Irrlehrer (5,12: „sie sollen sich doch gleich verschneiden [= kastrieren] lassen“) schließt der Teil, der sich argumentativ mit der Beschneidungs- und Gesetzesfrage aus‐ einandersetzt. – Die Paränese, in der das Leben in der Freiheit vom Gesetz und im Geist näher beschrieben wird, beginnt in 5,13f. Auch dieser Teil ist auf die Situation bezogen, insofern Paulus sich nicht (wie in 1 Kor etc.) mit konkreten ethischen Missständen auseinandersetzt, sondern dem 3 4

Vgl. die temporalen Adverbien (ἔπειτα 1,18.21; 2,1), Zeitangaben (1,18; 2,1) sowie den Anschluss in 2,11. Diskutiert wird z. B., ob 3,19–25 ‚nur‘ ein Exkurs ist oder doch enger mit 3,26–4,7 verbunden ist (R.N. Longenecker), und ob die Paränese schon in 5,1 beginnt (H.D. Betz) oder ob 5,1–12 nicht eher die abschließende Aufforderung enthält, aus der Argumentation die Konsequenzen zu ziehen, d. h. der Beschneidungsforderung nicht zu folgen (vgl. 6,12–15).

371

372

J ÖRG F REY

naheliegenden Vorwurf entgegentritt, die Freiheit vom Gesetz diene nur der σάρξ, d. h. der menschlichen Selbstsucht, und damit der Sünde zum Vorwand. 1,1–10

Briefeingang

1,1–5

Präskript

betont die göttliche Autorität des Apostelamts des Paulus (1,1) erweitert durch eine soteriologische „Dahingabefor‐ mel“ (1,4)

1,6–10

Proö‐ mium

nimmt sofort Bezug auf die aktuelle Krisensituation: kein Dank, sondern Tadel (1,6: „mich wundert“) Thema: „anderes Evangelium“ – Fluchformel („Anathema“) über mögliche Verkündiger eines solchen

1,11– 2,21

Autobiographischer Abschnitt: Die Unabhängigkeit und göttliche Autorität des paulinischen Evangeliums

1,11–12

„Thema“: Der göttliche Ursprung des Evangeliums, das Paulus verkün‐ digt

1,13–24

Aus der Lebensführung des Apostels vor und nach seiner Berufung (Vv.13f.: der ‚vorchristliche‘ Paulus; Vv.15f.: Berufung; V.17: in Arabia; Vv.18f.: erster Besuch in Jerusalem; V.21: in Syrien und Kilikien) → Ziel: Erweis der Unabhängigkeit des pln. Evangeliums von Menschen

2,1–10

Über das Treffen der Apostel in Jerusalem (‚Apostelkonvent‘): → Ziel: Erweis der Anerkennung seines Apostolats und seines (geset‐ zesfreien) Evangeliums für Heiden durch die Jerusalemer ‚Säulen‘

2,11–21

Über den ‚Antiochenischen Zwischenfall‘: →Ziel: Die Behauptung der normativen Geltung des (V.14: für Heiden ‚gesetzesfreien‘) Evangeliums auch gegenüber Petrus ab V.14b: (fiktive) Anrede des Paulus an Petrus (V.15): Rechtfertigung aus dem Glauben, nicht aus dem Gesetz bzw. „Werken“

3,1– 5,12

Theologisch-argumentativer Abschnitt: Die Rechtfertigung aus Glauben (oder: Warum die Galater der Beschneidungsforderung nicht folgen sollen)

3,1–5

Erfahrungsargument: Der Geist wurde den Galatern aufgrund der Glaubenspredigt, nicht aufgrund des Tuns von ‚Werken des Gesetzes‘ gegeben.

3,6–14

Schriftbeweis: Abraham wurde der Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet. Die an ihn ergangene Segensverheißung wird in Christus den Glauben‐ den zuteil.

3,15–18

Analogie aus der profanen Rechtspraxis (argumentum ad hominem; vgl. V.15): Das später (durch Mose) hinzugekommene Gesetz hebt die zuvor (an Abraham) rechtskräftig gegebene Verheißung nicht auf.

Galaterbrief

373

3,19–25

Exkurs: Die (zeitlich begrenzte) Funktion des Gesetzes: Es ist ‚Zucht‐ meister‘ (παιδαγωγός) auf Christus hin, bis zum ‚Kommen‘ des Glau‐ bens (d. h. Christi).

3,26–29

Erfahrungsargument: Die erfahrene Taufe weist auf die Realität der Gotteskindschaft und die Überwindung der ethnischen und sozialen Schranken hin (3,28: nicht mehr Jude/Grieche, Sklave/Freier, Mann/ Frau; vgl. 5,6).

4,1–7

Konsequenz: Gottes Kinder sind auch Erben der Verheißung, des Geistes (4,6: „Abba“), sie sind nicht (mehr) Knechte, sondern Freie. Schlüsselaussage: 4,4: Die Sendung des Sohnes als ‚Wende der Zeiten‘

4,8–20

Warnung vor Rückfall und Werben um die ‚Freundschaft‘ der Galater

4,21–31

Schriftbeweis: Hagar-Sara-Allegorie: Die Glaubenden sind Kinder der Freien.

5,1–12

Aufruf zum Unterlassen der Beschneidung (Alternative: Freiheit/Skla‐ verei)

5,13– 6,10

Paränetischer Teil: Das Leben im Geist und in der Freiheit vom Gesetz

5,13f.

Mahnung zur Liebe als Form der Erfüllung des Gesetzes in Freiheit

5,15–24

Die ethische Alternative: „Werke des Fleisches“/„Frucht des Geistes“

5,25– 6,10

Verschiedene Mahnungen zum Leben „im Geist“

6,11–18 Briefschluss (Eschatokoll)

mit ‚Eigenhändigkeitsvermerk‘ (6,11), Wiederholung der eigenen Position (6,12–15); Mah‐ nung (6,16f.) und abschließender Segenszuspruch (6,18)

1.3 Wortfelder, Kernbegriffe und leitende Gegensätze

– εὐαγγέλιον: Zentralbegriffe in Gal 1–2 sind εὐαγγέλιον (7x) / εὐαγγελίζεσθαι (6x in Gal 1–2). „Evangelium“ bezeichnet die von Gott offenbarte und autorisierte, von Paulus verkündigte, von den Galatern angenommene rettende Botschaft von Gottes Heilswirken in Christi Kreuz und Auferweckung, deren für Paulus unaufgebbare ‚Wahrheit‘ darin liegt, dass sie bedingungslos, und damit (für Heiden) ‚gesetzesfrei‘ ist. In der Situation der Auseinandersetzung mit der

374

J ÖRG F REY

Forderung der Beschneidung der Heiden und damit ihrer Verpflichtung auf das jüdische Gesetz formuliert Paulus in schroffen Antithesen5: 1,7

„Evangelium von Christus“

1,11

1,8.9 das von mir verkündigte Evangelium (vgl. 2,2: das Evangelium, das ich unter den Heiden verkün‐ dige)

wir/ein Engel/jemand ver‐ kündigte anders, als wir ver‐ kündigt haben/anders, als ihr angenommen habt

1,11f. vgl. 1,1

nicht von/durch Menschen, sondern durch Jesus Chris‐ tus/Gott bzw. durch ‚Offen‐ barung‘

menschlich/menschengefäl‐ lig (vgl. 1,10, dort wohl als Vorwurf der Gegner an Pau‐ lus)

2,5.14

die Wahrheit des Evangeli‐ ums

[Unwahrheit]



1,6

ein „anderes Evangelium“, das kein Evangelium wäre.

Ein zweites zentrales Wortfeld des Gal bilden die von ‚Gerechtig‐ keit‘/‚Rechtfertigung‘ handelnden Worte: δίκαιος, δικαιοσύνη und v. a. das Verbum δικαιοῦν / δικαιοῦσθαι (8x; konzentriert in 2,16f.) Auch dabei werden schroffe Alternativen formuliert:

2,16

aus dem Glauben an Christus 2,16 (ἐκ / διὰ πίστεως Χριστοῦ)

aus Werken des Gesetzes

2,17

ἐν Χριστῷ

ἐν νόμῳ (vgl. 5,4: von Christus ge‐ trennt)

3,11

3,8.11.24 ἐκ πίστεως (vgl. 3,6: wie 3,21 Abraham aufgrund des Glau‐ bens)

ἐκ νόμου (vgl. 2,21: διὰ νόμου )



Die Antithese „Werke (des Gesetzes)“ – „Glauben (an Christus)“ (2,16) setzt sich fort.

5

Keinen inhaltlichen Gegensatz, sondern eine bloße ‚Adressaten‘-Unterscheidung bei substantieller Gleichheit bezeichnet der in 2,7 verwendete (vielleicht von Paulus über‐ nommene) Sprachgebrauch „Evangelium für die Unbeschnittenheit“ (= Heiden)/„Evan‐ gelium für die Beschneidung“ (= Juden).

Galaterbrief

375

2,16

gerecht(fertigt) wer‐ den

„aus Werken des Ge‐ setzes“

„durch den Glauben an Christus“

3,2.5

Geistempfang bzw. Kraftwirkungen

„aus Werken des Ge‐ setzes“

„aus der Predigt des Glaubens“

3,10

Sein (Existenz)

„aus Werken des Ge‐ setzes“ (= Sein unter dem Fluch)

[3,14: losgekauft von dem Fluch durch Christus]



Der zentrale Terminus des Gal ist νόμος (32x), er begegnet konzentriert in Gal 2,16–21 und Gal 3–4. Dabei begegnen Verbindungen wie „aus Werken des Gesetzes“ (2,16 [3x]; 3,2.5.10), aber auch analog 3,11; 5,4 „im Gesetz“ (ἐν νόμῳ) oder „unter dem Gesetz“ (4,21; 5,18: dort im Gegensatz zum Leben „durch den Geist“). Mit der Rede vom Gesetz werden zentrale Antithesen formuliert. Sie zielen alle darauf, die These der bleibenden Gültigkeit des Gesetzes nach dem Kommen Christi zu widerlegen.

3,17f.

chronologische Ab‐ folge

Gesetz (nach 430 Jah‐ ren)

Verheißung (vorher gegeben, daher blei‐ bend rechtsgültig)

3,21f.

funktionale Differenz

Gesetz schließt in Sünde ein

Verheißung wird den an Christus Glauben‐ den gegeben

3,23

heilsgeschichtliche Folge

Gesetz bewachte uns, auf den Glauben/auf Christus hin

Glaube kam, wurde offenbart, mit dem Kommen Christi

Eine zentrale soteriologische Aussage formuliert 4,4: Christus wurde „dem Gesetz unterstellt“, damit er die „unter dem Gesetz“ [Lebenden] loskaufe. In einer exemplarischen Ich-Aussage formuliert 2,19: „Ich bin wegen des Gesetzes dem Gesetz gestorben, damit ich (für) Gott lebe.“ Eine auffällige – und für die paulinische Ethik wichtige – Wendung ist die Rede vom „Gesetz Christi“ in Gal 6,2. Sie macht deutlich, dass νόμος für Paulus nicht nur negativ konnotiert ist. Eine systematische Bestimmung des Verhältnisses von ‚Gesetz‘ und ‚Paränese‘ lässt sich freilich aus der polemischen Auseinandersetzung im Gal kaum gewinnen. –

Eine weitere Antithese, die Gal 4,21–31 und 5,1–12 prägt, ist die Entgegensetzung von Freiheit und Sklaverei. Diese wird zuerst in der Hagar-Sara-Allegorie vorgestellt.

376

J ÖRG F REY

4,22

zwei Söhne Abrahams

[Ismael] von der Sklavin (Hagar)

[Isaak] von der Freien (Sara)

4,23

unterschied‐ lich gezeugt

‚nach dem Fleisch‘ (= menschlichem Willen)

‚kraft der Verheißung‘ (= dem Willen Gottes)

4,24– 26

allegorische Deutung

[Hagar]: Berg Sinai: jetziges Jerusalem Knechtschaft

[Sara]: (Zion) unsere Mutter: himmlisches Jerusalem die Freie

Ziel der Darstellung ist, dass die Glaubenden Kinder der Verheißung, d. h. Kinder der Freien (4,31), also frei (vom Gesetz) sind. 5,1f. formuliert die Konsequenz im Blick auf die Forderung der Gegner mit der Antithese „zur Freiheit befreit“ – „wieder unter dem Joch der Sklaverei“. Die Übernahme der Beschneidung würde wieder die Verpflichtung auf das (ganze) Gesetz und damit die Rückkehr in die Unfreiheit mit sich bringen. –

Im paränetischen Teil formt Paulus eine weitere, für seine Anthropo‐ logie zentrale Antithese, zwischen „Geist“ und „Fleisch“. Dabei meint „Fleisch“ nicht wie im AT die geschöpfliche Hinfälligkeit des Menschen, auch nicht die körperliche oder gar sexuelle Dimension, sondern das – auch in seinen geistigsten Regungen – dem Willen Gottes entgegenge‐ setzte (und darin sündige) Streben des Menschen.

„Grundsi‐ tuation“

5,17: Fleisch und Geist stehen im Kampf gegeneinander (so dass der Mensch nicht Herr seiner selbst ist)

ethische Alternative

5,22f. Früchte des Geistes (Tugendkatalog)

5,19–21 Werke des Fleisches (Lasterkatalog)

eschatolo‐ 6,8 auf den Geist säen gische Kon‐ → ewiges Leben ernten sequenz

6,8 auf das Fleisch säen → das Verderben ernten

paräneti‐ sches Ziel

5,13 Freiheit nicht zum Vorwand (ἀφορμή) für das Fleisch 5,16.24: Begierden des Fleisches nicht vollbringen, das Fleisch mit seinen Begierden gekreuzigt haben

5,13f. Liebe (= Erfüllung des Gesetzes; Frucht des Geistes) 5,16 „im Geist leben“ 5,18 „vom Geist bewegt sein“ 5,25 „im Geist wandeln

1.4 Zur ‚rhetorischen‘ Analyse des Galaterbriefs

Rhetorik und Epistolographie: Viele Formulierungen im Gal weisen auf ein ‚Reden‘ hin (1,9; 3,15; 4,1 etc.). Dennoch ist Gal ein Brief und nicht einfach

Galaterbrief

377

eine „Rede im Briefumschlag“6. Er ist freilich derjenige unter den paulini‐ schen Briefen, für den sich am ehesten die Fruchtbarkeit der Kategorien der klassischen Rhetorik zeigen lässt. In seinem bahnbrechenden Kommentar hat Hans Dieter Betz den Gal als apologetischen Brief dem rhetorischen genus iudiciale (δικανικόν), d. h. der eine Entscheidung fordernden ‚Gerichtsrede‘, zugeordnet. Der Brief ersetzt nach dieser Auffassung die Verteidigungsrede des abwesenden Apostels: 1,1–5

briefliches Präskript

1,6–11

exordium

(Rede-)Einleitung

1,12–2,14

narratio

Darlegung der ‚Vorgeschichte‘ des Streitfalls

2,15–21

propositio

Formulierung des Themas

3,1–4,31

probatio

Beweisführung (in 6 Argumentationsgängen)

5,1–6,10

exhortatio

(streng genommen kein Element der Gerichtsrede)

6,11–18

briefliches Postskript (in der Funktion einer conclusio)

Die Diskussion um diesen Ansatz hat zugleich die Grenzen der rhetorischen Analyse der neutestamentlichen Briefe aufgezeigt. „Apologetisch“ ist nur der autobiographische Teil7, daher ordnen andere Autoren den Brief nicht der Gerichtsrede, sondern der ‚beratenden‘ Rede, dem genus deliberativum (συμβουλευτικόν), zu8. Die Paränese gehört jedoch eher in das Gebiet der Moralphilosophie als in das der Rhetorik, und in 4,12–20 begegnen Topoi des antiken Freundschaftsbriefs. Eine schematische Anwendung der Kategorien der antiken Rhetorik wird dem Gal daher kaum gerecht, zumal auch die antike Rhetorik Briefe von Reden unterscheidet. Ausgeführte ‚Regeln‘ der Epistolographie kennen wir allerdings erst aus spätantiker Zeit. So können die Kategorien der antiken Rhetorik die Funktion einzelner Briefabschnitte

6 7 8

So die These von V. Jegher-Bucher, Der Galaterbrief auf dem Hintergrund antiker Epistolographie und Rhetorik (AThANT 78), Zürich 1991, 204. H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament, Paderborn 1998, 238. G.A. Kennedy, New Testament Interpretation through Rhetorical Criticism, Chapel Hill 1984, 145–147; F. Vouga, Zur rhetorischen Gattung des Galaterbriefes, ZNW 79 (1988), 291f.

378

J ÖRG F REY

klären helfen, sie bieten aber keinen Generalschlüssel zu den paulinischen Briefen9. 2 Textentstehung 2.1 Authentizität und literarische Integrität

Die Authentizität des Gal ist heute unbestritten. Auch die literarische In‐ tegrität des Gal ist heute fast einhellig akzeptiert. Mit der Möglichkeit von Interpolationen oder einer Kompilation des Gal aus unterschiedlichen Versatzstücken rechnen nur wenige10. Dass ein ‚Sekretär‘ (ggf. als ‚Mitab‐ sender‘; vgl. 1,2) beteiligt war, legt der Eigenhändigkeitsvermerk Gal 6,11 nahe. Unsicher bleibt, welchen Einfluss ein solcher ‚Schreiber‘ auf die Ausgestaltung hatte (vgl. Röm 16,22). Dass selbst der sarkastische Ausfall in 5,12 nicht abgemildert wurde, lässt jedoch vermuten, dass kaum Retuschen erfolgten: Der Apostel verantwortet Form und Inhalt des Schreibens selbst. 2.2 Die Adressatenfrage: Landschaft oder (Südteil der) Provinz ‚Galatien‘?

Höchst umstritten ist die Bestimmung und Lokalisierung der Adressaten: Gal richtet sich anders als die übrigen echten Paulusbriefe nicht an eine Einzelgemeinde, sondern an mehrere Gemeinden in Galatia (1,2; vgl. 1 Kor 16,1), die Paulus kennt und selbst gegründet hat (1,8; 4,13f.19). Die Adressa‐ ten werden als „Galater“ (Γαλάται) angesprochen (3,1). Strittig ist jedoch, welche Adressaten in welcher Gegend damit gemeint sind11. –

Nach der Landschaftshypothese (nordgalatische Hypothese) richtet sich Gal an die Bewohner der ‚Landschaft‘ Galatien in Zentralanatolien um die Städte Ankyra (heute: Ankara), Pessinus und Tavium, die ihren Namen von den im 3. Jh. v. Chr. eingedrungenen keltischen Volksstäm‐

9

Vgl. weiter R.D. Anderson, Ancient Rhetorical Theory and Paul (CBET 18), Leuven 1999; J.S. Vos, Die Kunst der Argumentation bei Paulus (WUNT 149), Tübingen 2002; D.F. Tolmie, Persuading the Galatians. A text-centred rhetorical analysis of a Pauline letter (WUNT II/190), Tübingen 2004. Vgl. den Beitrag von Ch. Hoegen-Rohls im vorliegenden Band. So zuletzt Th. Witulski, Die Adressaten des Galaterbriefes. Untersuchungen zur Ge‐ meinde von Antiochia ad Pisidiam (FRLANT 193), Göttingen 2000, der in Gal 4,8–20 ein interpoliertes Stück sieht, das heidenchristliche Adressaten (in Südgalatien!) vom Rückfall ins Heidentum, konkret zum neu installierten Kaiserkult abwenden wollte. Dazu alle Kommentare und Einleitungen, weiter ausführlich C. Breytenbach, Paulus; J.M. Scott, Paul; Witulski, Adressaten (s. Anm. 10); F. John, Galaterbrief.

10

11

Galaterbrief

men hatte.12 Dort lebte eine wenig hellenisierte Landbevölkerung, in den wenigen Städten wohl eine Mischbevölkerung. Eine nennenswerte jüdische Diaspora ist in dieser Gegend für das 1. Jh. nicht erweisbar13. Nach Apg 16,6; 18,23 zog Paulus auf seiner sog. 2. und 3. Missionsreise durch „das galatische Land“, was sich auf diese Region beziehen könnte. Von Gemeindegründungen durch Paulus berichtet Lukas allerdings nicht. – Nach der Provinzhypothese (südgalatische Hypothese) richtet sich Gal an Bewohner der 25 v. Chr. gegründeten römischen Provincia Galatiae, die neben der Landschaft Galatien (Sitz des Statthalters war Ankyra) auch das Gebiet bis zur kleinasiatischen Südküste, d. h. Teile von Pamphylien, Pisidien, Isaurien und Lykaonien, umfasste. Dort gab es eine alte und stattliche jüdische Diaspora14. Städte aus dem Gebiet (Antiochia in Pisidien, Iconium, Lystra, Derbe, Perge) sind in Apg 13 f. als Stationen der 1. Missionsreise von Barnabas und Paulus erwähnt. Demnach haben beide dort Gemeinden gegründet und sie auf dem Rückweg nochmals besucht. Die Forschungslage ist verworren, und die Alternative ist aus den Quellen (Gal und Apg) schwer zu klären. Die Entscheidung hängt zugleich mit der historischen Beurteilung der Apg zusammen. Von Belang ist die Adressa‐ tenfrage für die Datierung des Gal und für die Bestimmung der Identität der gegnerischen Verkündiger und der Situation in den Gemeinden. Während die angelsächsische Forschung seit langem die südgalatische Hypothese

12 13

14

„Γαλάται ist eine Wechselform für Κέλτοι und bezeichnet Gallier“ (Breytenbach, Paulus, 149). Die datierbaren jüdischen Grabsteine in Galatien entstammen erst dem 5./6. Jh., (s. W. Ameling, Inscriptiones Judaicae Orientis II: Kleinasien [TSAJ 99], Tübingen 2004, 335–341), eine vielleicht jüdische Inschrift dem 3. Jh. n. Chr. (Breytenbach, Paulus, 145). Die Landschaft lag zur Zeit der Anfänge der jüdischen Diaspora Kleinasiens (3. Jh. v. Chr.) außerhalb des seleukidischen Reichs als ein unhellenisiertes, von keltischen Stämmen beherrschtes Gebiet (Breytenbach, Paulus, 146). Vgl. Apg 13,14 und 14,1 (Synagogen in Antiochien in Pisidien und Iconium); 16,1.3; weiter 1 Makk 15,23; Philo, Legatio ad Gaium 281 und die Liste Apg 2,10 sowie einige schwer datierbare Inschriften; vgl. E. Schürer/G. Vermes/F. Millar, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ, 3/1, Edinburgh 1986, 30–34; P. Trebilco, Jewish Communities in Asia Minor (MSSNTS 69), Cambridge 1991; Ameling, Inscriptiones (Anm. 13), 449–469.

379

380

J ÖRG F REY

favorisiert15, hat sich die deutsche Forschung weithin der nordgalatischen angeschlossen16, doch mehren sich neuerdings auch hier Befürworter der Provinzhypothese17. Hinter der Option für die ‚Landschaft‘ stand oft auch die Skepsis gegenüber dem historischen Wert der Apg, umgekehrt gerie‐ ten Vertreter der Provinzhypothese in den ‚Verdacht‘, sie wollten Paulus unkritisch mit der Apg ‚harmonisieren‘. Letztlich müssen beide Hypothesen Angaben der Apg verwenden. Wenn man jedoch die 1. Missionsreise Apg 13–14 (u. a. weil Paulus sie in Gal 1,21 nicht erwähnt) für eine lukanische Erfindung hält, scheiden die Gemeinden an der Südküste Kleinasiens aus. Da jedoch Gal 1 primär am Verhältnis zu Jerusalem interessiert ist und man für diesen ‚autobiographischen‘ Bericht keine Vollständigkeit der Aufzählung erwarten kann18, „reicht dieser Befund nicht hin, um die Historizität jener missionarischen Tätigkeit auszuschließen“19. Eine Entscheidung zugunsten der ‚Landschaft‘ und gegen die ‚Provinz‘ (bzw. ihre südlichen Gebiete) ist daher aus der Kritik der Apg nicht zu gewinnen.

15 16

17

18 19

Grundlegend W. Ramsay, A Historical Commentary on St. Paul’s Epistle to the Galati‐ ans, London 1899. Vgl. die ausführliche Argumentation bei R.N. Longenecker, Galatians, lxi–lxxii. So die Einleitungen von Kümmel (Anm. 21), Vielhauer (Anm. 37) und Schnelle (Anm. 36) etwas vorsichtiger Broer (Anm. 39), sowie die Kommentare von Schlier, Brief; Betz, Galatians; F. Mußner, Galaterbrief; D. Lührmann, Brief; J. Becker, Briefe; und F. Vouga, Galater; die Monographie von U. Borse, Standort, sowie D.A. Koch, Geschichte des Urchristentums, 2. Aufl., Göttingen 2014, 296-301. S. die Monographien von Breytenbach, Paulus; Scott, Paul; Witulski, Adressaten, und Schäfer, Paulus; außerdem C. Hemer, The Book of Acts in the Setting of Hellenistic History (WUNT 49), Tübingen 1989, 277–307; R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Pau‐ lus (WUNT 71), Tübingen 1994, 243–259; F. John, Galaterbrief; D. Sänger, Die Adresse des Galaterbriefs, in: ders., Schrift – Tradition – Evangelium. Neukirchen-Vluyn 2016, 229-274, sowie M. Öhler, Geschichte des frühen Christentums, Göttingen 2018, 226f. J. Jervell, Die Apostelgeschichte (KEK 3), Göttingen 1998, 343. G. Lüdemann, Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelgeschichte, Göttingen 1987, 164; vgl. Jervell, Apostelgeschichte (Anm. 18), 342 f.; M. Hengel/A.M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (WUNT 108), 395; vgl. ausführ‐ lich Breytenbach, Paulus, 5–93; Riesner, Frühzeit (Anm. 17), 254–259.

Galaterbrief

381

Für die Landschaftshypothese (a) werden Gründe angeführt – die z. T. auch umkehrbar sind: + Seit den Kirchenvätern (Ambrosiaster, 4. Jh.) wurde Gal mit der Landschaft Galatien (bzw. den Apg 16,6 und 18,23 genannten Gemeinden) verbunden.

– doch setzen diese Notizen spätere Neuordnungen der römischen Provin‐ zen voraus20 und beweisen wenig für die Zeit des Paulus.

+ Paulus erwähnt in seinem autobiogra‐ – Aber musste er so formulieren? Das phischen Bericht in 1,21 nicht, dass er Argument berücksichtigt die spezifi‐ die Adressaten in dem fraglichen Zeit‐ schen Interessen von Gal 1 zu wenig. raum besucht hat. Wären die südgalati‐ schen Städte gemeint, hätte Paulus for‐ mulieren können: „dann kam ich nach Syrien, Kilikien und zu euch“21. + Paulus betont mehrfach, dass er die angeredeten Gemeinden gegründet, ja ‚geboren‘ (4,19) hat. Müsste er nicht Barnabas mit erwähnen, wenn die in Apg 13 f. genannten Gemeinden ange‐ redet wären?

– Barnabas wird in Gal 2 immerhin drei‐ mal erwähnt (Vv.1.9.13), was eine Bezie‐ hung der angesprochenen Gemeinden zu Barnabas (gemäß Apg 13 f.) durchaus nahe legt.

+ Bei Lukas heißen die südlichen Ge‐ – Aber trifft dies auch für Paulus zu, der biete der Provinz Galatien Pisidien und meist die Bezeichnungen der Provinzen Lykaonien (Apg 13,14; 14,6.11.24), als gebraucht? das ‚galatische Land‘ bezeichnet Lukas nördlichere Landstriche22. + Lange wurde behauptet, der Gebrauch – Doch existieren durchaus Belege für von Γαλατία für die südlichen Landstri‐ die literarische und offizielle Verwen‐ che sei zu jener Zeit ‚unüblich‘. dung von Γαλατία für die ganze Pro‐ vinz und deren Bewohner zur Zeit des Paulus23. Der Sprachgebrauch ist kein zwingendes Argument mehr dagegen, dass die verschiedenen Ethnien zugehö‐

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Schon 74 n. Chr. wurde Pisidien von Galatia abgetrennt; 297 n. Chr. wurde eine neue Provinz Pisidia mit der Hauptstadt Antiochia geschaffen, die das ganze südgalatische Gebiet umfasste, so dass die Provinz Galatia wirklich auf die Landschaft in Zentralana‐ tolien beschränkt war. Vgl. Longenecker, Galatians, lxiii; Breytenbach, Paulus, 99. So W.G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 211983, 259. Vgl. Apg 16,6; 18,23. Worauf sich 1 Petr 1,1 und 2 Tim 4,10 beziehen, bleibt unklar (vgl. Schlier, Brief, 16). Hemer, Book (Anm. 17), 290–307; Scott, Paul, 192 f.; Breytenbach, Paulus, 149–152; Witulski, Adressaten, 17–23; Schäfer, Paulus, 312f.

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rigen Provinzbewohner zusammen als Γαλάται angeredet werden konnten24. + Als stärkstes Argument wird ange‐ führt, es sei „undenkbar …, dass Paulus 3,1 etwa Pisidier oder Lykaonier als ‚dumme Galater‘ angeredet hätte“25.

– Doch liegt die größte Schärfe in dem Adjektiv ἀνόητος. Im Übrigen ist kaum zu erwarten, dass Paulus in einem so po‐ lemischen Schreiben auf ‚political cor‐ rectness‘ geachtet hätte. Das Argument ist daher schwach.

Deshalb verdienen einige Argumente für die Provinzhypothese (b) erneut Beachtung: + Paulus benützt gewöhnlich römische Provinznamen. Landschaftsbezeichnun‐ gen gebraucht er nur für Gebiete im Osten wie Arabia und Judäa (Gal 1,17.22; 1 Thess 2,14)26 sowie ‚Spania‘ im Westen (Röm 15,24). Alle anderen Namen sind auf Verwaltungseinheiten zu beziehen. + Von den „Gemeinden Galatiens“ redet Paulus auch in 1 Kor 16,1 (in einem Kontext, in dem er sonst nur Provinznamen gebraucht), im Bezug auf die Anord‐ nung der Kollekte für Jerusalem. Nach Apg 20,4 war unter den Überbringern der Kollekte ein Bote der Gemeinden im südlichen Galatien, Gaius aus Derbe. Auch das spricht für die südliche Region. + In der Apg fehlt jeder klare Hinweis auf ein missionarisches Wirken des Paulus in der Landschaft Galatien. Die Formulierungen in Apg 16,6–8 und 18,23 dürften zudem nicht genau dasselbe Gebiet meinen, sondern unterschiedliche Reisewege voraussetzen. Nur in Apg 16,6 ist vorausgesetzt, dass Paulus die nördlichen Landstriche durchzog. Apg 18,23 könnte sich auch auf die südlichen Gebiete beziehen27. + Eine pln. Missionstätigkeit in der Landschaft Galatien widerspräche der Missi‐ onsstrategie, nach der Paulus üblicherweise in größeren Städten wirkte und diese als ‚Stützpunkt‘ nutzte28. + Wenn die Adressaten nicht nur Heidenchristen waren, sondern – wie Gal 3,27f. vorauszusetzen scheint – eine aus Juden- und Heidenchristen ‚gemischte‘, mehr‐ heitlich heidenchristliche Gemeinde, dann ist dies in den Städten an der Küste eher anzunehmen als im Norden, wo es kaum jüdische Gemeinden gab. Zugleich ist die Aktivität judenchristlicher Missionare zur

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Breytenbach, Paulus, 152–155, will in den Γαλάται keltischstämmige Bewohner in Südgalatien sehen. H. Hübner, Art. Galaterbrief, TRE 12 (1984), 5–14 (6); ähnlich Kümmel, Einleitung (Anm. 21), 259. ‚Arabia‘ bezeichnet das Nabatäergebiet außerhalb des römischen Reiches; Judäa war Teil der Provinz Syrien. Schäfer, Paulus, 302f. Riesner, Frühzeit (Anm. 17), 252.

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Beeinflussung der pln. Gemeinden in ihrem Sinne dort eher plausibel, wo es Synagogen gab und die Beziehungen zum Mutterland (Jerusalem) relativ eng waren. + Die häufige Erwähnung des Barnabas in Gal 2 (Vv.1.9.13) erklärt sich, wenn die Adressaten diesen als Missionar kannten. – Zwar nennt Paulus ihn nicht als Mitgründer der Gemeinde, aber auch das ließe sich aus der Situation des Briefes erklären, in dem Paulus um ‚sein‘ Evangelium kämpft. Außerdem liegt die Trennung von Barnabas schon längere Zeit zurück. + Wenn Paulus in seinen geographischen Vorstellungen (Röm 15,19) von frühjü‐ dischen Traditionen (der Völkertafel) bestimmt ist, dann ist es interessant, dass Josephus (Ant. I,123–126) den Japhet-Sohn Gomer mit dem ‚Volk‘ der Galater und südliche Teile der Provinz (Paphlagonien) mit den Söhnen Gomers verbindet29. Dies zeigt, wie aus jüdischer Perspektive die Ethnien der Provinz ‚genealogisch‘ eingegliedert werden konnten. So wird das Argument, mit Γαλάται könnten nur die keltischen Bewohner der Landschaft gemeint sein, hinfällig30.

Insgesamt scheint in der Forschung die Tendenz zugunsten einer Lokali‐ sierung der Adressaten in den Missionsgebieten an der kleinasiatischen Südküste zu wachsen31. Diese sind eher in den Gebieten um Antiochia in Pisidien, Iconium etc. zu suchen, wo mehrheitlich heidenchristliche Gemeinden mit einem gewissen judenchristlichen Anteil neben einer selbst‐ bewussten jüdischen Diaspora existierten. Deren Gründung geht auf die von Antiochien aus organisierte Mission durch Barnabas und Paulus vor dem ‚Apostelkonzil‘ zurück. 2.3 Zeit und Ort der Abfassung

Explizite Hinweise zur Datierung und zum Abfassungsort enthält Gal nicht. Die Ansetzung ist vielmehr von drei Faktoren abhängig: a) der Entscheidung in der Adressatenfrage 32, b) der Synchronisierung mit Apg v. a. hinsichtlich der Jerusalemreisen des Paulus und c) Indizien zur relativen Reihenfolge der pln. Briefe. In der Forschung werden nahezu alle Varianten von einer extremen Frühdatierung vor dem Apostelkonzil (vor 48/49 n. Chr.) bis zu

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Scott, Paul, 214f. Riesner, Frühzeit (Anm. 17), 256. Vgl. auch Schäfer, Paulus, 314f. Mit den Untersuchungen von Hemer, Book (Anm. 17); Riesner, Frühzeit (Anm. 17); Scott, Paul, und Breytenbach, Paulus, scheint nach Hengel/Schwemer, Paulus (Anm. 19), 395 Anm. 1634, sogar „die alte Streitfrage … endgültig erledigt zu sein“. Eine Datierung vor der 2. Missionsreise (Apg 16,6) ist nur auf der Basis der Provinzhy‐ pothese möglich, umgekehrt lässt sich diese durchaus mit einer späteren Abfassung des Gal kombinieren.

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einer Spätdatierung nach dem Römerbrief (57 n. Chr.) vertreten. Die höchste Plausibilität können Ansetzungen des Gal vor 1 Kor, zwischen 1 Kor und 2 Kor oder – in der deutschen Forschung derzeit am beliebtesten – nach 2 Kor, aber vor Röm beanspruchen. – Textliche Indizien: Keine auswertbaren Indizien bieten Gal 1,6 und 4,13. Dass die Galater sich „so bald“ (1,6) vom paulinischen Evangelium abkehren, lässt sich nicht für eine Frühdatierung anführen, und τὸ πρότερον (4,13) kann „zuerst“ oder „zum ersten Mal“ bedeuten, so dass nicht zu klären ist, ob Paulus die Gemeinden erst einmal oder schon zweimal besucht hat. – Die Synchronisation mit Apg: Wenn das Ereignis von Gal 2,1–10 mit dem in Apg 15 erzählten zu identifizieren ist – wofür die grundlegenden Übereinstimmungen – nach wie vor sprechen –, dann ist Gal nach diesem, d. h. nach 48 n. Chr. verfasst. Nur im Fall einer Identifikation der Reise von Gal 2,1–10 mit der in Apg 11,27–30 erwähnten Jerusalemreise des Paulus und Barna‐ bas33 wäre eine frühere Ansetzung denkbar. Wenn der ‚antiochenische Zwischenfall‘ (Gal 2,11ff.) sehr bald nach dem ‚Apostelkonzil‘ stattfand, könnte Gal noch vor 1 Thess verfasst, also der älteste Paulusbrief sein34. Doch spricht manches dafür, dieses Ereignis erst später, d. h. nach der 2. Missionsreise anzusetzen35. Dann käme als Zeitraum der Abfassung des Gal die 3. Missionsreise, d. h. (frühestens) der Aufenthalt in Ephesus (ab 52 n. Chr.) oder die Zeit in Makedonien und Achaia (55/56 n. Chr.) in Frage. Zu klären bleibt das relative Verhältnis zu 1/2 Kor und Röm. Als Argumente dienen können die Notizen über die Kollekte für Jerusalem und die themati‐ sche Nähe (und Differenz) zu Röm. –

Die Kollektennotizen: Die Kollekte wird in 1 Kor 16,1ff. erwähnt, 2 Kor 8–9 treibt sie voran, und Röm 15,25–27 berichtet ihre Vollendung in

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Dies wurde gerne von konservativen Forschern wie dem Erlanger Th. Zahn vertreten, aber keineswegs nur von solchen. Vgl. zuletzt Schäfer, Paulus, die in Gal 2,1–10 einen ersten ‚Apostelkonvent‘ vor dem späteren, in Apg 15 berichteten ‚Apostelkonzil‘ sehen will, den Gal aber dennoch spät datiert. So (unter Voraussetzung der Provinzhypothese) die Vermutung bei Breytenbach, Paulus, 172. Hengel/Schwemer, Paulus (Anm. 19), 329 f.; A.J.M. Wedderburn, A History of the First Christians, Edinburgh 2003, 98f.

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Mazedonien und Achaja. Nach 1 Kor 16,1 hat Paulus auch in Galatien die Kollekte angeordnet. Zu fragen ist dann, was Gal 2,10 („was ich mich bemüht habe zu tun“) in diesem Rahmen bedeutet. Versteht man die Bemerkung in dem Sinn, dass die Kollekte in Galatien zur Zeit des Gal schon abgeschlossen war, dann führt dies zu einer Datierung nach dem 2 Kor36. Geht es nur um die seinerzeit bekundete Bereitschaft, die Sammlung durchzuführen, dann könnte Gal auch vor 1 Kor verfasst sein37. Die Frage ist kaum zu entscheiden, da letztlich unsicher bleibt, ob die Galater sich an der Kollekte beteiligt haben. In Röm 15,25–27 sind sie nicht erwähnt38. Ob der Konflikt ihre Bereitschaft beeinträchtigt hat oder ob die Sammlung zu dieser Zeit schon beendet war, bleibt unklar. Allerdings scheint 1 Kor 16,1 eher unberührt von den im Gal thematisierten Konflikten. Aber auch dies spricht nicht für eine spätere Datierung des Gal: Paulus könnte lediglich keinen Anlass gesehen haben, die galatischen Konflikte gegenüber den Korinthern zu thema‐ tisieren. Die Kollektennotizen bieten daher keinen sicheren Grund für eine Datierung des Gal. – Häufiger wird das thematisch-theologiegeschichtliche Argument bemüht: Zwischen Gal und Röm bestehen in der Thematik der Gesetzes- und Rechtfertigungslehre sowie in einzelnen Gedanken und Motiven enge Analogien39. Die Darlegung im Röm erscheint abgeklärter und thema‐ tisch noch erweitert. Daraus ergibt sich eine Ansetzung vor dem Röm40. Die Frage bleibt, ob damit auch eine enge zeitliche Nähe zum Röm, d. h.

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J. Rohde, Der Brief des Paulus an die Galater (ThHK 9), Berlin 1989, 94; U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 52005, 113 f.; Th. Söding, Zur Chronologie der paulinischen Briefe, in: ders., Das Wort vom Kreuz (WUNT 93), Tübingen 1997, 3–30 (29); Schäfer, Paulus, 25f. So H. Lietzmann, Galater, 28; G. Bornkamm, Paulus, Stuttgart 1969, 245; P. Vielhauer, Die Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin/New York 1975, 110 f. D. Georgi, Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem, Hamburg-Bergstedt 1965, 30 ff.; J.L. Martyn, Galatians, 222–228. Immerhin ist eine Gemeinde aus (Süd-)Galatien in Apg 20,4 als Begleiter des Paulus erwähnt. Grundlegend Borse, Standort; Schnelle, Einleitung (Anm. 36), 112 f.; I. Broer, Einleitung in das Neue Testament, 2 Bde. (NEB Ergänzungsband), Würzburg 1998.2001, 442 f.; Klauck, Briefliteratur (Anm. 7), 236; auch die Kommentare von Mußner, Galaterbrief, 9 f.; Rohde, Brief, 10 ff.; Borse, Brief, 9–17; Becker, Briefe, 14–16. Anders Vouga, Galater, 3–5.11, der im Gal die Zusammenfassung der Gedanken von 1/2 Kor und Röm sieht, s. F. Vouga, Der Galaterbrief: kein Brief an die Galater, in: K. Backhaus (Hg.), Schrift und Tradition, Festschrift J. Ernst, Paderborn 1996, 243–258.

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eine Ansetzung nach 1/2 Kor41 gefolgert werde kann. Dann wäre Gal um 55/56 n. Chr. in Makedonien oder Korinth entstanden. Allerdings bestehen beträchtliche Unsicherheiten: Die sachlichen Differen‐ zen zwischen Gal und Röm sind nicht zu unterschätzen, so dass aus der thematischen Nähe nicht zwingend eine zeitliche folgt. Wenn dann aus der späten Ansetzung des Gal auch eine theologische ‚Entwicklung‘ des Paulus gefolgert wird, fügt sich die Argumentation meist zu einem Zirkel. Die entscheidende Frage ist, ob Paulus seine Rechtfertigungsverkündigung erst in dieser Zeit und aus Anlass der galatischen Krise entwickelt und ausfor‐ muliert hat. Die Gründe dafür, dass diese bereits in seiner früheren Tätigkeit zumindest angelegt war und theologisch reflektiert werden konnte, sind jedoch gewichtig42, und auch in 1/2 Kor finden sich trotz ganz anderer Gemeindeprobleme Ansätze rechtfertigungstheologischen Denkens43. Die Last der Begründung einer späten Ansetzung des Gal kann das theologie‐ geschichtliche Argument nicht tragen. Eine präzisere Datierung des Gal innerhalb des Zeitraums von 50–55/6 n. Chr. und im Verhältnis zu 1/2 Kor und Röm ist nicht zu begründen44. 2.4 Die Situation der Adressatengemeinden

Die Kommunikationssituation lässt sich nur aus dem Brief erheben. Ihre Rekonstruktion setzt voraus, dass Paulus über die Situation zutreffend informiert war, sie steht unter dem Vorbehalt, dass seine polemische Argu‐ mentation die Position der Gegner kaum unverzerrt wiedergibt. Es liegt ein ‚Dreiecksverhältnis‘ vor: Paulus schreibt an Gemeinden, die von anderen Missionaren beeinflusst werden und sich deren Botschaft geöffnet haben (1,6–9; 4,9.17.21; 5,4; 6,12f.). Mit diesen argumentiert Paulus nur indirekt,

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Wenn man in 2 Kor und Phil mit Briefteilungen rechnet, könnten Teile beider Briefe in zeitlicher Nähe zum Gal angesetzt werden (Borse, Brief, 15f.: Gal nach 2 Kor 1–9 und vor 2 Kor 10–13), doch ist die Annahme von Teilungen aus solchen thematischen Gründen zirkulär und damit problematisch. Kritisch gegen eine solche Spätdatierung äußern sich u. a. Vielhauer, Geschichte (Anm. 37), 111; vgl. ausführlich S. Kim, The Origin of Paul’s Gospel (WUNT II/4), Tübingen 1981; Chr. Dietzfelbinger, Die Berufung des Paulus (WMANT 58), Neukirchen-Vluyn 1985, 115 f.; F. Hahn, Gibt es eine Entwicklung in den Aussagen über die Rechtfertigung bei Paulus?, EvTh 53 (1993), 342–366; Hengel/Schwemer, Paulus (Anm. 19), 453–461. Vgl. etwa 1 Kor 4,1–5; 9,20–23 und die – von Vertretern der Entwicklungsthese gerne als Glosse ausgeschiedene – Bemerkung 1 Kor 15,56. So auch Betz, Galatians, 12 (dt. Ausg.: 51).

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mit ihnen kennt er keine Gemeinschaft, auf sie ist vielmehr das „Anathema“, der eschatologische Fluch 1,9, gemünzt. Die Gegner fordern die Beschneidung der zum Christusglauben gelangten Heiden (6,12f.; vgl. 5,1–12 u. ö.), damit verbunden ist – wenigstens in gewis‐ sem Grad45 – die Observanz der Tora (4,21), die die Einhaltung von Speise- und Reinheitsvorschriften (2,11–16; vgl. Apg 15,20.29), eines kultischen Festka‐ lenders („Kalenderfrömmigkeit“: 4,10) sowie weiterer ethischer Forderungen beinhaltete. Dahinter steht eine Theologie, die eine Zugehörigkeit zum Bun‐ desvolk und die Teilhabe an den Verheißungen Gottes ausschließlich durch die Beschneidung (d. h. das Jüdisch-Sein bzw. Proselyt-Werden) ermöglicht sieht. „Sohn Abrahams“ wird, wer sich wie jener beschneiden lässt. Die Tora ist die von Gott gegebene Lebensordnung Israels, sie zu beachten ist Ausdruck und notwendiges Implikat der Zugehörigkeit zu diesem Bund. So werden Heidenchristen durch Beschneidung nach dem Muster der jüdischen Proselyten dem Gottesvolk kooptiert. Aus einer verbreiteten jüdischen Sichtweise (vgl. auch Apg 15,1f.) ließ sich nur unter dieser Voraussetzung die Öffnung für Nichtjuden praktizieren. Mit dieser Sichtweise ist jedoch die Legitimität der von Paulus praktizierten beschneidungsfreien Heidenmission grundlegend bestritten – was für Paulus im Widerspruch zu den Absprachen mit den Jerusalemer ‚Säulen‘ steht. Die Gegner waren sicher hellenistische (d. h. Griechisch sprechende) Ju‐ denchristen (oder beschnittene, d. h. Proselyten gewordene, ehemals pagane Jesusanhänger), nicht einfach nicht-christusgläubige Juden.46 Solche hätten die Gemeinden wohl kaum so beeindrucken können. Diese Gegenmissio‐ nare sahen keine Spannung, sondern einen notwendigen Zusammenhang zwischen dem Glauben an Jesus und der Verpflichtung auf Beschneidung und Gesetz (vgl. eine ähnliche Position in Mt 5,17ff.). Vermutlich beriefen sie sich auf die Autorität der Jerusalemer Urgemeinde, von deren Position sich Paulus nach ihrer Ansicht entfernt hatte. Sie bestritten damit auch den vollen ‚apostolischen‘ Rang des Paulus, z. B. im Vergleich mit Petrus, und untergruben so seine Autorität. Dass ihre Predigt und Theologie 45 46

Dass die Adressaten verpflichtet wären, das ganze Gesetz zu halten (5,3), ist paulinische Interpretation. Es ist unwahrscheinlich, dass die Gegner eine so kompromisslose Forderung stellten. Gal 6,13 spricht dagegen. So aber M. Nanos, The Irony of Galatians, Minneapolis 2002, 281–283. Dem steht definitiv die Aussage entgegen, dass die Gegner ein „Evangelium“ verkünden (1,6), ebenso der Vorwurf, dass sie der Verfolgung um des Kreuzes Christi willen entgehen wollten (6,12).

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ein „anderes Evangelium“ (und d. h. kein Evangelium) sei, ist paulinische Wahrnehmung – die Missionare sahen sich selbst wohl als Vermittler der vollen Konsequenzen des Christusevangeliums für die Heidenvölker. Sie konnten Paulus vorwerfen, die von ihm gegründeten Gemeinden nicht völlig in den Heilsbund und die damit gegebene Verpflichtung einzuführen (ihnen also das ‚volle Heil‘ des Bundes vorzuenthalten), die Gnade ‚billig‘ zu machen47. Damit ist eine grundsätzliche Kritik am paulinischen Evangelium und eine letzte Infragestellung seiner bisherigen und weiter geplanten Mission gegeben. Die beispiellose Polemik der Argumentation im Gal entspricht dieser Herausforderung. Sicher stellten sich die Gegner in eine Beziehung zur Jerusalemer Urge‐ meinde48, die durch die rasche Heidenmission in der sich immer mehr zuspitzenden Lage in Judäa politisch unter einen Loyalitätsdruck gekommen war und der daher an einer „Reaktivierung jüdischen Selbstverständnisses“49 bei den heidenchristlichen Gemeinden gelegen sein musste – ggf. auch in Modifikation ihrer Haltung zu den Beschlüssen des ‚Apostelkonzils‘50. Paulus sieht sich dadurch in der Situation, dass die Absprachen mit den anderen Aposteln von den Gegnern (und ihren Hintermännern) in Frage gestellt wurden – und unter dem Vorzeichen ihrer Position wäre die von ihm betriebene universale Mission unmöglich, die Frucht seines Wirkens wäre zunichte gemacht. Doch geht es nicht nur um die Person oder gar die ‚Ehre‘ des Paulus, sondern um entscheidende theologische Sachfragen, „die sachgemäße Erfassung der Heilstat Gottes in Christus“51. Deshalb ist der Konflikt nicht nur missionsstrategisch oder kulturanthropologisch (als Streit um ‚honor and shame‘), sondern theologisch zu durchdenken.

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Die Erfolge der urchristlichen Mission, gerade unter ‚Gottesfürchtigen‘, die den letzten Schritt des Übertritts zum Judentum, die Beschneidung, bislang gescheut hatten, lassen solche Gedanken nachvollziehbar werden. Eine spezifische Verbindung zu Jakobus oder gar zu Petrus lässt sich jedoch nicht erkennen. So U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003, 299. Auch das bei Lukas überlieferte Aposteldekret (Apg 15,29) scheint solchen Modifikati‐ onsbestrebungen zu entstammen. Vgl. dazu J. Wehnert, Die Reinheit des ‚christlichen Gottesvolkes‘ aus Juden und Heiden (FRLANT 173), Göttingen 1997. Schnelle, Paulus (Anm. 49), 300.

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3 Probleme der Interpretation 3.1 Linien der Argumentation

Nirgendwo unterstreicht Paulus die Autorität seines Apostelamts so nach‐ drücklich wie im Eingang des Gal. Sein Amt ist nicht menschlichen Ursprungs oder durch menschliche Vermittlung übertragen, sondern un‐ mittelbar durch Christus und Gott (1,1). Auch ‚sein‘ Evangelium (wie er es gepredigt hat, wie es die Galater angenommen haben und wie es im Folgenden entfaltet wird)52 gründet in göttlicher Offenbarung (1,11f.), so dass selbst himmlische Mächte nicht befugt wären, es zu ändern (1,8). Nicht nur hier erhebt Paulus den Anspruch, dass das Evangelium, wie er es verkündigt hat, Maßstab für jede weitere Verkündigung sei (vgl. 1 Kor 3,10). An diesem Anspruch scheiden sich die Geister. Dabei geht es sachlich um die Frage, ob Rettung (1,4) bzw. ‚Rechtfertigung‘ (2,16) durch Christus allein geschieht oder ob noch andere Elemente (‚Beschneidung‘, ‚Gesetzeserfüllung‘, ethische Bewährung) hinzukommen müssen (so dass ohne sie die Rettung unvollkommen oder gar unwirksam wäre). Wo man dies meint, bleibt Gottes Heilstat in Christus in ihrer wirklichen Tragweite unverstanden. In dieser theologischen Konsequenz ist die reformatorische Paulusauslegung (Luther, Calvin) im Recht, auch wenn sie in Teilen (wie etwa ihrem Bild des Judentums)53 zu korrigieren ist. Der ‚autobiographische‘ Abschnitt 1,11–2,21 dient dem Erweis der gött‐ lichen Autorität und normativen Gültigkeit der paulinischen (für Heiden beschneidungs- und gesetzesfreien) Evangeliumsverkündigung und ihrer Unabhängigkeit von allen menschlichen Instanzen. Der Abschnitt ist daher alles andere als ein ‚tendenzfreier‘ historischer Bericht54. Vielmehr sind alle Elemente auf Thema und Situation des Briefs bezogen und in die Argumentation eingebettet.

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Die Kontinuität, die in 1,8f. betont wird, lässt die Annahme als problematisch erschei‐ nen, dass Paulus im Gal eine erst neu in Anbetracht der galatischen Krise entwickelte Position hinsichtlich des Gesetzes vertrete. Zur Diskussion um die sog. ‚neue Paulusperspektive‘ s. den Beitrag von J. Frey, Das Judentum des Paulus, im vorliegenden Band. Dies ist bedeutsam in Anbetracht der Unterschiede zum Bericht der Apostelgeschichte (z. B. in der Zahl der Jerusalemreisen des Paulus und im Bericht über das Aposteltreffen Apg 15). Es wäre kaum sachgemäß, Gal 1–2 historisch der Apg grundsätzlich vorzuzie‐ hen. Beide Zeugnisse sind kritisch im Zusammenhang zu interpretieren.

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Für die Unabhängigkeit des paulinischen Evangeliums, das nicht aus Tradition „übernommen“ oder „gelernt“, sondern von Gott „offenbart“ (1,12.16) ist, werden als Gründe angeführt: –





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Seine Lebenswende vom Eiferer für die ‚väterlichen Satzungen‘ (Tora) und vom Verfolger zum Verkündiger ist eine menschlich unvorbereitete Tat Gottes55. Es handelt sich um eine Berufung, die allein in Gottes Ratschluss gründet (1,15; in Analogie zu Propheten: Jer 1,5; Jes 49,1). Paulus ist (von Gott) berufener Apostel (Röm 1,1). Nach der Berufung folgte er „sofort“ nicht menschlichem Rat (1,16), er setzte sich nicht ins Benehmen mit den ‚Aposteln vor ihm‘ (V.17), sondern begann eine eigenständige Verkündigung, erst in „Arabien“ (dem Nabatäerreich), dann in „Syrien und Kilikien“ (der Region um Tarsus bzw. um Antiochien)56. Sein erster Besuch in Jerusalem57 erfolgte erst nach 3 Jahren, war nur kurz und führte ihn lediglich zur Bekanntschaft mit Petrus und Jakobus. Die Gemeinden in Judäa kannten ihn nicht und hatten nur von seiner Lebenswende gehört (1,22f.). Paulus ist also unabhängig von den Aposteln und der Urgemeinde in Jerusalem. D.h. auch, sein Evangelium ist nicht anhand eines von dort her bezogenen Maßstabs zu ‚korrigieren‘ oder zu ‚ergänzen‘. Im Übrigen weiß Paulus sich in seiner Verkündigung eins mit den anderen Aposteln (1 Kor 15,11). Der Bericht vom Aposteltreffen in Jerusalem (dessen Verhältnis zu Apg 15 historisch komplex ist) will dies auch in der strittigen Frage der Beschneidungsforderung erhärten: Die Jerusalemer ‚Geltenden‘ haben den Apostolat des Paulus und seine Sendung zu den Heiden als von Gott gewirkt anerkannt (2,7–9). Selbst der unbeschnittene Heidenchrist Titus, den Paulus zu ‚Demons‐ trationszwecken‘ mitnahm, wurde von den Jerusalemern nicht genötigt,

Der vorchristliche Paulus kannte keine Bedrückung unter der ‚Last‘ des Gesetzes, hegte keine Zweifel an der Notwendigkeit seiner genauen Befolgung und kein Wissen um seine Unerfüllbarkeit. Er ist sicher nicht am Gesetz ‚verzweifelt‘ (vgl. Phil 3,4–6), und seine Lebenswende ist auch keine menschliche ‚Entscheidung‘. All diese Kategorien sind hier unangebracht. Paulus war eigenständiger Missionar, bevor er in die Dienste der antiochenischen Gemeinde trat (Apg 13,2). Paulus meint natürlich: seit seiner Berufung. Dass Paulus zuvor zum pharisäischen Tora-Studium in Jerusalem war (Apg 22,3), sollte man aufgrund dieser Notiz nicht bestreiten.

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sich beschneiden zu lassen. Paulus sieht darin auch seine Praxis der beschneidungsfreien Mission anerkannt. – Die einzige Auflage, die Paulus akzeptiert, ist die Bitte, sich der Armen (d. h. der verarmten Urgemeinde) anzunehmen – was er in seinem Kollektenwerk dann auch energisch begann. Die praktischen Probleme der Gemeinschaft von Juden- und Heidenchristen scheinen beim Aposteltreffen nicht gelöst worden zu sein. Sie zeigten sich erst im Nachhinein in Fragen des Umgangs mit den Reinheits- und Speisegeboten, an die sich Judenchristen nach wie vor gebunden fühlten. Die Praxis der mehrheitlich heidenchristlichen Gemeinde in Antiochien scheint zunächst die ‚liberale‘ Handhabung, d. h. Aufweichung der Schran‐ ken zugunsten der Mahlgemeinschaft aller gewesen zu sein (ohne dass Heidenchristen besondere Rücksichtnahme auferlegt wurde58). Die aus Furcht vor den Besuchern aus Jerusalem erfolgte Preisgabe der Tischge‐ meinschaft durch Petrus und andere Judenchristen musste ihre vorherige Praxis als unrechtmäßig erscheinen lassen (2,18) und die Heidenchristen nicht nur brüskieren, sondern deren Zugehörigkeit zum Heil letztlich in Frage stellen. Deshalb steht für Paulus die „Wahrheit des Evangeliums“ auf dem Spiel. So dient der Vorfall zum Exempel, mit dem Paulus zugleich das Problem thematisiert, dass die Galater mit der von den ‚Judaisten‘ geforderten Beschneidung ebenfalls unter das Gesetz zurückkehren und damit ihre bisher praktizierte Freiheit als falsch verwerfen würden. Sowohl beim Antiochenischen Zwischenfall als auch jetzt in Galatien geht es daher grundsätzlich um die ‚Rechtfertigung‘ aus Glauben, nicht aus „Werken des Gesetzes“. Ausgehend von dem biblischen Grundsatz, dass „kein Mensch“ vor Gott „gerecht“ ist (Ps 142,2b LXX) formuliert Paulus, dass dies (auch) angesichts der Erfüllung der Vorschriften des Gesetzes („aus Werken des Gesetzes“) gilt (2,16). Mit dieser – nach Paulus auch für Judenchristen (wie ihn selbst und Petrus) – grundlegenden Einsicht ist die soteriologische Qualität des mosaischen Gesetzes bzw. der soteriologische Wert der Erfüllung seiner Vorschriften grundsätzlich bestritten. Unter Verweis auf die Selbsthingabe 58

Solche Rücksichtnahme auf die Juden(christen) fordert dann das in Apg 15,20.29 (vgl. 21,25) in den Kontext des ‚Apostelkonzils‘ gesetzte, wohl aus Jerusalemer Tradition stammende ‚Aposteldekret‘, das Halakhot für Heiden (bzw. nach Lev 17 f. für die in Israel lebenden ‚Fremdlinge‘) in Anlehnung an die Noachidischen Gebote (Gen 9,4) formuliert.

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Christi in seinem Kreuz (2,20) und die soteriologische Rede vom Mitgestor‐ bensein formuliert Paulus im exemplarischen Ich-Stil ein doppeltes Prinzip des neuen Lebens in Christus (2,19): – Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben – mit Christus gekreu‐ zigt – Ich lebe (für) Gott; im Glauben an den Sohn Gottes; Christus lebt in mir. Die vielschichtige, schrifttheologische und erfahrungsbezogene Argumen‐ tation ab 3,1 zielt darauf, die Galater zu überzeugen, der Beschneidungsfor‐ derung nicht nachzugeben. Paulus erinnert an … dass die Galater den Geist empfangen und seine Wirkun‐ die Erfahrung, … gen erfahren haben (3,2.5), in der Taufe der Gotteskindschaft vergewissert wurden (3,27) und in Christus um die Überwin‐ dung alter religiöser und sozialer Schranken wissen (3,28). Paulus argumen‐ tiert mit der Schrift, …

… die in Abraham den Segen für die Heiden verspricht (3,8; vgl. Gen 12,3) und diese Verheißung nicht an das Gesetz bin‐ det, sondern an den Glauben (3,6; vgl. Gen 15,6; s. auch Röm 4,3). Eine zweite, gewagt-allegorische Schriftargumentation (4,21–31) will anhand der Frauen bzw. Söhne Abrahams deutlich machen, dass die Glaubenden als Kinder Abrahams nach der Verheißung gelten können und damit zugleich nicht Knechte, sondern Freie sind.

Paulus argumen‐ tiert juristisch und zugleich ‚heilsge‐ schichtlich‘ damit, …

… dass das mosaische Gesetz erst 430 Jahre nach der Abraham gegebenen Verheißung erlassen wurde und somit jenes rechtsgültige Vermächtnis, das im Glauben zu empfangen ist, nicht auflösen oder nachträglich unter eine zusätzliche Bedingung stellen kann (3,17f.).

Paulus stellt in – vielfältiger Weise die Inferiorität und Insuffizienz des – mosaischen Geset‐ zes gegenüber der – in Christus gege‐ benen Verheißung heraus:

59

hinsichtlich seiner Vermittlung: Es wurde durch (viele) Engel gegeben59, während die Verheißung Abraham durch den einen Gott selbst gegeben wurde (3,19f.). hinsichtlich seiner Kraft: Es kann nicht lebendig machen (3,21; vgl. Röm 8,3). hinsichtlich seiner Funktion: Es soll nicht positiv ‚Ge‐ rechtigkeit‘ und Leben geben, sondern negativ, nämlich ‚alles unter der Sünde zusammenschließen‘ (3,22), d. h. die Sünde aufweisen.

Die Gabe des Gesetzes durch Engel findet sich auch in jüdischen Aussagen (Jub 1,29; Jos.Ant. XV,136; rabbinische Traditionen; vgl. Apg 7,53; Hebr 2,2), aber sie wird dort nicht pejorativ gewertet.

Galaterbrief

393

– hinsichtlich seiner Zuordnung zum Glauben: Es hatte die Aufgabe, ‚uns‘ (d. h. Israel) als ‚Zuchtmeister‘60 und Wächter „auf Christus hin“ zu bewachen (3,23f.) – in seiner zeitlichen Limitierung: Seine Funktion ist mit dem Kommen des Glaubens (bzw. Christi) beendet. Glau‐ bende sind nicht mehr unter dem ‚Zuchtmeister‘ (3,25). Das Gesetz ist also nicht ewig und unvergänglich61, sondern zeitlich begrenzt. Paulus kann das Gesetz unter die Ordnungsmächte der Welt, die ‚Elementar‐ mächte‘ (4,3 στοιχεῖα τοῦ κόσμου) zählen und in gewisser Weise den einst von den Galatern verehrten paganen Göttern parallelisieren (4,8f.). Paulus betont in radikaler Weise den Verpflichtungscharakter des Gesetzes. Den Übertreter trifft der Fluch (Gal 3,10; vgl. Dtn 27,26). Darum sind alle, die aus ‚Werken des Gesetzes‘ leben, unter dem Fluch. Eine perfekte Erfüllung der Gebote, die den nicht auf sich zöge, hält der Christ Paulus für ausgeschlossen. Alle sind Sünder (vgl. Röm 3,10ff.23). Paulus argumentiert soteriologisch mit dem Stellvertretungsmotiv: Christus nahm als Gekreuzigter den Fluch auf sich, wurde zum Verfluchten, um ‚uns‘ loszukaufen von dem Fluch des Gesetzes (3,13). Damit sind die Glaubenden vom Fluch des Gesetzes, ja vom Gesetz ‚erlöst‘ (4,5), sie sind mit Christus dem Gesetz ‚gestorben‘ (2,19).

Fazit: Eine Rückkehr unter das Gesetz würde Rückkehr unter die Knecht‐ schaft bedeuten (5,1) und zum Halten des ganzen Gesetzes verpflichten (5,3). Es wäre ein Wegwerfen der Gnade (2,21), der Verlust des in Christus gewirkten Heils (5,4). Alles wäre „vergeblich“ (2,21; 3,4; 4,11). Deshalb steht die Beschneidungsforderung der ‚Wahrheit des Evangeliums‘ diametral entgegen. Im paränetischen Teil 5,13–6,10 will Paulus dem naheliegenden Vorwurf entgegentreten, dass die Freiheit vom Gesetz die Freiheit zum Ausagieren der menschlichen, Gott entgegengesetzten ‚Begierden‘62 sei. Die Erfüllung des ganzen Gesetzes ist vielmehr im Gebot der Liebe (Lev 19,18) gegeben, und die Liebe ist zugleich die erste und bestimmende ‚Frucht des Geistes‘. Die Einzelparänesen (6,1–10: helfende Zurechtweisung, gegenseitiges Las‐ tentragen, Demut, Gutes tun) sind daher Konkretisierungen dieses Liebes‐ gebots.

60 61 62

Das Wort παιδαγωγός meint den Sklaven, der die Knaben bewacht und ggf. züchtigt, nicht Unterricht erteilt. So die verbreitete Auffassung im zeitgenössischen Judentum. ‚Begehren‘ ist zugleich eine Zusammenfassung der Dekalog-Gebote.

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Der eigenhändige Briefschluss (6,11–18) fasst neben einem erneuten Angriff auf die Gegner (6,12f.) noch einmal wesentliche Punkte des Schrei‐ bens zusammen: In Christus ist die Grenze zwischen Beschneidung und Unbeschnittenheit (d. h. Juden und Heiden) soteriologisch überwunden, es gilt eine neue Schöpfung (6,15; vgl. 2 Kor 5,17). 3.2 Exegetische Einzelprobleme

Exegetische Einzelprobleme, die hier nicht ausführlich besprochen werden können, sind: 1. Die Interpretation der Wendung ἔργα νόμου und der paulinischen Aussage, dass ἐξ ἔργων νόμου ‚kein Fleisch‘ (d. h. niemand) gerecht wird63. 2. Das Verhältnis der Gesetzeslehre des Gal zu der im Röm ausgeführten, nicht weniger grundsätzlichen, aber doch in einzelnen Elementen we‐ sentlich positiveren, unpolemischeren Sicht des Gesetzes. Hier stellen sich die Fragen nach dem Verhältnis des Paulus zum pluriformen Judentum seiner Zeit: Hat er ‚das Judentum‘ missverstanden, hat er seine jüdische Identität preisgegeben, oder inwiefern bewegt er sich – bei aller Polemik gegen einzelne seiner Mitjuden – noch im Rahmen der innerjüdischen Diskurse?64 3. In Gal 5,1ff., aber auch in 5,13 wird die Freiheit als Grundbegriff des Lebens in Christus vorgestellt. Aus der Alternative Gesetz/Freiheit ergibt sich im Blick auf die paulinische Ethik die Aufgabe, den Indikativ der Heilszusage und den Imperativ der Paränesen (vgl. 5,13: Liebe als Erfüllung des Gesetzes) in angemessener Weise zuzuordnen. Erschwert wird die Aufgabe durch die von Paulus in Gal 6,2 gebrauchte Rede vom „Gesetz Christi“. 4 Würdigung

Der Gal gilt oft als der ‚paulinischste‘ der Paulusbriefe. Er gehört mit 1/2 Kor und Röm zu den „Hauptbriefen“ und mit 2 Kor zu den sog. „Kampfbriefen“, in denen Paulus um die Anerkennung seines Apostolats und um ‚sein‘ Evangelium kämpft. Für das Verständnis der Biographie des Paulus und für 63 64

S. dazu M. Bachmann, Antijudaismus im Galaterbrief, 1–56, sowie die Hinweise im Beitrag „Paulus und das Judentum“ im vorliegenden Band. S. dazu den Beitrag „Paulus und das Judentum“ im vorliegenden Band.

Galaterbrief

die Interpretation seiner Theologie ist dieser Brief zentral. Er hat Wahrneh‐ mung und Wirkung des Paulus in der Geschichte der Theologie geprägt. Antithesen wie ‚Evangelium‘ und ‚Gesetz‘ (Marcion; Luther), ‚Paulinismus‘ und ‚Judaismus‘ (F.Chr. Baur) oder auch ‚Christentum‘ und ‚Judentum‘65 wurden oft im Rekurs auf den Gal formuliert. Die Diskussion um die Stellung des Christusglaubens zum Gesetz oder auch um das Verhältnis von Glauben und Ethik greift in wesentlichen Punkten auf den Gal zurück. Die Exegese des Gal hat daher immer auch systematisch-theologische Implikationen. 5 Literatur 5.1 Kommentare

J. Becker, Der Brief an die Galater, in: ders./U. Luz, Die Briefe an die Galater, Epheser und Kolosser (NTD 8/1), Göttingen 1998 (allgemeinverständlich und knapp). H.D. Betz, Galatians (Hermeneia), Philadelphia 1979; dt.: Der Galaterbrief, München 1988 (Analyse im Horizont der antiken Rhetorik). J.D.G. Dunn, The Epistle to the Galatians (BNTC), London 1993 (Hauptvertreter der ‚neuen Paulusperspektive‘; neuerer englischsprachiger Kommentar). H. Lietzmann, An die Galater (HNT 10), Tübingen 41971 (philologische Erklärung; „Klassiker“ unter den deutschsprachigen Kommentaren). R.N. Longenecker, Galatians (WBC 41), Dallas 1990 (sehr ausführlich und gründlich; neuerer englischsprachiger Kommentar). D. Lührmann, Der Brief an die Galater (ZBK.NT 7), Zürich 1978 (allgemein-verständ‐ lich). J.L. Martyn, Galatians (AncB 33A), New York etc. 1998 (neuerer englischsprachiger Kommentar). F. Mußner, Der Galaterbrief (HThK 9), Freiburg [1974] 41981 (ausführlichste katho‐ lische Auslegung). H. Schlier, Der Brief an die Galater (KEK 7), Göttingen 51971 (theologische Interpre‐ tation; „Klassiker“ unter den deutschsprachigen Kommentaren). F. Vouga, An die Galater (HNT 10), Tübingen 1998 (aktuell, aber oft sehr eigenwillig).

65

Im Gal findet sich der Terminus Ἰουδαϊσμός (1,13f.) für eine an der Tora orientierte Lebensweise, nicht aber Χριστιανισμός. Diese Entgegensetzung begegnet erstmals zu Beginn des 2. Jh.s bei Ignatius (Magn 8,1; 10,1–3; Philad 6,1) und bezeichnet auch dort noch nicht zwei unterschiedene Religionen. Zur Wirkungsgeschichte des Gal gehört aber, dass er wiederholt zur Begründung des Bruchs zwischen ‚Christentum‘ und ‚Judentum‘ herangezogen wurde.

395

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Theologische Klassiker sind nach wie vor Martin Luthers Galaterkommen‐ tar von 1519, ein Grundtext reformatorischer Theologie, sowie seine zweite Auslegung von 1531 (s. K. Bornkamm, Luthers Auslegungen des Galater‐ briefs von 1519 und 1531. Ein Vergleich, Berlin 1963). Im 20. Jh. wurde der Brief von Gerhard Ebeling systematisch-theologisch interpretiert (Die Wahrheit des Evangeliums. Eine Lesehilfe zum Galaterbrief, Tübingen 1981). Die Rezeption und Auslegung des Gal in der Alten Kirche bietet der Kommentar im Novum Testamentum Patristicum: M. Meiser, Galater, NTP 9, Göttingen 2007. 5.2 Monographien

M. Bachmann, Antijudaismus im Galaterbrief? (NTOA 40), Freiburg (Schweiz)/ Göttingen 1999. J.M.G. Barclay, Obeying the Truth. Paul’s Ethics in Galatians, Edinburgh 1988. C. Breytenbach, Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien (AGJU 38), Leiden 1996. H.-J. Eckstein, Verheißung und Gesetz. Eine exegetische Studie zu Gal 2,15–4,7 (WUNT 86), Tübingen 1996. I.J. Elmer, Paul, Jerusalem and the Judaisers. The Galatian Crisis in Its Broadest Context (WUNT II/258), Tübingen 2009. J.K. Hardin, Galatians and the Imperial Cult. A Critical Analysis of the First-Century Social Context of Paul’s Letter (WUNT II/237), Tübingen 2008. F. John, Der Galaterbrief im Kontext historischer Lebenswelten im antiken Klein‐ asien (FRLANT 264), Göttingen 2016. D. Kremendahl, Die Botschaft der Form. Zum Verhältnis von antiker Epistolographie und Rhetorik im Galaterbrief (NTOA 45), Freiburg (Schweiz)/Göttingen 2000. J.M. Scott, Paul and the Nations. The Old Testament and Jewish Background of Paul’s Mission to the Nations with Special Reference to the Destination of Galatians (WUNT 84), Tübingen 1995. A. Wechsler, Geschichtsbild und Apostelstreit. Eine forschungsgeschichtliche und exegetische Studie über den antiochenischen Zwischenfall (Gal 2,11–14) (BZNW 62), Berlin 1991. Ch. Zimmermann, Gott und seine Söhne. Das Gottesbild des Galaterbriefs (WMANT 135), Neukirchen-Vluyn 2013.

Philipperbrief

L UKAS B ORMANN

Absender

Paulus und Timotheus (1,1)

Adressaten

„Heilige in Christus“ (= Christen) mit ihren Verwaltern und Helfern in Philippi

Entste‐ hungssitu‐ ation

Eine Inhaftierung des Paulus

Anlass

Informationsaustausch über die Haft des Paulus und die Weiter‐ führung der Evangeliumsverkündigung

Abfas‐ sungsort

nicht explizit genannt, evtl. Ephesus, Caesarea oder Rom

Datierung

Frühjahr 55 n. Chr. (Ephesus) oder 61-63 n. Chr. (Rom)

Gegner‐ schaft

3,2: „Hunde“, „üble Arbeiter“; 3,18: „Feinde des Kreuzes Christi“

Themen

Teilhabe der Gemeinde am eschatologischen Geschehen der Evan‐ geliumsverkündigung

Grobglie‐ derung

Briefein‐ gang

1,1f. 1,3–11

briefliches Präskript briefliches Proömium als Danksagung

Briefcorpus

1,12– 4,20

Evangeliumsverkündigung, Haft, Gegner und Dank

Briefschluss

4,21– 23

Schlussgrüße

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L UKAS B ORMANN

1 Texterschließung 1.1 Textbestand und Textüberlieferung

Der Philipperbrief umfasst ca. 1624 Wörter1 und gehört mit ca. 9 Nestle-Sei‐ ten zu den kleineren Paulusbriefen. Der älteste erhaltene umfangreichere Papyrus mit Paulusbriefen, der Chester-Beatty II (𝔓𝔓 46), enthält den Phi‐ bis auf kleinere Ausfälle fast vollständig (1,1.5–15.17–28; 1,30– lipperbrief Römerbrief 2,12.14–27; 2,29–3,8.10–21; 4,2–12.14–23).2 Weitere Papyri (𝔓𝔓 16 und 𝔓𝔓 61) vervollständigen den bereits durch 𝔓𝔓 46 weitgehend gesicherten Text‐ endet mit Doxologie. Der Gnadenwunsch die Römerbrief übrigen Verse. Die fürder den neutestamentlichen Text der2 fehlt. Die bestand–umDer Textfolge Ausgaben lautet: 1,1–14,23; 15,1–16,23; DoxologieSinaiticus 16,25–27 (‫א‬, modernen kritischen maßgebenden Handschriften, ( B, C). 3 bzw. 01)–undDer Vaticanus (B bzw.endet 03), enthalten Philipperbrief zudem einmal vorge‐ Römerbrief mit der den Doxologie. Sie ist vollständig. Probleme auf der Basis des handschriftlichen Tiefgreifende textkritische zogen (Doppelbezeugung). Der Gnadenwunsch 2 fehlt. Die Textfolge Befundes gibt es nicht. Die Doxologie Erweiterung der Adressaten in Doxologie 1,1 mit der lautet: 1,1–14,23; 16,25–27; 15,1–16,23; 16,25–27 (A, Wendung σὺν ἐπισκόποις καὶ διακόνοις wird verschiedentlich als „nach‐ P, 33). 4 paulinische Glosse“ bezeichnet, dassGruß diese Vermutung durch ist den – Der Römerbrief endetohne mit dem 16,23. Die Doxologie vorgezogen. Handschriftenbefund gestützt würde. Der Gnadenwunsch 2 fehlt. Die Textfolge lautet: 1,1–15,33; Doxologie Bereits der Polykarpbrief 110) erwähnt mehrere Briefe, die Paulus 16,25–27; 16,1–23(um (P 46). an die Philippergemeinde geschrieben hat (Polyk 3,2: ἔγραψεν ἐπιστολάς). – Der Römerbrief endet mit der Doxologie, der der Gnadenwunsch 2 Einige Untersuchungen meinen eine Benutzung des Philipperbriefs durch vorangeht. Die Textfolge lautet: 1,1–14,23; 15,1–16,23.24. Doxologie den Kolosserbrief nachweisen zu können.5

V.25–27 (D 06).

1.2 Textanalyse Deutlich ist, dass die Doxologie (16,25–27) und der Gnadenwunsch 2 (16,24)

Der Philipperbrief kein literarischer Brief, sondern ein Schreiben, daswohl nicht öfter fehlenist bzw. unterschiedlich platziert werden konnten und Teil einer intensiven und vielfältigen Austauschbeziehung ist. Er begleitet den ursprünglichen Briefschluss darstellten. Der Gnadenwunsch 1 (16,20b) die lebendige Kommunikation zwischenText. der 7Philippergemeinde undΡωμαιους] dem fehlt dagegen nur im westlichen Die subscriptio [προς fehlt Gründungsapostel Paulus. Es werden personenbezogene Informationen in P  46. Sie ist ein späterer Zusatz. Die Kurzfassung bei Marcion scheint auf mitgeteilt: die Haft deszurückzugehen. Paulus, das Ergehen des Epaphroditus, die Pläne Marcion selbst 1 2 3

4 5

Textanalyse R. 1.2 Morgenthaler, Statistik des neutestamentlichen Wortschatzes, Zürich 31983, 164. AlandBrief u. a. (Hg.), Novum Testamentum Graece, Stuttgart 2012, 795; vgl. der K. Aland/B. K.Der beginnt mit der Selbstnennung des28Verfassers, sich ausführlich 2 Aland, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 1989, 94–113. vorstellt (1,1–7), und schließt im Nestletext mit einem ersten Gnadenwunsch Übersichten bei P.A. Holloway, Philippians (Hermeneia), Minneapolis 2017, 55–57; J. (16,20b), GrüßenDer (16,21–23) undder– Philemonbrief mindestens(HThK in einer jüngeren Gnilka, Philipperbrief Philipperbrief, 10/3/4), FreiburgTextform – 4 8 i.Br. 26 f.;ausführlichen W. Schenk, Die Philipperbriefe des Paulus. Kommentar, Stuttgart etc. mit1987, einer Doxologie (16,25–27). 1984, 331. Der Brieftext zeigt deutliche übergeordnete Gliederungsmerkmale: Schenk, Philipperbriefe, 334; vgl. J. Reumann, Philippians (The Anchor Yale Bible 33B), New Haven/London 2008, 7f. O. Leppä, The making of Colossians (SESJ 86), Göttingen 2003, 209–217.247–249; M. Verse Textgliederungsmerk‐ Kiley, Colossians as Pseudepigraphy, SheffieldThemen 1986, 75–91.

male

1,8

πρῶτον … εὐχαριστῶ

Es folgt die topische Danksagung für die Ge‐ meinde.

1,18

ἀποκαλύπτεται ὀργὴ θεοῦ

Es folgt eine zweigliedrige Darlegung des Zu‐ standes der Menschheit: erstens der vorliegende Zustand der Mensch‐ heit („Ist-Stand“)

425

Philipperbrief

des Timotheus, des Epaphroditus und des Paulus; schließlich zeigen die Aussagen zu Euodia, Syntyche, zu dem namenlosen „Genossen“ und Cle‐ mens, ebenso wie die Grüße einer Gruppe von Kaisersklaven die enge Integration des Schreibens in aktuelle Vorgänge zwischen Paulus, seinem Umfeld und den Philippern. Diese rege Kommunikation wird von Paulus nun aber eingebunden in eine Zeitstruktur, die nicht durch diese Ereignisse bestimmt ist, sondern durch den „Tag Christi“ (1,6.10; 2,16). Für die im Phi‐ lipperbrief repräsentierte Kommunikation gilt: „Der Herr ist nahe!“ (4,5). Die Gemeinde ist seit der paulinischen Erstverkündigung in diesen Zeithorizont hineingestellt. Sie ist Teil des von Gott initiierten eschatologischen Gesche‐ hens der Christuswirklichkeit. Im Rahmen der eschatologisch gedeuteten Gegenwart betreiben sowohl Paulus als auch die Gemeinde eigenständig Evangeliumsverkündigung. Die apostolische und die gemeindliche Existenz werden nach dem Paradigma des Christusgeschehens vollzogen. Phil 2,6–11, sicher der bedeutendste Abschnitt im Philipperbrief, bildet in diesem Sinne die Mitte des Briefes. Das Christusgeschehen wird in poetisch gestalteter Sprache (Christuslied oder Christushymnus) oder zumindest in „sprachlich wie theologisch verdichteter Prosa-Form“ formuliert und fordert eine Re‐ zeptionshaltung heraus, die über den Informationsaustausch hinausgeht.6 1.3 Gliederung

Die Gliederung des Briefes lässt sich weitgehend unabhängig von einer Entscheidung über die nach wie vor umstrittene literarische Einheitlichkeit durchführen. Die thematischen Wechsel sind deutlich. Wer an der Einheit des Briefes festhält, deutet sie als Stil- bzw. Themenwechsel. Die Vertreter der Fragmentenhypothesen sehen in ihnen unterschiedliche Situationen der Briefkommunikation. Das Präskript in Phil 1,1f. und die Schlussgrüße in 4,21–23 bilden den Rah‐ men. In 4,4–7 und 4,8f. finden sich Einleitungen zu Briefschlüssen, die durch die fast wortgleiche Wiederholung des Friedenswunsches (vgl. ἡ εἰρήνη τοῦ ϑεοῦ in 4,7 mit ὁ ϑεὸς τῆς εἰρήνης in 4,9) als Dubletten zu deuten sind, die eine literarkritische Erklärung erfordern und die Fragmentenhypothese unterstützen. Zwischen Präskript (1,1f.) und Schlussgrüßen (4,21–23) finden sich drei in sich geschlossene Argumentationsgänge. In 1,3–2,30 thematisiert Paulus 6

E.-M. Becker, Paulus in Philippi. Ethik und Theologie, in. dies., Der Philipperbrief des Paulus. Vorarbeiten zu einem Kommentar (NET 29), Tübingen 2020, 177–201, hier 186.

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400

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die durch seine Haft neu geschaffene Lage der Evangeliumsverkündigung. Die Verkündigung des Evangeliums ist durch äußere Umstände zu einer Bewährungs- und Kampfsituation mit erheblichen Folgen für den Apostel und seine Gemeinden geworden. Der Neueinsatz in 3,1 schließt entweder diese Passage ab oder ist als Überleitung zu dem zweiten beherrschenden Thema des Briefes zu verstehen: Die Gefährdung der evangeliumsgemäßen Nachahmung Christi. In 3,2–4,1 setzt sich der Apostel mit falschen Sicht‐ weisen der Christusnachfolge auseinander, indem er, eingeleitet mit einem autobiographischen Rückblick auf sein Wirken als Pharisäer und eifernder Verfolger der Gemeinde (3,4–6), die unwirksame Gerechtigkeit aus dem Gesetz von der wirksamen Gerechtigkeit Gottes „durch den Glauben“ unter‐ scheidet (3,7–11). Die nicht sicher zu fassende Gegenposition wird meist mit einer judenchristlichen Mission in Verbindung gebracht, die Beschneidung und Toraobservanz gefordert und ihnen soteriologische Funktionen (Heils‐ bedeutung) beigemessen habe. Der in sich etwas unorganisch wirkende Abschnitt 4,2–9 lässt sich am ehesten als Einleitung des Briefschlusses verstehen. 4,2f. bietet eine personenbezogene Mahnung zur Einheit (τὸ αὐτὸ ϕρονεῖν). 4,4–7 und 4,8f. leiten den Briefschluss ein. 4,10–20 bilden hingegen eine in sich geschlossene Argumentation, die sich mit der Unterstützung befasst, die Paulus von den Philippern empfangen hat. Im Mittelpunkt steht der Dank des Paulus. Daraus ergibt sich folgende Gliederung: 1,1f.

Präskript

1,3–11

Proömium, Danksagung

1,12–3,1

Evangeliumsverkündigung und Haft

3,2–4,1

Nachahmung Christi

4,2f.

Personenbezogene Mahnung

4,4–7

1. Einleitung Briefschluss

4,8f.

2. Einleitung Briefschluss

4,10–20

Dankesbrief

4,21–23

Schlussgrüße

Philipperbrief

1.4 Thematik

Der Philipperbrief befasst sich mit der Situation der Evangeliumsverkündi‐ gung, die durch die Haft des Paulus, die Unterstützer- und Missionstätigkeit der Philippergemeinde und schließlich durch Kontroversen um die Gestalt der gemeindlichen Christusnachahmung bestimmt ist. In dieser Lage erfährt die Auseinandersetzung um den Stand der Christusverkündigung eine Intensivierung durch den möglichen Tod des Paulus, durch die verschärften Konflikte mit den lokalen römischen Behörden, die die Philipper aufgrund ihrer Loyalität zu Paulus heraufbeschwören, und durch Gegner, die die konsequente Christusnachahmung gefährden. Das Schreiben dient in dieser Situation der „gegenseitige(n) Vergewisserung der gemeinsamen Teilhabe am Evangelium“.7 Es gelingt Paulus, die situativen Konflikte in Argumentationen zu re‐ flektieren, die grundsätzliche theologische Bedeutung gewinnen. In der Wirkungsgeschichte des Briefs stehen die Reflexionen über das individuelle Sterben (1,19–26), der sog. Christushymnus (2,6–11) und die Überlegungen zur Gerechtigkeit aus Glauben (3,7–11) im Mittelpunkt. Die paulinische Argumentation ist geprägt von der intensiven eschatologischen Erwartung des Tages Christi und der damit verbundenen Parusie Christi. In diesen Horizont sind die Bemühungen der Evangeliumsverkündigung gestellt, deren Gestalt am Christusschicksal orientiert sein soll. 1.5 Wortfelder

Der Philipperbrief gehört neben dem 1. Thessalonicherbrief und dem Brief an Philemon zu der kleinen Gruppe der Paulusbriefe, die keine expliziten alttestamentlichen Zitate enthalten.8 Im Philipperbrief verweist Paulus auch an keiner Stelle metatextuell auf die Schrift (γραφή) als solche oder auf einzelne biblische Bücher. Obwohl Zitate und Verweise auf alttestamentliche Texte fehlen, gibt es zahlreiche Anspielungen auf das Alte Testament.9 Die Anspielungen sind durch übereinstimmende Wortfolgen von bis zu fünf Wörtern (Phil 1,19 u. Hiob 13,16 LXX: τοῦτό μοι ἀποβήσεται εἰς σωτηρίαν)10 und durch prägnante Syntagmata (Phil 2,10f. u. Jes 45,23: πᾶν γόνυ κάμψῃ …

7 8 9 10

H. Balz, Art. Philipperbrief, TRE 26 (1996), 504–51, hier 509. D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums (BEThL 69), Tübingen 1986, 21–23. J. Schoon-Janßen, Umstrittene ‚Apologien‘ in den Paulusbriefen (GTA 45), Göttingen 1991, 145; P. Wick, Der Philipperbrief, Stuttgart etc. 1994, 173–178. R.B. Hays, Echoes of scripture in the letters of Paul, New Haven/London 1989, 21–24.

401

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καὶ πᾶσα γλῶσσα ἐξομολογήσηται)11 definiert. Die letztlich jedoch wenig ausgeprägte sprachliche Bezugnahme auf alttestamentliche Texte kann als weiterer Hinweis auf eine geringe jüdische Präsenz in Philippi und unter den Mitgliedern der Philippergemeinde gewertet werden.12 Der Philipperbrief ist durch eine eigenständige situationsbezogene theo‐ logische Argumentation des Paulus charakterisiert, die ihre sprachliche Prägnanz aus der Deutung des Christusgeschehens empfängt. Das häufigste Substantiv ist Christos (Χριστός 37; vgl. Röm: 65), sehr häufig ist auch der Name Jesu (Ἰησοῦς 22; vgl. Röm: 37), erst dann folgt die Gottesbezeichnung ‚Gott‘ (θεός 24; vgl. Röm: 153).13 Im Römerbrief verhält sich die Relation der Christusbezeichnungen zur Gottesbezeichnung in etwa umgekehrt (Phil 59:24; Röm 102:153).14 Der statistische Befund unterstützt die inhalt‐ liche Beobachtung, dass Paulus im Römerbrief seine Argumentationen letztlich am Gottesgedanken ausrichtet,15 während im Philipperbrief das Christusgeschehen im Mittelpunkt steht. Paulus möchte die Dynamik des im Christusgeschehen abgebildeten eschatologischen Horizonts apostolischer und gemeindlicher Existenz zur Sprache bringen, um die Aktivität der Philippergemeinde in der Evangeliumsverkündigung voranzutreiben. Dabei spielt das Wortfeld „Freude“ eine besondere Rolle: χαρά (1,4.25; 2,2.29; 4,1); (συγ)-χαίρειν (1,18; 2,17.18.28; 3,1; 4,1.10). Es begegnet aus‐ schließlich außerhalb der Polemik in 3,2–4,1 und bezeichnet den Modus der aktiven christlichen Lebensgestaltung in der Evangeliumsverkündi‐ gung: gemeinschaftliche Freude. Die solidarische Praxis in medialer und materieller Kommunikation wird mit dem Wortfeld κοινωνία für „part‐ nerschaftliche Gemeinschaft“ zum Ausdruck gebracht: κοινωνία (1,5; 2,1; 3,10); συγκοινωνός, συγκοινωνεῖν (1,7; 4,14); κοινωνεῖν (4,15). Die Form dieser Gemeinschaft wird durch das Wortfeld „Gestalt, Vorbild, gleichge‐ stalten, nachahmen“ beschrieben: μορϕή (2,6f.); συμμορϕίζεσθαι (3,10); σύμμορφος (3,21); ὁμοίωμα (2,7); σχῆμα (2,7); συμμιμηταί (3,17); τύπος (3,17); μετασχηματίζειν (3,21). Die soziale und politische Dimension der gemeind‐

11 12 13 14 15

O. Hofius, Der Christushymnus Philipper 2,6–11. Untersuchungen zu Gestalt und Aussage eines urchristlichen Psalms (WUNT 17), Tübingen 21991, 70. R.S. Ascough, Paul’s Macedonian associations. The social context of Philippians and 1 Thessalonians (WUNT II/161), Tübingen 2003, 203. Morgenthaler, Statistik (Anm. 1), 105.107.156. Ebd., 164.168. Vgl. im Beitrag zum Römerbrief von O. Wischmeyer den Abschnitt zum Durchgang durch den Text.

Philipperbrief

lichen Existenz wird durch Begriffe mit einem militärischen bzw. politischen Klang unterstrichen: συναθλεῖν (1,27; 4,3); ἀγῶν (1,30); πολιτεύεσϑε (1,27); πολίτευμα (3,20). Dieses gesamte Geschehen solidarischer Praxis in der Nachahmung des Christusgeschehens ist ausgerichtet auf den Tag Christi: ἡμέρα Χριστοῦ (1,6.10; 2,16). 1.6 Kommunikation und Rhetorik 1.6.1 Kommunikation

Die Philipperkorrespondenz spiegelt die intensive Austauschbeziehung zwischen Paulus und der Philippergemeinde, in der die sprachliche Kommu‐ nikation nur ein Element ist. Materielle Sachleistungen, Besuche und die in der Korrespondenz vorausgesetzten Briefübermittlungen selbst verweisen auf eine vielfältige mediale und unmittelbare sprachliche Kommunikation. Versucht man die im Philipperbrief genannte Kommunikation zu identifi‐ zieren, dann wird man folgende Vorgänge festhalten müssen: Erstbesuch des Paulus mit Verfolgung und Folter (1 Thess 2,2; Apg 16,11–40). Anschlie‐ ßend unterstützen die Philipper die Mission des Paulus in Thessaloniki mehrfach mit materiellen Gaben (Phil 4,16). Epaphroditus, der Gesandte der Philippergemeinde und Überbringer einer weiteren Gabe (4,18), ist bei Paulus am Ort seiner Haft (2,25). Die Philipper wissen von der Krankheit des Epaphroditus, und dieser wiederum hat von den Sorgen gehört, die man sich in Philippi um ihn macht (2,26). Paulus will Timotheus (2,19) und Epaphroditus nach Philippi senden (2,28). Schließlich kündigt er einen eigenen Besuch an (2,24).16 Die briefliche Kommunikation lässt sich nicht von diesen konkreten Kontakten lösen, die beständig den Interpretationshintergrund für die brieflichen Äußerungen bestimmen. Eine im engeren Sinne textorientierte Interpretation des Briefes, ob unter epistolographischen, rhetorischen oder eher literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten, wie sie immer wieder vorgenommen wird, neigt dazu, die im Text selbst immer wieder fassbaren konkreten historischen Bezüge auf die textexterne Wirklichkeit zu überge‐ hen. Die durch die materielle Austauschbeziehung stabilisierte und bewährte Beziehung wird von Herzlichkeit und Freude begleitet (2,18; 3,1; 4,4). Das

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Vgl. die Rekonstruktion von zehn Reisen zwischen Abfassungsort und Adressaten bei Reumann, Philippians, 7 u. 16–18.

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Christusgeschehen ermöglicht eine partizipatorische Gemeinschaft, die in ihrem Vollzug bereits jetzt Anteil an der eschatologischen Freude gibt. Paulus nutzt die enge Kommunikationsbeziehung an einigen wenigen Stellen, um durch mahnende oder leicht tadelnde Einlassungen einzelnen Mitgliedern der Gemeinde orientierende Anweisungen zu geben. In 4,2f. werden Euodia und Syntyche zur Kooperation gemahnt, und ein namenlos bleibender, aber in der 2. Pers. direkt angesprochener „Genosse“ (σύζυγος) soll wieder unvoreingenommen mit der Gemeinschaft der paulinischen Mit‐ arbeiter zusammenarbeiten. In 4,10 klingt eine gewisse ironische Ungeduld des Paulus darüber an, dass die Unterstützung der Philipper einige Zeit ausgeblieben ist. Es handelt sich um leichte Korrekturen in den Beziehungen zwischen den in der Evangeliumsverkündigung verbundenen Personen. Davon unterscheidet sich deutlich die scharfe Polemik, die Paulus in Phil 3,2–21 entfaltet. Unsachliche, diffamierende Beschimpfungen (3,2) und polemische Abgrenzungsrhetorik (3,18f.) dominieren diesen Abschnitt. Das Wortspiel von κατατομή, Amputation bzw. Verstümmelung, auf περιτομή, Beschneidung, zielt auf die persönliche Verunglimpfung der Gegner, nicht aber auf eine Abwertung der Beschneidung selbst, die Paulus ja auch umgehend für sich in Anspruch nimmt (3,2.5). 1.6.2 Rhetorik

Die rhetorische Analyse der Paulusbriefe, die ihren Anfang in der viel‐ versprechenden Interpretation des Galaterbriefs nahm, wurde auch mehr‐ fach auf den Philipperbrief angewendet. Schoon-Janßen versteht den Phi‐ lipperbrief als „Freundschaftsbrief“ mit symbuleutischer, d. h. beratender Intention.17 Auch Brucker meint im Philipperbrief ein „rhetorisch vollstän‐ diges Schreiben der beratenden Gattung“ vorliegen zu haben. Der abrupte Stilwechsel entspreche der antiken rhetorischen Theorie und ziele auf „Kontrastwirkung“.18 Holloway plädiert hingegen dafür, dass es sich im Philipperbrief des Paulus um eine bestimmte Untergattung des Trostbriefs („letter of consolation“) handelt, durch den der Leidende denjenigen, die durch sein Leid betrübt sind, Trost, Ermutigung und Stärkung vermittelt.19 Der nicht-offizielle antike Brief lässt klare Gattungsmerkmale vermissen, so dass die genannten Versuche einer Gattungszuschreibung eher als Inter‐ 17 18 19

Schoon-Janßen, Apologien (Anm. 9), 145f. R. Brucker, Christushymnen, 326.348–350. Holloway, Philippians, 35, vgl. 1–10 u. 31–36.

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pretationen des wichtigsten Anliegens des Philipperbriefes zu verstehen sind.20 Es handelt sich demnach um ein Schreiben, das sich den Empfängern empathisch und orientierend zuwendet, um sie in der Evangeliumsverkün‐ digung zu bestärken und deren Dringlichkeit mit Blick auf den Tag Christi zu unterstreichen. 2 Textentstehung 2.1 Verfasser, Adressaten und historische Situation

Die Verfasserschaft des Paulus ist selten bestritten worden. Immerhin mochte F.Chr. Baur den Philipperbrief nicht zu den echten Paulusbriefen zählen. Seine Christologie sei von der „speculativen Idee der Gnosis“ be‐ stimmt.21 In neuerer Zeit ist eine solche Kritik nicht mehr vorgebracht worden, und die Verfasserschaft des Paulus ist unumstritten. Als Absender werden Paulus und Timotheus genannt (1,1). Der Einfluss des Timotheus auf die Textgestalt wird allerdings gering gewesen sein; möglicherweise hat Paulus bei Abfassung von 1,14–17 und 2,19–30 auf Informationen von Timotheus zurückgegriffen. Timotheus wird wohl auch als Überbringer des Briefes vorgesehen gewesen sein. Paulus sieht sich jedenfalls zu einigen empfehlenden Worten veranlasst (2,20–22). Es liegt nahe anzunehmen, dass er gemeinsam mit Epaphroditus, dem Gesandten der Philippergemeinde, in Kürze nach Philippi aufbrechen sollte (2,28f.). Die Adressatenangabe ist auffällig ausgeweitet. Paulus schreibt an die „Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi sind, mit ihren Verwaltern und Helfern“.22 Das wirft ein erstes Licht auf die Gemeindeverhältnisse. Die genannten ἐπίσκοποι καὶ διάκονοι scheinen Funktionen auszuüben, die sich aus der besonderen Organisationsstruktur der philippischen Gemeinde ergeben. Das Fehlen von ἐπίσκοπος in den übrigen unumstrittenen paulini‐ schen Briefen unterstreicht, dass es sich hier wohl um eine Funktion handelt, die aus der Gemeinde gewachsen ist und nicht um das erst später entstan‐ dene monarchische Bischofsamt.23 Die Funktionsbezeichnung ἐπίσκοπος

20 21 22 23

Vgl. im Beitrag zur Epistolographie von C. Hoegen-Rohls in diesem Band. F.Chr. Baur, Vorlesungen über neutestamentliche Theologie, hg. v. F.F. Baur, Leipzig 1864, 267. Zu Philippi vgl. L. Bormann, Philippi – Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus (NT.S 78), Leiden etc. 1995, 11–29 und den Beitrag von D.-A. Koch in diesem Band. Holloway, Philippians, 66f.

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ist sehr allgemein und weist am ehesten auf finanzielle Verwaltungs- und Organisationsaufgaben hin, die im Deutschen mit „Verwalter“ angemessen bezeichnet ist. Der von Paulus verwendete Plural hat zu der Vermutung geführt, dass es sich um Funktionen in den Hausgemeinden Philippis handelt. Dies ist nicht zu belegen und aufgrund der inzwischen bestrittenen Omnipräsenz der Hausgemeinde als Institution im frühen Christentum wenig wahrscheinlich.24 Die Adressaten stehen ihrem Gründungsapostel als eine Gemeinschaft gegenüber, die ihre inneren Strukturen selbst bestimmt, eigenständig Funktionen an einzelne Mitglieder vergibt (1,1: ἐπίσκοπος, διάκονος; 2,25: ἀπόστολος), um die Evangeliumsverkündigung aktiv zu betreiben. An dieser Stelle wird immer wieder die Frage nach dem jüdischen oder heidnischen Hintergrund der Gemeinde gestellt. So sinnvoll eine solche Frage auch ist, sie ist doch meist belastet durch Vorannahmen über das Judentum oder das Heidentum, die in sich fragwürdig sind. Apg 16,13 berichtet zwar von der Anknüpfung der paulinischen Mission an eine möglicherweise jüdisch inspirierte Gebetsstätte von Frauen außerhalb der Stadt (προσευχή bezeichnet außerhalb des NT in der Regel den synagogalen Versammlungsort), es wird aber keine organisierte Synagogengemeinschaft wie in Thessaloniki, Korinth und Ephesus erwähnt (Apg 17,1; 18,4.19). Zudem wird die Purpurhändlerin aus Thyatira namens Lydia, die sich und ihr Haus hat taufen lassen, nicht als Jüdin dargestellt (Apg 16,14f.),25 und auch der von den Aposteln bekehrte Gefängniswächter wird wohl eher ein servus publicus, ein im öffentlichen Besitz befindlicher Sklave mit römisch-hellenistischem Hintergrund gewesen sein (Apg 16,32–34). Im Philipperbrief selbst begegnen ausschließlich Namen, die in die römisch-hel‐ lenistische Welt gehören: Euodia, Syntyche, Clemens und vor allem der heidnisch theophore Name Epaphroditus („von der Göttin Aphrodite“). Auch die in 4,22 grüßenden Sklaven oder Freigelassenen des Kaiserhauses (domus Augusti) werden auf das Beste mit der religiös-politischen Propa‐ ganda des julisch-claudischen Hauses vertraut gewesen sein. Eine allzu enge Abgrenzung von jüdischer und heidnischer Lebensweise ist außerhalb der palästinischen Kerngebiete des Judentums, Judäa und Galiläa, ohnehin nicht

24 25

L. Bormann, ἡ κατ’ οἶκον ἐκκλησία = „Hausgemeinde“? Raum und Ritual im frühesten Christentum, in: H.-U. Wiemer (Hg.), Kulträume – Studien zum Verhältnis von Kult und Raum in alten Kulturen (PAB 60), Stuttgart 2017, S. 221–246, hier 228–236. J.-P. Sterck-Degueldre, Eine Frau namens Lydia (WUNT II/176), Tübingen 2004, 208–213.

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sinnvoll.26 Es fällt auch auf, dass Paulus im Philipperbrief auf die ethische Entscheidung der Gemeinde vertraut (2,15; 4,8). Vergleicht man das mit dem 1. Korintherbrief, wird man doch sagen müssen, dass in Philippi nicht die Defizite einer nicht-jüdischen Ethik ausgeglichen werden mussten. Für einen jüdischen Hintergrund spricht hingegen die Polemik in Phil 3,2ff. Die Beschneidung und das Gesetz scheinen hier zu den umstrittenen Fragen zu gehören. Sinnvoll ist das nur vor dem Hintergrund einer gewissen Vertraut‐ heit mit dem Judentum. Beschneidung und die jüdischen Gesetze gehören nun aber wiederum zu dem in sonst eher uninformierten nicht-jüdischen Texten bestbezeugten Allgemeinwissen über das Judentum und setzen keine besondere Nähe zum Judentum voraus. Paulus verzichtet in Phil 3,8–10 zudem auf die Abgrenzung gegenüber den „Werken des Gesetzes“ (vgl. Phil 3,9 mit Gal 2,16; Röm 3,28). Im Ergebnis wird man sagen können, dass es in der Gemeinde eine durch die Evangeliumsverkündigung des Paulus bewirkte Sympathie mit dem jüdischen Gottesgedanken und mit jüdischer Lebensweise gab, die kulturelle und politische Prägung jedoch durch die römisch-hellenistische Welt bestimmt war. 2.2 Zeit und Ort der Abfassung

Der Philipperbrief informiert nicht explizit über die Abfassungszeit und den Abfassungsort. Auch aus den anderen Bemerkungen lassen sich keine eindeutigen Schlussfolgerungen ziehen, so dass selbst die Stellung des Phi‐ lipperbriefes in der relativen Chronologie der Paulusbriefe nicht eindeutig festzulegen ist. Der Mehrheitstext der Koine bietet in der Subscriptio die Bemerkung „geschrieben von Rom aus“ und definiert damit die traditionelle Auffassung von den Gefangenschaftsbriefen (Eph, Phil, Kol, Phlm und 2. Tim), die in Rom abgefasst worden seien (Euseb, h.e. II 22). Die kritische Forschung kommt hier in der Regel zu anderen Ergebnissen. Die beiden echten Paulusbriefe unter den Gefangenschaftsbriefen, die Briefe an die Philipper und an Philemon werden aufgrund der geschilderten Haftsitua‐ tion entweder in Rom (Holloway, Schnelle, Wick), Cäsarea (Lohmeyer) oder in einer aus 2 Kor 1,8 und 1 Kor 15,32 geschlossenen ephesinischen Gefangenschaft (Gnilka, Müller, Reumann, Walter) verortet. Im Kernbereich der Argumentation liegen die intensive Kommunikation zwischen der Gemeinde und dem Apostel, die Ortsbestimmung „Prätorium“ (1,13) und 26

M. Goodman (Ed.), Jews in a Graeco-Roman world, Oxford 1998.

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der personenrechtliche Terminus „die aus des Kaisers Haus“ (4,22). Die rege Reisetätigkeit spricht gegen Rom, und auch die Nennungen von „Prätorium“ und „Haus des Kaisers“ stellen keine überzeugenden Argumente für Rom als Abfassungsort dar. Aufgrund der offenen Argumentationssituation werden bisweilen innere Entwicklungen in den theologischen Aussagen des Paulus zur Datierung oder zur Einordnung in die relative Chronologie der Paulusbriefe herange‐ zogen, aber auch hier ist nicht wirklich Entscheidendes vorzubringen. Die eschatologische Stimmung des Philipperbriefs findet am ehesten im frühen 1 Thessalonicherbrief Resonanz, während die individuelle Todeserwartung in Phil 1,19–26 in einer gewissen Dissonanz zu 1 Thess 4,13–17 und 1 Kor 15,50–54 steht. Eine Entwicklung oder etwaige Wandlungen im paulinischen Denken, die sich dann auch historisch-chronologisch auswerten ließen, sind darauf aber nicht zu gründen, denn die jeweiligen Aussagen sind situativ bestimmt. Im Übrigen mahnt eine Durchsicht durch die ältere wissenschaftliche Literatur von Baur über Ewald, Lüttgert, Michaelis, Dibe‐ lius bis zu Lohmeyer vor einer in der Entfaltung theologischer Gedanken begründeten Datierung. Die für stichhaltig beurteilten Themen wechseln hier von gnostischer Spekulation über Vollkommenheitslehre bis zur Mär‐ tyrervorstellung. Auf die Frage nach der Datierung können religions- und theologiegeschichtliche Überlegungen nur selten stichhaltige Antworten geben. In der gegenwärtigen Diskussion konzentrieren sich die Überlegun‐ gen deswegen auf die im Brief selbst vorliegenden Aussagen, die sich auf den sachlich-zeitlichen Kontext beziehen. Letztlich gibt das Argument der intensiven Austauschbeziehung zwischen Paulus und den Philippern den Ausschlag. Die genannten Kontakte bestehen aus materiellen Lieferungen, Besuchen von über die Situation informierten Gemeindegesandten und drei angekündigten Reisen nach Philippi (Timotheus, Epaphroditus und Paulus selbst). Nimmt man dazu noch an, dass der Philipperbrief mit einiger Wahr‐ scheinlichkeit eine Korrespondenz aus drei Briefen darstellt, entsteht ein noch weit intensiveres Kommunikationsnetz. Schnelle und Holloway, die für Rom als Haftort plädieren, unterstellen ungewöhnlich hohe Reisegeschwin‐ digkeiten oder rechnen gar damit, dass sich Reisende, die im Auftrag der Gemeindekommunikation in gegensätzlicher Richtung unterwegs waren, begegnet seien und sich dadurch die Informationsgeschwindigkeit halbiert

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habe.27 Angesichts dieser wenig überzeugenden Hilfshypothesen ist die Abfassung in Ephesus sehr viel plausibler und im Ergebnis vorzuziehen. Michaelis hat die Ephesusthese, die vielfach Anklang gefunden hat, als erster ausführlich begründet.28 Paulus war etwa zwischen 52 und 55 in Ephesus (Apg 19,8–10). Der 1 Korintherbrief setzt das Ende der Haft voraus, ist aber noch in Ephesus geschrieben und nennt Pfingsten als Abreisetermin (1 Kor 16,8). Die Phi‐ lipperkorrespondenz muss also vorher entstanden sein, so dass man den Philipperbrief relativ zeitgleich mit dem Philemonbrief in das Frühjahr 55 datieren kann. 2.3 Einheitlichkeit und Redaktionsprozess

Gegen die Einheitlichkeit des Philipperbriefes werden verschiedene Argu‐ mente geltend gemacht. Ausgangspunkt sind der in 3,2 vollzogene abrupte Stil- und Situationswechsel, die Geschlossenheit von 4,10–20 als Dankes‐ brief und die damit verbundenen situativen Spannungen. Die stilistischen Eigentümlichkeiten werden von Vertretern der Einheitlichkeit des Briefes wenig überzeugend erklärt, etwa indem man den Dankesbrief als nachträg‐ liche Notiz von des Paulus‘ eigener Hand interpretiert.29 Selbst wenn man hier die lockere Themenfolge antiker Briefe in Rechnung stellt, bleiben die Übergänge von der Aufforderung zur Freude in 3,1 zu den wüsten Beschimpfungen in 3,2 und wieder von der scharfen Polemik in 3,18f. zu der einfühlsamen personenbezogenen Paränese in 4,2f. und zum Freuden‐ aufruf in 4,4 nur schwer verständlich. Einige Kommentatoren, die an der literarischen Einheitlichkeit festhalten, müssen auch hier auf hypothetische Annahmen zurückgreifen, z. B. eine Schreibunterbrechung oder die Ankunft neuer Informationen, die den deutlichen Situationswechsel erklären soll.30 Hinsichtlich von 4,10–20 wird man ähnlich argumentieren müssen. Warum befasst sich Paulus in 2,25–30 ausführlich mit Epaphroditus, lobt sein Wirken als Überbringer einer Gabe der Philippergemeinde, kommt aber erst in 4,10–20 ausdrücklich dazu, für die materielle Unterstützung der Philipper, überbracht durch Epaphroditus (4,18), zu danken? Wieso stellt er in einem geschäftsmäßigen Ton fest, dass er „jetzt“ direkt nach 27 28 29 30

U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 22014, 397 f. Rom-Philippi 14 Tage Schiffsreise bzw. 4 Wochen Landweg. Holloway, Philippians, 24. W. Michaelis, Der Brief des Paulus an die Philipper (ThHK 11), Leipzig 1935, 2–6. Holloway, Philippians, 17. U.B. Müller, Der Brief des Paulus an die Philipper (ThHK 11/1), Leipzig 22002, 10.

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Empfang der Gabe genug habe (4,18), wenn es doch nach 2,25–30 mehrfache Kommunikationsgänge zwischen seinem Haftort und Philippi über das Er‐ gehen des Epaphroditus gegeben hat, die zwischen Empfang und Dank nicht nur mehrere Wochen Zeit schieben, sondern mehrfach nicht genutzte Mög‐ lichkeiten der Danksagung unterstellen? Diese situativen Unstimmigkeiten wiegen so schwer, dass damit die Grundlage für die gewichtige literarische und historische These der Uneinheitlichkeit des Philipperbriefs gelegt ist.31 Zieht man noch die oben genannte Beobachtung zur Dublette in 4,4–7 und 4,8f. hinzu, ist die Aufteilung in drei Brieffragmente gut begründet: Brief A 4,10–23 (Dankschreiben); Brief B 1,1–3,1 + 4,2–7 (Gefangenschaftsbrief); Brief C 3,2–4,1 + 4,8f. (gegen Irrlehrer). Möchte man dieser Teilung nicht folgen, bleibt doch die in ihr zum Ausdruck gebrachte inhaltliche Gliederung von Gewicht: Phil 1+2 Gefangenschaftsbrief, Phil 3 Gegnerpolemik, Phil 4,10–20 + 21–23 Dankesschreiben. Brief A

Brief B

Brief C

Bormann, ähnlich Bornkamm und Schmithals

4,10–23

1,1–3,1 + 4,2–7

3,2–4,1 + 4,8f.

Gnilka

1,1–3,1a + 4,2– 7.10–23

3,1b–4,1 + 4,8f.

Einheitlichkeit

1+2

3

4,10–20 + 21–23

3 Textexegese 3.1 Durchgang durch den Text

Das Präskript (1,1f.) akzentuiert durch die Nennung des Apostels und des Timotheus auf der einen Seite und der Heiligen, Verwalter und Helfer der Philippergemeinde auf der anderen Seite die Vielfalt der gemeinschaftlichen Beziehungen. Das ausführliche Proömium (1,3–11) verstärkt diesen Aspekt durch den Dank für die „partnerschaftliche Gemeinschaft im Evangelium vom ersten Tag an“ (1,5). Paulus betont, dass diese Partnerschaft trotz seiner Haft bestehen bleibt und Teil des von Gott initiierten eschatologischen Geschehens ist (1,7). Nach dieser programmatischen Einleitung wendet er 31

N. Walter, Der Brief an die Philipper, in: ders./E. Reinmuth/P. Lampe: Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon (NTD 8/2), Göttingen 1998, 5–101, hier 19.

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sich den Folgen seiner Haft für die Evangeliumsverkündigung zu (1,12–3,1). Nach 1,12–18 fördert die Haft des Paulus die Evangeliumsverkündigung „im ganzen Prätorium“ (1,13). Die Verhältnisse außerhalb entwickeln sich nun aber nicht vollständig nach den Vorstellungen des Paulus. Es scheint sich hier nicht um grundsätzliche Kontroversen zu handeln, sonst wäre die milde Beurteilung durch Paulus nicht zu erklären. In 1,19–26 reflektiert er seine individuelle Situation. Er antizipiert sein Sterben und wägt die Bedeutung von Leben und Sterben für die Evangeliumsverkündigung ab. Beides ist wertvoll. Das Sterben führt näher zu Christus, das Leben des Apostels wird die Gemeinde stärken und ihren eschatologischen Ruhm erhöhen. In 1,27–30 intensiviert er die Verbundenheit der Gemeinde mit dem Evangelium mit einer teilweise kämpferischen Terminologie: Es gibt Wider‐ sacher, Kampf und Leiden sind zu erwarten. In all dem betont Paulus die Einheit der Gemeinde und die Verbundenheit ihrer Evangeliumsverkündi‐ gung mit seinem Apostolat. Es ist „derselbe Kampf“ (1,30). In 2,1–18 steht die Einheit der Gemeinde im Mittelpunkt. Sie wird rückgebunden an das in 2,6–11 entfaltete Christusgeschehen. Der sog. Philipperhymnus ist sicher der bedeutendste Text innerhalb dieses Schrei‐ bens. Hofius gliedert ihn in zwei Strophen (6–8 und 9–11) und sieht ihn durch das poetische Mittel des Parallelismus membrorum gestaltet.32 Er betont dabei den alttestamentlich-jüdischen Hintergrund der Sprachgestalt. Andere sehen eher griechisch-hellenistische Vorbilder oder bestreiten eine poetische Formung gänzlich.33 Sicher ist jedenfalls, dass in den Versen 6–8 eine Abwärtsbewegung (Erniedrigung) von Gott, über die Annahme der Menschengestalt bis zum Tod, geschildert wird, auf die eine Aufwärtsbewe‐ gung folgt (Erhöhung), die zur universalen Huldigung führt. Die besondere Eigenart des Stückes legt den Gedanken nahe, dass Paulus dieses Lied nicht selbst verfasst, sondern übernommen habe. Zwingende Argumente gibt es hier allerdings nicht. Die Gemeinde wird durch den Verweis auf das Christusschicksal und dessen noch zu erwartende Vollendung in der universalen Proskynese in dieses Geschehen miteingebunden. Paulus scheut in 2,12–19 weder Astral‐ mythologie (2,15) noch Opferterminologie (2,17), um die Dimension dieses Geschehens zu veranschaulichen.

32 33

Hofius, Christushymnus, 4–12. Vgl. Brucker, Christushymnen, 307–319.

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In 2,19–30 werden die Reisepläne des Timotheus und die Situation des erkrankten und genesenen Epaphroditus erläutert. Die floskelhafte Formu‐ lierung in 3,1 schließt entweder diesen Teil ab oder soll den neuen Abschnitt einleiten. Der Abschnitt 3,2–4,1 ist mit 3,2 und 3,18f. zwar gerahmt von einer über‐ scharfen Polemik (3,2: „Hunde“, „üble Arbeiter“; 3,18: „Feinde des Kreuzes Christi“), im Kern geht es dabei aber um die Frage der evangeliumsgemäßen Christusnachahmung. Theologisch bedeutsam sind die Aussagen in 3,7– 11. Der zentrale Begriff „Gerechtigkeit“ bezeichnet die von Gott gewollte Gestalt der Beziehung zum Menschen. Diese Beziehung kommt nicht aus der Gerechtigkeit des Gesetzes, sondern aus der Gerechtigkeit Gottes, die durch die Treue Gottes in Christus bzw. durch den Glauben an Christus vermittelt wird. Sie führt in eine Existenz des Glaubenden, in dessen Vollzug das Schicksal Christi nachgeahmt wird. Der Glaubende wird dem Tod Christi gleichgestaltet, um in die machtvolle eschatologische Dynamik Gottes zu gelangen, die auch die Auferstehung der Toten bewirken wird. Unter dieser Voraussetzung kann Paulus dann auch davon sprechen, ob es nicht bereits Vollkommene gibt (3,12–16). Er selbst sieht sich in dieser Hinsicht ganz unbescheiden als Vorbild und fordert die Philipper auf, es ihm gleich zu tun, keinesfalls aber Gegnern zu folgen, die er jetzt „Feinde des Kreuzes Christi“ nennt. Scheinbar meiden die Gegner eine Gestalt der Evangeliumsverkündigung, die Verfolgungen provozieren könnte (3,17– 19). Paulus ist hier kompromisslos. Die Loyalitätsbeziehung der Gemeinde bezieht sich auf eine himmlische Bürgerschaft und ist unabhängig von po‐ litischen Loyalitätsforderungen. Christus ist das eigentliche Machtzentrum (3,20f.). 4,1 leitet zu Passagen über, die sich mit Gemeindeverhältnissen befassen. Auf eine personenbezogene Mahnung in 4,2f. folgen zwei weitere, die allgemeiner gehalten sind (4,4–7 und 4,8f.). Die beiden letzteren leiten einen Briefschluss ein. Stattdessen beginnt aber in 4,10–20 ein in sich geschlosse‐ ner Dankesbrief, in dem Paulus in teilweise ambivalenten Formulierungen auf seine Unabhängigkeit verweist und dann doch für die von Epaphroditus überbrachte Unterstützung der Philipper dankt. Die Schlussgrüße in 4,21–23 sind von besonderer Bedeutung. In ihnen hebt Paulus Menschen aus der domus Caesaris oder domus imperatoris (οἱ ἐκ τῆς Καίσαρος οἰκίας) hervor. Die Wendung bezeichnet die Angehörigen des Caesarenhauses, und dazu gehören in erster Linie die Sklaven und die Freigelassenen der julisch-claudischen Dynastie. Hier handelt es sich

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um Tausende, die zwar überwiegend in Rom, aber eben auch im gesamten römischen Reich die Interessen der domus imperatoris vertreten. Dass diese die Philipper „besonders“ grüßen, unterstreicht, dass die Philippergemeinde auch Sozialbeziehungen für die Evangeliumsverkündigung nutzt, die sich den gesellschaftlichen Verhältnissen der römischen Welt verdanken. 3.2 Exegetische Probleme

Zu den offenen Fragen gehören jedenfalls die literarische Einheitlichkeit des Schreibens und der Abfassungsort. Das ist oben eingehend erläutert worden. Für die nähere Bestimmung der Austauschbeziehung mit der Philip‐ pergemeinde helfen die antiken Modelle sozialer Kommunikation weiter. Eine vollständige Identifikation ist aufgrund der individuellen Dynamik des Christusgeschehens von vornherein ausgeschlossen. Hilfreich sind das antike Freundschaftsverständnis,34 das Benefizialwesen,35 die römische partnerschaftliche Gemeinschaft (societas/ κοινωνία)36 und die Klientelbe‐ ziehung.37 Das oft herangezogene antike Vereinswesen hingegen war in der Regel auf sehr spezielle Bereiche des Lebens beschränkt und erreicht weder die Intensität noch die Verbindlichkeit der in den paulinischen Gemeinden geltenden Sozialbeziehungen.38 Die Ausführungen zur Gerechtigkeit Gottes sind von besonderer Bedeu‐ tung für die Klärung des Glaubensverständnisses des Paulus (3,7–11). Die Gegenüberstellung von Gerechtigkeit aus dem Gesetz als eigene Gerechtig‐ keit und Gerechtigkeit aus Glauben als Gerechtigkeit Gottes stützt eine reformatorische Interpretation der Glaubensgerechtigkeit und gibt ihr durch die biographisierende scharfe Rhetorik des Paulus ein gewisses Pathos. Vertreter der sogenannten neuen Paulusperspektive kommen angesichts des eindeutigen Textsinnes erheblich in Verlegenheit und greifen zu frag‐ würdigen Erklärungen, wie diejenige, Paulus habe an dieser Stelle seine theologische Überzeugung rhetorischen Gesichtspunkten untergeordnet.39 34 35 36 37 38 39

J.T. Fitzgerald (Ed.), Friendship, flattery, and frankness of speech (NT.S 82), Leiden etc. 1996, 83–160. S. Joubert, Paul as benefactor (WUNT II/124), Tübingen 2000. J.M. Ogereau, Paul’s Koinonia with the Philippians. A socio-historical investigation of a Pauline economic partnership (WUNT II/377), Tübingen 2014, 338–347; J.P. Sampley, Pauline partnership in Christ, Philadelphia 1980. Bormann, Philippi, 161–224. E. Ebel, Die Attraktivität früher christlicher Gemeinden (WUNT II/178), Tübingen 2004, 38–75.217f.; T. Schmeller, Hierarchie und Egalität (SBS 162), Stuttgart 1995, 24–53.94f. Holloway, Philippians, 164.

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Der Text gibt allerdings Anhalt für eine Interpretation von πίστις Χριστοῦ (3,9) als Treue und Loyalität Christi, die von manchen Vertretern der neuen Paulusperspektive hervorgehoben wird.40 Besondere Fragen wirft der Abschnitt 2,6–11 auf. Seine sprachliche Gestalt (Gattung, Strophengliederung), seine traditionsgeschichtliche Her‐ kunft (Jes 52 f.; Weisheit) und seine religionsgeschichtliche Einordnung werden nach wie vor ausführlich diskutiert. Die neuere Diskussion um den Brief als Ganzes ist geprägt von der Frage nach einer politischen Theologie im Philipperbrief. Es spricht viel dafür, dass die gemeinschaftliche Evangeliumsverkündigung des Apostels und der Philippergemeinde von der Umwelt als Opposition oder gar als Alternative zur religiös-politischen Propaganda der julisch-claudischen Dynastie verstanden wird.41 4 Würdigung

Der Philipperbrief bekommt sein eigenes Gepräge durch die enge Ver‐ bindung von Christologie, apostolischer Existenz und Lebensvollzug der Gemeinde. Der Apostel wird dem in Phil 2,6–11 geschilderten Christusge‐ schehen gleichgestaltet, darin und nicht durch seine Persönlichkeit wird er zum Vorbild (τύπος), das Nachahmer (συμμιμηταί) sucht, und zwar im Vollzug solidarischer Praxis der Gemeinde und in der eschatologischen Evangeliumsverkündigung. Der im Christusgeschehen gesetzte Zeithori‐ zont auf die universale Proskynese (2,11), die sich am Tag Christi vollziehen wird, gibt den Aussagen des Briefes ihre besondere Intensität. Christliche Existenz nach dem Philipperbrief ist Nachahmung Christi, imitatio Christi in einem klar begrenzten Zeithorizont. Angesichts der Gefahr einer chris‐ tozentrischen Verengung, die im Philipperbrief angelegt ist, bleibt aber fest‐ zuhalten, dass das Christusgeschehen selbst nur im Horizont der biblischen Gesamterzählung zu erfassen ist. Das macht nicht zuletzt der Rückgriff in Phil 2,10f. auf das universale Lob des einen und einzigen Gottes in Jes 45,23 deutlich.

40 41

Walter, Brief, 80. J. Conrad, Absolute Macht und selbstgewählte Ohnmacht. Der Kaiserkult als Deute‐ horizont des Philipperhymnus, Diss. Philipps-Universität Marburg 2016, 364–368; M. Tellbe, Paul between synagogue and state (CB.NT 34), Stockholm 2001, 210–278.

Philipperbrief

Diese christologische Akzentuierung des Philipperbriefs wird im Kolos‐ serbrief aufgenommen und eigenständig in der Entfaltung der Präexistenz, Ebenbildlichkeit und Schöpfungsmittlerschaft Christi weitergeführt (Kol 1,15–18). Der Kolosserbrief, in seinem Gefolge der Epheserbrief und unab‐ hängig von diesen auch der 2 Timotheusbrief nehmen die im Philipperund Philemonbrief vorgegebene Abfassungssituation des Apostels in Haft auf. Die reale Haftsituation, die in diesen beiden unumstrittenen Briefen des Paulus geschildert wird, wird zum literarischen Gefangenschaftsmotiv transformiert, um weitere, nun aber fiktive Gefangenschaftsbriefe zu schrei‐ ben. 5 Literatur 5.1 Kommentare

M. Dibelius, An die Thessalonicher I.II, an die Philipper (HNT 11), Tübingen 1937. J. Gnilka, Der Philipperbrief, der Philemonbrief (HThK 10/3/4), Freiburg i.Br. 41987. D. Häußer, Der Brief des Paulus an die Philipper, Gießen 2016. P.A. Holloway, Philippians (Hermeneia), Minneapolis 2017. E. Lohmeyer, Der Brief an die Philipper (KEK 9/1), Göttingen 1961. W. Michaelis, Der Brief des Paulus an die Philipper (ThHK 11), Leipzig 1935. U.B. Müller, Der Brief des Paulus an die Philipper (ThHK 11/1), Leipzig 22002. J. Reumann, Philippians (The Anchor Yale Bible 33B), New Haven/London 2008. W. Schenk, Die Philipperbriefe des Paulus. Kommentar, Stuttgart etc. 1984. N. Walter, Der Brief an die Philipper, in: ders./E. Reinmuth/P. Lampe: Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon (NTD 8/2), Göttingen 1998, 5–101. 5.2 Monographien

R.S. Ascough, Paul’s Macedonian associations. The social context of Philippians and 1 Thessalonians (WUNT II/161), Tübingen 2003. H.D. Betz, Studies in Paul's letter to the Philippians (WUNT 343), Tübingen 2015. L. Bormann, Philippi – Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus (NT.S 78), Leiden etc. 1995. J.M. Ogereau, Paul’s Koinonia with the Philippians. A socio-historical investigation of a Pauline economic partnership (WUNT II/377), Tübingen 2014. R. Brucker, „Christushymnen“ oder „epideiktische Passagen“? Studien zum Stil‐ wechsel im Neuen Testament und seiner Umwelt (FRLANT 176), Göttingen 1997.

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J. Conrad, Absolute Macht und selbstgewählte Ohnmacht. Der Kaiserkult als Deu‐ tehorizont des Philipperhymnus, Diss. Philipps-Universität Marburg 2016. P. Oakes, Philippians. From people to letter (MSSNTS 110), Cambridge 2001. P. Pilhofer, Philippi, 2 Bde. (WUNT 87.119), Tübingen 1995 u. 22009. D. Schinkel, Die himmlische Bürgerschaft. Untersuchungen zu einem urchristlichen Sprachmotiv im Spannungsfeld von religiöser Integration und Abgrenzung im 1. und 2. Jahrhundert (FRLANT 220), Göttingen 2007. H. Wojtkowiak, Christologie und Ethik im Philipperbrief (FRLANT 243), Göttingen 2012. 5.3 Aufsätze und Lexikonartikel

H. Balz, Art. Philipperbrief, TRE 26 (1996), 504–513. E.-M. Becker, Paulus in Philippi. Ethik und Theologie, in: dies., Der Philipperbrief des Paulus. Vorarbeiten zu einem Kommentar (NET 29), Tübingen 2020, 177–201. L. Bormann, Art. Philippians, EBR (in Vorbereitung). L. Bormann, Reflexionen über Sterben und Tod bei Paulus, in: F.W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus (BZNW 106), Berlin/New York 2001, 307–330. L. Bormann, ἡ κατ’ οἶκον ἐκκλησία = „Hausgemeinde“? Raum und Ritual im frü‐ hesten Christentum, in: H.-U. Wiemer (Hg.), Kulträume – Studien zum Verhältnis von Kult und Raum in alten Kulturen (PAB 60), Stuttgart 2017, 221–246. E. Ebel, „Unser πολίτευμα aber ist in den Himmeln“ (Phil 3,20). Ein attraktives Angebot für viele Bewohnerinnen und Bewohner der römischen Kolonie Philippi, in: J. Frey/B. Schliesser (Hg.), Der Philipperbrief des Paulus in der hellenistisch-rö‐ mischen Welt (WUNT 353), Tübingen 2015, 153–168. S. Vollenweider, Hymnus, Enkomion oder Psalm? Schattengefechte in der neutesta‐ mentlichen Wissenschaft, in: NTS 56 (2010), 208–231. S. Vollenweider, Der ‚Raub‘ der Gottgleichheit. Ein religionsgeschichtlicher Vor‐ schlag zu Phil 2,6(–11), NTS 45 (1999), 413–433 [Nachdruck in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2003, 263–284.]

Philemonbrief

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Absender

Paulus und Timotheus (1,1)

Adressaten

Philemon, Apphia, Archippus und die Hausgemeinde des Philemon

Entste‐ hungssitu‐ ation

Eine Inhaftierung des Paulus

Anlass

Rücksendung des Sklaven Onesimus und Schadensausgleich für den Sklavenbesitzer Philemon

Abfas‐ sungsort

Ephesus, traditionell Rom (nicht explizit genannt)

Datierung

Frühjahr 55 n. Chr., traditionell 60 n. Chr.

Gegner‐ schaft



Themen

Sklaverei, personenrechtlicher Status und Gemeindezugehörigkeit

Grobglie‐ derung

Briefein‐ gang

1–3 4–7

briefliches Präskript briefliches Proömium als Danksagung

Briefcorpus

8–20

Die Rücksendung des Onesimus

Brief‐ schluss

21–25 21f. Schlussmahnung 23–25 Schlussgrüße

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1 Texterschließung 1.1 Textbestand und Textüberlieferung

Der Philemonbrief umfasst einen Textbestand aus ca. 328 Wörtern.1 Er ist425 mit zwei Nestle-Seiten der kürzeste erhaltene Paulusbrief. Die Papyri bieten nur einen unvollständiges Text (𝔓𝔓 61, 𝔓𝔓 87).2 Die modernen kritischen Ausgaben Der Römerbrief endet mit der Doxologie. Der stützen Gnadenwunsch 2 fehlt. Die Neuen Testaments sich bei der Textrekonstruktion des griechischen Textfolge lautet: 1,1–14,23; 15,1–16,23; 16,25–27 (‫א‬, B, C).01), ziehen noch des Philemonbriefs maßgeblichDoxologie auf den Sinaiticus ( bzw. (A bzw. 02) und den Ephraemi rescriptus den Alexandrinus ist zudem einmal vorge‐ (C bzw. 04) Der Römerbrief endet mit der Doxologie. Sie Codex heran, im VaticanusDer (B bzw. 03) fehlt der Philemonbrief ganz.3 Im kritischen zogen (Doppelbezeugung). Gnadenwunsch 2 fehlt. Die Textfolge Text desDoxologie Schreibens sind nur15,1–16,23; wenige abweichende Die lautet: 1,1–14,23; 16,25–27; Doxologie Lesarten 16,25–27 angeführt. (A, 4 Textqualität der erhaltenen Handschriften wird als hoch bewertet. P, 33). Derendet Philemonbrief wird bereits innerhalb des Corpus Paulinum rezipiert.5 Der Römerbrief mit dem Gruß 16,23. Die Doxologie ist vorgezogen. Die Personenangaben Präskript und in der GrußlisteDoxologie werden im Kolosser‐ Der Gnadenwunsch 2 fehlt. DieimTextfolge lautet: 1,1–15,33; brief (4,7–17) wie im 2. Timotheusbrief (4,10–21) aufgegriffen und erweitert.6 16,25–27; 16,1–23 (P 46). Gemeinsam mit dem Philipperbrief ist der Brief an Philemon das reale Der Römerbrief endet mit der Doxologie, der der Gnadenwunsch 2 Vorbild für eine Reihe fiktiver Gefangenschaftsbriefe (Eph, Kol, 2 Tim).

Römerbrief

– –





vorangeht. Die Textfolge lautet: 1,1–14,23; 15,1–16,23.24. Doxologie V.25–27 (D 06). 1.2 Textanalyse

Derdie Text thematisiert sozialeund undder religiöse Beziehungen und will sie be‐ Deutlich ist, dass Doxologie (16,25–27) Gnadenwunsch 2 (16,24) einflussen. Paulus stellt die Beziehung zwischen dem Sklaven öfter fehlen bzw. unterschiedlich platziert werden konnten und wohl nicht Onesimus, seinemBriefschluss Besitzer unddarstellten. Sklavenhalter und sich selbst dar. Die Be‐ den ursprünglichen Der Philemon Gnadenwunsch 1 (16,20b) ziehungen werden über 7 wechselseitige Verpflichtungen definiert und als fehlt dagegen nur im westlichen Text. Die subscriptio [προς Ρωμαιους] fehlt reziproke Austauschbeziehung verstanden. Folgendescheint Vorgänge in P  46. Sie ist ein späterer Zusatz. Die Kurzfassung bei Marcion aufgehen dem Schreiben voraus und sind in ihm thematisiert: Der Sklave Onesimus, der Marcion selbst zurückzugehen. sich von seinem Besitzer Philemon entfernt hatte, hatte einen materiellen Schaden, dessen Wiedergutmachung zur Zeit der Abfassung des Briefes 1.2 Textanalyse noch ausstand und als eine Schuld des Sklaven Onesimus gegenüber seinem Der Brief beginnt mit der Selbstnennung des Verfassers, der sich ausführlich Sklavenbesitzer Philemon verstanden wurde, verursacht. Der Geschädigte

vorstellt (1,1–7), und schließt im Nestletext mit einem ersten Gnadenwunsch (16,20b), Grüßen (16,21–23) und – mindestens in einer jüngeren Textform – 1 R. Morgenthaler, Statistik des neutestamentlichen Wortschatzes, Zürich 31983, 164. mit einer ausführlichen Doxologie (16,25–27).8 2 K. Aland u. a. (Hg.), Novum Testamentum Graece, Stuttgart 282012, 655 f.; vgl. K. Aland/B. Der Brieftext zeigt deutliche Gliederungsmerkmale: Aland, Der Textübergeordnete des Neuen Testaments, Stuttgart 21989, 94–113. 3

Übersichten bei J. Gnilka, Der Philemonbrief (HThK 10/4), Freiburg 1982, 26 f. und P. Müller, Der Brief an Philemon (KEK 9/3), Göttingen 2012, 79f. 4 K. Aland (Hg.), Text und Textwert der griechischen Handschriften des Neuen Testa‐ Verse Textgliederungsmerk‐ Themen ments II/4, Berlin/New York 1991, 374; K. Wengst, Der Brief an Philemon (Theol. Komm. male zum NT 16), Stuttgart 2005, 21f. 2 1,8 πρῶτον5… εὐχαριστῶ Es folgt die topische Danksagung für die Ge‐ P. Pokorný, Der Brief des Paulus an die Kolosser (ThHK 10/1), Berlin 1990, 6. meinde. 6 A. Weiser, Der zweite Brief an Timotheus (EKK 16/1), Neukirchen-Vluyn 2003, 328–330.

1,18

7

ἀποκαλύπτεται ὀργὴ θεοῦ

Es folgt eine zweigliedrige Darlegung des Zu‐ standes der Menschheit: erstens der vorliegende Zustand der Mensch‐ heit („Ist-Stand“)

Mit J.A. Fitzmyer, Romans, 50: „The best that one can say about the original form of Romans from a textcritical viewpoint is that it most likely contained 1:1–16:23“.

Philemonbrief

Philemon verdankte nun aber zugleich dem Paulus die Zugehörigkeit zur eschatologischen Gemeinde und schuldete Paulus in einem religiösen Sinne etwas Bedeutsames, nämlich seine Existenz „in Christus“ (19 f.). Für diesen Konflikt bietet Paulus im Schreiben folgende Lösung an: One‐ simus soll zu Philemon zurückkehren und von diesem wieder angenommen werden (17). Dieser Annahme steht ein nicht näher bezeichneter materieller Schaden, der durch den Fortgang des Onesimus entstanden war, im Weg. Paulus fordert Philemon auf, diese Schuld entweder aus eigenen Stücken dem Onesimus zu erlassen oder von Paulus einzufordern. Paulus agiert hier im Horizont der in 1 Kor 6,1–8 entfalteten Gemeindeethik. In alltagswelt‐ lichen Fragen (βιωτικά) gibt es zwei Möglichkeiten: Rechtsverzicht oder die weise Fallentscheidung. Paulus schlägt als Fallentscheidung rechtlich verbindlich vor, den materialrechtlichen Konflikt zwischen Onesimus und Philemon durch seinen eigenen finanziellen Einsatz zu lösen, erwartet aber von Philemon den freiwilligen Rechtsverzicht. 1.3 Gliederung

Die obige Gliederung ist nur hinsichtlich des Schlussteils umstritten. Paulus verbindet seine Aufforderung an Philemon, „mehr zu tun“ (21), eng mit der Ankündigung seiner eigenen Ankunft (22). Manche Ausleger ziehen dennoch V.21 (Lampe; Wolter) oder gar 21 f. (Hübner) zum Briefcorpus, andere sehen bereits in V.21 den Schlussteil des Briefes einsetzen (Dibelius, Lohmeyer, Lohse, Müller, Stuhlmacher, Suhl, Wengst). Ebner löst diese Frage, indem er 20–22 als „Epilog“ bezeichnet und zum Briefschluss rechnet.7 Da die eigentliche Argumentation tatsächlich in V.20 abgeschlossen ist, wird man V.21 dann doch eher zum Briefschluss zählen und ein Auseinanderrei‐ ßen der Verse 21 und 22 vermeiden. 1.4 Thematik

Die Thematik des Briefes ist schnell umrissen: Onesimus, der Sklave des Philemon, ist bei Paulus. Paulus sendet ihn zurück zu Philemon und gibt ein Begleitschreiben mit, in dem er Philemon auffordert, Onesimus nun wieder aufzunehmen. Paulus ist bereit, den durch die Abwesenheit des Onesimus verursachten materiellen Schaden zu übernehmen. Er bietet dem Philemon an, diese Kosten zu tragen, erinnert ihn aber auch daran, dass Philemon selbst (geistlicher) Schuldner des Paulus ist. Paulus stellt es dem Philemon 7

M. Ebner, Der Brief an Philemon (EKK 18), Düsseldorf und Göttingen 2017, 8.

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frei, die materielle Schuld mit der geistlichen zu verrechnen oder aber von Paulus die Kosten einzufordern. Die Wiederherstellung der sozialen Beziehung ist Voraussetzung für die gemeindliche Integration des Onesimus. Die materialrechtliche Konfliktlage zwischen Sklavenbesitzer und Sklave wird von Paulus in den Horizont der eschatologischen Evangeliumsverkündigung gestellt und der Ethik der Gemeinde unterworfen, nach der der Rechtsverzicht der Einforderung einer Wiedergutmachung des materiellen Schadens vorzuziehen ist. 1.5 Wortfelder

Es fallen Begriffe der Geschäftssprache auf: „partnerschaftliche(r) Teil‐ habe(r)“, κοινωνία (6), κοινωνός (17); schulden, (προς-)ὀϕείλειν (18 f.); auf Rechnung setzen, ἐλλογεῖν (18); Schadenersatz leisten, ἀποτίνειν (18). Sie dienen dazu, die materialrechtliche Problematik präzise zur Sprache zu bringen und zur Christuswirklichkeit in Beziehung zu setzen. Es geht um die Partnerschaft des Glaubens (6: ἡ κοινωνία τῆς πίστεως), die sich auch in sozialer, rechtlicher und wirtschaftlicher Reziprozität konkretisiert. Neben der für die Paulusbriefe typischen Freundschaftsterminologie hat der Begriff τὰ σπλάγχνα, der in diesem kurzen Schreiben drei Mal wieder‐ kehrt (7.12.20), besondere Bedeutung. Er wird in den meisten Kommentaren mit „Herz“ übersetzt. Er bezeichnet wörtlich die Eingeweide und meint den Sitz der Gefühle, die durch Empathie entstehen (Barmherzigkeit, Liebe). Das soziale Mitgefühl ist Teil der Personenidentität und soll die sozialen Beziehungen prägen. 2 Textentstehung

Paulus erwähnt im Brief an Philemon fünf Mal seine Haft (Phlm 1.9.10.13.23). Die Wendung ἐν δεσμοῖς ist terminus technicus für „in Gefängnishaft“. Diese Haft ist „Haft der Evangeliums“ (13) und damit eine Folge der Evan‐ geliumsverkündigung. Die Situation stimmt mit der im Phil überein (Phil 1,7). Die Frage nach dem Abfassungsort muss aber nicht zwingend mit der Erörterung des Abfassungsorts des Philipperbriefs verknüpft werden. Die im Philemonbrief genannten Namen Onesimus und Archippus werden auch für Gemeindemitglieder in Kolossä genannt (Kol 4,9.17). So spricht manches für die traditionelle Auffassung, dass der Brief nach Kolossä gerichtet sei (Subscriptio) und dort die Hausgemeinde des Philemon, der Apphia und des

Philemonbrief

Archippus lebte.8 Die Reisepläne in Phlm 22, nach denen Paulus die Absicht hatte, zum Wohnort Philemons zu reisen, sind nicht ohne weiteres mit Phil 2,24, der Ankündigung eines Besuchs des Paulus in Philippi, in Überein‐ stimmung zu bringen. Die Divergenz der beiden genannten Reiseabsichten lässt sich aber durch eine gewisse zeitliche Distanz und Änderungen in den Planungen des Paulus hinreichend erklären. Die sachlichen Verhältnisse im Philemonbrief verweisen deutlich auf eine gewisse Nähe zwischen dem Haftort und dem Wohnort des Philemon. Kolossä liegt ca. 170 km von Ephesus. So wird der Philemon- wie der Philipperbrief in der ephesinischen Gefangenschaft geschrieben sein.9 Der Brief wendet sich in der Adresse an Philemon, Apphia, Aristarch und die Hausgemeinde des Philemon. Obwohl durchweg Philemon in der 2. Pers. Sg. angesprochen wird, scheint an eine gewisse Öffentlichkeit des Schreibens gedacht zu sein, so dass der Brief als Schreiben an eine Hausge‐ meinde zu verstehen ist. Als Zeitpunkt kommt das Ende der ephesinischen Gefangenschaft in Frage und damit das Frühjahr 55. 3 Textexegese 3.1 Durchgang durch den Text

Der Eingangsgruß bietet ausführliche Absender- und Adressatenangaben. Die Namen sind jeweils mit titularähnlichen Bezeichnungen verbunden: Paulus ist „Gefangener Jesu Christi“, Timotheus „Bruder“, Philemon „Mit‐ arbeiter“, Apphia „Schwester“ und Archippus „Mitstreiter“. Apphia und Archippus gehören zur Hausgemeinde des Philemon. Bereits hier wird die Doppelbödigkeit des Schreibens deutlich. Die Personenkonstellation und ihre Sozialbeziehungen beziehen sich sowohl auf weltliche (ἐν σαρκί) als

8 9

Vgl. L. Bormann, „Nicht mehr Barbar, Skythe, Sklave, Freigeborener“ (Kol 3,11). Per‐ sonenrechtlicher Status, Geschlecht und Ethnizität in Colossae, in: Annali di Storia dell'esegesi 36 (2019), 393–412, hier 398f. So H. Hübner, An Philemon, an die Kolosser, an die Epheser (HNT 12), Tübingen 1997, 16; P. Lampe, Der Brief an Philemon, in: ders./N. Walter/E. Reinmuth, Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon (NTD 8/2), Göttingen 1998, 209–232, hier 205; E. Lohse, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon (KEK 9,2), Göttingen 151977, 264; Müller, Brief, 81–84; P. Stuhlmacher, Der Brief an Philemon (EKK 18), Neukirchen-Vluyn 42004, 21; M. Wolter, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon (ÖTK 12), Gütersloh 1993, 238; anders M. Dibelius, An die Kolosser, Epheser, an Philemon (HNT 12), Tübingen 31953, 102 (vgl. auch 52); Ebner, Brief, 20–25.

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auch auf gemeindliche (ἐν κυρίῳ) Beziehungen (16). Paulus argumentiert auf beiden Ebenen und setzt sie zueinander in Beziehung. Die Danksagung stellt Philemon in ein gutes Licht: sein Liebeshandeln (5.7: ἀγάπη) und sein Glaube (5f.: πίστις) wirken Gutes (6: τὸ ἀγαϑόν) für die Gemeindeglieder, so dass es ihnen nach ihrem Empfinden (7: τὰ σπλάγχνα) Wohlergehen verschafft. Zentrum dieses Handelns ist die „durch deinen Glauben geschaffene partnerschaftliche Gemeinschaft“ (6: ἡ κοινωνία τῆς πίστεώς σου), d. h. die solidarische Praxis.10 In 8–14 wird ein erster Argumentationsgang durchgeführt, der den in 5–7 vorbereiteten Gedanken (solidarische Praxis) mit der Situationsschilderung in 1–3 (Haft) verbindet und auf den zu klärenden Fall bezieht. Paulus stellt sich als hilfloser Bittsteller vor (8 f.), wodurch der sachliche Ernst seines Anliegens rhetorisch gesteigert wird. Philemon hat es in der Hand, das Empfinden des Paulus (τὰ σπλάγχνα), das mit dem Ergehen des Onesimus verbunden ist (12), durch das Tun des „Angemessenen“ (8: τὸ ἀνῆκον) und des „Guten“ (14: τὸ ἀγαϑόν), zu beeinflussen. Paulus fordert von Philemon ein Verhalten gegenüber Onesimus, das dessen Zugehörigkeit zum escha‐ tologischen Christusgeschehen berücksichtigt. Onesimus ist Paulus zum „Kind“ (10) geworden, hat sich vom Unnützen zum Tüchtigen (11) gewandelt und könnte sich wie Philemon in der διακονία (Evangeliumsverkündigung oder praktischer Dienst?) betätigen.11 Paulus erwartet deswegen von Phi‐ lemon die Freistellung und Rücksendung des Onesimus. Die sprachliche Gestalt und die Argumentationsweise in 8–14 erwecken den Eindruck, dass es sich hier um eine alltagsweltliche Selbstverständlichkeit handelt, die von Paulus dem Philemon mit Höflichkeit und Respekt vorgetragen wird. Die Sprengkraft des Falles Onesimus wird erst in 15–20 deutlich. Onesi‐ mus ist δοῦλος, Sklave, und hat sich von seinem Herrn entfernt (15 f.). Paulus sendet ihn als Bruder zurück (16) und bittet darum, dass Philemon ihn als partnerschaftlichen Teilhaber (17: κοινωνός) aufnimmt. Mit Bruder und Teil‐ haber ist die Statusveränderung des Onesimus in der Christuswirklichkeit und in der sozialen Wirklichkeit angesprochen. Philemon hat die Folgen der Integration des Onesimus in die Christuswirklichkeit auch in der sozialen Wirklichkeit zu vollziehen. Falls diesem Schritt materielle Hindernisse im

10 11

Wengst, Brief, 55: „selbstlose Treue“; Wolter, Brief, 251: „die durch deine Teilhabe am Glauben entstandene Gemeinschaft“. Wolter, Brief, 266: Evangeliumsverkündigung; Lampe, Brief, 218: Hilfsdienste; Stuhlma‐ cher, Brief, 40: beides.

Philemonbrief

Weg stehen, ist Paulus bereit, sie aus dem Weg zu räumen. In geschäftlicher Terminologie verpflichtet sich Paulus, die durch Onesimus verursachten Kosten zu übernehmen (18 f.). Durch den verbindlichen Vorschlag des Paulus, der die sozialen und materiellen Beziehungen zwischen Sklave und Sklavenbesitzer klären soll, wird Philemon die Möglichkeit gegeben, an Paulus erneut das zu tun, wofür er in der Gemeinde bekannt ist (7): Freude zu ermöglichen (20). Im Ergebnis zielt die Argumentation und das verbindliche Angebot des Paulus darauf, aus der Christuswirklichkeit soziale Folgen zu ziehen und eine Statusveränderung des Onesimus zu erreichen: Onesimus soll vom Sklaven zum Bruder und Teilhaber werden, Philemon soll auf seinen Status als Sklavenbesitzer verzichten.12 Die wirtschaftliche Bedin‐ gung ist die Übernahme der damit verbundenen materiellen Folgen. Paulus sagt sie verbindlich zu, möchte aber wohl Philemon ermuntern, darauf zu verzichten. Die strafrechtliche (Sklavenflucht?) und die personenrechtliche (Freilassung) Problematik werden mit keinem Wort erwähnt. Sie haben für den vorliegenden Fall demnach keine Bedeutung. Im Briefschluss öffnet Paulus allerdings den im Grunde geklärten Konflikt wieder, indem er von einem „Mehr“ spricht, das Philemon tun werde. Es spricht doch einiges dafür, dass Paulus dies nicht „rein rhetorisch“ meint.13 Er hat Philemon einen großen Spielraum des Handelns eröffnet und erwartet von ihm, dass er es für ein „Mehr“ in der Teilhabe an der Christuswirk‐ lichkeit nutzt. Das könnte ein größeres finanzielles Engagement und die Rücksendung des Onesimus meinen. Weniger wahrscheinlich ist die oft geäußerte Vermutung, Paulus habe „zwischen den Zeilen“ die Freilassung des Onesimus erreichen wollen.14 In den Schlussgrüßen wird die Situation des Paulus näher beleuchtet. Epaphras ist auch inhaftiert. Die Mitarbeiter Markus, Aristarch, Demas und Lukas sind bei ihm. 3.2 Exegetische Probleme

Exegetische Probleme bietet der Brief insofern, als die paulinischen Formu‐ lierungen nicht genau zu erkennen geben, welche konkreten rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen reflektiert werden. Diese Offenheit ist 12 13 14

Lampe, Brief, 218–224. Wolter, Brief, 279. So z. B. H. Grieser, Art. Philemonbrief, in: H. Heinen, Handwörterbuch der antiken Sklaverei (HAS) 2, Stuttgart 2017 (Forschungen zur antiken Sklaverei Beiheft 5), Sp. 2201–2204, hier 2201.

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allerdings von Paulus selbst intendiert. Er will nicht „anordnen“ (8), sondern das Liebeshandeln des Philemon herausfordern (5.7.9: ἀγάπη), auf dass er „mehr“ (21) tue, als zu erwarten ist (8: τὸ ἀνῆκον). Auf diese Weise lässt Paulus dem Philemon die Möglichkeit, frei zu entscheiden. Der heutige Leser möchte allerdings wissen, worauf Paulus zielt. In der Exegese werden zahlreiche hypothetische Möglichkeiten in Betracht gezogen. Einige sind im Text angelegt: Statusverzicht, Rechtsverzicht und gesteigerte Beteiligung an der Evangeliumsverkündigung. 4 Probleme der Interpretation

Der Philemonbrief ist Teil einer umfangreichen Kommunikation zwischen Paulus, Onesimus und der Hausgemeinde um Philemon und Apphia. Die in ihm verhandelten Sachverhalte beziehen sich auf nicht ganz leicht zu rekonstruierende soziale, rechtliche und wirtschaftliche Bedingungen. Paulus kennt diese Bedingungen sehr genau. Er thematisiert sie konsequent im Horizont der Evangeliumsbotschaft. Die dadurch bewirkte Verfremdung erschwert es, die konkreten materiellen Folgen des paulinischen Schreibens einzuschätzen. Andererseits bleibt die theologische Argumentation blass, wenn man nicht genau erkennen kann, welche Folgen sie für die soziale Realität des Sklaven Onesimus hat. Man möchte doch gerne wissen, was das paulinische Evangelium zur personenrechtlichen Stellung des Sklaven Onesimus sagt. Die Beurteilung wird noch zusätzlich dadurch erschwert, dass heute mit Sklaverei ausschließlich negative Konnotationen verbunden sind. Die persönliche, rechtliche und wirtschaftliche Freiheit gilt heute als Grundbe‐ dingung jeglicher menschenwürdigen Lebensgestaltung. Die antiken Texte sind in dieser Hinsicht durchaus ambivalent. Belege für den ausdrücklichen „Freiheitswunsch“ von Sklaven sind selten.15 In der Rezeptionsgeschichte des Schreibens durch die Kirchenväter dominiert eine Auslegung, die die Rücksendung des flüchtigen Sklaven durch Paulus als vorbildhaft darstellt und damit eine affirmative Haltung zur Institution der Sklaverei mit dem Philemonbrief begründet.16

15 16

I. Weiler, Die Beendigung des Sklavenstatus im Altertum. Ein Beitrag zur vergleichen‐ den Sozialgeschichte (Forschungen zur antiken Sklaverei 36), Stuttgart 2003, 115–145. Vgl. M. Ebner, Brief, 156–164.

Philemonbrief

Es ist deswegen sinnvoll, im Folgenden einige grundlegende Forschungs‐ ergebnisse zur antiken Sklaverei und zur Freilassung zusammenzufassen. Im griechischen Recht führte die Beendigung des Sklavenstatus nicht zum Bürgerrecht, sondern in den rechtlich weitgehend ungeschützten Status des „fremden Mitbewohners“, des μέτοικος (Athen).17 Im römischen Recht erwarb der durch einen römischen Bürger Freigelassene zwar gleichzeitig das römische Bürgerrecht, aber der personenrechtliche Übergang vom servus zum libertus beendete nicht die asymmetrische Beziehung zwischen Herr und Sklave. Der Freigelassene blieb nach wie vor dem Freigeborenen in einigen personenbezogenen Rechten nachgeordnet. In aller Regel wurde eine Loyalitätsbeziehung aufrechterhalten, aus der nach wie vor Rechte und Pflichten abgeleitet wurden.18 Oftmals blieb die Klientelbeziehung die wirt‐ schaftliche Basis des Freigelassenen. In beiden Fällen, der römischen wie der hellenistischen Praxis, entschied die soziale und wirtschaftliche Situation vor der Freilassung über den Wert und die Bedeutung des Rechtsvorgangs. Dem in Handel, Gewerbe oder Handwerk qualifizierten und möglicherweise bereits wohlhabenden Sklaven eröffnen sich durch die Freilassung neue Perspektiven, den alten und verbrauchten Haus- und Arbeitssklaven kann die Freilassung ins Elend führen. Jedenfalls ist nach allem, was wir über die Freilassung in der Antike heute wissen, der Status des Freigelassenen nicht im Entferntesten mit den Freiheitsvorstellungen moderner Gesellschaften in Übereinstimmung zu bringen. Auch nach antikem Verständnis wurde mit der Freilassung nicht mehr als eine „Zwischenform zwischen Freiheit und Sklaverei“ erreicht.19 Nimmt man diese Bedingungen an, dann leuchtet ein, dass es im Phile‐ monbrief nicht um den personenrechtlichen Status des Onesimus geht, sondern um die Wiederherstellung der sozialen, wirtschaftlichen und recht‐ lichen Lebensgrundlage des Onesimus. Die Integration in die Gemeinde Christi ist in diesem Falle gleichzeitig die Reintegration in die Hausgemein‐ schaft des Philemon. Paulus erwartet hier von Philemon allerdings mehr als die Wiederherstellung des status quo ante. Das wird sich dann nicht – wie oft vermutet – auf die Freilassung des Onesimus beziehen, sondern auf die Gewährung einer sozialen, rechtlichen und wirtschaftlichen Sicherheit,

17 18 19

Weiler, Beendigung (Anm. 15), 175–177. Weiler, Beendigung (Anm. 15), 173–213; Wolter, Brief, 234. I. Weiler, Art. Freigelassene, in: H. Heinen, Handwörterbuch der antiken Sklaverei 1, Stuttgart 2017 (Forschungen zur antiken Sklaverei Beiheft 5), Sp. 1061–1090, hier 1069.

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die über den Zustand hinausgeht, durch den Onesimus zum Verlassen der Hausgemeinschaft des Philemon gedrängt wurde. Die Begrifflichkeit der κοινωνία ist hier zentral. Paulus zielt auf die soziale Gleichstellung von Philemon und Onesimus als Teilhaber in einer partnerschaftlichen Gemeinschaft (κοινωνία).20 5 Würdigung

Der Philemonbrief gibt Einblick in die Folgen, die die Evangeliumsverkün‐ digung auf die soziale Wirklichkeit hat. Er zeigt, dass soziale Asymmetrien nicht unberührt von der Gemeinschaft in Christus bleiben. Die Hausge‐ meinde (κατ´ οἶκόν ἐκκλησία) verändert auch die Sozialbeziehungen im antiken Haus (οἶκος). Die Argumentationsbasis ist für Paulus nun aber sowohl der materialrechtliche Begriff der societas/ κοινωνία als auch die Regel für den Umgang mit materialrechtlichen Konflikten (1 Kor 6,1–8). Beides muss auf eine überzeugende Weise aufeinander bezogen werden. Die Christuswirklichkeit sucht ihre Entsprechung in egalitären Strukturen, die der antiken sozialen Wirklichkeit entnommen werden. 6 Literatur 6.1 Kommentare

M. Dibelius, An die Kolosser, Epheser, an Philemon (HNT 12), Tübingen 31953. M. Ebner, Der Brief an Philemon (EKK 18), Düsseldorf und Göttingen 2017. W. Eckey, Die Briefe des Paulus an die Philipper und Philemon, Neukirchen-Vluyn 2006. J. Gnilka, Der Philemonbrief (HThK 10/4), Freiburg 1982. H. Hübner, An Philemon, an die Kolosser, an die Epheser (HNT 12), Tübingen 1997. P. Lampe, Der Brief an Philemon, in: ders./N. Walter/E. Reinmuth, Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon (NTD 8/2), Göttingen 1998, 209–232. E. Lohmeyer, Die Briefe an die Philipper, an die Kolosser und an Philemon (KEK 9), Göttingen 131964. E. Lohse, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon (KEK 9,2), Göttingen 151977. P. Müller, Der Brief an Philemon (KEK 9/3), Göttingen 2012. E. Reinmuth, Der Brief des Paulus an Philemon (ThHK 11/II), Leipzig 2006.

20

Wolter, Brief, 231–235.272f.

Philemonbrief

P. Stuhlmacher, Der Brief an Philemon (EKK 18), Neukirchen-Vluyn 42004. A. Suhl, Der Philemonbrief (ZBK.NT 13), Zürich 1981. K. Wengst, Der Brief an Philemon (Theol. Komm. zum NT 16), Stuttgart 2005. M. Wolter, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon (ÖTK 12), Gütersloh 1993. 6.2 Monographien

P. Arzt-Grabner, Philemon (Papyrologischer Komm. zum NT 1), Göttingen 2003. R.J. Cassidy, Paul in Chains. Roman Imprisonment and the Letters of St. Paul, New York 2001. A.H.H. Ip, Socio-Rhetorical Interpretation of the Letter to Philemon in Light of the New Institutional Economics. An Exhortation to Transform a Master-Slave Economic Relationship into a Brotherly Loving Relationship (WUNT 2/444), Tübingen 2017. 6.3 Aufsätze und Lexikonartikel

H. Balz, Art. Philemonbrief, TRE 26 (1996), 487–492. P. Arzt-Grabner, Onesimus erro. Zur Vorgeschichte des Philemonbriefes, ZNW 95 (2004), 131–143. H. Grieser, Art. Philemonbrief, in: Heinz Heinen, Handwörterbuch der antiken Sklaverei (HAS) 2, Stuttgart 2017 (Forschungen zur antiken Sklaverei Beiheft 5), Sp. 2201–2204. D.F. Tolmie (Ed.), Philemon in Perspective (BZNW 169), Berlin/New York 2010. I. Weiler, Art. Freigelassene, in: H. Heinen, Handwörterbuch der antiken Sklaverei 1, Stuttgart 2017 (Forschungen zur antiken Sklaverei Beiheft 5), Sp. 1061–1090.

427

Römerbrief

O DA W ISCHMEYER

Absender

Paulus (1,1) diktiert Tertius den Brief (16,22)

Adressaten

Christen in Rom (1,7): überwiegend Heidenchristen

Entste‐ hungssitu‐ ation

Ende der missionarischen Tätigkeit des Paulus im Osten, geplante Mission in Spanien (15,14ff.)

Anlass

Vorbereitung des Besuchs in Rom

Abfas‐ sungsort

Korinth (vgl. 16,23 mit 1 Kor 1,14 und Apg 20,4: Gaius)

Datierung

56 n. Chr.

Gegner‐ schaft



Themen

Apostelamt des Paulus, Evangelium, Glaube, Gerechtigkeit Gottes, Juden und Griechen als Teilhaber an Gottes Gerechtigkeit, Israel, Verhältnis zum Imperium Romanum, Starke und Schwache, Mis‐ sion des Paulus

Grobglie‐ derung

Briefein‐ gang

1,1–7 1,8–12 1,13–15

briefliches Präskript briefliches Proömium als Danksagung briefliche Selbstempfehlung

Briefcorpus

1,16– 11,36 12,1– 15,13

theologische Themen

15,14–29 15,30–33a

„apostolische Parusie“1 erste Schlussermahnung und Friedens‐ gruß erstes Amen

Brief‐ schluss/ Brief‐ schlüsse (?)

15,33b

allgemeine Mahnungen

430

O DA W ISCHMEYER

16,1–16 16,17–20a 16,20b 16,21–23 [16,24 [16,25–27

erste Grußliste (an römische Gemeinde‐ glieder) zweite Schlussermahnung und eschato‐ logischer Friedensausblick erster Gnadenwunsch zweite Grußliste (Grüße der Mitarbeiter) zweiter Gnadenwunsch und zweites Amen] Schlussdoxologie und drittes Amen]

Besonders fein gegliedert ist 15,30–16,27: 15,30–33a

15,33b

16,1–16

16,17–20a

Schlussermahnung 1 Amen 1 und Friedensgruß

Grußliste 1

Schlussermahnung 2 und Friedensausblick

16,20b

16,21–23

16,24

16,25–27

Gnadenwunsch 1

Grußliste 2

Gnadenwunsch 2 und Amen 2

Schlussdoxologie und Amen 3

1 Texterschließung Römerbrief

425

1.1 Textbestand und Textüberlieferung



Der Römerbrief umfasst im Nestletext 7094 Wörter auf ca. 31 Druckseiten. Er

2 Der Römerbriefist endet der Paulusbrief Doxologie. Der Gnadenwunsch 2 fehlt. Die der mit längste mit dem größten Wortschatz. Folgende wichtige Textfolge lautet:altkirchliche 1,1–14,23; 15,1–16,23; Doxologie 16,25–27 B, (4. Jh.), C). Majuskeln überliefern den Text:(‫א‬, 01 A 02 (5. Jh.), B 03 Jh.), Cmit 04 (5. lückenhaft), 06 (6. Jh., eseinmal fehlt 1,1–6). In folgenden frühen zudem vorge‐ – Der Römerbrief(4.endet derJh.,Doxologie. SieDist Papyri findenDer sich Gnadenwunsch Teile des Römerbriefs: Jh.), 46 (ältester Zeuge, ca. 𝔓𝔓 10 zogen (Doppelbezeugung). 2 fehlt. Die(4.Textfolge Dublin, Chester Beatty Library, P. Chester Beatty II; Ann lautet: 1,1–14,23;200, Doxologie 16,25–27; 15,1–16,23; Doxologie 16,25–27 (A,Arbor, University 3 of Michigan, Inv. 6238) , 94 (5./6. Jh.), 99 (ca. 400), 113 (3. Jh.). P, 33). 4 Der mit Briefdem begegnet in denDie frühen Kanonlisten und wurde seit Origenes5 – Der Römerbrief endet Gruß 16,23. Doxologie ist vorgezogen. kommentiert. Der Gnadenwunsch 2 fehlt. Die Textfolge lautet: 1,1–15,33; Doxologie 16,25–27; 16,1–23 (P 46). – Der Römerbrief endet mit der Doxologie, der der Gnadenwunsch 2 U. Schnelle, Einleitung, 141f. vorangeht. Die 1Textfolge lautet: 1,1–14,23; 15,1–16,23.24. Doxologie Statistik des neutestamentlichen Wortschatzes, Zürich/Frankfurt 2 Nach R. Morgenthaler, V.25–27 (D 06).

1958, 164 § 3. 3 Nach Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, 28. revidierte Auflage, Stuttgart 2012. Deutlich ist, dass die4Doxologie (16,25–27) und der Gnadenwunsch 2 (16,24) Vgl. H. Lietzmann, Der Römerbrief (HNT 8), Tübingen 51971, 2. öfter fehlen bzw. unterschiedlich platziert konnten und wohl 5nicht 5 Vgl. O. Michel, Der Briefwerden an die Römer (KEK 4), Göttingen 1978, IX.

den ursprünglichen Briefschluss darstellten. Der Gnadenwunsch 1 (16,20b) fehlt dagegen nur im westlichen Text.7 Die subscriptio [προς Ρωμαιους] fehlt in P  46. Sie ist ein späterer Zusatz. Die Kurzfassung bei Marcion scheint auf Marcion selbst zurückzugehen. 1.2 Textanalyse

Der Brief beginnt mit der Selbstnennung des Verfassers, der sich ausführlich

Römerbrief

431

Der Römerbrief bietet einige wesentliche textkritische Probleme in Kap. 14–16, die vorweg erörtert werden müssen: Es geht um den ursprünglichen Schluss und um die ursprüngliche Position sowie Textzugehörigkeit von 16,24 (Gnadenwunsch 2), 16,25–27 (Doxologie) und 16,20b (Gnadenwunsch 1).6 Im Nestletext endet der Brief in mehreren Etappen: 16,20a

16,20b

16,21–23

16,25–27

eschatologischer Ausblick

Gnadenwunsch 1

Grußliste 2

Doxologie und Amen 3

16,24 (Gnadenwunsch 2 und Amen 2) findet sich in der Nestleausgabe nicht im Text, sondern im Apparat. Die kursiv gesetzten Textteile sind in ihrer Ursprünglichkeit bzw. ihrem ursprünglichen Platz umstritten. Das textkritische Bild für diese Textteile stellt sich folgendermaßen dar: Römerbrief

15,1–16,27

16,20b Gnadenwunsch 1

16,24 16,25–27 Gnadenwunsch 2 Doxologie

425



Der Römerbrieffehlt endetbei mit der Doxologie. 2 fehlt.fehlt Die bei fehlt bei Der Gnadenwunsch fehlt bei Textfolge lautet:Marcion 1,1–14,23; 15,1–16,23; B, C).F, G 46,425 D* vid, F, GDoxologie𝔓𝔓16,25–27 𝔓𝔓 61,(‫א‬,, A, C einmal vorge‐ – Der Römerbrief(nach endetOrige‐ mit der Doxologie. Sie istB,zudem nes) zogen (Doppelbezeugung). Der Gnadenwunsch 2 fehlt. Die Textfolge steht nach 14,23 bei steht nach 16,20a steht nach 16,23 ndet mitlautet: der Doxologie. Gnadenwunsch fehlt. Die bei Mehrheitstext bei 2 15,1–16,23; 1,1–14,23;Der Doxologie 16,25–27; Doxologie 16,25–27Ψ,(A, 1,1–14,23; 15,1–16,23; Doxologie 16,25–27 B, B, C).C, Ψ, Ψ, Mehrheits‐ 𝔓𝔓 46(‫א‬,, A, P, 33). text, F, D, G Minuskel 33, einmal vorge‐ endet Doxologie.endet Sie ist – mit Derder Römerbrief mitzudem demMehrheitstext Gruß 16,23. Die Doxologie ist vorgezogen. zeugung). Gnadenwunsch 2 fehlt. Textfolge steht nach 15,33 bei nach 16,27 DerDer Gnadenwunsch 2 fehlt. Die Die Textfolge lautet:steht 1,1–15,33; Doxologie und Minus‐ bei P 46 Doxologie 16,25–27; 15,1–16,23; Doxologie 16,25–27 (A, 𝔓𝔓 16,25–27; 16,1–23 (P 46). kel 33 – Der Römerbrief endet mit der Doxologie, der der Gnadenwunsch 2 nach 14,23 und 15,33 steht ndet mitvorangeht. dem Gruß 16,23. Die Doxologie ist vorgezogen. bei Die Textfolge lautet: 1,1–14,23; 15,1–16,23.24. Doxologie 1506 ch 2 fehlt. Die (D Textfolge lautet: 1,1–15,33; Doxologie V.25–27 06). (dort fehlen 16,1–24) Römerbrief (P 46). Deutlich ist, dass die Doxologie und der2 Gnadenwunsch 2 (16,24) endet mit der Doxologie, der der(16,25–27) Gnadenwunsch steht nach 14,23 und 16,23 öfter fehlen bzw. unterschiedlich platziertDoxologie werden konnten und wohl nicht bei A, P, Minuskel 33 Textfolge lautet: 1,1–14,23; 15,1–16,23.24. – Der Römerbrief endet mit der Doxologie. Der Gnadenwunsch 2 fehlt. Die den ursprünglichen Briefschluss darstellten. Der Gnadenwunsch 1 (16,20b) Textfolge lautet: 1,1–14,23; 15,1–16,23; stehtDoxologie nach 16,2316,25–27 bei 𝔓𝔓 61,(‫א‬,, B, C). fehlt dagegen nur im westlichen Text.7 Die subscriptio [προς Ρωμαιους] fehlt C, D B, – Der Römerbrief endet mit der Doxologie. Sie ist zudem einmal vorge‐ Doxologie der Gnadenwunsch 2 (16,24) bei in P  46.(16,25–27) Sie ist ein und späterer Zusatz. Die Kurzfassung Marcion scheint auf zogen (Doppelbezeugung). Der Gnadenwunsch 2 fehlt. Die Textfolge erschiedlich platziert werden konnten und wohl nicht Marcion selbst zurückzugehen. lautet:11,1–14,23; riefschluss darstellten. Der Gnadenwunsch (16,20b) Doxologie 16,25–27; 15,1–16,23; Doxologie 16,25–27 (A, P, 33). westlichen Text.7 Die subscriptio [προς Ρωμαιους] fehlt 1.2 Textanalyse 6 Grundlegend K. Aland, Der Schluß und die ursprüngliche Gestalt des Römerbriefs, in: – Der Römerbrief mit dem Gruß1979, 16,23.284–301. Die Doxologie ist vorgezogen. terer Zusatz. Die Kurzfassung beiNeutestamentliche Marcion scheint auf endet Entwürfe (ThB Kurz: Lietzmann, Der Brief beginnt mit derders., Selbstnennung des Verfassers, der63), sichMünchen ausführlich Der Gnadenwunsch 2 fehlt. Die Textfolge lautet: 1,1–15,33; Doxologie Römerbrief, 130 f. undmit Fitzmyer, 48ff. kzugehen. vorstellt (1,1–7), und schließt im Nestletext einemRomans, ersten Gnadenwunsch 16,25–27; 16,1–23 (P 46). (16,20b), Grüßen (16,21–23) und – mindestens in einer jüngeren Textform – – Der Römerbrief endet mit der Doxologie, der der Gnadenwunsch 2 mit einer ausführlichen Doxologie (16,25–27).8 vorangeht. Die Textfolge lautet: 1,1–14,23; 15,1–16,23.24. Doxologie der Selbstnennung sich ausführlich Der Brieftext des zeigtVerfassers, deutliche der übergeordnete Gliederungsmerkmale: V.25–27 (D 06). chließt im Nestletext mit einem ersten Gnadenwunsch 1–23) und – mindestens in einer jüngeren Textform – Deutlich Verse Textgliederungsmerk‐ Themenist, dass die Doxologie (16,25–27) und der Gnadenwunsch 2 (16,24) 8 en Doxologie (16,25–27). öfter fehlen bzw. unterschiedlich platziert werden konnten und wohl nicht male deutliche übergeordnete Gliederungsmerkmale: den ursprünglichen Briefschluss darstellten. Der Gnadenwunsch 1 (16,20b) 1,8

πρῶτον … εὐχαριστῶ

Es folgt die topische Danksagung für die Ge‐ 7

425

432

O DA W ISCHMEYER

Daraus ergeben sich vereinfacht folgende Schlussvarianten: – –

Der Römerbrief endet bei 14,23 (Marcion). Der Römerbrief endet mit dem Gnadenwunsch 2 (16,24). Die Doxologie fehlt. Die Textfolge lautet: 1,1–14,23; 15,1–16,23; 16,24 (D 06 [Vorlage], F, G). – Der Römerbrief endet mit dem Gnadenwunsch 2 (16,24). Die Doxologie ist Römerbrief vorgezogen. Die Textfolge lautet: 1,1–14,23; Doxologie 16,25–27; 15,1– 16,23.24 (Mehrheitstext). – –DerDer Römerbrief endet mit der fehlt. Die Die Römerbrief endet mit derDoxologie. Doxologie.Der DerGnadenwunsch Gnadenwunsch 2 fehlt. Textfolge lautet: 1,1–14,23; C). Textfolge lautet: 1,1–14,23;15,1–16,23; 15,1–16,23;Doxologie Doxologie16,25–27 16,25–27 (‫א‬, ( , B, C). ist zudem zudem einmal vorge‐ Römerbrief endet mitder derDoxologie. Doxologie.Sie Sieist vorge‐ – –DerDer Römerbrief endet mit zogen (Doppelbezeugung).Der DerGnadenwunsch Gnadenwunsch 22 fehlt. fehlt. Die Textfolge zogen (Doppelbezeugung). Textfolge lautet: 1,1–14,23; Doxologie16,25–27; 16,25–27;15,1–16,23; 15,1–16,23;Doxologie Doxologie 16,25–27 16,25–27 (A, lautet: 1,1–14,23; Doxologie (A, P, 33). P, 33). Römerbrief endet mit dem Gruß16,23. 16,23.Die DieDoxologie Doxologie ist ist vorgezogen. vorgezogen. – –DerDer Römerbrief endet mit dem Gruß Gnadenwunsch 2 fehlt.Die DieTextfolge Textfolgelautet: lautet: 1,1–15,33; 1,1–15,33; Doxologie DerDer Gnadenwunsch 2 fehlt. Doxologie 16,25–27; 16,1–23 ( 46). 𝔓𝔓 16,25–27; 16,1–23 (P 46). – Der Römerbrief endet mit der Doxologie, der der Gnadenwunsch 2 – Der Römerbrief endet mit der Doxologie, der der Gnadenwunsch 2 vorangeht. Die Textfolge lautet: 1,1–14,23; 15,1–16,23.24. Doxologie vorangeht. Die Textfolge lautet: 1,1–14,23; 15,1–16,23.24. Doxologie V.25–27 (D 06).

V.25–27 (D 06).

Deutlich ist, dass die Doxologie (16,25–27) und der Gnadenwunsch 2 (16,24)

Deutlich ist, dass dieunterschiedlich Doxologie (16,25–27) der Gnadenwunsch 2 (16,24) öfter fehlen bzw. platziertund werden konnten und wohl nicht öfter fehlen bzw. unterschiedlich platziert werden konnten und wohl nicht den ursprünglichen Briefschluss darstellten. Der Gnadenwunsch 1 (16,20b) 7 denfehlt ursprünglichen Briefschluss darstellten. Der Gnadenwunsch 1 (16,20b) dagegen nur im westlichen Text. Die subscriptio [προς Ρωμαιους] fehlt 7 fehlt dagegen im späterer westlichen Text.Die Die subscriptiobei [προς Ρωμαιους] in 𝔓𝔓 46. Sienur ist ein Zusatz. Kurzfassung Marcion scheintfehlt auf in PMarcion  46. Sie ist ein späterer Zusatz. Die Kurzfassung bei Marcion scheint auf selbst zurückzugehen. Marcion selbst zurückzugehen. 1.2 Textanalyse

Brief beginnt mit der Selbstnennung des Verfassers, der sich ausführlich 1.2 Der Textanalyse (1,1–7),mit undder schließt im Nestletext einem ersten Gnadenwunsch Dervorstellt Brief beginnt Selbstnennung desmit Verfassers, der sich ausführlich (16,20b), Grüßen und – mindestens in einer jüngeren Textform – vorstellt (1,1–7), und(16,21–23) schließt im Nestletext mit einem ersten Gnadenwunsch 8 mit einer ausführlichen Doxologie (16,25–27). (16,20b), Grüßen (16,21–23) und – mindestens in einer jüngeren Textform – mit einer ausführlichen Doxologie (16,25–27).8 Der Brieftext zeigt deutliche übergeordnete Gliederungsmerkmale: 7

Mit J.A. Fitzmyer, Romans, 50: „The best that one can say about the original form of

Romans from a textcritical viewpoint is that it most likely contained 1:1–16:23“. Verse Textgliederungsmerk‐ Themen 8 15,33 enthält ebenfalls bereits einen Friedensgruß. male

1,8

πρῶτον … εὐχαριστῶ

Es folgt die topische Danksagung für die Ge‐ meinde.

1,18

ἀποκαλύπτεται ὀργὴ θεοῦ

Es folgt eine zweigliedrige Darlegung des Zu‐ standes der Menschheit: erstens der vorliegende Zustand der Mensch‐ heit („Ist-Stand“)

425

Römerbrief

433

Der Brieftext zeigt deutliche übergeordnete Gliederungsmerkmale: Verse Textgliederungsmerkmale

Themen

1,8

πρῶτον … εὐχαριστῶ

Es folgt die topische Danksagung für die Ge‐ meinde.

1,18

ἀποκαλύπτεται ὀργὴ θεοῦ

Es folgt eine zweigliedrige Darlegung des Zu‐ standes der Menschheit: erstens der vorliegende Zustand der Mensch‐ heit („Ist-Stand“)

3,21

νυνὶ δε … διακιοσύνη θεοῦ zweitens eine analoge Darlegung des neuen πεφανέρωται Zustandes für alle Menschen, sofern sie an Jesus Christus glauben („Glaubens-Stand“).

9,1ff.

ἀλήθειαν λέγω ἐν Χριστῷ … ὑπὲρ τῶν ἀδελφῶν μου τῶν συγγενῶν μου κατὰ σάρκα, οἵτινές εἰσιν Ἰσραηλῖται

Auf den hymnischen Passus 8,31–39 folgt eine weitere Darlegung zum Thema: „meine Brüder, meine Stammverwandten nach dem Fleisch“ – die Israeliten etc.

12,1

παρακαλῶ

Unter dem Stichwort der Ermahnung stehen die Kapitel 12–15 (vgl. Wiederaufnahme in 15,30).

16,3

ἀσπάσασθε

Kap. 16 enthält ausführliche Grußlisten.

Die Gliederungsmerkmale belegen die Zweiteilung des Briefes: 1,1–15

1,16–11,34

12,1–15,33

16

Selbstvorstellung

thematische Aus‐ führungen

Ermahnungen

Grüße

434

O DA W ISCHMEYER

1.3 Gliederung

Der Brief ist nach dem üblichen Schema der Paulusbriefe konzipiert. Im Vergleich mit den anderen Paulusbriefen fällt Folgendes auf: 1. Der Briefeingang ist durch Selbstvorstellung (1,1–7) und Selbstempfeh‐ lung (1,13–15) des Apostels sehr deutlich ausgeweitet. 2. Die Zweierstruktur von theologischer Darstellung (1,16–11,36) und Er‐ mahnung (12–15) – theologisch auch als „Indikativ-Imperativ-Schema“ bekannt9 – begegnet nur in diesem Brief.10 3. Der epistolographische Schlussteil wirkt unübersichtlich und redun‐ dant. Die folgende Darstellung zeigt den thematischen Gliederungsvorschlag von J. A. Fitzmyer11, der besonders klar ist: 1,1–15

Einleitung

1,16–11,36 I. Lehrhafter Teil 12,1–15,13 II. Ermahnender Teil 15,14–33

III. Planung

16,1–23

IV. Schluss

16,25–27

V. Doxologie

Die Gliederungsvorschläge wichtiger Kommentare von Käsemann, Fitz‐ myer, Wilckens, Lohse, Schnelle, Haacker und Dunn unterscheiden sich vor allem in zwei Fragen: Erstens ist kontrovers, ob 1,16/18 bis 15,13 aus einem lehrhaften und einem ermahnenden Teil – jeweils mit Unterabschnitten – bestehen oder eine lockere Folge einzelner thematischer Abschnitte unter einem Generalthema darstellen. Die erste Sicht vertreten Fitzmyer, Wilckens und Schnelle, wäh‐ rend Haacker, Lohse und Dunn wie schon Käsemann die zweite Möglichkeit wählen.

9 10 11

Formulierung nach R. Bultmann, Theologie, § 38, 332–346, bes. 334. Dort aber nicht gliederungstechnisch, sondern theologisch gemeint. 1 Thess 4,1ff. Paränese, aber vorher keine kohärente theologische Darstellung. Gal 5,1ff. Paränese, aber nicht als solche gekennzeichnet. Gal 1–4 ist ebenfalls keine kohärente theologische Darlegung. Ich schließe mich J.A. Fitzmyer an und mache keinen eigenen Gliederungsvorschlag.

Römerbrief

Zweitens ist in besonderer Weise die Stellung des Kapitels 5 umstritten. Gehört es zu einem ersten Teil (Kap. 1–5), der Grundlegung des Evangeliums von der Offenbarung der Gottesgerechtigkeit – so Wilckens, Haacker und Dunn, oder zu einem zweiten Teil (Kap. 5–8), der Entfaltung der Glaubensgerechtigkeit als Wirklichkeit – so Käsemann und Lohse? Folgt man den Textgliederungssignalen, so ist Zweierlei deutlich: Erstens ist die Argumentationsstruktur der Kapitel 1,18–8,39 so dicht, dass erst die Verse 8,31–39 einen Abschluss schaffen. Zweitens legt sich von den Text‐ gliederungsmerkmalen her am ehesten eine Gliederungsstruktur nahe, die 1,18–3,31 als geschlossene Basisdarlegung versteht und die Kapitel 4–8 als Auseinandersetzung mit Problemen deutet, die die Darlegung in 1,13–3,21 aufwerfen. Diese Auseinandersetzung knüpft an Fragen an, die in 4,1 („Was sollen wir in Bezug auf Abraham sagen?“), 6,1 („Was sollen wir nun sagen? Sollen wir denn in der Sünde beharren, damit die Gnade umso mächtiger werde?“), 7,7 („Was sollen wir nun sagen? Dass das Gesetz Sünde sei?“) und 8,31 („Was sollen wir nun dazu – zusammenfassend – sagen?“) gestellt und jeweils ausführlich beantwortet werden. Formal legt sich daher eher eine leichte Zäsur bei 6,1 nahe, andererseits stellen die Kapitel 4 bis 8 einen so engen Argumentationszusammenhang dar, dass nur eine rhetorische und argumentative Analyse weitere Einblicke in den Textaufbau geben können. 1.4 Thematik

Die Zweiteilung des Briefes in theologische Darstellung und Paränese sowie die strenge Thematik der Kapitel 1 bis 8 schaffen die Rahmenbedingungen für die Frage nach dem Thema des Römerbriefs. Zugleich müssen mehrere Faktoren berücksichtigt werden: Der Römerbrief ist der einzige Brief des Paulus, der weder an eine von ihm gegründete Gemeinde noch eine ihm bekannte Person gerichtet ist und dementsprechend nicht vorwiegend spezielle Anliegen verfolgt. Er ist weiter der längste und auf weite Strecken hin rein theologisch, ohne expliziten Bezug auf Adressaten hin argumen‐ tierende Brief. Schließlich formuliert Paulus in den adressatenbezogenen Briefpassagen unterschiedliche Korrespondenzzwecke: in 1,1–7 und 1,8–15 bereitet er einen Rombesuch vor mit dem Zweck der Evangeliumspredigt vor den römischen Heidenchristen (1,5f.15), während er in 15,22–29 seiner Hoff‐ nung auf Unterstützung der geplanten Spanienmission durch die römische Gemeinde Ausdruck gibt. Eine Zusammenstellung wichtiger Positionen zur

435

436

O DA W ISCHMEYER

Frage nach dem Thema des Römerbriefes erleichtert den Einstieg in die Fragestellung: Käsemann (19804)

die Gottesgerechtigkeit (S. V und VI)

Wilckens (1978–1982)

das „Evangelium“ mit seinem zentralen Inhalt: der „Gerechtigkeit Gottes für jeden, der glaubt“ (S. 16)

Dunn (1988)

„It is … the tension between ‚Jew first but also Greek‘ 1:16, which Paul experienced in his own person …, which also provides an integrating motif for the whole letter“ (S. LXII); law is “the chief secondary theme running through the letter“ (ebd.)

Fitzmyer (1993)

die Verse 1,16.17 „announce the major theme of the letter“ (S. 253)

Haacker (1999)

theologische Selbstvergewisserung angesichts der Reise nach Jeru‐ salem und der Herausforderungen der West-Mission (S. 13)

Schnelle (2017)

„In der Briefthese 1,16.17 bündeln sich bereits alle zentralen theologischen Themen des Briefes. Allein im heilbringenden Evangelium offenbart sich die Gerechtigkeit Gottes all denen, die an Jesus Christus glauben, seien es Juden oder Griechen“ (S. 150).

Lohse (2003)

„Rechenschaft über die Bezeugung des Evangeliums …, mit dem er Rückblick auf sein bisheriges Wirken hält und ausführt, was für seinen weiteren apostolischen Dienst gilt“ (S. 45); „eine Summe des Evangeliums“ (ebd.)

Die Exegeten sind sich darüber einig, dass die zentrale Thematik des Briefes in 1,16–17 angesprochen ist. Eduard Lohse verwendet den glücklichen Terminus „propositio generalis“.12 Die propositio setzt drei verschiedene Elemente in ein Verhältnis zueinander: das Evangelium, die Gerechtigkeit Gottes und die Teilhabenden, Juden und Griechen. Die Exegeten gewichten diese Elemente unterschiedlich. Auffallend ist, dass von ihnen zwei wichtige Aspekte des Präskripts, Apostelamt des Paulus 13 und der Glaube, die ebenfalls in der propositio begegnen, weniger angesprochen werden. Allerdings äußern die Exegeten auch deutliche Bedenken angesichts der Fragestellung nach einer einzigen zentralen Thematik. Aus dem Gesagten geht hervor, dass jede Themenbestimmung des Römerbriefs die genannten fünf Größen

12 13

E. Lohse, Brief, 76. Lohse bezieht sich auf J.-N. Aletti, Comment Dieu est-il juste? Clefs pour interpréter l´épître aux Romains, Paris 1991, 36. In 15,15f. kommt Paulus noch einmal in einer metakommunikativen Äußerung auf den Apostolat zurück.

Römerbrief

berücksichtigen muss. Wesentlich ist die Einsicht, dass der Römerbrief nicht einem ergebnisoffenen Thema gewidmet ist, sondern eine These – eben die propositio generalis von 1,16f. – streng durchführt. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die Debatte um den Abfas‐ sungszweck hinzunimmt.14 Diese Debatte wird seit dem großen Aufsatz Ferdinand Christian Baurs (1792–1860)15 „Über Zweck und Veranlassung des Römerbriefs“16 geführt. Baur hat darauf hingewiesen, dass es „nicht sehr wahrscheinlich“ sei, „daß der Apostel ohne irgendeine besondere äußere Veranlassung, nur in der allgemeinen Absicht, eine umfassende und zusammenhängende Darstellung der Wahrheiten des Evangeliums zu geben, den Brief an die Römer geschrieben habe“.17 Seit Baur gilt daher die Analyse der Gemeindesituation und der Situation des Paulus als notwendige Voraus‐ setzung der Briefinterpretation. Baur geht von der Situationsbezogenheit aller paulinischen Briefe aus und vermutet diese auch im Römerbrief. Dabei stellt er – anders als die lutherische Auslegungstradition – die Kapitel 9–11 in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Er versteht diese Kapitel nicht als Auseinandersetzung mit dem Judentum, sondern mit den Judenchristen, die durch die erfolgreiche Heidenmission des Paulus in Achaia und der Asia aufgeschreckt waren: „An die römische Gemeinde ist also der diesem Gegenstand gewidmete Brief des Apostels gerichtet, weil jenes der Wirk‐ samkeit des Apostels sich entgegenstellende Vorurteil der Judenchristen in dieser Gemeinde, wie in keiner anderen, seinen Sitz hatte“.18 Die Diskussion um den Abfassungszweck des Römerbriefs hat seit F.Chr. Baur zu sehr unterschiedlichen Vorschlägen geführt,19 deren wich‐ tigste tabellarisch dargestellt werden:

14 15 16

17 18 19

Lit.: einführend Schnelle, Einleitung, 137–139. Vgl. U. Köpf, Art. Baur, Ferdinand Christian, RGG4 1 (1998), 1183–1185. F.Chr. Baur, Über Zweck und Veranlassung des Römerbriefs und die damit zusammen‐ hängenden Verhältnisse der römischen Gemeinde, in: ders., Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, hg. v. K. Scholder, Bd. 1: Historisch-kritische Untersuchungen zum Neuen Testament mit einer Einführung von E. Käsemann, Stuttgart/Bad Cannstatt 1963, 147–266. Ebd., 153. Ebd., 165. Vgl. den Sammelband von K.P. Donfried (Ed.), The Romans Debate, Minneapolis 1977; A.J.M. Wedderburn, The Reasons for Romans, Edinburgh 1988; A. Reichert, Der Römer‐ brief als Gratwanderung. Eine Untersuchung zur Abfassungsproblematik (FRLANT 144), Göttingen 2001, 13–59. – Kurzdarstellung bei Schnelle, Einleitung, 138f.

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Baur

Auseinandersetzung mit römischen Judenchristen, die die Heiden vom gesetzesfreien Evangelium ausschließen wollen (Kontext: Gegensatz zwischen Judenchristen und Paulus als dem Missionar, der die Heiden nicht dem Gesetz verpflichtet)

Born‐ kamm, Jervell, Wilckens

Jerusalem als heimliche Adresse des Römerbriefs (Kontext: vorweggenommene Auseinandersetzung des Paulus mit den Judenchristen in Rom, „Testament des Paulus“20)

Stuhlma‐ cher

Apologie gegenüber judenchristlichen Gegnern, die schon in Rom gegen Paulus agieren (Kontext: die andauernde Auseinandersetzung des Paulus mit ju‐ denchristlichen Gegnern, die ihn in Rom verdächtigen und seine Missionspläne behindern)

Haacker

Friedensappell an das Imperium Romanum (Kontext: Zeit vor der Neronischen Verfolgung und dem 1. Jüdischen Krieg, Zunahme der Spannungen zwischen Juden und Christen in Rom)

Reichert

Ausrüstung der römischen Gemeinde für die Westmission (Kontext: die Furcht des Paulus, seine Missionspläne nicht selbst zuende führen zu können)

Die Tabelle zeigt deutlich, wie seit F.Chr. Baur die Gründe für die Abfassung des Römerbriefs in der politischen, gemeindlichen und persönlichen Situa‐ tion des Paulus gefunden werden. Eduard Lohse hat demgegenüber zwar wieder an die reformatorische Hochschätzung der Rechtfertigungslehre des Römerbriefs als „caput et summa universae doctrinae christianae“, wie sie Melanchthon formuliert hat21, angeknüpft und auf die theologische Bedeutung des Briefes hingewiesen, betont aber in seinem Kommentar zugleich ebenfalls die situativen Züge des Briefes im Schnittpunkt zwischen den Reise- und Missionsplänen des Paulus nach Rom und Spanien und seiner bevorstehenden Kollektenreise nach Jerusalem.22

20 21

22

G. Bornkamm, Der Römerbrief als Testament des Paulus, Geschichte und Glaube II. Gesammelte Aufsätze IV (BEvTh 53), München 1971, 120–139, hier: 139. Philipp Melanchthon, Dispositio orationis in ep. ad Rom, in: C.G. Bretschneider (Ed.), Philippi Melanchthonis opera quae supersunt omnia, Bd. 15, Halle 1848, 445. Vgl. E. Lohse, Summa Evangelii – zu Veranlassung und Thematik des Römerbriefes (NAWG.PH I.3), Göttingen 1993, 89–119. Melanchthon spricht allerdings von der Rechtfertigung, nicht vom Römerbrief selbst, wie E. Lohse andeutet. Lohse, Brief, 42–45 (Auf S. 45 wendet Lohse sich gegen den Terminus vom „Testament des Paulus“).

Römerbrief

Wedderburn, Fitzmyer, Dunn und Schnelle gehen von einer Mehrzahl von Abfassungsgründen aus. Dunn sieht einen missionarischen, einen apologe‐ tischen und einen pastoralen Zweck,23 Fitzmyer nennt sechs, Schnelle fünf Faktoren, die die Abfassung dieses Briefes verursacht haben.24 Die dargestellten Positionen machen deutlich, dass, analog zu den fünf zentralen thematischen Größen, die Frage nach dem einen Zweck des Römerbriefs durch die Darstellung der unterschiedlichen Faktoren, die zur Abfassung des Briefes führten, ersetzt werden muss. 1.5 Wortfelder

Im Römerbrief häufen sich einige theologische Begriffe in auffallender Weise: νόμος, ἁμαρτία, πίστις, δικαιοσύνη, ἔθνος, ἄνθρωπος und σἀρξ.25 Am häufigsten sind die beiden Nomina θεός und ἐγω vertreten.26 Die Kapitel 1,18–3,20 zeigen eine stark dikanisch geprägte Diktion: Ge‐ rechtigkeit (δικαιοσύνη), Gericht (κρίμα), Gesetz (νόμος), Sünde (ἁμαρτία) und Verurteilung (κατάκριμα) bilden den großen Rahmen, den das Evange‐ lium in seiner Offenbarung der δικαιοσύνη θεοῦ (1,16f.) neu definiert.27

23 24

25

26 27

J.D.G. Dunn, Romans, LIV–LVIII. Fitzmyer, Romans, 79; Schnelle, Einleitung, 137. Wedderburn, Reasons, 142, spricht von einem „cluster of different interlocking factors: the presence of both Judaizing and Law-free Christians in the church there, the present situation of Paul, the visit to Jerusalem now being undertaken and the prospect of a future visit to Rome. All played their part in provoking to write to the Roman Christians as he did“. Vgl. Morgenthaler, Statistik (Anm. 2), 168: Häufigkeitstabelle zu den Paulusbriefen. Bei einem Wortbestand von ca. 7100 Wörtern begegnen: der eine jüdische identity-marker νόμος 72-mal (an 16. Stelle überhaupt, nach θεός das häufigste Substantiv!), ἁμαρτία 48-mal, πίστις 40-mal, δικαιοσύνη 33-mal, ἔθνος 29-mal, σἀρξ 26-mal; νόμος, πίστις und σἀρξ begegnen auch im Gal überdurchschnittlich häufig. Die Korrelationsbegriffe zu ἔθνος / ἔθνοι (vgl. auch Ἕλλην 6-mal) sind Ἰουδαῖος (11-mal) und Ἰσραήλ (11-mal). Die Begriffe εὐαγγέλιον (9-mal) und ἀπόστολος (3-mal, eher selten, vgl. 1 Kor: 10-mal), die im Präskript und in der propositio angesprochen werden, begegnen im Römerbrief nicht übermäßig häufig. Dasselbe gilt für den weiteren identity-marker περιτομή (14-mal im Röm, 7-mal im Gal, 35-mal insgesamt im NT). Der dritte jüdische identity-marker, der Sabbat, wird dagegen im Röm gar nicht angesprochen (vgl. allerdings 15,5f.). Der vierte identity-marker, die Speisegesetzgebung, wird in Kap. 14 thematisch behandelt. Θεός 153-mal, ἐγώ 90-mal; θεός ist das häufigste Nomen bei Paulus (548-mal), ἐγώ und ἡμεῖς liegen beide mit je 397-mal an zweiter Stelle. Hinzu kommen weitere Begriffe: ἀδικία, ἀναπολόγητος, ἀλήθεια, ψεῦδος, ἁμαρτάνειν, κρίειν, ἔργον τοῦ νόμου, συνείδησις, ἀπολογεῖθαι, δίκαιος, προαιτιᾶσθαι, ὑπόδικος, κατηγορεῖν.

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1.6 Kommunikation, Gattung und Rhetorik 1.6.1 Kommunikation

Paulus schreibt an „alle Geliebten Gottes in Rom, die berufenen Heiligen“. Er bezeichnet sie von Anfang an als ἀδελφοί (1,13), aber in der folgenden Argumentation spricht er seine Adressaten, die Christen in Rom, nur noch selten als Brüder an.28 Gerade die grundlegenden Kapitel 1,16–6,23 kommen ohne weitere Anrede aus. Allerdings befindet Paulus sich ab 6,11 streckenweise in einem argumentativen Dialog mit den Adressaten.29 Die eigentliche kommunikative Situation stellt Paulus aber lediglich im Proömium (1,8–12 briefliche Danksagung; 1,13–15 briefliche Selbstempfeh‐ lung) und im Briefschluss her (15,14 mit Anrede – 16,24 wohl sekundär). Die kommunikative Schlüsselaussage findet sich in 15,15: Paulus schreibt den ihm persönlich unbekannten und nicht von ihm missionierten christlichen Römern kraft und aufgrund der Gnade, die ihm von Gott gegeben ist, damit er ein λειτουργός (ein Beamter oder Priester) Christi Jesu unter den Brüdern sei. Hier liegt eine sog. meta-kommunikative bzw. briefhermeneutische Aussage des Paulus vor.30 Er schreibt also offiziell als Beauftragter Jesu Christi, wie schon das Präskript, das um den Apostelbegriff herum aufgebaut ist, ganz deutlich zeigt.31 Sein Thema ist – schriftlich wie mündlich – das Evangelium von Jesus Christus (1,15; 1,16ff.). Davon zeugt auch der Beginn des Briefschlusses, die sog. apostolische Parusie (15,14–29), in der Paulus den Römern seine Reisepläne im Auftrag der Evangeliumsverkündigung darlegt, in deren Rahmen er sie persönlich kennenlernen will. Damit nimmt er die persönliche Kommunikation brieflich vorweg. Der Römerbrief ist also anders als die Korintherbriefe nicht Teil eines zweiseitigen Kommunikati‐ onsvorgangs, einer Briefkorrespondenz oder eines Boten- und Abgesand‐ tenaustausches, sondern eröffnet Kommunikation – und zwar unter den definierten Bedingungen seiner Evangeliumsverkündigung an die Heiden als Apostel Jesu Christi.

28 29 30

31

7,1.4; 8,12; 10,1; 11,25; 12,1; 15,14.30; 16,17. Vorher auch kein weiterer impliziter Bezug auf die Adressaten. In 6,11 begegnet ein explizites „ihr“ (ὑμεῖς, so auch 7,4; 8,9; 11,30; 16,17). Vgl. E.-M. Becker, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief (NET 2), Tübingen/Basel 2002, 117–122, bes. 121: „Briefhermeneutik entsteht als meta-kommunikative Explikation des Beziehungsaspekts in einer medial vermittelten schriftlichen Kommunikation“. Vgl. auch 1,11.13–15.

Römerbrief

Kapitel 1632 macht dies abschließend deutlich. Paulus empfiehlt zunächst Phöbe, die vielleicht die Briefüberbringerin ist. Dann stellt er in einer Grußliste unterschiedliche Personen bzw. Personengruppen zusammen, die er in Rom kennt. Er nennt 24 römische Christinnen und Christen namentlich.33 Diese für Paulus ganz ungewöhnliche Grußliste verdankt sich der ungewöhnlichen Kommunikationssituation des Briefes: „Gerade weil Röm 1–15 singulär sind, ist es Röm 16 auch“ (P. Lampe).34 Hinzu kommen die namentlichen Grüße von acht Männern – Mitarbeiter des Paulus und wichtige Christen aus der Gemeinde in Korinth (16,21–23). Diese Anknüpfungspunkte einer persönlichen Kommunikation ändern aber nichts am offiziellen Charakter des Briefes, der durch 16,16: „Es grüßen euch alle Gemeinden Christi“ noch einmal umfassend zum Ausdruck gebracht wird. 1.6.2 Gattungsfragen

Die Frage nach der literarischen Gattung des Römerbriefes lässt sich nur im Zusammenhang der folgenden drei Größen erörtern: der allgemeinen antiken Gattungslehre, der Epistolographie und der Rhetorik.35 Die klassische griechische Gattungstheorie 36 bietet keine Möglichkeit, den Römerbrief einer literarischen Gattung zuzuordnen. Andererseits hat der Römerbrief selbst gattungsbildend gewirkt. Die großen nachpaulinischen christlichen Gemeindebriefe von den Deuteropaulinen über den Hebräer‐ brief bis zum 1. Clemensbrief gehören in diesen Zusammenhang. Versuche, den Römerbrief als philosophische Mahnschrift (Logos protreptikos)37 oder als literarisches Testament38 zu bestimmen, haben sich nicht durchgesetzt. 32 33

34 35 36 37 38

Zur literarkritischen Frage siehe 2.3. Aristobulos (16,10) und Narzissus sind nicht Christen (16,11), sondern Hausvorsteher, die Paulus bekannte christliche Sklaven oder Freigelassene in ihrem Hausstand haben. Vgl. P. Lampe, Christen, 124–153. Zu Iunia(s) vgl. Lohse, Brief, 408 f. Anm. 15: es handelte sich wohl um das judenchristliche Ehepaar Andronikus und Junia, die zu den urchristlichen Wandermissionaren (Apostel im weiteren Sinn) gehörten. Ebd., 126. Siehe dazu den Beitrag von Ch. Hoegen-Rohls im vorliegenden Band. Führend: Aristoteles, Poetik; vgl. R. Hunter/P.R. Hardie, Art. Lit. Gattung, DNP 7 (1999), 260–266. D. E. Aune, Romans as a Logos Protreptikos in the Context of Ancient Religious and Philosophical Propaganda, in: M. Hengel/U. Heckel (Ed.), Paulus und das antike Judentum (WUNT 58), Tübingen 1991, 91–121. Bornkamm, Römerbrief (Anm. 20), 120–139. – G. Theißen, Das Neue Testament (Beck Wissen 2192), München 2002, 56 ff., verwendet dieselbe Gattungsbestimmung, führt sie

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Vielmehr wird der Römerbrief überwiegend von seiner Briefstruktur her verstanden und in der antiken Brieftheorie verortet. Hier werden unter‐ schiedliche Mikrogattungen angeboten: der Briefessay, das diplomatische Schreiben, der Selbstempfehlungsbrief, der Freundschaftsbrief.39 Es ist deut‐ lich, dass bei diesen Zuweisungen die Gattung Brief nach unterschiedlichen Zwecken gegliedert erscheint, wie es in der antiken Brieftheorie üblich war.40 Reine Zweckbriefe – z. B. Bittbriefe, Trostbriefe, Drohbriefe – waren in der Briefpraxis gerade bei so langen Briefen wie dem Römerbrief eher selten. Hier fließen verschiedene Zwecke und Tonlagen ineinander. So ist 1,18–3,20 nach antiker Terminologie ein τύπος κατηγορικός, ein Anklagebrief; 3,21– 8,29 wäre ein τύπος αἰτιολογικός, ein Begründungsbrief, 12,1–15,13 ein τύπος συμβουλευτικός oder νουθετητικός, ein ermahnender oder zurecht‐ weisender Brief, während in den Kapiteln 15,14ff. bis 16 auch Freundschafts-, Empfehlungs- und Bittmotive begegnen.41 Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der Römerbrief einerseits der antiken Gebrauchsgattung Brief angehört, die seit hellenistischer Zeit als litera‐ rischer Brief stilistische, ethische und psychologische Beachtung fand42, andererseits das Schreiben eines Mannes ist, der weder Handbücher der Epistolographie noch griechische Briefschriftsteller gelesen hatte. Wenn der Römerbrief trotzdem inhaltlich und sprachlich als literarisch anspruchsvol‐ ler Text43 gelten darf, dann liegt der Grund dafür in der literarischen und theologischen innovativen Produktivität des Paulus, der mit diesem Schrei‐ ben über seine sonstige Korrespondenz hinausgeht und neben den Typus

39

40 41

42 43

aber folgendermaßen aus: „Der Römerbrief ist ein Traktat in Briefform“ (56). Das würde aber nur für Kap. 1–11 gelten. Vgl. F.W. Horn, Paulusforschung, in: ders. (Hg.), Bilanz und Perspektiven gegenwärtiger Auslegung des Neuen Testaments. Symposium zum 65. Geburtstag von Georg Strecker (BZNW 75), Berlin/New York 1995, 30–59, 35 Anm. 16. Weiter: H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament (UTB 2022), Paderborn/München 1998, 230. Klauck, Briefliteratur, 157–164. Zu allen Motiven vgl. Klauck, Briefliteratur, 159. R. Jewett hat den Römerbrief als Ausdruck der „missionary diplomacy“ des Paulus interpretiert und ordnet Röm unter die „Gesandtenbriefe“ ein: R. Jewett, Romans as an Ambassadorial Letter, Interpretation 36, 1982, 5–20. Klauck, Briefliteratur, 95ff.148ff. O. Wischmeyer, Paulus als Autor, in: dies., Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments (WUNT 173), hg. v. E.-M. Becker, Tübingen 2004, 289–307, bes. 303: „Im Römerbrief ist Paulus in höherem und bewußterem Maße literarischer Autor als in seinen anderen Briefen“.

Römerbrief

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des philosophisch-literarischen Briefes (Platon, Epikur, Cicero, Seneca) den neuen und zukunftsweisenden Typus des theologischen Briefes stellt. 1.6.3 Rhetorik

Der Römerbrief liest sich über weite Teile als eine geordnete literarische bzw. briefliche Rede über die Gerechtigkeit Gottes im Lichte des Evangeliums (1,16f.). Besonders amerikanische Exegeten interpretieren den Römerbrief als argumentative Rede bzw. als Argumentation. Wilhelm Wuellner hat in einem viel beachteten Beitrag 1977 „Paul’s Rhetoric of Argumentation“44 skizziert. Er stellt die Frage nach der literarischen Gattung zurück und betont stattdessen die Bedeutung der Funktion der rhetorischen Argumentation für das Verständnis des Briefes: „Not theories of literary forms, but theories of rhetorical argumentation, will offer us solutions to the problem of Romans“.45 Sein Gliederungsvorschlag lautet: 1,1–15

Exordium (identisch mit dem Präskript)

1,16–17

Transitus

1,18–15,13

Confirmatio

15,14–16,23

Peroratio (identisch mit dem Postskript)

Wuellner beschäftigt sich besonders mit dem paränetischen Briefteil. Er versteht 12,1–15,13 als praktische Verpflichtung der Adressaten: „Argu‐ mentative thought (exordium and probatio in Rom 1:1–15 and 1:16–11:36) relates to the argumentative appeal to commitment (parenesis in Rom 12:1–

44

45

W. Wuellner, Paul’s Rhetoric of Argumentation in Romans, CBQ 38 (1976), 330–351 = Donfried (Ed.), The Romans Debate, 133–146 = Edinburgh 21991, 128–146; St.E. Porter, The Theoretical Justification for Application of Rhetorical Categories to Pauline Epistolary Literature, in: ders./Th.H. Olbright (Ed.), Rhetoric and the New Testament. Essays from the 1992 Heidelberg Conference (JSNT.S 90), Sheffield 1993, 100–122; C.J. Classen, St. Paul’s Epistles and Ancient Greek and Roman Rhetoric, 265–291. Grundlegend für Paulus ist: H.D. Betz, The Problem of Rhetoric and Theology According to the Apostle Paul, in: A. Vanhoye (Ed.), L’Apôtre Paul. Personalité, Style et Conception du Ministère (BEThL 73), Leuven 1986, 16–48. Wuellner, Rhetoric2, 132.

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15:13)“.46 Im rhetorischen Argumentationszusammenhang handelt es sich nach Wuellner um ein exemplum bzw. Paradigma.47 E. Lohse schließt sich mit einer gewissen Vorsicht Wuellner an und schlägt als Gliederung vor: 1,1–15

Exordium

1,16f.

Propositio (allgemein unterrichtender Teil, bei Lohse eher verengt als These verstanden)

1,18–15,13

Argumentatio (beweisender Teil)

15,14–16,23

Peroratio48

Deutlich ist, dass diese rhetorische Analyse zu allgemein bleibt und nicht über die klassischen thematischen Gliederungsvorschläge hinausführt. Schwierig gestaltet sich auch die Frage nach dem rhetorischen Genus des Briefes. Von den drei genera, die Aristoteles in seiner Rhetorik beschreibt (genus iudiciale, die Gerichtsrede; genus deliberativum, die Ratsrede; genus demonstrativum, die Festrede) passt keine auf den gesamten Römerbrief. Wuellner plädiert für das genus demonstrativum der Festrede (griechisch ἐπιδεικτικόν): „Romans is epideictic“.49 Er versteht die Festrede in diesem Fall als die rhetorische Anstrengung, eine intensive Zustimmung und Gefolgschaft bei seinen Lesern für seine propositio zu finden, gleichsam das „O.K.“ der Zuhörer.50 Lohse schließt sich – wieder vorsichtig – Wuellner an.51 James D. G. Dunn widerspricht dieser Klassifikation, die in der Tat sehr blass bleibt.52 Er weist vielmehr auf die paulinische Eigenart des Schreibens und Argumentierens hin, die sich nicht einem rhetorischen Genus zuordnen lässt: „the chief force of the letter lives in its distinctive Pauline art and

46 47 48

49 50 51 52

Ebd., 143. Ebd., 144. Lohse, Brief, 96. Lohse benutzt die in deutschen Lehrbüchern gebräuchlichere Termi‐ nologie (vgl. H. Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, 101990, bes. 29). – Vgl. allg. Lohse, Brief, 94–97 und Lit. 94 Anm. 39; Horn, Paulusforschung, 34–40, zur rhetorischen Analyse des Römerbriefs. Wuellner, Rhetoric2, 135. Ebd., 139. Lohse, Brief, 95. Dunn, Romans 1–8, LIX.

Römerbrief

content“.53 Wenn H. Hübner den apologetischen Charakter von 1,18–11,36 betont54, bezieht er sich auf ähnliche Beobachtungen wie Wuellner: Paulus will nach Wuellner Einwände gegen sein Gesetzesverständnis widerlegen, d. h. er will seine Argumentation stärken. Wichtiger ist aber die Beobach‐ tung, dass mindestens der Text 1,18–3,20 eine reine Gerichtsrede, und zwar eben gerade nicht eine Verteidigungsrede, sondern eine Anklagerede ist, die in einen universalen Schuldspruch mündet (Anrede 2,1.17; Schuldspruch 3,19b). Dieser Sachverhalt zeigt die Schwäche von Wuellners und Hübners generellen Deutungsvorschlägen. In der Tat lässt sich der Römerbrief weder sinnvoll rhetorisch binnen‐ gliedern noch einem rhetorischen Genus zuordnen. Wesentlich bleibt aber Wuellners Hinweis auf die argumentative Struktur des Briefes im Ganzen und auf die Kunst des Einzelarguments, die am besten in den Kommentaren analysiert wird. Zurecht weist J.A. Fitzmyer darauf hin, dass Paulus den Brief diktiert habe und: „Paul’s style is more that of an orator than of a writer … Romans was meant to be read aloud, more as a formal lecture than a literary essay-letter“.55 Dies weist noch einmal auf die Kommunikationsstruktur und auf die Gattungsfrage zurück. 2 Textentstehung 2.1 Verfasser, Adressaten und historische Situation

Der Verfasser des vorliegenden Briefes ist Paulus (1,1). Paulus hat den Brief dem Tertius diktiert, der selbst in 16,22 die römischen Christen grüßt. Im Präskript (1,1–7), in der Danksagung (1,8–15) und im Briefschluss (15,14ff.) führt Paulus den Lesern seine Person deutlich vor Augen: sein Apostolat, seine Sendung zu den Heiden, seine früheren und gegenwärtigen Reise- und Missions- bzw. Predigtpläne. Biographisch wichtig sind vor allem in 15,17–32 die Aussagen zu seiner bisherigen Selbstdarstellung seiner Mission, zur Kollekte und zur bevorstehenden Jerusalemreise sowie zur geplanten Spanienmission, die Paulus ausschließlich in 15,24 und 28 erwähnt. Die Adressaten sind „alle Geliebten Gottes in Rom, die berufenen Heiligen“ (1,7). Paulus schreibt nicht an die eine ἐκκλησία in Rom, da in der Hauptstadt 53 54 55

Ebd. – Weiter: J.D.G. Dunn, Paul’s Epistle to the Romans: An Analysis of Structure and Argument, ANRW II 25.4, 2842–2890. H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 2, Göttingen 1993, 239–258. Fitzmyer, Romans, 92.

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bereits mehrere Hausgemeinden bestanden, wie die Grußliste in Kap. 16 zeigt.56 Die Entstehungsgeschichte der christlichen Gemeinden in Rom liegt im Dunkeln. Wir wissen weder etwas über ihren Gründer noch über den Zeitpunkt ihrer Entstehung. Deutlich ist aber, dass sie mit zwei Faktoren zusammenhängt: mit der großen jüdischen Gemeinde in Rom und mit dem Handel, der schon früh einzelne Christen in die Hauptstadt geführt haben muss. Paulus findet jedenfalls schon mehrere Hausgemeinden vor und geht davon aus, dass er in Rom Unterstützung für seine Spanienmission finden wird. Vier wesentliche Daten für die Geschichte des Judentums in Rom57 und für die Frühgeschichte der römischen Christen sind bekannt:58 19 n. Chr.

41 n. Chr.

49 n. Chr.

Okt. 54 n. Chr.

Austreibung der Juden unter Tibe‐ rius

Versammlungs‐ verbot des Clau‐ dius für Juden

Claudiusedikt: Austreibung der Juden

Tod des Claudius, Aufhebung des Edikts

Tacitus, Annalen II,85 Sueton, Vita Tiberii 36

Dio Cassius, Römische Ge‐ schichte LX 6,6

Sueton, Vita Claudii 25,4 (Datierung nach Orosius, Historia adversus paganos VII 6,15)

Sueton, Vita Neronis 33,1

Die wiederholte Beschränkung jüdischer Versammlungen bzw. zeitweilige Austreibungen der Juden aus Rom weisen auf die zahlenmäßige Größe 56

57

58

Paulus erwähnt folgende Größen: die Hausgemeinde (ἐκκλησία κατ’ οἶκον αὐτῶν) bei Aquila und Prisca in 16,5, die Brüder in V.14 und V.15, die „aus dem Hausstand des Aristobulos“ V.10 und „aus dem Hausstand des Narcissus“ (V.11). Lampe, Christen, 302: „So zählen wir in der Großstadt Rom fünf verschiedene christliche Inseln. Gehen wir davon aus, dass die anderen 14 Einzelpersonen des Kapitels zu keinem dieser fünf Kristallisationspunkte gehören und sie auch kaum nur einem einzigen weiteren Kreis angehören, ergeben sich mindestens sieben gesonderte Inseln. Eine mindestens achte kommt hinzu, als Paulus in Rom weilt und auch in seiner Mietwohnung (… Apg 28,30f.) Christen versammelt. Anzeichen für ein räumliches Zentrum … bieten sich nirgends. Jeder Kreis dürfte je für sich in einer Wohnung Gottesdienst feiern, so dass er als Hausgemeinde anzusprechen ist.“ Zu Rom vgl. P. Lampe, Rom – Hauptstadt und größte Metropole des römischen Reiches, in: K. Erlemann u. a. (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur II: Familie. Gesellschaft. Wirtschaft, Neukirchen-Vluyn 2005, 165–171 (Lit.). Vgl. den Beitrag von D.-A. Koch im vorliegenen Band (auch zur Namensliste). Vgl. E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C.–A.D. 135). A New English Version rev. and ed. by G. Vermes/F. Millar, 3 vol.s, Edinburgh 1973–1987.

Römerbrief

der römischen jüdischen Gemeinde und auf ihre Wahrnehmung durch die Römer hin. Waren die römischen Christen zur Zeit der Abfassung des Paulusbriefs in ihrer Mehrheit Juden- oder Heidenchristen? Die Forschung geht mit Peter Lampe mehrheitlich von folgender Situation aus: „Spätestens nach der Ab‐ lösung von der Synagoge überwiegt zur Zeit der Abfassung des Römerbriefes das (wahrscheinlich sich vor allem aus Sebomenoi-Kreisen rekrutierende) Heidenchristentum: Paulus rechnet mehrmals damit, dass die stadtrömischen Christen aufs Ganze gesehen aus dem Paganismus stammen.59 Diese ein‐ deutigen Aussagen müssen methodisch die Priorität besitzen vor dem sich vom sonstigen Briefinhalt her nahelegenden Eindruck, dass im Römerbrief eine hauptsächlich judenchristliche Leserschaft anvisiert sei.“60 Was die soziale Zugehörigkeit der römischen Christen angeht, kennen wir freie Gewerbetreibende (Aquila und Prisca), überwiegend aber Sklaven oder Freigelassene.61 Sie kamen zum großen Teil aus dem griechischsprachigen Osten des römischen Reiches und waren peregrini. Über die Größe der Gemeinden wissen wir nichts. Allerdings müssen sie so groß gewesen sein, dass Paulus Unterstützung von ihnen erhoffte und dass die römischen Behörden unter Nero die Christen als eigene religiöse Formation kannten. Die Situation, in der Paulus den Brief verfasste, beschreibt er selbst in 15,14ff. präzise: Er steht am Ende seiner Mission im östlichen Reichsteil und will nun in Spanien missionieren. Die römischen Christen sollten ihn dorthin „weiterleiten“ (15,24), d. h. ihm materielle, sprachliche und lan‐ deskundliche Unterstützung im lateinsprachigen Spanien geben. Er denkt wohl auch an Beziehungen, die die römischen Christen im Westen des Reiches haben. Vor seiner Romreise plant er einen Jerusalembesuch, um der dortigen Gemeinde die Kollekte „zuverlässig zu übergeben“ (15,28). Er spricht deutlich aus, dass diese Reise wegen der „Ungehorsamen“ (15,31), d. h. der Juden, gefährlich werden wird.

59 60 61

Hinweis auf 1,5f.13–15; 11,13.17f.24.28.30f.; 15,15f.18; vgl. auch 15,9ff.; 6,17–21 und 1,18ff. Weiter: Apg 28,23–31. Lampe, Christen, 54. Ebd., 141–164.

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2.2 Zeit und Ort der Abfassung

Die Forschung geht mehrheitlich davon aus, dass Paulus den Brief in Korinth im Haus des Gaius im Frühjahr 56 n. Chr. seinem Mitchristen Tertius diktiert habe (Apg 20,2f.; Röm 16,1f.23). 2.3 Einheitlichkeit und Redaktionsprozesse

Die Kapitel 1 bis 15 werden von der Mehrzahl der Exegeten als kohärenter Text verstanden. Kapitel 16 dagegen wird seit langem immer wieder als literarkritisches Problem empfunden und von verschiedenen Exegeten als Anschreiben des Paulus an Ephesus interpretiert.62 Folgende wichtige Hy‐ pothesen werden in diesem Zusammenhang vertreten: Röm 16

selbständiges Schreiben an Ephe‐ Deissmann/Schmithals/Marx‐ sus, später an Röm angehängt sen/Käsemann/Vielhauer/ Schenke-Fischer/Trobisch/Thei‐ ßen

Röm 1–15/ Allgemeines Lehrschreiben an Manson Röm 16 Rom, das zusammen mit Röm 16 an Ephesus geschickt wurde Röm 16

Sammlung verschiedener Brief‐ fragmente

Feine-Behm/Michaelis/Bartsch

Demgegenüber vertritt die Mehrzahl der Exegeten die Einheit von Röm 1–16, besonders da es keine Handschrift gibt, die mit Kap. 15 endet, und da „die Zusammenfügung zweier Schreiben mit völlig verschiedener Adresse … ganz singulär in der urchristlichen Briefliteratur“ wäre.63

62

63

Vgl. W.-H. Ollrog, Die Abfassungsverhältnisse von Röm 16, in: D. Lührmann/G. Strecker (Hg.), Kirche. Festschrift für Günther Bornkamm zum 75. Geburtstag, Tübingen 1980, 221–244, dort Anm. 1: zuerst bei D. Schulz, Recensionen zu: Eichhorn, Einleitung in das Neue Testament, und De Wette, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die kanonischen Bücher des Neuen Testaments, ThStKr 2 (1829), 563–636. – Bei Ollrog alle Einzelheiten und die Literaturangaben zur Tabelle. Zu Trobisch und Theißen vgl. Theißen, Das Neue Testament (Anm. 38), 56: Theißen vermutet, Paulus habe den Römerbrief als publizistisches Testament an Rom geschickt und gleichzeitig Abschriften an Korinth und Ephesus gesandt. Für die Gemeinde in Ephesus habe er ein eigenes Kapitel – Kap. 16 – hinzugefügt. Die Grundlage dieser Hypothese findet sich bei D. Trobisch, Die Paulusbriefe und die Anfänge der christlichen Publizistik, Gütersloh 1994. Ollrog, Abfassungsverhältnisse, 234. – Ollrog hält allerdings 16,17–20a (Irrlehrerpole‐ mik) und 16,25–27 (Schlussdoxologie) für spätere Glossen aus der Zeit des 1. Clemens‐ briefes (ca. 96 n. Chr.).

Römerbrief

Auf die Frage möglicher Glossen im Römerbrief (bes. 16,17–20a und 7,25b) kann hier nur hingewiesen werden.64 Historisch bleibt die Annahme eines Glossators problematisch. 2.4 Traditionen

Paulus verwendet im Römerbrief mehrfach urchristliche Tradition im Zu‐ sammenhang seiner Argumentation, ohne diese allerdings wie im 1 Kor ausdrücklich als solche zu kennzeichnen. Sprachliche und motivgeschicht‐ liche Argumente sprechen dafür, mindestens folgende Texte als urchristliche Tradition zu werten: 1,3b–4a; 3,25.26a; 4,25; 6,3f. 3 Textexegese 3.1 Durchgang durch den Text

Paulus stellt sich im Präskript (1,1–7) ausführlich und theologisch gewichtig als Apostel der Heiden, zu denen auch die Christen in Rom gehören, vor. Er schreibt den Brief ohne Mitabsender bzw. Co-Autoren. Im zweiteiligen Proömium (1,8–15) dankt Paulus für den überall bekann‐ ten Glauben der Christen in Rom, und er macht sie mit seinen Besuchsplänen und seinem Selbstverständnis als Prediger des Evangeliums für Griechen und Nichtgriechen vertraut. Teil I: Röm 1–11

Der erste Teil des Römerbriefes ist durchgehend einer allgemein gehaltenen argumentativen Belehrung gewidmet. Anreden an die römische Hörerschaft sind eher selten und für die Argumentation nicht entscheidend. Die Ge‐ sprächspartner der ersten Kapitel sind generisch: „O Mensch“ (2,1; vgl. 9,20), „Jude“ (2,17), „Du“ (11,17–24). Die vielen Fragen, die sich stellenweise häufen (2,3; 3,1.9.27.29; 4,1; 6,1.15; 7,7.13.24; 8,31–35; 9,14.19.20.21.30.32; 10,14–15.19; 11,1.3.4.7.11), sind rhetorische Stilmittel. Sie dienen nicht der persönlichen Kommunikation, sondern der Argumentation. Das Lehrschreiben des Paulus nach Rom (1,16–11,35) bildet eine deutliche argumentative Einheit: Die propositio generalis in 1,16f. wird im Folgenden 64

Zu 16,17ff. s. Anm. 63. Zu 7,25b vgl. H. Lichtenberger, Der Beginn der Auslegungsge‐ schichte von Röm 7: Röm 7,25b, ZNW 88 (1997), 284–295. Allg.: R. Bultmann, Glossen im Römerbrief, in: Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, Tübingen 1967, 278–284.

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in ihrer Bedeutung für Heiden und Juden entfaltet (Kap. 1–3), aus der Schrift verteidigt (Kap. 4) und ausführlich auf Christen (Kap. 5–8)65 und Juden (Kap. 9–11) angewendet. Die Argumentationseinheit schließt mit dem Hymnus in 11,33–35 und einem „Amen“. Die sehr detaillierte Argumentationsstruktur von Teil I kann hier nicht nachgezeichnet werden, sondern wird nur in ihren Grundlinien dargestellt. propositio generalis 1,16f. 1–3

4

5–8

9–11

Bedeutung für Heiden und Juden

Verteidigung aus der Schrift

Bedeutung für Christusgläubige

Bedeutung für die Juden

Den Ausgangspunkt stellt 1,16.17 dar: Οὐ γὰρ ἐπαισχύνομαι τὸ εὐαγγέλιον, δύναμις γὰρ θεοῦ ἐστιν εἰς σωτηρίαν παντὶ τῷ πιστεύοντι, Ἰουδαίῳ τε πρῶτον καὶ Ἕλληνι. δικαιοσύνη γὰρ θεοῦ ἐν αὐτῷ ἀποκαλύπτεται ἐκ πίστεως εἰς πίστιν, καθὼς γέγραπται· ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεως ζήσεται.

Diese Sätze sind zunächst die theologische Basis (γὰρ V.16) für die persön‐ liche Ankündigung des Paulus in seiner Selbstvorstellung, „auch euch in Rom das Evangelium zu verkündigen“. Die Sätze stehen damit einerseits im biographischen Kontext. Andererseits eröffnen sie (γὰρ V.18) die lehrhafte Abhandlung der Kapitel 1 bis 11. Die Sätze 1,16.17 formulieren die theologische Grundüberzeugung, das Evangelium entfalte seine soteriologische Kraft an jedem Menschen, der glaubt; d. h. es gelte (zwar) zuerst für Juden, aber dann (auch ebenso) für Nichtjuden. Der neue Oberbegriff „πιστεύων“, „jeder der glaubt“, steht also über dem klassischen religiösen dualen Begriffspaar des Judentums: „Juden – Nichtjuden“. Diese propositio muss unbedingt einen Punkt klären: die Art und Weise der Gerechtigkeit des Menschen vor Gott. Nach jüdischer Überzeugung resultiert diese aus der Erfüllung des Gesetzes und gilt den Israeliten, deren Stammvater Abraham ist. Paulus macht demgegenüber deutlich, dass die Gerechtigkeit, die seine Evangeliumsverkündigung offenbart, nicht aus der Gesetzeserfüllung, sondern eben aus dem Glauben kommt. Damit stellt sich 65

Beachte das ‚Wir’ von 5,1, das schon in Kap. 4 vorbereitet wird: 4,16; bes. 4,24. Zur Terminologie: ‚Christen‘ meint ‚christusgläubige Juden und Heiden‘. Paulus selbst verwendet den Ausdruck ‚Christen‘ nicht. Vgl. dgg. Apg 11,26; 26,28.

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aus jüdischer Sicht zugleich die grundsätzliche Frage nach der Funktion und Geltung des Gesetzes, die den einheitlichen theologischen Horizont der Kapitel 1–11 darstellt. 1,18–3,31 entfalten – wie schon gesagt – diese propositio generalis für Juden und Nichtjuden und für alle Menschen vor dem Hintergrund der göttlichen Strafgerechtigkeit. In 3,28–31 fasst Paulus diese Argumentation wiederholend zusammen: Juden wie Nichtjuden werden vor Gott durch den Glauben gerecht. Röm 1–3:

In Kapitel 1–3 arbeitet Paulus in verwirrender Weise mit unterschiedlichen anthropologischen Koordinatensystemen: einmal mit dem jüdischen Be‐ griffspaar Juden – Nichtjuden bzw. der rhetorischen Anrede „Wenn du dich Jude nennst“ (2,17), zum anderen mit dem Meta-Begriff „Menschen“ bzw. der rhetorischen Anrede „O Mensch, der du richtest“ (2,1). Beide Koordinaten‐ systeme setzt er – nicht theoretisch, sondern im rhetorisch-argumentativen Vollzug – in Beziehung zueinander, um in der Gesamtargumentation sowohl die religiöse „Juden-Nichtjuden“-Thematik als auch die anthropologische „Menschheitsthematik“ jenseits des religiösen Dualismus zu erfassen. Dabei haben die einzelnen Argumentationsabschnitte eigene Pointen, die nicht miteinander systematisierbar sind. Die Einzeltexte von 1,18–3,20 bilden trotzdem eine rhetorische Einheit. Paulus schreibt im Modus der verurtei‐ lenden Gerichtsrede und kommt zu einem allgemeinen Schuldspruch des gesamten κόσμος vor Gott (3,20) – vor dem Horizont des göttlichen Straf‐ gerichtes, dessen Gerechtigkeitsanspruch die Menschen nicht entsprechen. Paulus schreibt als Ankläger. Die Anklage lautet: Die Menschen haben die Gerechtigkeit, die Gott gesetzt hat, zerstört. Darauf steht das Todesurteil. 1,18–32 erweist zunächst in Form einer apokalyptischen Gerichtsrede Gottes Gerechtigkeit als richtenden Zorn über jene Menschen, die wider besseres Wissen die Geschöpfe statt des Schöpfers verehren. Das sind aus jüdischer Sicht die Heiden, auch wenn Paulus dies hier nicht ausspricht. Die Anklagepunkte enthalten typische Vorwürfe aus dem Bereich der Anti-Heiden-Polemik. Die Ausführung endet mit der Verkündigung des göttlichen Todesurteils über „die, die das tun“ (V.32). Mit 2,1–10 folgt eine direkte Anklagerede gegen jene Menschen, die andere richten und selbst dasjenige tun, das sie bei anderen verurteilen. Für diese beschwört Paulus das Endgericht als Straf- und Zornesgericht. Das Endgericht lässt hier durchaus Spielraum für Rettung (2,7.10), denn in diesem Argumentationsteil ist Paulus nicht an der allgemeinen Verurteilung

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der Heiden interessiert, sondern hat jene Gruppe von Menschen im Blick, die ohne ethische Legitimation andere verurteilen. Paulus spricht ausdrücklich „Juden und Griechen“ an (Vv. 9.10). 2,11–16 66 weitet Paulus diese Teilperspektiven im Sinne einer allgemeinen Stellungnahme zu Anthropologie und Handlungsethik aus, die sich aus einem neuen Verständnis Gottes ableitet: Gott urteilt nicht mehr nach der Religion der Menschen, nämlich ihrem Juden- bzw. Heidentum, sondern unabhängig davon67. In diesem Zusammenhang entwickelt Paulus einen neuen, gleichsam postjüdischen, allgemein-menschlichen Gesetzesbegriff (V.14), der nicht mehr auf die Ganzheit der Tora Israels, sondern auf das Tun des ethisch verstandenen Guten68 bzw. des Sittengesetzes bezogen ist. Korrelat zu diesem allgemeinen Sittengesetz ist das Gewissen des einzelnen Menschen unabhängig von seiner ethnisch-religiösen Gruppenzugehörig‐ keit zu Juden oder Heiden. Damit tritt zugleich, ohne dass Paulus dies hier ausspräche, der einzelne Mensch als ethisch verantwortliches Individuum in den Blick (vgl. Kap. 7). In 2,17–24 spricht Paulus anklagend einen Ideal-Juden, der sich als Lehrer oder Pharisäer versteht69, an und entlarvt ihn als Heuchler im Sinne der allgemeinen Anklage von 2,1–10. Im Anschlusstext 2,25–29 stellt er klar, dass im Gefüge des jüdischen Bundesnomismus70 die Gesetzeserfüllung über dem Zeichen des Bundes, der Beschneidung, steht und daher dem beschnittenen „Heuchler“ nichts nützt. Paulus löst den Beschneidungsbegriff analog zur Ausweitung des Gesetzesbegriffes in 2,12–16 aus dem rituellen jüdischen Zusammenhang und behauptet die Möglichkeit einer „inneren“, d. h. ethi‐ schen, Beschneidung für Heiden, die er damit zugleich als Mitglieder des 66 67 68

69

70

Vgl. dazu O. Wischmeyer, Römer 2,1–24 als Teil der Gerichtsrede des Paulus gegen die Menschheit, NTS 52 (2006). V. 11 kann zu 2,1-10 oder zu 2,12-16 gerechnet werden. V.11: Gott übt keine προσοπωλημψία im Sinne der Bindung seines Urteils an religiöse Vorgaben, sondern bezieht sich ausschließlich auf das Tun der Menschen. Paulus spricht dies nicht aus. Aus seiner Argumentation geht aber hervor, dass er an das ‚Sittengesetz‘ denkt, das auch Heiden, die die Tora weder kennen noch praktisch einhalten könnten, erfüllen. Paulus geht daher von einer Übereinstimmung zwischen dem Ethos der Tora und dem Ethos der heidnischen Lebensregeln aus. Ob Paulus an einen Juden im Sinne des ἔθνος Ἰουδαίων denkt oder an einen Chris‐ tusgläubigen ethnischen Nicht-Juden, der sich hat beschneiden lassen und sich als Ἰουδαῖος versteht, geht aus dem Text nicht hervor. Deutlich ist der polemische Ton des Paulus, der sich ähnlich in Mt 23 findet (gegen moralische Heuchelei der Pharisäer und Schriftgelehrten; Heuchelei bei Paulus nur Gal 2,13 als Vorwurf gegen Petrus und Barnabas). Vgl. dazu den Beitrag von J. Frey, Das Judentum des Paulus im vorliegenden Band.

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Gottesbundes versteht, der nun nicht mehr primär dem ἔθνος Ἰουδαίων gilt. Die Gedankengänge von Röm 2,12–16 und 2,25–29 stellen eine revolutionäre Übertragung des Bundesnomismus auf die Nichtjuden dar. Paulus behauptet, auch Heiden können innerlich das Gesetz halten und innerlich beschnitten sein. Diese Behauptung ist grundlegend und muss sogleich den Einwand provozieren: Hat der Bundesnomismus Israels angesichts der These des Paulus überhaupt noch eine Bedeutung bzw. einen soteriologischen Nutzen? Paulus beantwortet diesen argumentativen Einwand in 3,1–8. Dies ist ein erster Hinweis auf die Problematik von Kapitel 9–11. Der Vorzug der Juden liegt in der Betrauung (ἐπιστεύθησαν) mit den λόγια τοῦ θεοῦ (V.2).71 In dem Passiv von ἐπιστεύθησαν deutet Paulus bereits die soteriologische Wendung seiner Argumentation an, die in 3,21ff. explizit einsetzt. Paulus beurteilt in 3,1–8 die Juden nicht mehr nach ihrer Gesetzeserfüllung, sondern von der Treue Gottes her, die er Israel unabhängig von dessen Untreue entgegen‐ bringt. Diese Heilsargumentation ist aber gefährlich, da sie zur Verstockung der Juden beitragen könnte (Vv.5.8). Daher stellt Paulus klar: Zwar gilt einerseits, dass die Untreue der Israeliten nicht Gottes Treue gegenüber Israel aufhebt, andererseits aber Israels Untreue weder Bestandteil des göttlichen Heilsplanes ist noch Gottes richtender Zorn ein Unrecht an Israel darstellt, sondern auf jeden Fall sein Richterzorn gerecht ist. In 3,9–20 zieht Paulus das Fazit seiner Anklage72 und kommt in V.9 zu dem Schuldspruch: „Juden und Griechen73 sind alle unter der Sünde“. Er fügt eine Kette von Schriftzitaten an, basierend auf Pred 7,20: οὐκ ἔστιν δίκαιος οὐδὲ εἵς.74 Paulus betont, dass diese Verurteilungssätze ja vom Gesetz selbst gesagt werden, „damit der ganze κόσμος Gott gegenüber schuldig werde“ (V.19). Damit ist die Anklage, die die Ungerechtigkeit aller Menschen vor Gottes Endgericht darlegt, beendet (1,18–3,20).75 Mit 3,21–26 vollzieht Paulus die grundsätzliche Wende im Verhalten Gottes nach, die er in Jesus Christus gekommen sieht. Er formuliert diese Wende in einem sehr anspruchsvollen, sprachlich komplexen Text, der

71 72 73 74 75

Die Aufzählung in 3,1 wird nicht weitergeführt. V.9 προαιτιᾶσθαι = vorher Anklage erheben. Hier Ἕλληνες statt ἔθνοι (vgl. ebenso 1,16; 2,9.10). Es handelt sich um die umfangreichste Zitatenkette bei Paulus. 3,20b nimmt die Überlegungen von Kapitel 7 zur eigentlichen Funktion des Gesetzes vorweg: es kann nicht Gerechtigkeit für die Menschen schaffen, da es ja selbst den Menschen das Urteil der Ungerechtigkeit gesprochen hat, aber es deckt die Sünde als Erscheinungsform der Ungerechtigkeit auf.

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das positive Zentrum der Kapitel 1–4 bildet und die propositio generalis christologisch expliziert. Gott macht die Menschen gerecht, die an Jesus Christus glauben. Der Glaube an Jesus Christus löst die Gerechtigkeit aus der Gesetzeserfüllung ab, die unmöglich ist. Die Bedeutung Jesu Christi für diese radikale Neudefinition von Gerechtigkeit beschreibt Paulus opferter‐ minologisch als Entsühnung (Vv.24.25). Der Glaube ist die Heilsmöglichkeit für alle Menschen (V.22). Hier greift Paulus die universale Perspektive von 2,12–16; 2,25–29 und 3,9–18 wieder auf – diesmal positiv. In 3,27–31 erörtert Paulus kurz einen weiteren jüdischen Einwand (vgl. 3,1ff.). „Wo bleibt der Ruhm“ (V.27; vgl. 2,17)? Das wichtige Motiv des Ruh‐ mes gehört für Paulus zur Gesetzeserfüllung (4,2). Der Glaube braucht und erzeugt keinen Ruhm. In 3,28 fasst Paulus nochmals seine These zum Evan‐ gelium (1,16f.) positiv zusammen. Es gibt Gerechtigkeit für die Menschen unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zum Volk Israel. Diese Gerechtigkeit vor Gott konstituiert sich für Juden wie für Heiden gleichermaßen (ἐκ und διά) sind bedeutungsgleich76) durch den Glauben.77 Röm 4:

In diesem Kapitel verteidigt Paulus die propositio generalis aus der Schrift anhand des Stammvaters Israels: Abraham. Paulus argumentiert in vier Abschnitten: 4,1–8.9–12.13–17 und 18–25. Er weist mit Gen 15,6 nach, dass Abraham nicht durch Werke, sondern durch seinen Glauben Gerechtigkeit erlangt hat. Zugleich betont er, Abraham sei die Glaubensgerechtigkeit schon vor seiner Beschneidung angerechnet worden – eben aufgrund seines Glaubens. Damit relativiert Paulus wie schon zuvor in 2,12–16 und 2,25–29 die beiden Grundpfeiler des jüdischen Bundesnomismus: das Gesetz und die Beschneidung. Die Erbverheißung („Erbe des κόσμος“ V.13; vgl. V.17 nach Gen 17,5) bezieht er auf Abrahams Glaubensgerechtigkeit. Durch diese Interpretation wird Abraham vom Stammvater Israels zum „Vater vieler Völker“ (V.18). Auch hier entschränkt Paulus eine zentrale jüdische Perspektive – die „Väter“ und die „Verheißung“ (vgl. 9,4 und 5), indem er Abraham in die Menschheitsgeschichte hinein‐ stellt. Gleichzeitig zeichnet er damit die Menschheitsgeschichte aber in die

76 77

Lohse, Brief, 139. In einer Schlussbemerkung setzt sich Paulus mit einem weiteren Einwand auseinander und stellt vorwegnehmend klar, dass durch den Glauben das Gesetz nicht aufgehoben wird (vgl. Kap. 2).

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Vätergeschichte Israels ein. Im letzten Argumentationsabschnitt erläutert er den Glaubensbegriff der propositio generalis anhand des exemplarischen Glaubens Abrahams. Paulus schließt den Schriftbeweis mit einem Hinweis auf den analogen Glauben der Christen. Röm 5–8:

In diesem deutlich durchkomponierten Abschnitt erreicht die Argumenta‐ tion des Paulus die Lage der Christen („wir“), deren heilsgeschichtliche Realität (νυνὶ δέ) er bereits in 3,21–26 dargestellt hatte. 5,1 fasst diese neue Situation vor Gott zusammen und leitet dann zum neuen Thema über: dem Leben der gerechtfertigten Christen im Frieden mit Gott unter den Bedingungen der alten Welt. Die Kapitel bilden eine argumentative Einheit. Paulus führt einerseits den „Frieden mit Gott“ positiv aus, andererseits muss er sich immer wieder mit den realen und theoretischen Problemen beschäftigen, die der Behauptung, die Christen lebten in Frieden mit Gott, entgegenstehen. Es geht um die Herrschaftsbereiche der vorfindlichen adamitisch geprägten Menschheit, die Paulus in Tod, Sünde und Gesetz konzentriert.78 Die Auseinandersetzung mit diesem Problem beansprucht den meisten Platz in der Argumentation. Paulus argumentiert kleinteilig in kurzen Textblöcken, ohne aber das genannte Argumentationsziel aus den Augen zu verlieren. Grundsätzlich gelten für den Status der Christen die Sätze 5,1: Δικαιωθέντες οὖν ἐκ πίστεως εἰρήνην ἔχομεν πρὸς τὸν θεὸν διὰ τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ und 8,1: οὐδὲν ἄρα νῦν κατάκριμα τοῖς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ. D.h. die Gerichtssituation und eschatologische Verurteilung, unter der nach Kapitel 3 alle Menschen stehen, ist für die Christen aufgeho‐ ben und durch einen eschatologischen Rechtsfrieden mit Gott ersetzt. Die christliche Existenz in diesem durch Christus hergestellten Rechtsfrieden beschreibt Paulus in 5,2–5 zunächst programmatisch als Hoffnungsexistenz (ἐλπίς 5,4f.), bezogen auf die irdische und auf die endzeitliche Existenz. Diese Perspektive greift er in 8,18–30 erneut und ausführlich auf. In diesem Abschnitt macht Paulus ganz deutlich, dass die christliche Existenz eine doppelte ist: als irdische gekennzeichnet durch „Bedrängnis“ und „Leiden“ (θλῖψις 5,3; παθήματα 8,18), als endzeitliche durch „Herrlichkeit“ (δόξα 78

Beachte besonders 5,12-14.17 (Herrschaft der Sünde und des Todes); 6,11.12 (Ende der Sündenherrschaft); 7,1 (Ende der Herrschaft des Gesetzes); 7,24f. und 8,1f. (zusammen‐ fassend zum Herrschaftswechsel) zu den Herrschaftsverhältnissen der alten Welt und zur futurischen Komponente der Freiheit von Tod, Sünde und Gesetz. Beachte auch das Futur in 8,11: ζῳοποιήσει.

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8,18). Zwischen 5,2–5 und 8,18–30 setzt sich Paulus mit verschiedenen Fra‐ gen auseinander, die dem Friedensstatus der Christen in der Doppelstruktur zwischen irdischer und endzeitlicher Existenz gelten. Der eschatologische Rechtsfriede mit Gott ist durch den Tod Jesu Christi hergestellt worden. Diesen grundsätzlichen Sachverhalt entfaltet Paulus in 5,6–11 in Termini der Opfertheologie (V.9). In 5,12–21 bedenkt Paulus die „Gnade und Gabe“ (V.15 χάρις καὶ δωρεά), die Christus den Menschen gebracht hat, im Vergleich und in der Beziehung zu Adam, den er als Urbild bzw. Vorabschattung Christi (τύπος τοῦ μέλλοντος) interpretiert (V.14). In diesem Abschnitt verbindet Paulus in komprimierter Form unterschiedliche Themen und Überlegungen. Grundsätzlich ordnet er die Menschheitsgeschichte heilsge‐ schichtlich-kollektiv bzw. partizipatorisch79 zunächst dem ersten Menschen, Adam, und seinem Todesschicksal zu (durch Eines Sünde sterben viele), dann dem Gnadenschicksal, das durch Christi Gerechtigkeit (δικαίωσις V.18) geschaffen wurde (durch Eines Tod werden viele gerettet80). Adam und Christus verhalten sich umgekehrt reziprok zueinander. Darüber hinaus verknüpft er mit diesem heilsgeschichtlichen Panorama die Sünden-, Todesund Gesetzesthematik, die die Kapitel 6 und 7 dominiert. Die Sünde und der Tod hängen an Adam und sind von ihm auf alle Menschen, auch auf die vormosaische Menschheit, die das Gesetz noch nicht kannte, übertragen worden (5,12–14). Das Gesetz, das nicht in diesen adamitischen Zusammen‐ hang gehört, sondern erst durch Mose gegeben wurde, bewirkte dann die Erstarkung der Sünde: 5,20–21, die es ja gerade verbieten wollte. Die adamitische Sünden- und Todesthematik behandelt Paulus in 6,1–14, nun bezogen auf das Hauptthema der Kapitel 5–8: die irdische Existenz der Christen („Wir“ 6,1). Mit verschiedenen Argumenten drückt er den einen Sachverhalt aus: Christen sind der Sünde gestorben (V.2). Die Argumente

79 80

Zum Begriff der Partizipation vgl. bes. das Standardwerk von E.P. Sanders, Paulus und das antike Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen (StUNT 17), Göttingen 1985, bes. 427ff. Fünf parallele Beweise Adam – Christus: Zwei Obersätze mit konträrer Überbietungsstruktur: V.15 Durch den Einen … – durch die Gnade des einen Menschen Jesus Christus … V.16 Aus dem Einen … – die Gnade … Drei analoge Beweissätze: V.17 Wegen der Übertretung des Einen … – durch den einen, Jesus Christus … V.18 Durch die Übertretung des Einen … – durch den einen, Jesus Christus … V.19 Durch den Ungehorsam des einen Menschen … – durch den Gehorsam des Einen …

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sind partizipatorischer Art: die Taufe in Christi Tod (Vv.3f.), die Teilhabe an seiner Kreuzigung (V.6), das Mitsterben mit Christus (V.8). Fazit: „So auch ihr, betrachtet euch selbst als solche, die tot für die Sünde sind, lebend aber für Gott in Christus“ (V.11). Dieser Zustandsbeschreibung folgt eine Kurzparä‐ nese in 6,12–14, an deren Ende die Gesetzesthematik erneut aufgegriffen wird. Die These lautet: Ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade (6,14). 6,15–23 stellt die Konsequenzen dieses Sachverhalts, der in V.15 wiederholt wird, in Bezug auf die – bleibende – Sünde, die hier als eigene Macht dargestellt wird81, dar und betont die Möglichkeit für die Christen, in Gerechtigkeit zu leben (Vv.18.19), trotz der Herrschaftsmacht82 der Sünde, die aus ihrer partizipatorischen Qualität in Bezug auf alle „Adamiten“, d. h. alle Menschen, resultiert. In Kapitel 7 führt Paulus den Sachverhalt „Ihr seid der Sünde gestorben“, der sich auf Adam rückbezieht, in folgender Variation fort: „Ihr seid dem Gesetz gestorben (7,6). D.h. Paulus bezieht sich jetzt auf Mose zurück, ohne ihn zu nennen. 7,1–6 bringt zunächst eine Analogie aus dem Erbrecht, die die Realität neuer Rechtverhältnisse erläutert, die ein Todesfall schaffen kann. 7,7–24 setzt sich Paulus vertieft mit dem Verhältnis von Sünde und Gesetz auseinander. In 7,7–13 wird das Gesetz als jene Größe verstanden, die die Sünde erst „lebendig“ macht (V.9). Paulus schreibt hier eine adamitisch-mo‐ saische Ideal-Autobiographie, indem er sein Schicksal zunächst generisch als „Menschheit“ und dann als „Judenheit unter dem Gesetz“ beschreibt. Dies „Ich“ stirbt den Tod Adams und aller Menschen seit Adam, da das „Ich“ das Gebot „Du sollst nicht begehren“ (Abkürzung für die zehn Gebote) übertritt und dadurch dem Tod verfallen ist (vgl. Kapitel 1–3). Das gilt für die Zeit nach Adam ebenso wie für die Zeit nach Mose. In diesem Abschnitt der Argumentation nimmt Paulus eine entscheidende Differenzierung vor: das Gesetz und das Gebot sind „heilig, gerecht und gut“ (V.12) als von Gott gegeben. Die Sünde, die durch das Gebot aufgedeckt wurde, dagegen ist „überaus sündig“, d. h. gegen Gott gerichtet.83 In 7,14–24 schließt Paulus einen analogen Gedankengang zum weiteren Schutz des Gesetzes an. Das Gesetz ist nicht nur heilig, sondern auch 81 82 83

In V.22 treten Sünde und Gott einander gleichberechtigt gegenüber (vgl. schon 6,10). Herrschaftsmetaphorik s. o. Anm. 87; Waffenmetapher 6,12–14; Knechtsmetapher 6,15– 22; Soldmetapher 6,23. Vgl. dazu O. Wischmeyer, Paulus als Ich-Erzähler. Ein Beitrag zu seiner Person, seiner Biographie und seiner Theologie, in: E.-M. Becker/P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005, 88–105.

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„geistlich“ (V.14), da von Gott. Für den Menschen – den mosaischen Men‐ schen – bedeutet das die Verfallenheit an Sünde und Tod (Vv.23.24). Um dies darzustellen, verfasst Paulus „eine psychologisch-konfessorische ideale Autobiographie, in der er sich als „gespaltene Person“ zeichnet. „Autobio‐ graphisch diagnostiziert Paulus hier bei sich als frommem Juden eine Persönlichkeitsspaltung. Das Willenszentrum ist gestört, so dass Wollen und Tun auseinanderklaffen“.84 Grund für diese Spaltung ist die Entfremdung des Ich, das als „von der Macht der Sünde besetzt verstanden“ wird.85 Daher kann die von Gott gegebene „geistliche“ Größe „Gesetz“ nicht das Gute im Menschen bewirken, da sein Wille durch die gegengöttliche „fleischliche“ Größe „Sünde“ außer Kraft gesetzt worden ist (Vv.19.20).86 Hier denkt Paulus wieder „adamitisch“ im Sinne des Sündenfalls. So bleibt als Fazit nur noch einmal das Todesurteil von 1,32, das allerdings schon in 3,21–26 grundsätz‐ lich und in 5,1ff. existenzbezogen aufgehoben worden ist: ταλαίπωρος ἐγὼ ἄνθρωπος· τίς με ῥύσεται ἐκ τοῦ σώματος τοῦ θανάτου τούτου; (V.24). Die Antwort erfolgt in 7,25: „Dank sei Gott durch Jesus Christus unsern Herrn“. Die Rettung ist von außen gekommen: durch Christus. Hier wird deutlich: das Gesetz ist zwar geistlich, kann aber nicht partizipatorisch Geist vermitteln und die Menschen geistlich neu schaffen.87 Dies liegt allein bei Christus und seiner soteriologischen Macht. Damit hat Paulus endgültig den Anschluss an 5,1–5 hergestellt und kann nun in 8,1–17 84

85 86

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Vgl. O. Wischmeyer, Menschsein. Neues Testament, in: dies./Chr. Frevel, Menschsein. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments (Die Neue Echter Bibel. Themen 11), Würzburg 2003, 91 f., Zitat: S. 92. Vgl. dazu auch R. v. Bendemann, Die kritische Diastase von Wissen, Wollen und Handeln. Traditionsgeschichtliche Spurensuche eines hellenistischen Topos in Römer 7, ZNW 95 (2004), 35–63. – Ausführliches Standardwerk: H. Lichtenberger, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit. Studien zum Menschenbild in Römer 7 (WUNT 164), Tübingen 2004. Wischmeyer, Menschsein, 92. Mit 7,5.18.25 kommt der anthropologische Begriff Fleisch (σάρξ) ins Spiel. ‚Fleisch‘ bezeichnet bei Paulus „die Person, den Menschen (2 Kor 7,5). Nun erhält ‚Fleisch‘ bei Paulus häufig einen negativen Akzent, und zwar wenn ‚Fleisch‘ dem ‚Geist‘ … Gottes oder Christi entgegengesetzt wird … Dann wird durch ‚Fleisch‘ „die ganze Sphäre des Irdisch-Natürlichen“ bezeichnet, die für Paulus letzten Endes unter den Mächten der Sünde und des Todes steht. ‚Fleisch‘ und ‚fleischlich‘ … sind … nicht primär moralische Kategorien, sondern primär anthropologische Bestimmungen: der Mensch der gegenwärtigen gefallenen Schöpfung, dessen Gottesbeziehung tief gestört ist“ (Wischmeyer, Menschsein, 95. Zitat: Bultmann, Theologie, 195). Aus psychologischer Sicht dazu Theißen/von Gemünden, Römerbrief, 437: „Von der Form des Textes her gibt es keine Einwände dagegen, das Ich als ein typisches Ich aufzufassen, das Paulus logisch einschließt und psychologisch durch seine Erfahrungen geprägt ist“.

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den Freispruch der Christen und ihren Lebens- und Friedensstatus (s. o. zu 5,1) darstellen. Er definiert die Freiheit (von der Herrschaft des Gesetzes, der Sünde und des Todes) als Modus der eschatologischen Existenz der Christen und beschreibt den Geist als prägende Realität dieser Existenz. Dem Geist korrespondiert die Hoffnung. Dabei gilt: Die Aussagen von Kap. 8 gelten nur unter der Voraussetzung, Christus sei auferstanden und habe die Funktion des „neuen Adam“. Gilt dies nicht, würde Kap. 8 ein Phantasiebild entwerfen. Nach einer zusammenfassenden Rückschau auf die Thematik von Sünde – Gesetz – Tod (Vv.2 und 3a) und Christi Heilstat (V.3b) sowie auf den Gegensatz von „Fleisch“, d. h. Mensch- bzw. Ich-Sein, und „Geist“, d. h. der Teilhabe an Christus (Vv.4–8 vgl. 6,11ff.16ff.), spricht Paulus die römischen Christen („Ihr“ in V.9) auf ihr „Geistlich-Sein“ an. Das partizipatorische Denken wird jetzt führend. Das „Geistlich-Sein“ hat zwei Aspekte: einen gegenwärtigen und einen zukünftigen. Paulus spricht die Römer direkt auf ihre Auferstehungserwartung an (V.11), ebenso auf ihr irdisches Leben als „Gottes Söhne“ (Vv.14ff.), gekennzeichnet durch Freiheit, aber auch durch Leiden (vgl. 5,3). 8,18–30 entwirft ein kosmisch ausgeweitetes eschatologisches Hoffnungs‐ bild (s. o.). Paulus versteht die Christen nun zunächst als Teil der Schöpfung und weist auf das zukünftige Freiheits- und Herrlichkeitsschicksal der ganzen Schöpfung hin (V.21f.), dessen Anfang die Christen sein werden (V.19). Wichtiger als dieser eschatologische Horizont ist Paulus dann aber abschließend noch einmal die gegenwärtige Leidens- und Hoffnungsexis‐ tenz der Christen (Vv.23ff.), die sich besonders im Gebet realisiert (Vv.26ff.). In 8,31–39 schließt Paulus seine Ausführungen zur Lage der Christen ab. Nochmals eröffnet er die eschatologische Gerichtsperspektive von 1,18 und bringt in „einem Abschnitt von hymnischem Klang“88 die Überzeugung von der Rettung der Christen, die er schon in 3,21–26; 5,1 und 8,1 formuliert hatte, in einer vierfachen τίς-Fragereihe (8,31.33.34.35) und in einer doppelten peristasenartigen Reihe (V.35 und Vv.38.39) zum Abschluss. So weit Paulus in Röm 8 auch kosmisch ausgreift, am Schluss steht die Formulierung der präzisen Überzeugung, die Christen seien gerecht vor Gott (8,33). Diese Ge‐ rechtigkeit wird als gegenwärtige Leidensexistenz (Vv.35f.) und zukünftige

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Lohse, Brief, 254.

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Herrlichkeitsexistenz (V.18) beschrieben.89 Damit ist die propositio generalis für die Christen bewiesen. Röm 9–11:

Diese Kapitel diskutieren nun ohne weiteren Übergang die propositio generalis und ihre Auslegung in 3,21ff. für die Juden. Was bedeutet es für die Juden („Israeliten“ 9,4), dass „die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, durch den Glauben an Jesus Christus zu allen kommt, die glauben“ (3,22)? Paulus bedenkt diese grundlegende Frage in drei Argumentationsgängen (Kapitel 9, 10, 11), die er jeweils mit einem bestimmten Hinweis auf die eigene Person einleitet. Den Abschluss bildet ein hymnisches Gebet (11,33f.). Paulus beginnt die neue Argumentation mit einer rhetorisch-pathetisch gestalteten Einführung in 9,1–5: einer „schwurartigen Beteuerung“90, einer Geste der Selbstverfluchung und einer Aufzählung der bleibenden Vorzüge Israels (Vv.4 und 5). Diese Aufzählung bietet die Basis der folgenden Ausfüh‐ rungen: Paulus stellt feierlich klar, dass Israel das Volk des „Bundes und des Gesetzes“ (V.4)91 ist und bleibt. Im Zusammenhang mit dem vorangehenden Kapitel 8 ist ebenso wichtig, dass Paulus die Israeliten auch als Besitzer der „Sohnschaft“ und der „Herrlichkeit“ bezeichnet (V.4) – derselben endzeitli‐ chen Heilsprädikate, die Paulus in Kapitel 8 den Christen zugesprochen hat. Dieser Umstand zeigt noch deutlicher, dass Paulus in den folgenden Kapiteln mit dem Grundproblem seines christlichen Wirklichkeitsverständnisses ringt: „Welchen Platz haben die Juden in dieser durch Christus (3,21–26) geprägten Wirklichkeit?“ Paulus kommt in verschiedenen, rhetorisch stark strukturierten Frageund Antwortpassagen zu einer klaren Schlussaussage in 11,26: καὶ οὕτως πᾶς Ἰσραὴλ σωθήσεται. Der Argumentationsgang, der zu diesem Schluss‐ urteil führt, gestaltet sich folgendermaßen: 9,6–13 versucht Paulus eine Differenzierung zwischen „falschen“ und „wahren“ Israeliten sowie zwischen Abrahams Nachkommenschaft und seinen wirklichen Kindern. Das dahinter stehende Motiv der Gnadenwahl führt er in 9,14–29 aus. Die Kindschaft bezieht sich letzten Endes allein auf Gottes Erbarmen (V.18). Das Töpfergleichnis unterstreicht Gottes freie 89 90 91

8,38 eröffnet nochmals die kosmische Perspektive, diesmal aber eher im Sinne zu überwindender Gefährdungen. Lohse, Brief, 265. Vgl. zum Konzept des sog. Bundesnomismus allg. den Beitrag von J. Frey zum Judentum des Paulus im vorliegenden Band.

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Gnadenwahl (Vv.20ff. nach Jes 29,16 LXX). Hier stellt Paulus die Heilsge‐ schichte so dar, dass Gott aus Juden und Heiden „Gefäße der Barmherzigkeit“ zur „Herrlichkeit“ bereitet hat (Vv.23f.). Diesen israelkritischen Gedanken stützt er mit verschiedenen Prophetenzitaten (Vv.25–29). In 9,30–33 zieht er ein erstes, vorläufiges Fazit, das auf die propositio generalis zurückgreift: Israel hat die Gerechtigkeit nicht erlangt, da es die Gerechtigkeit als aus Gesetzeswerken kommend verstand. Demgegenüber haben Heiden, die an Christus glauben, die Gerechtigkeit erlangt, da diese aus Glauben kommt (vgl. 1,16f. und 3,21ff.). Das bedeutet: aus der Sicht der δικαιοσύνη θεοῦ verfehlen die Juden die Erlösung. In Kapitel 10 reflektiert Paulus diesen Umstand weiter. 10,1–4 wieder‐ holt in persönlicher Vertiefung das Urteil von Kapitel 9. 10,5–13 vertieft nochmals dies Urteil, indem die Gerechtigkeit aus dem Gesetz und die Gerechtigkeit aus dem Glauben kontrastiert werden. Das geschieht durch ein Misch-Schriftzitat und dessen Auslegung auf Christus und die Evangeli‐ umspredigt (Dtn 30,12.14 und Ps 106,26 LXX). 10,9f. bindet die Gerechtigkeit streng und ausschließlich an das Bekenntnis zu Jesus und an den Glauben an seine Auferstehung. 10,14–21 führt Paulus das Thema der Evangeliumspre‐ digt weiter aus und weist auf ihre soteriologische Notwendigkeit hin (vgl. 1,15 und 1,16f. propositio generalis). Zugleich bezeugt er, das Evangelium sei auch Israel gepredigt worden. Den Umstand, dass die Mehrzahl der Juden die Evangeliumsbotschaft nicht angenommen hat, erklärt Paulus mit dem Hinweis auf die prophetische Verstockungstheologie (Dtn 32,21 LXX; Jes 65,1 LXX; Jes 65,2 LXX). So endet auch dieser Argumentationsgang mit dem Urteil, Israel sei verstockt. Trotzdem fügt Paulus einen dritten und letzten Argumentationsgang an, den er wieder mit seiner Person verknüpft, diesmal mit dem Hinweis darauf, dass er selbst „Israelit“ ist, 11,1. Die – ganz überraschende – These, rhetorisch betont als verneinte Frage formuliert, steht am Anfang in 11,2: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen“. In 11,3–24 bearbeitet Paulus die These, Gott habe Israel nicht verstoßen. Dabei folgen mehrere Argumentationsgänge aufeinander: In 11,3–5 versucht er eine Argumentation auf der Basis der atl. Erwählungs- und Rest-Theologie. Allerdings führt dieser Weg wieder in die Erwählungs- und Verstockungstheorie von Kapitel 10 (11,6–7), die Paulus auch noch mit einigen Kombinationen von Schriftzitaten unterstützt (11,8–10). In 11,11–16 setzt er daher neu ein, indem er dem „Fallen“ Israels eine heilsgeschichtliche Bedeutung beilegt: Durch ihren Fall ist den Heiden das

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Heil (σωτηρία) widerfahren (11,11). Denn nur dadurch, dass die Juden die Gerechtigkeit verfehlten, entstand die Möglichkeit, dass Gott sich den Heiden zuwendete. Dabei bleibt Paulus aber nicht stehen. Sondern er blickt heilsgeschichtlich voraus auf das πλήρωμα αὐτῶν (V.12), d. h. auf den Zeit‐ punkt, an dem ganz Israel gerettet wird. In diesem Abschnitt spricht er sehr direkt die römischen Heidenchristen an und erläutert ihnen seine eigene Position als (jüdischer) Heidenapostel (V.13). Er versteht seine Heidenmission als Vorgeschichte der Judenrettung.92 In 11,17–24 fügt er, an die Wurzel-Zweig-Metapher von V.16 anknüpfend, eine diatribisch gestaltete Ansprache an einen generisch zu verstehenden93 Heiden ein, in der er anhand des ausgeführten Bildes vom wilden und veredelten Ölbaum deutlich macht, dass die Wurzel (d. h. übertragen Israel) stets die Zweige – auch die veredelten eingepfropften (d. h. übertragen die Heidenchristen) – trägt. Paulus fordert damit Respekt gegenüber Israel und Furcht gegenüber der „Güte“ und dem „Ernst“ Gottes ein (V.22). Die Perspektive, ganz Israel werde gerettet, die sich positiv komplementär zu 11,1 verhält, formuliert Paulus explizit in 11,25–27: Wenn alle Heiden gerettet sind, „wird auch ganz Israel gerettet werden“ (V.26). Paulus unter‐ streicht diesen Hoffnungssatz mit Jes 59,20 und Jes 27,9. Dieser Abschnitt ist zunächst als apokalyptisches μυστήριον (vgl. 1 Kor 15,51ff.) gestaltet. Das bedeutet: Paulus formuliert hier den eschatologischen Sachverhalt: ‚πᾶς Ἰσραὴλ σωθήσεται‘ gegen den Augenschein, gegen die vorfindliche Welt, ja gegen seine eigene Einsicht.94 In 11,28–34 spricht Paulus die römischen Christen noch einmal direkt auf ihr früheres Heidentum an und macht ihnen ihre komplizierte gegenwärtige Stellung zu den Juden deutlich, die aktuell „Feinde“ sind, da sie das Evange‐ lium behindern, heilsgeschichtlich aber „Geliebte“ Gottes sind und bleiben. Dies hat gerade in Rom mit seiner zahlreichen Judengemeinde, die selbst öfter das Ziel zeitweiliger Austreibung seitens der römischen Behörden wird, besondere Bedeutung. In 11,32 bringt Paulus die gesamten Ausführungen der Kapitel 1–11 ans Ziel: συνέκλεισεν γὰρ ὁ θεὸς τοὺς πάντας εἰς ἀπείθειαν, ἵνα τοὺς πάντας 92 93 94

Es muss offenbleiben, ob Paulus hier an Judenmission oder an eine direkte Geistbega‐ bung der Juden in der Endzeit denkt. Vgl. stilistisch 2,1 und 2,17 sowie 9,20. Vgl. dazu 1 Kor 2,6–16: auch hier eröffnet Paulus ein μυστήριον, nämlich den Umstand, dass die Kreuzigung Jesu Weisheit vor Gott war. Dies paradoxe Geheimnis erschließt sich auch den Christen und Paulus nur durch den Geist Gottes selbst.

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ἐλεήσῃ. Denn Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, damit er sich aller erbarme. Hier liegt eine sog. inclusio vor, ein Rückschluss. Paulus bezieht sich auf 3,19: „Der ganze κόσμος ist schuldig vor Gott“. Auf die Schuld der Juden und der Heiden antwortet Gott mit seinem Erbarmen in Jesus Christus, das zuerst die Heiden gerecht macht, die an Christus glauben, und dann alle Juden retten wird. Ob Paulus damit letztlich an eine sog. Allversöhnung, d. h. eine Rettung aller Heiden denkt, bleibt offen. Seine Perspektive ist aber – wie schon oft im Römerbrief – universal: 11,15. Ganz offen bleibt ebenso, wie man sich genau die Rettung aller Juden vorzustellen habe – ob durch den Glauben an Jesus Christus oder in einer endzeitlichen Errettung. Paulus spricht hier vom μυστήριον. Das ist umso mehr zu respektieren, als Paulus selbst mit einem kurzen Hymnus, in dem er die Unerforschlichkeit Gottes preist, schließt. Teil II: Röm 12,1–15,13

Auf die Lehre folgt die Ermahnung.95 Paulus setzt direkt beim Erbarmen Gottes ein, mit dem er in 11,32 den Lehrteil beendet hatte.96 In den Kapiteln 12 und 13 gibt er allgemeine und spezielle Anweisungen zu einem christlichen Leben. In Kapitel 14,1 bis 15,13 beschäftigt er sich ausführlicher mit dem Gemeindeproblem der sog. Starken und Schwachen. In 12,1–2 formuliert Paulus eine allgemeine Grundlage christlicher Ethik: Heiligkeit (V.1), Distanz zur „Welt“ (V.2a) und die Erfüllung von Gottes Willen, d. h. das Tun des Guten, des Wohlfälligen, des Vollkommenen (V.2b). Er ist sich also des Umstandes bewusst und führt die römischen Christen auch bewusst in den Sachverhalt ein, dass es eine christliche Ethik gibt, die Gottes Willen als Richtschnur hat, die keine reine Geistethik, sondern eine somatische Ethik ist, die den Hauptströmungen der Welt distanziert gegenübersteht und die ganz grundsätzlich dem Guten verpflichtet ist. Wie dies allgemeine „Gute“ aussehen kann, führt Paulus nun in 12,3– 21 in einzelnen paränetischen Abschnitten aus. Die Reihenfolge ist eher locker. Paulus gibt kein neues Gesetz, sondern Ratschläge, die ihm wichtig erscheinen. In Vv.3–8 entfaltet er die Leibesmetapher (vgl. 1Kor 12) als Bild der Gemeinde. 13,1–7 und 14,1–23 können sich des Näheren auf die Situation der römischen Hausgemeinden beziehen. Insgesamt hat die Paraklese eher allgemeinen Charakter. 95 96

Paraklese von παρακαλεῖν „ermahnen“. 11,32 ἐλεεῖν sich erbarmen; 12,1 οἰκτιρμός Erbarmen.

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In 13,1–7 gibt Paulus allgemeine Hinweise auf die bürgerlichen Pflichten gegenüber den Behörden. Dies Thema ist in Rom, wo religiöse und philo‐ sophische Gruppierungen aus dem Osten des Imperium Romanum immer als Risikofaktor behandelt wurden, von besonderer Bedeutung.97 In 13,8–10 verknüpft Paulus seine Ethik mit dem Ethos des Dekalogs und damit mit der Gesetzesthematik aus Teil I des Briefes. Er zentriert den Dekalog und alle Gebote auf das Liebesgebot aus Lev 19,18. Dadurch kommt er zu einer allgemeinen christlichen Ethik der Nächstenliebe (V.8) und zu einem neuen Verständnis des Gesetzes, das nun im Rahmen der christlichen Ethik im Gebot der Nächstenliebe durchaus den Willen Gottes ausdrückt (12,2) und erfüllt werden kann.98 Mit einer eschatologischen Ermahnung in 13,11–14 schließt Paulus den allgemeinen Teil der Paraklese.99 In Kapitel 14 behandelt er das aus dem 1. Korintherbrief bekannte Problem des Zusammenlebens „Starker“ und „Schwacher“ in der Gemeinde. Das Zusammenleben von judenchristlichen oder judenchristlich beeinflussten Gemeindegliedern mit heidenchristlichen Gemeindegliedern wird in Rom ähnliche Schwierigkeiten wie in Korinth, Galatien und anderswo verursacht haben.100 Wichtig ist hier die Warnung des Paulus, nicht einander zu richten, denn dies Verhalten hatte er in 2,1ff. und 2,17ff. als Todsünde von Heiden und Juden benannt. Im „Reich Gottes“ herrschen nicht gegenseitiges Richten, sondern Duldung, Verzicht auf die Durchsetzung der eigenen Freiheit und Frieden und Freude (V.17). In 15,1–6 und 7–13 vertieft Paulus diese ihm grundsätzlich wichtige Verhaltensweise der οἰκοδομή (V.2) christologisch. In 7–13 greift er noch 97

98

99 100

Der Abschnitt steht im Zusammenhang der Gut-Böse-Thematik. Auch als Bürger bzw. als Diener der Obrigkeit sollen Christen beharrlich „das Gute“ tun. Der Staat bzw. die römischen Behörden werden als Diener Gottes verstanden und damit ihrer Eigenmacht beraubt, so dass sie auch nicht (wie in der Offenbarung des Johannes) dämonisiert werden können. Vgl. dazu O. Wischmeyer, Staat und Christen nach Römer 13, 1–7. Ein neuer hermeneutischer Zugang, in: dies., Ben Sira, 229–242. Historisches Umfeld bei St. Krauter, Studien zu Römer 13,1–7. Paulus und der politische Diskurs der neronischen Zeit (WUNT 243), Tübingen 2009. Vgl. Lohse, Brief, 360–362. Wesentlich ist aber gleichzeitig, dass sich in der paulinischen Ethik das jüdische Gesetzesverständnis grundlegend verändert. Paulus richtet tatsäch‐ lich das Gesetz auf (3,31), aber indem er nun das „Gesetz Gottes“ (7,25) in der Freiheit des Geistes („Gesetz des Geistes“ 8,2) als Gebot der Liebe versteht. Vgl. Augustinus, Confessiones 8, 12, 29 (dazu der Beitrag von W. Wischmeyer im vorliegenden Band). Problem des Opferfleisches 14,2f., Problem heiliger Tage 14,5.

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einmal die Juden-Heiden-Thematik auf, die letztlich hinter der Auseinander‐ setzung zwischen „Starken“ und „Schwachen“ steht, indem er auf Christus verweist, der der „Diener der Juden geworden ist“ (V.8), während die Heiden Gott wegen der ihm erwiesenen Barmherzigkeit loben sollen (V.9). Paulus schließt die Paraklese mit einem Gebetswunsch. Teil III: Röm 15,14–33

Paulus kommt nun zu dem explizit kommunikativen Teil des Briefes und knüpft an das Präskript an: 15,14–21. Er spricht die römischen Christen sehr höflich an und macht seine eigene Rolle in diesem Brief ebenso höflich deutlich: er „erinnert“ die römischen Christen lediglich an Einiges. Dann verweist er auf sein Amt als Heidenapostel (Vv.17–21, vgl. 1,5) und macht deutlich, dass er sich einer äußerst erfolgreichen Heidenmission im gesamten Osten des Imperium Romanum rühmen kann (V.17).101 In 15,22–33 entwickelt er seine Spanienpläne, berichtet von der Kollek‐ tenreise nach Jerusalem und macht deutlich, dass er sich dort in Gefahr begibt.102 Er schließt mit einem Friedensgruß (V.33).103 3.2 Exegetische Probleme

Die wichtigsten exegetischen Probleme betreffen weder die literarische Einheitlichkeit des Römerbriefes noch zeitgeschichtliche oder biographische Fragen, sondern Grundfragen der paulinischen Theologie. Ich nenne aus diesem Zusammenhang folgende Probleme: 1. die Stellung des Paulus zum Gesetz (auch im Verhältnis zum Galater‐ brief) in Röm 2–8 (bes. Kapitel 7) und 13,8 (für die christliche Ethik)104 2. die Sühnevorstellung in 3,21–26 3. die richtige Interpretation und die Bedeutung der ‚Rechtfertigungslehre‘ (Röm 3,21ff.) im Rahmen der Gesamttheologie des Paulus 4. die angemessene Interpretation des ‚Ich‘ von Römer 7 (typisches oder persönliches ‚Ich‘? nichtchristliches oder christliches ‚Ich‘?) 5. der Umfang von πᾶς Ἰσραήλ und die Modalitäten seiner endzeitlichen Rettung nach Röm 11,26a (durch den Glauben an Jesus Christus oder durch einen Sonderweg?) 101 102 103 104

Vgl. 1,16 die propositio generalis: „ich schäme mich nicht des Evangeliums“. V.31 zeigt die ‚praktische‘ Seite der Israelfrage für Paulus selbst. Kapitel 16 wurde bereits unter Textkritik (1.1) und Historische Situation (2.1) behandelt. Vgl. dazu den Beitrag von J. Frey zum Galaterbrief im vorliegenden Band.

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6. die angemessene Interpretation von Röm 13,1–7 (‚staatstreu‘? ‚obrig‐ keitstreu‘? ‚konforme Ethik‘? ‚Stellung im Kontext‘?). 4 Probleme der Interpretation

Die Probleme und Typen der Interpretation des Römerbriefes hängen mit zwei Sachverhalten zusammen, die beide aus dem spezifischen Charakter des Briefes hervorgehen. Auf der einen Seite ist die Interpretation des Briefes stets in besonders hohem Maße von der jeweiligen Theologie der Exegeten bestimmt gewesen bzw. hat umgekehrt deren Theologie entschei‐ dend beeinflusst – so z. B. bei Luther oder bei Karl Barth. Auf der anderen Seite ist der Römerbrief oft weniger als Brief und eher als theologisches Kompendium verstanden und dementsprechend als Lehrschreiben behan‐ delt worden. Die großen Debatten um das Verständnis der theologischen Begriffe der „Gerechtigkeit Gottes“, des Gesetzes, der Sünde und Israels sowie der Anthropologie und deren Begrifflichkeit wurden weitgehend aus der Römerbriefexegese heraus geführt. Das gilt von Origenes105 über zahlreiche Römerbriefkommentare der Reformatoren106 bis zu Karl Barths Römerbriefkommentar (19222) und dem Kommentar des italienischen Phi‐ losophen Giorgio Agamben (2000)107. Daneben verläuft eine eigene radikal historische Interpretationslinie, die prominent von Ferdinand Christian Baur eröffnet wurde, dem Zweck und der Veranlassung des Römerbriefs gewidmet ist und in die weitläufige Debatte um „the reason for Romans“ mündete, die bis zu der Monographie von Angelika Reichert (2001) und dem Kommentar von Robert Jewett (2007) geführt wird.108 Jüngst wird im Zusammenhang der „Paul within Judaism“-Interpretation der Römerbrief als ausschließlich an Heiden gerichtet gelesen.109 Mark Nanos, Paula Fredriksen und andere Exegetinnen und Exegeten verstehen die Verkündigungsbotschaft und missionarische Tätigkeit des Paulus aus‐

105 106 107 108 109

Vgl. Lohse, Brief, 13. Vgl. ebd., 14. G. Agamben, Il tempo che resta. Un commentato alla Lettera ai Romani, Torino 2000; Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt 2006. Vgl. dazu den Beitrag von J. Mortensen im vorliegenden Band. Vgl. 1.4 – Vgl. den Beitrag von W. Wischmeyer im vorliegenden Band. J.P.B. Mortensen, Paul Among the Gentiles: A "Radical" Reading of Romans, Tübingen 2018.

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schließlich auf Nicht-Juden bezogen, denen der Christusglaube und eine bestimmte Toraobservanz den Zugang zum eschatologischen Heil eröffnen sollen.110 5 Würdigung

Der Römerbrief ist diejenige Schrift des Paulus (und des Neuen Testaments insgesamt), die das theologische Denken des Christentums begründet und eröffnet. Dieses Denken bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen, zunächst grundlegend aus israelitisch-heilsgeschichtlicher Perspektive, dann aktuell und endzeitlich zugleich aus christologischer Perspektive. Beide Perspektiven verbindet Paulus miteinander, indem er den Gott Israels, den Gott der Väter, des Bundes und des Gesetzes wie der Verheißung, als Vater Jesu Christi auslegt. Daraus zieht er weitreichende Folgerungen für das Verhältnis der Menschen zu Gott. Die Gott geschuldete „Gerechtigkeit“, die weder Juden noch Heiden aufbringen, ist von Jesus Christus stellvertretend erfüllt. Im Glauben an ihn haben Juden wie Heiden Zugang zu einem neuen, endzeitlichen Leben in Gerechtigkeit vor Gott. Diese Sachverhalte nennt er Evangelium. Sie bilden den Kern seiner Ver‐ kündigung. Die anthropologischen, auf die Menschen, ihr Leben, ihren Tod und ihr endzeitliches Schicksal bezogenen und die heilsgeschichtlichen, auf Israel und sein Gesetz bezogenen Folgen dieser christologischen Wende führt Paulus in revolutionären Überlegungen aus, die zwei Fluchtpunkte haben: (1.) Alle Menschen, die sich in das Christentum hineinstellen – diese Haltung nennt er Glaube –, leben in endzeitlichem Frieden mit Gott und im Status der Gerechtigkeit. (2.) Ganz Israel wird ebenfalls diesen Status erlangen. Wie diese Rettung erfolgen wird, überlässt Paulus Gott. Eine allgemeine Anthropologie und eine allgemeine Soteriologie entsprechen einander. Beide beziehen sich auf die universale Gnade und Barmherzigkeit Gottes, von deren endgültiger Offenbarung in Jesus Christus Paulus über‐ zeugt ist.

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Dazu ausführlich und kritisch der Beitrag von Jörg Frey zum Judentum des Paulus im vorliegenden Band. Siehe dort zur Literatur.

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6 Literatur 6.1 Kommentare

J.D.G. Dunn, Romans, 2 vols. (WBC 38), Dallas 1988 (umfangreicher wissenschaftli‐ cher Kommentar, der besonders der Darstellung der New Perspective gewidmet ist). J.A. Fitzmyer S.J., Romans. A New Translation with Introduction and Commentary (AncB 33), New York etc. 1993 (katholischer wissenschaftlicher Standardkommen‐ tar). K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer (ThHK 6), Leipzig 1999 (materialrei‐ cher allgemeinverständlicher Kommentar). R. Jewett, Romans. A Commentary (Hermeneia), Minneapolis 2007 (bedeutendster gegenwärtiger englischsprachiger Kommentar). E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 1973 (bedeutender theologischer Kommentar). E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 2003 (grundlegender wissen‐ schaftlicher Kommentar). G. Theißen/P. von Gemünden, Der Römerbrief. Rechenschaft eines Reformators, Göttingen 2016 (Interpretation aus sieben verschiedenen Forschungsperspektiven: forschungsgeschichtliche Lektüre, textimmanente Lektüre, historische Lektüre, bild‐ semantische Lektüre, theologische Lektüre, sozialgeschichtliche Lektüre, psycholo‐ gische Lektüre). U. Wilckens, Der Brief an die Römer, 3 Bde (EKK 6), Zürich etc. 1978–1982 (sehr ausführlicher wissenschaftlicher Kommentar, Wirkungsgeschichte). M. Wolter, der Brief an die Römer. 2 Bde (EKK VI 1/2), Göttingen 2014.2019 (Nachfolgekommentar Wilckens, keine Wirkungsgeschichte). 6.2 Monographien

J.M.G. Barclay, Paul and the Gift, Grand Rapids 2015. J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 21992. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (UTB 630), Tübingen 91984. J.D.G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Edinburgh 1998. D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwen‐ dung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus (BHTh 69), Tübingen 1986. W.G. Kümmel, Römer 7 und die Bekehrung des Paulus (UNT 17), Leipzig 1929 [= (TB 33), München 1974] (klassische Darstellung der Anthropologie des Paulus). P. Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten (WUNT II/18), Tübingen 21989 (wichtigste neuere Darstellung zur Sozialgeschichte der römischen Gemeinde).

Römerbrief

Th. Morgan, Roman Faith and Christian Faith, Oxford 2015. U. Schnelle Einleitung ins Neue Testament, Göttingen 92017. P. Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus (FRLANT 87), Göttingen 21966 (klassische Monographie zum Begriff ‚Gottesgerechtigkeit‘). 6.3 Aufsätze und Lexikonartikel

J.D.G. Dunn, New Perspective on Paul. Collected Essays (WUNT 185), Tübingen 2005. M. Theobald, Der Römerbrief (EdF 294), Darmstadt 2000. M. Theobald, Art. Römerbrief, RGG4 7 (2004), 611–618. M. Theobald, Studien zum Römerbrief (WUNT 136), Tübingen 2001.

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Themen paulinischer Theologie

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1 Theologie des Paulus 1.1 Theologie des Paulus und Theologie des Neuen Testaments

Die ‚Theologie des Neuen Testaments‘, deren zentraler Teil die ‚Theologie des Paulus‘ 1 ist, wurde als eigenständige Größe im Zusammenhang von Aufklärung, Rationalismus und historischem Bewusstsein entworfen. Sie entstand in der programmatischen Ablösung von einer protestantischen Dogmatik, die bisher die „Theologie“ dargestellt hatte und in der „der grund‐ sätzliche Rückbezug auf die Bibel teilweise sehr formalistisch gehandhabt [worden war].“ 2 Biblische Aussagen und Inhalte wurden mit Hilfe der sog. dicta probantia (heute: „das biblische Zeugnis“) in die Dogmatik eingespeist. Grundlage dieser Konstruktion bildet die bereits altkirchliche Überzeugung, 1 2

Neuere Darstellungen der „Theologie des Paulus“ sind im Literaturverzeichnis am Ende des Beitrags aufgeführt. F. Hahn, Theologie I, 2. Vgl. insgesamt Hahn, Theologie I, 1–29. Weiter vertiefend G. Strecker, Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, in: ders. (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (WdF 367), Darmstadt 1975, 1–31. Vgl. J. Ph. Gabler, Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beiden Ziele, in: Strecker (Hg.), Problem, 32–44. Dieser Beitrag gilt als die Basis einer eigenständigen Theologie des Neuen Tes‐ taments. Vgl. dazu O. Merk, Anmerkungen zu Gablers Altdorfer Antrittsrede, in: K.-W. Niebuhr/Chr. Böttrich (Hg.), Johann Philipp Gabler 1753–1826 zum 250. Geburtstag, Leipzig 2003, 42–51. Die erste Theologie des Neuen Testaments stammt dann von G.L. Bauer, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. I–IV, Leipzig 1800–1802. – F. Hahn selbst entwirft seine Theologie des Neuen Testaments ebenfalls in zwei Bänden. Bd. 1 gilt der Vielfalt der neutestamentlichen Schriften und ist theologiegeschichtlich konzipiert. Bd. 2 geht thematisch vor, entsprechend der Bedeutung der Christologie setzt Hahn bei dem „Offenbarungshandeln Gottes in Jesus Christus“ an (Teil II) und fährt mit der Soteriologie fort (Teil III). Es folgen Ekklesiologie (Teil IV) und Eschatologie (Teil V). Auch Teil III–V sind offenbarungstheologisch konzipiert.

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„Schrift“ und „Bekenntnis“ stimmten inhaltlich überein. Damit stellte die Dogmatik das hermeneutische Gerüst bibeltheologischer Aussagen dar. Die Struktur dieser Dogmatik bildeten die dogmatischen Hauptbegriffe, die ihrerseits den Glaubensbekenntnissen, natürlich aber auch der Bibel selbst entnommen waren. Die Dogmatik diente der „Darstellung des Gehalts christ(licher) Verkündigung in ihrem Zusammenhang“.3 Auf die selbständig werdende „Theologie des Neuen Testaments“, die sich als historische Dar‐ stellung konstituierte, blieb der Einfluss der Dogmatik mindestens in der Terminologie und Struktur weitgehend erhalten. Diese dogmatikgeleitete Konzeption hat den Vorteil der leichten gesamttheologischen Orientierung und wird daher auch immer noch gern für die „Theologie des Paulus“ verwendet4, wenn diese auch seit dem 19. Jh. grundsätzlich in ihrem histori‐ schen Zusammenhang und mit Hilfe der eigenen paulinischen Terminologie dargestellt wird. An den Anfang stelle ich daher zur Grundorientierung eine klassische Einteilung der paulinischen Theologie anhand der großen dogmatischen Topoi. In dieses Gerüst lassen sich die spezifischen theologischen Themen des Paulus durchaus sinnvoll eingliedern: Theolo‐ gie

Ein Gott

Röm 1,18ff.; 1 Kor 8,1ff.; 12,6; Gal 3,20; 4,8f.; 1 Thess 1,9f.

Schöpfung Adam als erster Mensch

Röm 1,18ff. Röm 5,12-21

Israel (1) als Gottes Volk

Röm 9–11

Gesetz (1) als Gottes‐ Röm 2; 3; 5,12–8,11; 10,1ff.; 2 Kor 3; Gal 3 gabe/Mose Abraham als Träger Röm 4; Gal 3 und 4 der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott

3 4

E. Herms, Art. Dogmatik I. Problemgeschichtlich, RGG4 2 (1999), 899–915 (899). So z. B. jetzt U. Schnelle, Paulus, II. Hauptteil: Grundstrukturen paulinischen Denkens, 417–657. Schnelle gliedert in Theologie-Christologie-Soteriologie-Pneumatologie-An‐ thropologie-Ethik-Ekklesiologie-Eschatologie. Becker, Paulus, 395–478 (Grundzüge paulinischen Denkens), folgt einer ähnlichen Konzeption, beschreibt sie allerdings mit paulinischen Begriffen.

Themen paulinischer Theologie

Christo‐ logie

473

Sendung/Sohnschaft (1)

Röm 8,3; Gal 4,4–6

Adoption/Sohn‐ schaft (2)

Röm 1,3f.

Präexistenz und kos‐ Phil 2,6–11 mische Herrschaft

Anthro‐ pologie

Christus

1 Kor 15,1–11

Pneumatologie (1)

Röm 8; 1 Kor 12

Trinität

1 Kor 12,4–6; 2 Kor 13,13

anthropologische Termini: Leib

Röm 12; 1 Kor 6,12–20; 12; 15

Fleisch

Röm 7,14–25; 8,1–17; Gal 5,16–26

Gesetz (2) als Indika‐ tor der Sünde

Röm 5; 7; Gal 3,19–22

Sünde

Röm 1–3; 5; 6; 7; 1 Kor 6,18–20

Tod

Röm 5; 6; 7,7–25; 1Kor 15,26

Israel (2) als Teil der Menschheit

Röm 1–3

Heiden (1) als Teil der Röm 1–3 Menschheit

Soterio‐ logie

Staat

Röm 13

Gerechtigkeit Got‐ tes/Rechtfertigung

Röm 1,16f.; 3,21–31; 10,1–4; 2 Kor 5,21; Gal 2,11–21; 3,10–14; Phil 3,9

Sühne/Stellvertre‐ tung

Röm 3,25; 5,8; 8,32; 1 Kor 11,25; 15,3b–5; Gal 2,20; 1 Thess 5,9f.

Versöhnung

Röm 5,6–11; 2 Kor 5,11–21

Erlösung

Röm 3,24; 1 Kor 1,30

Gnade

Röm 3,24; 5,15ff.

Glaube (1)

Röm 1,16–18; 3,21–31; 4; 5,1–5; Gal 2,16–3,29; 5,1–6; Abraham als Vater des Glaubens (s. o.)

Freiheit

Röm 8

474

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Ekklesio‐ Amts- und Apostel‐ logie verständnis

Ethik

Eschato‐ logie

Röm 1,1–17; 15,14–21; 1 Kor 1–4 und 9; 2 Kor 2,14–6,13; 10–13; Gal 1 und 2; Phil 3,4ff.

Evangeliums- und Wortverkündigung

Röm 1,16f.; 10,8–15; 1 Kor 1–3; 15,1–11

Gemeinde als Leib Christi

Röm 12; 1 Kor 12

Taufe und Abend‐ mahl

Röm 6,1–11; 1 Kor 1,13–17; 12,12f.; Gal 3,26–29; 1 Kor 10 und 11

Gottesdienst

1 Kor 12–14

Altes Testa‐ ment/Schrift

Röm 4; 9,6–13; 1 Kor 10,1–13; 2 Kor 3; Gal 3,6–9; 4,21–31

Geist und Geistesga‐ ben (2)

Röm 8; 1 Kor 12–14; Gal 3; 4,1–7; 5,16–26

Paränese/Wandel

Röm 12 ff.; 1 Kor pass.; Gal 5,1ff.; Phil 2,5–18

Heiligkeit

1 Kor 5 und 6

Glaube (2) – Liebe – Hoffnung

Röm 8,1–30; 13,8–10; 1 Kor 13; 1Thess 1,3; 5,8

Auferstehung

Röm 6,1–11; 8,18–30; 1 Kor 15; 2 Kor 5,1–10; Phil 1,21–24; 3,20f.; 1 Thess 4,13–5,10

Gericht

Röm 1–3; 1 Kor 3,5–17; 4,1–5; 6,2; 2 Kor 5,10

Israel (3) als endzeit‐ liches Heilsvolk

Röm 11; 2 Kor 3,16

Heiden (2) als end‐ zeitliche Größe

Röm 11

Themen paulinischer Theologie

475

1.2 Rudolf Bultmanns „Theologie des Paulus“

Nun wird wie schon gesagt seit Ferdinand Christian Baur die Theologie des Paulus vorwiegend historisch interpretiert und in die Entwicklung der christlichen Kirche hineingestellt.5 Damit tritt die historische neben oder vor die dogmatische Interpretation der neutestamentlichen Aussagen. Die einzelnen neutestamentlichen Schriften werden aus sich selbst heraus und anhand ihrer Leitbegriffe interpretiert und in einen Entwicklungs- und Be‐ ziehungszusammenhang gestellt. Daneben werden weiterhin dogmatische Begriffe verwendet. Einer Anordnung, die den paulinischen Schriften selbst entnommen war und deren Struktur sich bis zu Bultmanns Darstellung als tragfähig erwiesen hat, verhalf der Schleiermacher-Schüler Leonhard Usteri 6 zum Durchbruch. Usteri gliedert heilsgeschichtlich folgendermaßen: Erster Teil

Zweiter Teil

Die vorchristliche Zeit oder: Das Heidentum und das Judentum

Das Christentum Τὸ πλήρωμα τοῦ χρόνου

1. Die Menschen vor Christo 2. Sünde 3. Sünde – Tod – Gesetz 4. Gesetz – Gerechtigkeit 5. νόμος, πίστις und πνεῦμα 6. Sehnsucht nach Erlösung

1. Die Erlösung 2. Die Gemeinde Gottes   A. Entstehung und Bildung   B. Vollendung

Die „Theologie des Neuen Testaments“ von Rudolf Bultmann 7 stellt eine neue Stufe in der Entwicklung der Disziplin „Theologie des Neuen Testaments“ dar. Sie ist theologie- und wirkungsgeschichtlich einer der entscheiden‐ den Beiträge der deutschsprachigen neutestamentlichen Wissenschaft des 20. Jh.s zur gesamten Theologie und speziell zur Theologie des Paulus. Zwei zentrale Merkmale charakterisieren Bultmanns Werk: erstens der Ansatz beim christlichen Glauben. Bultmann lässt den christlichen Glauben

5 6 7

F.Chr. Baur, Geschichte des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Tübingen 1853 und ders., Vorlesungen über neutestamentliche Theologie, Leipzig 1864. L. Usteri, Entwicklung des paulinischen Lehrbegriffs in seinem Verhältnis zur biblischen Dogmatik des Neuen Testaments, Zürich 41832. R. Bultmann, Theologie; zuerst erschienen: Tübingen 1949–1953. Die jüngste Auflage erschien 1984 (hg. v. O. Merk).

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nicht mit Jesus, sondern erst mit der christlichen Verkündigung (Kerygma) beginnen.8 Das zweite Kennzeichen bezieht sich auf die Aufgabe der Theologie. Bult‐ mann versteht jede Theologie – und damit auch die neutestamentliche Theolo‐ gie – als „Entfaltung der Gedanken, in denen der christliche Glaube sich seines Gegenstandes, seines Grundes und seiner Konsequenzen versichert“.9 Für die Theologie des Neuen Testaments ergeben sich zwei Folgen. Die erste Konsequenz betrifft die Differenzierung zwischen dem Kerygma der Urgemeinde und der vor- und nebenpaulinischen hellenistischen Gemeinde einerseits10 und der Theologie des Paulus und des Johannes andererseits11. Bultmann schränkt den Theologiebegriff deutlich ein, indem er das Ke‐ rygma der Urgemeinde und der hellenistischen Gemeinde lediglich als Voraussetzungen der neutestamentlichen Theologie versteht. In der zweiten Konsequenz stellt Bultmann die paulinische Theologie als Anthropologie dar. Dies ist für Bultmanns Paulusverständnis grundlegend und muss als das oben genannte neue Element der Paulusinterpretation verstanden werden. Die Darstellung Bultmanns behält ihre epochale theologische Bedeutung.12 Sein Ansatz für die Theologie des Paulus sei hier skizziert: – „Denken und Reden“ des Paulus „wachsen“ aus seiner theologischen Grundposition heraus. – Diese Grundposition ist „nicht eine Konstruktion des theoretischen Denkens … Vielmehr erhebt das theologische Denken des Paulus nur die im Glauben als solchem enthaltene Erkenntnis zur Klarheit bewußten 8 9 10 11

12

Bultmann, Theologie, 2: „Christlichen Glauben aber gibt es erst, seit es ein christliches Kerygma gibt, d. h. ein Kergyma, das Jesus Christus als Gottes eschatologische Heilstat verkündigt.“ Ebd., 1f. Von Bultmann im „Ersten Teil“ dargestellt. Von Bultmann im „Zweiten Teil“ dargestellt. – Bultmanns „Dritter Teil“ ist der Ent‐ wicklung der kirchlichen Ordnung, der Lehre und der Lebensführung der späteren neutestamentlichen Schriften gewidmet. Bultmann findet auch hier „Theologie“ (vgl. § 55,2, 481 ff.). Dies Urteil gilt unabhängig von dem Umstand, dass die historische Rekonstruktion der Religion des Paulus seit Bultmann weit fortgeschritten ist, einerseits durch die umfangreiche Forschung zum Thema „Paulus und das Judentum“ (vgl. dazu den Beitrag von J. Frey im vorliegenden Band), andererseits durch religionstheoretische Entwürfe wie die von G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, schließlich durch die neue Rückfrage nach der Person des Paulus: E.-M. Becker/P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005. Vgl. auch den Beitrag von E.-M. Becker zur Person des Paulus im vorliegenden Band.

Themen paulinischer Theologie

477

Wissens … Der Akt des Glaubens ist zugleich ein Akt des Erkennens … Die paulinische Theologie ist deshalb kein spekulatives System“.13 – Daher gilt, dass „die paulinische Theologie von Gott nicht in seinem Wesen an sich (handelt), sondern nur so, wie er für den Menschen, seine Verantwortung und sein Heil, bedeutsam ist. Entsprechend handelt sie nicht von der Welt und vom Menschen, wie sie an sich sind, sondern sie sieht Welt und Mensch stets in der Beziehung zu Gott. Jeder Satz über Gott ist zugleich ein Satz über den Menschen und umgekehrt. Deshalb und in diesem Sinne ist die paulinische Theologie zugleich Anthropologie“. Entsprechend ist auch „jeder Satz über Christus ein Satz über den Menschen und umgekehrt; und die paulinische Christologie ist zugleich Soteriologie“.14 – Daraus folgt für die Darstellung der paulinischen Theologie: „Sachge‐ mäß wird deshalb die paulinische Theologie am besten entwickelt, wenn sie als Lehre vom Menschen dargestellt wird, und zwar 1. vom Menschen vor der Offenbarung der πίστις und 2. vom Menschen unter der πίστις. Denn auf diese Weise kommt die anthropologische und soteriologische Orientierung der paulinischen Theologie zur Geltung“.15 Der Mensch vor der Offenbarung der πίστις

Der Mensch unter der πίστις

Die anthropologischen Begriffe Fleisch Sünde Welt

Die δικαιοσύνη θεοῦ Die χάρις Die πίστις Die ἐλευθερία

Bultmann verfremdet also durchaus die brieflichen theologischen Aussagen des Paulus, indem er sie viel stärker systematisiert, als Paulus dies selbst im Römerbrief tut.16 Zugleich stützt sich Bultmann auf das tragende anthro‐ pologische und soteriologische Vokabular des Paulus und trägt damit der theologischen Sprache des Paulus Rechnung. Bultmann versteht seine eigene Darstellung im strengen Sinne als theo‐ logische. Paulus ist nach seinem Verständnis der erste christliche Theologe, daher ist eine theologische Darstellung, die sich an der Begrifflichkeit und dem inneren Duktus des paulinischen Denkens orientiert, nach Bultmanns

13 14 15 16

Bultmann, Theologie, 191. Ebd., 192. Ebd. Zum Römerbrief vgl. ebd., 191.

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Verständnis sachgemäß. Bultmann besteht darauf, dass Paulus nicht ver‐ standen ist, wenn man ihn als „Heros der Frömmigkeit“ interpretiert.17 Ent‐ scheidend bleibt aber der Ansatz beim Glauben. Daher schließt Bultmanns Einführung mit dem Satz: „Es versteht sich dabei, gemäß dem Ursprung der theologischen Erkenntnis im Glauben, daß der Mensch vor der Offenbarung der πίστις von Paulus so gezeichnet wird, wie er vom Glauben her sichtbar geworden ist“.18 Der Entwurf Bultmanns hat einen strukturellen Mangel. Er stellt die Bedeutung des εὐαγγέλιον Ἰησοῦ Χριστοῦ nicht angemessen dar. Im Ga‐ laterbrief, im 1. Korintherbrief und im Römerbrief macht Paulus jeweils besonders deutlich, dass und in welcher Weise er seine gesamte Existenz und seinen Auftrag vom εὐαγγέλιον her versteht. In Röm 1,16 formuliert er klassisch die soteriologische Bedeutung des Evangeliums.19 Diese theologische Denkbewegung zeichnet Ferdinand Hahn im 1. Band seiner Theologie des Neuen Testaments nach.20 Die Einbeziehung des Evangeliums in die Darstellung der paulinischen Denkstruktur führt über Bultmanns Interpretation hinaus und sei hier daher wiedergegeben: 1. Das Evangelium als Proklamation der Erfüllung des im Alten Testament verheißenen Heils 2. Das Evangelium als Botschaft von Person und Werk Jesu 3. Das Evangelium als Erkenntnis des Menschen … und das Problem des Gesetzes 4. Das Evangelium als wirksame Kraft der Heilszuwendung (darin: die paulini‐ sche Rechtfertigungsbotschaft) 5. Das Evangelium als Grund des Lebens im Glauben und in der Glaubensge‐ meinschaft 6. Das Evangelium als Heilsbotschaft für die Welt 7. Das Evangelium als Zeugnis der Hoffnung

17 18 19 20

Ebd., 191. Ebd., 192. Vgl. insgesamt Wischmeyer, Paulusinterpretationen. Zum Evangelium bei Paulus: M. Paynter, Evangelium bei Paulus als Kommunikations‐ konzeption (NET 24), Tübingen/Basel 2017. Hahn, Theologie I, 187 f. Hahn bezieht sich besonders auf die Darstellungen von E. Käsemann, G. Bornkamm, G. Eichholz und J. Becker sowie P. Stuhlmacher. Ähnlich akzentuiert der Römerbriefkommentar von E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 2005. Schnelle, Paulus, 419 ff., trägt diesem Umstand soweit Rechnung, dass er den 2. Hauptteil mit einem einleitenden Abschnitt: „Heilsgegenwart als Zentrum paulinischer Theologie“ beginnt.

Themen paulinischer Theologie

Weitere Darstellungstypen oder Entwürfe paulinischer Theologie werden hier nicht untersucht.21 Für die neutestamentliche Wissenschaft ist es von besonderer Bedeutung, dass die neuen Darstellungen der paulini‐ schen Theologie weiterhin überwiegend einen historischen und autorenbzw. werkbezogenen, d. h. einen theologiegeschichtlichen bzw. religionsge‐ schichtlichen Ansatz verfolgen. Sie kehren nicht zu den dogmatischen Darstellungsschemata zurück. 2 Das paulinische theologische Denken

In diesem Beitrag wird zwischen einer Darstellung der ‚Theologie des Paulus‘ und der Darstellung der ‚Typen und Themen des paulinischen theologischen Denkens‘ unterschieden. Die Darstellung einer ‚Theologie des Paulus‘ kann und muss hier nicht geleistet werden, da dies nur in einem ausdiskutierten und theologisch reflektierten Referenzrahmen möglich und sinnvoll wäre. Eine ‚Theologie des Paulus‘ ist stets auch Teil der umfassenden gesamttheologischen Aufgabe „Theologie des Neuen Testaments“, wie Bultmann exemplarisch gezeigt hat und wie die Geschichte der Disziplin deutlich macht. – Der vorliegende Beitrag entwirft keine ‚Theologie des Paulus‘ 22, sondern beschreibt die Typen und Themen des paulinischen theologischen Denkens, Urteilens und Argumentierens, wie wir sie in seinen Briefen finden. 23

21

22 23

Besonders wichtig sind folgende Darstellungen: P. Stuhlmacher, Biblische Theologie 1, 221–392. Stuhlmacher stellt insgesamt den vor-theologischen Begriff der Verkündigung ins Zentrum seiner Darstellung, beschreibt dann aber „Ursprung und Ansatz der paulinischen Theologie“ (234 ff.) als „Verhältnisbestimmung von Tora und Christusevangelium“ (243). Den Typus der paulinischen Theologie bestimmt Stuhlmacher als „Missionstheologie“ (ebd.). Strecker, Theologie, 11–230, beginnt seine Gesamtdarstellung mit der Theologie des Paulus. Diese zentriert er um die Begriffe der Befreiung und Freiheit. J.D.G. Dunn, Theology, folgt in großen Zügen dem thematischen Aufbau des Römerbriefs, in den er dann die großen Themen des 1. Korintherbriefs (Kirche, Abendmahl) einspeist. In einem Schlusskapitel betont er die zentrale Stellung Christi für die Theologie des Paulus. – Vgl. die Einführungen bei Stuhlmacher, Biblische Theologie 1, 234 ff., und Hahn, Theologie 1, 181ff. Dies kann nicht die Aufgabe eines Paulus-Lehrbuches sein, da sie eine eigene theolo‐ gische Position voraussetzt, die hier nicht entwickelt werden kann. Insofern gilt für die ‚Theologie des Neuen Testaments‘ bzw. deren Teilbereich ‚Theologie des Paulus‘ dasselbe wie für die gesamte Dogmatik: Sie gehört in den Bereich der Rezeption der Paulusbriefe, nicht in die Darstellung der Paulusbriefe selbst (vgl. dazu O. Wischmeyer, Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch [NET 8], Tübingen 2004, 63–90). – Das ist auch kritisch zu Bd. II von F. Hahns Theologie des Neuen Testaments anzumerken.

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2.1 Theologisches Denken als Metakommunikation

Ich beginne mit der Frage, wie sich theologisches Denken bei Paulus beschreiben lässt. Dies ist eine Frage der Heuristik. Wenn nicht der dogma‐ tische Aufriss und die dogmatischen Begriffe die Heuristik bilden, muss eine brief-interne Heuristik entwickelt werden. Dies führt zu folgendem Ergebnis: Theologisches Denken entsteht bei Paulus im Verlauf der brieflichen Kommunikation mit seinen Gemeinden. Wir finden in den Briefen nämlich nicht nur briefliche Kommunikation, sondern auch sog. metakommunikati‐ ven Überschuss 24, d. h. Textabschnitte, die nicht direkt die Kommunikation mit den Adressaten betreffen. Theologische Aussagen des Paulus lassen sich in diesen metakommunikativen Textpassagen finden, bleiben aber stets auf die Briefsituation bezogen. Bultmann hat nachdrücklich auf diesen Sachverhalt hingewiesen, gleichzeitig jedoch zurecht betont, dass eben in dieser situativen Verschränkung die Theologie des Paulus ihren Ursprung habe.25 Eve-Marie Becker hat diesen grundlegenden Sachverhalt anhand des 2. Korintherbriefes differenziert beschrieben: „Wenn sich Paulus meta-kom‐ munikativ äußert und dabei briefhermeneutisch relevante Aussagen formu‐ liert, entsteht ein neuer, eigenständiger Denk- und Sprachzusammenhang, der den eigentlichen Inhaltsaspekt der Kommunikation … verläßt.“ Dieser „meta-kommunikative Überschuß im Zusammenhang briefhermeneutischer Aussagen hat zumeist sprachlich und propositional theologischen Charak‐ ter“26, da Paulus stets im Horizont Gottes und der endzeitlichen Herrschaft des Kyrios argumentiert. Theologische Aussagen und Argumentationen ent‐ stehen dort, wo Paulus Phänomene wie seine eigene Person, die Gemeinden, die Gegner, die Juden und Heiden, den Wandel der Christen und ihre Hoffnung – mit Gott, dem Christusgeschehen und der Endzeit zusammendenkt. Das kann sich auf einen Begriff oder einen Satz beschränken, zu einem Schema wie ‚alter und neuer Adam‘27 ausgebaut werden oder – in seltenen Fällen

24

25 26 27

E.-M. Becker, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Ko‐ rintherbrief (NET 4), Tübingen 2002, 134: „Mit dem meta-kommunikativen Überschuß sollen diejenigen Sprachformen und Aussagen im 2 Kor bezeichnet werden, die eigen‐ ständigen theologischen Propositionsgehalt haben und die Paulus im Zusammenhang meta-kommunikativer Überlegungen formuliert“. Bultmann, Theologie, 191: Paulus schreibt „fragmentarisch“ und „unter dem Zuzug einer konkreten Situation“. Vgl. dazu Becker, Schreiben, 133 ff. und 275ff. Becker, Schreiben, 277. Oder: Offenbarung in der Schöpfung – Offenbarung in Christus (Röm 1–3), Fleisch und Geist (1 Kor 15 u. ö.).

Themen paulinischer Theologie

– zu einer kleinen theologischen Ausführung28 oder einem theologischen Traktat (vgl. 1 Kor 15) führen. Im 2. Korintherbrief treibt Paulus „insoweit Brief-Theologie, als er theologisch gewichtige Aussagen z. B. zum Apostolat (4,1f. oder 6,1ff.), zu Eschatologie (z. B. 5,10), Soteriologie (z. B. 5,20) oder Anthropologie (z. B. 4,7ff.) formuliert“.29 2.2 Situativität paulinischen theologischen Denkens

Dieses Verständnis des paulinischen theologischen Denkens als Ergebnis der brieflichen Kommunikation mit den Gemeinden lässt sich durch die Frage nach den Typen dieser theologie-schaffenden Kommunikationssituationen konkretisieren, denn die Typen des paulinischen Denkens werden aus bestimmten typischen Situationen generiert: 1. Verkündigungs- bzw. Evangeliumstheologie: Theologie entsteht bei Paulus aus der Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus, denn die Verkündigung braucht vertiefende Reflexion. Ein Beispiel ist 1 Kor 1,18–2,16. Paulus reflektiert hier seine Verkündi‐ gung und legt die Grundlagen einer Kreuzestheologie.30 2. Gemeindetheologie: Theologie entsteht aus der Begleitung der Gemeindepraxis. Der 1. Korin‐ therbrief im Ganzen ist der wichtigste Belegtext für diesen Typus. Selbst in Röm 14 behandelt Paulus ein Gemeindeproblem theologisch vertieft, obgleich er die römischen Christen nicht persönlich kennt. 3. Polemische Theologie31: Theologie entsteht zu einem erheblichen Teil aus der Auseinanderset‐ zung mit Gegnern. Der 2. Korintherbrief ist weitgehend durch die Auseinandersetzung um die Person des Paulus, genauer: um sein Apostelverständnis, geprägt. Im Galaterbrief überwiegt die sachliche Auseinandersetzung um das εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ (Gal 1,6f.). Dabei sind persönliche und sachliche Auseinandersetzungen bei Paulus stets miteinander verbunden, wie schon 1 Kor 1–4 zeigt. 4. Freundschaftstheologie:

28 29 30 31

So 1 Kor 7; 13 und Röm 13. Becker, Schreiben (Anm. 24), 277. Vgl. Hahn, Theologie I, 260 f. H. Weder, Das Kreuz Jesu bei Paulus (FRLANT 125), Göttingen 1985; Th. Söding, Das Wort vom Kreuz (WUNT 93), Tübingen 1997. Vgl. die Beiträge in: O. Wischmeyer/L. Scornaienchi (Hg.), Polemik in der frühchristlichen Literatur. Texte und Kontexte (BZNW 170), Berlin/New York 2011.

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Auf der anderen Seite kann auch die Kommunikation mit Freunden zur theologischen Vertiefung führen. Dies zeigt exemplarisch der Phi‐ lipperbrief, auch der Philemonbrief. 5. Autobiographische Theologie: Theologie entsteht bei Paulus niemals ohne Reflexion auf seine eigene religiöse Biographie. Beispiele sind neben dem Galaterbrief und dem 2. Korintherbrief auch die autobiographischen Passagen im Philipperbrief und im 1. Korintherbrief (besonders Kap. 9).32 6. Apostolatstheologie: Schließlich entsteht Theologie bei Paulus am nachdrücklichsten durch die Notwendigkeit der Selbstvorstellung. Das Dokument solcher Selbst‐ vorstellung ist der Römerbrief, in dem Paulus seine Apostolats-, Evan‐ geliums-, Gerechtigkeits- und Israeltheologie darstellt. Die genannten Situationen schließen einander nicht aus. Ein Brief ist meistens Zeuge verschiedener Situationen und der entsprechenden theolo‐ gischen Äußerungen. So enthält beispielsweise der Philipperbrief nicht nur Aussagen zur Freundschaft, sondern auch polemische, autobiographische und verkündigende Passagen. 3 Weitere Bestimmtheiten des paulinischen theologischen Denkens

Die hier gewählte Darstellung der theologischen Themen, die Paulus entwi‐ ckelt, ist neben der Meta-Kommunikationstheorie auch weiteren Einsichten in die Denk- und Arbeitsweise des Paulus verbunden. Ich greife die wich‐ tigsten Aspekte: Wandlungen, Vorgaben und Rhetorik, heraus. 3.1 Wandlungen paulinischer Theologie

Die historische und situative Bestimmtheit der theologischen Aussagen des Paulus wird bei Udo Schnelle unter den Stichworten „Wandlungen“ verhan‐ delt33. Obgleich wir nur die ungefähr letzten zehn Lebensjahre des Paulus 32

33

Vgl. dazu O. Wischmeyer, Die Religion des Paulus, in: dies., Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments (WUNT 173), Tübingen 2004, 311–328, und die Beiträge in: Becker/Pilhofer, Biographie (Anm. 12). U. Schnelle, Wandlungen im paulinischen Denken (SBS 137), Stuttgart 1989; ders., Paulus, 21 Anm. 88. – Vgl. auch den wichtigen Artikel: H.D. Betz, Art. Paul, ABD 5 (1992), 186–201. Betz betont: „His theology is primarily the result of processes of thought“ (192).

Themen paulinischer Theologie

anhand seiner Briefe verfolgen können34, lässt sich die öfter vertretene Meinung, diese Zeitspanne sei für Entwicklungen oder Wandlungen zu kurz, nicht aufrecht erhalten. Denn Paulus befindet sich während seiner Missionszeit in stürmischen Auseinandersetzungen, die gegen Ende seiner Missionszeit im Osten an Problematik zunehmen: „Die Front der Gegner wurde gegen Ende des paulinischen Wirkens immer größer und stärker, wofür es Gründe im theologischen Denken des Apostels geben muss. Er galt nun den Juden als Apostat und den radikalen Judenchristen als Verfälscher, d. h. die paulinische Theologie wurde als feindlich … wahrgenommen“35. Hinzu kommt, dass neue Aufgaben neue charakteristische Herausforderun‐ gen mit sich brachten. Der Römerbrief ist Ausdruck dieses Umstandes. Paulus durchdenkt vor seinen Reisen nach Jerusalem und Rom das „Evan‐ gelium für die Heiden“ (Röm 1,6), aber auch die heilsgeschichtliche Stellung der Juden neu und vertieft. 3.2 Vorgaben paulinischer Theologie

Eine weitere Dimension paulinischer Theologie liegt in ihrer Verwurzelung in vorgegebenen Größen: erstens in der γραφή, d. h. der „Schrift“ Israels, zwei‐ tens in den Denktraditionen des Judentums, drittens in den jungen Traditionen der christlichen Gemeinden und viertens in einem Stratum zeitgenössischer gemeinantiker Ethik. Denn Paulus denkt zwar neu und äußerst kreativ, nicht aber im ‚luftleeren Raum‘.36 Er bezieht vielmehr in sehr unterschiedlicher Breite und Intensität die genannten Traditionen in sein eigenes theologi‐ sches Denken ein:

34 35 36

Siehe dazu den Beitrag von E. Ebel zum Leben des Paulus im vorliegenden Band. Schnelle, Paulus, 23. Dies Phänomen der Verwurzelung des Paulus in den ihn umgebenden Denkwelten stellen die religionsgeschichtlich ausgerichteten Untersuchungen zur Theologie des Paulus dar. Gegenwärtig zentriert sich auf diesem Gebiet nicht mehr alles auf die sog. New Perspective, d. h. auf die Rekonstruktion des Gesetzesverständnisses des Paulus, sondern noch stärker auf die sog. Radical Perspective, die Paulus ganz innerhalb des Judentums verortet. Vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag von J. Frey zum Judentum.

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– die „Schrift“37 – Grundsätze pharisäischer Theologie38 sowie der frühjüdischen Apoka‐ lyptik39 – die Tradition der sog. hellenistischen Gemeinden.40 Bultmann hat dies „Kerygma der hellenistischen Gemeinde vor und ne‐ ben Paulus“ als Basis paulinischer Theologie ausführlich dargestellt. Hans Conzelmann ist Bultmann in seinem „Grundriß der Theologie des Neuen Testaments“ gefolgt41, wobei er aber die Unterscheidung in Kerygma der Urgemeinde und Kerygma der hellenistischen Gemeinde aufgibt. Ferdinand Hahn stellt die frühchristliche Tradition, auf die sich Paulus bezieht, jetzt im Rahmen der einzelnen theologischen Themen dar.42 –

Hinzu kommt die zeitgenössische Ethik.

Wie konkret Paulus die zeitgenössische Ethik in Gestalt popularphilosophi‐ scher Unterweisung gekannt hat, lässt sich schwer rekonstruieren. Deutlich ist aber, dass es ein gemeinsames inhaltliches und literarisch gestaltetes Reservoir ethischer Normen und Ratschläge bzw. Erfahrungen gab, an dem die frühkaiserzeitliche Philosophie ebenso partizipierte wie die frühjüdische und frühchristliche Ethik.43 Das Phänomen der Paränese findet sich bei Paulus reichlich.44 Ein Text wie Phil 4,8 macht deutlich, dass die paulinische Ethik durchaus Anknüpfungspunkte an das Ethos der Umwelt kennt: 37 38 39

40

41 42 43 44

Vgl. dazu grundlegend D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchun‐ gen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus (BHTh 69), Tübingen 1986. Weiter: O. Wischmeyer, Paulus als Hermeneut. Dazu der Beitrag von J. Frey zum Judentum im vorliegenden Band. Dazu einführend F. Hahn, Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik. Eine Einführung (BHSt 369), Neukirchen-Vluyn 1998. Vgl. B. McGinn/J.J. Collins/St. Stein (Ed.), The Continuum History of Apocalypticism, New York/London 2003. Im vorliegenden Band zum Judentum s. J. Frey. Die Tradition der sog. hellenistischen Gemeinden für die Theologie des Paulus hat R. Bultmann so bestimmt: „Er, der kein persönlicher Jünger Jesu gewesen war, ist durch das Kerygma der hellenistischen Gemeinde für den christlichen Glauben gewonnen worden“, Bultmann, Theologie, 188f. Conzelmann, Grundriß, 31–140. Hahn, Theologie I, 164, 203 ff. (Hoheitstitel), 213 (Soteriologie), 250 (Rechtfertigung) usw. Vgl. die Beiträge von B. Heininger und J. Frey im vorliegenden Band. Vgl. einführend W. Popkes, Paränese und Neues Testament (SBS 168), Stuttgart 1996; J. Starr/T. Engberg-Pedersen, Early Christian Paraenesis in Context (BZNW 125), Ber‐ lin/New York 2004. Grundlegend: A. Dihle, Art. Ethik, RAC 6 (1966), 646–796.

Themen paulinischer Theologie

„Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es ein Lob – darauf seid bedacht“. 3.3 Die theologische Bedeutung der Rhetorik und Epistolographie bei Paulus

Hans Dieter Betz hat nachhaltig auf die Bedeutung der Rhetorik für die Theologie des Paulus aufmerksam gemacht. Betz formuliert sehr zugespitzt in Bezug auf die korinthischen Gegner, die Paulus eine Diskussion über das Verhältnis von Rhetorik und Theologie aufzwangen: „Without these challenges, Paul’s theology would never have been put on papers, and we would never have known about it“.45 Allgemein gesprochen bedeutet das: Paulus entwickelt seine Theologie in kritischer Aufnahme der zeitgenössi‐ schen Praxis von Rhetorik als öffentlicher, auf Überzeugung angelegter argumentativer Rede. Er entwickelt eine eigene theologische Rhetorik auf christlicher Basis, die nicht bloße Wortmagie ist, „but a rhetoric designed to argue by rational arguments so that the truth may appear“.46 Wir beobach‐ ten hier so etwas wie eine zweite sokratische Situation: Wie Sokrates in der Auseinandersetzung mit den Sophisten seine fragende philosophische Methode entwickelte, wird Paulus durch seine Gegner zu seiner christlichen rhetorisch-argumentativen Theologie gebracht, die öffentlich und rational ist, überzeugend wirkt und zugleich Gottes Wirken Raum lässt.47 Wir haben diese Theologie nun allerdings in epistolographischer Über‐ formung, in der Gattung des Briefes. Die Gattung ‚Brief‘ „ist subjektiv, situativ-aktuell, kommunikativ, adressatenbezogen und – im kommunika‐ tiven, nicht im politischen Sinn – demokratisch“.48 Diese Aspekte sind Grundbestandteil der paulinischen Theologie, da Paulus ausschließlich Briefe verfasst und sich keiner anderen literarischen Gattung bedient hat.

45 46 47 48

H.D. Betz, The Problem of Rhetoric and Theology According to the Apostle, in: A. Vanhoye (Ed.), L’Apôtre Paul. Personalité, Style et Conception du Ministère (BEThL 73), Leuven 1986, 16–48, 47f. Ebd., 24, bezogen auf den Galaterbrief. H.D. Betz, Der Apostel Paulus und die sokratische Tradition. Eine exegetische Untersu‐ chung zu seiner „Apologie“ (BHTh 45), Tübingen 1972. Wischmeyer, Hermeneutik, 33. Vertieft H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament (UTB 2022), Paderborn etc. 1998. – Vgl. den Beitrag von Ch. Hoegen-Rohls im vorliegenden Band.

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4 Themen des theologischen Denkens in den paulinischen Briefen

In diesen Rahmen sollen jetzt die einzelnen theologischen Themen einge‐ zeichnet werden. Ich verfahre im Blick auf die Reihenfolge der Briefe chronologisch49 und gehe die einzelnen Briefe auf ihre theologischen Motive (1 Thess) und Themen (1.2. Kor, Gal, Phil, Röm) durch. 4.1 1. Thessalonicherbrief

Der 1. Thessalonicherbrief spricht verschiedenste theologische Motive an, ohne sie auszuführen. Alle diese Motive können theologisch vertieft werden und sind Ausgangspunkte theologischen Denkens, wie die späteren Paulus‐ briefe zeigen50: – – – – – – – – – – – –

Glaube, Liebe, Hoffnung, die sog. Trias 1,3; 5.8 (vgl. 1 Kor 13,13)51 εὐαγγέλιον 1,5/Wort des Herrn 1,8; 2,13 πίστις 1,8; 3,5.6.10 Bekehrung zu Gott 1,9 Jesus, Sohn Gottes, den er von den Toten auferweckt hat 1,10; 4,14 apostolische Selbstvorstellung 2,1–12 Juden 2,14–16 Trost in Bedrängnis 3,7 ἀγάπη 3,12; 4,9ff. christliches περιπατεῖν, Arbeit 4,1–11; 5,12ff. Heiligkeit der Gemeinde 4,3–8 soteriologische Dimension des Todes Jesu „ὑπὲρ ἡμῶν“ 5,10.

Die einzige theologisch ansatzweise ausgearbeitete Thematik ist die sog. Eschatologie in Kapitel 4.52 Hier entsteht Lehrbedarf (4,13 Lehreinleitungsfor‐ 49 50

51 52

Zur Chronologie vgl. den Beitrag von E. Ebel zum Leben des Paulus im vorliegenden Band. Vgl. allgemein die Beiträge zu den Briefen. Der vorliegende Beitrag kann weder dem Wiederauftauchen dieser Motive in den späteren Briefen noch anderen bloß kurz angesprochenen Motiven in den späteren Briefen nachgehen. Hier soll deutlich werden, dass im 1Thess einerseits sehr viele theologische Motive kurz angesprochen werden, andererseits aber nur die Eschatologie ausführlichere Klärung erfährt. Dazu O. Wischmeyer, Der höchste Weg. Das 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes (StNT 13), Gütersloh 1981, 147–153. A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief (HNT 9/1), Tübingen 2000, 292f. Grundlegend zum historischen Rahmen der neutestamentlichen Eschatologie ist: P. Volz, Die Eschatologie der jüdischen Gemeinde im neutestamentlichen Zeitalter, [Tü‐ bingen 1934] Ndr. Hildesheim 1966.

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mel), wohl aufgrund einer Unsicherheit in der Gemeinde über das endzeit‐ liche Schicksal der verstorbenen Gemeindeglieder (4,13ff.). Paulus leitet aus dem Christuskerygma in 4,14a in einem einfachen Analogieschluss (οὕτως) ab, dass Jesus auch der Kyrios der (in Christus) Entschlafenen ist und diese Gott zuführen wird53. In 4,15–18 entwirft Paulus ein kurzes apokalyptisches Szenario, in dem die Reihenfolge der endzeitlichen Ereignisse, soweit sie die Christen betreffen, dargestellt werden: Auferstehung der verstorbenen Christen, gemeinsame Entrückung aller Christen zum Herrn. Die Endvision ist: „πάντοτε σὺν κυρίῳ ἐσόμεθα“ (4,17). Eine weitere Frage betrifft den Zeitpunkt dieser Endereignisse. Paulus beantwortet diese Frage in 5,1–11 im Sinne des „unvermutet bald“54. Dabei stützt er sich auf ein allgemeines frühchristliches Wissen darüber, dass der „Tag des Herrn“ – Paulus verwendet die bereits urchristlich überarbeitete Vorstellung vom Tag Jahwes aus dem Alten Testament – plötzlich kommen werde55. Daraus leitet er in Übereinstimmung mit der synoptischen Escha‐ tologie das Ethos der Wachsamkeit und des christlichen Lebens ab (nochmals die Trias 5,8). 4.2 1. Korintherbrief

Im 1. Korintherbrief arbeitet Paulus neben der Erwähnung vieler theologi‐ scher Motive mit Hilfe bestimmter Motive einzelne theologische Themen aus, die der detaillierten Darstellung bedürfen – teils weil die Gemeinde Fragen hat, teils weil Paulus selbst bestimmte Themen klären will. Die Kapitel 1 bis 4 gelten der Rolle der Gemeindeleiter bzw. Gemeindegrün‐ der. Paulus setzt sachlich bei seiner Beauftragung zur Evangeliumsverkündi‐ gung (1,17) an. Daraus leitet er erstens das theologische Motiv des Mitarbeiterund Haushalter-Apostolats ab (3,9; 4,1), zweitens das Motiv des apostolischen Leidens in Niedrigkeit, Schwäche und Todesnähe (4,6–13), drittens die theolo‐ gische Konzeption der Gemeinde, die durch Einheit (4,10ff.), Demut, Heiligkeit (3,16f.) und Leben nach dem Beispiel des Apostels (4,16) bestimmt ist. Diese tragenden Elemente der Apostolatstheologie wird Paulus vor allem im 2. Korin‐ 53 54 55

Vgl. zu 1 Thess 4,13–5,11 E. v. Dobschütz, Die Thessalonicher-Briefe (KEK 10), Göttingen 1909, 183–215. v. Dobschütz, Thessalonicher-Briefe, 204. Zur Frage, ob ein Herrenwort Basis dieses Wissens sei, v. Dobschütz, Thessaloni‐ cher-Briefe, 204 f.; Hahn, Theologie I, 311; Exkurs 323–329. – Allg. zur Theologie des 1. Thessalonicherbriefes vgl. Th. Söding, Der Erste Thessalonicherbrief und die frühe paulinische Evangeliumsverkündigung, in: ders., Wort (Anm. 30), 31–58.

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therbrief weiter ausbauen. Er vertieft das Thema Gemeindeleiter – Gemeinde in einem entscheidenden Punkt. In 1,18–2,16 und 3,18–23 entwirft er von seinem eigenen Verkündigungsauftrag aus (1,17) eine Weisheitstheologie, die durch den Umstand des Kreuzestodes Christi geprägt ist.56 Er isoliert (2,2) und konkretisiert den ersten Teil der Christustradition von 1 Kor 15,3–5 (V.3 ὅτι Χριστὸς ἀπέθανεν) und füllt den – zunächst sinnlos scheinenden – Kreuzestod kontrafaktisch mit soteriologischem Sinn (1,18), und zwar als Ausweis der spezifischen Kraft (δύναμις) und Weisheit (σοφία) Gottes (1,24), die diesem Tod gerade zu fehlen scheinen. Diese kontrafaktische Interpretation baut Paulus in zwei Richtungen aus: einmal pneumatologisch in Hinsicht auf eine eigene christliche δύναμις seiner Person (2,1–5) und der Gemeinde (1,26–31), zum anderen in Hinsicht auf eine eigene christologische σοφία, die nicht länger Schöpfungsweisheit (1,18–21), sondern endzeitliche Erlösungsweisheit (2,6–9) und als solche pneumatische ἀποκάλυψις (2,10ff.) ist. 3,18–23 formuliert Paulus einen kritischen Schlussgedanken: die eigentliche Weisheit und Freiheit eignet den Christen. In den Kapiteln 5 und 6 führt Paulus das theologische Motiv der Heiligkeit der Gemeinde aus 3,16f. weiter aus. Er bezieht es auf die Heiligkeit des Leibes, die Unzucht verbietet (Kap. 5), und auf das Prozessieren vor heidni‐ schen Gerichten (Kap. 6). Dabei entsteht neben anwendungsorientierten ethischen Regeln auch der Umriss einer Theologie der Heiligkeit des Leibes der Gemeindeglieder in ethischer Hinsicht (6,19 in Wiederaufnahme von 3,16f.). Diese Vorstellung verbindet Paulus bereits hier mit dem Theologu‐ menon des geistlich verstandenen (3,17) σῶμα Χριστοῦ, das er in Kapitel 12 entwirft (6,15ff.). In Kapitel 7 fügt Paulus in die ethischen Vorschriften ein wesentliches eschatologisches Motiv ein: die Endzeit macht die Dinge des κόσμος un‐ wesentlich, daher sollen Christen „die Welt (κόσμος)“ so benutzen, „als benutzten sie sie nicht“ (7,29ff.), in „der Freiheit von der Welt und ihren Mächten“ und „in der Distanz des ὡς μή“.57 In Kapitel 8,1–6 stellt Paulus seine Theologie und parallel dazu seine Christologie in Grundzügen in der Auseinandersetzung mit der grie‐

56 57

Vgl. Hahn, Theologie I, 260 f. Söding, Wort (Anm. 30), darin: Das Geheimnis Gottes im Kreuz Jesu (1 Kor 2,1f.7ff.), 71–92; Kreuzestheologie und Rechtfertigungslehre, 153–184; „Was schwach ist in der Welt, hat Gott erwählt“ (1 Kor 1,27), 260–271. Bultmann, Theologie, 352f.

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chisch-römischen Götterwelt dar.58 Im Verlauf der Kapitel 8 bis 10 gibt Paulus auf dieser theologischen Grundlage eine komplexe Anweisung zum Umgang mit sog. Götzenopferfleisch. Theologisch bedeutsam ist die Unterscheidung von bloßer Speise, die soteriologisch irrelevant ist (8,8), und dem Gewissen (8,7) – hier zum ersten Mal bei Paulus erwähnt – der ängstlichen („schwachen“) Christen, für die die heidnischen Götter immer noch ein Machtpotential besitzen und die daher nicht die – theologisch richtige – Freiheit haben, sich um die Herkunft des von ihnen verzehrten Fleisches nicht zu kümmern. Paulus argumentiert hier nicht eigentlich theologisch, sondern primär seelsorgerlich: das ‚schwache‘ Gewissen muss geschont werden (8,12f.). Paulus weiß sehr wohl, dass er damit hinter seinen eigenen theologischen Möglichkeiten und Einsichten zurückbleibt. In Kapitel 9 nennt er sich selbst als Beispiel für diese Selbst-Zurücknahme. In Kapitel 10,1–13 und 14–22 spricht Paulus eine theologisch durch 8,1–6 fundierte Warnung vor zu großer Sicherheit „am Ende der Zeiten“ (10,11) aus. Eine „Sakramentstheologie“ entwirft Paulus weder in 1 Kor 10,14–22 noch in 11,17–34. Er spricht lediglich eine Warnung aus, es nicht zu unterlassen, τὸ σῶμα (κυρίου) zu unterscheiden. Ethisch unwürdige Teilnahme am Herren‐ mahl führt zur Züchtigung durch den κύριος, nicht aber zur endzeitlichen Verdammung (V.32). Paulus hält Krankheiten und vorzeitigen Tod für solche Züchtigungen. Kapitel 12 bis 14 entfalten im Rahmen einer praktischen, der gottesdienst‐ lichen Realität entnommenen Pneumatologie bzw. Charismenlehre (12,4–11) die theologische Metapher von der Gemeinde als Leib Christi, wobei der ἀγάπη in Kap. 13 ethisch und eschatologisch der Primat eingeräumt wird.59 Kapitel 15 enthält die zweite längere theologische Ausführung nach Kapitel 2. Paulus setzt sich in einem kleinen theologischen Traktat mit der Frage nach der Auferstehung auseinander.60 Es handelt sich um einen der seltenen im engeren Sinne theologischen Texte bei Paulus – auch dieser praktisch veranlasst (Vv.12.29), persönlich verantwortet (Vv.8–11),

58

59 60

Vgl. E.-M. Becker, ΕΙΣ ΘΕΟΣ und 1 Kor 8. Zur frühchristlichen Entwicklung und Funktion des Monotheismus, in: W. Popkes/R. Brucker (Hg.), Ein Gott und ein Herr. Zum Kontext des Monotheismus im Neuen Testament (BThSt 68), Neukirchen-Vluyn 2004, 65–100. Zur theologischen Dimension der Liebe in Kap. 13 vgl. O. Wischmeyer, Liebe. Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 338 f., und O. Wischmeyer, 1. Korinther 15. Der Traktat des Paulus über die Auferstehung der Toten in der Wahrnehmung unterschiedlicher Textzugänge, in: dies., Ben Sira (Anm. 32), 243–276.

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ethisch begleitet (Vv.29–34) und apokalyptisch endend (Vv.50–55). Paulus arbeitet mit der überbietenden Analogie zwischen erstem und zweitem Adam (Vv.20–28) und der analogen Differenzierung zwischen natürlichem und geistlichem Leib. Ziel der theologischen Argumentation ist der Nach‐ weis, dass die Auferweckung Jesu nicht ein singulärer folgenloser Akt wunderbaren göttlichen Eingreifens in die conditio humana des Sterbens ist, sondern den endzeitlichen Beginn der Rettung der Menschheit darstellt. Insofern ist Kapitel 15 eine genuine Interpretation jenes εὐαγγέλιον, mit dem Paulus seinen Traktat einleitet. Insgesamt erstellt Paulus in diesem Brief ein theologisches Koordinaten‐ system, das ein erstes Mal von 1,17f. aus das εὐαγγέλιον in seiner Eigenart ausarbeitet und in den eschatologischen Rahmen einfügt, der durch Jesus Christus als neuen Adam und durch das bevorstehende Ende der Zeiten ge‐ geben ist. Ethische und eschatologische Fragen der Leiblichkeit (σῶμα), der Anteilhabe am eschatologischen σῶμα Χριστοῦ und des Verständnisses der christlichen Person, der christlichen Gemeinde und des Apostels schließen sich hier an. Die Theologie basiert auf der Erkenntnis des einen Gottes und dem Bekenntnis zu dem einen κύριος Ἰησοῦς (8,1–6; 12,1–3). 4.3 2. Korintherbrief

Der zweite Korintherbrief ist durchgehend von einer autobiographisch un‐ terlegten und in hochpolemischen Situationen entstandenen Apostolatsthe‐ ologie geprägt.61 In 2,14–6,10 62 entfaltet Paulus aus apologetischen Gründen seine Apos‐ tolatstheologie im Kontext von Geisttheologie, Eschatologie und Versöh‐ nungschristologie. Es handelt sich also um einen größeren, sehr dichten theologischen Zusammenhang, in dem neben den genannten auch noch weitere theologische Motive zusammenwirken. Paulus versteht sich – und seine Mitarbeiter (2,13ff.) – als Träger der Verkündigung von Jesus Christus, die in ihrer Verkündigungstätigkeit sote‐ riologische Funktion wahrnehmen (2,14–16). Die Gemeinde ihrerseits erhält dieselbe Funktion für ihre Umgebung (3,1–3). Das Apostelamt (διακονία)

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Zu allen Einzelheiten vgl. den Beitrag zum 2Kor von E.-M. Becker im vorliegenden Band. Auf die Teilungshypothesen nehme ich hier nicht Bezug, sondern stelle lediglich die Elemente der Apostolatstheologie dar. Es handelt sich hier nicht um einen Teilbrief von Brief A (s. den Beitrag von E.-M. Becker im vorliegenden Band).

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ist geistlich, lebensbringend und führt die Menschen der endzeitlichen Herrlichkeit zu (3,4ff.). Daher hat es seine Würde und Bedeutung. Besondere Erwähnung verdient der Text 3,4–18. Paulus argumentiert hier mit der überbietenden (μᾶλλον 3,8) Typologie zwischen Mose und dem Apostel als διάκονος des Alten und des Neuen Bundes, die bei Paulus nur in diesem Apostolatszusammenhang entwickelt wird. Paulus entwirft hier wie oft antithetisch-korrespondierende Begriffsreihen: alter und neuer Bund, Buchstabe und Geist, Tod und Leben usw. Ziel ist die Darstellung der Herrlichkeit und der soteriologischen Bedeutung der διακονία des Apostels. Die Bundesmetapher ist an die Tafeln des Mose, d. h. an den Dekalog gebunden, der in 3,14–16 stellvertretend für die gesamte Tora steht. In 3,16 formuliert Paulus deutlich die Hoffnung auf die Bekehrung ganz Israels zu Christus, die in Röm 11 ausgeführt wird. In 4,1–6 macht Paulus deutlich, dass das Apostelamt (διακονία 4,1) ein öffentliches Amt ist und ausschließlich der Verkündigung Jesu Christi, nicht aber der Selbstpropaganda gilt. Daher ist das Amt Dienst, nicht Herrschaft. Es gilt der Erleuchtung der Menschen und der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes. In 4,7–18 führt Paulus die Apostolatstheologie fort, indem er das Theologu‐ menon von der Leidens- und Todesgemeinschaft des Apostels mit Christus ent‐ wickelt. Dies führt ihn in 5,1–10 zur Darstellung einer Individualeschatologie, die autobiographisch zugespitzt ist. Anders als in 1 Kor 15 formuliert Paulus hier persönlich. Er verwendet nicht die Leibmetaphorik, sondern stellt zunächst die menschliche und die von Gott stammende Behausung einander gegenüber. Erst in 5,5–10 wechselt er wieder zur Leib-Metaphorik, die hier aber auf den irdischen Leib beschränkt ist. So entsteht die Vorstellung vom „Verlassen“ des Leibes (5,8). 5,10 stellt die Individualeschatologie in den Zusammenhang der apokalyptisch konzipierten Universaleschatologie. In 5,11–21 gelingt Paulus eine christologische Vertiefung des Apostolatsthe‐ mas. Der Apostolat wird als Amt der Versöhnung (διακονία τῆς καταλλαγῆς 5,18) aus der Selbstversöhnung Gottes mit den Menschen durch Christus (5,17–21) interpretiert. Die Evangeliumspredigt ist in diesem Zusammen‐ hang der λόγος τῆς καταλλαγῆς (5,19)63. Noch einmal macht Paulus den eschatologischen Rahmen deutlich, wenn er die christliche Existenz als Neu‐ schöpfung bezeichnet: ὥστε εἴ τις ἐν Χριστῷ καινὴ κτίσις (5,17). Das Amt der Versöhnung wird zum Botschafteramt (5,20 ὑπὲρ Χριστοῦ πρεσβεύομεν). 63

Zur Versöhnungschristologie vgl. Hahn, Theologie I, 262f.

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Die Versöhnungschristologie verbindet Paulus mit anderen christologischen Interpretamenten: der Verbindung von Stellvertretungsvorstellung und In‐ korporationschristologie (5,14f.), der Nichtzurechnung von Sünden (5,13), der Vorstellung von Christi Sündlosigkeit (5,21) und der Herstellung der menschlichen Gerechtigkeit in Christus (5,21 vgl. 1 Kor 1,30). In 6,1–10 veranschaulicht Paulus in einem antithetisch-paradoxal formu‐ lierten Leidenskatalog die Leidensexistenz der Apostel als θεοῦ διάκονοι (6,4), verbunden mit der eschatologischen Zeitansage: „Siehe, jetzt ist der Tag des Heils“ (6,2). In Kapitel 10–12 vertieft Paulus die autobiographisch fundierte Aposto‐ latstheologie.  64 Er verteidigt sich gegen den Vorwurf persönlicher Schwäche und Krankheit, indem er einerseits indirekt auf seine jüdisch-pharisäische Herkunft (11,21f.), seine Mission (11,23.28f.), seine Charismen (12,12) und seine religiösen Erfahrungen (12,1–5) hinweist, andererseits aber gerade seine chronische Krankheit als seine eigentliche Stärke interpretiert (12,6– 10 und der Leidenskatalog 11,23ff.). Diese Interpretation stützt er christolo‐ gisch, indem er ein persönliches Wort des Kyrios an ihn zitiert: „Und er hat zu mir gesagt: ‚Meine Gnade reicht für dich, die Kraft nämlich vollendet sich in Schwäche‘“ (12,9).65 Die Narrenmetapher (ἄφρων, ἀφρωσύνη) und die Redefigur der „Narrenrede“ (12,17ff.) stellen kühne theologische Stil- und Denkmittel dar, die Paulus die sprachliche Entwicklung komplexer theologischer Sachverhalte ermöglichen, die die Regeln religiöser Erfahrung durchbrechen oder sogar ins Gegenteil verkehren. Apostolische Schwäche erweist sich als christologisch fundierte Stärke. „Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“, ὅταν γὰρ ἀσθενῶ, τότε δυνατός εἰμι (12,10), lautet das theologische Paradoxon. Auch Kritik und Polemik werden im 2 Kor zu theologischen Stil- und Denkmitteln, mit deren Hilfe die Ruhmes- und Stärke-Theologie der Gegner als gegen Christus gerichtet entlarvt wird. 4.4 Galaterbrief

Das erste theologische Thema des Galaterbriefes ist das unverfälschte εὐαγγέλιον von 1,6–2,21. 64 65

Vgl. Betz, Apostel (Anm. 47). O. Wischmeyer, 2 Kor 12,1–10. Ein autobiographisch-theologischer Text des Paulus, in: dies., Ben Sira (Anm. 32), 277–287; dies., 2 Korinther 12,7–8. Ein Gebet des Paulus, in: R. Egger-Wenzel/J. Corley (Ed.), Deuterocanonical and Cognate Literature Yearbook 2004. Prayer from Tobit to Qumran, Berlin/New York 2004, 467–480.

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Das Evangelium wird vom Apostel gepredigt. Er selbst aber hat es „durch die Offenbarung Jesu Christi“. Das Evangelium bezieht sich zugleich auf Jesus Christus. Wesentlich ist hier die Frage nach dem Verhältnis von Evangelium und dem Gesetz, konkretisiert in der Beschneidung (2,3) und im Halten der jüdischen Speisegebote (2,11ff. „Antiochenischer Zwischenfall“). Paulus entwickelt für diese Problematik die Vorstellung einer zweifachen Gestalt der Evangeliumspredigt: seine, den Heiden gewidmete, die das Leben nach dem Ἰουδαϊσμός nicht einschließt, und die mit Petrus verbundene, die den Juden gilt und nicht auf der Abkehr vom Gesetz besteht, obgleich Petrus selbst aber schwankend in der Stellung zum Gesetz gewesen zu sein scheint.66 Für Paulus gehört notwendig und verbindlich zum Evangelium, dass Heiden nicht jüdisch leben, d. h. das Gesetz befolgen müssen, um vor Gott Gerechtigkeit zu erlangen (2,14–16). Die polemische Frage in 2,14b: „Wenn du, der du ein Jude bist, heidnisch lebst und nicht jüdisch, warum zwingst du dann die Heiden, jüdisch zu leben?“ enthält einen theologischen Sprengsatz. Paulus stellt hier heidnisches (ἐθνικῶς) Leben, d. h. Nicht-Befolgen der Tora-Gesetze, und jüdisches (ἰουδαϊκῶς) Leben, d. h. Leben nach der Tora, grundsätzlich gleich. Das ἰουδαΐζειν wird damit zu einem ethnischen Merk‐ mal und verliert seine soteriologische Qualität. Das φύσει-Ἰουδαίοι-Sein (V.15) hat keine Rettungskraft mehr. Damit kommt Paulus zur Entwicklung seines zweiten theologischen Themas, das das erste Thema fortführt und in 2,16–21 schon vorbereitet wird: Glaube gegen Gesetzeswerke in 3,1–4,7. Paulus eröffnet eine Reihe antithetischer theologischer Begriffe: [gegnerische Agitation] Gesetzeswerke Fleisch

[apostolische] Predigt vom Glauben Glaube/Gerechtigkeit Geist

In diesem Zusammenhang interpretiert Paulus Abraham als Paradigma des Glaubens, nicht des Gesetzes. Er schließt weitere antithetische Begriffe an: Fluch Tun des Gesetzes 66

Segen Glaube

Petrus, Barnabas und andere judenchristliche Missionare halten nicht immer die jüdischen Speisegebote wie Jakobus und dessen Gesandte (2,11ff.). Zum Galaterbrief vgl. O. Wischmeyer, Wie kommt Abraham in den Galaterbrief? Überlegungen zu Gal 3,6–29, in: M. Bachmann/B. Kollmann (Hg.), Umstrittener Galaterbrief (BThSt 106), Neukirchen-Vluyn 2010, 119–163.

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Die sehr dichte Argumentation in 3,10–14 mit Dtn 27,26; Hab 2,4 und Lev 18,5 gibt einen Schriftbeweis für den Sachverhalt, dass das Gesetz gar nicht zum Leben führen kann, sondern den Tod (den Fluch) zur Folge hat. In diese Argumentation fügt Paulus ein christologisches Element ein: die stellvertre‐ tende (ὑπὲρ ἡμῶν V.13) Verfluchung Christi, die für die (Juden-)Christen den Fluch des Gesetzes aufhebt. In 3,19–4,7 stellt sich Paulus die aus jüdischer Sicht zentrale Frage: τί οὖν ὁ νόμος; „Was ist das Gesetz?“. Er antwortet speziell-theologisch mit einem heilsgeschichtlichen Schema, das wieder mit christologischem Denken verbunden ist. Gottes Handeln führte schon von Anfang an auf Jesus Christus hin. Dieser wurde im πλήρωμα τοῦ χρόνου geboren (4,4). Das Gesetz ist in dieser Perspektive eine epochengebundene Größe für die Zeit vor Christus. Paulus verwendet dafür die Metapher vom παιδαγωγός, dem Kinder-Lehrer (3,24f.). Zugleich ordnet er das Gesetz der Sünde zu: Gesetz Sünde ↓

Christus/Glaube Gerechtigkeit ↓

Verstoßener ↓

Erbe ↓

Keine wirkliche Abrahamskindschaft

Einheit der Glaubenden in der Gotteskindschaft und der Abrahamskindschaft

In 4,21–31 vertieft Paulus den theologischen Begriff der (Gottes-)Kindschaft durch eine Auslegung (4,24) von Gen 16,15; 21,2.9. Es entsteht eine weitere Reihe antithetischer Begriffspaare: Sohn der Magd nach dem Fleisch Mutter Hagar Bund vom Berg Sinai jetziges Jerusalem Knechtschaft (Juden)

Sohn der Freien nach der Verheißung (Mutter Sara) (neuer Bund) oberes Jerusalem Freiheit Christen

In diese antithetische Struktur ordnet Paulus in einer aktuellen situativen theologischen Wendung in Kapitel 5 die galatischen Christen ein: Joch der Knechtschaft Beschneidung der Christen

Freiheit Unbeschnittenheit Geist

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Gesetz Fallen aus der Gnade Verlust Jesu Christi

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Gerechtigkeit Hoffnung Jesus Christus Glaube

Schließlich entwirft Paulus in 5,13–6,10 in einer Paränese, die die Freiheit vom Liebesgebot her ethisch auslegt (5,13f.), eine Skizze christlichen Lebens. Im Galaterbrief liegt eine fast ganz durchgehende polemische antithe‐ tische Struktur theologischer Grundbegriffe vor, die von dem Versuch antipaulinischer judenchristlicher Missionare, Heidenchristen in Galatien zum Halten des Gesetzes zu bringen, ausgeht und bestimmt ist, aber zugleich über diese theologische Situation hinausdenkt. 4.5 Philipperbrief

Paulus deutet im Philipperbrief seine Gefangenschaft theologisch von seinem Auftrag der Evangeliumsverkündigung her (1,16). In diesem biographischen Rahmen vertieft der sehr persönlich gehaltene Freundschaftsbrief zwei theo‐ logische Motive: die Beziehung des Paulus zu Christus und die Beziehung der Gemeinde zu Christus. Seine Beziehung zu Christus versteht Paulus im Philipperbrief – theolo‐ gisch an den 1. Korintherbrief anknüpfend – als leiblich: „wie ich sehnlich warte und hoffe, dass ich in keinem Stück zuschanden werde, sondern dass frei und offen, wie allezeit so auch jetzt, Christus verherrlicht werde an meinem Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod“ (1,20).67 Die Erfüllung der Verbindung mit Christus, die Paulus ersehnt, ist dem Leben nach dem Tod vorbehalten (1,23). Wie sich diese individual-religiöse Vorstellung zu 2 Kor 5,1–10 verhält und wie sie sich mit den apokalyptischen Szenarien in 1 Thess 4 und 1 Kor 15 verbindet, macht Paulus nicht deutlich. Wohl aber ist klar, dass Paulus die apokalyptisch vorgestellte Eschatologie vom Endgericht und Christus als Richter nicht aufgibt: 1,6.10 und 2,16 („Tag Jesu Christi“).68 Die Beziehung der Gemeinde zu Christus möchte Paulus von Demut (ταπεινοφροσύνη69) und gegenseitigem Dienst gekennzeichnet sehen (2,3f.).

67 68 69

Dabei ist wohl an die in 1 Kor 15 ausgearbeitete Vorstellung vom σῶμα ψυχικόν und σῶμα πνευματικόν (15,44ff.) gedacht. Vgl. dazu Hahn, Theologie I, 313 f. Hahn vermutet, Paulus selbst rechne mit einem individuellen Zwischenzustand für die Verstorbenen (vgl. auch 1 Kor 15). E.-M. Becker, Der Begriff der Demut bei Paulus, Tübingen 2015; Paul on Humility. Translated by W. Coppins (BMSEC); Baylor: Baylor University Press, 2020.

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Diese Existenzform in ἀγάπη70 (2,1f.) vertieft Paulus christologisch durch den Hinweis auf Jesus Christus. Die Gemeinde soll in christusförmiger φρόνησις leben (2,5). Dem Christushymnus 2,6–11 71 entnimmt Paulus das Motiv der Selbst-Erniedrigung (V.8), das seine Spitze im Kreuzestod findet.72 In Kapitel 3 kommt Paulus im Zusammenhang einer scharfen Polemik gegen konkurrierende gegnerische Missionare auf die δικαιοσύνην διὰ πίστεως Χριστοῦ zu sprechen (V.9). Der Text 3,2–21 zeigt – gemäß der Gattung des persönlichen Freundschaftsbriefes – einen autobiographischen Zugang zur δικαιοσύνη-θεοῦ-Thematik, der analog zu Gal 1,10ff. die Grund‐ elemente der paulinischen sog. Rechtfertigungslehre aus seiner Biographie entwickelt. Das Bundeszeichen der Beschneidung (περιτομή) nimmt Paulus in einer kühnen theologischen Metapher für die Christen in Anspruch (3,3), indem er die Beschneidung geistlich deutet und das jüdische Bundeszeichen polemisch dem „Fleisch“ (σάρξ), d. h. der sündigen Selbstbezogenheit der Menschen – konkretisiert in den identity-markern der jüdischen Religion – zuweist (3,4–6). Die „Gerechtigkeit aus Glauben“ verbindet Paulus mit einer Teilhabe- bzw. Gemeinschaftschristologie (κοινωνία παθημάτων Χριστοῦ 3,10), mit der er für sich selbst analog zum Christushymnus aus der Gleich‐ förmigkeit mit der Leidens- und Todesexistenz Christi die Teilhabe an seiner Auferstehung erschließt (3,9–14). Dabei ist er wieder Vorbild für die Gemeinde (3,15ff.). Das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit aus Glauben und Teilhabe an Jesu Auferstehung durch Christusförmigkeit der persönlichen Existenz erörtert Paulus nicht näher. Kapitel 3 deutet aber an, dass die apostolische Leidensexistenz (3,10) eine Auslegung und Konkretisation der δικαιοσύνη διὰ πίστεως Χριστοῦ (3,9) ist. In Phil 3,12–14 und 20 f. macht Paulus deutlich, dass die Existenz des aus Glauben Gerechten in Spannung und Erwartung verläuft. Die conditio christiana ist eine christologisch-apo‐ kalyptische: ὁ κύριος ἐγγύς (4,5). In 4,8 formuliert Paulus gleichsam nebenbei Grundsätze einer christlichen Ethik auf der Basis der ἀπετή (vgl. schon 1 Thess 5,21). 4.6 Römerbrief

Die Exegeten stimmen weitgehend darin überein, dass im Römerbrief nicht nur die ausführlichste und am weitesten entwickelte Form der Theologie 70 71 72

O. Wischmeyer, Liebe. Zu allen Einzelheiten vgl. den Beitrag von L. Bormann im vorliegenden Band. Vgl. 1 Kor 1,18ff. (s. o.).

Themen paulinischer Theologie

497

des Paulus vorliegt, sondern dass Paulus nur hier im engeren Sinne so etwas wie eine zusammenhängende Theologie entwirft und in längeren Argumentationsgängen darlegt. Auch diese theologische Darstellung bleibt aber situativ: Im Brief an die Römer generiert die briefliche Selbstvorstel‐ lung eine homogene Darstellung des Selbstverständnisses des paulinischen εὐαγγέλιον. Theologische Themen (tabellarisch) 1,16– 4,25

Evangelium von der Gerechtigkeit Gottes, die die Menschen durch den Glauben rettet Beispiel: Abraham (Gal 3)

5

Freiheit vom Tod und Christus als zweiter Adam (vgl. 1 Kor 15)

6

Freiheit von der Sünde, christologisch und tauf-theologisch begründet

7

Freiheit vom Gesetz trotz der Verstrickung des Ichs in die Sünde

8

Freiheit der Christen und Leben im Geist, Warten auf die eschatologische Befreiung der gesamten Schöpfung

9–11

Gegenwärtige Position Israels vor Gott und Israels endzeitliche Per‐ spektive

12– 15,13

Christliches Ethos Sonderthemen:

15,14– 21

Aposteltheologie (vgl. 1,1–7)

Staat Liebe Gemeinde

13,1–7 13,8–10 14,1–15,13

Die propositio generalis in 1,16f. macht eine theologische Grundsatzaussage zu dem Thema: Welcher Menschengruppe gilt die soteriologische Kraft des εὐαγγέλιον θεοῦ? Die Aussage lautet: Betroffen sind alle Menschen, die dem Evangelium glauben. Damit bestimmt Paulus den Glauben als die Kraft, die die Menschen rettet. Die Aussage ist zunächst nur im jüdischen Religionsparadigma verständ‐ lich: Die Menschen bedürfen angesichts ihrer Sünden der Rettung. Diese geht von Gott aus. Im jüdischen Paradigma werden aber die Juden gerettet, Heiden können nur gerettet werden, wenn sie die Tora halten und – sofern sie männlich sind – das Bundeszeichen der Beschneidung empfangen, d. h. wenn sie Juden werden. Paulus bestimmt dagegen den Glauben an das εὐαγγέλιον als rettende Kraft und betont, diese soteriologische Möglichkeit

498

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stehe nicht nur den Juden, sondern ebenso den Griechen, d. h. aus Israels Perspektive den Heiden, offen. Die Kapitel 1,18 bis 3,19 entwerfen eine Fundamentalanthropologie. Die Grundlage dieser Anthropologie ist die Glaubensgerechtigkeit der proposi‐ tio generalis. Denn diese entzieht dem Judentum seinen soteriologischen Vorrang bzw. seinen singulären Anspruch auf das Heil. Nicht der Jude, der die Tora hält, wird „leben“, sondern der Mensch, der an das Evangelium glaubt (1,17). Die neue, auf die gesamte Menschheit bezogene Anthropologie legt das Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, aus (1,1–4). Sie ist insofern schon christliche Anthropologie, als auch sie aus christlicher Perspektive formuliert ist. Ihre Reichweite deutet Paulus räumlich universal, d. h. in der Dimension des Imperium Romanum, der ihm bekannten Welt. Ebenso entwirft er sie zeitlich universal: von der Schöpfung bzw. von Adam (1,20; 5,12ff.; 8,18ff.) bis zum Ende der gegenwärtigen Weltzeit der Schöpfung (8,18ff.; 13,11–14). In den Kapiteln 1–3 stellt er die Fundamentalanthropologie unter die Offenbarung des Zornes Gottes (nicht nur über die Heiden, sondern auch über die Juden) und formuliert die tödliche Schuld aller Menschen vor Gott (1,32; 3,9.19). In 3,21–8,39 entwirft Paulus eine christliche Anthropologie, indem er die Wirkungen darstellt, die die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes in Jesus Christus für die Menschen hat, die dem Evangelium glauben. Er beginnt mit einer christologisch-soteriologischen Grundlegung in 3,21–26. In Kapitel 4 interpretiert er den jüdischen Stammvater Abraham als Urbild des Glaubens und macht ihn damit zum universalen Menschen, der in die Reihe gehört, die von Adam zu Christus führt. In den Kapiteln 5 bis 7 stellt Paulus das neue, bereits endzeitliche Leben derjenigen Menschen dar, die an Jesus Christus glauben und gerechtfertigt sind, so dass sie „Frieden mit Gott haben“ (5,1). Diese Menschen73 leben in Freiheit von Tod (Kap. 5), Sünde (Kap. 6) und Gesetz (Kap. 7). Paulus versteht diese dreifache eschatologische Freiheit als Herrschaftswechsel, nicht schon als neuen Seinsmodus.

73

Paulus nennt sie nicht „Christen“, sondern in inklusiver Sprache „Wir“.

Themen paulinischer Theologie

Der Tod hat keine Macht mehr über die Menschen, die an Christus glau‐ ben. Das endzeitliche Leben aber wird erst zur Herrschaft kommen (5,21).74 Paulus verdeutlicht diesen Gedanken mit Hilfe der Adam-Christus-Typologie in Kap. 5. Die Befreiung von der Sünde stellt er in Kap. 6 mit Hilfe der Tauf-Theologie dar. Wieder geht es deutlich um einen Herrschaftswechsel, von der Sünde zur Gerechtigkeit (6,12–13), nicht um den Seins-Status der Sündenfreiheit (6,16). In Kap.7 kommt Paulus zum schwierigsten Gegenstand: der Freiheit von der Herrschaft des Gesetzes (7,1). Zunächst erläutert er diese Freiheit anhand der Analogie der Witwe, die nach dem Tod ihres Mannes vom „Gesetz des Mannes“, d. h. vom Ehestatus, befreit ist (7,1–6). Analog ist der Christ vom Status des Lebens unter dem Gesetz befreit. In 7,7–13 erörtert Paulus den weitergehenden Verdacht, das Gesetz könne selbst Sünde sein (7,7). Er weist diesen – aus jüdischer Sicht ungeheuren und gotteslästerlichen – Verdacht zurück und bestimmt die Funktion des Gesetzes positiv: Es fungiert als Indikator der menschlichen Sünde. Erst das Gesetz lässt nämlich die böse Tat als solche erscheinen, indem es sie als Gesetzesübertretung bloßstellt. Paulus differenziert hier zwischen der Begierde, das Gesetz und die hinter ihm stehende Ordnung zu übertreten, und dem Gesetz selbst. In 7,14–25 verbindet er diese Begierde mit der Person des Menschen, so dass der Mensch als Begehrender, d. h. grundsätzlich gegen das Gesetz und seine Ordnung Lebender, verstanden wird. Dieser fundamentalanthropologische Gedanke verschärft die Herrschaft der Sünde, auf die Paulus in 7,14–25 noch einmal zurückkommt.75 Der Mensch kann aber nicht ganz böse sein, denn dann könnte er nicht gerettet werden. Er bleibt Gottes Geschöpf. Paulus drückt das mit dem philosophischen Terminus des ἔσω ἄνθρωπος aus76, der „Lust am Gesetz Gottes hat“ (7,22). So findet ein Kampf um den Menschen zwischen dem „inneren Menschen“ und dem ebenfalls internen Herrschaftsstreben der Sünde statt (7,23).

74 75 76

Beachte das Futur in 5,21. Zur Freiheit vgl. W. Coppens, The Interpretation of Freedom in the Letters of Paul with Special Reference to the „German“ Tradition (WUNT II, 261), Tübingen 2009. 7,20: „Die in mir wohnende Sünde“. Vgl. dazu R. v. Bendemann, Die kritische Diastase von Wissen, Wollen und Handeln. Traditionsgeschichtliche Spurensuche eines hellenistischen Topos in Römer 7, ZNW 95 (2004), 35–63.

499

500

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Paulus löst diesen Kampf mit dem doppelten emphatischen Ausruf in 7,24 und 25. Die Rettung kommt von außen: von Jesus Christus. In Kap. 8 zeigt er dann die herrliche Freiheit der Kinder Gottes auf. Die „in Christus Jesus“ sind nicht mehr unter der Verurteilung von Kap. 3. Sie sind befreit von der Herrschaft (hier νόμος V.3) der Sünde, des Todes und des Gesetzes (8,1 und 2). Im zweiten Teil von Kap. 8 entwirft Paulus abschließend eine Geistethik und eine eschatologische Perspektive, und zwar zunächst für die Christen, von 8,18 an dann für die gesamte Schöpfung. So verbindet er die fundamentalanthropologische Sicht mit der christlichen Anthropologie und stellt beide in das endzeitliche Schicksal der „Schöpfung“ hinein. Die Kapitel 9–11 wenden die propositio generalis speziell auf die Juden an, die als Israeliten bleibend erwählt sind. In Kap. 11 kommt Paulus zu der grundsätzlichen israeltheologischen Aussage: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor erwählt hat“ (11,2). Damit macht Paulus seine Überlegungen in 9,6–12, wo er zwischen den Israeliten und Esau unterscheidet, eher überflüssig. Auch seine auf den Propheten basierenden Überlegungen zur Gnadenwahl Gottes und zum „Rest“ Israels, der gerettet werden wird (9,14–29), treten hinter den Aussagen von Kap. 11 zurück. Und 9,30–33 und 10,1–21 beschreiben den „Jetzt-Stand“ Israels angesichts der propositio generalis, nicht aber seine endzeitliche Perspektive. Nicht einmal das weitere alttestamentliche Motiv der Verstockung (11,1–10) ist das letzte theologische Wort des Paulus zu Israel. Vielmehr kommt Paulus erst mit 11,11–34 zu seiner eigentlichen Israel-Theologie im Lichte der propositio generalis. Gerade die universale Fundamentalanthropologie der Kapitel 1–3 eröffnet den Israeliten das Heil. Denn im Lichte der propositio generalis erkennt Paulus den universalen Heilswillen Gottes, der nun nicht nur den Heiden, sondern letztlich wieder und endgültig Israel gilt (11,25–27). Dem Urteil τὸ πλήρωμα τῶν ἐθνῶν εἰσέλθῃ (11,25) entspricht das andere Urteil: πᾶς Ἰσραὴλ σωθήσεται. Der universalen Anthropologie der propositio generalis (vgl. auch 11,32a) entspricht die universale Soteriologie (11,32b), die in den Ausführungen von 11,25–33 entfaltet wird. 5 Rückblick

Betrachtet man die Themen des paulinischen Denkens, wie sie in seinen Briefen situativ entfaltet werden, so kristallisiert sich eine deutliche Denk‐ struktur heraus. Dieses Denken bezieht sich erstens auf die von Paulus subjektiv erfahrene und zugleich als objektiv die ganze Welt betreffend

Themen paulinischer Theologie

verstandene Christusoffenbarung, zweitens auf die situativen und unter Umständen grundsätzlichen Probleme, die daraus für die christlichen Ge‐ meinden und die Verkündigung des Paulus entstehen. 1. Die Basis des paulinischen theologischen Denkens – das Phänomen, das Bultmann als „Glauben“ bezeichnet – bildet seine persönliche Beauftragung durch den erhöhten Kyrios, den Sohn Gottes, den Heiden das Evangelium zu verkünden.77 Diesen Auftrag verwirklicht er mit seiner apostolischen Predigt und Wirksamkeit in oikumenischer Weite von Jerusalem bis Rom.78 Anders als der weite räumliche Horizont seines Wirkens ist die zeitliche Bestimmung seines Apostolats. Er ist überzeugt davon, dass sein Wirken in einen engen Zeitrahmen gestellt sei: ὁ καιρὸς συνεσταλμένος ἐστίν.79 Die nur schwer vorstellbare Belastung, die sein Auftrag mit sich bringt, erträgt er durch die Nähe zum κύριος, die er mit dem Pathos der Sehnsucht ausdrücken kann80 oder aber als „Mit Christus-Sein“ umschreibt81. Die Wirklichkeit seiner apostolischen Existenz erlebt er allerdings als ein Leben in Mühen82, in Schwäche83 und Krankheit84 und im Angesicht des Todes85. Dabei ist er aber nicht allein, sondern weiß sich von zahlreichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen unterstützt86, zugleich aber von zahlreichen Gegnern87 angegriffen und in seiner Gemeindearbeit bedroht. 2. Die Zentren des paulinischen theologischen Denkens entwickeln sich aus seinem persönlichen Auftrag: der Predigt des εὐαγγέλιον an die Heiden.88 – Das erste Problem, das Paulus in diesem Zusammenhang theolo‐ gisch bearbeiten muss, ist die sog. Eschatologie. Wir beobachten im 1. Thessalonicherbrief die Entstehung des Problems: Christen

77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88

Gal 1,16; Röm 1,1–6; 15,14–21. Röm 15,19. 1 Kor 7,29; vgl. Röm 13,11f. und 1 Kor 15,50ff. Röm 8,18–30; 2 Kor 5,1–10; Phil 1,20–26. 1 Thess 4,17; Phil 1,23. 1 Kor 4,9–13; 2 Kor 11,23–33. 1 Kor 2,1–5. 2 Kor 12,1–10. Phil 1,19f. Phil 1,14ff.; 1 Kor 3,5ff.; bes. Röm 16 pass. 2 Kor 11,22; Gal 4,17; 5,12; 6,12f.; Phil 1,15ff.; 3,2. Gal 1,16.

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sind gestorben89, bevor der Kyrios wiedergekommen ist. Angesichts dieses Umstandes entwickelt Paulus theologische Aussagen zur Zukunft der Christen und des Kosmos, zunächst zur Wiederkunft Christi und zum Schicksal der verstorbenen und noch lebenden Christen.90 Theologisch weit darüber hinausführend entwirft er die Vorstellung vom ersten und zweiten Adam91, vom leiblichen und geistlichen Menschen92 und von der endzeitlichen Offenbarung der neuen Schöpfung.93 – Ein zweites Problem ergibt sich aus dem Umstand, dass Paulus Hei‐ den für das Evangelium gewinnt und in die ἐκκλησίαι aufnimmt, die er gründet, ohne dass sie sich dem Ἰουδαϊσμός anschließen, d. h. Tora halten und sich – soweit sie männlich sind – beschneiden lassen.94 Zum Tora-Halten gehören aus der jüdischen und juden‐ christlichen Wahrnehmung vor allem Reinheit95, Kalender- und Feiertagsfragen96 sowie die Beschneidung. Paulus lässt diese Fragen auf dem Apostelkonvent in Jerusalem (49 n. Chr.) zugunsten der ge‐ setzesfreien Heidenmission klären.97 Die Probleme und Unklarheiten aber bleiben und spitzen sich zu der theologischen Frage zu, welche theologische Funktion Gesetz und Beschneidung denn angesichts der Heidenchristen haben und wie das gemeindliche Zusammen‐ leben von Juden- und Heidenchristen praktisch vorzustellen sei. Letztlich geht es dabei auch um die Frage, ob und wieweit die Lebensweise der Judenchristen sinnvoll und soteriologisch relevant sei. Paulus kämpft nachhaltig mit diesen Fragen, entwickelt seine „Rechtfertigungslehre aus dem Glauben“ im Galaterbrief98 und im Philipperbrief99 in polemischer Gestalt, im Römerbrief in eher lehrhafter Fassung und arbeitet diese Lehre im Kontext einer auf

89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99

1 Thess 4,13. 1 Thess 4 und 5; 1 Kor 15; 2 Kor 5, Phil 3,10ff. 1 Kor 15; Röm 5. 1 Kor 15; Röm 6,1–11. Röm 8,18ff. Gal 2,3–10 und 5,1–12. Besonders bezüglich der Speisegebote 1 Kor 8–10; Gal 2,11f.; Röm 14. Röm 14,5; Gal 4,10. Gal 2,1–10. Gal 2,11ff.; 2,16ff.; 3,1–5,12. Phil 3,1ff.

Themen paulinischer Theologie

den Glauben gestützten Soteriologie aus.100 Im Römerbrief entwirft er schließlich eine Heilsperspektive für Israel als Gottesvolk, die auf der vorangehenden Heidenbekehrung basiert.101 Die Fragen im Zusammenhang mit der gesetzesfreien Heidenmission des Paulus führen im Römerbrief102 zu einer universalanthropologischen Per‐ spektive coram deo. Vor dem Forum Gottes verliert das Judentum seinen Heilsvorzug und rückt neben das Heidentum. Weder kann aus dieser Perspektive, die in Röm 1–3 entfaltet wird, Israel aus sich heraus gerettet werden, noch besteht für Heiden eine Möglichkeit der Rettung. Paulus bedenkt aber auch in diesen fundamentalanthropologischen Texten offensichtlich nicht eigens die theologische Situation der Judenchristen. Auch seine eigene Position als Juden‐ christ, der er faktisch war, bleibt eigentümlich undeutlich.103 – Theologie entwickelt sich drittens auch aus dem Problem der neuen ἐκκλησίαι θεοῦ oder Ἰησοῦ Χριστοῦ. Die Gemeinden brauchen ein theologisches Selbstverständnis im Fadenkreuz von Eschatologie und Soteriologie. Denn sie sind nicht nur hellenistisch-römische Vereine oder eine weitere jüdische Gemeinschaft (αἵρεσις), sondern Paulus beschreibt sie als eschatologische Gemeinschaft104 und als partizipatorische und pneumatische Gemeinschaft105, nämlich als „Leib Christi“ und als Menschen, die geistlich leben106. Diese beiden Aspekte der ἐκκλησίαι gelten auch für ihre einzelnen Mitglieder und für den Apostel selbst107, der seinerseits Vorbild der Gemeinden ist108. Die christusförmige Existenz der Gemeinde konkretisiert sich 100 101 102 103

104 105

106 107 108

Gal 2,16ff.; Röm 1,16f. und 1,18–8,39 sowie 1 Kor 15. Röm 9–11. Aber auch im Galaterbrief, wie oben (4.4) dargelegt. Vgl. 1 Kor 9,19–23. Solche Texte waren für überzeugte Judenchristen wie Jakobus sicher unverständlich. Ob und in welchem Umfang Paulus trotz polemischer Texte wie Phil 3,2–11 selbst Tora gehalten hat, geht aus seinen Briefen nicht hervor. Theologisch ausgearbeitet hat er hauptsächlich die Argumentation gesetzesfreier Heidenmission. 1 Kor 5–7. Vgl. G. Theißen, Das Neue Testament (Beck Wissen 2192), München 2002, 40–61. Theißen gliedert die Briefe nach theologischen Merkmalen in situative (1 Thess), antijudaistische (Gal; Phil), antienthusiastische (1/2 Kor) und theologisch-synthetische Briefe (Röm). – Die partizipatorische Seite der paulinischen Theologie betont bes. E.P. Sanders, Paulus. 1 Kor 12–14 und Röm 12; Gal 5,16.25. Eschatologisch Phil 3,12–16, partizipatorisch Phil 1,20–24. 1 Kor 4,16; 11,1; Phil 3, 17.

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in Niedrigkeit, Leiden und Verfolgungen.109 Auch hierin ist Paulus Vorbild der Gemeinden. – Viertens ergibt sich für die Gemeinden ein weiterer Bedarf, der Theologie freisetzt: Sie brauchen ein eigenes Ethos, das an die Stelle der Tora tritt. Paulus entwirft Zugänge zu einer christlichen Ethik 110 im Sinne einer thematisch offenen Gemeindeparänese, die er theologisch als „Leben im Geist“111 oder in der Endzeit112 oder im Status der Heiligkeit des Leibes113 begründen kann oder als „vernünftigen Gottesdienst“114 oder als alles denkbare „Gute“115 versteht. Die genannten vier Probleme, die zur Formulierung von Theologie führen, sind eng miteinander verbunden und stellen Aspekte der Entfaltung des einen εὐαγγέλιον Ἰησοῦ Χριστοῦ dar.116 Das bedeutet: die Einheit der darge‐ stellten Aspekte liegt nicht in einer theologischen Meta-Struktur oder einem theologischen Grundprinzip – sei dies ein „christologischer“, ein „offenba‐ rungstheologischer“, ein „soteriologischer“ oder ein „pneumatologischer“ bzw. ein anthropologischer Ansatz.117 Daher lassen sich die vier Aspekte auch nicht einem zentralen theologischen Gedanken unterordnen und in eine hierarchische Abhängigkeit voneinander bringen. Sie sind vielmehr einzelne reflektierte und argumentative Ausformungen des theologischen Denkens, das zwischen der Botschaft von dem auferstandenen Kyrios Jesus Christus, dem Sohn Gottes118, und den zeitlich-räumlich-individuellen und sozialen Bedingungen des Lebens der Christen vermittelt und die Folgen des Evangeliums für die Lebensführung bedenkt und ausarbeitet. Denn Paulus versteht die Christen119 als Menschen, die dem εὐαγγέλιον Ἰησοῦ Χριστοῦ

109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119

1 Kor 1–4; 2 Kor pass. Röm 12 ff.; 1 Kor pass; Gal 5ff. Gal 5,16. 1 Kor 7,29f. 1 Kor 6,12ff. Röm 12,2. Phil 4,8f. Vgl. das oben zu F. Hahns Ansatz Gesagte. Christologisch z.B.: G. Strecker; offenbarungstheologisch z.B.: F. Hahn; soteriologisch z.B.: Melanchthon; pneumatologisch z.B.: E.P. Sanders; anthropologisch z.B.: R. Bult‐ mann (soteriologisch-anthropologisch). Röm 1,3f. Er benutzt diesen Ausdruck nicht (vgl. Apg 11,26).

Themen paulinischer Theologie

glauben und ihre Lebensführung, ihr Lebens- und Weltverständnis und ihre Hoffnung auf das εὐαγγέλιον gründen. Soweit wir sehen, ist Paulus nicht nur der einzige frühchristliche Apos‐ tel, der mit seinen Gemeinden in einem anspruchsvollen, ausführlichen Briefwechsel stand120, sondern der aus dieser schriftlichen Kommunikation Theologie im Sinne von einzelnen Aspekten und Elementen apostolischer Lehre und Unterweisung entwickelte. Damit steht Paulus am Anfang christ‐ licher Theologie. 6 Literatur 6.1 Theologien des Neuen Testaments

R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, durchges. u. erg. von O. Merk (UTB 630), Tübingen 91984. H. Conzelmann, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, bearb. von A. Lindemann (UTB 1446), Tübingen 51992. F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums; Bd. 2: Die Einheit des Neuen Testa‐ ments. Thematische Darstellung, Tübingen 2003. G. Strecker, Theologie des Neuen Testaments, bearb., erg. u. hg. von F.W. Horn, Berlin/New York 1995. P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 1992; Bd. 2: Von der Paulusschule zur Johannesoffen‐ barung. Der Kanon und seine Auslegung, Göttingen 1999. 6.2 Monographien zu Paulus

J.M.G. Barclay, Paul and the Gift, Grand Rapids 2015. J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 31998. J.D.G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids/Cambridge 1998. P. Fredriksen, Paul, the Pagans’ Apostle, New Haven 2017. E.P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, London 1977 (dt.: Paulus und das palästinische Judentum [StUNT 17], Göttingen 1985). E.P. Sanders, Paulus. Eine Einführung (Reclam 9365), Stuttgart 1995. U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 22014.

120

Vgl. den Beitrag zum 2. Korintherbrief im vorliegenden Band.

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O. Wischmeyer, Liebe als Agape. Das frühchristliche Konzept und der moderne Diskurs, Tübingen 2015. M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011.

(Die aufgeführten Titel enthalten Grundwerke der deutschsprachigen Paulus‐ forschung sowie die führenden Monographien der englischsprachigen New Perspective on Paul und der sog. Radical New Perspective/Paul within Judaism. Zu allen Einzelheiten s. die Spezialbeiträge). 6.3 Aufsätze

O. Wischmeyer, Paulusinterpretationen im 20. Jahrhundert, in: Paulus – Werk und Wirkung. FS A. Lindemann zum 70. Geburtstag, hg. v. P.-G. Klumbies/D.S. du Toit, Tübingen 2013, 648-685 (Lit.). O. Wischmeyer, Paulus als Hermeneut der GRAPHE, in: Hermeneutik des Alten Testaments, hg. v. M. Witte/J.C. Gartz (VWGTh 47), Leipzig 2017, 71-94.

Teil III: Rezeption

Einleitung in Teil III

O DA W ISCHMEYER

Paulus ist die Person, die in der frühesten Christenheit die größte Wirkung entfaltet hat. Das gilt nicht nur für sein eigenes Leben und Wirken, das in Teil I dieses Bandes nachgezeichnet wird, und für seine Briefe und sein theologisches Denken, die in Teil II dargestellt sind, sondern ebenso für die Wirkung seiner Person nach seinem Tod. –

Paulus wirkte als schreibender Apostel „schulbildend“ und theologiebil‐ dend.

Seine Schüler treten als eigene Gemeindeschriftsteller auf, ohne allerdings ihre Namen zu nennen. Sie schreiben pseudonym, d. h. im Namen ihres Lehrers Paulus. Das gilt für den Kolosser- und den Epheserbrief und für den 2. Thessalonicherbrief. Diese sog. deuteropaulinischen Briefe werden mit dem Stilmittel der literarischen Fiktion an die von Paulus gegründeten Gemeinden in Thessaloniki, Kolossä und Ephesus geschrieben. Sie setzen die Tendenz des Römerbriefes fort, von situativen zu allgemeinen theologischen Aussagen zu kommen und machen die persönliche Kommunikation zu einer literarischen Fiktion. Die Pastoralbriefe sind – ebenfalls literarisch fingiert – an die Paulusmitarbeiter Timotheus und Titus adressiert. Hier stärken sich nach-paulinische Gemeindeleiter untereinander, indem sie sich die Autorität des Apostels und seiner bekanntesten Mitarbeiter sichern. Insgesamt vermitteln die deuteropaulinischen Briefe und die Pastoralbriefe1 Grundanliegen paulinischen Denkens und apostolischer Gemeindeleitung in neue Situationen hinein. Entscheidend ist, dass die paulinischen Impulse der literarischen Gattung des Gemeindebriefes, der Entwicklung theologi‐

1

Vgl. dazu B. Heiningers Beitrag zur Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert im vorlie‐ genden Band.

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schen Denkens und der Ausarbeitung einer eigenen Gemeindetheologie bzw. Gemeindeverfassung von seinen Schülern in seinem Namen weiter‐ verfolgt werden, andererseits aber neuen Situationen angepasst und dem‐ entsprechend entwickelt werden. Zugleich findet sich mit dem Verfasser der Apostelgeschichte ein Schriftsteller, der das Wirken des Paulus als entscheidenden Teil der apostolischen Zeit des entstehenden Christentums beschreibt und eine zweite Quelle für Leben und Wirken des Paulus neben den originalen Paulusbriefen schafft (Apg 9–28).2 Auch diese literarische Gattung entfaltet ihre weitere Wirkung in den Apokryphen, die Paulus und seinen Anhängern gewidmet sind. Die pseudepigraphen Paulusbriefe und die Apostelgeschichte lassen sich auch als Dokumente lesen, die die ‚Leerstellen‘ oder auch die Desiderate der paulinischen Theologie und Ethik deutlich machen und in ihrer Weise im Dialog mit ihren Gemeinden und ihren kulturell-religiös-philosophi‐ schen Kontexten auffüllen. Bei Paulus fehlen oder sind nur in Ansätzen vorhanden: kosmologische Theologie, Schöpfungslehre und Anthropologie, kosmologische Christologie, detaillierte Anweisungen zu Gemeindeleitung und Gemeindeämtern, eigene Standes- und Geschlechterethik, detaillierte futurische Eschatologie. Aus dieser Perspektive treten das Fehlen einer kos‐ mologischen Lehre, das nicht-hierarchische Gemeindeleitungskonzept, die wenig ausgebildete gender-Unterscheidung und die offene Ethik des Geistes, der Liebe und des ‚Guten‘ in der paulinischen Theologie deutlich hervor. Die genannten Punkte sind die Charakteristika der ‚echten‘ Paulusbriefe. Die Apostelgeschichte bringt in Reden und Erzählungen die wichtigen Themen des philosophischen und religiösen Monotheismus sowie des Apostels als Missionar, Wundertäter und Vorbild (so auch in den Pastoralbriefen) in das entstehende Paulusbild des zweiten Jahrhunderts ein. In der Alten Kirche geht aber die Wirkung des Paulus bald nicht mehr im literarischen Sinne pseudepigrapher Paulusbriefe und jüngerer Aposte‐ lakten weiter3, sondern sie knüpft sich an den Prozess der Kanonisierung der Schriften des sog. neutestamentlichen Zeitalters. Den Kern des entstehenden „Neuen Testaments“ bilden erste Paulusbriefsammlungen.4 Im Verlauf des 2. Jh.s kommt es zu ersten Paulusbriefkommentaren.5

2 3 4 5

Vgl. dazu den genannten Beitrag von B. Heininger. Vgl. dazu den Beitrag von A. Lindemann im vorliegenden Band. Vgl. U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 92017, 426ff. Vgl. dazu und zum Weiteren den Beitrag von W. Wischmeyer im vorliegenden Band.

Einleitung in Teil III



Seit den Paulusbriefkommentaren des Origenes formiert sich christliche Theologie zu einem erheblichen Teil als Auslegung der Paulusbriefe.

Höhepunkte dieser bleibenden Rezeption und Wirkung der Paulusbriefe und ihrer theologischen Themen finden wir bei Augustinus, bei Luther und Calvin und im 20. Jh. bei Barth und Bultmann. Die Beiträge des dritten Teils sind den deutero- und den tritopaulini‐ schen Schriften, der Paulusrezeption im 2. Jh. sowie der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Paulus im Verlauf der Christentumsgeschichte gewidmet. Der abschließende Beitrag führt die Rezeptionsgeschichte bis in die Gegenwart fort und gibt einen Überblick über die aktuelle philosophische Auseinandersetzung mit Paulus. Damit wird ein neuer Raum für zukünftige Paulusinterpretationen im Kontext der ‚history of ideas‘ eröffnet, den Jürgen Habermas mit seinem großen Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (Bd. 1 Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen), Berlin 2019, neu vermisst.

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Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert: Deutero- und Tritopaulinen sowie das Paulusbild der Apostelgeschichte

B ERNHARD H EININGER

Deuteropaulinen Kolosserbrief

ca. 70-75 n. Chr.

Epheserbrief

ca. 85-95 n. Chr.

2. Thessalonicherbrief

Ende 1. Jh.

Tritopaulinen/Pastoralbriefe 1. Timotheusbrief

ca. 100 n. Chr.

2. Timotheusbrief

ca. 100 n. Chr.

Titusbrief

ca. 100 n. Chr.

Bemerkung: Die sog. Gefangenschaftsbriefe sind grau hinterlegt.

Der Tod des Paulus bedeutete für das frühe Christentum zwar eine scharfe Zäsur, er war aber keineswegs das Ende der paulinischen Theologie. Schon zu Lebzeiten des Apostels trugen und prägten die Mitarbeiter zu einem erheblichen Teil die paulinische Mission; die Protopaulinen allein erwähnen etwa 40 Personen, die als Mitarbeiter des Apostels zu betrachten sind. Man darf vermuten, dass sich die Arbeit des Paulus innerhalb dieses großen Mi‐ tarbeiterkreises kaum auf reine Organisationsfragen beschränkte, sondern speziell im engeren Mitarbeiterkreis eine intensive theologische Arbeit statt‐ fand, deren literarischer Niederschlag die pseudepigraphischen Paulusbriefe darstellen. Gerade die in der Forschung als Deutero- und Tritopaulinen bezeichneten Briefe belegen, dass das Erbe des Paulus nicht nur gepflegt, sondern auch theologisch reflektiert und einer veränderten Situation ange‐

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passt wurde. Durchgängig tritt in den genannten Schriften die paulinische Rechtfertigungslehre in den Hintergrund, während kirchenrechtliche und ethische Probleme, etwa aufgrund des Auftretens von Irrlehrern, in den Mittelpunkt rücken. In dieser Situation wird der leidende Paulus – Kol, Eph und 2 Tim geben sich als Gefangenschaftsbriefe aus – zu der Autorität der Anfangszeit, der verschiedentlich sogar soteriologische Qualität zukommt (vgl. Kol 1,24; Eph 3,1). Die Gruppe der sechs pseudonymen1 Paulusbriefe benutzen das literarische Stilmittel der Pseudepigraphie, d. h. der fingier‐ ten Verfasserschaft. Sie leihen sich die literarische und gemeindeleitende Autorität des Paulus, um die Gemeinden nach seinem Tod führen und weiterentwickeln zu können. Zugleich schreiben sie parallel zum Paulusbild der Apostelgeschichte ihrerseits das Paulusbild fort: Paulus der Leidende, der Gefangene, der strenge Lehrer (2 Thess 3,14) und der gütige Lehrer (1 Tim 5,23). Zu diesem Bild gehören auch biographische Details wie in 1 Tim 1,18-20; 5,23; 2 Tim 4,9-21; Tit 3,12f. Ein Problem eigener Art ist, ob man die genannten Schriften einer „Schule“ zuordnen soll. Vermutlich gibt es für diese Auffassung ebenso viele Befürworter wie Gegner, und die Antwort auf diese Frage hängt vor allem davon ab, was man unter einer „Schule“ versteht: Ist damit ein organisier‐ ter, lokalisierbarer Schulbetrieb nach Art der antiken Philosophenschulen gemeint (z. B. in Ephesus) oder lediglich ein Überlieferungs- und Aktuali‐ sierungsphänomen in der Nachfolge des Paulus, das in unterschiedlichen Regionen und Situationen unterschiedliche Ausprägungen erfährt?2 Endgül‐ tige Antworten stehen, trotz erheblicher gelehrter Anstrengungen3, immer noch aus. 1 Kolosserbrief

Anlass für die Abfassung des Kolosserbriefs ist das Aufkommen einer gewis‐ sen „Philosophie“ (2,8), deren Konturen in Kol 2,16-19.21 etwas deutlicher hervortreten: Offenbar spielen Speise- und vielleicht auch Sexualtabus4 eine 1 2 3 4

Vgl. U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 92017; A. Merz, Selbstauslegung. So P. Müller, Anfänge, 325. Vgl. diesbezüglich besonders die Arbeit von Th. Schmeller, Schulen im Neuen Testa‐ ment? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit. Mit einem Beitrag von C. Cebulj zur johanneischen Schule (HBS 30), Freiburg i.Br. 2001. So M. Wolter, Brief, 151; J. Gnilka, Kolosserbrief, 158, zu Kol 2,21 („Fass’ nicht an!“).

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

zentrale Rolle, außerdem fordern die Vertreter dieser „Philosophie“ das Einhalten gewisser Festzeiten und des Sabbats, was auf einen jüdischen Hin‐ tergrund dieser „Philosophie“ schließen lässt. Generell ist die Frömmigkeits‐ haltung dieser Gruppierung von Selbstminderung (2,18: ταπεινοφροσύνη) geprägt; nicht minder wichtig ist ihnen die Verehrung von Engeln. Aller Wahrscheinlichkeit nach rühmen sie sich auch visionärer Erfahrungen oder Himmelsreisen, wenn man das schwierige ἃ ἑόρακεν ἐμβατεύων („der sich rühmt, was er geschaut hat“) in 2,18 in dieser Weise interpretieren darf. Für die Adressaten stellt diese „Philosophie“ offenbar eine ernste Bedrohung dar, weshalb sich der Verfasser zum Eingreifen gezwungen sieht. Er tut dies mit der Autorität des Paulus und wählt auch die für diesen charakteristische Kommunikationsform, den Brief. 1.1 Texterschließung

Im Aufbau orientiert sich der Kolosserbrief am paulinischen Briefschema. Nach einem knappen Präskript, das Timotheus als Mitabsender nennt (1,1-2)5, folgt ein längeres Proömium (1,3-23), in dem die brieftypischen Elemente Danksagung (1,3-8) und Fürbitte (1,9-14) um ein „Christus-Enko‐ mion“ (Lobpreis oder Hymnus 1,15-20) samt Applikation auf die Gemeinde (1,21-23) erweitert sind. Inhaltlich sticht in den Vv.3ff. die aus 1 Kor 13,13 bekannte paulinische Trias „Glaube – Hoffnung – Liebe“ ins Auge, die allerdings in der Reihenfolge von 1 Thess 1,3 „zitiert“ wird. Die sich anschließende „Selbstempfehlung“ des Apostels (1,24-2,5), mit Hilfe derer „Paulus“ seine Funktion im Offenbarungsgeschehen beschreibt, nämlich als Diener der Kirche und des Evangeliums, wird häufig bereits dem Briefcorpus zugeschlagen, ist aber analog 1 Tim 1,12-17 als eigenständiger Teil zwischen Briefeinleitung und Briefcorpus anzusprechen, der Scharnierfunktion hat.6 Mit der Rede von der Abwesenheit „im Fleisch“ und der Anwesenheit „im Geist“ (2,5) liegt ein klassischer Brieftopos vor; an den „echten“ Paulus erin‐ nert die Aufnahme agonistischen Vokabulars in 1,29 (κοπιῶ ἀγωνιζόμενος) und 2,1 (ἀγῶνα ἔχω ὑπὲρ ὑμῶν).7 5 6 7

Timotheus als Mitabsender auch in Phil 1,1; 1 Thess 1,1; 2 Thess 1,1 (jeweils zusammen mit Silvanus); Phlm 1. Wolter, Brief, 98; I. Maisch, Brief, 25. Anders wieder L. Bormann, Brief, 109-120, der Kol 1,24-2,5 als zweiten (von insgesamt fünf) „Hauptteil(en)“ identifiziert. Vgl. 1 Thess 2,1f.19; 1 Kor 9,24-27; Gal 2,2; 5,7; Röm 9,16; 15,30; Phil 1,27.30; 3,12-16; 4,1.3; dazu U. Poplutz, Athlet des Evangeliums. Eine motivgeschichtliche Studie zur Wettkampfmetaphorik bei Paulus (HBS 43), Freiburg i.Br. 2004.

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Das Briefcorpus reicht von 2,6-4,68 und gliedert sich, vielleicht noch deutlicher als es in den Protopaulinen der Fall ist, in einen lehrhaften (2,6 – 3,4) und einen paränetischen Teil (3,5-4,6). 2,6-8 gibt das Thema vor: Die Adressaten stehen vor der Alternative, entweder „in Christus zu wandeln“ (V.6: ἐν αὐτῷ περιπατεῖτε) oder ein Leben gemäß den „Elementen der Welt“ zu führen, wie eine in der Gemeinde virulente „Philosophie“ (V.8) es offenbar will! Der Autor begegnet dieser Gefahr in zweifacher Weise. Zunächst schiebt er eine Art Tauferinnerung ein (2,9-15), die den Adressaten ihren „Heilsstand in Christus“ aufs Neue in Erinnerung ruft: Sie sind mit einer nicht von Händen durchgeführten Beschneidung beschnitten, haben den „Fleischesleib“ abgelegt und wurden in der Taufe mit Christus begraben und auferweckt (!), mit der Folge, dass sie sich irgendwelcher anderer Herrscher und Gewalten entledigt haben. Weshalb also wieder Satzungen in Form von Speisetabus oder das Einhalten eines bestimmten Festkalenders in Kauf nehmen, wie der Verfasser in der anschließenden Widerlegung der gegnerischen Position ausführt (2,16-23)? Vielmehr, so der Schlussabschnitt des lehrhaften Teils (3,1-4), muss aus der Tatsache des „Mitauferwecktseins“ das Bemühen resultieren, „das Obere“ (τὰ ἄνω) und nicht „das auf der Erde“ (τὰ ἐπὶ τῆς γῆς) zu suchen. Das ist zum einen eine feine, mit einer Prise Ironie versehene Replik auf die Gegner, die Engel verehren und sich vermutlich auf visionäre Erfahrungen berufen (2,18; dazu später mehr); zum anderen nimmt der Verfasser des Kol die in 2,6-8 installierte Opposition zwischen einem Lebenswandel κατὰ Χριστόν und einem Lebenswandel κατὰ τὰ στοιχεῖα τοῦ κόσμου in sprachlich leicht veränderter Gestalt wieder auf, so dass die Abschnitte 2,6-8 und 3,1-4 eine schöne inclusio (Rahmung) um 2,9-23 herum bilden. Der paränetische Teil gliedert sich, je nachdem, ob man 4,2-6 noch dazu nimmt oder nicht, in zwei bzw. drei Abschnitte. Zunächst setzt Kol 3,5-17 den in der Tauferinnerung 2,9-15 ausgesprochenen Indikativ in Imperative um: Der in der Taufe vollzogene „Kleiderwechsel“, d. h. das Ablegen des alten und Anziehen des neuen Menschen9, muss in entsprechenden Taten Widerhall finden, was der Verfasser mit Hilfe traditioneller Laster- (3,5.8) und Tugend‐ kataloge (3,12) konkretisiert. Die nachfolgende Haustafel (3,18-4,1) spricht

8 9

Anders U. Luz, Brief, 184; Maisch, Brief, 25, die den Hauptteil jeweils mit 4,1 schließen lassen und die Schlussmahnungen 4,2-6 bereits dem Briefschluss zuordnen. Auch sprachlich greift der Autor an dieser Stelle auf 2,9-15 zurück: ἀπεκδυσάμενος V. 15 nimmt die ἀπέκδυσις τοῦ σώματος τῆς σαρκός aus 2,11 wieder auf!

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

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der Reihe nach Frauen und Männer, Kinder und Eltern/Väter sowie Sklaven und Herren an. Von den Frauen wird Unterordnung, von den Kindern und Sklaven Gehorsam verlangt; im Gegenzug sollen die Männer ihre Frauen lieben, die Kinder nicht mutlos machen und die Sklaven gerecht und gleich behandeln. Allgemeine Schlussmahnungen, etwa zum Verharren im Gebet oder zum Wandeln in Weisheit, beschließen das Briefcorpus (4,2-6). Der Briefschluss (4,7-18) stellt zunächst die Ankunft der Abgesandten Tychikus und Onesimus in Aussicht (4,7-9); es schließen sich Grußübermitt‐ lungen, Grußaufträge und Empfehlungen an (4,10-17), ehe ein eigenhändi‐ ger Gruß (literarischer Stilzug in zitierender Aufnahme von 1 Kor 16,21) und Gnadenwunsch den Brief abschließt (4,18). Briefein‐ gang

1,1-2

Briefliches Präskript

1,3-23

Einleitung 1,3-8 1,9-14 1,15-20 1,21-23

Danksagung Fürbitte Christushymnus Applikation auf die Gemeinde

1,24- 2,5 Selbstempfehlung des Apostels Briefcorpus 2,6 – 4,6 2,6-8 2,9-15 2,16-23 3,1-4 3,5-4,1 4,2-6

Brief‐ schluss

4,7-18

4,7-9 4,10-17 4,18

Thema: Appell in Christus zu bleiben; gegen die Philosophie Erinnerung: In Christus hat die Gemeinde schon die Fülle des Heils Widerlegung: Die Gemeinschaft braucht keine anderen Heilslehren Einladung: Sich am erhöhten Christus orien‐ tieren Ethische Ermahnung: 3,5-17  Vom alten zum neuen Menschen 3,18-4,1 Frauen – Männer       Kinder – Eltern       Sklaven – Freie Die apostolische Parusie Grüße, Grußaufträge und Empfehlungen Eigenhändigkeitsvermerk

1.2 Textentstehung 1.2.1 Verfasserfrage

Literarische und theologische Argumente sprechen gegen eine Zuschrei‐ bung des Kolosserbriefs an den historischen Paulus. Typisch paulinische

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Ausdrücke, also Begriffe und Wendungen, die uns aus den allseits anerkann‐ ten Briefen geläufig sind wie z. B. δικαιοσύνη und δικαιοῦν, ἐλευθερία, κοινωνία, νόμος oder σωτηρία, fehlen im Kol.10 Andererseits verfügt der Kol über 28 Wörter, die zwar im übrigen Neuen Testament, nicht aber in den Protopaulinen vorkommen. Dazu kommen 37 Hapaxlegomena. Und während Paulus eher adversativ denkt und auch so formuliert, liebt der Kolosserbrief die lockere, assoziative Verknüpfung der Gedanken durch Genitive, Partizipialkonstruktionen, Relativsätze und Ähnliches.11 Schwerer als die sprachlichen und stilistischen Unterschiede wiegen al‐ lerdings die theologischen Differenzen. Der bei Paulus allenfalls in Ansätzen zu beobachtende kosmische Zug innerhalb der Christologie (vgl. 1 Kor 8,6; 2 Kor 4,4; Phil 2,6-11) wird im Kol zum Generalthema: Als Herr der Schöpfung herrscht Christus über alles Geschaffene, er ist das Haupt aller Mächte (2,10) und triumphiert über die kosmischen Gewalten (2,15). In ihm hat der Kosmos Bestand. Ähnlich verhält es sich mit der zentralen Metapher des Kol, dem σῶμα. Während Paulus die konkrete Ortsgemeinde als Leib Christi apostrophiert12, erscheint im Kol die weltumspannende Kirche als Leib, dem jetzt Christus als Haupt zugeordnet ist (Kol 1,18; vgl. 1,24; 2,19; 3,15). Im Hintergrund steht die mythische Vorstellung von der Welt als riesigem Leib einer allumfassenden Gottheit. Differenzen bestehen auch hinsichtlich der Eschatologie, die im Kol präsentisch ausgerichtet ist und gerade in der Ausdeutung der Taufe einen signifikanten Unterschied zu Paulus markiert: Nach Kol 2,12 sind die Gläubigen schon „mitauferweckt“ (vgl. dagegen Röm 6,3-5!) bzw., wie es an früherer Stelle heißt, „in das Reich des Sohnes seiner Liebe versetzt“ (1,13).13 Schließlich arbeitet der Verfasser in der Paränese mit einem neuen literarischen Genre, den Haustafeln, das

10 11 12 13

Eine komplette Auflistung bei E. Lohse, Briefe, 135. Eingehend untersucht durch W. Bujard, Stilanalytische Untersuchungen zum Kolosser‐ brief als Beitrag zur Methodik von Sprachvergleichen (StUNT 11), Göttingen 1973. Vgl. 1 Kor 12,27; leicht variiert in Röm 12,5: „ein Leib in Christus“. Vgl. aber die bedenkenswerten Überlegungen bei T.D. Still, Eschatology, 128-135, zu den futurischen Elementen in der eschatologischen Konzeption des Kol.

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

auch in der Sache – die Unterordnung der Frau unter den Mann – dem originalen Paulus nicht gerecht wird.14 Wenn also Paulus nicht der Verfasser des Kol ist, wer ist es dann? Die engen Berührungen, welche die Grußliste am Schluss des Briefes (4,10-17) mit Phlm 23 f. aufweist, wird gelegentlich dahingehend ausgewertet, dass der Kol noch zu Lebzeiten des Apostels von einem Mitarbeiter abgefasst worden sei, da Paulus selbst im Gefängnis saß. Man denkt dann häufig an den als Mitabsender genannten Timotheus oder den Gründer der Gemeinde, Epaphras (Kol 1,7).15 Paulus habe den Brief durch eine autographische Notiz (4,18) gleichsam „abgesegnet“. Aber: Die sorgfältigen Untersuchungen Bujards zu Sprache und Stil, das eigene theologische Profil des Briefs und nicht zuletzt die „deuteropaulinische“ Zeichnung des Apostels in der Selbstempfehlung von 1,24-2,5 – der Apostel wird selbst zum Bestandteil der Verkündigung (1,24!) – sprechen für einen uns unbekannten Verfasser aus der Paulusschule. Da der Eph den Kol benutzt (s. u.) und Kol nach dem Tod des Paulus geschrieben sein muss, kommt als Abfassungszeit 70-75 n. Chr. in Frage. 1.2.2 Adressaten

Wenn dennoch eine nicht unbedeutende Zahl von Exegeten und Exegetin‐ nen den Kol wesentlich früher datiert (im Fall der Sekretärshypothese) oder verschiedentlich immer noch an Paulus als Verfasser des Briefes festgehalten wird, so hat das auch mit der Adressatenangabe zu tun. Denn die ca. 170 km östlich von Ephesus im Lykostal gelegene Stadt Kolossä existierte in der Zeit zwischen 70-75 n. Chr. vermutlich nicht mehr. Der römische Schriftsteller Tacitus berichtet jedenfalls Anfang des 2. Jh.s n. Chr. von einem Erdbeben, das 60/61 n. Chr. Laodicea zerstört habe und bei dem das nur 14 km entfernt gelegene Kolossä ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden sein dürfte. Spätere Autoren (Eusebius, Orosius) notieren denn 14

15

Es sei denn, man rechnete 1 Kor 14,34f. dem ursprünglichen Bestand des 1 Kor zu und sähe darin keine nachpaulinische Glosse. Die Schwierigkeiten des Ausgleichs mit 11,4f., wo das Beten der Frauen im Gottesdienst vorausgesetzt ist, liegen aber auf der Hand. Vgl. M. Crüsemann, Unrettbar frauenfeindlich: Der Kampf um das Wort von Frauen in 1 Kor 14,34-35 im Spiegel antijudaistischer Elemente der Auslegung, in: C. Janssen u. a. (Hg.), Paulus. Umstrittene Traditionen – lebendige Theologie. Eine feministische Lektüre, Gütersloh 2001, 23-41. Vgl. den Beitrag von O. Wischmeyer zum 1. Korintherbrief im vorliegenden Band. Timotheus: E. Schweizer, Brief, 26; Luz, Brief, 185 f.; Epaphras: J. Lähnemannn, Der Kolosserbrief. Komposition, Situation und Argumentation (StNT 3), Gütersloh 1971.

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auch, dass in der Asia drei Städte zu Fall kamen: Laodicea, Hierapolis und Kolossä. Demnach hätte in der Zeit um 70 n. Chr. gar keine christliche Gemeinde in Kolossä existiert. Andererseits ist ein Wiederaufbau der Stadt nicht völlig ausgeschlossen, und zwei Inschriften aus der Zeit Trajans und Hadrians sowie Münzfunde aus dem 2./3. Jh. weisen auf die Weiterexistenz von Kolossä hin. Vergessen darf man auch nicht, dass nach Offb 3,14-22 in Laodicea wieder eine christliche Gemeinde Ende des 1. oder Anfang des 2. Jh. existiert (je nach Datierung der Johannesapokalypse). Wenn die von Alan Cadwallader publizierte „Korymbos-Inschrift“ (SEG 61,1160) wirklich noch in das letzte Viertel des 1. Jh. n. Chr. gehört (vgl. auch SEG 57,1382, eine in dieselbe Zeit datierte Ehreninschrift [?] für einen Markus, „Oberdolmetscher und Exeget von Kolossä“) und sich auf Reparaturarbeiten zur Behebung der durch das Erdbeben verursachten Schäden bezieht16, steht einem Wiederaufbau von Kolossä noch in den 70er Jahren des 1. Jh. n. Chr. nichts im Weg. Diese archäologischen Daten müssen allerdings nicht dahingehend inter‐ pretiert werden, dass der Kol zwangsläufig vor 60/61 n. Chr. geschrieben sein muss. Gerade die (zeitweise) Nicht-Existenz der kolossischen Gemeinde erleichtert ja die Möglichkeit der Brieffiktion: Wenn ein nicht mehr lebender Autor an eine (zumindest für eine gewisse Zeit) nicht mehr existierende Gemeinde schreibt, kommen Fragen nach der Authentizität des Verfassers erst gar nicht auf! Andererseits stellt sich dann umso stärker die Frage nach den wirklichen Adressaten des Briefs: Sind es vielleicht die in 4,16 erwähnten Laodicener (aber auch diese Stadt wurde ja durch das genannte Erdbeben zerstört), oder richtet sich der Brief an eine dritte, nicht zu nahe bei Kolossä und Laodicea lokalisierte Gemeinde in Kleinasien? Während Theobald weiter an eine Gruppe von Christen im Umkreis der Metropole Ephesus denkt, kommt für Bormann das Städtedreieck Kolossä – Laodicea – Hierapolis „in textlich gestufter Intensität“ als Briefadresse in Frage.17

16 17

A.H. Cadwallader, Honouring the Repairer of the Baths: A New Inscription of Kolossai, Antichthon 46 (2012), 150-153; eine Kurzfassung auch in: NDIEC 10 (2012), 110-113. Bormann, Brief, 12. M. Theobald, Der Kolosserbrief, in: M. Ebner/St. Schreiber, Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 32020, 429-444, hier 440, lässt sich auch in der Neuauflage seiner Einleitung zum Kolosserbrief nicht von den neuen archäologischen Befunden beeindrucken und hält am Großraum Ephesus als Briefadresse fest.

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

1.3 Theologisches Profil

Die bereits angesprochene „hohe“ Christologie des Kol, die in Jesus Christus das Haupt aller kosmischen Mächte und Gewalten sieht und der zufolge in ihm das ganze Pleroma der Gottheit wohnt (2,9f.), ist vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der kolossischen Philosophie zu betrachten. Deren Verehrung der Engel, d. h. numinoser Wesen in der Luft und in den himmlischen Regionen (wie es Eph später formulieren wird), und die damit einhergehende „Gesetzesobservanz“, also das Einhalten von Speisetabus und Festzeiten, würde ein Grunddatum paulinischer Theologie, nämlich die Frei‐ heit vom Gesetz, in Frage stellen. Damit dies nicht geschieht, setzt der Autor wesentlich zwei theologische Argumente ein: Mit Hilfe des aus der Tradition aufgenommenen Christus-Enkomions (1,15-20) macht er zunächst einmal deutlich, wer „Herr im Haus“, will sagen: im Kosmos, ist: niemand anderes als Jesus Christus! Die im Enkomion genannten „Throne, Herrschaften, Mächte und Gewalten“, hinter denen wir mit gutem Grund Engelmächte ver‐ muten dürfen, verdanken ihre Existenz ihm (Schöpfungsmittlerschaft), und er ist es auch, der das All mit sich versöhnt (1,20). Die gerade vom antiken Menschen erfahrene Brüchigkeit und Instabilität der Welt, nach damaliger (mittelplatonischer) Auffassung Resultat der sich in einem permanenten Konfliktzustand miteinander befindlichen Elemente und Kräfte der Welt, und die daraus resultierende Weltangst werden daher nicht mehr durch die von der „Philosophie“ propagierte Askese und kultische Verehrung der die Welt lenkenden Kräfte bewältigt, sondern durch das „Festhalten“ am „Haupt“ der Welt, Christus. Und, so das zweite Argument: das müsste den Adressaten ja schon in Fleisch und Blut übergegangen sein, wurden sie doch bei der Taufe mit Christus begraben und auferweckt bzw. lebendig gemacht (2,11-13). Als Getaufte sind sie aber nicht mehr den Zwängen des irdischen Daseins unterworfen, sondern zu Angehörigen der himmlischen Welt geworden (3,1-4). Der hier zu Tage tretende stark präsentische Zug der Eschatologie des Kol, der doch erheblich von der auf das Eschaton ausgerichteten paulinischen Eschatologie abweicht, hat seinen „Sitz im Leben“ also in der Auseinandersetzung mit der Häresie. Ekklesiologisch führt der Kol ebenfalls von Paulus weg. Zum einen versteht der Autor ἐκκλησία nicht mehr als Einzelgemeinde, sondern als den weltumspannenden Leib Christi, durch den Christus als das „Haupt des Leibes“ seine kosmische Herrschaft zur Geltung bringt. Und zum anderen erhalten die konkreten Hausgemeinden, die es im Einzugsgebiet des Kol ja offenbar gibt (vgl. 4,15!), mittels der aus der antiken Ökonomikliteratur

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übernommenen Haustafeln18 eine signifikant patriarchale Struktur (oder sollen es zumindest), die von den Frauen die Unterordnung unter die Männer fordert und den Kindern und Sklaven absoluten Gehorsam abverlangt. Zwar werden diese Forderungen christologisch abgefedert (ἐν κυρίῳ); das ändert aber nichts daran, dass vor allem die Frauen im Vergleich zu den paulinischen Aussagen (Gal 3,28!) deutlich schlechter gestellt werden. 2 Epheserbrief 2.1 Texterschließung

Wie der Kol gibt sich auch der Epheserbrief als ein in der Gefangenschaft abgefasstes Schreiben des Paulus aus (Eph 3,1; 4,1; 6,20). Gewichtige Gründe sprechen aber auch in diesem Fall gegen eine paulinische Verfasserschaft. Neben einer Reihe von sprachlichen Besonderheiten19 sind das vor allem die gegenüber Paulus stark veränderte Gemeindestruktur (vgl. 4,11f.) und die Art und Weise, wie auf die Person und das Wirken des Paulus Bezug genommen wird – von den Auseinandersetzungen um seinen Apostolat ist nichts mehr zu spüren, in Eph 3,1-13 erscheint Paulus neben den Aposteln und Propheten als der Empfänger der Offenbarung Gottes, die zur universalen Kirche aus Juden und Heiden führt. Das stärkste Argument für eine deuteropaulinische Verfasserschaft ist aber der Umstand, dass der Autor des Epheserbriefs den Kol gekannt hat. Dafür spricht nicht nur der manierierte Stil des Schreibens – die überladenen Sätze mit ihren vielen Partizipial- und Relativkonstruktionen und die zahl‐ reichen Genitivketten finden innerhalb des Neuen Testaments ihr nächstes

18

19

Zu den Haustafeln sind in jüngerer Zeit eine Reihe von Beiträgen veröffentlicht worden, vgl. nur M.Y. MacDonald, Slavery, Sexuality and House Churches. A Reassessment of Colossians 3.18-4.1 in Light of New Testament Research on Roman Family, NTS 53 (2007), 94-113, oder J.P. Hering, The Colossian and Ephesian Haustafeln in Theological Context. An Analysis of their Origins, Relationship, and Message (AmUSt.TR 260), New York 2007. Grundlegend nach wie vor: M. Gielen, Tradition und Theologie der neutestamentlichen Haustafelethik (BBB 75), Bonn 1990. Als da wären: 35 Hapaxlegomena wie z. B. ἑνότης (Eph 4,3.13), κοσμοκράτωρ (Eph 6,12), μεσότοιχον (Eph 2,14) oder πολιτεία (2,12), zahlreiche Wendungen, die in den Protopaulinen nicht erscheinen, aber die Theologie des Eph prägen; schließlich teilt der Verfasser mit dem Kol die Vorliebe für überlange Sätze (Eph 1,3-14!) und die Aneinanderreihung sinngleicher Wörter. Auffällig ist ferner der exklusive Gebrauch adnominaler Genitivkonstruktionen, vgl. G. Sellin, Über einige ungewöhnliche Genitive im Epheserbrief, ZNW 83 (1992), 85-107.

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

Analogon im Kol –, dafür sprechen vor allem die Gemeinsamkeiten in Aufbau und Inhalt. Zwischen Präskript (Eph 1,1f.), das im Unterschied zu Kol allerdings auf Timotheus als Mitabsender verzichtet, und Briefschluss (6,21-24; beachte in Vv.21f. die mit Kol 4,7f. nahezu identische Tychikusnotiz) platziert der Autor eine „Brief-Rede“ (Sellin), die Anrede und Abhandlung, Brief und Traktat zugleich ist und besonders im ersten, lehrhaften Teil (1,3-3,21), vielleicht aber auch im zweiten, paränetischen Teil (4,1-6,9) eine zyklische Struktur aufweist. Der Eulogie auf Gott den Vater und seinen Heilsplan in 1,3-14 entspricht die Doxologie in 3,20f., der Danksagung und Fürbitte für die Adressaten in 1,15-23 die Fürbitte in 3,14-19. Dazwischen stehen drei lehrhafte Abschnitte: 2,1-10 folgt dem Schema von „Einst“ und „Jetzt“ und stellt die neue Existenz der Christen eindrücklich vor Augen: Mit Christus sind wir auferweckt (vgl. Kol 3,1!), ja „mit ihm auf den himmlischen Thron gesetzt“ (2,6)! Eph 2,1-10 korrespondiert 3,1-13, ein Abschnitt über die Heilsmittlerfunktion des Apostels. Das Zentrum bildet der ekklesiologische Abschnitt 2,11-22, die Einheit der Kirche aus Juden und Heiden. Im zweiten, paränetischen Teil ist die Nähe zu Kol besonders eklatant. Eph 4,1-16 „spielt“ Kol 3,12-15 „ein“ (Motiv der Liebe) und mahnt bei den Adressaten verschiedene Grundhaltungen an (Demut, Sanftmut, Langmut, Liebe); es geht, mit den Worten von Eph 4,3, darum, „die Einheit des Geistes durch das Band des Friedens zu bewahren“. Eph 4,17-24 ruft zur Überwindung des heidnischen Lebenswandels auf und greift diesbezüglich auch auf die aus Kol 3,5-10 bekannte Gewandmetaphorik (Ablegen des alten / Anziehen des neuen Menschen) zurück. Eph 4,25-5,20 bietet dann zahlreiche Einzelmahnungen mit dem Aufruf zur imitatio dei in der Mitte (5,1f.), wobei die Rahmenteile wieder deutliche Anleihen bei den Tugendund Lasterkatalogen in Kol 3,5-9.12-14 machen und diese noch ausbauen. Zu überlegen wäre, ob man nicht die Vv.15-20 als eigenes Textsegment („geisterfülltes Leben“) ausgrenzt, da die mit Eph 5,8 einsetzende Metaphorik von Licht und Finsternis mit dem Zitat eines urchristlichen Taufliedes auf Christus, das Licht, in Eph 5,14 einen Abschluss findet. Die auf die Einzelmahnungen folgende Haustafel (5,21-6,9) kann als Weiterbildung von Kol 3,18-4,1 gelesen werden, wobei der Autor u. a. die alttestamentlichen Bezüge der einzelnen Mahnungen verstärkt. Nicht sicher zu entscheiden ist, ob man Eph 6,10-20 mit seiner militärischen Metaphorik als Schlussparänese schon dem Briefschluss zuordnen oder noch dem Briefcorpus belassen

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soll.20 Im Unterschied zum Kol verzichtet Eph am Briefende (6,21-24) fast vollständig auf Grüße, Reisepläne oder persönliche Nachrichten. Brief‐ eingang

1,1-2

Briefliches Präskript

Brief‐ corpus

1,3 – 3,21 I. Der Heilsindikativ 1,3-14 1,15-23 2,1-10 2,11-22 3,1-13 3,14-19 3,20-21 4,1 – 6,9

II. Der paränetische Imperativ 4,1-16 4,17-24 4,25-32 5,1-2 5,3-14 5,15-20 5,21-6,9

Brief‐ schluss

6,10-20 6,21-24

Briefeingangseulogie Danksagung Das neue Leben der Adressaten Die Einheit von Juden und Heiden in Christus Die Rolle des Apostels im Heilsprozess Fürbittgebet Doxologie

Die Einheit (Bändermetapher) Der Wandel des alten und des neuen Menschen Einzelmahnungen (I) Imitatio dei Einzelmahnungen (II) Geisterfülltes Leben Die Haustafel

Schlussmahnungen Briefschluss

2.2 Textentstehung

Lässt sich demnach über den Autor des Briefes nicht viel mehr sagen, als dass er den Kol (und darüber hinaus wohl auch Röm, 1/2 Kor und Gal) kannte, der „Paulusschule“ zugehörte und vielleicht ein hellenistischer Judenchrist war21, scheinen sich die425 Adressaten präziser bestimmen zu lassen. Ausweis‐ lich Eph 1,1 wendet sich der Verfasser ja „an die Heiligen und Gläubigen in Christus Jesus in Ephesus“. Allerdings ist das ἐν Ἐφέσῳ textkritisch zwei‐ ologie. Der Gnadenwunsch 2 fehlt. Die die ältesten und qualitativ hochwertigsten Handschriften felhaft, d. h. gerade 6,23; Doxologie 16,25–27 B,bieten C). diese Adressatenangabe nicht. Das lässt den Schluss zu, dass (p46(‫א‬,B)

xologie. Sie ist zudem einmal vorge‐ Gnadenwunsch 2 fehlt. Die Textfolge 20 16,25–27 Näheres dazu 27; 15,1–16,23; Doxologie (A, bei N. Neumann, Die πανοπλία Gottes. Eph 6,11-17 als Reflexion der

Belagerung einer Stadt, ZNW 106 (2015) 40-64. Vgl. R. Schnackenburg, Brief, 32 f.; anders A. Lindemann, Bemerkungen, 247, der den uß 16,23. Die Doxologie ist vorgezogen. Verfasser für einen gebürtigen Nichtjuden hält. G. Sellin, Brief 57 f., legt sich zwar hin‐ der Identität des Verfassers nicht fest, zieht aber als Abfassungsort Hierapolis Textfolge lautet: 1,1–15,33; sichtlich Doxologie oder – wahrscheinlicher – Laodicea in Betracht (wegen der Kenntnis des Kol). 21

Doxologie, der der Gnadenwunsch 2 1,1–14,23; 15,1–16,23.24. Doxologie

–27) und der Gnadenwunsch 2 (16,24) iert werden konnten und wohl nicht ellten. Der Gnadenwunsch 1 (16,20b)

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

der Eph von Anfang an als „katholischer“ Brief für die gesamte Provinz Asia gedacht war, für die in den späteren Handschriften „Ephesus“ metonymisch eintritt. Obwohl ein ausdrücklicher Situationsbezug fehlt, lässt der mehrfach angesprochene und speziell auf die Überwindung der Trennung von Juden und Heiden in der einen Kirche zugespitzte Einheitsgedanke vielleicht doch den Schluss zu, dass die angesprochenen Gemeinden von Zersplitte‐ rung bedroht sind bzw. die zunehmende Dominanz der Heidenchristen die Existenz von Judenchristen in Frage stellt. Als Abfassungsort kommt am ehesten Ephesus (falls man die Paulusschule dort lokalisiert) in Frage, die Abfassungszeit wird man aufgrund der Abhängigkeit von Kol und des Umstands, dass Eph 5,25.29 bei Ignatius, Polyk 5,1 wohl zitiert wird (130 n. Chr.?), nicht früher als 80 n. Chr., spätestens aber in die 90er Jahre des 1. Jh.s zu datieren haben. Dazu passt, dass die Apostel und Propheten, in Eph 2,20 als Fundament der Kirche bezeichnet, Größen der Vergangenheit zu sein scheinen und gegenwärtig neue Dienste (Eph 4,11) am Aufbau der Kirche mitwirken. 2.3 Theologisches Profil

Die Abhängigkeit von Kol bedingt theologisch eine gewisse Nähe; gleich‐ wohl setzt Eph auch eigene Akzente. Noch deutlicher als Kol denkt der Autor des Eph kosmologisch; das All (τὰ πάντα) setzt sich aus fünf unterbzw. übereinander liegenden Bereichen zusammen; „über allen Himmeln“ thronen Gott und ihm zur Rechten Christus, der himmlische Bereich und die Luft ist das Reich der „Gewalten und Mächte“ (ἀρχαὶ καί ἐξουσίαι), d. h. der dämonischen Kräfte, während die Erde für die Menschen und die untersten Teile der Erde für die Toten reserviert sind. Noch stärker als im Kol herrscht der auferweckte Christus über das All: Gott hat alles seinen Füßen unterworfen und ihn, wörtlich, der Ekklesia als Haupt ὑπὲρ πάντα gegeben (1,22). Christus erfüllt das All mit seinem Pleroma (1,23; 4,10). Ein gewisses Korrektiv zu dieser Erhöhungs- und Herrschaftschristologie, die leicht triumphalistisch missverstanden werden könnte, bilden die verstreuten Hinweise auf den Kreuzestod Jesu, der Erlösung schenkt und Frieden stiftet (1,7; 2,13-16; 5,25). Das zentrale theologische Thema des Eph ist aber die Kirche, die – in einer Linie mit Paulus (1 Kor 12,12-26; Röm 12,4f.) und Kol 1,18 – als σῶμα Χριστοῦ mit Christus als ihrem Haupt (Eph l,22f.; 2,16; u. ö.) vor Augen gestellt wird. Darüber hinaus ist sie „Braut Christi“ (5,31f.), womit der Verfasser auf die untrennbare Verbindung von Kirche und Christus abhebt: Es gibt das eine

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nicht ohne das andere. Der für die Ekklesiologie zentrale Abschnitt 2,11-22 scheint stark tempeltheologisch geprägt zu sein. Das aus 1 Kor 3,9-11.16f. bekannte Bild von der Kirche als Haus bzw. Tempel Gottes meditiert der Eph-Autor gleichsam auf der Folie des Jerusalemer Tempels: Schon die aus Jes 57,19 entnommene Antithese von „nahe“ und „fern“ (Eph 2,13) bezieht sich dort auf den Tempel; dementsprechend könnte die trennende Scheidewand (des Gesetzes) auf die Tempelschranken verweisen, die den Heiden den Zugang zum inneren Vorhof der Juden verwehren. Die Rede, dass seit dem Kreuzestod Christi alle einen Zugang zum Vater haben, dürfte mit dem für den Jom Kippur reservierten Eintreten des Hohenpriesters in das Allerheiligste kontrastieren. Insgesamt ist dieser Abschnitt ganz getragen von dem Gedanken an die eine Kirche aus Juden und Heiden, wobei im Unterschied zu Paulus nicht die Ortsgemeinde, sondern die Gesamtkirche im Blick ist. Interessant ist diesbezüglich auch die Reihe der Ämter oder Gemeindefunktionen in 4,11: „Und er hat die einen zu Aposteln bestellt, an‐ dere zu Propheten, andere zu Evangelisten, andere zu Hirten und Lehrern“. Das ist vermutlich so zu verstehen: Die Apostel und Propheten fungieren als normierende Größe der Vergangenheit (vgl. 2,20!), den Evangelisten ist die missionarische Verkündigung anvertraut, den Hirten die Gemeindeleitung, und die Lehrer sind für die διδασκαλία, d. h. für Predigt, Unterricht und Unterweisung in den Ortsgemeinden zuständig. In der Eschatologie geht Eph wieder ähnliche Wege wie Kol. Präsentische Aussagen treten stark in den Vordergrund, futurische fehlen aber nicht ganz, Raumkategorien haben den Vorrang vor Zeitkategorien. Nach Meinung des Autors ist die Gemeinde bereits im Besitz des Heils (2,5f.: „Gott hat uns … mit ihm auferweckt und uns mit ihm Sitz gegeben in der Himmelswelt durch Christus Jesus“), was aber nicht bedeutet, dass schon alles gewonnen ist: Noch gilt es die Waffenrüstung Gottes anzulegen, um „am bösen Tag“ Widerstand leisten zu können (6,13). 3 2. Thessalonicherbrief 3.1 Texterschließung

Mit seinen 47 Versen und etwa 250 Wörtern gehört der 2 Thess zu den kürzesten Schriften des Neuen Testaments – nur Phlm, 2/3 Joh und Jud sind kürzer. Trotzdem hat das Schreiben alles, was man von einem Brief, der aus‐ weislich 2 Thess 1,1 von Paulus, Silvanus und Timotheus an die Gemeinde

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

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der Thessalonicher gerichtet ist, erwarten darf. Wie die originalen und in der Tradition des Paulus stehenden Briefe auch eröffnet 2 Thess stilgemäß mit Präskript (1,1f.) und Proömium (1,3-12), wobei letzteres durch den zwischen Dank und Fürbitte eingeschobenen eschatologischen Exkurs (Vv.5-10) im Verhältnis zum Gesamttext überproportional ausfällt. Wo das mit 2,1 einset‐ zende und auf zwei oder drei Teile bzw. Themen angelegte Briefcorpus endet, ist umstritten: Während Kreinecker (und in ihrem Gefolge Nicklas), die auch das Proömium schon dem Briefcorpus zuschlägt22, die Zäsur zwischen 3,16a und 3,16b setzt, lässt Schreiber (wie seinerzeit Trilling) den Briefschluss erst mit 3,17 beginnen und kehrt der jüngste Kommentar von Hoppe wieder zur eher „brieftypischen“ Gliederung zurück, d. h. er macht in den Vv.14-16 und Vv.17-18 die beiden klassischen Bestandteile des Briefschlusses aus, nämlich Epilog und Postskript.23 Überlegenswert ist auch seine Charakterisierung von 2,13-17 als „Zwischenstück“, weil der Autor hier erneut auf Elemente des Proömiums zurückgreift (V.13: εὐχαριστεῖν!). Allerdings mischen sich in die Fürbitte mahnende Worte (V.15). In der Summe ergibt sich folgende Gliederung: Briefeingang

1,1-2 1,3-12

Briefliches Präskript Proömium (Danksagung)

Briefcorpus

2,1-12

1. Hauptteil: Eschatologische Belehrungen 2,1-2

Situationsangabe

2,3-12

Eschatologischer Fahrplan

2,13-17: Zwischenstück: Dank und Aufforderung, in den Über‐ lieferungen fest zu stehen 3,1-13

2. Hauptteil: Aufforderung zum Gebet; Umgang mit den „Unordentlichen“ 3,1-5

22 23

‚Paulus‘ fordert zum Gebet auf und betet für die Adressaten

C.M. Kreinecker, 2. Thessalonikerbrief 35-37; ähnlich und doch anders T. Nicklas, 2. Thessalonicherbrief 23-26, der den Brief auf vier Teile hin anlegt und das Proömium als eigenständigen Briefteil zwischen Präskript und Briefkorpus wertet. R. Hoppe, 2. Thessalonikerbrief 28 f.; vgl. für den französischen Sprachraum A. Dettwiler, La deuxième épître aux Thessaloniciens, in: D. Marguerat (Hg.), Introduction au Nouveau Testament. Son histoire, son écriture, sa théologie, Genève 42008, 315-326, hier 316f.

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3,6-13 Briefschluss

3,14-16 3,17-18

Mahnungen zum Umgang mit den Unor‐ dentlichen

Epilog: Anweisungen zur Rezeption des Briefes Postskript

3.2 Textentstehung und theologisches Profil

Anlass dieses gegen Ende des 1. Jh.s oder etwas früher zu datierenden pseudepigraphen Schreibens ist eine zum Problem gewordene Naherwar‐ tung: 2 Thess 2,2 zufolge haben sich die Adressaten „durch einen Geist, ein angeblich von uns kommendes Wort oder einen Brief“, d. h. durch einen prophetischen Orakelspruch, durch die Predigt oder mündliche Belehrung und durch ein Schreiben, womit aller Wahrscheinlichkeit nach der 1 Thess (bzw. ganz konkret 1 Thess 4,13-5,11) gemeint ist24, derart aus der Fassung bringen lassen, „als ob der Tag des Herrn schon bevorstünde“. Der Autor reagiert darauf mit einer Art eschatologischem Fahrplan (2 Thess 2,3-12), der die Parusie Christi nicht nur in unbestimmte Ferne rückt, sondern auch bestimmte, sich vorher ereignende Geschehnisse zu deren Bedingung macht: Einen allgemeinen „Abfall“ (ἀποστασία) und das Auftreten eines „Menschen der Widergesetzlichkeit“ (ὁ ἄνθρωπος τῆς ἀνομίας), der auch „Sohn des Verderbens“ heißt, sich allem widersetzt bzw. sich über alles erhebt, was Gott oder Heiligtum genannt wird, und sich zu guter Letzt in den Tempel Gottes setzt und vorgibt, selbst Gott zu sein (2 Thess 2,3f.). Allerdings steht das Auftreten dieses „Antichristen“ – der Begriff selbst fällt nicht, aber die gemeinte Sache ist damit zutreffend umschrieben – noch aus; verantwortlich dafür ist das oder der nicht näher verifizierbare „Aufhaltende“ (τὸ κατέχον 2 Thess 2,6f.), wodurch die Gegenwart als eine Zeit des Aufschubs qualifiziert und einer akuten Naherwartung der Boden entzogen wird. Das vom Autor für den eschatologischen Fahrplan benutzte Material stammt, wie auch im Fall der sog. „kleinen Apokalypse“ 2 Thess 1,5-10, wo ein zukünftiges Vergeltungsgericht in Aussicht gestellt wird (jedem wird entsprechend seinen Taten vergolten), aus der jüdischen Apokalyptik.

24

Das ist die Mehrheitsmeinung. Zweifel meldet allerdings C.A. Wanamaker, Epistles, 239, an; er sieht im 2. Thess den älteren, echten Brief! Zur Diskussion vgl. jetzt H. Roose, Polyvalenz, 253-265 und die Beiträge von E. Krentz, A Stone that Will Not Fit, und T. Thompson, As If Genuine, in: J. Frey, Pseudepigraphie.

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

Dass dem Ende ein allgemeiner Glaubensabfall vorausgeht, ist dort ebenso verbreitete Überzeugung25 wie das Auftreten einer widergöttlichen Figur. Dan 11,21-39 spricht z. B. davon, dass sich ein „verächtlicher Mensch“ erhebt, dem die königliche Würde gar nicht bestimmt war und der dennoch als König nach Belieben schaltet und waltet; „er wird sich überheben und groß tun wider jeden Gott, und wider den höchsten Gott wird er unerhörte Reden führen“ (Dan 11,36). Das bezieht sich auf Antiochus IV. Epiphanes, und ähnlich konkret werden auch die Sibyllinischen Orakel, wenn sie im Blick auf Nero festhalten: „Doch er wird spurlos verschwinden, der Arge, und kehrt dann wieder, Gott sich gleichsetzend (ἰσάζων θεῷ αὑτόν), der wird ihm beweisen jedoch, dass er’s nicht ist.“26 Derartige Konkretisierungen, etwa im Hinblick auf den Kaiserkult, sind im 2 Thess nicht in Sicht und liefern daher ebenso wenig Anhaltspunkte für eine präzisere Datierung des Briefs wie das in 2 Thess 2,4 thematisierte Sitzen im Tempel Gottes, das symbolisch zu verstehen und nicht im Sinne eines Hinweises auf den noch existierenden Jerusalemer Tempel auszuwer‐ ten ist.27 Damit sind auch die wesentlichen Punkte benannt, die 2 Thess ein eigen‐ ständiges Gesicht geben. Alles andere, angefangen vom fast identischen Präskript (2 Thess 1,1 f.; vgl. 1 Thess 1,1) über die schon im 1. Thessaloni‐ cherbrief auffällige Doppelung der proömiumsartigen Danksagung (2 Thess 2,13; vgl. 1 Thess 2,13) bis hin zu den briefschlussähnlichen Gebetswünschen (2 Thess 2,17; vgl. 1 Thess 3,12f.) lehnt sich derart eng an den 1 Thess an28, dass man eigentlich zu keinem anderen Schluss kommen kann, als dass hier ein uns unbekannter Theologe des ausgehenden 1. Jh.s n. Chr. auf der Basis des authentischen Paulusbriefs an die Thessalonicher ein neues Schreiben kreiert, um eine falsche Parusieerwartung mit der Autorität des „echten Paulus“ zu korrigieren (vgl. diesbezüglich auch den Echtheitsvermerk in 2 Thess 3,17: „Der Gruß mit meiner, des Paulus Hand. Das ist ein Zeichen in

25 26 27 28

Vgl. Dan 11,32; Jub 23,14-21; 4 Esr 5,1-12; für das NT etwa Mk 13,5-23; Mt 24,10-12; 1 Tim 4,1; 2 Tim 3,1ff.; Jud 17-19. Or Sib 5,33f.; die Übers, nach J.-D. Gauger, Sibyllinische Weissagungen. Grie‐ chisch-deutsch (TuscBü), Darmstadt 1998. E. Reinmuth, Brief, 179. Vgl. die ausführliche Behandlung der Frage bei H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch (UTB 2022), Paderborn 1998, 292-304; besonders instruktiv dort die synoptische Zusammenstellung der Parallelen (299).

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jedem Brief; so schreibe ich“). In dieselbe Richtung weisen auch syntaktische und semantische Beobachtungen: Die wörtlichen Übereinstimmungen und parallelen Wendungen mit dem 1 Thess häufen sich in einem Ausmaß, wie es zwischen anderen Paulusbriefen auch nicht andeutungsweise der Fall ist. Wer dennoch an der Echtheit des Briefs festhält oder festhalten will (so wie‐ der Malherbe), muss darüber hinaus erklären, wie Paulus in relativ kurzer Zeit (der Brief wird dann meist kurz nach 1 Thess angesetzt) eine derartige eschatologische Kehrtwende vollziehen konnte (von der Naherwartung zur Dehnung der Zeit). Zeitlich und räumlich lässt sich der nachpaulinische Autor des 2 Thess kaum verorten, er kann sowohl in Griechenland als auch in Kleinasien beheimatet sein. Weil er mit den Paulusschülern, die Kol und Eph verantworten, kaum Gemeinsamkeiten aufweist (von der Syntax vielleicht einmal abgesehen), ist seine Zugehörigkeit zur Paulusschule fraglich.29 4 Pastoralbriefe

Die seit dem 18. Jh. übliche Bezeichnung der beiden Briefe an Timotheus (1/2 Tim) sowie des Briefs an Titus (Tit) als „Pastoralbriefe“ signalisiert, worum es in den drei Schreiben vorwiegend geht: Es sind Fragen der Gemeindeleitung und -ordnung, die im Fokus des pseudonymen Briefautors stehen. Die drei Briefe heben sich von den übrigen Schreiben innerhalb des Corpus Paulinum allein schon dadurch ab, dass sie an zwei Schüler bzw. Mitarbeiter des Paulus adressiert sind und nicht an eine Gemeinde wie z. B. diejenige von Thessaloniki (1/2 Thess), von Korinth (1/2 Kor) oder die Hausgemeinde des Philemon (Phlm 1 f.). Vermutlich wurden sie von vornherein als einheitliche Sammlung angelegt und wollen auch so gelesen werden; allerdings werden gerade in jüngerer Zeit wieder vermehrt Stimmen laut, die diesen über Jahrzehnte gewachsenen Konsens in Frage stellen. 4.1 Texterschließung

1 Tim weicht insofern vom paulinischen Briefschema ab, als „Paulus“ nach dem Präskript (1,1f.) auf das gewohnte Proömium verzichtet und stattdessen, in gewisser Weise mit Gal vergleichbar, gleich „mit der Tür ins Haus fällt“: 1,3-11 warnt eindringlich vor den Irrlehrern und unterstreicht dies in l,9f. mit einem relativ ausführlichen Lasterkatalog, der zum Ende erstmals den 29

W. Trilling, Brief, 27 f.; Schmeller, Schulen (Anm. 3), 248.

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

für die Past zentralen Begriff der „gesunden Lehre“ präsentiert. Es schließen sich eine Kol 1,24-2,5 vergleichbare Selbstvorstellung (1,12-17) und die Verpflichtung des Timotheus auf seinen Auftrag an (1,18-20). Im Briefcorpus (2,1-6,2) dominiert der Imperativ; der für die Protopaulinen charakteristische Heilsindikativ ist deutlich zurückgedrängt30: 2,1-7 mahnt zum Gebet für alle, besonders aber für die Herrschenden (vgl. Röm 13,1-7), 2,8-15 regelt das Auftreten von Männern und Frauen im Gottesdienst, 3,1-13 erlässt Richtlinien für die Ausübung des Bischofs- und Diakonenamts. Nach einer Volte gegen die Irrlehrer (4,1-5) wendet sich der Verfasser ab 4,6 wieder direkt an Timotheus; dieser wird dahingehend instruiert, die „heillosen und für alte Frauen passenden Fabeln“ abzuweisen (4,7) und selbst ein „Vorbild der Gläubigen im Wort“ zu werden (4,12). Die Anweisungen zum Umgang mit Männern und Frauen, älteren wie jüngeren (5,1f.), münden dann in Regularien zur Versorgung von Witwen (5,3-16), wobei die traditionellen Vv.9-10 wohl schon einen klar definierten Witwenstand (vgl. auch V.5) voraussetzen. Ermahnungen zum Umgang mit den Ältesten (5,17-25) und Weisungen für Sklaven (6,1f.) schließen das Briefcorpus ab. Die Schlusspa‐ ränese (6,3-19) greift erneut die Irrlehrer an, schlägt mit der Kritik an denen, die reich werden wollen (6,9f.) bzw. es schon sind (6,17-19), jedoch noch einmal ein neues Thema an. Obwohl sich das Postskript (6,20f.) direkt an Timotheus wendet, ist der abschließende Gnadenwunsch („Die Gnade sei mit euch!“) im Plural formuliert! Der Tit stellt inhaltlich eine Art verkürztes Duplikat zu 1 Tim dar, wie dort fehlt auch hier ein Proömium. Nach dem Präskript (1,1-4) mit ausführlicher Beschreibung des dem Paulus anvertrauten Apostelamts und der für die Pastoralbriefe charakteristischen Attribuierung Gottes und Christi als σωτήρ folgt sogleich das Briefcorpus (1,5-3,11), ehe – nun wieder typisch paulinisch – letzte Aufträge und Grüße das Schreiben abschließen (3,12-15). Aus dem Briefcorpus erfahren wir zunächst, dass Titus in Kreta zurückgeblieben ist und dort Älteste einsetzen soll, die als ἐπίσκοποι über die jeweiligen Gemeinden gesetzt sind und daher entsprechend moralisch qualifiziert sein müssen (1,5-9), dann, dass Irrlehrer „aus der Beschneidung“ aufgetreten sind (1,10-16). Das rechte Verhalten und der rechte Glaube

30

Eine Ausnahme macht der in 1 Tim 3,16 aufgenommene Christushymnus; darüber hinaus kann man überlegen, ob nicht die „paulinische“ Selbstvorstellung in 1,12-17 als Indikativ gelesen werden soll: Paulus wurde erwählt, „um ein Vorbild aufzustellen für die, welche künftig an ihn glauben werden zum ewigen Leben“ (1,16)!

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stehen in 2,1-3,11 auf der Tagesordnung: in 2,1-10 in Form von Weisungen an Männer, Frauen und Sklaven (vgl. 1 Tim 5,1 f; 6,lf.), die an die aus Kol und Eph bekannten Haustafeln erinnern31, in 2,11-3,11 in der Skizzierung christlichen Lebens als eines Lebens zwischen den beiden Epiphanien Christi, d. h. seiner Inkarnation und seiner erhofften Parusie (vgl. 2,11-13). Dazu gehören auch die Unterordnung unter die staatliche Gewalt (3,1-3) und die Distanz zu Streitereien um das (jüdische) Gesetz (3,9-11). Von der Gattung her sind die beiden Schreiben gelegentlich mit jüdischen und frühchristlichen Gemeindeordnungen verglichen worden (1 QS; Dida‐ che; Didaskalia Apostolorum), doch bleibt dabei der briefliche Charakter dieser beiden Schreiben auf der Strecke. Daher hat der Verweis auf die hellenistischen Königsbriefe und die Briefe der römischen Kaiser als nächste Gattungsanalogie mehr für sich. Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die mandata principis, standardisierte offizielle Instruktionen für neuernannte Amtsträger in den römischen Pro‐ vinzen durch die kaiserliche Kanzlei.32 Die Charakterisierung der beiden Briefe als „Instruktionen an weisungsbefugte Amts- und Mandatsträger“ dürfte daher das Richtige treffen33, weil sie auch das den Past inhärente Amtsgefälle erklärt: Der Absender (Paulus) schreibt an einen Weisungsemp‐ fänger (Timotheus bzw. Titus), der die Weisungen in seinem Amtsbereich durchsetzen soll. 2 Tim unterscheidet sich von den beiden vorher genannten Briefen sowohl der Gattung wie auch dem Inhalt nach. Das vier Kapitel umfassende Schreiben steht in deutlicher Nähe zur Gattung des Freundschaftsbriefs, zentrales Thema ist die κοινωνία zwischen dem in den Tod gehenden Apos‐ tel und Timotheus. Alles konzentriert sich auf die Vorbereitung des Schülers für die Nachfolge des Apostels. Gerade deshalb trägt der Brief über weite Strecken auch die Züge eines literarischen Testaments; Analogien zur jüdi‐ schen und frühchristlichen Testamentenliteratur (TestXII; Lk 22,25-38; Joh 13-16) sind nicht zu übersehen. Insbesondere die Nähe zur Abschiedsrede des Paulus in Milet Apg 20,17-38 hat – im Verein mit einer Reihe weiterer 31 32

33

Zur Diskussion, ob die Episkopen- und Diakonenspiegel der Past als Haustafeln zu klassifizieren sind oder nicht vgl. Gielen, Tradition (Anm. 18). Dem entspricht formal, dass in 1 Tim 1,3 und Tit 1,5 an die Stelle der üblichen Danksagung eine Erinnerung an den mit dem Zurücklassen des Adressaten in Ephesus bzw. auf Kreta verbundenen Auftrag erfolgt. Näheres bei M. Wolter, Pastoralbriefe, 161-177. Ebd. 196.

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

inhaltlicher Berührungen – verschiedentlich die These befördert, Lukas sei der Autor des 2 Tim bzw., wenn man von einer einheitlichen Abfassung ausgeht, der Autor sämtlicher drei Briefe. Doch sind derartige Hypothesen genauso überzogen wie die Annahme einer literarischen Abhängigkeit des 2 Tim von der Apg.34 Der demnach anonym bleibende Verfasser stellt hinter das Präskript (1,1f.) eine Vorrede, welche zu unerschrockenem Zeugnis ermutigen will (1,3-18); der Hauptteil (2,1-4,8) des Briefes deutet das Verfolgungsleiden (2,1-13), ruft zur Konfrontation mit den Häretikern auf (2,14-26), warnt vor der drohenden Gottesferne der Menschen (3,1-9) und stellt die paradigmatische Lebensführung der Amtsträger vor Augen (3,10-17). Im Blick auf das nahe Ende des Paulus werden anschließend die Schwierigkeiten des Gemeindele‐ bens dramatisiert (4,1-8). Persönliche Mitteilungen (4,9-18) und namentliche Grüße (4,19-22) schließen das Schreiben ab. Interessant, wenn auch von den beigebrachten Parallelen vielleicht nicht ganz gedeckt, ist die von Timo Glaser vorgebrachte These, das Corpus Pastorale sei vor dem Hintergrund des antiken Briefromans zu erklären.35 Pseudonyme Abfassung, die Schaffung eines geschichtlichen Rahmens, Aus‐ sagen über den Charakter bestimmter Personen und eine moralerzieherische Zielsetzung seien Merkmale, welche die Past mit dem antiken Briefroman verbänden.

34 35

Vgl. A. Weiser, Brief, 66-70, mit der Darstellung des Befunds und grundsolider Bespre‐ chung der genannten Hypothesen. T. Glaser, Paulus, 32-167, sowie ders., Erzählung im Fragment. Ein narratologischer Ansatz zur Auslegung pseudepigrapher Briefbücher, in: J. Frey, Pseudepigraphie, 267-294.

533

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1. Timotheusbrief: Briefanfang

1,1-2 1,3-11 1,12-20

Präskript Thema und Situation (autobiographisch) Danksagung (autobiographisch)

Briefcorpus

2,1-3,16 1. Hauptteil: 2,1-7

Gebet für alle Menschen

2,8-15

Männer und Frauen im Gottesdienst

3,1-13

Das Bischofs- und Diakonenamt

3,14-16

Grundsätzliches zum „Haus Gottes“ (mit Christushymnus)

4,1-6,19 2. Hauptteil: 4,1-11

Gegen die „Lügenredner“

4,12-5,2 Timotheus als „Vorbild der Gläubigen“

Briefschluss

5,3-16

Der Witwenstand

5,17-25

Das Ältestenamt

6,1f.

Christliche Sklaven

6,3-19

Paränese

6,20f.

Schlussmahnung und Schlussgruß

Briefanfang

1,1f. 1,3-5

Präskript Danksagung (biographisch)

Briefcorpus

1,6-2,13 1. Hauptteil

2. Timotheusbrief

1,6-18

Briefliche Selbstvorstellung (autobiogra‐ phisch)

2,1-13

Paulus als Zeuge Jesu Christi

2,14-4,8 2. Hauptteil 2,14-26

Mahnung zur persönlichen Bewährung

3,1-9

Eschatologische Belehrung

3,10-17

Nachfolge des Timotheus in der Lehre

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

4,1-8 Briefschluss

4,9-18

535

‚Testament des Paulus‘

4,19-21 4,22

Autobiographische Nachrichten und briefliche An‐ weisungen Grüße Segenswunsch

Briefeinlei‐ tung

1,1-4

Präskript

Briefcorpus

1,5-16

Gemeindeordnung für Älteste, Episkopen; gegen Irr‐ lehrer

Titusbrief:

2,1-3,11 Lehre (διδασκαλία 2,1) für Gemeinde: Alte, Junge, Sklaven; gegen Irrlehrer (αἱρετικὸς ἄνθρωπος 3,10) Briefschluss

3,12-14 3,15

Briefliche Anweisungen Grüße und Segenswunsch

4.2 Textentstehung

Ähnlich wie der Verfasser des Kol muss sich auch der Autor der Pastoral‐ briefe mit Irrlehrern auseinandersetzen, die ihre zerstörerische Wirkung innerhalb der Gemeinde offenbar schon entfaltet haben: „Ganze Häuser ruinieren sie mit ihren unziemlichen Lehren, um schmutzigen Gewinns willen“ (Tit 1,11). Nach 2 Tim 3,6 üben sie insbesondere auf Frauen einen verhängnisvollen Einfluss aus. Unverkennbar ist die stark jüdische, even‐ tuell auch judenchristliche Kolorierung dieser Gruppe: Sie kommen vor allem „aus der Beschneidung“ (Tit 1,10) und hängen jüdischen Mythen und Genealogien an (Tit 1,14; 1 Tim l,3f.). Ähnlich wie die kolossische „Philoso‐ phie“ huldigen sie einer strengen Askese, d. h. sie lehnen die Ehe ab und fordern die Enthaltung von Speisen (1 Tim 4,3). Das alles gipfelt sozusagen in einer präsentischen Eschatologie, „sie sagen, die Auferstehung sei schon geschehen“ (2 Tim 2,18). Weil der Verfasser diese Irrlehre in 1 Tim 6,20 als „Gnosis“ bezeichnet, geht man wohl nicht fehl in der Annahme, dass die bekämpften Irrlehrer einer in den Anfängen begriffenen judenchristlichen Gnosis zuzurechnen sind.36 Diese religionsgeschichtliche Einordnung der Irrlehre verbietet dann auch eine allzu frühe zeitliche Ansetzung der Past.

36

Vgl. die ausführliche Diskussion bei G. Häfner, Belehrung, 18-41.

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Da mit einer ausgebildeten Gnosis erst ab Mitte des 2. Jh.s n. Chr. zu rechnen ist, wird man die Past nicht früher als um die Wende vom 1. zum 2. Jh. n. Chr. ansetzen, vielleicht auch etwas später.37 Für diese Spätdatierung und die dadurch bedingte Einschätzung der Past als doppelte Pseudepigraphie – nicht nur der Absender Paulus, sondern auch die Adressaten Timotheus und Titus sind eine literarische Fiktion – gibt es darüber hinaus weitere sachliche Gründe. Sprache und Stil sind nicht paulinisch; neben den 158 Hapaxlegomena38 fällt vor allem ins Gewicht, dass der Autor eine Reihe von paulinischen Schlüsselbegriffen nicht verwendet (δικαιοσύνη θεοῦ, ἐλευθερία, usw.) bzw. ihnen einen anderen Sinn gibt: πίστις bezeichnet z. B. nur noch den Glaubensinhalt (1 Tim 3,9 u. ö.) oder die Treue diesem gegenüber, aber nicht mehr das menschliche Korrelat zum Heilshandeln Gottes wie bei Paulus. Hinzu kommen erhebliche Unterschiede in der Ekklesiologie. Auch die biographischen Angaben über Paulus und seine Mitarbeiter stimmen nicht einfach mit den Briefen und den Angaben aus der Apostelgeschichte überein. Das führt in der Summe zu folgendem Ergebnis: Die Pastoralbriefe sind ca. 100–110 n. Chr. verfasst worden, ihren Autor kennen wir nicht. Als Entstehungsort bietet sich das kleinasiatische Missionsgebiet an, näherhin vielleicht Ephesus (vgl. 1 Tim 1,3), aber auch Rom wird genannt.39 Gegen diesen „Konsens“ werden allerdings in jüngerer Zeit wieder Ein‐ wände laut. So hat L.T. Johnson die Argumente für eine pseudepigraphische Abfassung der Past und die damit verbundene situative Verortung (Paulus‐

37

38

39

So zuletzt M. Theobald, Israel-Vergessenheit, 350-353, der die Past in die „20er bis 40er Jahre“ des 2. Jh. datiert und als terminus post quem die Verbreitung einer umfäng‐ lichen Paulusbriefsammlung in Kleinasien postuliert – ihr Markenzeichen war die 14 Kapitel-Form des Röm – und für den terminus ante quem auf den Brief des Polykarp an die Philipper verweist, der die Rezeption der Past belege. Ähnlich G. Häfner, Die Pastoralbriefe (1 Tim/2 Tim/Tit), in: M. Ebner/St. Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 32019, 458-483, hier 473, der seine früher schon getätigte Spätdatierung durch Theobald bestätigt sieht: „30er oder 40er Jahre des 2. Jh.“. Die Angaben nach Schnelle, Einleitung (Anm. 1), 377; auffällig ist auch, dass die Past im Vergleich zu den echten Paulusbriefen über einen relativ hohen Sonderwortschatz verfügen (R. Morgenthaler, Statistik des neutestamentlichen Wortschatzes, Zürich 1958, 38). Bedenkenswerte Einwände gegen wortstatistische und stylometrische Versuche zum Aufweis der Brieffiktion im Fall der Past formuliert allerdings J. Herzer, Fiktion, 523-528, der auch darauf aufmerksam macht, dass sich der Sachverhalt wesentlich verändert, wenn man nicht das gesamte Corpus Pastorale, sondern die einzelnen Briefe mit dem Corpus Paulinum vergleicht. Für Ephesus votiert z. B. Weiser, Brief, 59; für Rom J.D. Quinn, Letter, 21.

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

schule; gegen gnostisierende judenchristliche Irrlehrer) einer detaillierten Analyse und Kritik unterzogen. Johnson bemängelt zu Recht die ungenü‐ gende Differenzierung zwischen den einzelnen Briefen und hinterfragt ihre Gruppierung zu einem einheitlichen, in sich geschlossenen Textcorpus. z. B. sei im Blick auf die von Paulus abweichende Kirchenordnung festzuhalten, dass diese im 2 Tim kein Thema sei und im Tit allenfalls am Rande erwähnt werde. Die von Johnson vertretene Authentizität aller drei Briefe überzeugt aber gerade vor diesem Hintergrund (dass die drei Briefe differenziert zu beurteilen seien) nicht. Ernster zu nehmen sind deshalb die Einwände, die Jens Herzer gegen die Lektüre der Pastoralbriefe als einheitliches Textcorpus vorbringt.40 Er hält die Hypothese eines dreifachen Briefcorpus für eines der größten Probleme gegenwärtiger Pastoralbriefe-Interpretation, die letztlich „auf einem idealistischen Paradigma des 19. Jh.“ beruhe und schlägt vor, dieses aufzugeben. Stattdessen sei eine differenzierte Betrachtungsweise notwendig, die zu folgendem – vorläufigem – Ergebnis führt: Nur der 1 Tim passt in das Muster akzeptierter und damit als legitim zu verstehender (Schul-)Pseudepigraphie. Er setzt eine von einem Bischofsamt geführte Gemeindestruktur als gegeben voraus und interpretiert vor diesem Hinter‐ grund verschiedene Topoi der paulinischen Überlieferung neu (wie z. B. die Rolle von Frauen in der Gemeinde oder das Verständnis der Gemeinde als „Haus Gottes“). Dagegen könnten der 2 Tim und Tit als Teil der Paulusüberlieferung angesehen werden, die der 1 Tim bereits voraussetzte. Dieser sei daher deutlich von den beiden kleineren Briefen abzusetzen und gehöre in die Zeit der Auseinandersetzungen mit der aufkommenden Gnosis in der späteren Hälfte des 2. Jh. n. Chr.! Folgt man dagegen dem „Konsens“, sind die Pastoralbriefe von Anfang an als geschlossenes Corpus konzipiert worden und wollten ursprünglich

40

Vgl. v. a. J. Herzer, Abschied, und ders., Fiktion. Darüber hinaus hat sich Herzer in jüngerer Zeit mehrfach zu den Past geäußert, vgl. etwa: Ders., Juden – Christen – Gnostiker. Zur Gegnerproblematik der Pastoralbriefe, BThZ 25 (2008) 143-168; ders., Den guten Kampf gekämpft. Das Ende des Paulus im Spiegel des Zweiten Timotheusbriefs und die frühchristliche Überlieferung, in: R. Hoppe/M. Reichardt (Hg.), Lukas – Paulus – Pastoralbriefe (FS A. Weiser) (SBS 230), Stuttgart 2014, 339-369.

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vielleicht in der Reihenfolge 1 Tim, Tit und 2 Tim gelesen werden.41 Aber auch die Reihenfolge Tit – 1 Tim – 2 Tim gewinnt an Boden.42 4.3 Theologisches Profil

Besonderes theologisches Profil gewinnen die Past durch ihre an die Meta‐ pher des Hauses (οἶκος/οἰκία) angelehnte Ekklesiologie. Gestaltungsprinzi‐ pien der antiken Großfamilie sollen auch in der – trotz der universalen Ausrichtung – als Ortsgemeinde verstandenen Kirche gelten: Gott ist der Hausherr (2 Tim 2,21: δεσπότης), der den örtlichen Gemeindeleiter als οἰκονόμος (Tit 1,7) eingesetzt hat. Dieser übt faktisch die Funktion des pater familias aus; Qualifikationsmerkmal ist, dass er seinem eigenen Hauswesen ein guter Vorsteher ist (1 Tim 3,5). Dazu passt, dass – vergleichbar den Haustafeln des Kol und des Eph – Anweisungen für Männer und Frauen (1 Tim 2,8-15; 5,1 f; Tit 2,1-6), Alte und Junge (1 Tim 5,1 f.; Tit 2,1-6) sowie Herren und Sklaven (1 Tim 6,1f.; Tit 2,9f.) ergehen. Neu ist, dass auch die Witwen in diese Regularien miteinbezogen werden (1 Tim 5,3-16). Vermutlich handelt es sich bei den „Gemeindewitwen“ schon um einen festen Stand innerhalb der Gemeinde. Das auf solche Weise zutage tretende Konzept einer patriarchalisch verfassten Gemeinde betont darüber hinaus relativ stark die institutionellen Züge von Kirche. Neben diversen Kirchenzuchtmaßnahmen (vgl. 1 Tim 1,20; 2 Tim 2,25) stechen diesbezüglich die Anordnungen zur Gestaltung der gemeindeleitenden Ämter ins Auge. Die in den paulinischen Gemeinden bereits ansatzweise in Gang befindliche Entwicklung (Phil 1,1) wird auf zwei feste, personengebundene Ämter vorangetrieben: In jeder Gemeinde soll es einen ἐπίσκοπος geben, der sozusagen als Hausvorstand für die Ordnung verantwortlich ist; ihm sind jeweils mehrere διάκονοι zugeordnet, deren Aufgaben schwerpunktmäßig im administrativen Bereich und in der Armenpflege liegen dürften (1 Tim 3,8-13), Die teilweise in den Gemeinden

41

42

So J. Roloff, Art. Pastoralbriefe, 57; ders., Brief, 45. Roloff betont aber zugleich, dass sich in dieser Frage keine abschließende Klarheit gewinnen lässt. Für die Abfolge mit 1 Tim am Anfang der Brieftrias spricht die geographische Ausrichtung der Past (sie beschreiben den Weg des Paulus von Osten nach Westen) und vielleicht die paulinische Selbstvorstellung 1 Tim 1,12-17, für 2 Tim am Ende dessen testamentarischer Charakter. So Klauck, Briefliteratur (Anm. 28), 244, der (mit vielen anderen) für die Reihenfolge Tit – 1 Tim – 2 Tim votiert, und zuletzt wieder Theobald, Israel-Vergessenheit 40-42. Argument ist hier das relativ ausführliche Präskript Tit 1,1-4, das gut am Anfang eines Briefcorpus stehen könne.

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

noch vorhandene Ältestenverfassung wird der Episkopenverfassung ange‐ nähert bzw. auf sie hin geöffnet (1 Tim 5,17; Tit l,5f). Damit ist das Prinzip des Monepiskopats vorbereitet, auch wenn er faktisch in den Gemeinden des Einzugsbereichs der Past noch nicht bestanden haben dürfte. Zentrale Aufgabe der Gemeindeleitung ist die Lehre; der Episkope muss sich „an das zuverlässige Wort der Lehre halten, damit er fähig sei, die Gemeinde mit der gesunden Lehre zu ermahnen und zu widerlegen“ (Tit 1,9). Autoritative Norm für die „gesunde Lehre“ ist die paulinische Tradition, die unter dem Schlüsselbegriff der παραθήκη (1 Tim 6,20; 2 Tim 1,12.14) zusammengefasst wird. Der Begriff bezieht sich auf den Bestand vorliegen‐ der Schriften, d. h. das Corpus Paulinum und die Past, und deklariert diese als unantastbares Erbe, das um jeden Preis zu bewahren ist. Auf der Strecke bleiben die gemeindliche Prophetie und die freien Äußerungen des Geistes, die in der Kirche der Past keinen Raum mehr haben. Bezeichnenderweise begegnet πνεῦμα nahezu ausschließlich im Kontext von Aussagen über den Amtsträger (2 Tim 1,7.14; 4,22), und als einziges Charisma wird die Ordination genannt (1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6). Auf der Strecke bleiben aber auch die Frauen. Die, wenn man es positiv aus‐ drücken will, Offenheit für die nichtchristliche Gesellschaft und deren Lebens‐ formen, die alles, was den vorgegebenen sittlichen Wertvorstellungen und gesellschaftlichen Rollenerwartungen widersprechen könnte, zurückdrängt, führt zum Ausschluss christlicher Frauen von jeder aktiven Mitgestaltung des Gottesdienstes (1 Tim 2,8-15). Das gesellschaftliche Ideal der in der Öffentlichkeit schweigenden, allein auf den häuslichen Bereich beschränkten Frau wird auf die Gemeinde übertragen (1 Tim 5,14; Tit 2,5). Die Frau wird mit der Sünde Evas behaftet und ihre Rettung (σῴζω) an das Gebären von Kindern und deren christlicher Erziehung geknüpft (1 Tim 2,13-15). Ähnlich werden die christlichen Sklaven geradezu ängstlich vor jeder emanzipatorischen Tendenz gewarnt; sie sollen es an jener gehorsamen Unterordnung, die die Gesellschaft von ihnen erwartet, nicht fehlen lassen. 4.4 Das Paulusbild

Das Hauptcharakteristikum der Past ist aber ihr exklusiver Paulinismus. Wenn sich „Paulus“ in der superscriptio (1 Tim 1,1; 2 Tim 1,1; Tit 1,1) als „Apostel Jesu Christi“ bezeichnet, so liegt das zunächst auf einer Linie mit dem, was auch Paulus in seinen Briefen an die Korinther, Galater oder Römer tut. Im Gegensatz dazu fehlt in den Past jedoch jeder Hinweis auf „die Apostel vor mir“. Paulus ist der Apostel schlechthin! Dieser Apostolat

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wird, im Vergleich etwa zur nachfolgend noch zu besprechenden Apg, relativ einseitig als Berufung zur Lehre bzw. zur verantwortlichen Verwaltung derselben interpretiert. Paulus ist nicht nur der Apostel, sondern er ist auch der Lehrer, dessen Lehre und dessen Verkündigung Offenbarungsqualität eignet (vgl. Tit 1,3!). Sie muss daher als unveränderbare παραθήκη weiterge‐ geben werden. Für diese Weitergabe gibt wiederum „Paulus“ die Richtlinien vor: 2 Tim 2,2 erhebt eine von Paulus ausgehende personale Sukzession zum Programm, in der sich die ungebrochene Kontinuität zwischen Lehrer und Schüler manifestieren soll. Entscheidend ist dabei nicht zuletzt das persönliche Vorbild des leidenden Apostels (2 Tim 2,12; 2,8-13). Wer für das Evangelium eintritt, muss bereit sein, wie Paulus Widerstand und Leiden zu ertragen. Das gilt gerade im Blick auf die aktuelle Auseinandersetzung mit den Irrlehrern (2 Tim 2,14-21). Paulus wird in den Past aber nicht nur zu dem Modell für potentielle Amts‐ träger, sondern auch zum „Urbild“ eines jeden Glaubenden, darin durchaus Abraham als Prototyp des Heilsempfängers im Frühjudentum bzw. Prototyp des Glaubenden im Urchristentum vergleichbar. Sein Damaskuserlebnis hat paradigmatische Bedeutung. Paulus wurde deshalb Erbarmen zuteil, so 1 Tim 1,16, „damit Jesus Christus an mir als dem ersten seine eigene Langmut erweisen könnte, um ein Vorbild aufzustellen für die, welche künftig an ihn glauben würden zum ewigen Leben“. 5 Das Paulusbild der Apostelgeschichte 5.1 Überblick

Eine ganz andere Welt betreten wir dagegen mit der Apostelgeschichte, die als Fortsetzungswerk des Lukasevangeliums konzipiert und vielleicht Anfang der 90er Jahre des 1. Jh.s n. Chr. abgefasst worden ist.43 Zwar gibt es durchaus Berührungen mit den Deutero- und Tritopaulinen (Eph, Past), vor allem hinsichtlich des auch in der Apg unverkennbaren Interesses an Fragen der kirchlichen Ordnung und des Amtes (vgl. Apg 20,17-38), die aus 43

Bei einer vorausgesetzten Abfassungszeit des Lukasevangeliums zwischen 80 und 85 n. Chr. legt sich dieser zeitliche Ansatz nahe. Spätdatierungen (nach 100 n. Chr.) verbieten sich, weil die Apg dann in irgendeiner Form auf die gegen Ende des 1. Jh. n. Chr. vorliegenden Sammlungen paulinischer Briefe eingehen müsste. Über den Abfassungsort der Apg lässt sich nur spekulieren; am häufigsten genannt wird Rom, daneben kommen auch Griechenland, Kleinasien und selbst das syrische Antiochien in Frage. Vgl. zuletzt Schnelle, Einleitung (Anm. 1), 306 f; J. Zmijewski, Apostelgeschichte, 14-16.

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

den authentischen Paulusbriefen bekannten großen theologischen Themen wie die Rechtfertigungslehre, das in der Korintherkorrespondenz und im Römerbrief entwickelte ekklesiologische Modell von der Gemeinde als Leib oder die von Paulus in mehreren Schüben entwickelten eschatologischen Vorstellungen (vgl. 1 Thess 4,13-17; 1 Kor 15,1-58; 2 Kor 5,1-10 usw.) fehlen aber bzw. kommen nur sehr rudimentär vor. An die Stelle dessen tritt in der Apostelgeschichte ein dezidiertes Interesse an der paulinischen Biographie (wenn auch nicht im modernen Sinn): Von Apg 7,58 an, wo Paulus als unbeteiligter Statist der Steinigung des Stephanus beiwohnt, bis zum Ende in Apg 28,31 begleiten wir Paulus praktisch auf allen wichtigen Stationen seines Wirkens. Wir werden Zeuge seines Wütens gegen den „Weg“, wie Lukas die Christen nennt (vgl. Apg 8,3; 9,1f.), seiner „Bekehrung“ vor Damaskus (Apg 9,1-19a) und der ersten Predigtversuche dort und in Jerusalem (9,19b-30), wir erleben mit, wie Paulus sich zusammen mit Barnabas vom einfachen antiochenischen Gemeindegesandten zum Gemeindemissionar entwickelt, der zunächst Zypern und weite Teile Kleinasiens missioniert (sog. „1. Missionsreise“; vgl. Apg 13-14) und später – nach dem Apostelkonvent in Jerusalem, auf dem Paulus nach der Darstellung des Lukas buchstäblich nichts zu sagen hat (15,1-34), und nach der Trennung von Barnabas – gemeinsam mit Silas und Timotheus den Sprung nach Europa wagt und dort in praktisch allen großen griechischen Metropolen (Philippi, Thessaloniki, Athen, Korinth) missioniert (15,35-18,22). Die Schilderung der dritten Mis‐ sionsreise (18,23-21,17) integriert einen längeren Lehraufenthalt in Ephesus und führt Paulus, nach einem weiteren Abstecher nach Griechenland und der Abschiedsrede vor den Ältesten in Milet (20,17-38), schließlich nach Jerusalem, wo er gefangen genommen und, nachdem er seine Geißelung durch den Hinweis auf sein römisches Bürgerrecht verhindert (22,23-29) und ein geplantes Attentat auf ihn unter tätiger Mithilfe seines Neffen vereitelt werden kann (23,12-22), zum Statthalter Felix nach Cäsarea überstellt wird. Die schon bisher mit Händen zu greifenden Parallelen zur Verhaftung und zum Prozess Jesu nach der Darstellung des Lukasevangeliums verstärken sich im Folgenden noch. Während des zwei Jahre dauernden Aufenthalts in Cäsarea (24,1-26,32) wird Paulus vom Hohenpriester vor dem römischen Statthalter Felix angeklagt; wie weiland Pilatus den Jesus führt auch Felix den Paulus einem jüdischen Herrscher vor (hier Agrippa mit seiner Frau Berenike, Apg 25,13-17; vgl. Lk 23,6-12). Die in 27,1-28,15 berichtete Über‐ fahrt nach Rom erweckt den Anschein eines Augenzeugenberichts („Wir“),

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bezieht aber mit dem Schiffbruchmotiv und der wunderbaren Errettung der Passagiere auf die Insel Malta Motive mit ein, wie sie für die antike Romanliteratur typisch sind.44 Die Apg schließt mit Informationen zum Aufenthalt und Wirken des Apostels in Rom; über dessen Tod teilt der Autor nichts mit, obwohl er davon sicher weiß.45 Stationen des Paulus nach Apg 8-28:46 7,58-8,1.3; 9,1f.

(Tarsus) Jerusalem

9,3-8

Nähe von Damaskus, Bekehrung

9,9-25

In Damaskus bei Hananias, erste Predigttätigkeit und Flucht

9,26-29

In Jerusalem, erste Kontakte zu den Christen

9,30

In Cäsarea und Tarsus

11,25f.

Von Tarsus nach Antiochia, dort ein Jahr Lehrtätigkeit zusam‐ men mit Barnabas

11,30

Überbringung der Agabuskollekte nach Jerusalem

13,1-14,28

1. Missionsreise: Barnabas und Paulus Zypern mit Salamis und Paphos Perge/Pamphylien Antiochia/Pisidien Ikonium Lystra Derbe Rückkehr nach Antiochia über Attalia

15,1-29

Apostelkonvent in Jerusalem

15,30-35

Paulus und Barnabas als Lehrer und Prediger in Antiochia

44

45 46

Das ist an sich Konsens, vgl. R.I. Pervo, Profit with Delight. The Literary Genre of the Acts of the Apostles, Philadelphia 1987, 53. Kritisch aber jetzt wieder M. Reiser, Von Cäsarea nach Malta. Literarischer Charakter und historische Glaubwürdigkeit von Act 27, in: F.W. Horn, Ende, 49-74. Ausführlich dazu H. Omerzu, Das Schweigen des Lukas. Überlegungen zum offenen Ende der Apostelgeschichte, in: Horn, Ende, 127-156. Vgl. im vorliegenden Band die Tabelle zur Chronologie des Paulus im Beitrag „Das Leben des Paulus“ von E. Ebel, sowie im Beitrag „Das Missionswerk des Paulus“ von E. Ebel den Abschnitt „Die Reisen des Paulus“.

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

15,36-18,22

2. Missionsreise: Paulus und Silas (und Timotheus) Derbe Lystra Phrygien Galatien Mysien Troas Griechenland (Makedonien und Achaia) Samothrake Neapolis Philippi Amphipolis Apollonia Thessaloniki Beröa Athen Korinth Kenchreä Ephesus Cäsarea Jerusalem Antiochia

18,23-21,17

3. Missionsreise: Paulus Galatien Phrygien Ephesus (zwei Jahre Lehrer in der Schule des Tyrannus) Makedonien Hellas Makedonien Philippi Troas Assos Mitylene – Chios – Samos Kos – Rhodos – Patara – Tyrus – Ptolemais – Cäsarea – Jerusalem

21,18-23,30

In Jerusalem

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23,31-26,32

Gefangen in Cäsarea

27,1-28,13

Auf dem Weg nach Rom als Gefangener: Sidon – Myra – Salmone – Lasäa (Kreta) – Malta – Syrakus – Rhegion – Puteoli – Rom

28,16-30

Paulus als gefangener Verkündiger und Lehrer in Rom (zwei Jahre)

5.2 Traditionen

Das auf diese Weise zustande kommende Portrait des Paulus als eines Man‐ nes, der sich vom wutschnaubenden Verfolger zum bis dahin erfolgreichsten Missionar der frühen Kirche entwickelt und den neuen Glauben gegen alle Widerstände und Anfechtungen bis nach Rom trägt, verdankt sich nicht allein der gestaltenden Hand des Lukas. Vielmehr kann der Actaverfasser auf eine Reihe von einzelnen Traditionen zurückgreifen, die nach Form und Charakter allerdings sehr unterschiedlich sind. Sie dürften bereits zu Lebzeiten des Apostels entstanden sein (vgl. Gal 1,23!) und wachsen sich zunehmend zur „Pauluslegende“ aus. Dazu gehören einzelne umlaufende Wundergeschichten und Legenden (wie z. B. 13,8-12; 14,8-18; 16,16-18), die sich „dem theologischen Verlangen im Vulgärchristentum wurzelnder Kreise nach erbaulicher Kunde von den einstigen Machterweisen des zum verehrten Wundermann gewordenen Apostels“ verdanken47, auf Paulus übertragene profane Anekdoten (wie 19,13-16; 20,7-12; 28,3-6), die 9,1-19 zugrunde liegende Bekehrungstradition, die vielleicht damaszenische Lo‐ kaltradition repräsentiert48, und natürlich Reisenotizen, die allerdings kaum aus erster, sondern aus zweiter oder dritter Hand stammen dürften. Auch die Erinnerung an die Leiden des Apostels war in der Pauluslegende nicht ganz vergessen (vgl. Apg 14,19f.; 16,19-24; 19,23-40), wenngleich der Anteil der Tradition im Einzelnen schwer zu bestimmen ist und das Bild des Wundermanns eindeutig überwiegt. 5.3 Das lukanische Paulusbild

Mit der Stilisierung Pauli zum Wundermann ist auch ein Charakteristikum genannt, das den Paulus der Apostelgeschichte deutlich vom Paulus der 47 48

E. Plümacher, Art. Apostelgeschichte, 499. Eingehend dazu B. Heininger, Paulus als Visionär. Eine religionsgeschichtliche Studie (HBS 9), Freiburg i.Br 1996, 211-234.

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

Briefe unterscheidet. Zwar konstatiert Paulus selbst in Röm 15,18f. und 2 Kor 12,12, dass er die „Zeichen des Apostels … in aller Ausdauer durch Zeichen und Wunder und machtvolle Taten“ gewirkt habe, aber erst die Apostel‐ geschichte malt das Bild von Paulus als Wundertäter mit „magischem An‐ strich“ richtig aus49: Die erste Wundertat ist ein Strafwunder, die Blendung des jüdischen Rivalen Barjesus Elymas (Apg 13,4-12), daran schließen sich die Heilung eines Gelähmten in Lystra (14,8-20), die Austreibung eines Wahrsagegeistes in Philippi (16,16-18) und die Heilung vieler Kranker in Ephesus an (19,8-10), die ihr Spezifikum darin hat, dass Paulus nicht mehr direkt, sondern mittels seiner Schweiß- und Lendentücher heilt, an denen die Kraft des Wundertäters offenbar magisch haftet.50 Hinzu kommen noch eine Totenerweckung in Troas (20,7-12) und eine Fieberheilung sowie die The‐ rapie aller übrigen Kranken auf Malta (28,8-10), nachdem Paulus unmittelbar zuvor einen Schlangenbiss schadlos überlebt hatte (28,3-6). Anders als in Lystra, wo Paulus die ihm und Barnabas zuteil gewordene göttergleiche Ver‐ ehrung noch zurückgewiesen hatte (14,12-17), widerspricht er der Meinung der Umstehenden, „er sei ein Gott“ (28,6), am Ende der Apostelgeschichte auf der Insel Malta nicht mehr – Indiz dafür, dass der Apostel (obwohl ihm Lukas dieses Prädikat gerade verweigert) unter der Hand des Actaverfassers peu à peu zum θεῖος ἀνήρ, zum „göttlichen Menschen“, gewachsen ist. Damit übertrifft er nicht nur Petrus, die dominierende Gestalt des ersten Teils der Apostelgeschichte, bei weitem, sondern nähert sich auch Jesus von Nazaret, dem Helden des ersten lukanischen Werkes, signifikant an. Paulus ist in der Apg aber nicht nur Wundermann, sondern auch (phi‐ losophischer) Lehrer.51 Fungiert er auf der ersten Missionsreise noch als eine Art Juniorpartner des Barnabas, so emanzipiert er sich ab der zweiten Missionsreise zusehends und steigt selbst zum Leiter eines Missionsteams auf. Sein Auftritt in Athen (17,16-34) ist dann unverkennbar nach dem Vorbild griechischer Philosophen modelliert. Dafür sorgt nicht nur der Umstand, dass Paulus mit epikureischen und stoischen Philosophen ins Gespräch kommt, sondern auch die von Lukas sehr geschickt durchgeführte

49 50 51

Vgl. B. Kollmann, Paulus als Wundertäter, in: ders., Paulinische Christologie. Exegeti‐ sche Beiträge, FS H. Hübner, Göttingen 2000, 76-96. Vgl. dazu B. Heininger, Dunstkreis; weiter H.-J. Klauck, Magie und Heidentum in der Apostelgeschichte (SBS 167), Stuttgart 1996. Dazu ausführlich B. Heininger, Tarsus, 125-143.

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Sokratesmimesis52 sowie die rhetorisch nach allen Regeln der Kunst aufge‐ baute Rede (mit captatio benevolentiae etc.), die das hellenistische Missions‐ kerygma (Abkehr von den nichtigen Götzen; Hinwendung zu dem einen Gott) mit stoischen Theologoumena verbindet. Dass der sich über zwei Jahre hinweg erstreckende Unterricht in Ephesus nach Art eines philosophischen Unterrichts im „Lehrsaal des Tyrannus“ (19,8-10!) stattfindet, liegt ebenfalls auf dieser Linie. Die historische und theologische Bedeutung Pauli erschöpft sich aber keineswegs in seiner Charakterisierung als Wundertäter und philosophisch gebildeter, missionarisch wirkender Wanderlehrer. Seine historische Bedeu‐ tung zeigt sich vielmehr darin, dass der Weg der Kirche vom Judentum zum Heidentum in seiner Person paradigmatisch anschaulich wird. Gerade vor dem Hintergrund einer weithin erfolglosen Judenmission, deren Scheitern schon auf der ersten Missionsreise konstatiert (13,46) und die in 28,25-27 als Verstockung interpretiert wird, während ihr auf der anderen Seite die Hör- und Glaubensbereitschaft der Heiden korrespondiert, stellt Lukas Paulus sehr bewusst als einen tora- und tempeltreuen Juden dar, der Israels ureigenste Hoffnungen verkörpert. Damit garantiert er zugleich die heilsgeschichtliche Kontinuität innerhalb der Wende der urchristlichen Mis‐ sionsgeschichte von den Juden zu den Heiden. Für Lukas ist Paulus folglich der Repräsentant der zweiten Christengeneration. Oder noch einmal anders formuliert: „Paulus ist für die Kirche des Lukas zur Identifikationsfigur geworden, anhand derer sie die in der eigenen Geschichte vollzogene Wende verstehend verarbeitet.“53 Die Person des Paulus wäre aber theologisch immer noch unzureichend erfasst, wenn der Hinweis auf seine Bestimmung als Zeuge und die damit verbundene Leidensbereitschaft fehlte. Sowohl in seiner Apologie vor dem jüdischen Volk als auch in seiner Apologie vor König Agrippa unterstreicht Paulus, dass seine Berufung vor Damaskus keinem anderen Zweck diente, als ihn zum Zeugen dessen zu erwählen, was er gesehen und gehört habe (vgl. 22,14; 26,16). Der lukanische Paulus weiß, dass dieses Zeugesein nur um den Preis des Leidens zu haben ist. Daher ist er bereit, sich „in Jerusalem nicht nur binden zu lassen, sondern auch zu sterben für den Namen des

52 53

Dazu zählen: (1) der Umstand, dass Paulus auf dem Marktplatz zufällig vorbeikom‐ mende Passanten anspricht, (2) dass er als Verkünder fremder Gottheiten apostrophiert wird und (3) die Anrede ἄνδρες Ἀθηναῖοι in V.22. J. Roloff, Paulus-Darstellung, 520.

Die Rezeption des Paulus im 1. Jahrhundert

Herrn Jesus Christus“ (21,13). Erzählerisch setzt Lukas das so um, dass er die Passion Pauli mehrfach nach dem Vorbild der Passion Jesu im Evangelium modelliert. An Paulus zeigt sich, dass der Weg des einzelnen Glaubenden wie der Weg der ganzen Kirche ein Weg des leidenden Gehorsams ist (Apg 14,22), der der von Jesus in seinem Leidenszeugnis gesetzten Norm entspricht. 6 Literatur 6.1 Literatur zum Kolosserbrief (s. auch zu Eph) Forschungsüberblick/Lexikonartikel:

J.-N. Aletti, Art. Kolosserbrief, RGG4 4 (2001), 1502f. J. Ernst, Art. Kolosserbrief, TRE 19 (1990), 370-376. H. Hübner, Die Diskussion um die deuteropaulinischen Briefe seit 1970. I. Der Kolosserbrief (I.II), ThR 68 (2003), 263-285.395-440. Kommentare:

J.-N. Aletti, Saint Paul. L’Epître aux Colossiens. Introduction, traduction et commen‐ taire (EtB N.S. 20), Paris 1993. L. Bormann, Der Brief des Paulus an die Kolosser (ThHK 10/I), Leipzig 2012. J. Gnilka, Der Kolosserbrief (HThK 10/1), Freiburg i.Br. 1980. H. Hübner, An Philemon. An die Kolosser. An die Epheser (HNT 12), Tübingen 1997. E. Lohse, Die Briefe an die Kolosser und Philemon (KEK 9/2), Göttingen 151977. U. Luz, Der Brief an die Kolosser, in: J. Becker/U. Luz, Die Briefe an die Galater, Epheser und Kolosser (NTD 8/1), Göttingen 1998, 181-244. I. Maisch, Der Brief an die Gemeinde in Kolossä (Theol. Komm. zum NT 12), Stuttgart 2003. M.Y. MacDonald, Colossians and Ephesians (Sacra Pagina 17), Collegeville 2000. P. Pokorny, Der Brief des Paulus an die Kolosser (ThHK 10/1), Berlin 21990. E. Schweizer, Der Brief an die Kolosser (EKK 12), Zürich/Neukirchen-Vluyn 31989. M. Wolter, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon (ÖTK 12), Gütersloh 1993. Monographien und Aufsätze:

E. Arnold, The Colossian Syncretism. The Interface between Christianity and Folk Belief at Colossae (WUNT II/77), Tübingen 1995. A.R. Bevere, Sharing in the Inheritance. Identity and the Moral Life in Colossians (JSNT.S 226), Sheffield 2003.

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Die Rezeption des Paulus im 2. Jahrhundert

A NDREAS L INDEMANN

Die außerordentliche Wirkung des Apostels Paulus in der frühen Kirche zeigt sich sowohl an der Tatsache, dass schon sehr bald nach seinem Tode Briefe unter seinem Namen verfasst wurden, als auch vor allem daran, dass Autoren sich bereits im 1. Jh. in ihrer theologischen Argumentation ausdrücklich auf Paulus und auf seine besondere Autorität bezogen; ältestes Zeugnis ist die lukanische Apostelgeschichte. Über die Rezeption des Paulus und seiner Theologie im 2. Jh. gab es in der Forschung hingegen lange Zeit die Vorstellung, Paulus sei, vor allem durch seine Aufnahme in gnostischen Texten, als „der Apostel der Häretiker“ angesehen worden, und deshalb habe die „rechtgläubige“ Kirche große Probleme gehabt, sich auf Paulus zu berufen und das Erbe der Paulusbriefe zu bewahren. Man berief sich für diese Annahme vor allem auf den Kirchenvater Tertullian, der Paulus einmal tatsächlich als haereticorum apostolus bezeichnet1; diese Aussage zeigt sich allerdings in einem anderen Licht, wenn man sie im Zusammenhang liest: Tertullian setzt sich mit der von der Großkirche als häretisch angesehenen Theologie Marcions auseinander, der sich auf Paulus berufen hatte, und dabei zeigt Tertullian, dass die scheinbar Marcions Denken bestätigenden Aussagen in Wahrheit die Position der „rechtgläubigen“ Kirche bestätigen. Es geht konkret um die von Marcion abgelehnte allegorische Auslegung des Alten Testaments2, und hier zeigt Tertullian anhand von 1 Kor 9,9, dass Paulus dieses hermeneutische Verfahren selber praktiziert hat, dass also der haereticorum apostolus in Wahrheit auf der „richtigen“ Seite steht. 1 2

Tertullian, Adversus Marcionem III 5,4:. Marcion hat nicht, wie es oft formuliert wird, „das Alte Testament verworfen“, sondern er sah in ihm die Überlieferung des Schöpfergottes, der mit dem in Christus offenbaren Erlösergott nicht identisch ist (s. u.). Vgl. S. Moll, The Arch-Heretic Marcion (WUNT 250), Tübingen 2010, 78–83.

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Das ganze fünfte Buch der Schrift „Adversus Marcionem“ ist eine breit angelegte Widerlegung der Paulusdeutung Marcions aus der Sicht der „rechtgläubigen“ Kirche. Gegen Ende des 2. Jh.s besaßen Paulus und seine Briefe in der Kirche eine uneingeschränkt anerkannte Autorität. Für Irenäus von Lyon ist es ein Indiz für die „Ketzerei“ der judenchristlichen Gruppe der Ebioniten, dass sie Paulus ablehnen (Adv Haer I 26,2); er selber beruft sich ohne jede Diskussion zur Klärung theologischer Probleme ganz selbstverständlich auf Paulus. Wie sah die Paulusrezeption und -interpretation im 2. Jh. aus? Diese Frage soll mit Blick auf die christliche Literatur aus dieser Zeit beantwortet werden. Bereits in den letzten Jahrzehnten des 1. Jh.s waren unter dem Namen des Paulus Briefe verfasst und in Umlauf gebracht worden, die von der Kirche als echte Paulusbriefe rezipiert wurden. Nahezu gleichzeitig wurde damit begonnen, die an die verschiedenen Gemeinden gerichteten Briefe in Abschriften auch anderen Gemeinden zugänglich zu machen und gezielt zu sammeln; erstes Indiz dafür ist Kol 4,16.3 Schon um die Wende vom 1. zum 2. Jh.4 beriefen sich christliche Autoren ausdrücklich auf Paulus und nahmen seine Briefe für ihre Argumentation in Anspruch. Dabei ist die Differenz der Vorgehensweisen deutlich: Die Autoren der pseudopau‐ linischen Briefe schlüpfen in die Maske des Apostels und verfassen ihre Texte so, als stammten sie aktuell von Paulus selber5, die im Folgenden darzustellenden späteren Autoren beziehen sich dagegen ausdrücklich auf Paulus als Autorität zurück; in beiden Fällen setzen die Autoren voraus, dass die Autorität des Paulus von den jeweiligen Adressaten anerkannt wird.6 3 4

5

6

Vgl. dazu A. Lindemann, Die Sammlung der Paulusbriefe im 1. und 2. Jahrhundert, in: J.-M. Auwers/H.J. de Jonge (Ed.), The Biblical Canons (BEThL 163), Leuven 2003, 321–351. Angaben wie „1. Jahrhundert“ oder „2. Jahrhundert“ sind insofern natürlich missver‐ ständlich, als das Jahr 100 christlicher Zeitrechnung von niemandem als eine „Jahrhun‐ dertwende“ wahrgenommen wurde. Gleichwohl soll der Einfachheit halber an dieser Terminologie festgehalten werden. Das ist ein wichtiger Aspekt: Die pseudopaulinischen Briefe sind fiktiv an die Zeitge‐ nossen des Apostels gerichtet, sie sprechen nicht von einer noch bevorstehenden Zeit.; das gilt auch für die Briefe „an Timotheus“ und „an Titus“, die eine deutlich später kirchliche Situation voraussetzen und dabei den Eindruck erwecken, sie seien von Paulus geschrieben worden. Die Produktion pseudopaulinischer Briefe hört freilich nicht auf; so gibt es etwa einen an Kol 4,16 anknüpfenden „Laodicenerbrief“, einen „Dritten Korintherbrief“ und sogar einen Briefwechsel zwischen Paulus und dem Philosophen Seneca. Aber diese Schriften sind in ihrem Charakter als literarische Fälschungen stets sofort identifiziert worden.

Die Rezeption des Paulus im 2. Jahrhundert

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Folgende Texte spielen für die Paulusrezeption im 2. Jh. eine Rolle: 1 Clemensbrief Ignatiusbriefe

Ende 1. Jh. n. Chr. (?) nach Ephesus nach Magnesia nach Tralles nach Rom nach Philadelphia nach Smyrna an Polykarp

ca. 130/140 n. Chr. (?)

Polykarp an die Philipper

gegen 135 n. Chr.

Schrift „An Diognet“

Ende 2. Jh. (?)

Gebet des Apostels Paulus

2. Hälfte 2. Jh. oder 3. Jh.

Apokalypse des Paulus

2. Hälfte 2. Jh.

[Schriften Marcions]

Mitte 2. Jh.

Akten der Märtyrer von Scili

Ende 2. Jh.

Acta Pauli

Ende 2. Jh.

3. Korintherbrief Acta Pauli et Theclae

[Kerygmata Petrou]

2. Jh.

1 1. Clemensbrief

Der Erste Clemensbrief, der wahrscheinlich im letzten Jahrzehnt des 1. Jh.s in Rom verfasst wurde, ist ein ungewöhnlich umfangreiches Schreiben: „Die Kirche Gottes, die Rom als Fremde bewohnt“ (ἡ ἐκκλησία τοῦ θεοῦ ἡ παροικοῦσα Ῥώμην) wendet sich an „die Kirche Gottes, die Korinth als Fremde bewohnt“ (τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ θεοῦ τῇ παροικοῦσῃ Κόρινθον)7, aus Anlass der Tatsache, dass in der korinthischen Gemeinde Presbyter ihres Amtes enthoben worden waren. Die römische ἐκκλησία bzw. jedenfalls der

7

Der Name Clemens, der der dritte römische Bischof gewesen sein soll, hat sich erst später mit diesem Gemeindebrief verbunden; im 1 Clem selber kommt der Name Clemens nicht vor.

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Autor des 1 Clem8 sah darin ein unerträgliches Zeichen von „Streit und Aufruhr“ (3,2), wie sie – so heißt es in 2,6 ausdrücklich – bis dahin in Korinth gänzlich unbekannt gewesen waren. Man weiß in Rom, dass die korinthische Gemeinde eine Gründung des Paulus war; man weiß auch, dass es zur Zeit des Paulus dort schon einmal Spaltungen gegeben hatte (vgl. 1 Kor 1–3), doch seien diese gegenüber den jüngsten Vorgängen als vergleichsweise harmlos anzusehen (s. u.). Aus 1 Clem 47 geht hervor, dass man in Rom den Ersten Korintherbrief des Paulus kennt und dass man es für sinnvoll hält, sich den korinthischen Christen gegenüber auf Aussagen dieses Briefes zu berufen. Die Formu‐ lierung in 47,1: „Nehmt den Brief (τὴν ἐπιστολήν) des seligen Apostels Paulus zur Hand“ lässt fragen, ob der Zweite Korintherbrief in Rom nicht bekannt war oder ob er als solcher womöglich noch gar nicht existierte9; die Anspielungen in 1 Clem 47,1–4 aber verweisen so deutlich auf den Ersten Korintherbrief des Paulus, dass Folgerungen mit Blick auf den „Zweiten Korintherbrief“ nicht gezogen werden sollten. Welche Vorgeschichte der Absetzung der Presbyter in Korinth vorange‐ gangen war und aus welchen konkreten Gründen sie dann ihr Amt verloren hatten, geht aus 1 Clem nicht hervor. Nach Meinung der römischen Kirche hatten die korinthischen Presbyter ihr Amt „tadellos“ versehen (44,4), aber ob dieses Urteil der Realität entsprach, vermögen wir nicht zu beurteilen. Die Tatsache, dass 1 Clem erhalten blieb und später in Korinth regelmäßig verlesen wurde10, spricht allerdings für die Annahme, dass der römische Brief die Lage in Korinth im Wesentlichen korrekt erfasst zu haben scheint.

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1 Clem ist sicherlich von einem einzelnen und nicht von einem Kollektiv verfasst worden, wenn auch wohl im Auftrag bzw. mit ausdrücklicher Billigung durch die römische Gemeinde. In der Exegese wird oft – m.E. zutreffend – angenommen, dass sich 2 Kor einer sekundären Redaktion von ursprünglich mehreren kleineren Briefen verdankt; vgl. H. Conzelmann/A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament (UTB 52), Tübingen 14 2004, 270–273; ferner A. Lindemann, „… an die Kirche in Korinth samt allen Heiligen in ganz Achaja“. Zu Entstehung und Redaktion des „2. Korintherbriefes“, in: D. Sänger (Hg.), Der zweite Korintherbrief. Literarische Gestalt−historische Situation−theologi‐ sche Argumentation. Festschrift zum 70. Geburtstag von Dietrich-Alex Koch (FRLANT 250), Göttingen 2012, 131-159. Im vorliegenden Band vgl. den Beitrag von E.-M. Becker zum 2 Kor. Euseb, h.e. IV 23,11 zitiert aus einem Brief des Dionysios, der um 170 berichtet, 1 Clem werde in Korinth im Gottesdienst verlesen; vgl. A. Lindemann, Die Clemensbriefe (HNT 17: Die Apostolischen Väter I), Tübingen 1992, 11f.

Die Rezeption des Paulus im 2. Jahrhundert

Im Eingangsteil des 1 Clem11 werden Beispiele dafür genannt, dass „Eifersucht und Neid, Streit und Aufruhr“ schon in biblischer Zeit unter den Menschen geherrscht hätten – der Autor zitiert ausführlich die Geschichte von Kain und Abel (4,1–6), und er verweist zuletzt auf die Verfolgung Davids durch Saul (4,13). Doch auch in der jüngsten Vergangenheit habe es „edle Beispiele“ dafür gegeben, dass Eifersucht und Neid zur Verfolgung und zum Tode „der größten und gerechtesten Säulen“ geführt hätten (5,2); genannt werden „die tapferen Apostel“ (5,3), und zwar zuerst mit wenigen Worten Petrus und dann recht ausführlich Paulus. Petrus, der wegen ungerechtfertigter Eifersucht nicht eine und nicht zwei, sondern viele Mühen erduldet hat und der so – nachdem er Zeugnis abgelegt hatte (οὕτω μαρτυρήσας) – gelangt ist an den (ihm) gebührenden Ort. 5 Wegen Eifersucht und Streit hat Paulus den Kampfpreis der Geduld aufgewiesen: 6 Siebenmal Ketten tragend, vertrieben, gesteinigt, Herold im Osten wie im Westen, hat er den edlen Ruhm für seinen Glauben empfangen. 7 Gerechtigkeit hat er die ganze Welt gelehrt, und er ist bis an die Grenze des Westens gelangt und hat Zeugnis abgelegt (μαρτυρήσας) vor den Führenden; so ist er aus der Welt geschieden und ist an den heiligen Ort gelangt – größtes Vorbild der Geduld. 4

Die Aussagen über Paulus, obwohl sehr viel detaillierter als die über Petrus, lassen historisches Wissen zur Biographie des Paulus kaum erkennen; das gezeichnete Bild ist recht stilisiert, vielleicht nimmt es Vorstellungen auf, wie sie in dem Peristasenkatalog 2 Kor 11,23–27 begegnen. Die Aussage in 5,7, Paulus habe die ganze Welt „Gerechtigkeit gelehrt“ (δικαιοσύνην διδάξας ὅλον τὸν κόσμον), könnte eine Anspielung auf das vor allem im Römerbrief belegte paulinische Reden von der Gerechtigkeit Gottes sein.12 Der Hinweis, Paulus sei bis an die Grenze des Westens gelangt und habe „vor den Führenden Zeugnis abgelegt“ (μαρτυρήσας ἐπὶ τῶν ἡγουμένων), ist vielleicht ein früher Hinweis auf die Überlieferung, dass Paulus während der neronischen Verfolgung der Christen in Rom das Martyrium erlitt.

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Die Zitate aus 1 Clem sind übernommen aus: Die Apostolischen Väter. Griechisch-deut‐ sche Parallelausgabe auf der Grundlage der Ausgaben von F.X. Funk/K. Bihlmeyer und M. Whittaker, mit Übersetzungen von M. Dibelius und D.-A. Koch, neu übers. u. hg. v. A. Lindemann/H. Paulsen, Tübingen 1992. Übersetzung des 1 Clem von A. Lindemann. In 1 Clem 31–33 findet sich dann, wenn auch ohne ausdrückliche Erwähnung des Paulus, eine recht ausführliche Bezugnahme auf den Gedanken der Gerechtigkeit aus Glauben, wofür Abraham als Beweis angeführt wird (31,2; vgl. 32,4). Vgl. dazu B.J. Arnold, Justification in the Second Century (SBR 9), Berlin 2017, 18–35.

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Unklar ist in diesem Zusammenhang allerdings die Notiz, Paulus habe „die Grenze des Westens erreicht“ (ἐπὶ τὸ τέρμα τῆς δύσεως ἐλθών): Denkt der Verfasser hier an Spanien und womöglich an die „Säulen des Herakles“, die als „äußerster Westen“ galten, und wäre 1 Clem dann also ein Zeugnis für die tatsächliche oder jedenfalls vom Verfasser des 1 Clem angenommene Durchführung der gemäß Röm 15,24 geplanten Spanienmission des Paulus? Oder ist nur an den westlichsten Punkt der Vita des Paulus gedacht, also an Rom? Das mag in einem in Rom verfassten Brief befremdlich wirken, aber die Formulierung könnte mit Blick auf die Perspektive der korinthischen Adressaten gewählt worden sein.13 Entscheidend ist, dass von Paulus, dessen Wirken die Korinther natürlich kennen, gesagt wird, er sei „größtes Vorbild der Geduld“ geworden (ὑπομονῆς γενόμενος μέγιστος ὑπογραμμός). Petrus und vor allem Paulus gelten also als Menschen, die im Gegensatz zu den ge‐ genwärtig in Korinth lebenden Mitgliedern der Gemeinde nicht Eifersucht, Streit und Aufruhr praktizierten, sondern die im Gegenteil Eifersucht und Neid zu ertragen vermochten und so nach ihrem Tode „an den Ort der Herrlichkeit“ (τόπον τῆς δόξης, 5,4) bzw. „an den heiligen Ort“ (εἰς τὸν ἅγιον τόπον, 5,7) gelangten. 1 Clem ist, soweit wir wissen, die erste Schrift, in der ausdrücklich jene Vorstellung begegnet, die später mit dem Begriff „apostolische Sukzession“ bezeichnet wird: Die Apostel seien von Christus „mit dem Evangelium beauftragt“ worden (εὐηγγελίσθησαν, 42,1), und sie hätten ihrerseits in Ländern und Städten ihre „Erstlinge“ (τὰς ἀπαρχὰς αὐτῶν) zu „Episkopen und Diakonen“ der künftig Glaubenden eingesetzt, entsprechend dem „irgendwo“ (ποῦ) überlieferten Schriftwort: „Ich werde einsetzen ihre Episkopen in Gerechtigkeit und ihre Diakonen in Treue.“14 Im 1 Clem wird angenommen, dass die Presbyter, deren Stellung mit dem „Amt der Aufsicht“ (ἐπισκοπή) identifiziert wird, von den Aposteln eingesetzt worden waren, weil sie durch Christus wussten, es werde über dieses Amt zum Streit kommen (1 Clem 44). In Korinth war die Absetzung der Presbyter möglicherweise erfolgt, weil darauf verwiesen wurde, dass Paulus dort gar 13 14

Zur Diskussion vgl. Lindemann, Clemensbriefe (Anm. 10), 39; ferner H.E. Lona, Der erste Clemensbrief (KAV 2), Göttingen 1998, 165. Der Verfasser zitiert, wenn auch recht ungenau, Jes 60,17b LXX: … καὶ δώσω τοὺς ἄρχοντας σου ἐν εἰρήνῃ καὶ τοὺς ἐπισκόπους σου ἐν δικαιοσύνῃ. Mit dem nur hier sowie in 42,5 (außerdem als Gottesprädikat in 59,3) begegnenden Begriff ἐπίσκοποι sind noch nicht „Bischöfe“ gemeint, sondern allgemein Menschen, die ein „Aufsichtsamt“ wahrnehmen (vgl. im NT: Phil 1,1).

Die Rezeption des Paulus im 2. Jahrhundert

keine Presbyter eingesetzt hatte. Im 1 Clem wird denn auch nicht gesagt, die jetzt abgesetzten Presbyter (oder deren Vorgänger) hätten ihr Amt dem Apostel verdankt. Es wird aber darauf verwiesen, dass Paulus selber einst sehr kritisch über eine korinthische Parteienbildung geurteilt hatte (47,1); dazu wird gesagt, die damaligen Vorgänge seien noch tolerabel gewesen, da sich die Parteien auf zwei Apostel (Petrus und Paulus) sowie auf einen „nach ihrem Urteil erprobten Mann“ (Apollos) bezogen, mit denen die „ein oder zwei Personen“ (ἓν ἢ δύο πρόσωπα), die jetzt die korinthische Kirche zum Aufstand gegen die Presbyter verführt hatten, überhaupt nicht zu vergleichen seien: Jetzt aber bedenkt, was für Leute euch auf verkehrten Weg geführt und das Ansehen eurer allseits bekannten Bruderliebe vermindert haben! 6 Es ist schändlich, Geliebte, überaus schändlich und der Lebensführung in Christus unwürdig (ἀνάξια τῆς ἐν Χριστῷ ἀγωγῆς), wenn man hört, daß die sehr gefestigte und alte Kirche der Korinther wegen ein oder zwei Personen sich gegen die Presbyter erhebt. 7 Und diese Kunde drang nicht nur zu uns, sondern auch zu denen, die anders gesinnt sind als wir, so daß auch Lästerungen vorgebracht werden gegen den Namen des Herrn wegen eures Unverstandes, für euch selbst aber obendrein Gefahr bewirkt wird. 5

Der Verfasser stellt etwas später fest (49,1), wer Liebe ἐν Χριστῷ habe, solle die Gebote Christi tun (ὁ ἔχων ἀγάπην ἐν Χριστῷ ποιησάτω τὰ τοῦ Χριστοῦ παραγγέλματα), was an das Verhältnis von „Indikativ“ und „Imperativ“ bei Paulus erinnern könnte; in der näheren Beschreibung dessen, was „Liebe“ heißt, gibt es dann (49,5) deutliche und recht ausführliche Anspielungen auf 1 Kor 13.15 Der Erste Clemensbrief zeigt, dass gegen Ende des 1. Jh.s, also etwa dreißig bis vierzig Jahre nach dem Tode des Paulus, der Römerbrief des Paulus in Rom natürlich bekannt ist, ebenso aber auch dessen erster (erhaltener) Brief an die korinthische Gemeinde; dabei wird vorausgesetzt, dass dieser Brief in Korinth selbstverständlich ebenfalls „zur Hand“ ist (47,1). Die paulinischen Briefe haben natürlich noch keine „kanonische“ Qualität16, d. h. sie stehen 15 16

Vgl. Lona, Der erste Clemensbrief (Anm. 13), 527. Die Verwendung des Begriffs „Kanon“ ist mit Blick auf diese Zeit ohnehin nicht sachgemäß. Dazu D. Lührmann, Die apokryph gewordenen Evangelien. Studien zu neuen Texten und zu neuen Fragen (NT.S 112), Leiden 2004, 1–54.; ferner J. Schröter, Sammlungen der Paulusbriefe und die Entstehung des neutestamentlichen Kanons, in: Receptions of Paul in Early Christianity. The Person of Paul and His Writings Through

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nicht gleichberechtigt neben den biblischen („alttestamentlichen“) Schrif‐ ten17, die 1 Clem oft und ausführlich zitiert. Aber es darf andererseits nicht übersehen werden, dass andere urchristliche Schriften, die dann Teil des im 2. Jh. allmählich entstehenden „Neuen Testaments“ wurden, im 1 Clem nicht vorkommen. Zwar werden in 13,1f. und 46,7f. Worte Jesu zitiert, aber in beiden Fällen wird nicht auf einen bestimmten Text, womöglich auf eines der später „neutestamentlichen“ Evangelien verwiesen.18 Offenbar gab es ein starkes Interesse an Paulus, allerdings weniger an der inhaltlichen Rezeption oder an einer Weiterentwicklung der paulinischen Theologie als vielmehr vor allem daran, Paulus als Garanten für die sich entwickelnde kirchliche Ordnung anzusehen.19 Dass es in diesem Zusammenhang notwendig gewe‐ sen wäre, Paulus gegen aktuelle innerkirchliche Angriffe zu verteidigen oder dass es gar als ein „Risiko“ gegolten hätte, sich auf Paulus zu berufen, ist nicht erkennbar. Umgekehrt ist schon die Tatsache der Abfassung des 1 Clem und auch die dafür gewählte Briefform ein Indiz dafür, dass die Paulusbriefe dem Autor bzw. der römischen Gemeinde als zumindest formales Vorbild gedient hatten.20

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the Eyes of His Early Interpreters, ed. by J. Schröter/S. Butticaz/A. Dettwiler (BZNW 234), Berlin/Boston 2018, 799–822. Möglicherweise verhält es sich anders in 2 Petr 3,15f., wo die Briefe des Paulus neben „den übrigen Schriften“ genannt werden, ohne dass allerdings klar ist, welche Schriften mit der gegen „Irrlehrer“ gerichteten Wendung στρεβλώσουσιν … τὰς λοιπὰς γραφάς bezeichnet sind. 13,1b.2: „Laßt uns eingedenk sein der Worte des Herrn Jesus, die er gesprochen hat, als er lehrte Milde und Langmut. So nämlich hat er gesagt: Erbarmt euch, damit ihr Erbarmen erlangt; vergebt, damit euch vergeben werde. Wie ihr tut, so wird euch getan werden …“. Die Spruchreihe erinnert an die Bergpredigt, ohne dass eine Textvorlage erkennbar wäre. 46,7b.8: „Denkt an die Worte Jesu, unseres Herrn. Er hat nämlich gesagt: Wehe jenem Menschen! Es wäre für ihn besser, wenn er nicht geboren worden wäre, als dass er einem meiner Auserwählten Anstoß gibt …“ Diese Aussage wirkt wie eine freie Kombination von Mt 26,24b und Mt 18,6 (vgl. Lindemann, Clemensbriefe [Anm. 10], 137). Vgl. A. Gregory, First Clement, in: The Reception of Jesus in the First Three Centuries. Volume one. From Paul to Josephus: Literary Receptions of Jesus in the First Century CE, ed. Helen K. Bond, London 2020, 325–336, hier 333–335. Vgl. J. Verheyden, Paul, Clement and the Corinthians, in: Receptions of Paul (Anm. 16), 555–578. Zur Frage, welchen Anspruch „die Kirche in Rom“ im 1 Clem erhebt, vgl. A. Lindemann, Der „Erste Clemensbrief” und die Freiheit der Kirche, in: Bestimmte Freiheit. Festschrift für Christof Landmesser zum 60. Geburtstag, hg. von M. Bauspieß/J.U. Beck/F. Porten‐ hauser (ABG 64), Leipzig 2020, 219–244.

Die Rezeption des Paulus im 2. Jahrhundert

2 Ignatiusbriefe

Der zweite frühchristliche Autor, dessen Schriften explizite Bezugnahmen auf Paulus erkennen lassen, ist Ignatius von Antiochia. Die Datierung der sieben an christliche Gemeinden (Ignatius verwendet in der Adresse stets den Begriff ἐκκλησία) in Städten Kleinasiens und in Rom sowie an Polykarp von Smyrna gerichteten Briefe ist seit einiger Zeit wieder Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen; in diesem Zusammenhang wird erneut auch die Frage diskutiert, ob die der „mittleren Sammlung“ zuzuweisenden Briefe im historischen Sinne als „echt“ zu bezeichnen sind.21 Diese Frage dürfte positiv zu beantworten sein, denn es ist nicht zu erkennen, warum im Verlauf des 2. Jh.s ein sonst unbekannter antiochenischer ἐπίσκοπος namens Ignatius als Pseudonym hätte gewählt werden sollen, zumal die Briefe Verweise auf ihre (angeblich) frühe Entstehung nicht enthalten.22 Wahrscheinlich sind die Briefe tatsächlich in der in ihnen vorausgesetzten Situation verfasst wurden: Ignatius wird als Gefangener vom syrischen Antiochia entlang der Küste Kleinasiens nach Rom transportiert, wo er in der Arena im Tierkampf den Märtyrertod erleiden soll (Ign Röm 5). Fraglich ist aber, ob die Briefe – wie es in der Forschung lange Zeit angenommen wurde – bereits in die Zeit „um 110“ zu datieren sind. Dieses Abfassungsdatum ergab sich aus der oft angenommenen Nähe zum Brief‐ wechsel zwischen Plinius d.J. und Kaiser Trajan hinsichtlich der Frage des rechtlich begründeten Vorgehens gegen Christen23; spezifische Parallelen bestehen aber nicht. Umgekehrt verweist aber das in den Ignatiusbriefen sichtbar werdende Bild des ἐπίσκοπος als der zentralen Figur nicht nur in der Leitung der Gemeinde, sondern insbesondere auch in der Leitung des

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Vgl. R.M. Hübner, Thesen zur Echtheit und Datierung der sieben Briefe des Ignatius von Antiochien, ZAC 1 (1997), 44–72; Th. Lechner, Ignatius adversus Valentinianos? Chronologische und theologiegeschichtliche Studien zu den Briefen des Ignatius von Antiochien (SVigChr 47), Leiden 1999; dazu A. Lindemann, Antwort auf die „Thesen zur Echtheit und Datierung der sieben Briefe des Ignatius von Antiochien“, ZAC 1 (1997), 185–194 sowie meine Rezension des Buches von Lechner, ZAC 6 (2002), 157–161. Ein Plädoyer für den pseuepigraphischen Charakter der Ignatianen bei W. Schmithals, Zu Ignatius von Antiochien, ZAC 13 (2009) 181–203. Vgl. aber P. Foster, Ignatius, in: The Reception of Jesus in the First Three Centuries. Volume two. From Thomas to Tertullian. Christian Literary Receptions of Jesus in the Second and Third Centuries CE, ed. J. Schröter/Chr. Jacobi, London 2020, 41–58, hier 41–43. Plinius, ep X 96 f. Vgl. dazu K. Thraede, Noch einmal: Plinius d. J. und die Christen, ZNW 95 (2004), 102–128.

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gottesdienstlichen Geschehens24 nicht auf eine Abfassungszeit zu Beginn des 2. Jh.s25; es ist denkbar, dass die Briefe erst später, etwa um 130, entstanden sind.26 Ignatius dürfte in Antiochia sowohl Jesustradition27 wie auch Paulusbriefe bzw. -tradition kennengelernt haben. Die Ignatiusbriefe entstanden unter sehr schwierigen Bedingungen, denn Ignatius hatte als Gefangener bei der Abfassung der Briefe – zunächst in Smyrna, dann in Troas – schriftliche Quellen vermutlich nicht unmittelbar zur Verfügung. So sind die Anspielun‐ gen auf biblische, also alttestamentliche Schriften und auf christliche Texte offensichtlich aus dem Gedächtnis formuliert. Paulus wird zweimal namentlich erwähnt, zunächst in IgnEph 12,2 und dann in IgnRöm 4,328: IgnEph 12: 1 Ich weiß, wer ich bin und an wen ich schreibe. Ich bin ein Verur‐ teilter, ihr habt Erbarmen gefunden; ich bin in Gefahr, ihr seid gefestigt. 2 An euch führt der Weg derer vorbei, die durch ihren Tod zu Gott kommen, ihr seid Miteingeweihte (συμμύσται) des Paulus, des Geheiligten, des Wohlbezeugten, Preiswürdigen, in dessen Spuren mich zu befinden mir zuteil werden möchte, wenn ich zu Gott gelange, des Paulus, der euch in jedem Brief erwähnt in Christus Jesus. IgnRöm 4: 1 Ich schreibe an alle Kirchen und schärfe allen ein, dass ich freiwillig für Gott sterbe, wenn anders ihr mich nicht hindert … 2b Flehet Christus für mich an, damit ich durch diese Werkzeuge [sc. wilde Tiere in der Arena] als ein Opfer für Gott erfunden werde. 3 Nicht wie Petrus und Paulus befehle ich (διατάσσομαι) euch. Sie sind Apostel, ich ein Verurteilter; sie sind frei, ich aber bis jetzt ein Sklave. Wenn ich aber gelitten habe, werde ich ein Freigelassener Jesu Christi

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Bei Ignatius kann der Titel ἐπίσκοπος vielleicht schon im Sinne von „Bischof“ verstan‐ den werden, der als Einzelner eine gemeindeleitende Funktion innehat. Die Ignatianen wären in diesem Falle ja fast zeitgleich mit den neutestamentlichen Pastoralbriefen entstanden, die jedoch – ganz anders als die Ignatiusbriefe – noch kaum zwischen den πρεσβύτεροι und den ἐπίσκοποι differenzieren. Terminus post quem non für die Datierung der Ignatiusbriefe wäre der Brief des Polykarp (s. u.). S. dazu Foster (Anm. 22). Vgl. zum Folgenden A. Lindemann, Paul’s Influence on ‚Clement‘ and Ignatius, in: A.F. Gregory/Chr.M. Tuckett (Ed.), Trajectories through the New Testament and the Apostolic Fathers, Oxford 2005, 9–24, hier: 16–23. Die Zitate der Ignatiusbriefe oben im Text sind der in Anm. 11 genannten Ausgabe entnommen; Übersetzung von H. Paulsen.

Die Rezeption des Paulus im 2. Jahrhundert

sein und in ihm als Freier auferstehen (ἀναστήσομαι ἐν αὐτῷ ἐλεύθερος). Jetzt lerne ich als Gefesselter nichts zu begehren.

In IgnEph 12 ist der Hinweis auf Paulus sehr überschwenglich formuliert, er lässt aber näheres Wissen nicht erkennen. Auffallend ist die Formulierung, Paulus erwähne die Epheser „in jedem Brief“ (ἐν πάσῃ ἐπιστολῇ).29 Paulus nennt Ephesus explizit in 1 Kor 15,32 und 16,8, darüber hinaus spricht er in Röm 16,5 und 2 Kor 1,8 (vgl. 1 Kor 16,19) von der Asia, deren Hauptstadt Ephesus ja war. Berücksichtigt man, dass Ignatius den neutestamentlichen Epheserbrief und vielleicht auch die Pastoralbriefe kannte und natürlich für authentisch hielt30, und beachtet man, dass die neutestamentliche Apostel‐ geschichte eine enge und lang andauernde Beziehung des Paulus zu Ephesus schildert (Apg 19 f.), dann ist die Aussage in IgnEph 12,2 nicht unbedingt ein Indiz dafür, dass Ignatius den tatsächlichen Sachverhalt nicht kannte. Ihm kam es offenbar darauf an, durch den derart betonten Hinweis auf Paulus der Gemeinde in Ephesus in besonderer Weise Ehre zu bezeugen.31 Demgegenüber wirkt die Erwähnung des Paulus (an zweiter Stelle nach Petrus32) in IgnRöm 4,3 eher beiläufig; möglicherweise versteht Ignatius den paulinischen Römerbrief, den er offenkundig kennt, als eine „Weisung“, wie sie ihm selber in dieser Form nicht zustehe (οὐχ … διατάσσομαι); die Wendung bezieht sich aber zugleich auch auf Petrus, und so ist nicht klar, woran genau der antiochenische Bischof bei seiner Aussage gedacht haben könnte. In den theologischen Ausführungen des Ignatius lässt sich bei einigen Themen der Einfluss paulinischen Denkens bzw. paulinischer Formulierun‐ gen erkennen, ohne dass Ignatius ausdrücklich auf Paulus verweist oder aus einem seiner Briefe zitiert. In IgnEph 16,1 (μὴ πλανᾶσθε, ἀδελφοί μου οἱ οἰκοφθόροι βασιλείαν θεοῦ οὐ κληρονομήσουσιν, ähnlich IgnPhld 3,3)

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Die gelegentlich erwogene Übersetzung „in einem ganzen Brief“, womit dann der neutestamentliche Eph gemeint wäre, ist sprachlich nicht möglich. In meinem Aufsatz: Paulus in den Schriften der Apostolischen Väter, in: A. Lindemann, Paulus, 252–279, habe ich geschrieben, eine Kenntnis der Pastoralbriefe durch Ignatius sei „wohl auszuschließen“ (269 Anm. 63); dieses Urteil wäre zu korrigieren, wenn die Annahme der „Frühdatierung“ der Ignatianen (um 110) so nicht mehr zutreffen sollte (s. o.). Vgl. E. Norelli, La tradition paulinienne dans les lettres d’Ignace, in: Receptions of Paul (Anm. 16), 519–551. Vgl. 1 Clem 5,4–7 (s. o.).

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ist der Bezug zu 1 Kor 6,9f. deutlich.33 Zum paulinischen Einfluss dürfte der Gebrauch der Formel ἐν Χριστῷ gehören (IgnEph 20,2: „leben in Jesus Christus“); wenn es in Eph 18,1 heißt, das Kreuz sei für die Ungläubigen ein σκάνδαλον, „für uns aber Heil und ewiges Leben“, und wenn dann die rhetorische Frage folgt: „Wo ist ein Weiser? Wo ein Forscher? Wo der Ruhm derer, die man Verständige nennt?“, dann ist dies sicher nicht ohne Kenntnis von 1 Kor 1,18–24 formuliert worden.34 Im Brief an die Gemeinde in Magnesia setzt sich Ignatius in Kap. 8 f. in ähnlicher Weise wie Paulus im Galaterbrief mit „judaistischen“ Tendenzen auseinander; in 8,1 spricht er von einem „Leben κατὰ Ἰουδαϊσμόν“, er verwendet also denselben Begriff, mit dem Paulus in Gal 1,13f. seine Vergangenheit gekennzeichnet hatte. In geradezu paulinischer Weise verbindet er χάρις und πιστεύειν miteinander (8,2; 9,1). In Kap. 9 des Briefes an die Christen in Tralles warnt Ignatius vor doketistischer Christologie: So seid nun taub, wenn jemand zu euch redet ohne Jesus Christus, den aus Davids Geschlecht, den aus Maria (Stammenden), der wahrhaftig (ἀληθῶς) geboren wurde, aß und trank, wahrhaftig verfolgt wurde unter Pontius Pilatus, wahrhaftig gekreuzigt wurde und starb, während die himmlischen und irdischen und unterirdischen Mächte zuschauten, 2 der auch wahrhaftig von den Toten auferweckt wurde, indem ihn sein Vater erweckte, der nach seinem Bild auch uns, die an ihn Glaubenden, ebenso erwecken wird – sein Vater in Christus Jesus, ohne den wir das wahrhaftige Leben nicht haben. 1

Das hier erkennbare Argumentationsmuster, aus dem Glauben an die Auf‐ erweckung Jesu die Hoffnung auf die eigene Auferweckung abzuleiten, entspricht dem paulinischen Gedankengang sowohl in 1 Thess 4,14 als auch in 1 Kor 15. Eine konkrete Analogie zwischen Ignatius und Paulus liegt schon darin, dass Ignatius, auch wenn ihm dies vermutlich nicht bewusst war, als erster christlicher Autor nach Paulus unter eigenem Namen Briefe an Gemeinden schrieb. Ignatius erhebt gegenüber den Adressaten seiner Briefe zwar keinen

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Dazu Norelli (Anm. 31), 547–549. Vgl. IgnEph 18,1: ποῦ σοφός; ποῦ συζητητής; ποῦ καύχησις τῶν λεγομένων συνετῶν; mit Paulus 1 Kor 1,19f.: γέγραπται γάρ·ἀπολῶ τὴν σοφίαν τῶν σοφῶν καὶ τὴν σύνεσιν τῶν συνετῶν ἀθετήσω. ποῦ σοφός; ποῦ γραμματεύς; ποῦ συζητητὴς τοῦ αἰῶνος τούτου; οὐχὶ ἐμώρανεν ὁ θεὸς τὴν σοφίαν τοῦ κόσμου;

Die Rezeption des Paulus im 2. Jahrhundert

unmittelbaren Autoritätsanspruch35, aber er verweist immer wieder auf sein Amt als ἐπίσκοπος, und er plädiert nachdrücklich dafür, dass die Gemeinden, an die er schreibt, ihrem jeweiligen ἐπίσκοπος folgen sollen. Insofern spricht einiges für die Vermutung, dass Ignatius sich – auch wenn er das nicht explizit schreibt – als unmittelbar in der Nachfolge der Apostel stehend sieht. Zwar könnte man einwenden, dass er mit seiner Formulierung in IgnRöm 4,3 diese Vorstellung betont zurückweist (s. o.); aber die dortige Aussage für sich genommen führt ja überhaupt erst zu der Überlegung, dass Ignatius es für grundsätzlich möglich hielt, eine der apostolischen Autorität vergleichbare Stellung inne zu haben.36 3 Polykarp von Smyrna

Polykarp von Smyrna, der Mitte des 2. Jh.s das Martyrium erlitt37, schreibt einen Brief38 an die Gemeinde von Philippi39, der erkennen lässt, dass

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Das gilt für Paulus im Grunde nicht anders; aber die in der Regel die Briefe eröffnende Wendung Παῦλος ἀπόστολος impliziert unausgesprochen den Gedanken, dass der Briefschreiber bei den Adressaten eine ihm zukommende besondere Anerkennung voraussetzt. Vgl. D.M. Reis, Following in Paul’s Footsteps: Mimēsis and Power in Ignatius of Antioch, in: Trajectories (Anm. 28), 287–305. G. Buschmann, Art. Polykarp, RGG4 6 (2003), 479 f. nennt als mögliches Todesjahr 156 oder 167. Es handelt sich um ein Begleitschreiben zur Übersendung der Ignatiusbriefe nach Phi‐ lippi. In der Forschung ist allerdings umstritten, ob der Philipperbrief des Polykarp aus ursprünglich zwei Briefen besteht; in PolPhil 9 ist der Tod des Ignatius vorausgesetzt, in dem (nur lateinisch erhaltenen) Kap. 13 ist dagegen die Rede von Ignatius und denen qui cum eo sunt (Präsens), d. h. Ignatius scheint noch am Leben zu sein. Für die Datierungsfrage ist das literarkritische Problem freilich von eher geringer Bedeutung, wenn – wie oben angedeutet – die Ignatiusbriefe erst um 130/140 verfasst worden sein sollten. H. Paulsen (in der in Anm. 11 genannten Ausgabe, dort S. 242) datiert Phil 1–12 auf die Zeit „gegen 135“. Welches Amt Polykarp innehatte, geht aus dem Brief nicht hervor. Nach Irenäus (Haer III 3,4, vgl. Euseb, h.e. IV 14, 3,4) war er von den Aposteln als Bischof in Smyrna eingesetzt worden (ab apostolis in Asia in ea quae est Smyrnis ecclesia constitutus episcopus). Die Absenderangabe des Polykarpbriefs lautet aber einfach Πολυκάρπος καὶ σὺν αὐτῷ πρεσβύτεροι, der Brief richtet sich an τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ θεοῦ τῇ παροικοῦσῃ Φιλίππους.

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Polykarp über die Beziehung des Paulus zu dieser Gemeinde gut informiert ist.40 Er schreibt in Kap. 341: Dies, Brüder, schreibe ich euch über die Gerechtigkeit nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil ihr mich dazu aufgefordert habt. 2 Denn weder ich noch jemand anders meinesgleichen kann der Weisheit des seligen und berühmten Paulus nachkommen, der unter euch war und im persönlichen Umgang mit den damaligen Menschen gründlich und sicher das Wort von der Wahrheit gelehrt hat, der auch abwesend Briefe an euch geschrieben hat, durch die ihr auch, wenn ihr euch darin vertieft, erbaut werden könnt zu dem Glauben, der euch gegeben wurde; 3 er [sc. der Glaube] ist unser aller Mutter, dem die Hoffnung folgt und die Liebe zu Gott, Christus und dem Nächsten vorangeht. Wenn nämlich jemand in deren Bereich ist, der hat das Gebot der Gerechtigkeit erfüllt; denn wer die Liebe hat, ist fern von aller Sünde. 1

Nicht völlig klar ist die Aussage, Paulus habe Briefe (ἐπιστολάς, Plural) nach Philippi geschrieben. Gelegentlich gilt dies als Indiz für die Hypothese, der paulinische Philipperbrief bestehe aus ursprünglich mehreren Briefen; aber selbst wenn diese Hypothese zuträfe42, so wäre es doch überaus unwahrscheinlich, dass die dann anzunehmende Redaktion des jetzt vor‐ liegenden paulinischen Philipperbriefs zum Zeitpunkt der Abfassung des Philipperbriefs des Polykarp noch nicht erfolgt war. Wahrscheinlicher ist die Annahme, dass Polykarp bereits eine Sammlung von Paulusbriefen kennt und dass er nun zum Ausdruck bringen will, diese Briefe seien über die ursprünglichen Adressaten hinaus im Grunde „in Abwesenheit an euch“ geschrieben worden (ἀπὼν ὑμῖν ἔγραψεν). In PolPhil 9,1 werden, ähnlich wie in 1 Clem 5, „Vorbilder der Geduld“ vorgestellt. Das sind zunächst die Zeitgenossen Ignatius, Zosimos und Rufus sowie „andere von euch“ (ἐξ ὑμῶν), dann aber auch „Paulus und die übrigen Apostel“; dass Paulus ausdrücklich namentlich erwähnt wird, mag sich aus der brieflichen Situation des PolPhil ergeben, aber es ist dennoch auffällig. In Kap. 11 übt Polykarp scharfe Kritik an Valens, einem ehemaligen Presbyter der Gemeinde in Philippi, der sein Amt „derart verkannt“ habe (sic 40 41 42

Vgl. P. Oakes, Leadership and Suffering in the Letters of Polycarp and Paul to the Philippians, in: Trajectories (Anm 28), 353–370. Die Zitate aus dem Polykarpbrief sind der in Anm. 11 genannten Ausgabe entnommen. Übersetzung von H. Paulsen. M.E. ist der paulinische Philipperbrief literarisch einheitlich; s. Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch (Anm. 9), 249 f. – Vgl. den Beitrag von L. Bormann im vorliegenden Band.

Die Rezeption des Paulus im 2. Jahrhundert

ignoret is locum 43); der Kontext legt die Vermutung nahe, dass es um eine Verfehlung auf dem Sektor der Finanzen ging. Polykarp schreibt: Wer sich aber in diesen Dingen nicht selber beherrschen kann, wie sollte er es einem anderen verkündigen? Hält einer sich nicht von Geldgier fern, so wird er vom Götzendienst befleckt und wird gerichtet werden, als gehörte er zu den Heiden, die das Gericht des Herrn nicht kennen. Oder wissen wir nicht, dass die Heiligen die Welt richten werden, wie Paulus lehrt? 3 Ich aber habe nichts dergleichen bemerkt oder vernommen bei euch, unter denen der selige Paulus gewirkt hat, die ihr am Anfang seines Briefes seid. Rühmt er sich euer doch in allen Kirchen, welche allein damals Gott erkannt hatten; wir aber hatten noch keine Erkenntnis gewonnen. 2

Die Wendung aut nescimus, quia sancti mundum iudicabunt? (11,2) ist offensichtlich ein Zitat von 1 Kor 6,2 (dort allerdings nicht nescimus, 1. Plur., sondern οὐκ οἴδατε, 2. Plur.); die rhetorische Frage impliziert möglicher‐ weise den Gedanken, dass die Adressaten in Philippi mit der Aussage des Paulus vertraut sind. Dabei wirkt die Wendung „wie Paulus lehrt“ (sicut Paulus docet) geradezu wie eine Formel, ähnlich der auf biblische Texte bezogenen Zitateinleitung „wie geschrieben steht“ (Vulgata: sicut scriptum est). In 11,3 erinnert Polykarp an das Wirken des Paulus in Philippi. Unklar ist allerdings der Sinn der Wendung, die Philipper seien „am Anfang seines Briefes“ (in principio epistulae eius). Ebenso ist nicht deutlich, was Polykarp mit der Aussage meint, Paulus rühme sich der Philipper in omnibus ecclesiis; die Paulusbriefe mit Ausnahme des Phil selber enthalten ja keinen Hinweis auf Philippi. Jedenfalls will Polykarp, ähnlich wie schon in 3,2, nachdrücklich auf die enge Beziehung zwischen Philippi und Paulus hinweisen, und dabei spricht er das Lob der Gemeinde sehr überschwenglich aus. Im Übrigen lässt der Philipperbrief des Polykarp an einigen Stellen erkennen, dass der Verfasser mit paulinischer Theologie oder zumindest mit einzelnen theologischen Aussagen des Apostels vertraut ist.44 Sehr auf‐ fallend ist die Nähe zu den Pastoralbriefen, die in der Forschung u. a. zu der

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PolPhil 10–12 sowie 13,2b–14 sind nur in lateinischer Übersetzung erhalten. Der Befund ist kompliziert und kann hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden; vgl. A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion (BHTh 58), Tübingen 1979, 221–232.

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These geführt hatte, Polykarp selber sei der Verfasser der Pastoralbriefe45, was aber in hohem Maße unwahrscheinlich ist. 4 Weitere Schriften

Weitere im 2. Jh. entstandene Schriften, die Bezugnahmen auf Paulus enthalten oder – auf zum Teil recht phantasievolle Weise – von Paulus erzählen, sollen im Überblick erwähnt werden. 1. Die zur apologetischen Literatur zu rechnende Schrift an Diognet weist eine starke Nähe zu Vorstellungen und Aussagen paulinischer Theo‐ logie auf.46 Der Name „Paulus“ begegnet nicht47, aber es gibt viele Anspielungen auf paulinische Texte.48 Die Datierung dieser Schrift ist allerdings umstritten; sollte sie tatsächlich schon im 2. Jh. verfasst worden sein, so wäre sie eine Ausnahme gegenüber den zur selben Zeit entstandenen anderen apologetischen Schriften, in denen nur ein sehr geringer Einfluss paulinischer Theologie zu erkennen ist.49 2. Auch Theologen, die der werdenden „Großkirche“ kritisch bzw. ableh‐ nend gegenüberstanden und oft der Gnosis zugerechnet werden, haben sich mit Paulus auseinander gesetzt.50 Zwei schwer zu datierende Schrif‐ ten aus der koptisch-gnostischen Bibliothek von Nag Hammadi beziehen sich vom Titel her auf Paulus: Möglicherweise noch ins 2. Jh. gehört das „Gebet des Apostels Paulus“ (PrecPl, NHC I,1), das in den Zeilen A 11–14 eine Anspielung auf 1 Kor 2,9 enthält: „Gewähre, was kein(es) Engels Auge [gesehen] und kein(es) Archonten Ohr gehört hat und was in kein(es) Menschen Herz gelangt ist, der engelgleich und gemäß

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Vgl. H. von Campenhausen, Polykarp von Smyrna und die Pastoralbriefe, in: ders., Aus der Frühzeit des Christentums. Studien zur Kirchengeschichte des ersten und zweiten Jahrhunderts, Tübingen 1963, 197–252. Text und Übersetzung in der in Anm. 11 genannten Ausgabe, 304–323. In Dg 12,5 wird 1 Kor 8,1 zitiert, eingeleitet mit der Wendung ὁ ἀπόστολος … λέγει, aber die Kapitel Dg 11.12 sind ein sekundärer Nachtrag. Vgl. A. Lindemann, Paulinische Theologie im Brief an Diognet, in: ders., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche. Studien zu Paulus und zum frühen Paulusverständnis, Tübingen 1999, 280–293. Vgl. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum (Anm. 44), 350–367. M.F. Bird, The Reception of Paul in the Epistle to Diognetus, in: M.F. Bird/J.R. Dodson (Ed.), Paul and the Second Century, London 2011, 70–90. J.D.G. Dunn, „The Apostle of the Heretics“: Paul, Valentinus, and Marcion, in: Paul and Gnosis, ed. St.E. Porter/D.I. Yoon (Pauline Studies 9,), Leiden 2016, 100–118.

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dem Bilde des psychischen Gottes entstanden ist, als er geschaffen wurde von Anfang – weil ich den Glauben und die Hoffnung habe!“51 Die in NHC V/2 überlieferte „Apokalypse des Paulus“ (ApcPl) nimmt die von Paulus in 2 Kor 12,2–4 erwähnte Entrückung „bis zum dritten Himmel“ auf; sie schildert dann, wie Paulus von dort bis zum zehnten Himmel gelangt, wobei er im siebten Himmel dem Schöpfer begegnet, der seinen weiteren Aufstieg verhindern will, ihn aber nach kurzer Diskussion passieren lassen muss. Auch hier ist eine Abfassungszeit im 2. Jh. nicht undenkbar, ohne dass wirklich sichere Kriterien genannt werden könnten.52 Die beiden „Paulus-Schriften“ aus Nag Hammadi belegen nicht eine spezifische Nähe der christlichen Gnosis zu Paulus, zumal sich in diesem Corpus auch gnostische Schriften finden, die auf Jakobus, Johannes sowie Petrus und sogar auf „Petrus und die zwölf Apostel“ zurückgeführt werden.53 3. Um die Mitte des 2. Jh.s wirkte in Rom der aus dem kleinasiatischen Pontus stammende Marcion, der nach seinem im Jahre 144 erfolgten Ausschluss aus der Gemeinde eine eigene Kirche gründete. Marcions Werk ist nicht original erhalten, sondern lässt sich nur indirekt aus den antimarcionitischen Schriften einiger Kirchenväter, vor allem aus Tertullians fünf Bücher umfassendem Werk „Adversus Marcionem“

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Übersetzung von H.-G. Bethge/U.-K. Plisch, in: H.-M. Schenke/H.-G. Bethge/U.U. Kaiser (Hg.), Nag Hammadi Deutsch. 1. Band: NHC I,1–V,1. Eingeleitet und übersetzt von Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises für Koptisch-Gnostische Schriften (GCS NF 8), Berlin/New York 2001, 10. Zur historischen Einordnung ebd., 8: „Wenn man einerseits die Nähe zur valentinianischen Schule für besonders markant hält, wird man die PrecPl nicht vor der zweiten Hälfte des 2. Jh., besser aber vielleicht noch in das 3. Jh. datieren können. Wenn man jedoch andererseits primär eine Affinität zur Paulus-Schule gegeben sieht, ist die Datierung eher offen.“ S. dazu U.-K. Plisch, in: Nag Hammadi Deutsch, 2. Band: NHC V,2–XIII,1, BG 1 und 4 (GCS NF 12), Berlin/New York 2003, 400: Man wird „nicht mehr sagen können, als dass das 2. Jahrhundert als frühestmöglicher Abfassungszeitraum in Frage kommt“. Die koptisch-gnostische ApcPl sei aber jedenfalls älter als die vollständig nur in lateinischer Übersetzung überlieferte apokryphe „Apokalypse des Paulus“ (Visio Pauli); zu dieser s. W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. II. Band Apostolisches. Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 51989, 644–675. Zur Aufnahme paulinischer Theologie in der christlichen Gnosis des 2. Jh.s einschließ‐ lich der (oft später zu datierenden) Nag-Hammadi-Texte s. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum (Anm. 44), 297–343, ferner A. Lindemann, Der Apostel Paulus im 2. Jahrhundert, in: Ders., Paulus, Apostel, 294–322, hier: 306–315. M. Kaler, Paul at Nag Hammadi, in: Paul and Gnosis, ed. St.E. Porter/D.I. Yoon (Pauline Studies 9,), Leiden 2016, 139–160.

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rekonstruieren.54 Marcions Theologie basierte auf der Vorstellung der Existenz von zwei Göttern: Das Alte Testament spricht von dem Schöp‐ fergott, der gerecht und unbarmherzig ist, und dessen unvollkommene Schöpfung zeigt, dass er selber unvollkommen ist. Demgegenüber offenbarte sich „im 15. Jahr des Kaisers Tiberius“ (Lk 3,1) der vollkom‐ mene, gute Erlösergott und brachte den Menschen die Befreiung aus der Macht des Schöpfers. In seinem verloren gegangenen Werk „Anti‐ thesen“ stellte Marcion biblische („alttestamentliche“) Aussagen und christliche Überlieferung einander gegenüber, wobei er hermeneutisch voraussetzt, dass die alttestamentlichen Texte wörtlich und nicht etwa allegorisch auszulegen sind.55 Marcion schuf eine eigene Sammlung autoritativer christlicher Schriften, einen „Kanon“, bestehend aus dem Lukasevangelium und den Paulusbriefen (ohne die Pastoralbriefe).56 Er nahm an, diese Schriften seien durchweg „judaistisch verfälscht“ und müssten also „gereinigt“ werden. So schied er aus den paulinischen Briefen etliche Abschnitte als „interpoliert“ aus, beispielsweise einen großen Teil von Röm 9–11; überdies vollzog er durch mancherlei Text‐ kürzungen sachliche Korrekturen zugunsten der von ihm vertretenen Lehre.57 Ob Marcion der erste war, der ein „Neues Testament“ zusam‐ menstellte und so die Großkirche zu einer Reaktion zwang, lässt sich nicht sicher sagen; näher liegt die Vermutung, dass sein Vorgehen eine bereits vorhandene Sammlung als autoritativ anerkannter Schriften in der Kirche voraussetzt.58 Die Polemik der Kirchenväter stellt es so dar, 54

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Zur Rekonstruktion des marcionischen Paulustextes s. U. Schmid, Marcion und sein Apostolos. Rekonstruktion und historische Einordnung der marcionitischen Paulus‐ briefausgabe (ANTF 25), Berlin/New York 1995. Einen Rekonstruktionsversuch der „Antithesen“ unternahm A. v. Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche. Neue Studien zu Marcion, Leipzig 21924, 89–92.256*–313*. Wenn Gott im Paradies nach Adam ruft „Wo bist du?“ (Gen 3,9), dann zeigt dies, dass er tatsächlich nicht weiß, wo sich Adam aufhält. Zu Marcions Buch „Antithesen“ vgl. G. May, Markions Genesisauslegung und die „Antithesen“, in: Ders., Markion. Gesammelte Aufsätze, hg. von K. Greschat/M. Meiser (VIEG.B 68), 43–50. Ferner Moll (Anm 2), 107–114. Vgl. dazu Moll (Anm 2), 77–106. S. dazu G. May, Art. Markion/Markioniten, RGG4 5 (2002), 834–836. Vgl. zur Reaktion der Kirche auf Marcion Lindemann, Paulus im ältesten Christentum (Anm. 44), 390–395. A.M. Ritter, Zur Kanonbildung in der Alten Kirche, in: ders., Charisma und Caritas. Aufsätze zur Geschichte der Alten Kirche, Göttingen 1993, 265–280, hier 267: Es „scheint alle Wahrscheinlichkeit dafür zu sprechen, dass es zur Ausbildung eines zweiteiligen neutestamentlichen Kanons … auch ohne Markion,

Die Rezeption des Paulus im 2. Jahrhundert

dass Marcion aus der Fülle der christlichen Überlieferung eine seinen Interessen entsprechende willkürliche Auswahl getroffen habe. Zwar erscheinen Paulus und dessen Briefe bei Marcion als „der Apostel“; aber tatsächlich war es der „gereinigte“ Paulus, den Marcion als Kronzeugen für seine Theologie glaubte ins Feld führen zu können, was letztlich dafür spricht, dass Paulus in der Großkirche bereits eine feste Autorität war, so dass sich Marcion gezwungen sah, die Paulustexte in dem für seine Intentionen erforderlichen Ausmaß zu modifizieren.59 4. Im Bericht über den am 17. Juli des Jahres 180 durchgeführten Prozess gegen die Märtyrer von Scili60 wird erwähnt, dass die Angeklagten einen Behälter bei sich hatten, der, wie sie auf die entsprechende Frage des sie verhörenden Prokonsuls Saturninus antworteten, „Bücher und Briefe des Paulus, eines gerechten Mannes“ enthielt.61 Dass Paulus als vir iustus bezeichnet wird (und beispielsweise nicht als „heilig“ oder als „Apostel“), wird mit der Gerichtssituation zusammenhängen. Woran im Einzelnen bei der Formulierung libri et epistulae Pauli gedacht ist, lässt sich nicht sagen; aber die Aussage zeigt jedenfalls, dass es in Nordafrika Sammlungen von Paulusbriefen gab, die offensichtlich auch einzelnen Christen zur Verfügung standen. 5. Gegen Ende des 2. Jh.s entstanden die Acta Pauli, die nach Angaben bei Tertullian ein kleinasiatischer Presbyter „aus Liebe zu Paulus“ (amore Pauli) geschrieben hatte.62 Teil der Acta Pauli sind u. a. der

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rein aus innerkirchlichen Ansätzen und Antrieben gekommen wäre. Das Auftreten Markions wird dann aber diese Entwicklung wesentlich beschleunigt … haben.“ Zur Paulusrezeption Marcions s. J.M. Lieu, Marcion and the Canonical Paul, in: Receptions of Paul in Early Christianity (Anm. 16), 780–797. Vgl. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum (Anm. 44), 378–390. S. dazu H. R. Drobner, Lehrbuch der Patrologie, Freiburg 1994, 76 f. Das genaue Datum geht aus dem einleitenden Satz hervor: Praesente bis et Claudiano consulibus, XVI Kalendas Augustas … „Als Praesens zum zweitenmal und Claudianus Konsuln waren, am 16. Tag vor den Kalenden des August …“. Textausgabe: Ausgewählte Märtyrerakten, hg. v. G. Krüger, mit einem Nachtrag von G. Ruhbach (SQS NF 3), Tübingen 41965. Deutsche Übersetzung: G. Rauschen, Echte alte Märtyrerakten, in: Frühchristliche Apologeten und Märtyrerakten II (BKV 14), Kempten/München 1913, 317–319. Tertullian, De baptismo 17. Text der Acta Pauli bei W. Schneemelcher, Paulusakten, in: Schneemelcher, Apokryphen (Anm. 52), 193–243. Tertullian verfasste seine Schrift um das Jahr 200, d. h. die Acta Pauli dürften um 180/190 entstanden sein.

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„3. Korintherbrief“ 63 sowie die zeitgeschichtlich besonders bedeutsamen „Akten des Paulus und der Thekla“. Ganz ungewöhnlich ist die Beschreibung der Person des Paulus bei dessen Ankunft in Iconium (ActPauli et Theclae 2 f.): Und ein Mann namens Onesiphorus, der gehört hatte, dass Paulus nach Iconium käme, ging mit seinen Kindern Simmias und Zeno und seinem Weibe Lektra dem Paulus entgegen, um ihn bei sich aufzunehmen. Titus hatte ihm nämlich erzählt, welches Aussehen Paulus hätte. Denn er hatte ihn (bisher) nicht im Fleisch gesehen, sondern nur im Geist. 3 Und er ging an die königliche Straße, die nach Lystra führt, stellte sich dort auf, um ihn zu erwarten, und sah sich (alle), die vorbeikamen, auf die Beschreibung des Titus hin an. Er sah aber Paulus kommen, einen Mann klein von Gestalt, mit kahlem Kopf und krummen Beinen, in edler Haltung mit zusammengewachsenen Augenbrauen und ein klein wenig hervortretender Nase, voller Freundlichkeit; denn bald erschien er wie ein Mensch, bald hatte er eines Engels Angesicht. 2

Eine junge Frau namens Thekla hört in Iconium den Apostel, und sie entschließt sich aufgrund von dessen Predigt sofort dazu, ein beste‐ hendes Verlöbnis aufzukündigen und enthaltsam zu leben. Nach der Anzeige durch ihren Verlobten wird Thekla zum Tierkampf in der Arena verurteilt, aber während sich die wilden Tiere auf sie stürzen, wirft sie sich in eine Wassergrube und tauft sich selber in Erwartung ihres Todes. Sie bleibt unversehrt und wird begnadigt. Später begegnet sie abermals dem Paulus in Iconium, und sie stirbt nach längerer Missionsund Lehrtätigkeit in Seleukia. Paulus erscheint in dieser Schrift als Katechet, der Thekla unterrichtet und sie dann dazu befähigt, selber zu lehren.64 Diese Überlieferung hatte bemerkenswerterweise die Folge,

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S. dazu die Studie von V. Hovhanessian, Third Corinthians. Reclaiming Paul for Christian Orthodoxy (Studies in Biblical Literature 18), New York etc. 2000. Ferner B.L. White, Remembering Paul. Ancient and Modern Contests over the Image of the Apostle, Oxford 2014, 108–134. Hier liegt die Ursache für Tertullians scharfe Zurückweisung der Acta Pauli. Zur Beziehung zwischen Paulus und Thekla s. V. Niederhofer, Konversion in den Paulusund Theklaakten. Eine narrative Form der Paulusrezeption (WUNT II/459), Tübingen 2017; ferner B.A. Edsall, The Reception of Paul and Early Christian Initiation. History and Hermeneutics, Cambridge UK, 2019, 66–92.

Die Rezeption des Paulus im 2. Jahrhundert

dass die ältesten erhaltenen bildlichen Paulusdarstellungen den Apostel in Begleitung der Thekla zeigen.65 6. Grundsätzliche Ablehnung des Paulus und seiner Theologie zeigt sich im gesetzestreuen Judenchristentum, wie aus den entsprechenden „Hä‐ retiker“-Referaten der Kirchenväter hervorgeht66; originale Texte sind nicht erhalten. Eine der Quellenschriften der „Pseudoclementinen“, die sog. „Kerygmata Petrou“, schildert aber massive Polemik des Petrus gegen „Simon Magus“ (vgl. Apg 8,9–24), wobei die Aussagen erkennen lassen, dass mit Simon Magus hier tatsächlich Paulus gemeint ist. Petrus wirft ihm vor, er sei kein wirklicher Apostel, da er nicht vom irdischen Jesus, sondern durch eine Vision berufen worden sei; überdies habe er ihm, der doch der „Fels“ sei, feindselig widerstanden: „Wenn du nicht ein Feind wärest, dann hättest du mich nicht verleumdet und meine Predigt geschmäht, damit ich bei der Verkündigung dessen, was ich in eigener Person von dem Herrn gehört habe, keinen Glauben finde, als ob ich unzweifelhaft verurteilt, du aber anerkannt seist.“67 Die Anspielungen auf Gal 2,11–14 sind deutlich; bemerkenswert ist aber, dass Paulus nicht direkt angegriffen wird, sondern dass der Verfasser der Kerygmata Petrou für seinen Gegner ein Pseudonym wählen musste. 5 Zusammenfassung

Zwei Linien sind für die Frage nach dem Erbe des Paulus im 2. Jh. bedeutsam: In nahezu allen Bereichen der Kirche sind Bezugnahmen auf Paulus zu erkennen; selbst dort, wo, wie im gesetzestreuen Judenchristentum, gegen Paulus polemisiert wird, bedeutet dies ja, dass Paulus keineswegs in Verges‐ senheit geraten ist. Die Bezugnahmen auf Paulus zeigen die Frühphase der Sammlung der Paulusbriefe und deren Verbreitung in der Kirche; dieser Prozess führte folgerichtig und diskussionslos zur „Kanonisierung“ dieser Briefe innerhalb des Neuen Testaments.68

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E. Dassmann, Paulus in frühchristlicher Frömmigkeit und Kunst (RhWAW.G 256), Opladen 1982, 25–32 (Abbildungen 40 ff.). Lindemann, Paulus im ältesten Christentum (Anm. 44), 101–109.367–371. Homilien XVII 19,4; s. G. Strecker, Kerygmata Petrou, in: Schneemelcher, Apokryphen (Anm. 52), 479–488. Vgl. J. Schröter, Kanon – eine neutestamentliche Perspektive, MJTh 31 (Kanon), Leipzig 2019, 37–65.

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6 Literatur B.J. Arnold, Justification in the Second Century (SBR 9), Berlin 2017. M.F. Bird/J.R. Dodson (Ed.), Paul and the Second Century (LNTS 412), London 2011. E. Dassmann, Paulus in frühchristlicher Frömmigkeit und Kunst (RhWAW.G 256), Opladen 1982. B.A. Edsall, The Reception of Paul and Early Christian Initiation. History and Hermeneutics, Cambridge UK, 2019. A. Lindemann, Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche. Studien zu Paulus und zum frühen Paulusverständnis, Tübingen 1999. A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum. Überlegungen zur gegenwärtigen Diskussion über die frühe Paulusrezeption, in: J. Schröter/S. Butticaz/A. Detwiler (Ed.), Receptions of Paul in Early Christianity. The Person of Paul and His Writings Through the Eyes of His Early Interpreters (BZNW 234), Berlin/Boston 2018. 23–58. J. Schröter/S. Butticaz/A. Detwiler (Ed.), Receptions of Paul in Early Christianity. The Person of Paul and His Writings Through the Eyes of His Early Interpreters (BZNW 234), Berlin/Boston 2018. B.L. White, Remembering Paul. Ancient and Modern Contests over the Image of the Apostle, Oxford 2014.

Die Rezeption des Paulus in der Geschichte der Kirche

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1 Grundsätze der Entwicklungslinien in der Alten Kirchengeschichte

Nach den echten Paulusbriefen zeigen die Deuteropaulinen und die Apos‐ telgeschichte ein erstes Fortleben paulinischer Tradition, das für uns in sieben Punkten erkennbar wird: 1. Der Name: Der Name „Paulus“ bleibt lebendig, und mit dem Namen hat die Person auch ein Nachleben. 2. Die Briefe: Paulus als der Verfasser von Briefen blieb in Erinnerung und regte weiter zum Schreiben von Briefen unter seinem Namen an.1 3. Die Reisen: Dass Paulus an vielen Orten war und mit vielen Städten des römischen Reichs in Kontakt stand, fügte sich zusammen mit den Briefadressaten und den Reiseberichten der Apostelgeschichte zu einem festen Bild und führte zu dem Attribut des ökumenischen Apostels. Dies fand auch seinen Ausdruck in der Überzeugung, die Spanienreise des Apostels, der damit Ost und West, die ganze Welt der Antike, bereist habe, habe noch stattgefunden. 4. Die Themen: Man kann eine teilweise Identität mancher Themen beob‐ achten, die mit dem Namen des Paulus in Zusammenhang gebracht werden, wenn auch ihre Behandlung und die der mit ihnen verbun‐ denen theologischen Fragen deutlich von denjenigen in den echten Paulusbriefen unterschieden sind. 5. Die Hermeneutik: Wir dürfen hier aber ein erstes deutliches Signum der Paulusrezeption überhaupt sehen. Die Paulushermeneutik der Deutero-

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Vgl. J. Divjak, Pseudo-Seneca, Briefwechsel mit Paulus, HLL 5 (1989), § 571.1.

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und Tritopaulinen setzt den christlichen Kontinuitätsstrom der theolo‐ gischen Hermeneutik aus sich heraus. 6. Die imitatio Paulina: Eine der imitatio Jesu entsprechende imitatio Paulina, die sich ja auch etwa durch die Apostelgeschichte nahe legen würde, kennen wir nur in der literarischen Form der apokryphen Paulusbriefe und Apostelakten, etwa den Acta Pauli, teilweise mit apo‐ kalyptischen Zügen wie in der Revelatio (Visio) Pauli. Hier ist besonders die Verbindung mit Thekla wichtig (Acta Pauli et Theclae).2 7. Das Martyrium: Zwar gab es viele andere Märtyrer vor, neben und vor allem nach Paulus, aber es ist doch bemerkenswert, welchen kirchenund theologiegeschichtlichen Stellenwert die Tradition des römischen Martyriums an der Straße nach Ostia (S. Paolo fuori le mura) unter Nero besitzt. Dazu kommt die alte Verbindung von Petrus und Paulus als der gemeinsamen Lehrer und Märtyrer in der Hauptstadt des römischen Reiches. Entscheidend dabei ist die Überlieferung von Paulusbriefen3 als einer selb‐ ständigen Sammlung noch vor dem Einsetzen von Kanonisierungsprozessen und der Entstehung der Konzeption eines neuen „Heiligen Buches“ der Christen. Diese Sammlung spielte bei der „Selbstdefinition“ der Heidenkir‐ che eine entscheidende Rolle: in der Auseinandersetzung um das Alte Tes‐ tament und seine Auslegungen und bei der Entwicklung einer christlichen Ethik sowie einer mystisch bestimmten christlichen Philosophie, die von den sog. partizipatorischen Tendenzen bei Paulus ihren Ausgang nahm und teilweise in gnostische Lehre mündete. Ernst Dassmann kann so ein doppeltes Ergebnis für die beiden ersten Jahrhunderte festhalten: „Eine große Anzahl von Schriften aus allen Gattungen und Bereichen der frühchristlichen Literatur verrät eine Kenntnis von Person und Werk des Paulus.

2 3

Vergleichbar ist das Phänomen, dass die Leben-Jesu-Schilderungen zumindest der ersten drei Evangelien immer wieder zu einer imitatio Jesuana führen. Vgl. E.-M. Becker, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief (NET 4), Tübingen/Basel 2002; dies., Letter Hermeneutics in 2 Corinthi‐ ans. Studies in Literarkritik and Communication Theory (JSNT.S 279), London/New York 2004; H. v. Lips, Der neutestamentliche Kanon. Seine Geschichte und Bedeutung, Zürich 2004; St.E. Porter, When and How was the Pauline Corpus Compiled? An Assessment of Theories, in: ders. (Ed.), The Pauline Canon (PAST 1), Leiden 2004, 95–127.

Die Rezeption des Paulus in der Geschichte der Kirche

Das Maß dieser Kenntnis ist dabei sehr unterschiedlich, die Stellung zum Apostel und die Bewertung seiner Theologie in den einzelnen Schriften sind vielfältig gestuft … Trotz dieser Vielfalt an Bezeugung und Tradierung ist Paulus doch zu keiner Zeit als einziger oder auch nur wichtigster Gewährsmann oder Vermittler für die kirchliche Verkündigung verstanden worden“.4

Das gilt auch für einen so eigenwilligen Paulusrezipienten wie Marcion.5 Ein weiterer wichtiger Aspekt der Paulusrezeption beginnt mit den Pauluskommentaren und Pauluskommentierungen (Clemens Alexandrinus, Irenaeus von Lyon). Der älteste Pauluskommentar (um 200) dürfte auf einen uns sonst unbekannten Autor mit dem Namen Heraklit zurückgehen.6 2 Das 3. und 4. Jahrhundert und die östliche Entwicklung

Seit Irenaeus und seit dem Beginn der alexandrinischen Schule (vgl. etwa Gal 3,24 „Das Gesetz ist Paidagogos“ als Anreger von Schrift und Konzept des ‚Paidagogos‘ des Clemens Alexandrinus) ist deutlich, „wie P. zusammen mit Joh der christl. Theol. fortan die entscheidenden Bausteine bietet, aus denen sie die tragenden Pfeiler der Christologie, Soteriologie, Anthro‐ pologie und Eschatologie konstruieren wird“.7

Aus dem Kommentarwerk des Origenes zum Apostolos, das Röm (15 Bü‐ cher), 1 Kor, Gal, Eph, Kol, 1 Thess, 2 Thess, Tit, Phil, Phlm und Hebr umfasste, sind bis auf die 10 Bücher von Rufins lateinischer Übersetzung des Römerbriefkommentars8 nur Fragmente erhalten. Diese Überlieferung, zumeist in den Katenen, zeigt aber die bedeutende Wirkungsgeschichte der origenistischen Exegese etwa zum Problembereich der Erwählung und – 4 5 6 7 8

E. Dassmann, Stachel, 316 f. Vgl. ders., Paulus in frühchristlicher Frömmigkeit und Kunst (RhWAW.VG 256), Opladen 1982, zu den späteren archäologischen Spuren, Pilgerberichten, Pauluskirchen und szenischen Darstellungen. Vgl. G. May (Hg.), Marcion und seine kirchengeschichtliche Wirkung (TU 150), Berlin 2002. Zu den genannten antiken Personen vgl. das Personenregister. Mittelalterliche und neuzeitliche Ausleger: RGG4. Euseb, h.e. 5, 27: τὰ Ἡρακλείτου εἰς τὸν ἀπόστολον, vgl. Hieronymus vir.il. 46: Heraclitus sub Commodi Severique imperio in apostolum commentarios composuit; s. R. Hanig, Heraclitus, LACL3 (2002), 319. S. Vollenweider, Art. Paulus, 1066. Vollenweider erwähnt Heraklit nicht. Zum Kommen‐ tar allgemein vgl. L. Fladerer/D. Börner-Klein, Art. Kommentar, RAC 21 (2006), 274–329. Vgl. Th. Heither (hg. u. übers.), Origenes. Commentarii in epistolam ad Romanos [lateinisch-deutsch] 1–4 (FC 2), Freiburg 1990–1999.

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einer markant betonten – Willensfreiheit. Die exegetische Arbeit der grie‐ chischen Theologie wird sodann besonders von Theodor von Mopsuestia und Theodoret von Cyrus vorangetrieben9 und findet ihren Höhepunkt bei Johannes Chrysostomos, von dem neben kleineren Arbeiten insgesamt 259 Homilien10 zu allen vierzehn Briefen erhalten sind11. Durch Hieronymus wurde diese Exegese dem Westen bekannt. Das Paulusbild des Chrysosto‐ mos ist besonders in den sieben Homilien De laudibus S. Pauli zu finden, die im Kreuzestheologen Paulus den „Archetyp der Tugend“ als einen Rhetor feiern, der den Engeln in seinem paradoxen Selbstruhm überlegen ist, der aber auch die Fragen der Sozialethik nicht aus dem Blick verliert. 3 Augustin

Der afrikanische Rhetorikprofessor Augustin lernte in Mailand bei Bischof Ambrosius die antiochenische Paulusinterpretation kennen. Daneben trat die neuplatonisch-philosophische Paulusinterpretation, wie sie das in der Mailänder lateinischen Paulusrenaissance des 4. Jh.s lebendig gebliebene Werk des ersten lateinischen Paulusbriefkommentators C. Marius Victo‐ rinus vertrat. Diese Begegnungen mit Paulus führten schließlich zu Kon‐ version12 und Taufe des Augustinus und zu seinem Entschluss, in einem Freundeskreis ein philosophisches Lebensideal in Askese und Abgeschie‐ denheit von der Welt zu verwirklichen. Weitere Begegnungen mit Paulus treten im Lauf von Augustins Episkopat hinzu. Durch die primäre Aufgabe der Textpredigt sah sich der Bischof Augustin zunehmend auf die Textexegese verwiesen. Dies wurde besonders für seine sich ständig vertiefende Auseinandersetzung über die Theodizee‐ frage erst mit den Manichäern, dann mit den Pelagianern wichtig. Gerade gegenüber den sehr unterschiedlich argumentierenden Anhängern des Pelagius und zumal gegenüber Julian von Aeclanum, einem glänzend gebil‐ 9 10 11 12

K. Staab (Hg.), Pauluskommentare aus der griechischen Kirche aus Katenenhandschrif‐ ten, Münster 21984. Clavis Patrum Graecorum 4427–4440. F. Field, Iohannis Chrysostomi interpretatio omnium epistularum Paulinarum 1–7, Oxford 1845–1862; M.M. Mitchell, The heavenly trumpet. John Chrysostom and the art of Pauline interpretation (HUT 40), Tübingen 2000. Vgl. die Gartenszene des tolle,lege;tolle, lege in Aug. Conf. 8, 12, 29, die in der – schon vorbereiteten – Lektüre von Röm 13 mündet: itaque concitus redii in eum locum, ubi sedebat Alypius: ibi enim posueram codicem apostoli, cum inde surrexeram. Arripui, aperui et legi in silentio capitulum, quo primum coniecti sunt oculi mei.

Die Rezeption des Paulus in der Geschichte der Kirche

deten Intellektuellen und hervorragenden Vertreter der antiochenischen Schule, arbeitete Augustin in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten noch einmal an seiner Paulusinterpretation. Diese erhielt in der Endgestalt der augustinischen Theologie einen solchen Stellenwert, dass gesagt werden kann: Seitdem ist Theologiegeschichte meist auch Augustinusrezeption. An rein exegetischen Werken Augustins zu Paulus besitzen wir die Expositio quarumdam propositionum ex epistula ad Romanos, die Epistulae ad Romanos inchoata expositio und die Epistulae ad Galatas expositio.13 Augustin rühmt Paulus mit den folgenden Worten: unus apostolus Paulus cogit nos diligentius cogitare et perscrutari 14 – „Einzig der Apostel Paulus zwingt uns, sorgfältiger nachzudenken und zu untersuchen“. Was erst den Rhetor und dann den Bischof Augustin zeitlebens an Paulus fasziniert hat, kann man in drei Punkten zusammenfassen: der Textbezug, denn alle christliche Theologie muss Schrifttheologie sein, – der vorbildliche hermeneutische Umgang des Paulus mit den Texten des Alten Testaments, – die Sprache des Apostels, insbesondere der Gebrauch der antithetischen Rede, die auch das Paradox innerhalb des „hermeneutischen Normen‐ horizontes für die Bibelauslegung“, nämlich des – in Gott und seiner Alleinwirksamkeit begründeten – doppelten Liebesgebots15, stehen lassen kann. –

4 Das westliche Mittelalter bis zum Humanismus

Neben der augustinischen Tradition besaßen für das westliche Mittelalter besonders die Expositio XIII epistularum Pauli des Pelagius16 mit ihren ein‐ flussreichen Prologen und ähnliche Arbeiten17 für die weitere Paulusexegese

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J. Divjak (Ed.), Sancti Aureli Augustini Opera IV/1 (CSEL 84), 1–181. D.E. Dekkers/J. Fraipont (Ed.), En. in ps. 49,9,12 (CCSL 38). Formulierung nach K. Pollmann, Aurelius Augustinus. Die christliche Bildung (De doctrina christiana), Stuttgart 2002, 278; vgl. dies., Doctrina Christiana. Untersuchungen zu den Anfängen der christlichen Hermeneutik unter besonderer Berücksichtigung von Augustins De doctrina christiana (Par. 41), Freiburg (Schweiz) 1996. A. Souter, Pelagius’s Expositions of 13 Epistles of St. Paul (TSt), Cambridge 1922–1926. Z.B. der Budapester Pauluskommentar: H.J. Frede, Ein neuer Paulustext und Kommentar 1–2 (AGLB 7–8), Freiburg 1973.1974.

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und -interpretation Gewicht. Diese finden wir zuerst in der Form von Kate‐ nen und Glossen, seit dem 11. Jh. dann in Kommentaren mit Quaestionen. Einflussreich wurde Abaelards Römerbriefkommentar durch die Beto‐ nung von Rhetorik und Dialektik des Apostels.18 Hierin war der Dialektiker des sic et non ein Vertreter der Pariser Studienordnung, die die Pflege der Bibelwissenschaften neben Dogmatik und Philosophie obligatorisch machte. Zu nennen ist weiter die Kommentierung des Corpus Paulinum durch Thomas von Aquin19, der die Gemeindebriefe auf die in der Kirche real gewordene Gnade deutet, wobei es im Römerbrief um die gratia secundum se, in 1/2 Kor um die Gestalt der Gnade in den Sakramenten und in den übrigen Briefen um den effectus unitatis der Gnade geht. Wichtig für die Geschichte der Exegese des Mittelalters ist eine Ent‐ wicklung, die auch verschiedene gesamttheologisch bedeutsame Aspekte berührt: Erstens geht die Einheit von exegetischer und systematischer Theologie verloren, und Bibelzitate werden zunehmend zu dicta probantia. Weiterhin hat der Formalismus der Exegese, der seit dem 13. Jh. mit dem Merkvers Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quid speres (quo tendas) anagogia belegt ist, ein doppeltes Ergebnis. Er führt erstens zu sorgfältiger Textauslegung, zweitens mündet er im Zusam‐ menhang einer anthropologischen Konzentration der Reformbewegungen, die um das eigene Seelenheil bemüht ist, zusehends in die Betonung des Literalsinns und des Schriftprinzips. Diese Tendenz verstärkt sich im frühen Humanismus und bezieht sich in vielfältiger Weise wiederum auf Paulus und auf Augustinus, wie sich bei Francesco Petrarca, Lorenzo Valla, Marsilio Ficino und Faber Stapulensis zeigt. Für Erasmus schließlich ist Paulus der herausragende Zeuge der christ‐ lichen Philosophie. Wenn Erasmus die Bibel für den Ackermann und die muliercula am Spinnrad fordert, so ist ihm der Apostel Paulus dabei als Deuter der Schrift Leitfigur, wie die Paraphrasis in omnes epistolas aposto‐ licas zeigt.20

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R. Peppermüller (Übers.), Petrus Abaelardus. Expositio in epistolam ad Romanos 1–3 (FC 26), Freiburg 2000. Vgl. Th. Domanyi, Der Römerbriefkommentar des Thomas von Aquin. Ein Beitrag zur Untersuchung seiner Auslegungsmethoden (BSHST 39), Bern 1979. Desiderius Erasmus, Opera 7,6, Amsterdam 1997.

Die Rezeption des Paulus in der Geschichte der Kirche

5 Reformation und Orthodoxie

Luther (1483–1546) beschäftigte sich, von der zeitgenössischen Demutsthe‐ ologie herkommend, seit dem Winter 1515/6 in seiner Römerbriefvorlesung und der Heidelberger Disputation (1518) als Exeget (seit 1512 Professor in Wittenberg: lectura in biblia) mit Paulus. Für ihn mischten sich in der Rechtfertigungsfrage zunächst die Paulusrezeption der augustinischen Ordenstradition und zeitgenössische Paulusauffassungen. Zunehmend in‐ tensivierte sich sein an Paulus orientiertes Denken. Dabei transzendierte seine an Röm. und Gal. gewonnene Rechtfertigungs- und Befreiungslehre immer stärker die herkömmlichen theologischen und religiösen Strukturen und gewann ein eigenes Profil. Paulus stand als der Normtheologe besonders auch durch den Einfluss von Melanchthons (1497–1560) humanistischem Interesse an Paulus21 für Luther fest. In ApolCA 4,87 findet sich dann der Satz, dass im Römerbrief „gefasset ist die Häuptsach der ganzen Episteln, ja der ganzen Schrift“.22 So wurde Paulus für die Wittenberger Reformation und für ihr Ver‐ ständnis des Evangeliums als promissio zum hermeneutischen Schlüssel für die Dialektik der theologischen Figuren von sola scriptura und solus Christus. Dabei konnte der von Paulus entlehnte Freiheitsgedanke, der der Reformation in ganz unterschiedlichen Aspekten und auf verschiedenen Ebenen Aufschwung gab, oft in Verbindung mit erasmischen Motiven über die lutherischen Ansätze hinausführen. Dies reichte bis hin zu einem konsequenten Reformationsprozess bei Täufern, Sozianern und Evangelisti. Für die oberdeutsch-schweizerische Tradition besitzt Paulus und beson‐ ders auch wieder der Römerbrief eine ebenso große Bedeutung, wie die Kommentarwerke von Oekolampad, Bullinger und Bucer seit 1523 zeigen. Von Zwingli sind zu Paulus nur Glossen und Annotationes, vor allem im Zusammenhang der Prophezei erhalten. Calvin (1509–64) begann 1540 seine exegetische Tätigkeit, die alle Paulusbriefe umfasst, mit einem Kommentar zu Röm23, der für ihn „das offene Tor zu den tiefsten Schätzen der Schrift“

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Vgl. E. Bizer, Texte aus der Anfangszeit Melanchthons (TGET 2), Neukirchen 1966, und Melanchthons großer Pauluskommentar von 1529/30. BSLK, Göttingen 61967, 178. Calvin-Studienausgabe 5.1. Der Brief an die Römer. Ein Kommentar, hg. v. Chr. Link u.a., Neukirchen-Vluyn 2005.

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darstellt und der im Jahre 1918 für Karl Barth noch „ganz auf der Höhe“ sein wird24. Eine den Untersuchungen Melanchthons vergleichbare exegetische Ar‐ beit an den Paulusbriefen ist erst wieder in den 1641 bis 1646 erschienenen Annotationes in Novum Testamentum des Hugo Grotius (1583–1645) zu beob‐ achten, an die sich die gegen die Orthodoxie gerichteten Arbeiten aufgeklär‐ ter Antideisten anschlossen, so John Lockes (1632–1704) „A Paraphrase and Notes on the Epistles of   St. Paul to the Galatians, 1 and 2 Corinthians, Romans, Ephesians“25, die 1768/9 (übersetzt von Johann Georg Hofmann und mit einer Vorrede versehen von Johann David Michaelis) auf Deutsch erschienen und die Paulusdiskussion der deutschen Aufklärung vorantreiben sollten26, wie auch Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem zeigt. Albert Schweitzer (1875–1965) kommt in seiner „Geschichte der paulini‐ schen Forschung“ zu der folgenden Beurteilung: „Die Reformation kämpfte und siegte im Namen des Paulus. Dadurch war die Lehre des Heidenapostels in den Vordergrund der protestantischen Forschung ge‐ rückt. Jedoch wird die geschichtliche Erkenntnis dieses Gedankengebildes durch die aufgewandte Mühe vorerst nicht gefördert. Man sucht darin Beweisstellen für lutherische oder reformierte Dogmatik und findet sie auch. Die Exegese der Reformation legt ihre Ideen in Paulus hinein, um sie mit apostolischer Autorität ausgestattet zurückzuempfangen“.27 Das musste für die Theologie so sein: „Der Paulinismus gehört in die Dogmengeschichte, da die Dogmenbildung alsbald mit dem Tod Jesu anhebt.“28 6 Von der Aufklärung zur heutigen historisch-kritischen Forschung

Wesentlich am Entstehen einer spezialisierten exegetischen Paulusfor‐ schung ist Gotthold Ephraim Lessing (1729–81) beteiligt. Obwohl er bei aller seiner Bedeutung für die Theologie seiner Zeit in seinem Kampf gegen

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K. Barth/E. Thurneysen, Briefwechsel 1: 1913–1921 (KBGA 5,1), Zürich 1973, 260. London 1706, vgl. die kritische Ausgabe J. Locke, A Paraphrase and Notes on the Epistles of St. Paul to the Galatians, 1 and 2 Corinthians, Romans, Ephesians, ed. by A. W. Wainwright, 2 vols., Oxford 1987. Vgl. O. Merk, Erwägungen. A. Schweitzer, Geschichte, 1. Schweitzer, Geschichte, VI.

Die Rezeption des Paulus in der Geschichte der Kirche

Bibliolatrie kein Schrifttheologe und erst recht kein Paulusforscher war29, waren ihm doch die neutestamentlichen Schriften wesentlich einer regula fi‐ dei entflossene Elementarbücher der christlichen Religion, ja über sie hinaus diejenigen einer neuen dritten und im Neuen Testament schon verheißenen Religion der Herrschaft des Geistes.30 Unzweifelhaft ist Lessings Formel, die ideengeschichtlich bedeutsam werden sollte: „Der Buchstabe ist nicht der Geist; und die Bibel ist nicht die Religion“, paulinisch geprägt. Johann Salomo Semler (1725–91) geht in seiner Institutio ad doctrinam Christianam (1774) unter dem Vorzeichen seiner Akkomodationstheorie näher auf Paulus ein, der „eben wie vorher Jesus selber bei der Verdrängung der falschen Religionsmeinungen vorsichtig und mit Klugheit zu Werke gehen“ musste; „freilich können dann solche Wahrheiten nicht göttlich und christlich sein, weil sie nicht neu und original auftreten“31. So bezeichnet er in seiner Abhandlung von der freien Untersuchung des Kanons die paulinischen Briefe im Anschluss an den Engländer Thomas Chubb als „Privatmeinungen“ oder als „ein Gespräch mit damaligen Personen“, mit denen der Apostel wegen ihrer damaligen vorgefassten Meinungen „nicht anders als auf diese Art“ habe reden können. „Wenn Paulus Briefe schrieb, so waren sie nicht an die Christen gerichtet, welche durchaus nicht zu Pauli Schülern und Anhängern gehören wollten“.32 Erst im Zusammenhang der sich im 18. und 19. Jh. entwickelnden Geschichtswissenschaften und ihrer Methodendiskussion und des gegen‐ seitigen Austausches auch mit der Theologie kommt es allmählich im geis‐ tesgeschichtlichen Rahmen von Empfindsamkeit, Romantik, Nationbildung und Historismus zu einer philologisch-kritischen Paulusbriefforschung, an 29

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Merk, Erwägungen, 71; vgl. L. Zscharnack, Lessing und Semler. Ein Beitrag zur Ent‐ stehungsgeschichte des Rationalismus und der kritischen Theologie, Giessen 1905; K. Aner, Die Theologie der Lessingzeit, Halle 1929, hier 27 Anm. 2 der Verweis auf Lessings Rezension vom 27.11.1751: „Bekehrung und Apostelamt Pauli“; H. Schultze, Lessings Toleranzbegriff, Göttingen 1969; L. P. Wessel, G. E. Lessing’s Theology. A Reinterpretation, Den Haag 1977; J. v. Lüpke, Wege der Weisheit. Studien zu Lessings Theologiekritik (GTA 41), Göttingen 1989; E. Quapp, Lessings Theologie statt Jacobis Spinozismus. Eine Interpretation der „Erziehung des Menschengeschlechts“ auf der Grundlage der Formel „hen ego kai pan“, Band I, §§ 1–25, Bern 1992. Hier sind beim Geistbegriff ebenso paulinische wie johanneische Konnotationen spürbar. Zscharnack, Lessing (Anm. 29), 135. Zitate nach Zscharnack, Lessing (Anm. 29), 135. Vgl. die Werke des Deisten Th. Chubb, The True Gospel of Jesus Christ asserted to which is added a Dissertation on Providence, London 1738, und ders., The True Gospel of Jesus Christ vindicated, London 1739.

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deren Beginn Paulusbiographien wie die von dem auch als Pädagogen be‐ deutenden August Hermann Niemeyer (1754–1828), einem Urenkel August Hermann Franckes, standen, der in seiner Charakteristik der Bibel33 Paulus als neutestamentlicher Gestalt am breitesten Raum gibt und ihn als Vorbild der Toleranz darstellt, der in der zeitgenössischen Diskussion leider zu Unrecht vergessen sei: „Es ist mir unbegreiflich, wie man ganze Bücher von der Toleranz schreiben und darüber streiten kann, ohne ein so merkwürdiges Beispiel auch nur zu berühren“.34 In der Folge der Paulusbiographien stehen biographisch orientierte und religionshistorisch akzentuierte Monographien wie die von Adolf Haus‐ rath35, Ernest Renan36 und Louis Auguste Sabatier37, der eher als Franziskus‐ forscher bekannt blieb. Ferdinand Christian Baurs (1792–1860) von der Dialektik des Idealis‐ mus bestimmte Konstruktion eines petrinischen Judenchristentums und eines paulinischen Heidenchristentums bestimmte die Diskussion und die sich schnell vertiefende Forschungsentwicklung im 19. Jh. seit seinem in zwei Teilen 1831 und 1836 erschienenen Aufsatz „Das Christentum in der korinthischen Gemeinde; der Gegensatz des petrinischen und paulinischen Christentums in der ältesten Kirche“ 38. Albert Schweitzer hebt die Diskontinuität hervor, die nach Baur die theo‐ logische Entwicklung des 1. und 2. Jahrhunderts bestimmt habe und urteilt über die Bedeutung von Baurs Forschungen für das Paulusverständnis, –

Baur habe mit der These gebrochen, „dass das alte Dogma aus der Lehre Jesu in einem organischen und folgerichtigen Prozess entstanden sei. Die … Einzelforschungen haben gezeigt, dass diese Annahme falsch ist. Von einer „Entwicklung“ in dem gewöhnlichen Sinn kann nicht die Rede sein, weil die eingehendere Untersuchung die natürlichen Zusammen‐ hänge, die man a priori als selbstverständlich annehmen möchte, nicht

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A.H. Niemeyer, Charakteristik der Bibel, 5 Bde., Halle 1775–1782. Zitiert nach Aner, Theologie (Anm. 29), 150 Anm.1. A. Hausrath, Der Apostel Paulus, Heidelberg 1865. E. Renan, St. Paul, Paris 1865. L.A. Sabatier, L’apôtre Paul, Paris 1870. F.Chr. Baur, Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde, der Gegensatz des petrinischen und paulinischen Christentums in der alten Kirche, TZTh (1831) H. 4, 61–136; und ders., Einige Bemerkungen über die Christuspartei in Korinth, TZTh (1836) H. 4, 1–32; vgl. auch ders., Über Zweck und Veranlassung des Römerbriefs, TZTh (1836) H. 3, 59–178.

Die Rezeption des Paulus in der Geschichte der Kirche

bestätigt, sondern an ihrer Stelle unbegreifliche Unzusammenhänge zu Tage treten lässt“39. – „Vom Paulinismus werden keine Überleitungen zum altgriechischen Dogma sichtbar. Ignatius und Justin übernehmen seine Gedanken nicht, sondern schaffen ihrerseits wieder etwas Neues“40. Paul Feine schildert in seinem ganz auf die deutsche protestantische Theo‐ logie konzentrierten Überblick über die Paulusforschung seit der jüngeren Tübinger Schule vier Hauptwege der Entwicklung bis an das Ende des ersten Drittels des 20. Jh.s41: 1. 2. 3. 4.

die intellektualistisch-lehrhafte Betrachtung42, die religionswissenschaftliche Betrachtung43, die eschatologische Betrachtung44, die Wendung von der theologischen zur religiösen Deutung45.

Mit Karl Barth (1886–1968), der exegetisch fast anachronistisch an die theologische Paulusinterpretation der Reformationszeit anknüpft, beginnt die Paulusexegese der dialektischen Theologie, die sich im Einzelnen sehr unterschiedlich gestaltet. Neben Karl Barth46 selbst erschließt sich ein Feld, das von der sog. Lutherrenaissance Karl Holls (1866–1926) bis zu den von der Philosophie Martin Heideggers (1889–1976) geprägten und gleichzeitig 39 40 41

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Schweitzer, Geschichte, VI. Schweitzer, Geschichte, VII. P. Feine, Der Apostel Paulus. Das Ringen um das geschichtliche Verständnis des Paulus (BFChTh 2,12), Gütersloh 1927, VII; vgl. schon die Vorarbeit, ders., Paulus als Theologe (BZSF 2,3–4), Berlin 1906, und ihr anregendes erstes Kapitel: „Paulus ist nicht Systematiker, wohl aber Theologe“. R.A. Lipsius (der nach Feine, Apostel [Anm. 41], 22 „offenbar noch auf dem von der heutigen Forschung aufgegebenen Standpunkt [steht], dass die Kardinallehre des Paulus die Rechtfertigungslehre sei, während wir sie als Kampfeslehre betrachten und nur als eine der Vorstellungen und Lehren, in die er das christliche Heil fasst“), A. Ritschl, H. Lüdemann, O. Pfleiderer, H.J. Holtzmann, C. Weizsäcker, B. Weiss, W. Beyschlag und A. Harnack. A. Dieterich, R. Reitzenstein, W. Heitmüller, G. Heinrici, P. Wendland, E. Schwartz, E. Meyer, H. Gunkel, W. Wrede und W. Bousset. R. Kabisch, E. Teichmann, A. Schweitzer. W. Bornemann, A. Titius, P. Wernle, A. Schlatter, P. Feine, (der hier auf seine Theologie des Neuen Testaments, Leipzig [11910] 41922, verweist, wo er jeweils vom Christusbild bei Paulus seinen Ausgang nimmt), H. Weinel, J. Weiss, A. Deissmann, R. Seeberg und K. Barth. K. Barth, Der Römerbrief, München 1919, 61926; ders., Die Auferstehung der Toten, München [1924] 21925; ders., Erklärung des Philipperbriefes, München 1928.

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literatur- wie religionswissenschaftlichen Paulusarbeiten Rudolf Bultmanns (1884–1976) und seiner Schüler reicht. Diese für die Mitte des 20. Jh.s bestimmende Schule der Paulusinterpre‐ tation, mit der der vorliegende Überblick enden soll, begann mit Bultmanns Interesse am Stil der paulinischen Briefe 191047 und verstärkte sich nach seinen Arbeiten zu den Synoptikern und Johannes deutlich seit den Jahren 192948 bis 193249. Dabei stellt Bultmann etwa an Wrede50 und Bousset51 die Frage, „ob das widerspruchsvolle Bild, als welches der Paulinismus erscheint, das richtig gesehene Bild ist; oder ob nicht doch ein einheitliches Anliegen des Paulus sichtbar gemacht werden kann, von dem her die Doppelheit seiner Sprache verständlich wird; ob er nicht das Sein des Menschen in der Tiefe erfasst hat, von der aus alttestamentlich-jüdische und hellenistisch-gnostische Gedanken je ihr relatives Recht erhalten und zugleich in einem neuen Sinn sichtbar werden“.52 Und weiter: „Ich denke, je mehr man sich den existentiellen Charakter des paulinischen Denkens klarmacht, desto mehr wird man sehen, dass die weltgeschichtliche Bedeutung des Paulus nirgends anders als darin liegt, dass er Theologe war“.53

Nach zwei Millennien Pauluslektüre und -interpretation lässt sich da‐ mit in einem zunehmend säkularisierten und durch Religionslosigkeit bzw. Pseudoreligiosität bestimmten zeitgenössischen Kontext für die eu‐ ropäisch-nordamerikanische Theologie die weitergehende offene Aufgabe formulieren, im dialektischen Spiel von Entmythologisierung und Her‐ meneutik die interpretatorisch-exegetische Auseinandersetzung mit dem Theologen Paulus, wie er uns in seinen Briefen begegnet, unter Hinzuziehen aller den Texten gemäßen Methoden der Theologie, der Altertumswissen‐

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R. Bultmann, Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe (FRLANT 13), Göttingen 1910. R. Bultmann, Geschichte der Paulusforschung; ders., Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für den Theologen Paulus, ThBl 8 (1929), 137–151. R. Bultmann, Römer 7 und die Anthropologie des Paulus, in: H. Bornkamm (Hg.), Imago Dei, FS G. Krüger, Giessen 1932, 53–62; ders., Urchristentum und Religionsgeschichte (über K. Holls gleichbetitelte Schrift), ThR NF 4 (1932), 1–21 (ursprünglich in: SvTK 6 [1930], 299–324). W. Wrede, Paulus, Halle 1904. W. Bousset, Kyrios Christos, Göttingen 1913. Bultmann, Geschichte der Paulusforschung, 51–52. Ebd., 59. Vgl. schon P. Feine (oben Anm. 41).

Die Rezeption des Paulus in der Geschichte der Kirche

schaften und der Kultur-, Text- und Literaturwissenschaften selbst aufzu‐ nehmen und fortzuführen.54 7 Literatur R. Bultmann, Zur Geschichte der Paulusforschung, ThR NF 1 (1929), 26–59. E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch. Paulus in der frühchristlichen Literatur bis Irenäus, Münster 1979. D.E. Eastman, Paul the Martyr. The Cult of the Apostle in the Latin World, Leiden 2010. B.D. Ehrman, Peter, Paul and Mary Magdalene. The Followers of Jesus in History and Legend, New York 2006. H. Hoffmann, Die Würzburger Paulinenkommentare der Ottonenzeit (MGH Studien und Texte 479), Hannover 2009. P.-G. Klumbies/D.S. du Toit (Hg.), Paulus – Werk und Wirkung. Festschrift für Andreas Lindemann zum 70. Geburtstag, Tübingen 2013. O. Merk, Erwägungen zum Paulusbild in der deutschen Aufklärung, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese (BZNW 95), Berlin 1998, 71–97. M.M. Mitchell, The Heavenly Trumpet. John Chrysostom and the Art of Pauline Interpretation (HUTh 40), Tübingen 2000. H. Omerzu und E.D. Schmidt (Hg.), Paulus und Petrus: Geschichte – Theologie – Rezeption: Festschrift für Friedrich Wilhelm Horn, Leipzig 2016. A. Schweitzer, Geschichte der paulinischen Forschung von der Reformation bis in die Gegenwart, Tübingen 1911. S. Vollenweider, Art. Paulus, RGG4 6 (2003), 1035–1065. O. Wischmeyer, Paulusinterpretationen im 20. Jahrhundert. Eine kritische relecture der ersten bis vierten Auflage der „Religion in Geschichte und Gegenwart“, in: P.-G. Klumbies und D.S. du Toit (Hg.), Paulus – Werk und Wirkung. Festschrift für Andreas Lindemann zum 70. Geburtstag, Tübingen 2013, 649-685.

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Vgl. z. B. G. Agamben, Il tempo che resta. Un commentato alla Lettera ai Romani, Torino 2000; Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt 2006.

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1. Hauptbeteiligte und wichtige Positionen

Seit den 1990er Jahren hat die kontinentale Philosophie ein zunehmendes Interesse an Paulus entwickelt. Dieses Interesse ermöglichte einen frucht‐ baren und interessanten Austausch zwischen neutestamentlicher, altphilo‐ logischer und philosophischer Paulusinterpretation. Das Interesse stammt ursprünglich aus den Schriften von Martin Heidegger (1889-1976), Jacob Taubes (1923-1987), Giorgio Agamben (*1942), Alain Badiou (*1937), und Slavoj Zizek (*1949).2 Jacob Taubes‘ Heidelberger Vorlesungen zu Paulus aus dem Jahre 1987 wurden 1993 in deutscher Sprache veröffentlicht. Martin Heideggers Paulusvorlesungen von 1920 und 1921 erschienen 1995. Alain Badiou veröffentlichte 1997 ein Buch über Paulus, Giorgio Agamben 2000 und Slavoj Zizek 2003. Seitdem haben die Werke von Taubes, Agamben, Badiou und Zizek einige Aufmerksamkeit in der Paulusforschung erregt.3 1 2 3

Aus dem Englischen übersetzt von Rebecca Meerheimb und Oda Wischmeyer. M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens; J. Taubes, Die politische Theologie des Paulus; G. Agamben, Il tempo che resta; A. Badiou, Saint Paul. La Fondation de l’universalisme; S. Zizek, The Puppet and the Dwarf. Einige Bücher über den Philosophen Paulus: W. Blanton, Displacing Christian Origins; W. Blanton/H. de Vries (Ed.), Paul and the Philosophers; A. Bradley/P. Fletcher (Ed.), The Politics to Come. Power, Modernity and the Messianic; A. Cimino, Enactment, Politics, and Truth. Pauline Themes in Agamben, Badiou, and Heidegger; G.-J. van der Heiden/G. van Kooten/A. Cimino (Ed.), Saint Paul and Philosophy. The Consonance of Ancient and Modern Thought; J.D. Caputo/L.M. Alcoff (Ed.), St. Paul among the Philosophers; C. Crockett, Radical Political Theology; P. Frick (Ed.), Paul in the Grip of the Philosophers; D. Harink (Ed.), Paul, Philosophy, and the Theopolitical Vision; O. Marchart, Die politische Differenz; J. Milbank/S. Zizek et al. (Ed.), Paul’s New Moment. Continental Philosophy and the Future of Christian Theology; D. Odell-Scott (Ed.), Reading Romans with Contemporary Philosophers and Theologians.

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In diesem Beitrag werden die Paulusinterpretationen der vier genannten Autoren vorgestellt, besonderes Interesse gilt Agambens Werk zu Paulus. Taubes‘ Buch von 1993 diente Agamben als Grundlage, obwohl Agamben selbst wohl eher eine Antwort auf einen Kommentar über seine Philosophie in Badious Buch formulieren wollte.4 Daher stehen diese drei Autoren in einem engeren Verhältnis zueinander, während Zizeks Ansatz zu Paulus sich eher auf Badious Veröffentlichung stützt. Jacob Taubes‘ Vorlesungen zur politischen Philosophie des Paulus stellen dessen Theologie als politische Theorie dar. Paulus sei kein Verfechter eines inneren (protestantischen) Christentums, sondern verfolge eine duale politische Strategie. Die erste Dimension dieser Strategie richte sich nach außen und äußere sich als Opposition gegen das römische Imperium. Diese paulinische Theologie beschäftige sich mit der Dekonstruktion von imperialen, politischen Gesetzen (nomos) und bewege sich im Rahmen von politischer Befreiung. Die zweite Dimension von Paulus‘ politischer Theologie sei dagegen eine interne, jüdische Perspektive, bei der es um Liebe und Gesetz gehe. Laut Taubes ist Liebe die messianische Erfüllung des Gesetzes. Liebe ermögliche die wahre Gemeinschaft der Menschheit, vereint in Solidarität, die die Gesetze überschreitet. In diesem Sinne könne das himmlische Königreich auf Erden ermöglicht werden. Giorgio Agamben liest die Paulusbriefe als westliche fundamentale mes‐ sianische Texte. Die Briefe zielten nicht auf die Gründung einer neuen Religion ab, sondern auf die „messianische“ Ablösung des (jüdischen) Geset‐

4

Die Diskussion zwischen Badiou und Agamben beginnt auf den letzten Seiten von Badious Paulus-Buch. Das Werk wurde in Paris veröffentlicht, wo Badiou eine Professur der Philosophie innehatte und auch Agamben gelebt und gearbeitet hat. Badiou und Agamben kannten einander und lasen die Veröffentlichungen des jeweils anderen, waren aber nicht befreundet. Agamben gehörte zum Freundeskreis von Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy und damit zu einer anderen intellektuellen Gruppierung als Badiou. – In seinem Werk über Paulus kommentiert Badiou Gal 3,28 und behauptet, dass Paulus eine Gleichheit und Gleichstellung produziere, indem er Unterschiede ablege (St. Paul [Engl. Übers.], 109). Badiou setzt diese Verfahren einer universellen Wahrheit einer zeitgenössischen Behauptung entgegen [von Seiten G. Agambens, Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life, Stanford 1998], die die Vernichtungslager der Nationalsozialisten als Höhepunkt oder Krönung der Gleichheit bezeichnet, da jeder, an der Schwelle des Todes zu einem Körper reduziert, absolut gleichwertig mit allen anderen gewesen sei. Agamben verfolgte diese Theorie weiter und kommentierte und kritisierte Badious Darstellung des Universalismus bei Paulus (G. Agamben, The Time That Remains, Stanford 2005, 52-53). Daraus folgt, dass die beiden Philosophen über denselben philosophischen und kulturellen Raum streiten: Paulus.

Die Auseinandersetzung mit Paulus in der gegenwärtigen Philosophie

zes. Agamben nutzt Paulus, um einen bestimmten Strang von marxistischer politischer Ideologie zu re-konfigurieren. Durch die (schwerpunktmäßige) Lektüre des Römerbriefes gelingt es Agamben, eine Theorie der messia‐ nischen Zeit zu entwickeln, in der eine Verschiebung (nach Marx: eine Revolution) stattfindet. Paulus sei Beispiel dafür, wie man in den Tagen des Messias oder der messianischen Zeit leben könne, die er unter dem Begriff „the time of the now“ (ho nyn kairos) konzeptualisiert. Das Verständnis der Bedeutung und inneren Form der „time of the now“ ermöglicht Agamben, über das Wie einer messianischen Gemeinschaft zu reflektieren. Für Alain Badiou ist Paulus nicht der Gründer des Christentums im Sinne eines metaphysischen Ereignisses; vielmehr sei er der revolutionäre Anti-Philosoph jenes Ereignisses. Badiou beschäftigt sich mit Paulus, weil für ihn Paulus für ein Modell des revolutionären Universalismus steht, welches Wahrheit und Subjektivität im Nachklang zu dem Ereignis (nach Marx: der Revolution) miteinander verwebt. Paulus bleibe dem Ereignis (der Revolution) treu und bringe die momentan weit verbreitete Suche nach einer neuen militärischen Figur, die Lenin und den Bolschewisten nachfolgen könne, zu ihrem Abschluss. Der globale Kapitalismus und der Markt kennten keine Wahrheit und hätten kein wirkliches Interesse an den Dingen, die verkauft werden, solange dabei ein Profit erwirtschaftet werde. Aber die Wahrheit gelte, unabhängig davon, wer man sei oder ob man durch den Markt Profit erwirtschafte. Nach Badiou ist es dies, was Paulus verkörpert. Paulus sei ein Beispiel für ein revolutionäres Projekt, das für die heutige Welt relevant bleibe. Slavoj Zizek präsentiert in The Puppet and the Dwarf. The Perverse Core of Christanity eine gegen-den-Strom-geschriebene Geschichte des Chris‐ tentums. Falls es überhaupt möglich ist, Zizeks Werk zusammenzufassen, müsste man es als Interpretation der materialistischen Dimension der christ‐ lichen Tradition in verschiedenen Konstellationen bezeichnen. Durch eine Reihe von Abschweifungen überwindet er das konventionelle Verständnis der Geschichte des Christentums und schafft so Raum zu neuem Denken. Alles scheint wichtig zu sein, aber nichts ist vollständig geklärt. Daher ist es schwierig, den Inhalt des Buches zu erfassen, ohne auf den Stil einzugehen. Zizeks Stil selbst lässt sich zudem einfacher erfahren als beschrieben.5 Zizek 5

Interviews und Gespräche mit Zizek sind im Überfluss auf YouTube zu finden. Sie geben einen sehr guten Eindruck davon, wer er ist, was er tut und wie sich seine Gedanken und seine Theorie in einem Gespräch entfalten.

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infiltriert das christliche Denken durch die Perspektive des sozialistischen Materialismus und des psychoanalytischen Denkens von Jacques Lacan. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die genannten Philosophen Paulus nutzen, um ihre eigenen philosophischen Erkenntnisse zu erläutern und zu veranschaulichen. Sie sind eher an der Darstellung ihres eigenen marxistischen/sozialistischen Denkens als an den historischen Hintergrün‐ den der Paulusbriefe interessiert. Kurz gesagt, ihre Ideologie zeigt sich in ihrer Paulusinterpretation. Neben Taubes, Zizek, Badiou und Agamben haben auch andere zeitge‐ nössische Philosophen über Paulus geschrieben. Viele von ihnen halten ihn für den Begründer des Christentums und betrachten ihn daher mit derselben Faszination wie die Gründerväter anderer westlicher Philosophien und Ideologien. Zu dieser Gruppe gehören Autoren wie Stanislas Breton, Michel Foucault, Pier Paolo Pasolini, Jacques Lacan, Gilles Deleuze, Jean-Michel Rey, Paul Ricoeur, Keiji Nishitani, Jean-François Lyotard, Clayton Crockett, Martin Heidegger, Rémy Bac, John Milbank, Jean-Luc Marion, Eric Santner und andere. Dies „Sich Wenden an Paulus“ oder „Die Rückkehr des Apos‐ tels“ ist eine verbreitete und wachsende Bewegung, die auch als „Pauline passage“, „the profit of Paul“ oder auch „der Paulus Effekt“ bezeichnet wird.6 Meiner Ansicht nach ist dieser „Effekt“ Ausdruck einer verstärkten Beschäftigung der Philosophie mit dem Phänomen der Religion, bzw. der sog. „Rückkehr der Religion“.7 In seinem 1999 erschienenen Werk Philosophy and the Turn to Religion listet Hent de Vries klassische Punkte der philosophischen Religionskri‐ tik auf: Wahrheit im Gewand einer Lüge (Schopenhauer), Anthropologie verkleidet als Theologie (Feuerbach), Ideologie und falsches Bewusstsein (Marx), kindliche Neurose (Freud), der widersinnige Ausdruck von Gefüh‐ len, verbreitet von Metaphysikern ohne poetisches oder musikalisches Talent (Carnap), ein kategorischer Fehler (Ryle), eine Form von Leben

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Ich habe diesen Ausdruck von Julia Reinhard Lupton entliehen (J.R. Lupton, Ablative Absolutes. From Paul to Shakespeare, in: Blanton/de Vries (Ed.), Paul and the Philoso‐ phers, 288) und W. Blanton, Paul and the Philosophers. Return to a New Archive, in: Blanton/de Vries (Ed.), Paul and the Philosophers, 37. Nachzulesen in H. de Vries, Philosophy and the Turn to Religion, Baltimore & London 1999 und J. Roberts, „The Returns to Religion“. Messianism, Christianity and the Revolutionary Tradition. Part 1. „Wakefulness to the Future“, Historical Materialism 16 (2008), 59-84.

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(Wittgenstein).8 Überraschenderweise hat Religion all diesen Angriffen standgehalten und scheint auf den ersten Blick geradezu zu gedeihen und zurückzukehren – auch als theoretisches und konzeptionelles Werkzeug.9 Heutzutage nutzen Philosophen, Literaturkritiker, Soziologen und andere kritische Theoretiker Paulus und die Religion als Werkzeug oder Methode, um eine Antwort auf die dringendsten Fragen unserer Zeit zu formulieren.10 Man könnte diese neue Zuwendung zu Paulus und zur Religion auch als „deconversion“ westlicher Philosophie bezeichnen. Paulus wurde als Forum für die Diskussion dringender politischer Probleme erschlossen. Stanley Fish hat 2005 sogar behauptet, dass Religion in der Zukunft eine ähnlich kritische und ordnende Funktion entwickeln würde wie „theory“.11 Mit dem breiteren Konzept „return of religion“ beschäftigen sich unter anderem Jacques Derrida, Jean-Luc Nancy, Emmanuel Levinas, Maurice Blanchot, Jean-Luc Marion, Gianni Vattimo, Richard Rorty,12 Talal Asad, Gil Anidjar, Slavoj Zizek, Michael Hardt & Antonio Negri, Gilles Deleuze, Paul Ricoeur, Jan Assmann, Jürgen Habermas, Philippe Lacoue-Labarthe, Eric Weil und Michel de Certeau.13

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De Vries, Philosophy, 2. In Dänemark hat Ole Wæver, Professor für Politikwissenschaften, eine theoretische Begründung von Religion als Konzept im Bereich von Sicherheit und internationaler Politik vorgelegt. Ich will hier nur einige wenige aufzählen: T. Asad, Genealogies of Religion, Baltimore 1993; ders., Formations of the Secular, Stanford 2003; G. Anidjar, The Jew, the Arab. A History of the Enemy, Stanford 2003; G. Anidjar/J. Derrida, Acts of Religion, New York 2002; J. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003; J. Milbank, Theology and Social Theory, Oxford 1990; J.-L. Marion, God without Being, Chicago 1991 (1982); D. Jannicaud (Ed.), Phenomenology and the „Theological Turn“, New York 2000; J.-L. Nancy, Dis-Enclosure. The Deconstruction of Christianity, New York 2008 (2005). S. Fish, One University under God, in: The Chronicle of Higher Education 1/7 (2005). Vgl. auch C.A. Fox, Sacrificial Pasts and Messianic Futures, in: Philosophy and Social Criticism 33/5 (2007), 563-595, der untersucht, wie Religion theoretisch helfen kann, das Politische zu definieren. Vgl. J. Derrida/G. Vattimo, Die Religion (ed. suhrkamp 204), Frankfurt a. M. 2001; R. Rorty/G. Vattimo, Die Zukunft der Religion, Frankfurt a. M. 2006. Neben den zeitgenössischen Philosophen, die sich mit Paulus beschäftigt haben, wurde schon im Laufe der Philosophiegeschichte über Paulus geschrieben. Von den neueren modernen Philosophen sollten Baruch Spinoza (1632-1677), John Locke (1632-1704), Immanuel Kant (1724-1804), Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), Friedrich Nietzsche (1844-1900), Sigmund Freud (1856-1939), Carl Schmitt (1888-1985), Martin Heidegger (1989-1976), Jacques Lacan (1901-1981) genannt werden. Vgl. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. 2 Bde., Berlin 2019 (42020), Bd. 1, 503-515, zu Paulus.

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Das Ergebnis der Begegnungen dieser Philosophen mit Paulus kann abgekürzt als Paulus-Effekt bezeichnet werden. Dieser Paulus-Effekt ist Ausdruck eines kulturellen Konzepts, das für Autorität und Werte steht, Den Philosophen ist dabei die historische Gestalt des Paulus nicht gleichgültig. Alan Badiou schreibt dazu: We are doubtless assisted in this [turn to Paul] by the fact that – for example – Hegel, August Comte, Nietzsche, Freud, Heidegger, and again in our own time, Jean-François Lyotard, have also found it necessary to examine the figure of Paul and have done so, moreover, always in terms of some extreme dispositions … in order to organize their own speculative discourses. (St. Paul, 5)

Badiou zeigt auf, dass Paulus eine besondere Stellung in der Tradition der westlichen Philosophie einnimmt. Seine Texte und sein Name sind immer noch Gegenstand des Interesses der zeitgenössischen Philosophie, selbst wenn die Möglichkeit einer anderen Wahrnehmung und einer veränderten Kontextualisierung besteht. Es sind immer wieder diese Texte, die wieder aufgenommen werden, und diese Tatsache spielt eine wichtige Rolle in der Arbeit der Philosophen. Eine wiederkehrende Frage in der philosophischen Arbeit mit Paulus ist die nach der angemessenen Lektüre und Interpretation der Paulustexte. Gehört zu dieser Lektüre die Rekonstruktion von Inhalten, die der Original‐ autor den Originallesern mitteilen wollte? Oder geht es um Rettung und Wiederbeschwörung von Gedanken, die in den Texten des Paulus angedeu‐ tet, impliziert, unterdrückt oder mindestens potentiell vorhanden sind und durch die die Texte nicht nur Teil der Vergangenheit sind, sondern auch Zu‐ kunft haben? In The Postcard (1987 [French 1980]) diskutiert Jacques Derrida die strukturell vorhandene Möglichkeit, dass Briefe verloren gehen.14 Dabei beschränkt er sich nicht allein auf Fälle, in denen ein Brief verschwunden ist oder beschädigt wurde – ein Schicksal, das offensichtlich den Großteil der paulinischen Briefe ereilt hat. Derrida fasst seine Darstellung noch weiter und stellt fest, dass, selbst wenn ein Brief versandt und empfangen wurde, die Möglichkeit eines möglichen Missverständnisses weiterhin be‐ steht – auch dies Schicksal hat die Paulusbriefe ereilt. Weiterhin bedenkt Derrida auch die Möglichkeit, dass ein Brief, der versandt, empfangen 14

Zu dem Zusammenspiel von Derridas Nachdenken über verlorene Post und den Paulusbriefen, vgl. D. Caputo, Postcards from Paul. Subtraction versus Grafting, in: Caputo/Alcoff (Ed.), Paul among the Philosophers, 1-23, insbes. 1-2.

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und in Bezug mit dem originalen Kontext (soweit möglich) interpretiert wurde, immer noch anders verstanden und re-kontextualisiert werden kann. Insbesondere diese letzte Möglichkeit sollten wir vor Augen haben, wenn wir die philosophische Pauluslektüre diskutieren und ihre Positionen einer historisch-kritischen Interpretation gegenüberstellen. Kann irgendjemand den „wahren Paulus“ (falls er überhaupt existiert) rechtmäßig für sich selbst und die eigene Disziplin beanspruchen, oder bleibt uns nur die Möglichkeit einer fortlaufenden und vielfältigen Aneignung innerhalb einer Vielzahl von Disziplinen? Diese Frage stellt sich, wenn die historisch-kritische Pau‐ lusexegese mit dem ahistorischen und politischen Paulus der Philosophen konfrontiert wird. 2. Reaktionen von Vertretern der Neutestamentlichen Wissenschaft

Viele Vertreter der Neutestamentlichen Wissenschaft haben sich mit dem philosophischen Paulus auseinandergesetzt. Viele haben dabei mit sehr großer Überzeugung sehr wenig gesagt. E.P. Sanders beispielsweise wurde um einen Kommentar zu der Frage des Universalismus für St. Paul among the Philosophers (2009) gebeten.15 In dem daraus entstandenen Artikel erwähnt Sanders nicht einmal das Konzept eines philosophischen Paulus, sondern schreibt stattdessen über Universalismus im antiken Judentum. Sanders wollte damit aufzeigen, dass die Philosophen Paulus anachronistisch lesen. Ihre Form von Universalismus unterscheide sich von der des Paulus und der des antiken Judentums. Dieser Ansatz ist allerdings insofern problematisch, als er weder das vorhandene Wissen bezüglich des philosophischen Paulus vertieft, noch zu einer erfolgreichen Auseinandersetzung mit dem philo‐ sophischen Paulus anregt. Stattdessen wird ein Teilstück der Diskussion unter bestimmten disziplinären Gesichtspunkten isoliert und ein Dialog dadurch unmöglich gemacht. In diesem Sinne bestimmt Sanders den his‐ torisch-kontextualisierten Paulus als „einzig wahren Paulus“ und tut den philosophischen Paulus als falsch ab. Eine andere Möglichkeit der theologischen Auseinandersetzung mit dem philosophischen Paulus ist das Paraphrasieren. Zwei ausgezeichnete Bei‐ spiele für paraphrasierende Herangehensweisen geben Angela Standhartin‐ 15

E.P. Sanders, Paul Between Judaism and Hellenism, in: Caputo/Alcoff (Ed.), St. Paul among the Philosophers, 74-90.

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ger auf Deutsch und Alain Gignac auf Englisch.16 Oft wird der Inhalt der philosophischen Paulusdarstellungen referiert, um dann auf Fehler hinzu‐ deuten, wobei dem Konzept bestenfalls noch eine mögliche Nutzbarkeit für die Exegese zugesprochen wird. Ein inhaltlicher Austausch zwischen Paulusexegese und Philosophie steht aber noch aus. Grund für dieses Vorgehen – der von den Exegeten auch eingestanden wird – ist mangelnde Kenntnis der eigentlichen Philosophie des Philosophen. Nichtsdestotrotz sind die Exegeten fasziniert davon, dass sich Philosophen mit Paulus be‐ schäftigen und ihn in das eigene zeitgemäße Umfeld setzen. Dabei lassen sich aber Missverständnisse nicht vermeiden, denn die Theologen verstehen nicht, dass die Philosophen die Paulusbriefe in einem weiter gefassten (zeitgenössischen und) philosophischen Kontext lesen.17 Einige Exegeten haben sich kritisch mit der „Philosophy of the philo‐ sophers“ auseinandergesetzt und dabei wertvolle Einsichten gewonnen.18 Diese Ansätze sind exemplarisch und werden sowohl dem historisch-kon‐ textualisierten Paulus als auch der „Philosophie der Philosophen“ gerecht. Allerdings beschränken sich diese exegetischen Arbeiten auf Badious und Zizeks Interpretationen. Bisher habe ich noch niemanden gefunden, der „Agamben-on-Paul“ sowohl aus der Perspektive von Agambens Philosophie als auch aus der Perspektive der Paulusexegese betrachtet. Ich werde im Folgenden einen möglichen Ansatz skizzieren.

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A. Standhartinger, Paulus als politischer Denker der Gegenwart. Die Paulus-Lektüre von Jakob Taubes, Alain Badiou und Giorgio Agamben aus neutestamentlicher Sicht, in: E. Reinmuth (Hg.), Politische Horizonte des Neuen Testaments, 68-91. A. Gignac, Agamben’s Paul. Thinker of the Messianic, in: P. Frick (Ed.), Paul in the Grip of the Philosophers, 165-192. Einen eigenen Weg nehmen folgende theologischen Projekte: Harink (Ed.), Paul, Phi‐ losophy, and the Theopolitical Vision; Milbank/Ziziek et al. (Ed.), Paul’s New Moment. Hier wird der Versuch unternommen, die philosophischen Wahrheitsansprüche an Paulus auf eine originale und mehr religiöse (das heißt, christliche) Version des antiken Paulinismus zu übertragen und auf der Kategorie der Transzendenz und des paulinischen Wahrheitsanspruches zu beharren. Dazu kritisch: T. Engberg-Pedersen, Review of Douglas Harink, ed., Paul, Philosophy, and the Theopolitical Vision: Critical Engagements with Agamben, Badiou, Žižek, and Others, Review of Biblical Literature 15 (2013), 399. D. Martin, The Promise of Teleology, the Constraints of Epistemology, and Universal Vision in Paul, in: Caputo/Alcoff (Ed.), St. Paul among the Philosophers; T. Engberg-Pe‐ dersen, Paul and Universalism, in: Blanton/de Vries (Ed.), Paul and the Philosophers; W. Blanton, Paul, in: ders./de Vries (Ed.), Paul and the Philosophers; S. Stowers, Paul as a Hero of Subjectivity, in: Blanton/de Vries (Ed.), Paul and the Philosophers .

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3. Der politische Paulus

Philosophen wenden sich Paulus zu, weil sie in seinen Texten konzeptio‐ nelle Möglichkeiten neuen und kritischen Denkens finden, denn Paulus überschreitet Grenzen und untergräbt Spaltungen. Aber warum und auf welche Weise „kehren“ Paulus und Religion „zurück“? Wie die Strahlen der Frühlingssonne oder wie der Dulder Odysseus? Es ist nicht möglich zu sa‐ gen, warum Paulus für bestimmte Philosophen wieder attraktiv geworden ist oder warum sich die zeitgenössische philosophische und politische Debatte ihm wieder zugewandt hat. Tatsächlich wird er disziplinübergreifend und über institutionelle Grenzen hinaus gelesen. Die Wiederaufnahme der Pau‐ lustexte (außerhalb von theologischen Debatten) erscheint als etwas „mehr“ oder „anderes“ als eine simple Wiederholung von etwas, was früher einmal bekannt war, inzwischen aber vergessen oder verdrängt wurde. Paulus erscheint als der ideale Gesprächspartner, der eine Position ausdrückt, aus der neue Ideen entstehen und neue Formen kulturellen Wissens produziert und verbreitet werden können. Das bedeutet, dass Paulus nicht genutzt wird, um nach einer sicheren und bestimmten Antwort in metaphysischen und ethischen Fragen zu suchen. Vielmehr generiert und verbreitet er ein Gefühl von etwas Wichtigem und Relevantem in bestimmten alten (und doch merkwürdig modernen) Fragen. Wenn die Philosophie sich mit Paulus beschäftigt, werden diese neuen (alten) Konstellationen zu einer Art von „vergleichendem Kontrast“, voller Möglichkeiten, politischen Stillstand zu kritisieren und neue Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Vom Standpunkt der Philosophen aus scheint Aktivismus die Essenz der Paulusbriefe zu sein. Meistens, wenn sich Philosophie mit Paulus auseinandersetzt, wird die „etablierte Kirche“ (metaphorisch gesprochen) zur Hure Babylon im Dienst des Antichrist. Die Tatsache, dass Paulus wieder modern geworden ist, sollte daher nicht als eine Art konservativen Wiederauflebens oder als Rückkehr zur traditionellen Religion betrachtet werden. Ganz im Gegenteil: die Rückkehr des Paulus ist ein Zeichen der Sehnsucht nach Wandel. Es besteht Bedarf für ein neues Symbol des Akti‐ vismus, oder wie Badiou es ausdrückt „a new militancy for the universal“ in einer Zeit, die nach Ansicht bestimmter politischer Philosophen von moralischem Relativismus, kommunitärer Identitätspolitik und globalem Kapitalismus geprägt ist. Was durch Paulus erspäht und ertastet werden kann, ist die Vision einer existenziellen Verpflichtung, die gegenüber den unmotivierten und apathischen Lebensformen, die die liberale Demokratie

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mit sich bringt, Stellung bezieht. Badiou benutzt Paulus, um aufzuzeigen, dass der Universalismus emanzipatorisch sein kann, während Agamben mit Paulus belegen will, dass die pleromatische (messianische) Zeit emanzipa‐ torisch betrachtet werden kann. Es geht um politische Enttäuschung und um die Suche nach einem neuen politischen Subjekt. Für Agamben hat sich daraus auch eine direkte und öffentliche Kritik an der Katholischen Kirche (Frankreichs) entwickelt, erschienen unter dem Titel The Church and the Kingdom (2012). Die Auseinandersetzung der Philosophen mit Paulus beruht auf der Überzeugung, dass der persönliche Einsatz, den Paulus in seinen Briefen zur Schau stellt, genau das ist, was moderne Politik braucht, um erfolgreich zu sein. Die Philosophen teilen sein Engagement, aber nicht seinen Glauben. Paulus wird als Hilfsmittel oder Methode benutzt, um Probleme der Gegenwart zu durchleuchten. Dies zeitgenössische und politische Engagement unterscheidet sich sehr von der „traditionellen“ historisch-kritischen Analyse der Neutestamentlichen Wissenschaft. Paulus wird zum großen Denker des politischen Raumes und der politischen Positionen. Das philosophische Paulusengagement ist dabei nicht durch eine obskure, exklusive oder avantgardistische Lesart des Politischen gesteuert oder ge‐ leitet. Keiner der genannten Philosophen versucht die eigene Auseinander‐ setzung mit Paulus durch kryptische oder komplizierte Transformationen der politischen Philosophie zu rechtfertigen. Tatsächlich geschieht das Gegenteil: Paulus schafft einen privilegierten Platz für eine ordentliche und ehrliche „read-ability“ zeitgenössischer politischer Philosophie. Dadurch ist Paulus für die Philosophen ein großer Vertreter einer zeitgenössischen ethisch-politischen Position geworden. Paulus (und die Religion) kehrt zurück, um die öffentliche und politische Sphäre zu durchdringen, aber im Auftrag von Ethik und Politik. Offensichtlich sind die ethischen und gesellschaftlichen Aspekte der Paulusbriefe unmittelbar relevant für die Philosophen, aber auch seine theologischen Ideen werden genutzt und neu re-interpretiert. Sowohl Agamben und Taubes als auch Derrida (und zum Teil Zizek) wenden dieses messianische Konzept auf zeitgenössische politische Philosophie an. Sie verbinden messianische Konzepte mit zeitge‐ nössischer politischer Philosophie, sie fanden und finden dieses Konzept noch immer in den paulinischen Schriften.

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4. Agambens Paulus

Agamben bietet eine Reihe interessanter Zugänge zu exegetischen Themen bei Paulus. Agambens Wahrnehmung und Interpretation paulinischer The‐ men wie Berufung/Vokation, Rest/Remnant, Gesetz, Evangelium/Verkündi‐ gung und Glaube sind bemerkenswerte Erweiterungen, Alternativen oder Weiterentwicklungen historisch-kritischer Zugänge. Im Folgenden werde ich versuchen, Agambens Denkweise und traditionelle historisch-kritische Exegese zusammenzuführen oder zumindest zwischen den Ansätzen zu vermitteln. Dabei werde ich Konzepte wie Berufung, Rest und Gesetz bemühen, um zu zeigen, wie Agambens Überlegungen in der Paulusexegese genutzt werden können. Meine Ausführungen folgen dabei möglicherweise nicht unmittelbarer Agambens Ansätzen, aber ich sehe sie als offensichtliche Fortführung seines Denkens hin zu einem traditionellen, exegetischen Diskurs. Paulus nimmt sich selbst als Heidenapostel wahr (Röm 11,13). Er verbietet den Heiden, die seine Verkündigungen hören, die Beschneidung, obwohl sie an einen jüdischen Gott, bezeugt durch jüdische Schriften, glauben sollen (Gal 5,1-6; Röm 3,21). Paulus hat für diese Heiden keine vollständige Angleichung an das Judentum durch Beschneidung für notwendig erachtet, obwohl sie ihre eigenen einheimischen Kulte und Sitten abgelegt haben (1 Kor 12,2). Dadurch schuf Paulus eine Art sozioreligiöses Niemandsland für diese christusgläubigen Heiden. Agamben spricht hier das Problem der Auflösung von ethnischer Zugehörigkeit im Anschluss an 1 Kor 7,17-31 an.19 In der Exegese zu 1 Kor 7 nimmt Agamben Bezug auf die Frage nach Vokation oder Berufung (κλῆσις) im Verlaufe des Lebens. Nach Agamben ist der entscheidende Aspekt die messianische Natur der Berufung/Vokation, selbst wenn er selbst nicht definiert, was messianisch meint. Agamben führt in die Diskussion ein, indem er fragt, was Paulus meint, wenn er sagt: „Ein jeder bleibe in der Berufung, in der er berufen wurde“ (1 Kor 7,20). Agamben versteht die Berufung einer Person als ihre Identität. Aufgrund seiner generellen philosophischen Überzeugung geht Agamben davon aus, dass Menschen grundsätzlich keiner bestimmten Berufung folgen.20 Menschen haben das Potential, alles und jedes zu sein und zu werden. In The Coming 19 20

In 1 Kor. 7,20 bespricht Agamben κλῆσις und καλέω, in 7,21 χρῆσαι, und in 7,29ff. ὡς μή. G. Agamben, Un libro senza patria: Giorgio Agamben intervista di Federico Ferrari, in: EUtropia I (2001), 44.

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Community (42) erklärt Agamben, dass Ethik allein deshalb möglich ist, weil Menschen keine Vokation haben. Wäre dies der Fall (so wie bei Tieren), würde diese Bestimmung bestimmte Ethiken oder Politiken prädisponieren. Dass Menschen keine bestimmte Berufung innehaben, ermöglicht ihnen, „whatever being“ zu werden.21 Was Agamben mit dieser Diskussion von κλῆσις in 1 Kor 7,20 erreichen will, ist die Auseinandersetzung mit der Frage, wie Menschen eine Berufung haben können, ohne eine Berufung zu haben. Eine Berufung ohne Berufung zu haben meint, dass Menschen ihre eigene Ethik und Politik bestimmen können. Agamben schlussfolgert jedoch, dass jede Form von Ethik oder Politik, wenn sie aufrichtig mensch‐ lich bleiben will, offen und „kommend“ (das heißt, messianisch) bleiben muss, weil die konstituierende menschliche Tugend darin besteht, in den eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten nicht bestimmt oder definiert zu werden. Wahrhaft menschlich zu werden und die menschliche Berufung zu akzeptieren (in der messianischen Berufung zu leben) bedeutet, immer offen zu bleiben, denn diese unbestimmte Offenheit ist die grundlegende Definition und Qualität der Menschen.22 Bei Paulus findet Agamben einen Diskurs zu der Idee einer messianischen Berufung, welcher die Auffassung einer Berufung ohne Berufung stützt. Im Fall von Paulus christusgläubigen Heiden betrifft dies ihre heidnische Identität. Wenn Agamben im weiteren Verlauf die Bedeutung von 1 Kor 7,20 kommentiert, identifiziert er die soziale Stellung oder soziale Position einer Person als Gegenstand des Gerufen-werdens.23 Der Ruf beschreibt die fak‐ tischen, rechtlichen und ethnischen Bedingungen, unter denen jemand lebt (als Sklave, Herr, Mann, Frau, verheiratet, verwitwet, Griechisch, Jüdisch, etc.). Nach Agamben beschreibt der eigene Ruf das zum Messianischen 21

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Agambens Buch The Open: Man and Animal, Stanford 2004, beschäftigt sich umfang‐ reicher mit dem Thema der spezifischen Berufung von Menschen. Der Titel des Buches passt zu seinem Verständnis von Berufung, denn eine menschliche Berufung ist unspezifizierbar und entfaltet ihre Offenheit im Raum und der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier – wie der Untertitel des Buches sagt. Agamben nennt dieses being qualunque in The Coming Community, 1. Manche Wissenschaftler verstehen diese Offenheit als radikale Passivität (T.C. Wall, Radical Passivity, Stanford 1999, 115 ff.) in Referenz zu Agambens Essay über Bartleby den Schreiber und Bartlebys Passivität als messianisch (see J. Whyte, „I Would Prefer Not To“, Stanford Law Critique 20 [2009], 309-332). Das Verb καλέω dominiert die Passage 7,17-24. Καλέω kommt acht Mal vor, einmal in Verbindung mit κλῆσις (7,20). Paulus betont hier offensichtlich seine Theologie des Rufens durch die dreimalige Wiederholung der Hauptaufforderung in 7,17, 7,20 und 7,24, im Leben/Status zu bleiben, in das man berufen wurde.

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Gerufenwerden, wodurch es zu einem „calling of the calling“ wird.24 Der Ruf wird sich selbst zugewandt, nicht um neue soziale, juristische, ethnische oder weltliche Bedingungen zu vermitteln, sondern um die messianische Berufung als eine Wiederholung oder Erneuerung derselben Bedingung zu manifestieren.25 Der Inhalt der messianischen Berufung sind „dieselben faktischen oder rechtlichen Bedingungen, in denen oder aus denen wir be‐ rufen werden“.26 Der Ruf beinhaltet keine neue oder andere sozio-ethnischen Positionen oder Praktiken, sondern schallt wider als das, was schon ist, so dass die Transformation durch den Ruf entweder eine innere Veränderung oder eine unbewegliche Dialektik anzeigt. Im Messianischen wird etwas wiederholt, aber es ist die Wiederholung von etwas Anderem oder der Wandel vom Selben durch sich selbst. Die Heiden, die der Verkündigung des Paulus folgten und ihre Berufung in Christus fanden, sind jene, denen jede frühere Mitgliedschaft, Status oder Identität entzogen wird. Während sie auf die Rückkehr Christi warten, soll jede Person leben, „als lebte sie nicht“ (ὡς μή, 1 Kor 7,29-31). Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Auch sollen die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.

Der Ruf des Rufens oder die Aufhebung jeder Berufung führt zur Annullie‐ rung aller Differenzen, inklusive der ethnischen. Jede Unterscheidung und Andersartigkeit bleibt, wie sie ist, wird jedoch bedeutungslos. Die Heiden schwören aktiv ihrer paganen Götter ab, wenn sie sich der paulinischen Ge‐ meinde anschließen, ohne sich gleichzeitig einer neuen ethnischen Gottheit zuzuwenden, da sie nicht zu Juden werden. Der griechische Heide wird kein Israelit, sondern ein „Nicht-Nichtisraelit“, da er aufgrund seines Heidentums zuvor ein „Nichtisraelit“ gewesen ist. Seine Identität als „Nichtisraelit“ wird durch den Widerruf aufgehoben, und er wird zu einem „Nicht-Nichtisraeli‐ ten“. Durch den Messias trägt der Heide die Beschneidung im Herzen statt 24 25

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Agamben, The Time That Remains, 23. Kursivierung im Original. Dies ist, was μενέτω in 1 Kor 7,20 bedeutet. Paulus zielt auf dieselbe Bedeutung auch in 7,17 ab, obwohl er an dieser Stelle περιπατείτω (umhergehen, leben) benutzt. Daher bedeutet 7,17 „wandeln nach Gottes Ruf“, und 7,20 meint „im Ruf bleiben“, so wie 7,24, wo er wieder μενέτω nutzt. Agamben, The Time That Remains, 23. Kursivierung im Original.

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im Fleisch. Diese Mitglieder der ἐκκλησία bilden einen integralen Teil der Gemeinde des Gottes Israels, ohne aber selbst Juden zu werden. Die fehlende Beschneidung unterscheidet Heidenchristen von ethnischen Juden, selbst wenn ihre Nichtjudenheit unveränderlich bleibt. Ein Sklave bleibt ein Sklave, eine Ehefrau bleibt eine Ehefrau, und ein Heide bleibt (selbst nach der Taufe) ein Heide, aber der messianische Ruf oder das Ablegen jeder Berufung annulliert alle diese Unterschiede (vgl. Gal 3,28). Genauer: der messianische Ruf widerruft jede Art von Zugehörigkeit oder Status, ohne sie in der Praxis zu annullieren.27 So wie der Souverän Ausnahmen des Gesetzes und damit auch dessen Auslegung bestimmt, annulliert der messianische Ruf jede vorausgegangene Unterscheidung oder Bestimmung. Wenn ein Souverän eine Ausnahme beschließt, ist das Gesetz gleichzeitig außer Kraft gesetzt und erfüllt. Dies Vorgehen ähnelt dem Widerruf jeder Berufung in dem Sinne, dass der Heide weiterhin Heide bleibt, aber lebt, als sei er es nicht. Nach Agamben ist dies, was Paulus beabsichtigt, wenn er Geist, Glaube und Gnade über das Gesetz stellt. Auf diese Art und Weise wandelt Paulus die Heiden von nichtjüdischen Individuen (1 Kor 12,2) hin zu Personen ohne bestimmte ethnische Identi‐ tät. Er ersetzt ihre römische, korinthische oder galatische Identität durch eine nicht-nichtjüdische Identität. Sie waren Nichtjuden, aber durch den messianischen Ruf sind sie zu Nicht-Nichtjuden geworden, weil durch den Geist die vorherigen Einteilungen neu definiert wurden. Bestimmte Juden sind nicht mehr jüdisch durch den Messias, genau wie bestimmte Heiden durch den Messias nicht mehr heidnisch sind. Paulus sagt dies in Röm 9,6: „Denn nicht alle sind Israeliten, die von Israel stammen.“ Eine einfache Unterteilung in Juden und Nichtjuden reicht nicht mehr aus. Im messiani‐ schen Gesetz zu verweilen (ἔννομος Χριστοῦ, 1 Kor 9,21) hat zur Folge, Nicht-Nichtjude zu sein, und kompromittiert ein wahres menschliches Leben innerhalb des messianischen. Der messianische Widerruf trennt jede Identität von sich selbst, ohne ihr dabei eine neue Identität zuzusprechen, daher Jude-als-Nichtjude und Grieche-als-Nichtgrieche. Agambens Interpre‐ tation ist ein substantieller Beitrag zu der gegenwärtigen exegetischen Debatte um die religiös-ethnische Zugehörigkeit des Paulus („Paul within

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G. Agamben hat ein ganzes Buch über diese Analyse der souveränen Ausnahme im Anschluss an Carl Schmitt geschrieben, State of Exception, Chicago 2005. Diese Analyse nutzt er auch in The Time that Remains, 104-108. Außerdem ders., Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (Edition Suhrkamp), Frankfurt 2002.

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Judaism“) aus philosophischer Sicht. Die „Paul within Judaism“-Perspektive hat die Interpretation Agambens noch nicht in den Blick genommen. Hier muss eine Debatte geführt werden. 5. Paulus und Agamben über Selbst, Selbstheit und Identität

Agambens Paulusinterpretation lässt sich gerade zu den Themen von Selbst, Selbstheit und Identität in Beziehung setzen.28 Es geht um folgende Fragen: Was ist das Selbst, wie bildet eine Person sein/ihr eigenes Selbst (im Geschriebenen), und worauf bezieht sich Individualität? Offensichtlich ist jedes einzelne dieser Konzepte hochkomplex in seiner Wahrnehmung und Nutzung innerhalb der Diskurse zwischen Philosophie, Literatur und Geschichte, und diese Komplexität erhöht sich noch, wenn man sie auf die Paulusexegese anwendet. Entscheidend ist, dass Agambens Werk auf einer modernen Vorstellung des Selbst beruht. Dieser Selbstbegriff kann in seinen anderen philosophischen Schriften gefunden werden und wird dort explizit erläutert. Neutestamentliche Wissenschaftler haben versucht, die Konzepte von Selbst, Selbstheit und Individualität mit dem Denken des Paulus zu vermitteln,29 wobei die Konzepte von einem historischen Hintergrund aus und im Kontext eines solchen betrachtet werden. Beide Diskurse fragen, was ein menschliches Wesen tut oder nicht tut. Hier nähern sich Agambens Werk und die Arbeiten verschiedener Neutestamentler an. Die Interpretation von Selbst, Selbstheit und Individualität innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft ist komplex und facettenreich. In gewisser Hinsicht bezeugen die Paulusbriefe eine Art des Selbstschreibens, in der Paulus eine Beziehung von sich selbst zu sich selbst schafft. Diese In-Beziehung-Setzung des Autors zu sich selbst führt zu Individualisierung und verstärkter Subjektivität. Bei Paulus, anders als bei Agamben und 28

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Für Beispiele hierzu vgl. E.-M. Becker, Das introspektive Ich des Paulus nach Phil 1-3. Ein Entwurf, NTS 65 (2019), 310-331; H.D. Betz, The Concept of the „Inner Human Being“ (ὁ ἔσω ἄνθρωπος) in the Anthropology of Paul, in: NTS 46 (2000), 315-345; W. Burkert, Towards Plato and Paul: The „Inner“ Human Being, in: A. Yarbro Collins (Ed.), Ancient and Modern Perspectives on the Bible and Culture. Essays in Honor of Hans Dieter Betz, Atlanta 1998, 59-82. Vgl. auch die Beitragssammlung von M.R. Niehoff/J. Levinson (Ed.), Self, Self-Fashioning and Individuality in Late Antiquity. New Perspectives, Tübingen 2019. Ein Großteil der neutestamentlichen Veröffentlichungen zu Selbst, Selbstheit und Identität sind inspiriert von der epochalen Arbeit C. Taylors, Sources of the Self, Cambridge 1989.

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der zeitgenössischen Philosophie, hat dies Moment der Subjektivierung allerdings keine selbstbezogene Intention. Ganz im Gegenteil dient es dem Wohlbefinden seiner Gemeinden und nicht der Eröffnung eines neuen politischen Themas. Für Paulus besteht eine Verbindung zwischen diesen deutlichen und direkten Werten/Ethiken und dem Christusgeschehen, während Agamben hier nur eine „Möglichkeit“ sieht. Wenn Paulus also Selbstreflektion betreibt und seine Adressaten zur Nachahmung auffordert (Phil 3,17), basiert dies Vorgehen auf einem Christusverständnis, das auf kosmologischer Verkündigung und liebender Einheit beruht. So wie Chris‐ tus eine menschliche Gestalt annahm (Phil 2,6-11), erwartet auch Paulus eine Veränderung seines eigenen Körpers zum Ebenbild Christi (Phil 3,10ff.). Die Mitarbeiter des Paulus erlebten eine ähnliche Transformation (Phil 2,19-30), und Paulus geht davon aus, dass dasselbe auch seinen Adressaten zuteilwerden wird. Wenn Paulus daher neue Gläubige „zeugt“ (vgl. Philemon 10), erwartet er, dass sie ihm (und Christus) nachfolgen und ihr eigenes Leben aufgeben, um es ganz in den Dienst des Wohlbefindens anderer Gläubiger zu stellen. Dies ist ein Leben in Liebe und Gemeinschaft (Phil 2,1-4), aus welchem sich eine Beziehung des Selbst zu sich selbst und zu anderen ergibt. Das „calling of the calling“ oder der Widerruf jeder Berufung dient dem Zweck, das Subjekt als ein Individuum zu begründen, das die Befähigung besitzt, „whatever being“ zu werden, und die „Möglichkeit“ hat, eigene Entscheidungen in gemeinschaftlichen Fragen zu treffen. Wenn alle Unterschiede durch das „calling of the calling“ aufgehoben worden sind, verliert Identität jegliche Bedeutung. Anders als Paulus stellt Agamben nicht den Bezug zum gemeinschaftlichen Leben her. Hier bleibt eine Leerstelle in dem möglichen Dialog zwischen neutestamentlicher und philosophischer Paulusinterpretation. 6. Konsequenzen für die Paulusforschung

Welche Konsequenzen kann Agambens Ansatz für die neutestamentliche Paulusinterpretation haben? Was genau verlangen die Philosophen von den Institutionen, die traditionellerweise Paulus interpretieren, nämlich der Neutestamentlichen Wissenschaft? Was wird impliziert, wenn die philosophische Auseinandersetzung sich weder als konfessionell noch his‐ torisch-kritisch bezeichnet? Hat jeder ein Recht auf eine eigene Paulusin‐ terpretation, ob Philosoph oder Theologe? Lässt sich eine Position zwischen, über oder unter konfessionellen und philosophischen Interpretationen ent‐

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wickeln, in der Paulus anders gelesen werden kann – vielleicht als Klassiker der Religions- oder Ideengeschichte? Die philosophischen Studien zu Paulus veranlassen die Paulusexegese, bestimmte Gegebenheiten der historisch-kritischen oder konfessionellen Paulusstudien zu reevaluieren. Das wäre der ideale Ausgangspunkt für ein Treffen zwischen Philosophie und Neutestamentlicher Wissenschaft. Der „philosophische Paulus“ erbringt möglicherweise keine spezifisch exegeti‐ schen Neuerkenntnisse, sondern begleitet lediglich den historisch-kritischen und konfessionellen Diskurs. Damit könnte ein Arbeitsbereich eröffnet werden, in dem (zukünftig) verhandelt werden muss, wie sich ein nicht-kon‐ fessioneller und nicht-historisch-kritischer Zugang darstellen kann und wie nutzbringend zwischen beiden kommuniziert werden kann. Eine solche Herangehensweise könnte eine Zusammenarbeit zwischen Philosophie und Neutestamentlicher Wissenschaft eröffnen, die von Paulus beeinflusst wäre, paulinische Entwicklungsfähigkeiten besäße und mit Paulus mitdächte. Bibliographie Primärquellen

G. Agamben, Il tempo che resta, Torino 2000. A. Badiou, Saint Paul. La Fondation de l’universalisme, Paris 1997. M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens. Band 60 der Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1995. J. Taubes, Die politische Theologie des Paulus, München 1993. S. Zizek, The Puppet and the Dwarf, Cambridge 2003.

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Sekundärliteratur

W. Blanton, Displacing Christian Origins, Chicago 2007. W. Blanton/H. de Vries (Ed.), Paul and the Philosophers, New York 2013. A. Bradley/P. Fletcher (Ed.), The Politics to Come. Power, Modernity and the Messianic, London 2010. J.D. Caputo/L.M. Alcoff (Ed.), St. Paul among the Philosophers, Indianapolis 2009. A. Cimino, Enactment, Politics, and Truth. Pauline Themes in Agamben, Badiou, and Heidegger, New York 2018. C. Crockett, Radical Political Theology, New York 2011. D. Finkelde, Politische Eschatologie nach Paulus. Badiou – Agamben – Zizek – Santner, Wien 2007. P. Frick (Ed.), Paul in the Grip of the Philosophers, Minneapolis 2013. D. Harink (Ed.), Paul, Philosophy, and the Theopolitical Vision. Critical Engagement with Agamben, Badiou, Žižek, and Others, Eugene 2010. G.-J. van der Heiden/G. van Kooten/A. Cimino (Ed.), Saint Paul and Philosophy. The Consonance of Ancient and Modern Thought, Berlin 2017. O. Marchart, Die politische Differenz, Berlin 2010. J. Milbank/S. Zizek et al. (Ed.), Paul’s New Moment. Continental Philosophy and the Future of Christian Theology, Grand Rapids 2010. D. Odell-Scott (Ed.), Reading Romans with Contemporary Philosophers and Theo‐ logians, New York 2007. E. Reinmuth (Hg.), Politische Horizonte des Neuen Testaments, Darmstadt 2010. C. Strecker/J. Valentin (Hg.), Paulus unter den Philosophen, Stuttgart 2013.

Register

Antike Personen Aelius Aristides 117–nach 176 n. Chr., kleinasiatischer Rhetor. Agrippa I. Der vorletzte König aus der Dynastie des Herodes. Tetrarch von Galiläa, Judäa und Samaria. Regierungszeiten 37, 40, 41–44 n. Chr. (Apg 12,1) (Schürer I, 442–455). Agrippa II. Der letzte König aus der Dynastie des Herodes. König über Gaulanitis und Chalkis, Regierungszeit 50–92/93 n. Chr. (?), nahm am Prozess gegen Paulus in Cäsarea teil (Apg 25,13–26,32) (Schürer I, 471–483). Alexander der Große 356–323 v. Chr., König von Makedonien. Alexander Jannai Hasmonäischer König, Regierungszeit 103–76 v. Chr. (Schürer I, 219–228). Antiochus III. der Große Seleukidischer König, Regierungszeit 224–187 v.Chr. Antiochus IV. Epiphanes Seleukidischer König, Regierungszeit 175–164 v.Chr. Apollonios von Tyana Gest. 96/98 n. Chr., Pythagoreer (A. stellte Pythagoras als „göttlichen Menschen“ dar). Apollos Urchristlicher Missionar, der teilweise mit Paulus zusammenarbeitete (1 Kor 1– 4). Apuleius von Madaura 125 n. Chr.–?, nordafrikanischer Schriftsteller. Aquila und Priska/Priskilla Gewerbetreibendes Ehepaar aus Rom; Paulus ar‐ beitete in Korinth als Zeltmacher bei ihnen; an der paulinischen Missionstätigkeit beteiligt (Ephesus) (Apg 18,1ff.; Röm 16,3; 1 Kor 16,19). Archelaos Sohn Herodes d.Gr., 4 v.‒6 n. Chr. Tetrarch von Jerusalem und Judäa (Schürer I, 353‒357). Areios Didymos Stoischer Philosoph des 1. Jh.s v. Chr. aus Alexandria, mit Augus‐ tus befreundet (Art. Areios 2, DNP 1, 1042 f.). Aretas IV. Nabatäischer König, Regierungszeit 9–40 n. Chr. (Schürer I, 574–586). Arminius ca. 17 v.Chr.–21 n. Chr., Fürst der Cherusker. Augustinus 354–430 n. Chr., Bischof von Hippo Regius, nordafrikanischer Kir‐ chenschriftsteller. Augustus 63 v.Chr.–14 n. Chr., erster römischer Kaiser.

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Antike Personen

Barjesus Elymas Jüdischer Magier auf Zypern zur Zeit des Paulus (Apg 13,4–12). Barnabas Führender Christ aus Antiochia, Missionspartner des Paulus auf der ersten Missionsreise (Apg 13,1–3 u. ö.). Berenike Schwester des Königs Agrippa II., nahm am Prozess gegen Paulus in Cäsarea teil (s. o.). Cäsar/Caesar 100–44 v. Chr., römischer Staatsmann, Redner und Schriftsteller. Caligula Römischer Kaiser, Regierungszeit 37–41 n. Chr. Chrysipp 289/277 – gegen Ende des 3. Jh.s v. Chr., stoischer Philosoph in Athen. Cicero 106–43 v. Chr., römischer Politiker, Redner und Schriftsteller. Claudius Römischer Kaiser, Regierungszeit 41–54 n. Chr. Clemens von Alexandria 140/150 – ca. 220 n. Chr., christlicher Schriftsteller. Cornutus Stoischer Philosoph zur Zeit Neros in Rom (Art. Cornutus 4, DNP 3, 201). Dio Cassius 164–nach 229 n. Chr., bekleidete hohe römische Staatsämter, Verfasser historiographischer Werke (Art. L. Cl(audius) C. Dio Cocceianus, DNP 2, 1014 f.). Epaphroditus Gesandter der Gemeinde in Philippi an Paulus (Phil 2,25; 4,18). Epiktet Ca. 50–125 n. Chr., stoischer Philosoph in Rom. Epikur 342/1–271/0 v. Chr. in Athen, Gründer der epikureischen Philosophen‐ schule. Euseb von Cäsarea Vor 264/5–339/40 n. Chr., Bischof und Kirchenschriftsteller. Felix Vor 52 n. Chr. Präfekt von Samaria, dann auch von Iudäa, unter ihm wurde Paulus zwei Jahre in Cäsarea gefangen gehalten (Art. A. Felix, M., DNP 1, 814). Gaius s. Caligula Galba Römischer Kaiser, Regierungszeit 68–69 n. Chr. Gallio 51–52 n. Chr. proconsul Achaiae, Bruder Senecas (Art. Iunius II 15 L.I. Gallio Annaeanus, DNP 6, 67). Germanicus 15 v.Chr.–19 n. Chr., römischer Feldherr. Hadrian Römischer Kaiser, Regierungszeit 117–138. Hananias Hoherpriester, der das Verhör gegen Paulus vor dem Synhedrium in Jerusalem leitete, Regierungszeit als Hoherpriester 47–59 n. Chr. (Schürer II, 227–236) (Apg 23,1–11; 24,1). Heraclitus Antignostischer kirchlicher Schriftsteller der 2. Hälfte des 2. Jh.s. (LACL, 319). Herakleides Pontikos d. Ältere 390 – nach 322 v. Chr., platonischer Philosoph. Herodes Antipas Tetrarch von Galiläa und Peräa, Landesherr Jesu, Regierungszeit 4 v.Chr.–39 n. Chr. (Schürer I, 340–353).

Antike Personen

Herodes der Große Jüdischer König und Begründer der herodianischen Dynastie, Regierungszeit 37– 4 v. Chr. (Schürer I, 287–329). Hierokles von Alexandria Stoischer Philosoph in Kleinasien im 2. Jh. n. Chr. (Art. Hierokles 3, DNP 5, 541). Hieronymus 347– 419 n. Chr., lateinischer Kirchenschriftsteller. Hippolyt von Rom Ca. 170–235 n. Chr., christlicher Schriftsteller. Ignatius von Antiochia Mitte 2. Jh., kleinasiatischer Bischof, Verfasser von Gemeindebriefen, Martyrium in Rom, einer der sog. Apostolischen Väter. Irenäus von Lyon 1. Hälfte 2. Jh.–ca. 200 n. Chr., Bischof und christlicher Schrift‐ steller. Iunia(s) Mitarbeiterin des Paulus, Apostolin (?). Röm 16,7; vgl. ausführlich E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 2003, 409 (Lit.). Izates II. König von Adiabene, Regierungszeit 36–nach 53 n. Chr. (vgl. J. Neusner, The Conversion of Adiabene to Judaism. A New Perspective, JBL 83 [1964], 60–66). Jakobus ?‒62 n. Chr., Bruder Jesu („Herrenbruder“), Mitglied, später Leiter der Jerusalemer Urgemeinde, 62 n. Chr. durch den Hohenpriester Ananos II. hinge‐ richtet. Jason Christ in Thessaloniki (Apg 17,5‒9). Johannes Chrysostomos 349– 407 n. Chr., Bischof von Antiochia und Konstanti‐ nopel, Kirchenschriftsteller. Johannes Hyrkanos Makkabäischer König, Regierungszeit 135/4 –104 v. Chr. (Schürer I, 200–215). Johannes Markus Begleiter des Paulus auf der ersten Missionsreise (Apg 12,12.25; 15,36– 41 u. ö.). Jonathan Dritter Sohn des Mattathias (s. dort), Bruder des Judas Makkabäus, Hoherpriester und makkabäischer Fürst in Israel, Regierungszeit 161–143/2 v.Chr. Josephus 37/38–nach 100 n. Chr., jüdischer Politiker und bedeutender historischer Schriftsteller (Art. I. Flavios, DNP 5, 1089–1091). Julian von Aeclanum 385– 455 n. Chr., pelagianischer Bischof und Schriftsteller. Kleopatra VII. Letzte ägyptische Königin (Pharao), Regierungszeit 51–30 v.Chr. Livius 59 v.Chr.–17 n. Chr., lateinischer Geschichtsschreiber. Lukas In der altkirchlichen Überlieferung der Verfasser des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte (identisch mit „Lukas der Arzt“ Kol 4,14?). Lukrez Geb. 98/94, gest. 55/50 v. Chr., römischer Dichter. Hauptwerk: De rerum natura.

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Antike Personen

Lydia aus Thyatira Purpurfabrikantin, die Paulus in Philippi aufnahm und mit ihrem Haus zum Christentum übertrat (Apg 16,14). Manilius Lateinischer Schriftsteller z.Zt. des Augustus und des Tiberius. Haupt‐ werk: Astronomica. Marc Aurel Römischer Kaiser, Regierungszeit 161–180 n. Chr. Marcion/Markion Aus Sinope, nach 140 n. Chr. Mitglied der römischen Christenge‐ meinde, seit 144 Trennung von der römischen Kirche, eigene theologische Schrift‐ steller- und Missionstätigkeit und eigener Kanon (nur Auswahl aus dem NT). Marcus Antonius ca. 82–30 v. Chr., römischer Politiker. Marcus Iulius Agrippa II. s. Aggrippa II. Marius Victorinus Geb. 281/291 n. Chr., gest. 365, lateinischer christlicher Philo‐ soph und Schriftsteller. Mattathias Jüdischer Priester aus Modein, Urheber des Makkabäeraufstandes 166/165 v. Chr. Starb gleich nach dem Beginn des Aufstandes. Söhne: Johannes, Simon, Judas, Jonathan (s. dort), Eleasar (Schürer I, 156–158). Musonius 30–ca. 100 n. Chr., stoischer Philosoph, nur mündliche Lehre. Nero Römischer Kaiser, Regierungszeit 54 –68 n. Chr. während seiner Regierung wurden wahrscheinlich Paulus und Petrus in Rom hingerichtet. Nikolaos von Damaskus Ca. 64 v.Chr.–?, griechischer Schriftsteller und Hofhis‐ toriker Herodes des Großen, Verfasser einer Augustusbiographie. Octavian s. Augustus Onesimus Mitarbeiter des Paulus, Sklave des Philemon (s. Philemonbrief). Orosius Kirchenschriftsteller der 1. Hälfte des 5. Jh.s. Onias IV. um 160 v. Chr., Jüdischer Hoherpriester (Schürer III, 47 f.). Quintus Sergius Paul[l]us s. Quintus Sergius Paul[l]us. Pausanias ca. 115–ca. 180 n. Chr. Hauptwerk: Beschreibung Griechenlands. Pelagius 350/360– 418/431 n. Chr., Theologe und Schriftsteller. Persius 34 –62 n. Chr., römischer Satiren-Dichter. Petronius 14–66 n. Chr., römischer Schriftsteller („Satyricon“). Petrus Jünger Jesu, Führer des Zwölferkreises, erster Zeuge des auferstandenen Jesus (vgl. 1 Kor 15,5), einer der leitenden Persönlichkeiten der Urgemeinde, wohl 64 n. Chr. in Rom hingerichtet. Philemon Mitarbeiter des Paulus, Herr des Sklaven Onesimus (s. Philemonbrief). Philipp II.  ca. 382‒336 v. Chr., 356‒336 v. Chr. König von Makedonien. Philo von Alexandria Ca. 15 v.Chr.–ca. 50 n. Chr., wichtigster griechischsprachi‐ ger Schriftsteller des ägyptischen Diasporajudentums.

Antike Personen

Philodemos von Gadara 110–nach 40 v. Chr., epikureischer Philosoph. Philostrat 170 n. Chr.–?, griechischer Schriftsteller, verfasste u. a. die Lebensbe‐ schreibung des Apollonios von Tyana (s. o.) (Art. Philostratos 5, DNP 9, 888–892). Phoebe/Phöbe Mitarbeiterin des Paulus aus der Gemeinde Kenchreä (Röm 16,1). Plinius (der Ältere) 23/24‒79 n. Chr., römischer Schriftsteller. Plinius (der Jüngere) 61/62–vor 117 n. Chr., hoher römischer Verwaltungsbeam‐ ter und Schriftsteller (Art. Plinius 2, DNP 9, 1141–1144). Plotina 62/72–123 n. Chr., Gemahlin Kaiser Trajans. Plutarch 45–vor 125 n. Chr., griechischer biographischer und philosophischer (platonischer) Schriftsteller. Polykarp von Smyrna Bischof von Smyrna und Verfasser von Gemeindebriefen. Einer der sog. Apostolischen Väter. Er erlitt wohl 167 n. Chr. den Märtyrertod im 87. Lebensjahr. Pompeius 106‒48 v. Chr., römischer Politiker. Pontius Pilatus Von 26–36 n. Chr. praefectus von Judäa. Porcius Festus Von 60–62 n. Chr. praefectus oder procurator von Judäa. Klaudios Ptolemaios 1. Hälfte des 2. Jh. n. Chr., griechischer Astronom und Geograph. Quintus Sergius Paul[l]us Proconsul von Zypern 46/48 n. Chr. (Art. Sergius II.2, DNP 11, 456). Rabbi Gamaliel I. Berühmter Toralehrer, nach Apg 22,3 Lehrer des Paulus (Schürer II, 367 f.). Rufinus von Aquileia (Concordia) 345–411/412 n. Chr., kirchlicher Schriftstel‐ ler und Übersetzer (u. a. Römerbriefkommentar des Origenes). Salome Alexandra Jüdische Königin, Regierungszeit 76–67 v. Chr. Witwe von Alexander Jannäus (Schürer I, 229–232). Seneca (der Jüngere) Vor 5–65 n. Chr., Bruder Gallios, römischer stoischer Philo‐ soph und Schriftsteller, Erzieher Neros. Silas/Silvanus Leitender Mitarbeiter des Paulus (Apg 15,24– 41). Simon Magus Prägnostischer (?) samaritanischer Wundertäter/Magier des 1. Jh.s n. Chr. (Apg 8). Stephanas von Korinth Erstbekehrter in Achaia (1 Kor 1,16; 16,15). Stephanus Führer der „Hellenisten“ in der Jerusalemer Urgemeinde, Tod durch Steinigung (Apg 6 –7). Strabon Geb. ca. 60 v. Chr., gest. ca. 25 n. Chr., griechischer Geograph und Historiker. Sueton 70 n. Chr.–?, kaiserzeitlicher Biograph und Schriftsteller. Tacitus Geb. ca. 55, gest. nach 115 n. Chr., hoher römischer Beamter und Historiker.

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Antike Personen

Tertullian Ca. 160–222 n. Chr., erster bedeutender lateinischer christlicher Schrift‐ steller. Thekla Hauptgestalt der apokryphen Paulusakten (Märtyrerin in Iconium). Theodor von Mopsuestia 350–428 n. Chr., kirchlicher Schriftsteller, wichtigster Exeget der sog. antiochenischen Schule. Theodoret von Cyrus 393– 466 n. Chr., griechischer Kirchenschriftsteller. Tiberius Römischer Kaiser, Regierungszeit 14–37 n. Chr. Timotheus Leitender Mitarbeiter des Paulus (Apg 16,1–3 u. ö.). Tiro 103-4 v. Chr., Privatsekretär Ciceros. Titus Mitarbeiter des Paulus (Gal 2,1–3). Trajan Römischer Kaiser, Regierungszeit 98–117. Vegetius Lateinischer christlicher Schriftsteller des 4. Jh.s. Vergil 70–19 v. Chr., lateinischer Schriftsteller. Vespasian Römischer Kaiser, Regierungszeit 69–79 n. Chr. Zenon von Kition Ca. 334–ca. 262/61 v. Chr., Begründer der stoischen Philoso‐ phenschule.

Zum griechisch-römischen Personenkreis vgl. stets H. Cancik/H. Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, 12 Bde, Stuttgart/Weimar 1996–2002 (DNP); für die christlichen Schriftsteller vgl. stets S. Döpp/W. Geerlings, Lexikon der Antiken Christlichen Literatur, Freiburg/Basel/Wien 3 2002 (LACL); für den jüdischen Personenkreis vgl. stets E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C.–A.D. 135). A New English Version rev. and ed. by G. Vermes/F. Millar, Vol. I, Edinburgh 1973; E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C. – A.D. 135). A New English Version rev. and ed. by G. Vermes/F. Millar/M. Black, Vol. II, Edinburgh 1979/1995. Zu antiken Autoren und ihren Werken (Titel und Ausgabe) vgl. stets ebenfalls: Der Neue Pauly. Zu altkirchlichen Autoren und Werken analog LACL. Die Tabelle enthält mehrfach direkte Verweise auf die genannten Refe‐ renzwerke. Vgl. insgesamt zum Themenfeld antiker chronologischer Forschung M. Deißmann (Hg.), Daten zur antiken Chronologie und Geschichte (RUB 8623), Stuttgart 1990.

Antike Orte

Antike Orte Alexandria/Alexandreia Großstadt an der ägyptischen Mittelmeerküste. Alexandria Troas/Alexandreia Troas/Troas Stadt an der Nordwestküste Klein‐ asiens (Troas), in römischer Zeit colonia Alexandria Augusta Troas. Amphipolis Stadt in Nordgriechenland (Macedonia), an der via Egnatia. Ancyra/Ankyra Stadt in Zentralanatolien (Galatia), Sitz der Versammlung des Koinon von Galatien und Zentrum des Kaiserkultes (Kopie der Res Gestae Divi Augusti, sog. Monumentum Ancyranum), seit 25 v. Chr. Hauptstadt der Provinz Galatia. Antiochia/Antiocheia am Orontes Großstadt in Nordsyrien, frühes christliches Zentrum (Apg 11,26). Antiochia/Antiocheia in Pisidien Stadt im Innern Kleinasiens (Galatia/Pisidien), in römischer Zeit colonia Caesarea Augusta. Apollonia Stadt in Nordgriechenland (Macedonia), an der via Egnatia. Arabien Region, dann römische Provinz (Arabia) östlich und südöstlich von Palästina. Assos Stadt an der Südwestküste Kleinasiens (Troas). Athen/Athenai Hauptstadt Achaias, zur Zeit des Paulus kulturelles und philoso‐ phisches Zentrum, Sitz mehrerer Philosophenschulen. Attalia/Attaleia Stadt an der Südküste Kleinasiens (Pamphylia), seit 43 n. Chr. Hauptstadt der Provinz Pamphylia. Beröa/Beroia Stadt in Nordgriechenland (Macedonia). Brundisium (heute: Brindisi, Apulien) Hafenstadt an der adriatischen Küste Südostitaliens; südöstlicher Zielpunkt der von Rom ausgehenden via Appia. Cäsarea/Caesarea maritima Hafenstadt an der phönizischen Küste, Neugrün‐ dung durch Herodes den Großen, seit 6 n. Chr. Sitz der Prokuratoren/Präfekten der Provinz Judaea (Fundort der Pontius-Pilatus-Inschrift). Chios Hauptstadt der gleichnamigen griechischen Insel. Damaskus/Damaskos Stadt in Syrien, zur Zeit des Paulus nabatäisch unter römischer Oberhoheit (2 Kor 11,32f.). Daphne Heiligtum in der Nähe von Antiochia am Orontes. Delphi/Delphoi Panhellenisches Heiligtum in Mittelgriechenland.

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Antike Orte

Derbe Stadt im Innern Kleinasiens (Galatia/südliches Lykaonien). Didyma Heiligtum an der Westküste Kleinasiens bei Milet (Asia). Dyrrhachion/Dyrrhachium (heute: Durres, Albanien) Hafenstadt an der adria‐ tischen Küste Westgriechenlands; westlicher Ausgangspunkt der über Thessalo‐ niki bis nach Byzantion/Konstantinopolis verlaufenden via Egnatia. Dodona Zeusheiligtum mit Orakel in Nordwestgriechenland. Elephantine Nilinsel in Oberägypten, Standort einer judäischen Militärkolonie, im 5. Jh. v. Chr. zeitweise eigener Jahu-Tempel. Eleusis Mysterienheiligtum in der Nähe von Athen. Ephesus/Ephesos Großstadt an der Westküste Kleinasiens (Asia), seit 30/29 v. Chr. Sitz des proconsul der Provinz Asia. Epidauros Stadt auf der Peloponnes, berühmtes Asklepiosheiligtum. Eresos Stadt an der Westküste der Insel Lesbos. Forum Appii Ort 43 Meilen südlich von Rom (Apg 28,15). Galatien Region, dann römische Provinz (Galatia) in Zentralanatolien. Gischala Stadt in Nordgaliläa, nach Hieronymus Geburtsort des Paulus. Herculaneum Stadt am Vesuv, 79 n. Chr. beim Vesuvausbruch zerstört. Hierapolis Stadt im Westen Kleinasiens (Asia/Südwestphrygien). Iconium/Ikonion Stadt im Innern Kleinasiens (seit 25 v. Chr. zu Galatia/Lykao‐ nien), seit Augustus Kolonie. Isthmos von Korinth Landbrücke zwischen Attika und der Peloponnes, Ort eines Poseidonheiligtums und panhellenischer Spiele (Isthmia). Jerusalem Hauptstadt Israels, zur Zeit des Paulus kultischer und rechtlicher Mittelpunkt Israels und der jüdischen Diaspora, Sitz des Hohenpriesters und des Synhedriums. Kaloi Limenes kretische Hafenstadt. Kappadokien Region, dann römische Provinz (Cappadocia) in Anatolien, östlich von Galatien. Kenchreä/Kenchreai Hafen der Stadt Korinth am saronischen Golf (östlich der Stadt). Kilikien Region, dann römische Provinz (Cilicia), an der Südküste Anatoliens, nordwestlich von Syrien. Kolossä/Kolossai Stadt im Westen Kleinasiens (Asia).

Antike Orte

Korinth/Korinthos bedeutende mittelgriechische Handelsstadt mit zwei Häfen (Lechaion am korinthischen Golf und Kenchreä am saronischen Golf), 146 v. Chr. Zerstörung der griechischen Stadt, 44 v. Chr. als colonia Laus Iulia Corinthos von Cäsar neu gegründet, Sitz des Statthalters der Provinz Achaia. Korope Stadt in Nordgriechenland. Kos Stadt auf der gleichnamigen griechischen Insel, Sitz des berühmtesten Askle‐ piosheiligtums. Ktesiphon/Seleukia K./Seleukia am Tigris Residenz der Könige der Parther und Sassaniden. Laodicea/Laodikeia Stadt im Westen Kleinasiens (Asia). Lasäa/Lasaia kretische Hafenstadt. Lykanonien Region in Südanatolien, nördlich von Pamphylien. Lykien Region, dann römische Provinz (Lycia) an der Südküste Anatoliens. Lystra Stadt in Südkleinasien (Galatia/Lykaonien), von Augustus als römische Kolonie gegründet. Magnesia Stadt im Westen Kleinasiens. Milet/Miletos bedeutende Hafenstadt an der Westküste Kleinasiens (Asia). Mitylene/Mytilene Stadt im Südosten der griechischen Insel Lesbos. Myra Hafenstadt an der Südküste Kleinasiens (Lycia). Nag Hammadi kleiner Ort am Oberlauf des Nils (Fundort der sog. Nag-Ham‐ madi-Bibliothek). Neapolis Hafen von Philippi (vgl. Apg 16,11). Nemea Panhellenisches Heiligtum auf der Halbinsel Peloponnes, 23 km südwest‐ lich von Korinth. Nikopolis Stadt in Westgriechenland (Epirus). Oase Siwa eine der sieben Oasen Ägyptens (Ort des Ammonkultes). Olympia Panhellenischer Kultort im Nordwesten der Peloponnes, Ort der olym‐ pischen Spiele. Ostia Hafen der Stadt Rom. Paphos Stadt im Süden der Insel Zypern. Patara Hafenstadt in Südkleinasien (Lykien), seit 43 n. Chr. Hauptstadt der Pro‐ vinz Lycia. Pamphylien Region, dann römische Provinz (Pamphylia) an der Südküste Anato‐ liens.

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Antike Orte

Pergamon Stadt im Nordwesten Kleinasiens (Asia), seit 29 v. Chr. Sitz der Ver‐ sammlung des Koinon von Asia und ein Zentrum des Kaiserkultes. Perge Stadt an der Südküste Kleinasiens (Pamphylia). Pessinus/Pessinos Stadt in Zentralanatolien (Galatia/Phrygien). Philippi/Philippoi Stadt in Nordgriechenland (Macedonia), seit 27 v. Chr. colonia Augusta Iulia Philippensis, an der via Egnatia. Phratrai Stadt im Norden der Peloponnes. Pisidien Region in Südanatolien, nördlich von Lykien. Pompeji Stadt am Vesuv, 79 n. Chr. beim Vesuvausbruch zerstört. Priene Stadt an der Westküste Kleinasiens (Asia). Ptolemais Hafenstadt an der phönizischen Küste. Puteoli Hafenstadt im Golf von Neapel, colonia maritima. Qumran Ort am Toten Meer (Fundort der sog. Qumran-Bibliothek). Rhegium/Rhegion Hafenstadt an der Meerenge zwischen Italien und Sizilien; Station auf der Seehandelsroute Korinth – Rhegium – Ostia (Rom). Rom/Roma Hauptstadt des Imperium Romanum. Salamis Hafenstadt an der Ostküste Zyperns. Salmone Nord-Ost-Spitze von Kreta. Scili nordafrikanische Stadt. Seleukia (Pieria) Hafen der Stadt Antiochia (am Orontes). Sidon phönizische Hafenstadt. Smyrna bedeutende Hafenstadt an der Westküste Kleinasiens (Asia). Syrakus/Syrakusai/Syracusae Hafenstadt an der Südostküste Siziliens. Syrien Großraum zwischen Mittelmeer und mittlerem Euphrat, römische Provinz (Syria). Tarsus/Tarsos Stadt an der Südküste Kleinasiens (Cilicia), seit 66 v. Chr. Provinz‐ hauptstadt, Sitz des Koinon Kilikias und zentraler Ort des Kaiserkultes, seit 80/70 v. Chr. (?) Hauptstadt der Provinz Cilicia, Geburtsort des Paulus. Tavium Stadt in Zentralanatolien (Galatia). Thessaloniki/Thessalonike große Hafenstadt in Nordgriechenland, seit 148 v. Chr. Hauptstadt der Provinz Macedonia, an der via Egnatia. Thyatira Stadt in der kleinasiatischen Landschaft Lydien. Tres Tabernae Ort 33 Meilen südlich von Rom (Apg 28,15). Troas s. Alexandria Troas. Tyrus/Tyros Inselstadt vor der phönizischen Küste.

Antike Orte

Zeugma/Seleukia am Euphrat Stadt in Südostkleinasien.

Erklärungen: Die römischen Provinznamen sind kursiv gesetzt, die Landschaftsnamen nicht kursiv. Zu den römischen Provinzen in Kleinasien z.Zt. des Paulus vgl. Art. Kleinasien, DNP 6 (1999), 514 –559, bes. die Tabelle Sp. 547 f. Zu den Orten vgl. durchgehend die Artikel in: Der Neue Pauly, zur Geographie vgl. Barrington Atlas of the Greek and Roman World, ed. by R. J. A. Talbert, Princeton/Oxford 2000.

621

Personenregister Aelius Aristides 122, 124 Agrippa I. 30, 209 Agrippa II. 30, 167, 541, 546 Alexander d. Gr. 56, 213 Alexander Jannai 68, 70 Antiochos IV. Epiphanes 219 Apollonios von Tyana 126f. Apollos 195, 236, 313, 324, 563 Apuleius von Madaura 118, 132, 233 Aquilia und Priska/Priskilla 157f., 181f., 241, 312 Areios Didymos 139 Aretas IV. 213f. Augustinus 193f., 198, 202f., 511, 582, 584 Augustus 23f., 26–29, 31, 33, 35ff., 39f., 43, 45, 112, 129f., 132, 194, 219, 222f., 226f., 229, 231, 239, 254, 350 Barjesus Elymas 545 Barnabas 105, 175f., 180, 212, 216f., 219f., 379, 383f., 452, 493, 541, 545 Berenike 167, 541 Caligula 27f., 30, 35, 38f., 43, 45, 58, 130 Cäsar/Caesar 28, 32, 119, 129, 194, 226f., 231, 235, 350 Chrysipp 140 Cicero 138, 203, 237, 268, 357, 443 Claudius 26f., 29f., 33ff., 38f., 41, 43, 45, 130, 156ff., 164f., 223, 248, 294 Clemens von Alexandria 119, 145, 581

Cornutus 139 Daphne 215 Epaphroditus 173, 398, 403, 405f., 408f., 412 Epiktet 135, 139, 141f. Epikur 136ff., 443 Euseb von Caesarea 242, 407 Felix 158, 165, 168, 541 Galba 37 Gallio 156ff., 165, 232f., 350f. Germanicus 29 Hadrian 131, 240, 520 Hananias 214 Heraclitus 139, 581 Herakleides Pontikos d. Ä. 126 Herodes Agrippa I. 30, 209 Herodes Antipas 180 Herodes der Große 27, 209 Hierokles von Alexandria 140 Hieronymus 51, 161, 165, 582 Hippolyt von Rom 116, 148 Ignatius von Antiochia 55, 395, 525, 565–570, 589 Irenaeus von Lyon 145, 558, 581 Iunia(s) 441 Izates II. 71

Personenregister

Johannes Chrysostomos 582 Johannes Hyrkanos 67 Johannes Markus 176 Jonathan 67 Josephus 57, 62, 64–67, 161, 163, 194, 197, 203, 213, 216 Julian von Aeclanum 582 Kleopatra VII. 27, 222 Livius 26 Lukas 14, 21, 49ff., 53, 105, 136, 155, 158f., 161ff., 165–168, 174ff., 179, 190, 197f., 220, 227, 290f., 379, 388, 423, 533, 541, 544–547 Lukrez 138 Lydia 406 Manilius 140 Marc Aurel 139 Marcion/Markion 332, 370, 395, 431f., 557, 573, 581 Marcus Antonius 27, 222, 226 Marius Victorinus 582 Mattathias 64 Musonius 135, 139

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Petrus 16, 169, 181, 198, 211, 217, 241, 313, 319, 371, 387f., 390f., 452, 493, 545, 561, 563, 566f., 573, 577, 580 Philemon 236, 281, 401, 407, 418–425, 530 Philodemos von Gadara 138 Philostrat 124, 126f. Philo von Alexandria 58, 60, 64, 71f., 74, 81, 111, 149, 194, 208, 240, 350 Phoebe/Phöbe 112, 182, 234, 254, 312, 441 Plinius d.J. 64, 132, 565 Plotina 138 Plutarch 118, 120, 123, 135, 138 Polykarp von Smyrna 536, 565f., 569ff. Pontius Pilatus 27, 541, 568 Prisca/Priscilla siehe Aquila Quintus Sergius Paul[l]us 158, 176 Rabbi Gamalies I. 50f., 62, 164 Rufinus von Aquileia 581

Onesimus 196, 281, 418ff., 422–425, 517 Orosius 157f., 519

Salome Alexandra 68 Seneca d.J. 43, 138f., 141f., 156f., 190, 203, 443, 558 Silas/Silvanus 177, 180f., 224, 227f., 286, 290, 292, 515, 526, 541 Simon Magus 148, 577 Stephanas von Korinth 312f. Stephanus 166, 197, 211, 541 Strabon 139 Sueton 129, 157f., 169, 240

Pausanias 107, 123, 232f. Pelagius 582f. Persius 140 Petronius 33

Tacitus 37, 169, 294, 519 Tertullian 133f., 332, 370, 557, 573, 575f. Thekla 576, 580 Theodoret von Cyrus 582

Nero 23f., 28, 33, 37ff., 43, 45, 130, 139, 142, 169, 231, 237, 242, 447, 529, 580 Nikolaos von Damaskus 194

624

Personenregister

Theodor von Mopsuestia 582 Thyatira 406 Tiberius 29, 34, 38f., 43, 45, 130, 156, 350, 574 Timotheus 75, 143, 173, 177, 181, 196, 228, 230, 281, 286f., 290, 292, 316, 332f., 348, 399, 403, 405, 408, 410, 412, 421, 509, 515, 519, 523, 526, 530ff., 536, 541, 558

Titus 181, 189, 238, 254, 290, 390, 509, 530ff., 536, 558, 576 Trajan 138, 520, 565 Vegetius 174 Vergil 26, 35, 138 Vespasian 26 Zenon von Kition 139

Ortsregister Alexandria 58, 179, 207, 210, 235 Alexandria Troas 174, 177f., 206, 237ff., 256, 545, 566 Amphipolis 177, 222 Ancyra 218, 220ff. Antiochia am Orontes 176f., 180, 215, 217, 220, 235 Antiochia in Pisidien 177, 379, 383 Apollonia 177, 256 Arabien 214, 390 Assos 178 Athen 26, 115, 136, 139, 173, 177, 206f., 228, 230, 256, 290ff., 350, 425, 541, 545 Attalia 177 Beröa 177, 184, 205, 227–230, 256, 290f. Brundisium 256 Cäsarea 132, 158f., 168, 176–179, 407, 541 Chios 178 Damaskus 52, 81, 166f., 175, 211–216, 541, 546 Delphi 106, 121, 123, 156, 231, 350 Derbe 177, 181, 217ff., 379 Didyma 121 Dodona 122 Dyrrhachion 256 Elephantine 56 Eleusis 114f., 117

Ephesus 105, 107, 127, 129, 131, 176f., 182, 218, 236, 255, 313f., 356, 384, 406, 409, 421, 448, 509, 514, 519f., 524, 532, 536, 541, 545f., 567 Epidauros 124f. Eresos 129 Forum Appii 179 Galatien 81, 94, 177, 218, 220f., 281, 378f., 385, 391, 464, 495 Gischala 51, 161, 165 Herculaneum 138 Hierapolis 236f., 520, 524 Iconium 177, 189, 379, 383, 576 Isthmos von Korinth 230ff. Jerusalem 14, 28, 50ff., 58, 60, 64, 70f., 158f., 164, 166, 168, 175ff., 179f., 198, 205f., 208–212, 216f., 229, 239, 241, 248, 293f., 313f., 371, 380, 384, 390f., 438f., 465, 483, 501f., 541, 546, 586 Kaloi Limenes 179 Kappadokien 206 Kenchreä 112, 177, 312 Kilikien 27, 50, 57, 161, 177, 179, 205, 207f., 216, 390 Kolossä 236f., 255, 420, 509, 519f. Korinth 110, 112, 124, 143, 157ff., 164,

626

Ortsregister

168, 173f., 177, 181f., 184, 195f., 200, 206, 226ff., 230–235, 238, 241, 254f., 281, 291f., 307, 311–317, 319–327, 332, 336, 339, 347–351, 356–361, 363, 368, 386, 406, 441, 448, 464, 530, 541, 559f., 562f. Korope 123 Kos 124, 178 Ktesiphon 36

183f., 205, 220, 222ff., 226, 228, 238f., 256, 281, 287, 290ff., 350, 402f., 405, 407–410, 421, 541, 545, 569ff. Phratrai 123 Pisidien 177, 216f., 219f., 379 Pompeji 118f. Priene 130 Ptolemais 178 Puteoli 179, 240

Laodicea 133, 236f., 519f., 524 Lasäa 179 Lykaonien 216f., 219ff., 379 Lykien 179, 218 Lystra 105, 177, 189, 217ff., 221, 379, 545, 576

Qumran 64ff., 73, 80, 94f.

Magnesia 132, 568 Milet 121f., 129, 168, 178, 206, 532, 541 Mitylene 178 Myra 130, 179 Nag Hammadi 144, 146, 153, 572 Neapolis 174, 177, 223, 238, 256 Nemea 231 Nikopolis 139

Rhegium 256 Rom 14, 16, 23–27, 29–36, 38, 40–43, 56, 58, 60, 76, 117, 119, 127, 129f., 138f., 156–159, 163, 168f., 174, 177, 179, 182, 184, 206, 208f., 212, 219, 223, 227, 230f., 235, 239ff., 248, 254, 256, 281, 294, 310, 407ff., 413, 438, 440f., 443, 445f., 448ff., 462, 464, 483, 501, 536, 540f., 544, 559ff., 563ff., 573

Oase Siwa 121 Olympia 231 Ostia 26, 117, 240, 256, 580

Salamis 177 Scili 575 Seleukia 176, 215, 576 Sidon 179 Smyrna 130, 566, 569 Syrakus 179 Syrien 27, 30, 35f., 50, 56f., 176f., 206, 209, 212, 215f., 390

Pamphylien 177, 179, 218–221, 379 Paphos 177 Patara 178, 239 Pergamon 27, 110, 124f., 129, 131, 218 Perge 177, 217ff., 379 Pessinus 220f., 378 Philippi 105, 127, 164f., 173, 177f., 181,

Tarsus 50ff., 55, 57, 161, 205–208, 248, 390 Tavium 220f., 378 Thessaloniki 173, 177, 181, 184, 205, 225–230, 233, 238, 241, 256, 281, 286f., 290ff., 294ff., 350, 403, 406, 509, 530, 541, 550

Ortsregister

Tres Tabernae 179 Tyrus 178

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Zeugma 36

Der östliche Mittelmeerraum in neutestamentlicher Zeit Der östliche Mittelmeerraum neutestamentlicher aus: Reclams Bibellexikon,inhrsg. v. Klaus Koch,Zeit Eckart Otto, Jürgen Roloff und aus: Reclams Bibellexikon, hrsg. v. Klausmit Koch, Eckart Otto, Jürgen Roloff Hans Hans Schmoldt, Stuttgart 1978, S. 581, freundlicher Genehmigung derund Philipp Reclam jun. GmbH1978, & Co.S.KG. Schmoldt, Stuttgart 581, mit freundlicher Genehmigung der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG.

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Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Eve-Marie Becker Neutestamentliches Seminar Evangelisch-Theologische Fakultät Westfälische Wilhelms-Universität Münster Universitätsstraße 13-17 48143 Münster [email protected] Prof. Dr. Lukas Bormann Fachgebiet Neues Testament Fachbereich Evangelische Theologie Philipps-Universität Marburg Lahntor 3 35032 Marburg [email protected] Prof. Dr. Eva Ebel Institut Unterstrass an der Pädagogischen Hochschule Zürich Seminarstr. 29 CH-8057 Zürich [email protected] Prof. Dr. Jörg Frey Lehrstuhl für Neutestamentliche Wissenschaft mit Schwerpunkt Antikes Judentum und Hermeneutik Theologisches Seminar Universität Zürich Kirchgasse 9 CH-8001 Zürich [email protected] Prof. Dr. Bernhard Heininger Lehrstuhl für Neutestamentliche Exegese Katholisch-Theologische Fakultät Julius-Maximilians-Universität Würzburg Bibrastr. 14 97070 Würzburg [email protected]

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Ortsregister

Prof. Dr. Christina Hoegen-Rohls Neutestamentliches Seminar Evangelisch-Theologische Fakultät Westfälische Wilhelms-Universität Münster Universitätsstraße 13-17 48143 Münster [email protected] Prof. em. Dr. Dieter-Alex Koch Neutestamentliches Seminar Evangelisch-Theologische Fakultät Westfälische Wilhelms-Universität Münster Universitätsstraße 13-17 48143 Münster [email protected] Prof. em. Dr. Andreas Lindemann Lehrstuhl für Neues Testament Kirchliche Hochschule Wuppertal/Bethel An der Rehwiese 38 33617 Bielefeld [email protected] Prof. em. Dr. Andreas Mehl Lehrstuhl für Alte Geschichte Klassische Altertumswissenschaften Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Universitätsplatz 12 06099 Halle/Saale [email protected] Jacob Mortensen, associate professor School of Culture and Society Aarhus University Jens Chr. Skous vej 3 DK-8000 Aarhus C [email protected]

Ortsregister

Prof. em. Dr. Oda Wischmeyer Institut für Neues Testament Philosophische Fakultät und Fachbereich Theologie Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Kochstr. 6 91054 Erlangen [email protected] Prof. em. Dr. Wolfgang Wischmeyer Institut für Kirchengeschichte, Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst Evangelisch-Theologische Fakultät Universität Wien Schenkenstr. 8-10 A-1010 Wien [email protected]

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Paulus

Paulus ist die einzige historisch, biographisch und literarisch deutlich fassbare Person, die wir aus dem Urchristentum kennen. Zugleich ist er der urchristliche Apostel, der die größte missionarische und theologische Wirkung entfaltet hat. Die vertiefte Beschäftigung mit Paulus gehört daher zu den zentralen Themen des Theologiestudiums. Das vorliegende Lehrbuch führt interkonfessionell und multiperspektivisch in die Paulus­forschung ein. Tabellen, Literaturangaben sowie ausführliche Glossare zu antiken Personen und Orten erschließen die Thematik für Lehre und Prüfungsvorbereitung. Die dritte Auflage wurde komplett überarbeitet und aktualisiert sowie um zwei zusätzliche Kapitel zu Paulus als Briefschreiber und zur gegenwärtigen philosophischen Auseinandersetzung mit Paulus erweitert.

3. A.

Theologie | Religionswissenschaft

Oda Wischmeyer Eve-Marie Becker (Hrsg.)

Paulus

Leben – Umwelt – Werk – Briefe

Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag Narr Francke Attempto. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.

ISBN 978-3-8252-5654-8

,!7ID8C5-cfgfei! 56548 Wischmeyer_M-2767.indd 1

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Wischmeyer | Becker

3. Auflage

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